Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen 9783050050393, 3050030380

Wittgensteins 'Philosophische Untersuchungen' sind mit ihrem philosophiekritischen Feuer, ihrer aphoristischen

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German Pages [278] Year 2010

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Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen
 9783050050393, 3050030380

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WITTGENSTEIN

Philosophische Untersuchungen

Klassiker

Auslegen

Herausgegeben von Otfried Höffe Band 13

Otfried Höffe ist o. Professor für der Universität Tübingen.

an

Philosophie

Ludwig Wittgenstein

Philosophische Untersuchungen von

Herausgegeben von Savigny

Eike

Akademie

Verlag

Titelbild: Ludwig Wittgenstein in Swansea, Foto von Ben Richards © Wittgenstein Archive, Cambridge 1998

Die Deutsche Bibliothek

CIP-Einheitsaufhahme -

Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen / hrsg. von Eike von Savigny. Berlin : Akad. Verl., 1998 (KLASSIKER AUSLEGEN ; Bd. 13) -

ISBN 3-05-003038-0

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 1998 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der R. Das

Oldenbourg-Gruppe.

eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706.

Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Daten¬ verarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt wer¬ den. All rights reserved (including those of translation into other languages). No part of this book may be reproduced in any form by photoprinting, microfilm, or any other means nor transmitted or translated into a machine language without written permission from the pubUshers. -

-

-

-

Gesamtgestaltung: K. Groß, J. Metze, Chamäleon Design Agentur, Satz: Akademie Verlag, Hans Herschelmann Druck und Bindung: PRIMUSSOLVERO GmbH, Berlin Gesetzt aus Janson Antiqua Printed in the Federal

Republic of Germany

Berlin

V

Inhalt

Einleitung Eike von Savigny.

1

1.

Sprachspiele und Lebensformen: Woher kommt die Bedeutung? Eike von Savigny. 2. Der Begriff der Familienähnlichkeit in

Wittgensteins Spätphilosophie Hjalmar Wennerberg.

41

3.

Wittgensteins Philosophieren über das Philosophieren: Die Paragraphen 89 bis 133

...

Richard Raatzsch.

71

4. Wie Sprecher Ausdrücke meinen Eike von Savigny.

97

5.

Regelfolgen

Klaus Puhl. 119

6.

Wittgensteins Privatsprachenargumentation

Stewart Candlish. 143 7.

Denkwürdigkeiten. Mr. Ballard und der Impressionist Joachim Schulte.

167

8.

Vorstellungen von Vorstellungen

Oliver R. Scholz.

191

VI

INHALT 9.

Wittgensteins letzter Wilie. "Philosophische Untersuchungen" 611-628

Hans-Johann Glock.

215

10.

Blick auf die Seele Noel Fleming. 239

Auswahlbibliographie.

269

Sachregister.

273

Hinweise

zu

den Autoren. 277

Siglenverzeichnis Nicht gedruckte Manuskripte (MS) und Typoskripte (TS) sind im Cornell-Film veröffentlicht (The Wittgenstein Papers, Cor¬ nell University Libraries, Ithaca, N. Y., 1968). Sie werden nach der Zählung von G. H. v. Wright bezeichnet (Wittgensteins Nachlaß, in ders., Wittgenstein, Frankfurt a. M. 1990, 45-76).

Aufzeichnungen

für

Vorlesungen über "privates Erlebnis" und in: J. Schulte Hg., Wittgenstein: Vor¬

"Sinnesdaten",

BGM: BIB:

trag über Ethik und andere kleine Schriften, Frank¬ furt a. M. 1989,47-100 Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik, in: Werkausgabe, Bd. 6, Frankfurt a. M. 1984 Das Blaue Buch, übersetzt von P. von Morstein, in: Werkausgabe, Bd. 5, Frankfurt a. M. 1984; Original: The Blue Book, in: The Blue and Brown Books, Oxford

1958,1972 BrB

BPP

Übersetzung

Das Braune Buch, des an EPhilB anschlie¬ ßenden Texts von P. von Morstein, in BIB; Original: "The Brown Book" in: The Blue and Brown Books,

Oxford 1958,1972 Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie, Bd. I und II, in: Werkausgabe, Bd. 7, Frankfurt a. M. 1984

EPhilB Eine Philosophische Betrachtung, in: Werkausgabe, Bd. 5, Frankfurt a. M. 1984 LFW A Lecture on Freedom of the WU, from the notes of Y. Smithies, in: J. C. Klagge, A. Nordmann eds., Philo¬ sophical Occasions, Indianapolis 1993 LPE Lectures on "Private Experience" and "Sense Data", in: J. C. Klagge, A. Nordmann eds., Philosophical Occasi¬ ons, Indianapolis 1993 LPP Wittgenstein's Lectures on Philosophical Psychology 1946-47, Notes by P. T. Geach, K. J. Shah, A. C. Jack¬ son, ed. by P. T. Geach, Sussex 1988

VIII

HINWEISE ZUR BENUTZUNG LS

LW

NFL

PG PU

PUII TLP TB Zettel

Letzte Schriften über die Philosophie der Psychologie; Bd. I in: Werkausgabe, Bd. 7, Frankfurt a. M. 1984; Bd. II, Das Innere und das Außere, Frankfurt a. M. 1993 Last Writings on the Philosophy of Psychology; Bd. I, Oxford 1982; Bd. II, The Inner and the Outer, Oxford 1992 Wittgenstein's Notes for Lectures on "Private Expe¬ rience" and "Sense Data", hg. von R. Rhees, in: Philo¬ sophical Review 77 (1968), 275-320; deutsch: Aufzeich¬ nungen für Vorlesungen über "privates Erlebnis" und "Sinnesdaten", in: J. Schulte Hg., Wittgenstein: Vor¬ trag über Ethik und andere kleine Schriften, Frankfurt a. M. 1989, 47-100 Philosophische Grammatik, in: Werkausgabe, Bd. 4, Frankfurt a. M. 1984 Philosophische Untersuchungen, in: Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1984. Beim Verweis auf Sei¬ tenzahlen bezieht sich die größere Zahl auf die Seite dieser Ausgabe, die kleinere auf die Seite der deutsch¬ englischen Ausgabe: Philosophical Investigations, Ox¬ ford 31967 TS 234, gedruckt als "Teil II" der "Philosophischen

Untersuchungen" (in PU)

Tractatus Logico-Philosophicus, in: Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1984 Tagebücher 1914-1916, in: Werkausgabe, Bd. 1, Frank¬ furt a. M. 1984 in: Werkausgabe, Bd. 8, Frankfurt a. M. 1984

Eike von

Savigny

Einleitung

Ludwig Wittgenstein hat nur zwei philosophische Schriften selbst zum Druck gegeben: die gewöhnlich nach dem Titel der zweiten Ausgabe als "Tractatus Logico-Philosophicus" zitierte "Logisch-Philosophische Abhandlung" und den kleinen Aufsatz "Some Remarks on Logical Form". Was sonst als seine "Werke"

veröffentlicht ist, sind mehr oder weniger gut isolierbare Stücke aus dem Nachlaß. Meistens handelt es sich um Typoskripte, teils mit einem von Wittgenstein selbst gewählten Titel, wie die "Philosophischen Bemerkungen", teils betitelt von den Heraus¬ gebern, wie die "Bemerkungen über die Grundlagen der Mathe¬ matik". Aber auch Manuskripte mit ersten Notizen ohne Spuren von Überarbeitung sind gedruckt worden; die bekanntesten sind "Über Gewißheit" und die "Letzten Schriften über die Philoso¬ phie der Psychologie". Diese Veröffentlichungspraxis ist von der Überzeugung der Herausgeber getragen, Wittgensteins manifeste Scheu, eigene Schriften (aus der Zeit nach dem "Tractatus") für druckreif zu halten, dürfe nicht daran hindern, die philosophische Substanz seiner Überlegungen in das Nachdenken über Fragen einzu¬ bringen, die nicht nur ihn beschäftigt haben. Tatsächlich gibt es gute Gründe für die Einschätzung, die Nach-"Tractatus"-Philosophie stelle den bedeutenderen Beitrag Wittgensteins zum phi¬ losophischen Denken des 20. Jahrhunderts dar. Diese Gründe sind nur zum geringeren Teil darin zu sehen, daß die späteren Gedanken im ausdrücklichen Gegensatz zu den früheren ent¬ wickelt wurden, diese also wenigstens für den Autor überholt

2

EIKE VON SAVIGNY

haben. Wichtiger ist, daß vielen Lesern die Wende weg von den unerbittlichen logischen Betrachtungen des "Tractatus" mit ih¬ rem umfassenden Erklärungsanspruch hin zu der lebensoffenen Beobachtungsfreude der späteren Schriften mit ihrem beschei¬ denen Ziel einer übersichtlichen Darstellung auch inhaltlich einleuchten will. Es ist deshalb angemessen, im Nachlaß nach Zeugnissen zu suchen, die noch am ehesten als veröffentli¬ chungsreif angesehen werden können. Wittgensteins Arbeits¬ weise macht das nicht leicht. Ab 1929 trug er Bemerkungen in Notizbücher ein, arbeitete dort an ihnen, wählte sie mit Änderungen für die Übertragung in weitere Notizbücher aus, mischte sie am neuen Ort mit neuen Bemerkungen, schlachtete mehrere Notizbücher in die¬ ser Weise für ein neues aus, und so fort. Zwischendurch stellte er (durch Diktat) Typoskripte her, mit denen er ähnlich ver¬ fuhr, dabei auch maschinenschriftliche Textstücke handschrift¬ lich weiter verwertend oder mit Schere und Leim neue Anord¬ nungen erprobend. Aus diesen Textstadien Typoskripte als "Schriften" auszuwählen ist jeweils eine substantielle Ent¬

scheidung.

Im November 1936 begann in Wittgensteins Hütte in Skjolden am Sognefjord in Norwegen allerdings etwas Neues. Nach¬ dem er den Versuch, das "Brown Book" in deutscher Sprache umzuarbeiten, aufgegeben hatte, überschrieb er ein neues Ma¬ nuskript mit dem Titel "Philosophische Untersuchungen"1, und die Verwertung des fertigen Manuskripts läßt sich als Weiterar¬ beit an ein und derselben Schrift verstehen: Die Bemerkungen wurden über vier Umarbeitungsschritte hinweg jeweils en bloc übernommen (was Umstellungen, Abänderungen und einzelne Weglassungen nicht ausschloß); sie wurden in jedem Schritt vermehrt; ein thematisch geschlossener Block, der im ersten Umarbeitungsschritt dazugekommen war, wurde im zweiten Schritt wieder abgetrennt (als sei er auf Probe hinzugenommen worden; dieses TS 221 ist in der überarbeiteten Fassung von TS 222 als Teil I der "Bemerkungen über die Grundlagen der Ma1 MS 142 der Zählung in G. H. v. Wright 1990 b. Es ist dort als verschollen gemeldet, inzwischen aber wiedergefunden und befindet sich im Privatbesitz von J. Köder, Wien; eine Kopie ist beim Material der "Helsinki"-Edition (s. Anmer¬ kung 2).

EINLEITUNG thematik" veröffentlicht); und Wittgenstein behielt den Titel bei. Erstmals in der zweiten Fassung findet sich vor dem Haupt¬ text darüber hinaus ein Vorwort (TS 225), mit dem der Verfasser zum Ausdruck bringt, daß die Schrift sich an Leser richtet.2 Die "Philosophischen Untersuchungen", die bis auf marginale Än¬ derungen 1946 abgeschlossen waren und von Wittgenstein of¬ fenbar für den Druck durchredigiert worden sind', haben damit als einzige unter den nachgelassenen Schriften den ausgeprägten Charakter eines Werks. Nach der Veröffentlichung 19534 (zusammen mit der eng¬ lischen Ubersetzung von G. E. M. Anscombe) sind die "Philoso¬

phischen Untersuchungen" zuerst einer angelsächsischen Leser¬ schaft bekannt geworden. Sie war durch Wittgensteins Lehr¬ tätigkeit in Cambridge und durch die informelle Verbreitung

seiner Gedanken darauf vorbereitet, und es hat in den fünfziger Jahren eine starke Resonanz gegeben. (Im deutschen Sprach¬ raum begann die Rezeption in den frühen sechziger Jahren.) Wittgenstein wurde jedenfalls kurzfristig Mode; soweit sachli¬

che Gründe dafür verantwortlich sind, wird man auf die drei Elemente verweisen, die das Werk zu seiner Zeit und für die Philosophie im 20. Jahrhundert wichtig gemacht haben: das Bild von der Sprache, das Bild von der Seele und das Bild vom

2 Diese Skizze stützt sich auf G. H. v. Wright 1990 a und c sowie auf Einsicht¬ nahme in das Material der von v. Wright und H. Nyman vorbereiteten kritischen "Helsinki-Edition", die zur Zeit von Joachim Schulte vollendet wird. Die vier Fassungen nach MS 142 von 1936 sind TS 220/221 (1937/38) mit TS 225, TS 239 (spätestens 1943), die auf der Basis von TS 239 und 241 (1944) rekonstruier¬ te "Mittelversion" von 1945 und schließlich TS 227 von 1945/46, die Druckvor¬

lage. 3 Vgl. G. H. v. Wright 1995,

12 f., 20-23, und D. Stern 1996, 301 f. Die Herausgeber, G. E. M. Anscombe und R. Rhees, ha¬ ben sich damals eine Freiheit erlaubt, die von Kennern, gelinde gesagt, als fragwürdig angesehen wird (vgl. G. H. v. Wright 1995, 17-20; O. Scholz 1995, 40; D. Stern 1996, 304): Sie haben zusammen mit den "Philosophischen Unter¬ suchungen", dem TS 227, das TS 234 (verschollen; erhalten ist die handschrift¬ liche Vorlage, MS 144) veröffendicht, und zwar als "Teil II"; der eigentliche Text wurde "Teil I" genannt. Beide Charakterisierungen stammen nicht von Wittgen¬ stein, und es sind nie durch Publikation Gründe für die gemeinsame Veröffent¬ lichung namhaft gemacht worden. Im vorliegenden Kommentar geht es aus¬ schließlich um den sogenannten "Teil I"; der Ausdruck "Teil II" wird nur für Verweise auf den gedruckten Text von TS 234 bzw. MS 144 benutzt. 4

Oxford, Blackwell.

3

4

EIKE VON SAVIGNY

Philosophieren. Das sind auch die drei Elemente, auf welche die Beiträge im vorliegenden Kommentar eingehen. Da die "Philosophischen Untersuchungen" über die Nume¬ rierung der Abschnitte hinaus keine autorisierte Gliederung besitzen und die annähernde Ubereinstimmung der bisher ver¬ öffentlichten Gliederungsbemühungen nach Abschnitt 363 schwindet, war die Wahl der Themen nicht vorgegeben. Und da Wittgenstein im Vorwort darüber hinaus in Anspruch nimmt, das Buch lasse sich auf Grund "der Natur der Untersuchung" gar nicht in konventioneller Weise gliedern, mag man sogar meinen, ein kooperativer Versuch, diesen Klassiker auszulegen,

dürfe gar nicht an etwas orientiert sein, was man als zentrale Themen ansehen und bestimmten Abschnittsfolgen mehr schlecht als recht zuordnen könne. (Diese einigermaßen diffuse Zuordnung bestimmt die Reihenfolge der Beiträge.) Solche Fragen der Interpretationsmethodik mögen hier offen bleiben; denn das allemal nützliche Unternehmen, viele von den Fragen zu berücksichtigen, die in der philosophischen Diskussion des Buchs eine große Rolle spielen; Themen so auszuwählen, daß möglichst viele nicht behandelte Themen exemplarisch mitver¬ treten werden; durch Konzentration auf wenige Themen einen tieferen Einstieg in die Sache zu erreichen; verschiedene Stim¬ men zu Worte kommen zu lassen; und schließlich verschiedene methodische und inhaltliche Ansätze der Interpretation auszu¬ probieren dieses allemal nützliche Unternehmen ist in der Praxis ohnehin nicht anders anzugehen. Ich bin meinen Mitver¬ fassern dafür dankbar, daß sie sich auf die aus solchen Bedürf¬ nissen unvermeidbar folgenden Einschränkungen eingelassen haben. Keine Einschränkung, sondern eine ausdrückliche Er¬ mutigung bedeutete der entschiedene Wunsch des Herausgebers der Reihe, möglichst viele aktive deutschsprachige Forscher zu -

Worte kommen

lassen. Deshalb enthält der Band nur drei aus übersetzte Englischen Beiträge, nämlich die Arbeiten von Candlish, Wennerberg und Fleming, und nur die beiden letzte¬ ren sind schon früher publiziert. Alle anderen Beiträge werden zumindest in den hier vorliegenden Fassungen erstmals veröf¬ fentlicht.

dem

zu

EINLEITUNG

Literatur G. H. am

v. Wright 1990, Wittgenstein, übersetzt von Joachim Schulte, Frankfurt Main; darin a: Einleitung, 11-22; b: Wittgensteins Nachlaß, 45-76; c: Die

Entstehung und Gestaltung der "Philosophischen Untersuchungen", 117-143. G. H. v. Wright 1995, Teil II der "Philosophischen Untersuchungen": Eine beschwerliche Geschichte, in E. v. Savigny und O. Scholz (Hgg.), Wittgen¬ stein über die Seele, Frankfurt am Main, 12-23. O. Scholz 1995, Zum Status von Teil II der "Philosophischen Untersuchungen", in E. v. Savigny und O. Scholz (Hgg.), Wittgenstein über die Seele, Frankfurt am Main, 24-40. D. Stern 1996, Toward a Critical Edition of the "Philosophical Investigations", in K. S. Johannessen, T. Nordenstam (Hgg.), Wittgenstein and the Philo¬ sophy of Culture, Wien, 298-309.

5

Eike von

Savigny

Sprachspiele und

Lebensformen: Woher kommt die

Bedeutung? In den "Philosophischen Untersuchungen" benutzt Wittgen¬ stein häufig den Ausdruck "Sprachspiel" und an drei Stellen im Teil I den Ausdruck "Lebensform"; das sind die bekanntesten Reizwörter des Werks geworden. Ziel der nachstehenden Uberlegungen ist es, für beide Begriffe Grundlinien einer diszipli¬ nierten Explikation herauszuarbeiten, die ihnen eine vernünfti¬ ge Rolle in Wittgensteins Überlegungen zuweist. Will man sich vom hemmungslosen Assoziieren freimachen, dann bedarf die Interpretation einer massiven Einschränkung. Ich sehe sie darin, daß "Sprachspiel" und "Lebensform" im Rahmen einer ein¬ leuchtenden Interpretation der sogenannten "Gebrauchstheorie der Bedeutung" eine wichtige Rolle spielen müssen, und werde eine Skizze des Zusammenhangs von Sprachspiel, Gebrauch und Bedeutung vorlegen, die zur Suche nach etwas zwingt, für das es bei Wittgenstein kein anderes Angebot als die Lebens¬ form gibt; unter "Lebensform" muß dann etwas ganz Bestimm¬ tes verstanden werden. Wesentlich für dieses Unternehmen ist, einen sachlichen Kern für Wittgensteins Einbettungs-Idee zu ermitteln, die er damit ausdrückt, daß "eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen" (PU 19) und daß "das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform" (PU 23; die Hervorhebung fehlt in der Werkaus¬

gabe).

8

EIKE VON SAVIGNY

1.1 Gebrauch und

Bedeutung

Die Behauptung, die Bedeutung eines Worts oder der Sinn eines Satzes sei sein Gebrauch in der Sprache, gibt es in den "Philoso¬ phischen Untersuchungen" nicht explizit.1 (Wittgenstein be¬ nutzt ziemlich durchgehend für Wörter das Wort "Bedeutung" und für Sätze das Wort "Sinn"; darauf hat erstmals Hallett hin¬ gewiesen.2 Für die Entwicklung eigener konstruktiver Gedan¬ ken macht er von dieser Unterscheidung keinen Gebrauch.) Aber an vielen Stellen spielen Annahmen, die mit einer solchen Gleichsetzung verwandt sind, eine Rolle für die jeweilige Argu¬ mentation und legen den Autor deshalb auf diese Annahmen ernsthaft fest. So fragt Wttgenstein in PU 20 b: "Aber besteht der gleiche Sinn der Sätze nicht in ihrer gleichen Verwendung}11 Er scheint an dieser Stelle zu meinen, daß die Gleichheit des Sinns von Sätzen in der Gleichheit der Verwendung bestehe. Fälle, in denen aus Gebrauchsunterschieden auf Bedeutungs¬ unterschiede geschlossen wird, sind in den PU zu zahlreich, als daß man darauf einzeln verweisen müßte. Auch das Umgekehrte kommt vor, etwa wenn in PU 403-411 argumentiert wird, daß wenn die Äußerung "Irgend jemand hat Schmerzen ich weiß nicht wer!" verwendungsgleich wäre mit "Ich habe Schmerzen", beide dann bedeutungsgleich wären (so daß die zweite ebenso¬ wenig wie die erste eine Feststellung wäre, die der Sprecher über sich selbst trifft). Und die Mühe, mit der PU 549-568 erörtern, ob gewisse Eigenheiten von Negationen, von Zahlwörtern oder solche des Verbs "sein" wesentlich oder unwesentlich zu ihrem Gebrauch gehören, läßt sich am besten unter der Annahme verstehen, daß es um die Frage gehe, was zu ihrer Bedeutung gehöre; in dieselbe Richtung weist die an zahlreichen Stellen vorausgesetzte Annahme, die Bedeutung sei dann erfolgreich erklärt, wenn der Gebrauch erklärt sei. Will man sich auf alle diese unterschiedlich ausdrücklichen Formulierungen von argumentativ benutzten Annahmen einen Reim machen, dann bleiben die einfachen Gleichsetzungen von Sinn des Satzes und Bedeutung des Worts mit ihrem Gebrauch -

1 Die immer wieder zitierte

Funktion; vgl. v. Savigny 1990. 2 Hallett 1977, ad PU 43.

Formulierung

aus

PU 43 hat eine ganz andere

SPRACHSPIELE UND LEBENSFORMEN

Sprache als nächstliegende Lösungen freilich nicht, daß auch klar wäre, was man brauch in der Sprache" zu verstehen hat. in der

1.2

übrig. unter

Das heißt dem "Ge¬

Sprachspiele

Die für ein Verständnis dieser "Gebrauchstheorie der Bedeu¬ tung" fruchtbarste Vorstellung scheint Wittgensteins Gedanke zu sein, daß sprachliche Ausdrücke ihre Bedeutung ihrer "Rolle im Sprachspiel" verdanken (nicht etwa der Sprecherabsicht oder den erzielten Wirkungen). Sprachspiele sind in den PU Verhal¬ tensabläufe, in denen Sprechen und anderes Handeln miteinan¬ der "verwoben" (PU 7) sind. Die PU kennen drei Möglichkeiten zu sagen, um welches Sprachspiel es geht, also Möglichkeiten, einzelne Sprachspiele zu kennzeichnen. Die erste wird schon in PU 1 benutzt, nämlich für eine "Ver¬ wendung der Sprache", wo jemand zum Einkaufen geschickt wird; das Sprachspiel wird dadurch gekennzeichnet, daß der Ab¬ lauf in allen wesentlichen Einzelheiten beschrieben wird. Die zweite Kennzeichnungsweise hat die Form "das Sprachspiel des wobei an der Leerstelle die Bezeichnung oder Beschrei¬ einer bung Tätigkeit steht. Die längste Liste von so gekennzeich¬ neten Sprachspielen bringt PU 23. Die dritte Kennzeichnungs¬ weise hat die Form "das Sprachspiel mit dem Ausdruck ..."; sie kommt in dieser Form erstmals in PU 71 vor. Damit ist die Men¬ ge aller auf die erste Weise zu kennzeichnenden Sprachspiele gemeint, in denen der Ausdruck verwendet wird; es handelt sich um den "Gebrauch" des Ausdrucks. Für die Klärung von "Bedeu¬ tung" durch "Gebrauch" sind wir also zunächst einmal darauf angewiesen, hinreichend Interessantes über die in der ersten Weise gekennzeichneten Sprachspiele herauszufinden. Für alle davon in den PU genannten Exemplare gilt zweierlei: Erstens können sie mehr als einmal gespielt werden, und trotz Unterschieden zwischen beiden Durchführungen wird beide Male dasselbe Sprachspiel gespielt. Zweitens müssen Äußerun¬ gen und nichtsprachliche Tätigkeiten miteinander "verwoben" sein, ein bildhafter Ausdruck dafür, daß Tätigkeiten und Äuße¬ rungen in genauer anzugebender Weise regelmäßig miteinander zusammenhängen. Wenn man diese Regelmäßigkeiten für ein

9

io

EIKE VON SAVIGNY hat (so vollständig oder unvollständig oder genau ungenau, wie es gerade erforderlich ist), hat man das Sprachspiel gekennzeichnet und damit gesagt, was zwei¬ mal gespielt wird, wenn zwei Handlungsabläufe im Einklang mit den angegebenen Regelmäßigkeiten, aber sonst unterschiedlich, vorgekommen sind. Ein Sprachspiel, auf die erste Weise ge¬ kennzeichnet, ist also eine Menge von Regelmäßigkeiten, in denen Äußerungen und Tätigkeiten eine Rolle spielen. Läßt man in der Aufzählung der Menge von Regelmäßigkei¬ ten den Ausdruck, um den es geht, einfach weg, dann definieren die Lücken zusammen eine Stelle in diesen Regelmäßigkeiten, und die so definierte Stelle kann man die "Rolle des Ausdrucks im Sprachspiel" nennen. Wie weit muß dieses Sprachspiel gefaßt werden, wenn man darunter den "Gebrauch" des Ausdrucks versteht, also die Menge aller Sprachspiele, in denen er vor¬ kommt? In ihnen kommen ja auch andere Wörter vor, deren Bedeutungen wichtig sein können; diese Bedeutungen werden durch Mengen von Sprachspielen festgelegt, in denen der frag¬ liche Ausdruck teilweise nicht vorkommt; und so weiter. Der Gebrauch scheint auszuufern. Schaun wir uns das Beispiel aus PU 1 an und schreiben dabei an der Stelle von "fünf "x":

Sprachspiel angegeben

und

so

Ich schicke jemand einkaufen. Ich gebe ihm einen Zettel, auf diesem stehen die Zeichen: "x rote Äpfel". Er trägt den Zettel zum Kaufmann; der öffnet die Lade, auf welcher das Zeichen "Äpfel" steht; dann sucht er in einer Tabelle das Wort "rot" auf und findet ihm gegenüber ein Farbmuster; nun sagt er die Reihe der Grundzahlwörter ich nehme an, er weiß sie aus¬ wendig bis zum Worte "x" und bei jedem Zahlwort nimmt er einen Apfel aus der Lade, der die Farbe des Musters hat. -

-

Wenn wir nach einem Wort

suchen, das an der Stelle von x werden kann, so daß sich dann eine einleuchtende Geschichte ergibt, werden wir zwar darauf verfallen, er habe die Apfel gezählt; aber dem wäre nicht so, wenn wir die Bedeutun¬ gen der anderen zitierten Wörter nicht voraussetzten, also noch mehr Leerstellen hätten. Das gilt sogar dann, wenn wir die wesentlichen Kennzeichnungen aus der Beschreibung verste¬ hen: Wir wissen also, daß der Kaufmann eine Schublade mit dem Wort tatsächlich als (d. h. eine, auf der das Wort

eingesetzt

"Äpfel"

"Äpfel"

SPRACHSPIELE UND LEBENSFORMEN

"Namenstäfelchen" (PU 15) steht und nicht zum Beispiel wie auf einer Pinnwand) aufmacht, daß er "rot" in einer Farbtabelle findet und daß

er

die Reihe der Grundzahlwörter

aufsagt.

Kann

jemand in dieser Situation die Reihe der Grundzahlwörter auf¬

sagen, sich ganz normal benehmen und trotzdem mit dem fünf¬ ten Wort nicht fünf Apfel gezählt haben? So etwas kommt ja etwa in: vor

Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, -

wo

Das

ist meine Frau geblieben?

ist, wenn wir "rote" und "Apfel" frei interpretieren dürfen,

durchaus möglich; "fünf rote Äpfel" kann etwa "fünf Pfund Obst" bedeuten, wenn wir die Geschichte so ergänzen: "Äpfel" heißt "Obst", und Obst ist auf Grund von Genmanipulationen so gezüchtet worden, daß die Farbe sich nach dem Gewicht richtet und das Gewicht im Handel nach der Farbe bestimmt werden kann. Rote Äpfel wiegen 500 g (infolge der Genmani¬ pulationen sind sie fürchterlich viel größer geworden); die Farb¬ tabelle enthält Symbole in Apfelform. Gelbe Äpfel (und grüne Birnen) wiegen 625 g; der Kaufmann hätte die Bestellung auch ausführen können, indem er vier gelbe Äpfel oder nach einer Tabelle mit farbigen Birnen vier grüne Birnen aus derselben (Obst-)Schublade geholt hätte. In keinem der drei Fälle hat er eine Bestellung von fünf einzelnen Dingen ausgeführt; vielmehr ist "fünf" in allen Fällen die Maßzahl für das Gesamtgewicht der Früchte. Das Beispiel ist nur deshalb so abwegig, weil wir die sehr starken Voraussetzungen aus der Beschreibung in PU 1 geschenkt haben. Hätte Wittgenstein statt "Nun sagt er die Reihe der Grundzahlwörter" geschrieben: "Nun sagt er ,a-b-cd-e"' (auf dem Zettel stünde "e rote Äpfel"), hätten wir es leich¬ ter, und noch leichter, wenn der Kaufmann "H re Herbst Donnerstag e" sagte. -

-

-

-

Wenn der Gebrauch eines Ausdrucks die Menge der Sprach¬ in denen der Ausdruck vorkommt, und wenn der Gebrauch die Bedeutung ausmachen soll, dann hat man, um die Bedeutung des Ausdrucks konkret durch seinen Gebrauch zu charakterisieren, zwei Alternativen: Entweder setzt man die Be¬ deutung aller unbegrenzt vielen Ausdrücke als charakterisiert voraus, die in mindestens einem Sprachspiel vorkommen, in dem der fragliche Ausdruck vorkommt; oder man charakterisiert die Bedeutung aller Ausdrücke einer Sprache auf einen Schlag. -

spiele ist,

I I

12

EIKE VON SAVIGNY Es mag sein, daß daran kein Weg vorbeiführt; aber die Situation ist unschön für jemanden, der der Gebrauchstheorie der Bedeu¬ tung als wohlwollender Interpret eine nicht nur auf den Text gestützte, sondern auch plausible Fassung geben will. Die Be¬ deutung eines Ausdrucks als seinen Gebrauch in der Sprache zu erläutern ist eines; ein anderes ist es, diese Gleichsetzung durch Beispiele einleuchtend zu machen. Dazu muß man für interes¬ sante Paare von (im vortheoretischen Sinne) gleichbedeutenden Ausdrücken konkret zeigen, daß ihr Gebrauch gleich ist, und für interessante Paare von (im vortheoretischen Sinne) bedeutungs¬ verschiedenen Ausdrücken, daß ihr Gebrauch sich unterschei¬ det. Wie will man diese konkrete Aufgabe angehen, wenn man entweder voraussetzen muß, daß die fragliche These für unbe¬ grenzt viele Ausdrücke stimmt, oder den Vergleich für alle Aus¬ drücke der Sprache auf einmal durchführen muß?

1.3 Die Gebrauchstheorie

für Außerungsbedeutungen Es empfiehlt sich deshalb, von einem Baustein der Sprache aus¬ zugehen, dessen Gebrauch sich leichter konkret beschreiben

läßt als der

von

Wörtern oder Sätzen; diese Einheit ist die

bedeutungsvolle Äußerung. Es geht dann nicht mehr um die Bedeutung des Wortes "fünf oder um den Sinn des Satzes "fünf rote Apfel", sondern um die Frage, wieso eine Äußerung die Bedeutung hat, daß der Sprecher heirn Adressaten fünf rote Apfel bestellt. Daß die bedeutungsvolle Äußerung etwas anderes ist als ein bedeu¬ tungsvoller Satz und daß die Äußerungsbedeutung etwas anderes ist als die Satzbedeutung, kann man sich an Beispielen klarma¬

chen. "Ich bin gerade an der Ausfahrt Gütersloh vorbei" hat als Satz die Bedeutung, daß der Sprecher als letzte Ausfahrt Gütersloh

passiert hat. Äußerungen dieses Satzes in einem Telefongespräch können, je nach dem engeren und weiteren Zusammenhang, ganz verschiedene Bedeutungen haben: der Sprecher teilt dem Adressaten mit, daß er als letzte Ausfahrt Gütersloh passiert hat (beide planen, wie sie sich am besten treffen können); der Spre¬ cher weist den Vorschlag des Adressaten zurück, sich mit ihm an der Ausfahrt Gütersloh zu treffen; der Sprecher droht dem

SPRACHSPIELE UND LEBENSFORMEN Adressaten damit, ihn in Sennestadt noch zu erwischen; der Sprecher bietet dem Adressaten an, ihn in Sennestadt zu besu¬ chen; und so weiter. Mitteilen, daß den Vorschlag zurück¬ damit drohen, daß sind im Sinne weisen, anbieten, daß der von Austin3 begründeten Sprechakttheorie "illokutionäre Rollen", die zur Bedeutung der Äußerungen gehören. Wie wir sehen werden, hat Wittgenstein uns darüber so viel zu sagen, daß wir bei der Aufgabe, für die Gebrauchstheorie eine auf den Text gestützte Fassung auch konkret plausibel zu machen, nicht in die gerade geschilderte Zwickmühle geraten. Trotzdem ent¬ fernt die Interpretation sich vom Text, und zwar aus zwei Grün¬ den. Zum einen hat Wittgenstein zwar immer wieder betont, wie wichtig die Umstände, unter denen ein Satz verwendet wird, für seinen Sinn seien. Aber daß die Bedeutung, die die Äußerung eines Satzes unter bestimmten Umständen hat, etwas anderes ist als die Bedeutung (der Sinn) des unter diesen Umständen geäu¬ ßerten Satzes, ist keine Unterscheidung, von der er ausdrücklich Gebrauch gemacht hätte. Dabei benutzt er sie in der Argumen¬ ...

...

tation:

Wer von einem Tag auf den andern verspricht "Morgen will ich dich besuchen" sagt der jeden Tag das Gleiche; oder jeden Tag etwas anderes? (PU 226.) -

Bedeutung des geäußerten Satzes ist jedesmal dieselbe; die Bedeutungen der Äußerungen sind jeweils das Versprechen, am Donnerstag, Freitag,... zu kommen. (Im Kontext geht es darum, daß die Frage, was als gleich zu gelten hat, vom Zusammenhang abhängt.) Und was Wittgenstein zu "grammatischen Sätzen" sagt (zusammenhängend in PU 247-252), läßt sich nur so ver¬ Die

stehen, daß er damit die Benutzung eines Satzes zum Zwecke der

Erläuterung von Eigenheiten des Gebrauchs eines in

ihm

vor¬

kommenden Ausdrucks meint, also nicht den Satz, sondern eine Äußerung des Satzes. Zum Beispiel ist es jedermanns ureigenes Recht, seine Absicht zu erklären; das gehört zum Gebrauch des Ausdrucks "Ich hatte die Absicht, Deshalb ist der Ausdruck

3

John L. Austin, How to do Things with Words, Cambridge, Mass.,

1962.

13

14

EIKE VON SAVIGNY

der Ungewißheit in einer solchen Erklärung fehl am Platze; das kann man mit einer Äußerung des Satzes "Nur du kannst wissen, ob du die Absicht hattest" ausdrücken:

"Nur du kannst wissen, ob du die Absicht hattest." Das könnte

jemandem sagen, wenn man ihm die Bedeutung des Wortes "Absicht" erklärt. Es heißt dann nämlich: so gebrau¬ chen wir es. (Und "wissen" heißt hier, daß der Ausdruck der Ungewißheit sinnlos ist.) (PU 247.) man

macht also

Unterschied zwischen Satz und rechnet aber nirgendwo Äußerungen Gebrauch, Äußerung zusätzlich zu Sätzen und Wörtern zum Inventar der Sprache. Zum andern paßt die darzulegende Interpretation verbal nicht zur zweiten der oben genannten Formen, in denen die "Philo¬ sophischen Untersuchungen" Sprachspiele charakterisieren, also zur Form "das Sprachspiel des wobei an der Leerstelle die einer steht. Bezeichnung Tätigkeit Einige dieser Charakterisie¬ in 2 3 sind PU nämlich Bezeichnungen für Klassen von rungen mit Äußerungen gemeinsamen illokutionären Rollen: befehlen,

Wittgenstein

vom

zwar

beschreiben, berichten, Vermutungen anstellen, Hypothesen aufstellen, bitten, danken, fluchen, grüßen. Wittgenstein kann nicht im Sinn gehabt haben, die Tatsache, daß eine Äußerung ein

Befehl ist, durch ihre Rolle im Sprachspiel des Befehlens zu erläutern. Wir werden sehen, daß beide Schwierigkeiten nebensächlich sind. Im Zuge der hier vorgeschlagenen Interpretation läßt sich die Tatsache, daß eine Äußerung ein Befehl ist, durch ihre Rolle in einem für Befehle charakteristischen Sprachspiel klären, das kon¬ kret angegeben werden kann; und es wird sich auch zeigen, wie

die Bedeutung eines Satzes davon abhängt, daß er in bedeutungs¬ vollen Äußerungen, und die Bedeutung eines Worts davon, daß es in bedeutungsvollen Sätzen gebraucht werden kann. Wer Witt¬ gensteins Beobachtungen respektiert, kann sie auf diese Weise zu einer etwas übersichtlicheren Darstellung (vgl. PU 122) zusam¬ menfügen, als das ihm selbst gelungen ist. Statt zu sagen: "Wenn ein Ausdruck die Bedeutung von ,Apfel' hat, dann fällt sein Gebrauch mit dem Gebrauch von ,Apfel' zusammen", werden wir die Gebrauchstheorie also an Beispie-

SPRACHSPIELE UND LEBENSFORMEN

folgenden Form studieren: "Wenn eine Äußerung die Bedeutung hat, daß der Sprecher mit ihr beim Kaufmann fünf len der rote

Äpfel bestellt, dann fällt ihr Gebrauch mit dem einer Bestel¬

lung von fünf roten Äpfeln zusammen." Der Gebrauch einer Bestellung von fünf roten Äpfeln muß natürlich unabhängig von dieser Kennzeichnung beschrieben werden. Unter dem Ge¬ brauch ist weiterhin eine Menge von Regelmäßigkeiten zu ver¬ stehen, in denen die Äußerung mit nichtsprachlichem Verhalten "verwoben" ist.

Die Konzentration auf Beispiele, in denen es um Äußerungen mit gewissen Bedeutungen geht, paßt gut dazu, wie Wittgen¬ stein für ein fiktives Beispiel feststellt, warum gewisse Leute keine Sprache haben:

Denke, du kämst als Forscher

in ein unbekanntes Land mit fremden Sprache. [...] (PU 206.) gänzlich Denken wir uns, die Leute in jenem Land verrichteten ge¬ wöhnliche menschliche Tätigkeiten und bedienen sich dabei, wie es scheint, einer artikulierten Sprache. Sieht man ihrem Treiben zu, so ist es verständlich, erscheint uns ,logisch'. Ver¬ suchen wir aber, ihre Sprache zu erlernen, so finden wir, daß es unmöglich ist. Es besteht nämlich bei ihnen kein regelmä¬ ßiger Zusammenhang des Gesprochenen, der Laute, mit den Handlungen; dennoch aber sind diese Laute nicht überflüssig; denn knebeln wir z. B. einen dieser Leute, so hat dies die gleichen Folgen, wie bei uns: ohne jene Laute geraten ihre Handlungen in Verwirrung wie ich mich ausdrücken will. Sollen wir sagen, diese Leute hätten eine Sprache; Befehle,

einer dir

-

Mitteilungen, usw.? Zu dem, was wir "Sprache" nennen, fehlt die Regelmäßigkeit. (PU 207.)

Der letzte Satz ist so zu verstehen, daß die vorhandene Regelmä¬ ßigkeit (die Laute sind nötig, damit die Handlungen nicht in Verwirrung geraten) für eine Sprache nicht ausreicht. Regelmä¬ ßigkeiten in Sprachspielen legen gewisse, unter bestimmten Um¬ ständen geäußerte Laute also nur deshalb auf die Bedeutung von "Befehlen, Mitteilungen, usw." fest, weil die Regelmäßigkeiten für dieses Ergebnis reich genug sind. Wie müssen die Regelmä¬ ßigkeiten aussehen, damit sie gewisse, unter bestimmten Um-

15

16

EIKE VON SAVIGNY ständen geäußerte Laute auf solche Äußerungsbedeutungen fest¬ legen? Wittgenstein sagt das nicht, gibt aber Tips zum Suchen, die uns erlauben, die Antworten für einige Beispiele selbst zu finden und die Gebrauchstheorie auf diese Weise plausibel zu machen. Ein solcher Tip findet sich in einem Abschnitt, dessen Kontext, die Privatsprachenargumentation, in unser Thema ge¬ hört, weil es um die Frage geht, woher die sprachliche Bedeu¬ tung kommt: Warum kann meine rechte Hand nicht meiner linken Geld schenken? Meine rechte Hand kann es in meine linke geben. Meine rechte Hand kann eine Schenkungsurkunde schreiben und meine linke eine Quittung. Aber die weitern praktischen Folgen wären nicht die einer Schenkung. (PU 268.) -

-

Wenn ein Sprecher einem Adressaten ein Ding bestehen die "praktischen Folgen" darin, daß der

schenkt, dann

Sprecher nun

gewisse Sachen nicht mehr darf, während der Adressat gerade diese Sachen darf das Ding gebrauchen, seinen Gebrauch anderen vorenthalten oder gestatten, es beleihen oder verkaufen usw.; eine weitere "praktische Folge" ist, daß der Adressat sich gegenüber dem Sprecher als dankbar zu erweisen hat, daß aber der Sprecher vom Adressaten keine bestimmte Gegenleistung fordern darf. Solche praktischen Folgen unterscheiden verschie¬ dene Bedeutungen voneinander: Wenn der Sprecher dem Adres¬ saten das Ding verkauft, darf der Sprecher vom Adressaten eine bestimmte Gegenleistung fordern, und der Adressat braucht dem Sprecher nicht dankbar zu sein. Wird das Ding vom Spre¬ cher an den Adressaten vermietet, dann darf der Adressat das Ding nicht beleihen oder verkaufen und muß es irgendwann zurückgeben, und er schuldet dem Sprecher bis zur Rückgabe eine regelmäßige Gegenleistung. Wenn der Sprecher dem Adressaten das Ding dagegen leiht, ist der Adressat nicht zur -

Gegenleistung verpflichtet. Das Beispiel des Schenkens wirft zwei Fragen auf. Die Schen¬ kung ist ein Rechtsgeschäft; ist sie ein glückliches Beispiel für Sprachverwendung? Und inwiefern handelt es sich um Regel¬ mäßigkeiten im Verhalten, wenn Sprecher und Adressat nach bestimmten Äußerungen gewisse Dinge dürfen oder müssen sind das nicht Regeln? Die Antwort auf die beiden Fragen ist: -

SPRACHSPIELE UND LEBENSFORMEN Wenn Verhaltensregelmäßigkeiten ein bestimmtes Aussehen an¬ nehmen, dann heißt das nichts anderes, als daß das Verhalten ent¬ Regeln folgt; und die für die Bedeutung von scheidende Rolle im Sprachspiel ist gerade ihr Platz in solchen, regelfolgendes Verhalten ausmachenden Verhaltensregelmäßig¬ keiten. Deshalb haben die Äußerungen ihre Bedeutungen tat¬ sächlich gerade aus dem Grunde, aus dem Rechtsgeschäfte ihre rechtliche Bedeutung haben: die von den Beteiligten anerkann¬ ten Rechte und Pflichten der Betroffenen werden in charakteri¬ stischen Weisen umverteilt, und daß dem so ist, erschöpft sich in besonderen Regelmäßigkeiten im Verhalten aller Beteiligten. Regelfolgendes Verhalten läßt sich empirisch charakterisie¬ ren; regelmäßiges Verhalten mehrerer Leute ist Tegelfolgendes Verhalten, wenn es jedem jeweils für ihn selbst und für die anderen selbstverständlich ist und eine erlernbare Leistung dar¬ stellt.4 Dafür, daß ein Verhalten jemandem selbstverständlich ist, nennt Wittgenstein eine Reihe von Merkmalen (PU 210, 211, 212, 213, 219, 222, 223, 231, 240). Das Merkmal, erlernbare Leistung (PU 232-237) zu sein, ist fürs regelfolgende Verhalten wichtig, weil Abweichungen damit zu Fehlern werden, die von anderen korrigiert werden. Aus diesen Korrekturen zu lernen ist der Korrigierte bereit. Ein Außenstehender hätte also die Möglichkeit, am Korrek¬ turverhalten Fehler zu erkennen (vgl. PU 54) und aus den Feh¬ lern sowie dem nicht korrigierten, selbstverständlichen Verhal¬ ten die fragliche Regel hypothetisch zu erschließen. Er kann dann, statt die beobachteten Merkmale der Verhaltensregelmä¬ ßigkeiten einzeln aufzuzählen, sagen: "Das Verhalten der Leute folgt (vermutlich) der Regel R." Das ist eine Hypothese; der Außenstehende muß versuchen, die Regel R so zu formulieren, daß sie dasjenige Verhalten fordert, das den Leuten selbstver¬ ständlich ist, und daß sie dasjenige Verhalten verbietet, das Kor¬ rekturverhalten auslöst. Der Außenstehende könnte z. B. ein Sozialpsychologe sein, der das Verhalten von Leuten in Fahr¬ stühlen untersucht, und könnte zu dem Ergebnis kommen: "Leute in Fahrstühlen folgen der Regel: ,Man hat möglichst großen Abstand voneinander zu halten.'" Es kann durchaus sein,

Äußerungen

4 Diese

Charakterisierung von Wittgensteins Bild vom Regelfolgen findet sich Kemmerling 1975. Vgl. Klaus Puhls Beitrag in diesem Bande.

erstmals in

17

18

EIKE VON SAVIGNY daß die

Formulierung der Regel in dieser sozialpsychologischen Hypothese zum erstenmal auftaucht; wenn die Hypothese zu¬

trifft, dann weisen Leute im Fahrstuhl also ein Verhalten auf, mit dem sie einer Regel folgen, die sie selbst nicht kennen. An dieser Stelle können zwei Hinweise nützlich sein. Der erste: Tut der Sprecher eine Äußerung mit einer bestimmten Bedeutung, dann werden dadurch Rechte und Pflichten umver¬ teilt; diese Rechte und Pflichten brauchen im übrigen mit dem Gebrauch von Sprache überhaupt nichts zu tun zu haben. Ein Steinpilz, den jemand im Wald findet und pflückt, gehört ihm; diese Vorbedingung dafür, daß er ihn verschenkt, kann auch in einer Gruppe ohne Sprache erfüllt sein. Daß A vor B von den Früchten nehmen darf, ist Ergebnis davon, daß B A darum bittet zuzugreifen; denselben Sachverhalt gibt es ohne vorangehende Äußerung auch bei sozialen Tieren, die keine Sprache benutzen

(etwa wenn sie eine Rangordnung haben). Der zweite Hin¬ weis: Sachverhalte wie "x gehört y" liegen dann vor, wenn in den betreffenden Gruppen die für solche Sachverhalte charakteristi¬ schen Regeln gelten. Ob man das Wort "Regel" benutzt, um auszudrücken, daß die für das Gelten von Regeln erforderlichen besonderen Verhaltensregelmäßigkeiten vorliegen, spielt keine Rolle. Viele Leute haben eindringlich die Vorstellung, einer Regel folge nur, wer sagen könne, er tue dies und jenes, "weil" er das müsse. Sie können, statt den Wittgensteinschen Begriff vom regelfolgenden Verhalten zu benutzen, einfach davon reden, daß die Leute voneinander und von sich selbst das jeweilige Verhal¬ ten erwarten. Die Redeweise tut denselben Dienst. Im Kontext des Schenkungsbeispiels nennt Wittgenstein als zweites Beispiel dafür, daß Bedeutung etwas mit praktischen Folgen zu tun hat, den Fall, daß man sich etwas notiert (PU 260); das würde bei einer uns "gänzlich fremden Sprache" erhebliche Zusatzkomplikationen bedeuten. Halten wir uns an mündliche Mitteilungen, wie in PU 207 genannt, und nehmen Wittgen¬ steins Hinweis darauf ernst, daß man auch mit Mitteilungen etwas anfangen können muß: -

Ich möchte sagen: du siehst es für viel zu selbstverständlich an, daß man Einem etwas mitteilen kann. Das heißt: Wir sind so sehr an die Mitteilung durch Sprechen, im Gespräch, ge¬ wöhnt, daß es uns scheint, als läge der ganze Witz der Mittei-

SPRACHSPIELE UND LEBENSFORMEN daß ein Andrer den Sinn meiner Worte etwas Seelisches auffaßt, sozusagen in seinen Geist aufnimmt. Wenn er dann auch noch etwas damit anfängt, so gehört das nicht mehr zum unmittelbaren Zweck der Sprache. (PU 363.)

lung darin,

-

-

(Der Schlußsatz ist ironisch. Vgl. auch PU 295-298, 386, 594 und 676.) Die "weitern praktischen Folgen" einer Mitteilung -

haben also damit zu tun, was der Adressat mit der Mitteilung kann. Man muß nun unbedingt beachten, daß auch eine falsche Mitteilung eine Mitteilung ist; falsche Mitteilungen sind keine Verstöße gegen Sprachregeln. Der Adressat einer Mitteilung, daß p, ist nicht in der Lage dessen, der mit eigenen Augen gesehen hat, daß p. Er darf aber vom Sprecher erwarten, daß der für seine Mitteilung, daß p, einsteht; wer mitteilt, daß p, ähnelt einem, der sich dafür verbürgt, daß p. (Das findet man nicht bei Wittgenstein5; es ist einem intelligenten Autor aber zu

anfangen

unterstellen.)

Freilich kann dann eine Mitteilung nur in Situationen zustan¬ de kommen, wo dem Sprecher Wissen über den mitgeteilten Sachverhalt unterstellt wird (andernfalls liegt eine bloße Be¬ hauptung vor, die der Wette ähnelt) und dem Adressaten ein Interesse an der Information: Wie das Schenken nicht nur prak¬ tische Folgen hat, sondern auch die Vorbedingung, daß die zu verschenkende Sache dem Sprecher gehört, hat die Mitteilung nicht nur die praktische Folge, daß der Sprecher dem Adressaten für das Zutreffen geradesteht, sondern auch die Vorbedingung, daß von ihm das nötige Wissen und vom Adressaten ein Infor¬ mationsbedarf erwartet werden. Genauso steht es mit dem Befehlen, das Wittgenstein am ausgiebigsten als Beispiel benutzt: Wenn ein Sprecher einem Adressaten befiehlt, eine Handlung auszuführen, dann muß der Adressat die Handlung ausführen. Allerdings kann der Sprecher nur dann etwas befehlen, wenn er die notwendige Autorität hat; auch das steht bei Wittgenstein nicht explizit, aber wo er aus¬ führlich mit dem Beispiel arbeitet (PU 143-145, 185), ist der Sprecher der Lehrer und der Adressat der Schüler. (Die Vorbe¬ dingung, daß der Sprecher die Autorität haben muß, unterschei¬ det den Befehl zum Beispiel von der Bitte.) 5 Sondern erstmals in John R.

Searle, Speech Acts, Cambridge 1969, S.

66.

I

9

20

EIKE VON SAVIGNY Man kann als Forscher in einem Land mit einer gänzlich frem¬ den Sprache die Vermutung, Äußerungen seien Schenkungen, Mitteilungen oder Befehle, also daran überprüfen, ob es sich um Äußerungen handelt, die unter für Schenkungen, Mitteilungen oder Befehle bezeichnenden sozialen Vorbedingungen vorkom¬ men und die dann charakteristische Auswirkungen auf die von den Sprachbenutzern anerkannten Verteilungen von Rechten und Pflichten haben. Dabei muß man die für die Bedeutungen der Äußerungen wesentlichen Vorbedingungen und Ergebnisse unterscheiden von den sprachlichen Formen, die die Äußerun¬ gen in einer Einzelsprache haben, und weiteren Umständen, die regelmäßig gegeben sind, wenn die Äußerungen im Gebrauch dieser Einzelsprache die fraglichen Bedeutungen haben. Die für kennzeichnenden Vorbedin¬ gewisse und sind für alle Sprachen ihre Rollen Ergebnisse gungen daran kommt auch nicht vorbei, denn an¬ gleich; Wittgenstein dernfalls könnte man gar nicht herauszufinden versuchen, ob das Schenken eines Rings im Lateinischen wie im Englischen sprach¬ lich vor sich gehen kann, ob es also in beiden Sprachen Äußerun¬ gen mit dieser Bedeutung gibt. (Natürlich kann es sein, daß zwei Sprachen keine Äußerungen mit genau gleicher Schenkungsrolle haben, so daß der Feldforscher mit "Schenken" in beiden Fällen nicht identische, sondern verwandte Bedeutungen bezeichnen würde.) Dagegen werden die akustischen Eigenschaften sich stark unterscheiden, und auch die Umstände, unter denen die akusti¬ schen Ketten gerade diese Bedeutung annehmen. Im Lateini¬ schen grüßt man mit "Salve", im Englischen mit "How do you do?"; mit "How do you do?" grüßt man im Englischen nur beim ersten Kontakt, während man damit im weiteren Verlauf des Abends nach dem Befinden fragt. (Möglicherweise handelt es sich dabei um einen gruppenspezifischen oder gar ausgestorbe¬ nen Brauch.) Welche Äußerungen Schenkungen oder Begrüßun¬ gen sind, stellt der Ethnolinguist an ihren konventionalen Rollen fest; wie Äußerungen mit dieser Rolle aussehen, schreibt er ins Lehrbuch der untersuchten Sprache, indem er angibt, welche Sätze unter welchen Umständen gerade diese Rolle spielen. Wir haben oben gesehen, daß es schwer ist, die Gebrauchs¬ theorie der Bedeutung für Wörter oder Sätze durch Beispiele plausibel zu machen. Für die Bedeutung von Äußerungen haben wir das Problem gelöst. Wir können für einzelne Beispiele kon-

Äußerungsbedeutungen -

-

SPRACHSPIELE UND LEBENSFORMEN

angeben, welcher Gebrauch einer Äußerung dafür kenn¬ zeichnend ist, daß sie ihre Bedeutung hat; dabei identifizieren wir den Gebrauch mit dem charakteristischen Paar aus Vorbedin¬ kret

Beispiele plausibel

sind und Gebrauchstheorie wird die verallgemeinerungsfähig aussehen, plausibel. Führen wir ein solches Beispiel aus: 1. Die Äußerung Geäußerter Satz: "Geh an die Tafel!" Umstände: Der Adressat ist Schüler in der Klasse, die der Sprecher als Lehrer gerade unterrichtet. 2. Die Äußerungsbedeutung Der Sprecher trägt dem Adressaten auf ("befiehlt ihm", wie Wittgenstein in PU 185 sagt), an die Tafel zu gehen. 3. Der Gebrauch Wenn der Sprecher gegenüber dem Adressaten die Autorität hat, ihn an die Tafel zu rufen, und die unter 1 gekennzeichnete Äußerung tut, dann muß der Adressat an die Tafel gehen. Wenn die unter 1 gekennzeichnete Äußerung die unter 2 ge¬ kennzeichnete Äußerungsbedeutung hat, dann ist der Gebrauch der Äußerung so, wie unter 3 angegeben. Er wird in 3 angege¬ ben, ohne daß vorausgesetzt werden müßte, daß für weitere Äußerungsbedeutungen der kennzeichnende Gebrauch schon angegeben wäre. Verallgemeinert, bietet 3 eine Beschreibung des "Sprachspiels des Befehlens" soll x ein Befehl des Spre¬ chers an den Adressaten sein, H zu tun, dann muß gelten: Wenn der Sprecher gegenüber dem Adressaten die Autorität hat, H von ihm zu verlangen, und der Sprecher gegenüber dem Adres¬ saten x äußert, dann muß der Adressat H tun. Das Beispiel ist plausibel. Es ist darüber hinaus verallgemeinerungsfähig, weil man sieht, wie sich für verschiedene Äußerungen verschiedene Aufträge als Bedeutungen durchprobieren lassen und wie dann richtige Gebrauchsbeschreibungen herauskommen.

gung und

Ergebnis.

Soweit diese

-

1.4 Die Gebrauchstheorie für Satz-

und

Wortbedeutungen

Das bedeutet allerdings nicht, daß der Feldforscher ein einfa¬ ches Dechiffrierungsverfahren zur Verfügung hätte, mit dem er die Bedeutungen der Äußerungen in der ihm gänzlich fremden

21

22

EIKE VON SAVIGNY reihenweise knacken könnte. Im Gegenteil er be¬ kommt erhebliche Probleme, und gerade seine Probleme erlau¬ ben zu verstehen, welche Rollen Lebensformen für die Ge¬ brauchstheorie spielen. Bevor wir uns dieser Frage zuwenden, ist allerdings noch zu klären, wie auf der Grundlage einer Ge¬ brauchstheorie der Außerungsbedeutung eine Gebrauchstheorie für Satzsinn und Wortbedeutung skizziert werden kann. Als Forscher im unbekannten Land mit der uns gänzlich frem¬ den Sprache haben wir glücklich herausgebracht, daß "Dat is dir" als eine von S, dem x gehört, an A gerichtete Äußerung, bei der S dem A das x aushändigt, das typische konventionale Ergeb¬ nis einer Schenkung hat. Wir nehmen deshalb die Hypothese an, "Dat is dir" habe die Bedeutung, daß S A den übergebenen Gegenstand schenkt. Zu unserer Überraschung äußert derselbe Sprecher gegenüber demselben Adressaten beim Aushändigen desselben Gegenstandes am nächsten Tag wiederum "Dat is dir"; diesmal hat er den Gegenstand aus einem Fach eines Regals geholt, das er verwaltet und wo viele ähnliche Gegenstände lagern, die von verschiedenen Leuten im Laufe der letzten Stun¬ den dort abgegeben worden sind. (Die Szene mag während des Karnevals in einem rheinischen Fundbüro spielen.) Diese zweite Äußerung, finden wir heraus, hat die konventionale Vorbedin¬ gung und das konventionale Ergebnis einer Mitteilung von S an A, daß der übergebene Gegenstand A gehört. Welche Bedeu¬ tung hat der Satz "Dat is dir"? Schenkung oder Mitteilung? Wittgenstein streitet an einigen Stellen mehr oder weniger explizit ab, daß Sätze außerhalb von Verwendungssituationen überhaupt Sinn hätten, so in PU 117 b (und mit demselben Beispiel in PU 514), PU 348, 349,408,409 und 520. Möglicher¬ weise hat er übersehen, daß ein Satz, außerhalb einer Verwen¬ dungssituation betrachtet, etwas anderes ist als ein Satz, für den es keine Verwendungssituation gibt; auf diesen Sachverhalt wird allerdings einmal, nämlich in PU 525, ganz deutlich hingewie¬

Sprache

sen

-

(und für Wörter genauso in PU 534).

Der

Bedeutungsbegriff hat aber für Sätze eine etablierte Ver¬

wendung, die zumindest in den Grenzen klar ist, in denen es einen disziplinierten Gebrauch des Begriffs der korrekten Über¬ setzung von einer Sprache in die andere gibt. In diesem Sinne hat der Satz "Dat is dir" ungefähr dieselbe Bedeutung wie der Satz "This is yours". Daraus folgt natürlich nicht, daß jedeAuße-

SPRACHSPIELE UND LEBENSFORMEN rung des Satzes "This is yours" dieselbe Bedeutung (im Sinne derselben Rolle im Sprachspiel) hat wie jede Äußerung des Sat¬ zes "Dat is dir", und zwar schon deshalb, weil nicht jede Äuße¬ rung des Satzes "Dat is dir" dieselbe Bedeutung hat. Auf unsere Frage nach der Bedeutung des Satzes "Dat is dir" stehen uns zwei Antworten offen. Auf die eine legt Wittgenstein sich mit seinen polemischen Bemerkungen fest, und sie ist be¬ sonders unschön: Das Beispiel wird als Beleg dafür gewertet, daß der Satz "Dat is dir" mehrdeutig ist; er hat überhaupt nur in Verwendungssituationen Sinn, und wenn er in n Situationen benutzt werden kann, um n verschiedene Dinge zu sagen, dann ist er n-deutig. Mit dieser Option verbaut man sich die ohnehin geringe Chance, eine übersichtliche Darstellung oder eben Theorie zu finden, die einem sagt, was für Dinge man in was für Situationen mit "Dat is dir" sagen kann. (Man beachte, daß die Indexikalität für das Problem keine Rolle spielt.) Man hat auch keine Aussicht auf eine Theorie, die das unverzichtbare Datum rettet, daß "Dat is dir" im Rheinischen dasselbe bedeutet wie im Schriftdeutschen "Das gehört dir" und "Das ist deins" oder wie im Englischen "This is yours" Sätze, die sich in bezug auf die bei ihren Verwendungen zustandekommenden Äußerungsbe¬ deutungen weitgehend gleich verhalten wie "Dat is dir". Wenn sie dasselbe bedeuten, dann sollte man auf Theorien des Rheini¬ schen, des Schriftdeutschen und des Englischen hoffen dürfen, aus denen sich ergibt, daß sie dasselbe bedeuten. Das mag wohl oder übel zugunsten der zweiten Option ausge¬ hen, nämlich so, daß die Theorien des Rheinischen, des Schriftdeutschen und des Englischen konkret angeben, was die Sätze bedeuten, indem sie etwas angeben, das sie zu der Bedeutung der Sätze erklären, also etwas, das am Satz hängt (sich aus Lexikon und Grammatik ergibt), nicht an Verwendungen des Satzes. Herauskommen muß dann, daß die Sätze dieselbe Bedeutung ha¬ ben. Französische Lehrbücher des Rheinischen, des Schriftdeut¬ schen und des Englischen könnten z. B. für alle drei Sätze als Bedeutungen angeben "que la chose indiquée appartient à la personne addressée". Mit einer Metaphysik verwendungsunab¬ -

hängiger Bedeutungen hat das nicht das geringste zu tun; man findet die Satzbedeutungen ja durch Versuch und Irrtum gerade so heraus, daß sie eine übersichtliche Angabe der Umstände gestatten,

unter

denen Äußerungen der Sätze ihre charakteristi-

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EIKE VON SAVIGNY sehen Rollen annehmen. Freilich muß man aufpassen, für die Theorien des Rheinischen, des Schriftdeutschen und des Engli¬ schen kein metaphysisches Korsett zu schmieden und etwa a priori begründen zu wollen, Satzbedeutungen müßten Wahr¬ heitsbedingungen sein. In den anvisierten Theorien treten Satz¬ bedeutungen als theoretische Entitäten auf, die man für Sätze postuliert (und deren Zuordnung zu den Sätzen auf der Basis von deren Struktur und Wörtern von der Semantik der jewei¬ ligen Sprache geleistet werden muß), weil die Pragmatik der Sprache es anders nicht fertigbringt, diejenigen Außerungsbe¬ deutungen auf die Reihe zu bringen, die die Verwendungen der Sätze in typisierten Situationen haben. Welche theoretischen Entitäten eine Theorie zu Systematisierungs- und Voraussage¬ zwecken postuliert, schreibt man ihr tunlichst nicht vor, sondern überläßt man am besten ihr selbst. Deshalb geht Wittgenstein in seiner Aversion gegen wolkige Bedeutungstheorien entschieden zu weit, wenn er behauptet, Sätze wie "Dies ist hier" oder "Ich bin hier" hätten außerhalb von Verwendungssituationen keinen Sinn (PU 117 b, 514); rich¬ tig ist, daß es wenige Typen von Situationen geben dürfte, in denen man sie verwenden könnte, um eine bedeutungsvolle Äußerung zu tun, und daß sie insbesondere nicht für selbstveri¬ fizierende Mitteilungen benutzt werden können. Auch ein dis¬ zipliniert eingeführter Begriff der Satzbedeutung kettet diese hinreichend eng an die "Rolle im Sprachspiel"; nur müssen Rollen von bedeutungsvollen Äußerungen (also von Verwendungen von Sätzen in Situationen, wo Äußerungsbedeutungen zustande kommen) unterschieden werden von Rollen von bedeutungsvollen Sätzen (also von Sätzen, die man in gewissen Situationen ver¬ wenden kann, um bedeutungsvolle Äußerungen zu tun). Die Rolle einer bedeutungsvollen Äußerung wird angegeben durch ihre konventionale Vorbedingung und ihr konventionales Er¬

gebnis; die Rolle eines bedeutungsvollen Satzes ist sein Beitrag zum Zustandekommen der Rollen der bedeutungsvollen Äuße¬

rungen dieses Satzes. Dabei ist "Beitrag" ein ziemlich bildhafter Ausdruck. Äuße¬ rungsbedeutungen sind im Standardfall Paare aus einer illokutionären Rolle (S empfiehlt A) und einer Proposition (daß A den Hund kauft). Man möchte deshalb meinen, der "Beitrag" des geäußerten Satzes müsse eines von beiden sein; Wahrheitsbe-

SPRACHSPIELE UND LEBENSFORMEN

dingungen-Semantiker neigen instinktiv dazu, diesen Beitrag, also die Satzbedeutung, mit der Proposition der Außerungsbe¬ deutung zu identifizieren. Wie das Beispiel des in Standardsitua¬

tionen für die genannte Empfehlung verwendbaren Satzes "Der Hund ist bissig" zeigt, ist der Instinkt wenig hilfreich. Daß die Satzbedeutung den Beitrag des Satzes zu den Außerungsbedeu¬ tungen darstellt, ist eine verkürzte Redeweise dafür, daß die Regeln fur das Zustandekommen von Außerungsbedeutungen ihre Gesamtheit ist die Pragmatik der Sprache mit zwei Infor¬ mationen auskommen müssen: der über die relevanten Situationsumstände und der über die Satzbedeutung. Für die Prag¬ matik ist am Satz nur die Satzbedeutung interessant. Es ist erstaunlich, daß Wittgenstein mit der Bedeutung von Wörtern offenbar weniger Schwierigkeiten hatte als mit der Bedeutung (bei ihm: dem Sinn) von Sätzen; jedenfalls gibt es keine vergleichbare Polemik. (Die einzige deutliche Ausnahme findet sich in PU 117 a.) Wortbedeutungen sind nämlich noch eine Stufe theoretischer als Satzbedeutungen: Sie werden in der Semantik einer Sprache postuliert, weil diese sich anders nicht zu helfen weiß, wenn sie aus Wörtern und Satzstrukturen jene Satzbedeutungen konstruieren soll, die sie der Pragmatik der -

-

stellen muß, damit diese systematisch welche voraussagen kann, Außerungsbedeutungen die Verwen¬ dungen der Sätze in typisierten Situationen haben werden. Wenn die Bedeutung des Wortes seine Rolle im Sprachspiel ist, dann also insofern, als sie sein Beitrag zu den Bedeutungen der Sätze ist, in denen es vorkommt, deren Bedeutung oder Rolle wiederum ihr Beitrag zu den Bedeutungen oder Rollen ist, die ihre Äußerungen haben. Was dabei unter "Beitrag" genau zu verstehen ist, hängt natürlich davon ab, wie der theoretische Aufbau der (hoffentlich korrekten!) Semantik bzw. Pragmatik

Sprache

zur

Verfügung

aussieht. Da Wörter in vielen bedeutungsverschiedenen Sätzen und Sät¬ ze in vielen bedeutungsverschiedenen Äußerungen vorkommen, würden die Regeln dafür, wie man ein einzelnes Wort in Sprach¬ spielen gebraucht, wohl Bände füllen. Die zutreffende Feststel¬ lung, ein Wort bezeichne z. B. die Farbe Rot, wäre keine Beschreibung seines Gebrauchs; dafür muß erst noch beschrie¬ ben werden, wie es konkret aussieht, daß das Wort die Farbe Rot bezeichnet (vgl. PU 10, 15, 53 u. ö.). Wttgenstein erweckt in -

-

25

2

6

EIKE VON SAVIGNY

Überlegungen den Eindruck, als bestünden die Regeln für

vielen den Gebrauch eines

Begriffsworts in den Regeln für seine Anwen¬

dungauf Exemplare, etwa wenn er in PU 66-78 gegen das Vorur¬ teil, Bedeutungen seien einheitlich, präzise und fest, Beobach¬

tungen darüber ins Feld führt, die dieses Vorurteil zwar erschüt¬ tern, allerdings eben für Anwendungsregeln. Wer das Wort "rot" falsch anwendet, begeht aber im Allgemeinen keinen Verstoß ge¬ gen die Regeln für den Gebrauch von "rot", sondern führt einen Auftrag wegen Lieferschwierigkeiten falsch aus, rät die Farbe von

Smaragden falsch, fällt auf ein Farbwahrnehmungsexperiment herein oder gibt einen falschen Bericht über die Ampelstellung zur Unfallzeit. (In der Situation, wo die Beherrschung des Voka¬ bulars an Farbmustern getestet wird, ist die falsche Anwendung dagegen ein Verstoß gegen die Gebrauchsregeln.) Ahnliches wie für Begriffswörter gilt für Eigennamen; die Regeln für ihre Ver¬ wendung in Sprachspielen sind alles andere als einfach, und die Komplikationen bestehen nicht darin, daß man Eigennamen nicht definieren kann (PU 79). Daß ein Gegenstand auf einen Namen getauft ist, heißt zum Beispiel so lange nichts, wie man die Zeremonie nicht als Taufe kennzeichnen kann; und sie ist keine Taufe, wenn sie nicht das Ergebnis hat, daß das Wort nachher als Name für den Gegenstand verwendet werden kann ein offenkun¬ diger Erläuterungszirkel. Bleibt die Folge aus, dann ist bloß das Täfelchen angeheftet, welches ja erst dadurch zum Namenstäfel¬ chen wird, daß der darauf stehende Name den Gegenstand wirk¬ lich bezeichnet, also tatsächlich als Name für ihn gebraucht wird (PU 15,26). Für Personennamen weist PU 2 7 (vgl. auch PU 691 ) unter bewußter Ausnutzung der Mehrdeutigkeit der Wendung "jemanden mit einem Namen rufen" auf eine typische Verwen¬ dung hin: Wenn S in Richtung einer Gruppe von Menschen "Hans!" ruft und daraufhin von genau einer Person aus der Grup¬ pe erwartet wird, daß sie mit S Kontakt aufnimmt, dann paßt das zu der Annahme, daß diese Person Hans heiße. Aber man braucht nur über die vielfältigen sozialen Funktionen von Personenna¬ men nachzudenken, um zu sehen, wie kompliziert es wird, auf dieser Basis Personennamen von Titeln oder Verwandtschafts¬ anreden zu unterscheiden; und es scheint fast ausgeschlossen, daß man die in einer Sprache verwendeten Eigennamen ohne sehr starke Annahmen über die Syntax, wohl auch über die Wortbil¬ dung dieser Sprache identifizieren könnte. -

SPRACHSPIELE UND LEBENSFORMEN Wörter haben also nicht nur in Sätzen Bedeutung und Sätze nur in Äußerungen; aber Wörter haben nur insoweit Be¬ deutung, als sie fur Satzbedeutungen, und Sätze nur insoweit, als sie für Äußerungsbedeutungen wesentlich sind.

nicht

1.5 Die

Einbettung von Sprachen in Lebensformen

in dem bisher gezeichneten Bild die Lebensformen zu suchen haben. Wieso sind Sprachen einbet¬ tungsbedürftig, und inwiefern kann man, was sie einbettet, Lebensformen nennen? Die Antwort ergibt sich aus dem skiz¬ zierten Uberprüfungsverfahren des Feldforschers dadurch, daß dieses Verfahren ihn relativ schnell zu einer Entscheidung für eine Gesamtbeschreibung des Systems von sozialen Regeln nö¬ tigt, dem die Leute im unbekannten Land folgen. Wittgensteins Idee funktioniert nur, wenn man sich in diesem Fall (bei der Beschreibung der Pragmatik einer natürlichen Sprache) ohne

Zu klären bleibt noch,

was

Wenn und Aber zum Uberprüfungsholismus bekennt. Ich nenne vier Situationen, in denen der Feldforscher sich unter Gesichts¬ punkten der theoretischen Fruchtbarkeit zwischen Alternativen

entscheiden muß, die sich nicht auf Bedeutungszuschreibungen beschränken, sondern Auswirkungen auf Hypothesen über so¬ ziale Regeln haben, in denen von Sprachverwendung nicht die Rede ist. Solche Situationen nenne ich "Theoriefallen"; ihre

beruht auf der Erfahrung mit der Untersuchung eines relativ einfachen, natürlichen Kommunikationssystems und ist daher wahrscheinlich unvollständig.

Aufzählung

In die erste Theoriefalle gerät der Forscher deshalb, weil er, annehmen zu können, die für eine von ihm vermutete Äuße¬ rungsbedeutung charakteristische konventionale Vorbedingung liege vor, soziale Regeln als implizit geltend annehmen muß, die ihm diesen Schluß für seine Testsituation erlauben. Daß ein Sprecher in einer ganz konkreten Situation die für einen gewis¬ sen Befehl notwendige Autorität hat, läßt sich nicht in dieser Situation feststellen, sondern nur durch einigermaßen weiträu¬ um

mige Beobachtungen.

Die zweite Theoriefalle lauert auf der Seite des konventionalen Ergebnisses. Bleiben wir beim Befehl: Er hat als konventio-

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EIKE VON SAVIGNY daß der Adressat das Befohlene tun muß; aber dieses Müssen in der konkreten Situation kann wissen, unterschiedlich aussehen je nachdem, wie die Regeln für ganz die Erlaubnis oder Verpflichtung zur Befehlsverweigerung, für die Pflicht des Vorgesetzten zur Durchsetzung des Befehls, für das Durchlaufen einer hintereinander geschalteten Reihe von Sanktionen usw. aussehen. Unterschiedliche Annahmen über diese Regeln sind also nötig, wenn man das Vorliegen eines Befehls für unterschiedliche Situationen vermuten will. Auf der Seite des konventionalen Ergebnisses lauert auch die dritte Theoriefalle. Es gibt viele Äußerungen, die auf Grund ihrer Bedeutung keine neue konventionale Lage hervorbringen, sondern eine vorher bestehende konventionale Lage verstärken oder abschwächen. Wenn der Sprecher den Adressaten um etwas bittet, ist der Adressat dazu nicht einfach verpflichtet, sondern mehr als zuvor verpflichtet; lehnt der Sprecher eine Bitte des Adressaten ab, dann hat der Adressat nicht etwa keinen An¬ spruch auf Erfüllung, sondern denselben wie vor seiner Bitte; dankt der Sprecher dem Adressaten, dann vermindert sich seine anderweitig bestimmte Pflicht zur Gegenleistung, und entschul¬ digt er sich, dann vermindert sich seine anderweitig bestimmte Pflicht zum Schadenersatz. Die vierte Theoriefalle lauert, wo Handlungen der Leute als sprachliche Äußerungen mit Bedeutungen charakterisiert wer¬ den. Es gibt zahllose nicht-akustische Handlungen, die wir nicht als sprachliche Äußerungen auffassen, die aber mit denselben Paaren aus konventionalen Vorbedingungen und konventiona¬ len Ergebnissen einhergehen wie gewisse sprachliche Äußerun¬ gen. Ein Beispiel dafür ist, daß ein Herr einer Dame die Tür aufhält; die Situation hat dieselbe konventionale Aufmachung wie die Äußerung "Bitte nach Ihnen", also wie das Angebot des Sprechers an die Adressatin, sie vorgehen zu lassen. Und es gibt akustische Verlautbarungen, die wir nicht als sprachliche Äuße¬ rungen auffassen, obgleich für sie dasselbe gilt wie fürs Türauf¬ halten. Man denke daran, daß in einer Besprechung alle darauf warten, daß endlich ein Vorschlag kommt, und einer lehnt sich nun vor, ordnet seine Papiere und räuspert sich: alle anderen erwarten dann von ihm, daß er einen Vorschlag macht. (Es ist verwunderlich, daß das Problem, wie Äußerungen identifiziert werden, in der Sprachphilosophie so wenig berücksichtigt wird.)

nales

Ergebnis,

wie wir

SPRACHSPIELE UND LEBENSFORMEN Die theoretische Alternative lautet in diesen Fällen: Finden wir ein System von Regeln für Außerungsbedeutungen, nach denen die akustische Verlautbarung als Äußerung mit einer Bedeutung gekennzeichnet werden kann, oder ist als Beschreibung ein Sy¬ stem von sozialen Regeln vorzuziehen, nach denen jemand da¬ durch Erwartungen weckt und ihnen genügen muß, daß er sich in kritischen Situationen auffällig benimmt? Aus dem Holismus der skizzierten Uberprüfung von Bedeutungszuschreibungen ergibt sich der Gedanke, Sprachen seien in soziale Systeme (und in so verstandene Lebensformen) einge¬ bettet, wenn man dieses Bild folgendermaßen konkretisiert: Daß ein Regelsystem (eine Sprache) in ein anderes (in eine Lebens¬ form) eingebettet ist, heißt, daß die Möglichkeit, sich nach dem ersteren System zu verhalten und die von ihm vorgesehenen Ergebnisse zu erzielen (die Sprache zu benutzen), davon ab¬ hängt, daß man sich auch im letzteren System bewegt (daß man die Lebensform lebt). Verlangt man nun von einer zutreffenden Beschreibung der benutzten Sprache, daß sie Äußerungsbedeu¬ tungen solchen Verhaltensweisen zuschreibt, die unter charak¬ teristischen konventionalen Vorbedingungen charakteristische konventionale Ergebnisse haben, die ihrerseits durch das Gelten von Regeln definiert sind, in denen von Sprachverwendung nicht die Rede ist, dann ist die konkretisierte Einbettungsbedingung erfüllt. Nicht alle Vorbedingungen und Ergebnisse müssen vor¬ sprachlich möglich sein; zum Beispiel setzt die Frage "Ist diese Begründung schlüssig?" voraus, daß eine Begründung vorausge¬ gangen ist, und erzeugt die Erwartung an die Zuhörer, etwas dazu zu sagen. Es bedarf aber wenig Phantasie, sich die teils begrifflichen, teils empirischen Gründe vor Augen zu führen, aus denen es dabei nicht bleiben kann. Zum Beispiel enthalten Begründungen Feststellungen, Annahmen oder Behauptungen, mit denen der Sprecher sich auf mehr festlegt als bloß auf weite¬ re Äußerungen. Außerdem sind Schlüssigkeitsbeurteilungen ge¬ wiß eine recht späte sprachliche Errungenschaft. Die Interpretation der "Lebensform" als eines Systems sozia¬ ler Regeln ist bis hierher dadurch begründet, daß eine Wittgen¬ stein vorsichtig weiterdenkende Interpretation des Zusammen¬ hangs von "Sprachspiel", "Gebrauch" und "Bedeutung" (oder "Sinn") zu der Annahme nötigt, daß Sprachen in Systeme von sozialen Regeln eingebettet sind, gerade wie die eingangs dieses

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EIKE VON SAVIGNY

Kapitels zitierten Sätze aus PU 19 und PU 23 Sprachen in Le¬ bensformen eingebettet wissen wollen, und daß das Einbettungs¬ verhältnis zwischen Lebensform und Sprache ganz konkret be¬ schrieben werden kann. Es gibt demgegenüber die Meinung, Wittgenstein verstehe unter Lebensformen Mengen von biolo¬ gisch determinierten Verhaltensweisen.6 Für diese Interpretati¬ on gibt es auf den ersten Blick einen positiven Beleg: Man sagt manchmal: die Tiere sprechen nicht, weil ihnen die geistigen Fähigkeiten fehlen. Und das heißt: "sie denken nicht, darum sprechen sie nicht". Aber: sie sprechen eben nicht. Oder besser: sie verwenden die Sprache nicht wenn wir von den primitivsten Sprachformen absehen. Befehlen, fragen, -

erzählen, plauschen gehören zu unserer Naturgeschichte wie gehen, essen, trinken, spielen. (PU 25.) -

so

Naturgeschichte" stellt Wittgenstein deutlich die biologische Verfassung des Menschen derjenigen der Tiere ge¬ genüber, und zwar so, daß zur biologischen Verfassung des Men¬ schen im Unterschied zu der der Tiere die Sprachverwendung gehört. Man könnte sogar versucht sein zu sagen: Da es soziale Tiere gibt, die aber, "wenn wir von den primitivsten Sprachfor¬ men absehen", keine Sprache haben, könne es nicht das Sozial¬ verhalten sein, welches nach Wittgensteins Meinung die Spra¬ che einbette. Aber gegen diese Interpretation von PU 25 spre¬ chen zwei Überlegungen. Zum einen ist natürlich durchaus möglich, daß nur die Spezies Homo sapiens sapiens organisch so ausgestattet ist, daß sie For¬ Mit "unserer

men um

des sozialen Verhaltens entwickeln konnte, die ausreichen,

Sprachen einzubetten. Zwar kann man das Zusammenleben

vieler sozialer Tiere am besten dadurch beschreiben, daß man im oben explizierten Sinne sagt, sie folgten Regeln und ihr Verhalten wecke bei Artgenossen Erwartungen. Darüber hinaus gibt es viele Verhaltensweisen, für die die Ethologen keine ande¬ ren Funktionen finden als gerade die, daß damit das Verhalten von Artgenossen beeinflußt wird; solches Verhalten wird Signal¬ oder kommunikatives Verhalten genannt. Und wenn in der etho6 Hunter

1968, insbes. S. 284-289.

