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German Pages 343 [344] Year 2001
LUDWIG WITTGENSTEIN
Tractatus logico-philosophicus
Klassiker Auslegen Herausgegeben von Otfried Höffe Band 10
Otfried Höffe ist o. Professor für Philosophie an der Universität Tübingen.
Ludwig Wittgenstein
Tractatus logico-philosophicus Herausgegeben von Wilhelm Vossenkuhl
Akademie Verlag
Titelbild: Ludwig Wittgenstein, aus dem Besitz von Ben Richards, Foto von Moritz Nähr © Wittgenstein Archive, Cambridge 2000
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus / hrsg. von Wilhelm Vossenkuhl. - Berlin : Akad. Verl., 2001 (KLASSIKER AUSLEGEN ; Bd. 10) ISBN 3-05-002694-4
© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2001
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Inhalt
Siglenverzeichnis
VII
Einleitung Wilhelm Vossenkuhl
1
1. Der Tractatus als System Verena Mayer
11
2.
Sagen und Zeigen. Wittgensteins „Hauptproblem" Wilhelm Vossenkuhl
35
3. Wittgenstein^ Context Principle Peter M. Sullivan
65
4. A Version of the Picture Theory Peter M. Sullivan
89
5. Die abbildende Beziehung. Zum Problem der Intentionalität im Tractatus Erich Ammereller
III
6. Ein Platz für alles Mögliche. Der logische Raum im Tractatus Ulrich Metsehl
141
7. Logische Satzanalyse und die allgemeine Satzform Stephan Sellmaier
179
8. Variablen im Tractatus Matthias Varga von Kibed
209
VI
INHALT
9. Operationen im Tractatus Andrej Ule
231
10.
Wittgensteins Analyse von „gewissen Satzformen der Psychologie" Michael Feiher
257
11.
Solipsismus, Subjektivität und öffentliche Welt David Bell
275
12. Der Glückliche und seine Welt Joachim Schulte
305
Auswahlbibliographie
327
Personenregister
329
Sachregister
331
Hinweise zu den Autoren
333
VII
Siglenverzeichnis
WA
AM
Ludwig Wittgenstein, Werkausgabe, 8 Bde., Frankfurt/M. 1984.
„Aufzeichnungen, die G. E. Moore in Norwegen nach Diktat niedergeschrieben hat" (April 1914), in: WA, Bd. 1. AüL „Aufzeichnungen über Logik" (1913), in: WA, Bd. 1. B1B Das Blaue Buch, übers, von P. von Morstein, in: WA, Bd. 6, Frankfürt/M. 1984; Original: T h e Blue Book, in: T h e Blue and Brown Book, Oxford 1958, 1972. BW Briefwechsel mit B. Russell, G. E. Moore, J. M. Keynes, F. P. Ramsey, W. Eccles, P. Engelmann und L. von Ficker, hrsg. von B. F. McGuinness und G. H. von Wright, Frankfurt/M. 1980. LO Letters to C. K. Ogden, ed. by G. H. von Wright, Oxford 1973. NB Notebooks 1914-1916, ed. by G. H. von Wright and G. E. M. Anscombe, Oxford 1979. PG Philosophische Grammatik, in: WA, Bd. 4. PT Prototractatus in: T L P , Kritische Edition. PU Philosophische Untersuchungen, in: WA, Bd. 1. TB Tagebücher 1914-1916, in: WA, Bd. 1, S. 89-187. TLP Tractatus logico-philosophicus in: WA, Bd. 1 und Logisch-philosophische Abhandlung. Tractatus logico-philosophicus. Kritische Edition, hrsg. von Brian McGuinness und Joachim Schulte, Frankfurt/M. 1989. Über Gewißheit, in: WA, Bd. 8. VE Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, hrsg. von Joachim Schulte, Frankfurt/M. 1989. Wittgenstein's Lectures, Cambridge 1932-35, ed. by A. Ambrose and M. MacDonald, Oxford 1979.
VIII
SlGLENVERZEICHNIS
WWK
Z
Frege: BL Bs CN CP Gg GG2 Gl
Wittgenstein und der Wiener Kreis; Wittgenstein and the Vienna Circle, ed. by B. F. McGuinness, Oxford 1979. Zettel, in: WA, Bd. 8.
The Basic laws of Arithmetic, transl. and ed. by M. Furth, Berkeley and Los Angeles 1964. Begriffsschrift (1879), translated in CN. Conceptual Notation and Related Articles, transl. and ed. by T. W. Bynum, Oxford 1972. Collected Papers, ed. by B. F. McGuinness, Oxford 1984. Die Grundgesetze der Arithmetik I (1893), part translated in BL. Uber die Grundlagen der Geometrie (1906), translated in CP. Die Grundlagen der Arithmetik (1884), transl. by J. L. Austin, Oxford 1959.
Einleitung Der Tractatus logico-philosophicus ist das einzige Buch, das Wittgenstein selbst veröffentlichte.1 Es erschien erstmals 1921. Unter dem Titel Logisch-philosophische Abhandlung hatte er es kurz nach seiner Fertigstellung am Ende des Ersten Weltkriegs mehreren Verlagen angeboten. Der erste Verleger, den Wittgenstein ansprach, war Jahoda. Der lehnte ebenso ab wie der zweite, Wilhelm Braunmüller, der Verleger von Otto Weiningers Geschlecht und Charakter. Braunmüller wollte erst ein Gutachten von Bertrand Russell und forderte dann die Übernahme der Papier- und Druckkosten durch Wittgenstein. Die dritte Adresse, an die Wittgenstein sich wandte, war Ludwig von Ficker, der Herausgeber der Zeitschrift Der Brenner. Wittgenstein hatte ihn und einige von ihm benannte Literaten bereits sehr großzügig finanziell unterstützt. Ihm gegenüber pries Wittgenstein das Buch so an: Es habe eigentlich zwei Teile, einen kleineren geschriebenen und einen größeren ungeschriebenen; der zweite sei der wichtigere, nämlich der ethische Teil; das Ethische werde von innen heraus durch den geschriebenen Teil abgegrenzt. Diese Anpreisung gab zu vielerlei Spekulationen Anlaß und verwirrte manche Interpreten des Werkes. Auch mit seiner an Ludwig von Ficker gerichteten Bitte, die Logischphilosophischen Abhandlungen in dessen Zeitschrift Der Brenner zu veröffentlichen, hatte Wittgenstein keinen Erfolg. Er bat aber von Ficker um Empfehlungen beim Hausverlag des Brenner, Insel und bei Otto Reichl, dem Verleger des Grafen Keyserling. Der vierte Verlag, an den Wittgenstein sich direkt wandte, war Reclam in Leipzig. Mit diesem Verlag wäre es beinahe zu einer Zusammenarbeit gekommen, hätte Wittgenstein Russells Vorwort zu seinem Tractatus in der deutschen Version akzeptieren können.2 Nach über zwei Jahren Suche fand sich Wittgenstein veröffentlichte insgesamt nicht mehr als drei Texte. Neben dem Tractatus lediglich „Some Remarks on Logical Form" (1929) und das Wörterbuch fiir Volksschulen (1926). Joachim Schulte übersetzte „Some Remarks ..." und gab diese Schrift unter dem Titel „Bemerkungen über logische Form" heraus (in: Wittgenstein, Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, Frankfurt/M. 1989, S. 20-28). 2 Russells Vorwort ist übrigens in der kritischen Edition des Tractatus, die B. F. McGuinness und J. Schulte besorgten, englisch und deutsch abgedruckt (vgl. Anm. 3). Der Verlag Reclam Leipzig hat als „Wiedergutmachung", wie es auf 1
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EINLEITUNG
schließlich eine fünfte und letzte, vielleicht auch die schlechteste Möglichkeit in Wilhelm Ostwalds Annalen der Naturphilosophie. Russell hat sich sowohl für diese wie für die englische Ausgabe des Tractatus eingesetzt; ohne seine Hilfe wäre der Text vielleicht nicht oder nicht so schnell erschienen. In den Annalen der Naturphilosophie kam die erste deutsche Fassung mit vielen sinnentstellenden Fehlern heraus. Wittgenstein hatte keine Gelegenheit für Korrekturen gehabt. Er betrachtete die Ausgabe als Raubdruck, wie er seinem Freund Engelmann gegenüber sagte. Gleichzeitig betrieb C. K. Ogden mit aktiver Unterstützung Russells eine englische Publikation bei Routledge & Kegan Paul in der Ubersetzung von Frank Ramsey, der damals ein 18 Jahre alter Undergraduate am King's College in Cambridge war. 1922 kam eine zweisprachige deutsch-englische Fassung heraus, unter dem von G. E. Moore vorgeschlagenen Titel Tractatus logico-philosophicus, der dann auch für die späteren deutschen Ausgaben beibehalten wurde. Wittgenstein selbst hat diesen Titel übrigens nie verwendet, sondern immer von der Logisch-philosophischen Abhandlung gesprochen. Ramseys Übersetzung war mehr eine Interpretation und Neuformulierung als eine direkte Übertragung des Originals. In der Zeit, als der Tractatus erschien, war Wittgenstein bereits Volksschullehrer in Niederösterreich. Der zuverlässigste Text des Tractatus ist die zweite, 1933 erschienene zweisprachige Ausgabe bei Routledge & Kegan Paul. Nach dem Urteil von Brian MacGuinness und Joachim Schulte ist dies die Ausgabe, die „im wesentlichen den Absichten Wittgensteins gerecht wird". 3 Die kritische Edition, die McGuinness und Schulte herausgaben, ist für das Verständnis der textlichen und gedanklichen Entwicklung des Tractatus unverzichtbar. An Einführungen in den Tractatus mangelt es zwar nicht, es gibt sie aber auch nicht im Überfluß. Eine gute Grundlage für das Verständnis dieses schwierigen Werkes bietet die Sammlung von wichtigen Aufsätzen, die Joachim Schulte herausgab. 4 Diese dem Umschlag heißt, den Tractatus und die Philosophischen Untersuchungen in einem Band veröffentlicht (hrsg. von P. Philipp, Leipzig 1990). Die Texte sind identisch mit denen der Werkausgabe des Suhrkamp-Verlages. J B. F. McGuinness, J. Schulte (Hrsg.), Ludwig Wittgenstein. Logisch-philosophische Abhandlung. Tractatus logico-philosophicus. Kritische Edition, Frankfurt/M. 1989, S. VIII. 4 J. Schulte (Hrsg.), Texte zum Tractatus, Frankfurt/M. 1989.
EINLEITUNG
Textsammlung enthält - erstmals in deutscher Sprache - die Rezension des Tractatus von Frank Ramsey.5 Er war nicht nur als Ubersetzer dieser Schrift, sondern als einer der einflußreichsten Mathematiker und Logiker seiner Generation ein besonders qualifizierter Leser und Interpret. Ramsey konzentriert sich zunächst auf die Begriffe „Bild" und „Form der Abbildung" und führt anhand dieser Begriffe in systematisch zusammenhängender Form in die Teiltheorien des Tractatus ein. Auf diesem Wege nähert sich Ramsey Wittgensteins Auffassung von Urteilen, seiner Wahrheitstheorie, seinen Einsichten über Sätze der Logik, der Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen, der Identitätstheorie, den Ansichten Wittgensteins über die Klasse der notwendig wahren Sätze und dem Philosophiegbegriff des Tractatus, der sich aus all diesen Teilaspekten ergibt. Ramsey stellt interessante Beziehungen zu entsprechenden Konzepten Russells her und weist auch auf die Schwierigkeiten hin, die der Tractatus bietet. Ramseys Rezension steht im Kontext der lebhaften zeitgenössischen Entwicklungen in Logik und analytischer Sprachphilosophie. Mit ihnen waren Erwartungen verbunden, die sein Urteil über den Tractatus prägten. Ahnliches gilt für die Einführungen, die für die Arbeit mit dem Tractatus unerläßlich sind, auch wenn sie ein halbes Jahrhundert später entstanden. Dazu gehören die Texte von G. E. M. Anscombe (An Introduction to Wittgenstein^ Tractatus, 1959), E. Stenius (Wittgensteins Traktat, 1960) und M. Black (A Companion to Wittgensteins tractatus'', 1964), aber auch das erste Drittel von R. Fogelins Buch über Wittgenstein. 6 Nicht zuletzt diese Einführung hat die Beschäftigung mit dem Tractatus eher gebremst als intensiviert. Deswegen ist es sinnvoll, die Vorwürfe Fogelins ernst zu nehmen und zu prüfen. Fogelin spricht von einem „grundlegenden Fehler in der Logik des Tractatus"1. Seine Kritik richtet sich vor allem gegen den Satz 6, der die allgemeine Satzform als allgemeine Form der Wahrheitsfunktion beschreibt. Entscheidend für Wittgensteins Darstellung der allgemeinen Satzform ist der N-Operator. Mit 5
Die Rezension erschien erstmals in der Zeitschrift Mini S. 464-487). 6 R. Fogelin, Wittgenstein, London 1976. 7 Ebd., S. 70.
(32, 1923,
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EINLEITUNG
diesem Operator hat Fogelin Schwierigkeiten, die er ausführlich beschreibt (Fogelin, S. 54-67). Einer seiner Vorwürfe ist, daß mit der N-Notation prädikatenlogische Sätze mit gemischten Quantoren - also Sätze, in denen sowohl der Allquantor als auch der Existenzquantor vorkommen 8 - nicht unterscheidbar seien. Dieser Vorwurf läuft darauf hinaus, daß Wittgenstein bei der Beschreibung der Welt mit Hilfe der N-Notation nicht zwischen Allgemeinheit und Einzelheit unterscheiden kann. Matthias Varga von Kibed zeigt in seinem Beitrag zu diesem Band, daß Fogelins Vorwurf haltlos ist, wenn man die Gegebenheit von Satzvariablen korrekt versteht. Damit ist der erste Vorwurf Fogelins entkräftet. Er intensiviert seine Kritik in einem weiteren Kapitel seines Buches mit dem Vorwurf, der Satz 6 sei falsch (Fogelin, S. 70-77). Dabei beruft er sich auf A. Church. Der habe gezeigt, daß es keine Entscheidungsregel gebe, nach der in einer endlichen Menge von Schritten entschieden werden könne, ob eine Aussage tautologisch, kontingent oder widersprüchlich sei. Der Tractatus könne daher keine vollständige Beschreibung der allgemeinen Satzform geben. Fogelin vermischt hier mehrere Dinge. Zum einen entwickelt der Tractatus kein logisches System, an das Churchs Einsicht adressiert werden könnte. Der Tractatus stellt lediglich Bedingungen auf, die ein korrekter logischer Symbolismus erfüllen muß. Churchs Unentscheidbarkeitstheorem sagt aber, daß es keine effektive Methode gebe, die es uns erlauben, zu entscheiden, ob ein beliebiger prädikatenlogischer Satz Theorem einer entsprechenden Theorie sei. Churchs Theorem kann auf den Tractatus nicht angewandt werden, da es Wittgenstein um eine vollständige Darstellungsmöglichkeit der Welt, nicht um die mechanische, rekursive Herleitbarkeit von Sätzen geht. Offensichtlich greift Fogelin auf Church zurück, weil er die Funktionsweise des N Operators mißdeutet. Er kritisiert, daß der N-Operator nur auf endliche und nicht auf unendliche Satzlisten anwendbar sei. Der N-Operator ist aber kein n-stelliger Operator. Die Anwendung auf eine unendliche Satzliste setzt also keine unendliche, sondern lediglich eine einmalige Anwendung des N-Operators voraus. Damit ist auch der weiterreichende Vorwurf Fogelins entkräftet. Es stellt sich also heraus, daß der Vorwurf, WittgenBeispiele für solche Sätze in symbolischer Notation sind: 3x Vy fey oder Vx 3y fxy.
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EINLEITUNG
stein könne Sätze mit gemischten Quantoren nicht darstellen, falsch ist und der Hinweis auf Church auf dem Mißverständnis beruht, der Tractatus sei ein logisches System. Der vorliegende Band nimmt gleichwohl die Herausforderung auf, die mit Fogelins Vorwurf verbunden ist. Der Satz 6 steht in vielen der Beiträge im Mittelpunkt oder im Hintergrund. Es geht um die Logik des Tractatus, die nicht nur - wie im Falle Fogelins - kritisiert, sondern auch - wie z. B. von Stenius - ignoriert wurde. Obwohl die allgemeine Satzform und die damit verbundene Auffassimg von Logik den Focus des Bandes bilden, geht es um den Tractatus als ganzen. Verena Mayer macht den Vorschlag, den Tractatus als ein System von Sätzen und Folgerungen zu verstehen, die definitionsartig aufeinander aufgebaut sind. Durch diese eigenwillige Vorgehensweise kann Wittgenstein Ausdrücke der Umgangssprache sukzessive präzisieren. Der Vorteil dieser von Mayer vorgeschlagenen Lesart besteht darin, den strengen Zusammenhang der meisten Sätze des Tractatus aufzuzeigen und den Gang der Argumentation durchsichtiger zu machen. Mayer führt die Vorzüge und Grenzen der von ihr vorgeschlagenen Methode beispielhaft an der Verwendung des Ausdrucks „Sinn" vor. Ich selbst untersuche in meinem Beitrag, was Wittgenstein veranlaßt hat, die für den Tractatus zentrale Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen als „Hauptproblem der Philosophie" zu bezeichnen. Hinter diesem Problem steht dasjenige der Reflexivität, das Wittgenstein aus Russells Typentheorie kannte. Er meinte wohl, daß Russell dem Verbot der Selbstbezüglichkeit von Aussagen, also dem Reflexionsverbot, nicht streng genug folgte. Innerhalb der Domäne der logischen Form kann Wittgenstein die Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen tatsächlich streng durchführen. Sagen und Zeigen erweisen sich dabei als komplementär. Probleme mit der Unterscheidung werden erst an der Grenze des Sagbaren sichtbar, an der Wittgenstein das Subjekt ansiedelt. Mein Beitrag versucht, diese Probleme klar zu machen. Es wird deutlich, daß es zwar einerseits kein Zeigen ohne ein Subjekt, dem sich etwas zeigt, geben kann, daß das Zeigen als Maßstab des Sagens andererseits aber nicht von einem Subjekt abhängig sein kann, weil dieses außerhalb der Domäne des logischen Raums liegt. Peter Sullivan geht in seinem ersten Beitrag der Frage nach, welche Rolle Freges Kontext-Prinzip für Wittgenstein spielt. Er
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EINLEITUNG
geht davon aus, daß das Prinzip den wechselseitigen Bezug des Sinns und der Bedeutung von Ausdrücken regeln soll, also die Beziehung zwischen der Region der Sprache, aus der heraus das Prinzip angewandt wird, und dem Bereich, auf den es sich richtet. Sullivan stellt dann aber fest, daß es sich entweder nur auf den Sinn oder auf die Bedeutung bezieht. Der Sinn-Bezug des Prinzips habe einen negativen und einen positiven Gehalt. Der negative liege der Unterscheidung zwischen Zeichen und Symbol im Tractatus zugrunde, sei aber zur Sicherung des referentiellen Bezugs zu schwach. Interessanter erscheint der Bedeutungs-Bezug des Prinzips, wenn es als hinreichende Bedingung fiir die Referenz von Aussagen verstanden wird. Das KontextPrinzip könne aber auch nicht rein referentiell verstanden werden. Der Bezug des Prinzips sei zwar immer lokal, seine Bedeutung aber universal. Wittgenstein sei von der Allgemeinheit des Prinzips in seiner referentiellen Version beeindruckt gewesen; und nur in seiner Allgemeinheit drücke das Prinzip in seinen Augen einen internen Aspekt sprachlicher Repräsentation aus. In seinem zweiten Beitrag beschäftigt sich Sullivan mit der Bildtheorie des Tractatus. Es geht ihm um die Frage, wie das Verhältnis zwischen den Elementen des Bildes und den Sachen, die sie „vorstellen" (TLP 2.15) zu verstehen ist. Sullivan sieht, daß Wittgenstein dieses Verhältnis als eine Art Identität und nicht als eine schwächere Art von Korrespondenz versteht, als Identität der logischen Form nämlich. Allerdings fangen damit die Schwierigkeiten erst richtig an. Denn die Identität des Bildes mit dem Abgebildeten läßt sich nicht nach dem herkömmlichen Objekt-Namen-Verhältnis deuten und die logische Form ist nicht ausdrückbar. Sullivan versucht dennoch, dem Gemeinsamen von Bild und Abgebildetem, also der logischen Form, auf den Grund zu gehen. Er folgt dabei Wittgensteins „Grundgedanken", daß die logischen Konstanten „nicht vertreten" (TLP 4.0312). Erich Ammereller versucht in seinem Aufsatz zu zeigen, worin Wittgensteins Auffassung der Zuordnungen besteht, welche die abbildende Beziehung zwischen Bildelementen und Gegenständen konstituieren. Eine Klärung dieser Zuordnungen ist nicht zuletzt deswegen von Interesse, weil Wittgenstein im Tractatus selbst darüber zumindest explizit keine Auskunft gibt. Es ist nicht verwunderlich, daß es zu diesem Problem viele einander widersprechende Stellungnahmen gibt. Das Problem, um
EINLEITUNG
das es geht, ist, wie ein Bild darstellen kann, was der Fall ist, unabhängig von dessen Wahrheit oder Falschheit. Eine Lösung dieses Problems ist nach Ammereller nur möglich, wenn man sich von dem Mißverständnis befreit, daß ein Satz als ganzer zu dem Abgebildeten in derselben Beziehung steht wie seine Elemente. N u r die Bildelemente vertreten, nicht aber der Satz selbst. Ammereller geht dann der Frage nach, aus welchem Grund Wittgenstein über die Natur der Zuordnung zwischen Namen und Gegenständen schweigt. Die Antwort ist, daß Wittgenstein jene Zuordnung als eine Frage der Psychologie, nicht aber als eine Frage der Logik versteht. Schließlich zeigt Ammereller, daß die Projektionsmethode der abbildenden Beziehung, das Denken des Satz-Sinns (TLP 3.11), durch die Intentionen konstituiert wird, mit der ein Sprecher die Bestandteile eines Satzes bzw. Gedankens gebraucht. Damit entsteht aber das weitere Problem, was einen Gedanken zu einem Gedanken über einen bestimmten Gegenstand macht. Ammereller sieht in dieser Frage einen Brennpunkt der Selbstkritik Wittgensteins in seinem späteren Werk. Ulrich Metsehl nimmt mit seinem Beitrag über den logischen Raum ein Thema auf, das schon bei Sullivan eine Rolle spielt. Gewöhnlich wird der logische Raum mit einer - dem Tractatus unterstellten - atomistischen Ontologie untersucht. Danach befinden sich materielle Gegenstände im physikalischen Raum, Tatsachen hingegen im logischen Raum. Letzterer hat die Aufgabe, die Tatsachen trotz ihrer wechselseitigen Unabhängigkeit mit einer ordnenden Struktur zu versehen. Metsehl untersucht in seinem Beitrag Wittgensteins Auffassung des logischen Raums auf dem Hintergrund seiner Konzeption von Logik. Letztere unterscheidet sich, wie Metsehl zeigt, von der Konzeption von Logik, die Frege und Russell vertraten. Wittgensteins Kritik an Russells Typentheorie richtet sich gegen deren zirkuläres, imprädikatives Sprechen über Gesamtheiten, also gegen ein Sprechen über etwas, was sich lediglich zeigen kann. Auch Freges Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung reicht nicht aus, um charakterisieren zu können, was unter einem sinnvollen Satz zu verstehen ist. Nach Wittgenstein ist die Logik keine Theorie über logische Konstanten, sondern eine Theorie des sinnvollen Satzes. Nach der Exposition dieser Differenzen, die Wittgenstein mit Frege und Russell hat, ent-
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EINLEITUNG
wickelt Metsehl Wittgensteins Konzeption des logischen Raumes. Er zeigt, wie die logischen Gesetzmäßigkeiten von der Struktur des logischen Raums abhängen. Stephan Sellmaier verfolgt mit seinem Beitrag das Ziel, ein genaues und klares Bild dessen zu zeichnen, was ,logische Satzanalyse' und ,allgemeine Satzform' im Tractatus bedeuten. Er zeigt, wie die logische Satzanalyse, die zur Unterscheidung von Satz und Satzzeichen sowie von Namen und formalen Begriffen führt, mit der Darstellung der allgemeinen Satzform verbunden ist. Sellmaier löst seine Aufgabe, indem er die unterschiedlichen Charakterisierungen des Satzbegriffs, die sich im Tractatus finden, in ihrem systematischen Zusammenhang darstellt. Auf diese Weise zeigt sich, daß Wittgenstein mit dem Satz 6 tatsächlich sein Versprechen im Vorwort des Tractatus einlöst, das Sagbare vom Unsagbaren zu trennen. Im Zusammenhang mit der Kritik Fogelins habe ich bereits auf den Beitrag von Matthias Varga von Kibed über die Variablen im Tractatus hingewiesen. Der Beitrag untersucht insgesamt die Rolle der Logik im System des Tractatus. Wittgenstein versucht, ein System zu entwickeln, das der Prädikatenlogik erster Stufe äquivalent ist. Dieser Versuch ist in den Augen von Fogelin, Geach und Soames gescheitert. Varga von Kibed zeigt dagegen, daß Wittgensteins System bei angemessener Auffassung der Gegebenheit der Satzvariablen nicht zu den von Fogelin monierten Problemen bei gemischten Quantoren fuhrt, sondern allen prädikatenlogischen Ansprüchen genügt. In diesem Beitrag wird klar, daß der N-Operator der einzige logische Operator ist. Eine angemessene logische Notation muß dem Unterschied zwischen Sagen und Zeigen gerecht werden. Die Grundthese des Beitrags von Andrej Ule ist, daß Operationen nicht „in der Welt" sind, sondern lediglich für uns bestehen. Ule untersucht zunächst den Begriff,Operation' und stellt dabei den Zusammenhang mit der grundlegenden Operation, der N-Operation her. Er beschäftigt sich dann mit dem ideellen Charakter der logischen Operationen. Dieser - überraschend erscheinende - Charakter zeigt sich in den rein syntaktischen Eigenschaften der Operationen. Er ist, wie Ule nachweist, in der Allgemeinheit der Operationen und in der potentiellen Unendlichkeit der Selbstanwendung der Operationen auf ihre eigenen Resultate begründet.
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Michael Felber behandelt in seinem Beitrag die Sätze 5.54ff., in denen es um propositionale Einstellungen geht. Das Ziel dabei ist, das Ergebnis von Wittgensteins Analyse von Sätzen der Form ,A glaubt, daß p' darzustellen. Felber will klären, worin das Ergebnis der Analyse besteht. Er stellt dazu eine Tabelle möglicher Interpretationen der einschlägigen Textstellen auf und diskutiert die einzelnen Varianten. Felber kommt zu dem Schluß, daß im Tractatus Sätze, die propositionale Einstellungen ausdrücken, als unsinnige Sätze zu bezeichnen sind und deshalb nicht im Widerspruch zur allgemeinen Wahrheitsfunktionalität der sinnvollen Sätze stehen. David Bell macht den mutigen Versuch, diejenige Auffassung menschlicher Subjektivität, die Wittgenstein „Solipsismus" nennt, nicht nur zu verteidigen, sondern als wohlbegründet und sinnvoll darzustellen. Er argumentiert gegen das antisolipsistische Vorurteil, indem er nachweist, daß der Solipsismus weder empirisch falsch noch inkohärent und darüber hinaus sogar interessant ist. Bell zeigt dann, wie der „Ich-tilgende Solipsismus" mit dem reinen Realismus zusammenfällt. Ein wesentliches Motiv für Beils Beitrag ist dessen Unzufriedenheit mit der traditionellen Unterscheidung zwischen Subjektivität und Objektivität. Im Solipsismus des Tractatus sieht Bell eine Auffassung der Wirklichkeit entwickelt, in der nichts unzugänglich, privat oder fremd ist und in der das Problem des Fremdpsychischen nicht mehr existiert. Das spätere Privatsprachenargument paßt, wie Bell meint, sehr gut zu dieser Auffassung von Solipsismus. Joachim Schulte geht in seinem Beitrag auf eine rätselhaft erscheinende Passage ein: „Wenn das gute oder das böse Wollen die Welt ändert, so kann es nur die Grenzen der Welt ändern, nicht die Tatsachen; nicht das, was durch die Sprache ausgedrückt werden kann. Kurz, die Welt muß dann dadurch überhaupt eine andere werden. Sie muß sozusagen als Ganzes abnehmen oder zunehmen. Die Welt des Glücklichen ist eine andere als die des Unglücklichen" (TLP 6.43). Schulte untersucht, wie die Möglichkeit des Zu- und Abnehmens der Welt zu verstehen ist. Er diskutiert die Interpretationen von Hacker und McGuinness und prüft dabei genauer Wittgensteins Verhältnis zu Schopenhauer. Wittgenstein glaubt, daß man mit der Welt in Ubereinstimmung sein muß, um ein glückliches Leben zu fuhren. Das wollende oder das metaphysische Subjekt kann
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glücklich oder unglücklich sein. Glück und Unglück bestehen für Wittgenstein, wie Schulte darlegt, in der Art und Weise, in der man sich mit der Welt, im Grund mit sich selbst, identifiziert. Wittgensteins Tractatus ist kein Text, der sich wie viele andere nach getrennten Passagen in fortlaufender Reihenfolge interpretieren ließe. Jede Passage dieses Textes steht in einer engen, verflochtenen systematischen Beziehung mit vielen anderen Passagen davor oder danach. Wie die Beiträge dieses Bandes zeigen, gibt es zwar trennbare Teiltheorien; sie lassen sich aber nicht jeweils zusammenhängenden, geschlossenen Textstücken zuordnen. Die interpretatorische Aufgabe dieses Bandes besteht darin, den systematischen Vernetzungen nachzugehen und überzeugende Verbindungen zwischen Sätzen herzustellen, die im Text selbst voneinander getrennt sind. Der vorliegende Band löst diese Aufgabe, indem er Teiltheorien des Tractatus diskutiert, die den Text als systematisch geschlossenes Ganzes erkennen lassen. Auf diese Weise wird deutlich, daß der Tractatus einer der wichtigsten Texte zur philosophischen Logik ist. Der vorliegende Band hatte eine - für die meisten Autoren allzu lange Inkubationszeit. Die Verzögerungen bei der Drucklegung sind aber allein von mir selbst zu verantworten. Ich danke allen Autoren, aber auch dem Verlag und dem Herausgeber der Reihe, Otfried Höffe, für ihre Mühen und ihre Geduld. Ganz besonderen Dank schulde ich Stephan Sellmaier, der den Band redigierte, die Register erstellte und mir in allen editorischen und philosophischen Angelegenheiten mit kompetentem und zuverlässigem Rat zur Seite stand. Bettina Walde danke ich für ihre Hilfe bei der Endredaktion und den Korrekturen. Wilhelm Vossenkuhl, München im März 2000
1 Verena Mayer
Der Tractatus als System 1
1.1 Vorbemerkung Der Tractatus scheint auf den ersten Blick eine lose Folge von aphorismenartigen Sätzen oder dogmatischen Behauptungen zu sein, deren Zusammenhang erst durch das komplizierte Numerierungssystem hergestellt wird. Seit dem einflußreichen Kommentar von Stenius (1969) wird jedoch die Numerierung als inkonsequent betrachtet. Nach Auffassung von Stenius hat Wittgenstein die Satznummern mehr gefühlsmäßig zum Zweck einer „Rhythmisierung" über den Text verteilt, um damit bestimmte Akzente zu setzen und Haupt- und Nebenthemen anzudeuten (Stenius 1969, S. 17).2 Die Literatur zum Tractatus geht entsprechend häufig davon aus, daß der Text erst rekonstruiert werden müsse, um verständlich zu sein. Dabei gilt auch wegen Wittgensteins späterer Tractatus-Kritik - als ausgemacht, daß das System inkonsistent ist. Die Rekonstruktionen stellen dann oft Tractatw-S'itze, in denen ein bestimmter Ausdruck verwendet wird, nebeneinander, um den „inkohärenten Gebrauch" des Ausdrucks zu demonstrieren. Ich werde im folgenden eine andere Art, den Tractatus zu lesen, vorschlagen. Sie setzt nicht voraus, daß man, wie Wittgen1 Dieser Artikel entstand im Rahmen des Forschungsprojekts „Die Form der Welt beim frühen Wittgenstein". Für die Ermöglichung dieses Projektes danke ich der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Für intensive und fruchtbare Auseinandersetzungen danke ich vor allem dem Leiter des Projekts, Matthias Varga von Kibed.
Dieser Artikel erschien erstmals in Acta Analytica 10, 1993.
Eine besonders originelle These über den Zweck des Numerierungssystems vertritt Scheier (1991). Der Prototractatus zeigt jedoch deudich, daß das Numerierungssystem der systematischen Strukturierung und logischen Gliederung des Textes dient; vgl. dazu Mayer (1993). 2
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VERENA M A Y E R
stein im Vorwort fordert, „ähnliche Gedanken" schon einmal gehabt hat; sie ist auch von bestimmten Vorentscheidungen darüber, was die Themen des Tractatus sind, zunächst unabhängig, führt aber unmittelbar zu diesen Themen hin. Mein Vorschlag besteht darin, den Tractatus nicht als eine mehr oder weniger kohärente Sammlung von Behauptungen, sondern als ein System von aufeinander aufgebauten definitionsartigen Sätzen und aus diesen gezogenen Folgerungen zu betrachten. „Definition" ist dabei nicht in einem formalen Sinn zu verstehen, so daß eine an sich sinnlose Zeichenfolge einem bestimmten Sinn willkürlich zugeordnet würde. Wittgenstein definiert vielmehr Ausdrücke wie „Welt", „Satz", „Sachverhalt" in einer Weise, die zwar zunächst an den Sprachgebrauch anknüpft, diesen jedoch sukzessive präzisiert und so durch eine eigene Tractafzu-Terminologie ersetzt. Diese Quasidefinitionen liefern für den ganzen Tractatus verbindliche Bedeutungsfestlegungen und erlauben Substitution salva signißcatione. Der Tractatus stellt also ein System von Sätzen dar, die sich durch Substitution von per definitionem bedeutungsgleichen Ausdrücken in komplexere Sätze analysieren lassen, deren innerer Zusammenhang durch die Analyse sichtbar wird.3 Dies soll im folgenden demonstriert werden, indem die Definitionen nacheinander eingesetzt werden und der Sinn der so analysierten Sätze deutlich gemacht wird. Die Definitionen werden dabei zur Ableitung von Sätzen verwendet, die den inneren Zusammenhang der Sätze erhellen. Wittgensteins Erläuterungen zu TractatusSätzen erweisen sich dabei häufig gerade als Ergebnisse von Substitutionen.4 Die Methode der Substitution erhebt nicht den Anspruch, vollkommen neue Ergebnisse der 7ra*«fzi.r-Interpretation zu ' Obwohl der Tractatus kein deduktives System im üblichen Sinn ist, benutze ich im folgenden der Einfachheit halber die entsprechende Terminologie. Ich spreche also von Definitionen, Theoremen, Deduktionen und Folgerungen im oben eingeschränkten Sinn (d. h. innerhalb der natürlichen Sprache und ohne explizit eingeführte syntaktische Umformungsregeln) ohne Anführungszeichen. Daß Wittgenstein auf formale Darstellungsmittel weitgehend verzichtet, ist natürlich keineswegs ein Zufall, sondern durch den ganzen Sinn des Tractatus bestimmt (vgl. unten). 4 Die Definitionen kommen vor allem in den Sätzen mit niedriger Stellenzahl vor; die Entwicklungen oder Kommentare dazu enthalten oft Anwendungen der Definitionen auf Teilgebiete wie Psychologie oder Physik.
D E R TRACTATUS ALS S Y S T E M
liefern. Jede sorgfaltige Analyse des Texts wird schließlich in den Hauptzügen zu ähnlichen Aussagen kommen müssen, selbst wenn sie nicht im vorgeschlagenen Sinn systematisch vorgeht. Bestimmte Deutungen - etwa die Interpretation des tractarianischen Ausdrucks „Sinn" als „meaning" - erweisen sich dabei jedoch eindeutig als nicht zutreffend. Der Vorteil der vorgeschlagenen Methode besteht darin, daß sie einen strengen Zusammenhang der meisten Tractatus-Sätze zu zeigen vermag, für zahlreiche strittige Tractatus-Begriffe klare Definitionen angeben kann und den Standpunkt der Argumentation Wittgensteins verdeutlicht.
1.2 7 h 7 £ ? t f i « i - D e f i n i t i o n e n Die im Tractatus für Substitution geeigneten Definitionen haben in der Regel die Form „S ist P" (etwa Satz 4: „Der Gedanke ist der sinnvolle Satz."). Eine mehr beiläufige Form der Definition, die ebenfalls Substitution erlaubt, ist die attributive Anfügung von Ausdrücken, die als synonym gelten sollen (Satz 2: „Was der Fall ist, die Tatsache ..."). Auch Definitionen im üblichen Sinn von expliziten Bedeutungsfestlegungen kommen vor, d. h. Sätze, die Wittgenstein ausdrücklich, etwa durch „ich nenne ...", als Definitionen kennzeichnet (Satz 4.1252: „Reihen, welche durch interne Relationen geordnet sind, nenne ich Formenreihen."). Die „Hauptsätze" 1-6 des Tractatus sind Definitionen im ersten Sinn. Aus ihnen lassen sich durch Einsetzung Theoreme entwickeln, die den Gedankengang des Tractatus auf einfache Weise zeigen, ohne daß besondere Rekonstruktionen notwendig wären. 5 So können wir aus Satz 1 und 2 unter Zuhilfenahme von 1.1 T 1 folgern: 1 Die Welt ist alles, was der Fall ist. 1.1 Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge. 2 Was der Fall ist, die Tatsache, ist das Bestehen von Sachverhalten. T 1 Die Welt ist die Gesamtheit der bestehenden Sachverhalte. 5 Die Einsetzung ist, da sie in der natürlichen Sprache und ohne besonders ausgezeichnete syntaktische Regeln stattfindet, immer cum grano salis zu nehmen. Es geht hier eben nicht um die mechanische Umformung von Zeichenketten.
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T 1 entspricht Satz 2.04 Die Gesamtheit der bestehenden Sachverhalte ist die Welt. Aus Satz 2 und 3 Das logische Bild der Tatsachen ist der Gedanke, ergibt sich T2 Das logische Bild der bestehenden Sachverhalte ist der Gedanke, und mit 4 Der Gedanke ist der sinnvolle Satz, läßt sich folgern T 3 Das logische Bild der bestehenden Sachverhalte ist der sinnvolle Satz. Daraus folgt mit 5 Der Satz ist eine Wahrheitsfunktion der Elementarsätze, T 4 Das logische Bild der bestehenden Sachverhalte ist eine Wahrheitsfunktion der Elementarsätze. Im ersten Teil von 6 Die allgemeine Form der Wahrheitsfunktion ist [p, N (%)]. Dies ist die allgemeine Form des Satzes. läßt sich wegen Satz 5 „Wahrheitsfunktion" durch „Satz" ersetzen - dies ergibt den zweiten Teil von 6. Da der (sinnvolle) Satz das logische Bild der bestehenden Sachverhalte ist, folgt T 5 Die allgemeine Form des logischen Bildes der bestehenden Sachverhalte ist \j>, f , N (f)]. Da die allgemeine Form der Wahrheitsfunktion Tautologien und Kontradiktionen, also sinnlose Sätze einschließt (d. h. Sätze, die keine logischen Bilder sind), ist T 5 genaugenommen nicht umfassend genug. Dies illustriert die Notwendigkeit, bei der Bildung von Substitutionsketten sehr sorgfältig vorzugehen.6 Zur Erläuterung von T 5 ist die in den Sätzen 4ff. und 5ff. eingeführte 7ra:i«ftü-Notation erforderlich. Unabhängig davon zeigt jedoch T5, daß die anscheinend formallogische Aussage in Satz 6 in die Terminologie der ersten Tractatus-S'itze. - Form, Sachverhalt, logisches Bild - analysiert werden kann und mit diesen eng zusammenhängt. Die Substitution der definierten Termini stellt in diesem Sinne den Zusammenhang des Tractatus-Systems her. Der Fehler besteht hier darin, daß T 3 von sinnvollen Sätzen spricht, 5 jedoch von Sätzen allgemein, so daß die Substitution in dieser Form unzulässig ist. 6
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1.3 Beispiel einer Fehlanwendung von Substitution Folgerungsartige Methoden sind mitunter verwendet worden, um dem Tractatus Widersprüchlichkeit nachzuweisen. So erwähnt etwa Fogelin das Problem, aus 2.04, 2.06 und 2.063 einen konsistenten Begriff der Welt im Tractatus zu gewinnen: 2.04 Die Gesamtheit der bestehenden Sachverhalte ist die Welt. 2.06 Das Bestehen und Nichtbestehen von Sachverhalten ist die Wirklichkeit. 2.063 Die gesamte Wirklichkeit ist die Welt. Fogelin schreibt dazu: „The problem is transparent. 2.04 identifies the world with the existing states of affairs. In contrast, 2.06 identifies reality with both the existence and non-existence of states of affairs. Finally, 2.063 at least seems to identify the world with reality. T h u s the set of existing states of affairs seems to be identified with the set of existing and nonexisting states of affairs." (Fogelin 1976, S. 11.) Fogelin argumentiert hier auf der Basis einer Substitutionskette: (i) Welt = Menge der bestehenden Sachverhalte (ii) Wirklichkeit = Menge der bestehenden und nichtbestehenden Sachverhalte (iii) Menge der bestehenden Sachverhalte = Menge der bestehenden und nichtbestehenden Sachverhalte. Betrachtet man Wittgensteins Formulierungen genauer, wird der Schluß jedoch blockiert. 2.04 identifiziert die Welt mit der Gesamtheit der bestehenden Sachverhalte. In 2.06 ist aber nicht von einer Gesamtheit die Rede; Wirklichkeit ist gerade nicht als die Gesamtheit der bestehenden und nichtbestehenden Sachverhalte definiert. Die Substitution von Welt durch Wirklichkeit wird damit unmöglich. 2.063 identifiziert deshalb auch nicht die Welt mit der Wirklichkeit, wie Fogelin behauptet, sondern die Welt mit der gesamten Wirklichkeit. Man könnte 2.06 als äquivalent zu etwa der folgenden Formulierung auffassen: 2.06' Die Wirklichkeit ist eine Auswahl aus den bestehenden und nichtbestehenden Sachverhalten, und dies durch einen Zusatz der folgenden Art ergänzen: 2.06" Die gesamte Wirklichkeit ist die Gesamtheit der bestehenden und nichtbestehenden Sachverhalte.
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Damit wäre Fogelins Schluß wieder gerechtfertigt. Man sieht jedoch, daß in solche Umformungen zahlreiche Vermutungen eingehen. So ist 2.06' sicher kein angemessenes Äquivalent zu 2.06, da die nichtbestehenden Sachverhalte nicht als Menge von Dingen aufgefaßt werden dürfen, aus denen eine Auswahl getroffen werden könnte; ebensowenig darf das „Bestehen und Nichtbestehen von Sachverhalten" als Menge betrachtet werden, die aus bestehenden und nichtbestehenden Sachverhalten besteht. Wittgenstein vermeidet eine solche offensichtlich absurde Formulierung ganz bewußt, indem er in 2.04 nur von der Gesamtheit der bestehenden Sachverhalte spricht, die nach 2.05 auch bestimmt „welche Sachverhalte nicht bestehen". Ebenso ist 2.06" keine gerechtfertigte Formulierung. 2.06' würde viel eher einen Schluß der folgenden Art nahelegen: Die gesamte Wirklichkeit ist die Gesamtheit der Mengen bestehender und nichtbestehender Sachverhalte, vorausgesetzt, die Rede von Mengen nichtbestehender Sachverhalte wäre zulässig. Aber auch hier melden sich Zweifel an. Darf man den Ausdruck „die gesamte Wirklichkeit" unbedenklich in „die Gesamtheit aller Wirklichkeiten" übersetzen? Warum spricht Wittgenstein nicht von der Gesamtheit aller Wirklichkeiten, wenn er hier unter Wirklichkeit tatsächlich eine Teilmenge in diesem Sinne versteht? Die Schwierigkeiten, die aus einem unbedachten Substitutionsversuch im Zusammenhang dieser Sätze resultieren, sind kein Hinweis auf eine Inkonsistenz in Wittgensteins Sprachgebrauch, sondern vielmehr ein Symptom dafür, daß den hier verwendeten Formulierungen wesentliche Unterscheidungen zugrunde liegen, so daß Umformungen dieser Art nicht unbedenklich vorgenommen werden dürfen. So ist die Tatsache, daß nichtbestehende Sachverhalte nicht auf derselben Existenzstufe wie bestehende behandelt werden dürfen, im Tractatus von zentraler Bedeutung. Sie drückt sich etwa auch darin aus, daß Wittgenstein in den Sätzen 4.061 ff. betont, daß wahr und falsch nicht „gleichberechtigte Beziehungen" sind, daß p und ->p das Gleiche sagen können, und daß sie zwar entgegengesetzten Sinn haben, ihnen aber die gleiche Wirklichkeit entspricht. Die durch die Gesamtheit der bestehenden Sachverhalte bestimmten nichtbestehenden Sachverhalte bilden also keine Menge, sie stellen jedoch im Sinne des Tractatus eine logische
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Möglichkeit dar, die bei der nun folgenden Bestimmung des Sinnes von Sätzen eine wesentliche Rolle spielt. Für das Verständnis des Tractatus ist es wesentlich, die Asymmetrie zwischen wahr und falsch, bestehend und nichtbestehend, im Auge zu behalten. Wenn Wittgenstein etwa den Sinn einer Wahrheitsfunktion durch die entsprechende Wahrheitstafel darstellt, könnte es scheinen, als ob hier „wahr" und „falsch" eben doch gleichberechtigt seien und die Wahrheitstafel die Auswahlmöglichkeiten aus der Menge der wahren und falschen Elementarsätze (d. h. auch der bestehenden und der nichtbestehenden Sachverhalte) durchspielt. Auch im folgenden wird wegen der besseren Darstellbarkeit des recht komplizierten Begriffs der möglichen Sachlage manchmal so gesprochen, als könne das Nichtbestehen von Sachverhalten als Menge von nichtbestehenden Sachverhalten wiedergegeben werden. Dies geschieht jedoch nur, weil es hier um die Darstellung einer Interpretationsmethode geht, während die inhaltliche Rechtfertigung der Ergebnisse nur im Rahmen einer Gesamtinterpretation des Tractatus möglich ist.
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Wittgenstein machte sich keine Illusionen über die Verständlichkeit des Tractatus. In einem Brief an Russell äußerte er die Befürchtung, daß auch Russell den Tractatus nicht ohne Erklärungen verstehen würde und fügte hinzu: „Dies bedeutet natürlich, daß keiner es verstehen wird, obwohl ich glaube, daß alles kristallklar ist." (13. 3. 1919, in: BW, S. 85.) Selbst Frege, dem Wittgenstein neben Russell philosophisch am meisten verdankt, kam (wie der Briefwechsel zeigt) wegen größter Verständnisschwierigkeiten über die ersten Sätze des Tractatus nicht hinaus. Ein Beispiel für die Schwierigkeiten der meisten Interpreten mit dem Tractatus ist der Ausdruck „Sinn". Er nimmt im Tractatus eine Schlüsselstellung ein, weil er die Verbindungsstelle zwischen Sprache und Welt darstellt und - wie im folgenden noch deutlich werden soll - durch die Unterscheidung von Sinn und Unsinn die Grenze der Welt bestimmt. Der Ausdruck „Sinn" wird in Satz
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2.221 Was das Bild darstellt, ist sein Sinn, definiert und ab Satz 3.11 im Zusammenhang mit Sätzen gebraucht. Dabei unterscheidet Wittgenstein Sinn und Bedeutung: 3.3 N u r der Satz hat Sinn; nur im Zusammenhange des Satzes hat ein Name Bedeutung. Eine weitere Definition, 4.2 Der Sinn des Satzes ist seine Übereinstimmung und Nichtübereinstimmung mit den Möglichkeiten des Bestehens und Nichtbestehens der Sachverhalte präzisiert den Sinnbegriff für komplexe Sätze. Die Wörter „Sinn" und „Bedeutung" hat Wittgenstein offenbar von Frege übernommen, nicht aber deren Definitionen: Während für Frege Sätze und Namen sowohl Sinn, als auch Bedeutung besitzen, haben im Tractatus (etwa nach 3.3) Sätze nur Sinn, Namen nur Bedeutung. Die Differenz im Anwendungsbereich beider Ausdrücke legt nahe, daß sich die Bedeutungstheorien von Frege und Wittgenstein systematisch unterscheiden. Jedoch schreibt etwa Anscombe: „Wittgenstein's conception of sense may be called the same as Frege's, if we are careful to add, that Wittgenstein had different theses about: for he held, that names had no sense, but only reference, and propositions no reference, but only sense; and also that a proposition could not have a sense without being either true or false. Further he uses the suggestion of d i rection' that is contained in the word ,sense' when he speaks of positive and negative as opposite senses ..." (Anscombe 1959, S. 17.)7 Frege meint mit dem Sinn eines Ausdrucks nach Anscombe dessen sprachliche Bedeutung (meaning), die durch eine Paraphrase angegeben werden könnte (ebd.). Wenn Wittgenstein derselben Auffassung wäre, würde er also behaupten, daß ein Satz zwar sprachliche Bedeutung hat, aber nicht referiert, während ein Name umgekehrt auf einen Gegenstand referiert, aber keine sprachliche Bedeutung hat. 7
Anscombe fügt hinzu, „Sinn" sei im Deutschen ein Ausdruck für „Richtung", eine Behauptung, die nur in einem sehr eingeschränkten Sinn zutrifft und offenbar durch Wittgensteins beiläufige Analogie zwischen dem Sinn eines Satzes und einem Pfeil (3.144) zustande kam. Sie wird u. a. von Black (1964, S. 106f.), Kenny (1976) und Stenius (1969, S. 223f.) übernommen.
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Mit dieser Interpretation des Sinnbegriffs, die nach Anscombe oft wiederholt wurde, erheben sich jedoch eine Reihe von Schwierigkeiten. So verwendet Wittgenstein den Ausdruck „Sinn" im Tractatus — anders als Frege - auch für Bilder in einem allgemeinen Sinn, also etwa für Photographien; der vage Begriff der (sprachlichen) Bedeutung läßt sich jedoch höchstens metaphorisch auf einen solchen erweiterten Bildbegriff übertragen. Wittgenstein wird deshalb oft unterstellt, daß er mehrere Sinnbegriffe vermengt habe. Manche Autoren versuchen sich gar nicht erst an einer Definition, sondern verwenden den Ausdruck „Sinn" (sense) selbstedfinierend. So schreibt etwa Black: „[...] Wittgenstein conceives an elementary proposition as a ,sensibly perceptible' fact, consisting of a concatenation of words or morphemes, to the whole of which a certain sense attaches in consequence of certain conventions of designation and of the interpretation of structure." (Black 1964, S. 119.) 8 Einer Definition des Sinnbegriffs kommt dagegen Stenius am nächsten. Stenius versteht - umgekehrt wie Anscombe - gerade Wittgensteins „Bedeutung" als „meaning" und betont, daß Wittgensteins Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung mit der Fregeschen nichts gemein habe (Stenius 1969, S. 159). Für Stenius ist der Sinn eines Satzes sein „deskriptiver Inhalt". Der deskriptive Inhalt von Elementarsätzen ist dabei der durch sie ausgedrückte Sachverhalt (ebd., S. 48). Der deskriptive Inhalt eines zusammengesetzten Satzes P wird nach Stenius' Rekonstruktion der Bildtheorie „durch ein System alternativer Bilder dargestellt, [...], das die Sachlagen vorstellt, deren Bestehen die Wahrheitsgründe von P sind" (ebd., S. 198). Auch nach Stenius verwendet Wittgenstein jedoch den Sinnbegriff inkonsistent, einmal im Sinne von „Richtung", einmal im Sinne einer „auf die Sprache bezogenen Bedeutung" (ebd., S. 223). Die Liste der verschiedenen Interpretationen des Sinnbegriffs enthält außer der sprachlichen Bedeutung (meaning) auch ExtenIn Blacks Erläuterung zu Satz 2.22 wird der Ausdruck „sense" beiläufig als „meaning" eingeführt (1964, S. 93). Im Kapitel X („The Sense of a Picture") spricht Black bereits nur noch von Sätzen und verwendet „sense" und „meaning" auch in den folgenden Zusammenhängen synonym (so in seinem Kommentar zu 3.23; ebd., S. 112). Ausnahmen bilden die zahlreichen Fälle, in denen Black „meaning" als Ubersetzung von Wittgensteins „Bedeutung" (bei Anscombe „reference") verwendet; in diesem Sinn ist der Begriff natürlich ausdrücklich unterschieden von „sense". 8
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sion (ausgedrückter Sachverhalt, Sachlage, Tatsache etc.) oder Intension (Menge von möglichen Welten), sowie verschiedene Zwischenstufen, neben der bereits erwähnten Auffassung, Sinn meine etwas wie „Richtung". So ist nach Kenny der Sinn eines Satzes ein „möglicher Sachverhalt" (Kenny 1976, S. 74). Nach Finch ist Sinn eine syntaktische Kategorie, die dasjenige enthält, was durch die Kombination von Bedeutungen einzelner Wörter gezeigt wird. Finch listet eine ganze Reihe von Tractatus-Unterscheidungen zwischen Sinn und Bedeutung auf, ohne zu einer abschließenden Definition zu gelangen (Finch 1971, S. 61, 212f.). Bogen stellt mehrere angeblich inkonsistente Charakterisierungen von Sinn im Tractatus nebeneinander und schließt, daß der Sinn eines Elementarsatzes das Bestehen eines Sachverhaltes involviere.9 Viele dieser Deutungen scheinen sich zu überschneiden oder verschiedene Varianten desselben Sinnbegriffs zu sein. In den meisten Deutungen wird Sinn - ähnlich wie bei Frege - als eine Art Zwischenebene („drittes Reich") zwischen Sprache und Welt betrachtet. Was diese Ebene auf der einen Seite mit der „Ontologie", auf der anderen Seite mit der Logik des Tractatus verbindet, bleibt unklar.
1.5 Der Sinn von Bildern Betrachtet man einige Sätze des Tractatus als Definitionen, dann ist der Ausdruck „Sinn" durch eine Kette solcher Definitionen klar bestimmt. Analysieren wir den Sinnbegriff wie oben gezeigt mit Hilfe von Substitution. Die erste Definition lautet 2.221 Was das Bild darstellt, ist sein Sinn. U m diese Definition weiter zu zerlegen, benötigen wir eine Definition von „was das Bild darstellt". Sie ergibt sich aus: 2.202 Das Bild stellt eine mögliche Sachlage im logischen Räume dar. Dieser Satz läßt sich in eine Definition umwandeln: 2.202' Was das Bild darstellt, ist eine mögliche Sachlage im logischen Raum. 1 0 „The sense of a proposition or a picture is what it represents or what the proposition has or expresses." (Bogen 1972, S. 16.) 10 Wie bereits bemerkt, sind solche Umformungen immer mit äußerster Vorsicht vorzunehmen. Die Substantivierung scheint mir hier gerechtfertigt, da Wittgen9
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Aus 2.202' und 2.221 läßt sich folgern: T 6 Der Sinn eines Bildes ist eine mögliche Sachlage im logischen Raum. Damit sind bereits einige Deutungen - Sinn als möglicher Sachverhalt oder mögliche Tatsache - zurückgewiesen. Die in T 6 verwendeten Begriffe können aber noch weiter zurückverfolgt werden. Der Begriff der Sachlage ist im Tractatus nicht durch einen „ist"-Satz, sondern attributiv definiert: 2.11 Das Bild stellt die Sachlage im logischen Räume, das Bestehen und Nichtbestehen von Sachverhalten vor.11 Eine Sachlage im logischen Raum ist demnach das Bestehen und Nichtbestehen von Sachverhalten. Eine mögliche Sachlage ist dann eine Möglichkeit des Bestehens und Nichtbestehens von Sachverhalten. Die Sachverhalte sind dabei voneinander unabhängig (2.061) und ihre Zusammenfassung in einer Sachlage ist ausschließlich durch das Kriterium bestehend/nichtbestehend (d. h. nicht durch zusätzliche „Verbindungsglieder"!) 12 bestimmt. Entsprechend formuliert Wittgenstein in 2.201 Das Bild bildet die Wirklichkeit ab, indem es eine Möglichkeit des Bestehens und Nichtbestehens von Sachverhalten darstellt." Schließlich läßt sich das Theorem T 6 präzisieren: T 7 Der Sinn eines Bildes ist eine Möglichkeit des Bestehens und Nichtbestehens von Sachverhalten. Legen wir nun noch die Definition von „Sachverhalt" aus „2.01 Der Sachverhalt ist eine Verbindung zwischen Gegenständen (Sachen, Dingen)" 14 , zugrunde, so ergibt sich stein sie selbst im folgenden gebraucht und keine inhaltlichen Veränderungen damit verbunden sind. 11 Zusammen mit 2.06 ergibt sich: Die Sachlage im logischen Raum ist die Wirklichkeit. 11 Wenn zusätzliche Verbindungsglieder benannt werden müßten, würden die logischen Konstanten, im Gegensatz zu 4.0312, vertreten. 13 Mit 2.202 und 2.221 könnten wir statt dessen auch schreiben: 2.201' Das Bild bildet die Wirklichkeit ab, indem es eine mögliche Sachlage im logischen Raum darstellt, 2.201" Das Bild bildet die Wirklichkeit ab, indem es seinen Sinn darstellt. 14 Das W o r t „Sachverhalt" bezeichnet ein „Verhältnis von Sachen zueinander" und ist ein Beispiel dafür, wie genau Wittgenstein seine Worte gewählt hat: es ist eben ein Verhältnis gemeint, keine Verbindung durch ein Verbindungsglied, das zu einem regressus ad infinitum führen würde. Die englischen Ubersetzungsvorschläge „atomic fact", „prime fact", „elementary State" oder „relation of entities"
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T 8 Der Sinn eines Bildes ist eine Möglichkeit des Bestehens und Nichtbestehens von Verbindungen von Gegenständen. Die Ausdrücke „Gegenstand" und „Möglichkeit" sind zentrale Begriffe im Tractatus, werden jedoch nicht definiert.15 Nach Wittgensteins Erläuterungen in den Sätzen 2.01 bis etwa 2.032 sind Gegenstände einfach (2.02), bilden die Substanz der Welt (2.021), und sind fest und bestehend (2.027). Dies ist keine Beschreibung von Gegenständen unserer faktischen Welt, sondern beschreibt die notwendigen Eigenschaften der Substanz jeder möglichen Welt.16 Die Gegebenheit von Gegenständen ist ein logisches Postulat, das durch die Möglichkeit von Abbildung und damit von Sprache bedingt ist (vgl. 2.0211, 2.0212, 3.23). Der Ausdruck „Möglichkeit" bezeichnet im Tractatus nicht eine empirische Möglichkeit innerhalb der Wirklichkeit, sondern eine logische, bzw. mathematische Möglichkeit: „2.0121 [...] Etwas Logisches kann nicht nur-möglich sein. Die Logik handelt von jeder Möglichkeit und alle Möglichkeiten sind ihre Tatsachen [...]." Eine mögliche Sachlage im logischen Raum ist eine logisch mögliche Sachlage. Legen wir etwa die Sachverhalte a und b zugrunde und kennzeichnen wir Bestehen durch „+", Nichtbestehen durch „-", dann sind sämtliche logischen Kombinationsmöglichkeiten durch {(+a, +b),(+a, -b),(-a, +b),(-a, -b)} wiedergegeben; bei n Sachverhalten gibt es, wie Wittgenstein in 4.27 verdeutlicht, 2" logische Möglichkeiten ihres Bestehens und Nichtbestehens.17 Mögliche Sachlagen werden von Sätzen ausgedrückt. Sie entsprechen den Möglichkeiten der Ubereinstimmung und Nichtübereinstimmung der Wahrheitsbedingungen dieser Sätze mit den möglichen Sachverhalten. Es gibt dageben alle dieses wesentliche Merkmal nicht wieder. Die Sorgfalt der Wortwahl gilt fiir den ganzen Tractatus; eine Übersetzung ist daher oft nur unter Verfälschung der Bedeutung möglich. 15 Die Undefiniertheit zeigt sich auch daran, daß der Ausdruck bereits am Anfang des Manuskripts des Prototractatus vorkommt. 16 Dies entspricht Wittgensteins häufigem Vergleich der Logik mit einem Netzwerk, in dem die Gegenstände dann den Knotenpunkten entsprechen würden; vgl. 5 . 5 1 1 , 6 . 3 4 1 , 6 . 3 4 2 , 6 . 3 5 . 17 Es ist wichtig, sich hier klarzumachen, daß die Kombination von „ - " und etwa „b" nichts benennt - sie ist kein N a m e für einen nichtbestehenden Sachverhalt. Wie oben in Abschnitt 3 dargestellt stehen nichtbestehende Sachverhalte nicht auf derselben Existenzstufe wie bestehende, sondern werden durch die bestehenden bestimmt.
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her gemäß 4.42 22" Möglichkeiten derartiger Sachlagen. Eine mögliche Sachlage könnte etwa durch eine Teilmenge wie {(+a, -b), (+a, +b)} dargestellt werden, wenn damit die anderen Möglichkeiten mitgedacht und stillschweigend negiert werden. 18 Ein Bild stellt also eine der logisch möglichen Kombinationen des Bestehens und Nichtbestehens der zugrundegelegten Sachverhalte dar und T 8 läßt sich weiter präzisieren: T 9 Der Sinn eines Bildes ist eine der 22" logisch möglichen Kombinationen des Bestehens und Nichtbestehens von n Sachverhalten, d. h. Verbindungen zwischen Gegenständen.
1.6 Der Sinn von Sätzen Ab Satz 3 überträgt Wittgenstein den Begriff des Bildes, und damit den des Sinns, auf Gedanken und von dort ab 3.1 auf Sätze. Sowohl Gedanken, als auch Sätze sind Bilder, d. h., sie bestehen aus Elementen (den Namen), die die Gegenstände in den entsprechenden Sachverhalten vertreten, und deren Kombination im Gedanken- bzw. Satzverband eine mögliche Sachlage darstellt. Stimmt die dargestellte mögliche Sachlage (der Sinn) mit den Tatsachen iiberein, so ist der Gedanke/Satz wahr, sonst falsch. Wittgenstein verwendet den Sinnbegriff für Sätze in derselben Weise, wie für Bilder allgemein: 4.2 Der Sinn des Satzes ist seine Ubereinstimmung und Nichtübereinstimmung mit den Möglichkeiten des Bestehens und Nichtbestehens der Sachverhalte. Der hier neue Zusatz „Übereinstimmung und Nichtübereinstimmung" bedeutet keine Veränderung des bisher eingeführten Sinnbegriffe. Den Umstand, daß die Wirklichkeit zu denjenigen Wahrheitsmöglichkeiten eines Satzes gehört, die Wahrheitsgründe für den Satz sind, nennt Wittgenstein Ubereinstimmung des Satzsinnes mit der Wirklichkeit. Gehört die Wirklichkeit jedoch zu den als Wahrheitsgründe ausgeschlossenen Möglichkeiten der Elementarsätze, so liegt Nichtübereinstimmung, und damit Falschheit, vor. Ubereinstimmung heißt mit anderen Worten, daß eine bestimmte Kombinationsmöglichkeit besteht, während andere nicht bestehen. Kennzeichnen wir 18
Dies entspräche gerade der Sachlage, die der Satz ausdrückt, der nur das Bestehen von a besagt.