SPRACHSPIELE UND LEBENSFORMEN

logischen Literatur auch nicht auf die für den Anfang der konventionalen Sprache wesentliche Verknüpfung geachtet wird Signalverhalten im ethologischen Sinne, das Erwartungen an Sprecher und Adressaten auch bei Dritten weckt -, mag es doch so sein, daß durchs Wimmern eines hungrigen Affenbabys die Mutter unter den Erwartungsdruck der ganzen Gruppe gerät, das Baby zu säugen. Das wäre dann die Urform des Bittens. Aber wir können Wittgenstein ruhig zugestehen, daß zu Menschen¬ sprachen ein solcher Sprung nötig ist, daß man sagen kann: Auch die intelligentesten Affen und Delphine haben einfach nicht das Gehirn, um ihr Signalverhalten so zu bereichern, daß es eine Unterhaltung übers Wetter erlaubt. Das menschliche Gehirn erlaubt diese Bereicherung des Signalverhaltens freilich gerade deshalb, weil es die nötige Differenzierung des Sozialverhaltens erlaubt; denn Lautmodifikationen sind nur insoweit bedeutungs¬ voll, als die Artgenossen darauf reagieren können. Es ist also ganz richtig, daß dem (über die Anfänge hinausgehenden) Spre¬ chen die biologische Verfassung des Menschen zugrunde liegt, aber eben gerade deshalb, weil die biologische Verfassung be¬ stimmt, wie differenziert das Sozialverhalten sein kann. Zum andern muß man sich auch bei der Interpretation von PU 25 daran erinnern, wie wichtig der Kontext für die einzelnen Abschnitte ist. In PU 1 hat Wittgenstein bei Augustinus das Bild gefunden, dem Sprechen liege die innere Denkarbeit zugrunde. (Das Bild führt für Wttgenstein zur Gegenstandstheorie der Bedeutung.)7 Demgegenüber hat er von PU 1 c bis PU 19 a begründet, daß Ausdrücke nur dank ihrer Verwendung in Sprach¬ spielen bedeutungsvolle Wörter, und von PU 19 b bis PU 24, daß Ausdrücke nur dank ihrer Verwendung in Sprachspielen sinn¬ volle Sätze seien. Hier faßt er erstmals zusammen: Der Verwen¬ dung der Sprache liegt das Denken nicht in dem Sinne zugrunde, daß wenn jemand nicht dächte, er dann auch nicht sprechen könnte; sondern daß jemand die Sprache verwendet, ist genauso¬ gut eine Verhaltensweise wie "gehen, essen, trinken, spielen", die auch keine Ubersetzungen eines vorgängig vorhandenen Inner¬ lichen nach außen darstellen. Die Pointe des Worts "Naturge-

-

7 Diese

Interpretation

(1988) 1994, ad kc.

von

PU 1 habe ich ausführlich

verteidigt in v. Savigny

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EIKE VON SAVIGNY schichte" liegt also nicht darin, daß Sprechen Natur im Gegen¬ satz zu Kultur wäre, sondern darin, daß die Charakterisierung eines Verhaltens als Sprechen genauso unabhängig von Überle¬ gungen über ein zugrundeliegendes Denken ist wie die Charak¬ terisierung eines Verhaltens als Spielen. Wittgenstein wiederholt die Kritik an Augustinus in PU 32, nachdem er von PU 26 bis PU 31 beschrieben hat, wie auch die hinweisende Definition auf die Einbettung in Sprachspiele angewiesen ist: Und nun können wir, glaube ich, sagen: Augustinus beschrei¬ be das Lernen der menschlichen Sprache so, als käme das Kind in ein fremdes Land und verstehe die Sprache des Lan¬ des nicht; das heißt: so als habe es bereits eine Sprache, nur nicht diese. Oder auch: als könne das Kind schon denken, nur noch nicht sprechen. Und "denken" hieße hier etwas, wie: zu sich selber reden. (PU 32 b.) PU 25 will also darauf

hinaus, daß es ganz irreführend ist zu zum daß Sprechen das Denken nötig sei; wesentlich dafür, sagen, daß Menschen sprechen, sind vielmehr Verhaltensweisen, die eben nur bei Menschen vorkommen. Warum sie nur bei Men¬ schen vorkommen, ist gar nicht Thema des Abschnitts. Unter "Lebensform" etwas zu verstehen, das durch die biolo¬ gische Verfassung des Menschen festgelegt ist, legt PU 25 also überhaupt nicht nahe. Und weitere Beobachtungen am Text schließen die Interpretation aus es gibt für die PU unabge¬ schlossen viele menschliche Lebensformen, gerade wie die In¬ terpretation der Lebensform als eines Systems von sozialen Re¬ geln das erwarten läßt. Den ersten Beleg bietet PU 19 a: -

Man kann sich leicht eine Sprache vorstellen, die nur aus Befehlen und Meldungen in der Schlacht besteht. Oder eine Sprache, die nur aus Fragen besteht und einem Ausdruck der Bejahung und der Verneinung. Und unzählige Andere. Und eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstel¬ len. -

-

Darnach kann man sich unzählige Sprachen vorstellen; die bei¬ den Beispiele sind "eine Sprache [...], die nur aus Befehlen und Meldungen in der Schlacht besteht" und "eine Sprache, die nur

SPRACHSPIELE UND LEBENSFORMEN

Fragen besteht und einem Ausdruck der Bejahung und der Verneinung". Als Beispiele werden also disjunkte Sprachen an¬ gegeben. In diesem Fall kann der an "Und unzählige Andere" anschließende Satz "Und eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen" sprachlich nicht anders verstanden wer¬ den als so, daß es zu disjunkten Sprachen unterschiedliche Le¬ bensformen gibt. Die Lesart "die Lebensform des Sprachver¬ wendens" ist ausgeschlossen; dazu müßte der Satz so ähnlich lauten wie: "Freilich eine dieser Sprachen vorstellen heißt aus

immer, sich dieselbe Lebensform vorstellen." -

Zum selben Ergebnis kommt die Interpretation von PU 2 3, obgleich dort in b über "das Sprechen der Sprache" gesagt wird, daß es "ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform": Wieviele Arten der Sätze gibt es aber? Etwa Behauptung, Frage und Befehl? Es gibt unzählige solcher Arten: unzählige verschiedene Arten der Verwendung alles dessen, was wir "Zeichen", "Worte", "Sätze", nennen. Und diese Mannigfal¬ tigkeit ist nichts Festes, ein für allemal Gegebenes; sondern neue Typen der Sprache, neue Sprachspiele, wie wir sagen können, entstehen und andre veralten und werden vergessen. (Ein ungefähres Bild davon können uns die Wandlungen der Mathematik geben.) Das Wort "Sprachspiel" soll hier hervorheben, daß das Spre¬ chen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Le¬ bensform. -

Aber zum einen ist "das Sprechen der Sprache" nicht etwa dassel¬ be wie die Sprachverwendung (von der in PU 25 die Rede ist) warum dann nicht einfach "Sprechen"? Die Lesart "das Sprechen dieser [jeweiligen] Sprache" ist nicht nur möglich, sondern sogar geboten, weil "Sprachspz'e/" ausdrücklich benutzt wird, um etwas am Sprechen der Sprache hervorzuheben, und es wird in a be¬ nutzt, um wie in PU 19 a darauf hinzuweisen, daß es unzählige "Typen der Sprache" gibt. Also: Jedes Sprechen einer neuen Sprache ist ein neues Sprachspiel. Das ist genau das, worauf der Kontext der Stelle hinauswill. Zum anderen bedeutet, "daß das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform", nicht etwa, daß jeder Sprachensprecher teilhat an der allumfassenden Lebensform, die -

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EIKE VON SAVIGNY dem Sprachverwenden zugrunde liegt oder es ausmacht, sondern daß jedes Sprechen einer Sprache in eine Lebensform eingebettet ist ("ein Teil ist einer Tätigkeit, d. h. ein Teil einer Lebensform": "oder" ist wie englisch "or" gebraucht); und verschiedene Spra¬ chen kommen gerade durch Unterschiede zwischen den einbet¬ tenden Lebensformen zustande. Man muß sich das in a für die Arten der Ausdrucksverwendung, für die Typen der Sprache, fur die Sprachspiele (wie in PU 19 a für die Sprachen) verwendete Wort "unzählige" nämlich genauer anschauen. Natürlich braucht man nicht "unendlich viele" zu lesen, sondern im Alltagsver¬ ständnis "unüberschaubar viele"; aber auf Grund zweier Sachver¬ halte heißt es auch "unabgeschlossen viele": In PU 23 a wird gesagt, daß sich ständig neue Sprachspiele entwickeln, und die Beispielsliste in PU 23 c ist offenkundig so zu verstehen, wie Wittgenstein sich Erklärungen durch Beispiele überhaupt vor¬ stellt: als offen und fortsetzbar. (Vgl. PU 69, 71, 75 u. ö.) Damit bekommt die Lebensform ein ganz erhebliches Gewicht: Unter¬ schiede zwischen Lebensformen sind leicht vorstellbar, wenn sie für Unterschiede zwischen eingebetteten Sprachen verantwort¬ lich sein sollen; zum Beispiel gibt es in einer Gesellschaft ohne Autoritätsverhältnisse keine Befehle, und das Schenken kennen wir nur, weil wir das Eigentum als Institution haben. Die Menge der sozialen Regeln einer Gesellschaft kann man sich natürlich jederzeit so verändert denken, daß Typen von Äußerungen entfal¬ len, erst möglich werden oder sich Nuance für Nuance ändern. Die Einbettung der Sprache in die jeweilige Lebensform macht also verständlich, warum es unabgeschlossen viele Spra¬ chen geben kann. Sie macht ja auch erst verständlich, wieso es die beiden primitiven Sprachen aus PU 19 a geben könnte. Sie sind nämlich alles andere als leicht vorzustellen es sei denn, man malt sich einbettende Lebensformen, die von der unseren sehr stark abweichen, sehr ausführlich aus. Einbettende Lebensformen können so große Unterschiede aufweisen, daß es Unterschiede zwischen den einbettbaren Spra¬ chen geben muß. Die Unterschiede brauchen nicht so weit zu gehen, daß in der einen Lebensform Institutionen existieren, die es in der anderen nicht gibt; kleinere Unterschiede genügen durchaus. Wir kennen zum Beispiel keine Äußerungen, deren Bedeutungen x, y und z wie folgt durch ihren Gebrauch gekenn¬ zeichnet wären: -

SPRACHSPIELE UND LEBENSFORMEN

(1) Soll die Äußerung die Bedeutung x haben, dann gilt: Wenn

g dem Adressaten gehört, dann gehört g nach der Äußerung dem Sprecher, und der ist gegenüber dem Adressaten zur Dankbarkeit verpflichtet. (2) Soll die Äußerung die Bedeutung y haben, dann gilt: Wenn der Sprecher Ehemann der Adressatin ist, dann sind die bei¬ den nach der Äußerung nicht mehr verheiratet. (3) Soll die Äußerung die Bedeutung z haben, dann gilt: Wenn der Adressat den Sprecher beleidigt hat, dann muß der Adres¬ sat sich nach der Äußerung dem Sprecher zum Zweikampf stellen, und mit diesem Zweikampf sind unabhängig vom Ausgang die Folgen der Beleidigung erledigt. Äußerungen mit der Bedeutung x sind umgekehrte Schenkun¬ gen, solche mit der Bedeutung y einseitige Scheidungen und solche mit der Bedeutung y Duellforderungen. Alle drei Bedeu¬ tungen kommen mit den bei uns üblichen sozialen Institutionen aus. Aber damit Äußerungen mit solchen Bedeutungen üblich sein können, müssen die sozialen Systeme sich von unseren unterscheiden. Fangen wir bei der Duellforderung an: Sie kann bei uns heutzutage nicht üblich sein, weil es keine Teilmenge von Menschen gibt, die sich auf einen sogenannten Ehrenkodex verpflichtet fühlen, dessen unbedingte Wahrung für das Auf¬ rechterhalten der eigenen sozialen Stellung nötig ist und in dessen Rahmen sogenannte Beleidigungen Angriffe auf Rang und Geltung einer Person sind, für deren Abwehr das Risiko des Duells sich lohnt. Dafür, daß es die Ehescheidung durch einseitige Willenser¬ klärung des Ehemannes geben kann, müssen Männer natürlich ganz erheblich mehr Rechte (von dem zur Scheidung abgese¬ hen) haben als Frauen. Denn da die Ehe u. a. eine Versorgungs¬ gemeinschaft ist und Ehemänner sich vor allem dann von ihren Frauen scheiden werden, wenn diese nicht mehr damit rechnen können, in die Versorgungsgemeinschaft mit einem anderen Mann einzutreten, und da außerdem der soziale Status der ge¬ schiedenen Frau niedriger ist als der der verheirateten, wäre der gesamtgesellschaftliche Widerstand der Frauen gegen solche Äußerungen aus einer gleichberechtigten Stellung heraus viel zu stark. Was das erste Beispiel angeht, das Aneignen fremder Sachen durch einfache Erklärung: Wenn es solche Äußerungen geben -

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EIKE VON SAVIGNY

soll, dann muß es natürlich die Institution des Eigentums geben.

ist im wesentlichen Verfügungsmacht. Man muß in einer Gesellschaft mit einer Sprache, die solche Äußerungen erlaubt, über seine Sachen also verfügen können, obwohl andere die Möglichkeit haben, sie einem durch einfache Erklärung zu entziehen. Das könnte zum Beispiel dadurch erreicht werden, daß man Kredite aufnimmt und möglichst alle seine Sachen dafür verpfändet; wenn die Regel gilt, daß die Schulden am Pfand haften, werden andere es sich zehnmal überlegen, ehe sie sich eine möglicherweise belastete Sache aneignen. Im Unter¬ schied zu unseren Idealen würde es dort als erstrebenswert gel¬ ten, sich buchstäblich bis an die Grenze der Belastbarkeit zu verschulden. Oder die Lebensform könnte so geartet sein, daß die entstehende Dankesschuld so drückend wäre, daß sie zwar keine Sicherheit, aber hinreichenden Schutz böte; man könnte sich zwar nicht darauf verlassen, am nächsten Tag noch alle seine Sachen sein eigen zu nennen, wohl aber die meisten. (Es ist übrigens klar, daß es Äußerungen dieser Art nur bei "Rück¬ schlagverbot" geben kann was ein anderer sich bei mir geholt hat, darf ich mir nicht auf dieselbe Weise wiederholen.) Wenn es keine solchen Schutzmechanismen gäbe, gäbe es kein Eigentum mehr, und die Äußerung ließe sich nicht als Aneignen charakte¬ risieren. Ich glaube, daß Wittgensteins eindrucksvollste Illustration einen solchen Fehler hat. Das Beispiel der Holzverkäufer aus dem Teil I der "Bemerkungen über die Grundlagen der Mathe¬ matik" skizziert eine Lebensform, die von der unsern so stark abweicht, daß in ihr von Kaufen und Verkaufen gar nicht mehr die Rede sein kann. Im Kontext des Beispiels kommen im Zuge der Überlegungen dazu, inwiefern man einen Beweis eigentlich anerkennen "müsse", einige Beispiele für Anwendungen der Re¬ chenkunst, die uns mehr oder weniger verrückt vorkommen; offenbar will Wttgenstein die in BGM I 152 gegenüber Frege angemahnte Aufklärung darüber nachliefern, "wie diese Ver¬ rücktheit' wirklich aussehen würde".8 Er findet sie im Ergebnis

Eigentum

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8 Wittgenstein zitiert Gottlob Frege, Grundgesetze der Arithmetik, 1. Band, Jena 1893 (reprographischer Nachdruck Hildesheim 1962), S. XVI. Frege kriti¬ siert dort an Benno Erdmann die Auffassung, für Leute, die psychologisch anders geartet seien als wir, könnten eben deshalb auch andere logische Gesetze gültig

SPRACHSPIELE UND LEBENSFORMEN nicht so furchtbar verrückt, sondern nur, daß Leute, die die Rechenkunst wie beschrieben anwendeten, sich von uns bannig unterscheiden würden: In BGM I 148 zahlen sie für "Scheit¬ holz" (BGM I 143) z. B. ein und denselben Betrag für jede noch so verschieden große Menge, oder sie geben in BGM I 153 für Waren zwar Münzen, aber gerade so viele, wie ihnen gefällt. Im ersten Fall ist Wittgensteins Kommentar: "man hat etwa gefun¬ den, daß man so leben kann"; im zweiten sagt er: "Wir würden uns diesen Leuten viel weniger verwandt fühlen, als solchen, die noch gar kein Geld kennen". Richtig spannend wird es aber hier:

Gut; aber wie, wenn sie das Holz in Stöße von beliebigen, verschiedenen Höhen schichteten und es dann zu einem Preis proportional der Grundfläche der Stöße verkauften? Und wie, wenn sie dies sogar mit den Worten begründeten: ,Ja, wer mehr Holz kauft, muß auch mehr zahlen"? Wie könnte ich ihnen nun zeigen, daß wie ich sagen würde der nicht wirklich mehr Holz kauft, der einen Stoß von größe¬ rer Grundfläche kauft? Ich würde z. B. einen, nach ihren Begriffen, kleinen Stoß nehmen und ihn durch Umlegen der Scheiter in einen ,großen' verwandeln. Das könnte sie über¬ zeugen vielleicht aber würden sie sagen: "ja, jetzt ist es viel Holz und kostet mehr" und damit wäre es Schluß. Wir würden in diesem Falle wohl sagen: sie meinen mit "viel Holz" und "wenig Holz" einfach nicht das Gleiche, wie wir; und sie haben ein ganz anderes System der Bezahlung, als wir. (BGM 1 149,150.) -

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Zu sagen, die Leute meinten mit "viel Holz" und "wenig Holz" nicht das Gleiche wie wir, scheint mir uninteressant; und der Kommentar, sie hätten ein anderes System der Bezahlung, ist entschieden zu schwach. Man dürfte sich davon überzeugen können, daß hier nicht einmal verkauft und gekauft wird, weil es mangels eines Zahlungssystems gar kein "System der Bezah¬

lung" gibt.

sein. Ob

Freges Bemerkung "Da haben wir eine bisher unbekannte Art der Verrücktheit" sich auf diese vorgestellten Leute bezieht oder Erdmann selbst treffen soll, scheint der Kontext durchaus offenzulassen.

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EIKE VON SAVIGNY Nimmt man an, daß die Leute nutzenorientiert handeln und das Scheitholz wirklich als Scheitholz handeln (also als Brenn¬ holz), dann werden sie natürlich folgendes tun: Sie kaufen hoch¬ getürmtes Holz billig, breiten es aus, verkaufen es teuer, kaufen für den Erlös hochgetürmtes Holz billig, breiten es aus usw. usw. Wenn die anderen auch so schlau sind, gibt es nur noch Wieder¬ verkäufer und keine Käufer mehr, und der Markt bricht in der Zeit zusammen, die man braucht, um einen hochgetürmten Hau¬ fen umzuschichten. Wenn die Sache weitergehen soll, muß es den Leuten also egal sein, wieviel wovon sie für ihr Holz bekommen; was sie bekommen, hat dann keinen Wert und ist kein Zahlungs¬ mittel. Die Transaktionen sind keine Kaufgeschäfte. Das Ergebnis tritt nicht ein, wenn das Holz auf einem Stapel durch Ausbreiten des Stapels tatsächlich wertvoller wird, etwa weil es magische Kräfte bekommt. (Das mit den Scheitern un¬ terhaltene Feuer gibt mehr magische Energie ab, wenn die Scheiter aus einem ausgebreiteten Stapel stammen.) Holz aus hochgetürmten Stapeln wird überhaupt nur deshalb verkauft, weil jeder Mensch nur einmal in seinem Leben einen Stapel ausbreiten darf; das ist ein wichtiges Ereignis und wird mit einem großen Fest gefeiert. Der Trick bei dieser Ergänzung von Wittgensteins Geschichte ist natürlich, daß wir besondere Nach¬ frage und eine Beschränkung des Angebots eingeschmuggelt haben. Leider wird die Situation dadurch ganz und gar normalisiert: Die Leute verhalten sich wie Katholiken, die an die Kraft des Wassers aus Lourdes glauben. Ein Beispiel für Kaufen und Ver¬ kaufen bei fast beliebiger Vergrößerung des Angebots haben wir nicht gefunden; und darauf will Wittgensteins Geschichte ja offenbar hinaus. Unter dieser Voraussetzung wird sich aber bei nutzenorientiert handelnden Leuten kein Tauschverkehr für das (praktisch unbegrenzt verfügbare) Gut entwickeln. Läßt man die Voraussetzung nutzenorientierten Handelns fallen, dann eröff¬ net sich dem Spiel der Phantasie ein weites Feld; aber Kaufen und Verkaufen oder so abstrakte Dinge wie Preise und Geld findet man auf diesem Felde sicher nicht. Wir haben es also damit zu tun, daß, verwoben mit gewissen Verhaltensweisen, Äußerungen mit Bedeutungen postuliert werden, denen in die¬ ser Verbindung gar keine Lebensform zu Grunde liegen kann; und dann muß die Vermutung, eine Sprache mit den postulier-

SPRACHSPIELE UND LEBENSFORMEN ten

Bedeutungen werde gesprochen, mangels einbettender Le¬ fallengelassen werden.

bensform

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1993, 74-92.

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Hjalmar Wennerberg

Der Begriff der

Familienähnlichkeit in Wittgensteins

Spätphilosophie 2.1

In diesem Artikel möchte ich eine erläuternde Darstellung und Analyse von Ludwig Wittgensteins Begriff der Familienähnlich¬ keiten vorlegen. Eingeführt wird dieser Begriff im "Blauen Buch" (S. 36^-1) sowie in den "Philosophischen Untersuchungen"

(PU 65-71).

Wittgenstein führt den Begriff ein, um die herkömmliche Theorie anzugreifen, wonach allen Entitäten, die unter einen gegebenen Begriff fallen, eine Menge von Eigenschaften oder Merkmalen gemeinsam sein muß, aufgrund von deren Vorhan¬ densein es richtig ist, eine Entität unter diesen Begriff zu subsu¬ mieren. Nach dieser Theorie gelten z. B. alle Menschen als "vernünftige Tiere": Jeder Mensch ist vernünftig und jeder

Mensch ist ein Tier, und nichts, was kein Mensch ist, ist sowohl ein Tier als auch vernünftig. Es gibt jedoch Tiere, die keine Menschen sind, und es könnte auch vernünftige Wesen geben, die keine Menschen sind (z. B. Engel). Die Eigenschaft der Vernünftigkeit ist allen Menschen gemeinsam, doch die Eigen¬ schaft, ein vernünftiges Tier zu sein, ist nicht nur allen Men¬ schen gemeinsam, sondern überdies allen Menschen gemeinsam und eigentümlich. Gegen diese Theorie macht Wittgenstein geltend, es sei durchaus nicht so, daß alle unter einen gegebenen Begriff fallen¬ den Entitäten eine Gemeinsamkeit aufweisen müssen; vielmehr können sie in vielen verschiedenen Hinsichten miteinander ver-

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HJALMAR WENNERBERG wandt sein. Betrachten wir beispielsweise verschiedene "Spiele": "Was ist allen diesen gemeinsam? Sag nicht: ,Es muß ihnen etwas gemeinsam sein, sonst hießen sie nicht "Spiele"' sondern schau, ob ihnen allen etwas gemeinsam ist. Denn, wenn du sie anschaust, wirst du zwar nicht etwas sehen, was allen gemeinsam wäre, aber du wirst Ähnlichkeiten, Verwandtschaften, sehen, und zwar eine ganze Reihe. [...] Schau z. B. die Brettspiele an, mit ihren mannigfachen Verwandtschaften. Nun geh zu den Kartenspielen über: hier findest du viele Entsprechungen mit jener ersten Klasse, aber viele gemeinsame Züge verschwinden, andere treten auf. Wenn wir nun zu den Ballspielen übergehen, so bleibt manches Gemeinsame erhalten, aber vieles geht ver¬ loren. -" (PU 66) Diese Ähnlichkeiten nennt Wittgenstein "Fa¬ milienähnlichkeiten", "denn so übergreifen und kreuzen sich die verschiedenen Ähnlichkeiten, die zwischen den Gliedern einer Familie bestehen: Wuchs, Gesichtszüge, Augenfarbe, Gang, -

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Temperament, etc. etc." (PU 67). Ehe wir zur Analyse dieser Auffassung übergehen, muß darauf hingewiesen werden, daß sie in Wittgensteins Spätphilosophie eine überaus wichtige Rolle spielt. Ihr Einfluß läßt sich in wenig¬ stens drei verschiedenen Kontexten verfolgen. 1. Zu den wichtigen Problemen, die Wittgenstein im "Tractatus logico-philosophicus" aufwirft, gehören Fragen wie "Was ist Sprache?" oder "Was ist ein Satz?". Und im "Tractatus" gibt er folgende Antwort: "Die allgemeine Form des Satzes ist: Es verhält sich so und so" (4.5, vgl. PU 114). Dieses Problem erach¬ tet Wittgenstein in seiner Spätphilosophie für ein Scheinpro¬ blem, denn es gibt weder ein Wesen der Sprache noch eine allgemeine Form des Satzes. Die verschiedenen Sprachen (oder Sprachspiele) sind durch Familienähnlichkeiten miteinander verbunden, und das gleiche gilt auch für die diversen Arten von

Sätzen (PU 65, 92, 108, 114). 2. Seit Sokrates haben schon viele Philosophen versucht, wich¬ tige Begriffe oder Termini durch Angabe notwendiger und hin¬ reichender Anwendungsbedingungen zu definieren. Von vielen neueren Philosophen z. B. Moore und Russell ist der Philoso¬ phie die Aufgabe der logischen Analyse zugeschrieben worden, und diese Philosophen sind oft davon ausgegangen, daß solche Definitionen tatsächlich aufgestellt werden können. Nach Witt¬ gensteins Lesart dieser Anschauung ist "die Antwort auf diese -

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DER BEGRIFF

DER

FAMILIENÄHNLICHKEIT

Fragen [...] ein für allemal zu geben; und unabhängig von jeder künftigen Erfahrung" (PU 92). Gegen diese Philosophen erhebt Wittgenstein folgenden Einwand: "Wenn die Philosophen ein Wort gebrauchen ,Wissen', ,Sein', ,Gegenstand', ,Ich', ,Satz', ,Name' und das Wesen des Dings zu erfassen trachten, muß man sich immer fragen: Wird denn dieses Wort in der Sprache, in der es seine Heimat hat, je tatsächlich so gebraucht?" (PU 116) Un¬ tersucht man, wie diese Wörter in der normalen Sprache tatsäch¬ -

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lich verwendet werden, stellt man fest, daß den Situationen, in denen das jeweils betrachtete Wort zur Anwendung kommt, kein "Wesen" gemeinsam ist und daß zwischen ihnen nur Familien¬ ähnlichkeiten bestehen. Die Suche nach einem solchen Wesen muß daher letztlich fehlschlagen. 3. Die Suche nach dem Wesen bestimmter psychologischer Termini hat einige Philosophen zu der Annahme geführt, es gebe eine Art von geistigen Entitäten, die nach Wittgensteins Meinung gar nicht existieren. Wollen wir z. B. jemandem die Bedeutung des Wortes "Kreis" durch Zeigen auf verschiedene Kreise beibringen, müssen wir "auf die Form zeigen". Sonst kann der Hörer unsere hinweisende Definition anders deuten, als sie gemeint war. So könnte er, falls alle gezeigten Kreise rot sind, auf den Gedanken kommen, "Kreis" bedeute das, was in Wirklichkeit mit dem Wort "rot" gemeint ist (PU 34). Es gibt jedoch keine körperliche Handlung, die den Situationen ge¬ meinsam wäre, in denen wir "auf die Form des Kreises zeigen" (im Gegensatz etwa zum "auf die Farbe Zeigen"). "Und wir tun hier, was wir in tausend ähnlichen Fällen tun: Weil wir nicht eine körperliche Handlung angeben können, die wir das Zeigen auf die Form (im Gegensatz z. B. zur Farbe) nennen, so sagen wir, es entspreche diesen Worten eine geistige Tätigkeit. Wo unsere Sprache uns einen Körper vermuten läßt, und kein Körper ist, dort, möchten wir sagen, sei ein Geist" (PU 36). Lassen wir die Vorstellung fallen, den verschiedenen Situationen, in denen man "auf die Form des Kreises zeigt", müßte irgend etwas gemein¬ sam sein, verschwindet damit auch ein Grund für die Annahme der Existenz eines "Gespensts in der Maschine", um mit Gilbert Ryle zu reden (vgl. PU 153). Macht man im Anschluß an Wittgenstein geltend, ein be¬ stimmter Begriff X sei ein Familienbegriff, so daß die unter ihn fallenden Gegenstände keine durchgängige Gemeinsamkeit auf-

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HJALMAR WENNERBERG weisen, sondern durch "Familienähnlichkeiten" miteinander verbunden sind, läßt sich diese These in zweierlei Weise inter¬ pretieren. Es gibt nämlich eine stärkere und eine schwächere Lesart der These. Nach der stärkeren Lesart existiert kein Merk¬ mal, das allen unter X fallenden Entitäten zukäme. Man könne an jedes beliebige Merkmal denken stets sei es möglich, eine Entität ausfindig zu machen, der dieses Merkmal abgehe. (Zu¬ mindest könne man eine mögliche Situation beschreiben, in der dieses Merkmal fehle, obwohl es korrekt wäre, den Begriff X anzuwenden.) Die schwächere Lesart bestreitet nicht die Mög¬ lichkeit, ein Merkmal ausfindig zu machen, das allen unter X fallenden Entitäten zukommt, doch sie verneint die Möglich¬ keit, ein allen diesen Entitäten zukommendes Merkmal zu fin¬ den, das nicht auch Gegenständen zugeschrieben werden könne, welche nicht unter den Begriff X fallen. Die stärkere Lesart der Theorie leugnet, daß es ein allen unter X fallenden Entitäten gemeinsames Merkmal gebe, während die schwächere Version bestreitet, daß es ein Merkmal bzw. eine Menge von Merkmalen gibt, die allen diesen Entitäten gemeinsam und eigentümlich ist. Im Hinblick auf eine Vielzahl von Begriffen vertritt Wittgen¬ stein offensichtlich die schwächere Lesart dieser These, doch es ist überaus zweifelhaft, ob er auch die stärkere Lesart gelten läßt. Er bestreitet zwar, daß alle Spiele "unterhaltend" seien oder "Konkurrenz der Spielenden" beinhalten (PU 66), aber es ist offenbar nicht berechtigt, daraus den Schluß zu ziehen, daß er die Existenz eines allen Spielen gemeinsamen Merkmals bestrei¬ ten würde. Nach meiner Überzeugung würde Wittgenstein nicht leugnen, daß alle Spiele Tätigkeiten sind. Dagegen würde er sicher bestreiten, daß irgendein Merkmal, das man als "we¬ sentliches" Merkmal der Spiele anzusehen geneigt wäre, tat¬ sächlich allen Spielen zukommt. -

Nun hat

Haig Khatchadourian behauptet, die Merkmale, die Wittgenstein vorschweben, wenn er bestreitet, daß allen unter einen Begriff X fallenden Entitäten ein Merkmal gemeinsam ist, seien

"nicht bloß

Arten

von

Eigenschaften

oder bestimmbare1

1 Diese Unterscheidung sei kurz erläutert. Ist feine bestimmbare Eigenschaft im Verhältnis zu den bestimmten Eigenschaften Gp G¡, dann kann ein Subjekt die Eigenschaft F nur haben, indem es eine von den Eigenschaften G,, G2, hat. Z. B. ist "farbig" bestimmbar im Verhältnis zu "blau", "gelb" usw., und "blau", "gelb" usw. sind bestimmt im Verhältnis zu "farbig". (Anm. d. Übers.) ...

DER BEGRIFF DER FAMILIENÄHNLICHKEIT

Eigenschaften (bzw. Relationen oder beides), sondern bestimm¬ te oder relativ bestimmte Eigenschaften (bzw. Relationen oder beides)". Dann fragt er: "Aber wie bestimmt muß eine allen Angehörigen einer ,Familie' gemeinsame Eigenschaft sein, da¬ mit wir sagen dürfen, sie sei etwas allen Angehörigen gemein¬ sames'?"2 Diese Frage, meint er offenbar, müsse beantwortet werden, denn sonst sei Wittgensteins Auffassung in gewissem Sinne "ohne Gehalt": Ist gefordert, daß alle Angehörigen einer Familie die gleichen bestimmten Eigenschaften aufweisen, ist damit zuviel verlangt. Eine solche These ist von keinem Befür¬ worter der herkömmlichen Theorie vertreten worden. Ist dage¬ gen nur gefordert, alle Angehörigen derselben Familie müßten die gleiche bestimmbare Eigenschaft besitzen, ist Wttgensteins Auffassung offensichtlich falsch, denn es gelingt ohne weiteres, Merkmale ausfindig zu machen, die allen Angehörigen einer

Familie gemeinsam sind.3 Aus den obigen Überlegungen geht hervor, daß sich nur die stärkere Lesart der These Wittgensteins auf diese Weise kritisie¬ ren läßt. Die schwächere Lesart besagt, daß es eine Menge von Merkmalen gebe, die allen unter einen gegebenen Begriff fal¬ lenden Entitäten gemeinsam und eigentümlich sei, einerlei, wo man auf der Skala zwischen "bestimmt" und "bestimmbar" die Grenze zieht. Diese Unterscheidung zwischen den beiden Lesarten von Wittgensteins These hat Khatchadourian offenbar nicht berück¬ sichtigt, denn er versucht diese These durch den Hinweis zu kritisieren, daß "es eben doch ein allen Arten von Spielen ge¬ meinsames bestimmtes Merkmal gibt, nämlich die Fähigkeit, [unter ,Standardbedingungen' oder in ,Normalkontexten'] in den Spielern und/oder Zuschauern Wohlgefallen auszulösen oder hervorzubringen".4 Dieses Merkmal kommt zwar tatsäch¬ lich allen Spielen zu, aber es ist zugleich ein Merkmal mancher Tätigkeiten, die (wie Khatchadourian vermutlich einräumen würde) keine Spiele sind. Daß dieses Merkmal allen Spielen zukommt, widerlegt zwar die stärkere Lesart von Wittgensteins

2 Khatchadourian 3 Ebd., 343. 4 Ebd., 344.

1957/58, S. 342.

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HJALMAR WENNERBERG

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These über den Begriff "Spiel", aber sie ist kein Einwand gegen die schwächere Lesart.

2.2 In einem Artikel über Universalien und Familienähnlichkeiten interpretiert J. R. Bambrough den Begriff der Familienähnlich¬ keiten wie folgt: "Es ist möglich, eine Menge von Gegenständen im Hinblick auf das Vorhandensein oder Fehlen der Merkmale ABCDE zu klassifizieren. Es kann durchaus geschehen, daß fünf Gegenstände edcba so beschaffen sind, daß jeder dieser Gegen¬ stände vier der genannten Eigenschaften besitzt und der fünften ermangelt, wobei das fehlende Merkmal in jedem der fünf Fälle ein anderes ist. Diese Situation läßt sich durch das folgende einfache Diagramm veranschaulichen:

edcba ABCE ABDE ACDE BCDE."5

ABCD

Dieses

Beispiel zeigt nach Bambroughs Darstellung, wie nahe¬

liegend es sein könnte, ein und dasselbe Wort auf mehrere Ge¬

genstände anzuwenden,

denen kein einziges Merkmal gemein¬ ist. Außerdem deutet Bambrough offensichtlich an, ohne es jedoch ausdrücklich zu behaupten, daß alle Anwendungen des Begriffs der Familienähnlichkeiten in Wittgensteins Text gemäß diesem Modell analysiert werden können. Freilich könne es geschehen, wie er hinzufügt, daß einer der Gegenstände (etwa b) gar nicht existiert. In dem Fall ist allen übrigen Gegenständen faktisch das Merkmal B gemeinsam. Doch dann wird es, wie Bambrough meint, nicht am Vorhandensein dieser Gemeinsam¬ keit liegen, daß alle Gegenstände mit dem gleichen Namen bezeichnet werden, denn dieser Name trifft ja außerdem auch auf einen möglichen Gegenstand zu, dem das Merkmal fehlt. Also ist das Vorhandensein von B, wie Bambrough ausführt, keine notwendige Bedingung dafür, einen Gegenstand mit dem betreffenden Namen zu bezeichnen. Dem hätte Bambrough hin¬ zufügen können, daß B auch keine hinreichende Bedingung sam

5

Bambrough 1960/61, 210.

DER BEGRIFF DER FAMILIENÄHNLICHKEIT darstellt. Unter dieser Voraussetzung muß ein Gegenstand vier der Merkmale ABCDE aufweisen, um mit dem betreffenden Namen bezeichnet zu werden. Viele Gegenstände besitzen das Merkmal B, ohne so bezeichnet zu werden. Vermutlich lassen sich einige von Wittgensteins Beispielen für Familienähnlichkeiten tatsächlich mit Hilfe dieses Modells ana¬ lysieren, doch mir scheint, daß Bambrough keine allgemeine Erklärung dargelegt hat, die sich auf die Gesamtheit der vielen Fälle anwenden ließe, in denen sich Wittgenstein des Begriffs der Familienähnlichkeit bedient. Es ist anzunehmen, daß Witt¬ genstein außerdem behaupten würde, daß man auch von fünf Gegenständen mit den folgenden Merkmalkombinationen sa¬ gen würde, sie seien durch Familienähnlichkeiten verbunden: e

ABCD

d BCDE

c

CDEF

b DEFG

a

EFGH

glaube ich, daß zumindest einige der von Wittgenstein für Familienbegriffe erachteten Begriffe so beschaffen sind, daß die unter einen solchen Begriff fallenden Entitäten nur in die¬ sem "lockeren" Sinne durch Familienähnlichkeiten verbunden sind. Ein Hauptunterschied zwischen Bambroughs und meiner In¬ terpretation liegt in Folgendem: Nach seiner Interpretation ha¬ ben zwei beliebige Gegenstände mit gleichem Namen stets viele Merkmale gemein, während einige derartige Paare (z. B. e und a) nach meiner Interpretation überhaupt keine Gemeinsamkeiten aufzuweisen brauchen. Zunächst ist festzuhalten, daß es nach beiden Interpretationen sinnlos ist, die von manchen Philosophen vertretene Behaup¬ tung zu wiederholen, zwei Gegenstände seien durch Familien¬ ähnlichkeiten miteinander verbunden. Man benötigt wenigstens drei Gegenstände, um zwischen einem gemeinsamen Merkmal und Familienähnlichkeiten unterscheiden zu können. Nach mei¬ ner Interpretation könnte man einer solchen Behauptung aber dennoch einen Sinn verleihen, wenn man sie als Abkürzung für die Feststellung auffaßt, die beiden betreffenden Gegenstände ließen sich mit Hilfe einer Kette weiterer Gegenstände derart miteinander verketten, daß je zwei benachbarten Gegenständen viele Merkmale gemeinsam sind. Ferner

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HJALMAR WENNERBERG

Argumente, die für meine Interpretation und gegen die Interpretation Bambroughs sprechen: 1. In PU 67 schreibt Wittgenstein: "Warum nennen wir etwas Es

gibt

fünf

,ZahF? Nun etwa, weil es eine direkte Verwandtschaft mit manchem hat, was man bisher Zahl genannt hat; und dadurch, kann man sagen, erhält es eine indirekte Verwandtschaft zu anderem, was wir auch so nennen." Nach Bambroughs Interpre¬ tation gibt es immer eine "direkte" Verwandtschaft zwischen je zwei Gegenständen, die unter denselben Begriff fallen, wogegen meine Interpretation eine Unterscheidung zwischen "direkter" und "indirekter" Verwandtschaft verschiedener Gegenstände zu¬ läßt, welche unter denselben Begriff fallen. In dem oben ange¬ führten Beispiel ist, wie man sagen kann, von einer "direkten" Verwandtschaft zwischen e und d und einer "indirekten" Ver¬ wandtshaft zwischen e und a die Rede. Im "Braunen Buch" (S. 129/EPhilB S. 195, vgl. PU 122) weist Wittgenstein darauf hin, daß wir uns manchmal den Kopf über den Umstand zerbre¬ chen, daß ein und dasselbe Wort gebraucht wird, um zwei völlig verschiedene Situationen zu kennzeichnen. So könnte man etwa fragen: "Worin liegt die Ähnlichkeit der Vorgänge: einen ver¬ gessenen Namen im Gedächtnis suchen, und, zum Beispiel, ein Buch im Schrank suchen?" "Eine Art der Beantwortung wäre jedenfalls die, eine Reihe von Bindegliedern zu beschreiben. So könnte man sagen, der Fall des materiellen Suchens, der dem Suchen im Gedächtnis am nächsten steht, ist nicht Suchen nach einem Buch im Schrank, sondern Nachschlagen einer Stelle, die wir vergessen haben, in einem Buch. Und nun könnte man weitere Fälle interpolieren." Dieses Beispiel steht völlig in Ein¬ klang mit meiner Interpretation. Um zu erklären, warum e und a in dem obigen Beispiel mit dem gleichen Namen bezeichnet werden, könnte man daraufhinweisen, wie ähnlich e dem d ist, d dem c, c dem b und b dem a. 2. Wittgenstein vergleicht die Extension eines Begriffes mit einem Faden, wobei die unter den Begriff fallenden Gegenstän¬ de winzigen Stückchen des Fadens entsprechen und die einzel¬ nen Fasern den Merkmalen, die für die Familienähnlichkeiten zwischen den Gegenständen konstitutiv sind. "Und wir dehnen unseren Begriff der Zahl aus, wie wir beim Spinnen eines Fadens Faser an Faser drehen. Und die Stärke des Fadens liegt nicht darin, daß irgend eine Faser durch seine ganze Länge läuft, -

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-

DER BEGRIFF DER FAMILIENÄHNLICHKEIT sondern darin, daß viele Fasern einander übergreifen" (PU 67). Dieses Gleichnis spricht für meine Interpretation. 3. Im Rahmen der Kritik seiner eigenen "Tractatus"-Vorstel¬

lungen weist Wittgenstein in den "Philosophischen Untersu¬ chungen" darauf hin, daß unsere empirischen Begriffe vag sind, was allerdings kein Mangel unserer Sprache sei. Folglich habe der Philosoph auch nicht die Aufgabe, eine Idealsprache zu konstruieren, die nur exakte Begriffe enthält (PU 81). Viele un¬ serer empirischen Begriffe haben wir durch hinweisende Defi¬ nitionen gelernt, und der Gebrauch unserer Worte "ist nicht überall von Regeln begrenzt" (PU 68).6 Dann stellt Wittgen¬ stein die rhetorische Frage: "sollen wir sagen, daß wir mit die¬ sem Wort eigentlich keine Bedeutung verbinden, da wir nicht für alle Möglichkeiten seiner Anwendung mit Regeln ausgerü¬ stet

sind?"

(PU 80)

Wittgenstein bringt den Begriff der Familienähnlichkeit of¬ fenbar deshalb ins Spiel, um zu erklären, warum unsere empi¬

rischen Begriffe "verschwommene Ränder" (PU 71) aufweisen und nicht von "einer Grenze abgeschlossen" sind (PU 68). Bam-

broughs Interpretation dieses Begriffs gibt allerdings keinen Aufschluß darüber, warum ein Familienbegriff notwendig vag sein muß. Seine Interpretation ist vereinbar mit der These, alle Familienbegriffe seien exakt, und das ist eine These, die Witt¬ genstein nicht vertritt. Sofern ein Gegenstand wenigstens vier der Merkmale ABCDE aufweist, fällt er laut Bambrough unter den relevanten Begriff; und wenn er drei oder weniger dieser Merkmale besitzt, fällt er nicht darunter. Sind die Termini, von denen diese Merkmale zum Ausdruck gebracht werden, exakt, ist der betreffende Familienbegriff ebenfalls exakt; ob der Ter¬ minus anwendbar ist oder nicht, steht nie in Zweifel. Sind solche Termini dagegen vag, ist der Familienbegriff ebenfalls vag, doch diese Vagheit läßt sich nicht dadurch erklären, daß es sich hier um einen Familienbegriff handelt. 6 Anschließend fährt Wittgenstein fort: "aber es gibt ja auch keine Regel dafür B., wie hoch man im Tennis den Ball werfen darf, oder wie stark, aber Tennis ist doch ein Spiel und es hat auch Regeln." Dieser Vergleich scheint mir ein wenig irreführend zu sein, denn im Tennis ist es gestattet, den Ball so hoch oder so stark zu schlagen, wie man kann. z.

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HJALMAR WENNERBERG Meine Interpretation der These Wittgensteins ist vermutlich besser geeignet, den Zusammenhang zwischen Vagheit und Fa¬ milienähnlichkeit zu erklären. Doch zu diesem Zweck muß ich zunächst ein wenig weiter ausholen. Man könnte meinen, der Unterschied zwischen den beiden Interpretationen sei im Grunde nicht sonderlich interessant. Gehen wir davon aus, daß es n Merkmale gibt, die für die unter einen bestimmten Begriff fallenden Gegenstände "kennzeich¬ nend" sind, während ein solcher Gegenstand nur eine bestimm¬ te Anzahl dieser Merkmale etwa n/2 oder noch weniger aufzuweisen braucht, um unter den betreffenden Begriff zu fal¬ len. Dann kann es natürlich geschehen, daß zwei Gegenständen, die alle beide unter diesen Begriff fallen, kein für die unter diesen Begriff fallenden Gegenstände "kennzeichnendes" Merk¬ mal gemeinsam ist. Dabei möchte ich mich nicht auf diesen recht trivialen Ein¬ wand gegen Bambroughs Interpretation beschränken. Nach meinem Dafürhalten nimmt Wittgenstein das Faktum ernst, daß die Klassifikation der Gegenstände bzw. ihre Subsumtion unter verschiedene Begriffe ein historischer Vorgang ist, der sowohl einen rückwärts- als auch einen vorwärtsgerichteten Aspekt hat. Die Gegenstände, die unter einen bestimmten Terminus X fal¬ len, sind zu verschiedenen Zeiten zum Vorschein gekommen und unter diesen Begriff subsumiert worden, und in der Zukunft werden neue Gegenstände darunter subsumiert werden. Der Faden in Wittgensteins Gleichnis hat keine feststehende, ein für allemal gegebene Länge, sondern er wächst ständig und wird immer länger. Neue Gegenstände treten in Erscheinung und fallen neben den Gegenständen abcde ebenfalls unter unse¬ ren Begriff. Nehmen wir an, ein neuer Gegenstand habe die Merkmale FGHI. Da wird es ganz natürlich sein, auch diesen Gegenstand unter unseren Begriff zu subsumieren. Dann kommt ein weiterer Gegenstand mit den Merkmalen GHIJ, der eben¬ falls unter unseren Begriff subsumiert werden kann, usw. Nach meiner Interpretation könnte es sein, daß sich ein Gegenstand f in ähnlicher Weise zum Gegenstand a verhält wie a zum Ge¬ genstand e und das heißt, daß a und f kein "kennzeichnendes" Merkmal gemeinsam haben, während ein weiterer Gegenstand g in ähnlicher Beziehung zu f stehen kann usf. Theoretisch könnte man so zu einer unendlichen Anzahl von unter den gleichen -

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DER BEGRIFF

DER

FAMILIENÄHNLICHKEIT

Begriff fallenden Gegenständen gelangen,

deren "kennzeich¬ nende" Merkmale mit keinem anderen übereinstimmen. "Wie ist denn der Begriff des Spiels abgeschlossen? Was ist noch ein Spiel und was ist keines mehr? Kannst du die Grenzen angeben? Nein" (PU 68). Sofern ich recht habe, behauptet Wittgenstein hier nicht nur, daß es Grenzfälle gibt, bei denen wir nicht wissen, ob es sich um Spiele handelt oder nicht, sondern er sagt, daß wir heute außerstande sind, die Merkmale der Tätigkeiten zu for¬ mulieren, die in der Zukunft zum Vorschein kommen und "Spie¬ le" genannt werden. Nehmen wir an, jemand beschreibe eine Tätigkeit, mit der sich einige Menschen im Jahre 2018 beschäf¬ tigen werden. Da ist es durchaus möglich, daß unsereiner nicht anzugeben vermag, ob man diese Tätigkeit ein Spiel nennen wird oder nicht. Aber sowohl nach der herkömmlichen Theorie als auch nach Bambroughs Wittgenstein-Interpretation könnte man das wohl angeben. Nach der traditionellen Theorie braucht man bloß herauszubekommen, ob diese Tätigkeit die notwen¬ digen und hinreichenden Bedingungen für Spiele erfüllt, wäh¬ rend man nach Bambroughs Interpretation herausbekommen muß, ob die Tätigkeit eine ausreichende Anzahl der für Spiele "kennzeichnenden" Merkmale aufweist. Nun wollen wir ein Argument betrachten, das für Bambroughs Interpretation des Begriffs der Familienähnlichkeiten spricht. Mit Hilfe dieses Begriffs muß es Wittgenstein natürlich nicht nur gelingen zu erklären, warum manche Gegenstände unter einen bestimmten Begriff fallen, sondern auch, warum andere Gegen¬ stände nicht darunter fallen. Wenn man von der Richtigkeit der Interpretation Bambroughs ausgeht, fällt diese Erklärung leich¬ ter als dann, wenn man meine Interpretation akzeptiert. Nach Bambrough können wir den Umstand, daß ein Gegenstand x nicht unter den Begriff A fällt, durch den Hinweis erklären, daß x zu den unter A fallenden Gegenständen in einer Beziehung der "Familienunähnlichkeit" steht, das heißt: x ist jedem dieser Ge¬ genstände in verschiedener Hinsicht unähnlich, aber nicht allen Gegenständen in derselben Hinsicht. Legt man meine Interpretation des Begriffs der Familienähn¬ lichkeit zugrunde, ist dieser Sachverhalt anscheinend schwieri¬ ger zu erklären, denn daraus scheint sich zu ergeben, daß alles mit allem anderen im Sinne der Familienähnlichkeit verwandt ist. Nehmen wir einen beliebigen Gegenstand x, der nicht unter

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HJALMAR WENNERBERG den Terminus A fällt. Dann wird es in vielen Fällen möglich sein, eine Reihe von Gegenständen zwischen x und einem bestimm¬ ten unter A fallenden Gegenstand so zu wählen, daß je zwei beliebige benachbarte Gegenstände viele Gemeinsamkeiten auf¬ weisen. Aus meiner Interpretation scheint nun zu folgen, daß alle diese Gegenstände zueinander im Verhältnis der Familien¬ ähnlichkeit stehen. Dementsprechend kann man Familienähn¬ lichkeiten zwischen einer Menge von Gegenständen erhalten, ohne daß ein allgemeiner Terminus vorhanden wäre, dessen Denotation aus diesen Gegenständen bestünde. Angesichts dieser Schwierigkeit stehen Wittgenstein zwei Möglichkeiten offen, seine Theorie zu verteidigen. Er könnte entweder eine sehr viel exaktere Definition für die als Familien¬ ähnlichkeiten geltenden Ahnlichkeitsbeziehungen angeben oder einräumen, daß Familienähnlichkeiten zwischen einer Menge von Gegenständen keine hinreichende, sondern nur eine not¬ wendige Bedingung für die Existenz eines diese Gegenstände denotierenden allgemeinen Terminus abgeben. Nach meiner Auffassung vertritt Wittgenstein diese letztere Auffassung. Er macht gar nicht den Versuch, eine ganz präzise Definition der Familienähnlichkeit aufzustellen, durch die sich die hier erörter¬ te Schwierigkeit lösen ließe. Aber was er über die Möglichkeit der Subsumtion neuer Gegenstände unter unsere Begriffe zu sagen hat, geht weit hinaus über die Feststellung, daß zwischen den unter denselben Begriff fallenden Gegenständen Familien¬ ähnlichkeiten bestehen. Nach meiner Überzeugung will Wittgenstein sagen, daß die Subsumtion neuer Gegenstände unter unsere Begriffe in einer Weise erfolgt, die von der herkömmlichen Theorie nicht erklärt werden kann. Wenn ein neuer und bisher unter keinen Begriff subsumierter Gegenstand auftaucht, wird er deshalb unter einen Terminus A subsumiert werden, weil er einigen der bereits unter A subsumierten Gegenstände ähnelt. Und wenn ein weiterer Gegenstand zum Vorschein kommt, der dem vorigen gleicht, wird er womöglich ebenfalls unter A subsumiert. Es wäre aber durchaus möglich gewesen, daß der zweite dieser neuen Gegen¬ stände dann, wenn der erste nie in Erscheinung getreten wäre, nicht unter A, sondern unter einen anderen Begriff subsumiert worden wäre. Das heißt: unsere Termini oder Begriffe haben nicht nur in dem Sinne verschwommene Ränder, daß es Gegen-

DER BEGRIFF DER FAMILIENÄHNLICHKEIT stände gibt, bei denen man zweifeln kann, ob sie unter die betreffenden Begriffe fallen oder nicht. Diese Art der Vagheit kann man statische Vagheit nennen. Unsere Begriffe sind außer¬ dem in einem weiteren Sinne vag, der von den Vertretern der herkömmlichen Theorie nicht berücksichtigt wird. Die Frage, ob ein Gegenstand unter einen bestimmten Terminus fällt oder nicht, hängt auch von den Merkmalen derjenigen Gegenstände ab, die schon früher unter ebendiesen Begriff subsumiert wur¬ den. Die Reihenfolge, in der diese und andere Gegenstände zum Vorschein gekommen sind, kann die Klassifikation der neuen Gegenstände beeinflussen. Diese Art von Vagheit darf man wohl als dynamische Vagheit bezeichnen. Wenn ein neuer Gegenstand zum Vorschein kommt, ähnelt er vielleicht nicht nur einigen der unter A, sondern auch einigen der unter andere Begriffe fallenden Gegenstände. Dennoch wird der Gegenstand nicht unter diese anderen Begriffe, sondern unter A subsumiert, obwohl man durchaus behaupten könnte, daß er etwa zu den unter B fallenden Gegenständen im Verhält¬ nis der Familienähnlichkeit steht. Das Bestehen dieser Bezie¬ hung ist also keine hinreichende Bedingung für die Subsumtion des Gegenstands unter B. Woran liegt es, daß er nicht unter B, sondern unter A subsumiert wird? Diese Frage muß, glaube ich, in der gleichen Weise beantwor¬ tet werden, in der Wittgenstein auf eine völlig andersartige Frage erwidert. Angenommen, sagt er, wir bringen jemandem bei, auf einen Befehl der Form "+n" eine Reihe wie 0, n, 2n, 3n usw. hinzuschreiben. Dann wird er, sobald er den Befehl "+1" erhält, die Reihe der natürlichen Zahlen hinschreiben (PU 185). Erteilen wir ihm den Befehl "+2", stellt sich die Frage, ob er an jedem Punkt eine neue Einsicht eine Intuition braucht, um diesen Befehl richtig auszuführen. Darauf erwidert Wittgen¬ stein: "Richtiger, als zu sagen, es sei an jedem Punkt eine Intui¬ tion nötig, wäre beinah, zu sagen: es sei an jedem Punkt eine -

neue

Entscheidung nötig" (PU 186).

-

Unsere vorige Frage muß ähnlich beantwortet worden: Es ist eine Entscheidung, den neuen Gegenstand nicht unter B, sondern unter A zu subsumieren. Eine solche Entscheidung gleicht einer konventionellen Abmachung, was aber nicht bedeutet, daß sie völ¬ lig willkürlich ist. Beeinflußt wird eine derartige Entscheidung natürlich von der relativen Bedeutung der verschiedenen Ahn-

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HJALMAR WENNERBERG lichkeiten oder Familienähnlichkeiten zwischen dem neuen Ge¬ genstand und den unter A bzw. B fallenden Gegenständen. Be¬ einflußt wird die Entscheidung außerdem von der Anzahl der Begriffe, die in der von den Sprechern benutzten Sprache ent¬ halten sind. Wäre der Terminus A gar nicht in der betreffenden Sprache vorhanden gewesen, hätte man den neuen Gegenstand

vielleicht unter den Begriff B subsumiert. Folglich können wir den Umstand, daß ein Gegenstand x nicht unter den Terminus A fällt, durch den Hinweis erklären, daß man bei seinem ersten Auftauchen entschieden habe, ihn nicht in dieser Weise zu klassifizieren, und seither habe nichts darauf hingewirkt, die ursprüngliche Klassifizierung des Gegen¬ stands rückgängig zu machen. Aber dieses Faktum braucht kei¬ neswegs die Möglichkeit auszuschließen, daß man den Gegen¬ stand doch unter den betreffenden Begriff subsumiert hätte, wenn man ihm früher bereits eine entsprechende Menge von Gegenständen zugeordnet hätte oder wenn unserer Sprache be¬ stimmte andere Begriffe gefehlt hätten. Wittgenstein behauptet, es gehe ihm nicht um Erklärungen, sondern er wolle nur das Funktionieren unserer Sprache be¬ schreiben. Als Philosoph teile er uns keine neuen Informationen mit, sondern beschränke sich darauf, längst Bekanntes zusam¬ menzustellen (PU 109,126). Dieses Programm ist, was Wittgen¬ steins Theorie der Familienähnlichkeiten betrifft, nach meinem Dafürhalten irreführend. Denn diese Theorie hat auch eine em¬ pirische Seite und versucht zu erklären, warum wir die Gegen¬ stände in unserer Weise klassifizieren. Und obwohl Wittgenstein behauptet: "Die Philosophie darfden tatsächlichen Gebrauch der Sprache in keiner Weise antasten, sie kann ihn am Ende also nur beschreiben" (PU 124), weist er darauf hin, wenn sich seine Theorie der Familienähnlichkeiten allgemein durchsetze, könne das die Art und Weise beeinflussen, in der die Menschen Gegen¬ stände klassifizieren (BrB S. 88/EPhilB S. 129 f.). 4. Angesichts der Einwände Wittgensteins gegen die her¬ kömmliche Anschauung würde ein Verfechter dieser Anschau¬ ung vielleicht geltend machen, daß viele Termini mehrdeutig sind und etliche verschiedene Bedeutungen haben, weshalb die unter einen solchen Begriff fallenden Entitäten nicht allesamt Gemeinsamkeiten aufweisen. Aber könnte dieser Verfechter behaupten man kann einen solchen Begriff doch zumindest -

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DER BEGRIFF DER FAMILIENÄHNLICHKEIT mit Hilfe einer Disjunktion verschiedener Merkmalmengen de¬ finieren. Diese Rechtfertigung der herkömmlichen Theorie lehnt Wittgenstein allerdings ab: "Wenn aber Einer sagen woll¬ nämlich te: ,Also ist allen diesen Gebilden etwas gemeinsam, die Disjunktion aller dieser Gemeinsamkeiten' so würde ich antworten: hier spielst du nur mit einem Wort. Ebenso könnte man sagen: es läuft ein Etwas durch den ganzen Faden, näm¬ lich das lückenlose Übergreifen dieser Fasern" (PU 67). Ein Argument gegen disjunktive Definitionen lautet wie folgt: Selbst wenn man tatsächlich eine solche Definition eines Be¬ griffs angeben kann, ist damit noch nicht erklärt, warum wir über diesen Begriff verfügen, denn mit Hilfe einer disjunktiven Definition kann man z. B. die aus Stühlen und Apfelsinen beste¬ hende Klasse definieren, und das ist eine Klasse, die von keinem in unserer Sprache enthaltenen Terminus bezeichnet wird. Folg¬ lich läßt sich die herkömmliche Theorie nicht mit Hilfe disjunk¬ tiver Definitionen rechtfertigen. Träfe Bambroughs Interpretation des Begriffs der Familien¬ ähnlichkeiten zu, wäre es ein leichtes, eine disjunktive Defini¬ tion eines Familienbegriffs aufzustellen: eine solche Definition würde angeben, daß ein Gegenstand, der unter einen gegebenen Begriff fallen soll, eine bestimmte Anzahl aus einer Gruppe vorher festgelegter Merkmale aufweisen muß. Eine solche Defi¬ nition ist nach meinem Eindruck informativ und kann nicht als "Spielen mit Worten" gekennzeichnet werden. Da sich Witt¬ genstein über den Gedanken der disjunktiven Definition lustig gemacht hat, ist Bambroughs Wittgenstein-Interpretation wahr¬ scheinlich verfehlt. Meine Interpretation hat den Vorteil, daß sie erklärt, warum Wittgenstein die disjunktiven Definitionen ablehnte. Ließe sich eine solche Definition angeben, wäre sie in den meisten Fällen wahrscheinlich so lang und so unübersichtlich wie eine Aufzäh¬ lung der unter den gegebenen Begriff fallenden Gegenstände. Das ist aber nicht der gravierendste Einwand dagegen. Eine solche Definition kann zutreffen, soweit es um die unter einen bestimmten Begriff fallenden und heute existierenden Gegen¬ stände geht, aber sie wird nicht mehr zutreffen, wenn es sich um Gegenstände handelt, die in der Zukunft zum Vorschein kom¬ men werden. Wir sind heute noch nicht in der Lage zu formulie¬ ren, welche Merkmale diese Gegenstände besitzen werden. Aus -

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HJALMAR WENNERBERG dieser Überlegung ergibt sich eine natürliche Interpretation der folgenden Bemerkung Wittgensteins: "Wieviele Arten der Sätze gibt es aber? Etwa Behauptung, Frage und Befehl? Es gibt unzählige solcher Arten: unzählige verschiedene Arten der Ver¬ -

wendung alles dessen, was wir .Zeichen', ,Worte', ,Sätze', nen¬ nen. Und diese Mannigfaltigkeit ist nichts Festes, ein für allemal neue Typen der Sprache, neue sondern Gegebenes; Sprachspie¬

le, wie wir sagen können, entstehen und andre veralten und werden vergessen" (PU 23). 5. Auf S. 48 des "Blauen Buchs" führt Wittgenstein eine Un¬ terscheidung zwischen "Kriterien" und "Symptomen" ein: "Mit 'Symptom' bezeichne ich eine Erscheinung, die erfahrungsgemäß mit der Erscheinung zusammen auftritt, die unser definierendes Kriterium ist." Diese Unterscheidung wird dann in wichtiger Hinsicht eingeschränkt: "Es mag von praktischem Wert sein, ein Wort durch Bezug auf eine Erscheinung als das definierende Kriterium zu definieren, aber wir werden uns leicht überreden lassen, das Wort durch Bezug auf das, was wir dem obigen Ge¬ brauch entsprechend als Symptom bezeichnet haben, zu defi¬ nieren." In PU 79 heißt es sodann: "Das Schwanken wissen¬ schaftlicher Definitionen: Was heute als erfahrungsmäßige Be¬ gleiterscheinung des Phänomens A gilt, wird morgen zur Definition von ,A' benützt." Nach meiner Auffassung meint Witt¬ genstein folgendes: Wir haben viele Phänomene beobachtet, die allesamt das Merkmal F besitzen, aufgrund von dessen Vorhan¬ densein die Subsumtion unter einen bestimmten Begriff als rich¬ tig gilt (d. h. F ist das "definierende Kriterium" der Phänomene dieser Art). Nun ist allen diesen Phänomenen de facto ein weite¬ res Merkmal G gemeinsam. In diesem Fall könnte es geschehen, daß wir unter den gleichen Begriff auch ein neues Phänomen subsumieren, das zwar Merkmal G aufweist, aber nicht das Merk¬ mal F Damit hat sich das Merkmal G, das bisher als "Symptom" galt, zum "Kriterium" aufgeschwungen. Nehmen wir uns ein Beispiel vor: In der "westlichen" Welt gelegene Städte besitzen eine Vielzahl kennzeichnender Merkmale, durch die sie sich von Städten des Ostens unterscheiden. Wenn nun eine im Osten gelegene Stadt wie Bagdad viele Merkmale aufweist, die für Städ¬ te der "westlichen" Welt charakteristisch sind, könnten wir diese Stadt "westlich" nennen, obwohl sie nicht im Westen liegt. Ver¬ fechter der herkömmlichen Theorie würden vielleicht der An-

DER BEGRIFF DER FAMILIENÄHNLICHKEIT sieht zuneigen, daß eine im Osten gelegene Stadt per definitionem nicht als "westliche" Stadt definiert werden kann. Wittgen¬ steins Theorie ist da eher imstande, solche Wandlungen im Ge¬ brauch eines Wortes zu erklären. Und um das begonnene Gedan¬

kenexperiment fortzuspinnen, könnte in der Zukunft folgendes geschehen: Was einst als "Symptom" einer westlichen Stadt galt und jetzt ein "Kriterium" ist, könnte allenthalben mit einem neuen "Symptom" einhergehen, das dann zu gegebener Zeit sei¬

zum neuen "Kriterium" wird, usw. Dieser Gedanken¬ läßt sich mit Bambroughs Interpretation des Begriffs der gang Familienähnlichkeiten kaum vereinbaren. Nachdem wir diese fünf Argumente gegen Bambroughs Inter¬ pretation des Begriffs der Familienähnlichkeiten formuliert ha¬ ben, werden wir nun eine interessante Schlußfolgerung betrach¬ ten, zu der sich Bambrough berechtigt glaubt. Er wendet den Begriff der Familienähnlichkeiten auf das "Churchill-Gesicht" an. Dieses Gesicht läßt sich nach seiner Annahme mit Bezug auf zehn Merkmale kennzeichnen (hohe Stirn, buschige Augen¬ brauen, blaue Augen, Römernase, Kinngrübchen usw.), doch ein Angehöriger dieser Familie brauche nur neun dieser zehn Merk¬ male aufzuweisen, um ein "Churchill-Gesicht" zu haben. Bam¬ brough fährt fort: "Wenn wir bedenken, daß das, was für Gesich¬ ter gilt, auch auf die einzelnen Gesichtszüge zutrifft daß allen Kinngrübchen nichts weiter gemeinsam ist als ihre Kinngrübchenhaftigkeit, daß die möglichen Ubergänge von der Römer¬ nase zur Stupsnase bzw. von hohen Backenknochen zu tiefen Backenknochen kontinuierlich abgestuft und zahllos sind -, sehen wir ein, daß es im Grunde unendlich viele unverkennbare Churchill-Gesichter geben könnte, die keine Gemeinsamkeiten besitzen. Ja, eigentlich braucht keinen zwei Angehörigen der Familie Churchill irgendein Merkmal gemeinsam zu sein"

nerseits

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Dieses Zitat enthält zwei verschiedene Argumente: 1. Die für das Churchill-Gesicht "kennzeichnenden" Merkma¬

(S. 211).

le sind ihrerseits Familienbegriffe. Ferner sind die für jedes dieser "erststufigen" Merkmale (z. B. Kinngrübchen) "kennzeichnen¬ den" Merkmale ebenfalls Familienbegriffe usf. ad infinitum (vgl. Bambrough, S. 214). Also selbst wenn zwei Churchill-Gesichtern viele "erststufige" Merkmale gemeinsam sind, wird sich, sobald diese Merkmale "vollständig analysiert" sind, zeigen lassen, daß diese Gesichter gar keine Gemeinsamkeiten aufweisen.

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HJALMAR WENNERBERG unter denselben Begriff (beispielsweise "Kinngrüb¬ fallende chen") Gegenstände brauchen keine bestimmte Ge¬ meinsamkeit zu besitzen, doch es kann sein, daß sie zwei ver¬ schiedene Merkmale besitzen, die bestimmte Eigenschaften bilden, welche unter dieselbe bestimmbare Eigenschaft fallen. Bambrough glaubt offenbar: Wenn Wittgenstein bestreitet, allen unter denselben Terminus fallenden Gegenständen müsse ein Merkmal gemeinsam sein, habe er Merkmale im Sinn, die be¬ stimmte, aber ihrerseits nicht bestimmbare Eigenschaften sind. Eine Bestätigung dieses Gedankens vermag ich in Wittgensteins Schriften nicht zu finden. Und falls wir diesen Gedanken akzep¬ tieren, wäre Wittgensteins These völlig uninteressant. Denn kein Befürworter der herkömmlichen Theorie würde etwa gel¬ tend machen, daß alle roten Gegenstände dieselbe Rotschattie¬ rung aufweisen müssen. Wird das zweite Argument zurückgewiesen, ist Bambroughs Schlußfolgerung nicht stichhaltig, sondern folgern läßt sich nur, daß dann, wenn eine gewisse Anzahl von Churchill-Gesichtern das gemeinsame Merkmal F aufweist, die Anzahl der ChurchillGesichter mit einer für F "kennzeichnenden" Gemeinsamkeit wahrscheinlich kleiner ist. Zwei Churchill-Gesichter werden jedoch stets ein gemeinsames Merkmal besitzen, ganz egal, wie weit man bei der Analyse der höherstufigen Merkmale zu gehen versucht.

2. Zwei

2.3 Wie groß ist der Anwendungsbereich von Wittgensteins Auffas¬ sung von den Familienähnlichkeiten? Welche Begriffe sind Fa¬ milienbegriffe? Wittgenstein nennt im "Blauen Buch" und im "Braunen Buch" ebenso wie in den "Philosophischen Untersu¬ chungen" eine Vielzahl von Beispielen, die seine Vorstellung von Familienbegriffen exemplifizieren (die meisten sind psycho¬ logische Begriffe). Aber er stellt weder eine vollständige Liste dieser Begriffe auf noch formuliert er ausdrücklich eine Metho¬ de, mit deren Hilfe sich entscheiden ließe, ob es sich bei einem gegebenen Begriff um einen Familienbegriff handelt. Trotzdem sind sich die meisten Interpreten darüber einig, daß Wittgenstein hier eine Unterscheidung zwischen zwei Arten

DER BEGRIFF DER FAMILIENÄHNLICHKEIT

Begriffen treffen möchte, nämlich zwischen denen, die Fa¬ milienbegriffe sind, und denen, die keine sind. Aber sogar dieser Gedanke wird von Bambrough abgelehnt. Er behauptet, Witt¬ genstein halte alle Begriffe für Familienbegriffe. Um diese The¬ in se zu stützen, kritisiert er Ayer und Strawson, die sich beide Manier bemüht die haben, jeweils eigener Unterscheidung zwischen Familienbegriffen und anderen Begriffen zu formu¬

von

-

-

lieren.

Bambrough zitiert die folgende Feststellung Ayers: "Wittgen¬ steins Argumentation verdeutlicht, daß die Ähnlichkeit zwischen den Dingen, auf die dasselbe Wort zutrifft, graduell verschieden sein kann. In manchen Fällen ist die Ähnlichkeit weniger straff und direkt als in anderen."7 Anschließend führt Bambrough aus, daß der von Ayer an der zitierten Stelle genannte Gegensatz zwischen verschiedenen Arten von Begriffen keineswegs den Vorstellungen Wittgensteins entspricht, die ihm bei der For¬ mulierung seiner Theorie der Familienähnlichkeiten vorschwe¬ ben. Bambrough fährt fort: "Im Braunen Buch (S. 130) fragt er: ,Kannst Du mir sagen, was einem lichten und einem dunklen Rot gemeinsam ist?' [EPhilB S. 197], und im § 73 der Philosophi¬ schen Untersuchungen wird die Frage gestellt: Welchen Farbton hat das "Muster in meinem Geiste" der Farbe Grün dessen, was allen Tönen von Grün gemeinsam ist?'" (Ayers Beispiel für ein Wort, das eine unkomplizierte und direkte Ähnlichkeit zwi¬ schen den von diesem Wort bezeichneten Dingen angibt, ist "rot". Daher darf man wohl annehmen, daß er alle Farbwörter -

Kategorie zurechnen möchte.) Bambrough meint offenbar, Wittgenstein stelle diese (rhetori¬ schen) Fragen deshalb, weil er glaube, die roten (oder grünen) Gegenstände besäßen gar keine Gemeinsamkeiten, sondern seien dieser

durch Familienähnlichkeiten miteinander verbunden. Das ent¬ spricht aber nicht Wittgensteins Meinung. Vielmehr weist er darauf hin, daß es verfehlt sei zu glauben, daß demjenigen, dem ein Farbwort (z. B. "grün") hinweisend erklärt wird (also durch Zeigen auf ein Muster und gleichzeitige Äußerung der Worte "Diese Farbe heißt ,Grün"'), dann, wenn er diese Erklärung ver¬ steht, eine Vorstellung des Erklärten vorschweben müsse, also 7 Alfred J.

Ayer, The Problem of Knowledge, London 1956,

10-12.

59

6o

HJALMAR WENNERBERG eine Vorstellung von dem, "was allen Tönen von Grün gemein¬ sam ist". Benutzt der Betreffende das Wort "grün" im folgenden richtig, werden wir sagen, daß er die Gemeinsamkeit der gezeig¬ ten Gegenstände gesehen hat (PU 72-74, BrB S. 130-132/

EPhilBS. 195-198). Diese zuletzt genannte Feststellung gilt jedoch fur alle Begrif¬ fe. Unser Kriterium für die Behauptung, jemand habe die Ge¬ meinsamkeit der unter einen bestimmten Begriff fallenden Ge¬ genstände gesehen, besteht darin, daß er das Wort richtig ge¬ braucht (PU 75). Daher stimme ich Bambrough zu, wenn er meint, die von Ayer getroffene Unterscheidung komme bei Wittgenstein nicht vor. Damit hat Bambrough aber noch nicht bewiesen, daß Farb¬ begriffe von Wittgenstein für Familienbegriffe erachtet werden. Kommen wir nun auf Bambroughs Strawson-Kritik zu spre¬ chen. Strawson macht in seinem Buch "Individuals" einen Un¬ terschied zwischen zwei Arten von komplexen Begriffen (das ist zumindest Bambroughs Auffassung).8 Dabei handelt es sich um die Unterscheidung zwischen Begriffen, die durch Angabe not¬ wendiger und hinreichender Bedingungen definiert werden können, und Begriffen, die nicht so definierbar sind. Der Begriff "Bruder" lasse sich als "männliches Geschwister" definieren und gehöre daher in die erstere Klasse, während der Begriff "Spiel" der letzteren Klasse zuzuordnen sei. Diese Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten kom¬

plexer Begriffe wird, wie Bambrough geltend macht, von Witt¬ genstein nicht getroffen. Selbst wenn man einen Begriff tatsäch¬ lich definieren könne, sei damit noch nicht bewiesen, daß es sich nicht um einen Familienbegriff handele, denn die im Definiens genannten Merkmale seien Familienbegriffe (oder müßten letzt¬ lich mit Hilfe von Familienbegriffen definiert werden), und

dadurch werde auch das Definiendum zum Familienbegriff. Mein Einwand gegen diese Argumentation besagt, daß Witt¬ genstein gar nicht imstande ist, auf diese Art zu beweisen, daß alle Begriffe Familienbegriffe sind. Durch eine solche Argumen¬ tation wird nur bewiesen, daß man diese These nicht durch den Hinweis widerlegen kann, daß einige Begriffe mittels Angabe notwendiger und hinreichender Bedingungen bestimmt werden 8 Peter F.

Strawson, Individuais, London 1959,

ll.

DER BEGRIFF DER FAMILIENÄHNLICHKEIT

können, denn um die These zu widerlegen, muß man außerdem nachweisen, daß auch die im Definiens genannten Merkmale keine Familienbegriffe sind. Läßt sich ein Begriff durch andere Begriffe definieren, von denen wenigstens einer ein Familienbegriff ist, so ist auch der definierte Begriff nach Bambrough ein Familienbegriff. Man könnte den Begriff der Familienähnlichkeiten allerdings auch als relativen Begriff deuten und sagen, im Verhältnis zu den Begriffen "männlich" und "Geschwister" sei der Begriff "Bru¬ der" kein Familienbegriff, sofern "Bruder" als "männliches Ge¬ schwister" definiert werden kann. Doch wenn "männlich" oder "Geschwister" im Verhältnis zu anderen Merkmalen ihrerseits Familienbegriffe sind, kann man sagen, relativ zu diesen Merk¬ malen sei auch der Begriff "Bruder" ein Familienbegriff. Bambrough faßt den Begriff der Familienähnlichkeiten aller¬ dings nicht als relativen Begriff auf. Nach seiner Ansicht wird seine These, alle Begriffe seien Familienbegriffe, nicht durch das Faktum widerlegt, daß einige Begriffe wirklich definiert werden können. Sein Grund für diese Ansicht läuft darauf hinaus, daß eine Definition nichts Letztes ist. Die im Definiens vorkommen¬ den Termini müßten ihrerseits ebenso definiert werden wie unser Definiendum-Terminus. Und die in diesen weiteren Definitio¬ nen vorkommenden Begriffe müßten dann ebenfalls definiert werden usf. ad infinitum. Nach Wittgenstein gebe es keine letz¬ ten, undefinierbaren, "einfachen" Termini (vgl. PU 48), daher sei es stets unmöglich, eine letzte Definition zu formulieren. Manche Indizien sprechen dafür, daß Wittgenstein tatsächlich glaubt, die Familienähnlichkeitsmerkmale eines gegebenen Be¬ griffs könnten ihrerseits Familienbegriffe sein. Auf S. 70 des "Blauen Buchs" untersucht er Ausdrücke wie "eine Idee im Gei¬ ste haben" und gibt folgenden Hinweis: "Wir könnten geneigt sein zu sagen, daß wir sowieso in all diesen Fällen von etwas geleitet werden, das in unserm Geiste ist. Aber dann werden die Wörter ,geleitet' und ,etwas in unserm Geiste' auf so viele ver¬ schiedene Weisen wie die Wörter ,Idee' und .Ausdruck einer Idee' gebraucht." Das könnte man nun in dem Sinne auffassen, daß "eine Idee im Geiste haben" zwar durch "leiten" und "etwas in unserm Geiste" definiert werden könne, doch dadurch, daß diese letzteren Begriffe Familienbegriffe seien, werde auch der erstere

Begriff

zum

Familienbegriff. Wittgenstein behauptet

6I

02

HJALMAR WENNERBERG

Begriffe definiert werden müssen. Daher keineswegs erwiesen, daß Bambroughs allgemeine These auch in Wittgensteins Philosophie enthalten ist. Dagegen gibt es einige andere Hinweise, die dafür sprechen, aber nirgends, daß alle ist

daß Wittgenstein diese These nicht vertrat. Im "Blauen Buch" sagt er auf S. 52: "Es gibt Wörter mit mehreren klar umrissenen Bedeutungen. Es ist leicht, diese Bedeutungen zu katalogisieren. Und es gibt Wörter, von denen man sagen könnte: Sie werden auf tausend verschiedene Weisen gebraucht, die nach und nach miteinander verschmelzen. Kein Wunder, daß wir keine stren¬ gen Regeln für ihren Gebrauch aufstellen können." Es erscheint naheliegend, diese Bemerkung im Sinne der folgenden Behaup¬ tung zu interpretieren: Einige Wörter sind mehrdeutig und ste¬ hen in verschiedenen Kontexten für verschiedene Begriffe (die keine Familienbegriffe sind bzw. zumindest keine Familienbe¬ griffe zu sein brauchen), während andere Wörter tatsächlich für Familienbegriffe stehen. Dann stellt sich die Frage: Wie kann man darüber befinden, ob ein gegebener Begriff ein Familienbegriff ist oder nicht? Zunächst wollen wir zwei Verfahrensweisen betrachten, durch die sich nicht bestimmen läßt, ob ein gegebener Begriff ein Familienbegriff ist. Erstens: Daß ein gegebener Begriff ein Familienbegriff ist, läßt sich nicht durch den schlichten Hinweis aufzeigen, daß die unter den Begriff fallenden Entitäten untereinander völlig ver¬ schieden sind. Dieser Sachverhalt läßt sich auch durch die her¬ kömmliche Theorie ohne weiteres erklären. Denn obwohl allen diesen Entitäten eine Menge von Merkmalen gemeinsam ist, besitzt jede Entität außerdem eine Menge weiterer Merkmale, die unterschiedlich auf die verschiedenen Entitäten verteilt sind. Zweitens: Daß ein gegebener Begriff ein Familienbegriff ist,

läßt sich nicht einfach dadurch beweisen, daß man eine Menge Merkmalen ausfindig macht, von denen zwar kein einziges allen unter diesen Begriff fallenden Gegenständen zukommt, die aber so beschaffen sind, daß ein Gegenstand nur dann unter diesen Begriff fällt, wenn er eine gewisse Anzahl dieser Merk¬ male besitzt. Der Grund hierfür liegt in der Möglichkeit einer Merkmalmenge, die allen diesen Gegenständen gemeinsam und eigentümlich ist, während sie außer durch die Gemeinsamkeit von

dieser

Merkmalmenge auch noch durch Familienähnlichkeiten

DER BEGRIFF DER FAMILIENÄHNLICHKEIT miteinander verbunden sind. Um nachzuweisen, daß der gege¬ bene Begriff ein Familienbegriff ist, genügt es nicht zu zeigen, daß die Gegenstände durch Familienähnlichkeiten verbunden sind, sondern man muß außerdem aufzeigen, daß ihnen keine

Merkmalmenge gemeinsam ist. Aus ebendiesem Grund ist Wittgensteins Begriff "Familien¬ ähnlichkeiten" irreführend. Man spricht nicht deshalb von An¬ gehörigen derselben Familie, weil sich "Wuchs, Gesichtszüge, Augenfarbe, Gang, Temperament, etc. etc. [übergreifen und kreuzen]" (PU 67), sondern weil sie gemeinsame Vorfahren ha¬

ben. Doch bei einem Familienbegriff sollen die Familienähn¬ lichkeiten zwischen den unter den gleichen Begriff fallenden Entitäten nicht nur de facto bestehen, sondern den Ausschlag dafür geben, daß diese Entitäten unter den Begriff fallen. Außerdem müssen wir eine weitere Methode der Unterschei¬ dung zwischen Familienbegriffen und anderen Begriffen ableh¬ nen. Wittgenstein bestreitet, daß der Begriff "Zahl" als logische Summe seiner Unterbegriffe der Kardinalzahl, der Rationalzahl, der reellen Zahl usw. definiert werden kann. Ebensowenig läßt sich "Spiel" als logische Summe einer entsprechenden Menge von Unterbegriffen definieren (PU 68). Diese Überlegung wird als Grund dafür genannt, die Begriffe "Zahl" und "Spiel" als Familienbegriffe aufzufassen. Dennoch wäre es meines Erach¬ tens verfehlt, daraus den Schluß zu ziehen, Wittgenstein halte die Begriffe "Brettspiel", "Kartenspiel", "Ballspiel" usw. nicht für Familienbegriffe. Und selbst wenn er sie nicht dafür hielte, könnte man das Beispiel nicht dahingehend verallgemeinern, daß sich daraus ein Verfahren ableiten ließe, um festzustellen, ob ein gegebener Begriff ein Familienbegriff ist. (Außerdem sind der Begriff "Zahl" und seine diversen Unterbegriffe ein ausge¬

sprochener Sonderfall.)

Um zusammenzufassen: Daß ein gegebener Begriff ein Fami¬ lienbegriff ist, läßt sich weder dadurch beweisen, daß man zeigt, wie verschieden die unter den Begriff fallenden Entitäten sind,

noch dadurch, daß man zeigt, daß diese Entitäten durch ein Netz Familienähnlichkeiten verknüpft sind. Daß ein gegebener Begriff kein Familienbegriff ist, läßt sich wiederum nicht da¬ durch beweisen, daß man zeigt, daß er als Unterbegriff unter einen Familienbegriff fällt. Aber wie kann man hier einen ent¬ sprechenden Beweis führen? von

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64

HJALMAR WENNERBERG Auf diese Frage weiß ich keine Antwort zu geben. Anderer¬ seits glaube ich andeuten zu können, in welcher Richtung die Antwort zu suchen ist. Vor allem im "Braunen Buch" (z. B. S. 144 f./EPhilB S. 217) weist Wittgenstein daraufhin, daß wir unter verschiedenen Umständen häufig verschiedene Kriterien für die Anwendung eines Wortes benutzen. Daraus scheint zu folgen, daß die unter einen solchen Begriff fallenden Entitäten keine gemeinsamen Merkmale zu besitzen brauchen, aber ein¬ ander dennoch ähnlich sind. Bei diesen Ähnlichkeiten handelt es sich nach meiner Wittgenstein-Interpretation um Familienähn¬ lichkeiten zwischen den Entitäten. Daher lautet mein Vorschlag: Daß ein gegebener Begriff ein Familienbegriff ist, läßt sich nachweisen, indem man zeigt, daß wir für die Anwendung des Begriffs unter verschiedenen Um¬ ständen verschiedene Kriterien benutzen. Daß der Begriff kein Familienbegriff ist, läßt sich nachweisen, indem man zeigt, daß man unter allen Umständen dasselbe Kriterium für diesen Be¬ griff verwendet. Dieses Verfahren wendet Wittgenstein selbst tatsächlich an, um zu zeigen, daß viele psychologische Begriffe Familienbegriffe sind.

2.4 Abschließend werden wir betrachten, welchen Gebrauch Bambrough von Wittgensteins Auffassung der Familienähnlichkei¬ ten macht, um das von Realisten und Nominalisten erörterte Pro¬ blem zu lösen. Selbst wenn sich eine "letzte" Definition (was immer das heißen mag) für einen Begriff angeben ließe, wäre das Definiens, wie Bambrough geltend macht, kein vom definierten Begriff verschiedenes Merkmal. Dennoch haben nach Bambrough man¬ che Philosophen behauptet, daß allen unter denselben Begriff fallenden Gegenständen etwas gemeinsam sein muß, was ver¬ schieden ist von dem Faktum, daß sie unter diesen Begriff fallen. "Daß Brüder männliche Geschwister sind, ist ihnen freilich ge¬ meinsam, doch diese Gemeinsamkeit des Männliche-Geschwister-Seins läuft aufs gleiche hinaus wie ihr Brüder-Sein und heißt nicht, daß sie außer dem Brüder-Sein eine weitere Ge¬ meinsamkeit besitzen" (Bambrough, S. 214). Und nun heißt es,

DER BEGRIFF DER FAMILIENÄHNLICHKEIT den Philosophen Kritik geübt, die diese Realismus verfechten. Ich für mein Teil glaube aber nicht, daß je ein Philosoph behauptet hat, alle unter denselben Begriff fallenden Entitäten müßten eine Gemeinsamkeit aufwei¬ sen, außer daß sie eben unter diesen Begriff fallen. Überdies enthalten Wittgensteins Schriften keinen Hinweis darauf, daß er mit seiner Einführung des Begriffs der Familienähnlichkeiten eine solche Theorie angreifen will. Hätte er das gewollt, wäre seine nachdrückliche Behauptung, daß viele Begriffe nicht durch Angabe notwendiger und hinreichender Bedingungen definiert werden können, völlig irrelevant. Schauen wir uns jedoch an, wie Bambrough seinen Gedan¬ kengang weiter ausführt. Er sagt, Ayers These sei äußerst irre¬ führend, wenn dieser schreibe: "Es ist richtig, wenn auch nicht im mindesten aufschlußreich, zu sagen, daß die Gemeinsamkeit der Spiele darin besteht, Spiele zu sein" (Bambrough, S. 219). Ganz im Gegenteil: die Aussage, daß es allen Spielen gemeinsam ist, Spiele zu sein, sei eine wichtige philosophische Wahrheit, die sowohl von den Nominalisten als auch von den Realisten bestrit¬ ten werde. Die Nominalisten behaupten nach Bambrough, daß allen Spielen nichts gemeinsam ist, außer daß sie Spiele heißen, während die Realisten behaupten, alle Spiele besäßen abgese¬ hen davon, daß sie Spiele sind noch eine weitere Gemeinsam¬ keit. Nominalisten wie Realisten gingen von der (von Wittgen¬ stein bestrittenen) Voraussetzung aus, daß "sich die Anwendung eines allgemeinen Terminus auf seine Exemplifizierungen ob¬ jektiv nur dann rechtfertigen läßt, wenn sie außer der Gemein¬ samkeit, Exemplifizierung dieses Begriffs zu sein, noch eine

Wittgenstein habe an

Art

von

-

-

weitere Gemeinsamkeit besitzen" (S. 217). Daher zögen die No¬ minalisten den Schluß, "daß es für die Anwendung eines allge¬ meinen Terminus keine objektive Rechtfertigung gibt", während die Realisten den Schluß zögen, es "müsse ein zusätzliches ge¬ meinsames Element geben". Das Gefühl des Realisten, man müsse, um die Anwendung des betreffenden allgemeinen Terminus auf seine Exemplifizierun¬ gen objektiv zu rechtfertigen, nach einer Gemeinsamkeit der Spiele Ausschau halten, die über ihr Spiele-Sezn hinausginge, ist nach Bambrough völlig fehl am Platz. Dennoch, führt Bam¬ brough aus, sei dieses Gefühl ganz natürlich. Wenn ich frage, was diesen drei Büchern hier gemeinsam sei, werde der andere

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HJALMAR WENNERBERG nachschauen, ob sie das gleiche Thema behandeln oder

vom

selben Verfasser stammen usw. Es werde ihm gar nicht in den Sinn kommen zu erwidern, die Gemeinsamkeit der Bücher be¬ stehe darin, daß sie Bücher seien. Und wenn der andere fest¬ stelle, daß die Bücher ansonsten keine spezifische Gemeinsam¬ keit aufweisen, werde er sagen, daß ihnen, soweit er sehe, gar nichts gemeinsam sei. Frage jemand nach den Gemeinsamkeiten aller Bücher, werde man ebenfalls versuchen, ein ähnliches Merkmal wie im Fall der bei drei Büchern unternommenen Suche ausfindig zu machen. Vielleicht werde man es für einen schlechten Scherz halten, wenn dann gesagt wird, die Gemein¬ samkeit aller Bücher bestehe darin, daß sie allesamt Bücher sind. Doch diesmal handele es sich nicht um einen Scherz, sondern um eine wichtige philosophische Wahrheit. Diese Argumentation beruht, wie mir scheint, auf einem Irr¬ tum. Wenn ich nicht nach der Gemeinsamkeit dreier gegebener Bücher frage, sondern auf drei Gegenstände zeige (bei denen es sich faktisch um Bücher handelt) und die Frage stelle, was diesen drei Gegenständen gemeinsam sei, kann der andere gewiß ant¬ worten, daß es Bücher sind. Frage ich dagegen, was diesen drei bei Rowohlt erschienenen Büchern gemeinsam ist, kann der andere nicht erwidern, ihre Gemeinsamkeit bestehe darin, daß sie bei Rowohlt erschienen sind. Das ist ein Anwendungsfall einer allgemeinen Regel: Wenn man im Zuge der Fragestellung bestimmte Informationen mitteilt, kann der andere nicht ant¬ worten, indem er sich auf eine Wiederholung dieser Informatio¬ nen beschränkt. Die Frage "Was ist allen Büchern gemeinsam?" weist also eine Sonderbarkeit auf, die Bambrough nicht erwähnt. Sie kann näm¬ lich nicht formuliert werden, ohne daß man im Zuge der Frage¬ stellung selbst schon die Antwort gibt. Auf die Frage "Was ist diesen drei bei Rowohlt erschienenen Büchern gemeinsam?" kann man keine Antwort geben. Doch statt dessen kann man fragen: "Was ist diesen drei Büchern gemeinsam?" und da lautet die Antwort: Sie sind bei Rowohlt erschienen. Nach meinem Eindruck kann man auch die Frage "Was ist allen Büchern gemeinsam?" in ähnlicher Weise umformulieren, indem man

fragt: "Was ist Lolita, Schloß Gripsholm, Nobodaddy's Kinder und dergleichen gemeinsam?" Und nun könnte man durchaus gel¬ tend machen, daß die Antwort "Es sind Bücher" informativ ist.

DER BEGRIFF DER FAMILIENÄHNLICHKEIT

Fragen "Was ist diesen drei Büchern gemeinsam?" und ist "Was allen Büchern gemeinsam?" sind beide mehrdeutig. Man könnte nach einem Merkmal fragen, das diesen drei Bü¬ chern (bzw. allen Büchern) zukommt, und es dabei offenlassen, ob dieses Merkmal auch anderen Gegenständen zugeschrieben werden kann. Hier fragt man nach einem Merkmal, das den drei Büchern bzw. allen Büchern gemeinsam ist. Andererseits könnte man auch nach einem Merkmal fragen, das den drei Büchern Die

(bzw. allen Büchern) zukommt, aber ansonsten keinem anderen Gegenstand. Das heißt, die Frage bezieht sich auf ein Merkmal, das den drei Büchern (bzw. allen Büchern) gemeinsam und eigen¬ tümlich ist.

Stellt man nun die Frage nach der Gemeinsamkeit dreier gegebener Bücher, ist es naheliegend anzunehmen, daß sich die Frage auf ein Merkmal bezieht, das diesen drei Büchern gemein¬ sam

ist, und nicht auf ein Merkmal, das diesen drei Büchern

und eigentümlich ist. Bei Rowohlt sind ja auch noch andere Bücher erschienen. Und ebenso, wie sich diese Frage beantworten läßt, ließe sich wohl auch die entsprechende Frage im Hinblick auf alle Bücher beantworten. Man könnte ein Merk¬ mal nennen, das allen Büchern und darüber hinaus noch man¬ chen anderen Gegenständen zukommt. Wie ich bereits darge¬ legt habe, würde Wittgenstein wohl nicht bestreiten, daß es solche Merkmale gibt. Es wäre aber auch möglich, nach einem Merkmal zu fragen, das drei gegebenen Büchern gemeinsam und eigentümlich ist. Die¬ se Frage läßt sich zwar wahrscheinlich nicht beantworten, aber möglich wäre eine Antwort schon. So könnte es z. B. sein, daß dies die einzigen deutschen Bücher sind, von denen eine Uber¬ setzung in Suaheli vorliegt. Bei einer solchen Fragestellung ist die Antwort "Sie sind allesamt Bücher" kein kläglicher Scherz, sondern falsch. Auch die entsprechende Frage hinsichtlich aller Bücher läßt sich wahrscheinlich nicht beantworten, aber mög¬ lich wäre es schon. Bücher könnten z. B. die einzigen Waren sein, für die es nach deutschem Recht Festpreise gibt. Und daß man annimmt, die Frage "Was ist allen Büchern gemeinsam?" sollte in diesem Sinne interpretiert werden, ist sicher ganz na¬ türlich. Daher bin ich der Ansicht, daß Bambrough keinen Beweis für seine Behauptung erbracht hat, der Standpunkt des Realisten

gemeinsam

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68

HJALMAR WENNERBERG habe etwas mit einem "natürlichen Gefühl" zu tun. Bambroughs Einwände gegen den Nominalisten sind nach meinem Dafür¬ halten ebenso verfehlt. Laut Bambroughs Darstellung vermag der Nominalist nicht den Unterschied zu erklären zwischen den Einzeldingen, auf die ein gegebener allgemeiner Terminus zu¬ trifft, und einer Menge von Gegenständen, denen buchstäblich und unbestreitbar nichts gemeinsam ist außer demselben Na¬ men. Man kann beschließen, wie er meint, eine Anzahl ver¬ mischter Gegenstände (etwa den Stern Sirius, meinen Füllfeder¬ halter, den Parthenon, die Farbe Rot, die Zahl Fünf und den Buchstaben Z) "Alpha" zu nennen. Diese Gegenstände sind so ausgewählt, daß ihnen nichts weiter gemeinsam ist, außer daß ich sie "Alpha" nenne. Zwischen einem allgemeinen Terminus wie "Stuhl" und einem Ausdruck wie "Alpha", den der Nomina¬ list angeblich nicht zu erklären vermag, bestehen folgende Un¬ terschiede: 1) Die Auswahl der Alphas ist willkürlich, die Aus¬ wahl der Stühle dagegen nicht; 2) die Klasse der Alphas ist eine abgeschlossene Klasse, während die Klasse der Stühle offen ist. Allerdings ist die Klasse der "Alphas" gemäß Bambroughs Definition nicht abgeschlossen, denn sie enthält alle möglichen Exemplifizierungen der Farbe Rot, der Zahl Fünf und des Buch¬ stabens Z. Doch die Definition läßt sich ohne weiteres verbes¬ sern, um diesem Einwand vorzubeugen. So lassen sich die drei genannten Eintitäten durch drei Einzelgegenstände ersetzen, etwa den Eiffelturm, Präsident Eisenhower und die Stadt Lon¬ don. Mit der Festsetzung, daß die Klasse der "Alphas" abgeschlos¬ sen ist, begeht Bambrough eine Petitio principii. Nehmen wir an, ich habe die oben genannten Gegenstände aufgezählt und füge nun hinzu, daß weitere Gegenstände, die den genannten gleichen, ebenfalls "Alphas" sind. Ferner sei angenommen, daß unter denen, die diese Definition gelernt haben, allgemeine Über¬ einstimmung hinsichtlich der weiteren Gegenstände herrscht, die ebenfalls "Alpha" heißen sollen. Unter diesen Umständen würde Wittgenstein den Ausdruck "Alpha" vermutlich für einen allgemeinen Terminus erachten, der auf der gleichen Ebene steht wie "Stuhl" oder "Buch" (PU 242 und S. 572 fi/226). Au¬ ßerdem würden wir sagen, diese Leute hätten erkannt, was den verschiedenen "Alphas" gemeinsam ist (BrB S. 138/EPhilB S. 205). Die Auswahl der "Alphas" ist ebensowenig willkürlich wie die

DER BEGRIFF DER FAMILIENÄHNLICHKEIT Auswahl der Stühle, die man zur hinweisenden Erklärung des Wortes "Stuhl" benutzt. Vermutlich würde Wittgenstein sagen, es gehöre zu unserer Lebensform, daß einige hinweisende Erklärungen im Gegensatz zu anderen etwas "leisten". Einige führen zu übereinstimmen¬ den Verwendungsweisen des betreffenden Wortes, andere dage¬ gen nicht. Nach einer Erklärung für diesen Unterschied sollten wir nicht suchen, sondern ihn als unumstößliches Faktum hin¬ nehmen. "Alle Erklärung muß fort, und nur Beschreibung an ihre Stelle treten" (PU 109). Wenn Bambrough dagegen festsetzt, "Alpha" solle eine abge¬ schlossene Klasse bezeichnen, kann er auf diese Weise nicht mehr beweisen, daß es einen Unterschied zwischen dem Termi¬ nus "Alpha" und einem allgemeinen Terminus gibt, denn es gibt viele allgemeine Termini, die für abgeschlossene Klassen stehen, z. B. den Ausdruck "amerikanischer Präsident im neunzehnten

Jahrhundert".

Daher muß ich den Schluß ziehen, daß Bambrough den Nach¬ weis für seine Behauptung schuldig geblieben ist, Wittgenstein habe das in der Auseinandersetzung zwischen Realisten und Nominalisten umstrittene Problem gelöst.

Literatur H. Khatchadourian 1957/58, Common Names and "Family Resemblances", Philosophy and Phenomenological Research 18, 341-358. R. Bambrough 1960/61, Universals and Family Resemblances, Proceedings of the Aristotelian Society 61, 207-222.

Erstveröffentlichung unter dem Titel "The Concept of Family Resem¬ blance in Wittgenstein's Later Philosophy" in Theoria 33, 1967, 107-132. Ubersetzt von Joachim Schulte.

69

_3 Richard Raatzsch

Wittgensteins Philosophieren über das Philosophieren: Die Paragraphen 89 bis 133...

ungefähr hätte es im Titel lauten können. Denn "Philosophischen Untersuchungen" sind außer der Einteilung in Paragraphen keine Grenzen gezogen. Man kann natürlich welche ziehen, den Text also in Kapi¬ tel, Unterkapitel usw. einteilen, dabei Themen oder sprach¬ liche Formen, die gewöhnlich Anfang und Ende von Kapi¬ ...

oder

so

in Teil I der

teln markieren, als Kriterium nehmend. Hat man Glück, trifft beides zusammen. Wir haben großes Glück. Denn PU 89 beginnt mit den Worten: Wir stehen mit diesen

Problem steht: und PU 133 endet wie

Überlegungen

an

dem Ort,

wo

das

folgt:

[...] es wird nun an Beispielen eine Methode gezeigt, und die Reihe dieser Beispiele kann man abbrechen. Es werden Probleme gelöst (Schwierigkeiten beseitigt), nicht ein Pro¬ blem. Es gibt nicht eine Methode der Philosophie, wohl aber -

gibt es Methoden, gleichsam verschiedene Therapien.

Der vorletzte Absatz gibt uns einige Hinweise, wie das Vorste¬ hende zu verstehen ist. Zunächst bedarf es nur der Erinnerung daran, daß die Probleme der Philosophie der Philosophie (mit einem verführerischen Wort gesagt: der Metaphilosophie) selbst philosophischer Natur sind. Also werden auch die Methoden

72

RICHARD RAATZSCH ihrer Lösung an Beispielen gezeigt. In unserm Fall gehören hierzu vor allem Satz und Regel. Ein zweiter Hinweis liegt in den Worten "es wird nun [...] gezeigt". Hiermit wird das gerade Erläuterte explizit in den weiteren Fluß der Untersuchungen eingespeist. Der letzte Satz schließlich "Es gibt nicht eine Methode, ..." wirft auf das Kommende ein bestimmtes Licht; er läßt sich als Aufforderung verstehen: Lies die folgenden Ausführungen auch unter dem Gesichtspunkt der in den PU 89-133 behandelten Methoden¬ fragen, nimm sie als therapeutische Versuche! Noch deutlicher aber ist in bezug auf die Einbettung der hier betrachteten Sequenz von Paragraphen in ihren Kontext der Anfang. "Mit diesen Überlegungen" heißt nicht: "Nach diesen Überlegungen", sondern soviel wie: "Die Überlegungen, die wir -

-

gerade angestellt haben, haben uns in eine Situation gebracht, in der wir...". Wie können schon angestellte Überlegungen so etwas tun? Nun, indem sie ohne eine Erörterung des benannten Problems nicht hinreichend verständlich sind. Anfang und Ende des "metaphilosophischen Kapitels" lassen uns von diesem er¬ hoffen, was man von einem solchen erhoffen sollte: es ist ohne seinen Kontext so wenig hinreichend verständlich, wie es dieser ohne jenes ist. Was kann sich eine Metaphilosophie mehr wün¬ schen, als wirklich gebraucht zu werden? Wie zeigt sich am besten, daß etwas wirklich gebraucht wird? Indem sich heraus¬ stellt, daß das Andere, welches man ohne es zuwege bringen kann, nur unzureichend verstanden werden kann. Aber dazu muß mit dem Anderen erst einmal begonnen werden. Und des¬ halb kommt das Philosophieren über das Philosophieren nicht am Anfang des Buches und auch nicht an seinem Ende zur Spra¬ che, sondern erst nachdem ein Problem entfaltet und damit das Bedürfnis nach etwas Metaphilosophie spürbar wurde. Was eben mehr allgemein angedeutet wurde, muß sich nun detailliert am Text zeigen lassen. Daß dieser mit dem vorher¬ gehenden engstens verbunden ist, wird mit dem ersten Satz von PU 89 "Wir stehen mit diesen Überlegungen an dem wo das Problem steht: ..." ja bloß behauptet. Zeigen Ort, muß es sich an dem Problem, welches nun behandelt werden muß und welches im zweiten Satz des "Eröffnungszuges" so benannt wird: "Inwiefern ist die Logik etwas Sublimes?" (PU 89) -

-

WITTGENSTEINS PHILOSOPHIEREN Was heißt "sublim"?1 Klar ist: Je nachdem, was man unter "sub¬ lim" versteht, wird man nach anderen Verbindungen zum Vortext suchen, und je nachdem, wie man den Vortext versteht, wird man dieser oder jener Variante von "sublim" den Vorrang geben. Wie kann man dieses Wort denn verstehen? "Das Sublime" und das ebenfalls vorkommende "sublimieren" bedeuten sowohl "das Reine" und "reinigen" wie auch "das Erhabene" und "erhaben machen". Damit bieten sich zwei Tendenzen der Deutung an, die auch in der Literatur vertreten werden. Für beide Richtungen gibt es sie stützende Paragraphen. Dies macht die Mehrdeutig¬ keit von "sublim" zwar interpretatorisch interessant, aber auch mißlich, solange man glaubt, sich für eine von beiden Deutungen entscheiden zu müssen. Man muß aber nicht! Um dies zu sehen erinnere ich an Kants "Namenerklärang des Erhabenen" (so der Titel von Paragraph 25 der gleich zitierten Schrift). "Erhaben", schreibt er in der "Kritik der Urteilskraft" (B 80-81, A 79-80.), "nennen wir das, wasschlechthin groß ist. Groß-sein aber, und eine Größe sein, sind ganz verschiedene Begriffe (magnitudo und quantitas). Imgleichen schlechtweg (simpliciter) sagen, daß etwas groß sei, ist auch ganz was anderes als zu sagen, daß es schlechthin groß (absolute non comparative magnum) sei. Das letztere ist das, was über alle Vergleichung groß ist." An dieser "Namenerklärung" interessiert uns zunächst die Unterscheidung zwischen "groß" und "über alle Vergleichung groß". Ersteres Prädikat vergeben wir, indem wir Vergleiche zwischen verschiedenen Dingen anstellen. "Etwas ist groß" heißt hier: "es ist im Vergleich zu anderem groß". Letzteres dagegen bedeutet nicht "nach allen Vergleichen", sondern "unabhängig von ihnen". Allgemeiner: was vergleichbar ist, interessiert uns hier nicht als solches. Das erhabene Ding ist als erhabenes seiner vergleichbaren Eigenschaften ledig; es ist rein. Anders gesagt: I Am Beginn stellt sich eine weitere Frage. Sie verdient diese Antwort: Unter "Logik" versteht Wittgenstein sowohl den Gegenstand als auch die Disziplin und unter letzterer zumindest den Teil der Philosophie, zu dem er sein eigenes Tun (im "Tractatus" und) in den "Untersuchungen" zählt. Das heißt nicht, daß an

allen Stellen des Vorkommens dieses Wortes alle seine Varianten sinnbewahrend eingesetzt werden können. Es bedeutet nur, daß meist klar ist, welche \ariante zur Debatte steht, und daß da, wo dies nicht der Fall ist oder wo man nicht alle einsetzen kann, nicht viel philosophischer Gewinn aus diesem Tatbestand zu ziehen ist.

73

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RICHARD RAATZSCH Indem

als erhaben charakterisiert wird, wird es zugleich gereinigt, absolut purifiziert. Das Erhabene ist das

etwas

vollständig

Reine. In schönster Harmonie hiermit steht PU 38, die einzige Stelle, wo zuvor schon einmal vom Sublimieren die Rede ist. Dort geht es um eine "seltsame Auffassung": daß das Wort "dieses" der eigentliche Name sei. Da fragt man sich doch: "Aber warum kommt man auf die Idee, gerade dieses Wort zum Namen ma¬ chen zu wollen, wo es offenbar kein Name ist? Gerade darum." (PU 39) Die Antwort ist verwirrend; bis wir auf die Idee kom¬ men, die Beförderung des Wörtchens "dieses" in den Rang des eigentlichen Namens zu sehen als Ausdruck "einer Tendenz [...], die Logik unserer Sprache zu sublimieren". (PU 38) Wie drückt sich diese Tendenz aus? Jetzt am Beispiel des Begriffs des Satzes: "Einer könnte sagen ,Ein Satz, das ist das Alltäglichste von der Welt', und der Andre: ,Ein Satz das ist etwas sehr Merkwür¬ diges!'" (PU 93, vgl. auch PU 363.) Hier wird zwei gegensätz¬ lichen Einstellungen Ausdruck verliehen, nicht ein Vergleich ange¬ stellt. Die zweite Einstellung könnte man die staunende Einstel¬ lung dem Satz gegenüber nennen. Für sie gibt Wittgenstein zwei Motive. Betrachten wir das erste: "Warum sagen wir, der Satz sei etwas Merkwürdiges? Einerseits, wegen der ungeheuren Bedeutung, die ihm zukommt. (Und das ist richtig.)" (PU 93) Noch einmal am Beispiel des Namens: Warum nennt man das Wörtchen "dieses" den eigentlichen Namen? Nun, "man ist versucht, gegen das, was gewöhnlich 'Name' heißt, einen Ein¬ wand zu machen; und den kann man so ausdrücken: daß der Name eigentlich Einfaches bezeichnen soll.11 (PU 39) -

-

das ist der Philosoph. Für ihn sind Satz und Name sehr Merkwürdiges. Aber warum soll der Name gerade Einfaches bezeichnen? Weil er sonst kein gewöhnliches Ding beschreiben könnte. Ein solches ist zusammengesetzt aus Be¬ standteilen. Es ist so zusammengesetzt. Wäre es anders zusam¬ mengesetzt, so wäre es als das, was es jetzt ist, zerstört. Es existierte nicht mehr. Aber dann hätte der Name keine Bedeu¬ tung mehr. Dann wären Sätze, in denen er vorkommt, sinnlos. Nun haben sie aber Sinn, also kann ein gewöhnlicher Name kein wirklicher Name sein. Jener muß durch diesen ersetzt werden. Von ihm steht fest: er muß bezeichnen, was nicht zusammen-

"Man"

-

etwas

WITTGENSTEINS PHILOSOPHIEREN gesetzt ist und deshalb nicht zerstört werden leann. Dies ist das eigentlich Einfache. Daß dies gerade vom Wort "dieses" gelei¬ stet werden kann, sieht man, wenn man sich daran erinnert, daß

"dieses" mit den gewöhnlichen Namen eng zusammenhängt: über die hinweisende Definition, beim Reden über einen Ge¬ genstand vor uns, als Platzhalter eines Namens u. a. m. Und so wie der Name eigentlich Einfaches, also nicht Zusammenge¬ setztes, also Unzerstörbares bezeichnen soll, mithin nie seines Trägers verlustig gehen kann, so kann auch das "hinweisende ,dieses' nie trägerlos werden." (PU 45) Methodologisch wichtig am gerade Skizzierten ist folgendes: Der Philosoph findet etwas sehr merkwürdig, fragt sich, wie es möglich ist, und meint nach genauer Überlegung zu wissen, was ein Name (ein Satz etc.) eigentlich sein muß. Wenn der Philo¬ soph sich dann in der Welt umsieht, entspricht aber kein ge¬ wöhnlicher Name dem Begriff, den er sich vom Namen macht. Das, was wir tatsächlich "Name" nennen, also gewöhnliche Namen, exemplifiziert den Begriff nur unrein, insofern es auch noch anderen Zwecken genügen muß als nur dem der Benen¬ nung. Insofern läßt sich auch kein Beispiel für einen Namen, der dem philosophischen Begriff entspricht, geben. Was könnte dann besser geeignet sein, den Begriff des Namens zu repräsen¬ tieren, als etwas, das offensichtlich kein Name ist? Nichts, könnte man sagen, kann reiner sein von den tatsächlichen Ausprägun¬ gen der Namenhaftigkeit als dasjenige, was gar kein Name ist. Das Wort "dieses" symbolisiert den Begriff. Die "ungeheure Bedeutung", von der in PU 93 die Rede ist, ist die ungeheure Bedeutsamkeit, die fundamentale Wichtigkeit des Sat¬ zes (des Namens, des Denkens, etc.) für unser Leben. Es ist der Satz, mit dem wir befehlen, beschreiben, berichten, vermuten,

darstellen, erfinden, deklamieren, singen, raten, übersetzen, bit¬ danken, fluchen, grüßen, bekennen und beten. (Vgl. die Liste der Arten der Sätze oder Sprachspiele in PU 23.) Wie wich¬ ten,

oder fundamental ist der Satz? So wichtig, wie es etwa das Geld ist, oder so wichtig wie die Luft zum Atmen? Nun, wie gesagt, diese Wichtigkeit ist von einer Art, die jenseits alles Vergleichbaren liegt. Die Wichtigkeit des Satzes ist nicht größer als die des Geldes, aber auch nicht kleiner. Eher schon, könnte man sagen, gehört sie zu dem, was es überhaupt erst erlaubt, von

tig

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j6

RICHARD RAATZSCH mehr oder weniger Wichtigem zu reden. Insofern ist die Wich¬ tigkeit des Satzes die eigentliche Wichtigkeit. Diese überträgt sich auf das, was den Satz möglich macht den Namen, das Einfache, die Tatsache etc. Philosophische Probleme haben keine solitäre, sondern eine soziale Lebensweise. Sie bilden, wie Brecht einmal gesagt hat, Banden. Diese wird man los, indem man sie aufspaltet und einzeln bekämpft, jedes Mitglied nach seiner Façon. Insofern gibt es "nicht eine Methode der Philoso¬ phie, wohl aber gibt es Methoden". (PU 133) Wenn es nun eine besondere die staunende Einstellung ist, die etwas erhaben macht, dann hat dieses Sublimieren aber auch nichts mit dem gewöhnlichen Reinigen zu tun. Es ist, mit ande¬ ren Worten, keine gewöhnliche Tätigkeit. Die Sublimierung und das Sublimierte haben selbst den Charakter des Seltsamen, Merkwürdigen. (Vgl. auch PU 196, 363.) So heißt es dann auch, die "seltsame Auffassung", das Wort "dieses" sei der eigentliche Name, hänge zusammen "mit der Auffassung des Benennens als eines, sozusagen, okkulten Vorgangs [...]. Das Benennen er¬ scheint als eine seltsame Verbindung eines Wortes mit einem Gegenstand. Und so eine seltsame Verbindung hat wirklich statt, wenn nämlich der Philosoph, um herauszubringen, was die Beziehung zwischen Namen und Benanntem ist, auf einen Ge¬ genstand vor sich starrt und dabei unzählige Male einen Namen wiederholt, oder auch das Wort ,dieses'. Denn die philosophi¬ schen Probleme entstehen, wenn die Sprache feiert. Und da können wir uns allerdings einbilden, das Benennen sei irgend ein merkwürdiger seelischer Akt, quasi eine Taufe eines Gegen¬ standes. Und wir können so auch das Wort ,dieses' gleichsam zu dem Gegenstand sagen, ihn damit ansprechen ein seltsamer Gebrauch dieses Wortes, der wohl nur beim Philosophieren -

-

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vorkommt." (PU

38)2

2 Wer in Wittgenstein einen Instrumentalisten sieht, könnte ihn so lesen: Wenn die Sprache feiert, dann ist dies die Benutzung der sprachlichen Formen als Instrumente (PU 569) zu gar nichts oder als Selbstzweck. Der Vielzahl der sprach¬ lichen Instrumente und ihrer Zwecke entspräche dann die Vielzahl der Arten des Feierns, sprich: der philosophischen Probleme. Man hätte dann nicht nur termi¬ nologisch, sondern auch inhaldich die Andeutung einer Nähe zu Kant, der meint, das Erhabene hänge mit gar nichts oder nur mit sich selbst zusammen. Man beachte auch, wie verschieden die Färbung des Wortes "seltsam" am Beginn und am Ende des Zitates ist. Man bekommt so einen Eindruck von Wittgensteins

WITTGENSTEINS PHILOSOPHIEREN das ist etwas sehr Merkwürdiges!" Daß etwas merkwürdig ist, heißt zumindest, daß es uns nicht so scheint, wie es gewöhnlich ist. Dies zeigt sich an den Reaktionen, die wir dem Merkwürdigen entgegenbringen, wie etwa der folgenden auf die "seltsame Auffassung", das Wort "dieses" sei der eigent¬ liche Name: "Die eigentliche Antwort darauf ist: ,Name' nennen wir sehr Verschiedenes; das Wort ,Name' charakterisiert viele ver¬ schiedene, miteinander auf viele verschiedene Weisen verwand¬ te, Arten des Gebrauchs eines Worts; aber unter diesen Arten des Gebrauchs ist nicht die des Wortes ,dieses'." (PU 38)' Dem, was Wittgenstein "die eigentliche Antwort" nennt, sieht man an, daß sie unmittelbar zu den Ausführungen über Famili¬ enähnlichkeit führt. Allerdings spielt sie auch bis zu diesen Pas¬ sagen keine Rolle mehr. Welches Gewicht ihr zukommt, sieht man aber rückblickend, wenn man sich die Frage ansieht, auf die das Konzept der Familienähnlichkeit die Antwort ist: "Hier sto¬ ßen wir auf die große Frage, die hinter allen diesen Betrachtun¬ gen steht. Denn man könnte mir einwenden: ,Du machst dir's leicht! Du redest von allen möglichen Sprachspielen, hast aber nirgends gesagt, was denn das Wesentliche des Sprachspiels, und also der Sprache, ist. [...] Du schenkst dir also gerade den Teil der Untersuchung, der dir selbst seinerzeit das meiste Kopfzer¬ brechen gemacht hat, nämlich den, die allgemeine Form des Satzes

"Ein Satz

-

-

-

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selten anerkannten Fähigkeiten zur feinen Ironie. Dies fuhrt uns vielleicht zu PU 111, wo es heißt: "Warum empfinden wir einen grammatischen Witz als tief? (Und das ist ja die philosophische Tiefe.)" Wieder Kant: Was ist der Witz des Witzes? Daß er, übrigens: wie das Erhabene, gar nichts sagt (vgl.: Kant, a. a. O., B 222 ff.). Kant ist auch der Ansicht, daß das Erhabene nicht etwas ist, was man an den erhabenen Dingen (Personen, Vorgängen, Ereignissen etc.) feststellen oder entdecken kann, sondern daß es in der Beziehung des Subjektes auf das Ding konsumiert wird. Dies erinnert an die Charakterisierung des in PU 93 Ausgedrückten als Einstellung. Aber dies sind nur grobe Andeutungen. 3 Man könnte den Wittgensteinschen Gebrauch des Wortes "eigentlich" als den einer besonderen, philosophischen Art von Negation betrachten: Etwas, sagt der Philosoph, ist eigentlich etwas anderes. Interessant ist hier die Negation der An¬ sicht, was etwas eigentlich sei. Insofern Wttgenstein dies wieder "die eigentliche Antwort" nennt, redet er wie der Philosoph, der den ersten Zug machte. Es ist also eine doppelte Negation. Der Witz des Sache: man kommt nur scheinbar wieder am Ausgangspunkt an. Insofern ist Wittgenstein auch kein CommonSense-Philosoph, selbst wenn manches, was er sagt, diesen Eindruck erwecken könnte. (Vgl. PU 116, 122, 124 ff.)

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RICHARD RAATZSCH und der Sprache betreffend.'" Wittgenstein hat zwei Antworten. Die eine: "Und das ist wahr." (PU 65) Zum anderen aber gibt er mit PU 65 ff. eine ausführliche Variante dessen, was in PU 38 "die eigentliche Antwort" hieß. Was ist also an dem Vorwurf wahr? Nun, daß es eine allgemeine Form des Satzes, das We¬ sentliche des Sprachspiels in dem Sinne geben müsse, wie er dem

Fragenden vorschwebt.

Wie gesagt: die eigentliche Antwort auf die große Frage taucht zuerst nur als nicht weiter verfolgte Andeutung auf. Dies ist ein charakteristischer Zug der gesamten "Philosophischen Untersu¬ chungen". Der erste Abschnitt beginnt bekanntlich mit dem Zitat einer Stelle aus Augustinus' "Bekenntnissen", in welcher Ausgustinus das Lernen der Muttersprache beschreibt* An der Beschreibung interessiert Wittgenstein zunächst "ein bestimm¬ tes Bild von dem Wesen der menschlichen Sprache", welches der Leser in Augustinus' Worten erhält. (Man beachte, daß das Bild nicht von Augustinus selbst gegeben wird.) In diesem Bild finden sich dann auch die Wurzeln einer philosophischen Idee von der Bedeutung eines Wortes. (Vgl. auch PU 2). Hiermit beginnt das Spiel. Allgemein läßt sich sagen: Der Partner (manche Inter¬ preten nennen ihn auch "Gegner", wir können ihn auch "tradi¬

tioneller

Philosoph" nennen)

macht den

ersten

Zug.

Dieser

4 Augustinus berichtet hier, wie er die Sprache lernte. Der Kontext der Stelle, den Wittgenstein nicht zitiert, macht klar, daß Augustinus nicht aus der Erinne¬ rung schöpft, sondern von seinem Fall sagt, was er später bei anderen Kindern beobachtet hat. Diese Form der Beschreibung des Lernens der Sprache ent¬ spricht natürlich dem Charakter der Schrift, zu der die Beschreibung gehört eben den "Bekenntnissen". Daß Wittgenstein eine solche Beschreibung gerade aus dieser Schrift zitiert, ist insofern bemerkenswert, als es sich bei den "Be¬ kenntnissen" um alles andere als eine sprachphilosophische Schrift handelt. Wenn es überhaupt ein philosophischer Text ist, dann ein ethischer in dem Sinne, in welchem im "Tractatus logico-philosophicus" von Ethik die Rede ist als etwas Höherem. Insofern könnte man nach der hier vorgeschlagenen Deutung der Worte "sublim", "Sublimes" und "sublimieren" bereits im ersten Abschnitt der PU den Anfang der Auseinandersetzung mit der entsprechenden Problema¬ tik sehen. Allerdings ist dieser Anfang dann von sehr subtiler Art. Insofern Augustinus' Bemerkungen nicht philosophischer Natur sind, ist die in der vorhe¬ rigen Fußnote gemachte Bemerkung zum Wörtchen "eigentlich" einschlägig. Inwiefern Wittgenstein nach der Kritik an dem "philosophische(n) Begriff der Bedeutung" (PU 2) nicht wieder dort ankommt, wo die ganze Sache anfing bei Augustinus' Beschreibung des Lernens sieht man in PU 32. -

-

-

-

WITTGENSTEINS PHILOSOPHIEREN

hängt zusammen mit einer bestimmten Beschreibung des Ler¬ nens der Sprache, hat aber als philosophischer eben auch eine gewisse Selbständigkeit. Auf den Zug reagiert Wittgenstein dann auf argumentativ außerordentlich vielfältige Weise. Betrachten wir als Beispiel kurz die drei Absätze nach dem Eröffnungszitat in PU 1. Zuerst weist Wittgenstein auf Dinge hin, die, obwohl von Augustinus nicht genannt, zu seiner Beschreibung gehören. Dabei wird die begriffliche Wahrheit benutzt, daß aus der Be¬ schreibung eines Lernens eine Beschreibung des Gelernten ab¬ ziehbar ist. Dem kann der Partner nur widersprechen, wenn er den begrifflichen Zusammenhang leugnet. Aber damit würde er seine eigene Schilderung in Frage stellen was würde hier noch geschildert? Ein Lernen der Sprache sicher nicht. Vergleichen -

wir damit den letzten Absatz: die berühmte Szene im Kauf¬ mannsladen. Die Einleitung dieses Absatzes, die Zurückweisung der dort gestellten Fragen, der Inhalt alles dies spricht eine andere Sprache als der zweite Absatz. Der mittlere dagegen ist, sozusagen, ein Fall von doppelter Buchführung, so wie der fol¬ gende, nahezu klassische: "Augustinus beschreibt, könnten wir sagen, ein System der Verständigung; nur ist nicht alles, was wir Sprache nennen, dieses System. Und das muß man in so man¬ chen Fällen sagen, wo sich die Frage erhebt: ,Ist diese Darstel¬ lung brauchbar, oder unbrauchbar?' Die Antwort ist dann: Ja, -

brauchbar; aber nur für dieses eng umschriebene Gebiet, nicht für das ganze, das du darzustellen vorgabst.'" (PU 3) Nun ist

Augustinus' Darstellung aber intendiert für die Sprache als sol¬

che, und nicht für einzelne ihrer Gebiete. Deshalb wäre es ge¬ nauso berechtigt, die Frage mit "Nein, unbrauchbar." zu beant¬ worten. Nun antwortet Wittgenstein aber mit "Ja, ..."; also kann man ihn so verstehen, daß er sich gewissermaßen noch im Rah¬ men

des

ursprünglichen Anliegens bewegt. Andererseits haben

wir aber die Tatsache, daß er genausogut hätte sagen können Also könnte man auch sagen, er hätte Augustinus' "Nein, Gedankenbahnen schon verlassen. Jedenfalls ist der Effekt sei¬ ner Äußerung, daß sie auf eine stillschweigende Voraussetzung, eine Präsupposition, des von Augustinus Gesagten deutet: daß es ein Wesen der Sprache gebe oder geben müsse, das unabhängig von irgendeinem besonderen Gebiet der Sprache, einem einzel¬ nen Sprachspiel angebbar sei. Diese Präsupposition wird dann direkt bestritten und durch anderes ersetzt in den "eigentlichen

79

8o

RICHARD RAATZSCH mit PU 65 ff. als Höhepunkt. Deren Nachteil ist, daß sie den Partner nicht überzeugen können, wenn "überzeu¬ gen" heißt: den anderen mit Gründen zu einer Ansicht bringen. Gründe werden dagegen gegeben, wenn sie akzeptiert oder ver¬ worfen werden können, ohne daß man den eigenen Ansatz in Frage stellen muß. Der Nachteil dieses Vorgehens ist der, daß so die "Voraus-Setzungen" des Ansatzes nicht eigens betrachtet werden können.5 Den Gegner zu überzeugen suchen heißt, sich einzulassen auf sein Bild davon, was ein Name, die Sprache, die Philosophie sein müssen. Dem steht entgegen: wie es sich verhält. Dies stellt Witt¬ genstein bloß hin und ergänzt es um die Aufforderung "denk nicht, sondern schau!" (PU 66) Das Problem ist nicht, zu folgern, daß Familienähnlichkeit die Antwort ist, sondern sie als solche anzuerkennen. (Dies ist der Punkt, in dem die Therapeuten im Recht sind.) Aber dies heißt nicht, es sei egal, wie es zu dieser Anerkennung kommt, solange sie nur überhaupt zustande kommt. (Hier sitzen die Therapeuten wieder im Abseits.) Die Schwierigkeit ist, den Zusammenhang der verschiedenen Rede¬ weisen zu sehen. (Daß man ihn nur schwer sieht, spiegelt sich in der Existenz zweier Lesarten.) Und deshalb bedarf es eines Ka¬ pitels zur Philosophie. Denn es ist schwer zu sehen, wie etwas dermaßen Schlichtes wie die Idee der Familienähnlichkeit "die eigentliche Antwort auf die große Frage" sein kann. Daß man es nicht sieht, hängt zusammen mit dem Bild, welches man sich vom Philosophieren macht. Aber dieses Bild gehört selbst zu dem Philosophieren, welches man betreibt. Also kann man nicht nur das richtige Bild hinsetzen und es dann einfach anwenden. Denn die Frage ist: wie kommt man philosophisch zu dem rich¬ tigen Bild? (Wenn das Philosophieren ein Spiel ist, dann gehört Metaphilosophie zum Spiel; und wenn sie nicht dazugehörte, dann wäre es eben ein anderes Spiel, wenn man sie hinzufügte.

Antworten",

Vgl. PU 121.)

Die Wirksamkeit der Idee der Familienähnlichkeit beruht, wie gesagt, auf der Befolgung der Aufforderung "denk nicht, son5 In diesen Unterscheidungen findet sich ein Echo auf die beiden dominanten Lesarten der PU: (I) als Darstellungen dessen, was etwas (Sprache, Bedeutung, Verstehen, Geist etc.) ist und (2) als Therapien.

WITTGENSTEINS PHILOSOPHIEREN dem schau!" Daß die Sache sich im Bereich dessen, was man sehen kann, so verhält wie in PU 65 ff. geschildert, bestreitet der Partner aber nirgends. Uber den, der meint "Ein Satz das ist etwas sehr Merkwürdiges!", heißt es deshalb: "Und dieser kann nicht: einfach nachschauen, wie Sätze funktionieren." (PU 93) Was kann er hier nicht? Nachschauen? Nein, er kann nicht einfach nachschauen, es beim Nachschauen belassen. Wer so wie ein Satz (ein er redet, glaubt schon zu wissen, was das sein muß Name, die Philosophie etc.). Wir haben eine Idee vom Satz, und diese "sitzt gleichsam als Brille auf unsrer Nase, und was wir ansehen, sehen wir durch sie. Wir kommen gar nicht auf den Gedanken, sie abzunehmen." (PU 103) Eine solche Idee hin¬ sichtlich des Satzes ist zum Beispiel diese: -

-

Der Satz ist ein Bild der Wirklichkeit. Der Satz ist ein Modell der Wirklichkeit,

so

wie wir sie

uns

denken. (TLP 4.01) Aus PU 38 wissen wir, was hier zu sagen ist: "Die eigentliche Antwort hierauf ist: ,Satz' nennen wir sehr Verschiedenes ..." Aber das ficht den Partner nicht an, das weiß er selbst:

"[...] die scheinbare logische Form des Satzes seine wirkliche sein [...]." (TLP 4.0031)

[muß]

nicht

es die wirkliche logische Form des Satzes ist, welche erlaubt, daß der Satz die Welt abbildet, dann ist es die Aufgabe

Wenn

der Logik, hinter den scheinbaren Formen die wirklichen auszu¬ machen, "den Dingen auf den Grund [zu] sehen, [...] sich nicht um das So oder So des tatsächlichen Geschehens [zu] küm¬ mern. Sie entspringt nicht einem Interesse für Tatsachen des Naturgeschehens, noch dem Bedürfnisse, kausale Zusammen¬ hänge zu erfassen, sondern einem Streben, das Fundament, oder Wesen, alles Erfahrungsmäßigen zu verstehen." (PU 89) Die Rede davon, "den Dingen auf den Grund sehen", ist ernst zu nehmen. Sie drückt das Bild aus, welches der Philosoph sich von dem macht, worauf es in der Logik oder der Philosophie ankommt: auf das Fundament oder den Grund, die in der Tiefe oder unter der Oberfläche liegen. Ein ganz ähnliches Bild ist dieses: Das Wesen liegt hinter den Erscheinungen. "Es ist uns, -

8I

82

RICHARD RAATZSCH

als müßten wir die Erscheinungen durchschauen: unsere Unter¬ suchung aber richtet sich nicht auf die Erscheinungen, sondern, wie man sagen könnte, auf die Möglichkeiten' der Erscheinun¬ gen." (PU 90) Dieses Bild ist nun Wittgensteins Thema bei dem Versuch, die Frage nach der Sublimitât der Logik zu beantwor¬ ten.

Was wir gewöhnlich sehen, sind die Erscheinungen, nicht das Wesen. Insofern können wir konstatieren: ,"Das Wesen ist uns verborgen1: das ist die Form, die unser Problem nun annimmt. Wir fragen: ,Was ist die Sprache?', ,Was ist der Satz'." (PU 92) Dem Bild vom Wesen einer Sache korrespondiert ein Bild vom Philosophieren: das des Durchschauens. Aber wofür ist dies Bild vom Durchschauen der Phänomene ein Bild? "Wir besinnen uns, heißt das, auf die Art der Aussagen, die wir über die Erschei¬ nungen machen." (PU 90) Nur: inwiefern ist denn das Durch¬ schauen der Phänomene ein Erinnern an die Art von Aussagen? Könnte man hier nicht das wiederholen, was anläßlich des Vor¬ schlags, das Wörtchen "dieses" als eigentlichen Namen zu be¬ trachten, zu sagen war: daß dieses Durchschauen nun gerade kein Erinnern sei? Der Einwand ist berechtigt. Was wir beim Philosophieren tun, ist dies: wir erinnern uns an Arten von Aussagen. Was wir dem Bild vom Philosophieren zufolge tun, ist das: wir durchschauen Phänomene. Wie paßt beides zusammen? Wie gesagt: die Rede vom Durchschauen gibt ein Bild. Daß wir uns fragen, wie es mit dem zusammenpaßt, was wir tun, bedeu¬ tet, daß wir dieses Bild nicht nach reiflicher Überlegung als das passende Bild gewählt haben. Zu dem Bild haben wir ohne Überlegung gegriffen. In einem anderen Zusammenhang heißt es bei Wttgenstein: "Und das Beste, was ich vorschlagen kann, ist wohl, daß wir der Versuchung, dies Bild zu gebrauchen, nachgeben: aber nun untersuchen, wie die Anwendung dieses Bildes aussieht." (PU 374) Was dort fruchtbar ist, wo dieses Zitat hingehört, ist auch hier mit Erfolg anwendbar. Also was ist das: etwas durchschauen? Nun, wann sagen wir, daß wir etwas durchschaut haben? Wann reden wir denn gewöhn¬ lich von einem Unterschied zwischen Wesen und Erscheinung? Eine bunte Glasscheibe können wir durchschauen, eine trübe Flüssigkeit kann uns Durchsicht gewähren, so daß wir durch sie hindurch etwas sehen können, was hinter ihr oder auf ihrem

WITTGENSTEINS PHILOSOPHIEREN Grund liegt. Aber was wir sehen, könnte auch anders sein, als es ist. Also sehen wir, wenn wir durch eine Scheibe oder eine Flüssigkeit hindurchsehen, nicht das Wesen des Durchschauten, wenn man von ihm in dem Sinne spricht, den der Philosoph im Auge hat, wenn er verlangt, es solle das sein, was nicht anders sein kann, als es ist, wenn die Erscheinung möglich sein soll, egal ob diese nun so oder anders ist. Wir durchschauen hier etwas, indem wir durch es hindurchsehen, sehen aber so nicht sein Wesen. Es gibt aber auch Fälle, in denen wir von einem Durchschau¬ en und einem Sehen des Wesens reden etwa dann, wenn wir wir eine hätten oder ihr durchschaut Person Verhalten, sagen, und sähen nun ihr wahres Motiv etc. Hier ist etwas nicht so, wie es zu sein scheint. Aber heißt dies, daß wir etwas sehen das was oder daß die was nicht Person sie Motiv, glaubt, behauptet -, hinter dem Verhalten (oder in dem Handelnden) ist? Nehmen wir Lügen als ein Beispiel. Wenn einer lügt, dann kommt er manchmal damit durch, manchmal nicht. Das heißt, manchmal, aber nicht immer, bekommen wir heraus, daß er uns angelogen hat. Wenn wir es herausbekommen, dann, sagen wir, haben wir ihn durchschaut. Wie bekommen wir es heraus? Indem wir in sein Inneres schauen? Wie tun wir dies? Und warum schauen wir dann nicht gleich dort hinein? Hat er sein Innerstes verborgen? Und wie konnten wir dann trotzdem hineinsehen? Nein, wenn einer lügt, dann tut er etwas, was so aussieht, wie Aufrichtig-Sein aussieht. Deshalb konnte er uns ja täuschen. Wenn wir nun wissen, daß er gelogen hat, wenn wir ihn durchschaut haben, dann kommt zu dem, was wir vorher schon gesehen haben, noch etwas hinzu. Das neue Element verändert das Bild des Ganzen. Wir sehen: wir schauen nicht durch etwas hindurch, hinter es, sondern sehen, was wir vorher sahen, in einer neuen Umgebung. So ändert sich unser Bild von seinem Charakter, seinem Wesen. Wir durchschauen etwas, sehen auch sein Wesen, aber wir sehen nicht durch etwas hindurch, was wir vorher schon sahen, wenn wir von "hindurchsehen" in dem Sinne reden wie in dem vorhe¬ -

-

rigen Beispiel.

Es ist also nicht so, daß wir nicht wüßten, wovon wir reden, wir von einem Unterschied zwischen Wesen und Erschei¬ nung und einem Durchschauen von Phänomenen reden. Man kann sich etwas darunter vorstellen, kann bestimmte Fälle nen-

wenn

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RICHARD RAATZSCH nen und beschreiben. Nur sind dies nicht Fälle, die derphilosophi¬ schen Ausrichtung der Untersuchungen entsprechen. In deren Sinne könnte man sagen, daß das einzige, was man nicht wirklich durchschauen kann, die Erscheinungen sind. Oder man sagt, daß was immer wir brauchen, keine Erscheinung sein kann. Oder auch: daß das Durchschauen einer Erscheinung mit dem Ziel, etwas Interessantes zu sehen, nicht dasjenige Durchschauen ist, um welches es der Philosophie geht. Was immer man sagen will, Wittgensteins besondere Behandlungsweise der Worte "durch¬ schauen", "Erscheinungen" und "Möglichkeiten" in PU 90 wird jetzt verständlich. Sie passen in ihrer gewöhnlichen Verwendung nicht auf die Weise zusammen, die der Philosoph gern hätte, um sein Anliegen zu formulieren. Denn soweit man Erscheinungen durchschauen kann, kommt man eben nicht bei dem an, worum es in der Philosophie geht den Möglichkeiten, dem Wesen der Dies soll etwas sein, was nicht anders sein Erscheinungen. ja kann, als es ist, was jenseits des "So oder So des tatsächlichen Geschehens" (PU 89) liegt. (So, wie es etwas Unzerstörbares geben muß, wenn es wirklich Namen gibt.) Betrachten wir nun dagegen, was wir tatsächlich tun Erin¬ nerungen zu einem bestimmten Zweck zusammentragen etc. (PU 127) -, so scheint dies dem Philosophen ungenügend, denn dies ist ja bestenfalls die Art, wie das, was er eigentlich tut, gemes¬ sen an dem Bild, welches er sich vom Philosophieren macht, erscheint. Darum bedarf es für ihn der Erläuterung, wenn Witt¬ genstein sagt: "Unsere Betrachtung ist daher eine grammati¬ sche." (PU 90) Oder: "Das Wesen ist in der Grammatik ausge¬ sprochen." (PU 371) Die Frage ist: Inwiefern ist es philosophisch interessant, wie man ein Wort gebraucht, und nicht ausschlie߬ lich, welche Art von Gegenstand das ist, wofür das Wort steht? "Es kommt nicht aufs Wort an, sondern auf seine Bedeutung" (PU 120). Der traditionelle Philosoph braucht also nicht zu be¬ streiten, daß Philosophieren ein Besinnen oder Erinnern ist. Das Wesentliche am Besinnen ist für ihn nicht, daß es eine gramma¬ tische Betrachtung, sondern daß es ein erster Schritt zur Wesens¬ aufdeckung ist. Insofern ist das philosophische Besinnen eigent¬ lich Wesensuntersuchung. Erinnern wir uns an die "eigentliche Antwort" auf die "seltsame Auffassung", das Wörtchen "dieses" sei der eigentliche Name: wir nennen sehr Verschiedenes, mit¬ einander vielfältig Verwandtes "Name", aber eben nicht das Wort -

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WITTGENSTEINS PHILOSOPHIEREN

"dieses." (Vgl. PU 38) Wir können leicht eine hierzu analoge Antwort auf die Auffassung formulieren, das Wesentliche am Besinnen sei nicht, daß es eine grammatische Betrachtung, son¬ dern daß es eigentlich philosophische Wesensuntersuchung sei. Aber dann fragt sich wieder, wie Wittgenstein die Zustimmung des Partners zu dieser Sichtweise erlangen will, die man in einer Synthese aus PU 43 und 127 so beschreiben könnte: "Man kann fur eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes phi¬ losophieren' wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benützung dieses Wort so erklären: Die Arbeit des Philosophen ist ein Zu¬ sammentragen von Erinnerungen zu einem bestimmten Zweck." Das Problem ist: diese Charakterisierung des Philosophierens widerspricht nicht unbedingt dem Bild, welches sich der Partner davon macht; er hält sie nur für oberflächlich, nicht das Wesen des Philosophierens treffend. Sie ist, sozusagen, der Sache äußerlich. Wittgenstein redet für ihn über etwas, was nur akzidentell zur Sache des Philosophierens gehört. Er hat andere Kriterien dafür, worüber er redet. Also redet er von etwas anderem. In gewisser Weise ist dies richtig, in gewisser Weise nicht. (Diese läßt an PU 3 denken.) -

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Überlegung

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Erinnern wir uns: Was stellt der Philosoph an, um herauszubrin¬ gen, was, zum Beispiel, die Zeit ist? Er "besinnt sich [...] auf die verschiedenen Aussagen, die man über die Dauer von Ereig¬ -

nissen, über ihre Vergangenheit, Gegenwart, oder Zukunft macht. (Dies sind natürlich nichtphilosophische Aussagen über die Zeit, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.)" (PU 90) Das

Verständnis des traditionellen Philosophen von seinem eigenen Tun ist dieses: Weil die Aussagen, die wir über die Dauer von Ereignissen machen, über ihre Vergangenheit etc. pp. keine philosophischen Aussagen sind, interessieren sie mich als solche nicht. Mich beschäftigt die Bedeutung des Wortes "Zeit", ihr Begriff. (Vgl. PU 120) Was ein Wort bedeutet, wie soll ich dies herausbekommen, wenn nicht dadurch, daß ich die sinnvollen Sätze betrachte, in denen es vorkommt: die Aussagen, die wir über die Zeit machen? Da wir diese Aussagen machen, wissen wir schon, was Zeit ist. Also können wir es sagen? Nein, wenn wir gefragt werden, wissen wir es nicht. Im "Tractatus" wurde dies so ausgedrückt: "Der Mensch besitzt die Fähigkeit Spra¬ chen zu bauen, womit sich jeder Sinn ausdrücken läßt, ohne eine -

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RICHARD RAATZSCH

Ahnung davon zu haben, wie und was jedes Wort bedeutet. Wie man spricht, ohne zu wissen, wie die einzelnen Laute her¬ vorgebracht werden." (TLP 4.002) Dies klingt paradox. Wie ist es möglich, daß wir nicht wissen,

-

die Worte bedeuten, die wir benutzen? Insofern läßt sich sagen: "Wir wollen etwas verstehen, was schon offen vor unsern Augen liegt. Denn das scheinen wir, in irgendeinem Sinne, nicht zu verstehen." (PU 89) Dem "Tractatus" zufolge beginnt das Verständnis mit der Ak¬ zeptanz der Forderung nach der Bestimmtheit des Sinns. Wenn der Satz auch seinen Sinn verhüllt, besagt die Forderung, so ist es doch ein bestimmter Sinn, der ausgedrückt wird. Später heißt es: "Der Sinn des Satzes [...] kann freilich dies oder das offen lassen, aber der Satz muß doch einen bestimmten Sinn haben. Ein unbestimmter Sinn, das wäre eigentlich gar kein Sinn." (PU 99) Ich kann sagen: "Das Buch liegt im Regal oder auf dem Tisch." und damit offenlassen, wo genau es ist. Aber daß ich dies offenlasse und nicht etwas ganz anderes, das muß bestimmt sein, wenn ich überhaupt etwas sage. Also hat der Satz Sinn; also kann es nicht darum gehen, ihm erst einen Sinn zu geben. Dann kann es nicht Aufgabe der Logik sein, den Menschen zu sagen, wie ein richtiger Satz ausschaut. Wir streben auch nicht ein Ideal an, welches der Logiker uns vorgibt, denn unsere natürliche Spra¬ che ist bereits logisch vollkommen geordnet. (Vgl- TLP 5.5563, PU 81 ff., 98) Wo steckt die Ordnung? Im Satzzeichen? Der Satz als Satzzei¬ chen allein scheint tot; wie bekommt er Leben? Durch das Den¬ ken des Satzsinnes, durch das Meinen des Gesagten. Also muß im Denken, im Meinen, vollkommene Ordnung sein. Wenn man sagt, was man meint, und meint, was man sagt, dann gebraucht man den Satz auf sinnvolle Weise. Insofern können wir auch sagen: Im sinnvollen Gebrauch lebt der Satz. (Vgl.TLP 3.326 ff., PU 432 f.) Also muß vollkommene Ordnung im Gebrauch sein. Der sinnvolle Gebrauch ist der Gebrauch entsprechend bestimm¬ ten Regeln. Anders gesagt: "wer einen Satz ausspricht und ihn meint, oder versteht, [betreibt] damit einen Kalkül [...] nach be¬ was

-

stimmten Regeln." (PU 81) Wenn es nicht Aufgabe der Philosophie ist, die Sprache in Ordnung zu bringen, weil alles in Ordnung ist, wie kann es dann Mißverständnisse geben? Entsteht ein Mißverständnis nicht da-

WITTGENSTEINS PHILOSOPHIEREN

durch, daß das Mißverstandene keinen Sinn hatte, der bestimmt

genug war? Natürlich gibt es Mißverständnisse. Diese lassen sich aus dem Weg räumen, indem der Sinn bestimmter gemacht wird, indem klar gemacht wird, was der Sinn ist. Ein Weg, die Wurzel von Mißverständnissen zu finden, ist der, daß man sich die Teile des Mißverstandenen ansieht und schadhafte auswech¬ selt. Man sucht die Substanz, die das Wasser trübe macht, durch Analysen zu finden. Insofern ähnelt, was wir tun, wenn wir uns auf die Art unserer Aussagen besinnen, zwar einem Analysieren und mag auch dem Vorbeugen oder Wegräumen von Mißver¬ ständnissen dienen. (Vgl. PU 90.) Aber das ist weder für den traditionellen Philosophen noch für Wittgenstein das, was die Philosophie ausmacht. Sie sucht nicht die Wurzel dieses oder jenes Mißverständnisses, sondern die Wurzel aller mögli¬ chen Mißverständnisse. Was sie geben muß, ist, wie es scheint, "eine letzte Analyse unserer Sprachformen, also eine voll¬ kommen zerlegte Form des Ausdrucks." (PU 91, vgl. auch TLP 3.23 ff.) Dies ist "das eigentliche Ziel unserer Unter¬

suchung."6

Also nicht: Wie kann man die Sprache in Ordnung bringen? Sondern: Was ist die Ordnung, das Wesen, die Grundlage jedermöglichen und also auch unserer Sprache? Denn das "scheint [...] klar: Wo Sinn ist, muß vollkommene Ordnung sein. Also muß die vollkommene Ordnung auch im vagsten Satz stecken." (PU 98) Insofern muß man sagen: Die Philoso¬ phie "läßt alles, wie es ist." (PU 124) Nicht: Die Philosophie sagt, alles solle bleiben wie es ist. Sondern: Wenn du willst, daß etwas nicht bleibt, wie es ist, dann glaube nicht, daß dein Grund, falls du einen hast, philosophischer Natur ist wenn du unter "Philosophie" weiterhin etwas verstehst, das einen Anspruch erhebt, wie wir ihn im "Tractatus" einzulösen bestrebt waren. (Ein Anspruch, nebenbei bemerkt, der große Teile der Tradition unseres Faches kennzeichnet.) Wittgenstein knüpft in den PU an den Anspruch seines Philo¬ sophierens im "Tractatus" an. Gerade weil er dies tut, sieht es ja aus, als vermeide er die "große Frage [...] hinter allen diesen Betrachtungen", die Frage, die ihm einst "das meiste Kopfzer-

-

6 Ebd.;

zur

"Analyse" vgl. auch PU 60-64.

87

88

RICHARD RAATZSCH brechen gemacht hat". (PU 65) Also wird nun zu zeigen sein, inwiefern dem alten Anspruch mit dem neuen Vorgehen nicht ausgewichen, sondern eben doch entsprochen wird. Wie entstehen Mißverständnisse? Zum Beispiel durch vage Sät¬ ze. Aber wenn Ordnung auch im vagsten Satz steckt, dann kann die Unbestimmtheit des Sinnes des vagen Satzes, die zu alltägli¬

chen Mißverständnissen führt, nicht die Unbestimmtheit sein, die wir im Auge haben. Das, was wir im täglichen Leben "Sinn" nennen, ist von ganz anderer Art als das, was wir in der Logik unter "Sinn" verstehen. (So wie nichts, was wir gewöhnlich "Name" nennen, eigentlich einer ist.) Und genauso ist, was wir gewöhnlich als eine Bestimmung des Begriffs des Sinnes geben würden, keine philosophische Bestimmung, denn die gewöhnli¬ che Bestimmung wird Worte (Wahrheit, Satz, Bedeutung, Spra¬ che, Vagheit, Exaktheit etc.) enthalten, die den gleichen Mangel aufweisen wie das Wort "Sinn". Das bedeutet: Die Ordnung, die wir anstreben, "ist eine 1/tVr-Ordnung zwischen sozusagen Uèer-Begriffen." (PU 97) Was ist dann mit unserem Anspruch (aus dem "Tractatus")? War dies ein Uber-Anspruch? Galt der nicht auch den Grundlagen der Sprache, die wir tatsächlich -

-

-

sprechen?

Was machen wir also mit unseren alltäglichen Sätzen, mit der gewöhnlichen Vagheit, dem üblichen Sinn? Wie können wir lm überhaupt sagen, daß etwas ein Satz ist? Kurz: ,Wenn wir "Tractatus", R. R.] glauben, jene Ordnung, das Ideal, in der wirk¬ lichen Sprache finden zu müssen, werden wir nun mit dem unzu¬ frieden, was man im gewöhnlichen Leben ,Satz', ,Wort', .Zei¬ chen', nennt." (PU 105) Aber wenn das, was man gewöhnlich so nennt, uns nicht genügt, wir nicht einmal wissen, was man im Leben einen wirklichen Satz nennen kann, wie können wir dann sagen, daß wir in der Logik das Wesen des Satzes erkennen? Wovon können wir dann sagen, wir hätten sein Wesen erkannt? Von dem, was man gewöhnlich "Satz" nennt? Aber dies ist ja eigentlich gar keiner! Nach wessen Wesen wurde dann in der Frage nach dem Wesen des Satzes gefragt? (Vgl. PU 120.) So gelangen wir dahin, wo es scheint, als "wäre unsere Logik eine Logik, gleichsam, für den lufleeren Raum." (PU 81) Aber dann hat sie auch nichts mit den Erscheinungen zu tun. Wie kann sie dann deren Wesen angeben? Was erkennen wir dann eigentlich in

WITTGENSTEINS PHILOSOPHIEREN der Logik? Es scheint: Nichts. Wenn wir an dem Bild dessen, was ein Durchschauen der Phäno¬ die Logik eigentlich ist mene zwecks der vollkommenen Ordnung, die Aufdeckung sich auch im vagsten Satz finden lassen muß, und zwecks Freile¬ gung des klaren und strengen Kalküls, den wir beim Spre¬ chen anwenden festhalten, dann scheint es, als gelangten wir immer nur dahin, daß die Philosophie sich selbst in Frage stellt. -

-

(PU 133)

"Wir sind aufs Glatteis geraten,

wo die Reibung fehlt, also die Sinne ideal sind, aber wir eben des¬ Bedingungen gewissem halb auch nicht gehen können. Wir wollen gehen; dann brau¬ chen wir die Reibung. Zurück auf den rauhen Boden!" (PU 107) Der rauhe Boden das ist die alltägliche Art des Redens über den alltäglichen Gebrauch, den wir von den Worten "Satz", "Wort", "Sprache", aber auch "Erscheinung", "Wesen" und "durchschauen" machen. "Wir führen die Wörter von ihrer me¬ taphysischen, wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück." (PU 116) Wenn wir philosophieren, dann ist dies kein ÜberDurchschauen von Uber-Begriffen, um deren Uber-Wesen zu finden. Einwand: Wenn du meinst, die "Philosophie der Logik redet in keinem andern Sinn von Sätzen und Wörtern, als wir es im gewöhnlichen Leben tun" (PU 108), dann bist du wohl auch bereit, die Kristallreinheit der Logik zu opfern? Denn sie ist es doch, die uns in die Schwierigkeiten bringt. Wir wissen, daß die Logik das Wesen von Sprache, Denken und Welt ist; Kopfzer¬ brechen bereitet uns, daß wir sie dort nicht so finden können, wie sie sein muß. Aber erinnern wir uns doch: Wer meint, "dieses" sei der eigentliche Name, der redet, als wisse er eigent¬ lich schon, was ein Name sein muß. Gemessen an diesem Be¬ griff, findet er das, was gewöhnlich "Name" genannt wird, unzu¬ reichend. Aber dies ist eben ein Hir-Urteil. Allgemeiner, auch die Begriffe "Satz" und "Sprache" einbeziehend, heißt dies: ,Je genauer wir die tatsächliche Sprache betrachten, desto stärker wird der Widerstreit zwischen ihr und unsrer Forderung. (Die Kristallreinheit der Logik hatte sich mir ja nicht ergeben; son¬ dern sie war eine Forderung.)" (PU 107) Damit ist der Einwand jedoch noch nicht aus der Welt: "Was aber wird nun aus der Logik? Ihre Strenge scheint hier aus dem Leim zu gehen. Verschwindet sie damit aber nicht ganz?

in

-

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-

-

89

go

RICHARD RAATZSCH Denn wie kann die Logik ihre Strenge verlieren? Natürlich nicht dadurch, daß man ihr etwas von ihrer Strenge abhandelt."

(PU 108) Und jetzt die Antwort: Richtig ist, daß die Logik keine Logik

mehr ist, wenn sie ihre Strenge verliert. Insofern kann man ihr auch nichts von ihrer Strenge abhandeln. (Und nicht, weil es so schwer ist!) Nicht das Urteil, daß die so und so verstandene Logik das Wesen von Sprache, Denken und Welt ausdrückt, ist als solches falsch, sondern als Vorurteil führt es in die Irre, weil es uns hindert zu sehen, wie sich die Strenge der Logik in der findet. Sprache Was tun wir nun mit dem Vorurteil? Wittgenstein: "Der Phi¬ losoph behandelt eine Frage; wie eine Krankheit." (PU 255) Durchgeführt in unserm Fall, heißt dies: "Das Vorurteil der Kri¬ stallreinheit kann nur so beseitigt werden, daß wir unsere ganze Betrachtung drehen. (Man könnte sagen: Die Betrachtung muß gedreht werden, aber um unser eigentliches Bedürfnis als Angel¬ punkt.)" (PU 108) "Unsere klaren und einfachen Sprachspiele sind nicht Vorstudien zu einer künftigen Reglementierung der Sprache, gleichsam erste Annäherungen, ohne Berücksichti¬ gung der Reibung und des Luftwiderstands. Vielmehr stehen die Sprachspiele da als Vergleichsobjekte, die durch Ähnlichkeit und Unähnlichkeit ein Licht in die Verhältnisse unsrer Sprache wer¬ fen sollen." (PU 130) So haben wir beides: die Kristallreinheit der Logik und ihren Zusammenhang mit unserer gewöhnlichen Sprache. Verschwunden ist der Dogmatismus, etwas müsse so und so sein. (Vgl. PU 81 und 131.) -

Wenn die Logik nicht mehr das unvergleichliche Wesen der Sprache und damit des Denkens und der Welt ausdrückt, was wird dann aus der Unterscheidung zwischen Wesen und Er¬ scheinung? Verschwindet sie? Oder müssen wir auch hier die Betrachtung drehen? Was war unser eigentliches Bedürfnis? Wir wollten den Dingen auf den Grund sehen, etwas verstehen, was schon offen vor unseren Augen liegt. (PU 89) Wir hatten bestimmte Bilder davon, was dies heißt: einer Sache auf den Grund sehen, das Fundament von etwas finden, das Wesen einer Erscheinung erkennen, eine letzte Analyse unserer Sprachfor¬ men geben. Und als wir die Bilder anwenden wollten, kam nicht das heraus, was wir uns erhofften. Der Philosoph betrachtet, -

WITTGENSTEINS PHILOSOPHIEREN

eigenen Tuns, die Bilder nicht als Ausdrucks¬ oder als Darstellungsweisen (seines Bedürfnisses) formen (seines sondern Strebens), "prädiziert von der Sache, was in der Dar¬ auch im Fall des

stellungsweise liegt." (PU 104) Die Philosophie spricht nur in einem gewöhnlichen Sinn über Worte? Also doch nicht über die Dinge? Die Antwort, in PU 370 anhand eines Beispiels erläutert, lautet: "Nicht, was Vorstellun¬ gen sind, oder was da geschieht, wenn man sich etwas vorstellt, muß man fragen, sondern: wie das Wort ,Vorstellung' gebraucht

wird. Das heißt aber nicht, daß ich nur von Worten reden will. Denn soweit in meiner Frage vom Wort ,Vorstellung' die Rede ist, ist sie's auch in der Frage nach dem Wesen der Vorstellung. Und ich sage nur, daß diese Frage nicht durch ein Zeigen weder für den Vorstellenden, noch für den Andern, zu erklären ist; noch durch die Beschreibung irgendeines Vorgangs. Nach einer Worterklärung fragt auch die erste Frage; aber sie lenkt unsre Erwartung auf eine falsche Art der Antwort." (Vgl. auch PU 120.) Wenn es stimmt, daß beide Fragen nach einer Worter¬ klärung fragen, dann wird verständlich, warum es heißt: "Das Wesen ist in der Grammatik ausgesprochen." (PU 371) Also gibt es doch einen Unterschied zwischen Wesen und Erscheinung? Oder ist die Philosophie doch nicht etwas Einzigartiges, steht nur neben, aber nicht über oder unter den Naturwissenschaften (vgl. TLP 4.111)? Nein: "Richtig war, daß unsere Betrachtungen nicht wissenschaftliche Betrachtungen sein durften. [...] Und wir dürfen keinerlei Theorie aufstellen. Es darf nichts Hypothe¬ tisches in unsern Betrachtungen sein." (PU 109) Was Wittgen¬ steins Philosophieren von dem des traditionellen Philosophen unterscheidet, ist nicht, daß jener etwas ganz anderes tut als dieser. Beide besinnen sich auf Aussagen, tragen Erinnerungen an den Gebrauch von Worten zusammen. Aber Wittgenstein sieht (in den PU) im Wesen nicht etwas hinter den Erscheinun¬ gen oder unter der Oberfläche, sondern etwas, "was schon offen zutage liegt und was durch Ordnen übersichtlich wird."(PU 92) "Wir reden von dem räumlichen und zeitlichen Phänomen der Sprache; nicht von einem unräumlichen und unzeitlichen Un¬ ding." (PU 108) Gleichwohl bleibt es bei der Ansicht des "Tractatus", daß wir beim Philosophieren nicht Wissenschaft treiben. (Vgl. TLP 4.11 ff.) Das heißt: uns interessiert die Sprache nicht als Gegenstand einer möglichen Erklärung. Wir betrachten sie

-

91

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RICHARD RAATZSCH

vielmehr wie ein Spiel. "Die Frage ,Was ist eigentlich ein Wort?' ist analog der Was ist eine Schachfigur?'" (PU 108)7 Der Unterschied zwischen Wesen und Erscheinung ist nicht von der Art, wie es das oben geschilderte Bild vom Durchschau¬ en der Phänomene nahelegt. Aber das heißt nicht, daß es keinen Unterschied gibt. Im Gegenteil, auch wir (pluralis majestatis) trachten "in unsern Untersuchungen das Wesen der Sprache ihre Funktion, ihren Bau zu verstehen". (PU 92) Nur begrei¬ fen wir jetzt unter "Wesen" nicht etwas, das man sieht, wenn man etwas anstarrt und dabei zu durchschauen sucht, sondern etwas, das man sieht, indem man es anders ansieht. "Es ist eine Hauptquelle unseres Unverständnisses, daß wir den Gebrauch unserer Wörter nicht übersehen. Unserer Grammatik fehlt es an Übersichtlichkeit. Die übersichtliche Darstellung vermit¬ telt das Verständnis, welches eben darin besteht, daß wir die Zusammenhänge' sehen. [...] Der Begriff der übersichtlichen Darstellung ist für uns von grundlegender Bedeutung. Er bezeichnet unsere Darstellungs¬ form, die Art, wie wir die Dinge sehen." (PU 122) Übersichtlich dargestellt wird die Familie der Gebrauchs¬ weisen eines Wortes. Das heißt, daß man mit einer Art von Aussage nicht hinkommt, sondern mehrere betrachten, viel¬ leicht sogar einige erfinden muß. "Eine Hauptursache philoso¬ phischer Krankheiten einseitige Diät: man nährt sein Den¬ ken mit nur einer Art von Beispielen." (PU 593) Wie ordnen wir die Vielzahl von Beispielen? Gibt es eine natürliche Ordnung} "Wit wollen in unserm Wssen vom Ge¬ brauch der Sprache eine Ordnung herstellen: eine Ordnung zu einem bestimmten Zweck; eine von vielen möglichen Ordnun¬ gen; nicht die Ordnung." (PU 132) Was ist dann unser Prinzip bei der Beschreibung dieser Ordnung? "[DJiese Beschreibung

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empfängt ihr Licht, d. i. ihren Zweck, von den philosophischen Problemen. Diese sind freilich keine empirischen, sondern sie werden durch eine Einsicht in das Arbeiten unserer Sprache gelöst, und zwar so, daß dieses erkannt wird: entgegen einem Trieb, es mißzuverstehen. [...] Die Philosophie ist ein Kampf 7 Man beachte die An- und Abwesenheit des Wörtchens "eigentlich"! Neben¬ bei: Damit ist gar nichts gegen eine wissenschaftliche Betrachtung der Sprache

gesagt.

WITTGENSTEINS PHILOSOPHIEREN gegen die Verhexung unsres Verstandes durch die Mittel unserer

Sprache." (PU 109)

Der Trieb, das Arbeiten unserer Sprache mißzuverstehen, er¬ wächst aus unserem "eigentlichen Bedürfnis" (PU 108), etwas zu verstehen, was schon offen vor unseren Augen liegt. (PU 89) "Wir achten auf unsere eigene Ausdrucksweise, [...] verstehen sie aber nicht, sondern mißdeuten sie. Wir sind, wenn wir philo¬ sophieren, wie Wilde, primitive Menschen, die die Ausdrucks¬ weise zivilisierter Menschen hören, sie mißdeuten und nun die seltsamsten Schlüsse aus ihrer Deutung ziehen." (PU 194) Wie bringen wir dem Wilden bei, daß es seltsame Dinge sind, die er tut? We begegnen wir dem Trieb, das Arbeiten unserer Sprache mißzuverstehen? Wenn gilt: "Was ist dein Ziel in der Philoso¬ phie? Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zeigen." (PU 309), dann muß man fragen: ¡Vie zeigt man einer Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas? Nun, indem man das Glas so dreht, daß die Fliege ihrem natürlichen Trieb folgend! den Ausweg findet. Aber um dies mit Erfolg zu können, muß man wissen, wohin ihr Trieb die Fliege führen wird. Was heißt es, dies zu wissen? "Die fundamentale Tatsache ist hier: daß wir Regeln, eine Technik, für ein Spiel festle¬ gen, und daß es dann, wenn wir den Regeln folgen, nicht so geht, wie wir angenommen hatten. Daß wir uns also gleichsam in unsern eigenen Regeln verfangen. Dieses Verfangen in unsern Regeln ist, was wir verstehen, d. h. übersehen wol¬ len. [...] Die bürgerliche Stellung des Wderspruchs, oder seine Stellung in der bürgerlichen Welt: das ist das philosophische Problem." (PU 125) Wenn der Widerspruch auftritt, sagen wir, "[...] es kommt [...] anders, als wir es gemeint, vorausgesehen, hatten. Wir sagen eben [...]:,So hab ich's nicht gemeint.'" (PU 125) Der Philosoph versucht nun, den Widerspruch zu lösen, zu sagen, was Einer meint meinen muß -, wenn er dies oder das sagt. Also versucht er, das Gemeinte auf andere Weise zu sagen, und dabei verfängt er sich doch wieder nur in neuen Widersprüchen. Wittgenstein macht hier einen Ausweg explizit: der Widerspruch ist Ausdruck des Mangels an Übersicht über die Regeln, denen wir folgen, wenn wir reden. Was Wittgenstein also wissen muß, wenn er der Fliege den Ausweg zeigen will, ist: welchen Regeln wir folgen, -

-

-

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93

94

RICHARD RAATZSCH wie es sich in der bürgerlichen Welt verhält, wie es im gewöhnli¬

chen Leben zugeht.8 Aber weiß der Philosoph denn nicht, wie

es in der Welt zu¬ In in einem nicht. anderen "Die für uns geht? einem Sinne ja, Einfachheit und wichtigsten Aspekte der Dinge sind durch ihre

Alltäglichkeit verborgen. (Man kann es nicht bemerken, weil man es immer vor Augen hat.) Die eigentlichen Grundlagen seiner Forschung fallen dem Menschen gar nicht auf. Es sei denn, daß ihm dies einmal aufgefallen ist. Und das heißt: das, was einmal gesehen, das Auffallendste und Stärkste ist, fällt uns -

-

nicht auf." (PU

129)

was sollte dies anderes heißen, als daß es das Alltäglichste von der Welt ist? Wäre es also besser, statt "Ein Satz das ist etwas sehr Merkwürdiges!" zu sagen, den Satz so zu betrachten: "Ein Satz, das ist das Alltäglichste von der Welt" (vgl. PU 93)? Warum sollte, wer so spricht, überhaupt "nachschauen, wie Sätze funktionieren"? Wonach sollte er Aus¬ schau halten? Er bekäme doch nur Antworten auf Fragen, die er nicht hat, Lösungen für Probleme, die ihn nicht bewegen. Für ihn ist die Welt seicht. Das heißt nicht, daß seine Haltung keinen Wert hat. Sie hat einen vorausgesetzt, der andere macht den ersten Zug im philosophischen Spiel, beginnt mit dem Staunen über den Satz, das seinen Ausdruck eben in der Äußerung findet "Ein Satz das ist etwas sehr Merkwürdiges!". Der erste Zug ist das Staunen über das Alltägliche. "Das, was man weiß, wenn uns niemand fragt, aber nicht mehr weiß, wenn wir es erklären sollen, ist etwas, worauf man sich besinnen muß. (Und offenbar etwas, worauf man sich aus irgendeinem Grunde schwer be¬ sinnt.)" (PU 89) Denjenigen, für den der Satz das Alltäglichste von der Welt ist, zeichnet aus, daß er nicht zugibt, etwas über¬ haupt nicht zu verstehen, nur weil er es nicht weiß, wenn er es erklären soll. Aber das heißt eben auch nicht, daß er es weiß. Was ihm abgeht, ist nicht erst das Bedürfnis, etwas zu verstehen, was schon offen vor seinen Augen liegt, sondern bereits die Idee, daß er das nicht verstehen könnte; daß es nicht offensichtlich ist, sondern einer Untersuchung bedarf. In diesem Sinne ist seine Einstellung der anderen entgegengesetzt. Aber nur in dieser

Es fällt uns nicht auf

für

-

uns

-

-

-

8 Insofern haben seine Untersuchungen auch einen das Wort weit dehnen will, "theoretischen" Zug.

konstruktiven,

wenn man

WITTGENSTEINS PHILOSOPHIEREN

Entgegensetzung haben beide einen Wert. Anders gesagt: auch mit dem Ausspruch "Der Satz, das ist das Alltäglichste von der

Welt." wird keine Arbeit verrichtet. Auch dies ist Teil des Feierns der Sprache. Einerseits stellen wir immer wieder fest: "Die Ergebnisse der Philosophie sind die Entdeckung irgendeines schlichten Un¬ sinns und Beulen, die sich der Verstand beim Anrennen an die Grenze der Sprache geholt hat." (PU 119) Andererseits gilt: "Die Probleme, die durch ein Mißdeuten unserer Sprachformen entstehen, haben den Charakter der Tiefe. Es sind tiefe Beun¬ ruhigungen; sie wurzeln so tief in uns wie die Formen unserer Sprache, und ihre Bedeutung ist so groß wie die Wchtigkeit unserer Sprache." (PU 111) Ein Widerspruch? Nein, denn: "Sie, die Beulen, lassen uns den Wert jener Entdeckung erkennen." (PU 119) Wie groß die Beulen sind, sieht man daran, daß Witt¬ genstein über 13 3 Abschnitte braucht, um der schlichten Idee

Geltung zu verschaffen, daß nicht allem, was "Satz" genannt wird, etwas gemeinsam sein muß. Inwiefern ist die Logik dann sublim, sprich: rein und erhaben? Oder ist sie doch

nur

das

Alltäglichste von

der Welt? Anders

gefragt: "Woher nimmt die Betrachtung [auch die der Philoso¬ phie in den PU, R. R.] ihre Wichtigkeit, da sie doch nur alles Interessante, d. h. alles Große und Wichtige, zu zerstören scheint? (Gleichsam alle Bauwerke; indem sie nur Steinbrocken und Schutt übrig läßt.)" (PU 118) Nun, wir haben gesehen: "es

sind nur Luftgebäude, die wir zerstören, und wir legen den Grund der Sprache frei, auf dem sie standen." (Ebd.) "Sie" das sind die Sätze der Philosophen, die sie als Lösung der philoso¬ phischen Probleme anbieten. Diese Sätze sollen beschreiben, was man sieht, wenn man den Dingen auf den Grund sieht. Sie sollen die Fundamente beschreiben und sind doch nur die Beschreibungen von Fundamenten von Luftschlössern. ",Die Sprache (oder das Denken) ist etwas Einzigartiges' das erweist sich als ein Aberglaube (nicht Irrtum!), hervorgerufen selbst durch grammatische Täuschungen. Und auf diese Täuschungen, auf die Probleme, fällt nun das Pathos zurück." (PU 1 IO)9 -

-

-

9 Ich möchte

an

Weithofer für

Gespräche,

dieser Stelle Ingolf Max, Eike von Savigny und Pirmin StekelerHinweise und Kritiken danken.

95

96

RICHARD RAATZSCH

Literatur G. P.

Baker,

P. M. S. Hacker, An Analytical Commentary on the "Philosophical Vol. 1: Wittgenstein. Understanding and Meaning, Oxford

Investigations". 1980.

D.

Birnbacher, "Lassen

wir

uns

nicht behexen!" Eine Metakritik

von

Wittgen¬

Sprachverführung des Denkens, in: Ders. und A. Burk¬ hardt (Hgg.), Sprachspiel und Methode. Zum Stand der Wittgenstein-Dis¬ steins Kritik

an

der

kussion, Berlin und New York 1985, 47-70. Ch. Crittenden, Wittgenstein on Philosophical Therapy and Understanding, International Philosophical Quarterly 10, 1970, 20-43. K.T. Fann, Wittgenstein's Conception of Philosophy, Oxford, Berkeley 1969. P. Feyerabend, (Review of) Wittgenstein's "Philosophical Investigations", The Philosophical Review, Vol. 64, 1955, 449-483. G. Hallett, A Companion to Wittgenstein's "Philosophical Investigations", Ithaca and London 1977. S. St. Hilmy, The Later Wittgenstein. The Emergence of a New Philosophical Method, Oxford, New York 1987. A. Kenny, Wittgenstein, London 1973. C. G. Luckhardt, Philosophy in the "Big Typescript", Synthese 87, 1991, 255272.

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Meggie, Wittgenstein ein Instrumentalist?, in: D. Birnbacher und A. Burk¬ hardt (Hgg.), Sprachspiel und Methode. Zum Stand der Wittgenstein-Dis¬ -

kussion, Berlin und NewYork 1985, 71-88.

Nachwort zu der von ihm im Leipziger Reclam-Verlag 1990 besorg¬ Ausgabe des TLP und der PU. R. Raatzsch, PI 1 Setting the Stage, in: Grazer Philosophische Studien, Band 51, P.

Philipp, ten

1996, 47-84. Th. Rentsch, Heidegger und Wittgenstein. Existential- und Sprachanalysen zu den Grundlagen philosophischer Anthropologie, Stuttgart 1985. R. Rorty, Keeping Philosophy Pure, Yale Review 65, Spring 1976, 336-356. E. v. Savigny, Wittgensteins "Philosophische Untersuchungen". Ein Kommentar für Leser, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1994 (Bd. I) und 1996 (Bd. II). E. v. Savigny, Der Mensch als Mitmensch. Wittgensteins "Philosophische Unter¬ suchungen", München 1996. G. H. v. Wright, Wittgenstein, Oxford 1982. -

_4 Eike von

Savigny

Wie Sprecher Ausdrücke meinen

Die "Philosophischen Untersuchungen" beschäftigen sich sehr ausführlich mit dem Verstehen und dem Meinen; diesen The¬ men zwar nicht allein, aber vorwiegend sind ungefähr die ersten einhundertundneunzig Abschnitte und dann noch einmal etwa die letzten sechzig gewidmet. Die fürs Meinen auf den ersten Blick befremdliche Position Wittgensteins man muß Ge¬ brauchsregeln beherrschen, um mit einem Ausdruck etwas zu meinen ist fürs Verstehen nicht so überraschend und inhaltlich auch leichter plausibel zu machen.1 Wir beschränken uns des¬ halb darauf herauszuarbeiten, was Wttgensteins Bild davon ist, daß ein Sprecher etwas mit einem Ausdruck meint. -

-

4.1 Meinen und

Bedeutung

Das Wort "meinen" wird im Deutschen mit dem persönlichen Subjekt in zwei Bedeutungen häufig und in zweien seltener gebraucht. Häufig heißt es etwas Ahnliches wie "glauben" oder

1 Es ist eine brauchbare Leitlinie für die Interpretation der PU, das Verständnis, das man von einem Ausdruck hat, als knowing how im Sinne von Gilbert Ryle, The Concept of Mind, London 1949, Kap. 2, anzusehen und das Ereignis, daß man (auf Grund des Verständnisses vom Ausdruck) den Ausdruck, wenn er konkret gebraucht wird, hier und jetzt versteht, als Gebrauchmachen von diesem knowing how. Ganz stimmt die Parallele nicht, weil "Er hat mich verstanden" keine Tätigkeit zuschreibt.

o8

EIKE VON SAVIGNY

"denken"; Beispiel: "Was meinst du dazu?" Nicht diese Bedeu¬ tung interessiert hier, sondern die zweite häufige Bedeutung: "sagen wollen", "über etwas reden wollen"; Beispiele: "Was meinst du mit dieser Bemerkung?" "Wen hast du mit .Spitzbube' gemeint?" Meinen in diesem Sinne ist unser Thema. Neuer¬

dings (bei Grimm

1885 noch nicht

verzeichnet) wird "meinen"

Bedeutung "sagen" gebraucht, etwa in Protokollen: "Der Vorsitzende meinte, man könne die Frage auf sich beruhen

auch in der

lassen." Nur noch selten kommt "meinen" im Deutschen in der Bedeutung "beabsichtigen" vor: "Er hat es gut gemeint", "Ich meinte zu gehen"; in dieser Bedeutung bildet es das ebenso seltene Wort "Meinung" in der Bedeutung "Absicht"2: "Ich habe keine Meinung dazu" heißt dann "Ich habe keine Lust dazu". "Meinung" kann im Deutschen sonst nur (als Verbalsubstantiv zu "meinen" in der Bedeutung "glauben") dasselbe wie "Ansicht" heißen: "Würden jetzt bitte alle nacheinander ihre Meinung äußern?"3 Wie Sprecher es anstellen, mit einem Ausdruck etwas zu mei¬ nen, interessiert Wittgenstein deshalb, weil er wissen möchte, was dieses Meinen mit der Bedeutung des Ausdrucks zu tun hat. Für ihn leitet sich die Bedeutung gerade nicht vom Meinen der Sprecher her; vielmehr wird zu zeigen sein: Sprecher können für ihn nur deshalb etwas meinen, weil Ausdrücke schon etwas be¬ deuten. Hört jemand das auf Deutsch formuliert, dann mag es ihn je nach seinen sprachtheoretischen Vormeinungen über¬ raschen oder befremden; paradox klingt es nicht. Anders im Englischen: "meinen" heißt "to mean", das Verbalsubstantiv "Meinen" heißt "meaning", und "meaning" ist auch das eng¬ lische Wort für "Bedeutung". Wer sagen will, es gebe Bedeutung ohne Meinen, kann das auf Englisch so ausdrücken: "There is meaning without meaning." Und das klingt nicht gut. Es ist deshalb kein Wunder, daß die herrschende englischsprachige Sprachphilosophie sich um eine vom Begriff der Bedeutung unabhängige Explikation des Meinens bemüht hat; den ent-

-

2 So benutzt Wittgenstein "Meinung" in PU 639. 3 "Meinung" im Sinne von "was man mit einem Ausdruck sagen will" gibt es im Deutschen anders als fur "meaning" im Englischen nicht. (JVIeinung" in PU 186 ist klarerweise ironisch.) -

-

WIE SPRECHERAUSDRÜCKE MEINEN scheidenden Schritt hat Paul Grice getan.4 Anschließend folgte die Explikation des Begriffs der Bedeutung im Sinne dessen, was man mit einem Ausdruck zu meinen hat; implizit hat das Lewis 1969 geleistet, explizit Schiffer 1972.5 Da das gesamte Progamm nach philosophischen Standards ein Erfolg war, stellt niemand im angelsächsischen Sprachraum in Frage, daß "meaning is whe¬ re something is meant"; und daran mag es liegen, daß der größte

Teil der angelsächsischen Wittgenstein-Literatur die entgegen¬ gesetzte Pointe der PU glattweg verschlafen hat. Soweit sie sie nicht verschlafen hat, hat sie doch die beiden dafür aussagekräf¬ tigsten Abschnitte der PU übersehen, in denen Wittgenstein am Anfang eine Frage stellt, die er auf Grund einer für den Stil des Buchs ungewöhnlich systematischen Argumentation am Schluß explizit beantwortet: die Abschnitte 189 und 190. Zusammenge¬ nommen stellen sie seine Antwort auf die seit PU 186 mit beson¬ derer Eindringlichkeit diskutierte Frage dar, ob der Sprecher aus eigener Machtvollkommenheit bestimmen kann, wie er einen Ausdruck meint.6

Meaning, Phil. Rev. 66, 1957, 377-388. Damit hat er ein richtiggehendes philosophisches Forschungsprogramm lanciert; wichtige Fortschritte, nicht alle in dieselbe Richtung, erzielten Strawson, Intention and Convention in Speech Acts, Phil. Rev. 73, 1964, 439-460; John R. Searle, Speech Acts, Cambridge 1969, 42-50; Stephen Schiffer, Meaning, Oxford 1972, Kap. 3; Jonadian Ben¬ nett, Linguistic Behaviour, Cambridge 1976, Kap. 5 und 6; Andreas Kemmerling, Was Grice mit "Meinen" meint, in: G. Grewendorf (Hg.), Sprechakttheorie und Semantik, Frankfurt a. M. 1979, 67-118; ders., Utterers Meaning Revisited, in: R. Grandy, R. Warner (Hgg.), Philosophical Grounds of Rationality: Inten¬ tions, Categories, Ends, Oxford 1983, 131-155; Georg Meggie, Grundbegriffe 4

der Kommunikation, Berlin/New York 1981. 5 D. Lewis, Convention, Cambridge, Mass., 1969; zu Schiffer s. vorige Anm. 6 Ahnlich eindringliche Diskussionen hat es vorher gegeben in PU 28, 29; 84-87; 139-141; eine weitere folgt in PU 198-201.

99

ioo

EIKE VON SAVIGNY

4.2 Die

Bestimmungsleistung des Meinens

PU 190 endet mit dem Satz: So kann also das Meinen die

Übergänge zum Voraus bestim¬

men.

Wittgensteins Gegner hat PU 189 mit der Frage eingeleitet: "Aber sind die Ubergänge also durch die nicht bestimmt?"

algebraische Formel

Darauf hat Wittgenstein unmittelbar entgegnet: -

In der Frage liegt ein Fehler.

Deshalb sollte zwischen dem Anfang von PU 189 und dem Ende PU 190 geklärt sein, welchen Fehler man zu vermeiden hat, wenn man zu Recht sagen möchte, die Ubergänge seien durch die algebraische Formel zum Voraus bestimmt. Von "Übergängen" ist deshalb die Rede, weil es im Vortext seit PU 185 um die weitere Entwicklung von Zahlenfolgen an beliebigen Stellen geht, also zum Beispiel um die Frage, was nach 1000 oder nach 100034 das nächste Glied der Folge an 2n ist (PU 185, 186). (Die im Text genannten "algebraischen For¬ meln" sind teilweise unorthodox, zum Beispiel "+2" für die eben genannte Folge oder "+3" in PU 189.) Die Frage, ob "+2" den Übergang von 100034 nach 100036 bestimmt, Zahlen, an die kein Beteiligter je gedacht hat, ist also dieselbe wie die, ob aus "an In" folgt, daß a5001g 100036 ist, oder anders ausgedrückt, ob "an 2n" für n 50018 100036 als Wert festlegt oder eben be¬ stimmt. Die Sachverhalte, daß die Übergänge von einer beliebi¬ gen Stelle zur anderen und daß die Werte für beliebige Argu¬ mente bestimmt sind, brauchen also in diesem Zusammenhang nicht unterschieden zu werden. PU 190 ist wesentlich kürzer als PU 189, und PU 189 macht einen wesentlich umständlicheren Eindruck als PU 190. PU 190 scheint sogar so klar, daß man den Abschnitt für aus sich heraus verständlich halten möchte: von

=

=

=

=

WIE SPRECHER AUSDRÜCKE MEINEN sagen: "Wie die Formel gemeint wird, das bestimmt, welche Ubergänge zu machen sind." Was ist das Kriterium dafür, wie die Formel gemeint ist? Etwa die Art und Weise, wie wir sie ständig gebrauchen, wie uns gelehrt wurde,

Man kann

sie

zu

nun

gebrauchen.7 (PU 190 a.)

Es könnte in diesem Zusammenhang um drei Fälle gehen: man meint irgend etwas mit einem unbekannten Ausdruck; oder man meint etwas Ungewöhnliches mit einem bekannten Ausdruck; oder man meint mit einem bekannten Ausdruck das Übliche. PU 190 a spricht über die Bestimmungsleistung, die das Meinen erbringt, wenn man mit einem bekannten Ausdruck das Übliche meint; sonst könnte sein ständiger Gebrauch nicht Kriterium dafür sein, wie er gemeint ist. (Wr stellen die Frage nach der Interpretation von "Etwa" zurück.) Wem an der Bestimmungs¬ leistung des Meinens liegt, der wird an diesem Fall weniger interessiert sein als an den beiden anderen. Wittgenstein nennt davon im folgenden nur den ersten, nämlich daß man mit einem unbekannten Ausdruck etwas meint. Da es hier nicht um die Frage geht, wie man es macht, mit einem bekannten Ausdruck nicht das Übliche, sondern überhaupt etwas zu meinen, kann man tatsächlich den Fall, daß man mit einem bekannten Aus¬ druck (nicht das Übliche, sondern) etwas Ungewöhnliches meint, genauso behandeln wie den, daß man mit einem unbe¬ kannten Ausdruck überhaupt etwas meint. Darüber spricht der zweite Absatz:

Wr sagen

z.

B. Einem, der ein

uns

unbekanntes Zeichen

gebraucht: "Wenn du mit ,x!2' meinst x2, so erhältst du diesen Wert für y, wenn du 2x damit me.\nst,jenen." Frage dich nun: Wie macht man es, mit "x!2" das eine, oder das andere meinen} (PU 190 b.) -

Es ist natürlich kurios, daß Wittgenstein "z. B." schreibt, obwohl der Fall, daß ein unbekanntes Zeichen irgendwie gemeint wird, 7 Der Nebensatz "wie uns gelehrt wurde, sie zu gebrauchen" bezieht sich nicht auf Lehrmethoden; denn die werden für verschiedene Leute verschieden sein, ohne daß ihr Gebrauch sich unterschiede. Zu lesen ist: "wie sie zu gebrauchen uns gelehrt wurde" (recte: "wie sie zu gebrauchen wir gelehrt wurden"). Es geht urns

Unterrichtsergebnis.