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Übereinstimmung wieder mit „+" und Nichtübereinstimmung mit „-", dann wird die mögliche Sachlage {(+a, -b)} korrekter z. B. so dargestellt: {—(+a, +b), +(+a, -b), -(-a, +b), -(-a, -b)}. 19 Die Übertragung auf die übliche Form von Wahrheitstafeln, wie sie Wittgenstein ab 4.31 (und ab 5.31 verallgemeinert für komplexe Sätze) einfuhrt, bereitet keine Schwierigkeiten. Dabei hat auch der einfachste Satz, der Elementarsatz (hier etwa a), einen Sinn, nämlich den, daß der von ihm ausgedrückte Sachverhalt besteht, und eben dies ist eine „Möglichkeit des Bestehens und Nichtbestehens" des einzigen dargestellten Sachverhalts. 20 Die scheinbar dogmatischen Bestimmungen Wittgensteins zum Sinnbegriff, die die Grundlage der üblichen Interpretationen bilden, erweisen sich nun als ganz folgerichtig. So können nur Sätze, nicht aber Namen Sinn haben, da nur Sätze mögliche Sachlagen (Kombinationen von Verhältnissen von Gegenständen) darstellen können, indem sie mehrere Namen in einer logisch möglichen Form („Konfiguration") zusammenstellen. Sätze sind mit den Sachlagen durch die Namen verbunden, die die Sätze an den Sachlagen gewissermaßen festnageln - Wittgenstein spricht auch von den „Fühlern", die das Bild mit der Wirklichkeit verbinden. In diesem Sinn deuten zwar die Namen auf Gegenstände, nicht aber die Sätze; daher haben Namen nur Bedeutung, Sätze nur Sinn. Auch andere Tractatus-Sätzz, die mit der Anscombeschen Behauptung, Sinn meine sprachliche Bedeutung, kaum verträglich sind, erklären sich nun zwanglos. So schreibt Wittgenstein in " Wittgenstein drückt Nichtübereinstimmung durch eine Leerstelle aus (vgl. 4.43). 20 Ein besonders augenfälliges Beispiel der Substitutionsmethode führt Wittgenstein übrigens in diesem Zusammenhang bereits auf der ersten Seite des Prototractatits vor. Wittgenstein schreibt hier die Sätze 4.2,4.3 und 4.4 untereinander: 4.2 D e r Sinne des Satzes ist seine Ubereinstimmung und Nichtübereinstimmung mit den Möglichkeiten des Bestehens und Nichtbestehens der Sachverhalte. 4.3 Die Wahrheitsmöglichkeiten der Elementarsätze bedeuten die Möglichkeiten des Bestehens und Nichtbestehens der Sachverhalte. 4.4 D e r Satz ist der Ausdruck der Übereinstimmung und Nichtübereinstimmung mit den Wahrheitsmöglichkeiten der Elementarsätze. Aus 4.2 und 4.3 folgt 4.4 mit dem Hilfssatz H Der Satz ist der Ausdruck seines Sinnes.
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„3.13 [...] Im Satz ist also sein Sinn noch nicht enthalten, wohl aber die Möglichkeit, ihn auszudrücken. [...] Im Satz ist die Form seines Sinnes enthalten, nicht aber dessen Inhalt." Da der Sinn eines Satzes eine mögliche Sachlage ist, die durch den Satz nur dargestellt wird, ist der Sinn nicht im Satz selbst enthalten. Jedoch haben Satz und mögliche Sachlage die logische Form gemeinsam, da nur diese eine Abbildung der Sachlage überhaupt ermöglicht. Daher ist die (logische) Form des Sinnes, der möglichen Sachlage, im Satz enthalten, nicht aber die Sachlage selbst (der „Inhalt" des Sinnes). 2 1 In einer umstrittenen Metapher in Satz 3.144 vergleicht Wittgenstein Sätze mit Pfeilen: „3.144 Sachlagen kann man beschreiben, nicht benennen. (Namen gleichen Punkten, Sätze Pfeilen, sie haben Sinn.)" Dies ist eine Erläuterung zu „3.14 Das Satzzeichen besteht darin, daß sich seine Elemente, die Wörter, in ihm auf bestimmte Weise zueinander verhalten. Das Satzzeichen ist eine Tatsache." Nur als Tatsache - als bestehendes Verhältnis von (sprachlichen) Gegenständen mit einer bestimmten Struktur - kann das Satzzeichen einen Sachverhalt oder eine Sachlage, abbilden. Der Satz ist nicht eine bloße Menge von Namen (kein W ö r t e r gemisch, wie es in 3.141 heißt), eine solche könnte keinen Sinn, d. h. keine mögliche Sachlage, ausdrücken, da diese strukturiert ist (3.142). Die Struktur des Satzes wird im geschriebenen oder gedruckten Satz, in dem die W ö r t e r einfach nebeneinander geschrieben sind, verschleiert (3.143), während sie beim Verstehen des Satzes gegenwärtig sein muß, da wir ihn sonst eben gar nicht verstehen könnten. Sachlagen können nicht durch einzelne Namen oder durch Klassen von Namen abgebildet werden, sondern nur durch Namen, die sich in bestimmter Weise zueinander verhalten. Dies nennt Wittgenstein in 3.144 „Beschreibung". Die in der Klammer hinzugefügte Bemerkung illustriert den kategorialen Unterschied zwischen Name und Satz. Sätze sind Pfeile nicht im Sinne von Schußwaffen (Max Black) 2 2 , sonDies ist auch wesentlich für die Frage nach dem „Sinn der Welt" (vgl. unten). 22 So etwa Black: „The point of the simile is that an arrow is aimed at something: we might say, that a proposition has a target, the fact it represents, and might count the proposition as reaching it if true and missing if false. T h e analogy bre21
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dem - wie ihre Gegenüberstellung mit Punkten zeigt - im Sinne von Koordinaten, die einen Raum von möglichen Sachverhalten aufspannen.
1.7 Die allgemeine Satzform Die Parallele zwischen Sprache und Welt, die Wittgenstein im Tractatus zieht, mündet in die Behauptung, daß es möglich sei, die allgemeinste Satzform anzugeben. Damit ist nicht die allgemeinste Form von Sätzen einer natürlichen Sprache oder einer idealen Sprache gemeint, sondern die allgemeinste Form von Sätzen jeder beliebigen Sprache, da die bisherigen Entwicklungen im Tractatus von Sprache im allgemeinsten Sinn, d. h. ihren notwendigen, a priori vorhersagbaren Bedingungen, handelten. Der Satz 4.5, in dem Wittgenstein diesen Gedanken darstellt, enthält die zunächst etwas enttäuschende Behauptung: „4.5 [...] Die allgemeine Form des Satzes ist: Es verhält sich so und so." Der alltagssprachliche Ausdruck drückt jedoch korrekt die Form jeder möglichen Sachlage aus: „es verhält sich" ist nur eine andere Formulierung für den „Sachverhalt", während durch „so und so" eine Konjunktion von Sachlagen angedeutet wird.23 Nach entsprechenden terminologischen Vorbereitungen gibt Wittgenstein im Satz 6 die allgemeine Form der WahrheitsN (i;)] (im funktion, bzw. des Satzes mit dem Ausdruck \p, folgenden AF) wieder. AF kann wegen der Substituierbarkeitsregel mit „es verhält sich so und so" übersetzt werden, „es verhält sich so und so" ist demnach auch die allgemeine Form der Wahrheitsfunktion. aks down, however: a misfired arrow fails to hit a target, but a false proposition has no fact that it fails to reach." (1964, S. 106.) 2 ! Nicht aber eine Konjunktion von Sichverbalten oder möglichen Tatsachen. Nach der allgemeinen Form des Satzes (Satz 6) und der Standarddeutung des N Operators kann ein Satz als Negation einer Adjunktion und damit als Konjunktion von Negationen aufgefaßt werden. Diese Negationen sind natürlich im allgemeinen komplexe Sätze, die daher selbst (komplexe) Sachlagen ausdrücken. Nebenbei bemerkt, nimmt Wittgenstein z. B. in den Philosophischen Untersuchungen § 95 auf die „so und so"-Form Bezug, während in § 134 die „so oder so u Form zitiert wird. Letztere entspricht der zur Standarddeutung des N-Operators dualen Deutung, und damit derselben allgemeinen Form; vgl. Varga von Kibed (1990).
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Dies ist nun nicht weiter überraschend: Da der Satz ja gerade dadurch definiert ist, daß er einen Sinn ausdrückt, d. h. eine mögliche Sachlage durch die Identität seiner Form mit der Form der möglichen Sachlage abbildet, muß die allgemeine Form jedes Satzes der allgemeinen Form jeder möglichen Sachlage entsprechen. Da die Sachlage nun ihrerseits als Kombination von Wahrheitsmöglichkeiten, d. h. als Kombination von Kombinationen von bestehenden und nicht bestehenden Sachverhalten definiert ist, und der Satz als Wahrheitsfunktion der Elementarsätze, kann die allgemeine Form der Wahrheitsfunktion eben durch „es verhält sich so und so" wiedergegeben werden. Genauer wäre jedoch die Angabe aller möglichen Formen von Kombinationen von Elementarsätzen zu komplexen Sätzen und demgemäß von Sachverhalten zu Sachlagen. Eine solche Angabe ist möglich, da wir ja bereits wissen, wieviele solche Möglichkeiten es gibt G2") und wie sie beschrieben werden können (nämlich durch systematische Variation der Wahrheitswerte der Elementarsätze des ganzen Satzes). Dabei ist wohlgemerkt gleichgültig, welche oder wieviele Elementarsätze es gibt. Wittgenstein schreibt daher: „4.5 [...] Angenommen, mir wären alle Elementarsätze gegeben: Dann läßt sich einfach fragen: Welche Sätze kann ich aus ihnen bilden? Und das sind alle Sätze und so sind sie begrenzt." „4.51 Die Sätze sind alles, was aus der Gesamtheit aller Elementarsätze folgt (natürlich auch daraus, daß es die Gesamtheit aller ist). [...]" Dabei ist nun im Sinne der Tractatus-Thzone. wesentlich, daß die (analysierten) Sätze dieselbe logische Form, wie die abgebildeten Sachlagen aufweisen müssen. Dies ist eine strikte und meist übersehene Forderung des Tractatzis-Systems, die aus der ganzen Entwicklung der Tractatus-S'itze zwingend hervorgeht. Sie verlangt insbesondere, daß die allgemeine Satzform und die allgemeine Form möglicher Sachlagen dieselbe logische Mannigfaltigkeit besitzen (vgl. 4.04), daß also in der allgemeinen Satzform nicht Elemente auftauchen, denen in der Welt nichts entspricht. Die „Logik der Tatsachen" muß für die Logik der Sprache ausreichen, da ja Sätze nur dadurch abbilden, daß sie Namen als Vertreter für Gegenstände in bestimmte, die Logik der Tatsachen spiegelnde, Konfigurationen setzen.
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In der bisher entwickelten Struktur der Welt finden sich Gegenstände, die ihre Substanz bilden, voneinander unabhängige Sachverhalte, die Verbindungen von Gegenständen darstellen und die bestehen oder nicht bestehen können (wobei die bestehenden die nichtbestehenden bestimmen), sowie mögliche Tatsachen, die „Mengen" solcher bestehender und nichtbestehender Sachverhalte darstellen, und Sachlagen als Zusammenstellungen 24 möglicher Tatsachen. Die Möglichkeiten der Kombination von Sachverhalten zu Sachlagen bilden den logischen Raum, der seinerseits die Grenze des Möglichen, Denkbaren darstellt25Die Erläuterung von AF als allgemeine Form des Satzes setzt eine ganze Reihe von Tractaizii-Begriffen voraus, die hier nicht im Detail dargestellt werden können. Dazu gehören der Begriff der Variable, der Formenreihe und der Operation. AF selbst ist eine Variable, deren Werte alle möglichen Sätze sind. Wie alle Variablen charakterisiert sie eine Form (eben die allgemeine Satzform), die sich in der Variablen zeigt (vgl. 4.1271). AF stellt aber gleichzeitig, wie 5.2522 ausfuhrt, das allgemeine Glied einer Formenreihe dar, wobei p die (Gesamtheit der) Anfangsglieder der Reihe kennzeichnet, ein beliebiges Glied und N ( f ) das Glied der Reihe, das auf E ' , unmittelbar folgt. Das allgemeine Glied der Formenreihe ersetzt die Auflistung ihrer Glieder. Die Formenreihe ist hier die Reihe der möglichen Satzformen, die sämtlich Resultate der Wahrheitsoperationen mit Elementarsätzen sind, „p" drückt das Anfangsglied der Reihe aus, die Klasse aller Elementarsätze. X ist eine Variable, deren Werte Sätze oder Elementarsätze sind, wobei die Reihenfolge ebenso wie die Beschreibungsart der Sätze für die allgemeine Satzform unwesentlich ist; der Strich über der Variablen deutet an, daß sie alle ihre Werte vertritt (ist also eine Art Lambda-Operator). ,,N(|)" bezeichnet schließlich die Wahrheitsoperation, durch die aus Elementarsätzen (oder Wahrheits-14 Die ich oben nicht ganz tractarianisch als (adjunktiv oder konjunktiv zu deutende) Mengen rekonstruiert hatte. 25 Nicht aber des durch Sätze Zeigbaren: Gerade die Tatsache, daß wir sinnlose Sätze bilden und ihre Sinnlosigkeit erkennen können, ist unsere einzige M ö g lichkeit überhaupt, auf die Grenze dés Denkbaren zu stoßen. Daher schreibt Wittgenstein im Vorwort, daß die Grenze des Denkbaren nur in der Sprache gezogen werden kann.
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funktionell) Wahrheitsfunktionen entstehen. Die Wahrheitsoperation besteht in der simultanen Negation aller Werte der Satzvariablen %.26 Die Art, wie Wittgenstein mit der Wahrheitsoperation N sämtliche möglichen komplexen Sätze erzeugen, d. h. alle möglichen Sachlagen ausdrücken will, ist bekannt. Existenzquantifikation gewinnt Wittgenstein durch Einsetzung von fx in N(f), was einen Satz der Form ->fa A -ifb A->fc ... (d. h. ->3x(fx)) ergibt. 27 Es wäre jedoch irreführend, wegen des konjunktiven Ergebnisses der Wahrheitsoperation diese, wie in der Literatur üblich, als Peirce-Pfeil zu deuten. Wittgenstein sagt ausdrücklich: „4.0312 [...] Mein Grundgedanke ist, daß die ,logischen Konstanten' nicht vertreten. Daß sich die Logik der Tatsachen nicht vertreten läßt." Und in „5.42 [...] Die Möglichkeit des kreuzweisen Definierens der logischen ,Urzeichen' Freges und Russells zeigt schon, daß diese keine Urzeichen sind, und schon erst recht, daß sie keine Relationen bezeichnen." N als Peirce-Pfeil aufgefaßt wäre kein Urzeichen, da durch andere Zeichen definierbar - ein zufälliger, keineswegs notwendiger, künstlich in die Logik eingeführter Behelf. Die wirklichen Urzeichen sind, wie Wittgenstein in 5.46 ausdrückt, „nicht die ,pvq', ,(3x)fx' etc. (...), sondern die allgemeinsten Formen ihrer Kombinationen", wie sie durch AF ausgedrückt werden. Man könnte sogar sagen, daß AF eine Art von Weltformel darstellt, nämlich die Form der Welt über die Form der Sprache, die ja durch die Gesamtheit der Sätze gegeben ist: „5.4711 Das Wesen des Satzes angeben, heißt, das Wesen aller Beschreibung angeben, also das Wesen der Welt." 27 E s ist öfter behauptet worden, daß der N-Operator nicht zur Erzeugung aller möglichen logischen Formen von Sätzen ausreicht (vgl. Fogelin 1976 und die darin angesprochene Diskussion mit Geach und Soames). Dabei wird der N-Operator aber in der Regel als Wahrheitsfunktion, nicht als Operation betrachtet und wesentliche Forderungen des Tractatus-Systtms werden vernachlässigt. „Rekonstruktionen" der Logik des Tractatus beachten vor allem meist nicht den „transzendentalen Charakter" des Systems: Wittgenstein hat ja nicht etwa vor, innerhalb der Sprache ein logisches System zu konstruieren, sondern die logischen Eigenschaften, die allen möglichen Systemen gemeinsam sein müssen, zu zeigen. Für eine Diskussion der Vorwürfe Fogelins u. a. und einen Lösungsvorschlag im Sinne des Tractatus vgl. Varga von Kibeds Beitrag in diesem Band. 26
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N ist daher keine Wahrheitsfunktion, sondern ein Mittel zur Erzeugung von Wahrheitsfunktionen, d. h. eben eine Operation 2 8 , und wird deshalb in 6.001 als bezeichnet. 29 Inwiefern besitzen nun A F und die allgemeine mögliche Sachlage dieselbe Mannigfaltigkeit bzw. dieselbe Form? Zunächst ist klar, daß den Elementarsätzen die Sachverhalte und den Sätzen bzw. Wahrheitsfunktionen die Sachlagen entsprechen. Mögliche Tatsachen werden zu Sachlagen kombiniert. Der Strich über dem p und § in A F wählt bestimmte Mengen von Sachverhalten oder Sachlagen aus - dies entspricht der Tatsache, daß eine Sachlage einen bestimmten Bereich aus der Welt 3 0 positiv ausgrenzt. Der N-Operator macht Gebrauch von der Tatsache, daß der logische Raum mögliche, d. h. bestehende und nichtbestehende, Sachverhalte und Sachlagen enthält. Eine mögliche Sachlage stellt einen Spielraum dar, innerhalb dessen Tatsachen bestehen können. Sätze legen solche Spielräume fest (4.463). Ein Spielraum läßt sich sowohl „von innen", als auch „von außen" beschreiben. Der N-Operator spiegelt die Polarität, indem er alle Möglichkeiten, Bereiche innerhalb des logischen Raumes auszugrenzen, darzustellen erlaubt. Da vorausgesetzt ist, daß alle Elementarsätze gegeben sind, beschreibt N(i|) in gewissem Sinn das Negativ des Bildes, das durch § gegeben ist. Durch N wird also nichts eingeführt, das nicht bereits in der Logik der Tatsachen gegeben wäre (Tatsachen sind ja selbst Ausgrenzungen im logischen Raum). Die allgemeine Satzform besitzt damit offenbar dieselbe logische Mannigfaltigkeit, wie die allgemeine Form einer möglichen Sachlage. Wieder zeigt sich der Grundgedanke des Tractatus, daß die logischen Konstanten nichts vertreten.
1.8 Zur Anwendung der Definition Die eingangs aufgestellte These, der Tractatus lasse sich als System von aufeinander aufgebauten Definitionen lesen, läßt sich Daher schreibt Wittgenstein in 5.25 ausdrücklich: „Operation und Funktion dürfen nicht miteinander verwechselt werden." 2 0 Weshalb diese Stelle auch nicht, wie in manchen Tractattis-Ausgaben, in N ( § ) „korrigiert" werden darf. 50 Relativ zu verschiedenen Wirklichkeiten, den Wahrheitsmöglichkeiten. 28
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noch an weiteren Vorkommen des Ausdrucks „Sinn" demonstrieren. Wittgenstein verwendet den Ausdruck an nahezu allen Stellen definitionsgemäß - mit Ausnahme einiger Fälle, in denen er den (auch hier) kaum vermeidbaren Ausdruck „im Sinne von" gebraucht. So ist etwa der Ausdruck „sinnvoll" zu übersetzen als „drückt eine mögliche Sachlage aus", „sinnlos" und „unsinnig" dagegen als „drückt keine mögliche Sachlage aus".31 Sinnlose und unsinnige Sätze unterscheiden sich dadurch, daß erstere keine Verstöße gegen die Logik der Tatsachen, sondern lediglich deren Grenzfälle (die Tautologien und Kontradiktionen) darstellen, während letztere jenseits der Möglichkeit von Sinn stehen. Tautologien und Kontradiktionen sind in einem besonderen Sinne sinnlos, da sie jede, bzw. keine mögliche Sachlage darstellen, während unsinnige Sätze überhaupt keine logisch möglichen Kombinationen von Gegenstandsverbindungen zulassen. Also sind alle Sätze, die sich nicht - wenigstens potentiell - in Wahrheitsfunktionen von Verbindungen von einfachen Namen auflösen lassen, unsinnig. Eine Klasse solcher Sätze läßt sich nun von vornherein ausgrenzen: Es sind Sätze, die nicht von Gegenständen, sondern von Formen (etwa den Formen der Sachverhalte oder der Sätze) handeln. Sie bilden im strengen Sinn der Definition keine möglichen Sachlagen ab. Zwar enthalten sie scheinbar Namen; diese „bezeichnen" jedoch keine einfachen Gegenstände, sondern Formen und sind deshalb keine echten Namen im Sinne des Tractatus. Formen können eben nicht benannt, sondern nur dadurch gezeigt werden, daß Namen für Gegenstände in entsprechende formale Konfigurationen gesetzt werden. Da die Sätze des Tractatus durchweg von Formen handeln, folgt daraus zwingend, daß sie unsinnig sind, wie Wittgenstein in 6.54 erwähnt. Alle Sätze, die das „Wesen" von etwas betreffen, sind ebenso unsinnig, da Wittgenstein Wesen als Form begreift; insbesondere gilt dies für die meisten Sätze der Philosophie (4.003). Der Skeptizismus bezweifelt offenbar unsinnige, metaphysische Sätze (Sätze über die Form der Welt, die keine mögliche Sachlage ausdrücken) und ist deshalb ebenfalls unsinnig(6.51). Jl Vgl. dazu 4.461, 4.4611, 4.462. Alle drei Ausdrücke gelten definitionsgemäß nur für Sätze, selbst in Fällen, in denen Wittgenstein allgemeiner vom Sinn eines Zeichens zu sprechen scheint
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Eine weitere Klasse von Sätzen, die a priori als unsinnig erkannt werden können, sind die ethischen Sätze, in denen mögliche Sachlagen moralisch bewertet werden. Sie sind nicht in Wahrheitsfunktionen von Namen für einfache Gegenstände auflösbar, denn die absoluten ethischen Werte können keine einfachen Gegenstände in der Welt sein. Ethische Aussagen würden bei der Analyse daher in bloße Beschreibungen von möglichen Sachlagen übergehen und damit ihren gemeinten „Sinn" verlieren.32 Das Ethische kann deshalb, wie Wittgenstein in einem Brief an Ficker schreibt, streng nur „von Innen her begrenzt" werden (BW, S. 96), und zwar dadurch, daß (in den Naturwissenschaften) alles Sagbare gesagt wird, d. h. alle möglichen Sachlagen beschrieben werden. Das Ethische ist dann genau das Unsagbare, das sich in der Form der Sätze zeigt: „Ethik und Ästhetik sind eins." (6.422) Ebenso wie die Unaussprechlichkeit der Ethik eine notwendige Folgerung des Tractaiz/j-Systems aus der Definition von Sinn ist, lassen sich auch Wittgensteins Aussagen über Psychologie, Solipsismus, Kausalität u. a. als konsequente Anwendungen der Definitionen erweisen. Bei diesem Weiterdenken seiner logischen Einsichten in die traditionellen Gebiete der Philosophie hinein entstand für Wittgenstein wohl der Eindruck, „daß alles kristallklar ist", gleichzeitig mit der Vermutung, „daß niemand es verstehen wird". Denn die Rechtfertigung seiner philosophischen Thesen ergibt sich in der Tat nur aus dem System von Definitionen, das sich am Ende durch die Erkenntnis seiner formalen Natur und damit seiner Unsinnigkeit selbst aufhebt. Die Definition des Sinnbegriffs stößt erst dann an ihre Grenzen, wenn es Wittgenstein um den Sinn der Welt als Ganzes geht. In 6.41 heißt es folgerichtig: „Der Sinn der Welt muß außerhalb ihrer liegen ...", denn auch der Sinn der Sätze liegt außerhalb ihrer selbst. Wenn die Welt einen Sinn hat, würde also folgen, daß es eine mögliche Sachlage außerhalb der Welt gibt - die „Welt" ist aber schon als Gesamtheit der Sachlagen Wittgenstein argumentiert genau in diesem Sinn, wenn er in seinem späteren Vortrag über Ethik schreibt, „daß nicht nur keine erdenkliche Beschreibung imstande wäre, zu schildern , was ich unter absolutem Wert verstehe, sondern daß ich jede sinnvolle Beschreibung, die überhaupt jemand möglicherweise vorschlagen könnte, von vornherein und eben aufgrund ihrer Sinnhaftigkeit ablehnen würde." (VE, S. 18.)
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definiert. Andererseits weist aber der Tractatus nach, daß die W e l t durch eine logische Form bestimmt ist, die ebenso wie die Form der Sätze auf einen Sinn hindeutet. Man könnte also sagen, daß die Frage nach dem Sinn der W e l t mißverständlich ist, da sie dazu verleitet, eine mögliche Sachlage außerhalb der W e l t zu suchen, wir aber andererseits alle möglichen Sachlagen innerhalb der W e l t verorten. W e n n jedoch die W e l t einen Sinn außerhalb ihrer selbst hat, kann dieser nicht in einer möglichen Sachlage bestehen und wird daher durch den innertractarianischen Sinnbegriff nicht erfaßt. Er ist nur zugänglich durch „das mystische Gefühl", die Betrachtung der W e l t sub specie aetemi als „begrenztes Ganzes" (6.43), als logische Form, die auf etwas Unbestimmbares außerhalb ihrer selbst verweist.
Literatur Anscombe, G. E. M. (1959): An Introduction to Wittgenstein's Tractatus, London. Black, Max (1964): A Companion to Wittgenstein's .Tractatus', Cambridge. Bogen, James (1972): Wittgenstein's Philosophy of Language. Some Aspects of its Development, London. Copi, Irving M., Beard, Robert W. (Hrsg.) (1966): Essays on Wittgenstein's Tractatus, London. Finch, H. Le Roy (1971): Wittgenstein, the Early Philosophy, New York. Fogelin, R.J. (1976): Wittgenstein, London 21987. Hacker, P. M. S. (1972): Insight and Illusion. Wittgenstein on Philosophy and the Metaphysics of Experience, Oxford (dt. Ausgabe: Einsicht und Täuschung, Frankfurt/M. 1978). Kenny, Anthony (1976): Wittgenstein, London. Mayer, Verena (1993): „The Numbering System of the Tractatus", in: Ratio 6. Scheier, Claus-Artur (1991): Wittgensteins Kristall, ein Satzkommentar zur „Logisch-philosophischen Abhandlung", Freiburg und München. Stenius, Erik (1969): Wittgenstein's Traktat, eine kritische Darlegung seiner Hauptgedanken, übers, von Wilhelm Bader, Frankfurt/M. Varga von Kibed, Matthias (1990): „Zur formalen Rekonstruktion der allgemeinen Wahrheitsfunktion in Wittgensteins Tractatus", in: R. Haller und J. Brandl (Hrsg.), Wittgenstein - eine Neubewertung. Akten des 14. Internationalen Wittgenstein-Symposiums in Kirchberg 1989, Wien, S. 28-34. Varga von Kibed, Matthias (1993): „Variablen im Tractatus", in: Erkenntnis 39, S. 79-100.
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Sagen und Zeigen Wittgensteins „Hauptproblem"
2.1 Das „Hauptproblem" - entdeckt oder erfunden? Die Unterscheidung von Sagen und Zeigen nennt Wittgenstein in einem Brief an Russell das „Hauptproblem der Philosophie" (BW, S. 88).' Dies überrascht, weil dieses Problem weder auf Anhieb als solches erkennbar ist, noch bisher unter dem Titel ,Sagen und Zeigen' bekannt war. Nehmen wir an, es sei tatsächlich ein besonders wichtiges Problem und Wittgenstein habe es entdeckt, dann gab es dieses Problem schon vor seiner Entdeckung, aber nicht unter diesem Titel. Oder, es existierte nicht und entstand aktuell aus dem, was Wittgenstein in jener Phase seiner Entwicklung dachte. Dann ist das Problem von Wittgenstein erfunden oder konstruiert worden. In diesem Fall wäre das ,Hauptproblem' nur relativ zu seinem Erfinder zu verstehen. In gewisser Weise schließen sich diese scheinbar unvereinbaren Alternativen nicht aus. Tatsächlich existierte das Problem vor Wittgenstein. Er hat es also entdeckt, und zwar bei Russell, dem Adressaten seines Briefes. Es fehlte lediglich die Perspektive, unter der das Problem als solches hätte erkennbar werden können. Und diese Perspektive hat Wittgenstein erfunden, nicht entdeckt. Er konnte das ,Hauptproblem' nur aufgrund von Russells Typentheorie entdecken. Ein Problem konnte daraus aber nur werden, weil Wittgenstein im Tractatus der Logik völlige Autonomie und einen Vorrang vor der Sprache einräumt. Nur 1 Den Brief an Russell schrieb Wittgenstein am 19. 8. 1919 im Gefangenenlager von Montecassino.
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aufgrund dieses Vorrangs kann das Sagen in eine Abhängigkeit vom Zeigen geraten. Aber nur, wenn es diese Abhängigkeit gibt, ist das Problem als ganzes eine Entdeckung, ansonsten nur eine Erfindung, wie interessant sie auch sein mag. 2 Wittgenstein hat ,Sagen und Zeigen' nur einmal, in dem erwähnten Brief an Russell, als „Hauptproblem der Philosophie" bezeichnet. Dies ist ein weiterer Grund, den Stellenwert des Problems genau zu prüfen.
2.1.1 Was ist das Problem? Das Problem, um das es geht, ist nicht auf den ersten Blick klar. Sagen und Zeigen unterscheiden sich als Äußerungsweisen ihrer denotativen Funktion nach nicht wesentlich voneinander. Wir können mit und ohne sprachliche Hilfsmittel auf etwas Bezug nehmen und es deskriptiv oder ostensiv bezeichnen. Dabei kann das, was wir sagen, dasselbe bedeuten wie das, worauf wir zeigen. Auch die Gegenstände der Bezugnahme, beliebige Ereignisse, aber auch Kunstwerke, können etwas sagen und dasselbe gleichzeitig zeigen. Dies ist immer dann der Fall, wenn es sich um augenfällige Beispiele, um Exemplifikationen eines besonderen Charakters handelt, die auf nichts anderes Bezug nehmen als sich selbst. Ein Bankeinbruch kann in seiner besonderen Art ebenso etwas sagen und gleichzeitig zeigen wie eine Skulptur. Sagen und Zeigen können sich in solchen Fällen ohne Bedeutungsverlust wechselseitig ersetzen, weil es sich um eine innersprachliche Unterscheidung handelt. Wittgensteins Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen schließt diese wechselseitige Ersetzbarkeit aber gerade aus. Es kann sich bei ihm daher auch um keine innersprachliche Unterscheidung handeln. U m welches Problem geht es ihm eigentlich? Es geht darum, „was durch Sätze - d. h. durch Sprache - gesagt (und, was auf dasselbe hinausläuft, gedacht) und was nicht durch Sätze ausgedrückt, sondern nur gezeigt werden kann" (BW, S. 88). Dieses Zeigen ist offenbar weder durch Sagen noch durch andere Arten deskriptiver oder ostensiver Bezugnahme ersetzbar. Die sprachlichen Mittel, die dabei verwendet werden, zeigen allein nichts. 2
Hinter dieser Alternative steckt ein realistisches Vorurteil, das Wittgenstein allerdings geteilt hätte. Es nimmt die Entdeckung ernster als die Konstruktion.
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Das Problem ist kein sprachphilosophisches, sondern ein logisches. Wittgenstein gibt in dem erwähnten Brief an Russell eine Lösung des Problems an, die wir im Tractatus wiederfinden. Die Lösung ist eine Art deontisches Prinzip des Zeichengebrauchs, daß ein Symbol nämlich nur das ausdrücken darf, was es ausdrücken kann. Dasselbe gilt auch für Sätze. Wenn wir also feststellen, was Sätze oder Symbole ausdrücken oder sagen können, wissen wir auch, was sie nicht sagen können, und was wir deswegen - zumindest in philosophischer Hinsicht - mit ihnen auch nicht sagen dürfen. Wittgenstein will daraus nun aber keine äußere, logische oder philosophische Vorschrift für Symbole und Sätze machen. Man könne, sagt er, „einem Symbol nicht vorschreiben, zu welchem Ausdruck man es verwenden darf (BW, S. 89).3 Es genügt, zu erkennen, wozu es verwendet werden kann. Es hängt von den Symbolen und von den Sätzen selbst ab, was sie ausdrücken und nicht ausdrücken dürfen, und nicht von unserem Willen. Das Hauptproblem der Philosophie ist also der den Symbolen und Sätzen angemessene Gebrauch. Sagen und ausdrücken können sie nur, was ihrem Gebrauch angemessen ist. Wir fragen uns, was denn nun das Problem des Hauptproblems ist. Wenn Symbole und Sätze nur das sagen, was sie sagen können, gibt es doch kein Problem. Es entsteht erst, wenn dem nicht Rechnung getragen und mit Sätzen und Symbolen mehr gesagt wird, als sie sagen können. Dies ist genau dann der Fall, wenn mit ihnen etwas gesagt werden soll, was sich nur zeigen kann. Da der Unterschied zwischen Sagen und Zeigen nicht klar ist, sind die Nachteile, die das Problem erst zu einem machen, noch nicht erkennbar. Es ist im Gegenteil so, daß es uns zunächst schwerfällt zu verstehen, was nur gezeigt und nicht auch gesagt werden kann. Russell erinnert in dem Brief, auf den Wittgenstein antwortet, an die Typentheorie und meint, sie sei „eine Theorie über den richtigen Symbolismus" und er erläutert dies mit einer ihrer Regeln: ,,a) ein einfaches Zeichen darf nicht dazu verwendet werden, etwas Zusammengesetztes auszudrücken; b) allgemeiner gesprochen, ein Symbol muß dieselbe Struktur haben wie seine Bedeutung" (BW, S. 89).4 Genau dies, so fährt Wittgenstein in seinem J 4
Hier wird Wittgensteins realistisches Verständnis von Symbolen deutlich. Wittgenstein zitiert diese Sätze Russells in seiner Antwort.
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Brief dann fort, könne nicht gesagt werden, weil man - wie schon erwähnt - einem Symbol nicht vorschreiben könne, wozu man es verwenden dürfe. Dies klingt zunächst weniger überzeugend als das, was Russell sagt. Wenn z. B. f(a) als symbolischer Ausdruck für einen Satz wie ,Die Rose ist rot' verwendet wird, nehmen wir doch genau das an, was Russells typentheoretische Regel fordert: Der symbolische Ausdruck hat dieselbe Struktur wie jener Satz. Von etwas, in diesem Fall einer Rose, wird etwas anderes, das Rotsein, ausgesagt. Dem entspricht strukturell der Symbolgebrauch, der besagt, daß von etwas, ,a' etwas anderes, ,P, ausgesagt wird; ,f(a)' entspricht also dem ,Rotsein der Rose'. Wittgenstein behauptet nun, daß eine solche strukturelle Ubereinstimmung zwischen dem symbolischen Ausdruck und dem Satz nicht gesagt werden könne. Natürlich meint er damit nicht, daß das, was Russell sagte, nicht gesagt wurde. Er meint auch nicht, daß die Aussage ,f(a) entspricht strukturell dem >Rotsein der Rosec', falsch ist. Sie ist nur unsinnig, weil sie nicht das sagen kann, was mit ihr beabsichtigt ist. Nicht das Faktum, daß Russell etwas über den richtigen Symbolgebrauch sagt, ist nach Wittgenstein unmöglich, sondern die Aussage selbst, also das, was Russell mit ihr zum Ausdruck bringen will. Russell kann sagen, was er will, aber das ist in diesem Fall mehr als das, was er mit den dabei verwendeten Symbolen sagen kann. Die Selbigkeit der Struktur von symbolischem Ausdruck und Bedeutung könne - meint Wittgenstein - nicht gesagt werden. Im Fall unseres Beispiels würde mit einer solchen Aussage dem Symbol f(a) vorgeschrieben, wozu es gebraucht werden kann. So etwas hält Wittgenstein für unmöglich im Sinn von unsinnig. Die Selbigkeit der Struktur könne sich nur zeigen. Das ist seine Behauptung. Er macht klar, welche Gründe er für sie hat. Es ist deswegen aber noch nicht klar, was das H a u p t problem' der Philosophie tatsächlich ist. Zunächst verfolgen wir den symbolistischen Faden, den Wittgenstein zur Klärung seines Problems entwickelt. Später wenden wir uns dann dem Problem selber zu.
2.1.2 Scheinaussagen vermeiden Warum kann die Selbigkeit der Struktur von Symbolen und der Bedeutung von Sätzen nicht gesagt werden? Weil dann mit Sät-
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zen gesagt würde, was Symbole sagen und nur sie sagen können. Für das Verständnis dieses Gedankens ist eine Tagebucheintragung (29. 11. 1914) wichtig, in der Wittgenstein vorschlägt, das Gleichheitszeichen durch die Gleichheit der verwendeten Zeichen zu ersetzten (TB, S. 124). Zwischen sprachlichen und logischen Symbolen gibt es keine Gleichheit. Tatsächlich sagen Sätze das, was sie bedeuten, auf ganz andere Weise als logisch gebrauchte Symbole. Ausdrücke mit logischen Symbolen setzen sich aus formalen Begriffen zusammen, Sätze nicht. Was unter den formalen Begriff f(a) fällt, kann mit keinem Satz gesagt werden (TLP 4.126). Es muß sich im Symbolgebrauch zeigen. Es ist also unsinnig zu sagen, unter ,a' falle die Rose und unter ,f das Rotsein. Eine Variable wie ,a' ist „Zeichen eines formalen Begriffs" - und zwar des formalen Begriffs ,Gegenstand' - und damit eine konstante Form, „welche alle ihre Werte besitzen, und die als formale Eigenschaft dieser Werte aufgefaßt werden kann" (TLP 4.1271). Der Ausdruck der formalen Eigenschaft kann nur in der Begriffsschrift richtig gesagt werden. Wittgenstein will vermeiden, daß die Gegenstände eines formalen Begriffs und der formale Begriff oder der Begriff der Zahl und bestimmte Zahlen jeweils als Grundbegriffe eingeführt werden (4.12721). Solche Doppelungen will er aber nicht nur wegen Ockhams Rasiermesser vermeiden, sondern weil dabei Scheinbegriffe verwendet werden und auf diese Weise unsinnige Sätze entstehen. Ein Beispiel eines unsinnigen Satzes ist ,Es gibt Gegenstände'. Der formale Begriff ,Es gibt einen Gegenstand' wird begriffsschriftlich richtig gesagt von dem symbolischen Ausdruck ,(3x)'. Es gibt also nicht einen Gegenstand und dann noch den formalen Begriff, unter den er fällt. „Der formale Begriff ist mit einem Gegenstand, der unter ihn fällt, bereits gegeben." (4.12721) Am besten sehen wir dies an den Zahlbegriffen. Die ,1' steht als Ausdruck einer bestimmten Anzahl für sich und benötigt dafür keine Hilfe. Sie zeigt, was sie sagt. Es wäre daher unsinnig zu sagen, „1 ist eine Zahl" (4.1272). Zwischen Zahlwort und Anzahl gibt es keine Differenz, die mit einer Aussage erst überwunden werden müßte, in der das eine mit dem anderen identifiziert wird. Aussagen, die dies dennoch versuchen, wie „1 ist eine Zahl", sind unsinnig. Sie sind aber nicht harmlos, weil sie Pseudoprobleme schaffen, die tief zu sein scheinen, aber in Wirklichkeit gar nicht existieren, wie z. B. die Frage, ob es die Eins gibt, die der ,1' zugrunde liegt.
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Der Gebrauch von Scheinbegriffen, die Bildung von unsinnigen Sätzen und Scheinproblemen sind die Probleme, die entstehen, wenn wir zwischen Sagen und Zeigen nicht unterscheiden. Das Hauptproblem der Philosophie ist also - aus der tractarianischen Perspektive - die Vermeidung von Scheinbegriffen, von unsinnigen Sätzen und Scheinproblemen.
2.2 Reflexivität als Problem Die Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen ist für den frühen Wittgenstein grundlegend. Wie fundamental sie ist, können wir daran erkennen, daß die Unterscheidung nicht auf äußere Aspekte des Symbolismus beschränkt ist. Sie hat vielmehr ein logisches Fundament und außerdem semantische und metaphysische Folgen. Das logische Fundament ist die Kritik an Russells Typentheorie, die semantischen Folgen sind anhand der Grenzen zwischen sinnvollen und sinnlosen, die metaphysischen Folgen an der Grenze zwischen sinnvollen und unsinnigen Sätzen erkennbar.
2.2.1 Kritik an Russells Typentheorie Die Klarheit der Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen verdankt sich bisher dem Kontext des logischen Symbolismus. Die Vermeidung von Scheinbegriffen ist zwar eine sachhaltige philosophische Aufgabe. Es ist aber nicht eindeutig, daß diese Aufgabe nur wahrgenommen werden kann, wenn die Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen beachtet wird. Der Eindruck, daß der logisch-symbolische Charakter der Unterscheidung klarer ist als der philosophische wird noch verstärkt durch Wittgensteins symbolistische Kritik an der Typentheorie. Dennoch ist der Eindruck falsch, daß die Unterscheidung philosophisch weniger ergiebig ist als logisch-symbolisch. Wir dürfen nicht geringschätzen, daß der Unterscheidung ein starkes metaphysisches Motiv zugrundeliegt, die Unterscheidbarkeit von Sinn und Unsinn, von Wahrheit und Schein, von sinnvollen, sinnlosen und unsinnigen Sätzen. Die Kritik an der Typentheorie erschöpft sich nicht einfach in der Verurteilung eines falsch verstandenen Symbolismus. Vielmehr ist die Alternative, die
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Wittgenstein vorschlägt, lediglich die sichtbare Folge einer anderen, nämlich „transzendentalen" (TLP 6.13) Auffassung von Logik und außerdem von anderen Verhältnissen zwischen Sprache, Logik und Wirklichkeit, als Russell sie annimmt. Die Logik liegt beim frühen Wittgenstein allem zugrunde, was gesagt werden kann und wirklich ist. Das Stichwort für diese anderen Verhältnisse ist im Tractatus die logische Form. Sie gibt diesen Verhältnissen einen stabilen gemeinsamen Nenner. Ich wies anfangs darauf hin, daß Wittgenstein in Russells Typentheorie sein „Hauptproblem" entdeckte, es aber nur entdecken konnte, weil er die Perspektive erfand, unter der die Typentheorie das Problem enthält. Es ist deswegen nötig, die Kritik Wittgensteins an der Typentheorie so zu rekonstruieren, daß der Perspektivenwechsel deutlich wird. Der Perspektivenwechsel, den die Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen voraussetzt, ist in einem Wort die ,Autonomie der Logik'. Der Gedanke der Autonomie und der mit ihm verbundene Wechsel der Perspektive entstehen in der Kritik an der Typentheorie. Wie dies zu verstehen ist, zeigen die folgenden Paragraphen des Tractatus (3.33-3.332): „3.33 In der logischen Syntax darf nie die Bedeutung eines Zeichens eine Rolle spielen; sie muß sich aufstellen lassen, ohne daß dabei von der Bedeutung eines Zeichens die Rede wäre, sie darf nur die Beschreibung der Ausdrücke voraussetzen." „3.331 Von dieser Bemerkung sehen wir in Russells ,Theory of Types' hinüber: Der Irrtum Russells zeigt sich darin, daß er bei der Aufstellung der Zeichenregeln von der Bedeutung der Zeichen reden mußte." „3.332 Kein Satz kann etwas über sich selbst aussagen, weil das Satzzeichen nicht in sich selbst enthalten sein kann, (das ist die ganze ,Theory of types')." Der Symbolismus muß von selber, ohne fremde Hilfe, autonom zeigen, was er besagt. Denn es geht um Grundlagen, und weil es darum geht, darf es unterhalb oder vor diesen Grundlagen nicht noch etwas anderes geben, was dem Symbolismus Bedeutung gibt. Wir können also nicht sagen, was der Symbolismus bedeutet. Er muß semantisch unabhängig sein. Wir können aufgrund dieser Unabhängigkeit auch nicht die Bedingungen angeben, unter denen die logische Syntax gebraucht wird. Der Symbolismus muß also auch pragmatisch unabhängig sein. Die
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Logik muß für sich selber sorgen, nicht nur syntaktisch, sondern eben auch semantisch und pragmatisch. Syntaktische Regeln „müssen sich von selbst verstehen" (TLP 3.334). Eine reflexive Grundstruktur gibt es bei den logischen Grundlagen nicht. Die logischen Grundlagen sind rein spontan, nicht reflexiv. Wittgenstein schlägt Russell mit dessen eigenen Mitteln. Russells Reflexionsverbot, besser gesagt das Gebot, Reflexivität zu verhindern, ein Grundanspruch der Typentheorie, würde mißachtet, wenn wir den logischen Grundlagen selbst Bedeutungen verleihen würden. Nüchtern weist Wittgenstein darauf hin, was die Typentheorie sagt, daß das Satzzeichen sich nicht selbst enthalten kann; und deswegen kann ein Satz auch nichts über sich selbst aussagen. Da Sätze für Wittgenstein Tatsachen sind, bedeutet dies, daß sich Tatsachen nicht selbst enthalten können. Wenn sich Russell also nur selbst an seine Einsicht hielte, die er aus dem Nachweis der Antinomie von Freges System zog, könnte er seine Typentheorie gar nicht vertreten. Er müßte vielmehr klar zwischen dem, was man sagen und dem, was man zeigen kann, unterscheiden. Tatsächlich löst sich, wenn der Unterschied zwischen Sagen und Zeigen beachtet wird, auch Russells Antinomie 5 auf. Vergegenwärtigen wir uns, worum es in dieser Antinomie geht. Russells Vorwurf an Frege ist, er habe bei seiner Definition des Zahlbegriffs einen Begriff verwendet, der Widersprüche zulasse. Es lasse sich der Begriff,Klasse der Klassen, die sich selbst enthalten' ebenso bilden wie der hoffnungslos widersprüchliche Begriff .Klasse der Klassen, die sich nicht selbst enthalten'. Nun argumentiert Wittgenstein, eben diese Möglichkeit eines widersprüchlichen Begriffs erledige sich von selbst, wenn seine Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen beachtet werde. Er nimmt auf diese Unterscheidung keinen wörtlichen Bezug, verwendet sie aber. Da diese Argumentation im Tractatus nicht leicht nachzuvollziehen ist, schauen wir uns den ganzen Wortlaut an: „3.333 Eine Funktion kann darum nicht ihr eigenes Argument sein, weil das Funktionszeichen bereits das Urbild seines Arguments enthält und es sich selbst nicht enthalten kann. 5 Russells Antinomie-Vorwurf richtet sich gegen Freges System. Am besten zugänglich ist der Vorwurf und Freges Entgegnung in: van Heijenoort 1967, S. 126-128.
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Nehmen wir nämlich an, die Funktion F(fx) könnte ihr eigenes Argument sein; dann gäbe es also einen Satz: ,F(F(fx))' und in diesem müssen die äußere Funktion F und die innere Funktion F verschiedene Bedeutungen haben, denn die innere hat die Form cp(fx), die äußere die Form ty(cp(fx)). Gemeinsam ist beiden Funktionen nur der Buchstabe ,F', der aber allein nichts bezeichnet. Dies wird sofort klar, wenn wir statt ,F(Fu)' schreiben ,(3cp) : F(cpu).cpu = Fu'. Hiermit erledigt sich Russells Paradox." Um klar zu machen, daß eine Funktion nicht ihr eigenes Argument sein kann, daß sich eine Funktion also nicht auf sich selbst beziehen kann, schreibt Wittgenstein den Funktionsausdruck so auf, daß der Eindruck der Selbstreferenz gar nicht entstehen kann. Er notiert, in ausführlichere Form gebracht: für ein cp gelte folgendes: F sei eine Funktion mit dem Argument cpu und dieses Argument sei gleichbedeutend mit Fu. Auf diese Weise sieht man, d. h. versteht man, durch bloßes Hinsehen, daß es sich um keinen Ausdruck handelt, in dem sich etwas auf sich selbst bezieht. Eine Selbstreferenz wie sie uns im Klassenbegriff begegnet, kann es für Wittgenstein daher nicht geben. Deswegen erledigt sich Russells Paradox von selbst. Wir fragen uns vielleicht, was dies mit dem Unterschied zwischen Sagen und Zeigen zu tun habe. Wir dürfen einen Ausdruck wie F(F(u)) nicht so verstehen, als sage er etwas über sich selbst aus. Wir dürfen ihn nur so verstehen, wie sich der Ausdruck symbolisch zeigt. Dem Symbolismus dürfen wir dabei keine Bedeutung neben dem, was er zeigt, zumessen. Wenn wir meinen, F bedeute im Ausdruck F(F(u)) beide Male dasselbe, geben wir dem F eine Bedeutung, die der Ausdruck nicht zeigt. Im Tractatus erkennen wir, wie nahe Wittgenstein Frege in Fragen des Symbolismus ist. Er ist sich mit Frege ganz einig, daß der Symbolismus für sich sprechen muß, und zwar ohne erklärende Krücken oder Hilfen (vgl. TLP 5.451 und 5.452). Und Wittgenstein verfolgt wie Frege das Ziel apriorischer systematischer Geschlossenheit der Logik. Allerdings mit gänzlich anderer Konsequenz. In einer der wenigen Passagen, die den Tractatus positiv in die Kontinuität der philosophischen Logik stellen, heißt es (5.4541):
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„Die Menschen haben immer geahnt, daß es ein Gebiet von Fragen geben müsse, deren Antworten - a priori - symmetrisch, und zu einem abgeschlossenen, regelmäßigen Gebilde vereint liegen." Die Logik soll keine Hierarchien von Allgemeinerem und Speziellerem und keine Klassifikationen kennen (TLP 5.454). Es gibt keine explizite, aussagbare, inhaltlich darstellbare Struktur der Logik. Die Geschlossenheit der logischen Lösungen kann nicht selbst Gegenstand der logischen Darstellung sein. Deswegen können wir die Abgeschlossenheit jenes apriorischen symmetrischen Gebildes nur vermuten, aber nicht vorführen. Eben hierin unterscheidet sich Wittgenstein von Frege. Letzterer glaubte an die Vorfiihrbarkeit der Geschlossenheit. Wittgenstein dagegen nicht. Deswegen gibt es keine Antinomie ä la Frege bei Wittgenstein. Wittgensteins Kritik an der Typentheorie findet also in der Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen ihren prägnanten Ausdruck. Die Unterscheidung zeigt, daß das Verhältnis dessen, was man zeigen, zu dem, was man sagen kann, nicht reflexiv sein darf. Deswegen kann das, was sich symbolisch zeigt oder gezeigt werden kann, nicht gesagt werden. Die Typentheorie mißachtet diese Trennung und will etwas über das sagen, was der Symbolismus tut. Sie unterstellt und unterschiebt dem Symbolismus eine Bedeutung, die er nicht haben kann, weil sie sich nicht in der Symbolverwendung zeigt.
2.2.2 Metaphysik der Abbildung Trotz der nun hinreichend klaren Gründe für die Nicht-Reflexivität des Abbildungsverhältnisses liegt die Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen nicht auf der Hand. Es genügt einfach nicht, auf die Nicht-Reflexivität von Sagen und Zeigen im Symbolismus hinzuweisen. Denn die Nicht-Reflexivität ist lediglich eine Erscheinungsweise, ein Symptom der Unterscheidung, aber keine philosophisch befriedigende Begründung. Einer solchen Begründung näher kommen wir über Wittgensteins Verständnis der Satzform. Denn ein philosophisches Grundmotiv der Unterscheidung von Sagen und Zeigen ist die Vermeidung von Scheinsätzen, von Sätzen, die nur scheinbar etwas sagen, z. B. alle Sätze über die Logik. 6
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Die auf der Hand liegende Sache, um die es bei der Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen geht, ist das Abbilden. Eis geht also um das Verhältnis zwischen Bild und Abbild. Der Gedanke ist, daß beim Abbilden, also in Sätzen, das, was die Abbildung ermöglicht, das Zugrundliegende - die logische Form und die Wirklichkeit - nicht selbst abgebildet, also nicht gesagt werden kann. Die Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen ist nötig, um die Welt vollständig und wahr zu beschreiben. Eben dieser Anspruch einer vollständigen und wahren Weltbeschreibung kann nicht durch Sagen eingelöst werden. Jeder Satz müsse ein vollständiges Bild der Wirklichkeit sein, fordert Wittgenstein. Er stellt aber gleichzeitig fest, daß diese Vollständigkeit nicht gesagt werden kann, sondern sich zeigen muß (TB, S. 154). Daß es möglich ist, die Welt zu beschreiben, liegt also jenseits des Sagbaren. Damit rückt das Grenzproblem in den Vordergrund, das mit der Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen verbunden ist. Es hat einen metaphysischen Charakter. Gleichzeitig enthält es ein Motiv für die Unterscheidung, die selbst nur ,metaphysisch' 7 genannt werden kann. Es gibt noch ein weiteres Motiv dieser Art. Denn die Unterscheidung grenzt mit dem Zeigen vom Sagen auch das Unsagbare und Undenkbare vom Sagbaren ab. Deswegen sagt Wittgenstein dann auch, daß sich das Mystische 8 zeige. Das Mystische gehört in dieselbe Domäne wie die Logik, zum Bereich des Unsagbaren.
2.3 Zeigen Was das Zeigen im Unterschied zum Sagen kennzeichnet, ist an Beispielen leicht erkennbar. Daß eine Person z. B. moralisch gut ist, kann zwar gesagt werden; aber auch die wiederholte Bejahung oder Verneinung ändert nichts daran, daß sie es 6
Sätze, die scheinbar etwas sagen, sind nicht zu verwechseln mit Sätzen, die nichts sagen. Sätze über die Logik sagen scheinbar etwas, sind aber sinnlos, weil solche Sätze außerhalb der Welt formuliert werden müßten; während Sätze der Logik etwas sagen, nämlich nichts: T L P „5.43 [...] Alle Sätze der Logik sagen aber dasselbe. Nämlich nichts." 7 .Metaphysisch' besagt hier lediglich, daß es sich um ein Motiv handelt, das jenseits dessen liegt, was gesagt und entsprechend klar dargestellt werden kann.
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tatsächlich ist; denn das hat sich in ihrem Handeln gezeigt. Solange es sich nicht gezeigt hat, sind alle bejahenden oder verneinenden Behauptungen nur Hypothesen; und wenn es sich gezeigt hat, sind jene Behauptungen entweder redundant oder falsch. Ahnliches gilt für Liebe, Haß und in Abhängigkeit vom individuellen Geschmack auch für das Schöne, Häßliche, Delikate etc. In Anlehnung an Wittgenstein können wir sagen, ob es wahr ist, daß jemand moralisch gut ist oder einen anderen liebt, zeigt sich. Verhalten und Handeln haben in solchen Fällen eine verifizierende Kraft. Das Nichtsprachliche, in diesem Fall das Handeln, begründet die Zuschreibung einer Eigenschaft. Eine ähnliche Kraft haben beliebige Ereignisse und Zustände für Sätze. Sie gehören selber nicht zur Sprache, rechtfertigen aber ebenfalls die Zuschreibung von Eigenschaften oder Merkmalen. Sätze sind für Wittgenstein Bilder der Wirklichkeit, sie zeigen ihren Sinn, indem sie zeigen, wie es sich verhält, wenn sie wahr sind (TLP 4.022). Ein analoges Verhältnis treffen wir auch innerhalb der Sprache an. Hier geht es zwar nicht um Verifikation, sondern um die bloße Darstellung oder den Aufweis des Sinns. Weil im Satz eine Sachlage „probeweise zusammengestellt" wird (TLP 4.031), weil seine Möglichkeit auf dem „Prinzip der Vertretung von Gegenständen durch Zeichen" (TLP 4.0312) beruht, zeigt auch ein Satz, was er sagt (TLP 4.461). .Zeigen' bezeichnet unterschiedliche positive Verhältnisse zwischen Sprache und Wirklichkeit. Im einen Fall bedeutet f e i gen' so viel wie ,Darstellen' oder ,Aufweisen', im anderen so viel wie ,Verifizieren' 9 . Schließlich gibt es auch ein negatives Verhältnis zwischen Sprache und Wirklichkeit, das sich zeigt, und zwar in logischen Sätzen, in Tautologien und Kontradiktionen. Sie zeigen, daß sie nichts sagen (TLP 4.461) und sinnlos sind. In allen Fällen ist das Zeigen aber nur möglich aufgrund der logischen Form, die der Sprache und der Wirklichkeit gemeinsam * T L P „6.44 Nicht wie die W e l t ist, ist das Mystische, sondern daß sie ist." 9 W i e die Beispiele des moralisch Guten, der Liebe und des Hasses zeigen, hat .Verifikation' hier eine normative Bedeutung. Bestimmte nichtsprachliche Gegebenheiten rechtfertigen die Zuschreibung jener Eigenschaften. ,Normativ' bedeutet: Die Kenntnis der Eigenschaften des moralisch Guten etc. legt die Bedingungen der Zuschreibung und mit ihnen die Bedeutung des Verhaltens fest, nicht umgekehrt.
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ist (TLP 2.18). Wir werden sehen, daß nicht allem Zeigen die logische Form zugrunde liegt.10
2.3.1 Alles Mögliche zeigt sich Was sich inhaltlich in diesen Verhältnissen zeigt, ist im wahrsten Sinn alles Mögliche, sei es theoretisch oder praktisch, moralisch, ästhetisch, mystisch oder wissenschaftlich11. Darin eingeschlossen ist alles Wirkliche, aber eben auch das, was nicht wirklich, sondern lediglich möglich oder auch unmöglich ist. Nur das, was wirklich und möglich ist, kann sinnvoll gesagt werden. Darüber hinaus gehören zu all dem Möglichen, was sich in Sätzen zeigen kann, auch sinnlose, nämlich alle logischen Sätze12 und unsinnige, nämlich alle philosophischen Sätze13. Der jeweilige Inhalt oder Charakter dieser Sätze zeigt sich. ,Zeigen' ist also ein Verhältnis, das insofern universal ist, als es weder auf einen Gegenstandsbereich noch die Sprache selbst eingegrenzt ist. Es ist das einzige universale Verhältnis, das der Tractatus kennt. Diese Feststellung ist allerdings - im Rahmen der tractarianischen Denkweise — selbst unsinnig, weil allgemeine Aussagen dieser Art über das Zeigen nicht gemacht werden können. Was immer wir an allgemeinen Merkmalen des Zeigens beschreiben, tun wir in philosophischen Sätzen, die weder wahr noch falsch sein können, und die eben auch keine logischen, immer wahren, Sätze sind. Wittgenstein versteigt sich nicht in eine Theorie des Zeigens und hält sich mit Äußerungen zurück, die das Zeigen selbst zum Gegenstand machen; sie würden dem Prinzip der Nicht-Reflexivität und damit der Kritik an der Typentheorie widersprechen. Aufgrund dieser Enthaltsamkeit bleibt dem ,Zeigen' in allen
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In Abschnitt 2.3.4. - Stegmüller (1965, S. 555ff.) spricht von „drei verschiedenen Bedeutungen" des Zeigens, ohne daß klar würde, wie es sich trotz dieser Verschiedenheit jeweils um ein Zeigen handeln kann. " Es zeigt sich auch, ob es Naturgesetze gibt (TLP 6.36). 12 Alle „logischen Sätze" sind für Wittgenstein Tautologien (u. a. T L P 6.124, 6.126, 6.127). 1J Philosophische Sätze sind „unsinnig", weil sie etwas sagen, was nicht gesagt werden kann, z. B. daß die Welt die Gesamtheit der Tatsachen oder daß ein Ding keine Tatsache ist (TLP 1.1). Stenius (1969, S. 237ff.) nennt die unsinnigen Sätze „philosophische" oder „ontologische" Sätze.
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Schriften, in denen es Thema ist,14 eine theoretische Leichtigkeit und der Charme des nicht Festgelegten, dafür aber umso Wirksameren, erhalten. Ob sich überhaupt etwas zeigt, und was sich zeigt, hängt von den Adressaten ab, an die es sich wendet, nicht von den Dingen und Symbolen. Das Zeigen hat einen subjektiven Charakter, den wir nicht übersehen dürfen, auch wenn Wittgenstein selbst ihn nicht thematisiert. Wir verstehen im täglichen Leben häufig die einfachsten Sätze nicht. Ihr Sinn muß sich nicht notwendig zeigen. Darin unterscheidet sich das alltägliche Sinnvolle nicht vom Unsinnigen im Tractatus. Denn auch das Unaussprechliche oder Mystische, etwa in Gestalt des ,,Gefühl(s) der Welt als begrenztes Ganzes" zeigt sich nicht notwendig jedem ( T L P 6.45). 1S Ein beredtes Beispiel hierfür ist Russell. 16 Insofern ist das Zeigen kein universales, in allen Äußerungen und Darstellungen wirksames Verhältnis. Schließlich sollten wir, wenn wir die Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen beachten, die philosophischen Sätze als Scheinsätze entlarven können. Dies kann aber nur gelingen, wenn die Unterscheidung zuvor von Personen - in der Regel Philosophen - nicht beachtet wurde. Sie müssen also zuvor etwas gesagt haben, was sich nur zeigen konnte, aber offenbar aktuell nicht zeigte oder, falls es sich zeigte, mißachtet oder nicht verstanden wurde.
2.3.2 Subjektivität des Zeigens Der subjektive Charakter des Zeigens, den ich eben erwähnte, wirft Fragen auf, weil es ihn nicht geben dürfte. Das Zeigen 14 Neben dem Tractatus sind es vor allem die „Tagebücher 1914—16", die „Aufzeichnungen über Logik (1913)" und die „Aufzeichnungen, die G. E. Moore in Norwegen nach Diktat niedergeschrieben hat (April 1914)". Alle diese Texte sind auf den ersten 223 Seiten des ersten Bandes der Werkausgabe (Frankfurt/M. 1989) abgedruckt. Unverzichtbar für das Thema „Sagen und Zeigen" ist auch die kritische Edition des Tractatus von Brian McGuinness und Joachim Schulte, die den Prototractatus enthält (L. Wittgenstein, Logisch-philosophische Abhandlung, Tractatus hgico-philasophicus. Kritische Edition, Frankfurt/M. 1989; abgk: Kritische Edition). Diese Ausgabe enthält ein ausgezeichnetes Register. 15 Uber das Unaussprechliche als Mystisches spricht T L P 6.522. 16 Er hält Wittgenstein in seinem nicht gedruckten Vorwort zum Tractatus nicht ohne Süffisanz vor, „ziemlich viel über das zu sagen, was nach ihm [sc. Wittgenstein] unsagbar ist" (Kritische Edition, S. 285).