101

102

EIKE VON SAVIGNY allem Anschein nach kein Beispiel dafür ist, daß eine der übli¬ chen Formeln aus dem ersten Absatz wie üblich gemeint wird. Deshalb ist die Aufforderung "Frage dich nun" sehr ernst zu nehmen; die Antwort auf die Frage muß nicht nur Aufschluß darüber geben, wie man es macht, mit einem unüblichen Aus¬ druck etwas Übliches zu meinen, sondern sollte auch das folgen¬ de Ergebnis haben: Wenn man mit einem unüblichen Ausdruck einen gewissen üblichen Ausdruck meint, dann ist Kriterium dafür, wie der unübliche Ausdruck gemeint ist, der ständige Gebrauch eines Ausdrucks. Das ist nicht trivial; die Antwort auf die Frage, wie man es macht, mit einem unüblichen Netz ein übliches Netz zu fangen, muß nicht das Nebenergebnis haben, daß wenn man mit einem unüblichen Netz ein übliches fängt, dann Kriterium dafür, wie man mit dem unüblichen Netz etwas fängt, gerade die Handhabung eines üblichen Netzes ist. Dazu kommt es allerdings, wenn man das übliche Netz mit dem unüb¬ lichen gerade auf die Weise "fängt", daß man das unübliche Netz wie das übliche Netz gebraucht. Dann fängt man mit dem unüb¬ lichen Netz gerade so wie mit dem üblichen. Tatsächlich erhalten wir eine befriedigende Interpretation der beiden Absätze, wenn wir die Frage, wie man es mache, "mit ,x!2' das eine, oder das andere [zu] meinen", so beantworten: Wenn man bereit ist, "x!2" wie "x2" zu gebrauchen8, meint man "x2" mit "x!2", und wenn man bereit ist, "x!2" wie "2x" zu gebrauchen, meint man "2x" mit "x!2". Dann ist das Kriterium dafür, daß man das unbekannte Zeichen "x!2" irgendwie meint, offenbar der ständige Gebrauch eines Zeichens, nämlich der von "x2" oder der von "2x". Die Fälle, in denen man ein unbekanntes Zeichen irgendwie meint, sind also (wie das Meinen üblicher Zeichen mit üblicher Bedeutung) Beispiele für Fälle, in denen ein ständiger Gebrauch Kriterium fürs Meinen ist. Wir hatten die Interpretation von "Etwa" in PU 190 a zurück¬ gestellt. Da sich in den "Philosophischen Untersuchungen" nir¬ gendwo ein Hinweis auf ein anderes Kriterium findet, wäre die Deutung "Zum Beispiel" nicht mit Inhalt zu füllen. Ich schlage vor, "Ungefähr" zu lesen, eine Einschränkung, die Wttgenstein mit PU 190 b präzisiert: Im gewöhnlichen Fall handelt es sich 8 In diesem

dispositionalen Sinn ist "gebrauchen" hier offenbar zu verstehen.

WIE SPRECHER AUSDRÜCKE MEINEN eine übliche Formel, die in ihrer üblichen Bedeutung ge¬ meint ist; dann ist ihr ständiger Gebrauch Kriterium dafür, wie sie gemeint ist. Im seltenen Fall handelt es sich um eine unübli¬ che Formel, die wie eine übliche gemeint ist; dann ist Kriterium dafür, wie sie gemeint ist, nicht ihr ständiger Gebrauch, sondern der ständige Gebrauch der einschlägigen üblichen Formel. Dafür, daß ein Sprecher das übliche A mit dem unbekannten B meint, ist also Kriterium, daß er B auf die übliche Weise von A zu gebrauchen bereit ist. Diese Interpretation stützt sich auf drei Umstände: Sie macht verständlich, warum PU 190 b für das Meinen unbekannter und bekannter Ausdrücke durch "z. B." die Gleichheit der Kriterien insinuiert; eine naheliegende Alterna¬ tive, nämlich das Bild vom Meinen dank der präsenten Bedeu¬ tung, lehnt Wittgenstein für alle Ausdrücke ab (s. Abschn. 3); um

und andere Vorschläge macht er nicht. Indem man "x!2" irgendwie meint, bestimmt man also den Wert der Formel für beliebiges x, weil man "x!2" insofern ir¬ gendwie meinen kann, als man damit eine übliche Formel wie üblich meint. Und über übliche Formeln ist in PU 190 a gesagt, wie man sie meinen und dadurch ihre Anwendung bestimmen kann: Es ist die Anwendung nach der "Art und Weise, wie wir sie ständig gebrauchen". Das ist allerdings irritierend. Davon, daß ein Ausdruck irgendwie gemeint ist, redet man gewöhnlich nur dann, wenn er anders als normal (oder in einer von mehreren üblichen Bedeutungen) verwendet wird. Das gilt für "x!2", einen neuen Ausdruck, der deshalb vorläufig nur anders als "normal" gemeint sein kann. Aber wozu soll bei "x2" und bei "2x" eigens das Meinen bestimmen, daß die beiden Ausdrücke für x 0 und 2 dieselben Werte 0 bzw. 4 haben, wenn das doch ihrer ganz x normalen Verwendung entspricht? Hier ist die Einleitung "Man kann nun sagen" zu beachten, die zwar keineswegs ironisch ist oder (wie das in den PU redens¬ artlich feste "Man möchte nun sagen") eine Gegneräußerung signalisiert, die aber an den Diskussionszusammenhang erinnert und zusammenfaßt, was der haltbare Kern einer vorher kritisch diskutierten Vorstellung ist. Seit PU 1 wird die Vorstellung kri¬ tisch diskutiert, ein vom Individuum allein geleistetes Meinen lege die Bedeutung fest; seit PU 134 geht es konkreter um die angebliche Leistung der vor Eingriffen anderer geschützten ("vorschwebenden") und in diesem Sinne "innerlich" gemeinten =

=

103

io4

EIKE VON SAVIGNY

Bedeutung; schließlich seit PU 185 darum, daß man die Bestim¬ mungsleistung eines in diesem Sinne internen Meinens gegen¬ über einem anderen, der den fraglichen Ausdruck anders ver¬ wenden zu müssen glaubt, nicht mit Mitteln der Vernunft durch¬

kann also darum, daß aus dem "internen Meinen" nichts folgt. In Frage steht in PU 189 mithin der haltbare Kern der Auffassung, ein Individuum bestimme dadurch, daß es mit einem Ausdruck etwas meine, dessen Anwendung. Natürlich kann das Individuum auch einen üblichen Ausdruck in seiner üblichen Bedeutung meinen; und in PU 190 führt Wittgenstein den üblichen Fall, daß man einen unüblichen Aus¬ druck irgendwie meint und dadurch eine Anwendung für kon¬ krete Einzelfälle bestimmt, auf den unüblichen Fall, daß man einen üblichen Ausdruck eigens wie üblich meint und dadurch eine Anwendung für konkrete Einzelfälle bestimmt, offenbar deshalb zurück, um seinem Gegner zu sagen: Wer durchs Mei¬ nen die Verwendung des Ausdrucks bestimmen will, muß sich letzten Endes auf übliche Verwendungen von Ausdrücken stüt¬ zen; ob er seinen Gebrauch dann noch mit dem Epitheton "mei¬ nen" schmückt, ist seine Sache. Das zu verstehen verlangt vom Gegner ein genaueres Verständnis davon, was es mit dem "Be¬ stimmen" der Verwendung auf sich hat, und ihm dazu zu verhel¬ fen ist das Ziel des langen, umwegigen Abschnitts 189.9 Absatz c sagt: setzen

-

Die Frage "Steht dort eine Formel, die y bestimmt?" heißt dann dasselbe wie: "Steht dort eine Formel dieser Art, oder jener Art?" -

und dazu ist vorher gesagt: Wir können anderseits verschiedene Arten von Formeln, und zu ihnen gehörige verschiedene Arten der Verwendung (ver¬ schiedene Arten der Abrichtung) einander entgegensetzen. Wir nennen dann Formeln einer bestimmten Art (und der

9 Die

folgende Interpretation unterscheidet sich von der von Stewart Candlish

(in diesem Bande, Abschn. 2). Seiner Meinung nach will Wittgenstein zwischen kausalem und

logischem Bestimmen unterscheiden.

WIE SPRECHER AUSDRÜCKE MEINEN

dazugehörigen Verwendungsweise) "Formeln, welche eine Zahl y für ein gegebenes x bestimmen",10 und Formeln ande¬ rer Art solche, "die die Zahl y für ein x nicht gegebenes 1 bestimmen",

zweiten.)

(y

=

x2 wäre

von

der

ersten

Art, y -j- x2

von

der

Das "anderseits" stellt diese Unterscheidung einer vorher ge¬ troffenen, grundlegenderen Unterscheidung in Absatz b gegen¬

über:

Oder wir können sagen: "Diese Menschen sind so abgerichtet, daß sie alle auf den Befehl ,+3' auf der gleichen Stufe den gleichen Übergang machen. Wir könnten dies so ausdrücken: Der Befehl ,+3' bestimmt für diese Menschen jeden Übergang von einer Zahl zur nächsten völlig." (Im Gegensatz zu andern Menschen, die auf diesen Befehl nicht wissen, was sie zu tun haben; oder die zwar mit völliger Sicherheit, aber ein jeder in anderer Weise, auf ihn reagieren.)

x2" ist im selben Absatz als Beispiel in derselben Rolle wie "+3" gebraucht; aber dieses Hinweises bedürfte es gar nicht, um klarzumachen: dasjenige Bestimmen, um das es in Absatz b geht, muß bereits vorausgesetzt werden, damit der in Absatz c ge¬ meinte Unterschied zwischen Bestimmen und Nichtbestimmen überhaupt sinnvoll ist. Für eine Formel wie "y 1 x2" ist im Sinne von Absatz b be¬ stimmt, daß sie im Sinne von Absatz c für gegebenes x kein y bestimmt. (Im Sinne unserer Art, Arithmetik zu treiben, hegt fest: "y 1 f x2" ist keine funktionale Relation.) Der Fehler in der in "y

=

PU 189

a

gestellten Frage

"Aber sind die Ubergänge also durch die algebraische Formel

nicht bestimmt?"

-

besteht also offenbar darin, daß der Gegner den Unterschied zwischen Formeln, die Übergänge bestimmen, und solchen, die sie nicht bestimmen, machen will, ohne den dafür notwendigen

10 Die

Werkausgabe wiederholt an dieser Stelle eine gute Zeile.

105

io6

EIKE VON SAVIGNY

Hintergrund zu akzeptieren. Den dafür notwendigen Hinter¬ grund bilden gemeinsam beherrschte Verwendungsweisen für Formeln, in deren Rahmen sich ergibt, daß die einen Formeln Ubergänge bestimmen (weil, wer so wie üblich rechnet, wohlbe¬

stimmte Werte erhält), die anderen Formeln nicht (weil, wer so wie üblich rechnet, keine wohlbestimmten Werte erhält). Für den Gegner soll das Bestimmen ja eine von gemeinsamen Verwendungsweisen unabhängige Leistung des Meinens sein.Wittgenstein diagnostiziert den Fehler gegen Ende von PU 189 so: wir aber mit der Frage anfangen sollen "Ist y x2 eine Formel, die y für ein gegebenes x bestimmt?" ist nicht ohne weiteres klar. was

=

-

Die Formel stammt nämlich aus der uns vertrauten Art, Arith¬ metik zu treiben, und "x2" ist ein Paradebeispiel für einen Funk¬ tor. Deshalb kann die Frage die Vertrautheit mit unserer Art von Arithmetik, unserem Begriff der Funktion, testen: Diese Frage könnte man etwa an einen Schüler richten, um zu prüfen, ob er die Verwendung des Wortes "bestimmen" ver¬

steht;

oder es kann darum gehen, Übersicht über die Folgen von axiomatisch festgelegten Regeln für unsere Art, Arithmetik zu trei¬

ben, zu gewinnen (vgl. PU 125 b):

oder es könnte eine mathematische Aufgabe sein, in einem bestimmten System zu beweisen, daß x nur ein Quadrat be¬ sitzt.

PU 189 und 190 sagen damit: Es gibt tatsächlich ein Bestimmen der Verwendung des Ausdrucks durchs Meinen man kann durchaus einen Ausdruck in einer Bedeutung meinen, dergestalt, daß die gemeinte Bedeutung festlegt, wie in Zukunft mit ihm umzugehen ist. Dieses Meinen ist aber nichts anderes, als daß man bereit ist, den Ausdruck so wie einen Ausdruck zu gebrau¬ chen, der seine die Verwendung festlegende Bedeutung dank seinem etablierten Gebrauch hat. Meinen ist eine Form des -

Trittbrettfahrens.

WIE SPRECHER AUSDRÜCKE MEINEN Ein Festlegen der Verwendung von irgendwie gemeinten Aus¬ drücken gibt es ohne den Anschluß an einen etablierten Ge¬ brauch nicht; der etablierte Gebrauch ist für eine die Verwen¬ dung bestimmende Bedeutung, sei sie gemeint oder nicht, not¬ wendig und hinreichend. Mit dieser Überlegung expliziert Wittgenstein das Wort "meinen" als "sagen wollen". "Sie hat mit ,Er ist gerade weg' gemeint, der Bus sei gerade abgefahren" heißt, so verstanden, sie habe das sagen wollen, was sie mit "Der Bus ist gerade abgefahren" hätte sagen können (oder auch mit "The bus is just gone"). Die Tatsache, daß sie das hat sagen wollen, erschöpft sich darin, daß sie für die Mitteilung geradezu¬ stehen bereit ist, daß der Bus gerade abgefahren ist, daß sie also bereit ist, sich mit "Er ist gerade weg" in die Gebrauchsregeln von "Der Bus ist gerade abgefahren" einzufügen. Versteht man "meinen" in dieser Weise als "sagen wollen", dann wird, was man meint, durch eine Sprache festgelegt, nämlich durch die¬ jenige Sprache, in der man, statt "Er ist gerade weg" zu sagen, auch sagen könnte: "Der Bus ist gerade abgefahren" oder "The bus is just gone". Wenn es keine Sprache gibt, in der ein Aus¬ druck die Bedeutung hat, in der der angeblich irgendwie ge¬ meinte Ausdruck angeblich gemeint wird, dann kann er nicht so gemeint werden. Deshalb sagt Wittgenstein: Nur in einer

Sprache

kann ich

etwas

mit

etwas

meinen.

(PUAnm.S. 260/18)

4.3 Kein Meinen dank der präsenten

Bedeutung

Diese Auffassung hat Wittgenstein offenbar deshalb entwickelt, weil er nur ein bestimmtes alternatives Bild vom Meinen kritisch diskutiert hat; man könnte es das Bild vom "Meinen dank der präsenten Bedeutung" nennen. Daß es sich ganz unvermerkt einschleichen kann, macht ein kleines Stück Wortakrobatik ver¬ ständlich: Ein Sprecher meint xyz, d. h. er tut eine Äußerung in

der Absicht, damit etwas zu sagen, das xyz bedeutet, wenn xyz die Bedeutung ist, auf die er es abgesehen hat. Er meint die Bedeu¬ tung, weil sie ihm so unmißverständlich präsent ist wie etwas, das er sehen kann. Diese Motivation unterstellt Wittgenstein, wenn er seinem Gegner die Ausdrucksweise in den Mund legt,

107

io8

EIKE VON SAVIGNY die Bedeutung schwebe dem Sprecher vor11, und dazu sehr aus¬ drücklich feststellt, daß es keine Rolle spiele, ob sie ihm als Vorstellungsbild gegenwärtig sei oder als Zeichnung vor ihm auf dem Tisch liege (PU 141 b). Es gibt ein weiteres, sachliches Motiv: Der Sprecher "weiß selbst am besten", was er meint; das möchte man sich so erklären, daß ihm die gemeinte Bedeutung direkt zugänglich ist. (Dazu mehr in 4.5) Wittgensteins Polemik beruht im Kern auf der folgenden Überlegung: Wenn ein Sprecher mit einem Wort oder Satz etwas meint, dann muß das Folgen für die Verwendung des Ausdrucks haben. Meint er z. B. mit dem Wort "Würfel" Wür¬ fel, dann muß er auf Grund seines Meinens gehindert sein, dem Satz "Das ist ein Würfel", wobei auf ein Prisma gezeigt wird, zuzustimmen. Und meint er mit dem Satz "Addiere 21", es solle nach jeder beliebig angegebenen Zahl die zweitnächste heraus¬ kommen, dann muß er auf Grund seines Meinens gehindert sein, nach der Vorgabe "1000" das Ergebnis "1004" durchgehen zu lassen. Aus der "präsenten Bedeutung" muß also folgen, wel¬ che Anwendung im Einzelfall richtig ist. Nach dem Bild vom Meinen dank der präsenten Bedeutung ist, wenn man es genau nimmt, das, was da präsent ist, selbst ein Symbol ein Vorstellungsbild, em artikulierter Gedanke oder was immer; denn sonst könnte für die richtige Verwendung nichts daraus folgen. Für die Anwendung des Ausdrucks, zu des¬ sen Bedeutung dieses Symbol durchs Meinen gemacht werden soll, folgt natürlich nut dann etwas, wenn das Symbol Inhalt hat. Nun ist nicht einzusehen, wieso es im Rahmen der kritisierten Konzeption aus anderen Gründen Inhalt haben könnte als der Ausdruck, dessen Bedeutung es selbst sein soll. Denn man kann das vorschwebende Bild eines Würfels durch das Meinen einer geeigneten Projektionsvorschrift als Bild eines Prismas meinen -

und würde nach dem Bild vom "Meinen dank der präsenten Bedeutung" mit "Würfel" dann Prismen meinen (PU 139 d). Und man kann den verbal artikulierten Gedanken "Gib zu jeder vorgegebenen Zahl die zweitnächste an" durch das Meinen einer geeigneten Interpretationsvorschrift als Spezialfall des Gedan-

11 PU51,Anm. S. 280/33, PU 139-141 mit Anm. (a) S. 309/54, PU 210, 323 b, 329, 663.

WIE SPRECHER AUSDRÜCKE MEINEN kens "Gib im n-ten Tausender zu k k+2n an" meinen und würde für "1000" mit "addiere 2!" 1004 herausbekommen (PU 186). Also muß man die "präsente Bedeutung" ihrerseits durch eine geeignet gemeinte Interpretation festlegen, um die normale Be¬ deutung zu bekommen. Für diese gemeinte Interpretation stellt sich dasselbe Festlegungsproblem, und man steht mit der kriti¬ sierten Konzeption vor einem fehlerhaften unendlichen Deu¬ tungsregreß: Damit das Meinen eine Bedeutung festlegen kann, muß zuvor eine unendliche Reihe von Bedeutungen festgelegt sein. Wittgenstein spricht davon, daß man dann "Deutung hin¬ ter Deutung setzen" müßte (PU 201); aber: Die

Deutungen

(PU 198.)

allein bestimmen die

Bedeutung

nicht.

Das Gricesche Programm12 hat Wittgenstein nicht mehr als mögliche Alternative kennengelernt. In diesem Programm wird das Meinen auf komplexe Sprecherabsichten zurückgeführt. Eine in diesem Zusammenhang informative Explikation des Begriffs der Sprecherabsicht vorausgesetzt, wird es von Wittgensteins Kri¬ tik am Bild vom "Meinen dank der präsenten Bedeutung" nicht getroffen. Man darf aber darüber spekulieren, ob diese Explika¬ tion des Meinens, wenn Wittgenstein sie akzeptiert hätte, seine Pointe berühren würde. Das wäre natürlich der Fall, wenn für die PU der Inhalt von Absichten anders als durch gemeinsame Gebräuche festgelegt wäre. Das ist unwahrscheinlich; denn man findet im Text gute Gründe für die Interpretation, daß jedenfalls die Frage, ob eine Handlung absichtlich ist, auf Grund von in der Gruppe herkömmlichen Standards dafür zu beantworten ist, ob ihre Ausführung als beherrscht gelten kann.13

4.4 Meinen als sozialer Sachverhalt PU 190 ist ein für die Erläuterung von Wittgensteins Vorstel¬ lung von der die Anwendung bestimmenden "Leistung" des Meinens reizvoller Abschnitt deshalb, weil er dort im Schlußsatz 12 13

Vgl. Anm. 4. Vgl. v. Savigny, Der Mensch als Mitmensch, München 1996, Kap. 8.

109

i io

EIKE VON SAVIGNY ganz ausdrücklich mit typographischer seinem Leser gerade erläutert hat: -

Hervorhebung

-

sagt,

was er

So kann also das Meinen die men. (PU 190 c.)

Ubergänge zum Voraus bestim¬

(Mit "kann [...] bestimmen" wird natürlich nicht gesagt, daß das vielleicht oder möglicherweise so ist so die englische Fehlüberset¬ zung "will be"-, sondern auf die vermeintliche, besondere Lei¬ stungskraft des Meinens ironisch angespielt.) Sie findet sich aber inhaltsgleich auch an einer Reihe von weiteren Stellen der PU, wo sie jeweils ebenfalls eine wesentliche Rolle im engeren und weiteren Kontext des Argumentationsgangs spielt.14 Es handelt sich ohne jeden Zweifel um Wittgensteins Meinung, und sie ist auch so vernünftig, wie ein gegenüber dem Autor wohlwollen¬ der Interpret sich das nur wünschen kann. Man meint einen Ausdruck in einer Bedeutung, dergestalt, daß diese Bedeutung einen auf eine bestimmte Verwendung in Einzelfällen festlegt, dadurch, daß man ihn in einer Rolle zu gebrauchen bereit ist (dispositional "gebraucht"), die durch eine etablierte AusdrucksVerwendungsweise bereitgestellt wird. Daß die nötige Verwen¬ dungsweise etabliert ist, ist also Voraussetzung dafür, daß man einen Ausdruck in einer Bedeutung (also inhaltlich bestimmt) meinen kann. Diese Voraussetzung ist natürlich ein sozialer Sachverhalt. Läge er nicht vor, dann würde man den Ausdruck nicht in einer Bedeutung meinen. Liegt er aber vor, dann meint man tatsäch¬ lich etwas. Es ist dann eine Tatsache, den Verwender des Aus¬ drucks betreffend, daß er etwas meint. Diese Tatsache ist keine Tatsache, die nur den Verwender des Ausdrucks beträfe; viel¬ mehr handelt es sich um eine der zahllosen sozialen Tatsachen, ihn betreffend, als da sind: Er ist verheiratet (oder nicht verhei¬ ratet, je nachdem); er ist beliebt (oder nicht, je nachdem); er ist fleißig (oder nicht, je nachdem). Und so weiter unzählige Tatsachen, die ihn deshalb betreffen, weil die sozialen Verhält¬ nisse um ihn herum ihn darauf festnageln. Wären sie anders, dann wären die ihn betreffenden sozialen Tatsachen anders. Wer nach deutschem Recht verheiratet ist, wäre es nicht, wenn er -

-

14

Vgl. Anm. 6.

WIE SPRECHER AUSDRÜCKE MEINEN dieselbe Prozedur vor dem Standesamt durchlaufen hätte, diese aber eine andere Bedeutung hätte. Wer in einer mit Zuwendung geizenden Gruppe beliebt ist, ist es nicht in einer, in der jeder so viel Zuwendung bekommt wie er. Wer in einer nordrhein-westfälischen Gesamtschule fleißig ist, könnte in der Mittelstufe eines bayerischen Gymnasiums ein Faulpelz sein, und zwar mit genau derselben individuellen Arbeitsleistung. Das ändert nichts daran, daß das Tatsachen sind. Richtige Tatsachen mit Ecken und Kanten, an denen man sich objektive blaue Flecken holen kann.

4.5

Sprecher wissen, was sie meinen

Nicht genug damit, daß nach den "Philosophischen Untersu¬ chungen" Sprecher ihre Ausdrücke in diesen oder jenen Bedeu¬ tungen meinen können (wenn sie es denn für nötig halten, statt sich auf das zu verlassen, was sie mit ihrer Verwendung ohnehin sagen): Sie können nach den PU sogar wissen, was sie meinen und was sie sagen, und das in vier Spielarten. Da dieses Wssen nicht nur von den PU behauptet wird, sondern jeder denkende Mensch (oder in der Gegenüberstellung von PU 66: jeder nicht denkende, sondern schauende Mensch) es auf Schritt und Tritt antrifft, könnte man auch einfach erinnerungsweise darauf hin¬ deuten und es anschließend auf Grund der skizzierten Analyse davon, was es in den PU mit dem Meinen auf sich hat, verständ¬ lich machen, um die Skizze durch Bewährung an ihren Folge¬ rungen inhaltlich zu bestätigen. Exegetisch ist man aber in der angenehmen Lage, diese so richtigen Folgerungen auch als Be¬ hauptungen im Text der PU wiederzufinden. Der Sprecher weiß erstens, wie er eine Verwendung seines Ausdrucks meint, in dem Sinne, daß er sich im Zusammenhang mit der Verwendung so verhält, wie sich einer zu verhalten hat, der die Verwendung so und nicht anders meint.15 lir weiß, daß er einen Kollegen auf einer Konferenz in G. mit "Guten Tag, Herr L." begrüßt hat; und zwar weiß er das in dem Sinne, daß er es für normal hält, wenn Professor L. zurückgrüßt, und für hoch¬ näsig, wenn der es nicht tut; daß er ihn beim zweiten Kontakt 15 Das

Beispiel folgt einer Aufforderung aus PU 489.

I 11

112

EIKE VON SAVIGNY nach drei Minuten nicht noch einmal grüßt; daß er bei diesem zweiten Kontakt nicht auf einen erneuten Gruß wartet; daß er nicht überrascht ist, wenn der Kollege beim dritten Kontakt den Versuch eines Dritten, sie miteinander bekanntzumachen, ab¬ blockt; daß er beim Begrüßen eines zweiten Kollegen P., der sich mit L. unterhält, Ps verwunderte Aufforderung: ,Ja Herr v. S., wollen Sie denn nicht den Kollegen L. auch begrüßen?" mit der Erläuterung beantwortet: "Ich hatte schon die Ehre, Herrn L. guten Tag zu sagen." Kurz, der Sprecher kann mit seiner Äuße¬ rung "Guten Tag, Herr L." in der einem Gruß entsprechenden Weise umgehen er hat ausdrücklich anerkannt, daß Profes¬ sor L. als jemand zu behandeln ist, der in die allfälligen sozialen Transaktionen einzubeziehen ist, statt als Fremder und Außen¬ stehender ignoriert zu werden, und hat damit für alle sichtbar die Verpflichtung zu entsprechendem Verhalten übernommen. Solches Wissen ist Können "knowing how" im Sinne von Gilbert Ryles klassischer und weiterhin unverzichtbarer Kenn¬ zeichnung.16 Für die PU folgt, daß der Sprecher es hat, daraus, daß er seine Äußerung in einer bestimmten Bedeutung meint, deshalb, weil sein Meinen darin besteht, daß er zu der dieser Bedeutung entsprechenden, etablierten Verwendung des Aus¬ drucks bereit ist. Etablierte Verwendungsweisen haben es an sich, aus der Bereitschaft vieler einzelner zu Verhaltensweisen zu bestehen, die jeweils fast vollständig der etablierten Verhaltens¬ weise entsprechen. Jeder einzelne ist im allgemeinen bereit, das Übliche zu tun, erwartet es von den anderen und erwartet, daß die anderen es von ihm erwarten. In diesem Sinne wissen, was man meint, unterscheidet sich also kaum vom Wissen, wie man sich als Angehöriger einer sozialen Schicht bei einem Treffen von Angehörigen dieser Schicht zu verhalten hat. Hier ist ein schlagendes Beispiel dafür, daß man nach den PU in diesem Sinne weiß, was man meint: -

-

Wenn ich die

Beschreibung gebe: "Der Boden war ganz mit Pflanzen bedeckt", willst du sagen, ich weiß nicht, wovon ich rede, ehe ich nicht eine Definition der Pflanze geben kann? -

(PU 70.) 16

Vgl. Anm.

1.

WIE SPRECHER AUSDRÜCKE MEINEN Im Kontext geht es um die Frage, ob nur der weiß, was er meint, der für die verwendeten Begriffe alle Regeln für alle Anwen¬ dungsfälle im voraus angeben kann also um jemanden, der "knowing that" im exemplarischen Sinne hat. Mit "willst du sagen, ich weiß nicht, wovon ich rede" wendet sich Wittgenstein ungewöhnlich polemisch gegen diese überspitzte Forderung; und da die Frage rhetorisch ist, sagt er, daß er auch ohne "kno¬ wing that" weiß, wovon er redet. Möglicherweise ist "willst du sagen, ich weiß nicht, wovon ich rede" in PU 70 allerdings stärker zu interpretieren; dann würde diese Stelle nicht belegen, daß es für Wittgenstein ein Wissen, wovon man redet, im Sinne von "knowing how" gibt, also ohne daß "knowing that" nötig wäre, und von den Belegstellen wären andere anzuführen. Die Redeweise "Willst du sagen, ich weiß nicht, wovon ich rede" hat nämlich viel von "Was fällt dir eigentlich ein, meine Ausdrucks¬ weise zu kritisieren". Dabei geht es nicht darum, ob man (im hier diskutierten epistemischen Sinn) weiß, was man meint, son¬ dern darum, mit "Ich weiß selbst am besten" oder ähnlichen "Ich weiß" benutzenden Redewendungen, auch solchen in der Form rhetorischer Fragen, sozial definierte Standpunkte gegen mögli¬ che Angriffe zu behaupten. Daß die individuelle Verwendungsfähigkeit dazu gehört, daß man sich dem sozial etablierten Gebrauch anschließt, ergibt sich aus zahlreichen Überlegungen in PU 198 PU 242, wo Witt¬ eines sozial etablierten Regelfolgens die Kennzeichen genstein wie jeder einzelne sich verhalten daran erläutert, weitgehend muß, damit sie sich insgesamt, und daher wieder jeder einzelne für sich, regelfolgend verhalten. Wissen, was man meint, heißt zweitens, daß man in aller Regel den Inhalt eigener Äußerungen korrekt wiedergeben kann, sei es in indirekter Rede oder mit anderen Worten. Diese Fähigkeit haben Sprecher "in aller Regel", nicht schon kraft ihrer Beherrschung der Sprache, in der sie ihre Äußerungen tun, weil es sich um eine metasprachliche Fähigkeit handelt; aber noch eher, als wir von einem guten Walzertänzer erwarten, daß er uns die Schrittfolge beschreiben kann, statt sie nur zu wieder¬ holen, halten wir einen Sprecher des Deutschen für einiger¬ maßen beschränkt, der die Frage "Was hast du ihm denn von der Angelegenheit erzählt?" nicht beantworten kann, oder allenfalls durch eine wörtliche Wiederholung aus dem Gedächtnis. -

-

"3

114

EIKE VON SAVIGNY PU 501 appelliert ironisch an diese beim Gegner selbstverständ¬ lich vorauszusetzende Fähigkeit, und zwar in einem Zusammen¬ hang, wo es um die Sprachabhängigkeit des Begriffs des Satzsin¬ nes

geht:

"Der Zweck der Sprache ist, Gedanken auszudrücken." So es wohl der Zweck jedes Satzes, einen Gedanken auszu¬ drücken. Welchen Gedanken drückt also z. B. der Satz "Es ist

regnet" aus?

-

-

Eben den Gedanken, daß es regnet. Man darf die in aller Regel bei kompetenten Sprechern ausgeprägte Fähigkeit, den Inhalt eigener Äußerungen wiederzugeben, freilich nicht mit der viel weitergehenden Forderung verwechseln, Sprecher müßten das können, damit ihre Äußerungen bedeutungsvoll seien. Drittens könnte Wissen, was man mit einem Ausdruck meint, darin bestehen, daß man eine vollständige Definition dieses Aus¬ drucks geben könnte. Das ist im allgemeinen eine theoretische Aufgabe für begnadete Linguisten mit viel theoretischem Ver¬ stand und mit viel Geld für Mitarbeiter; aber in besonders ein¬ fachen Fällen kann man die Forderung, ein einzelnes Wort aus einer Äußerung zu erläutern, vielleicht durch eine Definition befriedigen, die den eigenen Wortgebrauch genau trifft. Freilich ist man darauf angewiesen, daß niemand sich nach der Bedeu¬ tung der im Definiens verwendeten Ausdrücke erkundigt. Dann kann man z. B. auf die Frage "Was hast du jetzt mit ,Onkel' gemeint?" antworten: "Einen Bruder des Vaters oder der Mut¬ ter." Zweifel an dieser Möglichkeit äußern die PU nicht; wo sie sich gegen die Definierbarkeit von Wörtern zu wenden schei¬ nen, geht es durchweg ausschließlich darum, daß es nicht das Verfügen über solches definitorische Wissen ist, das den Wört¬ gebrauch festlegt (vgl. insbesondere PU 66-80). Viertens heißt wissen, was man meint: Der Sprecher kann erklären, was er mit einer Äußerung meint, und was er da er¬ klärt, ist verbindlich. Wenn er sagt: "Mit ,abrakadabra' meine ich ,Heute ist schönes Wetter'", dann ist sein "abrakadabra" zu ver¬ stehen als "Heute ist schönes Wetter" (warum, werden wir gleich sehen); damit, daß er das meint, hat er also recht, wenn er es nur sagt. Allerdings ist bekannt, daß eine Garantie dafür, mit einem Indikativsatz gewisser Art nicht Unrecht behalten zu können, -

WIE SPRECHER AUSDRÜCKE MEINEN kein Indiz für irrtumsgefeites Wissen ist. Austins explizit perfor¬ mative Äußerungen17 wie "Ich verspreche, morgen zu kommen" bilden eine ganze Klasse von Gegenbeispielen, und der beim Pilzesuchen im Wald auf die Frage "Wo bist du?" geantwortete Ruf "Ich bin hier" kann zwar nicht falsch sein, drückt aber nichts Bescheid¬ aus, was man gemeinhin unter Wissen versteht wissen. Um was es anstelle von Bescheidwissen geht, wenn einer sagt: "Mit dem fetten alten Keri habe ich Marcus Licinius Crassus gemeint", wird deutlich, wenn man sich eine von vielen möglichen Reaktionen auf solch eine Äußerung ansieht: "Er muß schon am besten wissen, wen er gemeint hat", und das noch einmal umformuliert: "Man muß es schon ihm selbst überlassen, über wen er hat reden wollen." Das scheint ein Spezialfall davon zu sein, daß wir Leute reden lassen und dann auf ihre Äußerungen reagieren, statt ihnen Äußerungen in den Mund zu legen. Deshalb ist es eine sozial wahrscheinlich vorteilhafte Konvention, Sprechern das Recht vorzubehalten, unklare Äußerungen selbst nachträglich zu inter¬ pretieren, ja sogar klare Äußerungen im Wege der nachträg¬ lichen Uminterpretation durch Äußerungen mit anderer Bedeu¬ tung zu ersetzen. (Das Recht hat Grenzen. Vor allem in sehr formellen Zusammenhängen muß es nicht gelten wer bei einer Versteigerung den Arm hebt, hat das letzte Gebot erhöht, und es hilft ihm nichts zu sagen: "Ich wollte nur meiner Freundin zuwinken.") Die PU anerkennen diese Unangreifbarkeit von "Ich meine"-Äußerungen mehrfach, insbesondere innerhalb der Folge PU 661-693, die der Rolle von "Ich meine"-Äußerungen im Verhaltensmuster des etwas-mit-erwas-Meinens gewidmet ist; Ziel der Kritik ist die Vorstellung, die Sicherheit der Äuße¬ rungen beruhe darauf, daß sie über innerlich zugängliche see¬ lische Vorgänge des Meinens berichteten: -

-

-

-

Aber wie, kann ich denn nicht sagen "Mit ,abrakadabra' meine ich Zahnschmerzen"? Freilich; aber das ist eine Defini¬ tion; nicht eine Beschreibung dessen, was in mir beim Aus¬ sprechen des Wortes vorgeht. (PU 665.) -

17

John L. Austin, How to Do Things with Words, Cambridge, Mass.,

1962.

"5

116

EIKE VON SAVIGNY Mit "das ist eine Definition" wird an das Recht des Sprechers, seine Äußerung zu interpretieren, erinnert. Das kann die Sicher¬ heit verstehen helfen, mit der er das sagen kann. Das Recht, eine Äußerung zurückzuziehen, spielt in PU 668 eine Rolle: Aber kann man nicht auch so lügen, indem man sagt "Es wird bald aufhören" und den Schmerz meint, aber auf die Frage "Was hast du gemeint?" zur Antwort gibt: "Den Lärm im Nebenzimmer"? In Fällen dieser Art sagt man etwa: "Ich wollte antworten habe mir's aber überlegt und geantwor¬ tet...." -

Unter einer Lüge stellt man sich zunächst einen falschen Bericht deshalb für Wittgenstein hier wichtig, daran zu erin¬ eine ganz ähnliche Form der Unzuverlässigkeit darin besteht, zu einer Äußerung nicht zu stehen. PU 682 nennt den durch "Ich meine" bekräftigt Fall, daß der Inhalt einer wird: vor; es ist nern, daß

Äußerung

"Du sagtest ,Es wird bald aufhören'. Hast du an den Lärm

gedacht, oder an deine Schmerzen?" Wenn er nun antwortet "Ich habe ans Klavierstimmen gedacht" konstatiert er, es habe diese Verbindung bestanden, oder schlägt er sie mit diesen Worten? Kann ich nicht beides sagen? Wenn, was er sagte, wahr war, bestand da nicht jene Verbindung und schlägt er nicht dennoch eine, die nicht bestand? -

-

-

-

Eine für den Stil der PU

typische Formulierung dafür, daß das Sprechervorrecht besteht, findet sich im Rahmen einer thera¬ peutischen Äußerung in PU 678 "dem ja niemand widerspro¬ chen hat":

-

"Und doch meinte ich damals das eine und nicht das andre." Ja, nun hast du nur einen Satz mit Emphase wiederholt, dem ja

niemand

-

widersprochen hat.

Auf Grund des Sprechervorrechts kann man mit einer "Ich mei¬ ne oder "Ich habe gemeint"-Äußerung kaum je unrecht die haben; Äußerung ist aber darum nicht etwa ein Bericht, mit dem der Sprecher recht hätte. (Sie ist gar kein Bericht.) Mißver...

WIE SPRECHERAUSDRÜCKE MEINEN steht man sie als dem Irrtum nicht ausgesetzten Bericht, dann ist man rasch beim Bild von der "präsenten Bedeutung"; das Spre¬ chervorrecht dürfte eine Quelle dieses Bildes darstellen. In dreierlei Hinsicht gibt es ein Wissen darum, was man meint, in den PU nicht. Man kann nicht allgemein den Ge¬ brauch von Ausdrücken in einer vor allen anderen Beschreibun¬ gen ausgezeichneten Weise beschreiben, weil die Beschreibung der Rolle eines Ausdrucks von der Gewichtung mehr oder we¬ niger nebensächlicher Einzelheiten der Verwendung abhängt. Wittgenstein macht das in PU 551-568 an Zahlwörtern, Vernei¬ nungspartikeln und dem Verb "sein" vor und kommt nahe an das Ergebnis heran, daß Rollenbeschreibungen nur im Rahmen ei¬ ner von mehreren gleich gut möglichen Gesamtbeschreibungen einer Sprache sinnvoll seien. Zweitens kann man nicht wissen, ob man einen Ausdruck so gebraucht, daß auch für die unvor¬ stellbarsten Fälle klar wäre, ob er darauf passen würde (PU 80). Und schließlich gibt es kein Wssen darum, was man mit einem Ausdruck meint, das sich auf vergangene konkrete Anwendun¬ gen des Ausdrucks in Einzelfällen stützte und das kraft dieser Grundlage erlaubte, für die Zukunft zu deduzieren, welche Ver¬ wendung die korrekte wäre (PU 147).

Literatur J. V Canfield 1975, Anthropological Science Fiction and Logical Necessity, Can. Journ. Phil. 4, 467-479. R. J. Fogelin 1976, Wittgenstein, London, 142 f. R. L. Arrington 1979, "Mechanism and Calculus": Wittgenstein on Augustine's Theory of Ostension, in: C. G. Luckhardt (Hg.), Wittgenstein: Sources and Perspectives, Hassocks, 303-338. G. P. Baker, P. M. S. Hacker 1980, An Analytical Commentary on the Philosophical Investigations, Vol. I: Wittgenstein, Understanding and Meaning, Oxford, ad PU 141.

J. McDowell 1984, Wittgenstein on Following a Rule, Synthese 58, 325-363. C. McGinn 1984, Wittgenstein on Meaning, Oxford, 23, 42 f. G. P. Baker, P. M. S. Hacker 1985, An Analytical Commentary on the Philosophical Investigations, Vol. II: Wittgenstein, Rules, Grammar and Necessity, Oxford, ad PU 198, 201. J. F. M. Hunter 1985, Understanding Wittgenstein, Edinburgh, 34 f., 77 ff., 239. W. W. Tait 1986, Wittgenstein and the "Skeptical Paradoxes", Journ. Phil. 83, 475-488.

E.

v.

Savigny (1988) 1994, Wittgensteins "Philosophische Untersuchungen": Ein

Kommentar für

Leser, Bd. I, Abschnitte 1 bis 315, Frankfurt a. M.

117

118

EIKE VON SAVIGNY E. v. Savigny (1989) 1996, Wirtgensteins "Philosophische Untersuchungen": Ein Kommentar für Leser, Bd. II, Abschnitte 316 bis 693, Frankfurt a. M. R. L. Arlington 1991, Sign-Post Scepticism, in: K. Puhl (Hg.), Meaning Scep¬ ticism, Berlin/New York, 13-33. J. F. M. Hunter 1993, Knowing What one Was Intending to Say, in: J. V Can¬ field, St. G. Shanker (Hgg.), Wittgenstein's Intentions, New York/London, 162-172.

5 Klaus Puhl

Regelfolgen

5.1

Vorbemerkung

Eine Sprache sprechen, Schach oder Tennis spielen, Addieren und Wurzel ziehen, im Restaurant essen, einen Stadtplan lesen sind nur einige Beispiele für regelfolgende Aktivitäten. Zum Regelfolgen gehört offensichtlich die Ausrichtung des eigenen Tuns nach jenen Vorschriften, die die betreffenden Regeln aus¬ machen und die für eine, oft sogar unendliche Anzahl von Situa¬ tionen bestimmen, was man tun muß, will man korrekt, d. h. der Regel entsprechend, handeln. Das Problem des Regelfolgens besteht darin, zu erklären, worin die Korrektheit solcher Tätig¬ keiten besteht und wie sie sich von sonstigen Vorgängen, insbe¬ sondere von bloß regelmäßigen Verhaltensweisen und Reaktio¬ nen unterscheiden. Was sind Regeln? Wie müssen sie beschaffen sein, um Handlungen leiten und rechtfertigen und vom Subjekt entsprechend gelernt und verstanden werden zu können? Worin besteht die Kenntnis einer Regel? Wie kann mich eine Regel lehren, was ich in einer neuen Situation zu tun habe? Läßt sich der Regelbegriff unabhängig von dem des Regelfolgens erklä¬ ren, d. h. existieren die Regeln vor ihrer Anwendung und regeln sie diese unabhängig? Muß ich, um einer Regel zu folgen, immer angeben können, welcher Regel ich folge, also über einen Aus¬ druck der Regel verfügen? Inwieweit ist Regelfolgen ein soziales Phänomen? Diese Fragen gehören zu jenen, die Wittgenstein in den "Philosophischen Untersuchungen" ausführlich erörtert.1 Da der Regelbegriff von sprachlicher Bedeutung, vom Meinen

I20

KLAUS PUHL und Verstehen sprachlicher Ausdrücke und von arithmetischen Regeln nicht zu trennen ist, sind Wittgensteins Überlegungen für mindestens drei Gebiete der Philosophie von zentraler Be¬ deutung: für die Philosophie der Sprache, die Philosophie der Mathematik und die Philosophie der Psychologie.2 Wittgenstein erarbeitete sich seinen Regelfolgebegriff in kri¬ tischer Auseinandersetzung mit einer Auffassung von der Gel¬ tung oder Normativität von Regeln und von ihrem Zusammen¬ hang mit regelfolgendem Verhalten, die sich wie folgt zusam¬ menfassen läßt. Regeln sind (abstrakte oder mentale) Entitäten, die unabhängig, "auf eigene Faust" (wie Wittgenstein sich in einem verwandten Zusammenhang (TB 11.5.1914)) ausdrückt) und bevor sie angewendet werden, bestimmen, was als ihre kor¬ rekte und inkorrekte Befolgung gilt. Aus der Autonomisierung von Regeln ergibt sich dieser Auffassung zufolge die fundamen¬ tale Bedeutung, die ihren expliziten Formulierungen, dem Regel¬ ausdruck also, zukommt. Da Regeln autonom existieren, sind sie nur mit Hilfe ihres Ausdrucks oder ihrer Repräsentation für uns zugänglich, weil Regeln als solche kaum "ins Bewußtsein kom¬ men" können, sondern eben nur durch Vermittlung ihrer Reprä¬ sentationen, d. h. ihrer Formulierungen. Es kann sich also bei Regeln nur um ausdrücklich formulierte handeln. Wenn Regeln autonom über Korrektheit und Inkorrektheit entscheiden, müs¬ sen sie, so die kritisierte Regelkonzeption weiter, für jede An¬ wendungssituation im voraus festlegen, was zu tun ist, soll der Regel gefolgt werden. So würde die Regel für den Gebrauch eines Wortes für alle zukünftigen Weisen seiner Verwendung im

1 (siehe vorige Seite): Seit den späten siebziger Jahren ist das Problem des Regel¬ folgens auch ins Zentrum des interpretatorischen Interesses an den "Philosophi¬ schen Untersuchungen" gerückt und hat die Frage, weshalb nach Wittgenstein eine Privatsprache unmöglich sei, zumindest insofern abgelöst, als das Hauptinter¬ esse nun der Frage galt, ob die Privatsprachenargumentation (PU 243-315) eine Konsequenz der Überlegungen zum Regelfolgen ist oder unabhängig von ihnen gilt. Eine damit zusammenhängende weitere Streitfront eröffnete Saul Kripke mit seiner These, Wittgenstein vertrete einen Regel- und Bedeutungsskeptizis¬ mus, eine Behauptung, deren Begründung sich allerdings vom Text der "Philoso¬ plüschen Untersuchungen" weitgehend frei macht, weshalb sie hier nicht weiter verfolgt werden soll. (Siehe die Beiträge in Puhl 1991a.) 2 Regelfolgen ist ein wichtiges Thema der aus dem Wittgenstein-Nachlaß her¬ ausgegebenen "Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik".

REGELFOLGEN

bestimmen, ob sie korrekt oder inkorrekt sind, gleichgül¬ wie tig wir in Zukunft geneigt sein werden, das Wort zu gebrau¬ chen. Dieser Autonomisierung von Regeln entspricht außerdem eine bestimmte Konzeption ihres Meinens und Verstehens. Es muß sich dabei jeweils um einen geistigen Zustand handeln, der "auf seine Weise all jene Übergänge doch schon gemacht hat" (PU 188), bevor wir, die Regelverwender, sie machen, keine einfache Vorstellung, da die Anzahl der Fälle, für die die Regel gilt, zumeist unüberschaubar groß, im arithmetischen Fall sogar unendlich ist. Die gegnerische Position behauptet also: Regeln bestimmen anwendungsunabhängig, erschöpfend und eindeu¬ tig, welches Verhalten mit ihnen übereinstimmt oder nicht. Das Verstehen und Meinen von Regeln sind geistige Zustände, aus denen ihre "richtige Verwendung entspringt" (PU 146). Dieser intellektuell-theoretischen Konzeption zufolge spielt das prak¬ tische Tun, das "Folgen" am Regelfolgen, eine untergeordnete Rolle. Wir befolgen vielmehr Regeln, weil wir ihre Repräsenta¬ tionen und Formulierungen benutzen, und könnten dabei "Hir¬ ne im Töpf sein. Wittgenstein vertritt dagegen eine Konzep¬ wonach tion, expliziten Repräsentationen und Formulierungen von Regeln eine untergeordnete Rolle zukommt, die zudem von der letzlich nicht-artikulierbaren, quasi-natürlichen Art und Weise abhängt, wie wir nicht ausdrücklich festgesetzte Regeln voraus

befolgen.

Wer hat die gegnerische Regelauffassung vertreten oder ver¬ tritt sie noch? Zunächst einmal der frühe Wittgenstein selber. In der 1921 veröffentlichten "Logisch-Philosophischen Abhand¬ lung" (dem "Tractatus Logico-Philosophicus") entwickelt Witt¬ genstein eine Bildtheorie des sprachlichen Sinns. Dieser Theo¬ rie zufolge werden mit der Festlegung der Bedeutung eines (einfachen) Namens (der einen einfachen Gegenstand bezeich¬ net) notwendigerweise und unabhängig von seinem späteren Gebrauch die Korrektheitsbedingungen eben dieses Gebrauchs

festgelegt: An

unseren Notationen ist zwar etwas willkürlich, aber das ist nicht willkürlich: Daß, wenn wir etwas willkürlich bestimmt haben, dann etwas anderes der Fall sein muß. (Das hängt vom Wesen der Notation ab.) (TLP 3.342)

I 21

12 2

KLAUS PUHL Damit ist auch die

Frage, welche Sätze aus einem Satz folgen schon können, beantwortet, wenn der Sinn dieses Satzes be¬ stimmt ist. Meinen und Verstehen repräsentieren in ihrem Inhalt das, "was der Fall sein muß". Weder die eigenen noch die frem¬ den sprachlichen Reaktionen spielen deshalb im "Tractatus" für die

Frage, was es heißt, mit sprachlichen Äußerungen etwas zu

meinen oder sie

verstehen, eine Rolle. Obwohl sich Wittgensteins späterer Regelbegriff besonders zu

gegen die Bindung von Regeln an ihre expliziten Formulierun¬ gen und Repräsentationen wendet, richtet er sich auch gegen

und Sprachphilosophen, die die These vertreten, unser Sprachgebrauch verdanke sich einem angeborenen, jedenfalls aber impliziten, dem Bewußtsein unzu¬ gänglichen Regelsystem, einer "language of thought" (Fodor) oder Chomskys genetisch determinierter "Universalgramma¬ tik". Auch diese Theorien behandeln die normative und hand¬ lungsleitende Funktion sprachlicher Regeln als das Resultat ih¬ rer anwendungsunabhängigen Existenz und sehen im Sprach¬ gebrauch nur den Vollzug, nicht aber die Konstituierung der

jene zeitgenössischen Linguisten

Regelforderung.

5.2 Zur Textlage Das für das Regelfolgen zentrale Stück der "Philosophischen Un¬ tersuchungen" wird zumeist mit den Abschnitten PU 139-242 identifiziert. PU 243-315 sind dem Problem der Privatsprache gewidmet. Diese Einteilung vermittelt allerdings den irrefüh¬ renden Eindruck, in den vorhergehenden Abschnitten der "Phi¬

losophischen Untersuchungen" spiele die Regelproblematik noch keine Rolle. PU 139-242 sind für Wittgensteins Anliegen sicherlich zentral und stehen auch im Mittelpunkt der vorliegen¬ den Arbeit. Sie beschäftigen sich mit der entscheidenden Frage, wie eine Regel ihre korrekte und inkorrekte Anwendung be¬ stimmt (PU 185-242), nachdem in PU 143-184 die Vorstellung bekämpft wurde, das Regelverstehen sei ein mentaler oder kau¬ saler Zustand oder Prozeß, der für das Regelfolgen und den Sprachgebrauch in einem kausalen oder normativen Sinne ver¬ antwortlich wäre. Diese Argumentationslinie erreicht in PU 202 mit der zusammenfassenden Betonung des Praxischarakters des

REGELFOLGEN

vorläufigen Höhepunkt. Sie wird jedoch vorhergehenden Abschnitten vorbereitet. So be¬ gründen beispielsweise PU 53, 54, besonders aber 82, daß einer Regel zu folgen nicht zu heißen braucht, daß man sie ausdrücken kann. PU 26-37 argumentieren umgekehrt, daß weder die Ver¬ wendung eines Regelausdrucks für die Befolgung einer Regel Regelfolgens

einen

schon in den

hinreichend ist noch daß eine Festsetzung, etwa durch das Mei¬ nen eines Wortes oder einer Zeigehandlung, eine Gebrauchs¬ regel für dieses Wort festlegen oder bestimmen kann, worauf gezeigt wird. PU 84-87 wollen mit der Vorstellung aufräumen, explizite Regeln könnten ein korrektes Anwendungsverhalten in allen Situationen garantieren.

5.3

"Was nenne ich ,die Regel, nach der er vorgeht'?"

Die "Philosophischen Untersuchungen" geben keine Definition des Regelbegriffs. Wittgenstein lehnt Wesensbestimmungen ab und behandelt die unterschiedlichen Regeln als lose durch Fami¬ lienähnlichkeiten und nicht durch gemeinsame Merkmale mitein¬ ander verbundene Dinge, eine Strategie, die auch die vielen Beispiele von Regeln in den "Philosophischen Untersuchun¬ gen" erklärt.3 Wittgenstein fragt also nicht "was ist eine Regel?", sondern "wann sprechen wir von einem Befolgen einer Regel?" Es darf deshalb nicht verwundern, daß PU 82 gleich drei Ant¬ worten auf die Frage: "Was nenne ich 'die Regel, nach der er vorgeht'?" in Betracht zieht:

Hypothese,

die seinen Gebrauch der Worte, den wir zufriedenstellend beobachten, beschreibt; oder die Regel, die er beim Gebrauch der Zeichen nachschlägt; oder die er uns Die

zur

Antwort gibt, wenn wir ihn nach seiner

Regel fragen.

3 Zur Familienähnlichkeit siehe PU 66 ff. Eine Aktivität gehört z. B. nicht des¬ halb zu den Spielen, weil sie ein bestimmtes Merkmal mit allen anderen Spielen gemeinsam hat. "Wir sehen [stattdessen] ein kompliziertes Netz von Ähnlichkei¬ ten, die einander übergreifen und kreuzen. Ähnlichkeiten im Großen und Klei¬ nen." (PU 66)

123

124

KLAUS PUHL PU 54 forderte den Leser schon bezüglich des Spielens auf: "Denken wir doch daran, in was für Fällen wir sagen, ein Spiel werde nach bestimmten Regeln gespielt!", und führt noch als weitere Fälle an: die Mitteilung der Regel als Unterrichtshilfe im Spiel und die Einbeziehung der Regel in die Spielhandlung, und betont weiter, daß man Spiele durch Zusehen lernen kann, ohne daß einem also die Spielregeln explizit mitgeteilt werden müssen.

Die in PU 54 und 82 genannten Möglichkeiten richten sich gegen die z. B. in PU 81 identifizierte und nach eigenem Bekun¬ den von Wittgenstein selbst einmal vertretene Auffassung, daß jemand, der "einen Satz ausspricht und ihn meint, oder versteht, damit einen Kalkül betreibt nach bestimmten Regeln". Dabei handelt es sich eigentlich um mehrere miteinander zusammen¬ hängende Mißverständnisse bezüglich des Regelfolgens bzw. des Regelbegriffs, die sich aus der Gleichsetzung der Regel mit einer autonomen Entität, deren normative Geltung also unabhängig von ihrer Anwendung ist, ergeben. Die Mißverständnisse lauten: 1. Für das Lernen, Verstehen, Meinen und Befolgen einer Regel ist die Benutzung eines Ausdrucks oder einer mentalen Repräsentation der Regel notwendig und hinreichend. 2. Die Regel, nach der jemand handelt, muß von vorneherein feststehen. 3. Ale Aspekte eines regelfolgenden Verhaltens müssen durch die Regel (d. h. nach 1. durch ihren Ausdruck) bestimmt sein. Die verschiedenen, in PU 82 und 54 von Wittgenstein ange¬ führten Antworten richten sich gegen diese Mißverständnisse. So führt "die Hypothese, die seinen Gebrauch der Worte, den wir beobachten, zufriedenstellend beschreibt" eine Regel an, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, ob der Betreffende dabei etwas Bestimmtes, etwa eine Formulierung der Regel, denkt, oder ob er sich ausdrücklich vorgenommen hat, einer Regel zu folgen. Wir beschreiben sein Verhalten als ein regelgeleitetes, ohne uns um seine Motive oder darum, was sonst in ihm vor¬ geht, zu kümmern. Im zweiten und dritten der in PU 82 er¬ wähnten Fälle handelt es sich zwar um explizite Regeln, die entweder schriftlich fixiert sind oder auf Anfrage vom Regelfolger genannt werden. Aber auch wenn uns jemand die Regel, der er folgt, expliziert, braucht das nicht zu heißen, daß er sich ihren Ausdruck vorgesagt hat, als er ihr folgte.

REGELFOLGEN

Wittgenstein erwägt in PU 82 eine weitere Möglichkeit, die sich von den zuvor angeführten wesentlich zu unterscheiden scheint: aber, wenn die Beobachtung keine Regel klar erkennen läßt, und die Frage keine zu Tage fördert? Denn er gab mir zwar auf meine Frage, was er unter "N" verstehe, eine Erklä¬ rung, war aber bereit, diese Erklärung zu widerrufen und abzuändern. Wie soll ich also die Regel bestimmen, nach der

Wie

-

Er weiß sie selbst nicht. Oder richtiger: Was soll der Ausdruck "Regel, nach welcher er vorgeht" hier noch er

spielt?

-

-

besagen?

Auch wenn der Betreffende nicht weiß, welcher Regel er folgt, sich also auch auf keine explizite Regelformulierung festlegen kann, leugnet Wttgenstein nicht, daß er Regeln folgt, solange sein Verhalten als ein regelfolgendes erkennbar ist. Allerdings hat es dann kaum noch Sinn, von einer "Regel, nach der er vorgeht" zu sprechen, wenn damit im Sinne der gegnerischen Position die Bindung des Regelfolgens an die Benutzung einer ausdrücklichen Regelformulierung oder Repräsentation gemeint ist. PU 83 verdeutlicht diesen Gedanken und nimmt zugleich das zweite der oben erwähnten Mißverständnisse aufs Korn. Wittgenstein weist hier am Beispiel des Ballspielens auf die Möglichkeit hin, von einem Spiel zu einem anderen zu wech¬ seln, d. h. Regeln zu folgen, ohne immer einer ganz bestimmten zu folgen, oder die Regeln während des Spielens erst zu erfin¬ den: "wir spielen und ,make up the rules as we go along'". Dies macht es unter Umständen selbst für die Beteiligten unmöglich, die Frage nach den befolgten Regeln im voraus zu beantworten. Da aber eindeutig ein Ballspiel ein regelfolgendes Verhalten im Gange ist, folgen die Spieler irgendwelchen Regeln, auch wenn sie sie dauernd neu erfinden und vorher nicht wissen, wie die neuen Regeln aussehen werden: -

-

-

Und nun sagt einer: Die ganze Zeit hindurch spielen die Leute ein Ballspiel, und richten sich daher bei jedem Wurf nach bestimmten Regeln. (PU 83)

"Bestimmte Regeln" kann hier nur "irgendwelche Regeln", Gegner meint, "im voraus festgelegte Re-

nicht aber, wie der

125

126

KLAUS PUHL

heißen. Für den Vertreter autonomer Regeln heißt sich nach bestimmten Regeln zu richten, daß diese schon feststehen, bevor man ihnen folgt. In diesem Sinne würden sich die Leute in PU 83 nach keiner Regel richten, da sie diese erst erfinden bzw. dauernd wechseln. Im zweiten Sinn von "bestimmt" folgen die Leute irgendwelchen Regeln, weil sie Ball spielen und wir ein Verhalten nur Ballspielen nennen, wenn es sich nach diesen oder jenen Regeln richtet, auch wenn sie während des Spielens geän¬ dert oder erst erfunden werden.4 Würden wir dies in Abrede stellen, könnten wir ihr Verhalten nicht als Ballspielen identi¬ fizieren. Gegen das dritte Mißverständnis des Regelfolgens polemisiert neben PU 84 z. B. auch PU 68 am Beispiel des Gebrauchs des

geln"

"Spiel". Seine Anwendung ist nicht "überall von Regeln begrenzt", ebensowenig wie im Tennis geregelt ist, wie hoch der Ball beim Aufschlag zu werfen ist. (PU 68; der Spieler folgt hier zudem einer Regel: "wirf den Ball so hoch wie du willst!", ohne daß sie im Regelverzeichnis des Tennis ausdrücklich formuliert wäre.) Der Gebrauch des Ausdrucks "Spiel" kann eben nicht überall und jeden Zweifel ausschließend geregelt sein, da wir dann nicht mehr von einem Spiel sprechen würden. (PU 84) Zur weiteren Verdeutlichung dieses Gedankens vergleicht Wittgenstein in PU 85 die Regel mit einem Wegweiser, der mir verläßlich die Richtung zeigt. Bloß als Regelausdruck betrachtet, d. h. unabhängig von dem Umgang, den man mit ihm gelernt hat, läßt er aber eine Unzahl von Möglichkeiten offen, etwa ob ich auf dem Weg bleiben, neben ihm, querfeldein, auf allen Vieren, rückwärts oder vorwärts gehen soll, etc. Auch einer ganzen Reihe von Wegweisern oder Kreidemarkierungen würde es nicht gelingen, jede denkbare Unsicherheit auszuschließen. Wittgenstein stellt klar, daß dies kein Manko, sondern typisch für Wegweiser (und Regeln) ist: Wortes

Also kann ich sagen, der Wegweiser läßt doch keinen5 Zweifel offen. Oder vielmehr: er läßt manchmal einen Zweifel offen, 4 Auf die Zweideutigkeit von "bestimmt" weist v. Savigny 1996, 101 ff. hin. 5 Das ist ein Redaktionsfehler. In beiden existierenden Typoskripten ist das "k" durchgestrichen. Vgl. D. Stern, The Availability of Wittgensteins Philosophy, in ders. u. H. Sluga Hgg., The Cambridge Companion to Wittgenstein, Cam¬ bridge 1996, 442^476, S 470 (fn 10).

REGELFOLGEN manchmal nicht. Und dies ist nun kein philosophischer Satz mehr, sondern ein Erfahrungssatz. (PU 85) Es kann leicht so scheinen, als zeigte jeder Zweifel nur eine vorhandene Lücke im Fundament; so daß ein sicheres Ver¬ ständnis nur dann möglich ist, wenn wir zuerst an allem zwei¬ feln, woran gezweifelt werden kann, und dann alle diese Zwei¬ fel beheben. Der Wegweiser ist in Ordnung, wenn er, unter normalen Verhältnissen, seinen Zweck erfüllt. (PU 87) -

Nur wer Regeln von ihrer Anwendung trennt, sie deshalb an ihren Ausdruck oder ihre Repräsentation bindet und von dem Ideal besessen ist, der Regelausdruck müsse für jede Möglichkeit eine eindeutige Antwort festsetzen, wird diese von Wittgenstein betonte Eigenart von Regeln und Wegweisern bemängeln oder gar als Begründung für einen Regelskeptizismus auffassen, wo¬ nach uns strenggenommen keine Regel sagen kann, was zu tun sei. In der alltäglichen Praxis jedenfalls spielt die theoretische Möglichkeit, Wegweiser oder Regeln anders als gewöhnlich zu verstehen, schon aus folgendem Grund keine Rolle. Wir lernen Regeln, indem wir lernen, ihnen zu folgen, d. h. indem wir lernen, uns in bestimmter Weise zu verhalten. Dabei spielt der Regelausdruck sicherlich eine Rolle, aber nur gemeinsam mit der ganzen Lernsituation, in der es darum geht, sich richtig zu verhalten, und gerade nicht darum, Regeln bzw. ihren Ausdruck zu interpretieren und alternative Verstehensweisen auszuschlie¬

ßen.

5.4 Wie die

Regel ihre Anwendung nicht festlegt

Einen Vertreter der kritisierten Position wird das Bisherige kaum überzeugen. Er wird einwenden, Wittgenstein habe be¬

stenfalls auf Faktisches, auf unsere Praxis und

hingewiesen.

Gepflogenheiten

Bei den in PU 82, 85, 87 usw. angeführten Fällen handele es sich entweder überhaupt nicht um Regelfolgen, oder sie widersprächen nicht der Autonomie von Regeln und der Wichtigkeit von Regelausdrücken; sie illustrierten vielmehr, wie unvollkommen und lückenhaft die alltägliche Praxis des Regel-

127

128

KLAUS PUHL

folgens sei. Wittgenstein möchte aber kein Hobbypsychologe oder Anthropologe sein. Mit seinen Beispielen verfolgt er eine philosophische Absicht. Zum Zwecke der Argumentation akzep¬ tiert er die gegnerische Position als Prämisse, um zu zeigen, welch absurde Konsequenzen sich aus der Annahme ergeben, für das Meinen und Verstehen einer Regel sei ihr Ausdruck und nicht ihre Anwendung zentral. Wttgensteins Ergebnis lautet:

Explizite Regelfestsetzungen könnten weder die Eindeutigkeit und Sicherheit gewährleisten, die unsere Praxis des Regelfol¬ gens gewöhnlich auszeichnet, noch sind sie dafür notwendig. Diese Argumentation ist neben den schon erwähnten Abschnit¬ ten und zusammen mit Wittgensteins eigener Auffassung vom Regelfolgen das Thema von PU 81 bis 202 bzw. 242 und gehört mit zum Originellsten und Faszinierendsten aus seiner Feder. Nehmen wir also an, Regeln seien deshalb verbindlich und handlungsleitend, weil sie ausdrücklich festgesetzt und formu¬ liert sind. In PU 84-87 und 139-141 argumentiert Wittgenstein mit Hilfe eines Regreßarguments, daß diese Annahme die Ein¬ deutigkeit und Sicherheit unseres alltäglichen Sprachgebrauchs nicht gewährleisten könnte, ohne daß aus der Falschheit der Annahme die Ungeregeltheit der Sprachverwendung folgen würde: Ich sagte von der Anwendung eines Wortes: sie sei nicht überall von Regeln begrenzt. Aber wie schaut denn ein Spiel aus, das überall von Regeln begrenzt ist? [...] Können wir uns nicht eine Regel denken, die die Anwendung der Regel re¬ gelt? Und einen Zweifel, den jene Regel behebt und so fort? (PU 84; der erste Satz knüpft an PU 68 an.) -

Bei dem

Regreß handelt es sich um einen der Festlegung der Regelforderung, wie sie sich die gegnerische Position vorstellt. Er wird wie folgt in Gang gesetzt. Angenommen es gäbe nur ausdrücklich festgesetzte Regeln, wie z. B.: "Unter ,Moses' ver¬ stehe ich den Mann, wenn es einen solchen gegeben hat, der die Israeliten aus Ägypten geführt hat" (PU 87). Nun lassen sich aber für jede explizite Regelung offene Fälle konstruieren, also Fälle, für die die Regel keine Gültigkeit hat, weil sie einen Zweifel offen läßt: "Aber über die Wörter dieser Erklärung sind ähnliche Zweifel möglich wie die über den Namen .Moses' (was

REGELFOLGEN du ,Ägypten', wen ,die Israeliten', etc.?)" (PU 87) Um diese auszuschließen, brauchte man neue Regeln, für die sich aber wiederum Zweifelsfälle finden lassen. Um diese Zweifel auszuschließen, müßte es eine weitere Regel geben, und so wei¬ ter, ad infinitum. Der Regreß zeigt, daß, gäbe es nur explizite Regeln, keine Regel verbindlich und deshalb auch nicht hand¬ lungsleitend sein könnte. Der Text läßt jedoch keinen Zweifel daran, daß diese theoretische Möglichkeit eines infiniten Regres¬ ses nur dem Verfechter der Regelautonomie zum Verhängnis wird, nicht aber gegen die Geregeltheit des normalen Sprachge¬ brauchs spricht, bei dem es zugegebenermaßen manchmal Mißverständisse und Unklarheiten gibt, die weitere Erklärungen notwendig machen: nennst

Man könnte sagen: Eine Erklärung dient dazu, ein Mißver¬ ständnis zu beseitigen, oder zu verhüten also eines, das ohne die Erklärung eintreten würde; aber nicht: jedes, welches ich mir vorstellen kann. (PU 87) -

Insbesondere läßt sich also daraus kein Wittgensteinscher Regel¬ skeptizismus ableiten, wonach die Idee des normativen Regelfol¬ gens jeder rationalen Grundlage entbehren würde.

5.5

Psychologischer und logischer Zwang.

PU 139 greift das Regreßargument implizit wieder auf, dieses Mal aber nicht durch die Konstruktion offener Fälle für explizite Regeln, die nach weiteren Regeln verlangen würden, und so weiter, sondern durch den Nachweis, daß explizite Regelfestset¬ zungen mit verschiedenen Anwendungen vereinbar sind. Im Bei¬ spiel von PU 139 geht es um die Regel, die die Verwendung des Wortes "Würfel" regieren soll. Angenommen, es handelt sich dabei um die Zeichnung eines Würfels, die mir in den Sinn kommt, wenn ich das Wort höre, und mir vorschwebt, wenn ich es anwende. Die gegnerische Position muß behaupten, diese Zeichnung würde mich zu einer ganz bestimmten Verwendung des Wortes "Würfel" zwingen, will ich das Wort korrekt gebrau¬ chen. Also müsse mir mit der Zeichnung "die ganze Verwendung des Wortes vorschweben" (PU 139). Schließlich handele es sich

129

130

KLAUS PUHL

ja um die Repräsentation jener Regel, die die Verwendung des Wortes für alle Fälle regeln soll. Wittgenstein räumt zwar in PU 140 ein, daß das Würfelbild eine gewisse Verwendung "na¬ helegt", ja daß es uns zu einer bestimmten Anwendung zwinge, betont aber im gleichen Atemzug, daß man "es auch anders verwenden konnte", z. B. als Darstellung eines "dreieckigen Prismas". Man müsse sich nur eine entsprechende "Projektions¬ methode" für die Zeichnung ausdenken. Auch für diese Projek¬ tionsmethode lassen sich allerdings verschiedene Anwendungs¬ regeln denken, deren Anwendung wiederum verschieden gere¬ gelt werden könnte, und so weiter. PU 140 nennt die Tatsache, daß Bilder und Ausdrücke norma¬ lerweise eine bestimmte Verwendung haben und uns zumeist auch keine andere einfallen würde, einen "psychologischen Zwang" und grenzt ihn von dem "logischen" ab, der von der autonomen Regel ausgehen müßte, aber wegen des Regresses nicht ausgehen kann, da verschiedene Anwendungen der Regel logisch nicht auszuschließen sind und mit ein und demselben Regelausdruck vereinbart werden können.

,Glaube, das Bild zwinge uns zu einer bestimmten Anwendung', bestand also darin, daß uns nur der eine Fall und kein andrer einfiel. [...] Und das Wesentliche ist nun, daß wir sehen, daß uns das Gleiche beim Hören des Wortes vorschwe¬ ben, und seine Anwendung doch eine andere sein kann. Und Unser

hat es dann beide Male die gleiche werden wir verneinen. (PU 140)

Bedeutung? Ich glaube, das

Daß es logisch möglich ist, "daß uns das Gleiche beim Hören des Wortes vorschwebt, und seine Anwendung doch eine andere sein kann", ohne daß das Wort "dann beide Male die gleiche Bedeutung" hat, widerspricht einer Auffassung, die die Gültig¬ keit von Regeln in Gestalt des Regelausdrucks (hier: Bild des Würfels) gegenüber ihren Verwendungsweisen verselbständigt. Dem Regelausdruck alleine wird die Last aufgebürdet, für alle zukünftigen Verwendungen des Wortes jetzt schon festzulegen, ob sie korrekt oder inkorrekt sind. Das kann er aber nur leisten, wenn es nicht einmal einen theoretischen Zweifel darüber geben kann, wie er anzuwenden ist, wogegen aber seine verschiedenen Anwendungsmöglichkeiten und das Regreßargument sprechen.

REGELFOLGEN

ausgedrückt: Ausdrücke und Repräsentationen von Re¬ geln legen nur deshalb eine bestimmte Verwendung fest, weil wir gewohnt sind, sie so und nicht anders zu gebrauchen. Der Gebrauch ist für die Bedeutung des Regelausdrucks, also seine Normativität wesentlich, kann also nicht selber im Befolgen ausdrücklich festgesetzter Regeln bestehen. Positiv

5.6 Wovon das Verständnis

expliziter Regeln abhängt

Die Frage, worin der Gebrauch und damit das Verständnis und das Meinen einer expliziten Regel besteht, untersucht Wittgen¬ stein in PU 143 anhand einer Lehr-Lernsituation, in der einem Schüler ein bestimmtes Bildungsgesetz für die unendliche Reihe der natürlichen Zahlen beigebracht werden soll. Dabei betont Wittgenstein die unverzichtbare Rolle eines gemeinsamen und verläßlichen Reagierens auf die Lernsituation, das sich als die Fähigkeit erweist, Regeln zu folgen, die nicht ausdrücklich fest¬ gelegt sind und Voraussetzung des Erfassens der Regelerklärung ist. Nur weil der Lehrer sich darauf verlassen kann, daß der Schüler auf die ihm gegebenen Instruktionen sehr bald so rea¬ giert, daß er die Reihe selbständig und korrekt fortsetzt, kann es zu einer Verständigung über das Bildungsgesetz kommen: -

-

Wir führen ihm etwa zuerst beim Nachschreiben der Reihe 0 bis 9 die Hand; dann aber wird die Möglichkeit der Verständi¬ gung daran hängen, daß er nun selbständig weiterschreibt.

(PU 143)

Der Schüler wird anfangs verschiedene Fehler bei seinem Ver¬ such machen, die Reihe fortzusetzen. Geschieht dies aber in einer für uns regellosen Weise, d. h. schreibt er völlig wahllos irgend¬ welche Zahlen hin, "hört da die Verständigung auf. (PU 143) Macht er einen systematischen Fehler, "werden wir beinahe versucht sein zu sagen, er habe uns falsch verstanden" (ebd.). Von einem Mißverständnis zu sprechen, setzt allerdings voraus, daß die Verständigung noch nicht aufgehört hat, der Schüler also korrigiert werden kann, was wiederum heißt, daß er auf unsere Korrektur in der üblichen Weise reagiert:

131

13 2

KLAUS PUHL die Wirkung jeder weiteren aktion ab. (PU 145)

Erklärung häng[t] von seiner Re¬

Zwar sind theoretisch verschiedene Anwendungen des Bildungs¬ gesetzes denkbar und durch entsprechende kompensatorische Maßnahmen mit ihm vereinbar. Dennoch sind wir in der Praxis auf eine ganz bestimmte Fortsetzung aus: "Die Anwendung bleibt ein Kriterium des Verständnisses." (PU 146) Das Regel¬ verständnis kann kein geistiger Zustand sein, aus dem die kor¬ rekte Zahlenreihe in dem (nicht-kausalen) Sinne "entspringen" würde, daß "die Übergänge alle schon gemacht sind", bevor der Schüler sie wirklich macht. Nachdem Wittgenstein in PU 148-184 die Gleichsetzung der Kenntnis einer Regel im Sinne des eben Ausgeführten mit einem Können, dem Beherrschen einer Technik, vertieft hat, kommt er in PU 185 auf den Schüler aus PU 143 und die Frage zurück, worin, wenn nicht im Gebrauch eines Ausdrucks oder einer Repräsentation, das Meinen und Verstehen von Regeln und ihren Erklärungen besteht. Er nimmt an, der Schüler habe bis zur Zahl 1000 auf die Aufforderung, 2 zu addieren, immer die richtige Zahl hingeschrieben. Ab 1000 überrascht er uns dann aber dadurch, daß er 1004, 1008, 1012, etc. hinschreibt. Sämt¬ liche Belehrungsversuche weist er mit der Beteuerung ab, er fahre auf die gleiche Weise fort wie bei den Zahlen bis 1000, und faßt unsere Gegenargumente als Bestätigung seiner Meinung auf, weshalb es auch nichts nützt, ihn mit weiteren Erklärungen zu bombardieren. Anscheinend verstand er die ihm gegebenen Bei¬ spiele und Erklärungen in einer von der unsrigen gänzlich ver¬ schiedenen Weise, so daß wir im nachhinein auch nicht berech¬ tigt sind, von ihm zu sagen, er sei der Regel "addiere 2!" (in unserem Sinne) gefolgt, obwohl er die richtigen Zahlen hinge¬ schrieben hat. Offensichtlich versteht er die Regel "addiere 2!", wie wir eine andere Regel, nämlich "addiere 2 bis zur Zahl 1000 und addiere dann 4!" verstehen. Vom Standpunkt des Schülers aus ergibt sich die umgekehrte Situation. Seine Erklärungsver¬ suche, weshalb seine Art der Reihenfortsetzung der Regel "ad¬ diere 2!" entspreche und das Gleiche sei, das er schon bis 1000 gemacht hat, würden auf ähnliches Unverständnis unsererseits stoßen. Zwar müssen wir zugeben, daß er in seinem Sinne wei¬ terhin das Gleiche tut. Aber wir würden es nicht verstehen.

REGELFOLGEN

Wittgenstein betrachtet zum einen einen solchen Fall nicht als einen theoretischen Streit, sondern als einen Hinweis auf die unterschiedliche Natur des Betreffenden, aufgrund derer er auf Erklärungen und Beispiele eben anders reagiert als wir und in ihnen eine für uns unverständliche Regel entdeckt. Dieser Fall hätte Ähnlichkeit mit dem, als reagierte ein Mensch auf eine zeigende Gebärde der Hand von Natur da¬ mit, daß er in der Richtung von der Fingerspitze zur Hand¬ wurzel blickt, statt in der Richtung zur Fingerspitze. (PU 185)

Das heißt umgekehrt, daß die Tatsache, daß wir gewöhnlich nach einigen Beispielen und Erklärungen wissen, wie eine Regel anzuwenden ist, sich nicht dem Erfassen einer autonomen Regel verdankt, da man andernfalls den Fall des abweichenden Schü¬ lers mit dem Hinweis abtun könnte, er habe eben die Additions¬ regel noch nicht erfaßt, unsere Instruktionen letztlich doch mi߬ verstanden oder leide an einem kognitiven Defizit. Der Verfech¬ ter autonomer Regeln würde natürlich die Möglichkeit der Verständigung nicht primär an das binden, was der Schüler wei¬ ter tut, sondern daran, ob er das Bildungsgesetz schon erfaßt hat oder nicht, woraus sich dann erst die richtige Verwendung erge¬ ben würde. Für ihn ist nicht das Fortsetzen in bestimmter Weise das Kriterium des Verständnisses, sondern das Erfassen der an¬ wendungsunabhängig existierenden Regel. Zweitens zeigt die Möglichkeit eines abweichenden Regelver¬ ständnisses, das sich nicht als Mißverständnis oder kognitives Defizit des Schülers abtun läßt, daß die Regel bzw. ihre Erklä¬ rung und ihre frühere Anwendung zu einer bestimmten Fortset¬ zung nicht im logischen, sondern nur im psychologisch-empi¬ rischen Sinne zwingen. Der bisherige Gebrauch der Regel, ihre Erklärung usw. fixieren ihre korrekte Verwendung und damit ihre Kenntnis nur in Abhängigkeit von unseren Reaktionen auf vergangenen Gebrauch und erhaltene Erklärungen. Will man also daran festhalten, daß der Inhalt einer Regel und ihr bisheriger Gebrauch eine bestimmte Anwendung festlegen, tun sie dies eben nur in einem empirischen, nicht in einem logischen Sinn.

133

134

KLAUS PUHL

5.7 Die Korrektheit des Befolgens einer ist von ihrem etablierten Gebrauch

Regel

nicht zu trennen

wichtig zu verstehen,

daß für Wittgenstein die Art und wie wir auf den Weise, vergangenen Gebrauch und auf Erklä¬ unserer Natur verdankt, aber den¬ zwar sich rungen reagieren, noch einen normativen Charakter hat, d. h. ein gefordertes Be¬ Es ist

folgen von Regeln, allerdings nicht von ausdrücklich formulier¬ ten, darstellt:

Wir können

davon reden, daß Menschen durch Erzie¬ hung (Abrichtung) dahin gebracht werden, die Formel y x2 so zu verwenden, daß Alle, wenn sie die gleiche Zahl für x einsetzen, immer die gleiche Zahl für y herausrechnen. Oder wir können sagen: "Diese Menschen sind so abgerichtet, daß sie alle auf den Befehl ,+3' auf der gleichen Stufe den gleichen Ubergang machen." Wir könnten dies so ausdrücken: "Der Befehl ,+3' bestimmt für diese Menschen jeden Übergang von einer Zahl zur nächsten völlig." (Im Gegensatz zu andern Menschen, die auf diesen Befehl nicht wissen, was sie zu tun haben; oder die zwar mit völliger Sicherheit, aber ein jeder in anderer Weise, auf ihn reagieren.) (PU 189) etwa

=

"Daß Alle, wenn sie die gleiche Zahl für x einsetzen, immer die

gleiche Zahl für y herausrechnen" und damit die Formel y x2 korrekt verwenden, läßt sich selber nicht mehr weiter begrün¬ den. Jede Begründung müßte ja, um einzuleuchten, unsere ge¬ meinsame Reaktion voraussetzen. Dennoch befolgen wir, indem wir so reagieren, Regeln, da man sonst nicht sagen könnte, die Zahlen, die wir herausrechnen, seien korrekt. Der wesentlichen Rolle der Anwendung für die Konstitution der Regelforderung und ihres Verstehens hält der Vertreter der Regelautonomie in PU 147 entgegen, er müsse nicht, um zu wissen, wie er das Bildungsgesetz verstehe, warten, bis er es angewendet habe, bzw. sich an seine frühere Anwendung erin¬ nern; außerdem beziehe sich die Regelkenntnis auf eine unend¬ liche Zahlenreihe, während die Zahl der Anwendungen und Reaktionen nur endlich sei: =

REGELFOLGEN

"Wenn ich sage, ich verstehe das Gesetz einer Reihe, so sage ich es doch nicht auf Grund der Erfahrung, daß ich bis jetzt den algebraischen Ausdruck so und so angewandt habe! Ich weiß doch von mir selbst jedenfalls, daß ich die und die Reihe meine; gleichgültig, wie weit ich sie tatsächlich entwickelt habe." [...] Und du wirst vielleicht sagen: "Selbstverständlich! denn die Reihe ist ja unendlich und das Reihenstück, das ich entwikkeln konnte, endlich."(PU 147)

Gegner recht hätte, könnte man nach Wittgensteins Konzeption eine Regel weder meinen noch verstehen, bevor Wenn der man

sie

angewendet hat, was einer reductio ad absurdum gleich¬

käme. Die hier vom Gegner eröffnete Alternative zwischen anwendungs- und damit erfahrungsunabhängigem Meinen und Verstehen der Regel einerseits und ihrer Abhängigkeit von der tatsächlichen Anwendung gibt es jedoch für Wittgenstein nicht. Zwar versteht und meint jemand eine Regel nur, wenn er sie korrekt anwenden kann. Da die Korrektheit von dem gesell¬ schaftlich etablierten Gebrauch der Regel nicht zu trennen ist, bestimmt die Weise, wie man eine Regel meint, durchaus ihre zukünftige Anwendung, ohne daß man sich jedesmal an die frühere Verwendung erinnern und ohne daß man auf die zukünf¬ tige warten muß.6 Das algebraische Bildungsgesetz in bestimm¬ ter Weise zu meinen, heißt nach Wittgenstein eben, sich seiner etablierten Anwendung zur Bildung der betreffenden Zahlenrei¬ he anzuschließen. Um dies zu zeigen, erörtert Wittgenstein aus¬ führlich, was wir meinen, wenn wir von uns selbst und anderen sagen, eine Regel werde verstanden oder gekannt. PU 148-184 untersucht die Gleichsetzung des Verständnisses mit einem ex¬ pliziten Wissen. In PU 150 vergleicht Wittgenstein die Regel¬ kenntnis mit einem Können und dem Beherrschen einer Tech¬ nik, wie z. B. das ABC kennen oder Radfahren. Schließlich weiß man auch im voraus, was zu tun ist, um Rad zu fahren, wenn man 6 Ob sich die Korrektheit einer Regel dadurch definiert, daß Alle sie in einer bestimmten Weise anwenden, d. h. ob z. B. 2 + 2 deshalb 4 ergibt, weil alle in diesem Ergebnis übereinstimmen, oder Dinge rot sind, weil sie von Allen "rot" genannt werden, ist eine Frage, die hier nicht diskutiert werden kann. Gegen eine einfache Antwort spricht z. B. PU 241 und 242.

135

136

KLAUS PUHL radfahren kann. PU 149 kritisiert z. B. den gegnerischen Schritt, die Kenntnis des ABCs oder die Fähigkeit, Rad zu fahren, einen "Zustand der Seele" oder treffender des "Seelenapparates" zu nennen. Mit diesem Zustand ist eine Disposition gemeint, also etwas, das sich im Aufsagen des ABCs oder im Radfahren äußern würde, aber unabhängig von seinen Äußerungen etwa als men¬ taler Zustand oder als Hirnzustand identifiziert werden könn¬ te. Das Ergebnis dieser Untersuchungen ist für den Vertreter eines autonomen Regelverständnisses ungünstig: Keine der un¬ tersuchten Weisen der Regelkenntnis läßt sich anwendungsun¬ abhängig erklären. Dennoch betont Wittgenstein aber, daß "das Meinen die Ubergänge zum Voraus bestimmt" (PU 190). Daß die Kenntnis einer algebraischen Bildungsregel eine Fertigkeit ist, die sich auf unendlich viele Zahlen bezieht, bereitet Wittgenstein weniger Probleme als der gegnerischen Auffassung. Für Wittgenstein zeigt sich das Verständnis der Bildungsregel in der Weise, wie sie für beliebige Zahlen ver¬ wendet wird. Der unendlich große Anwendungsbereich des Verständnisses drückt sich darin aus, daß ohne Ende immer wieder neue Zahlen angegeben werden können, auf die die Regel anzuwenden ist. Der Anhänger autonomer Regeln meint dagegen, die Kenntnis der Regel müsse darin bestehen, daß man schon jetzt von allen Zahlen wisse, wie sie der Regel gemäß hinzuschreiben sind. (,"Die Ubergänge sind eigentlich alle schon gemacht; auch ehe ich sie schriftlich, mündlich, oder in Gedanken mache.'" PU 188) Wir haben schon gese¬ hen, daß jede Formulierung oder Repräsentation dieses Wis¬ sensinhalts z. B. eine Formel, die einem einfällt oder die man aufsagt mit verschiedenen Anwendungen vereinbar ist. Das für den algebraischen Fall zusätzlich entstehende Problem lau¬ tet: Wie kann ein Inhalt von sich aus für unendlich viele Fälle im voraus die korrekte Verwendung der Regel fixieren? Witt¬ gensteins Antwort lautet natürlich: überhaupt nicht, da es schon für endlich viele Fälle nicht funktioniert. Die folgenden Abschnitte (bis PU 197) führen den Gedanken aus, daß das Meinen und Verstehen einer Regel oder eines Aus¬ drucks nicht nur im Gebrauch eines Regelausdrucks oder dem Erfassen seiner Erklärung bestehen kann, sondern auch darin, daß man die Regel entsprechend der etablierten Praxis anzu¬ wenden beabsichtigt oder anzuwenden lernt. In diesem Sinne -

-

-

-

REGELFOLGEN kann das Meinen also auch nach zum Voraus bestimmen":

Wittgenstein "die Ubergänge

nun sagen: "Wie die Formel gemeint wird, das welche bestimmt, Ubergänge zu machen sind." Was ist das Kriterium dafür, wie die Formel gemeint ist? Etwa die Art und

Man kann

Weise, wie wir sie ständig gebrauchen, wie uns gelehrt wurde, sie zu gebrauchen. [...] So kann also das Meinen die men.

(PU 190)

Ubergänge zum Voraus bestim¬

Wo ist die Verbindung gemacht zwischen dem Sinn der Worte "Spielen wir eine Partie Schach!" und allen Regeln des Spiels? Nun, im Regelverzeichnis des Spiels, im Schachunterricht, in der täglichen Praxis des Spielens. (PU 197)

-

5.8

"Die gemeinsame menschliche Handlungs¬ weise ist das

Bezugssystem ..."

Kommen wir

zu PU 198-202, den in letzten Jahren vor allem durch Kripkes provokante Interpretation vermutlich am meisten diskutierten Abschnitten der "Philosophischen Untersuchun¬ gen". Kripke meinte in ihnen Wittgensteins Bedeutungsskep¬ tizismus samt skeptischer Lösung zu entdecken. Ein weiterer Streitpunkt ist die Frage, ob Wittgenstein mit der These vom Praxischarakter der Regelfolgen die Sozialität oder die mit der sozialen Isoliertheit des Regelfolgers verträgliche Regelmäßigkeit und Mehrfachanwendung betont.7 In PU 198 kommt Wittgen-

7 Die Frage, ob die Gesellschaftlichkeit für das Regelfolgen wesentlich ist, kann an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden. Eine soziale Interpretation des Regelbegriffs vertreten z. B. von Savigny 1996, N. Malcolm 1986, S. Kripke 1987 und M. Williams 1991. Zur Gegenseite gehören D. Pears 1988, G. Baker/ P. Hacker 1985, J. McDowell 1984 und C. McGinn 1984. Eine Motivation für die soziale Auffassung des Regelfolgens liegt in der Interpretation Wittgensteins, wonach das Argument gegen die Möglichkeit einer Privatsprache (PU 243-315) eine bloße Konsequenz der Betrachtungen zum Regelfolgen und eigendich schon mit PU 202 abgeschlossen ist. (E. v. Savigny ist hier eine Ausnahme.) Demnach wäre der Privatsprachler jemand, der versuchen würde, einer Regel sozial isoliert zu folgen. "Privatim" aus PU 202 müßte also "sozial isoliert" meinen. (Für eine Kritik dieser Strategie siehe Puhl 1991.)

137

13 8

KLAUS PUHL stein wieder auf den Regreß aus PU 141 zu sprechen, den er nun als einen Deutungsregreß behandelt. Wenn der Regelausdruck anwendungsunabhängig eine bestimmte Anwendungsregel fest¬ legen kann, muß ein Verstehen der Regel in der richtigen Deu¬ tung ihres Ausdrucks bestehen. Wie aber schon PU 141 und 142 zeigten, sind verschiedene Anwendungen mit der Repräsenta¬ tion der Regel vereinbar. Die Deutung alleine kann mir also nicht sagen, worin die richtige Anwendung besteht:

"Aber wie kann mich eine Regel lehren, was ich an dieser Stelle

habe? Was immer ich tue, ist doch durch irgend eine Deutung mit der Regel zu vereinbaren." Nein, so sollte es nicht heißen. Sondern so: Jede Deutung hängt, mitsamt dem Gedeuteten, in der Luft; sie kann ihm nicht als Stütze die¬ nen. Die Deutungen allein bestimmen die Bedeutung nicht. zu tun

-

(PU 198)

Regreß verursachen also nicht die verschiedenen Deu¬ tungsmöglichkeiten als solche, sondern die gegnerische Auffas¬ Den

sung, die lautet, daß mein Gebrauch eines Wortes durch einen Regelausdruck geleitet wird "addiere 2!", Würfelbild, alge¬ braische Formel, Wegweiser -, der mir vor diesem Gebrauch zur Verfügung steht und der von mir richtig gedeutet werden muß, soll ich wissen, was zu tun ist. Eine solche Deutung würde aber nur den ursprünglichen Regelausdruck ersetzen, wäre also selber ein weiterer Ausdruck und müßte ebenfalls gedeutet werden, und so weiter. Deshalb hängt "jede Deutung, mitsamt dem Gedeuteten, in der Luft" und bestimmen "Deutungen allein die Bedeutung nicht". Das Resultat wäre die Auflösung der normativen und der handlungsleitenden Funktion der Regel: -

Unser Paradox war dies: eine Regel könnte keine Handlungs¬ weise bestimmen, da jede Handlungsweise mit der Regel in Ubereinstimmung zu bringen sei. Die Antwort war: Ist jede mit der Regel in Ubereinstimmung zu bringen, dann auch zum Widerspruch. Daher gäbe es hier weder Ubereinstim¬ mung noch Widerspruch. Daß da ein Mißverständnis ist, zeigt sich schon darin, daß wir in diesem Gedankengang Deutung hinter Deutung set¬ zen; als beruhige uns eine jede wenigstens für einen Augen-

REGELFOLGEN bis wir an eine Deutung denken, die wieder hinter dieser liegt. Dadurch zeigen wir nämlich, daß es eine Auffas¬ sung einer Regel gibt, die nicht eine Deutung ist; sondern sich,

blick, von

Fall der Anwendung, in dem äußert, was wir "der folgen", und was wir "ihr entgegenhandeln" nennen.

Fall

Regel

zu

(PU 201)

Löst sich der Unterschied zwischen Befolgung und Verletzung der Regel auf, kann es auch keine Regel mehr geben, die uns sagen könnte, was zu ihrer Befolgung zu tun ist, und auf die wir uns berufen könnten, um unser Tun zu rechtfertigen. Das Resul¬ tat wäre der Zusammenbruch eines unter Korrektheitsbedin¬ gungen stehenden Sprachgebrauchs und von Sprache und Be¬

deutung überhaupt. Deshalb wiederholt Wittgenstein sogleich seine Beteuerung aus PU 198 und betont, das Paradox sei nicht das eigene, sondern verdanke sich dem nun schon bekannten Mißverständnis, das Erfassen der Regel bestehe in einer Deu¬ tung. In PU 198-202 erläutert Wittgenstein auch seine eigene Kon¬ zeption des Regelfolgens, um sie dann in den folgenden vierzig Abschnitten genauer auszuführen:

"Also ist, was immer ich tue, mit der Regel vereinbar?" Laß mich so fragen: Was hat der Ausdruck der Regel sagen wir, der Wegweiser mit meinen Handlungen zu tun? Was für eine Verbindung besteht da? Nun, etwa diese: ich bin zu einem bestimmten Reagieren auf dieses Zeichen abgerichtet worden, und so reagiere ich nun. Aber damit hast du nur einen kausalen Zusammenhang angegeben, nur erklärt, wie es dazu kam, daß wir uns jetzt nach dem Wegweiser richten; nicht, worin dieses Dem-Zeichen-Folgen eigentlich besteht. Nein; ich habe auch noch angedeutet, daß sich Einer nur insofern nach einem Wegwei¬ ser richtet, als es einen ständigen Gebrauch, eine Gepflogen¬ -

-

-

-

heit, gibt. (PU 198) Darum ist

,der Regel folgen' eine Praxis. Und der Regel

zu

folgen glauben Regel folgen. Und darum kann man nicht der Regel ,privatim' folgen, weil sonst der Regel zu folgen glauben dasselbe wäre, wie der Regel folgen. (PU 202) ist nicht: der

139

140

KLAUS PUHL richtet sich nach einem Wegweiser nur, wenn es die Institution oder Praxis des Sich-nach-Wegweisern-Richtens gibt. Deshalb meint "Abrichten" nicht bloß eine kausale Kondi¬ tionierung, sondern das Erlernen, wie man an dieser Praxis teilnimmt, ohne daß dabei Deutungen eine besondere Rolle spielen. PU 202 betont zusammenfassend den Praxischarakter des Regelfolgens, der für den Einzelnen Korrektheitsstandards setzt. (Eine Praxis kann man mehr oder weniger gut oder über¬ haupt nicht beherrschen.) Jemand, der der Regel auf Grund von Deutungen folgen würde, würde ihr dagegen "privatim" folgen, weil er in derselben Situation wäre wie einer, der nur glaubt, der Regel zu folgen, und für den dieser Glaube die einzige Uberprü¬ fungsmöglichkeit dafür wäre, ob er der Regel wirklich folgt. Zum Praxischarakter gehört die Regelmäßigkeit, d. h. die mehrfache Anwendung der Regel, wie PU 199 im Zusammen¬ hang mit der Frage, ob Regelfolgen ein einziges Mal stattfin¬ den könne, betont:

Jemand

wir

"einer Regel folgen"

was nur ein Und das ist könnte? Mensch, Leben, natürlich eine Anmerkung zur Grammatik des Ausdrucks "der

Ist,

was

nur

einmal im

nennen, etwas,

tun

-

Regel folgen".

Es kann nicht ein einziges Mal nur ein Mensch einer Regel gefolgt sein. Es kann nicht ein einziges Mal nur eine Mittei¬ lung gemacht, ein Befehl gegeben, oder verstanden worden sein, etc. Einer Regel folgen, eine Mitteilung machen, einen Befehl geben, eine Schachpartie spielen sind Gepflogenheiten -

(Gebräuche, Institutionen). Einen Satz verstehen, heißt, eine Sprache verstehen. Sprache verstehen, heißt eine Technik beherrschen.

Eine

PU 237 fordert ausdrücklich Regelmäßigkeit und nennt noch die Lernbarkeit als Bedingung für den regelfolgenden Charakter eines Verhaltens. Für den Verfechter autonomer, anwendungsunabhängiger Re¬ geln ist es natürlich durchaus möglich, daß einer Regel nur einmal von einem Menschen gefolgt wird, ja daß sie überhaupt nicht befolgt wird. Aus dem gleichen Grund bedarf es auch keiner Institution des Regelfolgens, und es wäre "denkbar, zwei Leute spielten in einer Welt, in der sonst nicht gespielt wird,

REGELFOLGEN eine Schachpartie, ja auch nur den Anfang einer Schachpartie, und würden dann gestört." (PU 205) Wenn es die Praxis und Institution des Regelfolgens gibt, kann es natürlich auch Witt¬ genstein zufolge (formulierte) Regeln geben, die nicht oder nur einmal von einem Einzigen befolgt werden, und Regeln, denen ein Einzelner, ohne es zu wissen, folgt. Die vorausgesetzte Insti¬ tution, Gepflogenheit des Regelfolgens muß wegen des andern¬ falls drohenden Festsetzungsregresses (siehe oben) in der Praxis bestehen, Regeln zu folgen, die nicht ausdrücklich formuliert und festgesetzt sind. PU 204 macht das deutlich: Damit Einer ein Spiel erfinden kann, muß es die Praxis des Spielens geben, von der weiter oben (PU 82, 83) schon gezeigt wurde, daß sie nicht nur im Befolgen ausdrücklich und im voraus formulierter Re¬ geln bestehen kann. Ob es sich bei dieser Praxis um eine grund¬ sätzlich soziale handeln muß oder ob sie auch von einem sozial isolierten Wesen etabliert werden kann, ist eine Frage, die hier nicht diskutiert werden kann. Zumindest ist klar, daß Regelmä¬ ßigkeit und Lernbarkeit insofern soziale Begriffe sind, als sie nur auf ein Verhalten zutreffen, das auf dem Hintergrund unserer Praxis als regelfolgendes beschreibbar ist. Auch hat Wittgen¬ stein die früheren Manuskriptstellen, in denen er sozial isoliertes Regelfolgen zuläßt, solange es von uns gelernt werden kann, in den Text der "Philosophischen Untersuchungen" nicht aufge¬ nommen.8 In den folgenden Abschnitten bis PU 242 vertieft Wittgen¬ stein seine praxisbezogene Konzeption des Regelfolgens. Vor allem betont er, daß zum Befolgen einer Regel oder zur Anwen¬ dung eines Wortes weder jedesmal eine Intuition (213, 214, vgl. 186) oder Inspiration (232, 237) noch eine Wahl (219) notwen¬ dig sind. Wir folgen der Regel blind (219) "mit völliger Sicher¬ heit" (212), ohne Gründe (211,212) und sind Fehlern ausgesetzt

-

(208).

Wttgensteins Regelfolger ist nicht das egozentrische und hauptsächlich denkende und re-präsentierende Subjekt der Phi¬ losophiegeschichte (wozu auch der "Tractatus" gehört), sondern vor allem ein aktives und soziales Wesen. Als Mitglied einer Sprachgemeinschaft eignet es sich jene etablierten Reaktionen 8 Baker/Hacker

(1985) führen diese Stellen an. (169-179)

141

142

KLAUS PUHL und Verhaltensweisen an, die das Regelfolgen und den Sprach¬ gebrauch ausmachen und die einen konstitutiven Beitrag zur Festlegung von Regeln, zu ihrer Geltung und zu ihrer Kenntnis leisten.9

Literatur G. P. Baker/E M. S. Hacker 1985, Wittgenstein. Rules, Grammar and Necessity, Volume 2 of an Analytical Commentary on the Fhilosophical Investigations, Oxford. S. Kripke 1987, Wittgenstein über Regeln und Erivatsprache, Frankfurt a. M. N. Malcolm 1986, Nothing is Hidden, Oxford. J. McDowell 1984, Wittgenstein on Following a Rule, Synthese 58, 325-363. C. McGinn 1984, Wittgenstein on Meaning, Oxford. D. Fears 1988, The False Erison, Vol II, Oxford. K. Fuhl 1991, .Bedeutungsplatonismus und Regelfolgen', Grazer Philosophische Studien 41, 105-125. K. Puhl (Hg.) 1991a, Meaning Scepticism, Berlin/New York. E. v. Savigny 1994, Wittgensteins "Philosophische Untersuchungen": Ein Kom¬ mentar für Leser, Bd. 1,2. Aufl., Frankfurt. E. v. Savigny 1996, Der Mensch als Mitmensch. Wittgensteins "Philosophische Untersuchungen", München. M. Williams 1991, Blind Obedience, Rules, Community and the Individual, in Euhl 1991a, 93-125.

9 Ich danke E.

v.

Savigny und Monika Seidl für hilfreiche Kommentare.

_6 Stewart Candlish

Wittgensteins Privatsprachenargumentation

6.1 Ein Problem der

Wittgensteinlektüre besteht darin, daß man Schriften ohne Interpretationshilfe vielleicht un¬ Wittgensteins verständlich findet, während viele der verfügbaren Interpreta¬ tionen derart irreführend sind, daß ihre Hinderlichkeit den Nut¬ zen überwiegt. Das gilt insbesondere für die Vorstellung von einer Privatsprache. Bei diesem Thema wird die Situation durch den schieren Umfang der Sekundärliteratur verschlimmert, denn hier hat das Schrifttum so gewaltige Ausmaße angenom¬ men, daß es im einzelnen gar nicht mehr zu überblicken ist. Dieser unbefriedigenden Situation möchte ich abzuhelfen ver¬ suchen. Dazu werde ich erstens die bisherigen Interpretationen in eine ungefähre Klassifikation einordnen, die dem Leser helfen wird, sich in dieser Literatur zurechtzufinden. Der zweite und wichtigere Schritt besteht darin, daß ich den Leser zum Text zurückzuführen versuche, indem ich die zentrale Privatsprachenargumentation durch eine Darstellung erläutere, die insofern kohärent ist, als sie Wittgensteins eigene Anordnung¿z//?r Bemer¬ kungen des ausschlaggebenden Teils der "Philosophischen Un¬

tersuchungen" (PU 256-271) respektiert.1 Diese Beschränkung 1 Das sind die Abschnitte, auf die sich von jetzt an die Bezeichnung "die Privatsprachenargumentation" bezieht, womit ich keineswegs fälschlich suggerieren möchte, das sei die einzige relevante Gruppe von Überlegungen, die Wittgen¬ stein zu diesem Thema vorlegt.

144

STEWART CANDLISH auf ein recht kleines, aber höchst wichtiges Stück des Wittgensteinschen Textes sollte die Möglichkeit geben, meine Vorschläge ohne Mühe zu überprüfen und nötigenfalls zu korrigieren. Die meisten Ansichten zum Thema Privatsprache lassen sich in einer der drei folgenden Kategorien unterbringen: Die größte und historisch älteste dieser Kategorien nenne ich die altortho¬ doxe Lehre, der sowohl Kritiker als auch Befürworter Wittgen¬ steins anhängen. Als Repräsentant dieser Richtung wird hier Robert Fogelin gewählt.2 Zur zweiten Kategorie gehört ein Grüppchen von Autoren, die in den siebziger Jahren Einwände gegen eine von allen Vertretern der altorthodoxen Lehre vor¬ ausgesetzte Grundannahme erhoben haben. Die prominente¬ sten Angehörigen dieser Gruppe sind Oxford-Philosophen, die sich die Aufgabe gestellt haben, Wittgenstein zu interpretieren und gegenüber der philosophischen Welt zu verteidigen. Als ihr Stellvertreter sei hier Anthony Kenny genannt, dessen Einfluß in die Augen springt.3 Zur dritten Kategorie gehören die Auto¬ ren, die in neuerer Zeit Probleme erörtern, die sich aus Saul Kripkes bekannter Deutung der Privatsprachenargumentation ergeben.4 Auf sie werde ich später eingehen. Fogelin und Kenny werden hier unter anderem deshalb als Repräsentanten gewählt, weil beide bemüht sind, die Privatspra¬ chenargumentation auf eine im oben angedeuteten Sinne kohä¬ rente Weise zu deuten (während die meisten Interpreten Bemer¬ kungen aus dem Text herauslösen, die ihren eigenen Absichten entsprechen, unbequeme Textstellen jedoch außer acht lassen). Ich werde zwar geltend machen, daß keiner dieser beiden Versu¬ che gelingt (und Kennys Vorschlag überdies halbherzig ist), aber beide lassen immerhin erkennen, daß sie sich über die Notwen¬ digkeit im klaren sind, dieser Mindestforderung der Interpreta¬

tion

zu

entsprechen.

Fogelin 1976. Kenny 1973. Peter Hacker schreibt in der Einleitung seines ersten Wittgen¬ stein-Buchs (Hacker 1972), seine eigene Interpretation der Privatsprachenargu¬ mentation sei wesentlich von Kennys Auffassung geprägt. 4 Kripke 1982. 2 3

WITTGENSTEINS PRIVATSPRACHENARGUMENTATION

6.2 Eine weitere Anforderung an eine befriedigende Interpretation der Privatsprachenargumentation verlangt, daß es möglich sein muß zu erkennen, wie sie in den Gesamtaufbau der "Philosophi¬ schen Untersuchungen paßt. Unmittelbar vor Beginn dieser Ar¬ gumentation (PU 241 f.) deutet Wittgenstein an, die Existenz der den Sprachgebrauch bestimmenden und die Verständigung ermöglichenden Regeln sei abhängig von der Übereinstimmung des menschlichen Verhaltens. Z. B. reagierten Menschen im all¬ gemeinen so übereinstimmend, daß es möglich sei, Kinder im Gegensatz zu Katzen durch Zeigen dazu abzurichten, auf das Gezeigte zu blicken (vgl. PG S. 94). Eine Aufgabe der Privat¬ sprachenargumentation besteht darin, deutlich zu machen, daß nicht nur unsere wirkliche Sprache, sondern sogar die Möglich¬ keit der Sprache und der Begriffsbildung auf der Möglichkeit dieser Übereinstimmung beruht. Eine weitere und mit dieser zusammenhängende Aufgabe besteht im Wderstand gegen die Vorstellung, uns stünden metaphysische Absolutheiten zu Ge¬ bote und wir seien imstande, die Welt in ihrem Ansichsein auf¬ zuspüren und insofern in den Griff zu bekommen, als jede ande¬ re Vorstellung von ihr falsch sein müsse (vgl. PU S. 578/230). Für Philosophen besonders verlockend ist die Annahme, Bei¬ spiele für derart absolute Erkenntnisse seien Zahlen und Emp¬ findungen: sich selbst identifizierende Gegenstände, die uns die Regeln für den Gebrauch ihrer Namen von sich aus aufzwingen. Die Zahlen behandelt Wittgenstein im Teil über Regeln (PU 185-242; weitere ausführliche Erörterungen finden sich in anderen Schriften). Zu manchen dieser Ausführungen gibt es im Rahmen von Wittgensteins Erörterung der Empfindungen ge¬ naue Entsprechungen, denn in beiden Bereichen liegt die glei¬ che Verwirrung hinsichtlich der Art und Weise zugrunde, in der der Akt des Meinens die künftige Anwendung einer Formel oder eines Namens bestimmt. Bei den Zahlen besteht die Verlokkung, die mathematische Bedeutung von "bestimmen" mit der kausalen zu verwechseln. Im mathematischen Sinne "bestimmt" etwa die Formel y 2x den Zahlenwert von y für einen gegebe¬ nen Wert von x (im Gegensatz zu y > 2x, wo das nicht der Fall ist), während es im kausalen Sinne z. B. durch die mathema¬ tische Ausbildung bestimmt wird, daß normale Menschen stets "

-

-

=

145

146

STEWART CANDLISH denselben Wert für j hinschreiben werden, sofern die erste For¬ mel und ein Wert für x gegeben sind (der Gegensatz hierzu wären Lebewesen, bei denen eine solche Ausbildung ein buntes Gemisch von Ergebnissen bewirkt, vgl. PU 189). Diese Ver¬ wechslung löst die Einbildung aus, das Ergebnis einer richtig ausgeführten wirklichen Rechnung sei das unumgängliche Re¬ sultat der mathematischen Bestimmung, so als wäre der Gang der Ereignisse von der Bedeutung der Formel selbst geprägt. Bei den Empfindungen liegt die entsprechende Verlockung in der Annahme, Empfindungen täten sich von selbst kund. So scheint es sich beispielsweise mit den Schmerzen zu verhalten: Man fühle unmittelbar, was Schmerzen sind; man brauche der Empfindung nur einen Namen zu geben, und auf der Stelle seien die Regeln für den späteren Gebrauch des Namens festge¬ legt. Daß sich dieser Eindruck einer Einbildung verdankt, ver¬ sucht Wittgenstein ebenso deutlich zu machen wie die Einsicht, daß sich auch die Identität der Schmerzen erst aus einer gemein¬ samen Praxis der Äußerung, des Reagierens und des Sprachge¬ brauchs herleitet. Wären Schmerzen etwas metaphysisch Abso¬ lutes, das mir seine Identität in der gekennzeichneten Weise aufzwingt, wäre die Möglichkeit einer solchen gemeinsamen Praxis ohne Belang für den Schmerzbegriff. Denn das Wesen des Schmerzes würde mir in einem einzigen geistigen Akt seiner Benennung offenbart, alle späteren Fakten bezüglich der Ver¬ wendung des Namens wären irrelevant für die Bedeutung des Namens, und der Name selbst könnte etwas Privates sein. Aus der Privatsprachenargumentation ergeben sich folgende Schlüs¬ se: solche späteren Fakten können nicht belanglos sein; Namen können nichts Privates sein; die Vorstellung von der Offenba¬ rung des eigentlichen Wesens einer Empfindung durch einen einzigen Akt unmittelbaren Kennenlernens ist konfus.

6.3 Nachdem Wittgenstein die Idee der Privatsprache in PU 243 ins Spiel gebracht hat, legt er im Rahmen einer vorläufigen Erörte¬ rung (PU 244-255) dar, daß es zwei Bedeutungen des Wortes "privat" gibt, die dem Philosophen hier vorschweben könnten; doch natürliche Sprachen (wie das Deutsche) seien faktisch in

WITTGENSTEINS PRIVATSPRACHENARGUMENTATION

Bedeutungen privat. Sodann wendet sich der Frage zu, ob es überhaupt eine in PU 256 Wittgenstein könne. Dabei spricht er zwar weiterhin private Sprache geben von Empfindungen und vom Beispiel der Schmerzen, doch hier sollte man bedenken, daß es sich nicht um unsere Empfindungen die Alltagsfakten des menschlichen Daseins handelt, sondern um die Empfindungen eines Wesens von der Art einer cartesianischen Seele (die womöglich, wie in PU 257 und 283 ange¬ deutet wird, mit einem physischen Körper verbunden ist), und das wäre ein Wesen ohne öffentlich zugängliches Leben, aber mit entsprechend privaten "Empfindungen" das heißt, bei ihnen würde es sich nicht um die alltäglichen Tatsachen der menschlichen Existenz selbst handeln, sondern um die vermeint¬ lichen Muster von philosophischen Erklärungen dieser Tatsachen. In PU 256 deutet Wittgenstein an, durch Betrachtung einer natürlichen Sprache könne man eigentlich nicht zur Vorstellung von einer privaten Sprache gelangen, denn natürliche Sprachen seien nicht privat, da unsere Empfindungen hier zum Ausdruck gebracht werden. Aber ebenso unmöglich sei es, zu dieser Vor¬ stellung zu gelangen, indem man wie er anschließend erwägt von einer natürlichen Sprache ausgeht und einfach alle Empfin¬ dungsäußerungen von ihr subtrahiert (zeitweilige Lähmungser¬ scheinungen stehen nicht zur Debatte). Denn selbst wenn es in einer solchen Situation, in der das Lehren unmöglich ist, eine Sprache geben könnte, so sei doch, wie er in PU 257 sagt, durch die an früherer Stelle (PU 33-35) dargelegte Argumentation bezüglich der hinweisenden Definition gezeigt worden, daß die bloße "geistige Assoziation" einer Sache mit einer anderen allein nicht ausreiche, um die eine zum Namen der anderen zu ma¬ chen. Die Benennung der eigenen Empfindung setze die Vorbe¬ reitung eines Postens für das neue Wort voraus, d. h. sie verlange einen Empfindungsbegriff. Der Versuch der Benennung einer Empfindung in einem begrifflichen Vakuum werfe nur Fragen auf wie: Worin soll dieses Verfahren eigentlich bestehen? Und welchem Zweck soll es dienen? Doch um nun zum Kern der Sache vorzudringen, schiebt Wittgenstein die erste Frage beisei¬ te und tut so, als sei es im Hinblick auf die zweite ausreichend, wenn man sich in der Vorstellung in die Lage versetze, in der man, um über die eigenen Empfindungen Tagebuch zu führen, den Grundstein für eine private Sprache legt. keiner dieser beiden

-

-

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147

148

STEWART CANDLISH

6.4 Aber er hat immer noch eine steile Hürde vor sich, die ihn daran hindert, das Thema überhaupt zu behandeln, nämlich den Um¬ stand, daß er zur Erörterung der Sache bestimmte Wörter be¬ nutzen muß, deren Zulässigkeit eben in Frage steht. Daher ist er in PU 258 gezwungen, Handlungen wie das hinweisende Defi¬ nieren, das Konzentrieren der Aufmerksamkeit, Sprechen, Schreiben, Erinnern, Glauben usf. zu erwähnen, während er doch gerade darauf hinauswill, daß in der betrachteten Situation eigentlich nichts von alledem möglich ist. (Ebendarum geht es auch in PU 261: eine angemessene Beschreibung dieser Situa¬ tion könnte man nur mit Hilfe eines unartikulierten Lauts ge¬

ben.) Von den

Interpreten ist diese Schwierigkeit häufig übersehen

worden, was besonders im Hinblick auf das Verständnis des als nächstes zu besprechenden Tagebuch-Beispiels unerfreuliche Resultate gezeitigt hat. Fogelin etwa behandelt dieses Beispiel als einen Fall, in dem er selbst ein lebendiger Mensch mit menschlichem Körper ein Tagebuch führt und die Vorkomm¬ nisse einer Empfindung festhält, die er niemandem sonst zu schildern vermag. Hier sollte ein für allemal klargestellt werden, daß wir uns die Beschreibung des Tagebuch-Führens nicht so vorstellen dürfen, als handele es sich um einen möglichen oder letztlich sogar verständlichen Fall. Vor allem dürfen wir uns nicht vorstellen, daß hier ein Mensch Tagebuch führt. (Siehe oben, Abschnitt 3!) Daher ist es wichtig für die Argumentation, daß das Tagebuch-Beispiel in der ersten Person vorgeführt wird, ohne daß wir unsererseits der Frage auf den Grund gehen: "Wer spricht da eigentlich?" In diesem Stadium dürfen wir uns einfach nicht den Kopf über die Frage zerbrechen, ob die TagebuchGeschichte letzten Endes sinnvoll ist oder nicht. Aber die Mög¬ lichkeit, daß sie vielleicht keinen Sinn hat, darf man nicht außer acht lassen, während man die anschließenden Ausführungen liest, die strenggenommen ständig von Gänsefüßchen verun¬ staltet sein müßten. (Ich werde hin und wieder Gänsefüßchen einsetzen, um diese Möglichkeit ins Gedächtnis zu rufen. Zu diesem Zweck werde ich französische Anführungszeichen be¬ -

-

nutzen.)

WITTGENSTEINS PRIVATSPRACHENARGUMENTATION

6.5

bisherigen Erkenntnisse zusammen: In PU 256 fragt Wittgenstein hinsichtlich der "privaten Sprache": "Wie bezeichne ich meine Empfindungen mit Worten?" In PU 257 Fassen wir die

erinnert er uns daran, daß wir nicht antworten können: "So, wie wir es normalerweise tun." Also ist unsere Frage, die auf das gleiche hinausläuft wie die Erkundigung nach möglichen Be¬ deutungen der in einer "privaten Sprache" verwendeten Aus¬ drücke, immer noch offen; und die Antwort muß von den wirk¬ lich hergestellten Verbindungen zwischen Wörtern und Empfin¬ dungen unabhängig sein. Um zu einer Antwort zu gelangen, macht Wittgenstein dem Vertreter der Privatsprachen-Theorie Beine und läßt ihn eine Runde drehen, indem er die Vorstel¬ lungen des Empfindens, Tagebuch-Führens usw. (trotz der in PU 257 geübten Kritik) einstweilen voraussetzt und sich nun ausmalt, er befinde sich in der Lage eines Privatsprachlers, der seine Empfindungen in einem Tagebuch festhält. Das Ziel ist

der Nachweis, daß dieser Privatsprachler selbst dann, wenn man ihm das einräumt, nicht imstande ist, einem Empfindungswort Bedeutung zu verleihen und diese Bedeutungszuschreibung durchzuhalten. Die ausschlaggebende Argumentation beginnt hier, in PU 258. Mit Bezug auf das Tagebuch-Beispiel weist Wittgenstein dar¬ aufhin, "daß sich eine Definition des Zeichens nicht aussprechen läßt". Das sagt Wittgenstein vermutlich nicht, um einen ihm

fernliegenden empiristischen Gesichtspunkt hervorzuheben,

sondern weil das ein Beispiel ist, in dem eine Sprache fundiert werden soll. Um dem »Zeichen« eine Bedeutung zu geben, muß demnach durch privates Tun eine hinweisende Definition gege¬ ben werden, indem ich mich auf die Empfindung konzentriere und zur gleichen Zeit das Zeichen verfertige. Bei diesem Tun kann aber nur dann eine echte und leistungsfähige hinweisende Definition herausspringen, wenn die Herstellung der Verbindung wirklich gelingt undvon Dauer ist. Wittgenstein schreibt dement¬ sprechend: ",Ich präge sie mir ein' kann doch nur heißen: dieser Vorgang bewirkt, daß ich mich in Zukunft richtig an die Verbin¬ dung erinnere." Denn durch bloß episodisches Achtgeben und Notieren ohne weitere Konsequenzen definiere ich gar nichts nicht einmal für mich selbst und erst recht nicht für andere. -

149

150

STEWART CANDLISH

6.6 An diesem Punkt sollten wir innehalten und die Worte "Ich erinnere mich in Zukunft richtig an die Verbindung" eingehen¬ der untersuchen. Diese Formulierung hat, wie Kenny hervor¬ hebt, ein entscheidendes und bleibendes Mißverständnis der ganzen Argumentation bewirkt. Denn normalerweise ist sie im

Forderung interpretiert worden, das Zeichen "E" eine Bedeutung zu erhalten, im behauptenden Ge¬ brauch von nun an stets als wahre Aussage bzw. in einer wahren Aussage verwendet werden. Das heißt, behauptend darf ich das Zeichen "E" nur dann gebrauchen, wenn ich wirklich die Emp¬ findung E habe (es sei denn, ich lüge was jedoch bei Selbstge¬ sprächen keine relevante Eventualität darstellt). Daher hat man gewöhnlich gemeint, die anschließende Argumentation betreffe die Zulänglichkeit der Erinnerung, die verhüten soll, daß ich später meine Empfindungen verkenne, indem ich künftig etwa eine andere Art von Empfindung als "E" bezeichne. Diese übli¬ che Darstellung der Argumentation wird von Kenny samt ihrer historischen Entwicklung wie folgt resümiert (S. 191 f.): Sinne der

müsse,

um

-

Von vielen Autoren sind die Worte "Ich erinnere mich richtig an diese Verbindung" im Sinne von "Ich verwende ,E' dann und nur dann, wenn ich wirklich E habe" aufgefaßt worden. Dann haben sie gemeint, Wittgenstein gehe es mit seiner Argumentation um eine skeptizistische Frage hinsichtlich der Erinnerung: Wieso kannst du sicher sein, daß du dich richtig erinnerst, wenn du beim nächsten Mal eine Empfindung "E" nennst? Zur Untermauerung dieser Interpretation zitieren sie dann vielleicht Wittgensteins Rat: "Eliminiere dir immer das private Objekt, indem du annimmst: es ändere sich fortwäh¬ rend; du merkst es aber nicht, weil dich dein Gedächtnis fortwährend täuscht" (PU II, S. 542/207). Die Kritiker Wittgensteins haben das so interpretierte Argu¬ ment ganz und gar nicht überzeugend gefunden. Die Zuver¬ lässigkeit der Erinnerung stelle den Benutzer einer privaten Sprache doch sicher nicht vor größere oder kleinere Proble¬ me als den Sprecher einer öffentlichen Sprache. Dagegen haben sich die Befürworter Wittgensteins wiederum mit dem Hinweis gewehrt, daß bei öffentlichen Gegenständen im -

WITTGENSTEINS PRIVATSPRACHENARGUMENTATION

Gegensatz zu privaten Empfindungen Erinnerungsfehler korrigiert werden können und daß dort, wo Korrekturen aus¬ geschlossen seien, auch von Korrektheit nicht die Rede sein dürfe. Daraufhin haben die Wittgenstein-Kritiker entweder bestritten, daß Wahrheit Korrigierbarkeit voraussetzt, oder sie haben zu zeigen versucht, daß auch im privaten Fall eine Uberprüfung möglich ist. -

Das ist das Wechselspiel von Kritik und Verteidigung, das ich als altorthodoxe Auffassung bezeichnet habe. Ein gutes Beispiel für diese orthodoxe Auffassung ist Fogelin, der auf S. 162-164 sei¬ nes Buches deutlich macht, daß Wittgensteins Argumentation seiner Meinung nach dem Versuch dient, sich gegenüber einer

allgemein skeptizistischen Einstellung zum Erinnerungsvermö¬ gen einen speziellen Vorteil zu sichern. (Fogelins Darstellung läßt sich leider nicht durch ein kurzes Zitat belegen.) Überdies gehört Fogelin zu beiden Gruppen der von Kenny unterschiede¬ nen Wittgenstein-Kritiker, insofern er sowohl bestreitet, daß Wahrheit (absolute) Korrigierbarkeit voraussetzt, als auch meint, daß eine (begrenzte) Überprüfung im privaten Fall tatsächlich möglich ist.5 Für die weite Verbreitung dieser Deutung der Argumentation gibt es nach meinem Eindruck drei Gründe: Erstens halten die Philosophen, die von der Vorstellung einer privaten Sprache nicht loskommen, im allgemeinen Ausschau nach einer Ord¬ nung der Dinge, in der faktische Irrtümer ausgeschlossen sind; d. h. sie versuchen den Skeptizismus durch die Entdeckung ab¬ soluter Gewißheit zu überwinden. (Als Beispiel wird normaler¬ weise Descartes zitiert.) Da dürfte es so aussehen, als seien skep¬ tische Argumente die natürliche Gegenwehr. So schreibt Foge¬ lin (auf S. 153): "Die Privatsprachenargumentation führt uns zu

dem vertrauten Feld zurück, auf dem schon viele Schlachten der neuzeitlichen Philosophie ausgetragen worden sind." Unmittel¬ bar anschließend spricht Fogelin dann von der Entdeckung des Erkenntnisfundaments in der subjektiven Selbstgewißheit. Zweitens ist es einleuchtend (wenn auch nicht unbedingt rich-

5 Allerdings ist Fogelin der Ansicht, Wittgenstein gelinge der Nachweis der weniger anspruchsvollen These der kontingenten Unmöglichkeit einer privaten Sprache.

I

51

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STEWART CANDLISH

tig) anzunehmen, daß man sich hinsichtlich der Beschaffenheit eigenen gegenwärtigen Empfindungen nicht irren kann. Diese Annahme wäre allerdings kaum noch zu vertreten, wenn sich beweisen ließe, daß die Vorstellung von einer privaten Spra¬ che die Konsequenz nach sich zieht, in diesem Bereich sei man genauso fehlbar wie in jedem anderen auch. Drittens ist es zu¬ mindest plausibel zu meinen, daß die richtige Bedeutungszu¬ ordnung zu Empfindungswörtern in Unfehlbarkeit resultieren könnte, denn es ist nicht klar, welche Möglichkeit außer verfehl¬ ter Bedeutungszuschreibung in Frage käme, wenn man eine Empfindung verkennt. Aber die Interpretation von PU 258, die ich hier im Anschluß an Kenny verfechten werde, stellt die Frage der Unfehlbarkeit bei künftigen Verwendungen des Zeichens "E" als für diese Argumentation belanglos hin. Kenny hat recht, wenn er im Hinblick auf die altorthodoxe Richtung schreibt: "Sowohl die Kritik als auch die Verteidigung beruhen auf einer Fehldeutung der Argumentation." Wenn man der

sich PU 258 genau anschaut, sieht man, daß sich "Ich erinnere mich an die Verbindung" auf die Erinnerung an eine Bedeutung die Bedeutung des Zeichens "E" bezieht, nicht auf die Feststel¬ lung, daß ich künftig nur E "E" nenne.6 Auch um bei einem künftigen Urteil einen faktischen Irrtum7 machen zu können, muß ich Ausdrücke benutzen, die eine Bedeutung haben. (Kenny sagt hier, ich müsse auch ihre Bedeutung kennen. Das scheint mehr zu beinhalten als bloß die "richtige Erinnerung an die Ver¬ bindung". Vielleicht hat Kenny recht, doch mit dieser Feststel¬ lung gerät er auf den im nächsten Abschnitt aufgezeigten Irrweg.)

-

-

6.7 da wir uns Klarheit über den Inhalt der Verbindung ver¬ schafft haben, an die man sich richtig erinnern soll, können wir uns dem Text von PU 258 zuwenden. Hier soll ich mir vorstel-

Jetzt,

6 Diese

Konsequenz

ist

freilich,

wie wir

gesehen haben,

zu

erwarten,

sich bei E um Empfindungen handelt, doch darauf kommt es nicht an. Es spielt also keine Rolle, ob diese Erwartung zutrifft. 7 Im Gegensatz zu einem Irrtum hinsichdich der Bedeutung.

an

wenn es

dieser Stelle

WITTGENSTEINS PRIVATSPRACHENARGUMENTATION zu wollen. Ich habe eine notiere zur gleichen Zeit das Zeichen "E", so und Empfindung wie ich in einem normalen Fall ein Zeichen durch hinweisende Definition einführen könnte. Anschließend »glaube« ich, die¬

len,

eine

private Sprache gebrauchen

sem Zeichen "E" eine Bedeutung verliehen zu haben, und ver¬ wende nun das Zeichen für das Urteil, daß ich jetzt wieder die gleiche Empfingung spüre. Was meine ich bei der zweiten Gele¬ genheit mit "E"? Da gibt es zwei naheliegende Antworten, und beide werden von Wittgenstein einer Betrachtung unterzogen. Erne dieser Antworten lautet, daß mit "E" nichts anderes gemeint ist als dieselbe (Art von) Empfindung, wie ich sie jetzt habe. Darauf erwidert Wittgenstein schlicht: "richtig ist, was immer mir als richtig erscheinen wird. Und das heißt nur, daß hier von ,richtig' nicht geredet werden kann." Das ist äußerst gedrängt formuliert. Um es weniger komprimiert zu sagen: Fak¬ tenbezogene Behauptungen setzen die Unterscheidung zwi¬ schen Wahrheit und Falschheit voraus die Unterscheidung zwischen einer Äußerung, wie es sich verhält, und einer Äuße¬ rung, wie es sich nicht verhält. Die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Falschheit wiederum setzt die weitere Unter¬ scheidung zwischen der Quelle der gemeinten Bedeutung und der Quelle der Wahrheit des Gesagten voraus. Nun wollen wir annehmen, daß ich einen Gegenstand vor mir habe und von ihm sage: "Dies ist E." Berufe ich mich sodann auf ebendiesen Ge¬ genstand, um die Bedeutung des Zeichens "E" zu erklären, be¬ raube ich meine Anfangsäußerung jeglichen Anspruchs auf den Rang einer faktenbezogenen Behauptung die Äußerung wird bestenfalls zur hinweisenden Definition. (Das Wort "besten¬ falls" ist hier aus den im 4. Abschnitt genannten Gründen wichtig.) Mit anderen Worten, diese Antwort ist ein Versuch, den Kuchen sowohl aufzubewahren als auch zu essen. Das ist zwar stets verlockend, aber ganz besonders dann, wenn man als Philosoph im Rahmen der gegenwärtigen Erfahrung nach empi¬ rischer Gewißheit sucht, also nach einer Gewißheit, der es bei dieser Art der Annäherung beschieden ist, sich für immer jeg¬ lichem Zugriff zu entziehen.8 -

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-

-

8 Diesen Sachverhalt hat Wittgenstein immer wieder hervorgehoben. Siehe B. PU S. 260/18 (unten); NFL S. 276 f., 314, 320; BGM III 37.

z.

153

154

STEWART CANDLISH Die zweite der von Wittgenstein betrachteten Antworten auf die Frage nach dem, was ich mit "E" meine, lautet: Mit "E" meine ich nicht diese jetzige (Art von) Empfindung, sondern Empfindungen der früher "E" genannten Art. Bei der Beschrei¬ bung von Wittgensteins Behandlung dieser Erwiderung geht Kenny in die Irre: Als nächstes wollen wir annehmen, der Sprecher der privaten Sprache sage: "Mit ,E' meine ich die früher ,E' genannte Empfindung." Da er die frühere Empfindung jetzt nicht mehr hat, muß er sich auf sein Gedächtnis verlassen, sich ein Erin¬ nerungsmuster von E ins Gedächtnis rufen und es mit seiner derzeitigen Empfindung vergleichen, um zu sehen, ob die beiden gleich sind. Aber natürlich muß er sich die richtige Erinnerung ins Gedächtnis rufen. Ist es nun möglich, daß auf diesen Ruf die falsche Erinnerung im Gedächtnis erscheint? Wenn nicht, dann bedeutet "E" ebenjene Erinnerung, die dem Betreffenden in Verbindung mit "E" in den Sinn kommt, und dann gilt wieder als richtig, was richtig zu sein scheint. Wenn es aber doch möglich ist, weiß er eigentlich gar nicht, was er meint. Es fruchtet nichts, wenn er sagt: "Naja, zumin¬ dest glaube ich, daß das wieder die Empfindung ,E' ist", denn das kann er nicht einmal glauben, ohne zu wissen, was mit "E" gemeint ist (PU260).9 Wie gesagt, Kenny hat recht, wenn er feststellt, daß mit "Ich erinnere mich richtig an die Verbindung" auf die Erinnerung an eine Bedeutung Bezug genommen wird, weshalb die üblichen Erörterungen dieser Bemerkungen fehl am Platze seien. Aber implizit hat Kenny auch angedeutet, daß die ganze Frage des Erinnerungsskeptizismus gar nicht angebracht ist, wenn es um die "private Sprache" geht. Und das ist gleichfalls richtig, denn der Text stützt eine solche Deutung eben nicht. (Die Interpreten haben sich beim Versuch der Erhellung von Wittgensteins Erör¬ terung einfach selbst im Licht gestanden.) Doch nun sehen wir, daß Kenny an dieser Stelle meint, Wittgensteins Argumentation Kenny 1973, S. 194. Hackers Erklärung dieser Stelle ist zwar weniger deudich formuliert, kommt aber im wesendichen auf das gleiche hinaus (vgl. P. M. S. Hacker 1972, S. 236).

9

WITTGENSTEINS PRIVATSPRACHENARGUMENTATION beruhe im Grunde auf einer weit weniger einleuchtenden Ein¬ stellung als dem konventionellen Erinnerungsskeptizismus und weit weniger einleuchtend ist sie, weil sie eine extremere Versi¬ on der gleichen Einstellung ist. Denn danach wird aus der ent¬ -

scheidenden These folgende Behauptung: "Wenn es möglich ist, daß ich mich nicht richtig an meine frühere hinweisende Defini¬ tion von ,E' erinnere, weiß ich eigentlich nicht, was ,E' bedeu¬ tet." Das ist eigentlich bloß eine erweiterte Form des konven¬ tionellen Erinnerungsskeptizismus, der sich nicht mehr nur auf Urteile, sondern auch auf Bedeutungen bezieht. Außerdem ist es ein elementarer Grundsatz der Erkenntnistheorie, daß daraus, daß man etwas weiß, offensichtlich nicht folgt, daß ein Irrtum hinsichtlich dieses Etwas unmöglich ist, sondern nur, daß man sich faktisch nicht irrt.10 Was ist hier schiefgegangen? Warum vertritt Kenny, nachdem er so viele frühere Mißverständnisse korrigiert hat, zum Schluß eine Lesart der Argumentation Wittgensteins, die so abwegig ist, daß es ungereimt wäre, sie Wittgenstein zu unterstellen, ohne zunächst die Möglichkeit eines geeigneteren Anwärters auf die¬ sen Posten in Erwägung zu ziehen? Die Antwort lautet, daß Kenny einem übersehenen Teil dieses Mißverständnisses selbst anhängt, denn ebenso wie die weitaus meisten mir bekannten Autoren geht er davon aus, daß es sogar im Fall der "privaten Sprache" tatsächlich so etwas gibt wie die vom Privatsprachler vorgenommene Anwendung eines Zeichens auf eine private Empfindung, weshalb das Problem darin bestehe, daß man sich später an diese frühere Anwendung erinnern muß, damit "E" überhaupt Bedeutung hat (bzw. damit der Privatsprachler die Bedeutung kennt). Demnach scheint es sich um die Frage zu handeln, ob das zugegebenermaßen fehlbare Gedächtnis des Be¬ treffenden ausreicht, um die gemeinte Bedeutung (bzw. die Be¬ deutungskenntnis) zu sichern oder aufrechtzuerhalten. Aber war¬ um sollte man diese Annahme gelten lassen? Was berechtigt uns zu der Annahme, daß der Privatsprachler auch nur imstande ist, zunächst einmal für sich selbst das eigene Zeichen hinweisend zu 10 Wer diesen Grundsatz nicht elementar genug findet, um eine Erläuterung zu finden, kann sich auf den Anfangsseiten des folgenden Artikels informieren: Winston Nesbitt, Stewart Candlish, Determinism and the ability to do otherwise, Mind 89, S. 415-420.

überflüssig

155

156

STEWART CANDLISH definieren? Das ist ja, wie im 4. Abschnitt unterstrichen wurde, eine der Fragen, die hier zur Debatte stehen. Außerdem zeigen PU 260 und 261, daß Wittgenstein ganz und gar nicht willens war, eine Argumentation zugunsten der privaten Sprache von dieser Annahme ausgehen zu lassen (Kenny muß PU 260 daher Gewalt antun, während er PU 261 unberücksichtigt läßt). In die¬ sen beiden Bemerkungen erinnert Wittgenstein daran, daß schon aus früheren Abschnitten der "Philosophischen Untersuchungen" (vgl. PU 3 3-3 5) hervorgeht, daß ein Verfahren der hinweisenden Definition nur dann zum Erfolg führt, wenn außerdem bestimm¬ te Zusatzbedingungen erfüllt sind. Die Beschreibung des Tage¬ buch-Beispiels läßt nirgends erkennen, daß diese Bedingungen erfüllt wären. Erst an späterer Stelle (PU 270 f.) stellt sich Witt¬ genstein eine teilweise Erfüllung dieser Bedingungen vor, und dort ergibt sich das Resultat, daß es sich um eine öffentliche Sprache handeln muß. Vielfach mißverstanden wird hier Wittgensteins nachdrück¬ licher Hinweis, es müsse zwischen wirklichem Regelfolgen und dem bloßen Glauben, man folge einer Regel, eine Unterschei¬ dung geben. Dieser Hinweis zieht aber nicht (wie gemeinhin angenommen wird) die Forderung und letztliche Ablehnung der "Erinnerungsunfehlbarkeit in einer privaten Sprache" nach sich, wobei die Forderung darauf beruhen soll, daß man sich ohne Unfehlbarkeit stets irren könnte, ohne es je zu merken, während im Falle der gegebenen Unfehlbarkeit die Unterscheidung zwi¬ schen wirklichem Regelfolgen und dem bloßem Glauben, daß man der Regel folge, abgeschafft würde. In Wrklichkeit besagt Wittgensteins Argumentation folgendes: Der Privatsprachler ist nicht imstande, ausschließlich durch "private hinweisende Defini¬ tion" die Bedeutung eines Zeichens festzusetzen denn dazu müßte die Technik des Zeichengebrauchs eingeführt werden -

(PU 260). Diese Technik kann, wie wir gesehen haben, nicht mit Hilfe wiederholter "hinweisender Definitionen" funktionieren,

denn dadurch wird die Unterscheidung zwischen Meinen und Wahrheit abgeschafft und somit die Möglichkeit faktenbezoge¬ ner Urteile zerstört. Die sogenannte "Definition" muß sich also auf eine andere Grundlage stützen, um die Beständigkeit des

Zeichengebrauchs zu gewährleisten. Aber gerade diese Möglichkeit ist ja in Frage gestellt. Welche Bewandtnis hätte es hier mit der Beständigkeit? Was hieße es

WITTGENSTEINS PRIVATSPRACHENARGUMENTATION

denn, "in der Art und Weise fortzufahren, in der das Zeichen verwendet wird"? Die gleiche Art und Weise wie was} Da man nicht davon ausgehen kann, daß es überhaupt eine Art und Weise der Zeichenverwendung gibt, deren Bestimmung oder gar Begründung dem Privatsprachler unabhängig von seinem späterem Eindruck der richtigen Art und Weise gelänge, müßte der Befürworter der »privaten Sprache« nachweisen, daß es eine solche Art und Weise wirklich gibt. Nun könnte es so aussehen, als wäre dieser Nachweis dadurch möglich, daß man sich auf die Erinnerung des Privatsprachlers beruft. Er erinnere sich eben daran, wie er das Zeichen zuvor verwendet hat. Und das sieht ganz unkompliziert aus, denn man meint: Gewiß hat er damals etwas getan, denn er erinnert sich ja daran. Es ist auch gar nicht verlangt, daß seine Erinnerung unfehlbar sein muß. Aber die Erinnerung muß doch wenigstens eine Erinnerung sein, d. h. sie muß ob zutreffend oder nicht von etwas Bestimmtem han¬ deln, was unabhängig von der Erinnerung daran existiert hat. Und so etwas vermag die »Erinnerung« nicht zu erschaffen. Das ist die Argumentation des Abschnitts PU 265, der oft arg mißverstanden und erkenntnistheoretisch gedeutet worden ist.11 Wieder können wir nicht voraussetzen, daß es im Falle des Privatsprachlers eine wirkliche (sei's auch nur geistige) Tabelle der Bedeutungen gegeben hat, die er sich jetzt ins Gedächtnis ruft und bei der er sich auf sein Gedächtnis verlassen muß, denn das Original ist nicht mehr vorhanden. Es kann vielmehr wie PU 260-264 zeigen sein, daß nichts Bestimmteres mehr vor¬ handen ist als ebendiese "Erinnerung an die Tabelle". Wenn man also meint, der Privatsprachler könne sich an die Bedeu¬ tung von "E" erinnern, indem er sich an die früher hergestellte Verbindung zwischen dem Zeichen "E" und einer Empfindung erinnert, setzt man voraus, was selbst erst nachgewiesen werden muß, nämlich daß es tatsächlich eine unabhängige Verbindung gegeben hat, an die man sich erinnern könne. Die Fehlbarkeit der Erinnerung auch der Erinnerung an Bedeutungen ist nicht zur Sache. Es geht nicht darum, dañ jetzt Zweifel bestehen an der Zuverlässigkeit der Erinnerung, sondern darum, daß der Status des damaligen Geschehens zweifelhaft war. Und dieser -

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11

Oft, aber nicht immer. Siehe z. B. v. Savigny 1969, S. 54-58.

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STEWART CANDLISH

ursprüngliche Zweifel, der nichts mit Erkenntnistheorie zu tun

hat, läßt sich später nicht ausräumen, indem man sich auf "Erin¬ nerungen" an einen Status beruft, der in seinem Wesen von Anfang an in Zweifel stand. Das heißt, wenn es ursprünglich keine echte Verbindung gegeben hat, wird sie durch die "Erin¬

nicht erschaffen. Wenn wir andererseits gar nicht an¬ nehmen, daß es unabhängig von der ins Gedächtnis zu rufenden Erinnerung etwas mit dem erforderlichen Status gegeben hat, verhält es sich wieder so, daß "richtig ist, was richtig erscheint": Die "Erinnerung" an die "Verbindung" wird benutzt, um sich selbst zu bestätigen, denn einen unabhängigen Zugang zur "er¬ innerten Verbindung" gibt es nicht (nicht einmal den unabhän¬ gigen Zugang, den wir als Schilderer des Beispiels genießen, denn die Frage lautet, ob wir ein solches Beispiel überhaupt nennen können). Darum schreibt Wittgenstein (PU 265): "Als kaufte Einer mehrere Exemplare der heutigen Morgenzeitung, um sich zu vergewissern, daß sie die Wahrheit schreibt." Nun können wir die von Kenny außer acht gelassenen Ab¬ schnitte 266-268 einordnen, denn sie sind Beispiele, die die eben dargelegten Gedanken veranschaulichen.

nerung"

6.8 Bisher hat sich die Argumentation, wie oben im 3. Abschnitt angemerkt, auf Seelen ohne Verhältnis zu Körpern oder im Verhältnis zu bloß trägen Körpern bezogen. In PU 269 wird jedoch zu Beispielen übergegangen, in denen zwar körperliches Verhalten vorliegt, aber dennoch die Verlockung besteht, an etwaige unabhängig vom öffentlichen Gebrauch der Wörter gegebene private Bedeutungen zu denken. In diesem Zusam¬ menhang erwähnt Wittgenstein drei Fälle, die alle normaler Art sind und deren Existenz wir auch in der Praxis zu bestimmen vermöchten. Da ist erstens der Fall dessen, der das Wort ver¬ steht; zweitens der Fall dessen, der es nicht versteht und über¬ haupt nichts damit anzufangen weiß; drittens der Fall dessen, der es zu verstehen glaubt und dem Wort seine eigene, unzutreffen¬ de Bedeutung beilegt. Der dritte dieser Fälle könnte, wie Witt¬ genstein andeutet, den Anschein erwecken, sich in solcher Weise verallgemeinern zu lassen, daß eine ganze Reihe von Lauten, die -

-

WITTGENSTEINS PRIVATSPRACHENARGUMENTATION niemand sonst versteht, die aber scheinbar von ihrem Sprecher verstanden werden, uns dazu verlocken könnte, von privaten Bedeutungen hinter dem öffentlichen Verhalten zu reden. Das deutet auf eine weitere Chance für den Befürworter des Privatsprachengedankens hin: Könnte der Privatsprachler sei¬ nem Zeichen "E" nicht vielleicht eine Bedeutung verleihen, indem er den privaten Zeichengebrauch mit einem öffentlichen Phänomen verknüpft? Das würde anscheinend dazu dienen, der Notierung "E" im Tagebuch (PU 260) eine Funktion zu geben und damit der hinweisenden Definition einen Platz anzuweisen. Außerdem würde es wohl gewährleisten, daß dem Gebrauch, den der Privatsprachler von dem Ausdruck "E" macht, unabhän¬ gig von seinem eigenen Eindruck der Beständigkeit tatsächlich eine gewisse Beständigkeit verliehen wird. Zur Betrachtung die¬ ser Vorstellung bedient sich Wittgenstein in PU 270 f. des Ma¬ nometer-Beispiels, und seine Kritik besagt, daß diese Methode der Bedeutungsverleihung zwar funktioniert, die verliehene Be¬ deutung jedoch eine öffentliche ist: Der sogenannte "private Gegenstand" erweist sich als belanglos für die Bedeutung. Der Befürworter der "privaten Sprache" würde vermutlich hoffen, daß das Beispiel wie folgt funktionierte: Wenn ich auf der Grundlage meiner Empfindung immerfort sage, daß mein Blut¬ druck steigt, und das Manometer zeigt, daß ich recht habe, beweist dieser Erfolg bei der Beurteilung des eigenen Blut¬ drucks, daß ich dem Zeichen "E" tatsächlich eine private Bedeu¬ tung verliehen hatte und das Zeichen nun jedesmal in der glei¬ chen Weise für das Urteil verwendet habe, daß meine Empfin¬ dung jedesmal die gleiche war. In Wirklichkeit zeigt das Beispiel jedoch nichts weiter, als daß der bloße Glaube, jetzt die gleiche Empfindung zu haben wie seinerzeit, als mein Blutdruck stieg, ein gutes Indiz dafür sein kann, daß mein Blutdruck steigt. Ob die Empfindung "in einem privaten Sinne wirklich die gleiche" ist oder nicht, wird

völlig belanglos für die Frage der Beständig¬ keit des Gebrauchs von "E". Das heißt, es gibt keine Lücke zwischen dem wirklichen Wesen der Empfindung und meinem Eindruck von dieser Empfindung. "E" könnte in diesem Fall nicht mehr bedeuten als "Empfindung des steigenden Blut¬ drucks". Ja, nach allem, was wir über die Rolle des Zeichens erfahren, bedeutet es vielleicht nichts weiter als "Blutdruck steigt".

I

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STEWART CANDLISH

6.9 Die übliche Auffassung der Privatsprachenargumentation, die bei den Auseinandersetzungen im Rahmen der altorthodoxen Lehre von beiden Seiten vorausgesetzt wird, läuft, wie wir gese¬ hen haben, darauf hinaus, daß sie sich erstens auf den Erinne¬ rungsskeptizismus stützt und zweitens die These vertritt, daß die¬ ser Skeptizismus unter Verhältnissen einer "privaten Sprache" von spezieller und unanfechtbarer Bedeutung ist. Dieser altortho¬ doxen Lehre hängt auch Fogelin an, der (auf S. 162-169) zeigt, daß sie nur eine schwache Lesart der Argumentation zuläßt, und zwar eine Lesart, die Wittgenstein selbst vermudich für schwä¬ cher als beabsichtigt erachtet hätte. Aber wie wir ebenfalls gese¬ hen haben, beruht diese übliche Auffassung auf einer Fehldeu¬ tung des Texts; und die Hauptursache dieser Fehldeutung sind erkenntnistheoretische Vorurteile. Allerdings führt Kennys Alternativanschauung, die als Ant¬ wort auf die Feststellung dieser Fehldeutung formuliert wurde, wie wir gesehen haben, ebenfalls zu einer Lesart der Argumen¬ tation, die dermaßen verfehlt ist, daß es unvernünftig wäre, sie für eine angemessene Wiedergabe von Wittgensteins Gedan¬ kengang zu halten. Dementsprechend habe ich versucht, eine Lesart der Argu¬ mentation vorzuführen, die sich getreu an den Text hält und namentlich die alten und neuen Interpretationsfehler vermeidet. Jetzt kann man erkennen, daß es sachlich gar nichts mit all dem Gezänk um die Bedeutung der Fehlbarkeit der menschlichen Erinnerung auf sich hat, das im Rahmen der altorthodoxen Leh¬ re aufgekommen und dann zurückgekehrt ist, um die Autoren zu meisten am die dazu plagen, beigetragen haben, dieser orthodo¬ xen Anschauung den Garaus zu machen. Diese Feststellung löst wahrscheinlich eine weitere Frage aus. Wird der Erinnerungsskeptizismus wegen seiner Irrelevanz für die Privatsprachenargumentation ausgeschlossen, fragt es sich, ob zwei damit zusammenhängende orthodoxe Einwände eben¬ falls ohne Belang sind. Der erste dieser Einwände lautet, die Argumentation widerlege sich selbst, indem sie auch die öffent¬ liche Sprache in Acht und Bann tue. Der zweite Einwand besagt, die Argumentation widerlege sich auch deshalb, weil sie eine durchaus einleuchtende Möglichkeit ausschließe, nämlich den

WITTGENSTEINS PRIVATSPRACHENARGUMENTATION Fall des sogenannten "Robinson Crusoe", der im Gegensatz zu Defoes ursprünglichem Crusoe von Geburt an allein ist, aber dennoch eine seinen eigenen Zwecken dienende Sprache er¬ sinnt, ohne daß ihm zuvor jemand anders eine andere Sprache beigebracht hätte. Angesichts dieses zweiten Einwands erweck¬ ten Wittgensteins Befürworter einen unsicheren Eindruck, da sie vielfach zu der Konzession gezwungen waren, dieser Fall werde durch die Argumentation tatsächlich ausgeschlossen, während sie die (nicht sonderlich einleuchtende) Behauptung verfochten, ein solcher Crusoe sei wirklich unmöglich und die Konzession daher harmlos. Soweit die Frage den ersten Einwand betrifft, ist sie bereits beantwortet worden. Die vermeintliche Bedrohung der öffentli¬ chen Sprache ging einzig und allein von der Behauptung aus, daß sich der Erinnerungsskeptizismus nicht auf den privaten Fall beschränken ließe. (Ein anschauliches Beispiel ist das oben im 6. Abschnitt angeführte Kenny-Zitat.) Doch da der Skeptizis¬ mus bezüglich der Erinnerung im Rahmen der Argumentation gar keine Rolle spielt, besteht kein Grund zur Annahme, daß sich überhaupt eine Beschränkungsfrage stellt. Ebendarum steht auch die andere Eventualität gar nicht zur Debatte, nämlich die Eventualität der Selbstwiderlegung der Argumentation, weil sie eine Möglichkeit ausschließe, deren Verwirklichung uns bekannt ist, und zwar die Möglichkeit der Sprache, die wir bereits besit¬ zen. Der oben im 7. Abschnitt erbrachte Nachweis, daß eine Berufung auf den Krmnerungsskeptizismus unterbleibt, bedeu¬ tet die Verschiebung der Beweislast von der Frage nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Erinnerung an eine hin¬ weisende Definition auf die Frage, ob es überhaupt eine hinwei¬ sende Definition geben könne. Daher können wir die Frage mit Bezug auf den zweiten Ein¬ wand beantworten. Es liegt auf der Hand, daß eine Argumen¬

tation, in deren Brennpunkt die Frage der hinweisenden Defini¬ tion steht, nicht darauf festgelegt ist, alle hypothetischen Fälle

möglicher "Robinson Crusoes" von vornherein auszuschließen. Es gibt nämlich keine apriorische Grenze, welche der Vorstel¬ lung von einer hinreichend komplexen Lebensform Einhalt ge¬

böte, in der dafür gesorgt wäre, daß ein solches Lebewesen eine

bestimmte hinweisende Definition aufstellen könnte. Ein sol¬ cher Crusoe lebt im Gegensatz zu dem Privatsprachler in einer

I6I

IÓ2

STEWART CANDLISH

Welt, die von seinem Eindruck von dieser Welt unabhängig ist. Also bestünde in dieser Welt auch die Möglichkeit bestimmter Ereignisse, an die er sich erinnern und die er vergessen könnte. Bei einigen dieser Ereignisse könnte es sich um Verbindungen von Zeichen mit Gegenständen handeln.12 6.10 Saul Kripkes Darstellung von Wittgensteins Auseinanderset¬ zung mit Regeln und der privaten Sprache hat zu vielen zweit¬ stufigen Erörterungen Anlaß gegeben, die von erheblich an¬ derer Art sind als Wittgensteins eigene Ausführungen. Diese Erörterungen bilden die dritte der oben im 1. Abschnitt unter¬ schiedenen Interpretationskategorien. Dabei wird häufig so ver¬ fahren, als liege gar nichts an der Frage, ob Wittgensteins eigene Argumente von der Interpretation Kripkes überhaupt erfaßt werden. Heute darf man geradezu behaupten, der Ausdruck "Privatsprachenargumentation" habe eine weitere Bedeutung erhalten, in der er sich auf Kripkes Wiedergabe dieser Argu¬ mentation bezieht. Die von Kripke verfochtene Interpretation ähnelt der hier vorgelegten insofern, als er ebenfalls die altorthodoxe Lehre ablehnt und die Abhängigkeit der Erörterung des Privatsprachenproblems von der Auseinandersetzung mit dem Regelfol¬ gen betont. Ein Unterschied liegt darin, daß Kripke den An¬ fangssatz von PU 201 besonders herausstreicht: "Unser Paradox war dies: eine Regel könnte keine Handlungsweise bestimmen, da jede Handlungsweise mit der Regel in Übereinstimmung zu bringen sei." Dazu meint Kripke (a. a. O., S. 68/9013), daß "sich die Unmöglichkeit einer privaten Sprache bei Wittgenstein aus seiner skeptischen Lösung des eigenen Paradoxes" ergebe. Doch Wittgenstein selbst wischt dieses "Paradox" bereits im nächsten Absatz vom Tisch: "Daß da ein Mißverständnis ist, zeigt sich schon darin ..." Das wird von Kripke offenbar übersehen, denn nach seiner Auffassung wirft dieses Paradox ein echtes und tief¬ schürfendes Problem bezüglich des Bedeutungsbegriffs auf. 12 An dieser Stelle ergeben sich weitere 13 Seitenzahlen des Originals 1982/der

Komplikationen. Siehe Canfield

1996.

Übersetzung 1987; zitiert nach 1987.

WITTGENSTEINS PRIVATSPRACHENARGUMENTATION Zur Veranschaulichung wählt Kripke das Beispiel der Additi¬ Was heißt: die Regel der Addition begreifen? Es gibt poten¬ tiell unendlich viele Anwendungsmöglichkeiten der Regel, und neben der üblichen Interpretation der Regel lassen sich auch abwegige Deutungen mit jeder endlichen Menge von Anwen¬ dungen der gewöhnlichen Art (wie 19 + 38 57) in Einklang bringen. We kommt es also, daß ich mit "plus" die übliche und nicht eine andere Additionsfunktion meine? Diese Frage führt nach Kripke zu einer an Hume gemahnenden Problemstellung, auf die Wittgenstein nach Kripkes These mit einer "skeptischen Lösung" à la Hume antwortet. Das Problem formuliert Kripke in zweierlei Weise. Die erste Formulierung lautet: "Es gibt wirklich keine Tatsa¬ che in bezug auf mich, die einen Unterschied zwischen der Situation macht, in der ich mit ,plus' eine bestimmte Funktion meine [...], und der Situation, in der ich gar nichts meine" (S. 21/34). Weil es keine solche Tatsache gebe, gelange Wittgen¬ stein wie Kripke meint dahin, zur Erklärung der Bedeutung von Aussagen wie "Mit ,plus' habe ich die Addition gemeint" nicht mehr auf Wahrheitsbedingungen zu verweisen, sondern statt dessen Behauptbarkeitsbedingungen zu nennen, bei denen nicht nur die potentielle, sondern auch die faktische Überein¬ stimmung der Gemeinschaft eine Rolle spiele. (Daher rührt auch die These von der "skeptischen Lösung" [S. 68/90], denn Wittgenstein mache dem Skeptiker das Zugeständnis, daß es für solche Aussagen keine Wahrheitsbedingungen gebe.) Diese Art der Übereinstimmung berechtigt nach Kripkes Darstellung trotz des fehlenden Tatbestands zu der Behauptung, mit ,plus' hätte ich die Addition gemeint. Daß die Bedeutung in dieser Form an die Ubereinstimmung in einer Gemeinschaft geknüpft wird, schließt die Möglichkeit ei¬ ner privaten Sprache natürlich sofort aus und läßt die Argumen¬ tation in PU 256-271 überflüssig erscheinen. Diese Überflüssig¬ keit zwingt zu einer seltsamen Textinterpretation, deren Merk¬ würdigkeit durch die Feststellung unterstrichen wird, daß die erste Formulierung des skeptischen Problems auf der Vorausset¬ on.

=

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-

-

zung beruht, wir hätten unabhängig vom Begriff der Wahrheit einer Aussage eine gewisse Vorstellung davon, was eine Tatsache sei. Eine der Grundeinsichten der "Philosophischen Untersu¬ chungen" besteht aber gerade darin, daß wir keine solche Vorstel-

163

164

STEWART CANDLISH

lung davon haben; die Definition von Tatsachen gelingt nur auf Weg über die Verwendungsweisen der sprachlichen Aus¬ drücke, mit deren Hilfe die Tatsachen behauptet werden. Die unverstellte Erkenntnis dieser Verwendungsweisen kann durch manche philosophische Schwierigkeit behindert werden, und oft entsprechen die Verwendungsweisen überhaupt nicht unseren Erwartungen, woraus sich dann der Eindruck ergibt, daß es keine Wahrheitsbedingungen gebe. Kripkes zweite Formulierung lautet: "Wttgenstein zieht die Verknüpfung zwischen früheren ,Intentionen' oder früherem .Meinen' und jetziger Praxis in Zweifel, z. B. zwischen meinen früheren .Intentionen' in bezug auf .plus' und meiner jetzigen Rechnung" (S. 62/83). Hier liegt der Gedanke zugrunde, durch die jeweilige Auffassung der den Gebrauch von ,plus' festsetzen¬ den Regel werde nicht bestimmt, daß der Betreffende bei jeder der zahllosen neuen Rechnungen künftig eine eindeutige Ant¬ wort gibt. Der Eindruck, daß hier noch etwas fehlt, ist jedoch ein Ergebnis der oben im 2. Abschnitt gekennzeichneten Verwechs¬ lung zweier Bedeutungen des Bestimmungsbegriffs. Kripkes Analyse der Privatsprachenargumentation krankt also daran, daß er sich ohne Begründung auf Vorstellungen stützt, gegen die Wittgenstein selbst Einwände genannt hat. Dennoch ist diese Analyse so einflußreich, daß es nunmehr eine neuortho¬ doxe Lehre gibt, die insofern über die altorthodoxe hinausgeht, als sie die Erörterung nicht nur unabhängig vom Text des Origi¬ nals führt, sondern diese Nichtberücksichtigung in manchen dem

Fällen stolz als entschiedenen Vorteil hinstellt.14 Meine Darstellung der Privatsprachenargumentation hat ebenfalls einen Vorteil, der allerdings weniger anspruchsvoll ist. Dieser Vorteil hat zwei Seiten: Zum einen löst meine Darstellung die Argumentation von den nicht sachdienlichen Zusätzen der altorthodoxen Lehre. Wchtiger ist zweitens, daß sie im Hinblick auf diesen zentralen Teil von Wittgensteins eigenem Text eine weder von der alt- noch von der neuorthodoxen Lehre angebote¬ ne Gesamtdeutung vorlegt, die nicht nur zeigt, daß dieser Text eine überzeugende Argumentation zur Begründung einer bedeu¬ tungsvollen Schlußfolgerung enthält, sondern auch im Sinne des ersten Abschnitts der vorliegenden Arbeit kohärent ist. 14 So

z.

B.

Boghossian

1989.

WITTGENSTEINS PRIVATSPRACHENARGUMENTATION

Literatur E. v. Savigny 1969, Die Philosophie der normalen Sprache, Frankfurt a. M. P. M. S. Hacker 1972, Insight and Illusion, Oxford. A. Kenny 1973, Wittgenstein, London; deutsch: Wittgenstein, Frankfurt a. M. 1974. R. J. Fogelin 1976, Wittgenstein, London. S. A. Kripke 1982, Wittgenstein on Rules and Private Language, Oxford; deutsch: Wittgenstein über Regeln und Privatsprache, Frankfurt a. M. 1987. P. Boghossian 1989, The Rule-following Considerations, Mind 98, 507-549. J. V Canfield 1996, The Community View, im Erscheinen.

Übersetzt von Joachim Schulte

165

_7 Joachim Schulte

Denkwürdigkeiten.

Mr. Ballard und

der Impressionist

7.1 Denken ist kein unkörperlicher Vorgang, der dem Reden Leben und Sinn leiht, und den man vom Reden ablösen könnte, gleichsam wie der Böse den Schatten Schlemihls vom Boden abnimmt. (PU 339) Er schlug ein, kniete dann ungesäumt nieder, und mit einer bewunde¬ rungswürdigen Geschicklichkeit sah ich ihn meinen Schatten, vom Kopf

bis zu meinen Füßen, leise von dem Grase lösen, aufheben, zusammen¬ rollen und falten und zuletzt einstecken. (Adelbert von Chamisso, Peter Schlemihls wundersame Geschichte) SCHATTEN AM DENKAPPARAT:

Wittgensteins Reflexionen über psy¬

Begriffe enthalten eine

chologische Darstellung fruchtloser Be¬ mühungen, durch Isolierung geistiger Vorgänge und deren kon¬ zentrierte Betrachtung zu begrifflicher Klarheit zu gelangen. Der starre Blick auf den inneren Vorgang verleitet uns zum Mißverständnis der Rolle sprachlicher Ausdrücke: "Als wäre es der Zweck des Satzes, Einen wissen zu lassen, wie es dem An¬ dern zu Mute ist: Nur, sozusagen, im Denkapparat und nicht im

Magen" (PU 317).

Das Grundmotiv der auf vielfältige Weise scheiternden Erklä¬ charakterisiert Wittgenstein durch das Bild des Schlemihlschen Schattens: So, wie der Böse den Schatten Schle¬ mihls vom Boden ablöst, trachten auch wir, durch säuberliche Abtrennung einer Problemschicht Ergebnisse zu erzielen. Oft kommt dabei zunächst nicht mehr heraus, als daß wir anstelle eines wirren Knäuels von Beispielen und Begriffsverwendungen

rungsversuche

i68

JOACHIM SCHULTE vor uns haben, von denen wir uns ihnen müßten einbilden, jeweils deutlich unterscheidbare Arten von Vorgängen entsprechen, deren eingehende Betrachtung alle Probleme lösen werde. In Wirklichkeit führt dieses wichtigen

zwei

(oder mehr) Begriffe

Vorgehen nur zum Anfang einer philosophischen Fragestellung,

denn mit der Ablösung des Schattens wird durchweg nichts wei¬ ter erreicht als eine Scheinbefriedigung, die sich der Anstren¬ gung der geleisteten Unterscheidungsarbeit verdankt, aber keine langfristigen Klärungserfolge verbuchen kann. Ist die Trennung erst einmal vollzogen glaubt der Philosoph, den richtigen Schlemihl vor sich und den Schatten des Mannes im Säckel zu haben -, hat es keinen Zweck, die frühere Einheit unvermittelt wiederher¬ stellen zu wollen. Solche Risse sind durch kein bekanntes Binde¬ mittel zu kitten, sondern nun heißt es, den getrennten Elementen auf der Spur zu bleiben, die Spaltungsresultate zu betrachten und etwaigen Schaden zu diagnostizieren. Den Schatten bekommt Schlemihl nicht zurück, ehe ihn der Bose allen möglichen Fähr¬ nissen ausgesetzt hat. Mehrere der durch philosophisches Fragen abgelösten Schat¬ ten werden von Wittgenstein aufs Korn genommen und im Verhältnis zu ihrem ursprünglichen Eigner untersucht. Ein be¬ sonders hervorstechendes Paar ist das Gespann Sprechen/Den¬ ken, bei dessen Betrachtung man zu fragen geneigt ist, ob regel¬ rechtes Denken die Beherrschung einer Sprache voraussetzt, ob der artikulierte Satz das Gedachte angemessen wiedergibt, ob der formulierte Gedanke vor der Formulierung "fertig" sein muß und dergleichen mehr. Immer wieder verleiten solche Pro¬ blemstellungen zur intensiven Beobachtung seelischer Vorgänge und zur Annahme, mit Hilfe derartiger Beobachtungen seien die Probleme womöglich zu lösen. Jedesmal zeigt Wittgenstein, daß der Weg der Introspektion keine wirklich überzeugenden Lö¬ sungsmöglichkeiten bietet, sondern leicht in die Irre führt. Nicht selten würzt Wittgenstein seine Bemerkungen zu dieser Thema¬ tik mit einer gehörigen Portion Ironie. Das kann den verfehlten Eindruck erwecken, er wolle sich über das Verfahren der Intro¬ spektion generell lustig machen oder gar die Möglichkeit inne¬ rer Erfahrung grundsätzlich bestreiten. Manche Interpreten der allzu leicht, nur übersehen "Philosophischen Untersuchungen" daß die von Wittgenstein als unzulänglich hingestellten und mitunter ironisierten Standpunkte zwar nur erste Schritte, aber -

DENKWÜRDIGKEITEN eben auch immerhin erste Schritte sind, also Versuche und Vor¬ schläge beinhalten können, die nicht rundweg abgelehnt und für nichtig erklärt werden müssen, sondern als Ansatzpunkte und tastende Sondierungsmanöver gedeutet werden dürfen.

7.2 Der Professor: "Wer keinen Schatten hat, gehe nicht in die ist das Vernünftigste und Sicherste." (Chamisso, Schlemihl)

Sonne, das

Thematisiert wird die Frage "Kann reden?" in PU 327. Der Verweis auf die Möglichkeit der Betrachtung innerer Vorgänge wird durch den Vergleich mit der weit schwierigeren Zugänglichkeit astronomi¬ scher Ereignisse offenbar als nicht sonderlich vielversprechend gekennzeichnet. Andererseits darf man nicht außer acht lassen, daß die Art der Frage den Gedanken an Selbstbeobachtung unmittelbar nahelegt. Eine dezidierte Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit sprachunabhängigen Denkens wird von William James gegeben, einem Lieblingsautor Wttgensteins. Auf diese Antwort bezieht sich Wittgenstein nicht nur in PU 342, sondern auch an anderen Stellen seiner Schriften (vgl. etwa "Zettel" 109). James, def hier freilich nicht aus eigener Erfahrung berichten kann, zitiert das Zeugnis des notorischen Mr. Ballard, der da von Geburt an taub und stumm aus erster Hand bestätigen könne, bestimmte Gedanken gehabt zu haben, als er sie sprachlich noch gar nicht zu artikulieren vermochte.1 Die Worte Ballards sind eines der seltenen expliziten Zitate, die in den "Philosophischen Untersu¬ chungen" angeführt werden, und schon allein deshalb einer ein¬ MR. BALLARD RIDES AGAIN: man

denken, ohne

zu

-

-

gehenden Betrachtung wert. Wie diese Worte nach Wittgen¬ Meinung zu verstehen sind, kann natürlich nur der Zu¬ sammenhang des Zitats erkennen lassen. Der Text lautet: steins

William James,

möglich ist,

I Wdliam James, The 266-269.

1950,

um zu

zeigen, daß Denken ohne Sprechen Erinnerung eines Taubstummen,

zitiert die

Principles of Psychology, Bd. 1, (1890) Nachdruck New York

169

170

JOACHIM SCHULTE Ballard, welcher schreibt, er habe in seiner frühen Jugend, noch ehe er sprechen konnte, sich über Gott und die Welt Gedanken gemacht. Was das wohl heißen mag! Ballard schreibt: "It was during those delightful rides, some two or three years before my initiation into the rudiments of written

Mr.

-

-

language, that I began to ask myself the question: how came the world into being?"- Bist du sicher, daß dies die richtige Ubersetzung deiner wortlosen Gedanken in Worte ist? möchte man fragen. Und warum reckt diese Frage die doch sonst garnicht zu existieren scheint hier ihren Kopf hervor? Will ich sagen, es täusche den Schreiber sein Gedächtnis? Ich weiß nicht einmal, ob ich das sagen würde. Diese Erinne¬ rungen sind ein seltsames Gedächtnisphänomen und ich weiß nicht, welche Schlüsse auf die Vergangenheit des Erzäh¬ lers man aus ihnen ziehen kann!

-

-

-

-

-

Bemerkung soll der weiteren Betrachtung als Ausgangs¬ dienen. Uber ihren Sinn besteht kein Einvernehmen, und punkt oft wird ihre Tendenz verkannt. Um weiteren Mißverständnis¬ sen vorzubeugen, soll zunächst angedeutet werden, wie PU 342 zu lesen ist: Im ersten Satz referiert Wittgenstein die These James', Den¬ ken sei auch ohne Sprechen möglich, wie die Aussage Ballards belege, der sich als Taubstummer tiefsinnige Gedanken gemacht habe, bevor er sie in einer Sprache zu formulieren wußte. Im zweiten Satz fragt sich Wittgenstein (mit Ausrufezeichen!), was die Schilderung Ballards eigentlich bedeute. Auf diese Frage folgt das ausführliche englische Zitat aus Ballards Erinnerungen. Hier sollte man, wie gesagt, genau auf den Wortlaut achten. Der angeführte Passus dürfte auf die meisten Leser sofort unplausi¬ bel wirken. Woran liegt das? Der Grund ist wohl der, daß die Erinnerung an hocherfreuliche Ausritte in der Jugendzeit ohne weiteres glaubhaft wirkt, während die behauptete Reminiszenz an die Frage nach der Entstehung der Welt einfach nicht ein¬ leuchten will. Der erste Teil der Schilderung ist offenbar unpro¬ blematisch, weil der Hörer sie sogleich mit bestimmten Bildern in Verbindung bringt, die weder die Existenz einer komplexen Gesellschaftsordnung noch raffinierte begriffliche Hilfsmittel voraussetzen. Die Erinnerung an prächtige Ausritte etwa in herrlicher Landschaft, bei strahlendem Sonnenschein und auf Diese

-

DENKWÜRDIGKEITEN Pferden können wir als Erlebnisbericht aus der frühen Kindheit ebenso leicht glauben wie als Darstellung der Eindrükke eines Neandertalers, dem sie von einem Romancier zuge¬ schrieben werden (man denke etwa an William Goldings Inheri¬ tors). Der Erinnerungsbericht wirkt einleuchtend, weil die in der Erinnerungsbehauptung wiedergegebene Wahrnehmung keiner anspruchsvollen begrifflichen Mittel bedarf. Der zweite Teil des Erinnerungsberichts löst dagegen ungläu¬ biges Staunen aus: Dieser Mensch soll sich unter diesen Bedin¬ gungen gefragt haben, wie die Welt entstanden sei! In welcher Weise kann er sich das gefragt haben? Der wichtigste Grund unseres Zweifels wird von Ballard selbst genannt und unter¬ streicht somit die unmittelbare Unplausibilität seines Berichts, denn indem er ausdrücklich betont, die geschilderten Eindrücke stammten aus einer Zeit lange vor dem Erlernen seiner ersten Sprache, stößt er den Hörer geradezu auf den Einwand, eine Frage wie die nach der Entstehung der Welt sei ohne Sprach¬ beherrschung und Kenntnis der entsprechenden begrifflichen Mittel gar nicht denkbar. Diesem naheliegenden und von Ballard (bzw. James) nahege¬ legten Einwand mangelt es gewiß nicht an Uberzeugungskraft.

treuen

-

-

Aber

-

was

in die

Augen

springen scheint, verdeckt oft ein von Voraussetzungen und Vorurteilen. zu

Geflecht Deshalb sollten wir uns die Ausgangssituation genauer anschau¬ en: Nicht nur dem taubstummen kleinen Ballard, sondern jedem Kind und jedem Neandertaler würden wir die Fähigkeit abspre¬ chen, die Frage nach der Entstehung der Welt in der von Ballard angedeuteten Form zu stellen. Mit der Sprachkenntnis als solcher hätte das wenig zu tun, aber viel mit anderen Kenntnissen oder Umgebungsbedingungen. Weder dem Taubstummen noch dem kleinen Kind, noch dem Neandertaler würden wir die Behaup¬ tung glauben "Damals begann ich mir die Frage zu stellen: ,Wie

kompliziertes

ist es zur Entstehung der Welt gekommen?'". Nicht glauben würden wir sie aus ähnlichen Gründen wie denen, die auch man¬ che Darstellung des ersten Teils von Ballards Erinnerungsbericht jeglicher Plausibilität berauben könnten: Hätte Ballard es nicht bei der bloßen Erwähnung erfreulicher Ausritte belassen, son¬ dern den erlebten Eindruck mit Gemälden von Caspar David Friedrich oder Fragonard, mit Gedichten von Keats oder Walt Whitman, mit Symphonien von Haydn oder Tschaikowsky ver-

171

172

JOACHIM SCHULTE

glichen und behauptet, ebendies seien seine damaligen Impres¬ sionen gewesen, hätten wir uns nicht ohne weiteres von der Zuverlässigkeit seines Berichts überzeugen lassen. Und der Grund unseres Mißtrauens hätte auf der Hand gelegen, denn weder dem jungen Taubstummen noch einem Kind oder einem Neandertaler könnten einleuchtend die für derartige Vergleiche nötigen Kenntnisse unterstellt werden. Dabei beinhaltet "Kennt¬ nisse" nicht nur ein bestimmtes Vokabular und die unmittelbare sinnliche Bekanntschaft mit den genannten Kunstwerken, son¬

dern auch die komplizierte praktische Fähigkeit zum selbstän¬ digen Anstellen solcher Vergleiche. Dagegen hätten wir keine (zumindest nicht die gleiche Art von) Schwierigkeit mit einem Erinnerungsbericht der folgenden Art: "Was ich damals (als jun¬ ger Taubstummer, Kind, Neandertaler) empfand, erinnert mich (mit allen Kulturwassern gewaschenen, erwachsenen und zivili¬ sierten Menschen der Neuzeit) an Prousts Schilderung von Vermeers Ansicht von Delft (oder dergleichen)." Sofern dieser Satz Probleme aufwirft, sind sie anderer Art als beim vorigen Beispiel, denn dieser neue Satz handelt im wesentlichen von meiner jetzi¬ gen Person und nur indirekt von meinem damaligen Zustand. Der erste Teil von Ballards Erinnerungsbericht läßt sich also in einer Weise umformulieren, die zu ähnlichen Problemen und zu einer ähnlich ungläubigen Reaktion Anlaß gibt wie seine Frage nach der Entstehung der Welt. Daher sollte man sich überlegen, ob dieser zweite Teil des Erinnerungberichts viel¬ leicht anders gefaßt und so ausgedrückt werden könnte, daß wir nicht mehr mit ungläubigem Zweifel darauf reagieren. Hier bietet sich eine Wiedergabe wie die folgende an: "Was ich da¬ mals empfand, war ein tiefes Erstaunen über das Wunder des Seienden, in dem ich heute erste Ansätze zur Frage nach der Entstehung der Welt erblicke." Aber das wäre natürlich keine

Umformulierung von Ballards zitierter Erinnerungsbehauptung, sondern eine völlig veränderte Schilderung der damaligen (wie der jetzigen) Situation. Eine weitere Möglichkeit wäre die, daß Ballard auf die Frage nach dem wahren Sinn seines Berichts ein wenig zurücksteckt und erläuternd fortfährt: "Ich empfand angesichts der Schönheit der Welt großes Staunen und den Drang, mir das Woher dieses herrlichen Anblicks verständlich zu machen." Diese oder eine ähnliche Formulierung hätte den Vorteil der schützenden Vag-

DENKWÜRDIGKEITEN heit. Die Empfindungen des Staunens und der nicht exakt ge¬ kennzeichneten Neugier sind so unbestimmt, daß wir sie auch jungen Taubstummen, Kindern, Neandertalern und mitunter sogar Tieren zuschreiben. Gewiß spielt hier die Sprachbeherr¬ schung eine Rolle, aber allein entscheidend ist sie nicht. Minde¬ stens ebenso ausschlaggebend ist, daß wir den Ausdruck "Frage nach der Entstehung der Welt" sogleich mit naturwissenschaft¬ lichen, philosophischen oder theologischen Gedanken in Ver¬ bindung bringen. Diese Gedanken involvieren zwar im Ge¬ gensatz zum vagen Staunen und zur nicht genauer bestimmten Neugier sprachliche Artikulierungsfähigkeiten, aber es sind nicht allein diese Fähigkeiten, sondern vor allem jene Gedan¬ ken, die wir dem jungen Taubstummen ebensowenig zuzubilli¬ gen bereit sind wie einem Kind oder einem Neandertaler. Mit der soeben angedeuteten vageren Formulierung von Ballards Bericht kommen wir in die Nähe von Wittgensteins folgendem Satz. Der besagt nämlich, daß man angesichts des zitierten Berichts von Ballard fragen möchte, ob er mit seiner Wiedergabe die seinerzeit wortlosen Gedanken richtig in Worte übersetzt habe. Die angedeutete vagere Formulierung wäre dann eine Möglichkeit, auf diese Frage zu antworten. Doch die Frage selbst enthält eine Merkwürdigkeit, die Wittgenstein betont, indem er darauf hinweist, daß sie sonst gar nicht zu existieren scheine, gerade hier aber ihren Kopf hervorrecke. Die Uberset¬ zung wortloser Gedanken in Worte können wir uns von dieser Vorstellung einen Begriff oder immerhin ein Bild machen? Die hier angeschnittene Problematik steht im Mittelpunkt nicht nur von PU 342, sondern offenkundig auch einer ganzen Reihe weiterer Reflexionen dieses Kontexts. Ehe diese Proble¬ matik eingehender besprochen wird, seien einige kurze Bemer¬ kungen zu den letzten drei Sätzen von PU 342 eingefügt, um häufig anzutreffenden Mißverständnissen zu begegnen: Die Fra¬ ge nach der Richtigkeit der Übersetzung wortloser Gedanken in Worte könnte zwar eine Frage nach der Zuverlässigkeit des Ge¬ dächtnisses sein, aber daraufkommt es, wie Wittgenstein darlegt, in diesem Zusammenhang nicht an. Dennoch spielt das Gedächt¬ nis hier eine wichtige Rolle. Denn Ballards Worte sind ein "Ge¬ dächtnisphänomen", und zwar ein "seltsames". Das heißt nun allerdings nicht, wie Hacker in seinen exegetischen Ausführun¬ gen zu dieser Textstelle schreibt, das Gedächtnisphänomen sei -

-

-

174

JOACHIM SCHULTE durch und durch irrig ("an aberration") und verdiene die Kenn¬ zeichnung "eine seltsame Reaktion [...], mit der wir nichts anzu¬ fangen wissen" (PU 288).2 Was Wittgenstein tatsächlich sagt, ist, daß dieses Gedächtnisphänomen keine klare Auskunft darüber gibt, welche Schlüsse daraus aufdie Vergangenheit des Betreffen¬ den gezogen werden können. Das soll doch wohl heißen, daß die Mehrzahl der "Gedächtnisphänomene" Schlüsse auf die Vergan¬ genheit der gemeinten Person zuläßt oder sogar nahelegt. So kann meine Abwehrreaktion gegen Nachbar Schmitzens Hund ein Gedächtnisphänomen sein, aus dem Schmitz unmittelbar fol¬ gern kann, daß ich entweder mit seinem oder einem anderen Hund in der Vergangenheit ein unangenehmes Erlebnis gehabt habe. Erinnerungen sind normalerweise ganz und gar nicht "selt¬ same" Gedächtnisphänomene, sondern im Regelfall das direkte¬ ste und oft zuverlässigste Mittel, um Schlüsse auf die Vergangen¬ heit des Betreffenden zu ziehen. Doch nun meint Wittgenstein, Ballards Erinnerungen seien ein Gedächtnisphänomen, dessen Seltsamkeit darin liege, daß man nicht wisse, welche Schlüsse aus ihnen auf die Vergangenheit gezogen werden können. Um einzusehen, warum hier keine Schlüsse auf die relevante Vergangenheit möglich sind, sollten wir uns die vagere Formu¬ lierung von Ballards Bericht ins Gedächtnis rufen. In dieser Formulierung ist nur von den Empfindungen des Staunens und der Neugier die Rede. Das ist eine Form des Berichts, die als Erinnerungsphänomen betrachtet eine Reihe von Schlüssen auf die Vergangenheit des Sprechers zuläßt: Man kann sich ganz gut ausmalen, wie der junge Ballard auf seinem Pferd sitzt und beim Anblick der Landschaft eine Begeisterung empfindet, die Staunen und Neugier aufkommen läßt. Wer Ballards Empfin¬ dungen schildern wollte, könnte auch Worte wie "Woher das alles?" oder dergleichen benutzen. Ähnlich verfährt man ja gele¬ gentlich bei der Wiedergabe der Empfindungen von Tieren, Kindern oder Neandertalern. Aber ebenso, wie es unangebracht wäre, diesen Wesen Vergleiche mit Proust oder Fragonard in den Mund (oder Verstand) zu legen, wäre es völlig verfehlt, Ballard die Beschäftigung mit der Frage nach der Entstehung der Welt zu unterstellen. -

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2 P. M. S. Hacker

1990, 367.