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kann - so die scheinbar unstrittige Annahme - in einer wesentlichen, nämlich in logischer Hinsicht nicht subjektiv sein. Denn die internen Eigenschaften von Sätzen und mit ihnen die interne Struktur von Sprache und Welt sind standpunktfrei und auf keinen Betrachter bezogen, weder auf einen individuellen noch auf einen allgemein subjektiven. Kürzer gesagt, die logische Form kann nicht subjektiv sein, weil sie der Sprache und der Wirklichkeit gemeinsam ist. Sie ist auch in allem, was sagbar ist, also in allen sinnvollen Darstellungen der Wirklichkeit, vorausgesetzt und deswegen nicht selbst darstellbar (TLP 4.12). Dies besagt aber zunächst nur, daß das Sagen, also das, was mit Sätzen über die Wirklichkeit gesagt werden kann, nicht subjektiv ist. Die Frage ist nun, ob dann, wenn das Sagen keinen subjektiven Charakter haben kann, auch das Zeigen nicht subjektiv ist. Es spricht einiges dafür und anderes dagegen. Dies spricht dafür: Das Subjekt gehört nicht zur Welt, sondern „ist eine Grenze der Welt" (TLP 5.632). Insofern unterliegt das Subjekt nicht den Bedingungen des Sagbaren. Andererseits reicht die Logik nicht über die Grenzen der Welt hinaus; deswegen können wir „nicht sagen, was wir nicht denken können" (TLP 5.61). Wenn aber die Domänen des Sagbaren und des Denkbaren eine gemeinsame Grenze haben, muß auch jeder Gedanke über das Subjektive, der ebenfalls über das Sagbare hinausginge, ausgeschlossen sein. Schließlich soll die Philosophie ja auch „von innen" das Undenkbare durch das Denkbare begrenzen (TLP 4.114). Dann kann also auch das Zeigen nicht subjektiv verstanden werden. Dies ist aber nicht das letzte Wort, weil „die Welt meine Welt ist" und sich dies - die Wahrheit des Solipsismus (TLP 5.62) gerade daran zeigt, daß wir nicht sagen können, was wir nicht denken können. Der subjektive Charakter des Zeigens läßt sich also weder sagen noch bestreiten. Dieses Paradox wird zusätzlich durch das vage Bild des Subjekts als einer Grenze der Welt untermauert. Sinnvoll deuten läßt sich dieses Bild nämlich auf subjektive Weise, indem wir das Subjekt als die Instanz verstehen, die aktiv eine Grenze zieht, als Subjekt der Grenze. Für eine subjektive Festlegung der Grenze sprechen einige Sätze des Tractatus. Zuallererst zeigt sich die Subjektivität der Grenzziehung implizit in Wittgensteins Erläuterungen der „internen Eigenschaften". Diese grundlegenden Strukturmerkmale der logi-
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sehen Form führt er als diejenigen Eigenschaften ein, von denen es „undenkbar ist, daß ihr Gegenstand sie nicht besitzt" (TLP 4.123). Man könnte diese ,Undenkbarkeit' als Redensart abtun und einfach als ,logische Notwendigkeit' deuten, wenn es nicht im Umkreis dieses Satzes andere Subjektivismen dieser Art gäbe. Unmittelbar davor spricht Wittgenstein nämlich vom „Gefühl", aufgrund der Stimmigkeit des Symbolismus „im Besitz einer richtigen logischen Auffassung" (TLP 4.1213) zu sein. Und das Verständnis dieses Gefühls entstehe, so lesen wir, aus demjenigen des Schlüsselsatzes, daß das, was gezeigt werden kann, nicht gesagt werden kann (TLP 4.1212). Das ZeigenKönnen ist also abhängig vom subjektiven Gefühl oder Urteil über die Tauglichkeit des Symbolismus. Und die Strukturmerkmale der logischen Form korrespondieren dem, was wir für denkbar oder undenkbar halten. Dies nennen wir gewöhnlich ,subjektiv', und wir meinen damit, daß die strukturellen Merkmale des Sagens und Denkens auf denjenigen bezogen sind, dem sie sich zeigen und der sie versteht. Diesen Bezugspunkt nennen wir .Subjekt'. Den subjektiven Charakter des Zeigens können wir also nicht ignorieren. Welchen Sinn sollte es im übrigen haben, von .Zeigen' ohne jeden Bezug zu sprechen? Ohne Betrachter zeigt sich nichts. Deshalb hätte es auch keinen Sinn zu sagen, daß sich etwas zeige, was niemandem sichtbar und zugänglich wäre. Ahnlich wie wir „nichts Unlogisches denken" können (TLP 3.03), können wir auch nicht subjektlos denken. Von einer unlogischen Welt könnten wir nicht sagen, „wie sie aussähe" (TLP 3.031), und ein subjektloses Zeigen könnten wir nicht denken. Die Kehrseite dieser Überlegungen spricht vielleicht noch deutlicher gegen ein subjektloses Zeigen. Nehmen wir einmal an, daß das Zeigen kein Subjekt als Adressaten hätte. Worauf könnte es sich dann beziehen? Die Gegenfrage wäre, muß es notwendig einen Adressaten haben und sich überhaupt auf etwas beziehen, oder ist es nicht beziehungsfrei? Der erste Teil dieser Frage ist eindeutig zu bejahen, der zweite in gewisser Weise auch, auch wenn dies auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen mag. Der Grund ist, daß das Zeigen nicht reflexiv sein darf, es darf sich nicht auf sich selbst beziehen. Die Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen, die ihr Motiv aus der Kritik an der Typentheorie gewann, würde sich ad absurdum
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führen, wenn nun das Zeigen doch etwas über sich selbst sagen würde. Die zu vermeidende Selbstreferenz, für die das Gleichheitszeichen das klarste Symbol ist, würde durch die Hintertür wieder einkehren. Wittgenstein ist darum bemüht, die Form ,X zeigt X', die formal nicht von ,X = X' zu unterscheiden ist, zu vermeiden, am deutlichsten dort, wo er ,Zeigen' mit Aufweisen' (TLP 4.121) ersetzt. Eine Aussage wie ,der Satz weist die logische Form auf verstehen wir so: Ein sprachlicher Ausdruck verweist auf etwas (die logische Form), was nicht mit diesem Ausdruck identisch ist und auch mit keinem anderen sprachlichen Ausdruck allein repräsentiert werden kann. W i r können dies nicht mit ,X zeigt X', sondern nur mit ,X zeigt -—' repräsentieren; die Stelle rechts von ,zeigt' muß frei bleiben, weil wir dort nichts einsetzen können. In diesem Sinn ist es richtig zu sagen, das Zeigen sei beziehungsfrei. Es kann und darf sich auf nichts beziehen, was der Art nach ein Sagen ist; es kann sich aber auf alles Mögliche andere beziehen, auf einen Gedanken, ein Ereignis, eine Handlung oder einen Zustand. In Fällen praktischer Art gilt - der Form nach - dasselbe wie in Fällen theoretischer Art, nur in umgekehrter Richtung. Wenn eine Handlung zeigt, daß eine Person moralisch gut ist, bedeutet dies , zeigt X'. Es muß also immer eine der beiden Seiten von ,zeigt' frei von Sätzen und anderen sprachlichen Äußerungen bleiben. Wir können diese Beziehungsfreiheit in die Maxime kleiden, daß das Zeigen immer auf etwas verweisen muß, was nicht sprachlicher Natur ist. Diese Maxime wäre aber schwer einzuhalten, wenn es - wie es scheint - auch ein innersprachliches Zeigen gäbe, bei dem auf beiden Seiten etwas gesagt wird. Dies scheint in diesen Fällen der Fall zu sein: „Der Satz zeigt, was er sagt" (TLP 4.461); er „zeigt seinen Sinn" (TLP 4.022). Wir können uns nur schwer mit dem Gedanken anfreunden, daß der sich zeigende Sinn nicht sprachlicher Natur ist. Wie sollen wir ihn sonst verstehen? Es bleibt uns aber keine andere Wahl. Der ,Sinn', um den es hier geht, ist ein Weltzustand, kein Satzzustand. Dies wird deutlich in der unmittelbar anschließenden Passage, die erklärt, was mit ,Sinn' gemeint ist: „Der Satz zeigt, wie es sich verhält, wenn er wahr ist. Und er sagt, daß es sich so verhält." (TLP 4.022) Auch hier weist das Zeigen also aus dem sprachlichen Kontext des Satzes hinaus auf einen Zustand oder ein Ereignis
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in der Welt. Wenn das Zeigen sich darin erschöpfen würde, wäre es frei von jeder Beziehung auf ein Subjekt. Dabei bleibt es aber nicht, weil gerade bei dem vermeintlich innersprachlichen Zeigen die Seite, die nicht sprachlicher Natur ist, für das Verstehen reserviert ist. Für den frühen Wittgenstein ist ^ e r s t e hen' ganz offensichtlich kein sprachliches, sondern ein geistiges Ereignis. 17 Ich verstehe den Satz, heißt es im Tractatus, „ohne daß mir sein Sinn erklärt würde" ( T L P 4.021), weil ich ohne weitere Sätze sehe und begreife. .Zeigen' ist also nur dann keine selbstreferentielle innersprachliche Beziehung, wenn ein Subjekt im Spiel ist, dem sich der Sinn des Satzes zeigt. Was sich beim Verstehen ereignet, wird im Falle des Erfolgs oder Mißerfolgs durch Kopfnicken besser repräsentiert als durch einen oder mehrere andere Sätze bzw. Erklärungen. Dem Kopfnicken entspricht auch, daß die Wirklichkeit „durch den Satz auf ja oder nein fixiert sein" muß ( T L P 4.023). Statt des ,ja oder nein' könnten wir uns auch des Daumens oder einer Bewegung des Kopfes bedienen um anzuzeigen, daß wir verstanden oder nicht verstanden haben, wie es sich verhält.
2.3.3 Die Form des Zeigens Selbst wenn wir uns kein subjektloses Zeigen denken können, müssen wir doch daran festhalten, daß das Zeigen in einem bestimmten Sinn nicht subjektiv sein kann. Eis kann nicht .subjektiv' in dem Sinn sein, daß es ,vom individuellen Subjekt abhängig' ist, dem sich - je nach Lage und Umständen - etwas zeigt oder nicht zeigt. Wittgenstein versteht .Zeigen' ganz und gar unbeliebig und - in seinem Sinn - unpsychologisch. Es geht nicht um die individuellen Erkenntniskräfte oder Erkenntnisbedingungen. Die Erkenntnistheorie rechnet er zur Psychologie ( T L P 4.1121). Es ist dennoch nicht verfehlt, das Zeigen mit dem zu vergleichen, was Kant unter .Bedingungen der Möglichkeit' versteht. In gewisser Weise ist das Zeigen eine Bedingung der Möglichkeit des Sagens. Bedingungen der Möglichkeit sind - so wie Kant sie einführte - keine individual-psychologischen Bedin17 Ich lasse an dieser Stelle offen, inwieweit dies auch auf den späten Wittgenstein zutrifft.
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gungen, sondern Voraussetzungen, ohne die der empirisch gehaltvolle Gebrauch von Begriffen nicht denkbar ist. Wittgenstein geht es beim Zeigen nicht um die transzendentalphilosophische Frage, wie Erfahrung möglich und denkbar ist; er ist kein Transzendentalphilosoph. Es geht ihm darum, wie es möglich ist, die Wirklichkeit in Sätzen vollständig18 abzubilden. Beide, Kant und Wittgenstein suchen nach unbezweifelbar zuverlässigen und ausnahmslos gültigen und wirksamen Voraussetzungen - im einen Fall des Wissens, im anderen Fall der Beschreibung der Welt. Im Unterschied zu Kant 19 will Wittgenstein aber keinen Einfluß auf die Wirklichkeit selbst nehmen und ihr nicht vorschreiben, unter welchen Bedingungen sie sich zeigt, d. h. in Sätze projizierbar ist. In dem fiktiven Buch mit dem Titel „Die Welt, wie ich sie vorfand" ( T L P 5.631), darf kein Subjekt vorkommen. Das realistische Pathos, mit dem Wittgenstein hier spricht, kann aber nicht darüber hinweg täuschen, daß es für uns auch in dieser realistischen Welt keine Überraschungen gibt. Was immer wir vorfinden, können wir nämlich restlos in Sätze projizieren, weil die logische Form den Sätzen und der Wirklichkeit gemeinsam ist. Daß dies so ist, zeigt sich. Was sich hier zeigt, ist der gemeinsame und einheitliche Maßstab des Sagens und der Wirklichkeit. Das Zeigen hat an der gemeinsamen Wurzel des Sagbaren und des Wirklichen, eine einheitliche und gemeinsame Form, die logische Form nämlich. Und diese Form hat einen synthetischen Charakter, weil sie für das Sagen in gleicher Weise gilt wie für die Wirklichkeit und nicht weiter nach diesen beiden Perspektiven zerlegt werden kann. Der synthetische Charakter der logischen Form ist bemerkenswert, weil wir diese Art Synthesis in Kants Lehre vom „obersten Grundsatze aller synthetischen Urtheile" antreffen. 20 Auch hier geht es um eine nicht weiter analysierbare Grundlage, nämlich diejenige, die der Erfahrung und ihren Ob18
Die Vollständigkeit der Abbildung bzw. des Sagens betont Wittgenstein in T B , S. 154 ebenso wie in T L P 5.156. " Der Einfluß, den Kant auf die Wirklichkeit nimmt, ist natürlich kein empirisch realer, sondern ein transzendental idealer; d. h. die Wirklichkeit kann sich nur im Rahmen der begrifflichen Bedingungen empirisch zeigen, die Subjekte mitbringen. 20 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B193ff. (Akademie-Ausg., Bd. 3, S. 143ff.).
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jekten gemeinsam ist. Kant nennt sie „transzendentale Apperzeption" oder „Ich denke". Es handelt sich dabei ebenfalls um eine Form, nämlich die Form aller Urteile. Ein detaillierter Vergleich dieser transzendentalen Urteilsform mit der logischen Form gehört nicht hierher. Der Hinweis auf die Ähnlichkeit dieser beiden Formen beschränkt sich auf deren jeweiligen synthetischen Charakter. Die funktionale Ähnlichkeit des Zeigens mit der transzendentalen Apperzeption steht hier nicht im Vordergrund. Wichtig ist allein, daß wir den synthetischen Charakter des Zeigens und der logischen Form über diesen Vergleich besser verstehen. Denn so verstehen wir, in welcher Weise das Zeigen ein Maßstab des Sagens sein kann, der unbezweifelbar gültig ist, ohne daß es für diesen Anspruch eine eigene Rechtfertigung gibt.
2.3.4 Zeigen jenseits der Wirklichkeit Hier rundet sich nun die Diskussion des subjektiven Charakters des Zeigens ab. Wenn das Zeigen der Maßstab des Sagens ist, und es nur einen Maßstab für das, was wir sagen können, gibt, ist das Subjekt nicht dieser Maßstab. Daß es nur einen Maßstab geben kann, folgt daraus, daß es nur eine logische Form geben kann. Daß das Subjekt nicht der Maßstab sein kann, hängt damit zusammen, daß das Subjekt kein Teil der Welt ist. Das Subjekt ist auch im logischen Sinn kein Teil der Welt; und dies bedeutet, es hat keine logische Form. 2 1 Es kann deshalb keine maßgebende, vor allem keine transzendentale Rolle wie Kants Subjekt spielen, das mit dem ,Ich denke' allen Urteilen eine einheitliche Form gibt. Dieser grundlegende Unterschied zu Kant ist in den Überlegungen hier aber ein Seitenaspekt. 22 Wir verstehen nun, warum wir nicht genauer sagen können, wie das Subjekt als Grenze der Welt diese Grenze zieht oder ist. Es hat, wenn man so will, eine metaphysische Form, als solipsistisches Subjekt; und als solches ist es dann auch - wie ich gleich zeige - ein Maßstab dessen, was sich ihm alles zeigt. 21 Auf die wesentlichen Unterschiede zu Kant weise ich auch deswegen immer wieder hin, weil einige Interpreten dem Tractatus hartnäckig und generell eine Kantsche Denkweise unterstellen. Stegmüller (1965, S. 555) geht sogar soweit zu behaupten, Wittgenstein habe „Kants transzendentalen Idealismus ... auf die Ebene der Sprache transformiert". 21
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Weil es keine logische Form hat, läßt sich das, was das Subjekt passiv als Grenze oder aktiv an der Grenze der Welt tut, auch nicht sagen oder beschreiben. Das Subjekt kann kein Gegenstand theoretischer Betrachtungen sein, weil es keine Tatsache innerhalb der Welt ist. Es hat aber ganz offensichtlich einen Spielraum, in dem es die Grenze der Welt verändern kann, etwa durch das „gute oder böse Wollen" ( T L P 6.43). Es kann, meint Wittgenstein in derselben Passage, die Grenzen der Welt ändern, aber nicht die Tatsachen, „nicht das, was durch die Sprache ausgedrückt werden kann". Die Aktivität des Subjekts kann also wie er meint - zur Zunahme oder Abnahme der Welt als ganzer führen, aber nicht das Sagbare vermehren oder vermindern. Diese Art von Kontraktion und Expansion der Welt hat keine logische Struktur; deswegen verändert sich auch nicht die Menge der wahren Sätze oder der Tatsachen, die für alle Subjekte ohnehin dieselbe sein muß. Wittgenstein denkt einerseits an den Gegensatz zwischen der „Welt des Glücklichen" und der des „Unglücklichen" ( T L P 6.43), andererseits an die totale Veränderung, das Ende der Welt „beim Tod" ( T L P 6.431). Was sich verändert, sind also der subjektive Wert und das Gesicht der Welt auf der einen und ihr Bestand auf der anderen Seite. Diese Veränderungen haben aber einen streng individuellen, solipsistischen Charakter. Sie zeigen sich jeweils nur einem einzelnen Subjekt und nicht gleichzeitig auch allen anderen. Alle anderen sehen nicht die Welt des Unglücklichen, sondern ihre eigene. Hier ist das einzelne Subjekt der Maßstab dessen, was sich zeigt, aber eben nur ihm oder ihr. Dieses Zeigen legt aber nahe, daß sich auch jenseits der Domäne der logischen Form, also jenseits von Sprache und Wirklichkeit etwas zeigt, dasjenige nämlich, was nur dem einzelnen Subjekt zugänglich ist. Das Ich des Glücklichen, Unglücklichen oder Sterbenden schrumpft zwar einerseits wie das Ich des Solipsismus „zum ausdehnungslosen Punkt zusammen" und die Wirklichkeit ohne Ich bleibt übrig ( T L P 5.634); denn die Wirklichkeit, die Menge der Tatsachen, bleibt in den Kontraktionen des Unglücklichen oder Expansionen des Glücklichen unverändert. 23 Andererseits zeigt sich dem einzelnen 2 J Es ist allerdings nicht klar, ob die Welt des Glücklichen oder die des Unglücklichen als ganze abnimmt bzw. zunimmt. Es ist nur intuitiv plausibel, daß Glück mit Expansion und Unglück mit Kontraktion verbunden ist.
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eben doch eine Welt, die nur er oder sie sieht und sonst niemand. Hier treten Welt und Wirklichkeit auseinander. Denn die Welt, die sich als ganze verändert, hat als ganze keine logische Form, sowenig wie das Subjekt eine logische Form hat. Wittgenstein gebraucht ,Welt' und ,Wirklichkeit' meist synonym und versteht entsprechend die Grenzen der Welt auch als Grenzen der Logik (TLP 5.61). Die Welt, die sich als ganze dem einzelnen Subjekt zeigt, ist ihrem individuellen Wert, Gesicht und Anblick nach aber nicht wirklich. Dennoch zeigt sie sich. Dies kann aber nicht innerhalb der Welt geschehen und deswegen auch nicht gesagt oder beschrieben, sondern nur individuell erlebt werden. In diesem Sinn sind die Welt und das Leben „Eins" (TLP 5.621).24 Das Zeigen hat für jedes einzelne Subjekt keine Grenze, die mit der Grenze von Sprache und Logik zusammenfallt. Es ist nicht auf die Domäne der logischen Form eingeschränkt. Dies gilt aber - wie wir am Beispiel des Ethischen sehen können nicht nur für das individuelle Subjekt und dessen Verhältnis zur Welt, sondern auch für das Verhältnis aller Subjekte zur Welt. Es gibt aber offensichtlich auf der Seite des logisch nicht strukturierten Zeigens zwei unterschiedliche Arten. Die eine ist allen, die andere nur einem zugänglich. Letztere haben wir eben am Beispiel des Glücklichen und Unglücklichen kennengelernt. Erstere kennen wir bereits aus der Ethik, vom Beispiel der Person, deren moralischer Charakter sich in dem zeigt, was sie tut. Beide Male handelt es sich um subjektive Verhältnisse des Zeigens. Das eine ist solipsistisch, das andere nicht. Wo verläuft die Grenze zwischen beiden? Sie verläuft exakt zwischen der Ethik und dem individuellen Wollen. Die Ethik hat im „Willen" 25 keinen „Träger" (TLP 6.423) und deswegen auch keine individuelle Basis. Sie gehört zur Wirklichkeit, die für alle dieselbe ist, und nicht nur in „meine Welt". Deswegen zeigt sich der moralisch gute Charakter einer Person nicht primär ihr, sondern durch ihr Tun vor allem den anderen. In den Tagebüchern 1914-16 heißt es entspre24 Wittgenstein versteht „Leben" ausdrücklich weder physiologisch noch psychologisch (TB, S. 172). 25 Den ,Willen' bestimmt Wittgenstein als „den Träger von G u t und Böse" (TB, S. 171).
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chend, die Ethik müsse wie die Logik eine Bedingung der Welt sein (TB, S. 172). Ahnlich wie die Logik ermöglicht, daß sich das zeigt, was wahr oder falsch, sinnvoll, sinnlos oder unsinnig ist, ermöglicht die Ethik, daß sich das zeigt, was gut oder schlecht ist. Als Bedingung der Welt verändert sie die Welt nicht, sondern gibt ihr eine Grenze. Der gute oder böse Wille verändert die Welt ebenfalls nicht, aber er verändert deren Grenzen, nimmt also Einfluß auf die Erscheinung des Ganzen. Dieses Ganze sieht für den Guten anders aus als für den Schlechten. Dagegen zeigt sich der Lohn und die Strafe innerhalb der Welt im Handeln selbst (TLP 6.422).26 Die Ethik hat also als eine Bedingung der Welt Folgen, die sich in der Wirklichkeit zeigen. Ahnlich wie die Logik als Form der Wirklichkeit zeigt, wie wir ,wahr' und .falsch' voneinander unterscheiden können, zeigt die Ethik mit ihren Gesetzen den Unterschied zwischen ,gut',,schlecht' und ,böse'. Anders als bei Kant ist nicht der gute Wille der Maßstab, sondern das Gesetz, das die Form „du sollst..." hat (TLP 6.422). In allen Fällen handelt es sich bei dem, was sich als wahr, falsch, gut oder schlecht zeigt, um Tatsachen. Die ethischen Tatsachen gehen nicht auf den Willen zurück, sie werden von ihm nicht verursacht. Sie erhalten von ihm lediglich einen Wert, der sich innerhalb der Welt als Lohn oder Strafe zeigt. Es geht mir hier nicht um Wittgensteins ethisch ungewöhnliche Kombination von Sensualismus und Realismus, sondern um das Verbindungsstück zwischen dem Zeigen jenseits der Domäne der logischen Form und demjenigen diesseits. Es liegt in der Verbindung und Beziehung zwischen dem Willen und der Ethik. Der Wille kann zwar innerhalb der Welt nichts ausrichten; er ist in der Ethik so wirkungslos wie in der Logik. Aber diejenigen, die einen Willen haben, stehen mit ihren guten oder bösen Taten für die anderen jeweils in der Welt. Das individuelle Handeln stellt also die Verbindung her zwischen dem Zeigen jenseits und diesseits der Domäne der logischen Form.
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Ich kann hier nicht auf die Frage eingehen, was es bedeutet, daß Lohn und Strafe „in der Handlung selbst liegen" müssen. Es geht mir hier nur darum, daß sie innerhalb der Grenzen der Welt und nicht außerhalb oder auf der Grenze liegen.
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2.4 Das System des Sagens Kehren wir zur Domäne der logischen Form zurück. In ihr sind Sagen und Zeigen komplementär. Sie ergänzen sich in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit, in mehrfach asymmetrischer Weise. Auf der einen Seite hängt das Sagen davon ab, daß sich im Satz all das zeigt, was eine Darstellung der Wirklichkeit möglich macht; das Zeigen ermöglicht das Sagen. Auf der anderen Seite ist das Zeigen nur indirekt über das Sagen thematisierbar; ohne das Sagen wüßten wir nicht, was ,Zeigen' heißt. Schließlich genießt das Sagen in einer wesentlichen Hinsicht eine Sonderstellung, weil sich - in Wittgensteins Worten - alles, was sich aussprechen läßt, klar aussprechen läßt (TLP 4.116). Das Sagbare ist das Klare, und zwar im inhaltlichen und im formalen Sinn. Inhaltlich ist die Welt vollständig durch verallgemeinerte Sätze beschreibbar (TLP 5.526). Und was sich über die Form aller Sätze sagen läßt, läßt sich mit Hilfe der allgemeinen Satzform „auf einmal" (TLP 5.47) sagen. Schließlich ist die Beziehung zwischen den Sätzen, ihre Struktur, logisch transparent. Die Struktur zeigt, daß die Wahrheit eines Satzes aus der Wahrheit eines anderen gefolgert werden kann (TLP 5.13). Diese formalen Merkmale bilden das System des Sagens. Es zeigt, daß die Wirklichkeit nicht verworren, sondern logisch strukturiert und in diesem Sinn klar ist. Im einzelnen bedeutet dies: Die Sätze, die die Wirklichkeit spiegeln, sind vollständig analysierbar (TLP 3.25); wir können die Form aller Sätze als „allgemeine Form der Wahrheitsfunktion" angeben (TLP 6) und jeden Satz durch die Anwendung des N-Operators auf die Elementarsätze gewinnen (TLP 6.001). Wir verfügen also über alle die Bedingungen, die das System des Sagens bilden. Daß das Sagen ein System bildet, bedeutet kurz gefaßt, es ist formal vollständig analysierbar und inhaltlich völlig transparent. Dagegen ist das Zeigen zwar die Bedingung der Rationalität des Sagens, aber weder analysierbar noch transparent. In gewisser Weise ist das Zeigen das unsystematische Gegenstück zum systematischen Sagen. Denn das, was sich zeigt, kann nicht gesagt werden (TLP 4.1212). Was immer sich zeigt, die logische Form, das Logische, das Ethische, das Ästhetische, kann nicht gesagt werden. Es liegt entweder wie das Ethische oder Ästhetische jenseits der Domäne von Sprache und Welt, oder wir müß-
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ten uns - zur Darstellung der logischen Form oder des Logischen - außerhalb der Welt und der Logik aufstellen können (TLP 4.12). Das können wir nicht, weil es widersprüchlich wäre. Von einer unlogischen Welt könnten wir außerdem „nicht sagen, wie sie aussähe" (TLP 3.031). Entsprechend würde es sich auch erübrigen, etwas darüber zu erfahren, wie sich eine solche Welt zeigt. Es ist zwar mißlich, das Zeigen unsystematisch' zu nennen, aber dies besagt nicht mehr, als daß keine der Bedingungen der Systematizität des Sagens unmittelbar und separat auf das Zeigen anwendbar sind. Es bedeutet nicht, daß das Zeigen verworren, unvernünftig, unverständlich oder dunkel wäre. Jenseits des Sagens gibt es auch für das Zeigen keine Klarheit; d. h. alles, was an Klarheit über das Zeigen gewonnen werden kann, finden wir über das, was gesagt werden kann. In dieser Hinsicht ist das Zeigen so vom Sagen abhängig wie das, was keine eigene logische Form hat, von dem abhängig ist, was eine hat. Wir können den Vergleich auch in holistischer Terminologie anstellen. Das Sagen bildet ein systematisch organisiertes und strukturiertes Ganzes aus homogenen, logisch miteinander verknüpften Teilen. Mit einem einzelnen Satz ist zwar nur ein „Ort des logischen Raumes" bestimmt, aber damit ist „schon der ganze logische Raum gegeben" (TLP 3.42). Wittgenstein bringt mit diesem Gedanken das System des Sagens auf den Punkt. Das Zeigen ist dagegen inhomogen und unverknüpft. Vergleichen wir nur einiges dessen, was sich zeigt: der Sinn von Sätzen, ihr Wahrheitswert, das Wesen der Sprache und der Welt, das Sinnvolle, Sinnlose und Unsinnige, die Wahrheit des Solipsismus, die moralische Qualität einer Person, das Ästhetische etc. Was Sätze zeigen, bildet wenigstens indirekt über das, was sie sagen, einen systematischen Zusammenhang. Jenseits der Domäne der logischen Form läßt sich aber das, was sich zeigt, auch nicht mehr indirekt systematisch verbinden. Auch die Arten, wie sich diese heterogenen Dinge zeigen, sind nicht systematisch miteinander verbunden. Alles das, was sich durch Symbole zeigt, verstehen wir auf einen Blick durch bloßes Hinsehen. Gleiches trifft fiir das Ethische und Ästhetische zu. Was dagegen Sätze zeigen, können wir nur, sofern es an deren Oberfläche erkennbar ist - wie ihr Sinn - durch sorgfältiges Lesen verstehen. Wenn es sich aber um ihre logische Form han-
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delt, müssen wir die Sätze erst logisch analysieren. Das, was sich jeweils zeigt, setzt also ganz unterschiedliche Weisen des Sehens und Verstehens voraus. Mit ihnen sind wiederum sehr verschiedene Voraussetzungen und Kenntnisse verbunden. Um das zu verstehen, was logische Symbole zeigen, benötigen wir logische Kenntnisse. Um den Sinn eines Satzes zu verstehen, benötigen wir kein logisches Wissen, dafür aber ein Weltbild, das aus anspruchvollen sprachlichen, kulturellen und sozialen Kenntnissen besteht. Wenn diese Kenntnisse nicht vorhanden sind, zeigt sich kein Satzsinn. Letzteres gilt in besonderem Maß für das Verständnis dessen, was sich zeigt, wenn Sätze wie „Es gibt Naturgesetze" (TLP 6.36) zutreffen. Obwohl erst der späte Wittgenstein vom Weltbild spricht, ist es sinnvoll, diesen Begriff dafür in Anspruch zu nehmen, die heterogenen, unsystematischen Dinge, die sich im Tractatus zeigen können, in ein Ganzes zu integrieren. Es geht mir dabei vor allem um die Eigenschaft eines Weltbilds, die er in Über Gewißheit beschreibt, der „überkommene Hintergrund" zu sein, „auf welchem ich zwischen wahr und falsch unterscheide".27 Die Vielfalt dessen, was sich von der logischen Form bis zur Welt des Glücklichen zeigen kann, läßt sich weder logisch noch sprachlich zu einem Ganzen verbinden. Ein Weltbild integriert aber das Logisch-Symbolische ebenso wie das Ethische, Metaphysische und Mystische.
2.5 Nicht-Reflexivität und Sprachkritik Wittgenstein hat, wie ich anfangs bemerkte, Sagen und Zeigen nur einmal als Hauptproblem der Philosophie bezeichnet. In seiner späteren Philosophie spielt die Unterscheidung keine ausdrückliche Rolle mehr. Es liegt daher nahe, dem vermeintlichen Hauptproblem lediglich ein saisonales Gewicht zuzumessen und seine Relevanz auf den Tractatus einzuschränken. Dies ist einerseits, nämlich im Hinblick auf die logisch-symbolische Motivation der Unterscheidung, berechtigt. Je stärker Wittgensteins logisches Interesse gegenüber dem sprachphilosophischen in den Hintergrund tritt, desto mehr verliert die Unterschei27
L. Wittgenstein, Über Gewißheit, in: WA, Bd. 8, § 94.
SAGEN UND ZEIGEN
dung zwischen Sagen und Zeigen ihr ursprüngliches Gewicht. Andererseits ist die Differenz zwischen Sagen und Zeigen aber tief, gehaltvoll und - vor allem im Zusammenhang seiner Sprachkritik - unabhängig vom Kontext ihrer Thematisierung. Sie ist aus diesem Grund eben nicht nur erfunden, sondern entdeckt. Tatsächlich spielt weniger die Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen als das Zeigen selbst auch in der Spätphilosophie eine Rolle, und zwar im weiteren Kontext seiner Sprachkritik, also beim Regelfolgen und beim Beschreiben dessen, wie Worte und Sätze gebraucht werden können. Die Bedeutung von Worten und Sätzen zeigt sich im Gebrauch, und zwar exemplarisch. Sie zeigt sich sprachlich und nicht symbolisch, aber der fiir die Sprachkritik des Tractatus wesentliche nicht-reflexive Charakter des Zeigens bleibt erhalten. Auch das, was sich im Sprachgebrauch zeigt, müssen wir sehen, um es zu verstehen. Es muß seine eigene, unabhängige Evidenz haben und kann nicht durch weitere Erklärungen vermittelt werden. Wir können uns nur so gegen Pseudoprobleme und „die Verhexung unseres Verstandes" (§ 109) wehren. Wittgenstein weist zu Beginn der Philosophischen Untersuchungen darauf hin, daß wir Spiele lernen, indem wir zusehen, wie andere sie spielen (§ 54). Ihre Regeln zeigen sich exemplarisch im Spiel. Jedes Spiel ist ein Muster des Regelgebrauchs. Der spontane Charakter der Erfassung dessen, was sich zeigt, ist in der späten Philosophie ebenso wichtig wie in der frühen. Wittgenstein erläutert etwa das Verstehen der Bedeutung eines Satzes als ein Erfassen „mit einem Schlage".28 Auch das, was ein „guter Grund" ist, zeigt sich auf einmal, weil es durch bloßes Hinsehen erfaßt werden kann (§438). Umgekehrt gibt es aber auch Stellen, die eine skeptische Distanz zur Sonderrolle des Zeigens dokumentieren; wenn er etwa die Frage nach dem, was „Vorstellungen" sind „nicht durch ein Zeigen" fiir beantwortbar hält (§ 370), obwohl es durchaus naheläge anzunehmen, daß sich das, was Vorstellungen sind, im Verhalten zeigt. ,Zeigen' hat sprachphilosophisch nicht die Evidenz, die es auf logischem Hintergrund hat. Es kann sich im Sprachgebrauch nicht alles zeigen, z. B. nicht das, was ,Vorstel28
Zum Beispiel in PU §§ 138, 139, 191, 197.
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lung' bedeutet. Schließlich erläutert Wittgenstein Zeigen als Sprachspiel (§§ 669ff.), in dem wir auf einen Gegenstand Bezug nehmen. Der tractarianische, logische Gehalt des Zeigens ist für dieses Sprachspiel unerheblich. Dagegen verrät die Ablehnung aller Erklärungen und Rechtfertigungen zugunsten der Beschreibung des Sprachgebrauchs (§ 109) ein wesentliches Motiv des Zeigens, das wir aus dem Tractatus kennen. Es handelt sich um das Motiv der Sprachkritik, um den schon erwähnten „Kampf gegen die Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache" (§ 109). Die im selben Paragraphen formulierte Devise „Alle Erklärung muß fort, und nur Beschreibung an ihre Stelle treten", überträgt den anti-reflexiven Charakter des Zeigens auf den Sprachgebrauch. Denn in Erklärungen nehmen wir sprachlich so auf die Sprache Bezug, als könnten wir damit eine Einsicht gewinnen, die davor unmöglich war. Eine selbst-reflexive sprachliche Bezugnahme auf Sprache klärt kein Problem, sondern schafft erst eins, nämlich dies, daß wir meinen, wir könnten das Wesen der Sprache aus ihr selbst gewinnen. Wittgenstein wechselt ein zweites Mal 29 die Perspektive, dreht - wie er sagt - die Betrachtung (§ 108). Dabei geht die Logik im Sprachgebrauch auf und verliert ihre Strenge und Idealität. Nicht mehr die „metaphysische", sondern die „alltägliche Verwendung" der Wörter steht im Vordergrund (§ 116). Entsprechend diesem erneuten Perspektivenwechsel muß sich nun nichts mehr zeigen, was unter der Oberfläche der Sprache verborgen und erst einer Analyse zugänglich wäre. Es liegt alles „offen zutage" und muß lediglich in eine übersichtliche Ordnung gebracht werden (§ 91). Diese Ordnung ist aber - wie die logische - vollkommen (§ 98); ebenso vollkommen wie die angestrebte Klarheit (§ 133). Ordnung und Klarheit sind genau dann erreicht, wenn es keine philosophischen Probleme mehr gibt. Ahnlich wie im Tractatus kann dann die Leiter ( T L P 6.54) weggeworfen werden. Die Sprachkritik hat im Tractatus das Ziel, nur noch das, was nichts mit Philosophie zu tun hat, nämlich die Sätze der Naturwissenschaften, als das anzuerkennen, was sagbar ist. In den Philosophischen Untersuchungen führt die w
Ich beziehe mich hier auf den am Anfang meines Beitrags beschriebenen Perspektivenwechsel, den der frühe Wittgenstein gegenüber Russell in der Kritik an der Typentheorie vollzog.
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Sprachkritik zurück zum alltäglichen Sprachgebrauch. Die Probleme der Philosophie lösen sich auf. Wenn es solche Probleme gibt, zeigt der in Ordnung und Ubersicht gebrachte Sprachgebrauch, wie sie sich auflösen. Dieses Zeigen bleibt am Ende übrig, wenn philosophisch nichts mehr zu sagen ist.
Literatur Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, in: ders., Werke (Akademie-Ausgabe), Bd. 3. Stegmüller, W. (1965): Hauptströmungen der Philosophie, 3. Aufl., Stuttgart. Stenius, Erik (1969): Wittgensteins Traktat, eine kritische Darlegung seiner Hauptgedanken, übers, von Wilhelm Bader, Frankfurt/M. van Heijenoort, Jean (ed.) (1967): From Frege to Gödel. A Source Book in M a thematical Logic, 1879-1931, Cambridge, Mass.
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Wittgenstein's Context Principle
3.1 Introduction The second of three fundamental principles by which Frege guides the course of enquiry in his Grundlagen has become known simply as the context principle. In his introduction Frege presents the principle in the form of a maxim: "never to ask after the meaning of a word in isolation" but only in the context of a proposition." (Gl, p. x) The theory underlying this prescription first occurs in the body of the work in defence of the reality and objectivity of mathematical objects, objects we can neither perceive nor imagine: "That we can form no idea of its content is therefore no reason for denying all meaning to a word, or for excluding it from our vocabulary. We are indeed only imposed on by the opposite view because we will, when asking for the meaning of a word, consider it in isolation, which leads us to accept an idea as its meaning. Accordingly, any word for which we can find no corresponding mental picture appears to have no content. But we ought always to keep before our eyes a complete proposition. Only in the context of a proposition do the words really have a meaning. It may be that mental pictures float before us all the while, but these need not correspond to the logical elements in the judgement. It is enough if the proposition as a whole has a sense; it is this that confers on its parts also their content." (Gl §60)
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T w o sections later the principle recurs, this time m o r e obviously in a constructive role, in answer to the question: " H o w , then, are numbers given to us, if we cannot have any ideas o r intuitions o f them? Since it is only in the context of a proposition that words have a meaning, our p r o b l e m becomes this: to clarify the sense o f a proposition in which a number word occurs." (G1 § 62) T h i s last occurrence o f the principle was once described by M i c h a e l D u m m e t t as the m o s t important sentence F r e g e ever wrote. If that is contentious, there is even so m o r e agreement over the importance of the principle than o n what, exactly, its import is. D u m m e t t , Weiner, and Wright, as well as others less directly involved in expounding Frege's thought, Q u i n e , Davidson, P u t n a m , all make a great deal o f the principle, but each makes of it something different. M y aim here is t o reconsider the principle, and, incidentally, some few limited aspects of those philosophers versions of it, by emphasizing the viewpoint of the first and the greatest work to show its influence: I mean, of course, Wittgenstein's Tractatus. W h i l e emphasizing that viewpoint m y concern is finally with the principle in itself: with, as it were, the platonic form o f the context principle. Another way of saying that would be to say that m y interest is in what the principle ought ideally to be understood t o be, rather than in how any particular writer, even its author, in fact understood it. Attention to the Tractatus is a suitable (and unwarrantedly neglected) means to this end, I think, because Wittgenstein there shows that ideal understanding; but, if anyone agrees with me about the end but not about the m e ans, that is a minor matter. T o talk o f an "ideal" principle, or even an ideal understanding of it, will, to some, appear tendentious - to presume on the truth of a principle formulable in Frege's words in advance of identifying it. In response I would remark, first, that there just are s o m e formulations of which that is the right view; 1 but secondly, and more concessively, that the detailed argument o f the paper will 1 Some other examples: "Everything is what it is, and not another thing"; "to say of what is that it is not, or of what is not that it is, is false, while to say of what is that it is, and of what is not that it is not, is true". T h e r e are ways of considering these principles that belong to Buderian or Aristotelian exegesis, but those are clearly not the only ways.
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take very seriously the possibility the best understanding of the principle yields something that is either false or else very much less significant than has been imagined. The interpretation of texts, then, is not my aim; but it would be foolhardy to dispense with it as a method. I will need to say some (hopefully uncontroversial) things about early writings of Frege in § 3, and about the Tractatus in §§ 4—6. For the most part, however, my understanding of the latter work will be more apparent in the way I view other thoughts through what I take to be its eyes. If, proceeding in this way I expose it to censure for my own mistakes, well, the book is big enough to take a little abuse.
3.2 Four obvious points To a first glance nothing could be clearer than that Wittgenstein endorses Frege's context principle: he repeats it pretty well word for word at Tractatus 3.3. To a second glance things are much murkier. It takes only a few very obvious thoughts to set one wondering whether the repetition could have amounted to endorsement, and whether the principle could have had anything like the meaning for Wittgenstein that it possessed for Frege. These obvious thoughts might be taken to undermine my plan of approaching Frege's principle from Wittgenstein's perspective. I think they are better taken as guides in carrying it out. In this section I will present four of these obvious points. In the remainder of the essay I will work around slowly, and in reverse order, to answering them. (i) As we noted, the central occurrence of the principle in Frege's Grundlagen is in answer to the question, How are numbers given to us? Not only does the Tractatus not resort to the context principle to answer this question, it dismisses the question altogether. The Tractatus philosophy of mathematics, so far as it is developed (not at all far), is a kind of sophisticated mixture of logicism with formalism. Numerical terms have a use, but not of a kind that requires or sustains any abstract ontology. Apart from their adjectival occurrence in contingent judgements, the seeming-propositions in which numerals figure are merely notational expedients permitting transition from one
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significant proposition to another, without themselves being carriers of sense.2 Whatever one thinks of this as an approach to mathematics it plainly owes next to nothing to the thought of Grundlagen. Indeed it is natural to summarize Wittgenstein's view, as I have, in a way which lays it open to one of Frege's most damaging criticisms of any version of formalism (GG2, pp. 386-400; CP, pp. 317-327). T h e impact of this first point is somewhat lessened when we recall that the context principle of Grundlagen, although introduced with a specific purpose, is stated with the utmost generality. So instead of looking to find it at work in the Tractatus answering the question, How are numbers given to us?, we might look instead to the question, How are objects given to us? This straight away puts us more nearly in the right region. T h e remark immediately before Wittgenstein's statement of the context principle a t T L P 3.3 reads: "The meanings of primitive signs can be explained by elucidations. Elucidations are propositions which contain the primitive signs. They can therefore only be understood when the meanings of these signs are already known." (TLP 3.263) Objects are given to us when, and only when, we understand how to refer to them in the expression of a complete thought. This is evidently akin to the context principle of Grundlzgen. However, the interpretation of this particular passage has been and must here be left too much a matter of dispute for it to dispel the impression of disanalogy. For the moment, then, we should merely note the difference, and one aspect of it in particular. Frege's specific use for the context principle in Grundlagen is to carry us forward into arithmetic from what is already a going concern: it serves to introduce the numbers, and talk of numbers, to someone who is already familiar with, and understands talk of, objects of other kinds. There is n o similar suggestion of a presumed basis from 2
See T L P 6.211. An element of logicism enters Wittgenstein's formalist account in that the notational possibility exploited by the equations of mathematics is grounded in what he terms the "general form of operation" ( T L P 6.01) the abstract form of the "one logical constant" ( T L P 5.47), and of the way in which "one proposition arises in a logically significant way out of another" ( T L P 5.233). (Where there is no danger of confusion I will, as here, refer to sections of the Tractatus by number alone.)
WITTGENSTEIN'S C O N T E X T PRINCIPLE
which to apply the principle in this Wittgensteinian version of it. Indeed T L P 3.263 has been counted perversely paradoxical just because it allows no starting block - nothing firm and external to it that might propel us into the circle of word and sentence meaning. This contrast is, I think, of the first importance; but we will not be in a position to see its full significance until § 8. There it will be argued that the principle must be able to give up its "starting blocks", or else relinquish its claims to universality. (ii) A second obvious thought arises when one looks at the kind of attention the Fregean and Wittgensteinian context principles have received from recent commentators. In studies of Frege the focus has been on the context principle as a one-keyfits-all-locks entry to a realistic, platonistic ontology. In the specific case that concerned Frege in Grundlagen, this ontology is to open up for the sentences of arithmetic the possibility of a straightforward semantic construal, one that respects their surface similarities with others that seem more likely to be compressible into current orthodoxies in epistemology. There are plenty who doubt its efficacy in this respect, but few who question that this is the principle's intention and the source of its interest. Yet when one turns to Tractarian commentary, the position is curiously reversed. Those who offer a "so-called realist" reading of the work, and in their own way of thinking take "seriously" its ontological pronouncements, hardly mention the context principle at all. T h e principle's champions in exegesis of the Tractatns are those who reject its ontology as a kind of philosophical myth: McGuinness (1981), for instance, sees the principle as allowing Tractarian objects to be downgraded into semantic values; others, presenting the same licence, have in effect construed them as classes of syntactically congruent expressions (e.g. McMullen 1989). It is of course likely that the realism neo-Fregeans defend is only a relative of the realism to which anti-realist Tractarians are and. Even so, the contrasting readings, which find an ontologically inflationary principle in Frege, a deflationary principle in Wittgenstein, pose a puzzle for the view that a single principle is endorsed by both. T h e substance of what I have to say in resolution of this puzzle occurs in § 7, with morals briefly
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7p< ist falsch' impliziert. Dies zeigt die Bipolarität des Satzes." (WA I, S. 189.) Die „Vollständigkeit der Beschreibung", die die polare Fixierung auf ja oder nein ermöglicht, läßt den Sinn des Satzes ein-
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deutig werden. Dadurch bestimmt der Satz einen Ort im logischen Raum so, daß dem Ort ein eindeutig abgegrenzter Bereich entspricht, der auf eine, die Alternativen vollständig erfassende Weise komplementiert werden kann. Darin zeigt sich die Boolesche Struktur des logischen Raums und darin sind in der tractarianischen Konzeption die Prinzipien einer Logik begründet, die sich als die klassische herausstellt.
6.5 Topologisch versteht man unter einem Booleschen Raum einen kompakten total unzusammenhängenden topologischen Raum. Obwohl wir den entsprechenden Nachweis nicht streng geführt haben und ein solcher auch aufgrund exegetischer Schwierigkeiten problematisch erscheinen muß, können wir mit einiger Plausibilität Wittgensteins logischen Raum als einen Booleschen Raum verstehen. Als eine philosophische Rechtfertigung oder Begründung logischer Gesetzmäßigkeiten hat der logische Raum aber eine andere Aufgabe als der Boolesche Raum im Rahmen algebraischer Darstellungssätze. Der logische Raum kann diese begründende Funktion übernehmen, weil mit ihm der semantische Realismus, der die Abbildtheorie prägt, zu Ende gedacht wird. Der in der tractarianischen Semantik herrschende Realismus wird häufig als naiv angesehen, und in der Tat hat er kaum einen schärferen Kritiker als Wittgenstein selbst. Die gewandelte Haltung gegenüber bestimmten logischen Prinzipien ist dafür ein Indikator. Wittgenstein, so heißt es, sei durch Brouwers Vorlesungen über intuitionistische Mathematik 1928 in Wien zur Philosophie zurückgekehrt, und tatsächlich stand er in der Folge dem uneingeschränkten Gebrauch des tertium non datur ablehnend gegenüber (vgl. Fogelin 1968). Da dieses, wie wir gesehen haben, mit der Vorstellung eines eindeutigen Satzsinnes zusammengeht, blieb auch letztere nicht unhinterfragt: „99. Der Sinn des Satzes - möchte man sagen - kann freilich dies oder das offen lassen, aber der Satz muß doch einen bestimmten Sinn haben. Ein unbestimmter Sinn, - das wäre eigentlich gar kein Sinn. - Das ist wie: Eine unscharfe Begrenzung, das ist eigentlich gar keine Begrenzung. Man denkt da etwa so: Wenn ich sage ,ich habe den Mann fest im Zimmer
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eingeschlossen - nur eine Tür ist offen geblieben' - so habe ich ihn eben gar nicht eingeschlossen. Er ist nur zum Schein eingeschlossen. Man wäre geneigt, hier zu sagen: ,also hast du damit garnichts getan'. Eine Umgrenzung, die ein Loch hat, ist so gut, wie gar keine. - Aber ist das denn wahr?" (PU, S. 295) Vertreter eines wittgensteinianischen Zugangs zur intuitionistischen Logik wie Dummett berufen sich jedoch eher auf den Gebrauchsaspekt sprachlicher Bedeutungen als auf Wittgensteins eigene Zweifel an der Eindeutigkeit des Sprachsinnes (Dummett 1973), und Wittgenstein selbst hat eine ähnlich stringente Auseinandersetzung mit den Prinzipien der Logik wie im Tractatus erst gar nicht mehr versucht. Wenn wir also wissen wollen, warum Wittgensteins tractarianische Konzeption der Logik angesichts der gegenwärtigen Vielfalt logischer Systeme und Formalismen unzulänglich bleibt, dann müssen wir uns der Konzeption des logischen Raums selbst zuwenden. Der Mangel, der Wittgensteins Auffassung aus heutiger Sicht attestiert werden darf, ist die Kehrseite ihrer unbezweifelbaren Tugend: Indem die Konsequenzen einer realistisch konzipierten Semantik offengelegt werden und damit zugleich eine Position eingenommen werden kann, die frei ist von den begrifflichen Unstimmigkeiten, die Frege wie Russell zu schaffen machten, wird die Logik einer Funktion beraubt, die ihr traditionell immer zugekommen war. Weil die Sätze der Logik das Gerüst der Welt zeigen und somit einen Raum der Möglichkeiten quasi als ein ontologisches Zirkuszelt aufspannen, verliert die Logik im Tausch für ihre ontologische ,Rahmenkompetenz' jede epistemische Zuständigkeit oder Nutzanwendung. Nicht die Therapie eines mitunter mangelhaften Urteilsvermögens durch die Entwicklung einer systematischen Argumentationsmethode ist demnach die Aufgabe der Logik, sondern allenfalls die Diagnose des kombinatorisch Möglichen. „6.1261 In der Logik sind Prozeß und Resultat äquivalent. (Darum keine Überraschung.)" „6.1262 Der Beweis in der Logik ist nur ein mechanisches Hilfsmittel zum leichteren Erkennen der Tautologie, wo sie kompliziert ist." „6.2 Die Mathematik ist eine logische Methode." „6.2321 Und, daß die Sätze der Mathematik bewiesen werden können, heißt ja nichts anderes, als daß ihre Richtigkeit einzuse-
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hen ist, ohne daß das, was sie ausdrücken, selbst mit den Tatsachen auf seine Richtigkeit hin verglichen werden muß." Ein Anreiz, die Logik als ,Beweistheorie' im Sinne rationaler Argumentationsfiihrung zu instrumentalisieren, und ihr den traditionellen Rang eines ,Organon* zuzugestehen, kommt darin ganz sicher nicht zum Ausdruck, und in diesem Sinne steht die tractarianische Konzeption außerhalb einer Entwicklungslinie, die die Geschichte der Logik geprägt hat und die bis heute einflußreich geblieben ist. Die Aneignung der formalen Logik durch die Informatik jedenfalls kann als eine Folge der beweistheoretischen Zielsetzung angesehen werden, mit der die Logik nicht mehr einfach einen Raum der Möglichkeiten abstecken, sondern gerade der Orientierung in einem vorgegebenen Möglichkeitsraum dienen soll. Es gibt gute Gründe, die ontologische wie die epistemische Seite der Logik nebeneinander bestehen zu lassen. Aber wie immer die weitere Entwicklung verlaufen wird, Wittgensteins Begründung der Grundsätze der Logik über einen Raum der Möglichkeiten ist von einer Stringenz, die bisher vielleicht nicht wieder erreicht wurde.
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E I N PLATZ FÜR ALLES MÖGLICHE
Lambek, J./P. Scott (1986): Introduction to Higher Order Categorical Logic, Cambridge. Pears, David (1987): T h e False Prison, Vol. I, Oxford. Rheinwald, Rosemarie (1988): Semantische Paradoxien, Typentheorie und ideale Sprache, Berlin und New York. Russell, Bertrand (1905): „On Denoting", in: Mind 14, S. 479-493. Russell, Bertrand (1908): ^Mathematische Logik auf der Basis der Typentheorie", in: ders., Die Philosophie des Logischen Atomismus, München 1982. Skyrms, Brian (1993): "Logical Atoms and Combinatorial Possibility", in -.Journal of Philosophy 90, S. 219-232. Stenius, Erik (1960): Wittgensteins Traktat, Frankfurt/M. 1969. Vickers, Stephen (1989): Topology via Logic, Cambridge. Wright, Georg Henrik von (1982): "Modal Logic and the Tractatus", in: ders., Wittgenstein, Oxford.
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Logische Satzanalyse und die allgemeine Satzform 1 Though this be madness, yet there is method in't (Hamlet 2 , 2 )
Wittgensteins erklärtes Ziel im Tractatus logico-philosophicus ist es, dem Ausdruck der Gedanken eine Grenze zu ziehen. Er versucht diese selbstgestellte Aufgabe zu erfüllen, indem er die allgemeine Form sinnvoller (und sinnloser) Sätze angibt, die sinnvolle (bzw. sinnlose) von unsinnigen Sätzen trennt. Der Weg zu dieser allgemeinen Satzform führt über die logische Analyse des Satzes und die sich daraus ergebende Unterscheidung von einfachen und komplexen Sätzen, zur operationalen Charakterisierung des Ubergangs von einem Satz zum anderen. Mit Hilfe einer allgemeinen Wahrheitsoperation, des sogenannten N-Operators, gelingt es Wittgenstein, die allgemeine Form des Satzes als die allgemeinste beschreibbare Form des Übergangs von einem Satz zu einem anderen zu entwickeln. Ziel dieses Aufsatzes ist es, diesen Weg so direkt wie möglich nachzuvollziehen. Dazu werde ich verschiedene Charakterisierungen des Satzesbegriffes heranziehen, die Wittgenstein im Tractatus angibt. Mir geht es nicht darum, die Position des Tractatus zu verteidigen, sondern - soweit möglich - systematisch und kohärent darzustellen. Um das zu erreichen, beschränke ich mich auf die Aspekte der Philosophie des Tractatus, die für die 1 Viele kritische Hinweise verdanke ich Erich Ammereller, Holger Sturm und Wilhelm Vossenkuhl. Mein besonderer Dank gilt Johannes Haag.
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Durchfuhrung des oben skizzierten Vorhabens notwendig sind. Außerdem werde ich mich nicht an die Reihenfolge der Themen des Tractatus halten, sondern sie an einigen Stellen entsprechend dem systematischen Zusammenhang verändern, der mich in diesem Aufsatz interessiert. Ich werde alle Bemerkungen Wittgensteins unbeachtet lassen, die mit diesen Problemen nur am Rande (oder gar nichts) zu tun haben. Auch der historische Kontext, in dem Wittgensteins Tractatus entstand, wird nicht dargestellt und soweit möglich unberücksichtigt gelassen.2
7.1 Die funktionale Satzanalyse Ausgangspunkt der Wittgensteinschen Analyse des Satzbegriffes bilden Sätze einer beliebigen Sprache, die wir verstehen und nicht etwa die Sätze einer erst zu entwickelnden, idealen Sprache. Der Untersuchungsgegenstand ist also der verstandene bzw. verstehbare Satz. Deshalb ist es auch nicht zirkulär, wenn Wittgenstein in seiner Argumentation auf das Verstehen von Sätzen zurückgreift. Eine Analyse der Sätze einer verstandenen Sprache weist die Grenzen auf, die einer verstehbaren Sprache gesetzt sind. Diese Grenze wird in der Sprache gezogen, indem wir sinnvolle von unsinnigen, nur scheinbar verstandenen Sätzen trennen. So gelingt es uns, dem Ausdruck der Gedanken die Grenze zu ziehen, von der Wittgenstein im Vorwort des Tractatus spricht: „Das Buch will also dem Denken eine Grenze ziehen, oder vielmehr - nicht dem Denken, sondern dem Ausdruck der Gedanken. [...] Die Grenze wird also nur in der Sprache gezogen werden können und was jenseits der Grenze liegt, wird einfach Unsinn sein." (WA Bd. 1, Vorwort, S. 9) Sätze liegen innerhalb dieser Grenze, wenn sie Glieder der Formenreihe sind, die durch die allgemeine Satzform festgelegt wird. Die allgemeine Satzform läßt sich am besten verstehen, indem die unterschiedlichen Charakterisierungen des Satzbegriffes im Tractatus betrachtet werden. TLP 3.318 lautet folgendermaßen: Auf die umfangreiche Sekundärliteratur, die es zum Tractatus gibt, werde ich nicht eingehen, um mich nicht in - zugegebenermaßen sehr wichtige - Detailfragen zu verstricken. 2
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„Den Satz fasse ich - wie Frege und Russell - als Funktion der in ihm enthaltenen Ausdrücke auf." U m zu verstehen, welches Ziel Wittgenstein mit dieser Charakterisierung verfolgt, muß man auf einen Gedanken zurückgreifen, den Wittgenstein bei seiner Erläuterung des Bildbegriffes erstmals aufgreift und der bei seiner Unterscheidung zwischen Satzzeichen und Satz erneut ins Spiel kommt. Das Bild wird zu einem Modell der Wirklichkeit, indem die Elemente des Bildes, die sich in bestimmter Weise zueinander verhalten, den Sachen, die sie vertreten sollen, zugeordnet werden. Aus diesen Zuordnungen 3 besteht die abbildende Beziehung. Sie gehört zum Bild (TLP 2.12ff). In der Bedeutung des Wortes „Bild" ist dieser darstellende Charakter schon enthalten. Dennoch verstehen wir, was ein Bild darstellt, ohne die Gegenstände, die die Elemente des Bildes vertreten, zu kennen. Erst unter Berücksichtigung der abbildenden Beziehung bildet ein Bild ab. Auf dieser Ebene der Betrachtung kann ein Bild wahr oder falsch sein, es kann mit der Wirklichkeit übereinstimmen oder nicht ( T L P 2.21 ff.). Ein a priori wahres Bild kann es also nach Wittgenstein nicht geben (TLP 2.225).4 Da auch Sätze Bilder sind, unterscheidet Wittgenstein bei seiner Behandlung des Satzbegriffes analog Satzzeichen und projektive Beziehung: „Das Satzzeichen besteht darin, daß sich seine Elemente, die Wörter, in ihm auf bestimmte Art und Weise zueinander verhalten. Das Satzzeichen ist eine Tatsache." (TLP 3.14) „[...] Und der Satz ist das Satzzeichen in seiner projektiven Beziehung zur Welt." (TLP 3.12) Ausgangspunkt der Analyse, so sei hier nochmals betont, ist der verstandene Satz.5 Für die Satzanalyse, die im folgenden darge5 Da diese Zuordnung im folgenden immer wieder auftaucht, sei schon hier vorgreifend bemerkt, daß die Zuordnung als gelungen vorausgesetzt wird. Aufgabe der Philosophie ist es nicht, zu klären auf welche Weise sie im Einzelfall vollzogen wird. (Das ist eher Aufgabe der Psychologie.) Vgl. Wittgensteins Brief an Russell vom 19. August 1919. 4 Tautologien und Kontradiktionen sind - anders als sinnvolle Sätze - keine Bilder der Wirklichkeit, da sie in keiner darstellenden Beziehung zur Welt stehen (TLP 4.462). 5 Diese Voraussetzung ermöglicht Wittgenstein, auf die Term- und Formelbildungsregeln zu verzichten, die ein formales System von der Art der Principia Mathematica braucht, um eine Zeichenfolge als Ausdruck des Systems zu erkennen.
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stellt werden soll, ist es jedoch wichtig, von der projektiven Beziehung des Satzes zur Welt abzusehen und sich auf den Satz als Satzzeichen zu konzentrieren. Die projektive Beziehung ist der Aspekt des Satzes, der ihn wahrheitsfähig macht. Um Wahrheit oder Falschheit eines Satzes geht es aber in T L P 3.318 nicht. Nur das Verständnis des Satzsinnes benötigen wir, um mit der Analyse beginnen zu können. Sie wird dadurch möglich, daß wir bereits die einzelnen Bestandteile des SatzZeichens verstehen. Sie richtet sich so zunächst auf die logisch-syntaktischen Aspekte der Sätze: Sprache wird nur als System von Zeichen analysiert. Die Möglichkeit einer solchen Analyse liefert den Schlüssel zur Erklärung von T L P 3.318. Da sie uns zeigt, daß Sätze Funktionen sind, werde ich sie im folgenden immer als funktionale Satzanalyse bezeichnen. Die Analyse macht das logische Urbild eines Satzes, d. h. seine logische Form (TLP 3.315), explizit. Ihre Durchführung liefert uns die Unterscheidung von willkürlichen und naturnotwendigen Zeichen.6 Um die Unterscheidung zu motivieren, führt Wittgenstein die synonym verwendeten Begriffe „Ausdruck" und „Symbol" ein: .Jeden Teil des Satzes, der seinen Sinn charakterisiert, nenne ich einen Ausdruck (ein Symbol). (Der Satz selbst ist ein Ausdruck.) [...] Der Ausdruck kennzeichnet eine Form und einen Inhalt." (TLP 3.31) Da wir bei der Betrachtung des Satzzeichens zunächst nur mit Zeichen konfrontiert werden, ist es nötig, zu erklären, wie uns der Symbolgehalt des Zeichens zugänglich wird. Wittgenstein verweist zu diesem Zweck auf den sinnvollen Gebrauch des Zeichens: „Um das Symbol [oder den Ausdruck] am Zeichen zu erkennen, muß man auf den sinnvollen Gebrauch achten." (TLP 3.326) Symbole sind sich ähnlich, haben ein „charakteristisches Merkmal" (TLP 3.311), wenn sie denselben logisch-syntaktischen Gebrauch haben (TLP 3.344), der zusammen mit den Zeichen erst eine logische Form bestimmt (TLP 3.327). Dies ist das wesentliche am Symbol (TLP 3.341). Alle Symbole derselben logischen Form bezeichnen auf dieselbe Art. Sie dürfen deshalb füreinander substituiert werden, ohne daß die logische 6
„Willkürlich" bezieht sich hier nicht auf die tatsächliche Gestalt des Zeichens. Diese ist auch bei den naturnotwendigen Zeichen willkürlich.
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Form des Satzes dadurch verändert wird. So spiegelt sich im logisch-syntaktischen Gebrauch eines Zeichens die logische Syntax wieder, die seine logische Form festlegt. Der logisch-syntaktische Gebrauch eines Zeichens zeigt sich folgendermaßen: Zunächst untersucht man alle möglichen Verwendungsweisen des Ausdrucks in der Sprache7. Der Ausdruck selbst bleibt als Gegenstand der Untersuchung konstant, „alles übrige" ist variabel (TLP 3.312). Das heißt, die anderen Symbole werden durch eine Variable ersetzt. Einsetzungen können nur an diesen variablen Stellen vorgenommen werden. Dadurch zeigt sich, daß der Ausdruck in dieser Form der Verwendung das charakteristische Merkmal einer Klasse von Sätzen ist.8 In einem zweiten Schritt werden verschiedene Symbole dann hinsichtlich des im ersten Schritt gewonnenen charakteristischen Merkmals verglichen. Das geschieht, indem nunmehr der Ausdruck durch eine Variable ersetzt wird. Diejenigen Symbole, die bei ihrer Einsetzung für die Variable die logische Form des Satzes nicht verändern, haben dasselbe charakteristische Merkmal. Sie erfüllen alle dieselbe logisch-syntaktische Funktion. Willkürliche Zeichen unterscheiden sich von nicht-willkürlichen oder, wie Wittgenstein sagt, naturnotwendigen Zeichen, gerade dadurch, daß die willkürlichen Zeichen dieselbe logisch-syntaktische Funktion mit anderen Zeichen gemeinsam haben können. Die einzigen naturnotwendigen Zeichen sind die logischen Konstanten. „Logische Konstanten können nicht in Variable verwandelt werden: weil in ihnen das, was symbolisiert, nicht dasselbe ist; alle Symbole, für die man eine Variable einsetzen kann, bezeichnen auf dieselbe Weise." (AM, S. 217)9 Das heißt, die logischen Konstanten10 haben kein gemeinsames charakteristisches Merkmal, das es erlauben würde, auch sie „Die Gesamtheit der Sätze ist die Sprache." (TLP 4.001) Die Sprache ist für Wittgenstein demnach etwas Begrenztes, Abgeschlossenes. (Das schließt nicht ein, daß die Anzahl der Sätze endlich ist.) 8 Syntaktisch ambige Ausdrücke werden in diesem ersten Schritt disambiguiert. Denn die gebildete Satzklasse kann nur Verwendungsfälle enthalten, die den Ausdruck in seiner ursprünglichen logischen Form erfassen. Vgl. dazu Wittgensteins Beispiel „Grün ist grün." ( T L P 3.323) ' Ludwig Wittgenstein, „Aufzeichnungen, die G. E. Moore in Norwegen nach Diktat niedergeschrieben hat" (im folgenden: AM), in: WA Bd. 1. 10 Wittgenstein meint hier die üblichen logischen Konstanten: „und", „oder", „wenn..., dann ...", „es gibt ein" usw. 7
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noch als Variablen darzustellen. Denn ersetzen wir eine logische Konstante durch eine andere, verändert sich die logische Form des Satzes.11 Indem man nun die Ersetzungsmethode auf alle willkürlichen Bestandteile eines Satzes anwendet, erhält man eine Variablenfolge. Die so gewonnene Variablenfolge charakterisiert nun nicht nur den Satz - das komplexe Symbol - aus dem sie gewonnen wurde, sondern alle Sätze - alle komplexen Symbole - , deren logische Form sich in dieser Variablenfolge zeigt. Das heißt, sie zeichnet eine Klasse von Sätzen als Werte des logischen Urbildes aus. Behält man statt dessen einen oder mehrere der willkürlichen Bestandteile des Satzes bei, erhält man ein logisches Bild, das nur eine Teilklasse dieser Klasse herausgreift. Hält man an allen willkürlichen Bestandteilen fest, hat man als Grenzfall den Satz selbst. Die Variable wird dann „zur Konstanten, der Ausdruck zum Satz" (TLP 3.313). Bei der Darstellung der Methode der funktionalen Satzanalyse wurde Wittgensteins Variablenbegriff verwendet. Dieser soll im folgenden gesondert betrachtet werden. Dazu muß Wittgensteins Unterscheidung von Begriffen und formalen Begriffen beachtet werden. J e d e Variable ist das Zeichen eines formalen Begriffes. Denn jede Variable stellt eine konstante Form dar, welche alle ihre Werte besitzen, und die als formale Eigenschaft dieser Werte aufgefasst werden kann." (TLP 4.1271) Die formale Eigenschaft der Werte einer Variablen ist eben das Wesentliche am Symbol, das alle Symbole, die denselben logischsyntaktischen Zweck erfüllen, gemeinsam haben (TLP 3.341; 3.344).12 Ein formaler Begriff kennzeichnet Symbole des gleichen logischen Typs. Beispiele für formale Begriffe sind „Name" und „Funktion". Ein Symbol zeigt, unter welchen formalen Begriff es fällt: 11 Die wechselseitige Definierbarkeit der logischen Konstanten macht sie nicht zu willkürlichen Zeichen. Denn diese Definierbarkeit wäre ohne ein .willkürliches Umfeld' gar nicht erst durchführbar. Die Unterscheidung wäre schon vorausgesetzt. 12 In dieser Hinsicht ist Wittgensteins Variablenbegriff halbformal. Denn der Variablenbegriff ist mit einer Allgemeinheitsbehauptung verbunden. Eine Variable charakterisiert die formalen Eigenschaften aller Symbole dieses logischen Typs. Diese Allgemeinheit läßt sich nicht formal ausdrücken, sondern zeigt sich in der zu betrachtenden Sprache. Vgl. Wittgensteins Bemerkungen zur Allgemeinheit (TLP 5.522ff.).