DENKWÜRDIGKEITEN Woran liegt das? Wir haben ganz schematisch mehrere Arten des Berichts unterschieden: 1) allgemeine Schilderung der Emp¬ findungen, 2) Unterstellung einer primitiven Frage, die den Ge¬ mütszustand resümieren soll, 3) Ersetzung der primitiven durch eine präziser gefaßte und theoretische Kontexte involvierende Frage.3 Da könnte es so aussehen, als hätte man hier eine Art von Progression vor sich, die Ubergänge von 1) zu 2) und von 2) zu 3) gestatten müßte. Aber so ist es eben nicht. Die Geschichte läßt sich, wie wir gesehen haben, so erzählen, daß man mit einem gewissen Recht von 1) nach 2) gelangt, aber wenn man dann von 2) nach 3) fortschreitet, geht der Zusammenhang mit 1) verloren. Würde man eine andere Geschichte (NB "eine andere Geschichte" nicht "diese Geschichte anders") erzählen, könnte man zwar von 2) nach 3) fortschreiten, aber in keinem der erwogenen Fälle können aus 3) Schlüsse auf 1) gezogen werden. -

7.3 "Ein Tisch denkt nicht" ist nicht vergleichbar einer Aussage wie "Ein Tisch wächst nicht". (Ich wüßte gar nicht, ,wie das wäre, wenn' ein Tisch dächte.) Und hier gibt es offenbar einen graduellen Ubergang zu dem Fall des Menschen. ("Zettel" 129)

Überlegungen dienen der Vorbereitung auf die Betrachtung von Wittgensteins oben bereits genannter Zen¬ tralfrage: "Bist du sicher, daß dies die richtige Übersetzung deiner wortlosen Gedanken in Worte ist?" Vorhin haben wir mögliche Umformulierungen von Ballards Bericht betrachtet und dabei (extrem schematisch, versteht sich) drei Stadien unter¬ schieden. Dieses Dreistadienschema könnte man nun durch Analogie auf den Fall der "Übersetzung" zu übertragen versu¬ chen. Doch dabei wird man alsbald bemerken, daß dieser VerÜBERGÄNGE: Diese

3 Das hier und beim Impressionisten-Beispiel verwendete Verfahren der schritt¬ weisen Substitution ist in dieser spezifischen Form von PU 530 f. angeregt. Vgl. PU 531, in dem sich auch die am Schluß dieses Aufsatzes angedeutete Folgerung abzeichnet: "Wir reden vom Verstehen eines Satzes in dem Sinne, in welchem er durch einen andern ersetzt werden kann, der das Gleiche sagt; aber auch in dem Sinne, in welchem er durch keinen andern ersetzt werden kann. (So wenig wie ein musikalisches Thema durch ein anderes.)"

175

176

JOACHIM SCHULTE such der Übertragung nicht gelingt. Eine Übersetzung führt von einer Sprache zur anderen oder von einem sprachähnlichen Sy¬ stem zum anderen, aber man kann weder aus jedem beliebigen System in jedes andere übersetzen, noch darf man die Wieder¬ gabe oder Schilderung eines Sachverhalts mit einer Überset¬ zung des Sachverhalts in eine Sprache oder ein sprachähnliches Gebilde verwechseln. Es mag zwar angehen, Empfindungen durch Worte, bildliche Darstellungen oder auch Musik wieder¬ zugeben; aber sie werden auf diese Weise nicht übersetzt. Man kann zwar aus dem Deutschen ins Englische und in gewissem Sinne auch aus einem malerischen oder musikalischen Stil in einen anderen übersetzen, aber nicht von der Malerei in die Musik oder von der Musik in Lyrik. Zwischen solchen Kunstäu¬ ßerungen kann es zwar Ähnlichkeiten und Entsprechungen (so¬ wie Disparitäten und "Reibungen" usw.) geben, aber Überset¬ zung findet einfach nicht statt. Es gibt dementsprechend keine Übersetzung von 1) [Empfin¬ dungen des Staunens und der Neugier] in 2) [vage Formulierung à la "Woher das alles?" oder dergleichen], während 3) unter manchen Umständen bei veränderter "Geschichte" als präzi¬ sierende Paraphrase und insofern als eine Art von Übersetzung von 2) in eine "exaktere" oder eine "stärker theoriebeladene" Sprache gedeutet werden könnte. Auf diesem gewundenen Weg sind wir nun zu einer Antwort auf die Frage gelangt, ob Ballard sicher sein könne, die wortlo¬ sen Gedanken aus der Zeit vor dem Erlernen einer Sprache richtig in Worte übersetzt zu haben. Nein, er kann nicht si¬ cher sein, weil es hier gar keine Ubersetzung geben kann. Die beiden relevanten Bereiche wortlose Gedanken einerseits und Wortsprache andererseits stehen nicht in einem Verhält¬ nis möglicher Übersetzbarkeit zueinander. Ebendarum ist Ballards Formulierung, er habe sich damals die Frage nach der Entstehung der Welt gestellt, ein seltsames Gedächtnisphäno¬ men, das keine Schlüsse auf die Vergangenheit zuläßt; denn man weiß einfach nicht, auf welchem Weg man von dieser Fragestellung zu einer nachvollziehbaren Gemütsverfassung des jungen Ballard zurückschreiten könnte. Welche Überset¬ zungsmanöver von Lermontows russischer Fassung des Goe¬ the-Gedichts "Über allen Gipfeln ist Ruh" zum deutschen Original zurückführen, kann man Schritt für Schritt aufzei-

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DENKWÜRDIGKEITEN

gen.4 Dagegen verhält sich Ballard in Wittgensteins Beispiel wie ein Komponist, der behauptet, seine symphonische Dich¬ tung Also sprach Zarathustra sei eine Ubersetzung von Nietz¬ sches Also sprach Zarathustra. Es mag zwar sein, daß er be¬ stimmte Szenen aus Nietzsches Buch in irgendeinem Sinne ist das eben nicht. wiedergegeben hat, aber eine Lenkt man den Blick nun auf die umfassendere Thematik von PU 316 ff., also die Frage nach der Bedeutung des Begriffs "den¬ ken" insbesondere nach dem Verhältnis des Denkens zum

Übersetzung

Sprechen -, geht die Tendenz der bisher angestellten Überle¬ gungen offenbar in Richtung der Folgerung, daß Denken und Sprechen nicht im Verhältnis ineinander übersetzbarer, sprach¬ ähnlicher Systeme stehen. Dabei beruhte die Frage, die über¬ haupt erst zur Annahme eines solchen Verhältnisses führte, auf der zusätzlichen Vorstellung, daß Denken und Sprechen sepa¬ rate (bzw. separierbare) Vorgänge sind, die gleichzeitig oder nacheinander ablaufen können. Sowohl die Unterstellung eines -

Verhältnisses der Übersetzbarkeit als auch die Annahme der Separierbarkeit von Denk- und Sprechvorgängen sind offenbar Objekte von Wittgensteins Kritik in PU 316 ff.; doch diese Kri¬ tik wird größtenteils nicht direkt geübt, sondern auf Umwegen, die z. B. durch die Betrachtung von Ballards Erinnerungsbericht angedeutet werden. Die Indirektheit der Kritik hat zur Folge, daß die wirkliche Tragweite und die effektive Schlagkraft der impliziten Gedanken erschlossen werden müssen und daher, je nach Standpunkt des Interpreten, ganz unterschiedlich einge¬ schätzt werden können. So möchte mancher vielleicht zu bedenken geben, daß dem Begriff der Ubersetzung in der oben umrissenen Interpretation zuviel Gewicht beigemessen und eine zu buchstäbliche Deutung gegeben worden ist. Es könne doch sein, daß dieser Begriff eher bildlich verstanden und "übersetzen" im Sinne eines an weniger

fest umrissene Bedingungen gebundenen Übertragungsvor¬ gangs gedeutet werden müsse. Man denke etwa an PU 335, in dem der Begriff "übersetzen" explizit metaphorisch gebraucht wird:

4 Ganz andere Schritte würden vom zweiten Nachdied des Wandrers zu natz' Abendgebet einer erkälteten Negerin führen.

Ringel¬

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JOACHIM SCHULTE Was geschieht, wenn wir uns bemühen etwa beim Schreiben eines Briefes den richtigen Ausdruck für unsere Gedanken zu finden? Diese Redeweise vergleicht den Vorgang dem einer Ubersetzung, oder Beschreibung: Die Gedanken sind da (etwa schon vorher), und wir suchen nur noch nach ihrem Ausdruck. Dieses Bild trifft für verschiedene Fälle mehr oder weniger zu. Aber was kann hier nicht alles geschehen? Ich gebe mich einer Stimmung hin, und der Ausdruck kommt. Oder: es schwebt mir ein Bild vor, das ich zu beschreiben trachte. Oder: es fiel mir ein englischer Ausdruck ein, und ich will mich auf den entsprechenden deutschen besinnen. Oder: ich mache eine Gebärde, und frage mich: "Welches sind die Worte, die dieser Gebärde entsprechen?" Etc. -

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daß die Suche nach dem angemessenen Ausdruck eines Gedankens hier mit einer verglichen und dieser Vergleich als Bild bezeichnet wird. Doch dabei darf nicht

Richtig ist,

Übersetzung

übersehen werden, daß

Wittgenstein erstens zwischen "Uber¬ setzung" und "Beschreibung" unterscheidet ("vergleicht den Vorgang dem einer Übersetzung, oder Beschreibung") und daß die vier genannten Beispiele unterschiedlicher Art sind und nicht alle dem "Bild" der Übersetzung entsprechen. Das dritte dieser vier Beispiele ist ein Fall von Übersetzung im alltäglichsten Sinne des Begriffes, während es sich im zweiten und vierten Beispiel um Beschreibungen handelt. Das erste Beispiel ist ku¬

es ist nicht leicht zu erkennen, inwiefern hier Uber¬ oder Beschreiben überhaupt ins Spiel kommen. Wenn ich mich einer Stimmung hingebe und sich der angemessene Aus¬ druck wie von selbst einstellt, kann eine Beschreibung vorliegen, falls der Ausdruck die Stimmung erkennbar charakterisiert. Das Besondere an der Situation ist wohl die gleichsam automatische Art und Weise, in der dem Betreffenden die Formulierung in den Sinn kommt. Aber darf man diese Mühelosigkeit als über¬ setzungstypisch kennzeichnen? Sicher nicht. Oder möchte man von "Ubersetzung" sprechen, weil es hier ein Richtig und ein Falsch, ein Passend und ein Unpassend gibt? Diese Merkmale reichen gewiß nicht aus, um die Anwendung des Begriffs der Ubersetzung zu rechtfertigen. Höchstens kann man sagen, daß die Art, in der sich der stimmungsadäquate Ausdruck einstellt, der ähnelt, in der eine mühelose Ubersetzung gelingt, insofern

rios, denn setzen

DENKWÜRDIGKEITEN nicht anzugeben weiß, wie man das Ergebnis erreicht hat, obwohl man meint, auf einem bestimmten (vorgegebenen?) Weg dorthin gelangt zu sein. Das Übersetzen eines Satzes p der Sprache A in den Satz q der Sprache B beinhaltet ein Deuten des einen Satzes durch den anderen, das vor allem mit Hilfe der vom Sprachwechsel bewirk¬ ten Kontextveränderung zuwege gebracht wird. Erkennbar wird die Interpretationsleistung aber erst, wenn man p und q neben¬ einanderhalten und in ihrem Verhältnis beurteilen kann. Eine solche Betrachtung zeigt jedoch zugleich, daß p und q stets ihrem Kontext verhaftet bleiben müssen, daß auch die gelungen¬ ste Übersetzung das Original da läßt, wo es immer schon war, nämlich in der Sprache, in der es zu Hause ist und aus der es auf keinem Wege herausgeführt werden kann. Diese Einsicht führt zu einem Gefühl der Ohnmacht, der Unzulänglichkeit, das sich trotz der vorliegenden Übersetzung einstellt. Aber es ist ein völlig anderes Gefühl als die Ohnmacht oder Unzulänglichkeit, die jemand empfindet, der die Sprache A gar nicht versteht und keine Ubersetzung q kennt. Wittgensteins Erwägungen deuten daraufhin, daß Denken und Sprechen noch viel weiter auseinan¬ derliegen können als A und B für den Sprachkundigen. Denn beim Verhältnis Denken/Sprechen ist noch nicht einmal klar, wie man von der einen Seite auf die andere gelangen könnte oder was um im Bild zu bleiben jemand lernen müßte, um vom einen Medium ins andere zu "übersetzen". man

-

-

7.4 DER IMPRESSIONIST: Immer wieder geht es in PU 316 ff. um das Verhältnis Sprechen/Denken. Mal wird das Denken als eine Art inneres Sprechen aufgefaßt, mal als ein wortloser, aber sprachähnlicher Vorgang, der bestimmte Über¬ PARALLELAKTION

-

sprachlichen Formulierung nahelegt, gestattet oder Jedesmal zeigt sich, daß diese Auffassung zu Ungereimtheiten führt, daß die zunächst einleuchtend wirkende Vorstellung von übersetzungsähnlichen Ubergängen nicht zu gänge

zur

gar vorschreibt.

halten ist. Ganz ähnliche Probleme tauchen auch in anderen Zusam¬

menhängen

von

Wittgensteins Erörterungen psychologischer

179

i8o

JOACHIM SCHULTE

Begriffe auf. Betrachten wir etwa den Abschnitt PU 368, der zur Erörterung des Begriffs "Vorstellung" ("sich etwas vorstellen") gehört. Diese Bemerkung lautet: Ich beschreibe Einem ein Zimmer, und lasse ihn dann, zum Zeichen, daß er meine Beschreibung verstanden hat, ein im¬ pressionistisches Bild nach dieser Beschreibung malen. Er malt nun die Stühle, die in meiner Beschreibung grün hießen, dunkelrot; wo ich "gelb" sagte, malt er blau. Das ist der Eindruck, den er von diesem Zimmer erhielt. Und nun sage ich: "Ganz richtig; so sieht es aus." -

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Hier ist zunächst folgendes festzuhalten: a) Der Schluß wirkt überraschend, weil er eine Art Widerspruch zu enthalten scheint, b) Die geschilderte Situation beinhaltet mehrere Uber¬ gänge, die übersetzungsartigen Charakter haben. Demnach kön¬ nen wir hoffen, durch Parallelbetrachtung Aufschluß über die

Ballard-Problematik zu gewinnen. Vergegenwärtigen wir uns die von Wittgenstein geschilderte Situation! Zwei Personen sind beteiligt: Lynkeus, der Schilderer des Gesehenen, und Déjàvu, der in vielen Pinselführungstech¬ niken erfahrene Kunstmaler. Lynkeus beschreibt ein Zimmer, und er beschreibt es sehr genau, denn er nennt sogar die Farben der diversen Möbelstücke. Nun fordert er den malgewandten Déjàvu auf, das beschriebene Zimmer in impressionistischer Manier wiederzugeben. (An dieser Stelle gehen Hackers exege¬ tische Erläuterungen übrigens zu weit: Er behauptet, Lynkeus wolle mit seiner Beschreibung vor allem die Stimmung des Zim¬ mers darstellen und Déjàvu habe die Aufgabe, in erster Linie das Atmosphärische des Raums wiederzugeben. Für beide Annah¬ men gibt es im Text keine Grundlage5; vor allem sind sie über¬ flüssig.) Déjàvu führt die gestellte Aufgabe aus, aber er verändert die in Lynkeus' Schilderung explizit genannten Farben in ekla¬ tanter Weise: aus grünen Stühlen werden dunkelrote; aus gelben Gegenständen werden blaue usw. Diese Darstellung entspricht dem Eindruck, den Déjàvu durch Lynkeus' Beschreibung ge¬ wonnen hat. Und jetzt kommt der Clou: Lynkeus, der sehen 5 Es sei von

denn, man interpretiert "impressionistisch" unnötigerweise "atmosphärisch" oder "stimmungsgeladen".

im Sinne

DENKWÜRDIGKEITEN

wollte, ob Déjàvu die "Beschreibung verstanden hat", sagt ange¬ sichts des danach gemalten Bildes: "Ganz richtig; so sieht es

aus." Dieses Urteil scheint einen offensichtlichen Widerspruch zu enthalten, denn die ursprüngliche Beschreibung enthielt ge¬ naue Farbangaben, von denen die gemalte Wedergabe auf¬ fallend abweicht. Wie kann man da behaupten, daß sowohl die Beschreibung als auch das Gemälde den gemeinten Gegen¬ stand das Zimmer richtig darstellen? Zunächst ist es wichtig, den Überblick über die verschiedenen Schritte zu behalten: 1. Lynkeus gibt seine Schilderung des Zim¬ mers. 2. Déjàvu macht sich eine Vorstellung von dem beschrie¬ benen Zimmer. 3. Déjàvu malt ein impressionistisches Bild, das seine Vorstellung von dem Zimmer wiedergeben soll; das Bild weicht in wichtiger Hinsicht von explizit genannten Elementen der Schilderung ab. 4. Lynkeus bestätigt, daß das Gemälde eine zutreffende Darstellung des Zimmers enthalte. Eine Möglichkeit bestünde nun freilich darin, daß sich Lyn¬ keus hinsichtlich der Farben geirrt und Déjàvu die Beschreibung (intuitiv? anhand kontextbezogener Überlegungen?) korrigiert hat. Das ist aber sicher nicht gemeint, und Wittgensteins Text enthält keinen Hinweis auf diese Möglichkeit. Wichtig ist, daß Déjàvu ein impressionistisches Bild malen soll. Diese Aufgabe gestattet in mancher Hinsicht gewisse Freihei¬ ten, verlangt aber gleichzeitig ein beträchtliches Maß an Uber¬ einstimmung mit dem Original, also dem durch Lynkeus' Be¬ schreibung vermittelten Aussehen des Zimmers. Denn wenn sich Déjàvu an eine besonders realistische Stilrichtung hätte halten müssen, wäre die einschneidende Änderung der Farben ein Verstoß gewesen und hätte von Lynkeus als Fehler erkannt werden müssen. Wäre dagegen eine abstrakte "Darstellung" zugelassen, könnte das Bild derart frei sein, daß von Richtigkeit oder gar Ubereinstimmung überhaupt nicht die Rede sein dürf¬ te, denn dann wäre praktisch jedes stilkonforme Bild mit der Aufgabenstellung vereinbar. Aber die so gegebene Möglichkeit der Ausbalancierung von Darstellungsfreiheit und Entspre¬ chungswunsch schafft die Probleme nicht aus der Welt. Wie lassen sich die vorhin aufgezählten Schritte 1. bis 4. rechtferti¬ -

gen?

Von 1. nach 2.:

-

Lynkeus gibt anhand seinet Erinnerung an ein (womöglich unter Hinzuziehung von Pho-

bestimmtes Zimmer

I8I

182

JOACHIM SCHULTE tographien, Skizzen, Notizen, Einbildungskraft usw.) in Sätzen eine Beschreibung des Zimmers. Déjàvu hört zu und macht sich eine Vorstellung von diesem Zimmer. Déjàvus Vorstellung wird von zahlreichen Eindrücken geprägt sein, von Erinnerungen, Assoziationen, Ansichten über Lynkeus und anderem mehr. Die¬ se Vorstellung enthält zweifellos ein bildliches Element, denn es handelt sich um die Beschreibung des Aussehens des Zimmers, und Déjàvu ist ein Maler, der dieses Zimmer durch ein Bild

darstellen soll. Nun darf man zwar sicher sagen, daß von dem Zimmer über Lynkeus' Beschreibung gewisse Projektionslinien bis zu Déjàvus Vorstellung führen, aber diese Projektionslinien lassen notgedrungen vieles vage. Steht im Zimmer der Schrank rechts vom Tisch (sRt), so wird man diese Relation sRt vielleicht auch in Lynkeus' Beschreibung und in Déjàvus Vorstellung wie¬ derfinden. Aber mit Sicherheit gibt es eine extrem hohe Zahl von Relationen im Zimmer, die weder in der Beschreibung noch in der Vorstellung auftauchen. Außerdem werden in der Be¬ schreibung Relationen genannt, die Déjàvu mit oder ohne Grund aus seiner Vorstellung ausläßt, und umgekehrt wird in der Vorstellung aus eigener Aktivität sicher das eine oder andere Moment hinzugefügt bzw. verändert. Ein Großteil von überein¬ stimmenden Elementen und Relationen muß sowohl in der Be¬ schreibung als auch in der Vorstellung gegeben sein, sonst könn¬ te von einer Gleichbezüglichkeit der beiden einfach nicht die Rede sein. Aber völlige numerische bzw. qualitative Gleichheit ist weder erreichbar noch nötig. Von 2. nach 3.: Auf der Basis seiner anhand von Lynkeus' Beschreibung gewonnenen Vorstellung malt Déjàvu ein Bild des Zimmers. Das Bild soll seinen Eindruck wiedergeben. Daher wird die Vorstellung (2.) eine wichtige Rolle spielen, die ihr in anderen Zusammenhängen sicher nicht zukäme. Wir können die übereinstimmende Elemente und Relationen verbindenden Projektionslinien also getrost über die Vorstellung hinaus ver¬ längern und bis zum Bild (3.) fortsetzen. Von 3. nach 4.: Lynkeus betrachtet Déjàvus Bild und stellt fest: "Ganz richtig; so sieht es aus." Er sagt nicht, es sei eine ungefähr oder in mancher Hinsicht zutreffende Wiedergabe. Nein, das Bild sei eine genau getroffene Darstellung des Zimmers. Das Bild entspreche seiner Beschreibung und, soweit er sehe, auch dem Aussehen des Zimmers selbst.

DENKWÜRDIGKEITEN Hier ist klar: die Projektionslinien können nicht bis zur 4. Stu¬ fe durchgezogen werden. Zwischen 1. und 4. besteht ein unüber¬ brückbarer Gegensatz. Die Beschreibung Lynkeus' läßt sich nicht widerspruchsfrei mit seiner Zustimmung zu Déjàvus Bild in Einklang bringen, denn Lynkeus' Aussagen über die Farben der Dinge sind mit dem Bild nicht zu vereinbaren. Irgendwo sitzt hier ein Fehler, eine Ungereimtheit. Aber wo? Die erste Möglichkeit, die wir jedoch sogleich ausschließen müssen, wäre die, daß sich Lynkeus geirrt hat entweder 1. oder 4. (oder beide) seien falsch. Diese Möglichkeit müssen wir deshalb aus¬ schließen, weil die gegebene Darstellung die in PU 368 erzähl¬ te Geschichte durchaus plausibel und nachvollziehbar ist. Viel¬ leicht stutzen wir zunächst wegen des augenscheinlichen Ge¬ gensatzes zwischen 1. und 4., aber dann sehen wir ein, daß sich die Sache genau so zutragen kann und verständlich ist. Der Anschein der Widersprüchlichkeit muß sich also irgendwie be¬ seitigen lassen. Die zweite Möglichkeit ist, daß unsere schematische Wieder¬ gabe einen Fehler oder ein irreführendes Moment enthält. Ebendas ist, wie ich meine, die Möglichkeit, auf die Wittgen¬ stein hinauswill. Das angedeutete Schema enthält zwei maßgeb¬ liche Elemente: erstens die Einteilung in klar getrennte Stufen, zweitens das Bild der Projektionslinie (und die Projektionslinie wiederum gleicht den Ubersetzungsschritten des Ballard-Bei¬ spiels). Beides sind sicher zulässige Mittel der Darstellung, aber sie können offenbar irreführend wirken. Diese Wirkung haben sie vor allem dann, wenn man verkennt, daß Stufeneinteilungen ebenso wie Projektionslinien Mittel analytischer oder deskrip¬ tiver Verfahrensweisen sind, die nachträglich an einen Vorgang, eine Geschichte, ein Phänomen oder anderes herangetragen werden, um auf diese Weise zu besserem Verständnis zu gelan¬ gen. Den angestrebten Zweck können sie erfüllen, aber es kann auch geschehen, daß man durch die Anwendung dieser Mittel den Eindruck gewinnt, der Stufeneinteilung entsprächen in der Wirklichkeit (bzw. in unserem Bewußtsein, in der Sprache usw.) korrespondierende Abläufe, Mechanismen oder Systeme, die wie die Räder einer Gangschaltung so miteinander verbunden sind, daß ein Gang gleichsam notwendig auf den anderen folgt, nur nach dem anderen eingelegt werden kann und im Rahmen der gegebenen Konfiguration den Schluß zuläßt, welche Gänge -

-

-

183

184

JOACHIM SCHULTE vorher geschaltet wurden. Den mechanischen Abläufen in der Sache oder im betrachteten System entsprächen Projektionslini¬ en, die in komplizierteren und offensichtlich nicht mechani¬ schen Fällen zwar nicht soviel Stringenz und Exaktheit in An¬ spruch nehmen können, aber trotzdem nichts von ihrem geome¬ trisch-strengen Charakter einbüßen. Das ist die Vorstellung, die in der einen oder anderen Form die von Wittgenstein monierte Art des Irrtums auslöst: Stufeneinteilung und das Durchziehen von Projektionslinien suggerieren eine Determiniertheit der be¬ trachteten Sachverhalte, die vergessen läßt, daß ihre Systematizität nur erborgt und die unterstellten Verbindungen nur Schat¬ ten eines Mittels der anschaulichen Darstellung sind. Beziehen wir diese allgemeinen Erkenntnisse zurück auf das Beispiel der impressionistischen Wiedergabe des Zimmers, er¬ gibt sich, daß Stufeneinteilung und Projektionslinien zwar zum Verständnis der geschilderten Situation beitragen und mithelfen können, den Grund unseres anfänglichen Stutzens herauszu¬ arbeiten, ihrerseits aber keine Entsprechungen irgendwelcher Realitäts- oder Systemelemente sind, die stets bestimmten Re¬ geln gehorchen. Vorstellungen, Beschreibungen, Eindrücke und Angemessenheitsurteile sind nicht so miteinander verknüpft, daß eins streng aus dem andern abgeleitet werden kann. Lynkeus' Urteil "So sieht's aus" ist durch kein vorgängiges Element des Geschehens determiniert, nicht einmal durch seine eigenen Er¬ innerungsaussagen über das Aussehen des dargestellten Zim¬ mers.

Der Hauptgrund für diese Indeterminiertheit dürfte in der starken Kontextgebundenheit der Darstellungsmittel liegen. Far¬ be, Form und Schatten summieren sich in Bildern zu immer neuen Gesamtkomplexen, die durch geringfügige Variation ihren Aussagegehalt radikal ändern bzw. trotz erheblicher Retuschen weiterhin das gleiche sagen können. Werden einige Farben ausge¬ wechselt, kann das den Ton oder die Stimmung eines Bildes insge¬ samt so ändern, daß es als Ganzes dem Original stärker gleicht als ein ähnliches Bild mit originalgetreuer Farbgebung. Darum kann Lynkeus behaupten, das Zimmer sehe so aus wie auf dem von Déjàvu gemalten Bild, obwohl die Farben mancher Gegenstände völlig verschieden sind; denn die einzelnen Bestandteile verknüp¬ fen sich im Bild in ganz anderer Weise zu einem Gesamteindruck als in der dem Bild koordinierten Realität.

DENKWÜRDIGKEITEN

7.5 jetzt aber nicht sagen: "Denken ist schwer." Es gibt zwar, glaube ich, in der Philosophie ein Stadium, in dem man dieses Gefühl hat, Ich würde

und der Stoff, an dem ich jetzt arbeite, ist hart wie Granit, aber ich weiß, wie ich ihn anpacken muß. (Wittgenstein im Gespräch mit Drury, 19496.)

Einige der von Wittgenstein nur angedeuteten Gedanken dürften durch die Parallelisierung des Ballard-Bei¬ spiels mit dem Fall des Impressionisten ins Auge springen: die Feststellung der Irreführung durch die von anfänglichem Stut¬ zen in die Wege geleitete Schritt-für-Schritt-Analyse; die Ein¬ sicht, daß Übersetzung bzw. Projektion oder ähnliche Verfahren extrem Verfahrens-, kontext- und stilgebunden sind; der Gedan¬ ke, daß Schattenvorgänge wie Denken und Vorstellen nicht ge¬ fahrlos von ihrem Herrn dem eigentlichen Schlemihl in Ge¬ stalt des Redens, Malens oder sonstwie öffentlichen Darstellens gelöst werden können. Schon als Andeutungen und in milder Vagheit formuliert, sind diese Ideen starker Tobak. Aber im Grunde verweisen die bisher nachgezeichneten Gedanken auf eine noch weit radikalere Fol¬ gerung. Diese soll in gebotener Kürze und auf der bisherigen Deutung fußend als bloßer Fingerzeig aufscheinen. Die radika¬ lere Folgerung, auf die hier angespielt wird, dürfte deutlicher werden, wenn man den in vielen Interpretationen nicht leicht unterzubringenden Abschnitt PU 341 (also die dem BallardBeispiel unmittelbar vorangehende Bemerkung) in den Mittel¬ punkt rückt: "Gedankenloses und nicht gedankenloses Sprechen ist zu vergleichen dem gedankenlosen und nicht gedankenlosen Spielen eines Musikstücks." Diese Bemerkung ruft sogleich den Anfang von PU 330 in Erinnerung, in dem die Frage nach der Verwandtschaft zwischen Denken und Sprechen ausdrücklich thematisiert wird. Auf diese Frage reagiert Wittgenstein dort mit der typischen Einleitungsfloskel "Man möchte sagen". Diese Floskel läßt erkennen, daß die Antwort naheliegt, aber tenden¬ ziell verfehlt ist oder in die Irre fuhren kann: "Man möchte sagen, es [das Denken] ist das, was denkendes Sprechen vom STIL-VEHIKEL:

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gedankenlosen Sprechen unterscheidet." Und gerade wenn man

6 Rush Rhees (Hg.), am Main 1987, 219.

Ludwig Wittgenstein:

Porträts und

Gespräche,

Frankfurt

185

i86

JOACHIM SCHULTE dieser naheliegenden Antwort ausgeht, stellt sich, wie Witt¬ genstein meint, leicht die in PU 316 ff. exponierte und kritisierte Auffassung des Denkens als eines selbständigen Begleitvorgangs ein: "Und da scheint es [das Denken] eine Begleitung des Spre¬ chens zu sein. Ein Vorgang, der vielleicht auch etwas anderes begleiten, oder selbständig ablaufen kann." Wttgensteins Remedur beginnt demnach mit genau den glei¬ chen Worten wie die Ausgangsformulierung der kritisierten An¬ schauung: Zunächst wird die Differenz zwischen gedankenlo¬ sem und nicht gedankenlosem Sprechen als ein möglicher Aus¬ gangspunkt der angegriffenen Konzeption hingestellt, der das Denken als selbständiger Begleitvorgang gilt. Anschließend wird bei der gleichen Basis ansetzend empfohlen, das gedanken¬ lose und das nicht gedankenlose Sprechen mit dem gedanken¬ losen und dem nicht gedankenlosen Spielen eines Musikstücks von

-

zu

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vergleichen.

Wie läßt sich dieser Gedanke auf das Ballard-Beispiel übertra¬ gen? Eine Schwierigkeit liegt offenbar darin, daß Wittgenstein nicht vom Komponieren, sondern vom Spielen eines Musikstücks redet. Das Spielen eines Musikstücks setzt aber das Vorhanden¬ sein der zu spielenden Pièce voraus. Im Ballard-Beispiel ging es aber doch anscheinend gerade um die Frage, ob der Erzähler recht haben konnte mit seinem vermeintlichen Bericht, selb¬ ständig komponierend, nicht spielend-interpretierend auf bestimmte Gedanken gekommen zu sein. Aber mit ebendieser Fragestellung geraten wir freilich wieder in die gleiche oder eine ähnliche Bredouille, wie sie oben bei der Erörterung des BallardBeispiels (und in ähnlicher Form im Fall des Impressionisten) aufgezeigt wurde. So verfahrend landen wir auf einem der be¬ reits gekennzeichneten Schritt-für-Schritt-Wege des Überset¬ zens, Projizierens oder sonstigen Darstellens, und bei diesem Vorgehen kommen wir früher oder später an einen Punkt, an dem das Fortschreiten sei es glücklicher- oder unplausiblerweise nicht mehr zu rechtfertigen ist. Nein, die Empfehlung Wittgensteins ist einigermaßen wört¬ lich zu nehmen: Wr müssen uns auf eine Stufe begeben, auf der wir es einerseits mit einem gegebenen Musikstück zu tun haben, dessen gedankenlose oder nicht gedankenlose Spielweisen dann andererseits zu unterscheiden und mit dem Fall des Sprechens zu vergleichen sind. -

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DENKWÜRDIGKEITEN Diese Ebene ist erreicht, wenn man Fragen wie die nach der Möglichkeit des sprachlosen Denkens oder der exakten Uber¬ einstimmung zwischen Vorstellungsbild und gemaltem Bild überwunden und hinter sich gelassen hat. Derartige Fragen lautet Wittgensteins implizite Antwort muß man auf sich beru¬ hen lassen. Der Streit um Möglichkeit oder Unmöglichkeit sprachlosen Denkens ist ein Streit um des Kaisers Bart: Wo gesprochen wird, können wir uns fragen, ob die Äußerungen durchdacht sind oder nicht. Wo es Sätze gibt, kann man sich nach der Möglichkeit der Ubersetzung erkundigen. Wo es keine Sätze und keine satzähnlichen Gebilde gibt, kann von Überset¬ zung nicht die Rede sein. Und wo nicht gesprochen wird, findet die Frage nach dem Denken keinen Ansatz. Aufs Ballard-Beispiel bezogen, heißt das: Die beschriebene Situation berechtigt uns zu gewissen Zweifeln. Diese Zweifel beziehen sich aber nicht darauf, ob der taubstumme Junge wirk¬ lich schon denken konnte. Vielmehr setzen sie bei der Feststel¬ lung an, daß hier sozusagen die Stilebene die Interpretation des Musikstücks verfehlt wurde. Die in Ballards Bericht ange¬ schnittene Ursprungsfrage verweist auf einen philosophischen, naturwissenschaftlichen oder theologischen Kontext, der die Möglichkeit der Übersetzung zulassen müßte, während die ge¬ schilderte Situation der Übersetzung keinen Ansatzpunkt bietet. Resultat: mit Ballards Bericht stimmt etwas nicht; ein Weg zeich¬ net sich ab, doch er führt nirgendwohin. (In analoger, aber nachgerade umgekehrter Hinsicht kann die Wiedergabe des Im¬ pressionisten treffend sein, obwohl keine schrittweise nachvoll¬ ziehbare Analyse vom Vorstellungsbild zur vermeintlichen Pro¬ jektion führt. Resultat: der Impressionist zeichnet ein stimmiges Bild, zu dem er auf keinem deutlich rekonstruierbaren Weg -

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gelangt ist.) In entsprechender Weise müssen wir uns, wenn die Frage "Wird hier gedacht?" ansteht, auf eine Ebene verfügen, auf der die Streitereien um des Kaisers Bart keinen Ansatzpunkt mehr finden, so daß wir uns auf die eher entscheidbaren "Stilfragen"

konzentrieren können, also Fragen, bei denen es etwa darum geht, ob die verschiedenen Teile der vorliegenden Schilderung zusammenpassen. (Gemeint ist hier die Bedeutung des Wortes "zusammenpassen", in der der Schluß von Ballards Bericht nicht mit dem Anfang zusammenpaßt.)

187

i88

JOACHIM SCHULTE Am Tempo, an der Phrasierung und einigen weiteren Merkma¬ len läßt sich erkennen, ob jemand ein Musikstück gedankenlos oder nicht gedankenlos spielt. Ahnlich verhält es sich beim Re¬ den. Wer mechanisch oder konfus daherredet, redet gedanken¬ los. Von dem, der exakt und wohlgesetzt formuliert und mit nuancierter Betonung spricht, sagen wir (normalerweise), daß er sich Gedanken gemacht hat. Wenn wir dagegen fragen, ob es nicht möglich sei, daß sich der mechanisch oder im Schlaf Reden¬ de etwas dabei denkt, geraten wir aufdie schiefe Ebene und schon bald zu bloßen Wortstreitigkeiten: "Könnte eine Maschine den¬ ken?" (PU 359) "Aber eine Maschine kann doch nicht denken!" (PU 360) "Der Sessel denkt bei sich selber ..." (PU 361) An der schiefen Ebene kommt man nach Wittgenstein vorbei, indem man sich auf die Ebene der stilistischen Bewertung be¬ gibt. "Stilistisch" ist hier freilich nur ein Kürzel für eine äußerst

umfassende Gruppe von Fragen bezüglich des Zusammenpas¬ sens verschiedener Beschreibungsteile. Wittgensteins Beispiele zeigen den Weg: Mr. Ballard und der Impressionist deuten in jeweils verschiedener Manier auf Möglichkeiten des Zusam¬ menpassens und unüberwindliche Hürden auf dem Weg des Ubersetzens oder Projizierens. Der Maler könnte ein weit reali¬ stischeres, aber weniger stimmiges und treffendes Bild malen. Ballard wiederum könnte seinen Bericht anders formulieren, und zwar wie oben angedeutet so, daß die Teile besser zusammenpassen. In diesem Fall würden wir seine Schilderung nicht so leicht bezweifeln. Allerdings wäre der Bericht nun auch längst nicht mehr so anspruchsvoll wie in der von William James zitierten Form. Das von Wttgenstein oft in findiger Weise benutzte Mittel des Ebenenwechsels kann mehreren Zwecken dienen. Im hier besprochenen Zusammenhang kommen vor allem zwei in Fra¬ ge: Die erste wichtige Funktion des Ebenenwechsels ist der Nutzen als Instrument der Kritik und der dadurch ermöglichten Korrektur. Unstimmigkeiten von der Art der Ungereimtheiten des Ballard-Beispiels können durch das Hin und Her zwischen den Ebenen aufgespürt, dingfest gemacht und durch Korrektur eventuell ausgeräumt werden. Zum anderen kann der Schritt auf die Ebene der stilistischen Beschreibung und Bewertung die Einsicht in eine Art von Stimmigkeit ermöglichen, die etwa im Sinne der Gestaltpsychologie erkennen läßt, inwiefern ein -

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DENKWÜRDIGKEITEN Ganzes mehr bzw. etwas anderes sein kann als die Summe seiner Teile. Diese Art der Betrachtung hilft verstehen, warum die impressionistische Darstellung des Zimmers trotz der Unver¬ einbarkeit mit der Summe der einzelnen Projektionsschritte "richtig" wirken kann. Das betrachtete Gebilde einerlei, ob Gemälde, Musikstück oder sprachliche Schilderung bezieht -

Stimmigkeit aus einer gewissen Geschlossenheit, die zu¬ gleich Abgeschlossenheit bedeutet und kein Zurückgehen auf die Ebene der analytischen Einzelschritte zuläßt. Die Unge¬ reimtheiten der analytischen Ebene brauchen sich auf der Ebene der stilistischen Betrachtung nicht wieder einzustellen. Mit der Änderung des Blickwinkels kann sich auch das betrachtete Ob¬ jekt ändern. Aber sobald man zur analytischen Ebene zurück¬ kehrt, kommen die Ungereimtheiten wieder zum Vorschein. Die hier umrissene Interpretation verweist zugleich auf eine mögliche Lesart des ansonsten problematischen Abschnitts PU 329: "Wenn ich in der Sprache denke, so schweben mir nicht neben dem sprachlichen Ausdruck noch ,Bedeutungen' vor; son¬ dern die Sprache selbst ist das Vehikel des Denkens."7 Nähme man die in den letzten Worten enthaltene Empfehlung in strik¬ tem Wortsinn metaphorisch, wäre die resultierende Lehre "recht schwach schließlich kann der Passagier [des Vehikels] das Fahr¬ zeug verlassen und ohne jedes Fahrzeug Spazierengehen, sich auch auf dem Promenadendeck oder im Gang des Eisenbahn¬ wagens hin- und herbewegen. Er ist mit seinem Fahrzeug nur zufällig verbunden [...]."8 Das "Vehikel", möchte ich meinen, ist seine

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eher im Sinne des "Musikstücks" aufzufassen. Es ist in gewisser Hinsicht ein fertiges Gebilde, das "sich mir selbst sagt" (vgl. PU 523), in anderer Hinsicht aber erst durch die Interpretation (im Sinne des gedankenvollen "Spiels") Leben gewinnt. Dieses Leben ist aber kein Schattenwesen, keine eingehauchte Seele aus Bedeutungsäther, sondern es liegt ausschließlich im Spiel des Musikstücks, im Gebrauch der Sprache. Ob die Teile des auf bestimmte Weise gespielten Stücks der auf bestimmte Weise gebrauchten Formulierungen zusammenpassen, ist eine Inter¬ pretationsfrage, über die man (im Gegensatz zur Ausgangsfrage von PU 342) in ersprießlicher Weise streiten kann. -

-

7 8

Vgl. PG, 161. Savigny (1989) 1996,

v.

17.

189

190

JOACHIM SCHULTE Literatur Savigny (1989) 1996, Wittgensteins "Philosophische Untersuchungen": Ein Kommentar für Leser, Bd. II, Abschnitte 316 bis 693, Frankfurt a. M. P. M. S. Hacker 1990, An Analytical Commentary on the Philosophical Investiga¬ tions, Vol. III: Wittgenstein, Meaning and Mind, 2. Teil, Oxford. E.

v.

_8 Oliver R. Scholz

Vorstellungen von Vorstellungen

8.1

Umgebungen

"Philosophischen Un¬ tersuchungen" sprachphilosophische Fragen im Mittelpunkt stan¬ Während in den Abschnitten 1-315 der

den, treten in den Abschnitten 316-693 mehr und mehr die psy¬

chologischen Begriffe in den Vordergrund, also Begriffe wie Den¬ ken, Vorstellung, Erwartung, Absicht, Wollen etc. Die beiden Stränge sind dabei auf vielfältige Weise miteinander verknüpft. So lassen sich manche Lehren und Diagnosen zur sprachlichen Be¬ deutung auf den umfassenderen Bereich der Intentionalität des Geistigen hin verallgemeinern. Weitere Verbindungen werden deutlich, wenn man die Relevanz der Untersuchungen zum Sa¬ genwollen und Meinen (PU 633-693) für die bedeutungstheo¬

retischen Diskussionen bedenkt. Ein psychologischer Begriff, den Wittgenstein besonders ein¬ gehend unter die Lupe nimmt, ist der Begriff der Vorstellung. Seine Erörterung folgt auf die Abschnitte, die der Klärung der Bedeutung des Wortes "denken" gewidmet waren (Abschnitte 316-362). Zusammenhängend wird der Vorstellungsbegriff in den Abschnitten untersucht, die mit PU 363 beginnen: ,"Wenn ich mir etwas vorstelle, so geschieht doch wohl etwas!' [...]." Wo die Ausführungen zur Vorstellung enden, ist umstrittener. Viele Kommentatoren setzen das Ende bereits bei Abschnitt 397 an;1 1 Hacker 1990 macht aus PU 363-427 drei Kapitel: Imagination (PU 363-397); The self and self-reference (PU 398-411); Consciousness (PU 412^427). Glock

192

OLIVER R. SCHOLZ ein deutlicher Einschnitt vor.2

liegt jedoch

erst

nach Abschnitt 427

Aus welchen Gründen mag Wittgenstein gerade dem Begriff der Vorstellung eine eigene umfangreiche Untersuchung gewid¬ met haben? Nun, erstens ist dieser Begriff ohne Frage um seiner selbst willen von vitalem Interesse. Es handelt sich nicht um einen psychologischen Begriff wie jeden anderen. Das Thema läßt uns aus vielen Gründen nicht kalt: Vorstellungen sind ein Anteil un¬ seres Seelenlebens, der uns besonders am Herzen liegt; sie kön¬ nen uns erfreuen und trösten, aber auch quälen. Und die Vorstel¬ lungsgabe ist für uns verknüpft mit liebgewonnenen Persönlich¬ keitsidealen wie Kreativität und Originalität, die wir Künstlern und Erfindern zusprechen und an denen wir selbst auch teilhaben möchten. Zweitens können Vorstellungen und Vorstellungsbilder in Theorien der Wahrnehmung, des Gedächtnisses und allgemei¬ ner: der Erkenntnis auf eine lange Karriere zurückblicken.3 So glaubten die britischen Empiristen (aber natürlich nicht nur sie), daß der Geist mit Vorstellungen (ideas) und Sinneseindrücken (impressions) ausgestattet sei unterschieden allein durch den Grad ihrer Lebendigkeit. Überwiegend wurde dabei an mehr oder weniger verblaßte oder frische mentale Bilder gedacht. Unser gesamtes geistiges Leben Wahrnehmen, Denken, Erin¬ nerung, Vorstellung, Träumen etc. erscheint unter diesen An¬ nahmen als ein Erzeugen bzw. Wachrufen, Kombinieren, Tren¬ nen oder anderweitiges Bearbeiten und Verändern solcher inne¬ rer Bilder. Drittens ist der Vorstellungsbegriff schon aufgrund der über Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende dominierenden Vorstel¬ lungstheorie der Bedeutung auch von beträchtlicher sprachphi-

-

-

1996, 286 gelangt zu einem ähnlichen Vorschlag: PU 363-397: imagination and mental images; PU 398-411: the first-person pronoun ,P and the nature of the self; PU 412-427: consciousness. Hallett 1977, 7 findet gar kein Vorstellungska¬ pitel, sondern gliedert wie folgt: XII. "Each Equivalent to Each" (PU 363-397); XIII. The I (PU 398-411); XIV Consciousness (PU 412-427). 2 Dafür argumentiert von Savigny in seinem Kommentar (1989, 21996); ihm zufolge erstreckt sich das Vorstellungskapitel also von PU 363 bis PU 427. 3 Eine brauchbare Zusammenstellung klassischer Texte bietet der Teil III von Beakley/ Ludlow 1992. Empfehlenswert ist auch der historische Uberblick in White 1990, Teil I.

VORSTELLUNGEN VON VORSTELLUNGEN Relevanz. Sprachliche Ausdrücke, so lautete die Grundidee, verdanken ihre Bedeutung dem Umstand, daß sie (primär) für Vorstellungen, für Ideen, stehen. Zwei Ausdrücke

losophischer

hätten demnach dieselbe Bedeutung, wenn sie für dieselbe Idee stünden. Mit einem sprachlichen Ausdruck etwas zu meinen, liefe darauf hinaus, mit ihm eine bestimmte Vorstellung zu asso¬ ziieren; und den Ausdruck zu verstehen, bestünde wohl darin, dieselbe Vorstellung in sich wachzurufen, die der Sprecher mit ihm verknüpft hat. Spielarten dieser Theorie hatte Wittgenstein in PU 134-197 vernichtend kritisiert und dabei eine andere Auffassung vom Verstehen eines Satzes ausgearbeitet. (Im Vor¬ stellungskapitel kommt er in PU 395-397 anhand des Begriffs der Vorstellbarkeit kurz auf das Verhältnis von Vorstellung und Sinn zurück wie auch noch später z. B. in PU 449-^T5 1.) Nicht zuletzt ist der Vorstellungsbegriff ein besonders lehrrei¬ cher Fall für das Wittgensteinsche Projekt einer philosophi¬ schen Untersuchung der psychologischen Begriffe, ihrer Me¬ thode und ihrer Möglichkeiten und Grenzen. So verwundert es nicht, daß sich Wittgenstein im sogenannten Teil II der "Philo¬ sophischen Untersuchungen"4 und vor allem in den "Bemer¬ kungen über die Philosophie der Psychologie"5 eingehend mit dem Thema "Vorstellung" beschäftigt hat. In der Sekundärlite¬ ratur fällt auf, daß sich die Autoren wesentlich auf Stellen aus BPP stützen, wenn sie auf Wittgensteins Untersuchungen zum Vorstellungsbegriff eingehen.6 Für die Interpretation der "Phi¬ losophischen Untersuchungen" ist jedoch zu beachten, daß die Fragestellungen, unter denen Wittgenstein den Begriff der Vor¬ stellung in Teil I analysiert,7 sich noch in mancherlei Hinsicht von denjenigen unterscheiden, die ihn später leiteten, als er einen "Plan zur Behandlung der psychologischen Begriffe" (BPP II 63) vor Augen hatte. Ich konzentriere mich auf die einschlägigen Abschnitte des ersten Teils. Ein Satz- oder Abschnitts-Kommentar ist in diesem -

4 Vgl. bes. II iii; eine gründliche Interpretation dieses Textes bietet Krüger 1995. 5 Vgl. bes. BPP II 63-147 und LS I 308-319. 6 Siehe etwa Budd 1989, Kapitel V oder ter Hark 1990, Kapitel 7.3. 7 So weisen die Untersuchungen zum Begriff der Vorstellung hier auffällige

Parallelen zu den Ausführungen über die Denken (PU 316-362) auf.

zum

private Sprache (PU 243-315)

und

193

194

OLIVER R. SCHOLZ Rahmen nicht möglich;8 nach einem Uberblick über die Frage¬ stellungen und die angewandte Methode greife ich Schlüsselthe¬ men und -stellen heraus.

8.2

Übersicht

Zur besseren Orientierung seien knappe Hinweise zur themati¬ schen Gliederung von PU 363-427 vorausgeschickt: Die Abschnitte 363-374 setzen bei einem verführerischen Bild ein: wenn jemand sich etwas vorstelle und dies mitzuteilen versuche, dann sei von einem inneren Geschehen, einem inne¬ ren Vorgang, und dessen Mitteilung die Rede. Dieses Bild eines inneren Vorgangs des Vorstellens wird im folgenden kritisch, diagnostisch und therapeutisch behandelt. Wie Wittgenstein in PU 375-385 zu zeigen versucht, lassen sich Vorstellungen nicht nach dem Modell von Gegenständen begreifen, die mithilfe einer inneren Wahrnehmung, eines inne¬ ren Wiedererkennens oder innerer hinweisender Erklärungen identifiziert würden. Die Abschnitte 386-411 setzen sich mit unterschiedlichen Ausprägungen der Idee auseinander, man verfüge autonom über seine Vorstellungen. Weder verfügt man epistemisch über sie in der Form eines intimen Kennens oder Wissens von innen her, noch kann man sich einfach unbeschränkt vorstellen, was man will. Und vor allem hat es keinen Sinn zu sagen, man besitze seine Vorstellungen in besonderer Weise. In diesem Zusammen¬ hang rücken in PU 398^+11 von der Äußerung "Ich habe eine Vorstellung von ..." die Rollen der Wörter "haben" und "ich" in den Mittelpunkt. (Die Abschnitte 403^-11 stellen dabei anhand von "ich habe Schmerzen" eine gleichlaufende Betrachtung an, für die frühere Einsichten ausgewertet werden können.) In PU 412 ff. wird geltend gemacht, daß die eigenen Vorstel¬ lungen nicht zeigend identifiziert werden können, indem man seine Aufmerksamkeit auf sie richtet. Von denjenigen eigenen seelischen Phänomenen, auf die man seine Aufmerksamkeit rich¬ tet, sagt man nun auch, sie seien einem "bewußt". Und das Sub8

Ausgezeichnete

Kommentare dieser Art

liegen jetzt

21996, ad loc, und Hacker 1990, ad Ioc, vor.

mit

von

Savigny

1989/

VORSTELLUNGEN VON VORSTELLUNGEN stantiv "Bewußtsein" kann dann als Sammelbegriff für alle mög¬ lichen bewußten seelischen Sachverhalte dienen. So kommt hier über die Diskussion der problematischen Rolle des inneren Aufmerkens für die Identifizierung von Vorstellungen das The¬ ma "Bewußtsein" ins Spiel, dem Wittgenstein anschließend grundsätzlichere Betrachtungen widmet. Die Rede von Hirn¬ prozessen und die vom Bewußtsein gehören, wie hier betont -

-

wird, völlig unterschiedlichen Beschreibungsebenen und Sprach¬

spielen an. Wittgenstein macht insbesondere auf die Gefahr auf¬ merksam, solche kategorialen Unterschiede so auf die Wirklich¬

keit zu projizieren, daß der Eindruck einer rätselhaften unüber¬ brückbaren "Kluft" entsteht. Das Kapitel endet mit Diagnosen und therapeutischen Vorschlägen (im Sinne von PU 133 und 2 5 5) zu den fragwürdigen Bildern, die sich uns beim Nachdenken über die Bewußtseinszustände aufdrängen.

8.3 Methode in der Philosophie der

Psychologie

philosophischen Untersuchung des Begriffs der Vorstellung vorgehen? Einen guten Einstieg bieten die Abschnitte 370-374. Wttgenstein zieht hier ein erstes metho¬ disches Zwischenfazit9 vor dem Hintergrund von PU 363-369. In PU 363 war das neue Thema "Vorstellung" eingeführt wor¬ den und zwar in charakteristischer Verknüpfung mit der Kate¬ gorie des (inneren) Geschehens: ",Wenn ich mir etwas vorstelle, so geschieht doch wohl etwas!' [. ..]."10 Wie sehr es Wittgenstein Wie soll

man nun

bei einer

-

Uberhaupt fällt auf, daß das Vorstellungskapitel von methodischen und dia¬ gnostischen Intermezzi durchsetzt ist: PU 370-374, 383-384, 387, 401-402, 414, 415, 423-427. Auch dies deutet daraufhin, daß aus der Untersuchung des Begriffs der Vorstellung Lehren zu ziehen sind, deren Bedeutung weit über dieses Thema hinausreicht. Insofern gilt für das Beispiel "Vorstellung", was Wittgenstein in PU 133 angekündigt hatte: "[...] es wird nun an Beispielen eine Methode gezeigt, und die Reihe dieser Beispiele kann man abbrechen" oder 9

fortsetzen! 10 Ahnlich gelagerte Kritiken am Bild des inneren Vorgangs oder Zustands hatte Wittgenstein zuvor schon in bezug auf einige andere psychologische Begriffe geäußert; vgl. etwa PU 33-34 (die Aufmerksamkeit auf etwas richten; die Erklä¬ rung so und so meinen/deuten), 305 (Erinnerung), 314 (Kopfschmerzen), 316 (Denken), 321 (plötzliches Verstehen), 361 (im Innern zu sich selbst sprechen) -

etc.

195

iç6

OLIVER R. SCHOLZ auch im Zusammenhang mit der Vorstellungsthematik auf das Bild "in mir geschieht etwas" ankommt, unterstreichen PU 42 3 ("Gewiß, in dir geschehen alle diese Dinge. [...]") und PU427 ("[...], was hinter seiner Stirn vorging.") In PU 364 hatte sich Wittgenstein dann dem Beispiel des Kopfrechnens zugewandt, das man ja als Rechnen in der Vorstellung (so ausdrücklich in PU 364 b) auffassen kann. Das Kopfrechnen ist aus mehreren Gründen von besonderem Interesse: Erstens handelt es sich um einen zentralen Fall, "in welchem von der Vorstellung ein regel¬ mäßiger Gebrauch im Alltagsleben gemacht wird." (BPP I 649) Für den Zusammenhang der "Philosophischen Untersuchun¬ gen" ist ein zweiter Punkt noch wichtiger: Stärker als bei ande¬ ren Vorstellungsphänomenen drängt sich beim Kopfrechnen das Bild eines zeitlich ausgedehnten inneren Vorgangs auf, der ei¬ nem äußeren Geschehen (einem lauten Rechnen oder einem Rechnen auf dem Papier) Punkt für Punkt entspräche. Mit PU 364 b kommt eine weitere Facette des Gebrauchs von "in der Vorstellung" bzw. "vorgestellt" ins Spiel; diese Ausdrücke können auch als Kontrast zu "wirklich" verwendet werden, wo¬ bei Verwirrungen drohen, wie in PU 365-366 ausgemalt und gleichsam vorgeführt wird.11 In PU 366 b bis 368 wird das Sprachspiel "die eigene Vorstellung beschreiben" und im Zu¬ sammenhang damit das Verhältnis von Vorstellungen zu Bildern angesprochen. PU 369 kehrt am Beispiel des Kopfrechnens zum Bild des inneren Vorgangs zurück: "Man möchte fragen: "Wie ist das was geht da vor-wenn Einer im Kopfe rechnet?" [...]" Hier hakt Wittgenstein nun mit einem Vorschlag zur Metho¬ de ein: "Nicht, was Vorstellungen sind, oder was da geschieht, wenn man sich etwas vorstellt, muß man fragen, sondern: wie das Wort "Vorstellung" gebraucht wird. [...]." (PU 370) Anstatt die Fragen zu stellen: "Was sind Vorstellungen?" und "Was geschieht da, wenn man sich etwas vorstellt?", sollen wir also fragen: "Wie wird das Wort "Vorstellung" gebraucht?" Aus wel¬ chem Grund schlägt Wttgenstein diesen Perspektivenwechsel vor? Hinweise darauf geben neben PU 369-374 einige frühere Stellen, in denen er methodische Kommentare zu verwandten Fragestellungen abgegeben hat. In PU 321 etwa hieß es: "Was geschieht, wenn ein Mensch plötzlich versteht?" Die Frage ist -

-

ll

Vgl.

dazu Schulte 1991.

VORSTELLUNGEN VON VORSTELLUNGEN

gestellt. Fragt sie nach der Bedeutung des Ausdrucks "plötzlich verstehen", so ist die Antwort nicht das Hinweisen auf einen Vorgang, den wir so nennen." Augenscheinlich ist Witt¬ genstein der Meinung, daß auch die Frage "Was geschieht da, wenn man sich etwas vorstellt?" schlecht gestellt ist. Aber kehren wir, um dies zu verstehen, zunächst zu der Frage "Was ist eine Vorstellung?" zurück. Fragen der Form "Was ist F?" wurden traditionell als Fragen nach dem Wesen von F aufgefaßt; die Antwort sollte dementsprechend die Form einer Wesensdefiniüon annehmen. So verstanden, fragt die erste Fra¬ ge nach dem Wesen der Vorstellung. Ordnet man Vorstellungen nun in einem nur scheinbar harmlosen (vgl. PU 308!) weiteren Schritt kategorial als (innere) Vorgänge oder Geschehnisse ein, so ergibt sich zwanglos die zweite Frage "Was geschieht da, schlecht

sich etwas vorstellt?". Und diese kann man dann so auffassen, daß sie nach der Natur eines rätselvollen inneren Vorgangs fragt, über den mithilfe bestimmter (etwa introspekti¬ ver oder namrwissenschaftlicher) Methoden mehr herauszufin¬ den ist. Insofern lenkt die Frage "Was sind Vorstellungen?" gerade wenn Vorstellungen als Vorgänge aufgefaßt werden auf falsche Antworten. Wittgenstein beharrt demgegenüber darauf, zunächst die Be¬ deutung des Wortes "Vorstellung" zu erklären, und zu fragen, wie es gelernt und gebraucht wird, wie es ins Sprachspiel eintritt. Er antizipiert sogleich einen naheliegenden Einwand gegen die¬ sen von ihm empfohlenen "linguistic turn": "Das heißt aber nicht, daß ich nur von Worten reden will. Denn soweit in meiner Frage vom Wort "Vorstellung" die Rede ist, ist sie's auch in der Frage nach dem Wesen der Vorstellung." (PU 370) Mit "in mei¬ ner Frage" bezieht sich Wittgenstein offenkundig auf "Was sind im zurück. stellt Anschluß zunächst zwei (Er Vorstellungen?" Diese auf: negative Behauptungen Frage ist erstens nicht durch ein Zeigen zu erklären weder für den Vorstellenden selbst, noch für eine andere Person; a fortiori ist sie nicht durch innere, private hinweisende Erklärungen zu beantworten (vgl. PU 374, 380). Sie ist zweitens auch nicht durch die Beschreibung irgend¬ eines Vorgangs zu erledigen.) Dem drohenden Vorwurf des Geg¬ ners, das philosophische Thema zu verfehlen, begegnet Witt¬ genstein dann nochmals im nächsten Abschnitt, der zur Klärung heranzuziehen ist: "Das Wesen ist in der Grammatik ausgesprowenn man

-

-

-

197

198

OLIVER R. SCHOLZ chen." (PU 371) Das, was traditionell als Wesen angesprochen wird, drückt sich demnach gerade in der Grammadk aus. Mit der Grammatik eines Wortes oder Satzes beschreibt man die Regeln ihrer korrekten Verwendung. Die Grammatik bestimmt so auch, "welche Art von Gegenstand etwas ist" (PU 373); denn sie legt fest, was sinnvollerweise über solche Gegenstände gesagt wer¬ den kann und was nicht. Um Wittgensteins methodische Ratschläge in PU 370-374 besser verstehen zu können, empfiehlt es sich, noch etwas weiter auszuholen. Der Psychologie seiner Zeit hat Wittgenstein bei anderer Gelegenheit eine unbarmherzige Diagnose gestellt: Sie sei gekennzeichnet durch "Verwirrung und Ode".12 Dieser kläg¬ liche Zustand sei aber nicht einfach daraus zu erklären, daß es sich um eine vergleichsweise junge Wssenschaft handele. Viel¬ mehr beruhe die Misere darauf, daß Begriffsverwirrungen und experimentelle Methoden eine unheilige Allianz eingehen, so daß die Probleme, die uns beunruhigen, und die zu ihrer Lösung angewandte Methode "windschief aneinander vorbeilaufen".13 Begriffliche (philosophische) und empirische (wissenschaftliche) Untersuchungen müssen nach Wittgenstein strikt auseinander¬ gehalten werden. Den begrifflichen Klärungen kommt dabei eine logische und methodische Priorität gegenüber der empi¬ rischen Theorienbildung zu; insbesondere bilden sie die Voraus¬ setzung für sinnvolle und fruchtbare Fragestellungen und Expe¬ rimente. Wittgenstein drängt darum auch in der Philosophie der Psychologie zu einer Hinwendung zur Sprache als dem unum¬ gänglichen ersten Schritt. Unsere Sprache enthält zahlreiche Wörter und Wendungen, die unsere seelischen und geistigen Seiten betreffen. So beinhal¬ tet unser psychologischer Wortschatz Substantive ("Schmerz", "Gedanke", "Erwartung", "Vorstellung" etc.), dazu zahlreiche -

Adverbien ("absichtlich", "unwillkürlich" u. a.) und auch etliche Verben ("denken", "zweifeln", "hoffen", "meinen" etc.). Alle diese Ausdrücke verwenden wir in einer großen Viel¬ falt von Sätzen, die wiederum in die unterschiedlichsten Sprach¬ spiele eingebettet werden können. Ein Wort wie "Vorstellung" ist deshalb im Zusammenhang ganzer Sätze und in dem weitläu-

Adjektive,

12 PU S. 232/543; vgl. BPP I 1039. 13 PU S. 232/543; ähnlich in BPP I 1039.

VORSTELLUNGEN VON VORSTELLUNGEN

figeren Kontext der Sprachspiele zu untersuchen, in denen die Sätze jeweils verwendet werden.14 Psychologische Begriffe sind von Haus aus Begriffe des All¬ tags oder wenigstens Begriffe, die an solche anknüpfen. Insbe¬

sondere sind sie nicht vorrangig zum Zwecke wissenschaftlicher Theorienbildung eingeführt worden. Ihre Verwendung kann weitverzweigt, uneinheitlich und verworren sein. Für den Philo¬ sophen stellt sich die Aufgabe, diese Verwendung zu entwirren und übersichtlich zu machen. Auch die Grammatik von "Vor¬ stellung" ist keineswegs leicht zu übersehen. Anzustreben ist eine übersichtliche Darstellung der Regeln, nach denen die Wörter "sich vorstellen", "Vorstellung" und "vorgestellt" in den verschiedenartigen Sprachspielen gebraucht werden. Dabei sind die Beziehungen zu anderen Begriffen, insbesondere zu den Wahrnehmungsbegriffen ("sehen", "hören" etc.) und zum Bild¬ begriff, zu beleuchten.

8.4 Die

Sprachspiele mit dem Wort "Vorstellung"

Verschaffen wir uns vorab einen Überblick über besonders cha¬ rakteristische Wendungen und Sprachspiele. Zunächst kann ich die eigene Vorstellung äußern oder kund¬ tun; als sprachliche Ausdrucksformen stehen mir dafür im Deut¬ schen etwa Wendungen wie "ich stelle mir vor, daß "ich habe die Vorstellung, daß ...", "ich sehe jetzt... lebhaft vor mir" u. ä. zur Verfügung. Hier ist von vornherein zu beachten, daß sich meine Vorstellungen nicht nur in verbaler Form äußern: Ich kann genausogut vorspielen oder malen bzw. zeichnen, was ich mir vorstelle und wie ich mir es vorstelle. Darüber hinaus kön¬ nen Vorstellungen auch durch feinere Abschattungen des Ver¬ haltens charakterisiert sein.15 Zu den Sprachspielen mit dem Wort "vorstellen" gehört insbesondere das Spiel "die eigene Vorstellung beschreiben" oder weniger mißverständlich: "be-

14 Auf die Beachtung des Satzzusammenhangs zielt im Vorstellungskapitel, wie der Kontext deutlich macht, die Ermahnung in PU 421: "Sieh den Satz als Instrument an, und seinen Sinn als seine Verwendung!" 15

Vgl.

BPP II 145.

199

200

OLIVER R. SCHOLZ

schreiben, was ich mir vorstelle" bzw. "...,wie ich mir etwas vorstelle". Und dann sprechen wir natürlich auch Dritten Vor¬ stellungen zu etwa mit den Worten "er/sie stellt sich vor, Besonders kenn¬ daß ..." oder "er/sie hat die Vorstellung zeichnend für unsere Verwendung der Wortfamilie "Vorstel¬ lung" sind ferner die Wendungen "in der Vorstellung" und "(bloß) vorgestellt", die recht verstanden ganz harmlos sind, aber dennoch immer wieder zu Mißverständnissen geführt ha¬ ben. -

8.5 Wie sich

Wittgensteins Gegner

das Vorstellen vorstellen

Bemerkungen, aus denen sich die "Philosophischen Unter¬ suchungen" zusammensetzen, haben bekanntlich weitgehend Dialogcharakter. Wittgenstein setzt sich in der Regel mit einem oder mehreren imaginierten Gesprächspartnern oder Gegnern Die

auseinander. Es ist deshalb oft hilfreich, die meist nur skizzierten

Gegentheorie(n) zusammenhängend zu rekonstruieren, um zu sehen, welche Elemente Wittgenstein im Verlauf des Disputs angreift und welche davon er tatsächlich auch erschüttert. Ver¬ suchen wir also, die Auffassung auf den Begriff zu bringen, die Wittgenstein im Vorstellungskapitel ins Visier nimmt: "Sich etwas vorzustellen, ist ein innerer Vorgang. Dieses inne¬ re Geschehen korrespondiert Punkt für Punkt einem äußeren Gegenstück. So ist das visuelle Vorstellen (das Sehen in der Vorstellung, "vor dem geistigen Auge") ein innerer Vorgang, der eine exakte Parallele zum Sehen von Gegenständen der Außen¬

welt liefert.16 Neben den mit einer bestimmten Sinnesmodalität verknüpften Vorstellungen kennen wir Phänomene wie das Rechnen in der Vorstellung (idiomatischer: das Kopfrechnen), das Reden in der Vorstellung (das stille (Selbst-)Gespräch), das Lesen in der Vorstellung (das stille Lesen) und verwandte Er¬ scheinungen. Auch hier entspricht der innere Vorgang Stück für Stück einem öffentlichen äußeren Vorgang: dem lauten Rech-

16 Entsprechendes gilt für das auditive, olfaktorische, gtistatorische und taktile Vorstellen. Die philosophische Tradition war jedoch zumeist einseitig auf den Fall des visuellen Vorstellens fixiert.

VORSTELLUNGEN VON VORSTELLUNGEN oder Rechnen auf dem Papier, dem lauten Sprechen, dem lauten Lesen etc. An all diesen inneren Vorgängen sind wesentlich private Ge¬ nen

genstände beteiligt: Vorstellungsbilder oder andere innere Re¬ präsentationen, die einem eigenen Raum angehören, zu dem nur der Vorstellende Zutritt hat. Solche Bilder entsprechen genau

den äußeren Bildern, die uns aus Museen, Galerien, Filmen und Fotoalben vertraut sind, mit dem einzigen Unterschied, daß sie sich innen, im Geiste, befinden und notwendigerweise nur einer Person zugänglich sind. Diese privaten Bilder können inwendig (mit dem geistigen Auge) gesehen werden; zumindest können sie zeigend identifiziert werden, indem der Vorstellende seine innere Aufmerksamkeit auf sie richtet. Von diesen inneren Gegenständen kann ich eine Beschrei¬ bung "abziehen" im Sinne von "einen Abzug machen", "kopie¬ ren" (vgl. PU 374). Die Korrektheit und Güte der Vorstellungs¬ beschreibung bemißt sich danach, wie genau sie dem inwendig geschauten Bild entspricht. Solche Beschreibungen beruhen auf (inneren) Beobachtungen und eignen sich dazu, anderen mitge¬ teilt zu werden. Diese Mitteilung bewirkt bei anderen, daß sie wissen, daß ich eine Vorstellung habe, und wissen, was ich mir vorstelle bzw. wie ich mir es vorstelle (vgl. PU 363). Soweit das ebenso suggestive wie wirkmächtige Bild des Geg¬ ners, das Wittgenstein in allen seinen Facetten kritisiert hat. Einigen dieser Kritiken und Diagnosen wollen wir im folgenden -

-

nachgehen.

8.6

Vorstellungen, Ausdrucksäußerungen und Kriterien

"Ich stelle mir

...

vor":

Folgen wir Wittgensteins Ratschlag und sehen uns die Verwen¬ dung des Wortes "vorstellen" in den einschlägigen Sprachspie¬ len an. Auf Fragen hin oder auch aus eigenem Antrieb äußern wir Wendungen wie: "Ich stelle mir vor", "ich sehe lebhaft vor mir" etc. WU uns jemand in unsere Vorstellungen herein¬ reden, sagen wir daneben auch schon einmal Dinge wie "Ich ...

...

weiß, was ich mir vorstelle".

psychologischen Sätze in der 1. Person Singular Prä¬ (genauer gesagt: bestimmte Verwendungen solcher Sätze)

Solche sens

201

202

OLIVER R. SCHOLZ bilden ein wiederkehrendes Thema der "Philosophischen Un¬ tersuchungen". Wittgenstein untersucht u. a. Verwendungen von "jetzt verstehe ich", "jetzt weiß ich weiter", "jetzt kann ich fortsetzen" "ich habe Schmerzen", "ich erwarte", "ich hoffe", "ich habe die Absicht", "ich beabsichtige", "ich meine", "ich fürchte mich", etc.17 Besonders ausführlich werden Verstehens(PU 151-155, 180-184 u. ö.), Schmerz- (bes. PU 288-299) und Meinens-Ausdrucksäußerungen (bes. PU 661-693) behandelt. Die Untersuchungen haben hier wie auch bei anderen Themen sowohl kritische und therapeutische als auch konstruktive Sei¬ ten. Der Philosoph muß in diesem Zusammenhang ein kompli¬ ziertes Geflecht falscher Bilder von den seelischen Sachver¬ halten, von der sprachlichen Bedeutung und von der Wahrneh¬ mung bekämpfen.18 Wie bereits vor dem Vorstellungskapitel deutlich wurde, die¬ nen Ausdrucksäußerungen in ihrer Standardverwendung nicht als Beschreibungen oder Berichte. Vor allem sind sie keine Be¬ schreibungen von etwas intern Beobachtetem und Wahrgenom¬ menem. Sie sind vielmehr als erlernte Ersatzformen oder Erwei¬ terungen des nichtverbalen Ausdrucksverhaltens anzusehen (vgl. u. a. PU 244 f., 343, 585). Ihr Status gleicht somit eher dem von Gesichtsausdrücken, Grimassen, Gebärden, Ausrufen, Seufzern etc. als dem von Protokollen. Kinder lernen von einem be¬ stimmten Alter an, anstatt zu schreien oder zu stöhnen, Ausrufe wie "Aua" zu gebrauchen, und später schließlich, Sätze wie "Ich habe fürchterliche Schmerzen!" oder "Es tut höllisch weh!" an¬ zuwenden. Statt mit dem Fuß aufzustampfen, lernen sie "Mist!" auszurufen, und endlich auch, Dinge zu sagen wie Jetzt werde ich aber wirklich wütend." Man lehrt sie so ein neues, potentiell wesentlich differenzierteres Ausdrucksverhalten. Ahnliches gilt ,

benutzt in diesem Zusammenhang vorzugsweise die Begriffe oder "Ausdruck". Da diese Termini schon anderweitig vielfältig besetzt sind, sollte man besser einen noch nicht vorbelasteten Kunstausdruck verwenden. In der angelsächsischen Literatur hat sich der Terminus "avowals" eingebürgert, der in dieser Rolle auf Gilbert Ryle zurückgehen dürfte. (Vgl. Ryle 1949, 101 f., 183 f. sowie ders. 1993, 215-218.) Einem Vorschlag von Eike von Savigny folgend (vgl. besonders 1996, Kapitel 9), werde ich zumeist von "Aus¬ drucksäußerungen" sprechen und dabei auch vor dem vielsilbigen Monstrum "Vorstellungs-Ausdrucksäußerungen" nicht zurückschrecken. 18 Siehe dazu jetzt umfassend: von Savigny 1996, Kapitel 9. 17

Wittgenstein

"Äußerung"

VORSTELLUNGEN VON VORSTELLUNGEN für das Ausdrücken von Freude, Ekel, Grauen, Zweifel u. a.19

Begeisterung, Arger, Gram,

Ausdrucksäußerungen fungieren als besonders auffällige und besonders artikulierte Elemente in den komplexen Ensembles, die seelische Muster ausbilden.20 In solchen Ensembles fügen sich typischerweise das Verhalten des Subjekts, mehr oder weni¬ ger weitläufige räumliche und zeitliche Begleitumstände sowie die Reaktionen anderer Personen zusammen. Die sprachlichen Ausdrucksäußerungen können in beliebig feinkörniger Weise signalisieren, welcher seelische Sachverhalt vorliegt, und im Falle der intentionalen Sachverhalte -, welchen Bezug und In¬ halt er jeweils hat. Wenden wir uns nun den Vorstellungen und den Vorstellungs-Ausdrucksäußerungen im besonderen zu. In PU 377 wird auf die charakteristische Asymmetrie zwischen der dritten und der ersten Person hingewiesen: "Was ist das Kriterium der Gleichheit zweier Vorstellungen? Was ist das Kriterium der Röte einer Vorstellung? Für mich, wenn der Andre sie hat: was er sagt und mt. Für mich, wenn ich sie habe: garnichts. Und was für "rot" gilt, gilt auch fur "gleich"." Auf die Frage: Woher weißt du, daß eine andere Person sich vorstellt, etwas sei rot? lautet demnach die korrekte Antwort: Ich nehme wahr, was sie sagt und tut; und dieses öffentliche verbale und nonverbale Verhalten dient mir als Kriterium dafür, was sie sich vorstellt. Dagegen wäre auf die Frage: Woher weißt du, daß du dir vorstellst, etwas sei rot? zu erwidern: In einem Sinne weiß ich das überhaupt nicht; vor allem wende ich keine Kriterien an, um festzustellen, was ich mir vorstelle. Vielmehr habe ich eben Deutsch gelernt und wende aufgrunddessen Wörter dieser Sprache mit hinrei¬ chender Zuverlässigkeit an; aufgrund dieser Fertigkeit beherr¬ sche ich insbesondere die in diesem Zusammenhang relevanten -

-

19 In

einigen Verwendungen fungieren Ausdrucksäußerungen, wie PU von "jetzt weiß ich weiter" betont, als Signale: "Es wäre in

180 am diesem eines seeli¬

Beispiel

letzteren Fall z. B. ganz irreleitend, die Worte eine "Beschreibung schen Zustandes" zu nennen. Eher könnte man sie hier ein "Signal" nennen; und ob es richtig angewendet war, beurteilen wir nach dem, was er weiter tut." 20 Zu diesem Musterrezept fur das Verständnis seelischer Sachverhalte vgl. von Savigny 1988, 15-24, und 1996, Kapitel 9. Ich komme weiter unten darauf zurück. -

203

204

OLIVER R. SCHOLZ

Sprachspiele mit dem Wort "Vorstellung" und mit dem Farbwortschatz (vgl. PU 381). Wittgenstein setzt sich in den "Philosophischen Untersu¬ chungen" unablässig mit einem falschen Bild von der Unan¬ greifbarkeit und Unbestreitbarkeit solcher Ausdrucksäußerun¬ gen auseinander. Sein Gegner deutet diese eigentümliche Zu¬ verlässigkeit und Geschütztheit als eine besondere Gewißheit, die auf der Irrtumsffeiheit introspektiver "Augenzeugenberich¬ te" beruhen soll. Tatsächlich besteht ja eine weitreichende Auto¬ rität der ersten Person bezüglich ihrer Vorstellungen, Vorstel¬ lungsbilder und -inhalte. Was das Subjekt sich vorstellt, wird festgelegt durch das, was es sagt. Wenn die Person sagt, daß sie eine Vorstellung von x hat, dann ist dadurch bestimmt, daß es sich um eine Vorstellung von x handelt es sei denn, es liegen besondere Umstände (etwa Unaufrichügkeit) vor, die die ein¬ schlägige Präsumtion entkräften. Aber bei dieser Autorität han¬ delt es sich nicht um eine epistemische, sondern um eine vorran¬ gig sozial garantierte Sicherheit: Die Vorstellungs-Ausdrucksäußerung ist nicht deshalb unangreifbar, weil sie in einer unfehlbaren inneren Wahrnehmung gründete, sondern weil es zum Sprachspiel der Vorstellung gehört, anderen Leuten nicht in ihre Ausdrucksäußerungen hineinzureden, es lägen denn be¬ sondere Gründe vor. Die Kompetenz, alleinzuständig, zuverläs¬ sig und verbindlich meine Vorstellungen zu äußern, habe ich mit der Sprache erworben (PU 381); ich habe sie gelernt, indem ich die Regeln der Sprachspiele mit dem Wort "Vorstellung" gelernt habe. -

8.7 Die

eigene Vorstellung beschreiben

Beherrschung des Vorstellungs-Sprachspiels gehört ma߬ geblich, daß man beschreiben kann, was man sich vorstellt.21 Im Unterschied zu Schmerzen etwa lassen sich Vorstellungen ins¬ besondere auch über ihre Bezugsgegenstände und ihre Inhalte charakterisieren (nach dem Muster: "ich habe eine Vorstellung Zur

von

...").

Vgl. BPP II 145: "Zu dem Sprachspiel mit "vorstellen" gehört jedenfalls die Beschreibung der Vorstellung." 21

VORSTELLUNGEN VONVORSTELLUNGEN

Erste-Person-Äußerungen, die Seelisches betreffen, können,

wie der Fall der Vorstellungs-Ausdrucksäußerungen

durchaus

deskriptive und informative

belegt, also

Seiten haben. Dies steht

jedoch nicht im Widerspruch dazu, wie Wittgenstein die "avo¬ wals" gekennzeichnet hat. Worauf es ihm ankommt, läßt sich

folgendermaßen umschreiben: Zwar können Ausdrucksäußerun¬

gen auch einen beschreibenden Charakter haben; aber sie sind in solchen Fällen keine auf Wahrnehmung beruhenden Proto¬ kolle eines privaten inneren Vorgangs, wie er von Leib-Seele-

Dualisten postuliert wird, noch Beschreibungen von bloßem Verhalten, wie die Behavioristen meinen. Vielmehr ist eine Vor-

stellungs-Ausdrucksäußerung sofern sie denn beschreibende Anteile aufweist eine indirekte Beschreibung des Vorgestell¬ ten: Ich beschreibe einen Gegenstand, eine Person (o. ä.), wie ich mir ihn bzw. sie vorstelle ähnlich wie ich mit der Äußerung meiner Farbeindrücke vom sommerlichen Himmel ("Wie blau der Himmel ist!") indirekt die Farbe des Himmels beschreibe (vgl. PU 272-280, bes. 275). Ohnehin darf uns der Umstand, daß wir in allen diesen Fällen von "Beschreibungen" reden, nicht zu der Ansicht verführen, es läge im Kern dasselbe Sprachspiel mit denselben Rechten und Pflichten, denselben Ansprüchen und Folgen vor; dies beton¬ ten schon die Abschnitte 290-291. -

-

-

-

-

8.8

Vorstellung und Wahrnehmung

Begriff der Vorstellung hängt auf vielfältige Weise mit den Wahrnehmungsbegriffen (Sehen, Hören usw.) zusammen.22 Der Gegner macht sich freilich ein verkehrtes wieder einmal über¬ mäßig vereinfachtes Bild von den Beziehungen: Er möchte das Der

-

Vorstellen schlicht und einfach als einen besonderen Fall von Wahrnehmung: ein inneres Wahrnehmen (vorzugsweise ein in¬ neres Sehen) auffassen. Es ist deshalb angezeigt, den Begriff der Vorstellung mit Begriffen wie Sehen (Hören etc.) auf der einen und Begriffen wie Trugwahrnehmung und Halluzinieren auf der -

nachgelassenen Bemerkung ging Wittgenstein so weit zu behaupten: .Vorstellen' wesentlich, daß zu seiner Äußerung Begriffe der Sinnes¬ wahrnehmung verwendet werden." (BPP I 885) Zur Kritik vgl. Glock 1996, 169. 22 In einer "Es ist dem

205

OLIVER R. SCHOLZ anderen Seite zu vergleichen. Wittgenstein hat versucht, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu beschreiben. In dem Sprachspiel mit dem Wort "sehen" sind Verbindun¬ gen, Züge und Reaktionen vorgesehen, die in dem Vorstellungs¬ sprachspiel sinnlos wären. So ist Sehen begrifflich mit Hin¬ schauen und Beobachten verknüpft. Durch Wahrnehmung und Beobachtung erwerben wir Informationen über die Außenwelt. Die betrachteten und beobachteten Dinge sind dabei grundsätz¬ lich auch für andere Personen sichtbar. Wenn man etwas sieht, hat es Sinn zu versuchen, es besser, genauer zu sehen, etwa indem man näher herangeht, schärfer hinschaut, die Brille putzt etc. Wer schlecht sieht, mag sich vertrauensvoll an einen Augen¬ arzt oder einen Optiker wenden. Mit dem Vorstellen verhält es sich offenbar ganz anders. Wer sich etwas besser vorstellen möchte, schließt oft gerade die Au¬ gen oder starrt ins Leere, um sich nicht ablenken zu lassen. Und wer nicht in der Lage ist, sich etwas vorzustellen, dem hilft auch kein Augenarzt, und übrigens erst recht kein auf das Auge des Geistes spezialisierter Internist oder Neurophysiologe. Weitere Unterschiede zwischen der Grammatik von "sehen" ("hören" etc.), "halluzinieren" und "vorstellen" treten zu Tage, wenn wir die Imperativform untersuchen.23 Man kann jeman¬ dem nicht ohne weiteres befehlen, den Eiffelturm zu sehen oder auch: einen Dolch zu halluzinieren. Dagegen hat es Sinn, eine Person aufzufordern, sich den Eiffelturm vorzustellen oder sich vorzustellen, "jeder der Leute, die ich auf der Straße sehe, habe furchtbare Schmerzen, verberge sie aber kunstvoll" (PU 391). Das Vorstellen ist partiell dem When unterworfen anders als das Sehen und das Halluzinieren. Wr können Vor¬ stellungen zumindest teilweise steuern, d. h. sie wachrufen und, wenn sie unangenehm werden, wieder unterdrücken oder ver¬ bannen. Zumindest hat es Sinn, dies zu versuchen, und häufig gelingt es uns auch. Sich etwas vorzustellen, ist eher etwas, was man tut, etwas Aktives und Schöpferisches, als etwas, das einem geschieht, zustößt, oder das man empfängt. (Insofern ähnelt das Vorstellen eher dem Malen oder Zeichnen als dem Sehen oder Halluzinieren.) Dazu paßt ferner, daß wir auch nicht in dersel-

-

-

23

Vgl. PU 393: "Stell dir vor, daß ...!" sowie BPP II 63 u. ö.