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„[...] Daß etwas unter einen formalen Begriff als dessen Gegenstand fällt, kann nicht durch einen Satz ausgedrückt werden. Sondern es zeigt sich an dem Zeichen dieses Gegenstandes selbst. (Der Name zeigt, daß er einen Gegenstand bezeichnet, das Zahlenzeichen, daß es eine Zahl bezeichnet etc.) [...]" (TLP 4.126) Anders als die „eigentlichen" Begriffe können formale Begriffe nicht durch Funktionen dargestellt werden, sondern werden durch Variablen bezeichnet (4.126f.). Genauer gesagt durch Satzvariablen. Denn ein Symbol wird durch die Verwendung im Satz charakterisiert. Die Satzvariable ist eine Auflistung13 derjenigen Sätze, in denen Symbole, derselben logischen Form, in der betrachteten Sprache verwendet werden. Die Symbole sind das charakteristische Merkmal dieser Satzliste. Das heißt, in jedem Satz dieser Satzliste zeigt sich die logische Form dieser Symbole. Die Werte der Satzvariablen zeigen die formale Eigenschaft dieses Ausdrucks. Sie benennen also nichts. Deshalb bezeichnen formale Begriffe nichts. Wir können also nicht mit Hilfe formaler Begriffe über die formalen Eigenschaften von Symbolen reden. Diese zeigen sich nur in der Verwendung des Symbols in der Sprache.14 Die funktionale Satzanalyse läßt sich also - unter Verwendung des explizierten Variablenbegriffs - zusammenfassend folgendermaßen charakterisieren: Sie ist eine Methode, die uns erlaubt, die logische Form eines Satzes systematisch zu untersuchen. Dazu betrachten wir die Verwendungsweise der Symbole dieses Satzes und vergleichen diese mit der Verwendungsweise anderer Symbole der Sprache. Das so gewonnene logische Urbild eines Satzes ist eine Satzvariable, deren Werte alle Sätze der entsprechenden Satzklasse sind. Die formale Eigenschaft des Satzes zeigt sich in jedem Wert dieser Satzvariable. Sie ist 13
Wittgenstein gibt in T L P 5.501 drei Arten der Beschreibung dieser Auflistung an. 14 Da formale Begriffe nicht durch eine Funktion dargestellt werden können, kann man die Klasse der Symbole, die unter einen formalen Begriff fallen, nicht bilden. Deshalb kann man natürlich auch keine Aussagen über die Eigenschaften einer solchen Klasse machen. Deswegen kann Wittgenstein schreiben „[...] So kann man z. B. nicht sagen ,Es gibt Gegenstände', wie man etwa sagt ,Es gibt Bücher' [...]" (TLP 4.1272). Daß es z. B. Gegenstande gibt, läßt sich nicht sagen, sondern zeigt sich dadurch, daß es Namen gibt, die Gegenstände bezeichnen. Vgl. auch T L P 5.535.
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das charakteristische Merkmal, das dieser Satz (dieses komplexe Symbol) mit anderen Sätzen (komplexen Symbolen) gemeinsam hat. Für die funktionale Satzanalyse ist nur die logisch-syntaktische Verwendung der Elemente des Satzzeichens wichtig. Inwiefern aber dient nun die funktionale Satzanalyse zum besseren Verständnis der Charakterisierung des Satzes von T L P 3.318 als Funktion der in ihm enthaltenen Ausdrücke? Die Verbindung schafft Wittgensteins Auffassung von Funktionen. Denn die funktionale Satzanalyse hat Sätze als etwas Zusammengesetztes erwiesen. Wo aber Zusammengesetztes ist, so Wittgenstein, da sind auch Funktion und Argument (TLP 5.47). Eine Funktion ist eine Abbildung von einem Argumentbereich in einen Wertebereich. Dem Satz - als Funktion aufgefasst - ist als Wertebereich die durch die logische Form des Satzes charakterisierte allgemeine Satzklasse zugeordnet. Auch der ihm zugeordnete Argumentbereich ist bereits durch die logische Form des Satzes festgelegt. Denn die Argumente sind die Einsetzungen der Symbole an den variablen Stellen des logischen Urbilds des Satzes. Jede Variable steht ja für den logischen Typ eines Symbols. Alle Symbole derselben logischen Form sind also die einzusetzenden Argumente. Die funktionale Satzanalyse zeigt uns, wie das logisch-syntaktische Zusammenspiel der Symbole den Satz charakterisiert.
7.2 Die projektive Beziehung Im folgenden soll geklärt werden, wie es möglich ist, Aussagen über die Wirklichkeit zu machen. Denn jeder Satz ist ein Bild der Wirklichkeit (TLP 4.021). Deshalb müssen sich die Gedanken, die sich Wittgenstein zum Bildbegriff macht, auch auf den Satzbegriff übertragen lassen. Zu diesem Zweck werde ich den Zusammenhang der funktionalen Satzanalyse mit der Bildtheorie erläutern.
7.2.1 Die logische Form „Die Möglichkeit des Satzes beruht auf dem Prinzip der Vertretung von Gegenständen durch Zeichen [...]" (TLP 4.0312). Wie ist es möglich, daß Zeichen Gegenstände vertreten? Weil die
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beiden Relata der projektiven Beziehung - die Sprache einerseits, die Welt andererseits - eine Minimalbedingung erfüllen, die jedes Abbildungsverhältnis erfüllen muß: Sie haben etwas gemeinsam (TLP 2.16). Das, was sie mindestens gemeinsam haben müssen, ist die logische Form (TLP 2.18). Der Satz kann also zum Modell der Wirklichkeit werden, weil er dieselbe logische Form hat wie die Wirklichkeit. Die logische Form spiegelt sich im Satz (TLP 4.121). Durch die funktionale Satzanalyse konnten wir die logische Form von einfachen und komplexen Symbolen aufzeigen, indem wir explizit von der projektiven Beziehung abgesehen haben. Diese projektive Beziehung gilt es nun wieder in die Betrachtung einzubeziehen, damit die Satzzeichen wieder zu Sätzen, und damit zu Bildern der Wirklichkeit werden. Sätze sind komplexe Symbole, einfache Symbole sind die Namen. Zeichen für Namen sind die Zeichen, die im Satz die Gegenstände vertreten (TLP 3.22). „Die Möglichkeit seines Vorkommens in Sachverhalten ist die Form des Gegenstandes." (TLP 2.0141) Entsprechend kann man sagen: Die Möglichkeit seines Vorkommens in Sätzen ist die logische Form des Symbols. Die Namen sind die einfachen Symbole (TLP 4.24) und ihre logische Form wird durch ihre Verwendungsweise in den Sätzen charakterisiert. Die Substanz ist Form und Inhalt (TLP 2.025) und der „[...] Ausdruck kennzeichnet eine Form und einen Inhalt" (TLP 3.31). Ausdrücke einer bestimmten logischen Form vertreten Gegenstände von derselben logischen Form (TLP 2.0233). „Einer bestimmten logischen Verbindung von Zeichen entspricht eine bestimmte logische Verbindung ihrer Bedeutungen; [...]" (TLP 4 4.466) Welchen Gegenstand ein Symbol vertritt, ist nunmehr nur noch eine Frage des Inhalts; denn die logische Form kann das Symbol mit mehreren gemeinsam haben. Welchen Inhalt ein Symbol vertritt, wird durch die projektive Beziehung festgelegt. Nun verstehen wir auch Wittgensteins Begründung dafür, daß die funktionale Satzanalyse nur zeigen kann, daß der Satz die logische Form besitzt: „Der Satz kann die gesamte Wirklichkeit darstellen, aber er kann nicht darstellen, was er mit der Wirklichkeit gemein haben muß, um sie darstellen zu können - die logische Form. Um die logische Form darstellen zu können, müßten wir uns mit
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dem Satze außerhalb der Logik aufstellen können, das heißt außerhalb der Welt. Der Satz kann die logische Form nicht darstellen, sie spiegelt sich in ihm. Was sich in der Sprache spiegelt, kann sie nicht darstellen. Was sich in der Sprache ausdrückt, können wir nicht durch sie ausdrücken. Der Satz zeigt die logische Form der Wirklichkeit. Er weist sie auf." (TLP 4.12; 4.121) Da Sätze Bilder sind und Bilder immer auch Tatsachen, ist es möglich, mit Sätzen über andere Sätze zu reden. Diese müssen aber die gemeinsame logische Form haben, die sich wieder nur zeigen kann. Auch kann es keine Sätze über logische Gegenstände geben, da die logischen Konstanten nichts vertreten (TLP 4.0312). Somit gibt es keinen Sachverhalt, der eine Verkettung von logischen Gegenständen ist, und somit erst recht keinen Satz, der einen derartigen Sachverhalt beschreibt (TLP 4.441). Sätze können also erst dann richtige bzw. falsche Bilder der Wirklichkeit sein, wenn all denjenigen Bestandteilen eine Bedeutung zugeordnet ist, die Gegenstände vertreten sollen. Wenn einem oder mehreren der willkürlichen Bestandteile keine Bedeutung zugeordnet ist, wird der Satz dadurch nicht falsch. Er ist vielmehr noch gar nicht wahrheitsfähig, d. h. - in Wittgensteins Terminologie - unsinnig15 (TLP 5.473).
7.2.2 Der Elementarsatz Bei den Sätzen unterscheidet Wittgenstein verschiedene Grade der Komplexität. Die einfachsten Sätze sind die Elementarsätze. Sie behaupten das Bestehen eines Sachverhaltes (TLP 4.21). Sie sind einfach, weil sie als Verkettung der einfachen Symbole der Namen - minimale Sinneinheiten sind, die eine untere Schranke für die 5/w«analyse bilden. Die Namen, als einfache Symbole, haben nur im Satzverbund Bedeutung, denn es „[...] ist unmöglich, daß Worte in zwei verschiedenen Weisen auftreten, allein und im Satz" (TLP 2.0122).16 So wie Gegenstände 15 Dieser Satz ist auch nicht möglicherweise wahr bzw. falsch. Das Möglichkeitsspektrum umfaßt das Bestehen bzw. Nichtbestehen der durch die Sätze beschriebenen Sachverhalte. Der zugrundegelegte Objekt-/Gegenstandsbereich ist invariant. Vgl. TLP 2.023. 16 An dieser Stelle sei daran erinnert, daß bei Wittgenstein - im Gegensatz zu Frege - Sätze keine Bedeutung haben, sondern nur Sinn. Namen müssen in ei-
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nur in Sachverhalten und nicht allein auftreten können, können auch die Namen, die ja Gegenstände bezeichnen, nur in Sätzen auftreten, die Sachverhalte abbilden. Der Elementarsatz bildet genau einen Sachverhalt ab, Sätze dagegen komplexe Sachlagen. Sachverhalte können bestehen oder nichtbestehen. Der Elementarsatz, der einen Sachverhalt abbildet, behauptet das Bestehen dieses Sachverhaltes. Er ist wahr, wenn der durch ihn behauptete Sachverhalt besteht, falsch, wenn er nicht besteht (TLP 4.25). Erst durch den Vergleich mit der Wirklichkeit können wir feststellen, ob ein Elementarsatz wahr oder falsch ist (TLP 2.223). Verstehen kann man einen Satz hingegen, ohne zu wissen, ob er wahr ist; entscheidend ist nur, daß man seine Bestandteile versteht (TLP 4.024). Deshalb läßt sich ja die funktionale Satzanalyse überhaupt erst durchfuhren. Was unterscheidet nun Elementarsätze in logischer Hinsicht von komplexen Sätzen? Der logische Unterschied kann nicht darin bestehen, daß die komplexen Sätze die logischen Operationen enthalten und die Elementarsätze nicht. Es sind „[...] schon im Elementarsatze alle logischen Operationen enthalten" (TLP 5.47). Der Unterschied zwischen den beiden Satzklassen liegt vielmehr in der Art der Möglichkeit des Vorkommens von Namen. Zwar muß jeder Satz als Bild der Wirklichkeit Namen enthalten, doch ist dies eine mittelbare Beziehung, während sie im Elementarsatz unmittelbar ist (TLP 4.221). Namen sind Urzeichen, sie können durch keine Definition weiter zergliedert werden (TLP 3.26). „Wir müssen Sätze verstehen können, die wir nie zuvor gehört haben. Doch jeder Satz ist ein neues Symbol. Also müssen wir allgemeine undefinierbare Symbole haben; diese sind unumgänglich, sofern die Sätze nicht allesamt undefinierbar sind." (AüL, S. 194.]17 (Vgl. TLP 3.263; 4.026) Diese allgemeinen undefinierbaren Symbole sind die Namen. Daß Namen in komplexen Sätzen nur mittelbar vorkommen können, zeigt folgende Überlegung. In jedem Satz - sofern er nicht unsinnig ist - müssen alle in ihm vorkommenden Namen nem sinnvollen Satz Bedeutung haben und charakterisieren den Sinn des Satzes. Vgl. T L P 3.3. " Ludwig Wittgenstein, „Aufzeichnungen über Logik" (im folgenden: AüL), in: WA Bd. 1.
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Bedeutung haben. Jeder Name charakterisiert den Sinn des Satzes. Deshalb muß es bei der Siniymalyse eines Satzes immer eine minimale Sinneinheit geben, in deren Verbund der Name Bedeutung hat. Ist diese minimale Sinneinheit der gesamte Satz, dann haben wir es mit einem Elementarsatz zu tun. Ist sie ein Teil des Satzes, so ist dieser Teil ein Elementarsatz. Dann enthält der (komplexe) Satz einen Elementarsatz. Der betrachtete Name kommt dann „im Zusammenhange des Elementarsatzes" vor (TLP 4.23). Wenn er im komplexen Satz in einer anderen logischen Form vorkäme, würde dadurch die bezeichnende Beziehung zwischen Namen und Welt verändert - der Name würde eine andere Bedeutung erhalten und wäre somit nicht mehr derselbe Name. In diesem Fall wäre der komplexe Satz nicht mehr eindeutig zerlegbar. Die Wirklichkeit wäre durch den Satz dann nicht mehr „auf ja oder nein fixiert" (TLP 4.023). Dies widerspricht aber Wittgensteins Postulat der Eindeutigkeit der vollständigen Analyse eines Satzes (TLP 3.25). Es ist also eine wesentliche Eigenschaft von Namen in einem Elementarsatz vorzukommen. Die in komplexen Sätzen enthaltenen Namen kommen darin nur mittelbar vor. Jeder Elementarsatz ist das Bild eines Sachverhaltes. Er ist ein richtiges Bild, wenn der durch ihn behauptete Sachverhalt besteht, ein falsches, wenn er nicht besteht. Weil komplexe Sätze aus Elementarsätzen aufgebaut sind, stellt sich die Frage, welche Art von Bildern komplexe Sätze sind. Komplexe Bilder können nicht aus Bezeichnungen für Gegenstände aufgebaut sein. Denn komplexe Bilder sind aus einfachen Bildern aufgebaut. Bilder aber sind Tatsachen und können deshalb nicht durch Bezeichnungen für Gegenstände vertreten werden. Komplexe Bilder sind als Aneinanderreihungen von einfachen Bildern ein probeweises Zusammenstellen der Bilder von Sachverhalten zu dem komplexen Bild einer Sachlage ( T L P 4.031). Hier stellen sich zwei Fragen: Wie kommt dieser Bild- bzw. Satzverband zustande? Und in welcher internen abbildenden Beziehung stehen, zweitens, die komplexen Bilder zur Wirklichkeit? Die Antwort auf die zweite Frage liefert uns die Theorie der Sätze als Wahrheitsfunktionen, die Gegenstand der folgenden Abschnitte 7.3 und 7.4 ist. Die Beantwortung der ersten Frage liefern die Abschnitte 7.5 und 7.6. Denn erst wenn wir Sätze als Resultate von Wahrheitsoperationen betrachten, können wir erklären, wie der Satzverband zustande kommt.
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7.3 Sätze als Wahrheitsfunktionen Komplexe Sätze können nicht mehr über die Wirklichkeit aussagen als Kombinationen von Elementarsätzen. Denn die Gesamtheit der Elementarsätze beschreibt die Wirklichkeit vollständig. „Was immer zusammengesetzten Sätzen in der Wirklichkeit entspricht, darf nicht mehr sein, als was ihren einzelnen Atomsätzen [Elementarsätzen] entspricht." (AüL, S. 195; meine Hervorhebung.) Denn das „Bestehen und Nichtbestehen von Sachverhalten ist die Wirklichkeit [...]" (TLP 2.06) und Elementarsätze beschreiben bestehende und nichtbestehende Sachverhalte. Da die Welt die Gesamtheit der bestehenden Sachverhalte ist (TLP 2.04) und die Elementarsätze das Bestehen von Sachverhalten behaupten, würde die Gesamtheit der wahren Elementarsätze die Welt vollständig beschreiben (TLP 4.26). Sätze leisten also nichts wirklich über Elementarsätze hinausgehendes. Auch der komplexe Satz kann natürlich als Bild der Wirklichkeit die Welt richtig oder falsch abbilden. Doch nur „insoweit ist der Satz ein Bild der Sachlage, als er logisch gegliedert ist" (TLP 4.032). Jeder Satz hat einen Wahrheitswert. Er ist wahr, wenn er die Welt richtig, falsch, wenn er sie falsch abbildet. Den Wahrheitswert eines komplexen Satzes kann man in vier Schritten ermitteln. Im wesentlichen folgt nun die Darstellung der aus der Aussagenlogik bekannten Wahrheitstafelmethode. Ich werde sie dennoch ausführlich schildern, um Wittgensteins Begriffsapparat einzuführen, auf den ich noch zurückgreifen muß. 1. Zunächst betrachtet man alle kombinatorischen Möglichkeiten der Zusammenstellung von Wahrheitswerten der Elementarsätze, die in dem betreffenden Satz vorkommen. Jede einzelne mögliche Zusammenstellung entspricht genau einer Sachlage, über deren Bestehen und Nichtbestehen noch nichts ausgesagt ist. In diesem Schritt werden die abgebildeten Sachlagen noch nicht zur Welt in Bezug gesetzt. Den n Sachverhalten entsprechen kombinatorisch 2" Möglichkeiten des Bestehens und Nichtbestehens von Sachverhalten (TLP 4.27). „Diesen Kombinationen entsprechen ebenso viele Möglichkeiten der Wahrheit - und
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Falschheit - von n Elementarsätzen." (4.2 8)18 Wittgenstein nennt sie die Wahrheitsmöglichkeiten der Elementarsätze. 2. In einem zweiten Schritt wird die logische Form des Satzes betrachtet. Dies geschieht, indem den Wahrheitsmöglichkeiten der Elementarsätze die kombinatorisch möglichen Wahrheitswerte des Satzes zugeordnet werden. Denn die „[...] Wahrheitsmöglichkeiten der Elementarsätze sind die Bedingungen der Wahrheit und Falschheit der Sätze" (TLP 4.41). Die Zuordnung der Wahrheitsmöglichkeiten der Elementarsätze zu den kombinatorisch möglichen Anordnungen von Wahrheitswerten des Satzes nennt Wittgenstein die Wahrheitsbedingungen des Satzes. Sie „bestimmen den Spielraum, der den Tatsachen durch den Satz gelassen wird" (TLP 4.463). Den 2" Wahrheitsmöglichkeiten der Elementarsätze entsprechen 22" mögliche Gruppen von Wahrheitsbedingungen des Satzes ( T L P 4.45). Diese Gruppen stellen alle kombinatorisch möglichen Verknüpfungsweisen der Wahrheitswerte der Elementarsätze dar. An den beiden Enden des auf diese Weise geordneten Spektrums findet man als Grenzfälle Tautologie und Kontradiktion. Jeder Satz der eine Tautologie ist, ist fiir alle seine WahrheitsmöglichTautologie
W W 2" Wahrheitsmöglichkeiten
W W
. \
n Elementarsätze
W W W W
Gruppen von Wahrheitsbedingungen
18 Die Wahrheitswerte der Elementarsätze bilden den Ausgangspunkt der Wahrheitswertanalyse von komplexen Sätzen.
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keiten wahr-, wenn er eine Kontradiktion ist, ist er für alle. falsch. In beiden Fällen sagt der Satz nichts über die Welt; er ist, in Wittgensteins Terminologie, sinnlos. 3. In einem dritten Schritt wird nun aus den möglichen Gruppen der Wahrheitsbedingungen diejenige ausgewählt, die der logischen Form des Satzes entspricht. Für die Konjunktion sieht das so aus: p
q
w w
w
F F
F
w F
P
Aq
W F F F
4. Erst dann betrachten wir, in einem vierten Schritt, die einzelnen Zeilen der so entstandenen Wahrheitstafel. Um den Wahrheitswert eines komplexen Satzes zu ermitteln, müssen wir die Wahrheitswerte seiner Elementarsätze betrachten. Wir suchen die Zeile in der Wahrheitstafel aus, in der die Wahrheitswerte der Elementarsätze so kombiniert sind, daß sie dem tatsächlichen Bestehen und Nichtbestehen der Sachverhalte entsprechen, die sie abbilden. Auf Grund der im dritten Schritt erfolgten Festlegung der logischen Form entspricht dann dem Satz genau ein Wahrheitswert. Die Wahrheitstafel zeigt uns, wie die einzelnen Elementarsätze zu einem komplexen Satz verknüpft sind, indem sie die Wahrheitsbedingungen des komplexen Satzes festlegt. Die Angabe der Wahrheitsbedingungen des komplexen Satzes zeigt uns die Vernüpfung seiner einzelnen Elementarsätze. So ist Wittgensteins Behauptung zu verstehen, daß der „Satz [...] eine Wahrheitsfunktion der Elementarsätze ist. (Der Elementarsatz ist eine Wahrheitsfunktion seiner selbst.)" (TLP 5) „Die Elementarsätze sind die Wahrheitsargumente des Satzes." (TLP 5.01)
7.4 Problematische Fälle Wie wir gesehen haben, gibt es für Wittgenstein keinen Satz, der nicht wahrheitsfunktional ist. Das heißt, der Wahrheitswert
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eines Satzes läßt sich immer eindeutig aus den Wahrheitswerten seiner Elementarsätze ermitteln, die ihrerseits wieder Wahrheitsfunktionen ihrer selbst sind. Es ist nicht möglich, daß ein Satz im Satzverband eine andere als eine wahrheitsfunktionale Verwendung hat. Die Wahrheitsfunktionalität des Satzes ist für den Wahrheitswert, den der Satz erhält, eine hinreichende und notwendige Bedingung. Sie wird so zum entscheidenden Kriterium dafür, ob etwas ein Satz ist oder nicht. Deshalb muß sich Wittgenstein mit folgenden Satzformen gesondert auseinandersetzen, die auf den ersten Blick die Forderung der Wahrheitsfunktionalität zu verletzen scheinen.
7.4.1 Propositionale Einstellungen Gibt es Sätze, die nahelegen, daß die Bedingung der Wahrheitsfunktionalität keine notwendige Bedingung für den Wahrheitswert eines Satzes ist? Mit anderen Worten: Gibt es nicht vielleicht doch Sätze, die einen Wahrheitswert haben, ohne zugleich wahrheitsfunktional zu sein? Prominente Beispiele hierfür scheinen Sätze zu sein, mit denen wir propositionale Einstellungen zuschreiben: ,A wünscht (glaubt, hofft, denkt etc.), daß p.' Bei Sätzen dieser Form entsteht der Eindruck, daß wir mit ihrer Äußerung das Bestehen einer Relation zwischen einem Subjekt A und einem Satz p behaupten (ARp-Analyse) (TLP 5.541). Und dieser Sachverhalt - so scheint es - besteht unabhängig von dem Wahrheitswert des (Teil-)Satzes p. Das ist deshalb so einleuchtend, weil unsere Überzeugungen üblicherweise nichts über die Wahrheit ihres Inhaltes aussagen: Wir können falsche Uberzeugungen haben. Ist die ARp-Analyse richtig, dann hat der Wahrheitswert des Teilsatzes p keinerlei wahrheitsfunktionalen Einfluß auf den Wahrheitswert des komplexen Satzes, der ja nur behauptet, daß A eine bestimmte (wahre oder falsche) Überzeugung hat. Dieser Satz wäre somit nicht wahrheitsfunktional, obwohl er einen Wahrheitswert hat. Denn er ist wahr, wenn der Wunsch (die Überzeugung, die Hoffnung, etc.) besteht, falsch, wenn sie nicht besteht. Um dieses Problem aufzulösen, stehen Wittgenstein zwei Strategien zur Verfügung. Entweder er akzeptiert die ARp-Analyse, und schließt daraus, daß Sätze, die propositionale Einstel-
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lungen ausdrücken, dann keine Sätze sind, weil sie eben das Kriterium der Wahrheitsfunktionalität nicht erfüllen. Oder - und dies ist die Strategie, die Wittgenstein wählt - er entscheidet sich für eine alternative Analyse, die den wahrheitsfunktionalen Charakter derartiger Sätze offenlegt. Dabei wird sich zeigen, daß p in Sätzen die propositionale Einstellungen ausdrücken im Widerspruch zur ARp-Analyse - nicht die Funktion eines Satzes hat. Ich werde im folgenden zeigen, daß Sätze, die eine propositionale Einstellung ausdrücken, keine Gegenbeispiele gegen die notwendige Wahrheitsfunktionalität aller Sätze sind. Dazu muß geklärt werden, ob p die Rolle eines Satzes im Satz spielt. Der durch den Satz (G) „A wünscht, daß p." behauptete Sachverhalt besteht, genau dann wenn A wünscht, daß der durch p beschriebene Sachverhalt besteht. Damit ein (Teil-)Satz eine wahrheitsfunktionale Rolle spielen kann, müssen zwei Bedingungen erfüllt sein: (a) Der Satz muß das Bild eines Sachverhaltes bzw. einer Sachlage sein. Dazu müssen alle im Satz vorkommenden Namen Gegenstände vertreten, und der Satz muß die logische Form mit dem Abgebildeten gemeinsam haben. (b) Der Satz behauptet das Bestehen (bzw. Nichtbestehen) eines Sachverhaltes bzw. einer Sachlage. In einem falschen Bild vertreten die Namen keine anderen Gegenstände als im richtigen Bild, sondern die Verkettung der Elemente des Bildes entspricht nicht der Verkettung der durch sie vertretenen Gegenstände in der Wirklichkeit. In Sätzen, die - wie (G) - propositionale Einstellungen ausdrücken, erfüllt p die Bedingung (b) nicht. Denn p wird nicht behauptet, sondern gewünscht (gedacht, geglaubt usw.).19 Der Satz (G) beschreibt einen Wunsch. Eine korrekte Analyse muß also zeigen, daß p im Satz (G) zwar einen Sachverhalt (bzw. eine Sachlage) abbildet, aber nicht dessen (deren) Bestehen behauptet, p kann deshalb keine wahrheitsfunktionale Rolle in (G) spielen. Welche Rolle p im Satz (G) tatsächlich spielt, kann also offenbleiben. Was wir gezeigt haben, ist, daß uns die ARp-Analyse kein 19 Dies gilt auch für den Sonderfall einer Behauptung. Bei Sätzen der Form „A behauptet, daß p " erfüllt p ebenfalls nicht die Bedingung (b). Die Behauptung wird erst durch den komplexen Satz ausgesprochen und nicht durch p.
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Gegenbeispiel zur Wahrheitsfunktionalität als notwendiger Bedingung für den Wahrheitswert komplexer Sätze liefern kann, weil sie falsch ist. Sie behauptet ja gerade, daß p ein (Teil-)Satz ist, und nur wenn p ein Satz ist, muß p sich wahrheitsfunktional verhalten. Die obige Argumentation hat aber gerade gezeigt, daß p kein Satz ist.20
7.4.2 Kausalsätze Ein Gegenbeispiel zur Wahrheitsfunktionalität nicht als notwendiger, sondern als hinreichender Bedingung für Sätze scheinen Kausalsätze zu bilden. Denn in Kausalsätzen kann scheinbar die Wahrheit des komplexen Satzes erst durch die Bezugnahme auf die Inhalte der Teilsätze geklärt werden. In solchen Sätzen wird ja gerade behauptet, daß aus der Wahrheit des einen Teilsatzes die Wahrheit des anderen folgt. Ein Kausalsatz scheint nur dann wahr zu sein, wenn diese Folgerungsbeziehung besteht. Ich verwende den Begriff,Kausalsatz' in einem sehr weiten Sinne und rechne auch andere ,gesetzesartige' Sätze hinzu. In Abschnitt 7.5 betrachte ich die logische Folgerungsbeziehung, die zwischen Sätzen bestehen kann. Dort wird die Möglichkeit der internen Beziehungen zwischen Sätzen allgemein behandelt. Jetzt geht es nur darum, daß Kausalsätze für Wittgenstein nicht gegen das Kriterium der Wahrheitsfunktionalität verstoßen. Sätze wie z. B. „Alle Menschen sind sterblich." oder „Es wird wärmer, weil die Sonne scheint." scheinen nicht wahrheitsfunktional zu sein. Ihr Wahrheitswert läßt sich scheinbar nicht ausschließlich mit Hilfe der Wahrheitswerte seiner Teilsätze ermitteln. Denn der Kausalsatz behauptet das Bestehen eines .Kausalzusammenhanges' zwischen den beiden Teilsätzen. So scheint der Satz „Alle Menschen sind sterblich." zu behaupten, daß aus dem Menschsein das Sterblichsein folgt. Der Satz wird nur dann wahr, wenn der Kausalzusammenhang zwischen den beiden Teilsätzen besteht. Dieser ursächliche Zusammenhang ist aber nicht wahrheitsfunktional. Kausalsätze wären damit ein Gegenbeispiel für das Kriterium der Wahrheitsfunktionalität. An dieser Stelle kann offenbleiben, welche Wahrheitsbedingungen solche Sätze haben. Zur Beantworung dieser Frage, die für den Tractatus von großer - für mein Vorhaben aber von keiner - Bedeutung ist, müßte die Rolle von p genau geklärt werden. 20
LOGISCHE SATZANALYSE UND DIE ALLGEMEINE SATZFORM
Aber: „Einen Kausalnexus, der einen solchen Schluß rechtfertigt gibt es nicht." (TLP 5.136) „[...] Der Glaube an den Kausalnexus ist der Aberglaube." (TLP 5.1361) Er ist deshalb Aberglaube, weil der „ganzen modernen Weltanschauung [...] die Täuschung [zugrunde liegt], daß die sogenannten Naturgesetze die Erklärungen von Naturerscheinungen seien" (TLP 6.371). Denn wenn die Sonne scheint, dann erklärt das nicht, daß es wärmer wird, sondern die Wahrheit des Satzes „Wenn die Sonne scheint, dann wird es wärmer." zeigt uns die mögliche Form eines naturwissenschaftlichen Satzes. Aus Einsichten über die mögliche Form von wissenschaftlichen Sätzen, läßt sich aber nichts über ihren tatsächlichen Wahrheitswert sagen. Dieser läßt sich nur aus den Wahrheitswerten ihrer Teilsätze und ihrer logischen Verknüpfung zum komplexen Satz ermitteln. „Einen Zwang, nach dem Eines geschehen müßte, weil etwas anderes geschehen ist, gibt es nicht. Es gibt nur eine logische Notwendigkeit." (TLP 6.37) Das heißt, auch wenn es uns so scheint, als würden wir Kausalsätze gerade wegen des behaupteten ursächlichen Zusammenhanges für richtig halten, ist dieser für Wittgenstein kein Kriterium ihrer Wahrheit, sondern nur eine psychologische Begründung (TLP 6.3631). Doch Wittgensteins Wissenschaftstheorie soll uns an dieser Stelle nicht weiter interessieren. Für mich ist hier nur wichtig, daß es keine andere Form der internen Relationen zwischen Sätzen gibt, die in ähnlicher Weise a priori gilt, wie die logischen Beziehungen, die im nächsten Abschnitt behandelt werden. Die Wahrheitsfunktionalität ist demnach - so versucht Wittgenstein zu zeigen - durch die Gegenbeispiele nicht gefährdet. Wahrheitsfunktionalität ist eine notwendige und hinreichende Bedingung für die Bestimmung des Wahrheitswertes eines Satzes, und ist deshalb ein zuverlässiges Kriterium dafür, ob etwas ein Satz ist, oder nicht.
7.5 Interne Beziehungen zwischen Sätzen Bisher haben wir bei der Untersuchung der logischen Struktur einzelner Sätze ihre abbildende, interne Beziehung zur Welt betrachtet. Dabei haben wir festgestellt, daß die logische Form des
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Satzes die logische Form der Welt widerspiegeln muß. In diesem Abschnitt interessieren uns nun die Beziehungen, die in der Sprache zwischen Sätzen bestehen, die internen Beziehungen zwischen Sätzen. Solche Beziehungen können sich nur zeigen (TLP 4.122). „Das Bestehen einer internen Relation zwischen möglichen Sachlagen drückt sich sprachlich durch eine interne Relation zwischen den sie darstellenden Sätzen aus." (TLP 4.125) Mit Hilfe der Wahrheitstafelmethode können wir alle möglichen Verknüpfungsweisen von Elementarsätzen in komplexen Sätzen erfassen. Wir haben auf diese Weise untersucht in welcher Beziehung die komplexen Sätze zur Wirklichkeit stehen. Das heißt, in welcher internen Beziehung komplexe Sätze zur Welt stehen. Die Wahrheitstafelmethode ermöglicht es uns auch, die internen Beziehungen zwischen Sätzen darzustellen, indem wir die Wahrheitstafeln der Sätze zueinander in Beziehung setzen.
7.5.1 Folgern und Unabhängigkeit Logische Beziehungen zwischen Sätzen entstehen, so Wittgenstein, nicht erst dadurch, daß wir die Sätze zueinander in Beziehung setzen. Sie „[...] sind intern und bestehen, sobald und dadurch, daß jene Sätze bestehen" (TLP 5.131).21 Für uns werden sie ersichtlich, indem wir die Satzformen mit Hilfe ihrer Wahrheitstafeln zueinander in Beziehung setzen. Um zu sehen, auf welche Weise dies möglich ist, müssen wir Wittgensteins Definition von Wahrheitsgründen heranziehen. „[...] Diejenigen Wahrheitsmöglichkeiten seiner Wahrheitsargumente, welche den Satz bewahrheiten, will ich seine Wahrheitsgründe nennen." (TLP 5.101) Sätze, die keine Elementarsätze miteinander gemein haben, sind voneinander unabhängig. Denn Elementarsätze bilden Sachverhalte ab, und Sachverhalte sind voneinander unabhängig (TLP 2.061). Deshalb sind auch komplexe Sätze, die keine gemeinsamen Elementarsätze haben, voneinander unabhängig. Es besteht auch keine Möglichkeit sie logisch zueinander in Bezie21
Schlußgesetze erübrigen sich demnach (TLP 5.132). „Alles Folgern geschieht a priori." (TLP 5.133)
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hung zu setzen, da sie keine gemeinsamen Wahrheitsgründe haben.22 Sätze hingegen, die gemeinsame Elementarsätze haben, können zueinander in Beziehung gesetzt werden. So z. B. mit Hilfe des logischen Beweises eines sinnvollen Satzes aus anderen sinnvollen Sätzen. Zu beachten ist dabei, daß die im Beweis verwendeten Tautologien dem Satz nichts hinzufügen. Denn das „logische Produkt einer Tautologie und eines Satzes sagt dasselbe wie der Satz. Also ist jenes Produkt identisch mit dem Satz" ( T L P 4.465). Um Sätze mit einer unterschiedlichen Anzahl von Elementarsätzen zueinander in Beziehung zu setzen, indem man ihre Wahrheitstafeln zueinander in Beziehung setzt, muß man alle Wahrheitsmöglichkeiten ihrer Elementarsätze betrachten. Dazu vereint man die Elementarsätze beider Sätze und erstellt dann eine Liste aller möglichen Kombinationen von Wahrheitswerten dieser Elementarsätze. Dann erst erstellt man für die Sätze ihre entsprechenden Wahrheitstafeln. Zum Beispiel folgt logisch aus (der Wahrheit von) p A q (die Wahrheit von) (p A q) v r.
p
q
r
w w w w
w w
W F W F W F W F
F F F F
F F
w w F F
(p* q)
(p
w
W W
W
F F F F F F
A
q) v r
w F
w F
W F
Aus der Wahrheit des Satzes p A q folgt also die Wahrheit des Satzes (p A q) v r genau dann, wenn die Wahrheitsgründe des Satzes p A q in den Wahrheitsgründen des Satzes (p A q) v r enthalten sind ( T L P 5.121). Das betrifft auch Tautologien. Deshalb sind die unterschiedlichen Tautologien voneinander unabhängig. Daran ändern auch logische Beweise nichts. Denn jede Tautologie ist Beweis ihrer selbst. „[...] Jede Tautologie zeigt selbst, daß sie eine Tautologie ist." ( T L P 6.127) Der Beweis in der Logik ist allgemein nichts anderes, als ein „[...] mechanisches Hilfsmittel zum leichteren Erkennen der Tautologie, wo sie kompliziert ist" ( T L P 6.1262). 22
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7.5.2 Wahrscheinlichkeit Wir können das Verfahren der eben geschilderten logischen Folgerung verallgemeinern, indem wir das Maß der Wahrscheinlichkeit betrachten, die zwei Sätze einander geben.23 Ein Satz allein ist weder wahrscheinlich noch unwahrscheinlich, denn das von dem Satz behauptete Ereignis trifft entweder ein oder nicht, ein Mittelding gibt es nicht (TLP 5.153). Von Wahrscheinlichkeit kann deshalb erst dann die Rede sein, wenn ein Satz zu einem oder mehreren anderen Sätzen in Beziehung gesetzt wird. Das Wahrscheinlichkeitsmaß wird folgendermaßen definiert: Der Satz r gibt dem Satz s die Wahrscheinlichkeit W r s : W r . Dabei gibt W r die Anzahl der Wahrheitsgründe des Satzes r an, W re die Anzahl der Wahrheitsgründe, die die Sätze r und s gemeinsam haben. (TLP 5.15; 5.151) Der Folgerungsbegriff läßt sich deshalb auch als Spezial- oder Grenzfall der Wahrscheinlichkeit auffassen, da das Wahrscheinlichkeitsmaß, das der Satz aus dem gefolgert wird, dem aus ihm folgenden gibt, immer 1 ist.24 Wenn man die Ergebnisse aus den Abschnitten 7.4.2 und 7.5 zusammennimmt, dann sieht man, warum es für Wittgenstein keine anderen Formen der internen Beziehung zwischen Sätzen als die Gesetzmäßigkeiten der Logik gibt. „Die Erforschung der Logik bedeutet die Erforschung aller Gesetzmäßigkeit. Und außerhalb der Logik ist alles Zufall." (TLP 6.3)
7.6 Sätze als Resultate von Wahrheitsoperationen „Die Strukturen der Sätze stehen in interner Beziehung zueinander." (TLP 5.2) Von welcher Art diese Beziehung ist, haben 2i
Wittgenstein behandelt auch Sätze, in denen das Wahrscheinlichkeitsmaß ausgedrückt wird, das zwei Sätze einander geben. Da es mir jetzt aber nicht auf die besondere Form dieser Sätze ankommt, sondern nur auf die Beziehungen zwischen Sätzen, gehe ich nicht auf seine Bemerkungen zum Wahrscheinlichkeitssatz ein. 24 Man beachte, daß durch diese Festlegung des Wahrscheinlichkeitsmaßes garantiert ist, daß die Wahrscheinlichkeit nie größer als 1 wird. Und zwar deshalb, weil die Anzahl der Wahrheitsgründe des Satzes r immer größer oder gleich der Anzahl der gemeinsamen Wahrheitsgründe der Sätze r und s sein wird. Für die Kontradiktion ist das Wahrscheinlichkeitsmaß nicht definiert, da eine Kontradiktion keinen Wahrheitsgrund hat.
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wir im letzten Abschnitt gesehen. Interne Beziehungen zwischen Sätzen können nur logische Beziehungen sein. Eine Methode der Darstellung, die wir im letzten Abschnitt vorgestellt haben, besteht im Vergleich der Formen von Sätzen durch den Vergleich ihrer Wahrheitstafeln. Einen Vergleich der Formen können wir aber auch durchführen, indem wir die Möglichkeit des Ubergangs von einer Satzform zu einer anderen hervorheben. Diese Vergleichsmöglichkeit liefert uns eine andere Darstellungsmethode der internen Beziehungen. Wir können „einen Satz als Resultat einer Operation darstellen, die ihn aus anderen Sätzen (den Basen der Operation) hervorbringt" (TLP 5.21). Denn jeder komplexe Satz ist das Resultat einer logischen Operation, deren Basen seine Teilsätze sind. Um diesen operationalen Charakter komplexer Sätze zu verdeutlichen, möchte ich an die Frage aus Abschnitt 7.2.2 erinnern, die das Zustandekommen komplexer Sätze betraf. Wie kommen komplexe Sätze, wie kommt der Satzverband zustande? Da komplexe Sätze aus Elementarsätzen zusammengesetzt sind, müssen wir also fragen, wie Elementarsätze zu einem komplexen Satz verknüpft werden. Exemplarisch sollen drei Arten der Verknüpfung vorgeführt werden: die Negation, die logische Addition und die logische Multiplikation. U m zu verdeutlichen, daß es sich um einen Übergang der Formen handelt, können wir bei der Negation eine Schreibweise verwenden, die Wittgenstein im Satz 6.1203 einführt: Ein Satz p kann als W p F geschrieben werden. W und F bezeichnen die beiden Wahrheitspole des Satzes p. Der komplexe Satz -•p, der durch die Negation des Satzes p entsteht, hat dann folgende Gestalt: F - W p F - W. Beiden Sätzen entspricht dieselbe Wirklichkeit, sie bilden denselben Sachverhalt ab. N u r haben sie - und das unterscheidet sie - entgegengesetzten Sinn (TLP 4.0621). Der Satz p behauptet das Bestehen des durch ihn abgebildeten Sachverhaltes, der Satz --p behauptet das Nichtbestehen desselben Sachverhaltes. D e r „[...] Sinn von ,->p' kann nicht verstanden werden, ohne daß vorher der Sinn von ,p' verstanden worden wäre" (TLP 5.02). Das heißt, ich muß wissen, was der Fall ist, wenn p wahr ist, um den Sinn von -> p verstehen zu können ( T L P 4.024). Beide Sätze sind verschiedene Bilder, obwohl sie denselben Sachverhalt abbilden. Ihr Unterschied besteht in ihrer projektiven Beziehung zur Welt. Für die
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logische Addition gilt, daß der komplexe Satz p A q aus den beiden Elementarsätzen p und q entsteht, indem man die beiden Sätze aneinanderreiht und das Bestehen der durch sie behaupteten Sachverhalte behauptet. Bei der logischen Multiplikation p v q etwa behauptet der komplexe Satz, daß nicht beide der durch die Elementarsätze behaupteten Sachverhalte nichtbestehen. Diese Möglichkeiten der Verknüpfung von Sätzen zu komplexeren Sätzen zeigen uns, „was mit dem einen Satz geschehen muß, um aus ihm den anderen zu machen" (TLP 5.23). Sie sind logische Operationen, Wahrheitsoperationen (TLP 5.2341). Operationen kennzeichnen also - anders als die Wahrheitsfiinktionen — nicht die Formen von Sätzen, sondern den Übergang von einer Satzform zu einer anderen (TLP 5.241). Jede dieser Wahrheitsoperationen erzeugt aus ihren Basen einen Satz, d. h. eine Wahrheitsfunktion von Elementarsätzen (TLP 5.3). Die Basen einer Operation können auch komplexe Sätze sein. Zu zeigen bleibt deshalb, daß jeder komplexe Satz das Resultat von Wahrheitsoperationen mit Elementarsätzen ist (TLP 5.3). Wie wir in den Abschnitten 7.3 und 7.4 gesehen haben, ist jeder komplexe Satz eine Wahrheitsfunktion seiner Elementarsätze. Um nun zeigen zu können, daß alle komplexen Sätze Resultate von Wahrheitsoperationen mit Elementarsätzen sind, muß man als mögliche atomare Basen der Operationen alle Elementarsätze hinzunehmen. Nun zeigt man, wie die logischen Operationen mit den Elementarsätzen alle möglichen Wahrheitsfunktionen von Elementarsätzen erzeugen. Für die einfachen aussagenlogischen Sätze genügen bekanntermaßen die Wahrheitsoperationen Negation und logische Addition, um ein vollständiges Junktorensystem zu definieren.25 Das heißt, die Anwendung dieser beiden Operationen auf ihre Basen erzeugt jede mögliche Wahrheitsfunktion von Elementarsätzen. Sätze mit Allgemeinheitsbezeichnungen, das sind Sätze mit Quantoren (z. B. Vx fx oder 3xVy fxy), scheinen durch diese beiden Operationen noch nicht erfaßt zu sein. Doch zu solchen Sätzen bemerkt Wittgenstein: Vgl. dazu z.B. Stegmüller/Varga von Kibed, Strukturtypen der Logik, Berlin 1984, Kap. 2.6, Theorem 2.10.
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„Ich trenne den Begriff Alle von der Wahrheitsfunktion. [...]" (TLP 5.521) „Die Allgemeinheitsbezeichnung tritt als Argument auf." (TLP 5.523) Wie ist das zu verstehen? Der Satz Vx fx ist eine Wahrheitsfunktion der logischen Addition derjenigen Sätze, die durch alle möglichen Einsetzungsfälle an der variablen Stelle von fx entstehen. Wenn man einen allgemeinen Satz durch die Auflistung seiner Einsetzungsfälle ersetzt, ist noch nicht garantiert, daß der allgemeine Satz und die Auflistung äquivalent sind. Es muß zusätzlich sichergestellt sein, daß es sich bei den Einsetzungen um alle möglichen Einsetzungen handelt. Die Vollständigkeit der Auflistung muß die Allgemeinheit der Behauptung sicherstellen. Genau diese Garantie übernehmen bei Wittgenstein die Variablen. Denn die Variable charakterisiert - wie in Abschnitt 7.1 erläutert wurde - die formalen Eigenschaften aller Symbole derselben logischen Form. Die Allgemeinheit ist also im Variablenbegriff bereits enthalten. Somit genügen die logischen Operationen der Negation und der Addition um zusammen mit Wittgensteins Variablenkonzeption alle Wahrheitsfunktionen von Elementarsätzen zu erzeugen. Und das sind alle komplexen Sätze. 26
7.7 Die Allgemeine Satzform Das wiederholte Anwenden einer Operation auf ihre eigenen Resultate nennt Wittgenstein ihre sukzessive Anwendung (TLP 5.2521). Die sukzessive Anwendung einer Operation ist äquivalent mit der internen Relation, die die so entstandene Formenreihe ordnet (TLP 5.232). Ein Beispiel dafür ist die Formenreihe, die sich aus der wiederholten Anwendung der Negation auf ihr eigenes Resultat ergibt: p, ->p, - , - , p , ~,~,~'P, usw. Die Operation der Negation zeigt uns, wie in dieser Formenreihe ein Glied aus dem anderen entsteht, wie man von einer Satzform zu einer anderen gelangt. Sie definiert dabei allerdings nur zwei unterschiedliche Wahrheitsfunktionen, da jedes Glied dieser Formenreihe sich auf die Wahrheitsfunktion von p oder ->p Die Elementarsätze lassen sich nicht als Ergebnis der Anwendung der Wahrheitsoperation darstellen; vgl. den folgenden Abschnitt 7.7. 26
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zurückfuhren läßt (TLP 5.41). Das zeigt, daß Operationen einander aufheben können (TLP 5.253). Wittgenstein schreibt nun im Satz 4.1273: „[...] Wir können das allgemeine Glied der Formenreihe bestimmen, indem wir ihr erstes Glied angeben und die allgemeine Form der Operation, welche das folgende Glied aus dem vorhergehenden Satz erzeugt." und weiter in 5.2522: „Das allgemeine Glied einer Formenreihe a, O'a, O'O'a, ... schreibe ich daher so: ,[a, x, O'x]' Dieser Klammerausdruck ist eine Variable. Das erste Glied des Klammerausdrucks ist der Anfang der Formenreihe, das zweite die Form eines beliebigen Gliedes x der Reihe und das dritte die Form desjenigen Gliedes der Reihe, welches auf x unmittelbar folgt." Ziel der Angabe einer allgemeinen Satzform muß es sein, alle Sätze als Glieder einer Formenreihe darzustellen. Diese allgemeine Satzform formuliert Wittgenstein in Satz 6: „Die allgemeine Form der Wahrheitsfunktion ist: [p, N (%)]. Dies ist die allgemeine Form des Satzes." Was bedeutet diese Formulierung? Zunächst einige Bemerkungen zu den Anfangsgliedern der Formenreihe. Der Ausdruck „p" in der Formel aus Satz 6 besagt, daß die Anfangsglieder der Formenreihe die Elementarsätze sind. Der Querstrich über dem p deutet an, daß es sich um alle Elementarsätze handelt (vgl. T L P 5.501). Das heißt, in der allgemeinen Satzform werden die Elementarsätze nicht als Resultate einer Operation eingeführt, sondern sie sind die Anfangsglieder der Formenreihe und damit die atomaren Basen der Wahrheitsoperation. Nun erfahren wir in Satz 5.47: „[...][Es sind] ja schon im Elementarsatz alle logischen Operationen enthalten. Denn ,fa' sagt dasselbe wie ,(3x). fx. x = a' [...]" Warum können die Elementarsätze nicht auch als Resultate einer Operation in einer Formenreihe dargestellt werden? Weil es keine Formenreihe von Elementarsätzen geben kann. Denn die Operation, die eine interne Reihe ordnet, kann erst dort auftreten, wo ein Satz auf logisch bedeutungsvolle Weise aus einem anderen entsteht (TLP 5.233). „Die empirische Realität ist begrenzt durch die Gesamtheit der Gegenstände. Die Grenze zeigt sich wieder in der Gesamt-
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heit der Elementarsätze. Die Hierarchien sind und müssen unabhängig von der Realität sein." (TLP 5.5561) „Eine Hierarchie der Formen der Elementarsätze kann es nicht geben. Nur was wir selbst konstruieren, können wir voraussehen." (TLP 5.556) Der Grund, warum es keine Hierarchie der Formen der Elementarsätze geben kann, läßt sich besonders gut mit Hilfe der Bildtheorie aufzeigen. Wie in Abschnitt 7.2.1 zu erfahren war, gibt es eine Minimalbedingung, die jedes Bild erfüllen muß. Jedes Bild muß mit dem Abgebildeten die logische Form gemeinsam haben. Jede Frage, die die Logik entscheiden soll, muß für ihre Beantwortung auf ein Ansehen der Welt verzichten (TLP 5.55 lf.). „Die Anwendung der Logik entscheidet darüber, welche Elementarsätze es gibt. Was in der Anwendung liegt kann die Logik nicht vorausnehmen. [...]" (TLP 5.557) „[...] Wir können also in der Logik nicht sagen: Das und das gibt es in der Welt, jenes nicht." (TLP 5.61) Genau das müßten wir aber, um eine Hierarchie der Formen der Elementarsätze aufzustellen. Denn jeder Elementarsatz hat dieselbe logische Form wie der von ihm abgebildete Sachverhalt. Die Logik kann aber nichts mit der Frage zu schaffen haben, ob unsere Welt wirklich so ist oder nicht (TLP 6.1233). So können wir nur die Elementarsätze voraussehen, die wir selbst konstruieren. Deshalb müssen sie als Anfangsglieder der allgemeinen Form des Satzes vorausgesetzt werden. Mit Hilfe der allgemeinen Satzform drückt Wittgenstein aus, daß sich alle Sätze als Glieder einer Formenreihe darstellen lassen. In Abschnitt 7.6 haben wir gesehen, daß wir alle komplexen Sätze mit Hilfe der beiden Operationen der logischen Addition und der Negation aus den Elementarsätzen erzeugen können. Um alle komplexen Sätze als Glieder einer Formenreihe darstellen zu können, bedarf es einer Grundoperation, die dasselbe leistet, wie die beiden genannten Operationen. Wittgensteins N-Operator erfüllt diese Anforderungen. Nun sind im Tractatus drei Ubersetzungsdefinitionen in ein übliches Notationssystem der logischen Konstanten angegeben. (1) N(f):= -ip (TLP 5.51). Die Satzvariable £ hat nur einen Wert, nämlich p. (2) N(f):= - p A - q := p l q (Peircepfeil) (TLP 5.51). Die Satzvariable § hat zwei Werte, p und q.
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(3) N ( I ) : = N(fx):= -(3x).fx (TLP 5.52). Die Satzvariable % sind sämtliche Werte einer Funktion fx für alle Werte von x. Die allgemeine Funktionsweise des N-Operators gibt Wittgenstein in Satz 5.502 an: „[...] ist die Negation sämtlicher Werte der Satzvariablen Das heißt, diejenigen Sätze, die Werte der Satzvariablen sind, sind die Basen der allgemeinen Wahrheitsoperation. Der Peircepfeil, aus der Ubersetzungsdefinition (2), genügt prinzipiell als Grundoperation eines vollständigen Junktorensystems. Doch Wittgenstein hat zwei Gründe dafür, daß der Peircepfeil den NOperator nicht ersetzen kann. Erstens begründet er in Satz 5.453, weshalb er die Funktionsweise des N-Operators von seiner Stelligkeit ablößt: „Alle Zahlen der Logik müssen sich rechtfertigen lassen. Oder vielmehr: Es muß sich herausstellen, daß es in der Logik keine Zahlen gibt. Es gibt keine ausgezeichneten Zahlen." Der Peircepfeil ist aber eine zweistellige logische Operation, damit wäre die Zahl 2 ausgezeichnet. Entscheidender aber ist, daß der Peircepfeil als zweisstellige Operation nicht mit Wittgensteins Variablenkonzept und der damit verbundenen Auffassung von Allgemeinheit zusammenpaßt.27 Denn Sätze werden ja dadurch zu allgemeinen Sätzen, daß die Auflistung der möglichen Einsetzungen für die Variablen vollständig ist. Der Peircepfeil würde als zweistellige Operation angewandt auf eine Satzliste mit beliebig vielen Gliedern immer nur zur Verknüpfung zweier Glieder führen. Die einmalige Anwendung des Peircepfeils könnte also die Wahrheitsfunktion eines allgemeinen Satzes nicht erzeugen. Wenn man andererseits an die sukzessive Anwendung des Peircepfeils denkt, ergibt sich das Problem, daß dann nur endliche Auflistungen möglich wären.28 Die Logik würde also festlegen, daß allgemeine Sätze nur endliche Verknüpfungen von Sätzen sein können. Doch das darf sie - wie wir gesehen haben - nicht, da sie dann etwas über die Welt sagen würde - und das ist nicht möglich. Mit der allgemeinen Satzform löst Wittgenstein sein Versprechen aus dem Vorwort ein. Denn jeder Satz, der nicht das Glied Vgl. dazu Matthias Varga von Kibeds Beitrag in diesem Band. Denn die sukzessive Anwendung kann nur in einer Wiederholung der Operation bestehen. Und solche Wiederholungen können nur endlich oft vollzogen werden. 27
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der Formenreihe sein kann, die durch die allgemeine Satzform definiert ist, liegt außerhalb der Grenze, die „nur in der Sprache gezogen werden" kann. Was jenseits dieser durch die allgemeine Satzform gezogenen Grenze liegt, „[...] wird einfach Unsinn sein." (TLP, Vorwort) „[...] Die Menschen haben immer geahnt, daß es ein Gebiet von Fragen geben müsse, deren Antworten - a priori - symmetrisch, und zu einem abgeschlossenen, regelmäßigen Gebilde vereint liegen. [...]" (TLP 5.4541) Die Frage nach den möglichen Formen komplexer Sätze ist ein solches Gebiet.
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8 Matthias Varga von Kibed
Variablen im Tractatus 1
8.1 Zur Logik des Tractatus Die Rolle der Logik im System von Wittgensteins Tractatus (TLP) ist meist unterschätzt worden. Immer wieder wurde behauptet, daß Wittgenstein hier ein den üblichen formalen Systemen äquivalentes System darzustellen versucht, das überdies schwächer als die heute übliche Prädikatenlogik der 1. Stufe (PL1) ist. Häufig wird angenommen, Wittgenstein habe lediglich die Wahrheitstafelmethode, sowie ein vollständiges Junktorensystem für die klassische Aussagenlogik und Ansätze zu einer PL1 entwickelt. Der Anspruch, den Wittgenstein mit Satz 6 des Tractatus verfolgt, wird dabei nicht erkannt: Wittgenstein stellt hier nämlich die allgemeine Form der Wahrheitsfunktion schlechthin dar, die die Basis jedes möglichen logischen Systems bilden soll. In gewissem Sinn ist in dieser allgemeinen Form der Wahrheitsfunktion die Form der Welt kondensiert, wie sie Wittgenstein in den vorangehenden Sätzen des Tractatus entwickelt hat. Der Satz 6 bildet somit die Zielthese des Tractatus und mit seiner kohärenten Interpretation steht und fällt das Tractatus-System (vgl. Varga von Kibed 1990). 1 Dieser Artikel entstand im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projektes zur F o r m der Welt im Tractatus. Für eine Vielzahl fachlicher Diskussionen und nützlicher Hinweise danke ich Verena Mayer. Eine frühere Version des Artikels hat U w e L ü c k sorgfältig durchgesehen und mit hilfreichen Anmerkungen versehen. Ferner danke ich dem anonymen Rezensenten der Zeitschrift Erkenntnis, in der dieser Artikel 1993, Band 39 erstmals erschien, für einige kritische Bemerkungen.
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8.2 Satzvariablen als Listen Eine der Schwierigkeiten, die eine kohärente Deutung des Tractatus bietet, besteht in der Frage, wie sich die PL1 unter Einbeziehung mehrstelliger Relationen im Rahmen der allgemeinen Form der Wahrheitsfunktion (TLP 6) darstellen läßt. Eine von Fogelin, Geach und Soames dazu geführte Diskussion bezog sich insbesondere auf Beispiele prädikatenlogischer Sätze mit Quantorenvertauschungen (vgl. dazu Fogelin 1976, 1982, 1987; Geach 1981, 1982; Soames 1983). Eine angemessene Auffassung des Variablenbegriffs im Tractatus, die in diesem Aufsatz vorgestellt werden soll, erlaubt eine einfachere Lösung der dabei auftretenden Probleme. Im Gegensatz zu der in der modernen formalen Logik üblichen Auffassung von Variablen betont Wittgenstein im Tractatus (3.314), daß sich jede Variable als Satzvariable auffassen lasse, „auch der variable Name". Während eine Formel/* mit einem Prädikatzeichen/und einer (Individuen-)Variable x in der PL1 wirklich als aus diesen zwei Symbolen bestehend aufgefaßt werden darf, kann diese Zeichenfolge bei Wittgenstein nur als Mitteilung eines möglicherweise komplexen Ausdrucks verstanden werden; dabei istfx als Satzvariable nur dann gegeben, wenn die Sätze festgesetzt sind, deren gemeinsames Merkmal die Variable ist.2 Nach T L P 3.316 ist die Festsetzung der Werte die Variable. Diese Festsetzung kann mit einer vollständigen Liste aller Werte von f x identifiziert werden. In diesem Sinne ist es angemessen, die Satzvariable f x im Sinne des Tractatus als eine vollständige Liste der Sätze fa,ß,fc,..., die Werte von fx sind, aufzufassen. (Dabei darffa keineswegs als Konkatenation von f und a aufgefaßt werden; 3 vielmehr teilt 2
In dieser Hinsicht hat Wittgensteins Auffassung von f x Ähnlichkeiten mit dem Schütteschen Nennformbegriff (vgl. Schütte 1977, S. 14 [«-place nominal forms]). Durch Angabe einer Formel mit einer Nennform fix] ist nichts über die Stelligkeit von f und die Häufigkeit des Vorkommens von x mitgeteilt. j[x] entsteht einfach aus einer Zeichenkette_/[*], indem das im verwendeten Alphabet der Sprache der Formel nicht vorkommende Symbol * überall dort, wo es in der Zeichenkette /[*] vorkommt, durch x ersetzt wird. J Wir schreiben ,/und a", nicht „ f und "*, weil es uns nicht auf die spezifische Gestalt der Individuen- und Prädikatensymbole ankommt, verwenden yj" usw. also als Mitteilungszeichen.
VARIABLEN IM TRACTATUS
,fa" einen Satz mit, in dem der durch „aa mitgeteilte Name an bestimmten Stellen vorkommt.) Dabei ist wichtig, (i) daß diese Liste nur mit dem zusätzlichen Wissen, daß sie vollständig ist, daß also wirklich alle Werte von f x vorkommen, mit der Satzvariablen f x identifiziert werden darf, 4 (ii) daß über die Länge der Liste nichts Spezifisches bekannt sein muß, sie also endlich oder unendlich sein kann, und (iii) daß fa, fb etc. ebenso wie f x komplexe Ausdrücke sein können. Nach dieser Deutung der Satzvariable als Liste kommt in der Satzvariablen f x gar kein x vor. Der variable Name x, der nach T L P 4.1272 der eigentliche Name des Scheinbegriffs Gegenstand ist, ist somit kein eigentlicher Bestandteil von fx. Eine Theorie variabler Namen erübrigt sich daher im Tractatus.
8.3 Satzlisten als Argumente von N Das Verständnis von Satzvariablen als Listen ist entscheidend für die Möglichkeit einer angemessenen Deutung der allgemeinen Form der Wahrheitsfunktion im Satz 6 des Tractatus. Nach Satz 6 ist die allgemeine Form der Wahrheitsfunktion durch die Formenreihe IhlN®] gegeben, wobei (f) ein Klammerausdruck im Sinne von T L P 5.501 ist. Dabei ist eine Satzvariable, deren Werte die Glieder des Klammerausdrucks sind. In T L P 5.501 nennt Wittgenstein drei Möglichkeiten, die Glieder eines derartigen Klammerausdrucks zu beschreiben: Aufzählung, Angabe (aller Werte) einer Funktion fx, und Angabe einer Formenreihe, deren Glieder die Glieder des Klammerausdrucks bilden. Für die Behandlung der von Geach, Fogelin und Soames diskutierten Probleme genügt es zunächst, sich auf die zweite dieser Beschreibungsformen zu beschränken. Die Sätze, auf die wir uns im Sinne der allgemeinen Form der Wahrheitsfunktion im folgenden 4
Dieses Wissen kann nicht durch einen Satz ausgedrückt werden, sondern muß sich im Sinne Wittgensteins in einer geeigneten Notation zeigen.
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beziehen werden, haben also die Form N(§), wobei § die Form einer Satzvariablen fx hat und diese Satzvariable, wie oben (in 8.2) erläutert, als eine Liste (fa,fb,fc,...), zusammen mit der Information, daß diese Liste vollständig ist, aufgefaßt werden muß.
8.4 Zur Deutung von N(fx) Bekanntlich deutete Wittgenstein den N-Operator für ein Argument als Negation, für zwei Argumente als Peirce-Pfeil, d. h. als weder-noch-Funktion; hat (§) die Werte p und q, so ist nach T L P 5.51 N(f) = N(p, q) = ->p & -•q. Letzteres ist gleichbedeutend mit der Negation der Adjunktion der Glieder des Klammerausdrucks. Wie Wittgenstein selbst betont, hätte N(p, q) statt als Peirce-Pfeil auch als Sheffer-Strich, und damit als Negation der Konjunktion der Glieder des Klammerausdrucks gedeutet werden können.5 Betrachten wir nun die von Wittgenstein im Tractatus bevorzugte adjunktive Deutung der Glieder des Klammerausdrucks ) für eine Satzvariable fx, so erhalten wir, wie in T L P 5.52, die Deutung von N ( f ) als -• (3 x)fx. Die negierte Existenzquantifikation kann also als Anwendung des Satzoperators N auf die Satzliste (fa,fb,fc, ...) aufgefaßt werden.6 N(fx) ist dann tatsächlich zu lesen als die Negation aller Sätze der Satzliste (fa, ß, fc, ...) und damit in gewissem Sinn gleichbedeutend mit „nicht (fa oder fb öderer oder ...)", also mit „nicht fa und nicht fb und nicht fc und ...". Dies gilt nur in gewissem Sinne, weil in der unendlichen Adjunktion die Vollständigkeit der Liste nicht enthalten ist. Wittgenstein lehnt bekanntlich die Deutung der Existenzquantifikation als unendliche Adjunktion ab. In T L P 5.521 schreibt er Frege und Russell diese von ihm als verfehlt angesehene Auffassung zu und betont, „Ich trenne den Begriff Alle von der Wahrheitsfunktion". Diese Trennung kommt formal in der Brief an Russell vom 19. August 1919. Da diese Satzliste nur mit der Information, daß es sich dabei um alle Werte der betrachteten Satzvariablen handelt, als gegeben angesehen werden kann, und diese Vollständigkeit sich nach Wittgenstein zeigen muß, ist das Argument des Satzoperators kein Objekt im üblichen Sinne der modernen Logik: die Art und Weise seines Gegebenseins kann nicht rein formal (im modernen Sinne) mitgeteilt werden. 5
6
VARIABLEN IM TRACTATUS
Verwendung von N und in der allgemeinen Satzform zum Ausdruck. Die Negation einer Satzliste ist, als Anwendung einer einzigen Operation auf ein nicht rein formales Objekt, von einer unendlichen Adjunktion, als Anwendung unendlich vieler Operationen auf jeweils ein Objekt, zu unterscheiden.
8.5 Die vollständige Darstellbarkeit der monadischen Prädikatenlogik Für die Frage der Darstellbarkeit der PL1 im Rahmen des Tractatus muß Wittgensteins Ablehnung ausgezeichneter Zahlen in der Logik berücksichtigt werden. Nach TLP 5.453 muß „sich herausstellen, daß es in der Logik keine Zahlen gibt"; Zahlen erweisen sich nämlich nach TLP 6.02 und 6.021 nicht als Gegenstände, sondern als Indizes wiederholter Operationsanwendungen7 und dürfen daher nur gezeigt, nicht benannt werden. Darüber hinaus wäre nach TLP 5.554 die Angabe jeder speziellen Form vollkommen willkürlich.8 Es kann wegen dieses Status der Zahlen im TLP nicht angemessen sein, bei der Logik des Tractatus selbst von einstelligen, zweistelligen usw. Prädikatsymbolen zu sprechen. Würde sich die Logik des Tractatus, wie oft fälschlich vermutet wurde, lediglich als monadische Prädikatenlogik auffassen lassen, so stellte dies einen eklatanten Widerspruch zu Wittgensteins oben genannter Forderung dar: Die Zahl Eins wäre dann als festgelegte Stelligkeit jeder Prädikation gewiß eine ausgezeichnete Zahl in der Logik. Die Betrachtung des monadischen Fragments der PL1, d. h. die Beschränkung auf einstellige Prädikatsymbole, ist daher aus der Sicht des Tractatus künstlich. Dennoch können wir eine tractarianische Rechtfertigung dieses und anderer Teilsysteme der PL1 (z. B. eines Systems mit einem einzigen zweistelligen Prädikatsymbol) versuchen, wenn wir be„Die Zahl ist der Exponent einer Operation." ( T L P 6.021) Gehörte das Vorkommen von Prädikatsymbolen spezieller Stellenzahlen zur Logik selbst, so müßte „sich a priori angeben lassen, ob ich z. B. in die Lage kommen kann, etwas mit dem Zeichen einer 27stelligen Relation bezeichnen zu müssen" ( T L P 5.5541). Ließe sich im Tractatus-System etwa nur die monadische Prädikatenlogik darstellen, so wäre hierdurch der philosophische Monismus favorisiert In 4.128 stellt Wittgenstein selbst ausdrücklich diesen Zusammenhang zwischen Logik und Philosophie her. 7
8
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achten, daß die Stelligkeit der Prädikatsymbole im Sinne des Tractatus ein außerlogisches Merkmal darstellt. Als Teilsystem des Tractatus ist die monadische Prädikatenlogik jedoch schon mit den bisher gegebenen Entsprechungen gerechtfertigt: Denn wir erhalten fiir eine beliebige Formel der Form (ßx)fic, wobei fx eine in x offene Formel der monadischen PL1 ist, die TLP-Entsprechung ßx)fx= N(N(fx)), wobei der äußere N-Operator die Negation der von N(fx) dargestellten Formel bewirkt, und dies war (wie in 8.4 erläutert) -(3x)fx. _ Da M S ) für zwei Sätze als Werte von | den Peirce-Pfeil lieferte, der bekanntlich allein schon ein vollständiges Junktorensystem bildet, hat man damit eine tractarianische Repräsentation der monadischen Prädikatenlogik gewonnen. (Insbesondere ist die Adjunktion (pv q) von p und q als N(Np, Nq), die materiale Implikation (p —» q) als N(p, Nq) aufzufassen.9) Diese Darstellung ist in zwei Hinsichten nicht ganz präzise: (i) Wir erhielten in der gewöhnlichen monadischen PL1 so zunächst nicht (3x)fx, sondern -• ->(3.x)fx. Da diese beiden Formeln im Sinne des Tractatus nicht als verschieden angesehen werden sollten, erhalten wir streng genommen die Lindenbaumalgebra10 der monadischen PL1 als geeignetere Entsprechung dieses Teils der Logik des Tractatus. (ii) Eigentlich ist N(fx) gar kein zulässiges Argument von N; wir müßten daher statt „N(N(fx))u richtiger „N(y) für eine Satzvariable y, deren sämtliche Werte aus dem einen Satz N (fx) bestehen", schreiben . Schrieben wir N (y) als N((N(fx))), so erhielten wir einen ambigen Ausdruck. Wir hätten nämlich den Satz -"(Ir), -"fx, d. h. die Allquantifikation von fx, als N, angewendet auf die Liste der negierten Einsetzungen von fx, also auf (N(fa), N(fb), N(fc), ...) analysieren und dies als N(z) für die Satzvariable z, die die Form N(fx) hat, deuten können. Damit hätten wir wieder N ((N (fx))) in einer zur obigen nicht äquiva9 Wobei wir hier, wie auch im folgenden gelegentlich, auf die Notation von — verzichten. Die in der Literatur häufig verwendete Notation J*f(p, q)" statt mit p und q als sämtlichen Werten von ist wegen der oben erläuterten Ambiguität von N(N(£j) eigentlich nicht ganz korrekt. 10 Die Lindenbaumalgebra entsteht durch die Identifikation aller logisch äquivalenten Formeln miteinander.
VARIABLEN IM TRACTATUS
lenten Bedeutung bekommen. Diese Schwierigkeit hat auch Soames gesehen und daraus geschlossen, daß der Tractatus ohne Modifikation schon im monadischen Fall nicht ganz adäquat ist. Zur Verdeutlichung sei der Unterschied der beiden Lesarten von N(N(fx)) nochmals schrittweise hervorgehoben. I. Lesart: 1/1 Die Satzvariable f x kann als durch die Liste (fa, fb, fc, ...) gegeben aufgefaßt werden. 1/2 Die allgemeine Wahrheitsoperation wird auf die so aufgefaßte Satzvariable f x angewendet. 1/3 Der sich durch 1/2 ergebende Satz wird durch nochmalige Anwendung der allgemeinen Wahrheitsoperation negiert. 1/4 Die Schritte I/1-I/3 ergeben den Satz ( 3 x ) f x . II. Lesart: II/l Wie 1/1. II/2 Jeder Satz dieser Liste, also keineswegs die Liste als Ganzes, ist zulässiges Argument für die Anwendung der allgemeinen Wahrheitsoperation. So entsteht aus fa nun N(fa) und analog N(fb) aus fb etc. Wir haben damit zu jedem Satz, der Wert der Satzvariable f x ist, also in der oben genannten Liste vorkommt, einen Satz der Form N(fx). N(fx) selbst kann nun wieder als eine durch die Liste ihrer Werte gegebene Satzvariable aufgefaßt werden und ist zu identifizieren mit ( N ( f a ) , N(fb), ...). Hierbei ist kein Ubergang von einer Liste zu einer anderen Liste erfolgt; N(fx) als Satzvariable ist vielmehr gegeben, wenn ich weiß, wie ich von einem Satz der F o r m e r zu einem Satz gelange, der das Ergebnis der Anwendung der allgemeinen Wahrheitsoperation auf ersteren ist. (Ein ähnlicher Irrtum findet sich übrigens bei Fogelin.) II/3 Auf die demgemäß gegebene neue Satzvariable N(fx) wird nun ganz unproblematisch N angewendet. II/4 Die Schritte II/1-II/3 ergeben den Satz (x)fx. Die gerade betrachtete Schwierigkeit beruht darauf, daß wir bei zweifacher Anwendung von N auf f x nicht wissen, welches der beiden N als Negation und welches als Quantor zu verstehen ist, solange die Art der Gegebenheit der Satzvariablen nicht berücksichtigt wird." " Die Formulierung „Art der Gegebenheit" nimmt auf 5.501 Bezug: „Die Festsetzung ist die Beschreibung der Sätze, welche die Variable vertritt. Wie die Be-
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Diese Schwierigkeit haben wir jedoch schon oben in Abschnitt 8.3 gelöst. Den Allquantor (x) in ( x ) f x , gleichbedeutend mit - ( 3 ^ -), N
(ft),...)).
Wittgenstein wendet im Tractatus N niemals auf Argumente ohne das Allgemeinheitszeichen „ — " an. Dies hat, wie wir gerade gesehen haben, gute Gründe. Eine verwunderlich umständliche Formulierung wie die in T L P 5.51 wird so verständlich: „Hat § nur einen Wert, so ist NQ¿) = ->p (nicht p)", statt des scheinbar gleichwertigen einfacheren „N (p) = In ähnlicher Weise vermeidet Wittgenstein das oben erwähnte Problem der Mehrdeutigkeit von Ausdrücken wie N(N(fx)), indem er in zwei Schritten vorgeht: N wird nur in Ausdrücken der Form N(E) eingeführt und die Angabe der Werte der Satzvariablen erfolgt separat. Versuchen nun moderne Interpreten, diese zwei Schritte in einer Notation wie N(N(fxJ), N(p,q) etc. zusammenzufassen, so entstehen manchmal Mehrdeutigkeiten, die bei der vorsichtigeren Ausdrucksweise Wittgensteins gar nicht auftauchen. Werden diese Mehrdeutigkeiten nun wie bei Geach und Soames durch verfeinerte Notationen für die Argumente des ¿V-Operators aufgehoben, so stellen diese Notationsmittel einen Versuch dar, etwas zu notieren, was sich durch die Art und Weise, in der die Satzvariablen gegeben sind, zeigen muß. 12 Die logische Notation kann die logische Form eischreibung der Glieder des Klammerausdrucks geschieht, ist unwesentlich." Dies ist auf dem Hintergrund von 3.316 und 3.317 zu verstehen, nach denen die Festsetzung der Werte die Variable ist und unwesentlich ist, wie die Beschreibung dieser Sätze geschieht.
VARIABLEN IM TRACTATUS
nes u m g a n g s s p r a c h l i c h e n Satzes nur dadurch z e i g e n , daß sie sie w i e d e r h o l t o d e r s p i e g e l t , u n d n i c h t e t w a d a d u r c h , d a ß s i e O p e r a t o r e n ( q u a s i als „ N a m e n " ) f ü r f o r m a l e B e g r i f f e
ein-
fuhrt. 1 3
8.6 Das Problem der Quantorenvertauschung K o m m e n wir n u n zu den für W i t t g e n s t e i n s S y s t e m angeblich problematischen Sätzen m i t gemischten Quantoren und
be-
t r a c h t e n e t w a d e n p r ä d i k a t e n l o g i s c h e n Satz p: (x)ßy)fxy. S u c h e n w i r n u n g e m ä ß d e r i n A b s c h n i t t 8.3 d a r g e s t e l l t e n L i s t e n a u f f a s s u n g d e r Satzvariablen n a c h e i n e r T L P - E n t s p r e c h u n g für p. F a s s e n w i r d e n A l l q u a n t o r als d e f i n i e r t e s S y m b o l auf, s o hat p d i e F o r m y)fxy. D e r n e g i e r t e E x i s t e n z q u a n t o r -"(3*) i n p sollte als N f e ) für e i ne Satzvariable ^ zu konstruieren sein, deren W e r t e die T L P E n t s p r e c h u n g e n zu ^(3y)fay,
(3y)flry,
- . ( 3 y ) f c y , ... s i n d . D i e s e
e r h a l t e n w i r a n a l o g z u d e n in A b s c h n i t t 8 . 4 für -*(3x)fx
einge-
f ü h r t e n T L P - E n t s p r e c h u n g e n d u r c h A n w e n d u n g v o n N auf g e eignete Satzlisten folgendermaßen: -(3\y)fay
= N(faa, fab,
-(3\y)fly
=
-(ßy)fcy
= N(fca,fcb,fcc,...)
fac,...)
N(fba,flb,flc,...) usw.
12 Die Anmerkung eines Rezensenten veranlaßt zu folgendem Hinweis: Zwar zeigt die logische Notation von fa im Sinne von 4.1211 etwa, daß in dem Satz vom Gegenstand a die Rede ist. Doch kann diese oder eine ähnliche Form des Zeigens nicht dazu verwendet werden, die Art der Gegebenheit der Satzvariablen zu explizieren. In fa findet sich nämlich keineswegs ein Operator, der einem Prädikat „ist ein Gegenstand" o. ä. entspräche (und die runden Klammern, sofern sie in einer angemessenen Notation überhaupt noch vorkämen, wären sicher nicht so zu deuten). Die Lambda-Notation, deren Vorzüge zur Rekonstruktion der Logik des Tractatus in diesem Artikel betont werden, kann nichtsdestoweniger nicht vermeiden, daß durch sie im Sinne von 5.501 Unwesentliches notiert wird. In ihr wird nämlich die Art der Gegebenheit der Satzvariablen, d. h. die in 5.501 unter 1.-3. genannten Möglichkeiten, explizit dargestellt und dadurch etwa für die logische Form Irrelevantes in die logische Notation eingeführt. " Nur diejenige Notation zeigt die logische Form korrekt, die auf die Darstellung aller „zufälligen", beliebigen Elemente verzichtet.
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Die Schwierigkeiten anderer Rekonstruktionsformen beruhten darauf, die Analogie von N in N(fx) mit -• (Er) in -• (3x)fx auf iterierte Anwendungen von N bzw. geschachtelte Quantoren zu übertragen. So schien es prima facie nahezuliegen, in p = -•(3^)-'(3y)/ry sowohl ->(3x), als auch mit einer N-Anwendung zu identifizieren. Dann wäre jedoch eine TLP-Entsprechung von f x y das Argument dieser beiden Anwendungen von N gewesen. Selbst wenn wir die Gesamtheit aller Werte des Schemas (*) faa,fab, fac ,... fla, fbb, flc, ... fca,fcb,fcc,... als die Variable f x y angesehen hätten, in Analogie zur oben in Abschnitt 8.2 erläuterten Identifikation der Satzvariable fx mit der Liste fa,fl,fc,... hätte uns das nichts geholfen. Wir wüßten bei N(N(5,)) mit § = f x y (und f x y aufgefaßt im Sinne des Schemas (*)) nicht, ob zuerst x oder zuerst y im ursprünglichen PL 1-Satz gebunden wurde, könnten also nicht zwischen den TLP-Entsprechungen von (x)(3y)fxy und (y)(3x)fxy unterscheiden. In unserer Darstellung wäre (x)(3y)fxy als N(N (faa, fab, fac,...), N ( f l a , fbb, fbc,...), N (fca, fcb, fcc,...),...) wie oben dargestellt zu verstehen, (y)(3x)fxy dagegen als N(N (faa, fla, fca,...), N (fab, fbb, fcb,...), N ( f a c , ß c , fcc,...),...) Die Quantorenvertauschung in p führt zu (3y)(x)fxy, äquivalent zu (3y) -'(Bx) -•fxy und damit zu N (N (N (N (faa), N ( f l a ) , N (fca), ...), N (N (fab), N (fbb), N (fib),...),...)). In analoger Weise können wir nun offenbar jede beliebige Reihenfolge der Quantoren (x), ( y ) , (3A?), ( 3 J ) mit negierter oder unnegierter Matrix f x y durch Anwendung von N auf Sätze und Satzlisten darstellen. Die von uns vertretene Deutung der Variablen im Tractatus hat also mit Quantorenvertauschungen keine Probleme. In der ersten Auflage seines Wittgenstein-Buches (1976) behauptete Robert J. Fogelin, daß die Logik des Tractatus schwerwiegende Fehler aufweise. Peter Geach (1981, 1982) und Scott Soames (1983) versuchten, Fogelins Einwände zurückzuweisen, indem sie ihrerseits eine weitgehend tractarianische Rekon-
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struktion der von Fogelin aufgeworfenen Fragen darstellten. Fogelin erwidert (1982; und in der 2. Auflage seines Wittgenstein-Buchs (1987)) mit einer Präzisierung seiner Kritik und bleibt bei der Auffassung, Wittgenstein habe im Tractatus einen elementaren logischen Fehler begangen, der sich an gemischt quantifizierten Sätzen mit mehrstelliger Matrix erweisen lasse, d. h. Sätzen der Formen (x)ßy)fxy ßx)(y)fxy (x)(3y)^fxy (3x)(y)-fay. Auch Geach und Soames versuchen zwar, den Tractatus zu verteidigen, rekonstruieren ihn jedoch mit unterschiedlich starken „Korrekturen". Unsere Darstellung im vorhergehenden Abschnitt erweist das Problem der Quantorenvertauschung als Scheinproblem, wenn die Satzvariablen wie oben dargestellt streng im Sinne des Tractatus gedeutet werden. Das Grundthema der Fogelin-Geach-Soames-Diskussion entfällt damit; auf einige Nebenprobleme ihrer Darstellung kommen wir noch zu sprechen.
8.7 Abschließende Bemerkungen über Variablen im Tractatus Die dargestellte Auffassung von Variablen im Tractatus in der Anwendung auf gemischt quantifizierte Sätze enthält eine durchaus überraschende Lösung der Frage: Wie werden in mehreren Variablen offene Formeln in der Logik des Tractatus dargestellt? Die Darstellbarkeit von fxy scheint für die Darstellung von Entsprechungen zu Formeln der Form (x)(3y)fxy usw. ja eine unabdingbare Voraussetzung zu sein. Dennoch lautet die Antwort auf die Frage: überhaupt nicht. Der Tractatus kennt nur Satzvariablen (fx als L i s t e f a , ß , f c , . . . ) und Sätze. Bei der Konstruktion der 7mri«ttü-Entsprechung für (x)(3y)fxy (ähnlich wie für die übrigen Beispiele) verfuhren wir folgendermaßen: Zuerst bildeten wir aus den Sätzen faa, fab, fac, ... eine Satzliste. Diese Satzliste könnte als eine Satzvariable gy mit gy =fay aufgefaßt werden. Auf diese Satzliste wandten wir
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den N-Operator im Sinne von T L P 5.501 (Abschnitt 8.3) und T L P 6 an. Analog verfuhren wir mit Satzvariablen hy =fby, iy = fcy usw. Dadurch erhielten wir eine Satzliste, die die TractatusEntsprechungen zu -'(ßy)fay, -(3y)fay als N(y: f a y ) , -< (3y)fby als N(y: f b y ) auffassen usw. Damit haben wir (x)(3y)fxy = N(x-.N(y:fxy)) indem wir N(y:fxy) für die Liste N(y:fay), N ( y : f l y ) , N(y:fcy),... gesetzt haben. Der Zusammenhang zur allgemeinen Satzform wird durchsichtiger, wenn wir (x)(3y)fxy in der Logik des Tractatiis durch folgendes Gleichungssystem mitteilen: (x)(3y)fxy = N(Z)mk (Z) = (x: N(W» und mit (W) = ( y : f x y ) Da die Lambda-Notation nur zur Mitteilung der Art der Gegebenheit der Satzvariablen dient, bleibt tatsächlich N der einzige zur Darstellung von (A) erforderliche Operator. In analoger Weise erhalten wir (B) als (3x ) ( y ) f x y = ^^(3x)^(3y)^fxy = N(N(x: N(y: N(fay)))), sowie (D) als (3X)(y)^fxy = N(N(x:fxy))). ((C) wird analog aus (A) durch Ersetzen von f x y durch N(fxy) gewonnen.)
VARIABLEN IM TRACTATUS
Damit sind die gemischt quantifizierten Sätze in der Form NQ-) mit einer Satzvariablen § gewonnen. Das Besondere der dabei benötigten Satzvariablen besteht darin, daß wir wiederholt von Sätzen zu Satzvariablen durch Listenbildung übergingen, dann wieder Sätze (nach TLP 6 mit Hilfe des N-Operators) bildeten und anschließend diesen Prozeß auf Listen derart gewonnener Sätze anwandten. Anhang 4: Einige Bemerkungen zu Geach, Fogelin und Soames Die Auffassung von Geach ist der in diesem Aufsatz vertretenen verhältnismäßig nahe. Bei Geach heißt es: „To bring out in full the way Wittgenstein's N operator works, we need (something he does not himself provide) an explicit notation for a class of propositions in which one constituent varies. I shall write ,N(e:fe)' to mean joint denial of the class of propositions got by substituting actual names for the variable in the propositional function (represented by) ,fe'.u (Geach 1981, S. 169.) Dazu ist folgendes zu bemerken: (i) Strenggenommen ist N kein Operator, sondern nur eine umgangssprachliche Mitteilung für das Ergebnis der Anwendung der allgemeinen Wahrheitsoperation. Dennoch sprechen auch wir vereinfachend von der Anwendung von N, ohne deshalb N mit der allgemeinen Wahrheitsoperation zu identifizieren. (ii) Wittgenstein hat gute Gründe, keine explizite Notation für die Gesamtheiten, auf die N „angewendet" wird, einzuführen. Wie schon oben erläutert, schreibt Wittgenstein selbst im Falle einer ein-elementigen Gesamtheit in TLP 5.51: „Hat § nur einen Wert, so ist NQz) = ->p"10 Wir sehen dies als einen von vielen Hinweisen auf den oben in 8.7 erläuterten Prozeß 20 Geach 1982 verweist zu Recht auf T L P 4.0411, um die Notwendigkeit einer Notation mit der geeigneten mathematischen Mannigfaltigkeit zu begründen, und ebenso nach T L P 5.501 auf die Unwesentlichkeit der Art der Festlegung der Gesamtheit der Werte, auf die N angewendet wird. Geach irrt allerdings, wenn er glaubt, das Argument von N sei jemals ein einzelner Satz und nicht die Gesamtheit der Werte einer Satzvariablen. Unserer Ansicht nach ist der Tractatus eindeutig so zu verstehen, daß Np nur eine verkürzte Notation für die Anwendung von N auf eine einelementige Klasse wäre - und auch diese Klasse könnte die Art ihrer Gesamtheitenbildung nur zeigen!
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der abwechselnden Erzeugung von Satzvariablen und N-Anwendungen. Geachs Formulierung legt zumindest den irrigen Eindruck nahe, Wittgensteins Notation sei unvollständig und entsprechend zu ergänzen. (iii) Die Einführung der Notation von Geach als Notation der Logik des Tractatus widerspricht auch den Bemerkungen Wittgensteins zur mathematischen Mannigfaltigkeit quantifizierter Sätze in TLP 4.04, 4.041, 4.0411. Da sich nach 4.041 „diese mathematische Mannigfaltigkeit [...] nicht selbst wiederabbilden" kann, muß sie sich in einer geeigneten Notation zeigen, und kann gerade deshalb in ihr nicht beschrieben werden. Wohl tritt die Allgemeinheitsbezeichnung nach TLP 5.523 als Argument auf, doch hatten wir ja den nicht rein formalen Charakter der Argumente von N in TLP 6 schon mehrfach hervorgehoben. Es ist daher keineswegs zulässig, die Gesamtheit der Werte der Satzvariablen fx, die durch die Liste fa,fl,fc,... mit dem Wissen, daß es alle (Einsetzungen) sind, gegeben ist, durch Geachs Notation (e:fe) wiederzugeben. Fogelin (1982) betont (unter Bezug auf Fogelin 1976), daß die Logik des Tractatus gemischt quantifizierte Sätze nicht adäquat rekonstruieren könne. Dieses Argument haben wir oben schon zurückgewiesen. Fogelin schlägt vor, Geachs Notation mit Wittgensteins eigener Notation zu vergleichen. Dabei betrachtet er Geachs Wiedergabe der Formel (x)fx durch N(e: N(fe)) und glaubt sie in „Wittgensteins Notation" mit N(N((fix))) wiedergeben zu können, wobei (fix)) die „Menge der potentiell unendlich vielen Sätze, die wir durch Substitution von Namen für die Variable j f erhalten, repräsentiert". Fogelin glaubt nun, wir erhielten dadurch N(N(fa, ß , fc,...)), und damit (3x)fx. Fogelin erkennt hier nicht, daß Wittgensteins Notation eine geeignete Form der Gesamtheitenbildung voraussetzt und auch daher nicht als geeignete Notation für die sowieso unzulässige Beschreibung dieser Gesamtheitenbildung intendiert war.21 Soames verteidigt den Tractatus gegen Fogelins Einwände und versucht, zum Teil ähnlich wie Geach, eine geeignete NotFogelins Bemerkungen über die Entscheidbarkeit und das Churchsche Theorem wurden unseres Erachtens durch Geach 1982 schon ausreichend zurückgewiesen. 21
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ation für die gemischt quantifizierten Sätze einzuführen. Doch auch er sieht den nichtformalen Charakter der Art der Gesamtheitenbildung nicht adäquat. Darüber hinaus vernachlässigt er die dritte Art der Gesamtheitenbildung von 5.501 im Gegensatz zu Geach (1981). Irrtümlich hält Soames nun die Kommentare in 5.501 und 5.52 für „etwas sorglose Illustrationen der Möglichkeiten des Ausdrucks der Allgemeinheit", sieht aber die Wichtigkeit von 4.0411. Aus seiner Sicht liefert der Tractatus nicht die Möglichkeit, geeignete Skopus-Unterschiede darzustellen, und die von ihm vorgeschlagene formale Sprache LTE stellt eine in seinem Sinne minimale Erweiterung der TractatusNotation dar, die diese Unterschiede berücksichtigt. Die oben erläuterte Verwendung mehrdimensionaler Listen kommt jedoch ohne zusätzliche Notation aus und ist den Intentionen des Tractatus deutlich näher als Soames' Ansatz - natürlich ist sie auch kein (rein) formales System.
Literatur Fogelin, Robert J . (1976): Wittgenstein, London. Fogelin, Robert J . (1982): "Wittgenstein's Operator N " , in: Analysis 42, S. 124-127. Fogelin, Robert J . (1987): Wittgenstein, 2. Überarb. Aufl., London. Geach, Peter T . (1981): "Wittgenstein's Operator N n " , in: Analysis 41, S. 168-170. Geach, Peter T. (1982): "More on Wittgenstein's Operator N 5 " , in: Analysis 42, S. 127f. Schütte, Kurt (1977): Proof Theory, Berlin. Soames, Scott (1983): "Generality, Truth Function, and Expressive Capacity in the Tractatus", in: The Phihsophisal Review X C I I , S. 573-589. Sundholm, G . (1992): " T h e General F o r m of the Operation in Wittgenstein's Tractatus", in: Grazer Philosophische Studien 42, S. 57-76. Varga von Kibed, Matthias (1990): „Zur formalen Rekonstruktion der allgemeinen Wahrheitsfunktion in Wittgensteins Tractatus", in: R. Haller und J . Brandl (Hrsg.), Wittgenstein - eine Neubewertung. Akten des 14. Internationalen Wittgenstein-Symposiums in Kirchberg 1989, Wien, S. 28-34.
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Operationen im Tractatus
9.1 Grundlegende Auffassungen vom Wesen der Operationen im Tractatus Der Operationsbegriff ist von besonderer Bedeutung für den Tractatus. Implizit spricht Wittgenstein schon über diesen Operationsbegriff, wenn er seinen sogenannten Grundgedanken in den frühen Tagebüchern (von 1914—1916) klar formuliert, der dann später in den Tractatus ( T L P 4.0312) Eingang fand: „Mein Grundgedanke ist, daß die .logischen Konstanten' nicht vertreten. Daß sich die Logik der Tatsachen nicht vertreten läßt." (TB, 25. 12. 1914) Die logischen Konstanten, um die es Wittgenstein hier geht, stellen logische Operationen, wie Negation, Konjunktion, Disjunktion, sowie die All- und Existenz-Quantifikation dar. Im Tractatus vertreten die Namen im Satz die Gegenstände, während die Sätze selbst Sachverhalte, (positive und negative) Tatsachen und, ganz allgemein, Sachlagen (logische Kombinationen von Sachverhalten) vertreten. (Umgekehrt werden auch Gegenstände nur durch Namen 1 repräsentiert, sowie Sachverhalte, Tatsachen und Sachlagen ausschließlich durch Sätze.) D a die logischen Konstanten (bzw. Operationen) jedoch nicht (so1 In der Grundnotation des Tractatus sind nämlich wegen der Forderung der Bestimmtheit des Satzsinnes komplexe Namen ausgeschlossen. Als komplexe N a men könnten (bei geeigneter Auffassung) etwa Kennzeichnungsterme der Form „dasjenige x mit F(x)", aufgefaßt werden, wobei die bekannten Mehrdeutigkeiten bei der Auffassung der Negation (wie in Russells Beispielsatz „Der heutige König von Frankreich ist nicht kahlköpfig") für Wittgenstein ein Hinweis auf die durch einen komplexen Namen verursachte mangelnde Bestimmtheit des Satzsinnes wären.
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mit auch nichts!) vertreten, können sie weder Namen noch Sätze sein, mithin auch weder Gegenstände noch Tatsachen (bzw. Sachverhalte und Sachlagen) repräsentieren. Der ganze Tractatus kann in gewissem Sinne als eine Erläuterung dieses Grundgedankens aufgefaßt werden (vgl. McGuinness 1976, S. 49). Der Grundgedanke besagt insbesondere, daß es die Logik nicht „in der Welt" gibt und daß sie auch kein allgemeines Gesetz der Welt bildet. Was sind nun die logischen Konstanten? (Und worin bestehen die mit ihnen verbundenen logischen Operationen?) Die logischen Konstanten sind Operationen, deren Anwendungen (d. h. die Wahrheitsfunktionen) zunächst einmal als Funktionen des Satzsinnes untersucht werden können. Nach T L P 5.2341 gilt, daß der Sinn einer Wahrheitsfunktion von p eine Funktion des Sinnes von p ist. Die Operationen sind prima facie etwas, das nur für uns besteht und einen Sinn hat. So findet schon im grundlegenden Operationsbegriff des Tractatus die subjektive Perspektive Eingang, die in T L P 2.1 als „Wir machen uns Bilder der Tatsachen" zum Ausdruck kommt. Bislang wurde m. E. unzureichend untersucht, ob Wittgensteins im Tractatus vorwiegende Verwendung von „wir"-Formulierungen nicht als ein Vorläufer des sozialen Charakters der Sprachhandlungen im Spätwerk anzusehen ist. Doch zurück zum Operationsbegriff. Nach Wittgenstein zeigen die Operationen die internen Beziehungen der Sätze zueinander (TLP 5.2, 5.21). Interne Beziehungen stellen Ubergänge gemäß gewissen Regeln zwischen Sätzen mit bestimmten logischen Formen dar. So sind etwa die Übergänge von einem Glied zum jeweils folgenden in der Formenreihe P. ""P> " " " P . als interne Relationen anzusehen. Sie zeigen uns also die Möglichkeit von regelgemäßen Satztransformationen; denn nach T L P 5.23 ist die Operation das, was mit dem einen Satz geschehen muß, um aus ihm den anderen zu machen. Bei Operationen handelt es sich im Tractatus um die strukturellen bzw. formalen Eigenschaften der Sätze. Diese sind keine Tatsachen, und weil man nur (mögliche) Tatsachen mit Sätzen beschreiben kann, kann man nicht sagen, was eine Operation ist; sie zeigt sich uns lediglich bei ihrer Ausfahrung.
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Operationen geben uns die Formenreihen, die nach einer inneren (strukturellen) Gesetzmäßigkeit erzeugt werden. Ihre allgemeine Form ist die einer potentiell unendlichen Formenreihe, wie etwa: aRb, (3x)(aRx & xRb), (3x,y)(aRx & xRy & yRb), ... (usw.) ( T L P 4.1252) Jede Operation kann (nach T L P 5.2522) mittels dreier Elemente dargestellt werden: (i) die Operationsbasis a als Anfang der Formenreihe, (ii) ein beliebiges Glied x der Formenreihe und (iii) das Ergebnis O'x der Anwendung der Operation O auf das beliebige Glied x. Das allgemeine Glied der Formenreihe a, O'a, O'O'a, O'O'O'a, ... wird dann durch den Klammerausdruck [a, x, O'x] mitgeteilt. Man muß zwischen allgemein und beliebig bei der Einführung des allgemeinen Gliedes einer Formenreihe (und generell im Tractatus) streng unterscheiden. Etwas Allgemeines ist durch „alle" Exemplare oder Beispiele einer Art, die eine Gesamtheit bilden, gegeben. In diesem Sinne weist die Allgemeinheit einer Operation darauf hin, wie durch ihre wiederholte Anwendung eine Gesamtheit aller Sätze einer bestimmten Formenreihe oder einer bestimmten Art gegeben ist: nämlich die Gesamtheit der Sätze, die in der entsprechenden, durch die wiederholte Anwendung der Operation erzeugten Formenreihe auftreten. Dagegen besteht die Beliebigkeit von x als beliebigem Glied der Formenreihe a, O'a, O'O'a, O'O'O'a,... (mit dem allgemeinen Glied [a, x, O'x]) darin, daß x für jedes Glied der Formenreihe stehen kann, also nach Belieben z.B. für O ' O ' O ' O ' O ' a oder für O'a. Jede Variable im Sinne des Tractatus gibt uns eine Allgemeinheit und stellt nicht bloß etwas beliebiges Einzelnes dar; sie gibt uns eine Gesamtheit von Sätzen, für die diese Variable steht. 2 Darum ist nur der ganze Klammerausdruck einer Operation (d. h. [a, x, O'x]) das Symbol einer Variable und somit das Symbol einer Allgemeinheit; das Zeichen ,x' in diesem Klammerausdruck dagegen, das nach moderner Auffassung als Variable anzusehen wäre (mittels derer der Ubergang von einem Argument x einer Operation zu dem Ergebnis O'x der Operationsanwendung notiert wird), ist hier keine tractariani1 Wittgensteins Variablenbegriff entspricht einer Allgemeinheit, der moderne Variablenbegriff entspricht eher der Beliebigkeit (Varga von Kibed 1993).
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sehe Variable, sondern nur ein Zeichen, das für jedes beliebige Glied der betrachteten Formenreihe stehen kann.3 In jeder Operation ist die erweiterte Allgemeinheit ihrer potentiell unendlichen Anwendbarkeit enthalten, wie Wittgenstein in den Tagebüchern hervorhebt (TB, 22. 5. 1915). Der im allgemeinen Glied der Formenreihe enthaltene Begriff der successiven (= wiederholten) Anwendung einer Operation (bei der die Operation bei der Wiederholung jeweils auf das vorherige Anwendungsergebnis angewendet wird) bedeutet dasselbe (TLP 5.2523) wie das „usw." bei der Formenreihe, also z. B. bei a, O'a, O'O'a, O'O'O'a, usw. Jede successive Anwendung einer Operation, bzw. jedes „usw." bezieht sich auf die Gesamtheit aller nach der gleichen Regel gebildeten Ausdrücke, wie die vor dem „usw.". Hier tritt implizit schon die schwierige Frage aus Wittgensteins späteren Werken auf, wie eine Regel (bzw. eine Operation) überhaupt festgelegt werden kann. Ohne die Angabe eines Klammerausdruckes bleibt nämlich die Regel völlig leer, Anfangsglieder einer Reihe lassen sich immer auf mehrere verschiedene Weisen fortsetzen. Wittgenstein glaubte aber (im Unterschied zum Spätwerk) im Tractatus noch daran, daß man mittels eines Klammerausdrucks den Inhalt einer Regel für die Anwendung der allgemeinen Wahrheitsoperation vollständig festlegen könne. Ein weiteres Problem im Tractatus besteht darin, daß viele Operationen nicht durch eine lineare Formenfolge darstellbar sind. Eine Satzform kann z. B. mehr als nur einen Vorgänger in bezug auf die logischen Operationen haben. Darum bleibt es offen, was für eine Ordnungsrelation zwischen Formen eine logische Operation darstellen kann. Offensichtlich ist eine lineare Ordnung der Satzformen ungenügend.4 Darum sind manche Kritiken an Wittgensteins Variablenbegriff unangebracht, z. B. die Kritik, daß er im allgemeinen Klammerausdruck für eine Operation [a, x, O'x], „x" als eine freie Variable verwende, obwohl es eine gebundene Variable darstelle (Sundholm 1992, S. 66). „x" im Klammerausdruck „[a, x, O'x]" stellt überhaupt keine echte Variable dar, sondern ist nur ein technisches Mittel, welches die Allgemeinheit des ganzen Ausdrucks hervorhebt. Darum ist auch der Vorschlag Sundholms, den dreigliedrigen Klammerausdruck auf den zweigliedrigen „[a, JlxOx]" zu reduzieren, als Rekonstruktionsversuch unkorrekt. 1
Vielleicht hat Wittgenstein das gewußt, nur nicht entsprechend klar ausgedrückt. Die Nichtlinearität der Formenfolge der Satzformen ist eigentlich kein
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Eine weitere wichtige Grandidee Wittgensteins im Tractatus besteht in der Annahme, alle üblichen logischen Konstanten (etwa in den Systemen Freges und Russells) seien durch jeweils von ihnen verschiedene logische Konstanten ausdrückbar und in diesem Sinne mit ihnen vertauschbar. Prima facie stimmt Wittgenstein hier also mit Frege und Russell überein, doch war er darüber hinaus überzeugt, daß zur Begründung der Logik alle anderen Konstanten bzw. Operationen in nicht umkehrbarer Weise auf eine einzige Konstante bzw. Operation zurückgeführt werden können müssen. Weil die Gesamtheit der logischen Konstanten im Satz seine logische Form bestimmt, muß auch die gesuchte Grundkonstante durch die allgemeine logische Satzform gegeben sein. Für Wittgenstein ist jedoch jede Operation eine Satzoperation (TLP 5.22, 5.23, 5.233) und die allgemeine logische Satzform kann nur über den Operationsbegriff gewonnen werden. So reduziert sich auch die Frage nach den logischen Grundkonstanten auf die Frage nach der einen Grundoperation. Die eine Grundoperation wird nun im Tractatus mittels der sogenannten N-Funktion gewonnen', die für jede beliebige Gesamtheit von Sätzen, als deren simultane Negation definiert ist. Für Sätze p und q kann N(p, q) als Konjunktion der Negationen aufgefaßt werden, N(p) als die Negation von p, usw.6 Die N-Funktion kann also (näherungsweise) als eine verallgemeinerte Sheffer-Operation, genauer als ein verallgemeinerter fundamentaler Gegensatz zur These der Konstruktion aller Satzformen nach derselben Operation (nach derselben Regel). Es ist auch möglich, daß Wittgenstein verschiedene Mengen der Elementarsätze, die kleiner als die Gesamtheit aller Elementarsätze sind, als mögliche Basen der N-Operation annahm. Dann könnten verschiedene Wege zu derselben Satzform fuhren, doch für eine bestimmte Satzform gäbe es nur eine Stelle innerhalb derselben Formenreihe. 5 Man beachte, daß N im modernen Sinne Funktionscharakter hat. Im Tractatus ist „N" in „N(p, q)" nur ein Anzeichen für die Ausführung einer Operation, also ein synkategorematisch definiertes Zeichen in erläuternden Scheinsätzen und nicht etwa der Name einer Funktion. Wir müssen darum genauer von der „N'Operation" sprechen (kürzer „N"1). Wir werden zur Vereinfachung der Ausdrucksweise trotzdem im Folgendem von der „N-Funktion" sprechen. 6 Es gibt hier mindestens vier gleichwertige Lesarten für N(p, q); Russell sah eine Mehrdeutigkeit und wies in seinem Brief vom 13. August 1919 daraufhin. Wittgenstein erwiderte nur lapidar „Das macht aber nichts" (BW, S. 90). Vgl. auch Varga von Kibeds Erörterung dieser Mehrdeutigkeit (Varga von Kibed 1990).
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Peircepfeil aufgefaßt werden. 7 Nach Wittgenstein können mittels seiner N-Funktion nicht nur alle Junktoren, sondern auch die Quantoren bestimmt werden. Wenn man z. B. die Gesamtheit aller Sätze, die die Form fx haben, d. h. die Gesamtheit der Sätze fa, fb, fc, ... nimmt, 8 dann bekommt man mit N(fx) die (evtl. unendliche) Konjunktion „-'fa A --fb A ...", und damit auch (Vx) -•fx. Mit N hat Wittgenstein die allgemeine logische Satzform: (p, N (f)] bestimmt ( T L P 6). In der Operation [p, f , N (g)] bezeichnet „p" die Gesamtheit aller Elementarsätze, die als Basis aller möglichen Anwendungen der N-Funktion auf Sätze dienen, „i;" bezeichnet eine Gesamtheit von schon gewonnenen Resultaten der bisherigen Anwendungen der N-Funktion auf Sätze (oder die Basisp), und „ N ( | ) " bezeichnet das Resultat der jeweiligen Anwendung der N-Funktion auf die Gesamtheit der Sätze N stellt dabei die gleichzeitige Negation aller Sätze von § dar.10 Die Bestimmung der allgemeinen Satzform mittels der N Funktion ist eines der wichtigsten Resultate im Tractatus. Damit ist zugleich auch die grundlegende Operation, die Grundlage aller Operationen gegeben. Wittgenstein will hier nicht nur die Möglichkeit der Definition aller rein logischen Operationen mittels N nachweisen, sondern auch die Möglichkeit der Definition der mathematischen Operationen mittels dieser Grundoperation (TLP 5.156) für die Wahrscheinlichkeitsrechnung, ( T L P 7
C. S. Peirce entdeckte 1880 als erster die Reduzierbarkeit aller Aussagenfunktionen auf das „weder-noch", ohne aber seine Entdeckung zu veröffentlichen. G. Spencer-Brown berichtet, daß E. Stamm dasselbe im Jahr 1911 aufs neue entdeckte und veröffentlichte (Spencer Brown 1972, S. 111). H . M . Sheffer veröffentlichte erst 1913 seine Entdeckung, doch ohne Stamm zu erwähnen, und gilt heute als der Entdecker. 8 Wittgenstein verwirft im Tractatus alle Klassen, weil sie Gesamtheiten in abstrakte Gegenstände verwandeln. Darum spricht Wittgenstein im Tractatus nie von Klassen, sondern von Gesamtheiten (der Tatsachen, Sachverhalte, Objekte, Sätze, usw.). 9 ... die selbst wieder auf die drei in T L P 5.501 angegebenen Arten gegeben sein kann (vgl. Varga von Kibed 1993). 10 Es m u ß darauf hingewiesen werden, daß die N-Funktion eine höhere Logik als die Prädikatenlogik erster Stufe impliziert. Wittgenstein wendet im Tractatus ja explizit auch prädikatenlogischen Ausdrücke zweiter Stufe (z. B. sog. „vollständigverallgemeinerte" Sätze, T L P 5.5261) an. Vgl. dazu auch die Diskussion zwischen Fogelin (1982), Geach (1981) und Soames (1983) über die N-Funktion Wittgensteins, sowie Varga von Kibed (1993).
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6.02-6.03) für die Arithmetik. Er hat die Zurückfuhrung anderer formaler Operationen auf Satzoperationen zwar nur für die arithmetischen Operationen (TLP 6.02-6.03, 6.234-6.241) und für die Wahrscheinlichkeitsrechnung (TLP 5.15-5.156) etwas expliziter gemacht, doch läßt sich dabei ein allgemeines Prinzip für formale Operationen als Satzoperationen erkennen. Auf ernste Schwierigkeiten bei der Ausführung dieses Projekts hat etwa Fogelin hingewiesen, der glaubt, daß Wittgenstein gemischte Qualifikationen wie (Vx)(Ey)f(x,y) nicht adäquat darstellen könne (Fogelin 1976, S. 71f.). Mit einer adäquateren Darstellung der N-Funktion lassen sich diese Schwierigkeiten jedoch lösen (zu dieser These vgl. Ule 1988, 1991; Varga von Kibed 1991, 1993). Der Nachweis dafür ist für unsere Aufgabe hier nicht wichtig. Für Wittgenstein ist wichtig, da§ jede Satzklasse eine versteckte Allgemeinheit durch die Voraussetzung enthält, daß es um alle Sätze, die zu einer bestimmten Satzvariablen h, gehören, geht." Doch damit beinhaltet die N-Funktion schon implizit die Allgemeinheit, und alle sinnvollen Sätze können als Resultate der Anwendung der allgemeinen Satzoperation auf die Gesamtheit der Elementarsätze bestimmt werden. Diese Gesamtheit bezieht sich implizit auch auf die drei anderen wesentlichen Gesamtheiten des Tractatus: die Welt als Gesamtheit aller Tatsachen (TLP 1.1), die Substanz als Gesamtheit aller Gegenstände (TLP 2.021) und die Sprache als Gesamtheit aller Sätze (TLP 4.001). Die Wahrheitswerte aller Elementarsätze sind nämlich durch die Gesamtheit aller Tatsachen bestimmt, und die Gesamtheit aller Tatsachen bestimmt mittelbar die Gesamtheit aller Gegenstände. Die Sprache als die Gesamtheit aller (sinnvollen) Sätze entsteht aber als Resultat aller möglichen Anwendungen der N-Operation auf die Elementarsätze. Damit setzt also die Sprache die Gesamtheit aller Tatsachen und die Gesamtheit aller Gegenstände voraus. Dabei halte ich andererseits die Sprache für die grundlegende der drei Gesamtheiten, denn erst durch die vollständige Analyse der (komplexen) Sätze gelangt man zu den Elementarsätzen und 11 Nach Sundholm muß man die N-Funktion als eine noch unpräzise Formulierung einer allgemeinen induktiven Definition des Satzbegriffes betrachten. Doch induktive Definitionen kann man nicht allgemein durch eine lineare Ordnungsrelation zwischen Formen, sondern nur durch eine wohlfundierte Halbordnung, ausdrücken (Sundholm 1992, S. 71).
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dadurch zu den Tatsachen, und so indirekt zugleich zweitens zu den Gegenständen, als den Bedeutungen der Namen. 12 Wir haben also eine gegenseitige innere Abhängigkeit aller angegebenen Gesamtheiten voneinander. Eine ähnliche innere gegenseitige Abhängigkeit gibt es jedoch auch zwischen den logischen Operationen und den Gesamtheiten. Logische Operationen sind also potentiell in der allgemeinen Satzform enthalten. Sie setzen nämlich die Gesamtheit aller Elementarsätze und damit die Gesamtheit aller Tatsachen und die Gesamtheit aller Gegenstände voraus. Die umgekehrte innere Abhängigkeit dieser Gesamtheiten von den logischen Operationen beruht darauf, daß im Tractatus die Welt und die Sprache dieselbe allgemeine logische Form besitzen, d.h. sie „unterliegen" derselben Logik. In diesem Sinne kann man nur von einem einzigen logischen Raum (der Welt und der Sprache) reden. Er ist das Universum logischer Operationen, die letztlich mittels der N'-Operationen durchschritten werden können. Darum bedingen die Allgemeinheit der Operationen und die Gesamtheiten im logischen Raum einander ihrem Wesen nach. Es ist nicht möglich, dies vollständig zu beschreiben, da es sich hier um formale Eigenschaften handelt, die sich etwa in den Tautologien zeigen können. In dieser Hinsicht muß man auch streng zwischen der Universalität, die sich z. B. in der Allquantifikation ausdrückt, und dem Begriff „Alle" unterscheiden. Dieser Begriff enthält die prinzipielle Allgemeinheit des logischen Raumes, die sich in jeder Satzvariablen zeigt. Wittgenstein sagt darum, daß er den Begriff „Alle" von der Wahrheitsfunktion trennt (TLP 5.521; vgl. dazu seinen Brief an Russell vom 19. 8. 1919, BW, S. 90).
9.2 Der ideelle Charakter der Operationen Die Allgemeinheit der Operationen und die Gesamtheiten der Welt, der Sprache und der Substanz sind kein rein extensionales 12 Es handelt sich dabei zuerst natürlich um die logische Möglichkeit der vollständigen Analyse der Sätze als Voraussetzung der Bestimmung der Elementarsätze, nicht notwendig aber u m die wirklich ausgeführte vollständige Analyse der Sätze. Ich habe dieses T h e m a in den Aufsätzen „Wittgenstein's World" (1988) und „Der Begriff der Operation im Tractatus und die allgemeine Wahrheitsfunktion"
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oder rekursives Element der Operationen bzw. der Symbole, die durch die Operationen dargestellt werden. Sie selbst sind nämlich durch keine Tatsachen in der Welt oder in der Sprache darstellbar, auch nicht mittels algorithmischer Tatsachen, mathematischer Induktionen o. ä., denn diese Allgemeinheit bzw. diese Gesamtheiten sind ja gerade die Voraussetzungen all dieser Mittel. In diesem Sinne kann man von dem spezifischen ideellen Charakter der Operationen im Tractatus sprechen. Darum kann man auch die durch die allgemeine Wahrheitsoperation gebildete allgemeine Satzform [p, f, N (§)] in diesem Sinne nicht rein extensional auffassen (also nicht als einen Kombinationsvorgang zur Herstellung aller sinnvollen Sätze!). E s gibt nur wenige Aufsätze über die Bedeutung der N Funktion bzw. der allgemeinen logischen F o r m der Sätze im Tractatus. Klassische Aufsätze darüber findet man bei Geach (1983) und Soames (1983), dazu noch wichtige Bemerkungen in den Trart/ziztr-Kommentaren von Anscombe (1959), Fogelin (1976), Mounce (1981). Neuere Auslegungen gibt es z. B. bei Mayer (1990), Siitonen (1991), Varga von Kibed (1990), Sundholm (1992). Nach der Meinung von Verena E. Mayer ist die N-Funktion kein logischer Junktor, sondern eine protologische Operation, da sie die logischen Systeme überhaupt erst erzeugt. Siitonen stellte die N-Funktion als das Grundelement einer „richtigen" Logik im Sinne Wittgensteins dar, nämlich als eine Operation, aus der man alle Junktoren und Quantoren herleiten kann. Die N-Funktion ist nicht nur eine Satzfunktion, aus der man alle anderen herleitet, sondern sie ist die einzige und allgemeine Operation in der „richtigen" Logik bei Wittgenstein. Doch in beiden Fällen wäre sie keine rein extensionale Operation im Sinne der klassischen Prädikatenlogik der ersten Stufe. Varga von Kibed stellte eine neue formale Rekonstruktion der N-Funktion mittels einer Erweiterung des Systems von Spencer Brown dar.13 Varga von Kibed deutet N als systematisch ambige Form einer Operation, die das Gemeinsame (1991) genauer betrachtet. Berücksichtigt werden muß in diesem Zusammenhang die spezifisch Wittgensteinsche Form der Analyse komplexer Sätze mit Subjekten, die relationale Kennzeichnungen enthalten (Kenny 1974, S. 97f.; Simons 1989, S. 77-83; Niedermair 1987, S. 40ff.). " Vgl. dazu Spencer Brown 1972; Varga von Kibed 1990, 1991; Matzka/Varga von Kibed 1994.
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der adjunktiven und der konjunktiven Bildung der Gesamtheiten erfaßt. 14 Sundholm stellt die allgemeine Satzform als eine induktive Definition des Satzes dar, die den formalen induktiven Konstruktionsprozeß aller (sinnvollen) Sätze aus der Gesamtheit der Elementarsätze angibt. Dieser Induktionsprozeß soll die höchste logische Operation im Tractatus sein. Die N-Funktion stellt nun nur einen Teil der operativen Bedeutung der induktiven Definition des Satzes dar, nämlich die Negation aller Sätze in einer Gesamtheit (einer Liste) von Sätzen. Eine Gesamtheit von Sätzen kann auf verschiedene Weise (im Einklang mit T L P 5.501) angegeben werden. Sundholm wies auf formale Unvollständigkeiten in den Definitionen der Operation und der allgemeinen logischen Satzform im Tractatus hin. Im Tractatus biete, so Sundholm, Wittgenstein „the finest example of a philosopher whose technical formal capacities do not reach the outstanding level o f his logico-philosophical thinking". 15 Die Allgemeinheit der Operationen und die angegebenen Gesamtheiten bedingen sich, wie dargestellt, innerlich gegenseitig. In der Gesamtheit der Elementarsätze, der Gegenstände und der Tatsachen zeigt sich die Möglichkeit logischer Operationen und umgekehrt bezieht sich jede Operation auf die allgemeine logische Satzform (und Satzoperation), die ihrerseits die logische Gesamtheit aller Elementarsätze (und damit aller Tatsachen und aller Objekte) voraussetzt. Die drei Gesamtheiten: die Welt (alle Tatsachen), die Substanz (alle Gegenstände), die Sprache (alle Sätze) stellen die drei Aspekte der internen Allgemeinheit dar, die in jeder logischen Operation enthalten sind. 16 Die Gesamtheit der Sätze (und damit der Welt und der Substanz) ist aber nur ein Grund für den ideellen Charakter der logischen Operationen; der zweite Grund liegt in der potentiellen Varga von Kibed, mündliche Mitteilung. Sundholm 1992, S. 76. Publikationen von Ule und von Varga von Kibed mit einer Kritik an Sundholms Wittgensteindeutung sind in Vorbereitung. 16 Jede logische Operation bezieht sich auf die Gesamtheit aller Elementarsätze, damit aber auch auf die Gesamtheit aller Tatsachen und aller Gegenstände. Es handelt sich um eine interne Notwendigkeit des logischen Raumes, daß mit jedem Elementarsatz impliziterweise alle anderen Elementarsätze (und damit alle Sätze), mit jedem Gegenstand alle anderen Gegenstände ( T L P 5.524) und mit jeder Tatsache alle anderen Tatsachen mitgegeben sind (Ule 1988, S. 143f.). 14 15
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Unendlichkeit der Selbstanwendung der Operationen, in der Möglichkeit der gegenseitigen Auflebung und in der Selbstaufhebung der Operationen. Operationen sind uns erst durch die ständig möglichen Ubergänge zwischen Formen nach einer konstanten „Vorschrift" gegeben (TLP 5.21, 5.22, 5.2522). Darauf beruht die unendliche Selbstanwendbarkeit der Operationen, die sich im Ausdruck „usw." andeutet. 17 Für eine Operation ist also wesentlich, daß ihr Resultat wieder zu ihrer eigenen Basis werden kann (TLP 5.251). Das unterscheidet die Operationen von allen tractarianischen Funktionen, d. h. den „Prädikaten". Eine Operation kann zudem die Wirkung einer anderen Operation rückgängig machen, zwei Operationen können einander also aufheben ( T L P 5.253). Das zeigt sich darin, daß man die Operationen „kreuzweise" definieren kann. Und die Negation kann sich selbst aufheben, da die zweifache Negation -•-•p uns wieder den Satz p als Resultat liefert (TLP 5. 254). Im Fall der Negation ist Wittgenstein scheinbar im Unrecht, wenn man die Negation eines Satzes p als „-"p" notiert. Denn das zweifache Auftreten des Negationszeichens im Satz „-•-•p" bedeutet nicht einfach die „Selbstanwendung" der Negation, sondern eine Anwendung einer Verknüpfung von Operationen: „(-• o _, )(p)". Das Zeichen „o" steht für die Operation der Operationsverknüpfung. Das aber ist von der logischen Syntax abhängig. Wittgenstein hat die übliche Notation der Negation und der anderen Wahrheitsfunktionen als inkorrekt angesehen. Anstelle dessen führte er die Wahrheitsfunktionen mittels seiner a-b-Notation der Darstellung mit „Polen" ein.18 Mit dieser Methode hat Wittgenstein sich in der Zeit vor der Niederschrift des Tractatus viel befaßt. Er glaubte, damit ein allgemeines Entscheidungskriterium für das Auffinden aller logischen Wahrheiten zu besitzen, und hat sich darüber in den Aufzeichnungen, die G. E. Moore auf Wittgensteins Diktat hin in 17 „Der Begriff der successiven Anwendung der Operation ist äquivalent mit dem Begriff,und so weiter'." (TLP 5.2523) 18 Hier würde die zweifache Negation wirklich als eine Selbstanwendung der Negation (nämlich der zweifachen Umkehrung der Wahrheitswerte bzw. der Pole a und b des Satzes) dargestellt (AM 1969, S. 242; sowie T L P 6.1203). p wird durch „a-p-b" dargestellt, die Negation als „b-a-p-b-a".
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Norwegen niedergeschrieben hat, sowie in Briefen an B. Russell ausführlich geäußert (AM, S. 244; BW, S. 40ff., 44-46). In dem Tractatus aber ist sie nur noch als eine etwas umständliche Hilfsmethode für die Berechnung der Wahrheitsfunktionen eingegangen (TLP 6.1203). Auch die bekannte Methode der Wahrheitstafeln, die Wittgenstein im Tractatus entwickelt hat, ermöglicht eine unmittelbare Wirkung der Negation auf die Wahrheitswerte des Satzes und zeigt uns so die Selbstaufhebung der Negation in der wiederholten Anwendung auf einen Satz.19 Die syntaktischen Unterschiede etwa zwischen p, -•-•p, -•-•-'-•p, etc. sind von einer konventionellen logischen Syntax abhängig; darum kann ihnen nichts Reales entsprechen (siehe TLP 5.43). Im Falle der Folgerung von unendlich vielen Sätzen aus einer endlichen Menge von Axiomen handelt es sich dagegen um die sukzessive Anwendung einer oder mehrerer syntaktischer Operationen auf die Axiome bzw. auf die schon bewiesenen logischen Sätze (Tautologien). Doch für Wittgenstein sind die logischen Grundgesetze und alle beweisbaren Thesen nur Tautologien, die untereinander logisch äquivalent sind und die alle dasselbe „besagen", nämlich nichts (TLP 5.43). Es entsprechen ihnen also keine Tatsachen. Das alles zeigt uns, daß den Operationen nach Wittgenstein weder eine besondere Bedeutung noch ein besonderer Sinn entspricht. Dennoch kann der Sinn der Sätze verändert werden, auf welche man die Operationen anwendet. Ein Satz als eine Wahrheitsfunktion ist darum eine Funktion der Sinne seiner Teilsätze.20 Die in (TLP 5.101) tabellarisch angegebenen Wahrheitsfunktionen (Negation, Konjunktion, etc.) sind keine Funktionen im Sinne der Prädikate („Die Wahrheitsfunktionen sind keine materialen Funktionen" (TLP 5.44)), sondern Resultate der logischen Operationen. Der Terminus „Wahrheitsfunktion" will die vollständige und eindeutige Bestimmtheit der Wahrheitswerte des Satzes durch die Wahrheitswerte seiner Teilsätze, bzw. der 19 Wittgenstein hat die Wahrheitstafeln meiner Meinung nach wohl schon in der Zeit vor dem Tractatus gekannt, hat diese Methode jedoch nicht schriftlich expliziert. In AüL (S. 206, 210) spricht Wittgenstein vom W-F-Schema der molekularen Funktionen, d. h. der Angabe der Fälle, in denen Satzverknüpfungen wahr, und der Fälle, in denen sie falsch sind. 20 „Der Sinn einer Wahrheitsfunktion von p ist eine Funktion des Sinnes von p.M (TLP 5.2341)
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in ihm enthaltenen Elementarsätze ausdrücken. Damit werden Wahrheitsfunktionen aber keineswegs analog zu Prädikationen wie aRb als Funktionen der Argumente a und b gesehen, da die Argumente einer Wahrheitsfunktion Sätze, keine Gegenstände, sind. Die Wahrheitsfunktionen sind „an sich" Funktionen der Wahrheitswerte, und erst mittelbar sind sie „Satzfunktionen" („Sinnfunktionen" u. ä.).21 Darum muß man streng zwischen der Aussage, daß jeder Satz ein Resultat der Operationen mit den Elementarsätzen ist, (d. h. ein Resultat der Wahrheitsfunktionen der Elementarsätze) (TLP 5.3), und der Aussage, daß der Sinn des Satzes eine Funktion des Sinnes der in ihm enthaltenem Elementarsätze ist (TLP 5.2341), unterscheiden.22 Auf der Verschiedenheit der Wahrheitsfunktionen und der Satzfunktionen beruht auch der grundsätzliche Unterschied von Wittgensteins operationaler Theorie der zusammengesetzten Sätze und Russells Typentheorie (Richter 1965, S. 27). Russell muß eine ins Unendliche fortgesetzte Hierarchie von Typen annehmen, Wittgenstein aber genügt das Fortschreiten von Glied zu Glied einer Formenreihe, die alle auf derselben Ebene liegen (TLP 5.252). Trotz dieser Erklärungen bleiben nach D. Peterson die Thesen Wittgensteins vom Satzsinn als einer Funktion des Sinnes der Elementarsätze und vom Satz als der Wahrheitsfunktion der 21 Anscombe hat auf die Analogie der Auffassung Wittgensteins mit einer Auffassung der (mathematischen) Funktionen hingewiesen. Ähnlich wie man z. B. die Zahl 2 als eine Funktion der Zahl 4, nämlich als das Resultat der Einsetzung der Zahl 4 in die Funktion betrachtet, betrachtet Wittgenstein den Sinn von „-•p" als eine Funktion des Sinnes „p", und der Sinn von „p" kommt im Sinn von „-•p" (Anscombe 1971, S. 120), d. h. so wie in einer Funktion des Sinnes von „p" vor. Doch anders als Frege braucht Wittgenstein kein Zeichen für die Behauptung eines Satzes (z. B. des Satzes „--p") im Unterschied zur bloßen „Annahme" des Satzes in einer Funktion (z. B. des Satzes „p" in der Funktion „-• ()") (Frege 1975, S. 32). Im Sinn der Verneinung „->pM kommt nach Wittgenstein nicht der Sinn von „p" selbst vor, sondern nur die Negation des Sinnes von „p" (Anscombe 1971, S. 121). Ähnlich kommen in „p v q" nicht der Sinn von „p", der Sinn von „q" und noch der Sinn von „v" vor, sondern nur die Wahrheitsoperation (Disjunktion) beider Sätze (und des Sinnes beider Sätze). 72 Vgl. Richter 1965, S. 27: „Das Charakteristische der Operation (im Tractatus A.U.) ist, daß ihr Resultat auf .derselben Ebene' ist wie ihre Basen. Wenn wir dagegen den zusammengesetzten Satz als eine Funktion der Elementarsätze (nicht zu verwechseln mit der WährheitsfMiktion der Elementarssätze!) auffassen würden, so liegt das Ergebnis oder Resultat dieser Funktion auf einer höheren Stufe" (Hervorhebungen - A.U.)