VORSTELLUNGEN VON VORSTELLUNGEN ben Weise überrascht werden können von dem, was wir uns wie uns verblüffen mag, was wir wahrnehmen oder halluzinieren.

vorstellen,

8.9

Vorstellungen, Vorstellungsbilder und Bilder

Zwischen den Begriffen "Vorstellung", "Vorstellungsbild" und "Bild" gibt es ebenfalls vielfältige Verbindungen, die leider auch allzu leicht fehlgedeutet werden können.24 Erinnern wir uns dazu wiederum an die gegnerische Auffassung: Für Wittgen¬ steins Gegner sind Vorstellungen (im einfachsten Falle) geistige Bilder, auf die der Vorstellende seine Aufmerksamkeit richten, die er sehen und betrachten kann. Von diesen inneren bildhaften Repräsentationen liest er seine Vorstellungsbeschreibung ab. Diese traditionsreiche imagistische oder piktorialistische Auf¬ fassung der Vorstellung ist aus vielerlei Gründen unhaltbar; sie verzerrt die Grammatik des Wortes "Vorstellung" in eklatanter Weise. Zunächst ist daran zu erinnern, daß die Anwendung des Wortes "Vorstellung" sehr viele Fälle umfaßt, bei denen nie¬ mand versucht wäre, von geistigen Bildern zu sprechen. So kön¬ nen wir uns etwa vorstellen, wie etwas klingt, riecht, schmeckt oder sich anfühlt, ohne daß dafür innere Bilder im wörtlichen Sinne zur Erklärung postuliert werden können. Eine Auswei¬ tung des Modells, die in der Annahme geistiger Kopien irgend¬ welcher (d. h. nicht notwendig bildhafter) Art bestünde, wirkt nicht besonders verlockend.25 Ohnedies scheint in vielen weite¬ ren Fällen überhaupt keine Beziehung zu einer sei es visuellen, sei es nicht-visuellen Repräsentation zu bestehen. Wenn ich etwa kundgebe: "Ich kann mir gut vorstellen, daß Helmut Kohl wiedergewählt wird", "Ich kann mir vorstellen, daß ein Compu¬ ter entwickelt wird, der jeden Menschen im Schach schlagen kann" oder: "Ich stelle mir diese Art, seinen Beruf zu verlieren, besonders unangenehm vor", so brauchen mir dabei überhaupt -

-

24 In vielen Sprachen hängen die einschlägigen Wörter schon etymologisch miteinander zusammen ("imagination" "image" o. a.), wodurch die Versu¬ chung, die Begriffe über Gebühr miteinander zu assimilieren, sicher verstärkt wird. 25 Darauf hat Ryle 1949, 252 f. mit besonderem Nachdruck hingewiesen. -

2o8

OLIVER R. SCHOLZ keine besonderen Bilder oder anderen Darstellungen vorzu¬ schweben. Dennoch drängt sich bei etlichen Vorstellungsphänomenen der Vergleich mit Bildern und die Rede vom Vorschweben von Bildern auf. So erklärt sich wohl auch die ungebrochene Attrak¬ tivität imagistischer Vorstellungsauffassungen.26 Vielleicht be¬ halten sie ja ein eingeschränktes Recht, wenn man sie nur zur Beschreibung und Erklärung dieser speziellen Phänomene her¬ anzieht. Wittgenstein gibt aber zu bedenken, daß die in der Tat beste¬ henden Beziehungen zwischen Vorstellungen und Bildern dabei falsch lokalisiert würden. Richtig ist zwar: Vieles von dem, was man sich vorstellen kann, kann auch bildhaft dargestellt werden. Auf die Frage "was stellst du dir vor?" kann man daher häufig mit einem Bild antworten; so könnte man ein Bild zeichnen oder malen, das zeigen soll, was man sich vorstellt und wie man es sich vorstellt. Und man könnte auch ein entsprechendes Bild be¬ schreiben. Zur Beschreibung von Vorstellungen gebrauchen wir sprachliche Ausdrücke und Techniken, die wir auch bei der Be¬ schreibung von Gemälden, Zeichnungen u. ä. anwenden; inso¬ weit überschneiden sich die Sprachspiele "eine Vorstellung be¬ schreiben" und "ein Bild beschreiben". Aus all dem folgt aber keineswegs, Vorstellungen seien Bilder und Vorstellungsbe¬ schreibungen darum schlicht ein Fall von Bildbeschreibungen. Insbesondere folgt nicht, daß die zur Charakterisierung einer Vorstellung benutzten Bilder von einem vorgängigen inneren Bild abgezogen sein müßten. Schon in PU 301 hatte Wittgenstein betont: "Eine Vorstel¬ lung ist kein Bild, aber ein Bild kann ihr entsprechen."27 Ln Vorstellungskapitel berühren die Abschnitte 366-368 verwandte Fragen. Besonders einschlägig ist hier der brilliante PU 367: "Das Vorstellungsbild ist das Bild, das beschrieben wird, wenn Einer seine Vorstellung beschreibt." Meisterhaft ist diese Be-

Vgl. dazu kritisch Scholz 1991, Kapitel 6.3 sowie Scholz 1995 und die dort angeführte neuere Literatur. 27 Im Nachlaß findet sich eine Bemerkung, die an Klarheit nichts zu wünschen übrig läßt: "[...] Die Vorstellung ist nicht ein Bild, noch ist der Gesichtseindruck eines. Weder .Vorstellung' noch .Eindruck' ist ein Bildbegriff, obwohl in beiden Fällen ein Zusammenhang mit einem Bild statt hat, und jedesmal ein anderer." (BPPII 112; vgl. "Zettel" 638) 26

VORSTELLUNGEN VON VORSTELLUNGEN

merkung schon deshalb, weil Wittgenstein hier bewußt (nämlich zu therapeutischen Zwecken) eine Formulierung gesucht und gefunden hat, die sich sowohl sein Gegner, als auch er selbst auf

die Fahnen schreiben können freilich bei fundamental ver¬ schiedener Deutung. Der Vertreter der Gegentheorie liest den Satz folgendermaßen: "Das Vorstellungsbild ist das innere Bild, das ich vor meinem inneren Auge sehe, wenn ich mir etwas vorstelle, und von dem ich meine Beschreibung abziehe, wenn ich meine Vorstellung beschreibe." Wittgenstein zufolge besagt die Bemerkung recht verstanden dagegen etwas ganz ande¬ res: "Um zu beschreiben, was ich mir vorstelle, kann ich ein Bild beschreiben, das ich auch selbst zeichnen oder malen könnte.28 Und der Inhalt meiner Vorstellung ist dadurch festgelegt, wie ich beschrieben habe, was ich mir vorstelle. (Von dieser Art ist die Beziehung zwischen einer Vorstellung und einem Bild.)" Eine wichtige Ergänzung liefert der Abschnitt PU 3 89, den wir uns deshalb kurz ansehen wollen: "Die Vorstellung muß ihrem Gegenstand ähnlicher sein als jedes Bild: Denn wie ähnlich ich auch das Bild dem mache, was es darstellen soll, es kann doch immer noch das Bild von etwas anderm sein. Aber die Vorstellung hat es in sich, daß sie die Vorstellung von diesem, und von nichts anderem ist." Man könnte so dahin kommen, die Vorstellung als ein Über-Bildnis anzusehen." Wittgenstein diagnostiziert hier unbarmherzig, wie sich sein Gegner immer tiefer in seinen "grammatischen" Einbildungen verstrickt. Die unleugbaren, vom Imagisten aber fehlgedeuteten, Beziehungen zwischen den Begriffen "Vorstellung" und "Bild" haben ihn zunächst dazu ver¬ fuhrt, die Vorstellungen selbst als innere, nur privat zu betrach¬ tende Bilder aufzufassen. Nun mißversteht er aber auch die Si¬ cherheit, mit welcher der Vorstellende festlegen kann, was er sich vorstellt. Ironischerweise erklärt nämlich gerade die imagistische Auffassung die Eindeutigkeit der Vorstellung nicht jedenfalls dann nicht, wenn sie sich der verbreiteten Auffassung anschließt, Bilder bezögen sich aufdas Objekt, dem sie am ähnlichsten sind.29 -

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28 Oder eine andere Person malen lassen könnte! Siehe PU 368. 29 Diese Ahnlichkeitsauffassung des Bildes ist natürlich ohnehin unhaltbar (vgl. dazu ausführlich Scholz 1991, Kapitel 2); man beachte aber, daß Wittgenstein sie sich nicht zueigen zu machen braucht (was er übrigens, wie andere Stellen zeigen, auch nicht tut).

209

21 o

OLIVER R. SCHOLZ Die Kombination dieser Mißverständnisse drängt den Gegner zu dem verzweifelten Schritt, Super-Bilder oder, wie Wittgenstein es ausdrückt: ein "Uber-Bildnis" zu postulieren. Vorstellungen erscheinen ihm wie Bilder, die er nun jedoch mit hypertrophen Eigenschaften ausstatten muß, die Bilder im landläufigen Sinne gerade nicht besitzen.

8.10 Elemente eines konstruktiven

Gegenbildes

gesehen, war und ist es verführerisch, die Vorstellungsphä¬ als innere Doppelgänger vertrauter äußerer Vorgänge aufzufassen. Zu der Parallelisierung konnte man schon durch die Mittel der Sprache verführt werden, die wie so oft Ungleich¬ artiges über Gebühr assimilieren, wie die folgenden Ausdrucks¬ paare illustrieren: "in der Vorstellung sehen" "sehen"; "in der Vorstellung hören" "hören"; "in der Vorstellung sprechen" "sprechen"; "in der Vorstellung rechnen" "rechnen" etc. Witt¬ genstein schlug zunächst vor, das sich aufdrängende Bild ernst¬ zunehmen (PU 374), um im Anschluß zu zeigen, daß es nicht in Wie

nomene

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kohärenter Weise anwendbar ist. We in anderen Fällen auch begnügt sich Wittgenstein aber nicht damit, die Gegentheorien ad absurdum zu führen und nur zerstörte "Luftgebäude" (PU 118) zurückzulassen; er liefert Feh¬ lerdiagnosen und weist auf eine konstruktive Alternative hin. Das alternative Gesamtbild vom Seelischen läßt sich auf die Formel bringen: öffentlich wahrnehmbare Muster statt inwendig beob¬ achteter Parallelvorgänge. Seelische oder geistige Sachverhalte oder Phänomene sind Muster einer gewissen Art, nämlich mehr oder weniger weitläufige Lebensmuster.30 Auch Vorstellungen sind spezielle Muster auf dem Band des Lebens. Darin, daß je¬ mand sich etwas, zum Beispiel das Gesicht von Nastassja Kinski, vorstellt, kann sich vielerlei zusammenfügen, beispielsweise: daß er die Augen schließt, vor sich hinstammelt "Wie schön sie doch ist!" und zu seinem Gegenüber sagt "Ich sehe jetzt Nastassja 30 Vgl. PU II i, S. 174/485; II xi, S. 229/541, sowie BPP II 651, 652, 672, 673; LS I 206, 211, 365, 406, 862, 869, 942, 966; LWII, S. 26, 35, 40, 42-43, 55, 61, 81, 84. Das an diesen Stellen angedeutete Musterrezept wird bei von Savigny 1988, 15-24, und 1996, Kapitel 9, erläutert und weiterentwickelt.

VORSTELLUNGEN VON VORSTELLUNGEN Kinski vor mir, wie sie sich in "Paris, Texas" plötzlich umwen¬ det und über ihre fragile Schulter schaut". Wenn jemand sich etwas vorstellt, kann dies natürlich auch ganz anders aussehen. Statt die Augen zu schließen, starrt das vorstellende Subjekt viel¬ leicht wie blind vor sich hin; anstatt sprachlich zu äußern, wie es sich etwas vorstellt, fertigt es womöglich eine Zeichnung, ein Gemälde oder einen Film (!) an etc. Diese Variabilität ist dabei durchaus typisch für seelische Muster. Einen weiterführenden Hinweis zur Charakterisierung des Vorstellens gibt PU 391 (vgl. auch PU 393). Es geht dort um die Frage, ob man sich vorstellen kann, "jeder der Leute, die ich auf der Straße sehe, habe furchtbare Schmerzen, verberge sie aber kunstvoll", und vor allem darum, wie ein solches Vorstellen aussehen könnte. In diesem Zusammenhang heißt es: "Und wenn ich mir das nun vorstelle, was me ich; was sage ich zu mir selbst; wie sehe ich die Leute an? Ich schaue etwa Einen an und denke mir "Das muß schwer sein, zu lachen, wenn man solche Schmerzen hat", und vieles dergleichen. Ich spiele gleichsam eine Rolle, tue so, als hätten die Andern Schmerzen. Wenn ich das me, sagt man etwa, ich stelle mir vor, ...." (PU 391) Es bestehen in der Tat auffällige Verwandtschaften zwischen den Begriffen Vorstellung, So-tun-als-ob und eine-Rolle-Spielen, denen weiter nachzugehen wäre. Vielleicht kann man das Vorstellen, insbesondere das visuelle und bildhafte Vorstellen, geradezu als eine besondere Form des So-tun-als-ob begreifen.31 Daß eine Person sich das Gesicht von Nastassja Kinski vorstellt, kann dahingehend verstanden werden, daß sie sich in gewissen Hinsichten so verhält, als sehe sie das Gesicht von Nastassja Kinski. Gegenüber manchen bildhaften Vorstellungen kann es angemessener sein, Beschreibungen der Form "stellt-sich-x-vor" so aufzufassen, daß die imaginierende Person in bestimmten Hinsichten so mt, als zeichne oder male sie x. Genauso wie "vorstellen" bilden Verben wie "so mn als ob", "vorgeben" etc. intentionale Kontexte. Daraus, daß eine Person so mt, als sei das-und-das der Fall, folgt nicht, daß es der Fall ist. Mithin folgt daraus, daß sie beispielsweise so mt, als sehe sie etwas bzw. ein -

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-

31 Eine Entfaltung dieses Grundgedankens findet sich Kapitel VIII. Zum folgenden vgl. Scholz 1995, 56-61.

auch bei

Ryle 1949,

211

212

OLIVER R. SCHOLZ Bild von etwas, weder daß sie wirklich etwas sieht, noch daß es da etwas Gesehenes, etwa ein Bild, gibt. "So tun als ob", "vorge¬ ben" etc. sind ferner intentionale Verben in dem folgenden Sinne: Sagt man von einer Person, sie habe so getan, als ob p, so sagt man damit eo ipso, sie habe es absichtlich getan. So tun als ob ist wie Vorstellen etwas Aktives und Kreatives, das weit¬ gehend dem Willen unterworfen ist. Vorgeben kann mit oder ohne Täuschungsabsichten auftreten. Beim Vorstellen liegen in der Regel ebenso wie beim Fingieren der Dichter und der Schauspieler auf der Bühne keine sinistren Absichten vor. Es handelt sich in diesem Sinne um spielerisches So tun als ob. Von solchen und weiteren "grammatischen" Beobachtungen könnte eine konstruktive Alternative zu den verkehrten Bildern vom Vorstellen ihren Ausgang nehmen. Wittgenstein selbst hat dazu Anregungen und methodische Ratschläge gegeben, deren systematische Ausarbeitung und Bewertung nach wie vor aus¬ steht. -

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VORSTELLUNGEN VONVORSTELLUNGEN Bild, Darstellung, Zeichen. Philosophische Theorien Darstellung, Freiburg im Breisgau/München 1991.

O. R. Scholz,

bildhafter

im Geiste? Das Standardmodell, sein Scheitern und ein in: K. Sachs-Hombach (Hg.) 1995, Bilder im Geiste. Zur kognitiven und erkenntnistheoretischen Funktion piktonaler Repräsentatio¬ nen, Amsterdam & Atlanta, Georgia 1995. J. Schulte, Adelheid and the Bishop What's the Game? in: R. L. Arrington und H.-J. Glock (Hgg.), Wittgenstein's philosophical Investigations': Text and Context, London 1991, 138-151. A. R. White, The Language of Imagination, Oxford 1990.

O. R.

Scholz, Bilder

Gegenvorschlag,

-

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213

_9 Hans-Johann Glock

Wittgensteins letzter Wille. "Philosophische Untersuchungen" 611-628

Die Abschnitte 611 bis 628 der "Philosophischen Untersuchun¬ gen" stellen ein "Kapitel" über den Willen dar. Wittgenstein eröffnet die Diskussion wie folgt:

"Das Wollen ist auch nur eine Erfahrung", möchte man sagen

(der "Wille" auch nur "Vorstellung"). Er kommt, wenn kommt, und ich kann ihn nicht herbeiführen. (PU 611)

er

Diese rätselhafte Stelle knüpft an zwei andere Abschnitte im mittelbaren Kontext an. Sie folgt auf einen langen Abschnitt (PU 571-610), der sich mit der Idee geistiger Vorgänge und

Zustände befaßt und

folgendermaßen beginnt:

Psychologie handelt von den Vorgän¬ Sphäre, wie Physik in der physischen. Sehen, Hören, Denken, Fühlen, Wollen sind nicht im gleichen Sinne die Gegenstände der Psychologie, wie die Bewegungen der Körper, die elektrischen Erscheinungen, etc., Gegenstän¬ de der Physik. Das siehst du daraus, daß der Physiker diese Erscheinungen sieht, hört, über sie nachdenkt, sie uns mit¬ teilt, und der Psychologe die Äußerungen (das Benehmen) des Subjekts beobachtet. (PU 571) Irreführende Parallele: gen in der psychischen

Nach Wittgenstein gilt also für "wollen" dasselbe wie für andere intentionale Verben wie "denken", "beabsichtigen" oder "mei¬ nen": es bezeichnet nicht eine "Erscheinung" oder ein "Phäno-

216

HANS-JOHANN GLOCK men", einen geistigen oder physiologischen Prozeß oder Zu¬

stand, der unser Sprechen und Handeln begleitet. Die einzigen Phänomene, mit denen diese Verben begrifflich verknüpft sind,

sind nämlich nicht derartige Begleiterscheinungen, sondern die¬ jenigen Äußerungen des Wollens (etc.) im Verhalten, auf die wir uns stützen, wenn wir sagen, jemand wolle etwas (Glock/Preston

1995; Glock 1996 b, 179-184,286-292). Im Geist dieser metho¬

dologischen Bemerkung diskutiert Wittgenstein daraufhin die Begriffe der Erwartung, Überzeugung, Hoffnung und Absicht. Dabei liefert er eine weitere Diagnose der von ihm bekämpften Position: "Wenn wir philosophieren, möchten wir Gefühle hy-

postasieren, wo keine sind" (PU 598).

Demnach reiht sich PU 611 in die vorhergehende Diskussion dadurch ein, daß sie die Frage aufwirft, inwiefern das Wollen eine Erfahrung oder ein Gefühl ist, ein Vorgang in einer separa¬ ten psychischen Sphäre. Die Anspielung auf die Unterscheidung zwischen Wile und Vorstellung erinnert aber auch an PU 176 (von Savigny 1996, 287). Dort geht es um die Frage, ob ich beim Befolgen einer Regel ein "Erlebnis des Einflusses" oder "des Weil" meiner Handlung habe, d. h. dessen, was mich dazu be¬ wegt, auf bestimmte Weise zu handeln. Wittgenstein gesteht zu, daß wir versucht sind, ein solches Erlebnis anzunehmen.

Zugleich aber möchte ich kein erlebtes Phänomen "Erlebnis des Einflusses" nennen. (Hier liegt die Idee: der Wille ist keine Erscheinung). In "Eine Philosophische Betrachtung" stellt Wittgenstein beide Auffassungen einander direkt gegenüber. Hier gibt es einen seltsamen Widerstreit zweier Ideen: man möchte sagen "der Wile ist keine Erfahrung" und "der Wille ist doch nur Erfahrung" (EPhilB 235). -

Dieser Widerstreit ist nicht nur für unser Kapitel von entschei¬ dender Bedeutung, sondern für Wittgensteins Behandlung des Willens in seinem gesamten Werk (Candlish 1991, 1998; Hacker 1996, Kap. 5). Wittgenstein drückt ihn durch Bezug auf Scho¬ penhauers Unterscheidung zwischen der Welt als Wille und der Welt als Vorstellung aus. Auf der einen Seite steht die empiristi-

WITTGENSTEINS LETZTER WILLE sehe Auffassung, derzufolge auch das Wollen nur eine Erfahrung ist, ein psychisches Phänomen, das Teil der kausalen Naturord¬ nung und daher unseren Entscheidungen nicht unterworfen ist. Auf der anderen Seite steht die transzendentalphilosophische Auf¬ fassung, wonach der Wille keine Erscheinung ist, nichts, das uns nur widerfährt, sondern "nur Treibendes und nicht Getriebe¬ nes" (PU 618), "das eigentliche Agens" und daher ein "ausdeh¬ nungsloser Punkt", der selbst "kein Volumen der Erfahrung" hat

(PU 620).

Ich werde zunächst den historischen Hintergrund für diesen Gegensatz beim frühen Wittgenstein und seinen Vorgängern klären (Abschnitt 1). Die nächsten sechs Abschnitte sind jeweils einem Teil von PU 611-628 gewidmet. Sie zeigen, wie sich die von Wittgenstein diskutierten Behauptungen und seine Repli¬

ken vor diesem Hintergrund zu einem Gedankengang ordnen lassen. Trotz Wttgensteins sprunghafter Taktik wird seine Stra¬ tegie klar. Er versucht den Gegensatz zwischen empiristischen und transzendentalen Positionen dialektisch aufzulösen. Erstens weist er beide Auffassungen zurück; zweitens hinterfrägt er die von ihnen zugrunde gelegte Annahme, der Unterschied zwi¬ schen willkürlichem und unwillkürlichem Handeln bestehe in etwas, das dem Handeln vorausgehe oder es begleite. Im letzten Abschnitt gehe ich kurz auf die Implikationen unseres Kapitels für die gegenwärtige Debatte über den Willen ein.

9.1 Der

Hintergrund

empiristische Position findet sich z. B. bei Hume1, demzu¬ folge der Wille nichts anderes ist als ein Eindruck {impression), den wir verspüren, wenn wir eine Körperbewegung einleiten. Die

Sie beherrscht auch die frühen psychologischen Studien zum z. B. bei Wundt, Bain, Helmholtz und Mach. Laut Wundt sind alle freiwilligen Handlungen von einem Gefühl der Innervation gekennzeichnet. William James bestritt die Existenz dieser Innervationsgefühle. Gleichzeitig lief seine "idea motor"Theorie jedoch darauf hinaus, das Wollen einer körperlichen

Willen,

I D.

Hume, A Treatise of Human Nature, Oxford 1978 (1. Aufl. 1739), II.üi.1.

217

218

HANS-JOHANN GLOCK

Handlung sei die "kinaesthetic idea of what the act is to be"2: daß ich zum Zeitpunkt f eine körperliche Bewegung der Art B vollführen will, heißt, daß ich zu t eine Erinnerung an diejenigen Unästhetischen Empfindungen habe, die mit früheren Ausfüh¬ rungen von B verbunden waren. In The Analysis of Mind (Kap. XIV) schloß Russell sich dieser Theorie an. Im Einklang mit seiner generellen These "that all psychic phenomena are ...

built up out of sensations and images alone" bestand er darauf, daß "sensations and images, with their causal laws, yield all that seems to be wanted for the analysis of the will, together with the fact that kinaesthetic images tend to cause the movements with which they are connected"3. (Vgl. Shanker 1993.) Die transzendentalphilosophische Perspektive findet ihren ex¬ plizitesten Ausdruck in Schopenhauers Willensmetaphysik. Schopenhauer unterscheidet zwischen einer noumenalen und einer phänomenalen Welt. Was letztere anbelangt, so vertritt er einen radikalen Idealismus: "die Welt ist meine Vorstellung"4, d. h. sie ist nichts anderes als der Inbegriff der zum Subjekt gehörenden Vorstellungen. Aber diese Welt als Vorstellung ist ihrerseits die Manifestation eines Dinges an sich, nämlich der Welt als Wille, einer unpersönlichen Urkraft. Gegen Kant be¬ steht Schopenhauer darauf, daß dieses Ding an sich erkennbar ist, obwohl es nicht den Erscheinungsformen unterliegt. Denn unsere Körper sind eine direkte Manifestation dieses kosmi¬ schen Wllens, und zu unserem eigenen Wollen haben wir einen direkten Zugang, da unsere eigenen Handlungen nicht bloße Erscheinungen sind, sondern Ereignisse, die wir "von innen heraus" verstehen5. Wttgensteins Diskussion des Willens im "Tractatus" verbin¬ det empiristische und transzendentalphilosophische Motive.6 Ausgangspunkt ist seine zweiteilige Auffassung des Ich, die mit einer Diskussion des Solipsismus verknüpft und von Schopen2 W. James, The Principles of Psychology, New York 1890, 492 f. 3 B. Russell, The Analysis of Mind, London 1921, 279, 285. 4 A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, in: Sa'mdiche Werke Bd. I-II, Frankfurt 1986 (1. Auflage 1819 und 1844), Bd. I, §§ 1-5. 5 A. a. O. Bd. I, § 19, Bd. 2, Kap. 18. 6 Zu Wittgensteins früher Position s. Winch 1968; Lange 1989; Glock 1999 und 1996 b, s. v. "solipsism" und "will".

WITTGENSTEINS LETZTER WILLE hauer beinflußt ist. Wie Kant und Schopenhauer lehnt er die Cartesische Vorstellung vom Ich ab. "Das denkende, vorstellen¬ de Subjekt gibt es nicht." In einem Buch mit dem Titel "Die Welt, wie ich sie vorfand" wäre zwar von meinem Leib die Rede und auch von der "menschlichen Seele", einer Abfolge geistiger Episoden, die den Gegenstand der Psychologie bilden, aber nicht von einer einheitlichen Seele im Sinne von Descartes, einer mentalen Substanz, der die geistigen Zustände innewoh¬ nen

(TLP 5.541-5.5421).

Im Geiste Kants und Schopenhauers postuliert der "Tractatus" aber zusätzlich zu dieser Abfolge geistiger Episoden ein metaphy¬ sisches Subjekt. Es gibt ein "philosophisches Ich" oder "metaphy¬ sisches Subjekt". Dieses ist aber kein "Gegenstand", kein "Teil der Welt", sondern ihr "Zentrum", d. h. sowohl "eine Vorausset¬ zung ihrer Existenz" als auch ihre "Grenze". Denn "die Welt ist meine Welt", sie ist das, was von meinem philosophischen Ich sprachlich abgebildet wird.7 Aber das metaphysische Subjekt der Abbildung ist selbst kein Gegenstand der Abbildung, sondern ein "ausdehnungsloser Punkt". Sein Verhältnis zu dem, was abgebil¬ det wird, ist analog dem des Auges zum Gesichtsfeld, und zwar

Sinnesorganes (das Teil des Körpers ist), sondern dessen, was Wittgenstein später das "geometrical eye" genannt hat (5.631-5.641; TB 11.6., 2.8.-11.8., 2.9.16; BIB 63; LPE 257; s. a. Schopenhauer a. a. O. Bd. I, § 2, Bd. 2, Kap. 22 und 41). nicht dem des

Eng verknüpft mit dieser Zweiteilung in psychologisches bzw. empirisches und philosophisches bzw. metaphysisches Ich ist die Zweiteilung des Willens. Auf der einen Seite steht "der Wilie als Phänomen", der nur die Psychologie interessiert und der ein jener Abfolge geistiger Episoden ist, welche die Seele im

Teil

Sinne der Psychologie ausmachen. Auf der anderen Seite steht "der Wilie als Träger des Ethischen", von dem aber nicht ge¬ sprochen werden kann (TLP 6.423). "Das vorstellende Subjekt ist leerer Wahn. Das wollende Subjekt aber gibt es. Wäre der Wille nicht, so gäbe es auch nicht jenes Zentrum der Welt, das wir das Ich nennen, und das der Träger der Ethik ist" (TB 5.8.16; s. a. 15.-17.10.16). Diese Stellen legen nahe, daß das wollende Subjekt mit dem philosophischen Ich identisch ist, jenem meta7 Zu den

solipsisüschen Konsequenzen dieser Idee s. Glock

1996

b, 348-352.

219

220

HANS-JOHANN GLOCK

physischen Subjekt der Abbildung, das ebenfalls kein Teil der Welt und kein Gegenstand sprachlicher Abbildung ist. Wie Schopenhauer betrachtet Wittgenstein die Welt, den Ge¬ genstand der Vorstellung bzw. Abbildung, als wertneutral und

daher die Ethik in einem Willen, der außerhalb der abgebildeten Welt steht. Aber fur Schopenhauer ist der Wille eine blinde und schädliche Kraft, die es zu überwinden gilt. Für Wittgenstein dagegen muß der Wilie der "Träger von Gut und Böse" sein, und zwar deshalb, weil Einstellungen wie Liebe oder Mitleid denen auch Schopenhauer positiven moralischen Wert zuspricht selbst Ausübungen des Willens sind (TB 21., 24., 29.7.16). We bei Schopenhauer, so ist bei Wittgenstein das wollende Subjekt unpersönlich, ein "Weltwille". Aber in einem höheren Sinne (dem Sinn nämlich, in dem der Solipsismus wahr ist) ist dieser Wille, der "die Welt durchdringt", "mein Wille" (TB 11.6., 17.10.16). Außerdem lehnt Wittgenstein Schopen¬ hauers metaphysische Auffassung ab, wonach der Wille das Ding an sich ist, welches sich in der phänomenalen Welt manifestiert. Der metaphysische Wilie ist keine Urkraft, welche die Welt bestimmt, sondern eine ethische "Stellungnahme des Subjekts zur Welt". Er verändert nicht die Tatsachen, sondern vielmehr "die Grenzen der Welt": der gute Wilie ist derjenige des glück¬ lichen Menschen, der die Tatsachen mit stoischer Gleichmut hinnimmt (TB 5., 8., 29., 30.7., 4.11.16; TLP 6.421-6.43). Dieser kontemplativen Auffassung des Willens liegt die Über¬ zeugung zugrunde, daß der Wile impotent ist. "Die Welt ist unabhängig von meinem Willen" (TLP 6.373; TB 11.6., 8.7.16). Zwei Gründe für diese Auffassung lassen sich finden. Erstens läßt die Annahme, meine Körperbewegungen seien meinem Willen unterworfen, es so aussehen, "als stünde ein Teil der Welt mir näher als ein anderer". Dies ist genau Schopenhauers Posi¬ tion; aber Wittgenstein hält sie für "unerträglich", vielleicht aus folgendem Grund: Wenn die Welt nichts anderes ist als das, was ich abbilde, kann ich nicht zu einem Teil der Welt noch eine zweite, nicht-abbildende Beziehung haben (TB 4.11.16; s. TLP 5.62 ff.). Der zweite Grund ist die Humesche Auffassung von Kausa¬ lität, derzufolge zwischen zwei empirischen bzw. weltlichen Er¬ eignissen keine logische Beziehung besteht. "Und außerhalb der Logik ist alles Zufall" (TLP 6.3). Es gibt keinen "Kausalnexus", verortet

-

-

WITTGENSTEINS LETZTER WILLE der es erlaubte, "aus dem Bestehen einer Sachlage auf das Beste¬ hen einer von ihr gänzlich verschiedenen Sachlage" zu schließen (TLP 5.135-5.1361). Dies gilt auch für das Verhältnis zwischen meinen

Willensentscheidungen psychologischen Ereignissen,

die Teil meines empirischen Ichs sind und meinen Körperbe¬ wegungen. Daß meinem Arm-heben-Wollen das Heben meines Armes folgt, ist keine "innere Notwendigkeit". "Auch wenn alles, was wir wünschen, geschähe", so würde es sich doch nur um einen zufälligen physikalischen Zusammenhang zwischen "Wile und Welt" handeln, der seinerseits nicht meinem Willen unterworfen wäre (TLP 5.1362, 6.374). Aus dieser Auffassung folgt, daß Willensfreiheit nicht darauf hinauslaufen kann, daß ich meine eigenen Handlungen kontrol¬ liere, sondern nur darauf, daß ich meine künftigen Handlungen ebensowenig vorhersagen kann wie irgendwelche anderen Er¬ eignisse. Es folgt auch, daß Schopenhauer in zweifacher Hin¬ sicht unrecht hatte. Ich habe keine intuitive Gewißheit meiner eigenen Handlungen, und der menschlichen Körper hat keine Sonderstellung. Zwar unterstehen manche Glieder meinem Willen, andere nicht. Das besagt aber nur, daß es im ersteren Fall eine zufällige Korrelation zwischen einem geistigen Ereig¬ nis und der Bewegung des Gliedes gibt. Denn selbst "mein Kör¬ per" ist nur "ein Teil der Welt unter anderen Teilen der Welt", auf einer Stufe mit Steinen, Tieren oder den Körpern anderer Menschen (TLP 5.631, 5.641; TB 2.9., 12.10.16). Die Zweiteilung des Willens im "Tractatus" hat zur Folge, daß der Wilie auf ein rein kontemplatives Phänomen reduziert wird. Der metaphysische Wilie ist nur eine ethische Einstellung, und der psychologische Wilie ist ein empirisches Phänomen wie jedes andere: "ich kann ihn nicht herbeiführen", und er ist nur zufällig mit meinen Körperhandlungen verknüpft. Einige Stel¬ len der "Tagebücher" bringen gegen diese paradoxe kontem¬ -

-

plative Auffassung triftige Einwände vor. Zum einen folgen sie Schopenhauers Unterscheidung von Wünschen und Wollen.

ist ein bloßes Phänomen (Erfahrung), dem keine Körperbewegung zu folgen braucht. Letzteres dagegen ist "nicht die Ursache der Handlung" welche mit der Handlung nur auf kontingente Weise verknüpft sein könnte "sondern die Hand¬ lung selbst". "Man kann nicht wollen, ohne zu mn." Deswegen können wir mit Bezug auf unsere gewollten Handlungen GewißNur

ersteres

-

-

2 21

222

HANS-JOHANN GLOCK heit haben: ich kann nicht nur autoritativ sagen, welche meiner Bewegungen willentlich sind, sondern auch z. B. vorhersagen, daß ich in fünf Minuten willentlich meinen Arm heben werde (TB 4.-9.11.16; Schopenhauer a. a. O. Bd. I, § 16). Es scheint, als verfolge Wittgenstein diesen Gedanken deshalb nicht weiter, weil er keine Vorstellung bzw. Erfahrung ausmachen kann, an der sich diese Gewißheit festmachen ließe. Zum anderen deutet Wittgenstein an diesen Stellen an, daß selbst das Vorstellen d. h. die Abbildung der Welt, welche die Bildtheorie zu erklären sucht eine Betätigung des Wllens zu beinhalten scheint. Demnach wäre Abbildung unmöglich, falls wir nicht wenigstens gewisse mentale Ereignisse kontrollieren könnten (TB 21.7.16). Hier liegt eine grundlegende Inkonsistenz in Wittgensteins früher Position. Einerseits wird der Wille als impotent abgetan. Andererseits aber scheinen es willentliche Akte des Meinens oder Hinweisens zu sein, welche die Sprache (Satzzeichen) auf die Welt (Situationen) projizieren, Akte des metaphysischen Subjekts, die kein Teil der Sprache oder der Welt sind, sondern deren Grenzen bestimmen (TB 15.10., 9.11., 26.11.16; TLP 5.62, 5.641). In den frühen dreißiger Jahren diskutiert Wttgenstein den Willen zunächst aus dieser Perspektive. Er behauptet, daß Den¬ ken, Beabsichtigen und etwas Meinen keine "Phänomene", "Er¬ scheinungen" oder "Vorgänge" sind, d. h. keine psychologischen oder physiologischen Begleiterscheinungen des Redens und Handelns. Solche Erscheinungen sind kein "lebender Gedan¬ ke", der die Welt abbildet, sondern "tot", da das Subjekt ihnen nur "von außen" gegenübersteht, als passiver Zuschauer. Wider¬ fährt es mir z. B. nur, daß mir ein geistiges Bild oder ein geistiger Satz durch den Kopf geht (z. B. bei zwanghaften Bildern oder Ohrwürmern), ohne daß ich ihn als Ausdruck meines Gedan¬ kens anerkenne, so ist diese Erscheinung ohne Belang dafür, was ich denke. Dies ist "analog" der "Schopenhauerischen Auffas¬ sung" (PG 144) des Willens, die Wittgenstein wie folgt charak¬ -

-

terisiert:

Der Wille kann kein Phänomen sein, denn jedes Phänomen geschieht wieder nur, wird von uns hingenommen, ist aber nicht etwas, was wir tun. Der Wille ist nicht etwas,

was

ich

geschehen

sehe, sondern er besteht gleichsam darin, daß wir in der Hand-

WITTGENSTEINS LETZTER WILLE daß wir die Zettel 235-238).

lung sind;

Handlung sind (PG 144,

s.

143-148;

In späteren Fassungen (BrB 150-155; EPhilB 233-237) wird der Wile ohne direkten Bezug auf die Intentionalitätsproblematik diskutiert. Aber in den "Philosophischen Untersuchungen" ist der Zusammenhang insofern wiederhergestellt, als das Kapitel über den Willen einer Diskussion des Beabsichtigens (PU 629-660) und des Etwas-Meinens (PU 661-693) vorausgeht. Dies ist kein Zufall. Denn ein Resultat dieser Kapitel ist, daß nur solche Lebewesen etwas beabsichtigen oder meinen können, die auto¬ ritativ ausdrücken können, was sie beabsichtigen oder meinen, und die für das, was sie meinen, verantwortlich sein können. Dies setzt aber die Fähigkeit zu willentlichem Handeln voraus. Wile und Vorstellung sind also nicht radikal getrennt wie bei Schopenhauer, sondern verweisen aufeinander.

9.2 PU 611-613: Die Kritik der empiristischen Position

Wittgenstein beginnt die Diskussion in PU 611 mit einer Darle¬

gung der empiristischen Position, wonach das Wollen i) nur eine Erfahrung oder "Vorstellung" ist; ii) kommt, wann es kommt, und daher nicht herbeigeführt werden kann. "Eine Philosophische Betrachtung" (235-236) legt nahe, daß Wittgenstein diese beiden Behauptungen für äquivalent hält, wohl deshalb, weil Erfahrungen paradigmatische geistige Phä¬ nomene oder Vorstellungen sind, die nicht dem Willen unter¬ worfen sind. Aus der Diskussion des Hintergrundes ist klar, daß sich beide Behauptungen bei James, Russell und in der Diskus¬ sion des phänomenalen Willens im "Tractatus" finden lassen. Aber die Art, wie Wittgenstein diese Position einfuhrt ("möchte man sagen"), deutet an, daß er sie noch immer für philosophisch verlockend hält. Dafür lassen sich folgende Gründe finden: Erstens scheint unsere Gewißheit darüber, daß wir etwas wol¬ len und was wir wollen, zu verlangen, daß sich der Wille "auf eine Vorstellung" bezieht (TB 4.11.16). D. h., es muß geistige Episoden geben, die wir in der Introspektion unfehlbar feststel-

224

HANS-JOHANN GLOCK len können und die mit unseren Willensakten identisch sind oder zumindest eindeutig mit ihnen korrelieren. Zweitens legen gewisse Experimente nahe, daß man nicht immer wollen kann. Es fällt uns z. B. schwer, ein Viereck zu zeichnen, wenn wir nur über einen Spiegel auf das Blatt schauen, oder einen bestimmten Finger einer verschränkten Hand zu bewegen, sofern dieser nicht berührt wird (PU 617; TB 4.11.16; BrB 153-154; EPhilB 236). Drittens scheint es, daß man zwar bestimmte Tätigkeiten wie Schwimmen wollen kann, aber nicht das Wollen selbst (PU 613). Ryle könnte hinzufügen, daß die Idee, auch das Wollen könne gewollt werden, einen Regreß impliziert8: wäre das Wollen selbst eine freiwillige Handlung wie Schwimmen, so müßte jedes Wol¬ len selbst wieder durch ein Wollen hervorgebracht werden, etc. Wttgensteins Replik auf die empiristischen Behauptungen (i) und (ii) geht zunächst nicht auf diese Motive ein. Stattdessen fragt er, wovon das Wollen abgesetzt wird, wenn es heißt, man könne es nicht herbeiführen (PU 611 b). Der nächste Abschnitt liefert die Antwort: nämlich von willentlichen Handlungen wie der Bewegung meines Armes, die im Gegensatz zum Herzklop¬ fen gerade nicht als etwas gelten, das kommt, wenn es kommt, sondern als etwas, das wir tun (PU 612). Dies deutet auch eine erste Schwierigkeit mit der empiristischen Position an. Gewollte Handlungen sind eben gerade nicht etwas, das uns widerfährt. Und wenn der Empirist antwortet, daß dies für die Handlungen gelten mag, aber nicht für das Wollen, das sie verursacht, so ist die transzendentale Antwort plausibel (s. o). Bei willentlichen Handlungen sind wir "in der Handlung", d. h. wir sind für sie verantwortlich. Das wäre aber unmöglich, falls das Wollen, das diese Handlungen angeblich auszeichnet, seinerseits eine von uns passiv erlebte Erfahrung wäre. PU 613 verfolgt einen anderen Einwand gegen die empiristi¬ sche Position. In dem Sinn, in dem man überhaupt etwas herbei¬ führen kann, kann man auch das Wollen herbeifuhren. Denn X herbeiführen heißt etwas mn, zu dessen kausalen Konsequen¬ zen X gehört. Zu diesen Konsequenzen des Handelns kann aber auch Wollen gehören. So kann ich das Schwimmen-Wollen her8 G.

Ryle, The Concept of Mind, London 1949, Kap. III 1.

WITTGENSTEINS LETZTER WILLE

beiführen, indem ich ins Wasser springe. Aber der Empirist wollte eigentlich etwas anderes bestreiten, nämlich daß man wollen wollen kann. Damit hat er in gewisser Weise Recht. Es hat keinen Sinn, vom Wollen-Wollen zu sprechen. Aber daraus folgt nur, daß Wollen keine freiwillige Handlung ist, nicht, daß Wollen etwas ist, das uns nur widerfährt. Wollen ist eben keine Handlung, weder eine "willkürliche" noch eine unwillkürliche (u. a. weil Wollen nicht befohlen werden kann und nichts ist, das mißlingen oder versucht werden kann, s. PU 618). An diesem Punkt wird PU 613 undurchsichtig. Und mein falscher Ausdruck kam daher, daß man sich das Wollen als ein unmittelbares, nichtkausales, Herbeiführen denken will. Dieser Idee liegt eine irreführende Analogie zu Grunde; der kausale Nexus erscheint durch einen Mechanis¬ mus hergestellt, der zwei Maschinenteile verbindet. Die Ver¬ bindung kann auslassen, wenn der Mechanismus gestört wird. Bei dem falschen Ausdruck kann es sich entweder um (a) "Ich kann das Wollen nicht wollen" (PU 613) handeln oder um (b) "Ich kann das Wollen nicht herbeiführen" (PU 611). Die letzte¬ re Lesart ist plausibler. Erstens ist (a) ja laut PU 613 korrekt. Zweitens bezieht sich die Diagnose des falschen Ausdrucks auf die Idee des Herbeiführens. Drittens geht dies auch aus "Zettel" 579-580 und aus MS 114, 105, 111 hervor (zitiert in Hacker 1996, 595): (b) ist ein falscher Ausdruck für (a). Es beruht näm¬ lich auf dem folgenden Schluß: Pj: Das Wollen einer Handlung ist ein Herbeiführen der

Handlung.

Man kann nicht wollen wollen. C: Man kann das Wollen nicht herbeiführen. Der Schluß ist gültig, aber P, ist falsch, wie "Zettel" 579 darlegt. Denn gemäß der oben angedeuteten Analyse führen wir nicht unsere (freiwilligen) Handlungen selbst herbei, sondern nur de¬ ren kausale Konsequenzen. So führe ich z. B. nicht herbei, daß ich die Treppe hinaufrenne, wohl aber kann ich durch dieses Rennen heftiges Herzklopfen herbeiführen.

P2:

225

2 26

HANS-JOHANN GLOCK 9.3 PU 614-616: Die von

Unterscheidung

Wollen und Wünschen

Wer P¡ akzeptiert, betrachtet entweder das Wollen als ein un¬ mittelbares Herbeiführen (PU 613), was dem Sinn von "herbei¬ führen" widerspricht.9 Oder aber er denkt, daß ich meine will¬ kürlichen Bewegungen wie das Heben meines Armes mittelbar verursache. PU 614 bestreitet dies, aber Wittgensteins Gründe finden sich anderswo. Erstens treffe ich keine Vorbereitungen, um meinen Arm zu heben (MS 111, 313); zweitens unterliegen die physiologischen Prozesse, von denen man sagen könnte, sie verursachten die Bewegung des Armes, wie z. B. die Nervenrei¬ zungen, gerade nicht meinem Willen (s. BrB 153). PU 614 beläßt es dabei, zu bestreiten, daß das Wünschen ein Mittel zur Herbeiführung der Bewegung sei. Der Grund dafür, daß Wittgenstein auf diese keineswegs naheliegende Behaup¬ tung eingeht, ist der, daß sie eine Folge der empiristischen Posi¬ tion ist. Laut James z. B. ist das Wünschen ebenso eine Unästhe¬ tische Idee wie das Wollen. Was diese geistigen Episoden un¬

terscheidet, sind nicht ihre intrinsischen Eigenschaften, sondern vielmehr, daß beim bloßen Wunsch entgegengesetzte Neigun¬ gen im Spiel sind, die ein entsprechendes Handeln vereiteln (a. a. O., S. 525). Ähnlich im "Tractatus" (6.374), wo Wollen als eine mentale Episode behandelt wird, die ebenso impotent ist wie bloßes Wünschen. PU 616 attackiert diese Posiüon durch eine grammatische Bemerkung: wenn ich meinen Arm hebe, so habe ich mir nicht gewünscht, er möge sich heben. Ich kann höchstens wünschen, mein Arm möge sich auf eine besonders elegante Weise bewe¬ gen, aber das bestärkt nur Wittgensteins Behauptung, daß Wün9 Die Einfügung "nichtkausales" erklärt sich aus der "irreführenden Analogie", die fälschlicher Weise davon ausgeht, daß alle kausalen Beziehungen indirekter Art sind, was Wittgenstein selbst explizit bestreitet (Glock 1996 b, "causation"). Die Analogie liegt der Idee des unmittelbaren Herbeiführens in folgendem Sinn zu Grunde: da beim "Herbeiführen" unserer Handlungen keine Gefahr besteht, daß die Verbindung zwischen Wollen und Handlung zusammenbricht, und da es scheint, als ob nur durch die Einführung von Zwischengliedern diese Gefahr entsteht (fälschlicher Weise, wie die abschließende Bemerkung in Klammern andeutet), scheint es, als müsse die Verbindung ein unmittelbares Hervorbringen sein(s. a. MS 111, 167).

WITTGENSTEINS LETZTER WILLE sehen dort beginnt, wo die einfache willkürliche Handlung auf¬ hört. Es folgt, daß eine einfache willkürliche Handlung nicht in einen Wunsch und eine von ihm verursachte Körperbewegung analysiert werden kann. PU 615 behandelt die transzendentale Gegenposition (Scho¬ penhauer a. a. O. Bd. I, § 18; TB 4.11.16), die diese Lektion respektiert. Das Wollen ist nicht ein Wünschen, das die Hand¬ lung als eine ihrer kausalen Konsequenzen hat, sondern die Handlung selbst. Aber es ist dies im "gewöhnlichen Sinne" von Handlung, was wohl heißt, nicht als ein Ausdruck des Schopenhauerschen Weltwillens, sondern im Sinne gewöhnlicher Hand¬ lungen. PU 615 begegnet auch dem offenkundigen Einwand, das Wollen könne nicht mit der Handlung identisch sein, da wir wollen können, ohne tatsächlich zu handeln. In solchen Fällen ist das Wollen identisch mit dem Versuch oder der Bemühung zu handeln. Denn Versuchen ist ebenso etwas, was wir tun etwas, das befohlen werden kann wie vollzogene Handlungen (Zettel 589; LPP 80). -

-

9.4 PU 617-620:

Übergang zur transzendental¬

philosophischen Position

PU 617 diskutiert eines der

Experimente, welche den Empiri¬ dazu verleiten anzunehmen, das Wollen sei eine bloße Er¬ fahrung (kinästhetischer Art). Zugleich leitet der Abschnitt aber auch über zu einer Diskussion der transzendentalen Gegenposi¬ tion. sten

Wenn wir unsere Finger in besonderer Weise verschränken, so sind wir manchmal nicht im Stande, einen bestimmten Finger auf Befehl zu bewegen, wenn der Befehlende bloß auf den Finger zeigt ihn bloß unserm Auge zeigt. Wenn er ihn dagegen berührt, so können wir ihn bewegen. Man möchte diese Erfahrung so beschreiben: wir seien nicht im Stande, den Finger bewegen zu wollen. Der Fall ist ganz verschieden von dem, in dem wir nicht im Stande sind, den Finger zu bewegen, weil ihn etwa jemand festhält. -

227

HANS-JOHANN GLOCK Wittgenstein lehnt die Erklärung ab, wonach in solchen Fällen der Wilie deshalb keinen Angriffspunkt finde, weil wir kein (kinästhetisches) Gefühl vom betroffenen Körperteil haben (z. B.

a. a. O., S. 490-491). Denn wie sollte ein solches Gefühl mich lehren, wo der Wille anzupacken hat? In seiner Diskussion der kinästhetischen Empfindungen findet sich noch ein weiterer Einwand: aus der Tatsache, daß man in Abwesenheit kinästhetischer Empfindungen (z. B. in lokaler Narkose) bestimmte Dinge nicht tun kann, folgt nur, daß die kinästhetischen Empfindungen kausale Voraussetzungen sind, nicht, daß sie uns im Normalfall als Anhaltspunkt dienen (BPP 1382-408, 754-798). Dies liefert aller¬ dings kein Argument gegen den empiristischen Verdacht, das Experiment zeige, daß man nicht wollen wollen könne. PU 617b beläßt es bei dem Hinweis, daß dies keine apriorische Einsicht in das Wollen generell ist, sondern nur ein empirisches Resultat, das auf bestimmte Fälle beschränkt ist. Falls das "hier" von PU 618 sich auf PU 617 bezieht, so geht es wohl um die Vorstellung (von Wittgensteins Antagonisten), daß die Schwierigkeit, den Finger zu bewegen, keinesfalls darauf zurückgeführt werden kann, daß ich meinen Willen nicht in Bewegung setzen kann, sondern allenfalls darauf, daß mein träg¬ heitsloser Wilie keinen Anhaltspunkt findet. Aber auf jeden Fall nimmt PU 618 nicht nur Wittgensteins Gedankengang von PU 613 wieder auf (Candlish 1991,218; von Savigny 1996, 293), sondern führt auch PU 617 fort. So wie PU 613 gegen den Empiristen geltend machte, daß es mir nicht deswegen mißlingt zu wollen, weil der Wille bloße Erfahrung ist, so macht PU 618 gegen den Transzendentalisten geltend, daß es mir nicht deswe¬ gen gelingt, weil der Wilie nur Treibendes ist. Beide Positionen ignorieren, daß das Wollen eben keine Handlung ist, die gelin¬ gen oder mißlingen kann. Wie PU 619 festhält: ich kann nur insofern jederzeit wollen, als ich nicht versuchen kann zu wol¬ len. In PU 620 formuliert Wittgenstein die transzendentale Auf¬ fassung, wonach das Wollen jenseits der Erfahrung liegt. Das Tun, das eigentliche Agens, ist im Gegensatz zu der resultieren¬ den Körperbewegung kein Gegenstand der Erfahrung, sondern ein "ausdehnungsloser Punkt", so wie das metaphysische Subjekt im transzendentalen Solipsismus des "iractatus" (5.631-5.64; s. a. PG 144, 156). In MS 115 (107) folgt eine explizite Diagnose

James

WITTGENSTEINS LETZTER WILLE dieses Bildes. Der Eindruck, das Wollen sei aktiv auf eine Weise, die es verbietet, es in der Erfahrung anzusiedeln, beruht auf der Tatsache, daß wir den Gegensatz zwischen willkürlichen und unwillkürlichen Handlungen manchmal durch den Gegensatz zwischen Ausdrucksweisen wie "Ich hebe meinen Arm" und Aus¬ drucksweisen wie "Mein Arm hebt sich" ausdrücken.

9.5 PU 621-623: Die

Subtraktionsfrage

und das Versuchen PU 621

über.

geht

zur

Bekämpfung

des transzendentalen Ansatzes

Aber vergessen wir eines nicht: wenn "ich meinen Arm hebe", hebt sich mein Arm. Und das Problem entsteht: was ist das, was übrigbleibt, wenn ich von der Tatsache, daß ich meinen Arm hebe, die abziehe, daß mein Arm sich hebt? Aber in welchem Gegensatz steht der grammatische Satz "Wenn ich meinen Arm hebe, so hebt sich mein Arm" zu der Idee, das eigendiche Tun hege jenseits jeglicher Erfahrung? Im Anschluß an die in PU 620 ausgelassene Diagnose von MS 115 macht PU 621 darauf aufmerksam, daß zwischen den beiden Ausdrucks¬ formen wesentliche Zusammenhänge bestehen, die es verbieten, sich auf erstere, und damit ein transzendentes Tun, zu konzentrie¬ ren. Allgemeiner gesprochen, es gibt Phänomene, die mit willkür¬ lichen Handlungen wesendich verknüpft sind. Dies richtet sich insbesondere gegen den "Tractatus", demgemäß weder der me¬ taphysische Wille noch der phänomenale Wille in irgendeinem "logischen" oder "inneren" Zusammenhang mit Körperbewe¬ gungen stehen

(s. o.).

Frühere Stellen verdeutlichen diese Kritik an der transzen¬ dentalen Konzeption. Die Vorstellung, der Wille sei keine Er¬ fahrung, beruht nicht auf Introspektion (EPhilB 235). Im Ge¬ genteil, wenn ich meinen Arm willendich bewege, so mache ich auch Erfahrungen: ich sehe und spüre, wie ich den Arm bewege. Dann versuche also einmal zu unterscheiden zwischen allen Erfahrungen des Handelns plus dem Tun (das keine Erfahrung

229

230

HANS-JOHANN GLOCK ist) und allen diesen Erfahrungen ohne das Element des Tuns. Uberlege, ob Du dieses Element [sic!] auch weiter noch be¬ darfst, oder ob es Dir nun obsolet erscheint. (PG 145) Daraus ergibt sich zugleich der Zusammenhang mit der berühm¬ Subtraktionsfrage: "was ist das, was übrigbleibt, wenn ich von der Tatsache, daß ich meinen Arm hebe, die abziehe, daß mein Arm sich hebt?" Wenn der Unterschied zwischen willkürlicher und unwillkürlicher Bewegung nicht jenseits der Erfahrung an¬ zusiedeln ist, so muß es scheinbar doch eine Erfahrung geben, die zum bloßen Heben meines Armes hinzukommen muß, damit ich meinen Arm hebe. Aus dem vorhergehenden ist jedoch klar, daß Wittgenstein diese Frage für irreführend hält. Denn die Subtraktion könnte nur dann erfolgreich sein, wenn der Unter¬ schied zwischen willkürlicher und unwillkürlicher Handlung in etwas besteht, das der Körperbewegung vorausgeht ob nun reines ten

Tun oder Erfahrung. Wittgensteins Gedankengang läuft aber darauf hinaus, daß genau dies nicht der Fall ist. Im Gegensatz zu Reflexbewegungen ist etwas Tun nichts, das mir bloß geschieht und das ich beobachte. Aber der Unterschied ist nicht, daß im letzteren Fall ein reines Tun jenseits der Erfahrung im Spiel ist -

(PG 145).

In den PU argumentiert Wittgenstein für diese Position nur indirekt, indem er zwei mögliche Antworten auf die Subtrak¬ tionsfrage zurückweist. Mein willentliches Heben des Armes unterscheidet sich von dem unwillkürlichen Heben des Armes nicht dadurch, daß ich versuche, den Arm zu heben. "Wollen" wird manchmal in der Bedeutung von "versuchen" gebraucht nämlich in den Fällen, in denen es nicht mit einer erfolgreichen Handlung identisch ist (PU 615; BPP 151). Aber bei einer der¬ art einfachen willkürlichen Handlung ist (zumindest in der Re¬ gel) kein Versuch im Spiel (PU 622). Ich kann nur unbedingt danach trachten, etwas zu mn, wenn die betreffende Handlung mit Schwierigkeiten verknüpft ist oder das Risiko des Scheiterns besteht (PU 623; s. LS I 848; MS 129, 163-166). -

WlTTG ENSTEINS LETZTER WlLLE

Subtraktionsfrage und Unästhetische Empfindungen

9.6 PU 624-626: Die

auf die Antwort, daß der Unterschied darin liege, daß mein Wollen entweder in bestimm¬ ten kinästhetischen Empfindungen bestehe (PU 621 b) oder von solchen Empfindungen zumindest derart begleitet werde, daß ich das willentliche Armheben am Erscheinen dieser Empfin¬ dung erkennen könne (PU 624-626). Gemäß dieser Auffassung bewege ich meinen Arm genau dann, wenn sich mein Arm bewegt, während ich diejenige kinästhetische Empfindung ver¬ spüre, welche normalerweise diese Bewegung begleitet. Die Ideo-Motor-Theorie von James unterscheidet sich von dieser Auffassung nur dadurch, daß sie die kinästhetischen Empfindun¬ gen durch die Idee der entsprechenden Empfindungen ersetzt (d. h. durch die Erinnerung an sie oder durch die Vorstellung

Wittgenstein verwendet mehr Mühe

von

ihnen).

In anderen Teilen seines Werkes bestreitet

Wittgenstein die Voraussetzung, wonach alle willkürlichen Bewegungen von sol¬ chen Empfindungen begleitet werden. Hier jedoch stellt er nur

in Abrede, daß wir den Unterschied zwischen willkürlichem und unwillkürlichem Armheben an diesen Empfindungen erkennen können. In PU 624 stellt er sich zunächst ein Experiment vor, bei dem das Subjekt unter dem Einfluß elektrischer Ströme fälschlicher Weise behauptet, es bewege seinen Arm. Ein solches Experiment würde nahelegen, daß wir derartige Behauptungen auf der Grundlage kinästhetischer Empfindungen machen. Im Gegenzug fordert uns Wittgenstein dazu auf, unseren Arm hin und her zu bewegen und uns dennoch einzureden, er stehe still (vgl. PG 144 und James a. a. O., S. 527). Das unausgesprochene Resultat soll sein, daß dies nicht gelingt. Die ebenfalls unausge¬ sprochene Folgerung: selbst wenn kinästhetische Empfindun¬ gen das Armheben begleiten, kann man sie nicht von der Bewe¬ gung selbst abtrennen; also können sie auch nicht die Antwort auf die Subtraktionsfrage liefern. PU 625 geht einen Schritt weiter. Mein Wissen, daß ich den Arm gehoben habe, beruht nicht darauf, daß ich die dafür typi¬ schen kinästhetischen Empfindungen wiedererkenne. Denn da diese Empfindungen sich nach PU 624 nicht von der Bewegung isolieren lassen, ist das Kriterium dafür, daß ich die Empfindun-

23 I

232

HANS-JOHANN GLOCK gen richtig wiedererkannt habe, meine Sicherheit, daß ich den Arm gehoben habe. Wir erschließen die Position und Bewegung

Glieder also nicht aus Unästhetischen Empfindungen, allem Russell annahm (s. Candlish 1995). Die epistemische Priorität liegt nicht bei den Empfindungen, sondern bei der Bewegung. PU 626 verstärkt diese Folgerung. In bewußter Opposition zu James (a. a. O., S. 38) und wahrscheinlich unbe¬ wußter Opposition zu Berkeley behauptet Wttgenstein, daß die korrekte Angabe auf die Frage "Wo fühlst du etwas Hartes, Rundes?" nicht ist "In meiner Hand!" sondern z. B. "In der Stockspitze!" Deshalb wird die Härte des Stockes nicht aus einer unserer

wie

vor

Beschreibung von Gefühlen im Finger erschlossen, sondern di¬

rekt verspürt.

9.7 PU 627-632: Das Vorhersagen

willkürlicher Handlungen

PU 627 leitet einen neuen Abschnitt ein, in dem Wittgenstein das Vorhersagen willkürlicher Handlungen vom Vorhersagen anderer Ereignisse unterscheidet. Dabei deutet er zugleich seine positive Auffassung vom When an und schafft einen Ubergang zur Diskussion des Begriffs der Absicht (PU 634-660). PU 627 knüpft indirekt an PU 621 an. Indem Wttgenstein "und wenn es 5 schlägt, macht mein Arm nun diese Bewegung" von "und wenn es 5 schlägt, hebe ich meinen Arm" absetzt, deutet er nämlich an, daß die Subtraktionsfrage schon deshalb irreführend ist, weil sie eine absichtliche Handlung (ich hebe den Arm) in Worten beschreibt (mein Arm hebt sich), die nur fur bloße Körperbewegungen angemessen sind, z. B. wenn sich mein Arm deswegen hebt, weil ich mich auf bestimmte Weise gegen die Türe lehne. Insbesondere schafft der erste Ausdruck logischen Raum dafür, daß mich die Bewegung des Armes überrascht. Gegen diese Möglichkeit hebt PU 628 hervor, daß die Abwe¬ senheit der Überraschung ein charakteristisches Merkmal will¬ kürlicher Bewegungen ist. Die Frage, warum die Abwesenheit des Staunens die willkürliche Bewegung charakterisiert, wird zurückgewiesen, weil es sich hierbei um eine grammatische Be¬ merkung handelt, die für den Begriff der willkürlichen Bewe¬ gung konstitutiv ist (Hacker 1996, 611; s. a. von Savigny 1996,

WITTGENSTEINS LETZTER WILLE

300), und nicht etwa um eine Sicherheit, die auf kinästhetischen

Empfindungen basiert.

PU 629 weist ebenso wie PU 633 auf die Wichtigkeit des Umstandes hin, daß wir unsere willkürlichen Bewegungen vor¬ hersagen können, ein Umstand, der vor allem von Induktions¬ skeptikern wie dem jungen Wittgenstein ignoriert wird. PU 630-632 vergleichen die Vorhersage, welche mit Befehlen (ob an andere oder einen selbst gerichtet) oder einer Absichtser¬ klärung verbunden ist, mit induktiven Vorhersagen, erst von chemischen Reaktionen (PU 630), dann von physiologischen Reaktionen des eigenen Körpers. Zwischen beiden Sprachspie¬ len bestehen Verwandtschaften so ist z. B. die Vorhersage der eigenen absichtlichen Handlung genausowenig unfehlbar wie die induktive (PU 631). Es gibt aber auch wichtige Unterschiede (PU 630). Das Vor¬ hersehen der eigenen Handlung aus der Absicht beruht nicht auf Induktion. Die Vorhersage, ich würde jetzt zwei Pulver einneh¬ men, stützt sich z. B. nicht auf die Beobachtung meines bishe¬ rigen Verhaltens (PU 631 ; s. a. PU II S. 224/569). Die "Antezedentien" dieses Satzes waren vielmehr meine Gedanken und Handlungen, nicht jedoch in dem Sinne, daß sie die induktiven Anhaltspunkte für meine Vorhersage liefern, sondern dadurch, daß sie meinen Entschluß begründen oder auf nicht-kausale Weise erklären. Aber kein bestimmtes geistiges Ereignis muß meiner Handlung vorhergegangen sein. Der Entschluß ist eben¬ sowenig wie das Wollen eine bestimmte Erfahrung, die dem Handeln vorhergeht. Dies könnte zu folgender Annahme verleiten: Die Vorhersage beruht darauf, daß die Willensäußerung die Ursache und die Handlung ihr Effekt ist. Wittgenstein gibt zu, daß eine physiolo¬ gische Untersuchung eine solche kausale Korrelation zu Tage bringen könnte (m. E. wohl eher zwischen der neurologischen Ursache der Äußerung und der neurologischen Ursache der Handlung). Aber in Abwesenheit einer solchen Untersuchung bleibt nur die Feststellung, daß die Möglichkeit der Vorhersage meiner eigenen absichtlichen Handlungen ein wichtiges Sprach¬ -

spiel ist (PU 632).

233

2 34

HANS-JOHANN GLOCK 9.8 Die

Folgen

Ironischer Weise hat unser Kapitel die gegenwärtige Diskussion des Willens hauptsächlich durch die absichtlich irreführende Subtraktionsffage beeinflußt. Diese wird zumeist aus ihrem Zu¬ sammenhang gerissen, für bare Münze genommen und zur Schlüsselfrage der Handlungstheorie erklärt ein Beispiel dafür, daß philosophische Irrtümer meistens produktiver sind als philo¬ sophische Einsichten. Wittgensteins Kritik an der transzenden¬ talen Position ist nicht nur zu kryptisch; ihr Angriffsziel würde -

den meisten analytischen Handlungstheoretikern erst gar nicht ernstgenommen werden. Dagegen liegt Wittgensteins Kri¬ tik an der Identifikation des Wollens mit Unästhetischen Empfin¬ dungen zumindest im Trend, da dieser Begriff heutzutage mit größerer Skepsis behandelt wird, zum Teil aufgrund von Wittgen¬ steins Privatsprachenargumentation (s. Candlish 1995). Wittgensteins Reaktion auf die andere empiristische Antwort auf die Subtraktionsfrage wiederum hat traurige Berühmtheit erlangt, nämlich als ein Beispiel für die angebliche methodologi¬ sche Oberflächlichkeit der "Philosophie der normalen Sprache". Laut Grice vertritt Wittgenstein folgende Position: "Aversucht, X zu tun" ist wahr nur unter der Bedingung, daß X für A mit Schwierigkeiten, Anstrengungen oder dem Risiko des Schei¬ terns verbunden ist oder dies zumindest so erscheinen mag. Grice läßt offen, ob bei Nichterfüllung dieser Bedingungen für Wittgenstein "A versucht, X zu tun" einfach falsch oder weder wahr noch falsch ist. Wttgensteins Text legt die erste Alternative nahe. Beiden Alternativen jedoch hält Grice folgendes entgegen. Bei Nichterfüllung dieser Bedingungen ist die Äußerung "A versucht, X zu tun" zwar irreführend, aber trotzdem wahr (1989, 6-7). Als Grund dafür wird oft angegeben, die Äußerung erfülle von

keinen Zweck, weil sie zu offensichtlich wahr sei. Diese Behauptung ist jedoch offensichtlich falsch. Sie impli¬ ziert nämlich, daß es weniger offensichtlich ist, daß A versucht, X zu tun, und daher eher wert, gesagt zu werden, wenn X fur A mit Anstrengungen verbunden ist, z. B. wenn A versucht, einen schweren Stein zu heben. Aber das sind gerade die alleroffensichtlichsten Fälle von Versuchen. An manchen Stellen begeht Grice einen ähnlichen Fehler. Er deutet an, daß Wittgenstein sich weigert, "versuchen" auf Fälle anzuwenden, die als Parade-

WITTGENSTEINS LETZTER WILLE

beispiele für Versuchen gelten können und sich zur Erklärung des Begriffes besonders eignen (1989, 10). Aber das mühelose Heben des Armes ist gerade kein Paradebeispiel fürs Versuchen und eignet sich keineswegs zur Erklärung des Begriffs, da es nämlich den Gegensatz zwischen "versuchen, X zu tun" und "einfach X tun" nicht verdeutlicht. Jedoch liefert Grice auch eine plausiblere Version des Einwandes. "A versucht, seinen Arm zu heben" ist irreführend,

weil es eine pragmatische Konvention gibt, derzufolge man nicht eine schwächere Behauptung machen soll, wenn man in der Lage ist, eine stärkere zu machen, wie "A hebt seinen Arm". Aber auch darauf gibt es eine Wittgensteinsche Replik (ausführlicher dazu Glock 1996 b, 216-221; andere Repliken bei Hacker 1996, 568-575, Candlish 1998 und Glock 1996 a, 216-219). Nehmen wir an, ich beobachte Steffi Graf dabei, wie sie mühelos ihre Vorhand durchzieht. Plötzlich sagt mein Nachbar: "Graf versucht, Tennis zu spielen." In diesem Fall ist die angemessene Reaktion nicht die Anmahnung einer prag¬ matischen Diskurskonvention etwa "Warum sagst du mir das? Ich kann es doch selber sehen" -, sondern vielmehr die Korrektur einer Fehlanwendung des Wortes, etwa "Was soll denn das heißen 'Sie versucht's'? Siehst du nicht, wie mühelos sie spielt?" Grice hat also Wittgensteins Bedenken gegen die universelle Anwendung des Wortes "versuchen" keineswegs entkräftet, was für einige Handlungstheorien (z. B. Hornsby 1980, Kap. III; O'Shaugnessy 1980, Kap. 9-11) den Ruin be¬ deuten könnte. Relativ unbekannt, aber noch wichtiger ist jedoch Wittgen¬ steins Attacke auf die kausale Konzeption des Willens, die sowohl der empiristischen als auch der transzendentalphilosophischen Auffassung zugrunde liegt. Aus der Diskussion des Herbeifüh¬ rens geht hervor, daß das Wollen keine kausale Relation ist, keine Relation des Vollstreckens, in der wir zu unseren Hand¬ lungen stehen. In dieser Beziehung antizipiert Wttgenstein Davidsons Position. Davidson bestreitet nämlich die Aristoteli¬ sche These, wonach Handelnde die Ursachen ihrer Handlungen sind. Davidson bleibt jedoch einer kausalen Konzeption verhaf¬ tet. Die Ursache intentionaler Handlungen sind "pro-attitudes", Kombinationen von Uberzeugungen und Wünschen, die ihrer¬ seits wiederum mit Zuständen des Gehirns identisch sind. -

235

236

HANS-JOHANN GLOCK Wittgenstein vertritt demgegenüber die "hermeneutische Po¬

sition", wonach Uberzeugungen und Wünsche, oder allgemei¬

gesprochen die Gründe meiner Handlungen, nicht als deren Ursachen aufgefaßt werden können (Glock 1996, "causation"). Das Kapitel zum Wllen bringt jedoch einen zusätzlichen Ge¬ gensatz zu Davidsons kausalistischen und empiristischen Voraus¬ setzungen zutage. Denn pro-attitudes sind Zustände, in denen ich mich nur passiv befinde, und der Beginn solcher pro-attitudes sind Ereignisse, die uns nur widerfahren. Das würde jedoch heißen, daß intentionale Handlungen Dinge sind, die sozusagen von selbst passieren, an denen wir als Personen nicht beteiligt sind und die uns z. B. auch überraschen können müßten. Im Einklang mit der transzendentalen Position lehnt Witt¬ genstein diese empiristische Position ab. Wenn A zum Zeit¬ punkt t eine willentliche Handlung vollzieht, so besteht der Un¬ terschied zu einer unwillkürlichen Körperbewegung nicht in einem Phänomen, einer Handlung, einem Zustand oder einem Ereignis, das r vorausgeht oder begleitet. Daraus folgt jedoch nicht, wie die transzendentale Position annimmt, daß der Unter¬ schied in einer Ursache jenseits der Erfahrung zu suchen ist. Das Wollen ist kein Phänomen innerhalb der Erfahrung, aber auch kein transzendentes Etwas jenseits der Erfahrung. Wittgensteins Alternative zu beiden Positionen ist in den "Philosophischen Untersuchungen" nur kurz angedeutet, wird aber in späteren Werken ausgearbeitet ("Zettel" 577-599; BPP I 840-852, 897-902). Der Unterschied zwischen willentlichen Handlungen und bloßen Körperbewegungen besteht nicht in tatsächlichen Ereignissen (gleich ob mentaler oder physiolo¬ gischer Art), sondern im Kontext der Handlung und in dem, was der Handelnde bei dieser Gelegenheit zu mn in der Lage ist (also einer Potentialität im Sinne von Aristoteles). Dabei erwähnt ner

Wittgenstein insbesondere die folgenden Merkmale: i) die Möglichkeit, eine Handlung zu befehlen, und die Tat¬ sache, daß diese Befehle nicht automatisch ausgeführt werden; ii) die Möglichkeit des Handelnden, anders zu handeln; iii) die Abwesenheit der Überraschung; iv) den Charakter der Bewegung und ihr Verhältnis zu den

Umständen. Eine empiristische Analyse wie die Davidsons könnte diesen Punkten vielleicht nur dadurch begegnen, daß sie solche kontex-

WITTGENSTEINS LETZTER WILLE tuellen und potentiellen Elemente für bloße Einbildungen er¬ klärt und damit insbesondere den vorphilosophischen Begriff der Willensfreiheit in Frage stellt. Wittgensteins eigene Vertei¬ digung dieses Begriffs (LFW) stellt bei weitem nicht das letzte Wort dar. Dennoch ist die empiristische Ablehnung dieses Be¬ griffs schwer zu begründen, unter anderem deshalb, weil die Möglichkeit verantwortlichen Handelns eine jener Vorausset¬ zungen ist, auf denen unsere Sprachspiele und unsere Lebens¬ form beruhen. Dieser Gedanke verbindet Strawsons "Freedom and Resentment" mit Wittgensteins "Über Gewißheit." Falls er sich verteidigen läßt, so haben wir guten Grund für die Behaup¬ tung, daß das Wollen nicht eine bloß passive Erfahrung ist.

Literatur Candlish, Das Wollen ist auch nur eine Erfahrung, in: R. L. Arlington und H. J. Glock (Hgg.), Wittgensteins Philosophical Investigations: Text and Con¬ text, London 1991, 203-226. St. Candlish, Kinästhetische Empfindungen und Epistemische Phantasie, in: E. von Savigny und O. Scholz (Hgg.), Wittgenstein über die Seele, Frankfurt 1995. St. Candlish, The Will, in H. J. Glock (ed.), Wittgenstein: A Critical Reader, Oxford 1998. H. J. Glock, Abusing Use, Dialéctica 50, 1996, 205-223 (a). H. J. Glock, A Wttgenstein Dictionary, Oxford 1996 (b). H. J. Glock, Schopenhauer and Wittgenstein: Representation as Language and Will, in: C. Janaway (ed.), The Cambridge Companion to Schopenhauer, Cambridge 1999. H. J. Glock, J. M. Preston, Externalism and First-Person Authority, The Mon¬ ist 78, 1995, 515-533. P. Grice, Studies in the Way of Words, Cambridge/Mass. 1989. P. M. S. Hacker, Wittgenstein: Mind and Will, Vol. 4 of an Analytical Commen¬ tary on the Philosophical Investigations, Oxford 1996. J. Hornsby, Actions, London 1980. E. M. Lange, Wittgenstein und Schopenhauer, Cuxhaven 1989. B. O'Shaugnessy, The Will, Cambridge 1980. E. von Savigny, Wittgensteins "Philosophische Untersuchungen": Ein Kom¬ mentar für Leser, Band II, Frankfurt 1996 (1. Aufl. 1989). St. Shanker, The Nature of Willing, in: J. V Canfield und St. Shanker (eds.), Wittgenstein's Intentions, New York 1993, 195-243. Winch, P, Wittgenstein über den Willen, in: Ratio 10, 1968, 32-44. St.

10 Noel Fleming

Blick auf die Seele

10.1

,"Aber sagst du denn nicht, daß nichts weiter geschieht, als daß stöhnt, und daß sich nichts dahinter befindet?' Was ich sage, ist, daß nichts hinter dem Stöhnen liegt." ("Aufzeichnungen für Vorlesungen über ,privates Erlebnis' und ,Sinnesdaten'", S. 78) Diese Stelle gibt, wie mir scheint, eine gedrängte Zusammenfas¬ er

sung einer Auffassung vom Geist und von seiner Beziehung zum Körper, die sich in Wittgensteins Spätwerk findet. Aus praküschen Gründen wird im folgenden Text unterstellt, daß es sich hierbei um Wittgensteins eigene Anschauung vom Geist han¬ delt. An anderer Stelle deutet Wittgenstein an, in seinen Spätschriften wolle er keine philosophischen Thesen vertreten. Also ist das vielleicht gar keine philosophische These im relevanten Sinne. Weitere Möglichkeiten wären die, daß Wittgenstein nicht ganz widerspruchsfrei formuliert oder diese Auffassung nur dia¬ lektisch darlegt, während er sich in anderen philosophischen Zusammenhängen nicht weniger entschieden zu anderen An¬ schauungen vom Geist bekannt hätte. Bilder haben den Philosophen nicht weniger Kopfzerbrechen bereitet als der Geist, und das oben angeführte Zitat läßt sich ebenso wie andere Stellen aus Wittgensteins Schriften ohne weiteres umformulieren und in einen Dialog über Bilder ein¬ bauen: ",Aber sagst du denn nicht, daß nichts weiter zu finden ist als die Leinwand und daß dahinter oder darüber hinaus nichts vorhanden ist?' Was ich sage, ist, daß es nichts hinter der Lein-

240

NOEL FLEMING wand gibt oder darüber hinaus." Freilich ist die Wand, an der das Bild hängt, dahinter, wenn es sich z. B. um El Grecos "Blick auf Toledo" handelt, das im Metropolitan Museum hängt. In ande¬ rer Hinsicht ist auch der Maler mit seinem Pinsel dahinter sowie die am Tajo gelegene Stadt selbst. Aber nichts von alledem ist im Bild wiedergegeben. Hinter dem Stöhnen stehen, je nachdem, die Stimmbänder, das Zentralnervensystem, vielleicht eine Ver¬ letzung sowie die betreffende Person selbst. Aber nichts von alledem ist der von dieser Person empfundene Schmerz. Angenommen, wir stimmen dem anderen zu, der meint, das an der Wand hängende Bild sei nicht die auf dem Bild zu sehen¬ de stürmische Landschaft (bzw. nicht einfach mit dieser Land¬ schaft gleichzusetzen), es sei also nicht die im Bild abgebildete Szenerie. Was zutreffend über jenes gesagt werden kann, könne nicht zutreffend oder vielleicht nicht einmal sinnvoll über diese gesagt werden; wer die Farben und Formen auf der Leinwand

sieht, erblickt nicht unbedingt auch die

im Bild dargestellte Landschaft. Daher könnte der Dialog wie folgt weitergehen: "Und doch gelangst du immer wieder zum Ergebnis, die Land¬ schaft selbst sei ein Nichts." "Nicht doch. Sie ist kein Etwas, aber auch nicht ein Nichts! Das Ergebnis war nur, daß ein Nichts die gleichen Dienste täte wie ein Etwas, worüber sich nichts aussagen läßt. Wir verwarfen nur die Grammatik, die sich uns hier aufdrängen will" (nach PU 304). Was wir abgelehnt haben, ist die Vorstellung von der Landschaft als einem weiteren Gegenstand, der verschieden wäre von der Leinwand, die ihn sowohl verbirgt als auch zum Vorschein kommen läßt ein Gegenstand, der an keiner Wand hängt und noch nicht einmal sichtbar ist, es sei denn, für das innere Auge oder die ästhetische Vorstellungskraft. "Bist du nicht doch ein verkappter Reduktio¬ nist? Sagst du nicht doch, im Grunde, daß alles Fiktion ist, außer der bemalten Leinwand?" "Wenn ich von einer Fiktion rede, dann von einer grammatischen Fiktion" (nach PU 307). Denn daß wir auf dem Bild den Gewitterhimmel und die Stadt sehen, ist ebenso unbestreitbar wie der Sachverhalt, daß sich die Men¬ schen an manches erinnern und Schmerzen empfinden. Die hier bestrittene und durch die Fragen des Gesprächspart¬ ners angedeutete philosophische Anschauung kommt den mei¬ sten von uns heute verfehlt vor. Nach meinem Dafürhalten ist die in den Erwiderungen nahegelegte Gegenansicht richtig und -

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BLICK AUF DIE SEELE

entspricht dem Bildbegriff Wittgensteins. Es ist jedoch tatsäch¬ lich geltend gemacht worden, daß das sozusagen eigentliche Bild

also z. B. die stürmische Landschaft von Toledo samt der un¬ heimlichen Lichterscheinungen nur im Geist des Malers oder des Betrachters existierte. Das physische Bild sei ein bloßes Zeichen, nichts weiter als eine Vermittlungsinstanz. Das wäre so ähnlich wie Lockes Auffassung, wonach unsere gesprochenen und geschriebenen Wörter nichts weiter sind als äußere Zeichen für Ideen, die nur in der Privatheit des Geistes existieren. Doch dieser Auffassung vom Bild gleicht mehr als nur die Vorstellung Lockes von der Beziehung zwischen Wort und Ge¬ danken. Eine Parallele bildet außerdem die Lockesche, Cartesische, dualistische Anschauung vom Geist selbst, während der Gegenansicht vom Bild die von Wittgenstein vertretene Gegen¬ ansicht vom Geist entspricht. In der vorliegenden trotz aller spekulativen Elemente hauptsächlich interpretativen Abhand¬ lung möchte ich den Versuch machen, Wittgensteins Geist¬ begriff durch Vergleich mit der Gegenansicht vom Bild zu ver¬ stehen. Der Geist entspricht dem Gehalt des Bildes bzw. in einem bestimmten Sinn (nämlich im Sinne des Bildinhalts, der nicht außerhalb des Bildes zu existieren braucht) dem Gegen¬ stand des Bildes, also etwa der Szenerie oder Landschaft von Toledo, während der Körper dem Bild selber dem physischen Objekt entspricht, also etwa der an der Wand hängenden Leinwand. Manchmal sagen wir, jemand sei nachgerade ein Bild des Trotzes oder der Dankbarkeit. Bei Wittgenstein heißt es: "Der menschliche Körper ist das beste Bild der menschlichen Seele" (PUS. 496/178). Diesen Aphorismus könnte man so deuten, als wollte Wttgenstein damit feststellen, daß Bilder und Skulpmren von Perso¬ nen d. h. von menschlichen Körpern die besten, wenn nicht gar die einzigen sichtbaren Darstellungen der Seele sind, die wir kennen oder uns ausmalen können. Aber es gibt offenbar nicht den geringsten Grund, den Aphorismus so aufzufassen, als sei damit gesagt, daß das Bild des Körpers oder der Person das beste Bild der Seele sei. Weit eher bedeutet er wohl, daß wir gerade dann, wenn wir den Körper betrachten, die Seele besonders gut sehen. Wenn wir den Körper im Gesamtbereich seiner Verhal¬ tensweisen anschauen, werden wir unmittelbar mit der Seele konfrontiert, wie wir auch der Landschaft unmittelbar gegen-

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242

NOEL FLEMING wir die an der Wand hängende Leinwand betrachten. Freilich sehen wir weder die Seele genauso wie den Körper noch die Landschaft den Gewitterhimmel usw. ge¬ nauso wie die Leinwand. Aber es gibt keine andere, jedenfalls keine bessere Möglichkeit, die im Bild erblickte Landschaft zu sehen. Photographien oder Kopien des Bildes sind nicht so nütz¬ lich, zumindest nicht nützlicher. Eine Reise nach Spanien bringt auch nichts ein. Ebenso gibt es keine andere, jedenfalls keine bessere Möglichkeit, die im Körper erblickte Seele zu sehen. Photographien und Gemälde des Körpers oder der Person tau¬ gen nicht soviel oder doch generell nicht mehr. Im Inneren des Kopfes nachzuschauen, nützt ebenfalls nichts. Hierauf weiß der Dualist manche Erwiderung zu geben. (Mehr darüber weiter unten, im Abschnitt 5.) Erstens sei zwar nichts auszusetzen an der vagen Ausdruckweise, man könne die Seele "sehen", indem man den von der Seele belebten Körper an¬ schaue. (Sogar ein Auto auf der Straße kann erschrocken ausse¬ hen.) Aber in Wirklichkeit könne man die Seele natürlich nicht sehen. Zweitens sei der Dualist besser als Wittgenstein in der Lage, von der Bildanalogie Gebrauch zu machen, denn der Dua¬ list könne sagen, daß jedermanns Selbstkenntnis von der eigenen Seele dem Sachverhalt entspreche, daß wir außerhalb des Bildes sehen, was wir zumindest der Art nach auch im Bild wahrneh¬ men. (Zugestanden, die in El Grecos Gemälde zu sehende Sze¬ ne ja vielleicht sogar die dort zu erkennende Stadt können wir nirgendwo sonst zu Gesicht bekommen. Dennoch können wir Stürme, Städte und sogar Toledo außerhalb von Bildern sehen. Und daß es es sich so verhält, ist vermutlich eine Bedingung der

überstehen, sobald

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Möglichkeit, daß wir dergleichen auch in Bildern sehen.) Drit¬ tens

seien Bilder außerstande, Licht auf das Wesen des Geistes zu

werfen, denn schon der Begriff des Bildes setze geistige Wesen

oder Personen mitsamt ihren Reaktionen auf bemalte Leinwand¬ stücke und mit Krakeln versehenes Papier voraus.