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Elementarsätze mehrdeutig und unklar, weil die Teilsätze im komplexen Satz keine Argumente irgendeiner Funktion sind, wogegen ihre Wahrheitswerte Argumente der entsprechenden Wahrheitsfunktion sind.23 Die Lehre Wittgensteins ist jedoch in dieser Beziehung nicht unklar, denn der Satzsinn ist keine Wahrheitsfunktion der Elementarsätze, sondern eine Funktion (jedoch keine Wahrheitsfunktion) des Sinnes der Elementarsätze. Dasselbe gilt für den Satzsinn und seine Teilsätze: Der Satzsinn ist keine Wahrheitsfunktion der Teilsätze, sondern eine Funktion (jedoch keine Wahrheitsfunktion) der Teilsätze. Die Teilsätze im komplexen Satz sind natürlich Argumente, aber nicht im Sinne der Argumente einer Funktion im modernen Sinne, sondern der Argumente einer Wahrheitsfunktion, „p v q" als Wahrheitsfunktion ist ein Ergebnis der Anwendung der allgemeinen Wahrheitsoperation IST auf die Gesamtheit (§), wenn i; die Werte p und q hat. Dies ist ein Funktional, jedoch keine Funktion. Das Ergebnis ist eine Wahrheitsfunktion, aber Wahrheitsfunktionen sind eben keine Funktionen im modernen Sinne. Wahrheitsfunktion bei Wittgenstein ist der Satz „p v q", nicht aber die Funktion, die p und q auf die Wahrheitswerte von p v q abbildet („Der Satz ist eine Wahrheitsfunktion der Elementarsätze" (TLP 5)). Der ideelle Charakter der Operationen, der sich u. a. in der Allgemeinheit der Operationen, in der potentiellen Unendlichkeit ihrer Anwendungen und ihrem möglichen Verschwinden zeigt, ist somit keine Tatsache, kein Ding, keine Eigenschaft, noch eine Relation, die mit Hilfe sinnvoller Sätze beschreibbar wäre. Der ideelle Charakter zeigt sich vielmehr in rein syntaktischen Eigenschaften der Operationen, die sich in der Anwendung auf sinnvolle Sätze, in logischen Schlüssen zeigen. Diese Eigenschaften unterscheiden die Operationen kategorisch von jeder Prädikation ebenso, wie von jeder echten Funktion (TLP 5.43, 5.44, 5.441). Eben deshalb sind auch die Wahrheitsfunktionen nur scheinbare Funktionen. Denn keine Funktion kann nach Wittgenstein ihr eigenes Argument sein, keine Funktion kann sich selbst zum Verschwinden bringen (TLP 3.333, 5.25, 5.42, Peterson 1990, S. 41. Es ist aber wahr, daß man nach Wittgenstein jeden Ubergang von Sätzen zu anderen Sätzen als eine Operation betrachten kann. Sie könnte mittels einer geeigneten Verallgemeinerung von N' dargestellt werden (siehe T L P 6.01). (Varga von Kibed, mündliche Mitteilung.) 23
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5.44). Wittgenstein hat die relationale Auffassung der Wahrheitsoperationen entschieden abgelehnt. Operationen (wie Disjunktion, Implikation etc.) sind keine Relationen wie etwa ,rechts' und .links' etc. ( T L P 5.42).24 Nur eine Operation kann also eine andere Operation darstellen.
9.3 Der Charakter der Operation zeigt sich in ihrer Anwendung Die adäquate syntaktische Darstellbarkeit der Wahrheitsoperationen war für Wittgenstein ein tiefes Problem, denn sie führte ihn zu dem kategorialen Unterschied der Logik bzw. aller Syntax von der Welt, von allen Tatsachen; denn alle Syntax baut auf Operationen auf. Operationen sind keine „Teile der Welt", in diesem Sinne sind sie „nichts" (nämlich nichts bestehendes). Oder, wie Wittgenstein es in den Tagebüchern am 23. 1. 1915 ausdrückte (vgl. auch T L P 5.25): „Die Verneinung ist eine Operation. Eine Operation bezeichnet eine Operation. Das Wort ist eine Sonde, manches reicht tief; manches nur wenig tief. Eine Operation sagt natürlich nichts aus, nur ihr Resultat; und das hängt von ihrem Gegenstand ab." Die Operationen beziehen sich also „auf nichts", sie „bestehen" nur durch ihre Resultate. Das „Nichts" der Operationen bedeutet auch, daß die Auswahl der Operationen und der logischen Grundgesetze in einem logischen System letztlich beliebig ist. Jede logische Operation kann man derart mittels anderer ausdrücken, daß eine beliebig gewählte andere Operation darin vorkommen kann. Selbst eine Festsetzung bestimmter Sätze als logischer Sätze ist für die Logik letztlich unwesentlich, „da wir ja in einer entsprechenden Notation die formalen Eigenschaften der Sätze durch das bloße Ansehen dieser Sätze erkennen können" ( T L P 6.122). Wenn z. B. für zwei Sätze „p" und „q" der Satz „p D q" eine Tautologie ist, dann ist nach Wittgenstein klar, daß q aus p folgt ( T L P 6.1221). Daß es sich um eine Tautologie handelt, Wie Wittgenstein schon 1913 in seinen Aufzeichnungen über Logik betont hat (AüL, S. 208). M
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kann man aus der Konstruktion der zusammengesetzten Wahrheitsfunktion unmittelbar sehen.25 Deshalb besteht der Beweis der logischen Sätze (der Tautologien) darin, daß wir sie aus anderen logischen Sätzen durch successive Anwendung der Grundoperationen eines bestimmten logischen Systems entstehen lassen ( T L P 6.126). Doch ist für Wittgenstein diese Art des Beweisens in der Logik für die Logik selbst unwesentlich, „schon darum, weil die Sätze, von welchen der Beweis ausgeht, ja ohne Beweis zeigen müssen, daß sie Tautologien sind." (Ebd.) So hat man im Tractatus zwei Grundauffassungen über Operationen. Einerseits „machen" Operationen nichts, und liefern uns auch kein „Etwas", sie stellen nur formal die inneren syntaktischen Verhältnisse als durch immer weiterführende Operationsausführungen, die Ubergänge zwischen Formen der Formenreihe bewirken, dar. Die Operationen sind demgemäß nur Darstellungsmittel, sie haben kein selbständiges Sein ( T L P 5-21). Andererseits baut Wittgenstein seine ganze Konzeption der Logik, des Satzes und der Welt auf dem Begriff der grundlegenden allgemeinen logischen Satzform auf, der zugleich auch die grundlegende Operation angibt. Diese Form ist nicht nur logischer Schein oder ein willkürliches Darstellungsmittel in der Logik. Hier erhält die Operation den Rang des „Wesens der Welt", denn: „Die allgemeine Satzform ist das Wesen des Satzes." ( T L P 5.471) „Das Wesen des Satzes angeben, heißt, das Wesen aller Beschreibung angeben, also das Wesen der Welt." ( T L P 5.4711) So bekommen auch die Operationen, zumindest N ' und alle, die man nach T L P 6.01 bilden kann, wieder ein „objektives" So kann man z. B. mittels der Wahrheitstafeln (wobei alle Werte in der letzten Spalte „W(ahr)" sind) oder mittels einer alternativen Methode, der Methode der Wahrheitspole, direkt sehen, wann es zu einer Tautologie kommt. Spencer Brown entwarf in Laws of Form (1969) ein interessantes logisches System, das eigentlich auf einer einzigen logischen Operation gründet, die der Wittgensteinschen N-Funktion ähnelt, und in dem man sich mittels besonderer Grapheme dem Wittgensteinschen Ziel, nur durch den bloßen Blick eine Tautologie zu erkennen, weit annähern kann (vgl. auch die Erweiterung dieses Systems auf die Prädikatenlogik bei Varga von Kibed 1990, 1991). s
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Sein; sie sind nämlich die transzendentalen Bedingungen der Welt selbst. In diesen beiden Seiten des Operationsbegriffs kann eine tiefliegende Ambiguität der Frühphilosophie Wittgensteins gesehen werden. Ich glaube, daß Wittgenstein im Tractatus noch keine befriedigende Lösung der Ambiguität der Operationen zwischen logischem Schein und dem Wesen der Welt gefunden hat. Auch der Unterschied von Sagen und Zeigen kann diese Ambiguität nicht aufheben, denn die spezifischen syntaktischen Züge jeder Operation, die sie von jeder Relation (jeder materialen Funktion) und von jeder Funktion unterscheiden, sowie die Abhängigkeit der Operationen von den syntaktischen Systemen, die wir zu bilden beabsichtigen, sind etwas, was sich nur zeigen läßt, aber nicht wirklich beschrieben oder gesagt werden kann. Es handelt sich dabei um die Unterschiede innerhalb des Zeigbaren selbst, also weder um empirische noch um geistige Tatsachen, sondern um die prinzipielle Möglichkeit der syntaktischen Konstruktionen.* Die „Tatsache", daß man nur mittels der Operationen andere Operationen erfassen oder darstellen kann, ist eben keine Tatsache, sondern etwas, was sich in der sinnvollen sprachlichen Praxis zeigt. Erst später, in der sog. Ubergangsphase zu seiner späteren Philosophie, hat Wittgenstein den Operationen ein wirkliches „Sein" zugestanden, nämlich die „Konstruktivität" innerhalb der verschiedenen syntaktischen Systeme. Unter Konstruktivität der Operation verstehe ich dabei folgende zwei formale Tatsachen: Erstens, daß man mittels der Operation immer etwas konstruiert, und zweitens, daß man jeden Schritt wirklich durchführen und nicht nur denken muß. 36 Es gibt noch eine andere Ambiguität des Operationbegrififs im Tractatus, nämlich die Ambiguität zwischen der Operation als einem Verfahren und der Operation als einer Beziehung (zwischen Formen). Wittgenstein hat beide Begriffe identifiziert (TLP 5.232), doch damit ist die Dualität im Begriff nur verdeckt, nicht gelöst. Nach Sundholm hat Wittgenstein die Identität von Verfahren und Beziehung im Operationsbegriff wahrscheinlich aus Freges Begriffsschrift übernommen. Sundhom schlägt vor, Operation im Tractatus lieber als eine allgemeine Methode oder als Anleitung zum Handeln anzusehen, denn als Ausführung der zu einer Operation gehörigen Handlung selbst (Sundholm 1992, S. 59). Aber die Dualität von Verfahren und Beziehung bleibt. Eine Operation als ein Verfahren scheint etwas „Unwesentliches", etwas bloß „Gemachtes" zu sein, eine Operation als Ausdruck der inneren Relation in einer Formenfolge scheint dagegen etwas „Wesentliches", an sich Seiendes zu sein. Eine Identität von beidem bleibt prinzipiell fraglich.
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Für Wittgenstein war die Syntax im Tractatus eher ein Kunstmittel für die logische Darstellung als ein System, das schon an sich einen logisch-grammatischen Wert hat. Erst später, als er mehrere verschiedene syntaktische Systeme als gleichermaßen primär anerkannte, mußte er auch selbständige Operationssysteme annehmen, die sich nicht mehr weiter reduzieren lassen. Doch seine Einsicht in den kategorialen Unterschied zwischen Operationen, Funktionen und Tatsachen ging als grundlegende Einsicht in seine späteren Forschungen zum Regelbegriff ein. In der Einsicht Wittgensteins, daß man nur mit Operationen andere Operationen erfassen und darstellen kann, und daß die (endlichen) Folgen der Operationsresultate nie mit den Operationen selbst identisch sind, kann man die Auffassung spüren, nach welcher die Operationen wirkliche Handlungen mit den Zeichen sind und nicht bloße Zeichen für die allgemeine Form der Operationsresultate. Nach T L P 5.23 ist die Operation „das, was mit dem einen Satz geschehen muß, um aus ihm den anderen zu machen". Die Operationen und letztlich das Logische am Satz sind keine Tatsachen, kein Bestehen oder Nichtbestehen, sondern sie sind Handlungen nach einer Regel. Doch muß man vorsichtig sein, um nicht eine „pragmatische" Auffassung von den Operationen im Tractatus zu vertreten, denn Handlungen im Tractatus sind rein syntaktisch zu deuten. Sie sind Transformationen der logischen Formen von Sätzen, nicht aber Handlungen mit bestimmtem Zweck oder mit bestimmter Absicht. Dasselbe gilt für die Anwendungen (der Satzzeichen). Wenn Wittgenstein sagt „Das angewandte, gedachte Satzzeichen ist der Gedanke" (TLP 3.5), meint er das Satzzeichen zusammen mit der Projektionsmethode, nicht aber eine pragmatische (auch keine „transzendentalpragmatische") Anwendung des Satzes: „Die Projektionsmethode ist das Denken des Satzsinnes." ( T L P 3.11) „Das Zeichen, durch welches wir den Gedanken ausdrücken, nenne ich das Satzzeichen. Und der Satz ist das Satzzeichen in seiner projektiven Beziehung zur Welt." ( T L P 3.12). Beim frühen Wittgenstein blieb der Gedanke der „Handlung nach einer Regel" zunächst meist implizit, im Hintergrund sei-
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ner „Theorie" der Operationen.27 Doch in den Tagebüchern schreibt Wittgenstein schon: „Der Begriff der Operation ist ganz allgemein derjenige, nach welchem nach einer Regel Zeichen gebildet werden können." (TB, 22. 11. 1916) Im Tractatus spricht Wittgenstein sehr wenig von dem Verhältnis der Regeln zu den Operationen. Zwar spricht er von syntaktischen Regeln als von Zeichenregeln (die konventionell gegebene Bezeichnungsregeln sind), die mit der Bezeichnungsweise eines Zeichens (selbstverständlich) mitgegeben sind (TLP 3.334), und die die Ersetzungen der Symbole durch (logisch entsprechende) Symbole ermöglichen (TLP 3.344). In TLP 5.514 sagt er, daß man mit Hilfe einer gegebenen Notation alle Sätze einer bestimmten Form (z. B. alle p verneinenden Sätze) angeben kann. „Diese Regeln sind den Symbolen äquivalent und in ihnen spiegelt sich ihr Sinn wider" (ebd.). Hier sind Symbole zugleich implizite Operationsregeln für das Bilden neuer Satzformen. Einerseits sind Operationen mittels der syntaktischen Regeln eines logischen Systems gegeben; darum spricht Wittgenstein in bezug auf ein logisches System von jeder logischen Operation im System als dem Ausdruck einer Regel. Er sagt, etwa in 5.476, daß die Anzahl von Grundoperationen (Grundbegriffen) unwichtig ist, denn hier handelt es sich „um den Ausdruck einer Regel". Andererseits schließen die Formulierungen der Operationen in einem bestimmten logischen System die syntaktischen Regeln des Systems ein. Darum faßt Wittgenstein manchmal Regeln als den syntaktischen Ausdruck der Operationen auf, z. B. in TLP 5.512, wo er von der Negationsregel als der gemeinsamen Zeichenregel spricht, nach welcher man „->p", „-•-•-•p", „->p v -•p", „-•p & ->p" etc. bildet, und die die Verneinung widerspiegelt. Die Negation ist die logische Operation, die sich in einer Zeichenregel widerspiegelt, sich also darin zeigt. Man kann also sagen, daß im Tractatus die Bedeutung von (Operations-)Regeln mit der Bedeutung der Operationen so Darum ist eine (transzendentalpragmatische) Auslegung des Tractatus, wie z. B. bei Apel (1973) verfehlt. Auch die Interpretation von Niedermair (1987), obwohl er eine viel sorgfältigere logisch-pragmatische Auslegung des Tractatus gibt, ist ungenügend. Niedermair hat zwar die Gleichsetzung von Anwendungen der Satzzeichen mit Handlungen erklärt, doch der logisch-ontologische Status dieser Handlungen bleibt unklar, und so bleibt uns nur eine ziemlich vage Vorstellung von „Sprachhandlungen". 27
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verschmolzen wurde, daß man nicht entscheiden kann, welcher Begriff der grundlegende ist. Beide sind formale Begriffe, die etwas Unaussprechliches, nämlich den kategorialen Unterschied der logischen Form des Satzes und seines Sinnes (seines Inhalts) „darstellen" wollen. Weil der Begriff der logischen Operationen im Tractatus jedoch Wittgensteins Hauptbegriff ist, ist es wichtiger, zu betonen, daß Regeln Ausdruck der Operationen sind, als, daß Operationen die Form der Regeln widerspiegeln. Logische Symbole enthalten also implizite Operationshinweise. Vladimir Richter betonte zurecht, daß Wittgenstein mit der Einsicht, daß logische Symbole operativen Charakter haben, der sich in den Regeln ihres Gebrauchs ausdrückt, einen Gedanken ausgesprochen hat, „der in seiner Spätphilosophie von zentraler Bedeutung sein sollte, nämlich daß die ,Bedeutung' des Symbols oder des Wortes mit den Regeln seines Gebrauchs gegeben ist" (Richter 1965, S. 33). In der Auffassung der logischen Symbole als Operationsanweisungen verbirgt sich der Gedanke von „Bedeutung als Gebrauch". Er ist implizit auch in der These enthalten, daß die Operationen die logische Konstruktion eines Satzes aus einem anderen ermöglichen: „Die Operation kann erst dort auftreten, wo ein Satz auf logisch bedeutungsvolle Weise aus einem anderen entsteht. Also dort, wo die logische Konstruktion des Satzes anfängt." (TLP 5.233) Es handelt sich dabei um die logische Konstruktion nach einer Regel, die die Wirkung einer Operation auf den gegebenen Basen bestimmt. Der Gebrauch bleibt also stets ein operativer Gebrauch, doch man muß hier streng zwischen den Handlungen, die die Konstruktion weiterer Glieder in einer Formenreihe ermöglichen, und ihren Resultaten unterscheiden. Man kann die Operationshandlungen selbst nie „beobachten", denn dann würden sie den Tatsachen bzw. bestimmten Eigenschaften oder Relationen gleichen; das aber lehnt Wittgenstein entschieden ab. Darum kann man sagen, daß man Operationen (als Handlungen) nur ausführen, nie aber beobachten und beschreiben kann. Wir sehen und beschreiben nur ihre Resultate. Operationshandlungen und Operationsresultate liegen nicht auf derselben „Ebene". Das aber bedeutet, daß die regelgemäßen Handlungen im Sinne Wittgensteins selbst „transzendental" sind: Wir sehen
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nur ihre Resultate, sie selbst aber nicht (sie sind nicht „in der Welt"). Diese zunächst verblüffende Konsequenz stimmt mit anderen Grundgedanken des Tractatus überein. Klaus Niedermair hat die interessante These entwickelt, daß das .„(metaphysische) Subjekt' das metaphysische Fundament der allgemeinen Satzform ist, also der Träger jeder Anwendung und damit der Träger der Anwendung des Satzes" (Niedermair 1987, S. 108); es ist also auch der Träger jeder Operationshandlung. Das Subjekt „begrenzt" die Welt als „meine Welt" und die Sprache als „meine Sprache". Danach gehört das Subjekt zu den drei formalen Gesamtheiten im Tractatus: der Welt, der Substanz, der Sprache. Eine ähnliche These hat auch Jaakko Hintikka aufgestellt. Danach soll das Subjekt sogar mit der Sprache (der Gesamtheit der Sätze) identisch sein (siehe Hintikka 1966, S. 159f.). Hintikkas Interpretation wirkt jedoch etwas fragwürdig, wenn man Wittgensteins Gedanken zum metaphysischen Subjekt (dem Ich) aus den Tagebüchern berücksichtigt. Dort wird nämlich das Subjekt als ein wollendes Subjekt (TB, 4. 11. 1916), das die „Bedeutung" der Dinge gibt (TB, 15. 10. 1916), bestimmt; dies kann aber keine Gesamtheit (aller möglichen) Sätze „tun". Es scheint also, daß der Willensbegriff (über den im Tractatus selbst sehr wenig geschrieben steht) wesentlich zur Erläuterung der Beziehungen zwischen den Gedanken Wittgensteins über das Subjekt und über Operationen als Handlungen ist (siehe dazu Ule 1993, 1994). In dem so angedeuteten Operationsbegriff als einem impliziten (und noch unentwickelten) Handlungskonzept kann man eine Verbindung der Operationsidee im Tractatus mit der Regelidee in den späteren Werken Wittgensteins sehen. Im Tractatus bleibt dieser praktische Aspekt der Operationen als etwas rein Subjektives hinter dem Idealbild der Kristallstruktur der Logik verborgen; er tritt aber in späteren Werken immer mehr in den Vordergrund seiner Überlegungen. Ich habe den Regelbegriff im Tractatus im Zusammenhang mit dem Operationsbegriff untersucht, will aber die beiden Begriffe keineswegs identifizieren. Im Tractatus war der Regelbegriff noch unklar, sozusagen noch kein „theoriespezifischer" Begriff; man sollte daher hier noch keine allzu starken Thesen darüber aufstellen. Doch aus dem Gedanken Wittgensteins in den Tagebüchern, daß Operationen Handlungen nach einer Re-
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gel sind, kann man eine frühe innere Verbindung zwischen beiden Begriffen erahnen. Nach G. P. Baker und P. M. S. Hacker sind die syntaktischen Regeln einer Sprache ganz anders aufzufassen als die Regeln im Spätwerk. Wittgenstein soll danach im Tractatus (syntaktische) Regeln kennen, die man nicht sprachlich bestimmen kann, sondern die wir nur implizit wissen und denen wir folgen, und außerdem an Namen glauben, die ihre Bedeutung unabhängig von syntaktischen Regeln erhalten. Er kenne auch Regeln, die unabhängig von ihrem Gebrauch (Anwendung) bestehen (z. B. die Regeln der logischen Syntax, die sich in Tautologien oder Kontradiktionen zeigen) (Baker/Hacker 1985, S. 32-37). Es ist aber fraglich, ob Wittgenstein wirklich im Tractatus einen ausgearbeiteten Begriff der syntaktischen Regel besaß und ob er ihn nicht eher als einen „formalen" Hilfsbegriff einführte. Dagegen wurde der Operationsbegriff viel klarer ausgearbeitet; er ist ein Hauptbegriff des Tractatus, so wie der Regelbegriff ein Hauptbegriff der Philosophischen Untersuchungen ist. Ich glaube darum, daß der spätere Regelbegriff bei Wittgenstein nicht der Nachfolger des allgemeinen syntaktischen Regelbegriffes im Tractatus, sondern des engeren Operationsbegriffes war, obwohl es natürlich auch hier kein bloßes Kontinuum der Begriffsentwicklung, sondern viele wichtige begriffliche Wandlungen gibt. Ich stimme daher auch mit Diane Gottliebs Kritik an Wittgensteins Regelbegriff im Tractatus nicht überein. Ihrer Meinung nach meinte Wittgenstein im Tractatus, Regeln seien klar und bestimmt, ermöglichten die Analyse jedes sinnvollen Satzes über seine logischen Elemente (die Elementarsätze), und diese Analyse müsse in einem bestimmten mentalen Prozeß durchgeführt werden. Eine solche Analyse stehe hinter jedem Gebrauch des Satzes bei einem Menschen (Gottlieb 1986, S. 241). Nach Gottlieb richtete sich die scharfe Kritik in den Philosophischen Untersuchungen an einem mentalen Prozeß oder an einem Mechanismus im Gehirn (oder im Geist), der das Regelfolgen ermögliche, vor allem gegen Wittgensteins eigene Ideen im Tractatus. Meiner Meinung nach sollte man hier nicht den wesentlichen Unterschied zwischen Operationen und Regeln im Tractatus vergessen. Syntaktische Regel können vielleicht unbestimmt oder unvollkommen sein - sie hängen vom Menschen ab - , doch die grundlegenden logischen Operationen im Trac-
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tatus sind mittels der N-Funktion eindeutig und vollständig bestimmt. Diese Eindeutigkeit und Vollständigkeit ist nicht die Konsequenz des logischen Idealismus', wonach jeder Satz eine „kristallreine" Struktur hat (es ist überaus fraglich, ob Wittgenstein im Tractatus wirklich einen solchen Idealismus verteidigte!), sondern die Konsequenz des strengen Logikbegriffs Wittgensteins, wonach man alle Logik und alle logischen Formen auf eine einzige Grundoperation reduzieren soll. Operationen „an sich" sind keine Dinge, auch keine Prozesse (z. B. im Gehirn oder im Geist), sie sind „transzendentale" Bedingungen des logischen Sinnes eines Satzes. Darum besteht keine Notwendigkeit, mit dem Gebrauch eines Satzes seine vollständige logische Analyse auszuführen - es genügt zu zeigen, daß eine solche Analyse logisch möglich ist, daß also nichts dagegen spricht (insbesondere z. B. keine logische Ungereimtheit im Ausdruck, keine kategorial falsche Anwendung bestimmter Symbole usw.) (TLP 2.0201, 4.221, 4.2211). Ihre Möglichkeit ist schon ihr Sein. Man darf daher in gewissem Sinne sagen: Die vollständige Analyse des Satzes ist da (nicht als ein Ding oder eine Tatsache), aber sie ist nicht etwas, was geschieht. Wegen der eindeutigen Bestimmtheit des Satzsinnes gibt es eine und nur eine vollständige Analyse des Satzes ( T L P 3.25). Die spätere Selbstkritik Wittgensteins an den Ideen von Mechanismus, Mentalismus usw. gilt meiner Meinung nach eher der „mittleren" Phase seiner philosophischen Entwicklung (nach 1930) als dem Tractatus. Damals entwickelte Wittgenstein eine streng konstruktivistische Auffassung von Regeln und Operationen. Doch Wittgensteins Kritik (in den Philosophischen Untersuchungen) galt einer Art der mechanistischen Ideologie, die mentale Prozesse und Sprachbeherrschung als bestimmten „inneren Mechanismus" im Gehirn oder im Geist ansah. Diese Ideologie war und ist noch immer sehr beliebt in der modernen empiristischen Philosophie. Ich glaube, daß Wittgenstein selbst nie eine solche Ideologie vertrat, doch war er ihr vielleicht ab 1930 relativ am nächsten. Eine genauere Antwort auf die Frage, worauf sich die Kritik Wittgensteins genau bezieht, kann erst eine weitere Analyse der Entwicklung seines Operations- und seines Regelbegriffs mitbringen. 28 s
Vgl. dazu Ule (1997), das eine erweiterte Version dieses Aufsatzes enthält.
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Wittgensteins Analyse von „gewissen Satzformen der Psychologie"
10.1 Die gegenwärtig unter so verschiedenen Stichworttiteln wie etwa „propositionale Einstellungen", „intentionale Sätze", „intentio obliqua" oder „opake Kontexte" angezeigte Art von („intensionalen") Sätzen wie „A denkt p" war und ist bis heute von besonderem philosophischen Interesse. Dies nicht nur deshalb, weil solche Sätze eine erhebliche Resistenz gegen die Reduktion ihrer Struktur auf die gerne als Ausgangsmodell einschlägiger linguistischer oder sprachphilosophischer Theorien verwendeten gewöhnlichen Aussagesätze zu erkennen geben; etwa in der Hinsicht, in der wir Entsprechendes z. B. auch von Fragesätzen gegenüber normalen Aussagesätzen behaupten möchten. Vielmehr scheinen Sätze der fraglichen Art einer charakteristischen und basalen Konstitution dessen Ausdruck zu geben, in Beziehung worauf das theoretische Verständnis von Sinn und Geltung bzw. dessen, daß uns überhaupt irgendetwas etwas bedeutet, allererst zu entfalten ist. Das Denken der Moderne, dessen Problemhorizont nicht zuletzt darin wieder, wenngleich in eigener Weise einsetzt, daß „Sinn" nicht eine traditionell ontologische Kategorie, aber auch keine subjektlos nicht-epistemologische - irreflexive - Struktur bezeichnet, ohne aber darauf schlechthin, d. h. zu ungunsten ihrer Objektivität, reduzibel zu sein, bezeugt die Zentralität jenes Gedankens gerade auch dort,
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wo bereits Zweifel an der Erfüllbarkeit auch nur einiger weniger Forderungen der genannten Konstitution ohne weiteres in nihilistische Programme umschlagen konnten. Tatsächlich kennzeichnet es die modern in den Mittelpunkt gerückte Erkenntnistheorie in ihren spezifischen Konstellationen, sich wesentlich an eine Theorie des Urteils (und seiner Formen) als Paradigma von Sinnbildung zu binden. In dieser Ausrichtung sind Sätze und jede theoretische Aufklärung über sie grundlegend auf die Urteilsstruktur bezogen. Wie sehr sich der Tractatus gerade im Gegenzug zu dieser letzten Option und ihren erkenntnistheoretischen Korollarien versteht und konstituiert, verdeutlichen nicht zuletzt auch die Belege der Wittgensteinschen Auseinandersetzung mit Russell in der entschiedenen Distanzierung gegen dessen philosophischen Ansatz, die schon bald nicht nur eine wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen beiden ausschloß, sondern auch zu nachhaltigen Trübungen ihres persönlichen Verhältnisses führte. Hier ist jedoch der historische Hintergrund solcher Auseinandersetzungen ebensowenig zu beleuchten, wie die entsprechenden systematischen Zusammenhänge innerhalb der Logischphilosophischen Abhandlung in extenso auseinanderzulegen sind. Ausgehend von dem unstrittigen Tatbestand, daß die jeweilige theoretische (systematische, kritische etc.) Behandlung, Verortung, Explikation oder einfach Auffassung von Sätzen der fraglichen Art (wie „A glaubt, daß p", „Ich urteile, daß p", etc.) als einer der fundamentalen Indikatoren dessen dienen kann, was - modern, nicht minder „postmodern" - das Selbstverständnis eines philosophischen Grundansatzes im Rahmen der basalen Optionen nicht nur beiläufig prägt, konzentrieren wir uns allein auf das Resultat der tractarianischen Analyse von „gewissen Satzformen der Psychologie", die der genannten Satz-„Art" entsprechen. Zunächst und hauptsächlich ist zu klären, worin das, gleichsam „bloße", Ergebnis jener Analyse überhaupt besteht. Dieses Ergebnis ist sodann noch kurz zu erläutern und zwar nicht zuletzt in der Hinsicht, wie es vor dem Hintergrund unserer gewöhnlichen Intuitionen und Sprechweisen zu verstehen ist.
. G E W I S S E S A T Z F O R M E N DER P S Y C H O L O G I E "
10.2 Wittgensteins bekannte Analyse ( T L P 5.54—5.542) lautet: „In der allgemeinen Satzform kommt der Satz im Satze nur als Basis der Wahrheitsoperationen vor." ( T L P 5.54) „Auf den ersten Blick scheint es, als könne ein Satz in einem anderen auch auf andere Weise vorkommen. Besonders in gewissen Satzformen der Psychologie, wie „A glaubt, daß p der Fall ist" oder „A denkt p " etc. Hier scheint es nämlich oberflächlich, als stünde der Satz p zu einem Gegenstand A in einer Art von Relation. (Und in der modernen Erkenntnistheorie [Russell, Moore etc.] sind jene Sätze auch so aufgefaßt worden.)" ( T L P 5.541) „Es ist aber klar, daß „A glaubt, daß p", „A denkt p", „A sagt p" von der Form ,„p' sagt p" sind: Und hier handelt es sich nicht um eine Zuordnung von einer Tatsache und einem Gegenstand, sondern um die Zuordnung von Tatsachen durch Zuordnung ihrer Gegenstände." ( T L P 5.542) Im folgenden sei die in T L P 5.54 ausgedrückte These „ASFThese" genannt. Sätze der Form „A glaubt, daß p" nennen wir „W-Sätze", und „,p' sagt p" heiße „F-Satz". Die ASF-These stützt sich darauf, daß jeder Satz eine Wahrheitsfunktion von Elementarsätzen (und der Elementarsatz eine Wahrheitsfunktion seiner selbst) ist ( T L P 5), wobei (elementare und nicht-elementare) Sätze entweder wahr oder falsch, jedoch nicht notwendig wahr oder notwendig falsch sind. Etwas Satzartiges, das diesen Anforderungen nicht genügt, kann kein wirklicher, sinnvoller Satz, sondern nur ein Scheinsatz, muß unsinnig oder, im Fall logischer Sätze, sinnlos sein.1 Formulierungen ' Dabei ist zur Vermeidung eines weitverbreiteten Mißverständnisses zu beachten, daß „Unsinn" hier als terminus technicus verstanden werden muß und insbesondere auch keine emotional beladene, pejorative Wertung enthält, wie wir sie von der gewöhnlichen Gebrauchsweise dieses Wortes her kennen; etwa wenn wir in alltäglichen Kontexten sagen, jemand rede Unsinn. Unsinnig ist nach dem Tractatus ein Satzgebilde einfach und genau dann, wenn es erstens keinen Sinn in der von der Bildtheorie namhaft gemachten Weise hat und zweitens kein logischer Satz ist. (Ein logischer Satz ist nach der tractarianischen Terminologie „sinnlos".) Dafür, daß auch unsinnige Satzgebilde, wenn als Unsinn erkannt, aufklärend wirken können, indem sie etwas „zeigen" (z. B. daß einige ihrer als „Namen" zu verstehende Bestandteile keine „Bedeutung" haben), ist das nächstliegende Beispiel die Erläuterungsfunktion der TracUtus-SiXze selbst (s. T L P 6.54).
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von ip-Sätzen setzen voraus, daß das in ihnen auftretende Zeichen „p" eine Satzvariable darstellt. Damit scheint eine Weise des Vorkommens eines Satzes in einem anderen eingeführt zu sein, die der ASF-These nicht entspricht. (Zum Beispiel scheint der Wahrheitswert von „p" nichts zu dem des Gesamtsatzes beizutragen.) Für die Entscheidung der Frage, inwiefern dies hinsichtlich des Status von ^-Sätzen zu verstehen ist, stehen zwei Grundpositionen einander gegenüber. Nach Position A stehen ty-Sätze nur nach ihrer scheinbaren, oberflächlichen, nicht aber nach ihrer durch Analyse zu erreichenden wirklichen Form in Widerspruch zur ASF-These. Position B hingegen sieht die fragliche Unvereinbarkeit als grundlegend und definitiv und die IJJSätze somit nur als Scheinsätze. Die für unseren Zusammenhang wichtigsten Differenzierungen dieser Positionen lassen sich in folgender Übersicht rubrizieren:
AI A2 A3 B1 B2 B3 B4 B5 B6
ty-Sätze stehen im Widerspruch zur ASF-These
F-Satz
i|)-Sätze
nein nein nein ja (bzw. nein, da sie keine Sätze sind)
sinnvoll sinnlos unsinnig sinnlos
sinnvoll sinnvoll sinnvoll sinnlos
unsinnig sinnlos unsinnig sinnvoll sinnvoll
unsinnig unsinnig sinnlos sinnlos unsinnig
»
n v> »
Die Probleme von AI (vgl. z. B. Anscombe) kreisen um den Punkt der Sinnhaftigkeit des F-Satzes, der unter Voraussetzung der Deutung der Wendung „von der Form" als Indikation einer Art Sinn-Äquivalenz zwischen F-Satz (bzw. dem „Analysans") und ty-Sätzen auf zahlreiche Folgeprobleme führt. Zu letzteren gehören nachträgliche Erweiterungen jener „Analyse". Sie ergeben sich aus der Feststellung, daß offenkundig der angenommene Sinn des (für alle ty-Sätze gleichen) F-Satzes den Sinn von i|>-Sätzen (z. B. „A denkt, daß p") nicht allein abzudecken ver-
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mag. So wurden verschiedene Vervollständigungsmodelle entworfen, die dem genannten Manko abhelfen und Wittgensteins Analyse verständlich machen sollten. Sie sind allesamt etwa von der folgenden zweigliedrigen, konjunktionalen Grundgestalt (hier nach dem Muster von Pitcher): (1) A hat einen Gedanken, der durch das Aussagezeichen „p" ausgedrückt werden kann, und (2) das Zeichen „p" sagt, daß p. Warum Wittgenstein nur die eine Hälfte dieser „Analyse", nämlich den Satz (2) bzw. den F-Satz, berücksichtigt, bleibt im Rahmen solcher Interpretationen freilich sein bzw. deren Geheimnis.2 Daß er aber de facto so verfahrt, sollte Anlaß genug sein, zunächst einmal nur zu prüfen, ob der Satz (2) bzw. der FSatz nach dem Tractatus wirklich ein sinnvoller Satz sein kann. Verfechter einer positiven Antwort hierauf verweisen gerne (vgl. nur z. B. Pitcher) auf seinen kontingenten Charakter, der darin besteht, daß der F-Satz nur eine kontingente Konvention, daß „p" p sagt, ausdrückt: Daß „p" (und nicht etwa „q" oder „haus") p bezeichnet bzw. „sagt", ist Sache einer nur willkürlichen Festlegung oder Ubereinkunft, die - anders als bei sinndefizienten „metaphysischen" oder rein logischen Sätzen - einen wirklichkeitsbezogenen und eo ipso selbst wirklichen Sinn des fraglichen Satzes verbürgt. Diese Gedankenlinie kann mit unterschiedlichsten Plausibilisierungsstrategien einhergehen. Sie reichen etwa von dem allgemeinen Hinweis, daß es fiir eine einschlägig unkundige Person informativ (also auch weder tautologisch noch unsinnig) ist, zu erfahren, was eine bestimmte Zeichenfolge (z. B. „Es regnet") bezeichnet, bis hin zu der konkreten Behauptung, der F-Satz könnte auch (kontingenter2
Anscombe (S. 88) z. B. schreibt typischerweise: „what he [i.e. Wittgenstein] should have said was that the business part of 'A judges that p', the part that relates to something having as its content a potential representation of the fact that p, was of the form '„p" says that p': 'A believes p' or 'conceives p' or 'says p' must mean 'There occurs in A or is reproduced by A something which is (capable of being) a picture of p'." Warum nun Wittgenstein nicht verfährt, wie er nach Anscombe, Hacker (S. 62) und vielen anderen sollte, findet sich nicht weiter kritisch reflektiert und wird von einschlägigen Interpreten unterderhand oder ausdrücklich ebenso einfach wie vage-spekulativ bestimmten Idiosynkrasien, Vorlieben, Ungenauigkeiten oder Inkonsequenzen Wittgensteins zugeschrieben.
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weise) falsch sein, nämlich dann, wenn wir uns entschlossen hätten, für die Bezeichnung von p nicht „p", sondern ein anderes Zeichen zu verwenden. Solchem Ansinnen liegt vor allem der Irrtum zugrunde, daß sich die Arbitrarität der Zeichenwahl noch nach der Festsetzung bzw. Übereinkunft über die Bezeichnungsweise auf diese wesentlich überträgt; ein Irrtum, dem der Tractatus bereits generell mit T L P 3.342 entgegentritt: „An unseren Notationen ist zwar etwas willkürlich, aber das ist nicht willkürlich: Daß, -wenn wir etwas willkürlich bestimmt haben, dann etwas anderes der Fall sein muß. (Dies hängt von dem Wesen der Notation ab.)" Verwechselt werden also die zufälligen Züge einer Notation mit ihren wesentlichen Zügen, die sich etwa in den Regeln der logischen Syntax zeigen und die „sich von selbst verstehen, wenn man nur weiß, wie ein jedes Zeichen bezeichnet" ( T L P 3.334). Die das bloße Zeichen in der Arbitrarität seiner bestimmten Wahl (etc.) betreffende kontingente Seite des Satzes bestimmt nicht das an ihm Wesentliche, „also das, was allen Sätzen, welche den gleichen Sinn ausdrücken können, gemeinsam ist" ( T L P 3.34f.).3 Man muß nicht eigens betonen, daß es andernfalls z. B. keine einheitliche Satzanalyse gäbe, da sie sich jeweils immer wieder nicht nur an den jeweiligen Zeichen-Konventionen auszurichten hätte, sondern durch diese allein jeweils als Analyse überhaupt erst definiert wäre; daß wir also letztlich nicht von einer a priori anzugebenden allgemeinen Satzform bzw. einer entsprechenden nicht-trivialen Theoriemöglichkeit ausgehen könnten. Daß sich die Nichtberücksichtigung des von Es sei hier bei dieser bloßen Skizze der Zurückweisung der genannten Argumentation belassen. Insbesondere ist an dieser Stelle auch nicht auf die (in der Literatur völlig übergangenen) Komplizierungen einzugehen, die daraus resultieren, daß die fraglichen Sätze (oder Pseudo-Sätze) in T L P 5.541 f., wie „A denkt p" oder „,p' sagt p", selbst keine genuinen Sätze bzw. Satzbeispiele oder genuine Anwärter für wirkliche Sätze sind, sondern Variablen enthalten und so nach Wittgenstein nur Schemata betreffen (s. a. AüL 198), was eine genaue Diskussion der genannten Argumentation in verschiedene weitere Dimensionen zwingen würde. Eine solche ausgreifende Diskussion ist im vorliegenden Zusammenhang, gerade auch angesichts des Verhältnisses von dafür erforderlichen Aufwendungen und dem eher bescheidenen, keineswegs überraschenden Ergebnis, nicht zu führen. Hinzuweisen ist auf diese vergessene Perspektive, etwa für speziellere oder auch semiotisch grundsätzlichere Untersuchungshinsichten, allemal. 1
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der fraglichen Argumentation verwischten Unterschiedes, auch jenseits spezifischer Tractatus-Voraussetzungen, als unhaltbar für jede Sprache, Kommunikation und Theoriebildung erweist, ist ohnehin unübersehbar. Doch selbst wenn der genannten Argumentation Erfolg beschieden und der F-Satz als völlig kontingent auszuweisen wäre, könnte dies nur einen Schritt in AI, nicht aber schon einen Nachweis der Richtigkeit der AI-Deutung des F-Satzes darstellen. Denn Kontingenz ist zwar (so sei hier zumindest unterstellt) eine notwendige, keinesfalls aber eine hinreichende Bedingung für einen sinnvollen Satz. Um einem satzartigen Gebilde den Status eines wirklichen Satzes zusprechen zu können, müssen mindestens drei weitere mit dem tractarianischen Bildbegriff verbundene Bedingungen erfüllt sein. Erstens muß dem Satz-Kandidaten die Wahrheitsdifferenz, das Wahr-OderFalsch-Sein, wesentlich sein, ohne daß natürlich sein Sinn davon abhängig sein kann, ob er wahr oder falsch ist. Das heißt auch, daß es überhaupt vertretbar sein muß, ihm einen bestimmten Wahrheitswert zuzuordnen, und daß als Wahrheitswert nur entweder „wahr" oder „falsch" in Frage kommen kann. Das scheint auf den ersten Blick für den F-Satz keine Schwierigkeiten zu bereiten, zumindest wenn wir ihn wie gewöhnlich mit Sätzen wie ,„Es regnet' sagt, daß es schneit" oder „,1t is raining' sagt, daß es regnet" etc. und damit auch mit einer üblichen Situation ihrer Gebrauchsweise (z. B. im Rahmen eines Sprachunterrichts) assoziieren. Solche Sätze sind, in ihrer jeweiligen pragmatischen Gebrauchssituation, wahr oder falsch relativ zu einer bereits getroffenen Festlegung. (Dabei sind für solche Situationen bekanntlich auch leicht Fälle zu konstruieren, in denen wir den jeweiligen Satz nicht als falsch, aber auch nicht als wahr bezeichnen wollten, sondern ihm eine Art Zwischenstatus zusprächen.) Ein solcher Satz ist im Fall seiner Wahrheit nur die Wiederholung einer Festsetzung. Im Fall seiner Falschheit könnte es sich auch um die (etwa „indirekte") Artikulation einer anderen Festsetzung handeln. Wir sehen uns hier also immer wieder auf Festsetzungen zurückverwiesen. Einer Zeichenfestsetzung selbst aber eine wesentliche Wahrheitsdifferenz zuzuschreiben, muß allerdings als absurd gelten. Bereits im Licht solch einfacher und an gängigen Beispielen gewonnener Überlegungen erscheint die Behauptung der we-
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sentlichen oder prinzipiellen wahrheitsdifferenten Verfassung des F-Satzes zumindest als zweifelhaft. Zweitens hat sich die Wahrheitsdifferenz des Satz-Kandidaten von daher zu verstehen, daß er ein Bild der Wirklichkeit ist, so daß sein faktischer Wahrheitsweit nicht ihm und auch nicht dem ihm zugrundeliegenden Bezeichnungssystem entnommen werden kann, sondern sich durch Vergleich mit den (von seinem Sinn unabhängigen; T L P 4.061) Tatsachen erweist. Diesbezüglich liegt von einschlägiger Seite die bekannte Behauptung nahe, daß der F-Satz wirklich von Tatsachen handele, nämlich von dem Satzzeichen (das tractarianisch auch eine Tatsache ist; T L P 3.14) oder von der abgebildeten (oder abzubildenden) Tatsache oder von beiden. Tatsächlich handelt der F-Satz jedoch nicht von Tatsachen, sondern ausdrücklich von der Zuordnung von Tatsachen zueinander. Daß diese nicht selbst wieder als Tatsache zu verorten ist, gehört zum Grundbestand der Bild-„Theorie" (und der ihr zentralen Konzeption von Relationalität und Operationalität). Drittens muß der Satz-Kandidat als sinnvoller Satz tractarianisch ein Elementarsatz oder eine Wahrheitsfunktion von Elementarsätzen sein. Als Elementarsatz kann der F-Satz nicht gelten, da in ihm wieder mindestens ein Satz vorkommt. (Ob diesbezüglich das p-Zeichen mit oder das ohne Anführungszeichen oder beide zu veranschlagen sind, kann hier dahingestellt bleiben. U m diese Wahlmöglichkeiten zusammenfassend auszudrücken bzw. eine beliebige von ihnen zu markieren, schreiben wir im folgenden „p*".) Als nicht-elementarer Satz müßte der F-Satz, wenn wir p* als Elementarsatz (oder Elementarsätze) ansetzen, eine Wahrheitsfunktion von p* sein. Dies ist offensichtlich nicht der Fall, wie in zahlreichen Hinsichten aufzuzeigen wäre, welche Demonstrationen sich aber auch dadurch erübrigen, daß A l Proponenten selbst wohlweislich nicht offiziell behaupten, der F-Satz sei eine sozusagen „direkte" Wahrheitsfunktion von p* (das eo ipso mit elementarsatzhaftem Status belegt wäre). Wenn p* selbst jedoch nicht im Rahmen von Elementarsatzhaftigkeit zu verorten ist, müssen p* und somit auch der F-Satz weiter analysierbar sein, und zwar in Elementarsätze so, daß der F-Satz als eine Wahrheitsfunktion von ihnen zu verstehen ist. Das wäre der spekulative Ausweg von AI: Wir kennen zwar keine Elementarsätze und können auch kein Modellbeispiel einer entsprechenden wahrheitsfunktionalen Zurückführung des F-Sat-
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zes angeben, aber wir gehen mit Wittgenstein von der Existenz von Elementarsätzen aus und nehmen weiter an, daß es (auch) solche Elementarsätze gibt, als deren Wahrheitsfunktion der FSatz, aufgrund einer ominösen Eigenart dieser Elementarsätze, zu erklären ist. Könnte es wirklich solch kuriose Elementarsätze geben, wäre die tractarianische „Theorie" der Begrenzung des Sagbaren freilich hinfällig. Als entsprechend haltlos erweist sich die genannte Spekulation. Denn der F-Satz sucht genau das auszudrücken, was sich nach dem Tractatus nicht aussagen läßt, nämlich die Form eines Satzes als Satz. Daß „p" p sagt bzw. „p" ein logisches Bild von p ist, wie die entsprechende „einfache" Verwendung von p* bereits für die Möglichkeit irgendeiner Rückfrage oder Skepsis voraussetzt, kann nicht wieder gesagt bzw. logisch abgebildet werden, sondern muß sich in der Logik des Gebrauchs des Zeichens, also durch das Symbol, zeigen (auch die etwaige Rückfrage ließe sich nicht adäquat formulieren). 4 Der Satz zeigt seinen Sinn als das, was er sagt, er kann aber nicht wiederum sagen, daß er Sinn hat bzw. etwas sagt. Damit stellt sich die nur prima facie paradoxal erscheinende Situation ein, daß der F-Satz zwar die Form von sinnvollen Sätzen doch artikuliert, aber selbst keinen sinnvollen Satz vorstellt, dessen Form sich an ihm zeigen könnte. Die „Form" des F-Satzes ist nicht die eines sinnvollen Satzes. Das bringt auch ein erstes Charakteristikum der Wendung „von der Form" in T L P 5.542 in den Blick: Sie ist nicht ausgelegt auf die Angabe eines sinnvollen Beispielsatzes, an dem sich seine Form zeigt, sondern auf einen formbezogenen Formulierungsversuch, der kein sinnvoller Satz ist. Im Rahmen der A-Position verbleibt demnach nurmehr die Option, den F-Satz als nicht-sinnvollen Satz, als Scheinsatz aufzufassen (vgl. z. B. Favrholdt), was, gemäß der tractarianischen 4
„Zeichen", „Symbol", „Ausdruck", „logisches Bild" etc. hier natürlich im Sinn des Tractatus verstanden. Nachweise zum gerade Gesagten würden nur auf die Angabe einer Unzahl von ausgewählten 1ractatus-S»tz£n hinauslaufen, denen, für ein erstes überblickartiges Verständnis, eine auch bloß oberflächliche SchnellLektüre des Tractatus zunächst wohl vorzuziehen ist. Wer diesbezüglich dennoch Wert auf einzelne 7rart»f«isatzangaben legt, möge die einschlägigen Einträge (bes. etwa „Form", „Sagen", „Zeigen" u. ä.) in den Verzeichnissen von Borgis oder von Plochmann und Lawson oder im Index der „kritischen" Tractatus-Ausgabe von McGuinness und Schulte konsultieren.
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Unterscheidung (s. a. T L P 4.461 f.), entweder seine Sinnlosigkeit oder seine Unsinnigkeit bedeutet. Die A2-Annahme der Sinnlosigkeit des F-Satzes verfällt sogleich. Denn offenkundig ist ,,'p' sagt p" kein genuin logischer „Satz", also keine Tautologie oder Kontradiktion, in der von Wittgenstein für sinnlose Pseudo-Sätze als „Sätze" der Logik bestimmten Hinsicht. (In dieser Hinsicht sind z. B. auch die Scheinsätze „a = a", „p - » p" oder „(Ex).x = a" keine sinnlosen Sätze.) 5 Die A3-Behauptung der Unsinnigkeit des F-Satzes trifft sich hingegen mit den tractarianisch anzulegenden Parametern und Bestimmungen. Das Problem von A3 besteht in der Vermittlung der Unsinnigkeit des F-Satzes mit der präsupponierten Sinnhaftigkeit von ip-Sätzen. Auch hier hat es sich wieder eingebürgert, Wittgenstein die Unvollständigkeit seiner ,.Analyse" zu unterstellen und den FSatz nur als einen Teilsatz der Analyse zu veranschlagen. Abgesehen von den allgemeinen Problemen solcher Vervollständigungsmodelle 6 sind sie auch im fraglichen Punkt nicht von Hilfe. Inwiefern ein sinnvoller tJJ-Satz in eine Konjunktion des eben unsinnigen F-Satzes mit anderen Sätzen zu analysieren ist, bleibt ebenso unerklärlich wie der Ausgangsfall, inwiefern ein sinnvoller Satz von der Form eines unsinnigen Satzes sein kann. Diese Befunde zwingen dazu, die A-Position zu verlassen. Für die B-Position sind nach dem bisher Gesagten die Thesen B l , B3, B5 und B6 nicht mehr aufrechtzuerhalten. Zudem stehen die Gründe, die gegen die Annahme der Sinnlosigkeit des F-Satzes sprechen, ebenso gegen die Annahme der Sinnlo5 Vgl. auch T L P 5.533ff. Die Behauptung von Wallner (S. 68), daß es der F-Satz von seiner Schreibweise her offenläßt, „ob er eine Tautologie ist oder nicht", ist also eindeutig zu widerlegen, wenn wir „Tautologie" nicht in einem weiten, sondern in dem technischen Sinn des Tractatus verstehen. Es kann auch nur in einem solchen weiten Sinn gemeint sein, wenn Perszyk zunächst einräumt, daß der F-Satz das Aussehen einer Tautologie hat, bevor er (im Zusammenhang auch des Abweises einer konjunktionalen Interpretation der 5.542-„Analyse") die Irrigkeit der tautologischen Deutung des F-Satzes auf seine Art nachweist. Darüberhinaus ist auch noch allgemein darauf hinzuweisen, daß sich der F-Satz selbst nicht mit formallogischen Mitteln einholen läßt. Eine solche Intention scheint bei Scheier (S. 199) zumindest auch vorzuliegen, wenn er den F-Satz als „'p' - » p " übersetzt, was auf eine Komplexion von Mißverständnissen schließen läßt.
Bezeichnend für diesen Problembereich ist es z. B., daß bisher in der Literatur noch kein Vervollständigungsmodell entworfen wurde, das nicht wieder mindestens einen Satz enthält, für den dasselbe oder ein verwandtes Problem besteht, wie es den Ausgangspunkt von Wittgensteins „Analyse" von ip-Sätzen in T L P 5.542 bildete. 6
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sigkeit von ^-Sätzen, sodaß auch B4 nicht mehr als Möglichkeit verhandelt werden kann. Das ist auch gegenüber einer TraktatÄußerung zu verdeutlichen, die diesem Ergebnis zunächst zu widersprechen scheint und lautet: „,A weiß, daß p der Fall ist' ist sinnlos, wenn p eine Tautologie ist." ( T L P 5.1362) An dieser Äußerung interessiert hier weder ihre besondere Motivation noch der quasi-erkenntnistheoretische Hintergrund zum Wissenskonzept im tractarianischen Teilzusammenhang, in den sie - nicht ohne Pointen - eingelagert ist,7 sondern allein ihre Vereinbarkeit mit dem füir T L P 5.542 Konstatierten. Dafür ist noch einmal darauf hinzuweisen, daß bisher (nach Maßgabe auch der normalen Notationsinterpretation) davon ausgegangen wurde, daß der im i|>-Satz enthaltene Satz „p" ein sinnvoller Satz ist, wie ja auch die Formulierung des unsinnigen F-Satzes („,p'sagt p") ausdrückt. Setzte man „p" hingegen als Tautologie, änderte sich die Sachlage. Da Tautologien nichts sagen und selbst nur-zeigende, sozusagen „reine" Formen sind, könnte der in diesem Fall dem F-Satz nach dem T L P 5.542-Modell entsprechende F'-Satz kein unsinniger Satz sein, sondern müßte selbst die Gestalt einer Tautologie, etwa „r v ->r", annehmen bzw. eine solche sein. „A weiß, daß p" (wie auch jeder andere i|>Satz) wäre also von der Form „r v ->r" und mithin sinnlos. Daß aber der Ausgang von sinnvollen Sätzen der grundlegende ist, erweist sich schon daran, daß etwa „r v ->r" „r" als sinnvollen Satz präsupponiert (ansonsten wäre „r v ->r" keine Tautologie); ganz abgesehen davon, daß die logischen Pseudo-Sätze letztlich überflüssig sind, da sich in einer geeigneten Notation die formalen Eigenschaften sinnvoller Sätze an diesen selbst zeigen (TLP 6.122). Unabhängig von den besonderen Intentionen, die Wittgenstein mit der Präsentation dieses „theoretischen" Sonderfalles in T L P 5.1362 verbindet, zwingt uns die Notationspraxis geradezu, „p", z. B. innerhalb von ty-Sätzen, als sinnvollen Satz zu verstehen. Nichtsdestoweniger liefert der genannte 7 Sie scheint u. a. damit zu spielen, daß im Fall des Wissens eine gegenüber anderen tp-Sätzen besondere Relation zwischen dem Wahrheitswert des tJi-Satzes und dem Wahrheitswert des in ihm enthaltenen Satzes angenommen wird: Wenn es wahr ist, daß A weiß, daß p, dann ist auch p wahr. Eine der Pointen besteht darin, daß Wittgenstein die traditionelle Sicht nun dahingehend umlegt, den Zusammenhang von Wissen und Gewußtem als den der (am logischen Schluß gemessenen) logischen Notwendigkeit zu erklären.
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Sonderfall auch einen wichtigen Beleg dafür, daß ty-Sätze nicht, wie auch innerhalb der B-Position noch oft (vgl. z. B. Kenny 1973) verneint wird, als Konjunktionen von Sätzen zu analysieren sind. Wäre dem nämlich so, könnte der Satz „A weiß, daß p" nicht aufgrund der Sinnlosigkeit von p sinnlos werden, da die Konjunktion einer Tautologie (hier: F'-Satz) und eines Satzes dasselbe sagt wie der Satz (TLP 4.465). Wir sehen uns somit schließlich auf den nicht nach „vervollständigend"-konjunktionellen „Analyse"-Deutungen zu vereinnahmenden Standpunkt B2 verwiesen, nach dem, ausgehend von der Unsinnigkeit des F-Satzes, ty-Sätze unsinnige Scheinsätze sind, wodurch sie als Nicht-Sätze auch nicht in Widerspruch zur auf Sätze bezogenen ASF-These stehen. Das muß zunächst befremdend wirken und kann unverstandenermaßen alte Vorurteile gegenüber Wittgenstein als eines logizistisch bornierten Idealsprachentheoretikers erneut befördern. Denn 1|>-Sätze gehören unbestreitbar zum nicht wegzudenkenden Grundbestand unserer Alltagssprache. Zieht man noch hinzu, daß nach dem Tractatus alle Sätze unserer Alltagssprache „tatsächlich, so wie sie sind, logisch vollkommen geordnet" sind (TLP 5.5563), scheint sich gar eine ebenso offensichtliche wie fundamentale Inkonsistenz aufzutun. Das Resultat der i|>-Satz-„Analyse" von TLP 5.542 bedarf hier mithin noch einer Erläuterung, die Perspektiven hinsichtlich einer diesbezüglichen Konsistenz des Tractatus, einer Rechtfertigung der fraglichen „Analyse" und einer Plausibilisierung dieser ,Analyse" sowohl für unser intuitiv-alltägliches wie für ein darauf reflektierendes Verständnis anzeigt und darin auch, jenseits einer großangelegten 7ratÄtzw-Kommentierung und jenseits einer Auflistung der Vielzahl der in TLP 5.542 einfließenden Aspekte, für die Verbindung dieser Hinsichten antizipatorisch wirken kann.
10.3 Zu vergegenwärtigen ist, daß die Passage 5.54ff. den Ort markiert, an dem, wie bereits Ramsey (S. 3 7) sah, Wittgensteins Exposition der Verabschiedung des Paradigmas von Urteils- und damit zusammenhängender Erkenntnistheorie zugunsten einer „Theorie" des Satzes ihren ausdrücklichsten Charakter erhält.
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Der selbst äußerst vielschichtigen Perspektive der im traditionellen Rahmen einer erfahrungstheoretisch und hier meist psychologistisch geprägten Epistemologie spielenden Urteilstheorie sind wenigstens die Annahmen zueigen, daß Aussagesätze als Urteile (oder zumindest als Kundgebungen von Urteilen) aufzufassen sind, daß der Urteilscharakter bzw. die Urteilsrelation nicht auf wahrheitsfunktionale Zusammenhänge der Aussagenlogik reduzibel ist und daß bestimmte ty-Sätze die Urteilsrelation selbst ausdrücken (und andere i|>-Sätze erkenntnistheoretische Voraussetzungen oder Rahmenbedingungen der Urteilsrelation wiedergeben können). Eine grundlegende These dieser Perspektive lautet: Daß A urteilt (denkt, glaubt, etc.) oder daß ich urteile (denke, glaube, etc.), daß p, entspricht der Konstituierung von „p" (qua Satz oder „Proposition") als Sinngebilde. Mithin stellen sich ty-Sätze als Sätze heraus, auch in denen oder durch die (und nicht nur in Beziehung auf die) sich Urteilstheorie und entsprechend Erkenntnistheorie selbst formulieren. Wittgensteins Kritik entzündet sich bekanntlich vor allem am Beispiel der einschlägigen Theorien Russells.8 Das bedeutet jedoch nicht, daß nur diese speziellen Ausformungen der Urteilstheorie, denen die Inanspruchnahme der kognitiven Relation der „Bekanntschaft" („acquaintance") zentral ist, von der Kritik betroffen sind, wie auch für die Feststellung von TLP 5.5422 (vgl. AüL S. 202) gilt: „Die richtige Erklärung der Form des Satzes ,A urteilt p' muß zeigen, daß es unmöglich ist, einen Unsinn zu urteilen. (Russells Theorie genügt dieser Bedingung nicht)." Die Urteilstheorie (vgl. noch die ursprüngliche Formulierung PT 6.0043) müßte die fragliche Unmöglichkeit bereits durch die Urteilsrelation im Rahmen der mit dieser veranschlagten Subjekt- oder personbezogenen Momente (Urteilen, Denken, Glauben, Anschauung u. ä.) sichern. Nicht nur kann Wittgenstein diese Perspektive als solche einer Theorie nur der Psychologie überantworten (TLP 4.1121). Auch ist die damit aufgerufene Dimension von entsprechenden, praktisch bekannten Unwägbarkeiten belastet. So können wir z. B. glauben, einen Zu Wittgensteins rum Teil vernichtender und auch für Russell folgenreicher Kritik an dessen Urteilstheorie und Erkenntnistheorie vgl. stellvertretend, neben den kurzen Ausfuhrungen bei Perszyk und Predelli, etwa Pears (1977, 1979), Stock, Iglesias, Griffin und Sommerville.