10.2 Im "Braunen Buch" vergleicht Wittgenstein die Situation, in der man in einer Zeichnung ein Gesicht Striche auf dem Papier als Bild eines Gesichts sieht, mit dem verständnisvollen Lesen -

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BLICK AUF DIE SEELE

(S. 259). In beiden Fällen sind wir versucht, fälschlich anzuneh¬

hier gebe es zweierlei Vorgänge, zweierlei Erlebnisse oder Bestandteile, die dabei zusammenaddiert werden. Die Linien können wir sehen, ohne in der Zeichnung das Gesicht zu erken¬ nen (selbst wenn wir obendrein wissen, daß es sich um die Zeichnung eines Gesichts handelt), und wir können auch ohne Verständnis lesen. Also ist das Sehen des Gesichts nicht bloß das Sehen der Linien, und das Verstehen ist nicht bloß das Ausspre¬ chen der Wörter. Doch das Sehen des Gesichts besteht nicht in einem geheimnisvollen Akt, durch den man an sich sinnlose und für sinnlos erkannte Linien verständlich deutet. Ebensowenig ist das Verstehen der Worte ein Vorgang, der sich im Inneren des Geistes verborgen abspielt, während wir außerhalb nur eine Reihe sinnloser Geräusche von uns geben oder hören. In engem Zusammenhang damit steht, daß wir dann, wenn wir etwas als etwas sehen, das Gesehene nicht deuten. "Deuten ist ein Denken, ein Handeln; Sehen ist ein Zustand. [...] Deuten wir, so machen wir Hypothesen, die sich als falsch erweisen mögen. ,Ich sehe diese Figur als ein.' kann sowenig veri¬ fiziert werden (oder nur in dem Sinne) wie ,Ich sehe ein leuch¬ tendes Rot'" (PU S. 550/212). Wer die Zeichnung als Bild eines Gesichts sieht, erlebt, wie man sagen könnte, das Sehen des Bildes eines Gesichts. Es heißt nicht, daß er denkt oder folgert, die Zeichnung sei das Bild eines Gesichts oder könne ein solches Bild sein. Wer mit Verständnis liest oder spricht bzw. meint, was er sagt, vollzieht ebensowenig zwei Handlungen auf einmal, wie jemand, der in einer Zeichnung ein Gesicht sieht, sowohl die Zeichnung die Linien auf dem Papier sieht als auch diese Linien deutet oder sie als Bild eines Gesichts interpretiert. Auch wenn wir wissen oder glauben, daß jemand das Gesagte versteht, deuten men,

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wir weder sein Verhalten noch schließen wir von dem Gesehe¬ und Gehörten auf etwas uns Verborgenes in seinem Inne¬ ren. Was den anderen betrifft, können wir uns irren, und das läßt sich beweisen, indem man z. B. seine Antworten auf bestimmte Fragen oder seine Umformulierung einer schlecht vorgelesenen Textstelle als Beleg anfuhrt. Damit ist aber nicht gezeigt, daß das Verstehen oder das Mißverstehen irgendwie in seinem Inneren versteckt wäre. Man kann einen gewöhnlichen Felsbrocken fälschlich für einen Strauch halten, aber der Grund ist nicht nen

243

244

NOEL FLEMING etwas im Inneren des Felsbrockens Verborgenes. Ceteris paribus irren wir uns wahrscheinlich eher bei Personen als bei Felsbrokken. Aber wahrscheinlich irren wir uns auch dann eher, wenn es um die Frage geht, ob das Auto anspringen wird oder ob sich die Wolken jetzt wirklich zusammenballen werden. "Die Unvorhersehbarkeit des menschlichen Benehmens. Wäre sie nicht vor¬ handen, würde man dann auch sagen, man könne nie wissen, was im Andern vorgeht?" ("Zettel" 603) Außerdem ist kein in der Privatheit des Inneren einer Person ablaufender Vorgang auch nur für den Betreffenden selbst eine ausreichende Bestäti¬ gung der Behauptung, daß er etwas verstanden oder nicht ver¬ standen habe. Wenn er später außerstande ist, bestimmte Fragen zu beantworten usw., ist überhaupt nicht klar, daß er etwas ver¬ standen hat einerlei, was seinerzeit vor sich gegangen ist. Wodurch wird nachgewiesen, daß der andere etwas versteht? Hier gibt es nichts außer der Gesamtheit seiner Verhaltensäuße¬ rungen in ihrer jeweiligen Umgebung vor, während und nach dem Akt des Lesens. In diesem Fall dürfte die Umgebung recht weitläufig sein, denn das Lesen setzt eine Menge menschlicher Eigenschaften und einen Großteil der menschlichen Lebensfor¬ men voraus. Doch daß der andere einen Felsbrocken gesehen hat, müßte auf die gleiche Art und Weise nachgewiesen werden. "Nur inmitten gewisser normaler Lebensäußerungen gibt es eine Schmerzäußerung. Nur inmitten von noch viel weitgehen¬ der bestimmten Lebensäußerungen den Ausdruck der Trauer oder der Zuneigung. Usf." ("Zettel" 534) Es gibt auch noch andere Tiere, die Schmerzen, Zuneigung und vermutlich auch Trauer zum Ausdruck bringen; aber nur der Mensch kann mit oder ohne Verständnis lesen. Nun ist es allerdings nicht so, als ließe sich das Lesen völlig vom verständnisvollen Lesen abtrennen. Gäbe es kein Verste¬ hen, gäbe es auch kein Lesen, obwohl es vielleicht etwas recht Ahnliches geben könnte: In einer Welt ohne geistbegabte Lebe¬ wesen könnte es, nachdem sich die Menschen gegenseitig umge¬ bracht haben, z. B. Maschinen geben, die auch weiterhin Geräu¬ sche bestimmter Art von sich geben, während sie bestimmte Arten von Schriftzeichen abtasten. Aber in dieser Situation gäbe es ebensowenig ein Sehen wie ein Lesen oder ein Verstehen. Die Augen von Stamen schauen uns nicht an; sie scheinen uns nur anzublicken. Allerdings sind wir ebenso wie andere Tiere im-

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BLICK AUF DIE SEELE

anzuschauen, ohne es zu sehen, wie wir (Men¬ auch imstande sind, ohne Verständnis zu lesen. schen) ja Aber daraus, daß die Angemessenheit der Umgebung eine notwendige Bedingung ist, folgt nicht, daß das derzeitige Ge¬ schehen keine Bedeutung hat. Jemand kann etwas mit Verständ¬ nis vorlesen, und wir können ihm dabei zuschauen und zuhören. "Schau ins Gesicht des Andern und sieh das Bewußtsein in ihm und einen bestimmten Bewußtseinsfow. Du siehst auf ihm, in stände,

etwas

ihm, Freude, Gleichgültigkeit, Interesse, Rührung, Dumpfheit

usf." ("Zettel" 220, vgl. 221 bis 225.) "Nun, man könnte so sa¬ gen: Wenn man das Benehmen des Lebewesens sieht, sieht man seine Seele" (PU 357, vgl. PU 537 und S. 568/223). Tatsächlich ist die Freude im Gesicht der Person grundlegender für den Begriff der Freude für das Wesen der Freude als irgendwel¬ che privaten Vorgänge im Inneren der Menschen. Denn ebendies daß man unter solchen Umständen so ausschaut und so handelt ist das, was wir "sich freuen" nennen. Was Freude ist, wissen wir daher, daß wir die Haltung und das Verhalten solcher Personen in solcher Umgebung betrachtet haben. Was der Geist ist, wissen wir daher, daß wir die Haltung und das Verhalten von Menschen und sonstigen Tieren betrachtet haben. -

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10.3 Personen zeigen also Freude oder Verständnis, wie das Bild eine Stadt unter dem Gewitterhimmel zeigt. Manchmal müssen wir das Aussehen und die Handlungen einer Person bzw. die For¬ men auf der Leinwand oder die Linien auf dem Papier deuten, um sie zu verstehen, doch im Regelfall braucht das Gesehene gar nicht gedeutet zu werden, weil es unmittelbar verständlich ist. Wir brauchen uns gar nicht zu bemühen, über das, was wir vor uns haben, hinauszugehen. Wir könnten auch sagen, daß wir im Regelfall insofern doch über das, was wir vor uns haben, hinaus¬ gehen oder schon hinausgegangen sind, als es unter eine Mini¬ malbeschreibung der Farben, Formen und Hautverschiebungen fällt. Aber das heißt nicht, daß wir womöglich sogar mit Hilfe einer Hypothese zu etwas Innerem oder Verborgenem voran¬ geschritten sind. Wenn man in jemandes Gesicht Freude sieht, heißt das nicht, daß man mit Hilfe einer Hypothese über sein -

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NOEL FLEMING Innenleben einige äußere Zeichen interpretiert hat. Es heißt nicht einmal, daß man eine Hypothese über sein äußeres Leben akzeptiert, obwohl dieser Gedanke immer noch vorzuziehen wäre, da er nicht die Vorstellung beinhaltet, wir müßten die Phänomene durchdringen, um zur Freude des anderen vorzu¬ stoßen. Es heißt weit eher, daß man in bestimmter Weise auf den anderen reagiert und seine Freude ebenso erlebt wie seinen Zorn, also den Anblick seiner Freude erfährt. Gefolgert wird hier ebensowenig wie dann, wenn wir selbst Freude empfinden. In gewissem Sinne sehen wir das Gesicht des anderen zweifellos in einem Kontext, dessen Artung uns generell durchaus bekannt ist, obwohl wir hier vielleicht keine Ahnung von den Einzel¬ heiten haben. Doch in phänomenologischer Hinsicht ist es eher so, als sähen wir im Gesicht des anderen einen Kontext: die Bedeutung ist in seinem Gesicht gegeben, sie steht ihm genauso unverkennbar im Gesicht geschrieben, wie man ein Auto aus der Nebenstraße kommen sieht oder schwarze Wolken am Himmel erblickt oder El Grecos "Toledo" an der Wand. Dennoch scheint es zwischen der Art und Weise, in der das Gesicht des anderen seine Freude zeigt, und der Art und Weise, in der die Leinwand die Gewitterszene oder die Zeichnung das Gesicht darin zeigt, einen wichtigen Unterschied zu geben. Damit dieses Stück Leinwand zum Bild einer Stadt oder Ort¬ schaft unter gewittrigem Himmel wird, ist nichts weiter nötig, als daß wir sagen, ja, es verhalte sich wirklich so. (Hätte El Greco das Gemälde "Porträt eines Heiligen" genannt, würden wir z. B. annehmen, daß es nach seiner Absicht allegorisch aufgefaßt wer¬ den sollte.) Doch damit einem Menschen Freude im Gesicht geschrieben steht das heißt: damit er sich wirklich freut -, ist mehr nötig als unsere Zustimmung, daß es sich bei dem Gesehe¬ nen um Freude handelt. Sein übriges Verhalten und die Situa¬ -

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tion können

zeigen, daß er sich nicht freut. Er kann uns einfach zum Trotz traurig ist, obwohl

mitteilen, daß er allem Anschein

Äußerung vielleicht nur dann überzeugend wirkt, außerdem angeben kann, warum er froh aussieht, wenn er es gar nicht ist. Und selbst wenn er es angibt, ohne daß wir etwas herausbekommen, kann er allem Anschein zum Trotz und obwohl wir übereinstimmend Freude in seinem Gesicht sehen, dennoch wirklich traurig sein. Ob sich jemand freut, hängt nicht von uns ab, sondern von ihm. eine solche

wenn er

BLICK AUF DIE SEELE Die Betrachtung dieses Einwands wird sich auf den folgenden Seiten dieser Abhandlung in der einen oder anderen Weise im¬ mer wieder bemerkbar machen. Doch zunächst ist daraufhinzu¬ weisen, daß auch ob etwas das Bild einer Stadt ist, nicht von uns abhängt, sondern von ihm. Wir können den "Blick auf Toledo" nicht in das "Porträt eines Heiligen" verwandeln, indem wir übereinkommen, daß es sich in Wrklichkeit um das Porträt eines Heiligen handelt. Oder vielmehr: wir können gar nicht übereinkommen, daß es sich darum handelt. Lassen wir die Frage nach der Absicht außer acht. Dann heißt "in der erforder¬ lichen Weise übereinkommen, daß es sich um ein Bild von x handelt", daß man es bei der Betrachtung völlig natürlich findet zu behaupten, es handele sich um ein Bild von x, daß man spontan so reagiert, als handele es sich um ein Bild von x, wobei diese Reaktion ohne vorherige Kenntnis dieses Bildes erfolgen muß. Es heißt: sehen, daß es sich um ein Bild von x handelt, indem man x in dem Bild sieht. Außerdem heißt es, daß man imstande ist, auf die relevanten Teile des Bildes die Formen und Farben auf der Leinwand zu deuten, durch die es zu einem Bild dessen wird, was es darstellt. (Sogar für das, was vorher und hinterher geschieht, läßt sich ein Analogon angeben, wenn man etwa an das Beispiel des Films denkt. Beinahe jede Schilderung eines Films wird ganz wesentlich wenn auch implizit nicht nur das augenblickliche Geschehen auf der Leinwand oder im Film betreffen, sondern überdies frühere oder spätere Vorgänge und sogar Dinge, die passiert wären oder hätten passieren kön¬ -

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nen.)

Damit ein Bild wirklich zu diesem Bild wird, muß es auf seiner Oberfläche die (geometrisch beschreibbaren) Linien und For¬ men (und, sofern es farbig ist, die entsprechenden Farben) tra¬ in durch es die der dem Bild eigentümlichen Weise dem gen,

Abgebildeten

ähnelt. Aber wodurch werden diese Linien und den fur diesen Zweck geeigneten, so daß sie dem Gegenstand des Bildes ähneln und dieser für uns im Bild sicht¬ bar wird? Diese spezielle Art der Ähnlichkeit hätten wir nämlich auch verkennen können, und manches Projektionssystem würde es gestatten, aus dieser Menge von Linien und Formen nahezu alles Beliebige abzuleiten, sie als Darstellung von beinahe allem Beliebigen zu begreifen und sie mit einiger Übung vielleicht sogar als Darstellung von allem Beliebigen zu sehen. Wodurch Formen

zu

247

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NOEL FLEMING also werden diese Linien und Formen zu den richtigen? Die Antwort muß anscheinend lauten, daß wir halt diese und nicht jene Linien und Formen für das erkennen, worauf wir von Namr aus als ein Bild ebendieses Gegenstandes reagieren und worin wir von Namr aus ein solches Bild sehen. Es hätte auch sein können, daß wir nicht in dieser Weise darauf reagiert hät¬ ten. Manche Menschen reagieren vielleicht gar nicht in dieser Weise darauf. Zuallermindest variieren die bildlichen Darstel¬ lungssysteme von einem Ort zum anderen und von einer Zeit zur anderen. (Mit der Formulierung "wir reagieren von Namr aus so" meine ich also nicht, daß diese Reaktion weder kulturell noch historisch bedingt ist.) Es scheint jedoch so zu sein, daß die meisten Menschen das Gleiche als Bild anerkennen, was auch von anderen Menschen für ein Bild gehalten wird. Wenn es Menschen gäbe, die auf nichts in dieser Weise reagierten, gäbe es für sie keine Bilder; und sofern sie es nicht von anderen lernen könnten, würden sie nicht einmal wissen, was ein Bild ist. ",Ich sehe diese Figur als ein .' kann sowenig verifiziert werden (oder nur in dem Sinne) wie ,Ich sehe ein leuchtendes Rot'" (PU S. 550/212). Welches ist der Sinn, in dem sich "Ich sehe ein leuchtendes Rot" verifizieren läßt? Vielleicht meint Wittgenstein: (nur) indem man herausfindet, ob der Betreffende weiß, was ein leuchtendes Rot ist, was "leuchtendes Rot" bedeu¬ tet. Die objektive Kraft von "Ich sehe diese Figur als ein ..." ist vielleicht nicht stärker als etwa die von "Ich sehe rosa Elefan¬ ten". Aber wenn wir objektiv in Anspruch nehmen, ein leuchten¬ des Rot oder rosa Elefanten zu sehen bzw. das Bild eines Ge¬ sichts, einer Ente oder eines Hasen, können wir uns auch irren. -

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aufrichtig äußere, in der Zeichnung ein Gesicht zu sehen, folgt daraus nicht, daß es sich um die Zeichnung eines

Wenn ich

Gesichts handelt oder daß sonst jemand ein Gesicht darin sehen wird. Wieder wollen wir von der Möglichkeit der Ermittlung des beabsichtigten Bildgegenstands absehen. Dann läßt sich, daß ich recht habe, wenn ich das Bild als Darstellung eines Gesichts sehe, oder daß es zumindest als solches gesehen werden kann, "verifizieren" oder bestätigen, indem man auf die Merkmale der Zeichnung hinweist, durch die es zu einem solchen Bild wird, und indem man es mit anderen Zeichnungen und Bildern von Gesichtern sowie mit wirklichen Gesichtern vergleicht. Doch damit das gelingt, müssen andere Personen mir zustimmen, in-

BLICK AUF DIE SEELE dem sie ebenso wie ich selbst auf die Zeichnung reagieren oder allmählich zu der gleichen Reaküonsweise gelangen. Es muß gesichert sein, daß auch die anderen das Gesicht in der Zeich¬ nung sehen. Übereinstimmung im Urteil und Übereinstimmung in der Reaktionsweise laufen hier weitgehend auf das gleiche hinaus, und es würde nicht lange dauern, bis wir zur Uberein¬ stimmung oder Nichtübereinstimmung gelangten, wie es ja auch geschähe, wenn es um die Frage ginge, ob die Wand dort leuch¬ tend rot ist. Der Einwand besagte, daß es nicht von uns nicht von unse¬ rer Reaktion auf den anderen abhängt, ob er froh ist bzw. etwas versteht, sondern von ihm selbst. Die Replik lautete, daß es in erster Linie nicht von uns, sondern von dem betreffenden Bild abhängt, ob es ein Bild von x ist. Es muß die Merkmale aufwei¬ sen, durch die es zu einem Bild von x wird und kraft deren es x in jener speziellen Weise ähnelt, in der Bilder dem Abgebildeten ähneln. Daraufhin wurde eingeräumt, daß das, wodurch diese Merkmale zu den hierfür geeigneten werden, doch von unserer Reaktion auf sie abhängt oder vielmehr davon, daß wir in der faktisch gegebenen Weise auf sie reagieren und sie entsprechend sehen. Aber nach Wittgensteins Meinung verhält es sich, wie ich glaube, beim Verstehen und bei der Freude ganz ähnlich. Wir können durchweg aufzeigen, welche Eigenschaft des Verhaltens (einschließlich der Haltung) einer Person zeigt, daß sie etwas versteht oder Freude empfindet, und inwiefern das vorangehen¬ de und spätere Verhalten dazu passen muß (andernfalls ist eine Erklärung erforderlich). Aber wodurch wird ein bestimmtes Ver¬ halten zur richtigen Verhaltensweise, die an den Tag gelegt wer¬ den sollte und imstande ist, das Verständnis bzw. die Freude zu verkörpern? Im Grunde wird es dadurch richtig, daß wir ange¬ messen darauf reagieren; und unsere Reaktion ist nicht anders geartet und nicht weniger gewiß und fehlbar als das Sehen. Wr stellen keine Hypothesen über Vorgänge im Inneren des anderen auf, indem wir aus der Ähnlichkeit zwischen unserem Verhalten und seinem eigenen Analogieschlüsse auf sein Innen¬ leben ziehen. Beziehungen zwischen dem derzeitigen Aussehen und Handeln des anderen und seiner Fähigkeit zu späterem Fortfahren und Verhalten bemerken wir nicht einmal, noch blei¬ ben sie uns im Gedächtnis. Um es knapp und in groben Zügen zu formulieren, steht es vielmehr so, daß wir z. B. unsererseits -

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NOEL FLEMING froh sind, wenn wir jemanden mögen, der im Fall erfreulicher Nachrichten entsprechend aussieht und handelt. Wir sind in gewissem Maße vom anderen angetan und bereit, uns auf ihn zu verlassen, wenn er beim Sprechen oder Vorlesen einer Textstelle entsprechend aussieht und sich entsprechend anhört. Diese Re¬ aktionsweisen sind spontan und unmittelbar, und wir sehen un¬ serer Reaktion entsprechend bzw. reagieren gemäß dem Gese¬ henen: die Art unserer Reaktion und die Art des Gesehenen sind unauflöslich miteinander verknüpft. Uber die "Reize", von denen solche "Reaktionen" ausgelöst werden, können wir generell vielleicht nichts weiter sagen, als daß, was so aussieht und sich so verhält, eben ein menschliches, sehendes, Freude und Schmerz empfindendes, verstehendes usw. Wesen ist. Ebenso ist etwas, was so aussieht, ein Bild. (Man stelle sich vor, daß wir an einer Straßenecke oder in einer Kunstgalerie stehen und auf die Leute in unserer Umgebung bzw. auf das Bild an der Wand zeigen.) Hier können wir weit besser wenn nicht weit wir mehr als zu sehen, sogar sagen vermögen. Das eine heißt eben von außen betrachtet -, daß der Körper eine Seele hat; das andere heißt eben bezüglich der Leinwand -, daß auf dem Bild eine Gewitterszene ist. Ebenso, wie Bild und Szene am gleichen Ort und einander dennoch inkommensurabel sind, so verhält es sich auch mit Körper und Seele. Ebenso, wie wir beim Reden über den Sturm auf Teile des Bildes zeigen, so zeigen wir auch beim Reden über Verstehen und Freude auf den Kopf und das Herz und in jedem dieser Fälle muß das Zeigen richtig aufgefaßt werden. Die Sichtbarkeit der Seele ist nicht einfach von der gleichen Art wie die Sichtbarkeit des Körpers, ja nicht einmal von der gleichen Art wie die Sichtbarkeit der Landschaft. Aber die Seele ist ebensowenig wie die Landschaft unsichtbar oder hinter dem Körper bzw. hinter dem Bild verborgen. -

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Schmerz, Freude, Verstehen usw. sind (zumindest) genauso ver¬ schieden voneinander wie Tag und Nacht. Aber sie alle sind wie der Geist oder die Seele selbst kein Etwas wie der Körper, aber auch nicht ein Nichts, denn sie können gesehen werden. Ganz ähnlich steht es mit der Landschaft: sie ist kein Etwas wie das Gemälde, aber auch nicht ein Nichts, denn sie kann ebenfalls gesehen werden. Wer die Landschaft nicht zu sehen vermag, sieht nicht, was da in den Farben und Formen auf der Leinwand vorhanden ist. Der Seelenblinde würde nicht sehen, was in der

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BLICK AUF DIE SEELE

Haltung und im Verhalten des Körpers vorhanden ist. Wir erfin¬ den hier nichts, sondern dem anderen entgeht, was wir finden. (Es gibt noch weitere "Sachen", die aus verschiedenen, aber zusammenhängenden Gründen vielleicht kein Etwas, aber wo¬ möglich auch nicht ein Nichts sind, nämlich: die Anmut oder Plumpheit des Gangs, die Handlung eines Romans oder Schau¬ spiels, der Sinn oder die Bedeutung eines Wortes, die Glücklich¬ keit oder Unglücklichkeit eines Lebens.) Doch sofern der menschliche Körper das beste Bild der menschlichen Seele ist, sind es die übrigen menschlichen Seelen, die ihn durch ihre faktischen Reaktionsweisen in der gleichen Weise dazu machen, in der sie durch ihr entsprechendes Reagie¬ ren gewöhnliche Bilder zu Bildern machen. Jeder physikalistischen oder nichtmentalistischen Beschreibung wird das Leben und der Geist, den wir an der Haltung und am Verhalten des Körpers der Person wahrnehmen, genauso entgehen, wie sich das am Bild Wahrgenommene jeder rein geometrischen (und farbbezogenen) Beschreibung entzieht. In keinem dieser beiden Fälle besteht auch nur annähernd so etwas wie eine Folgerungs¬ beziehung. Selbst wenn wir uns der mentalistischen Sprache be¬ -

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dienen, können wir das relevante Aussehen und die betreffenden

Handlungen wahrscheinlich nur ungefähr oder mit völlig trivia¬ len Formulierungen kennzeichnen, doch wir erkennen dieses Aussehen und diese Handlungen, sobald wir ihrer ansichtig wer¬ den, und wir reagieren auf sie, indem wir sie erkennen. Unser Verständnis der mentalistischen Sprache beruht auf diesem Er¬ kennen, nicht umgekehrt. Natürlich beruht auch nichts von alle¬ dem auf Wissen, das durch Selbstbetrachtung erlangt wurde. "Zu meinem Begriff gehört hier mein Verhältnis zur Erscheinung.

[...] Sicher sein, daß der Andre Schmerzen hat, zweifeln, ob er sie hat, usf., sind so viele natürliche instinktive Arten des Verhältnis¬ ses zu andern Menschen, und unsre Sprache ist nur ein Hilfsmit¬ tel und weiterer Ausbau dieses Verhaltens" ("Zettel" 543 und 545, vgl. 542).

Wenn diese Wittgenstein-Interpretation zutrifft, könnte man sagen, daß er insofern, als er im Hinblick auf Geist oder Seele Behaviourist ist, einen doppelseitigen Behaviourismus vertritt. Ob etwas eine Person ist und ob es eine Seele hat bzw. ist, hängt nicht nur von seinem öffentlichen Verhalten und Reagieren ab, sondern im gleichen Maße auch von unserem Verhalten und

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NOEL FLEMING

Reagieren auf es. Diese Reaktionsweise unsererseits beruht wie¬ derum nicht auf Deutung, Meinungsbildung oder Meinungsäu¬ ßerung, sondern ist die Grundlage unserer Deutung anderer

Personen und unserer Meinungen über sie. "Meine Einstellung zu ihm ist eine Einstellung zur Seele. Ich habe nicht die Meinung, daß er eine Seele hat" (PU S. 495/178). Wer diese Einstellung hat, reagiert in vielfältiger Weise auf die Menschen, auf die er stößt, während diese Menschen ihrerseits in bestimmter Weise auf ihn reagieren. "We könnte man die menschliche Hand¬ lungsweise beschreiben? Doch nur, insofern man die Handlun¬ gen der verschiedenen Menschen, wie sie durcheinanderwim¬ meln, schilderte" ("Zettel" 567). Sofern Wittgenstein Behaviou¬ rist ist, ist er also kein Reduktionist. Das Verhalten, welches die Seele zeigt und die Seele verkörpert, läßt sich gar nicht beschrei¬ ben, ohne auch das Verhalten anderer Seelen ins Spiel zu brin¬ gen, also ein Verhalten, das ihre menschlichen bedachten Reaktionen aufeinander wesentlich mit einschließt. Schon das entsprechende Reden über Aussehen, Handlungen und Reaktio¬ nen ist ein Sprachgebrauch, der die Existenz geistiger Wesen beinhaltet: Was die Seele ist, läßt sich nicht mit verhaltensbezo¬ genen Begriffen angeben, ohne dabei die Seele vorauszusetzen. Um es zu wiederholen: vielleicht sind wir überhaupt nicht im¬ stande, in irgendeiner Terminologie ganz befriedigend zusagen, welches Verhalten relevant ist, wie wir ja auch nicht imstande sind, ganz befriedigend anzugeben, was ein Bild ist. Allerdings sind wir in beiden Fällen dazu imstande, es zu sehen. -

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10.4 Aber wie steht es, wenn sich eine Maschine so verhält wie ein Mensch? Würde eine solche Maschine allein deshalb der Menschlichkeit entbehren, weil sie (etwa aus Knochen, Fleisch und Blut) gebaut wurde wie ein Stück bemalter Leinwand allein deshalb des Bildcharakters entbehren könnte, weil es nicht als Bild aufgebaut, also nicht als Bild gemalt wurde? Die Antwort lautet offenbar, daß sich eine Maschine ganz unabhängig von der Frage ihrer Entstehung in mancher Hinsicht wie ein Mensch verhalten und trotzdem eine Maschine sein könnte. In anderer Hinsicht dagegen wäre das nicht möglich. Ein großer -

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BLICK AUF DIE SEELE Teil oder Bereich oder die meisten Aspekte des menschlichen (und tierischen) Verhaltens könnten von einem Automaten, ei¬ nem Roboter oder einer Maschine kopiert, wenn nicht gar ver¬ bessert werden. In einem bestimmten Sinn könnte ein Automat vieles, wenn nicht sogar das meiste oder alles von dem mn, was die Menschen tun. Beispielsweise könnte der Automat einen Kessel auf den Herd stellen und wieder fortnehmen, sobald das Wasser kocht, anschließend das Wasser über den gemahlenen Kaffee schütten, den fertigen Kaffee "abschmecken", indem er ein wenig davon in eine Öffnung seines "Körpers" kippt, "sa¬ gen", daß der Kaffee stark ist, indem er die Laute "Der Kaffee ist stark" von sich gibt, usw. In ähnlicher Weise könnte der Automat einen Brief tippen und "schreiben" oder "verfassen", ein Buch "lesen", über "Gesehenes" oder Unzuträglichkeiten in seinem Inneren "berichten" und uns "behandeln", wenn mit unserem Inneren etwas nicht stimmt. Der Mensch ist ein Wesen, das mt, was ein solcher Automat täte; aber der Mensch ist außerdem ein Wesen, das so aussieht, wie ein solcher Automat nicht aussehen könnte, solange er ledig¬ lich ein Automat bliebe. Wenn man sich vorstellt, jemand ver¬ halte sich wie ein Automat, malt man sich aus, daß er sich mechanisch, steif, hölzern, ausdruckslos und ohne expressive Bewegungen benimmt sowie ohne das geistig geprägte Mienen¬ spiel und Körperverhalten, das unsere Einstellung und unsere Reaktionen zu ihm als einem Menschen auslöst und rechtfertigt. Grob gesprochen, ist jedes Wesen auch ein Automat ein Mensch, wenn es wie ein Mensch aussieht und handelt. Würde ein Automat nicht nur Bewegungen mit den gleichen physischen Resultaten wie unsere eigenen machen, sondern sähe auch ge¬ nauso aus (und hörte sich genauso an) wie wir, könnten wir gar nicht umhin, ihn für einen Menschen zu halten. Wir Menschen kämen gar nicht umhin, ihn auch als Menschen zu sehen. Daß er sich freut oder Schmerzen hat, könnten wir z. B. ebensowenig bezweifeln, wie wir das heute im Hinblick auf einander können (vgl. PU S. 495/178 und PU 420). Es ist nicht so, als ließen sich diese Spielarten der Expressivität des Gesichts und des Körpers anders als trivial so beschreiben, daß daraus folgt, in diesem Körper wohne eine Seele. Doch unter allen auch nur annähernd normalen Umständen zweifeln wir bei unseren Begegnungen mit anderen nicht daran, daß sie Menschen sind; ein solcher -

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NOEL FLEMING

Zweifel wäre auch gar nicht möglich. Die wirkliche, erlebte Bedeutung des Beseeltseins ja die Seele selbst kommt in ihnen ebenso zum Vorschein, wie die Gewitterszene im Bild erscheint. Wir sehen sie dort; es ist unvorstellbar fur uns, daß sie nicht dort wäre. (Wollte man einen Beweis dafür verlangen, daß dies hier ein Mensch ist, wäre das wie die Forderung nach einem Beweis dafür, daß das hier ein Bild ist. Wollte man mit der am Körper wahrgenommenen Seele in unmittelbarere Verbindung treten, gliche das dem Wunsch, den im Bild gesehenen Schau¬ -

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platz zu betreten.)

Das Verhältnis zwischen Personen und möglichen Automaten gleicht hier in etwa dem Verhältnis zwischen Bildern und wirk¬ lichen Bauplänen. Der Bauplan eines Kerkerraums gäbe uns vielleicht die gleichen "Informationen" wie einer von Piranesis Stichen. Doch im Bauplan könnten wir das unermeßliche Verlies nicht ebenso sehen wie in Piranesis Bild. Wären wir doch dazu imstande, würden wir den Bauplan als Bild sehen. Grob gespro¬ chen, ist alles auch ein Bauplan ein Bild, wenn es aussieht wie ein Bild oder wenn es in einer anderen, aber damit zusammen¬ hängenden Bedeutung von "aussehen wie" so aussieht wie das -

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Abgebildete.

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10.5 Auf eine der Erwiderungen, die dem Dualisten am Ende des 1. Abschnitts in den Mund gelegt wurden, kann man ohne Um¬ schweife antworten. Die Erwiderung lautete, daß Bilder nicht zur Erhellung des Geistbegriffs benutzt werden können, weil Bilder ihrerseits Geistiges voraussetzen. Aber das gleiche gilt auch für den Körper als Bild der Seele; und für den Geist selbst gilt es nicht minder. Wittgenstein ist kein Reduktionist. Der mit seiner Auffassung einhergehende Behaviourismus ist ein dop¬ pelseitiger Behaviourismus. Daß der Begriff des Geistes nur unter Voraussetzung der Gegebenheit des Geistes abgeleitet werden kann, wird nicht zugegeben, sondern behauptet. Folgt daraus, daß es weder einen einsamen Einzelmenschen noch ein Bild geben könnte, wenn niemand existierte, der ihn oder es sähe? (Wobei unberücksichtigt bleibt, daß das Bild ein Artefakt ist.) Offenbar folgt nichts weiter daraus, als daß ein solches Bild

BLICK AUF DIE SEELE manchen Bedingungen als Bild gesehen würde, wenn es Personen gäbe, die es betrachteten, und daß die einsame Seele von anderen Personen als Seele gesehen würde, wenn es Perso¬ nen gäbe, die sie kennten. (Vermutlich folgt außerdem, daß ein einsamer Mensch nur dann wüßte, was er ist, wenn er über einen beträchtlichen Vorrat an angeborenen Kenntnissen verfügte. Aber dieser Schluß ergibt sich außerdem schon aus anderen Lehrsätzen Wittgensteins.) Der Dualist vertritt im Hinblick auf den Geist keine reduktionistische Auffassung. Vielleicht ist es ein Vorurteil, darauf zu pochen, daß der Behaviourist eine solche unter

Auffassung vertreten müsse.

Andererseits kann der Dualist für sein Teil ebenfalls einräu¬ men, daß der menschliche Körper das beste Bild der mensch¬ lichen Seele ist; sofern die Seele überhaupt sichtbar ist, könne sie im Körper gesehen werden. Aber in Wirklichkeit sehen wir sie natürlich nirgends. Oder wenn wir sie sehen, dann nicht in der gleichen Weise, in der wir die Szene im Bild sehen, sondern bestenfalls so, wie wir die außerhalb des Bildes gegebene Szene bei der Betrachtung des Bildes sehen, falls das Bild eine solche Szene wiedergibt. Mit diesem besten Fall ist allerdings zuviel gegeben, denn die Szene außerhalb des Bildes ist schon an und für sich sichtbar, die Seele dagegen nicht. Die dritte Erwiderung des Dualisten lautete, nach seiner An¬ schauung bilde der Körper als Bild der Seele etwas anderes ab als den Körper (insofern hier überhaupt eine Abbildung möglich ist). We wir den Inhalt des gewöhnlichen Bilds sehen, weil wir auch außerhalb des Bilds Dinge gesehen haben, so begreifen wir (möglicherweise) den Körper irgendwie als Bild der Seele, weil wir schon jeweils vom eigenen Fall her wissen, was die Seele ist. Was kann der Körper nach Wittgensteins Anschauung abbil¬ den? Die Seele natürlich. Aber was ist die Seele nach Wittgen¬ steins Auffassung anderes als der Körper selbst mit seinem Mie¬ nenspiel und seinen Bewegungen, während zur gleichen Zeit eine Vielzahl weiterer Körper das gleiche tut? Aber die Vorstellung vom Körper als Bild des gelebten Lebens ist gar nicht so unplausibel. Wenn wir sagen, jemand sei nachge¬ rade ein Bild des Mutes oder des Trotzes, meinen wir wohl kaum, daß er uns an einen unsichtbaren Zustand erinnert, den wir im Privatbereich der eigenen Seele vielleicht erfahren haben, vielleicht auch nicht. Eher dürfte gemeint sein, daß seine Hal-

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NOEL FLEMING tung diesen Zustand

offenkundig verkörpert.

Wenn

er uns an

Dinge erinnert, handelt es sich um andere Verhaltens¬ weisen, sichtbare Erscheinungen und Handlungen, von denen sie verkörpert oder gezeigt werden. In diesem Sinne war die einst im Bahnhof vibrierend und zischend Rauch ablassende Dampflokomotive ein Bild von Kraft in erster Linie ein Bild ihrer eigenen Kraft, ihres eigenen Verhaltens auf den Geleisen. Außerdem besaß sie tatsächlich Kraft, wie sie dastand mit ihrem Kessel voller Dampf unter Druck. Aber der Mensch, der ein wahres Bild des Mutes ist, ist wirklich oder vielleicht mutig, so wie der menschliche Körper, der das Bild der Seele ist, tatsäch¬ lich beseelt ist. (Hier besteht die Verlockung zu meinen, daß der Mut oder die Seele in ähnlicher Weise im Körper enthalten sind wie der Dampf im Kessel. Aber der Dampf ist ebensowenig die Kraft, wie das Gehirn der Geist ist; und der Dampf steht zur Lokomotive und der von ihr gezeigten Kraft ungefähr im glei¬ chen Verhältnis, in dem das Gehirn zum Körper und zu den vom Körper gezeigten Regungen des Geistes stehen mag.) Im Fall von Körper und Seele kann man meinen, die "Abbild"-Beziehung bestehe zwischen den Schattierungen der Haltung und des Verhaltens einerseits und den vergleichsweise weitere

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großmaßstäblichen Handlungen, die den Geist (in weiterge¬ hender und gewissermaßen entschiedenerer Weise) erkennen lassen. Aber in mancher Hinsicht entspräche die nichtgegen¬ ständliche Malerei dem Körper als "Bild" der Seele eher als die gegenständlichen Gemälde oder Zeichnungen. Wittgen¬ stein meint in seinem Aphorismus sicher ein gegenständliches Bild. Außerdem steht hinter allen meinen bisherigen Ausfüh¬ rungen Wittgensteins Erörterung des Etwas-als-etwas-Sehens, in deren Rahmen er unter anderem verschiedene Bedeutungen von "sehen" unterscheidet, die mit dem Thema "den Körper sehen und die Seele sehen" zumindest in Zusammenhang ste¬ hen (PU S. 518 ff./l 93 ff). Aber Wittgenstein behauptet ge¬ wiß nicht, daß die Seele als etwas vom Körper Getrenntes existieren könnte, so wie der Bildgegenstand unabhängig vom Bild existieren könnte und tatsächlich oft unabhängig vom ihm existiert. (Eschers Bilder scheinen hier belanglos zu sein. Man kann auch wirkliche Modelle anfertigen, die wie einige der in diesen Bildern vorkommenden Objekte aussehen. In jedem Fall dürften logisch unmögliche Turmstrukturen und Treppen-

BLICK AUF DIE SEELE hauser kaum ein angemessenes Modell der Seele abgeben.) Die nichtgegenständliche Malerei hat den Vorteil, daß ihre Bilder nicht Bilder von etwas sind, jedenfalls nicht in der gleichen Weise wie gegenständliche Gemälde. Dennoch kön¬ nen nichtgegenständliche Bilder voller Leben sein, froh, ener¬ gisch, düster, stark, überschwenglich usw. Wir erblicken diese Eigenschaften in ihnen, wie wir auch die Seele im Körper sehen. Wenn bei Wittgenstein von Bildern die Rede ist, scheint es ihm oft vor allem auf den Gegenstand des Bildes im Sinne des Bildinhalts anzukommen; und von diesem Inhalt kann man leicht annehmen, daß er nicht außerhalb des Bildes und unabhängig vom Bild existieren kann. Wittgenstein spricht von einem Land¬ schaftsbild, einer Phantasielandschaft, in der ein Haus steht, "und jemand fragte ,Wem gehört das Haus?'" In erster Linie geht es Wittgenstein um die Einsicht, daß die Beantwortung dieser Frage sozusagen logisch unmöglich sein kann. Doch dann fugt er sogleich hinzu: "Es könnte übrigens die Antwort darauf sein: ,Dem Bauer, der auf der Bank davor sitzt.' Aber dieser kann sein Haus dann, z. B., nicht betreten" (PU 398, Hervorhebung von mir). Darauf könnte man erwidern: "Natürlich kann er das Haus betreten es sei denn, er hätte etwa seinen Schlüssel verloren." (Man vergleiche die Fortsetzung des Schachspiels in PU 365.) Aber es ist schon etwas Wahres an der Behauptung, der Bauer könne das Haus nicht betreten. Dieser Bauer, der in diesem Bild dargestellte Mann wird, wie man sagen darf, für immer dort sitzen, solange das Bild erhalten bleibt und von niemandem verändert oder übermalt wird. Im gleichen Sinne wird der Him¬ mel in El Grecos Gemälde für immer stürmisch bleiben. Die Metapher oder das Gleichnis des Körpers als Bild der Seele hat zweifellos Grenzen. Irgendwo hören die Ähnlich¬ keiten, sofern sie überhaupt bestehen, auf. Aber ein Punkt, an dem das Gleichnis sicher nicht versagt außer in ganz außerge¬ wöhnlichen und fragwürdigen Fällen -, ist das Faktum, daß das Bild nicht mit dem Abgebildeten identisch ist. Denn der Körper ist ja auch nicht das gleiche wie die Seele. Ich möchte bezwei¬ feln, daß Wittgenstein mit dem "menschlichen Körper" die Masse aus Knochen und Fleisch meint, die nicht nur der Körper einer lebendigen Person, sondern auch eine Leiche sein kann. Aber selbst wenn man den menschlichen Körper tatsächlich mit -

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NOEL FLEMING der lebendigen Person gleichsetzt, behauptet man nicht, die Person sei identisch mit ihrem Geist oder ihrer Seele. Die Grammatik der Aussagen über den Geist ist verschieden von der Grammatik der Aussagen über den Körper oder die Person.

Man könnte sagen, der als rein physischer Gegenstand begrif¬ fene Körper entspreche dem in gleicher Weise begriffenen Bild, während der lebendige menschliche Körper dem als Bild z. B. als Darstellung einer vom Gewitter bedrohten Stadt aufgefa߬ ten Bild entspricht. Das im Bild Gesehene entspricht dann der im Körper gesehenen Seele. -

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10.6 Aber inwieweit ist Wittgenstein überhaupt ein Behaviourist, auch davon ausgeht, daß hier von dem oben so genannten doppelseitigen Behaviourismus die Rede ist? Wttgenstein sagt: "Ein ,innerer Vorgang' bedarf äußerer Kriterien" (PU 580). Der Dualist könnte erwidern, natürlich verhalte es sich so, was be¬ stimmte Zwecke betrifft. Außerdem kann dieser Spruch darauf hindeuten, daß, was immer die äußeren Kriterien erfüllt, nicht mit dem "inneren Vorgang" gleichgesetzt werden kann, sofern der Vorgang wirklich ein innerer ist und die Kriterien (bloß) äußere sind. Aber die womöglich ironisch gemeinten Anfuhrungs¬ zeichen stammen von Wittgenstein selbst. Die Unterscheidung zwischen einem solchen Vorgang und den ihn betreffenden Krite¬ rien läuft vielleicht auf nichts weiter hinaus als die Unterschei¬ dung zwischen einer Fähigkeit oder Wahrscheinlichkeit und den sie zur Erscheinung bringenden Akten oder Verhaltensstücken. Diese zweite Unterscheidung ist verträglich mit einer behaviouristischen Auffassung vom Geist, ohne jedoch eine solche Auffas¬ sung zu verlangen. Sie kann außerdem die meisten wenn auch nicht alle Unterschiede zwischen der Grammatik von Aussagen über den Körper und der Grammatik von Aussagen über die Seele erklären. (Mit dem Behaviourismus ist diese Unterscheidung ver¬ träglich, weil Fähigkeiten in keiner das Problem des Fremdsee¬ lischen anheizenden Weise etwas "Inneres" oder "Privates" sind. Erforderlich ist der Behaviourismus allerdings nicht, es sei denn, daß z. B. alle Äußerungen der Tendenz zur Schmerzempfindung notwendig von anderen beobachtet werden können.) wenn man

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BLICK AUF DIE SEELE Satz ,Empfindungen sind privat' ist dem: ,Patience spielt man allein.'" (PU 248) Das vergleichbar so nichtbehaviounstisch mag lange klingen, bis man den Ver¬ Patience nimmt. man nicht gemeinsam, es sei ernst gleich spielt denn zufällig (oder mit Absicht aber auf keinen Fall wesentlich oder notwendig). Wenn man gemeinsam Patience spielt, dann nur nebeneinander; es werden also zwei Patiencen gelegt. Eben¬ wir Haare oder haben rote sowenig gemeinsam Empfindungen, die Fähigkeit zum Fahrradfahren. Andererseits spielen wir tat¬ sächlich Tennis miteinander, schließen Freundschaft miteinan¬ der und diskutieren miteinander. Freundschaften schließt man ebensowenig allein, wie man allein diskutiert. Den Raum des Gemäldes kann man nicht betreten; aber das ist nicht so ähnlich wie die Unmöglichkeit, den Buckingham-Palast zu betreten. Eher gleicht es der Unfähigkeit, auf Farben zu laufen oder den Tod Hamlets im Stück zu verhindern. Eine Bemerkung, die behaviouristsch klingt und wohl wirk¬ lich behaviouristisch ist, aber zugleich Rätsel aufgibt, ist die Bemerkung über den Topf (PU 297). Der an das zu Anfang zitierte Dialogfragment aus den "Vorlesungen" anklingende Ab¬ schnitt 296 lautet: "Ja, aber es doch da ein Etwas, was meinen Ausruf des Schmerzes begleitet! Und um dessentwillen ich ihn mache. Und dieses Etwas ist das, was wichtig ist, und schreck¬ lich.' Wem teilen wir das nur mit? Und bei welcher Gelegen¬ heit?" (Darauf könnte der Dualist erwidern: "Nun, wir teilen es einem Philosophen wie dir mit, und zwar anläßlich der Lektüre deines Buches." Wäre eine solche Antwort ein Zeichen man¬ gelnder Einsicht?) In PU 297 heißt es: "Freilich, wenn das Was¬ ser im Topf kocht, so steigt der Dampf aus dem Töpf und auch das Bild des Dampfes aus dem Bild des Topfes. Aber wie, wenn man sagen wollte, im Bild des Topfes müsse auch etwas kochen?" Es fällt offenbar schwer, dieses Gleichnis nicht behaviouristisch aufzufassen, und recht leicht, einen Zusammenhang zwischen diesem Gleichnis und der Behauptung zu sehen, der Körper sei das beste Bild der Seele. Freilich, im Körper geht etwas in ebendem Sinne vor sich, in dem im Bild des Topfes nichts vor sich geht. Doch was da im Körper vor sich geht, ist nicht eine Reihe geistiger Vorgänge. Aber mit dem "Bild des Topfes" meint Wittgenstein offenbar den Töpf im Bild. Im ersten Satz der Bemerkung 297 spricht er

Wittgenstein sagt: "Der

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2Óo

NOEL FLEMING dem aus dem Bild des Topfes aufsteigenden Bild des Damp¬ fes, wie er auch im zweiten Satz vom Bild des Topfes redet. (Es geschieht leicht, daß man einen Teil oder Aspekt der Leinwand oder der betrachteten Linien in gewissem Sinn als das gleiche auffaßt wie den Topf oder Dampf im Bild, denn wir sehen sie ja als gleich.) Wollte man nun darauf pochen, daß in einem Teil oder Aspekt (etwa den Farben und Formen) der Leinwand oder der Zeichnung etwas kochen müsse, wäre das nicht nur philoso¬ phisch wirr, sondern geradezu töricht. Es gliche der Reaktion des Provinzbanausen, der auf die Bühne eilt, um Hamlet beizu¬ stehen, oder der Kinoleinwand zu Leibe rückt, um dem Film¬ bösewicht an den Kragen zu gehen. Nehmen wir jedoch an, daß wir drei Bilder vor uns haben: eines zeigt den Topf mit daraus aufsteigendem Dampf, ein weiteres den Topf ohne daraus auf¬ steigenden Dampf und ein drittes einen umgekippten Topf. Diese Bilder könnten eine Geschichte illustrieren, und es wäre von

naheliegend,

sie

(in umgekehrter Reihenfolge)

so

aufzufassen,

zuerst den Topf zeigen, der darauf wartet, gefüllt zu werden; zweitens den fürs Kochen vorbereiteten Topf; und drit¬ tens den Topf, der jetzt voller kochenden Wassers auf dem Herd steht. (Es kann sein, daß jemand den Kopf voll hat oder daß in seinem Kopf etwas vor sich geht. Wr für unser Teil können uns fragen oder können wissen, worum es sich handelt. Aber geht im Kopf jedes Menschen mit Bewußtsein stets etwas vor sich? An¬ scheinend nicht, denn unser Kopf kann auch leer sein, während er im Normalfall wahrscheinlich weder leer noch voll ist.) Die Simation ist vielleicht folgende: Es gibt Bestandteile und Aspekte menschlichen Verhaltens zu denen Aussehen, Aus¬ drucksschattierungen, Tonfall und geäußerte Worte sowie klein¬ ste Körperbewegungen gehören -, auf die wir in bestimmter Weise reagieren und die wir in bestimmter Weise auffassen, sehen und hören. Ebenso gibt es Bestandteile oder Aspekte bemalter Leinwandstücke und Zeichnungen, auf die wir in be¬ stimmter Weise reagieren und die wir in bestimmter Weise auffassen und sehen. In beiden Fällen sind unsere Reaktionen ausschlaggebend, sofern solche Verhaltensweisen und physi¬ schen Objekte die Signifikanz und Bedeutung haben sollen, die den Kern unserer Auseinandersetzung mit Personen und Bil¬ dern ausmachen. So sehen wir die Freude im Gesicht einer Person, und genauso sehen wir den Topf und den Dampf im

daß sie

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BLICK AUF DIE SEELE Bild. Sobald wir über das so Gesehene hinausgehen und z. B. fortschreiten zu Aussagen über im Topf kochendes Wasser, zu Gedanken, die jemandem durch den Kopf gehen, oder zu Ge¬ fühlen, die er in seinem Gemüt empfindet, vollziehen wir einen weiteren Schritt, an dem nichts auszusetzen ist, solange er Sinn hat, der aber auch in die Irre führen kann. Das Gleichnis des Topf-Bildes scheint darauf hinzudeuten, daß wir irregeleitet sind, sobald wir meinen, daß Gedanken und Gefühle an einem inne¬ ren Ort ungefähr in der gleichen Weise ablaufen wie öffentliche Vorgänge, wenn jemand gewisse Worte äußert und sein Gesicht einen bestimmten Ausdruck annimmt, so z. B. wenn er "Das ist herrlich!" ausruft und sich vor Freude nicht zu fassen weiß. (Vgl. die Erörterung des Kopfrechnens in PU 364 und 366, insbeson¬ dere die letzte Zeile von PU 364.) Einerlei, ob Wittgenstein Behaviourist ist oder nicht, jeden¬ falls ist er durchgängig der Meinung, daß die öffentlichen Gege¬ benheiten, die das Lernen der Begriffe gestatten und deren zutreffende Anwendung möglichst weitgehend erkennen lassen oder bestätigen, fur die Begriffe des geistigen Bereichs ebenso die Grundlage bilden wie für alle sonstigen Begriffe. Bei den Begriffen für Geistiges handelt es sich um öffentliches Verhalten unter Umständen, die ihrerseits öffentlich sind. Dieses Verhal¬ ten ist die Grundlage alles Übrigen, das mit geistigen Begriffen zu mn haben mag. Alles andere beruht auf dieser Grundlage und würde ohne sie hinfällig oder versagen es wäre gar nicht als Bestandteil dessen vorhanden, was wir unter dem "Geist" verste¬ hen. Doch dann gewinnt es den Anschein, als beruhte alles andere nicht wirklich auf dieser Grundlage, sondern würde begrifflich gesprochen zu deren nicht erfaßbarem Echo oder zu einer Art von Sinnbild oder Taum unserer Sprache und des maßgeblichen öffentlichen Verhaltens. Dieses Verhalten ist der funktionierende, arbeitende Geist. Es ist das, was geschieht, wenn sich die Räder des Geistes drehen. Und die Räder sind ihrerseits nichts anderes als die Fähigkeiten und Tendenzen, die, insgesamt genommen, zwischen menschlichen Körpern und an¬ deren Körpern in dieser Welt einen Unterschied machen. (Eini¬ ge andere Körper etwa die der sogenannten höheren Tiere haben viele oder sogar die meisten dieser Fähigkeiten, während andere Körper vermutlich keine derartigen Fähigkeiten besit¬ zen. Außerdem unterscheidet natürlich schon allein die physi-

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NOEL FLEMING sehe Erscheinung sogar in der Todesstarre zwischen verschiede¬ nen

Lebewesen.)

Man könnte sagen, daß wir es hier mit einem begrifflichen oder grammatischen Epiphänomenalismus zu mn haben, wo¬ nach alles Nichtöffentliche ohne wesentliche Bedeutung für die Welt ist, einschließlich des geistigen Bereichs. Der Sinn aller Aussagen über das Innenleben sei davon abhängig, daß dieses Innenleben eine Außenseite hat, außer der wir nichts sehen und nichts zu sehen brauchen. (Nicht anders als wir stellt auch der Solipsist Fragen, erteilt Befehle und verliebt sich; also ist er kein Solipsist.) Der Sinn der Aussage, daß andere Wesen Geist und Bewußtsein haben, Freude und Schmerzen empfinden, Dinge begehren usw., steht ihnen im Gesicht geschrieben und ist an ihrem Verhalten abzulesen. Aber jetzt scheint es, soweit es um die Existenz des Geistes geht, nicht mehr darauf anzukommen, ob es wirklich ein Inneres gibt, denn sofern es überhaupt ein Inneres gibt, ist es in begrifflicher Hinsicht belanglos, wenn auch vielleicht nicht in kausaler oder bei Zugrundelegung einer Identitätstheorie in metaphysischer Hinsicht. Nehmen wir an, es gebe außer dem Zentralnervensystem usw. eigentlich gar kein Inneres. Das ist jedoch, wenn außen alles gleich bleibt, genug und zwar zum Glück, denn ansonsten steht uns nichts zu Gebote, anhand dessen wir die Begriffe für Geistiges lernen und anwenden könnten. Außerdem müssen unsere Reaktionen auf öffentliches Verhalten ihrerseits als öffentliches Verhalten be¬ griffen werden. Nun könnte man versuchen, vom Epiphäno¬ menalismus loszukommen, indem man behauptet, diese zuletzt genannte Annahme sei ungereimt. Wenn außen alles genauso bleibt, wie es jetzt ist, folge daraus, daß auch das Innere vorhan¬ den ist, denn daß es ein Inneres gebe, heiße, daß alles Äußere einschließlich aller feinen Nuancen des menschlichen Verhaltens und unserer Reaktionen auf sie so ist wie jetzt. Doch damit kommt man vom Epiphänomenalismus nicht los. Wenn die Exi¬ stenz eines Inneren der Gedanken, Gefühle usw. auf nichts an¬ deres hinausläuft als das Vorhandensein eines Äußeren in seinem derzeitigen Zustand, dann ist damit schon angegeben, was es mit der Existenz des Inneren auf sich hat. Damit ist gesagt, was die Behaupmng der Existenz des Geistigen eigentlich bedeutet, nämlich daß das Äußere das menschliche Verhalten in seiner jetzigen Form vorhanden ist. Was es für Bilder heißt, daß in -

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BUCK AUF DIE SEELE ihnen Gewitter und Gesichter vorkommen, liegt ebenfalls darin, daß die Bilder sozusagen auf ihrer Außenseite der bemalten Leinwand und den schwarzen Linien auf weißem Papier nicht anders beschaffen sind als jetzt, während wir nach wie vor ge¬ nauso auf sie reagieren wie heute. Wieder sind unsere Reaktionen nach dieser WittgensteinInterpretation ebenso ausschlaggebend für unsere Begriffe vom Geistigen wie das Verhalten, auf das damit reagiert wird: "[...] es [ist] ein primitives Verhalten [...], die schmerzende Stelle des Andern zu pflegen, zu behandeln, und nicht nur die eigene [...]. Was aber will hier das Wort ,primitiv' sagen? Doch wohl, daß die Verhaltungsweise vorsprachlich ist: daß ein Sprachspiel auf ihr beruht, daß sie das Prototyp einer Denkweise ist und nicht das Ergebnis des Denkens" ("Zettel" 540 f.). Es steht hier ebenso wie im Falle des Bildes an der Wand: Schmerzverhalten, Verstehensverhalten oder freudiges Verhalten ist nur deshalb das, was es ist läßt nur deshalb die Anwendung des jeweils relevanten Begriffs zu -, weil wir in der faktisch gegebenen Weise darauf reagieren. Um es zu wiederholen: nach dieser Auffassung vom Geistigen folgern oder erschließen wir ebensowenig, daß es an¬ dere Personen gibt und daß der Solipsismus verfehlt ist, wie wir folgern oder erschließen, daß es Bilder gibt. Einen Seelenblin¬ den können wir uns vorstellen, und auch einen Menschen, der blind ist für das, was wir in Bildern sehen; und beide Arten der Blindheit können in gradueller Abstufung existieren. Doch im allgemeinen sind die Menschen nicht seelenblind, und dieser Satz ist nach meiner Wittgenstein-Interpretation notwendig wahr. Wären die Menschen im allgemeinen seelenblind, gäbe es die Leute, wie es sie heute gibt, nicht. Ebenso gäbe es keine Bilder im heutigen Sinne, wenn die Menschen blind wären für das, was in Bildern zu sehen ist. Wir sehen eben, daß es andere Personen gibt. Wer nicht seelenblind ist, sondern die Seele zu sehen vermag, erfaßt die Existenz der anderen in genauso direk¬ ter und unmittelbarer Weise wie die Existenz seiner selbst. Daß der andere eine Seele hat, erschließen wir ebensowenig, wie wir erschließen, daß das Gemälde einen Gewitterhimmel oder die Zeichnung ein Gesicht enthält. Eine Seele haben heißt, daß man von Natur aus auf die anderen als Seelenbesitzer reagiert und sie von Natur aus als Seelenbesitzer sieht. -

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NOEL FLEMING

10.7 Ist diese

Auffassung vom Geist die richtige? Vorausgesetzt, daß

wir von Natur aus auf die anderen als Seelenbesitzer reagieren, bleibt immer noch unklar, ob unser Verständnis des Geistigen ganz zu schweigen etwa von Helen Kellers Auffassung dieses Begriffs wirklich von dieser Voraussetzung abhängt. Der Skep¬ tiker oder Dualist mag zwar einräumen, daß wir die Geistbegabtheit der anderen und somit die Existenz anderer Personen in dieser Welt de facto ebensowenig bezweifeln können wie den Gedanken, daß die Zukunft der Vergangenheit gleichen wird.

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Aber folgt daraus, daß der Begriff der Zukunft oder die Zukunft selbst genauso determiniert sind? Hier stellt sich unter anderem die Frage, ob philosophische Zweifel, die sich niemals zu echten Zweifeln auswachsen, deshalb philosophisch desavouiert sind. Und damit hängt die weitere Frage zusammen, ob es sinnvoll ist, Dinge zu sagen, die wir außer beim Philosophieren nie sagen würden. Setzen wir ferner voraus, daß das Lernen und die Anwendung der Begriffe für Geistiges zumindest im gleichen Maße mit dem Verhalten der anderen und unseren Reaktionen darauf zusam¬ menhängen wie mit der Berücksichtigung des Bewußtseins von inneren geistigen Vorgängen. Sofern es zwischen dem Erlernen und der Anwendung eines Begriffs und dessen Inhalt eine not¬ wendige oder interne Beziehung gibt, ist der Geist oder zu¬ mindest der Begriff des Geistes daher wesentlich verknüpft mit öffentlichem Verhalten und Reaktionen auf dieses Verhalten, die auch ihrerseits öffentliches Verhalten sind. Aber gibt es eine solche Beziehung wirklich? Der Skeptiker oder Dualist wird es bezweifeln; und der Dualist kann dennoch einräumen, daß die Art und Weise, in der wir mit dem Begriff des Geistes umgehen, auf vielen von uns für völlig zuverlässig erachteten kontingenten Zusammenhängen zwischen dem Inneren und dem Äußeren beruht, also zwischen den privaten Lebensregungen des Geistes und dem öffentlichen Verhalten. (Der Dualist würde demnach behaupten, daß unser Sprachspiel hier stets auf einer "still¬ schweigenden Voraussetzung" beruht. Vgl. PU S. 498/179.) Richtig ist auch, daß viele unserer Reaktionen auf das öffent¬ liche Verhalten anderer ihrerseits nicht weniger öffentlich sind als die Freude oder das Verstehen. Wr sehen andere und reagie-

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BLICK AUF DIE SEELE auf andere, die einander und uns sehen und auf einander und reagieren. Aber daraus folgt weder, daß alle derartigen Reak¬ tionen etwas Öffentliches sind, noch daß sie alle im Bereich der Begriffe für Geistiges eine wesentliche Rolle spielen. In den bisherigen Abschnitten bin ich zunächst implizit und dann expli¬ zit davon ausgegangen, daß sie tatsächlich etwas Öffentliches sind. Denn wenn man einräumt, daß zumindest einige der für den Begriff des Geistes wesentlichen Reaktionen nicht öffent¬ lich sind, verliert der Behaviourismus à la Wittgenstein für den Cartesianer sehr viel von seiner Bedrohlichkeit, während die Beziehung zwischen Innen und Außen so rätselhaft bleibt wie eh und je. Sie bleibt so rätselhaft wie der Zusammenhang zwischen äußeren Kriterien und innerem Vorgang, wenn die Anführungs¬ zeichen um den "inneren Vorgang" verschwinden und die Erfül¬ lung der äußeren Kriterien irgendwie gewährleisten muß, daß sich ein (im eigentlichen Sinne) innerer Vorgang abspielt. Die Wittgensteinsche Anschauung läuft also vermutlich dar¬ auf hinaus, daß alle fürs Geistige wesentlichen Vorkommnisse öffentlich sind. Doch diese Anschauung vom Geist wirkt un¬ glaubhaft. Mir jedenfalls kommt sie unglaubhaft vor, wenn ich darüber nachdenke buchstäblich unglaubhaft, und zwar buch¬ stäblich während ich darüber nachdenke, wenn ich an meinem Schreibtisch sitze und mir Gedanken über die Frage mache, was ich als nächstes hinschreiben soll. Jemand anders, der mich sieht und mein Verhalten (einschließlich meines Gesichtsausdrucks usw.) beobachtet, könnte zwar sehen, daß ich denke oder immer¬ hin nachdenklich aussehe, aber er könnte nicht sehen, woran ich denke. Dennoch geht etwas mehr oder weniger Spezifisches in meinem Geist vor sich, und zwar unabänderlich privat, wie es scheint. Außerdem scheint es zum Wesen unserer Vorstellung vom "Geist" zu gehören, daß sich diese und andere Vorgänge ren

uns

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wie z. B. Gefühle "im Inneren", im Geist, unserem Sehvermö¬ gen entzogen abspielen. Zu diesen sonstigen Vorgängen, die den anderen nur durch unsere zugänglich sind, werden auch unserer viele Reaktionen auf ihr öffentliches Verhal¬ gewiß

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Äußerungen

ten

gehören.

Aber der begriffliche Epiphänomenalismus kann zur Lösung dieses Problems einiges beitragen. Etwas wirklich Inneres und vom äußeren Verhalten Getrenntes ist nicht wesentlich für den Geist, sofern die Existenz des im eigentlichen Sinne Inneren

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2Ó6

NOEL FLEMING nicht durchs Verhalten

gewährleistet ist. Ebendas scheint nicht

das wirklich Innere tatsächlich etwas Getrenntes ist. Dennoch kann der eigentliche innere Vorgang ablaufen und wie das Gehirn in kausaler Hinsicht fur das äußere Verhalten erforderlich sein. (Der begriffliche Epiphäno¬ menalismus ist dem herkömmlichen Epiphänomenalismus also gewissermaßen entgegengesetzt.) Außere Kriterien gewährlei¬ sten hier nicht, daß ein solcher Vorgang vonstatten geht, wohl aber, daß er dann, wenn er sich zuträgt, unter einen Teilbegriff fur Geistiges fällt, der von anderen Teilbegriffen abgegrenzt ist etwa unter "Hoffnung" im Gegensatz zur "Erwartung" oder unter "Denken" im Gegensatz zum "müßigen Grübeln". Die eigentlichen inneren Regungen können für uns zwar von höch¬ ster Wichtigkeit sein, aber ihre Eigenart erhalten sie erst durch äußere Vorgänge. Begrifflich gesprochen, bleibt das Innere, so¬ weit es um den Begriff des Geistes geht, ein Epiphänomen des Äußeren. Aber nur diese eigentlichen inneren Ereignisse, deren Vorkommen durch kein Verhalten gewährleistet ist, bleiben Epiphänomene. Denn wenn jemand so aussieht und so handelt wie wir anderen, ist es tatsächlich gewährleistet dann folgt es einfach -, daß er ein Innenleben in dem Sinne hat, daß er ein Mensch ist, der denkt, fühlt, beabsichtigt usw. Das in diesem Sinne verstandene Innenleben also die Regungen des Geistes, die in begrifflicher Hinsicht für das Leben des Menschen unab¬ dingbar sind bleibt uns anderen bei der Betrachtung als solches ebensowenig verborgen wie die Bildszene bei der Betrachtung der Leinwand an der Wand. We kommt es dann, daß wir normalerweise sehen, was in dem Bild enthalten ist, und im Regelfall nicht sehen, was im Geist einer anderen Person vor sich geht? Nun, eine Person ist kein Bild. Sie hat Fähigkeiten und Tendenzen von einer Kom¬ plexität, wie sie in anderen Bereichen nicht anzutreffen ist, z. B. nicht im Bereich der Gewitter, und erst recht nicht im Bereich der Bilder. Dennoch vermögen wir selbst bei Gewittern häufig nicht zu erkennen, wie sich ihr weiterer Ablauf gestalten wird. "Die Unvorhersehbarkeit des menschlichen Benehmens. Wäre sie nicht vorhanden, würde man dann auch sagen, man könne nie wissen, was im Andern vorgeht?" ("Zettel" 603.) Doch im Regelfall ist man selbst imstande anzugeben, was man mn wird, während die anderen nicht dazu imstande sind.

möglich

zu

sein,

wenn

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BLICK AUF DIE SEELE Man weiß oder kann sagen, was einem vorschwebt, während die anderen es nur erraten können, sofern man es ihnen nicht mit¬ teilt. (Auch wenn wir bestreiten, daß es sich hierbei um Kenntnis des eigenen Geistes handelt, ist doch klar, daß man das eigene Denken und Fühlen nicht in der gleichen Weise sieht wie manch¬ mal die anderen, die sich anschauen, wie der Betreffende handelt und aussieht.) Das ist so ähnlich, als würden Bilder in unvorher¬ sehbarer Weise ihren Inhalt ändern, und das überdies in einer Weise, die durch ein unseren in der ersten Person formulierten psychologischen Äußerungen entsprechendes Kennzeichen an¬ deutet, daß ein Wandel bevorsteht oder daß diese Bilder unter anderen Umständen jetzt anders aussehen würden, also Bilder von anderen Gegenständen wären. Vielleicht wäre es möglich, eine Maschine zu bauen, die unter bestimmten Bedingungen einen falschen Eindruck erweckt, z. B. den Eindruck, sie bedürfe der Regulierung, während sie zugleich mit Blinkern versehen ist, die angeben, wie sie unter anderen Bedingungen funktionie¬ ren würde, wenn wir die richtigen Knöpfe betätigen würden. Doch solche Analogien besagen nicht viel. Denn die eigent¬ lichen inneren Vorgänge im Geiste einer Person laufen weder bloß auf das gleiche hinaus wie die Wahrheit einiger kontrafak¬ tischer Aussagen über ihr eventuelles Handeln unter anderen Umständen noch auf das gleiche wie ihre Äußerung der gegen¬ wärtigen Gedanken, Gefühle und Absichten. Es hat eher den Anschein, als liefen sie auf das gleiche hinaus wie das, was dieser Person die Möglichkeit gibt, solche von sich zu wie Wissen aus oder das und Gewußtem, geben, Konglomerat wenn sie z. B. Freude darüber empfindet, ihre Gedanken für sich behalten zu haben. Aber über derlei Wissen kann der Vertreter des begrifflichen Epiphänomenalismus drei Dinge sagen: Erstens ist es keine not¬ wendige Wahrheit, daß jemand über solches Wissen verfugt. ,"Ich weiß, was ich will, wünsche, glaube, fühle, (usf. durch alle psychologischen Verben) ist entweder Philosophen-Unsinn, oder aber nicht ein Urteil a priori" (PU S. 564/221). Zweitens verfügt man über solches Wissen, wenn man in den richtigen Situationen die richtigen Antworten gibt oder geben würde. Und eine jetzt gegebene Antwort kann uns dazu veranlassen, gelten zu lassen, daß zu einem früheren Zeitpunkt, als es noch nicht erkennbar war, wirklich etwas im Geist des Betreffenden

Äußerungen

267

268

NOEL FLEMING vor

sich

ging.

Doch der Sinn dieses

Sprachspiels des Fragens,

jemand denkt, empfindet usw., beruht darauf, daß im allge¬ meinen weitgehende Ubereinstimmung zwischen den Antwor¬

was

der Menschen auf solche Fragen und ihrem sonstigen Ver¬ halten herrscht. Daher gilt drittens: wenn das sogenannte eigent¬ liche Innenleben wirklich eine Rolle spielt, wenn es um diese Art der Selbsterkenntnis geht, bleibt das eigentliche Innere sogar hier begrifflich überflüssig und verdankt seine Identität als Be¬ standteil der geistigen Lebensregungen den entsprechenden äu¬ ßeren Kriterien. Wenn jemand sagt: "Ich weiß, was ich bin ein Mensch", oder: "Ich weiß, daß ich Bewußtsein eine Seele habe", ist das ebenfalls entweder Philosophen-Unsinn oder nicht ein Urteil a priori und wird, ebenso wie das entsprechende Urteil in der dritten Person, für zweifellos zutreffend erwiesen, wenn man sieht, daß sich der Betreffende angemessen verhält. Ebenso wird das Urteil, jemand sei ein geistbegabtes Wesen oder habe eine Seele, für zweifellos zutreffend erwiesen, wenn er wie ein Mensch aussieht und entsprechend handelt, indem er ein Verhalten an den Tag legt, auf das wir nur so reagieren können, wie man eben auf das Verhalten eines beseelten Wesens reagiert. Die für Wittgensteins Auffassung vom Geist vielleicht überzeu¬ gendste Begründung nennt er in seinem Beispiel der auf der Straße spielenden Kinder (PU 420). Es scheint nämlich undenk¬ bar, daß solchen Wesen die Seele abgehen könnte. Wenn wir Kinder spielen sehen oder Personen zuschauen, die sich beim Spaziergang miteinander unterhalten, wissen wir von ihnen ge¬ nauso gut wie von uns selbst, daß sie Geist besitzen. Jede Auffas¬ sung, die es auch nur möglich erscheinen ließe, daß sie keine geistbegabten Wesen seien, ist entweder verfehlt oder von uns mißverstanden worden. Davon sind wir im höchstmöglichen Maße überzeugt. Aber ebenso überzeugt sind wir offenbar von der Anschauung, daß die im eigentlichen Inneren des Geistes im privaten Bereich des Bewußtseins ablaufenden Vorgänge ein wesentliches Element, vielleicht sogar im Grunde das Ganze des geistigen Vermögens ausmachen. Ich für mein Teil bin mir überhaupt nicht im klaren darüber, wie diese beiden augen¬ scheinlich wahren Uberzeugungen in Einklang zu bringen sind. ten

-

-

-

-

-

Erstveröffentlichung unter dem

phy 53, 1978,

33-50.

Titel

"Seeing the

Soul" in Philoso¬

Übersetzt von Joachim Schulte.

269

Auswahlbibliographie 1.

Biographie

B. F. McGuinness, Wittgenstein: A Life, Band 1, London 1988 R. Monk, Ludwig Wittgenstein, London 1990

2.

Bibliographie

F. H. Lapointe, Ludwig Wittgenstein: A Comprehensive Bibliography, London 1980 St. Shanker, V A. Shanker, A Wittgenstein Bibliography, London 1986 G. Frongia, B. F. McGuinness, Wittgenstein: A Bibliographical Guide, Oxford 1990 R. Drudis-Baldrich, Bibliografía Sobre Ludwig Wittgenstein, Madrid 1992 P. Philipp, Bibliographie zur Wittgenstein-Literatur, Bergen 1996

3. Gesamtwerk A. Kenny, Wittgenstein, London 1973 R. J. Fogelin, Wittgenstein, London New York G. H. von Wright, Wittgenstein, Oxford 1982

1976,21987

-

J. Schulte, Wittgenstein, Stuttgart 1989 H. J. Glock, A Wittgenstein Dictionary, Oxford 1996 P. M. S. Hacker, Wittgensteins Place in Twentieth-Century Analytic Philoso¬

phy, Oxford

4. Zwischen

1996

"Tractatus" und

"Philosophischen Untersuchungen" 5. St.

Hilmy, The Later Wittgenstein: The Emergence of a New Philosophical

Method, Oxford 1987 D. Stern, Wittgenstein on Mind and Language, Oxford 5.

1995

"Philosophische Untersuchungen"

5. 1. Hilfsmittel H. Kaal, A. McKinnon, Concordance Untersuchungen, Leiden 1975

to

Wittgensteins Philosophische

270

AUSWAHLBIBLIOGRAPHIE 5. 2. Kommentare G. Hallen, A Companion to Wittgensteins Philosophical Investigations, Ithaca, N.Y. 1977 G. P. Baker, P. M. S. Hacker, An Analytical Commentary on the "Philosophical Investigations", Vol. 1: Wittgenstein, Understanding and Meaning, Oxford 1980; Vol. 2: Wittgenstein, Rules, Grammar and Necessity, Oxford 1985 E. v. Savigny Wittgensteins "Philosophische Untersuchungen". Ein Kommen¬ tar für Leser. Band I; Abschnitte 1 bis 315, Frankfurt a. M. 1988,21994; Band II: Abschnitte 316 bis 693, Frankfurt a. M. 1989,21996 P. M. S. Hacker, An Analytical Commentary on the "Philosophical Investiga¬ tions", Vol. 3: Wittgenstein, Meaning and Mind, Oxford 1990; Vol. 4: Wittgenstein, Mind and Will, Oxford 1996

5. i. Monographien und Sammlungen einzelner Autoren E. K. Specht, Die sprachphilosophischen und ontologischen Grundlagen im Spätwerk Ludwig Wittgensteins, Köln 1963 E Scholz, Untersuchungen zum Problem der Empfindungswörter bei Wittgenstein, Diss. München 1969 J. Bogen, Wittgenstein's Philosophy of Language, London 1972 J. V Canfield, Wittgenstein: Language and World, Amherst 1981 C. McGinn, Wittgenstein on Meaning, Oxford 1984 J. F. M. Hunter, Understanding Wittgenstein, Edinburgh 1985 N. Malcolm, Nothing is Hidden, Oxford 1986 R. Haller, Fragen zu Wittgenstein und Aufsätze zur Österreichischen Philoso¬ phie, Amsterdam 1986 R. Ackerman, Wittgenstein's City, Amherst 1988 D. F. Pears, The False Prison, Bd. 2, Oxford 1988 O. Hänfling, Wittgenstein's Later Philosophy, London 1989 J. Schulte, Chor und Gesetz, Frankfurt a. M. 1990 E. v. Savigny, Der Mensch als Mitmensch. Wittgensteins "Philosophische Untersuchungen", München 1996

5. 4. Sonstige Sammlungen von Beiträgen vor allem zur Spätphilosophie G. Pitcher ed., Wttgenstein, The Philosophical Investigations, Garden City, N. Y, 1966 H. Monck ed., Wittgenstein and the Problem of Other Minds, New York 1967 P. Winch ed., Studies in the Philosophy of Wttgenstein, London New York 1969 E. D. Klemke ed., Essays on Wttgenstein, Urbana, 111., 1971 O. R.Jones ed., The Private Language Argument, London 1971 A. Ambrose, L. Lazerowitz eds., Ludwig Wittgenstein: Philosophy and Language, London New York 1972, 1973 Essays on Wittgenstein in Honour of G. H. von Wright, Amsterdam 1976 (= Acta Philosophica Fennica 28, H. 1-3) G. Vesey ed., Understanding Wittgenstein, Ithaca, N. Y, 1976 K. T. Fann ed., Ludwig Wittgenstein, Atlantic Highlands, N. Y, 21978 -

-

AUSWAHLBIBLIOGRAPHIE C. G. Luckhardt ed., Wittgenstein: Sources and Perspecdves, Hassocks 1979 D. F. Gustafson, B. L. Tapscott eds., Body, Mind, and Method, Dordrecht 1979 I. Block ed., Perspecdves on the Philosophy of Wittgenstein, Oxford 1981 S. H. Holtzman, C. M. Leich eds., Wittgenstein: To Follow a Rule, London 1981

Birnbacher, A. Burkhardt Hgg., Sprachspiel und Methode, Berlin 1985 J. Butterfield ed., Language, Mind, and Logic, Cambridge 1986 St. Shanker ed., Ludwig Wittgenstein Critical Assessments, London, Sydney, Dover, 4 Bde. 1986 J. V Canfield ed., The Philosophy of Wittgenstein, A Fifteen Volume Collection, New York London 1986 (ab Band 4) P. Winch, D. Z. Phillips eds., Wittgenstein: Attention to Particulars (FS R. Rhees), New York 1989 R. L. Arrington, H.-J. Glock eds., Wittgenstein's Philosophical Investigations: Text and Context, London 1991 K. Puhl ed., Meaning Scepticism, Berlin, New York 1991 P. A. French, Th. E. Uehling, H. K. Wetterstein eds., The Wittgenstein Legacy, D.

-

-

Notre Dame 1992

J. Schulte, G. Sundholm eds., Criss-Crossing a Philosophical Landscape (FS B. McGuinness), Grazer Phil. Studien 42, 1992 W. Vossenlcuhl Hg., Von Wittgenstein lernen, Berlin 1992 J. V Canfield, St. G. Shanker eds., Wittgenstein's Intentions (FS J. Hunter), New York und London 1993

R.

Egidi ed., Wittgenstein: Mind and Language, Dordrecht, Boston,

London

1995

H.

Sluga, D. Stern eds., The Cambridge Companion to Wittgenstein, Cambridge 1996

6. Nach den

"Philosophischen Untersuchungen"

J. Schulte, Erlebnis und Ausdruck: Wittgensteins Philosophie der Psychologie, München 1987 M. McGinn, Sense and Certainty, Oxford 1989 M. Budd, Wittgenstein's Philosophy of Psychology, London 1989 M. ter Hark, Beyond the Inner and the Outer: Wittgenstein's Philosophy of Psychology, Dordrecht 1990 E. v. Savigny, O. R. Scholz Hgg., Wittgenstein über die Seele, Frankfurt a. M. 1995

271

273

Sachregister Fettgedruckte

Ziffern bezeichnen

Kapitel

ähneln 247, 249 algebraische Formel 100 Analyse 87 Anwendung der Regel 65,129-133, 135, 138, 140 Arbeitsweise Wittgensteins 2 Ausdruck 124, 127 f. Ausdruck eines Gedankens 178

Ausdrucksäußerung

8.6

Ausdrucksverhalten 202, 244 äußeres Kriterium 258, 265 f., 268 Äußerung 28 f., 215 f.

Äußerungsbedeutung 29 Autorität der

ersten

1.3, 21, 24 f.,

Person

114-116, 204

Befehl

sprechen

169

f., 173,

175, 177, 179, 185-188 deuten 127, 243, 246

Deutung 109, 138-140 Deutungsregreß 109, 138 Ding an sich 220

disjunktive Definition 55 Dualismus 241 f., 254 f., 258 f., 264 dynamische Vagheit 53 Ebenenwechsel einfach 74 f.

188 f.

Einstellung zur Seele

252

Empfindung 6.2, 6.3, 149, 150, 152-155, 157, 159, 176 empiristische Auffassung vom

f., 223, 229 f., 95 Erinnerung 150-152, 154-158, 160 f., 170-172 erhaben

137

19,21 265-267

Behaviourismus 251-255, 258 f., 265 Bericht 202

Beschreibung

denken und

Erfahrung

begrifflicher Epiphänomenalismus

Unterkapitel.

Willen 217,9.2,236

Ballard 7.2

Bedeutung I, 110 Bedeutungsskepsis

und

202

215

73

Erklärung

91 Ethik 219 f. Familienähnlichkeit 2, 42, 44, 77, 80, 123 Familienbegriff 2.3, 43, 57 Festsetzungsregreß 141

51,

besinnen 84 f., 94 bestimmbare Eigenschaft 45, 58 bestimmen 4.2, 5.3, 5.4, 145 bestimmte Eigenschaft 58 Bestimmtheit des Sinns 86

Gebrauch 7,1.1,9-12,1.3,1.4, 29, 101 f., 103, 109, 134 f. Gedächtnisphänomen 170, 173 f.,

Bewußtsein 194 f. Bild 209 f., 239-242, 245 f., 250, 254 f., 257 f., 263, 266 Bild des Topfes 259-261 Bildtheorie 121 Crusoe 161 definieren 60 f. Definition 42, 75, 114, 149, 153, 155 f., 161 Denkapparat 7.1 denken 7

gemeinsam

176

Gedanken 44

170, 173 und

f., 62, 67

eigentümlich 41,

gemeinsames Merkmal

2.2

Gewißheit 223 Grammatik 84,91,197-199

grammatischer Epiphänomenalismus

262

grammatischer Satz

13

Handlung

225, 228, 230 Holzverkäufer 36

impressionistisches

Bild

7.4

2

74

SACHREGISTER indirekte Rede

113

Geschehen, Inneres 167, 169, 195 f., 200 f, 243-245, 249, 258, 262, 264-268

inneres

Introspektion

168

kausale Konzeption des Willens 235 Kausalität 145, 220, 224, 226 f. Kenntnis 171 f. Kenntnis des eigenen Geistes 267 kinäsdtetische Empfindung 218, 228, 9.6, 231-234 kinästhetische Idee 226 knowing how 97, 112 f.

Kontextgebundenheit 184, 187 Kontextveränderung 179 Kopfrechnen 196 Körper das beste Bild der Seele 251, 255 f.

Körper und Seele 239, 242, 250, 254, 257 f.

Korrigierbarkeit

Praxis

117

140 f. 140, 146

f., 201, 259, 265 privat private Sprache 6

Privatsprachenargumentation, altorüiodoxe Auffassung 144, 151, 160

Privatsprachenargumentation, neuordiodoxe Auffassung

Projektionsmethode 108,

164

130

psychologische Begleiterschei¬ nung 222

191-193, 261-265

151

f., 250,

Logik 72, 74, 86, 88-90, 95 Manometer 159 Maschine und Mensch 252-254 Mehrdeutigkeit 23 meinen 4, 121, 124, 128, 132, 135-137, 145 meinen und Bedeutung 4.1 Mensch 253-255 mentales Bild 192 Merkmal 47 Metaphilosophie 71 metaphysisches Subjekt 219,222, 228

71, 8.3

Mitteilung

18 f. Muster 59, 210 f. Nachlaß 1-3 Name 26, 74-77, 146 f.

philosophieren 3 praktische Folge 16, 19 präsente Bedeutung 4.3,

psychologische Begriffe 167,

Kriterium 56 f., 64, 8.6 Lebensform 1 lehrbare Klasse 68 Leinwand 239-242, 245 263, 266 Lernbarkeit 140 f. Lernen 78 f., 264 lesen 242-245

Methode

noumenal 218 Offenheit von Begriffen 50-52 Ordnung 86 f., 92 Person 257 phänomenal 218

80-82, 88 f.,

Naturgeschichte 30,

32

psychologischer und logischer Zwang 5.5 Reagieren auf die Lernsituation 131, 133 Reaktion 247-249, 260, 262-265 Reaktionsweise 250 f. Realist und Nominalist 2.4 rechtfertigen 65

Regel 16-18, 26 f., 29-32,

120-130, 133, 135 f., 139-141, 163, 216 Regelausdruck 120-122, 124-127, 130 f., 136, 138, 141

Regelfestsetzung 128 Regelfolgen 5, 121, 124, 127, 129, 135, 137-140, 142, 156, 162

Regelmäßigkeit 9 f., 15 f., 140 f. Regelskepsis 127, 129, 6.10 Regreß

128-130 73 f., 76, 95 Rolle im Sprachspiel 9 f., 14, 20, 24 f., 29 Satz 74 f., 77 f., 81 f., 88 f., 94 Satz- und Wortbedeutung 1.4 Schenkung 16 Schüler 132 Seele 10 Seelenblinder 250, 263 rein

SACHREGISTER sehen als 248,256 Selbstkenntnis 268 so tun, als ob 211 f. sozialer Sachverhalt 4.4,110

Vagheit

Spiel 45 f., 124-126, 141 Sprachspiel 1 Sprachspiele mit dem Wort "Vorstellung" 8.4 Sprechakttheorie 13 Sprecherabsicht 109 Sprechervorrecht 116 statische Vagheit 53 staunende Einstellung 74, 76, 94

verkörpern

sublim 73,76,95

Subtraktionsfrage 9.5, 9.6, 234 Symptom Tabelle

56 f. 157

Tagebuch-Beispiel

148

f.,

6.7

"Teil II" 3

Theorie 91

therapeutischer Versuch 72 transzendentalphilosophische Auffassung vom Willen 218, 9.4,

236

163 Übereinstimmung des menschlichen Verhaltens 145 Übereinstimmung in der Reaktions¬ weise 249

Ubereinstimmung

Übergang 100,110,7.3,7.4 Übersetzung 170, 173, 176-179 Übersetzung wortloser Gedanken in

Worte 173, 175 übersichtliche Darstellung 91 f. Umgebung 244 f., 247 unmittelbares Kennenlernen 146 Ursache 233 Ursache der Handlung 221

49 f., 87 Verhalten 251, 260, 262

f., 265 f.

Verhaltensregelmäßigkeit

17 f.

Verhaltensweise 241, 245 256 Verständnis 136 Verständnis expliziter Regeln 5.6 Verstehen 97,121,124,128,132, 135 f.,138 versuchen 230, 234 f. Verwandtschaft 42, 47 f. Vorbedingung 19 f., 29 Vorhersagen willkürlicher Handlun¬ gen 9.7 vorstellendes Subjekt 219 Vorstellung 180, 182, 8, 215 f., 218, 222 f. Vorstellung und Wahrnehmung 8.8 Vorstellungsbeschreibung 8.7, 208

Vorstellungsbild 108, 187, 200, 8.9 Vorstellungstheorie der Bedeutung 192

Wegweiser

126 f. Wesen 42 f., 82, 88, 91, 197 f. Wesen der Sprache 79 Wesen und Erscheinung 81-84, 88, 90, 92 wesentliches Merkmal 44 Widerspruch 93 Wile 9 Willensfreiheit 221 willentliche Handlung 224, 229 Wissen 2 31 wissen, was man meint 4.5 wollendes Subjekt 219 wünschen 9.3 Würfel 108, 129 f.

275

277

Hinweise

zu

den Autoren

Stewart Candlish lehrt Philosophie an der University of Western Australia; Gastprofessuren hatte er an Clare Hall, Cambridge, der University of Sussex, der Australian National University und am Darwin College, Cambridge. Zahlreiche Veröffent¬ lichungen zur Geschichte der Philosophie im 20. Jh., beson¬ ders über Bradley und über die Privatsprachenargumentation in der Routledge Encyclopedia of Philosophy (London 1998). Noel Fleming hat Philosophie an der Harvard University und in Oxford studiert. Er lehrte an der Universität Manchester sowie an der Yale University, der Vanderbilt University und der University of California in Santa Barbara. Den Schwer¬ punkt der Veröffentlichungen bilden die Philosophie des Gei¬ stes und philosophische Klassiker.

Hans-Johann Glock ist Reader in Philosophy an der University of Reading. Er ist der Verfasser von "A Wittgenstein Dictio¬ nary" (Blackwell 1996) sowie Herausgeber von "The Rise of Analytic Philosophy" (Blackwell 1997), (mit Robert Arrington) von "Wittgenstein's Philosophical Investigations: Text

(Routledge 1991) und von "Wittgenstein and Quine" (Routledge 1996). Er arbeitet zur Zeit an einem Buch über Quine und Davidson. and Context"

Klaus Puhl, geboren 1954 in Saarbrücken, ist Universitätsdozent für Philosophie in Graz. Studium in Saarbrücken und Mün¬ chen, Lehr- und Forschungsaufenthalte in St. Andrews, Oxford und Cambridge. Veröffentlichungen: "Bedeutungs¬ theorie und Metaphysik" (1982), "Meaning Scepticism" (1991), (Hg.), Aufsätze zu Wittgenstein, der Theorie der Be¬ deutung und zur Philosophie des Geistes. Richard Raatzsch lehrt Philosophie an der Universität Leipzig. Zuvor Studium und Promotion an der Martin-Luther-Uni¬ versität Halle-Wittenberg, Gastforscher am Wittgenstein-Ar¬ chiv der Universität Bergen (Norwegen) und Adjunct Profes¬ sor an der C. S. U. Hayward, Kalifornien. Publikationen vor

278

HINWEISE ZU DEN AUTOREN

Wittgenstein, zur Wissenschaftstheorie und zur So¬ zialphilosophie. allem

Eike v.

zu

Savigny lehrt Philosophie an der Universität Bielefeld.

Oliver R. Scholz, geb. 1960 in Wuppertal, studierte Philosophie, Linguistik und Literaturwissenschaft in Bielefeld, Promotion 1988. 1990-1996 wiss. Assistent an der Philipps-Universität Marburg und an der Freien Universität Berlin, dort Habili¬ tation 1996/97. Seit 1997 Privatdozent für Philosophie an der FU Berlin. Publikationen: Bild, Darstellung, Zeichen, Frei¬ burg/München 1991; Verstehen und Rationalität, Frank¬ furt a. M. (im Druck); (als Mithg.) Wittgenstein über die Seele, Frankfurt a. M. 1995; Aufsätze zur Sprachphilosophie, Zeichentheorie, Philosophie des Geistes, Ästhetik und Ge¬ schichte der Hermeneutik.

Joachim Schulte, Studium in Frankfurt a. M. und Oxford, lehrte in Bologna und Graz, hat lange als Autor und Übersetzer in Bologna gelebt und führt derzeit an der Universität Bielefeld ein Forschungsprojekt durch. Wichtigste Veröffentlichungen: "Erlebnis und Ausdruck" (1987, engl. 1992); "Wittgenstein" (1989, engl. 1992, franz. 1992); "Chor und Gesetz" (1990). Hjalmar Wennerberg lehrte Philosophie 1963-1972 an der Universität Uppsala, 1981-1986 an der Universität Lund. Sein bekanntestes Buch ist "The Pragmatism of C. S. Peirce" (1962).