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sinnvollen Satz zu äußern, ohne daß dies de facto der Fall ist ( T L P 5.4733), weshalb übrigens nicht zuletzt auch der tractarianische Philosoph dem „Metaphysiker" im Einzelfall nach weisen muß, „daß er gewissen Zeichen in seinen Sätzen keine Bedeutung gegeben hat" (TLP 6.53). Wovon in T L P 5.5422 aber ausgegangen wird, ist nicht mehr (wie noch in P T 6.0043) der ursprüngliche Ansatz der Urteilstheorie, sondern die Frage nach der Leistungsfähigkeit der Urteilstheorie unter den veränderten Bedingungen der Annahme einer Satzhaftigkeit ihrer eigenen Formulierungen: Sie hätte eine Erklärung des Satzes „A urteilt p" zu geben, in der sich die Unmöglichkeit, Unsinn zu urteilen, aufweist. Das kann sie nicht. Hingegen kann die logisch-philosophische Satz-„Theorie" zeigen, daß ein Satz keinen Unsinn abbilden kann. Demnach ist es auch für die Konstitution des sinnvollen Satzes nicht wesentlich, daß er in Sätzen vorkommt, also in jenen besonderen Beziehungen, wie sie die Urteilstheorie selbst unsinnigerweise behauptend aussagen möchte. „A urteilt p" (o. ä.) ist nicht der genuine Ausdruck der Sinnbildung von „p". Zum besseren Verständnis dessen in Hinsicht auf die T L P 5.542-"Analyse" sei ergänzend insbesondere auf zwei Punkte hingewiesen. Der erste Punkt, der kurz anzuschneiden ist, ohne auf das mit ihm verflochtene und vielfältig diskutierte Problemfeld der Wittgensteinschen Subjektkonzeption genauer einzugehen, setzt bei dem Umstand an, daß in Satzgebilden wie „A urteilt p" oder „A glaubt p" für „p" nicht etwa ein Name, sondern allein ein (wahrheitsdifferentes) Sinngebilde bzw. ein Satz einzusetzen ist (s. a. AüL 191, 2 05 f.); weshalb auch die adäquate Wiedergabe jener vermeintlichen Satzgebilde als „A urteilt, daß p" (etc.) zu erfolgen hätte. 9 In diesem Fall scheint eine wesentliche (sinn9
Man kann natürlich bestreiten wollen, daß dies für alle ty-Sätze gilt; gedacht wird dabei meist an Fälle wie etwa „A spürt (empfindet, e t c . ) „ A wünscht...", „A kennt..." oder auch „A sieht...". Es liegen im Tractatus zahlreiche Evidenzen dafür vor, daß solche Einwände durch die oberflächengrammatische Form der fraglichen Ausdrücke irregeleitet sind. Zudem wäre zu zeigen, daß diese Gebilde keine Elementarsätze sein können, was auch bedeutet, daß ihre Analyse mindestens zwei Sätze zu umfassen hätte, deren Verbindung vor dem Hintergrund der ASF-These wiederum problematisch wäre. Um den Problemstand von TLP 5.541 im Ausgang von den genannten Ausdrücken zu erreichen, wären also mehrere Schritte erforderlich, die auch dem Charakter der Expositionsstruktur der Passage T L P 5ff. vor 5.54 zuwiderliefen. So wendet sich Wittgenstein in T L P
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konstitutive) Relation zwischen einem Gegenstand (Subjekt) und einem Satz zu bestehen, was abbildlogisch unmöglich ist. Das Subjekt müßte die gleiche Mannigfaltigkeit besitzen wie „p", in welchem Fall es sich aber als ausgezeichnete Instanz der Sinnbildung desavouierte. Denn es müßte mithin selbst eine Tatsache sein, für die zu gelten hätte: „Eines kann der Fall sein oder nicht der Fall sein und alles übrige gleich bleiben." (TLP 1.21) Solange die Psychologie ernsthaft an den genannten Satzformen festhält, ist sie nichts weiter als ein hilfloses Zeugnis einer notationellen Aporie des Subjektbegriffs, der sie unverstandenermaßen selbst zum Opfer fällt (s. T L P 5.5421). Was in ^-Sätzen bleibt, ist „p", das nicht wieder erkenntnistheoretisch und psychologistisch zu erklären (vgl. etwa Apel S. 345f.; Carruthers S. 182), sondern auf der Ebene der Saiznotation zu verstehen ist. Das führt zum zweiten, nun auf das „p"-Element der ap-Sätze bezogenen Punkt. Die Intention, zu sagen, daß das Denken (etc.) des Subjekts „p" allererst als Sinngebilde konstituiert, läßt sich nicht realisieren, da jeder einschlägige Formulierungsversuch bereits zwangsläufig „p" notiert und damit „p" als Satz schon voraussetzt. 10 Daß „p" aber einen wirklichen Satz darstellt, läßt sich nicht wieder abbilden, sondern allein als Unsinn („,p' sagt p") formulieren. Damit verfallen ty-Sätze eo ipso auch der Kritik an Konzeptionen (s. a. T L P 3.331 ff.), die meinen, das „Wesen der Notation" metasprachlich unterlaufen und sich somit gleichsam am eigenen Schopf aus dem Sumpf der nichtanalytischen Sinndefizienz herausziehen zu können. Diese Möglichkeit und damit auch die Möglichkeit sinnvoller Erkenntnistheorie bleibt uns tractarianisch ein für allemal versagt. Wittgensteins Auffassung hat sich auch hierin gegenüber früheren Aufzeichnungen gewandelt. Meinte er 1913 noch: „Ohne ein korrektes Verständnis der Form des Satzes lassen 5.541 auch beispielhaft an „gewisse" Satzformen der Psychologie, die es gleich auf den ersten Blick so erscheinen lassen, als könne ein Satz in einem anderen auch anders denn gemäß der ASF-These vorkommen. 10 Sofern damit auch die Wahrheitsdifferenz von „p" impliziert ist, kann Wittgenstein 1913 (Brief an Russell, dat. Juni 1913) schreiben, daß aus „A urteilt aRb" unmittelbar und ohne den Gebrauch irgend einer weiteren Prämisse „aRb v "•aRb" folgen muß. Zu dieser Zeit vertritt Wittgenstein freilich noch die Bipolaritätsthese des Satzes, die im Tractatus (ein in der Forschung fast immer übersehenes Faktum) durch die der WF-Notation ersetzt wird.
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sich die erkenntnistheoretischen Fragen in bezug auf die Natur des Urteilens und Glaubens nicht lösen" (AüL S. 206), so lassen sich nach dem Tractatus solche „Probleme" eben nicht lösen, da es sich nicht um wirkliche, formulierbare Probleme handelt (s. T L P 4.002). Für ip-Sätze und ipso facto erkenntnistheoretische Sätze ist nur noch deren Unsinnigkeit festzustellen, deren Formulierungsprätentionen darauf beruhen, „daß wir unsere Sprachlogik nicht verstehen" ( T L P 4.003). Wie ist aber das Ergebnis von T L P 5.542 in Hinsicht auf unsere Alltagssprache zu verstehen? Dürfen wir, strenggenommen, nicht mehr so sprechen, wie wir zu sprechen gewohnt sind, etwa wenn wir sagen, daß Hans glaubt, daß ich in Maria verliebt bin? Die praktische Berechtigung der gewöhnlichen und darin an „komplizierte stillschweigende Abmachungen" geknüpfte Verwendung von op-Sätzen im kommunikativen Zusammenhang unserer Alltagszweckmäßigkeiten (s. T L P 4.002) wird von diesem Ergebnis zunächst gar nicht tangiert. Die tractarianische „Theorie" ist hinsichtlich unserer Sprache nicht normativ oder präskriptiv, sondern fungiert lediglich als „Aufzeigen" ihrer basalen protologischen Form, von der aus die Logik von Welt und Sprache verständlich wird. Auch lassen sich aus solchen Sätzen durchaus logische Schlüsse ziehen. Beispielsweise ist, freilich unter entsprechenden Prämissen, daraus, daß ich weiß, daß p, zu schließen, daß ich glaube, daß p. In dieser Hinsicht erweisen sich auch ijj-Sätze, wie alle Sätze unserer Alltagssprache, als „logisch vollkommen geordnet" ( T L P 5.563). (Voraussetzung dieser Ordnung ist es jedoch, daß es überhaupt sinnvolle Sätze gibt.) Jenseits unserer Alltagszweckmäßigkeiten ist weiteren auf solche Sätze gerichteten Ansprüchen allerdings der Boden entzogen. Daß i|)-Sätzc „in Wirklichkeit" nicht das bezeichnen, was nach unseren gewöhnlichen Vorstellungen - idealiter oder hypothetisch - zu bezeichnen wäre, daß sie prinzipiell keine ontologischen Rückschlüsse erlauben oder daß sie weder das Material noch das Mittel einer nicht-empirischen, philosophischen Theorie bilden können, sind als Einsichten nach Wittgenstein erste Schritte zum Verständnis der Logik unserer Sprache. Entsprechende Mißverständnisse und Fehlgebräuche der Sprache können unser bewußtes Leben in Verstellungen zwingen, welche es nicht mehr offenhalten, um die Lösung seines Problems als dessen Verschwinden bemerken zu können ( T L P 6.521).
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Aber solche Fehlleistungen ebenso wie der philosophisch notwendige Unsinn können die Logik von Sprache und Welt in keiner Weise verändern oder gar destruieren; selbst wenn wir es wollten. In dieser Hinsicht gilt: „Was, du Mistviech, du willst keinen Unsinn reden? Rede nur Unsinn, es macht nichts!" (WWK S. 69).
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Solipsismus, Subjektivität und öffentliche Welt
Ist, daß ich Bewußtsein habe, eine Erfahrungstatsache? (PU § 418) Wo in der Welt ist ein metaphysisches Subjekt zu merken? (TLP 5.633) Unter Wittgensteins charakteristischen Beiträgen zur Philosophie sind meines Erachtens diejenigen besonders wertvoll und provokant, die im Zuge seines unaufhörlichen Ringens um Einsicht in die (wie wir einstweilen vielleicht sagen dürfen) menschliche Subjektivität und ihre angemessene Einordnung zum Vorschein kommen. Zugegeben, als Wittgensteindeutung ist diese Anschauung alles andere als unanfechtbar. Daher wird in der vorliegenden Arbeit der Versuch gemacht, diese Anschauung zu verteidigen sowie einige der Probleme, die Wittgenstein in diesem Zusammenhang beschäftigt haben, ins Licht zu rücken und - sei's auch nur zaghaft - auf manches von dem hinzuweisen, was wir aus seinen Bemühungen lernen können. 1
1 Meine Ausführungen zu diesem Thema gehen weiter als alles, was ich in den Arbeiten anderer Interpreten und Kritiker Wittgensteins gefunden habe. Dennoch bin ich mir bewußt, daß meine Auffassung nicht nur im Hinblick auf Wittgensteins eigene Gedanken einer ganzen Reihe von Autoren verpflichtet ist, sondern auch im Hinblick auf die philosophischen Probleme im Umkreis der Begriffe Subjektivität und Ich. Besonders relevant sind hier: Burnyeat (1982), Cavell (1979), Hacker (1972), Kripke (1982), McDowell (1986), Nagel (1986) und Pears (1988). Dieser Aufsatz erschien bereits in W. Vossenkuhl (Hrsg.): Von Wittgenstein Urnen, Berlin 1992.
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11.1 Ein Bild der Subjektivität Wie sollen wir die Stellung, die die menschliche Subjektivität in der Gesamtordnung der Dinge einnimmt, wiedergeben? Wie sollen wir - auch wenn wir dabei nur vorläufig und naiv verfahren können - die Grenzen des inneren Raums etwa abstecken oder die Trennungslinien ziehen zwischen den Dingen, die in der objektiven Welt existieren oder bestehen, und denjenigen, die dort nicht existieren oder bestehen? Bei der vielleicht zwingendsten und am weitesten verbreiteten Reaktion auf Fragen wie diese wird zunächst eine ungefähre Unterscheidung getroffen zwischen Sachen, welche wir einerseits typischerweise als „innere", „private", „subjektive" oder „geistige" bezeichnen (wie etwa Empfindungen, Erinnerungen, Gedanken, Gefühle und dergleichen), und andererseits solchen, die wir als „objektive", „öffentliche", „äußere" Dinge auffassen (wie z. B. Elektronen, menschliche Körper, Kontinente und Galaxien).2 Wäre diese Reaktion richtig, liefe eine unserer philosophischen Hauptaufgaben darauf hinaus, diese Unterscheidung zu klären und zu erläutern, sofern sie überhaupt einen Gehalt hat. In der nachcartesianischen Philosophie jedenfalls ist dies bisher das Gebiet gewesen, um dessen Beherrschung u. a. Dualisten, Monisten, Idealisten, Realisten, Phänomenalisten, Materialisten und Behavioristen miteinander gekämpft haben. Und bei diesem Kampf sind die Frontlinien in jeder Hinsicht die gleichen, die schon von Descartes vorgezeichnet worden sind. Ein besonders zentrales und dauerhaftes Stück aus dem philosophischen Erbe Descartes' ist die von ihm dargestellte Betrachtungsweise unserer subjektiven Zustände und unserer Erkenntnis dieser Zustände. Miles Burnyeat hat sogar geltend gemacht, in der ganzen Philosophiegeschichte sei Descartes der erste gewesen, bei dem die Behauptung auftaucht, daß man seinen subjektiven Zuständen nicht bloß ausgesetzt ist oder sie erleidet, sondern daß diese Zustände etwas sind, mit Bezug worauf echte Erkenntnis möglich ist. Mit anderen Worten, De1 Wittgenstein gelangt letztlich zu dem Schluß, es sei eben dieser erste, „der ganz unauffällige" Schritt, der uns philosophisch in die Irre fuhrt: „Der entscheidende Schritt im Taschenspielerkunststück ist getan, und gerade er erschien uns unschuldig." (PU § 308)
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scartes ist der erste, bei dem wir auf die Anwendung des Begriffs der Wahrheit innerhalb des subjektiven Bereichs stoßen: „Die Hinzufugung der Wahrheit ist es, durch die die [Subjektivität] als neues Reich sachhaltiger Erkenntnis erschlossen wird", und dies beinhalte die „Konstituierung der eigenen Erfahrung als einen den übrigen Gegenständen gleichgeordneten Gegenstand der Beschreibung" (Burnyeat 1982, S. 49). Die meisten von uns sind vertraut mit den Eigenschaften, die die Bewohner dieses „neuen Reichs" besitzen sollen: Man kann auf sie Bezug nehmen und sie beschreiben, und es ist möglich, Behauptungen über sie aufzustellen, die objektiv wahr oder falsch sind. Sie sind dem Subjekt unmittelbar gegeben, und sie können von diesem unfehlbar erkannt werden. Ihre Existenz und ihr Besitz aller ihrer inneren Eigenschaften ist unabhängig von etwelchen Tatsachen hinsichtlich der Außenwelt (einschließlich der Fakten bezüglich des Körpers dieses Subjekts). Sie können unmöglich geteilt werden, insofern ein Bewußtsein nicht ein und denselben Inhalt haben kann wie ein anderes. Außerdem sind sie privat in dem Sinne, daß eine andere Person mit Bezug auf sie nicht über das gleiche Wissen verfügen kann wie das Subjekt, dessen Bewußtseinsinhalt sie bilden. Sobald dieses Bild anerkannt ist, ergeben sich zwei weitere Konsequenzen, die dann intuitiv unvermeidlich wirken können. Die erste ist die, daß der Geist, um mit Descartes zu reden, „besser bekannt ist als der Körper" 3 - ja, es scheint sogar zu folgen, daß der eigene Geist mit höherer Gewißheit erkannt wird als irgend etwas sonst, einschließlich der äußeren Dinge, des Fremdpsychischen, der Vergangenheit, des Kausalnexus, der naturwissenschaftlichen Gesetze, der arithmetischen Wahrheiten und so fort. „Nichts ist für mich leichter oder deutlicher wahrnehmbar als der eigene Geist." (Descartes 1959, S. 59.) Mit anderen Worten, in diesem Rahmen wird schon die bloße Möglichkeit der Objektivität problematisch; sie läßt sich in Frage stellen und bedarf daher der Rechtfertigung oder Verteidigung. Die eigene Subjektivität dagegen ist einfach gegeben; sie ist ein unmittelbares und wesentlich unproblematisches Datum. Die zweite Folge, die sich nach Auffassung vieler Autoren aus dieser Sichtweise des Geistes und seines Inhalts ergibt, ist die, daß 3
Siehe z. B. den Titel von Descartes' Zweiter Meditation.
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man darauf festgelegt ist, subjektive Dinge seien ontologisch abhängige Dinge: Es gehöre zum Wesen der Empfindungen, Erinnerungen, Wünsche, Gefühle und dergleichen, daß sie einen Besitzer oder ein Subjekt brauchen, welches sie hat. Die These lautet, es könne weder einen Schmerz noch ein Gefühl geben, welches nicht jemandes Schmerz oder Gefühl sei. Eine der bündigsten Formulierungen dieses Bildes des Geistes und seiner Stellung in der Natur stammt von Frege. In den Grundlagen der Arithmetik faßt er den folgenden Grundsatz als eines der fundamentalen Prinzipien der Philosophie auf: „Es ist das Psychologische von dem Logischen, das Subjektive von dem Objektiven scharf zu trennen." (Frege 1987, S. X der Originalpaginierung.) Und in einer späteren Arbeit bringt er deutlich zum Ausdruck, was er unter dem „Psychologischen" und dem „Subjektiven" versteht: „Auch der unphilosophische Mensch sieht sich bald genötigt, eine von der Außenwelt verschiedene Innenwelt anzuerkennen, eine Welt der Sinneseindrücke, der Schöpfungen seiner Einbildungskraft, der Empfindungen, der Gefühle und Stimmungen, eine Welt der Neigungen, Wünsche und Entschlüsse. U m einen kurzen Ausdruck zu haben, will ich dies mit Ausnahme der Entschlüsse unter dem Worte „Vorstellung" zusammenfassen. Wodurch unterscheiden sich die Vorstellungen von den Dingen der Außenwelt? Zuerst: Vorstellungen können nicht gesehen oder getastet, weder gerochen, noch geschmeckt, noch gehört werden. Zweitens: Vorstellungen werden gehabt. Eine Vorstellung, die jemand hat, gehört zu dem Inhalte seines Bewußtseins. Drittens: Vorstellungen bedürfen eines Trägers. Die Dinge der Außenwelt sind im Vergleiche damit selbständig. Es scheint uns ungereimt, daß ein Schmerz, eine Stimmung, ein Wunsch sich ohne einen Träger selbständig in der Welt umhertreibe. Eine Empfindung ist nicht ohne einen Empfindenden möglich. Viertens: Jede Vorstellung hat nur einen Träger; nicht zwei Menschen haben dieselbe Vorstellung. Kein anderer hat meinen Schmerz. Jemand kann Mitleid mit mir haben; aber dabei gehört doch immer mein Schmerz mir und sein Mitleid ihm an. Er hat nicht meinen Schmerz, und ich habe nicht sein Mitleid." 4 4
Frege 1966, S. 66-68, das Zitat ist eine Kompilation aus mehreren Stellen.
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Mit diesen Äußerungen beabsichtigt Frege offenbar, etwas Einleuchtendes und Unumstrittenes zu sagen; im Grunde bietet er uns nichts weiter als eine Zusammenfassung der Uberzeugungen jedes Vernünftigen und Unbefangenen bezüglich der „Innenwelt" und der Hinsichten, in denen sie sich von der uns allen gemeinsamen Außenwelt unterscheidet. Dies ist also das Bild des Geistes und seiner Stellung in der Natur, auf dessen Demolierung Wittgenstein sein Leben lang bedacht war. Er lehnte sowohl das Bild als Ganzes ab wie auch jedes einzelne der in ihm enthaltenen Elemente. Allgemein gesprochen, hielt er es für schädlich aufgrund der Verzerrungen, die es im Selbstverständnis jedes einzelnen von uns hervorruft sowie im Verständnis unserer wechselseitigen Beziehungen und unserer Stellung in der Welt. Was die Einzelheiten dieses Bildes betrifft, war es nach seiner Auffassung von Verkehrtheit, Trivialität, Inkohärenz und Konfusion durchsetzt. So weist Wittgenstein z. B. die folgenden cartesianischen Behauptungen zurück: daß ein Wissen über die eigene Subjektivität möglich ist (PU, S. 564); daß die eigenen Bewußtseinszustände unmittelbar und unbezweifelbar gegeben sind (PU, § 246); daß Begriffe wie Bezugnahme, Wahrheit, Gegenstand, Prozeß, Identität, Beschreibung und Behauptung in ungefähr der gleichen Weise auf das Bewußtsein zutreffen wie auf Gegenstände der materiellen Welt (PU, §§ 256, 288, 290); daß die Beziehung zu einem anderen bewußtseinsbegabten Wesen im Grunde eine kognitive Beziehung ist (PU, S. 495f.); daß die Erkenntnis der Subjektivität des anderen ihrem inneren Wesen nach problematisch ist (PU, § 357, S. 564); daß die Beziehung zwischen den Bewußtseinszuständen einer Person und ihrem körperlichen Verhalten eine externe oder kontingente Beziehung ist (PU, §§ 283, 288, 420); und daß die Welt zwei Bereiche umfaßt: die „Innenwelt" des Geistes und die „Außenwelt" der objektiven Realität (PU, §§ 304-308). Diese Gedanken Wittgensteins sind jedoch nicht rein kritisch oder negativ, denn er artikuliert auch eine grundverschiedene Sichtweise, die an die Stelle der cartesianischen treten soll. Im folgenden werde ich einige der hervorstechenden Züge dieser Sichtweise zu kennzeichnen versuchen. Besonders zentral dürfte dabei, um es vorwegzunehmen, dies Merkmal sein, daß die Subjektivität nicht als etwas gilt, worauf wir jemals in der Welt
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stoßen; sie ist nicht etwas, worauf wir Bezug nehmen, etwas, was wir identifizieren, beschreiben und kennenlernen oder etwas, worüber wir Bescheid wissen. Die Subjektivität ist nach Wittgenstein viel umfassender präsent und weitaus wichtiger als irgend etwas von dieser Art. Dies, so werde ich geltend machen, ist ein ständiges Thema von Wittgensteins Denken, und es ist ein Thema, das seinen Solipsismus im Tractatus ebenso kennzeichnet wie die Belange, die er mit dem Privatsprachenargument der Untersuchungen verfolgt.
11.2 Das antisolipsistische Vorurteil Auf den ersten Blick kann es offenbar keinen vernünftigen Zweifel geben an der Feststellung, daß Wittgenstein im Tractatus eine Version des Solipsismus gutheißt. Der Text ist im Hinblick auf dieses Thema schließlich nicht weniger klar und deutlich als im Hinblick auf die meisten anderen Themen. Es wird nicht nur unzweideutig mitgeteilt, daß „die Welt meine Welt ist" (5.62) und daß „ich meine Welt bin" (5.63), sondern wir erfahren außerdem, daß das, was der Solipsist sagen will, „ganz richtig" ist (5.62). Die Festlegung auf den Solipsismus wird weiterhin durch die Behauptung verstärkt, daß „beim Tod die Welt sich nicht ändert, sondern aufhört" (6.431), was ja auch gar nicht anders sein kann, sofern Wittgensteins weitere Behauptungen gelten, wonach „die Welt und das Leben Eins sind" (5.621) und das Subjekt „eine Grenze der Welt" ist (5.632). Weitere Belege für Wittgensteins Solipsismus sind in seinen frühen Tagebüchern zu finden. Dort schreibt er: „Wie meine Vorstellung die Welt ist, so ist mein Wille der Weltwille." (17. 10. 1916) Und an einer Stelle ruft er aus: „Was geht mich die Geschichte an? Meine Welt ist die erste und einzige!" (2. 9. 1916)5 Aus „Die Welt ist meine Welt" und „Ich bin meine Welt" folgt aufgrund der Transitivität der Identität, daß ich die Welt bin. Die Bedeutung dieser These muß an diesem Punkt zwar ein wenig geheimnisvoll bleiben, doch ich werde sie als Resü5
In diesem Absatz schließe ich mich eng an Malcolm (1982) an, S. 249. Weitere Belege für Wittgensteins Solipsismus in TB, 11.6.-8. 7. und 24. 7.-19. 11. 1916. Siehe ferner McGuinness (1988), S. 350-356 und 378-383.
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mee von Wittgensteins Solipsismus auffassen: Seine zentrale metaphysische Behauptung^besagt, daß das Ich und die Welt letzten Endes ein und dasselbe sind. Angesichts solcher Bemerkungen stehen die Leser von Wittgensteins Frühschriften einem unbehaglichen Dilemma gegenüber, denn hier geraten anscheinend zwei Grundsätze miteinander in Konflikt, die regeln, wie solche Texte gelesen werden sollten. Einerseits gibt es da das sogenannte Prinzip der Buchstäblichkeit, wonach ein Text, der die Behauptung, daß p, enthält, ceteris paribus einen guten Beleg dafür umfaßt, dem Autor die Überzeugung, daß p, zuzuschreiben. Andererseits gibt es hier aber auch das Prinzip der wohlwollenden Interpretation, wonach wir es wo immer möglich unterlassen sollten, einem Autor Theorien und Thesen zu unterstellen, die eklatant falsch, offensichtlich inkohärent oder geradewegs töricht sind. Da von den heutigen Philosophen nahezu einhellig die Meinung vertreten wird, der Solipsismus sei tatsächlich eklatant falsch, offensichtlich inkohärent oder geradewegs töricht, nimmt es vielleicht nicht wunder, daß die Mehrzahl der Interpreten des Tractatus nach eigenem Verständnis wohlwollend verfährt und daher zu dem Schluß kommt, eigentlich sei Wittgenstein gar kein Solipsist gewesen. Doch das Wohlwollen ist in diesem Zusammenhang fehl am Platze, was sich am besten durch den Nachweis zeigen läßt, daß der metaphysische Solipsismus trotz offenkundiger Hinweise auf das Gegenteil ernst genommen zu werden verdient. Als ersten Schritt zur Bekämpfung des antisolipsistischen Vorurteils können wir drei Ausgangsforderungen aufstellen, die für jede akzeptable Form der solipsistischen Theorie gelten sollen. Die erste dieser Forderungen werde ich die Franklin-Bedingung nennen, und zwar zu Ehren von Christine Ladd Franklin, die sie meines Wissens als erste aufgestellt hat. Diese Bedingung lautet schlicht wie folgt: Um als akzeptabel zu gelten, darf die solipsistische Theorie keine empirisch falsche Aussage behaupten oder implizieren. Hier ist einiges an Hintergrundwissen nachzutragen. Das für den Befürworter des Solipsismus vielleicht am schwersten zu überwindende Hindernis ist die weitverbreitete Uberzeugung, ebender Akt der Befürwortung des Solipsismus widerlege sich irgendwie selbst. Dieses Vorurteil kommt normalerweise in Ge-
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stalt der abgenutzten spöttischen Bemerkung zum Ausdruck, der Solipsist habe keinen Gesprächspartner beziehungsweise keinen Grund, seine Theorie überhaupt aufzustellen. Typisch hierfür ist die folgende Äußerung von D. W. Hamlyn: „Natürlich ist es recht und billig, hier die Frage aufzuwerfen, warum jemand, der an den Solipsismus glaubt, darauf bestehen sollte, ihn auszusprechen, denn es kann nach seiner eigenen These niemanden geben, der ihm zuhört." (Hamlyn 1970, S. 216.) Was an der Wurzel dieser Erwiderung liegt, ist keine wahrgenommene Unzulänglichkeit oder Widersprüchlichkeit in den Aussagen des Solipsisten; im Gegenteil, man ist weitgehend der Uberzeugung, im Grunde sei der Solipsismus nicht widerlegbar. Was dahinter steckt, ist vielmehr die Überzeugung, es werde stets eine Diskrepanz geben zwischen dem, was der Solipsist sagt, und dem, was er tut. Eine klassische Formulierung dieser Ansicht stammt von Russell: Der Solipsismus ist die Ansicht, wonach ich als einziger existiere. Dies ist eine Ansicht, die nur schwer zu widerlegen, aber noch schwerer zu glauben ist. Einmal habe ich einen Brief von einem Philosophen bekommen, der sich zum Solipsismus bekannte, aber zugleich darüber staunte, daß es keine anderen gebe. Dabei war dieser Philosoph doch der Überzeugung, daß niemand sonst existiere. Dies zeigt, daß nicht einmal diejenigen, die von der Wahrheit des Solipsismus überzeugt sind, wirklich an ihn glauben (Russell 1927, S. 302; vgl. Russell 1948, S. 196). Eine weitere klassische Formulierung dieser Einstellung zum Solipsismus wird - in schärferer Form allerdings - von Schopenhauer zum Ausdruck gebracht. Diese Theorie des „theoretischen Egoismus", wettert Schopenhauer, „ist zwar durch Beweise nimmermehr zu widerlegen: dennoch ist er zuverlässig in der Philosophie nie anders, denn als skeptisches Sophisma, d. h. zum Schein gebraucht worden. Als ernstliche Überzeugung hingegen könnte er allein im Tollhause gefunden werden: als solche bedürfte es dann gegen ihn nicht sowohl eines Beweises, als einer Kur. Daher wir uns insofern auf ihn nicht weiter einlassen ..." (Schopenhauer 1988, S. 157.) Der springende Punkt ist der folgende: Daß ein vernünftiger Mensch unmöglich aufrichtig an die Wahrheit des Solipsismus glauben kann, soll dadurch gezeigt werden, daß alle, die von der Wahrheit des Solipsismus überzeugt zu sein behaupten, unwei-
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gerlich so handeln werden, daß es sich mit einer solchen Überzeugung nicht in Einklang bringen läßt. Sie werden speisen, Backgammon spielen, Gespräche führen und sich zusammen mit ihren Freunden amüsieren. Gegen diesen Gedankengang lassen sich verschiedene Einwände erheben, doch hier werde ich keinem von ihnen nachgehen. Vielmehr werde ich den Gedankengang, um die Auseinandersetzung voranzubringen, einfach uneingeschränkt gelten lassen. Mit anderen Worten, ich werde es als unverzichtbare Bedingung für die Akzeptabilität einer solipsistischen Theorie auffassen, daß sie zu allermindest mit allen normalen Verhaltensformen in Einklang gebracht werden kann. Es darf also nichts daran auszusetzen sein, daß der Solipsist gegen Steine tritt, Bücher schreibt, Backgammon spielt oder auch den Versuch unternimmt, andere zu seinem solipsistischen Standpunkt zu bekehren. Diese Bedingung läßt sich sogar noch verstärken, denn letzten Endes geht es hier nicht allein um die Vereinbarkeit des Solipsismus mit bestimmten Verhaltensformen, sondern um die Vereinbarkeit dieser Theorie mit den empirischen Tatsachen, deren Bestehen von jeder Behauptung der Rationalität solcher Verhaltensformen vorausgesetzt wird. Der wirkliche Anlaß für Russells oben zitierte anekdotenhafte Widerlegung des Solipsismus war ein Brief von Christine Ladd Franklin gewesen. Das eigentliche Wesen dieses Briefwechsels ist meiner Ansicht nach weitgehend mißverstanden worden. So ist mir z. B. die Äußerung zu Ohren gekommen, Ladd Franklin habe als eine der ersten die komische Widersprüchlichkeit bemerkt, die in der Befürwortung des Solipsismus enthalten sei. Diese Auffassung wird offenbar von Miss Anscombe vertreten, denn sie schreibt, es sei möglich, daß „der komische Effekt" des Briefes beabsichtigt war, weshalb der Witz eigentlich auf Russells Kosten gegangen sei (Anscombe 1967, S. 168). Und David Pears spricht in einer neueren Veröffentlichung von dem „Fehler", den die Verfasserin jenes Briefes gemacht habe (Pears 1988, Bd. 1, S. 235). In Wirklichkeit hat Ladd Franklin jedoch weder einen Witz noch einen Fehler gemacht. An Russell schreibt sie, der „Solipsismus ist schlicht eine Beschreibung der unbestreitbaren Fakten der Erfahrung. ... Ich selbst bin (soweit ich sehe) der einzige Solipsist, doch zugleich vertrete ich einen hypothetischen Realismus. Sehen Sie denn nicht, daß dies die
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einzige logische Position ist?" 6 Nicht nur tritt Ladd Franklin ohne Ironie oder komische Absicht für den Solipsismus ein, sondern ihre Befürwortung ist überdies raffiniert genug, die Bedingung einzuschließen, wonach die Theorie restlos vereinbar sein muß mit „den unanfechtbaren Fakten der Erfahrung". Folgendes ist also die Franklin-Bedingung: U m als akzeptabel zu gelten, muß der Solipsismus die Tatsachen bewahren. (Wie die Tatsachen bewahrt werden können, wird unten in Abschnitt 4 thematisiert.) Meine zweite Ausgangsforderung besagt, daß der Solipsismus in sich widerspruchsfrei sein muß. Wenn der metaphysische Solipsismus, wie weiter oben in Anspruch genommen, die Festlegung auf die These der Identität von Ich und Welt verlangt - also auf die These, daß ich die Welt bin - , folgt unmittelbar: Zu den echten Bestandteilen der Welt kann nach Auffassung des Vertreters des metaphysischen Solipsismus keine Wesenheit gehören, die durch Ausdrücke wie „ich", „das Ich", „mein Selbst", „mein Ich" und dergleichen bezeichnet wird. Enthielte die Welt nämlich mich als einen ihrer echten Teile, könnte sie nicht mit mir identisch sein. Um also sowohl empirisch falsche Aussagen als auch innere Inkohärenz zu vermeiden, müssen wir bestreiten, daß sich solche Ausdrücke wie „ich", „das Ich", „mein Ich" und dergleichen bei ihrem Vorkommen in der Formulierung meiner solipsistischen Theorie auf den empirisch antreffbaren, raum-zeitlichen und psycho-physischen Gegenstand namens David Bell beziehen. Denn in diesem Sinne bin ich, David Bell, gewiß ein Teil - und zwar ein echter, wenn auch wahrhaftig überaus kleiner Teil - der Wirklichkeit als ganzer. Die im gegenwärtigen Zusammenhang relevante Auffassung des Ich ist demnach die des Ich als Träger der Erfahrung und der Subjektivität, der von Wittgenstein das „denkende, vorstellende Subjekt" genannt wird (TLP 5.631). Und es ist eine notwendige Bedingung der Möglichkeit eines kohärenten Solipsismus, daß ein solches Ich nicht bloß einen Gegenstand unter vielen darstellt. „Das denkende, vorstellende, Subjekt gibt es nicht." (5.631) „Das Subjekt gehört nicht zur Welt, sondern es ist eine Grenze der Welt." (5.632) 6
Brief von Christine Ladd Franklin an Bertrand Russell vom 21. August 1912. Zitiert mit Genehmigung Kenneth Blackwells, des Leiters des Bertrand RussellArchivs der McMaster University.
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„Das philosophische Ich ist nicht der Mensch, nicht der menschliche Körper, oder die menschliche Seele, von der die Psychologie handelt, sondern das metaphysische Subjekt, die Grenze - nicht ein Teil - der Welt." (5.641) Die dritte Forderung ist unproblematisch. Sie lautet, der Solipsismus müsse philosophisch interessant sein. Eine Theorie, der es zwar gelänge, sowohl empirisch falsche Aussagen als auch logische Widersprüchlichkeiten zu vermeiden, die dabei aber letztlich nichts weiter böte als ein müßiges Rätsel oder eine Kuriosität, bliebe ebendarum philosophisch unzulänglich und inakzeptabel. Mag sein, daß der Solipsismus verstiegen ist. Kurzerhand ablehnen kann man ihn aber sicher nicht, wenn sich zeigen läßt, daß er widerspruchsfrei, mit den Fakten in Einklang zu bringen und philosophisch interessant ist.
11.3 Der Ich-tilgende Solipsismus Eine Familie von Problemen, mit Bezug auf die sich der Solipsismus sowohl als Diagnose wie auch als Lösung darbietet, betrifft, wie weiter oben angedeutet, die Beschaffenheit und die Grenzen der menschlichen Subjektivität. Sie betrifft also die Frage, wo und wie die Grenze zwischen Objektivem und Subjektivem zu ziehen ist. An diesem Punkt ist es hilfreich, im Anschluß an Ladd Franklin folgende Fragen aufzuwerfen: Welches sind eigentlich die unbestreitbaren Tatsachen der Erfahrung? Welchen Eindruck macht die unterstellte Unterscheidung zwischen „Innenwelt" und „Außenwelt" auf uns? Wie fühlt sich das eigentlich an, Subjektivität zu besitzen? Diese Situation zu kennzeichnen, hat William James an der im folgenden zitierten prächtigen Stelle versucht: „Im großen und ganzen ist sich das gesamte Menschengeschlecht einig darüber, was es zur Kenntnis nehmen und benennen soll. Und wenn wir unter den zur Kenntnis genommenen Stücken eine Auswahl hinsichtlich Betonung und Vorliebe oder hinsichtlich Unterordnung und Abneigung treffen, verfahren wir weitgehend gleich. Es gibt jedoch einen Fall sondergleichen, in dem keine zwei Menschen, soweit wir wissen, je dieselbe Auswahl treffen. Eine gewaltige Aufspaltung der ganzen Welt in zwei Hälften wird von jedem von uns vorgenommen;
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und das Interesse eines jeden von uns gilt nahezu ausschließlich einer dieser Hälften. Aber wir alle fuhren die Trennung an einer anderen Stelle aus. Wenn ich nun sage, daß wir alle diese beiden Hälften bei denselben Namen nennen und daß diese Namen „Ich" und „Nicht-Ich" lauten, wird man alsbald erkennen, was ich meine. Das völlig einzigartige Interesse, das jeder Mensch für diejenigen Teile der Schöpfung empfindet, die er „ich" oder „mein" nennt, mag zwar ein sittliches Rätsel darstellen, doch es ist eine grundlegende Tatsache. ... Das Ich des Nächsten fällt mit allen sonstigen Dingen in eine fremde Masse zusammen, vor der sich das eigene Ich in frappierender Deutlichkeit abhebt." Games 1890, S. 289) Phänomenologisch, also wenn man es als Beschreibung der unbestreitbaren Erfahrungstatsachen auffaßt, ist das schlicht falsch. Zumindest ist meine Welt, wie ich aufrichtig vermelden kann, dieser Darstellung nicht im mindesten ähnlich. Die Welt, die ich bewohne, legt zwar eine geradezu endlose Vielfalt an den Tag, aber sie ist dennoch eine einzige Welt. Sie ist einfach nicht in zwei grundverschiedene Hälften gespalten; und mein eigenes „Ich" ist nicht „frappierend deutlich abgehoben". Wittgenstein formuliert beide Sachverhalte kurz und bündig so: „Alle Erfahrung ist Welt und braucht nicht das Subjekt." (TB, 9. 11. 1916.) Nun könnten wir versuchen, den Gedanken Wittgensteins wie folgt auszugestalten: Der metaphysische Solipsismus ist die Theorie, wonach ich die Welt bin oder wonach „Ich" und „Nicht-Ich", um in der Terminologie von James zu reden, durchaus keine „gewaltige Aufspaltung der ganzen Welt in zwei Hälften" umfassen, sondern in Wirklichkeit voneinander ununterscheidbar sind. Die Behauptung „Ich bin die Welt" kann, da sie eine Identitätsaussage ist, sozusagen in beiden Richtungen gelesen werden. Von rechts nach links gelesen, setzt sie die Welt in ihrer Gesamtheit mit mir gleich - und das klingt gewiß unbescheiden. Der Solipsismus ist jedoch fast immer in dieser Weise gedeutet worden; er sei, heißt es, die Lehre, wonach ich allein existiere. Doch die Einsicht, die dem Solipsismus des Tractatus zugrunde liegt, besagt, es sei am besten, die Identitätsaussage von links nach rechts zu lesen. In diesem Fall bin ich es, der um es fürs erste nicht sonderlich präzise, aber anschaulich zu formulieren - verschwindet und dabei lediglich die Welt
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zurückläßt. Dies könnte man den Ich-tilgenden Solipsismus nennen: „Hier sieht man, daß der Solipsismus, streng durchgeführt, mit dem reinen Realismus zusammenfällt. Das Ich des Solipsismus schrumpft zum ausdehnungslosen Punkt zusammen, und es bleibt die ihm koordinierte Realität." (TLP 5.64) Im Tractatus stellt Wittgenstein Überlegungen an über den Inhalt eines laut Voraussetzung solipsistischen Buches mit dem Titel „Die Welt, wie ich sie vorfand". „In einem solchen Buch", behauptet er, „Wäre auch über meinen Leib zu berichten und zu sagen, welche Glieder meinem Willen unterstehen und welche nicht, etc., dies ist nämlich eine Methode, das Subjekt zu isolieren, oder vielmehr zu zeigen, daß es in einem wichtigen Sinne kein Subjekt gibt. Von ihm allein nämlich könnte in diesem Buche nicht die Rede sein." (5.631) Diese Feststellungen weisen darauf hin, daß der Inhalt eines eingestandenermaßen solipsistischen (und zutreffenden) Buches mit dem Titel „Die Welt, wie ich sie vorfand" im Grunde nicht verschieden sein kann vom Inhalt eines völlig realistischen Buches, welches den Titel tragen könnte: „Die Welt, wie sie wirklich in ihrem Anundfürsichsein ist". Sofern beide Bücher genau zutreffen, können sie im Hinblick auf das, was der Fall ist, nicht uneinig sein; keines von ihnen kann Behauptungen enthalten oder auf Wesenheiten Bezug nehmen, die in dem anderen fehlen. Nun enthält die Welt, wie ich sie vorfinde, unter anderem London als Hauptstadt Englands, Wasser aus H 2 0 und meine Zahnschmerzqualen vom Montagmorgen, dem 30. November 1990. Sofern keiner von uns beiden einen Fehler begangen hat, müssen der Realist und ich in bezug auf alle diese Fakten einer Meinung sein. Die Subjektivität scheint uns beiden entgangen zu sein. Die Realität besteht nicht mehr aus einem objektiven, öffentlichen, zugänglichen Teil im Gegensatz zu meiner privaten, subjektiven, inneren Welt. Die Welt, die wirkliche Welt, ist - wie wir sagen könnten - nichts anderes als die Gesamtheit der Tatsachen; sie ist alles, was der Fall ist, und objektiv gesprochen umfaßt das, was der Fall ist, meine eigenen psychischen Zustände und Akte ebenso wie die jedes anderen. Denn dies sind Dinge, die tatsächlich vorkommen und bestehen. Uber sie können objektiv wahre Behauptungen aufgestellt werden; man kann sie
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beschreiben, man kann auf sie Bezug nehmen und man kann über sie Bescheid wissen. Wittgensteins Behauptung, „daß der Solipsismus, strikt durchgeführt, mit dem reinen Realismus zusammenfällt", läßt sich vielleicht wie folgt ausgestalten: Der „Realismus" ist in diesem Zusammenhang im traditionellen Sinn aufzufassen, nämlich als die Theorie, wonach die Welt weder im Hinblick auf ihre Existenz noch im Hinblick auf ihre Beschaffenheit davon abhängt, daß sie in irgendeiner Weise wahrgenommen, aufgefaßt oder erfahren wird. Mit anderen Worten, der reine Realismus kann mit der These gleichgesetzt werden, der richtige Wirklichkeitsbegriff sei der einer „Wirklichkeit, wie sie an und für sich ist", wobei dieser letztere Ausdruck ontologische Autonomie oder unabhängige Existenz andeuten soll. Demnach fallen der metaphysische Solipsismus und der reine Realismus deshalb zusammen, weil dieser Wirklichkeitsbegriff beiden gemeinsam ist. Für den Vertreter des Ich-tilgenden Solipsismus ist die Welt nichts weiter als die Gesamtheit der Tatsachen, und jede dieser Tatsachen sei völlig objektiv, ontologisch autonom und „ohne Besitzer". Keine objektive Tatsache ist, was ihre Existenz betrifft, davon abhängig, daß es ein Bewußtsein von ihr gibt; und so etwas wie eine „subjektive Tatsache" gibt es nicht. Ja, nach dieser Auffassung enthält der Ausdruck „subjektive Tatsache" einen Selbstwiderspruch. Unklar ist vielleicht allerdings, in welchem Sinne dieser Wirklichkeitsbegriff dennoch ein solipsistischer bleiben kann. Wie können wir uns den Gedanken, daß eine solche Welt die meine ist oder daß ich mit ihr identisch bin, verständlich machen? Hier ist zunächst festzuhalten, daß die Gleichsetzung von Welt und Ich, die der Vertreter des metaphysischen Solipsismus vornimmt, keineswegs eine Bedrohung darstellt für die ontologische Autonomie der Welt. Denn wenn man von etwas sagt, es sei von sich selbst abhängig, bestreitet man damit nicht seine Unabhängigkeit; und wenn man sagt, es sei nur von sich selbst abhängig, so behauptet man damit geradezu seine Unabhängigkeit. Kurz, die Autonomie, die der Welt durch den Realismus zugeschrieben wird, ist notwendig vereinbar damit, daß man diese Welt mit irgend etwas gleichsetzt, was seinerseits ontologisch autonom ist. In dieser Weise kann der Ich-tilgende Solip-
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sismus tatsächlich mit dem reinen Realismus zusammenfallen, allerdings ohne dabei auf seinen Anspruch zu verzichten, zugleich eine echte und vollblütige Form von Solipsismus darzustellen. Diese Bemerkungen sind freilich nur schematisch und tragen wenig dazu bei, dem metaphysischen Solipsismus Gehalt oder Plausibilität zu verleihen. Dies sind die Aufgaben, denen ich mich jetzt zuwende.
11.4 Bewahrung der Tatsachen Es gibt bestimmte Fragen der Form „Wie wäre die Welt beschaffen, wenn dies oder jenes der Fall wäre?", bei denen die richtige Antwort lautet: „Die Welt wäre ganz genauso, wie sie ist." (Vgl. Wilson 1959, S. 521-525.) So fragt Russell einmal, wie die Welt aussähe, wenn Gott sie erst vor fünf Minuten aus dem Nichts erschaffen hätte, sie dabei allerdings so erschaffen hätte, daß sie alle tatsächlich in ihr enthaltenen augenscheinlichen Spuren einer weiter zurückliegenden Vergangenheit einschließlich aller unserer scheinbaren Erinnerungen enthielte. Die Antwort lautet nach Russell, es würde sich nichts ändern an der Welt; alles würde genauso bleiben, wie es ist. Wir könnten auch die gleiche Frage stellen wie Leibniz: Wie wäre die Welt beschaffen, wenn jede in ihr enthaltene räumliche Rechtslinks-Beziehung von einem Augenblick auf den anderen zur selben Zeit umgekehrt würde, das heißt, wenn das Universum plötzlich in sein Spiegelbild umschlagen würde? Nach Leibniz wären „diese beiden Zustände, der ursprüngliche und seine Umkehrung, in nichts voneinander verschieden ... In Wahrheit aber wäre der eine genau dasselbe wie der andere, da sie durchaus ununterscheidbar sind." (Leibniz 1966, S. 135.) Fragen der Form „Wie wäre die Welt beschaffen, wenn dies oder jenes der Fall wäre?", bei denen die richtige Antwort lautet: „Die Welt wäre genauso beschaffen, wie sie es tatsächlich ist", werde ich Tatsachen bewahrende Fragen nennen. Sie stehen zwar der Form nach im Irrealis, bieten aber keine unterscheidbare Alternative zum tatsächlichen Sosein der Dinge. Ganz allgemein gesprochen: Wenn eine Frage vorliegt, auf die wir die richtige Antwort wissen, sind wir ipso facto in einer
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Lage, in der wir die entsprechende wahre Behauptung aufstellen können. Freilich, Philosophen mit robustem Wirklichkeitssinn haben uns daran erinnert, daß uns die bloße zufällige Vereinbarkeit einer abwegigen Hypothese mit allen Tatsachen noch keinen Grund gibt zu glauben, diese Hypothese sei wahr. Die Annahme, wir lebten etwa in einer erst seit fünf Alinuten existierenden Welt, die überdies alle paar Sekunden in ihr Spiegelbild umschlägt und sich wieder zurückverwandelt, ist gewiß reiner Schwachsinn. So ist es. Aber das zeigt bloß, daß die einer Tatsachen bewahrenden Frage (Wie wäre die Welt beschaffen, wenn dies oder jenes der Fall wäre?) entsprechende wahre Behauptung nicht die Form hat: Das und das ist wirklich der Fall. Eine tatsächlich berechtigte Form von Behauptung ließe sich am besten vielleicht so zum Ausdruck bringen: Die Welt - das heißt: die wirkliche Welt - läßt sich durch Anwendung dieser oder jener Beschreibungsprinzipien ohne Rest oder Verlust neu beschreiben. Es geht uns hier also nicht um Beschreibungen anderer möglicher Welten, sondern um andere mögliche Beschreibungen dieser, nämlich der wirklichen Welt. Dem liegt folgender Gedanke zugrunde: Insoweit unsere Sprache willkürlich oder konventionsbedingt ist, sollte es möglich sein, alternative Ausdrucksweisen ins Auge zu fassen (also zu erfinden), die zwar andere syntaktische und/oder semantische Regeln anwenden, aber dennoch dasselbe Ausdrucksvermögen besitzen wie die Sprache, die wir normalerweise gebrauchen. Eine solche Alternativnotation wird nichts anderes sein als eine von der gegebenen verschiedene Weise, dieselben Dinge zu sagen. Es wird daher nicht behauptet, eine alternative Beschreibungsform werde irgendeinen praktischen Vorteil aufweisen gegenüber den normalen Ausdrucksweisen; insbesondere wird nicht vorgeschlagen, wir sollten diese alltäglichen Redeformen preisgeben und uns in der Praxis die Redeform derjenigen Alternative zu eigen machen, welche die Tatsachen bewahrt. Wittgenstein schreibt im 7ractatus: „Eine besondere Bezeichnungsweise mag unwichtig sein, aber wichtig ist es immer, daß diese eine mögliche Bezeichnungsweise ist. Und so verhält es sich in der Philosophie überhaupt: Das Einzelne erweist sich immer wieder als unwichtig, aber die Möglichkeit jedes Einzelnen gibt uns einen Aufschluß über das Wesen der Welt." (TLP 3.3421)
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Diese Aussage soll ihrerseits als Kommentar zu zwei früheren Bemerkungen dienen, nämlich: Der Satz besitzt wesentliche und zufallige Züge. Zufällig sind die Züge, die von der besonderen Art der Hervorbringung des Satzzeichens herrühren. Wesentlich diejenigen, welche allein den Satz befähigen, seinen Sinn auszudrücken. (3.34) Das Wesentliche am Satz ist also das, was allen Sätzen, welche den gleichen Sinn ausdrücken können, gemeinsam ist. Und ebenso ist allgemein das Wesentliche am Symbol das, was alle Symbole, die denselben Zweck erfüllen können, gemeinsam haben. (3.341) Hier behauptet Wittgenstein, daß das Wesentliche am Symbol etwas über das Wesen der Welt erkennen läßt. Dieser Gedanke wird auch in den Untersuchungen zum Ausdruck gebracht, und zwar durch die Feststellung: „Das Wesen ist in der Grammatik ausgesprochen." (PU § 371) Damit ist implizit gesagt, daß wir das grammatisch Wesentliche - also etwas nicht bloß Willkürliches, Konventionsbedingtes oder Kontingentes ausfindig machen können, indem wir alternative Notationen untersuchen, die dennoch „denselben Zweck erfüllen" können. Das Wesentliche wird das sein, was allen derartigen Notationen gemeinsam ist - und umgekehrt werden diejenigen Merkmale akzidentell sein, die einer der Alternativnotationen abgehen können. Wenn es nun, wie Wittgenstein meint, richtig ist, daß „alle Erfahrung Welt ist und das Subjekt nicht braucht", dann gilt auch, wie er selbst bemerkt: „Was der Solipsist will, ist nicht eine Schreibweise, in der das Ich ein Monopol hat, sondern eine, in der das Ich verschwindet." (Wittgenstein 1984, S. 172f.) Die ersten Ansätze zu einer solchen Alternativschreibweise werden in Wittgensteins Gleichnis vom solipsistischen orientalischen Despoten vorgeführt (vgl. PB, §§ 57f.; außerdem W W K , S. 49). Dort werden wir aufgefordert, uns einen orientalischen Staat auszumalen, dessen Herrscher ein Solipsist ist, der seinen Untertanen die eigene bevorzugte solipsistische Redeweise aufzwingt. Für den Despoten, der das Zentrum dieser Sprache bildet, besteht keine Notwendigkeit, irgend etwas als Träger oder Besitzer irgendwelcher Bewußtseinszustände, deren er gewahr ist, auszumachen. Dementsprechend verbannt er
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aus seiner Sprache alle Ausdrücke, die man so auffassen könnte, als bezögen sie sich auf einen solchen Träger oder Besitzer, und die darüber hinaus keine weitere Funktion haben. Wenn der Despot Schmerzen hat, sagt er: „Es gibt Schmerzen." Wenn er einen Gedanken hat, sagt er: „Es denkt...", und hier ist das Pronomen, wie wir wissen, ebenso aufzufassen wie in den Sätzen „Es regnet" oder „Es ist Zeit zu gehen" (Moore 1959, S. 309).7 Die philosophisch weniger vom Glück begünstigten Untertanen dagegen müssen sich eine ganz andere Ausdrucksweise zu eigen machen. Wenn einer von ihnen Schmerzen hat (oder denkt), sagen die anderen: „Der Soundso benimmt sich wie das Zentrum, wenn es Schmerzen gibt (oder wenn es denkt)." Die Untertanen können sich, im Gegensatz zu dem Despoten im Zentrum, natürlich des Pronomens der ersten Person bedienen: Es könnte sein, daß einer von ihnen ausriefe: „Ich benehme mich wie das Zentrum, wenn es Schmerzen gibt!" - so z. B. dann, wenn er sich mit dem Hammer auf den Daumen schlägt. Die Untertanen dieses despotischen Staats können (wie wir sagen würden) auf ihre eigenen Bewußtseinszustände ebenso Bezug nehmen wie auf die Bewußtseinszustände der anderen und die Bewußtseinszustände des Zentrums. Umgekehrt kann das Zentrum (wie wiederum wir es nennen würden) sowohl auf seine eigenen Bewußtseinszustände als auch auf die seiner Untertanen Bezug nehmen. So schreibt der Despot den anderen z. B. Erlebnisse zu, indem er sagt: „Der Soundso benimmt sich wie das Zentrum, wenn es (zum Beispiel) Schmerzen gibt." Daß das Zentrum sozusagen „von außen" auf sich selbst als Zentrum Bezug nimmt, spiegelt den Umstand wider, daß seine Kenntnis des eigenen Körpers und Verhaltens seiner Kenntnis des Körpers und Verhaltens eines anderen genau entspricht. Anders ausgedrückt, für den Solipsisten ist es durchaus nicht der Fall, daß „das eigene Ich frappierend deutlich abgehoben ist"; vielmehr ist, wie Wittgenstein schreibt, „alle Erfahrung Welt und braucht nicht das Subjekt" und „das Ich des Solipsismus schrumpft zum ausdehnungslosen Punkt zusammen", wobei es nur die ihm koordinierte Realität zurückläßt. 7 Moore berichtet dort, Wittgenstein habe „mit offenbarer Zustimmung Lichtenbergs Ausspruch zitiert, wonach ,man nicht sagen sollte: ich denke, sondern es denkt, so wie man sagt: es blitzt'". Vgl. PB, § 58.
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Doch in welchem Sinne wäre eine Sprache der hier vorgestellten Art eigentlich solipsistisch? Nun, solipsistisch wäre sie offenbar nur für eine einzige Person, nämlich für denjenigen, der das Zentrum bildet. Und um den Unterschied zwischen unserer normalen Redeweise und der neuen zur Gänze zu würdigen, müssen wir uns in ebendiese Lage versetzen. Was finde ich vor, wenn ich das Zentrum bin? Unter anderem enthält die Welt, wie ich sie vorfinde, Leiden und Freuden, Gedanken, Empfindungen, Wahrnehmungen und dergleichen. Einige von diesen werden freilich kontingent mit Zuständen eines Körpers zusammenhängen, der „das Zentrum" heißt, während manche von ihnen kontingent mit der Umgebungstemperatur etwa zusammenhängen werden beziehungsweise mit der Tageszeit oder dem Stand des Aktienindex. Zusätzlich zu Gedanken, Gefühlen und dergleichen - die ja Ereignisse in der Welt sind - gibt es außerdem so etwas wie Fußballspiele, Wirbelstürme und Sonnenfinsternisse. Und dies sind ebenfalls Ereignisse in der Welt. Für das Zentrum zieht keines dieser Vorkommnisse die Identifikation eines Besitzers, Trägers oder Subjekts nach sich. Ein Wirbelsturm ist, aus dieser neuen Perspektive betrachtet, in ebenso hohem oder geringem Maße „meiner" wie ein Kopfschmerz. Sobald das Ich - der Besitzer oder das Subjekt der Erfahrung - verschwunden ist und sobald geistige Ereignisse und sonstige psychische Phänomene als Dinge gedeutet werden, die sich tatsächlich in der Welt abspielen, kann der Vertreter des Ich-tilgenden Solipsismus widerspruchsfrei behaupten, zwischen Subjektivem und Objektivem gebe es keine Unterscheidung zu treffen: Kein Teil der Realität könne als etwas wirklich Subjektives gekennzeichnet werden. Hier bleibt jedoch eine dringende Aufgabe zu erledigen, sofern wir den Ich-tilgenden Solipsismus verständlich machen wollen. Denn dieser Standpunkt darf nicht nur Ich-tilgend, er muß außerdem solipsistisch sein. W i r müssen aber erst noch erklären, was mit der Behauptung gemeint ist, die Subjektivität werde, sobald sie aus dem Inneren der Welt verbannt ist, zur charakterisierenden Eigenschaft der Welt als ganzer. Sofern ich die Welt bin, müssen die Bedingungen hinsichtlich meiner Identität mit denen bezüglich der Realität als ganzer zusammenfallen: Was immer mich individuiert oder mich zu etwas einzigem macht, muß ununterscheidbar sein von dem, ver-
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möge dessen diese Welt - also die Welt - ihrerseits einzig ist beziehungsweise über ein Individuationsprinzip verfügt. Können wir diesen Gedanken verständlich machen? Die im folgenden zitierten Bemerkungen stehen in Wittgensteins frühen Tagebüchern und können uns vielleicht weiterhelfen, denn sie scheinen (und sei es auch noch so unklar) die Einzigkeit der Welt zu betreffen sowie die Frage, wie diese mit der Einzigkeit des Ich zusammenhängt. „Die Welt und das Leben sind Eins. Das physiologische Leben ist natürlich nicht „das Leben". Und auch nicht das psychologische. Das Leben ist die Welt." (TB, 24. 7. 1916) „Nur aus dem Bewußtsein der Einzigkeit meines Lebens entspringt Religion — Wissenschaft - und Kunst." (1. 8. 1916) „Und dieses Bewußtsein ist das Leben selber." (2.8. 1916) „Ist es denn wahr, daß sich mein Charakter ... nur im Bau meines Körpers oder meines Gehirns und nicht ebenso im Bau der ganzen übrigen Welt ausdrückt? Hier liegt ein springender Punkt.... Der Weg, den ich gegangen bin, ist der: Der Idealismus scheidet aus der Welt als unik die Menschen aus, der Solipsismus scheidet mich allein aus, und endlich sehe ich, daß auch ich zur übrigen Welt gehöre, auf der einen Seite bleibt also nichts übrig, auf der anderen als unik die Welt." (15. 10. 1916) „Genügt nicht wieder meine Welt zur Individualisierung?" (19. 11. 1916) In dem Gesamtkontext, in dem diese Bemerkungen vorkommen, geht es Wittgenstein darum, einen an Schopenhauer gemahnenden Zugang zur Individualität zu erkunden, um sich letztlich davon loszusagen. Schopenhauer befaßt sich nämlich mit dem, was er das Rätsel der Subjektivität nennt. Solange wir uns darauf beschränken, „die Welt als Vorstellung" - als „Objekt für ein Subjekt" - zu betrachten, und solange wir uns auch selbst nur als Subjekte betrachten, die Vorstellungen davon haben können, wie die Dinge in der Welt sind, werden wir außerstande sein, unsere Individualität, unsere Subjektivität oder unsere Einzigkeit zu erklären. Die Welt als Vorstellung ist völlig unpersönlich, und in dieser Hinsicht besteht eine weitgehende Ähnlichkeit zwischen ihr und der Gesamtheit der objektiven Tatsachen, die wir uns laut Tractatus in Gedanken vorführen
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können. Nichts, was solchen Gedanken von sich aus wesentlich wäre, ist in irgendeiner Weise persönlich oder individuell; es gibt nichts, was einen speziellen Gedanken als meinen kennzeichnet. Und nach Schopenhauer entbehrt das Subjekt, das solche Gedanken hat, ebenfalls der Persönlichkeit. Das Rätsel der Subjektivität kann von hier aus keine Lösung empfangen. Schopenhauer schreibt: „vielmehr ist dem als Individuum erscheinenden Subjekt des Erkennens das Wort des Räthsels gegeben: und dieses Wort heißt Wille. Dieses, und dieses allein, giebt ihm den Schlüssel zu seiner eigenen Erscheinung." (Schopenhauer 1988, S. 151.) In Wittgensteins Tagebüchern treten diese Belange in Bemerkungen wie den folgenden zutage: „Ist der Glaube eine Erfahrung? Ist der Gedanke eine Erfahrung? Alle Erfahrung ist Welt und braucht nicht das Subjekt. Der Willensakt ist keine Erfahrung." (9. 11. 1916) „Was für ein Grund ist da zur Annahme eines wollenden Subjekts? Genügt nicht wieder meine Welt zur Individualisierung?" (19. 11. 1916) Die letzten beiden Sätze deuten darauf hin, daß Wittgenstein dahingelangt ist, das Schopenhauersche Modell abzulehnen, wonach das wollende Subjekt als Ursprung alles Persönlichen und Subjektiven aufgefaßt wird. Doch die Ablehnung dieses Modells bringt ein theoretisches Vakuum hervor, das vermutlich durch den Gedanken ausgefüllt werden soll, daß „meine Welt zur Individualisierung genügt". Angenommen, wir würden folgende Frage stellen: Welche unter all den denkbaren möglichen Welten ist die wirkliche Welt? Welche unter all den logisch widerspruchsfreien und maximal mächtigen Mengen von Sachverhalten ist als einzige die Gesamtheit der Tatsachen? Wittgensteins Andeutungen scheinen hier zu besagen, daß die einzige Angabe, die wir uns verständlich machen können, eine nicht eliminierbare zeichenreflexive, ja egozentrische Komponente enthält. Wir können offenbar nicht umhin zu sagen, die tatsächliche Welt - die wirkliche Welt - sei eben diese Welt. Und die Herausforderung, die der Vertreter des metaphysischen Solipsismus ausspricht, lautet, man möge erklären, was „dies" hier bedeutet, ohne sich dabei auf irgend etwas Egozentrisches, Subjektives, mit der ersten Person Verknüpftes festzulegen. Falls ei-
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ne solche Erklärung nicht gegeben werden kann - und nach meiner Uberzeugung ist eine solche Erklärung tatsächlich nicht möglich dann bringt uns das zumindest ein Stück weiter auf dem Weg zum Verständnis von Wittgensteins solipsistischer Sichtweise, wonach die Identitätsbedingungen für die objektive Welt nunmehr unentwirrbar verflochten sind mit den Identitätsbedingungen fiir mich selbst als Ort der Subjektivität. Auf die Frage „Wodurch werde ich zu etwas einzigem, was ist konstitutiv für meine Subjektivität?" kann man nichts weiter antworten als: „Ich bin das, was ein Bewußtsein von all diesem hat", wobei ich eine nach außen gerichtete Geste mache hin zur Welt und zu allem, was sie enthält. Aber auch auf die Frage „Wodurch wird die tatsächliche Welt zu etwas einzigem, worin besteht ihre Wirklichkeit?" kann man lediglich erwidern: „Die tatsächliche Welt ist eben all dies; sie ist das, worauf dieses Bewußtsein gerichtet ist." Und auch hier mache ich wieder eine Geste nach außen, hin zu den Gegenständen meines Bewußtseins. In dem nun relevanten Sinn von „ich" - also in dem Sinn, in dem ein echter Index der Subjektivität mitgemeint ist - bin ich eben das, was dies als Welt hat; und die Welt ist eben das, was ich vor mir habe. Deutet man die im vorigen Absatz genannten Gesten in bestimmter Weise, ist natürlich nichts von ihnen zu erhoffen, denn obwohl sie, wie es scheint, auf etwas („all dies") zeigen sollen, mißlingt es ihnen notgedrungen, irgend etwas herauszugreifen, die Identität von irgend etwas zu bestimmen oder irgend etwas von irgend etwas anderem zu unterscheiden. Dieses Mißlingen ist allerdings symmetrisch, insofern weder die Welt als ganze noch mein Ich als Ort der Subjektivität durch solche Handbewegungen erfolgreich individuiert werden können, auch wenn man dabei das Wort „dies" wiederholt und emphatisch gebraucht.8 Der Grund ist in beiden Fällen derselbe: Die wirkliche Welt und meine Subjektivität haben (um mit Wittgenstein zu reden) „keine Nachbarn". 9 Wenn ich etwas wahrnehme, etwas auffasse, auf etwas Bezug nehme oder etwas beschreibe, ist die Individuierung des betreffenden Gegenstandes normalerweise ein wesentlicher Aspekt Vgl. eine ähnliche Bemerkung Wittgensteins in PU, § 253. Siehe z. B. BB, S. 112-116; Moore 1959, S. 310; Wittgenstein 1989, S. 56 und 72. 8 9
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meiner Leistung. Ich muß ihn in gewissem Sinne von seiner U m g e b u n g unterscheiden und imstande sein, ihn und seine Nachbarn auseinanderzuhalten. Dieser Gedanke liegt der einflußreichen Maxime Freges zugrunde, wonach gilt: „Wenn uns das Zeichen a einen Gegenstand bezeichnen soll, so müssen wir ein Kennzeichen haben, welches überall entscheidet, ob b dasselbe sei wie a." (Frege 1987, § 62, S. 94). Wittgenstein hat sich zeit seines Lebens zu dieser Fregeschen Einschränkung der Bezugnahme bekannt. Aber ebenso hat er ihren Folgesatz gutgeheißen, wonach gilt, daß in Situationen, in denen es sozusagen keine Nachbarn gibt - in denen Identitätskriterien, Individuation oder Unterscheidung ausgeschlossen sind - , weder auf G e genstände Bezug genommen, noch mit Behauptungen etwas über sie ausgesagt werden kann. Hier wird die ganze Objektivitätsmaschinerie (die Gegenstände, Tatsachen, Kriterien, Identität, Bezugnahme, Behauptungen, Wahrheit, Wissen und dergleichen umfaßt) im Prinzip unwirksam. Es gibt hier einfach nichts O b jektives, was in kohärenter Weise gesagt oder gedacht werden könnte. Mit anderen Worten, dies ist die Stelle, an der wir auf die reine Subjektivität stoßen. Für mich ist meine Subjektivität offenbar nicht etwas in der Welt. Sie ist nicht bloß ein D i n g unter anderen, also etwas, zu dessen Identifizierung, Unterscheidung oder Erkenntnis ich womöglich der Kriterien bedürfte sonst wäre sie natürlich per definitionem etwas Objektives für mich, was sie für die anderen ja tatsächlich ist. Vielmehr ist die Subjektivität für mich etwas, was absolut alles durchdringt; sie durchdringt die Welt und ist von ihr ununterscheidbar.
11.5 Privatheit einer öffentlichen Welt H e u t e wird vielfach, ja geradezu allgemein die Ü b e r z e u g u n g vertreten, die Philosophischen Untersuchungen insgesamt - und insbesondere der unter der Bezeichung „Privatsprachenargum e n t " bekannte Abschnitt dieses Buchs - sollten die früheren solipsistischen Ansichten des Autors widerlegen und zugleich eine Alternative zu diesen Ansichten liefern. 10 Im Schlußteil der vorliegenden Arbeit werde ich knapp anzudeuten versuchen, 10 Einflußreiche Darstellungen sind z. B. Cook (1972), Hintikka (1958) und Williams (1974).
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warum dies als Grandlage einer Reaktion auf Wittgensteins Spätphilosophie unzureichend ist. Ich habe nämlich ganz im Gegenteil den Eindruck, daß das Privatsprachenargument durchaus keine Ablehnung und Widerlegung des frühen Solipsismus umfaßt, sondern diesen in einer Anzahl entscheidender Hinsichten billigt und weiterfuhrt. Um einige der zugrundeliegenden kontinuierlichen Entwicklungen in Wittgensteins Gedanken über diese Themen deutlich zu machen, können wir zunächst festhalten, daß die Möglichkeit einer Ich-tilgenden, die Tatsachen bewahrenden solipsistischen Neubeschreibung in den Untersuchungen ausdrücklich wieder bejaht wird: „Wenn ich das Wort ,Schmerz' ganz für dasjenige in Anspruch nähme, was ich bis dahin ,meinen Schmerz' genannt habe, und was Andre „den Schmerz des L . W." genannt haben, so geschähe den Andern damit kein Unrecht, solange nur eine Notation vorgesehen wäre, in der der Ausfall des Wortes ,Schmerz' in anderen Verbindungen irgendwie ersetzt würde. Die Andern werden dann dennoch bedauert, vom Arzt behandelt, usw. Es wäre natürlich auch kein Einwand gegen diese Ausdrucksweise, zu sagen: ,Aber die Andern haben ja genau dasselbe, was du hast!'" (PU § 403) Die vorgestellte Erwiderung würde in der Tat den Nagel nicht auf den Kopf treffen, denn es geht bei dieser Betrachtung nicht um eine sachhaltige Leugnung des Bestehens eines bestimmten Sachverhalts, sondern um eine ebenso ausdrucksvolle Alternativnotation. Doch Auseinandersetzungen im Bereich der Metaphysik der Erfahrung werden, wie Wittgenstein zu Recht behauptet, seit eh und je so geführt, als ginge es dabei um die Tatsachen: „Denn so sehen ja die Streitigkeiten zwischen Idealisten, Solipsisten und Realisten aus. Die Einen greifen die normale Ausdrucksform an, so als griffen sie eine Behauptung an; die Andern verteidigen sie, als konstatierten sie Tatsachen, die jeder vernünftige Mensch anerkennt." (PU § 402) Nachdem Wittgenstein die Möglichkeit einer solipsistischen Notation ins Spiel gebracht hat, geht er sogleich auf die Frage ein, welche sich uns nun stellt: „Aber was hätte ich dann von dieser neuen Art der Darstellung?" fragt er, und seine Antwort lautet: „Nichts." Mehrere Interpreten und Kritiker haben diese Antwort so aufgefaßt, als enthalte sie ausreichende Belege für
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die These, Wittgenstein habe in den Untersuchungen gelernt, die Verlockungen des Solipsismus von sich zu weisen. Typischerweise versäumen sie es jedoch, die Antwort Wittgensteins in ihrer Gesamtheit zu zitieren oder in Betracht zu ziehen. Auf die Frage, was man denn davon hätte, wenn man sich eine neue, solipsistische Beschreibungsform zu eigen machte, antwortet er nämlich: „Nichts. Aber der Solipsist will ja auch keine praktischen Vorteile, wenn er seine Anschauung vertritt!" Damit ist meines Erachtens implizit gesagt, daß die neue Notation in keiner praktischen oder sachhaltigen Hinsicht vorzuziehen ist: Sie ist weder leistungsfähiger noch genauer, noch sparsamer. Aber wenn keine dieser Möglichkeiten besteht, fragt es sich, was für Vorteile der Solipsist aufgrund seiner neuen Darstellungsweise erwarten kann. Die kaum überraschende Antwort lautet, daß die Vorteile des metaphysischen Solipsismus rein philosophische sind. Nun, was für einen Philosophen könnte man im Zentrum einer solipsistischen Sprache vorzufinden erwarten? Was für philosophische Erkenntnisse könnten sich für jemanden ergeben, der die Möglichkeit einer solchen Notation ernst nähme? Eines ist klar: Man würde ihn kaum daran erinnern müssen, daß sogenannte „innere Vorgänge" der äußeren Kriterien bedürfen (vgl. PU, § 580). Die Existenz solcher Kriterien ist in der Grammatik seiner Sprache von vornherein angelegt; denn wenn er jemandem einen „inneren Vorgang" zuschreibt, muß er etwas von dieser Form sagen: „Soundso benimmt sich wie das Zentrum, wenn ..." Mit anderen Worten, es tritt in der Oberflächengrammatik dieser Sprache zutage, daß psychologische Behauptungen Verhaltenskriterien beinhalten. Unwahrscheinlich ist auch, daß der Philosoph im Zentrum angetan ist von der Annahme, das Wort „ich" beziehe sich auf den Besitzer oder Träger privater Erlebnisse; 11 denn im eigenen Fall hat er für die erste Person keine Verwendung und im Fall der anderen kann er nichts mit dem Begriff des Trägers geistiger Zustände anfangen. Schon der bloße Begriff eines privaten Gegenstands der Bezugnahme - eines wesentlich subjektiven Bewußtseinsinhalts - erweist sich für ihn wahrscheinlich als ganz und gar nicht anziehend; denn seine " Siehe PU, § 404: „Wenn ich sage ,ich habe Schmerzen', weise ich nicht auf eine Person, die die Schmerren hat, da ich in gewissem Sinne gar nicht weiß, wer sie hat."
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Sprache funktioniert in durchsichtiger Weise, indem sie Verhaltensformen der anderen zu Verhaltensformen des Zentrums und diese letztlich zu besitzerlosen Ereignissen in der Welt in Beziehung setzt. Außerdem wird der Philosoph, der die Dinge vom Zentrum aus betrachtet, nicht versucht sein, in seiner Sprache Behauptungen aufzustellen, die äquivalent wären mit solchen Behauptungen unserer Sprache, die - wie Wittgenstein uns gelehrt hat - mit Argwohn zu betrachten sind, also mit Sätzen wie „Nur ich kann wissen, ob ich wirklich Schmerzen habe; der Andere kann es nur vermuten" (PU § 246), „Man muß sich den Schmerz des Andern nach dem Vorbild des eigenen vorstellen" (PU § 302) oder „Nur vom eigenen Fall weiß ich, was das Wort,Schmerz' bedeutet" (PU § 293). Aufgrund der Voraussetzung, daß ein zentraler Aspekt des Ich-tilgenden Solipsismus in der Behauptung liegt, meine Subjektivität sei nicht durch Berufung auf eine bestimmte Kategorie von Gegenständen, Ereignissen oder Sachverhalten zu erklären, würden wir schließlich auch damit rechnen, daß der Philosoph im Zentrum bestreitet, daß ich wissen könne, Schmerzen zu haben (PU § 246), daß der Satz „Ich habe Schmerzen" als Beschreibung oder als Behauptung des Bestehens eines bestimmten Sachverhaltens gedeutet werden sollte (vgl. PU §§ 244, 304) und daß er entweder durch Bezugnahme auf etwas „ich" Genanntes (PU § 404) oder durch Bezugnahme auf eine als „Schmerz" bezeichnete Wesenheit (PU § 290) funktioniert. Als Hauptanreiz zum Solipsismus habe ich weiter oben die Unzufriedenheit charakterisiert, die man im Hinblick auf die am weitesten verbreitete traditionelle Weise der Unterscheidung zwischen Subjektivität und Objektivität empfindet. Nach dieser Anschauung wird die Welt so aufgefaßt, als sei sie in philosophisch erklärungskräftiger Form aufgespalten, und zwar einerseits in Dinge, die ausschließlich mir angehören, und andererseits in solche, die zwar keinen Besitzer haben, aber „fremd" sind. Der Solipsist dagegen bietet eine Sichtweise, bei der die Welt nicht mehr „fremd" wirkt; kein Teil der Realität ist unzugänglich oder privat; die Erkenntnis des Fremdpsychischen wirft keine philosophischen Probleme mehr auf; und die eigene Subjektivität umfaßt nicht mehr bloß eine weitere Menge von Dingen, mit der man sich in der Welt auseinandersetzen muß. Diese Bewegung, die aus dem Ich hinaus- und in die Welt hin-
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einführt und dabei einhergeht mit der Ablehnung der philosophisch zentralen Stellung von Selbsterkenntnis, Selbstidentität und Selbstversenkung, 12 wird im Rahmen des Privatsprachenarguments nicht umgekehrt. Im Gegenteil, sie findet dort ihren ganz entschiedenen Ausdruck. Stanley Cavell hat hier, wie ich meine, ein wichtiges Merkmal von Wittgensteins Sichtweise erfaßt. Er schreibt: „Die Lehre aus der Phantasievorstellung einer privaten Sprache ist wie folgt zu ziehen: Daß eine Empfindung etwa die meine ist - also daß ich sie besitze oder vielmehr: daß ich es bin, der sie erleidet - , ist von natürlicher Wichtigkeit, und diese natürliche Wichtigkeit wird philosophisch so gedeutet, als komme diese Empfindung einzig und allein mir zu und könne von keinem anderen in Besitz genommen werden. Wenn Wittgenstein dann z. B. sagt: „Soweit es Sinn hat, zu sagen, mein Schmerz sei der gleiche wie seiner, soweit können wir auch beide den gleichen Schmerz haben", so scheint das im Rahmen dieser philosophischen Lesart die Wichtigkeit der Tatsache, daß ich diesen Schmerz habe, zu vermindern. Wittgenstein scheint mein (Innen-)Leben zu bagatellisieren. - In gewisser Weise stimmt das auch. Eine Lehre, die sich nach meiner Ansicht aus den Untersuchungen insgesamt ziehen läßt, kann wie folgt formuliert werden: Die Tatsache und der Zustand deines (Innen-)Lebens kann seine Wichtigkeit nicht von irgend etwas Besonderem daran herleiten. Egal, wie weit du dieses verfolgst, du wirst feststellen, daß das Normale schon vor dir da ist. Es mag sein, daß der Zustand deines Lebens es wert ist - und womöglich ist er das einzige, was es wert ist - , dein Interesse unendlich zu beanspruchen. Aber existieren kann dies nur zusammen mit einem völligen Desinteresse ihm gegenüber. Die Seele ist unpersönlich." (Cavell 1979, S. 361) Das ist, wie mir scheint, völlig richtig. Doch diese Sichtweise, möchte ich meinen, weist eine frappierende Ähnlichkeit auf mit dem, was seinen Ausdruck in Wittgensteins frühem Solipsismus findet, z. B. in der Behauptung „Alle Erfahrung ist Welt und braucht nicht das Subjekt", einer Behauptung also, die, sobald man ihre Konsequenzen strikt zu Ende denkt, in Wittgen12 Vgl. die folgende Bemerkung aus einem Gespräch Wittgensteins mit seinen Studenten: „Ich habe gerade das Gegenteil von Descartes' Betonung des ,ich' überzeugend darzulegen versucht." (Wittgenstein 1984, S. 226.)
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steins radikal nichtcartesianischer Offenbarung gipfelt: „und endlich sehe ich, daß auch ich zur übrigen Welt gehöre, auf der einen Seite bleibt also nichts übrig, auf der anderen als unik die Welt."
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12 Joachim Schulte
Der Glückliche und seine Welt1
In der Logisch-philosophischen Abhandlung, besser bekannt unter dem Titel der englischen Ausgabe: Tractatus logico-philosophicus, erwähnt Wittgenstein den Glücklichen nur ein einziges Mal. Die betreffende Stelle findet sich in der Bemerkung TLP 6.43: „Wenn das gute oder böse Wollen die Welt ändert, so kann es nur die Grenzen der Welt ändern, nicht die Tatsachen; nicht das, was durch die Sprache ausgedrückt werden kann. Kurz, die Welt muß dann dadurch überhaupt eine andere werden. Sie muß sozusagen als Ganzes abnehmen oder zunehmen. Die Welt des Glücklichen ist eine andere als die des Unglücklichen."2 Was die Fortsetzung dieser Bemerkung im Satz 6.431 betrifft, ergibt sich sogleich ein Problem. Der fragliche Satz lautet: „Wie auch beim Tod die Welt sich nicht ändert, sondern aufhört." Es ist offensichtlich schwierig, ja vielleicht unmöglich, diesen Satz 1 Der vorliegende Aufsatz ist eine überarbeitete und erweiterte Fassung meines Beitrages „The Happy Man", in: Joachim Schulte/Göran Sundholm (Hrsg.), Criss-Crossing a Philosophical Landscape. Essays on Wittgensteinian Themes Didicated to Brian McGuinness, Amsterdam: Rodopi 1992 (Grazer philosophische Studien, Bd. 42). 2 Zit. nach der kritischen Edition: Logisch-philosophische Abhandlung/T'actatus lopco-philosophicus, hrsg. von Brian McGuinness und Joachim Schulte, Frankfurt/M. 1989. Dieser Band enthält auch eine edierte Fassung des ProtoTractatus. Zu berücksichtigen sind ferner die Faksimileausgabe des ProtoTractatus, hrsg. von B. McGuinness, T. Nyberg und G. H. von Wright, London 1971, sowie die Tagebücher 1914-1916, Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt/M. 1984 u. ö.
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so zu lesen, daß er durch den Anschluß „Wie auch" sinnvoll mit der Aussage über den Glücklichen und den Unglücklichen in Zusammenhang gebracht werden kann. Wirft man jedoch einen Blick auf die entsprechenden Seiten des dritten der erhaltenen Tagebücher aus der Kriegszeit (15. 4. 1916-10. 1. 1917), sowie des ProtoTractatus, wird sogleich deutlich, daß 6.431 eigentlich den Satz fortfuhrt, der der Äußerung über den Glücklichen vorangeht, denn in beiden früheren Quellen, folgt 6.431 unmittelbar auf den Satz über das Ab- und Zunehmen der Welt. In den Tagebüchern (5. 7. 1916) wird der Satz über das Zuund Abnehmen der Welt ausführlicher erläutert durch den Hinweis, dieser Vorgang des Zu- und Abnehmens sei so zu verstehen, als komme es durch das „Dazukommen oder Wegfallen eines Sinnes" zustande. Diese Erläuterung wird dann im ProtoTractatus fallengelassen und fehlt daher auch im Tractatus, während der Satz über das Zu- und Abnehmen der Welt mit Hilfe der Numerierung von dem Satz über den Tod getrennt wird. Diese Numerierung ist freilich späteren Datums, erfolgte also erst nach dem Eintrag der Bemerkungen in das Manuskript. Durch die Numerierung wird dem Satz über den Tod (6.442) im ProtoTractatus der gleiche Rang zugesprochen wie dem Satz über das Zu- und Abnehmen der Welt (6.441), so daß der zwischen diesen beiden Bemerkungen stehende Text als diesem letzteren Satz (6.441) untergeordnet erscheint. (Die Äußerung über den Glücklichen findet sich im Manuskript des ProtoTractatus auf der Seite nach der Stelle über das Zu- und Abnehmen der Welt und trägt hier die Nummer 6.4411.) Soweit sich die Entstehungsgeschichte dieser Bemerkungen nachzeichnen läßt, wird deutlich, daß der Satz über den Glücklichen als Veranschaulichung des Satzes über das Zu- und Abnehmen der Welt gemeint ist, während die anschließende Bemerkung 6.431 eine Art Grenzfall des Abnehmens nennt, nämlich den Tod, denn im Falle des Todes schrumpft die Welt als Ganze auf Nullumfang, wie man sagen könnte. Kennzeichnet man nun den Tod als Grenzfall des Abnehmens oder Schrumpfens, stellt man es offenbar so hin, als sei die Welt des Glücklichen größer als die des Unglücklichen, 3 und diese VorJ
Heinrich Gomperz (1904) spricht von einer „.Schwellung' des allgemeinen Lebensgefuhls", die sich aus einer „Überwindung" des „persönlichen" Ichs ergebe.
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Stellung läßt sich gewiß mit unserem intuitiven Verständnis der Formulierung Wittgensteins in Einklang bringen. 4 Im Tractatus wie im ProtoTractatus läßt die Reihenfolge der Worte jedoch auf das umgekehrte Verhältnis schließen. Es sieht so aus, als entspreche das Abnehmen dem Glücklichen und das Zunehmen dem Unglücklichen. Diese Deutung läßt sich ebenfalls mit unseren intuitiven Vorstellungen in Ubereinstimmung bringen, wenn man bedenkt, daß Dinge, die groß wirken, Furcht auslösen, während kleine Dinge weniger Eindruck machen und daher oft keine unangenehmen Gefühle hervorrufen. Wie die Dinge liegen, geht aus Wittgensteins Text nicht klar hervor, wessen Welt wächst und wessen Welt schrumpft - die des Glücklichen oder die des Unglücklichen. Er stellt lediglich fest, daß die Welt des Glücklichen eine andere ist als die des Unglücklichen. Da diese Aussage als Erläuterung oder Veranschaulichung des Satzes über das Zu- und Abnehmen der Welt auftritt, ist es gewiß nicht unberechtigt anzunehmen, daß die gemeinte Andersheit ein bestimmtes Verhältnis der „Größe" oder des „Umfangs" betrifft. Dennoch enthält diese Lesart eine mehr oder weniger offenkundige Schwierigkeit, die von Brian McGuinness in seiner Biographie des jungen Wittgenstein mit den folgenden Worten dargelegt wird: „Wittgenstein sagt über die Welt des Glücklichen oder Unglücklichen, sie könne als Ganzes abnehmen oder zunehmen, wachsen oder schrumpfen (6.43). Buchstäblich genommen, wäre das natürlich Unsinn, denn wenn alles wächst, wächst gar nichts. Doch schon oft haben sich Mystiker dieser Ausdrucksweise bedient, um Hoffnung und Verzweiflung zu schildern." (McGuinness 1988, S. 312; dt. S. 478.) Und in McGuinness' Artikel über den Mystizismus des Tractatus wird das Beispiel eines islamischen Mystikers genannt, um diese These zu belegen (McGuinness 1966, S. 324f.; dt. S. 187). In diesem Fall ist der Ausgedehnte oder Gewachsene jemand, für den es nichts gibt, was Furcht in ihm erregen könnte. Eine weitere Möglichkeit, Wittgensteins Bemerkung über das Zu- und Abnehmen der Welt verständlich zu machen, ist die folgende: Ein und derselbe Ort oder dieselbe Landschaft kann, 4
Ein radikaler Anhänger Schopenhauers wurde dem allerdings nicht beipflichten. Denn wenn man das Nichtsein höher bewertet als jede Form des Leidens, müßte man das Verschwinden der Welt eher auf der Seite des Glücks ansiedeln als auf der Seite des Unglücks.
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wie wir alle aus eigener Erfahrung wissen, bei einer Gelegenheit sehr viel kleiner oder größer wirken als bei einer anderen Gelegenheit. In einem derartigen Fall steht von vornherein fest, daß in der Zwischenzeit keine wirkliche Änderung der Größenverhältnisse eingetreten ist, während wir trotzdem das Gefühl nicht loswerden können, der Umfang habe zu- oder abgenommen; und dieses Gefühl kann sich durchaus auf den Schauplatz insgesamt beziehen, nicht bloß auf einen Gegenstand bzw. auf einige wenige Gegenstände im Vergleich mit anderen. Ein solches Erlebnis ist oft - und darüber hinaus häufig in ganz offensichtlicher Weise - mit einem Wandel der eigenen Einstellung oder Haltung verbunden; und ein solcher Wandel wiederum kann unseren Glücks- oder Unglückszustand beeinflussen oder seinerseits von diesem Zustand abhängig sein. Erlebnisse dieser Art ähneln Fällen, in denen man die Dinge in bestimmtem Licht erblickt, etwa wenn einem alles „finster" vorkommt oder wenn alle Dinge in „rosigem" Licht erscheinen. Solche Gefühle können damit einhergehen, daß man im eigenen Handeln einen neuen Sinn wahrnimmt oder - im Gegenteil - das Empfinden hat, alles habe seinen Sinn verloren. Vielleicht ist es eine Situation dieser Art, die Wittgenstein vorschwebt, wenn er in den Tagebüchern schreibt, es verhalte sich hier so ähnlich wie beim Dazukommen oder Wegfallen eines Sinns (TB, 5. 7. 1916 [5]). Dieser zuletzt erwähnte Satz aus dem Tagebuch fehlt, wie bereits festgestellt wurde, im Prototractatus wie auch im Tractatus selbst. Er wurde ebenso wie die große Mehrzahl der frühen Äußerungen über das Glücklich- und Unglücklichsein von Wittgenstein nicht in die späteren Manuskriptstufen übernommen. Was immer seine Gründe fiir das Ausscheiden dieser Stücke gewesen sein mögen, die meisten Interpreten halten es dennoch für nützlich, auf den Text der Tagebücher zurückzugreifen, wenn sie sich bemühen, problematische Stellen des Tractatus zu erklären. Dieses Verfahren kann tatsächlich sehr hilfreich sein. Es läßt sich aber nicht immer ohne weiteres anwenden, und sei es nur aus dem schlichten Grunde, daß die Tagebücher ihrerseits oft schwer zu verstehen sind, was zum Teil natürlich darauf zurückzuführen ist, daß es sich bei ihnen um einen ersten - oder zumindest um einen frühen - Entwurf des einzigen Buches von Wittgenstein handelt, das zu Lebzeiten des Autors veröffentlicht wurde. Sofern die Meinungsverschiedenheiten
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der Interpreten ein Gradmesser sind für die wirklich in einem Text steckenden Schwierigkeiten, kann es sich erweisen, daß etliche Stellen der Tagebücher als völlig unergründlich angesehen werden müssen, denn es besteht nicht die geringste Einigkeit darüber, wovon diese Stellen überhaupt handeln. So gibt es eine Reihe von Bemerkungen, die nach Auffassung eines Interpreten den Glücklichen betrifft. Dieser Interpret schreibt: „Die Tagebücher stellen klar, daß sowohl die Erkenntnis, daß die Welt meine Welt ist" (TB, 2. 9. und 15. 10. 16), als auch die Fähigkeit, „in der Gegenwart zu leben" (8. 7. 1916 [13]), wesentliche Bestandteile des Glücks sind. Die Erkenntnis, die Wittgenstein mit den Worten „Ich bin meine Welt" zum Ausdruck bringt, ist zum Teil eine Weigerung, sich mit den physiologischen oder psychologischen Eigenheiten und dem Leben eines bestimmten Einzelmenschen zu identifizieren. Das höhere oder metaphysische Ich empfindet sich als etwas mit der ganzen Welt Identisches (11./12. 8. 1916), und sein Glück ist das Gutsein - das Zunehmen - der ganzen Welt." (McGuinness 1966, S. 180.)5 Diese Lesart wird von einem anderen Interpreten auf das heftigste bestritten. Dieser Interpret schreibt: „McGuinness meint, die Einsicht, daß die Welt meine Welt sei, bilde einen wesentlichen Bestandteil des Glücklichseins; die Aussage „Ich bin meine Welt" sei eine Weigerung, sich mit den physiologischen oder psychologischen Besonderheiten und dem Leben eines bestimmten Einzelmenschen zu identifizieren. Diese Interpretation untermauert McGuinness in erster Linie durch Hinweise auf einige Stellen der Tagebücher (2. 9. [7, 8] und 12. 10. 1916 [1, 8]) und bringt sie in Verbindung mit dem traditonellen Mystizismus. An den letzten beiden Stellen geht es jedoch darum, Schopenhauers These anzugreifen, wonach unser eigener Körper mit Bezug auf unsere Erkenntnis der eigenen absichtlichen Handlungen eine Vorzugsstellung einnimmt, während der erste Passus die Gleichsetzung des philosophischen Ichs mit dem transzendentalen Subjekt betrifft. Diese Theorien haben weder mit der Bedeutungszuschreibung zu gewissen Teilen der Welt noch mit dem Glück der stoischen EinDie Verweise auf die Tagebücher werden hier im Stil der kritischen TractatusEdition gegeben. 5
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Stellung das geringste zu schaffen." (Hacker 1972, S. 76, Anm.
1; 1986, S. 99, Anm. 17.) Ehe ich mich mit einigen Einzelheiten dieser beiden Lesarten befasse, wird es angebracht sein, die Sätze, um die sich der ganze Streit dreht, zu zitieren: 1) „Das philosophische Ich ist nicht der Mensch, nicht der menschliche Körper oder die menschliche Seele mit den psychologischen Eigenschaften, sondern das metaphysische Subjekt, die Grenze (nicht ein Teil) der Welt. Der menschliche Körper aber, mein Körper insbesondere, ist ein Teil der Welt unter anderen Teilen der Welt, unter Tieren, Pflanzen, Steinen etc. etc." (2.9. 1916 [7]) 2) „Wer das einsieht, wird seinem Körper oder dem menschlichen Körper nicht eine bevorzugte Stelle in der Welt einräumen wollen." (2. 9. 1916 [8]) 3) „Ein Stein, der Körper eines Tieres, der Körper eines Menschen, mein Körper, stehen alle auf gleicher Stufe." (12. 10. 1916 [1]) 4) „Ich bin meine Welt." (12. 10. 1916 [8]) Wenn Hacker von den „letzten beiden" Stellen spricht, meint er vermutlich (2) und (3). Seine Behauptung, an diesen Stellen gehe es darum, „Schopenhauers These anzugreifen, wonach unser eigener Körper mit Bezug auf unsere Erkenntnis der eigenen absichtlichen Handlungen eine Vorzugsstellung einnimmt", läßt sich in dieser Form aber nicht halten. Freilich kann kein Zweifel daran bestehen, daß Schopenhauers Schriften nicht ohne Einfluß auf Wittgenstein gewesen sind. Eine Vielzahl von Bemerkungen, die Wittgenstein in den Tagebüchern notiert, bedient sich einer an Schopenhauer gemahnenden Terminologie; manche Formulierungen und Beispiele erwecken den Eindruck, ohne viel Federlesens aus Die Welt als Wille und Vorstellung übernommen und in die Landschaft des Wittgensteinschen Denkens verpflanzt worden zu sein. Daher kann es durchaus richtig sein, daß Hackers Vermutung zutrifft, wonach das letzte der drei erhaltenen Tagebücher geschrieben wurde, während sich Wittgenstein einer erneuten Lektüre der Schriften Schopenhauers widmete (Hacker 1972, S. 64; 1986, S. 88). Das alles läuft aber nicht darauf hinaus, daß Wittgenstein im Sommer und Herbst 1916 damit beschäftigt war, von Schopenhauer vertretene Lehren zu widerlegen. Hacker irrt sich insofern, als er meint, Witt-
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genstein habe in einem von Schopenhauer übernommenen Rahmen gedacht. Höchstens läßt sich behaupten, daß Wittgenstein den Versuch machte, bestimmte frappierende Vorstellungen in sein eigenes Denken aufzunehmen und sie zugleich in etwas anderes zu verwandeln, wobei sie gerade die spezifische Rolle einbüßten, die sie in ihrem ursprünglichen Kontext gespielt hatten. Natürlich liegt es in der Natur der Sache, daß es bei Interpretationsfragen dieser Art ausgeschlossen ist, den unwiderlegbaren Beweis dafür zu erbringen, daß Wittgensteins Denken durch und durch unabhängig war von den Überlegungen Schopenhauers und daß er sich darauf beschränkte, Formulierungen, Bilder, Einstellungen und Beispiele von diesem Autor zu übernehmen und zum Einsatz zu bringen, um sie seinen eigenen Zwecken nutzbar zu machen. Aber zugleich mag es angebracht sein, daran zu erinnern, daß ebendies generell der Praxis Wittgensteins entsprach, wenn er auf andere von ihm geschätzte und verehrte Autoren zurückgriff, wie z. B. Frege, Russell, Weininger, Spengler und William James. Äußerstenfalls übernahm er eine Fragestellung von diesen Autoren, verwandelte sie in ein Problem, das ihn selbst anging, und transponierte es sogleich in einen für sein eigenes Vorgehen bezeichnenden Gedanken. Um einzusehen, daß die angedeutete Betrachtungsweise der Tagebücher und insbesondere der zitierten Stellen richtig ist, mögen die folgenden Überlegungen von Nutzen sein: Man kann getrost einräumen, daß sich Wittgenstein durch seine Schopenhauerlektüre dazu hat anregen lassen, die Ansicht zu vertreten, daß der menschliche Körper (einschließlich meines eigenen Körpers) auf der gleichen Ebene betrachtet werden muß wie sonstige Gegenstände: „Tiere, Pflanzen, Steine etc." Aber warum sagt er das eigentlich? Welches ist der Sinn dieser Behauptung?6 Richtig ist, daß die Behauptung, mein eigener Körper sei in jeder Hinsicht als gleichberechtigt mit allen übrigen Körpern zu betrachten, unvereinbar ist mit Schopenhauers Vorstellung, ich hätte in privilegierter Weise Zugang zur Erkenntnis des eigenen Körpers.7 Aber selbst wenn es zutrifft zu Eine Teilantwort auf diese Frage wird weiter unten angedeutet. Im Grunde behaupten die oben angeführten Wittgenstein-Zitate gar nicht, mein eigener Körper müsse in jeder Hinsicht als ein Gegenstand angesehen werden, der auf der gleichen Ebene stehe wie die Körper anderer Lebewesen und 6 7
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behaupten, daß Wittgenstein unter dem Einfluß seiner Schopenhauerlektüre eine These aufstellt, die der Theorie Schopenhauers zuwiderläuft, so besagt das weder in direkter noch in indirekter Weise, daß diese These dem Zweck dient, Schopenhauers Ansichten zu widerlegen oder „anzugreifen". Wahrscheinlich ist vielmehr, daß er mit seiner These auf etwas hinauswill, das von Schopenhauers Anliegen weit entfernt ist. Dabei sieht es so aus, als wäre es möglich, Hackers Deutung mancher Stellen aus den Tagebüchern wenigstens teilweise mit der Interpretation von McGuinness in Einklang zu bringen, wonach der nach Glück Strebende und vielleicht sogar Glück Erlangende hier unter anderem die Weigerung zum Ausdruck bringt, sich mit bestimmten Teilen der Welt zu identifizieren. Auf diese Möglichkeit werde ich unten zurückkommen. Doch zunächst werde ich einen anderen Punkt erörtern, an dem die von McGuinness und Hacker vertretenen Interpretationen einander zwar berühren, ohne jedoch auf vereinbaren Wegen fortzuschreiten. Der Punkt, an dem sich die beiden Interpretationen berühren, ist der Begriff des Ichs, doch die Art und Weise, in der die beiden Interpreten darüber reden, und der Inhalt ihrer Äußerungen gehen völlig auseinander. Während McGuinness den von Wittgenstein selbst benutzten Ausdruck verwendet und vom höheren oder „metaphysischen" Ich spricht, behauptet Hacker, der erste Passus betreffe die Gleichsetzung des philosophischen Ichs mit dem transzendentalen Subjekt. McGuinness wiederum macht geltend, es sei das metaphysische Ich, das sich als etwas mit der ganzen Welt Identisches empfinde und Träger des von Wittgenstein erörterten Glücks sei. An dieser Stelle mag man sich durchaus fragen, ob das denn wirklich zutreffen könne, denn intuitiv gesprochen, scheint das metaphysische Ich einfach nicht die richtige Art von Gegenstand zu sein, die man mit Glück oder Unglück in Verbindung bringen könnte. Man hat den Eindruck, daß es unzulässig ist, die Prädikate „glücklich" oder „unglücklich" auf etwas Metaphysisches anzuwenden. die unbelebten Dinge. Und angesichts der Tatsache, daß Schopenhauer sehr bemüht ist, darzulegen, daß mein Körper als Vorstellung auf genau derselben Ebene steht wie alle übrigen Gegenstände, bedürfte es einer völlig allgemeinen These von Seiten Wittgensteins, um behaupten zu dürfen, seine Auffassung stünde in unmittelbarem Widerspruch zur Theorie Schopenhauers. Doch hier geht es um ein Detail, dessen weitere Erörterung an dieser Stelle unterbleiben muß.
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Hacker wiederum macht sich offenbar einer Fehldeutung schuldig, wenn er schreibt, Wittgenstein sei in der Bemerkung (1) bestrebt, das philosophische Ich mit dem transzendentalen Subjekt gleichzusetzen. Was Wittgenstein tatsächlich sagt, ist, daß das philosophische Ich insofern ein metaphysisches Subjekt sei, als es die Grenze der Welt darstelle. Es ist zwar richtig, daß Wittgenstein „das Subjekt" eine Voraussetzung der Existenz der Welt nennt (2. 8. 1916 [II]) 8 , aber auch diese Behauptung rechtfertigt keineswegs die These, das von Wttgenstein gemeinte Subjekt sei in irgendeiner spezifischen Weise ein „transzendentales" Subjekt. Nicht gerechtfertigt ist diese These deshalb, weil Wittgenstein keinen transzendentalen Gebrauch macht von seiner Behauptung. Insoweit Hacker darauf hinauswill, daß Wittgenstein in einem an Kant oder Schopenhauer orientierten transzendentalen Rahmen denkt, gibt es einfach nicht genügend Belege für seine These. 9 Daher ist es kein Wunder, daß Hacker im Anschluß an seine Behauptung, den Äußerungen Wittgensteins über den Tod (TLP 6.431 ff.) könne nur unter Bezugnahme auf Schopenhauers Theorien über den Tod und das ewige Leben „ein begrenztes Maß an Verständlichkeit" zugebilligt werden (Hacker 1972, S. 72; 1986, S. 95), einräumen muß, daß die Tagebücher praktisch gar keine Angaben über das Wesen der Zeit enthalten, insbesondere keine Auskünfte über die Idealität der Zeit (Hacker 1972, S. 76, Anm. 2; 1986, S. 99, Anm.) - einen Begriff, der nach Hackers Anschauung unerläßlich ist, um Wittgensteins Äußerungen im Sinne des transzendentalen Idealismus zu interpretieren. Angesichts dieses völligen Mangels an Belegmaterial für seine These hätte Hacker eigentlich zu dem Schluß kommen müssen, er selbst ha8
Das Gefühl, daß das Subjekt eine Voraussetzung der Weltexistenz sei, dürfte eher in dem von G o m p e r z angedeuteten Sinne zu verstehen sein. Gomperz schildert dieses Gefühl nämlich als Bestandteil einer mystischen Erfahrung und schreibt, daß es für das sich steigernde Ich gar nichts außer der Welt gebe, wobei die Welt ihrerseits jedoch vom Ich abhängig bleibe: „Denn außer der Welt ist nichts. Die Welt aber ist von ihm [der das individuelle Ich überwunden hat] abhängig. Es kann also nichts geben, was außer ihm ist, was ihn bedrohen könnte, wovor er sich fürchten müßte, was ihn unruhig oder unsicher zu machen vermöchte; sondern in absoluter Ruhe, Sicherheit und Zuversicht wird er sich völlig befreit und erlöst fühlen" (a. a. O., S. 306). 9 Die hier dargelegte Anschauung, wonach Hacker die (im Sinne Kants) transzendentalen Elemente im Denken Wittgensteins übertreibt, wird von Rudolf Haller (1986) geteilt.
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be sich geirrt oder Wittgensteins Äußerungen besäßen nicht einmal jenes „begrenzte Maß an Verständlichkeit", das er ihnen zubilligen zu können geglaubt hatte.10 Fragen im Hinblick auf das Ich, das in Wittgensteins Augen als legitimer Träger des Glücks angesehen werden darf, lassen sich freilich kaum erörtern, ohne den gewaltigen Problemkreis zu berühren, der Wittgensteins Äußerungen über den Solipsismus umgibt. Diese ganze Problematik ist äußerst verwickelt und verwirrend, nicht zuletzt darum, weil sich die verschiedenen Interpreten nicht einmal bezüglich des Sinns der Schlüsselworte einig zu sein scheinen und nicht die Verpflichtung spüren, den Sinn dieser Worte zu klären. Eine interessante und zugleich beunruhigende Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, betrifft das Problem, ob Schopenhauer als mögliche Quelle für Wittgensteins Begriff des solipsistischen Ichs gelten kann. Hacker gehört zu denen, die Schopenhauers Ablehnung des „theoretischen Egoismus" im § 19 der Welt als Wille und Vorstellung als Verwerfung des Solipsismus überhaupt auffassen, während Weininger z.B., dessen Stimme aus einer ganzen Reihe von Bemerkungen der Tagebücher Wittgensteins deutlich herauszuhören ist, den Gedanken nahelegt, Schopenhauer selbst vertrete eine Art von Solipsismus.11 Ich für mein Teil möchte 10 Es ist erstaunlich, daß Hacker glaubt, zur Deutung der „rätselhaften" Behauptung, daß die Welt mit dem Tode endet, sei ein Rückgriff auf den transzendentalen Idealismus nötig. Diese Behauptung ist im Rahmen der von Hacker für irrelevant erklärten mystischen Tradition gang und gäbe. Wenn man von den ersten beiden Bemerkungen des Eintrags vom 1. August 1916 ausgeht („Wie sich alles verhält, ist Gott./ Gott ist, wie sich alles verhält."), ist es nur noch ein Schritt zu dem bekannten Distichon „Gott lebt nicht ohne mich" von Angelus Silesius: J c h weiß daß ohne mich G o t t nicht ein N u n kan leben/ Werd' ich zu nicht Er muß von N o t h den Geist auffgeben." (Cherubinischer Warutersmann, 1.8, hrsg. von L. Gnädinger, Stuttgart 1984, S. 28.) Daß Hacker darauf pocht, diese „dunklen und geheimnisvollen" Stellen des Tractatus und der Tagebücher bedürften einer Erklärung durch den transzendentalen Idealismus, muß auf seine Weigerung zurückzufuhren sein, die Berührungspunkte zwischen Wittgenstein und dem „traditionellen Mystizismus" auch nur in Betracht zu ziehen. 11 Vgl. Hacker 1972, S. 70; 1986, S. 94; Weininger 1918, S. 138: „Die Widerlegbarkeit des Solipsismus wäre mit der Ethik gar nicht verträglich, ebensowenig wie es die Möglichkeit wäre, die Existenz des eigenen Ich zu beweisen. [...] Die These des Solipsismus wird immer wieder zu widerlegen versucht, von den letzten zwanzig Jahren ist nicht eines vergangen, ohne mindestens einen Widerlegungsversuch desselben zu bringen. Man versteht offenbar das Pathos gar nicht, auf dem der Satz ruht: ,die Welt ist meine Vorstellung'." Vgl. ferner Bell 1992, zu Schopenhauer insbes. S. 36 und 46.
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vermuten, daß der Streit weitgehend ein Streit um Worte ist. Wahrscheinlich gibt es eine Bedeutung des Wortes „Solipsismus", in der es sich mit dem „theoretischen Egoismus" deckt, und dies ist wohl ebendie Bedeutung, in der der Solipsismus einigen kritischen Ausführungen des späten Wittgenstein als Zielscheibe dient. 12 Daneben dürfte es aber wenigstens eine, wahrscheinlich jedoch mehrere weitere Bedeutungen des Wortes geben, in der der Solipsismus sowohl als schopenhauerianischer Standpunkt gesehen werden kann wie auch als Vorstellung, die vereinbar ist mit den Andeutungen des Tractatns (5.62): „Was der Solipsismus nämlich meint, ist ganz richtig, nur läßt es sich nicht sagen, sondern es zeigt sich." Überraschender als das Faktum der Existenz derartiger Interpretationsunterschiede ist der Umstand, daß es offenbar wenigstens zwei grundverschiedene Möglichkeiten gibt, von einem schopenhauerianischen Ichbegriff zu einer Form von Solipsismus ä la Wittgenstein zu gelangen. Der erste und üblichere Weg führt von Schopenhauers erkennendem und wollendem Subjekt zu Wittgensteins metaphysischem Subjekt als einer Grenze der Welt. Der zweite und zweifellos weniger orthodoxe Weg führt von Schopenhauers noumenalem Willen zum Leben, der sich in jedem Einzelding manifestiert, zu dem als Grenzpunkt begriffenen Ich im Sinne Wittgensteins. Skizziert und in einen schopenhauerianischen Kontext eingeordnet wird dieser Begriff in einem Artikel von J. S. Clegg, der schreibt: „Das metaphysische Ich ist kein Bestandteil der Welt selbst, sondern steht im gleichen Verhältnis zu dieser wie das Auge zum Inhalt des Gesichtsfelds (5.633, 5.6331). In einer Bedeutung des Pronomens ,ich' ist jeder das Ich/Auge, das die Welt von einem ausdehnungslosen Punkt am Rande von Raum und Zeit her wahrnimmt (5.64)." (Clegg 1978, S. 39.) Demnach wird der solipsistische Standpunkt nicht dadurch erreicht, daß alles und jedes aus dem Ort des Ichs vertrieben wird, sondern dadurch, daß man zu der Einsicht gelangt, daß jeder in gewissem Sinne ich ist und daß ich in gewissem Sin12 Mehrere Interpreten haben den Versuch gemacht, Wittgensteins spätere Solipsismuskritik, insbesondere die betreffenden Stellen des Blue Book und der „Notes for Lectures on .Private Experience' and ,Sense Data'", zu benutzen, um den Sinn der frühen Bemerkungen Wittgensteins über den Solipsismus zu erhellen. Die Ergebnisse dieses Verfahrens haben mich nicht überzeugt, daß derartige Versuche viel zu unserem Verständnis der einschlägigen Bemerkungen der Tagebücher und des Tractatus beizutragen vermögen.
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ne jeder bin. In diese Richtung gehen vermutlich auch Wittgensteins Vorstellungen vom Subjekt, wenn er am 23. 5. 1915 von der Weltseele spricht und sagt: „Es gibt wirklich nur eine Weltseele, welche ich vorzüglich meine Seele nenne, und als welche allein ich das erfasse, was ich die Seelen anderer nenne." 13 Der Begriff der Weltseele, den Wittgenstein vielleicht durch Goethes gleichnamiges Gedicht kennengelernt hat, steht zur Zeit der Niederschrift der in den Tagebüchern veröffentlichten Bemerkungen offenbar in Zusammenhang mit seinen Reflexionen über den Solipsismus und das Ich. Interessant ist hier, nebenbei gesagt, daß Goethe in einem etwa dreißig Jahre nach Abfassung jenes Gedichts verfaßten Brief meint, das Gedicht schreibe „sich aus der Zeit her, wo ein reicher jugendlicher Mut sich noch mit dem Universum identifizierte, es auszufüllen, ja es in seinen Teilen wieder hervorzubringen glaubte". 14 Der Schlüsselbegriff „Identifikation" wird in Wittgensteins eben zitierter Äußerung über die Weltseele zwar nicht genannt, wohl aber gebraucht, und der ganze Themenkomplex kommt dann wieder zur Sprache, wenn es am 15. 10. 1916 um die Erörterung einer gewissen „Auffassung" geht. Hier behandelt Wittgenstein Fragen hinsichtlich der Möglichkeit, von meinem Körper Schlüsse zu ziehen auf meinen Geist sowie per analogiam auch auf den Geist anderer Lebewesen - Wittgenstein nennt die Schlange, den Löwen, den Elefanten, die Fliege und die Wespe. Dabei bedient er sich einer Sprache, die in manchem an das sich seiner selbst entäußernde und den Geist verströmende Subjekt des Goetheschen Gedichts erinnert, und in diesem Ton fragt Wittgenstein: „Warum habe ich der Schlange gerade diesen Geist gegeben?" Anschließend fährt er fort: IJ Der Begriff „Weltseele" wird von Schopenhauer im § 28 des zweiten Bandes der Welt als Wille und Vorstellung kritisch erörtert. Schopenhauers Abneigung gegen diesen Begriff dürfte zumindest teilweise daher rühren, daß dieses Wort zu den Lieblingsausdrücken Schellings gehört. Ein weiterer Autor, bei dem Wittgenstein diesen Ausdruck mit einiger Sicherheit vorgefunden hat, ist wiederum Weininger 1918, S. 139 („die Idee Gottes ist die Idee des Dinges an sich, sie ist aber auch die Idee einer Weltseele"). Daneben ist natürlich auch Goethes bekanntes Gedicht „Weltseele" zu nennen (vgl. Schulte 1994). - Soweit ich weiß, gibt es keine Belege dafür, daß Wittgenstein zu dieser Zeit mit der Stelle über die Weltseele in Piatons Timaios (34b) vertraut war. 14 Goethe an Zelter, 20. 5. 1826, zit. in der Anmerkung des Herausgebers zu dem Gedicht „Weltseele" in: Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, München, Bd. 1, hrsg. von E. Trunz, 14. Aufl., S. 647.
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„Es fragt sich aber, ob nicht eben auch hier wieder (und gewiß ist es so) mein Körper mit dem der Wespe und der Schlange auf einer Stufe steht, so daß ich weder von dem der Wespe auf meinen, noch von meinem auf den der Wespe geschlossen habe. Ist das die Lösung des Rätsels, warum die Menschen immer glaubten, ein Geist sei der ganzen Welt gemein? Und dann wäre er freilich auch den unbelebten Dingen gemeinsam." (15. 10. 16 [18-20]) Es mag zwar nicht unmittelbar einleuchten, was Wittgenstein mit der „Lösung des Rätsels" des herkömmlichen Glaubens an eine Art von Weltseele meint, doch der intendierte Gedankengang dürfte in etwa folgender sein: Wir sehen ein, daß wir weder uns selbst noch die anderen verstehen, wenn wir vom eigenen Fall auf den der anderen bzw. von den anderen auf uns selbst schließen. Alle Körper (einschließlich meines eigenen Körpers) stehen auf der gleichen Stufe, und es gibt keine Folgerungsbrücke, durch die sie miteinander verbunden wären. Dennoch ist es ein Faktum, daß ich andere Lebewesen zu verstehen vermag, und dieses Verstehen hat etwas Unmittelbares an sich, das mich durchaus auf den Gedanken bringen kann, in mir und in allen diesen anderen Lebewesen sei ein und dieselbe Seele oder derselbe Geist wirksam. Diese Seele erkenne sich selbst direkt, ohne Schlüsse ziehen zu können oder zu müssen, die die von ihr belebten Körper betreffen. Daher dient die Behauptung, alle Körper stünden auf der gleichen Stufe, der Formulierung der folgenden Einsicht: Einerseits besteht keine Möglichkeit, die Kluft zwischen verschiedenen Lebewesen durch Schlußfolgerungen zu überbrücken, doch andererseits gibt es etwas, was allen diesen Lebewesen gemeinsam ist und es ihnen gestattet, einander kennenzulernen und einander vielleicht zu verstehen oder sich doch zumindest eine Vorstellung voneinander zu machen. Ferner meint Wittgenstein, daß „dann" - also wohl dann, wenn der gesamten Welt ein einziger Geist gemeinsam ist dieser Geist „freilich" auch den unbelebten Dingen gemeinsam wäre. Welche Aufgabe diese Bemerkung im Rahmen des von Wittgenstein skizzierten Gesamtbildes erfüllen soll, wird nicht klar. Sie erinnert ein wenig an Schopenhauers These, sogar in der dem fallenden Stein innewohnenden Kraft könnten wir etwas von dem aus eigenem Erleben bekannten Willen ausma-
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chen15' und es sei möglich, nicht nur die Erscheinung der Menschen und der Tiere, sondern auch die Erscheinung der Pflanzen und der unbelebten Dinge als Äußerungen des noumenalen Willens zu erkennen.16 Bei Schopenhauer dienen diese Behauptungen systematischen Zwecken und betreffen unter anderem Fragen der Teleologie, während Wittgensteins Bemerkung über die Möglichkeit, auch bei unbelebten Dingen von einem Geist zu sprechen, etwas eher Beiläufiges zu haben scheint. Man darf auch nicht vergessen, daß Wittgenstein nicht behauptet, der Gedanke der Weltseele sei triftig oder sollte gerechtfertigt werden. Er sagt lediglich, daß man bei einer bestimmten Betrachtungsweise durchaus zu sehen vermag, welches die Grundlage einer derartigen Auffassung sein kann und daß bestimmte Schlüsse gezogen werden müssen, sofern man diese Auffassung wirklich vertritt.17 Die Betrachtung des Begriffs der Weltseele ist keineswegs müßig, sondern sie erhellt etwas, was Wittgenstein zum Ausdruck bringen will, und zwar etwas, was in engem Zusammenhang steht mit einem Aspekt, der in einem oben angeführten Zitat von Hacker betont wurde. Es gibt, wie wir gesehen haben, mehrere Bemerkungen Wittgensteins, in denen er behauptet, mein eigener Körper stünde auf der gleichen Stufe wie alle übrigen Körper, mein eigener Körper sei „ein Teil der Welt unter anderen Teilen der Welt". Indem ich den eigenen Körper in dieser Weise betrachte, distanziere ich mich gewissermaßen von diesem Körper, und ebendadurch gelingt es — in vielleicht ein wenig paradoxer Weise - , in engere Beziehung zur Welt zu treten. Indem ich vom eigenen Körper Abstand nehme, vermindere ich die Entfernung zwischen meinem Körper und allen übrigen Gegenständen und mache es damit möglich, sie alle als Entitäten ein und derselben Kategorie zu sehen. Ich komme zu der Erkenntnis, daß es eigentlich gar keine Schranke gibt zwischen allen diesen Gegenständen, einerlei, ob mir dabei der eigene Körper, der Körper meiner Katze oder mein Tisch vorDie Welt als Wille und Vorstellung, I, § 19. Ebd., § 28. Vgl. Wittgensteins Äußerungen über den Weltwillen: TB, 17. 10. 1916. 17 Diese Lesart kann allerdings nur für die relevanten Bemerkungen des dritten Tagebuchs gelten. Das Zitat vom 23. 5. 1915 dagegen ist weniger zurückhaltend, denn hier unterstellt Wittgenstein zumindest probeweise die Gültigkeit einer gewissen Vorstellung von der Weltseele. 15
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schwebt. Umgekehrt formuliert: W e n n ich eine Schranke überwinden muß, um mir die Katze oder den Tisch verständlich zu machen, dann werde ich dieselbe Schranke auch überwinden müssen, um den eigenen K ö r p e r und dessen Verhalten zu begreifen. Daneben gibt es ein weiteres Moment, das eine Rolle spielt, wenn ich vom eigenen K ö r p e r Abstand zu nehmen versuche, und dies ist der Punkt, an dem die Parallele mit der Vorstellung von der Weltseele sichtbar wird. W e n n ich mir den eigenen K ö r p e r verständlich machen will - das heißt, wenn ich verstehen möchte, was er tut, als was er erscheint und was er zum Ausdruck bringt - , muß ich ihn offenkundig als belebten K ö r per auffassen; und diese Betrachtungsweise kann mir nicht sonderlich schwerfallen, wenn man berücksichtigt, daß es sich schließlich um meinen eigenen K ö r p e r handelt. Doch da ich beschlossen habe, alle K ö r p e r - den eigenen Körper, den K ö r per des anderen, den Katzenkörper, den Holzkörper - als auf gleicher Stufe stehend zu behandeln, muß ich bei ihnen allen in mehr oder weniger gleicher Weise verfahren, um sie zu deuten. Und das heißt, daß ich einen Teil meiner selbst in sie eingehen lassen, daß ich mich in sie verlieren muß. 1 8 Meine Seele wird ih18 Schopenhauer schreibt: „Wenn man [...] die ganze Macht seines Geistes der Anschauung hingiebt, sich ganz in diese versenkt und das ganze Bewußtseyn ausfüllen läßt durch die ruhige Kontemplation des gerade gegenwärtigen natürlichen Gegenstandes, sei es eine Landschaft, ein Baum, ein Fels, ein Gebäude oder was auch immer; indem man nach einer sinnvollen Deutschen Redensart, sich gänzlich in diesen Gegenstand VERLIERT, d. h. eben sein Individuum, seinen Willen vergißt und nur noch als reines Subjekt, als klarer Spiegel des Objekts bestehend bleibt; so daß es ist, als ob der Gegenstand allein da wäre, ohne Jemanden, der ihn wahrnimmt, und man also nicht mehr den Anschauenden von der Anschauung trennen kann, sondern beide Eines geworden sind, indem das ganze Bewußtseyn von einem einzigen anschaulichen Bilde gänzlich gefüllt und eingenommen ist; also solchermaaßen das Objekt aus aller Relation zu etwas außer ihm, das Subjekt aus aller Relation zum Willen getreten ist: dann ist, was also erkannt wird, nicht mehr das einzelne Ding als solches; sondern es ist die IDEE, die ewige Form, die unmittelbare Objektität des Willens auf dieser Stufe: und eben dadurch ist zugleich der in dieser Anschauung Begriffene nicht mehr Individuum: denn das Individuum hat sich eben in solche Anschauung verloren: sondern es ist REINES, willenloses, schmerzloses, zeitloses SUBJEKT DER ERKENNTNIS." (Die Welt als Wille und Vorstellung, I, § 34, hrsg. L. Lütkehaus, Zürich 1988, S. 244f.) Dieses großartige Zitat erinnert gleich in mehrerer Hinsicht an einige Bemerkungen aus Wittgensteins Tagebüchern (vgl. z. B. 8. 10. 1916 [1, 2]). Dennoch möchte ich wiederholen, daß die Ähnlichkeiten nicht so sehr den theoretischen Inhalt und Rahmen betreffen, sondern eher die Formulierung,
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re Seele, und wenn ich sie anschaue, blicke ich gewissermaßen auf mich selbst: „Bedenke nur, daß der Geist der Schlange, des Löwen, dein Geist ist. Denn nur von dir her kennst du überhaupt den Geist." (TB, 15. 10. 1916) Das alles ist freilich überaus skizzenhaft, und es soll hier nicht der Eindruck erweckt werden, diese Gedanken seien ohne weiteres einleuchtend oder es seien überzeugende Gründe für ihre Akzeptierung genannt worden. Bisher habe ich mich darauf beschränkt, die Umrisse eines Bildes nachzuzeichnen, das sich an einigen Bemerkungen aus Wittgensteins Tagebüchern ablesen läßt. Dieses Bild hat überdies einen Aspekt, der unverzüglich erwähnt werden muß, ehe wir die Erörterung fortsetzen. Der gemeinte Aspekt ist der, daß Wittgensteins Ausführungen über die Zugehörigkeit des eigenen Körpers zur übrigen Welt und zur gleichen Stufe wie sonstige Dinge eine Art Ermahnung ist, also so etwas wie eine Aufforderung beinhaltet. Es ist ja nicht etwas Natürliches oder Unkompliziertes, sich vom eigenen Körper zu distanzieren und dabei so weit zu gehen, daß man ihn als auf der gleichen Stufe stehend begreifen kann wie den Körper des anderen, der Katze oder des Tisches. U m eine solche Abstandnahme zuwege zu bringen, bedarf es der Mühe, und sobald eine ausreichende Entfernung erreicht ist, kann die Identifizierung mit dem eigenen Körper und dessen Bewegungen zu ähnlichen Fragen führen wie die Identifikation mit irgend einem anderen Gegenstand der Welt oder auch mit der Welt als Ganzem. Das Thema Identifikation und die damit einhergehenden Probleme kommen im Kontext von Wittgensteins Ausfuhrungen über den Glücklichen zur Sprache. Um ein glückliches Leben zu führen, meint Wittgenstein, muß ich mit der Welt in Ubereinstimmung sein. Diese Aussage wird als eine Art von Definition des Glücks hingestellt. Wer sich in Übereinstimmung mit der Welt befindet, der lebt nach Wittgensteins These auch in Ubereinstimmung mit dem Willen Gottes, während derjenige, der nicht in Übereinstimmung lebt, unglücklich ist (8. 7. 1916 [17, 18, 20]). Das glückliche Leben ist harmonisch oder zumindest harmonischer als das unglückliche Leben (30. 7. 1916 [7, 6]). die Einstellung und die Bilder, vgl. Gomperz 1904, S. 310, zum Begriff „sich verlieren".
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Aber wer oder was ist das Ich, welches in Übereinstimmung oder Harmonie mit der Welt lebt bzw. dieser Ubereinstimmung entbehrt? An dieser Stelle können wir nicht einfach mit Ausdrücken wie „das Ich", „das Subjekt" oder „das Selbst" antworten, denn Wittgenstein selbst trifft in den Tagebüchern relevante Unterscheidungen, indem er je nachdem von dem empirischen Ich, 19 dem erkennenden (denkenden, vorstellenden) Ich bzw. dem wollenden Ich spricht. Wenn vom Ich, das mit der Welt in Einklang steht, die Rede ist, kann er nicht das empirische Ich meinen, denn dies ist das Ich, dem psychologische Eigenschaften zugeschrieben werden. Dieses Ich dürfte insofern ein Bestandteil der Welt sein, als es das Subjekt sinnvoller Sätze sein kann, doch weiter reicht es sozusagen nicht, jedenfalls nicht bis zur Grenze der Welt oder darüber hinaus. Ein weiterer Anwärter, der ausgeschlossen werden muß, ist das erkennende, denkende, vorstellende Ich, das sich als bloßer Aberglaube und Trug erweist: „Es ist wahr, daß das erkennende Subjekt nicht in der Welt ist, daß es kein erkennendes Subjekt gibt" (20. 10. 1916 [4]). Das denkende oder vorstellende Subjekt findet sich im Gegensatz zum empirischen Ich nicht in der Welt; es gibt keine sinnvollen Tatsachenaussagen über ein solches Subjekt. Doch die Annahme eines solchen Subjekts ist nicht einmal nötig, um einen eindeutigen Blickpunkt zu orten, von dem aus die Welt wahrgenommen und zum Gegenstand unserer Äußerungen gemacht werden kann. Um die Welt zu orientieren oder im Erkenntnisrahmen festzulegen, kann ich nichts weiter tun, als sie (die Welt) zu beschreiben. Die wahrgenommene Welt läßt sich nicht durch Sätze individuieren, die von einem angeblich außerhalb der Welt stehenden Wahrnehmungssubjekt handeln. Der Mittelpunkt der Welt - das, was die Welt individuiert ist das Ich als Träger des Ethischen. Nicht die Welt, sondern nur dieses Ich kann als gut oder böse bezeichnet werden. Dieses Ich ist das wollende Subjekt, von dem Wittgenstein sagt, es existiere tatsächlich (5. 8. 1916). 20 Am 4. November 1916 setzt er 19 Diesen Ausdruck benutzt Wittgenstein zwar nicht, doch er stellt das philosophische Subjekt der menschlichen Seele gegenüber, „von der die Psychologie handelt". Es dürfte kaum etwas daran auszusetzen sein, die menschliche Seele in diesem Sinne das „empirische Ich" zu nennen. 20 Am 19. 11. 1916 fragt sich Wittgenstein allerdings, ob es einen Grund gibt, ein wollendes Subjekt anzunehmen. Er überlegt, ob auch hier wieder (also wohl wie
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das Subjekt sogar ausschließlich mit dem wollenden Subjekt gleich [6]. Das wollende Subjekt wiederum ist das, was wir „den Willen" oder „meinen Willen" nennen; es findet sich nicht in der Welt, sondern es steht der Welt gegenüber. Soweit sich das erkennen läßt, gibt es keinen Unterschied zwischen dem wollenden und dem „philosophischen" oder dem „metaphysischen" Ich (2. 9. 1916 [7]; T L P 5.641), und mitunter spricht Wittgenstein hier einfach von „dem Subjekt" oder „dem Ich". Dieses Subjekt ist kein Teil der Welt, sondern „die Grenze" der Welt. Daher steht es der Welt in gewissem Sinne gegenüber, so daß Wittgenstein keine Entität zu postulieren braucht, die sich auf der anderen Seite der Grenze befinden und die Welt von daher konfrontieren soll, um Stellung zu ihr zu beziehen. Ist dieses Subjekt der Träger von Glück und Unglück? Die Antwort auf diese Frage muß wohl ja lauten. Alle Hinweise, die sich dem Text entnehmen lassen, deuten in diese Richtung. Der Glückliche steht der Welt gegenüber, er konfrontiert sie; also kann er selbst nicht ein Teil der Welt sein. Er steht in einem harmonischen Verhältnis zur Welt (8. 7. 1916 [17]); seine Welt ist verschieden von der des Unglücklichen, seine Welt ist eine glückliche Welt (29. 7. 1916 [1, 14]) - und auch dies zeigt, daß der Glückliche nicht mit zur Welt gehört. Darum sollte man hier eigentlich nicht von einem glücklichen „Menschen" sprechen, denn das würde ihn zu einem Lebewesen unter anderen stempeln und ihn damit natürlich zu einem Teil der Welt machen. Seine Betrachtungsweise der Welt ähnelt der des schöpferischen Künstlers, denn er sieht die Welt sub specie aeternitatis, und das bedeutet, daß er sie nicht in Raum und Zeit, sondern mit Raum und Zeit sieht (20. 10. [7] und 7. 10. 1916 [1-4]). Summa summarum, wenn man das bisher Gesagte zugrunde legt, muß Wittgenstein den Schluß ziehen, daß es das im Falle des denkenden, vorstellenden Ichs) die Antwort lauten müßte, daß meine Welt zur Individuation ausreicht. In den Tagebüchern bleibt diese Möglichkeit offen. Der Tractatus behauptet zwar, es gebe kein denkendes, vorstellendes Subjekt, doch einer Erwähnung des „wollenden Subjekts" geht er aus dem Wege. Der Wille spielt aber dennoch eine wichtige Rolle im Tractatus. Wenn Wittgenstein in 6.373 sagt, daß die Welt unabhängig von meinem Willen sei, darf man wohl behaupten, daß der Wille, von dem hier gesprochen wird, nichts anderes ist als das wollende Subjekt. Daher ist es wahrscheinlich berechtigt, zu behaupten, daß meine Welt nach Auffassung des Verfassers des Tractatus nicht ausreichend ist für die Individuation. Hierfür wäre wohl ein wollendes Subjekt vonnöten.
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wollende Subjekt - und daher wohl zugleich das metaphysische Subjekt - ist, das glücklich bzw. unglücklich sein kann. „Glück und Unglück können nicht zur Welt gehören" (2. 8. 1916 [10]). Hier stößt man auf eine ganze Reihe erheblicher Schwierigkeiten, und es dürfte fraglich bleiben, ob die Äußerungen Wittgensteins in den Tagebüchern und im Tractatus ausreichen, um alle diese Probleme auszuräumen. Ein gewisses Unbehagen wurde bereits eingangs zum Ausdruck gebracht mit dem Hinweis, daß Prädikate wie „glücklich" und „unglücklich" offenbar nicht für Eigenschaften stehen, die sich zu Recht von einem metaphysischen Gegenstand aussagen lassen. Dieses Unbehagen steigert sich womöglich noch, wenn man bedenkt, daß Wittgenstein mehrere recht konkrete Andeutungen macht hinsichtlich der Art und Weise, in der man ein glückliches Leben führen könnte. So schreibt er z. B.: „Das Leben der Erkenntnis ist das Leben, welches glücklich ist, der Not der Welt zum Trotz", und dem fügt er hinzu, nur das Leben sei „glücklich, welches auf die Annehmlichkeiten des Lebens verzichten kann" (13. 8. 1916 [5, 6]). W e ist es möglich, einen solchen Rat an ein metaphysisches Ich zu richten? Ein Ich, das die durch derartige Äußerungen formulierten Ratschläge annehmen und befolgen kann, hat doch offenbar nichts sonderlich Metaphysisches an sich. - Auf solche Fragen und Zweifel kann man vielleicht erwidern, das Wort „metaphysisch" werde nur benutzt, um anzudeuten, daß über das wollende Ich als Entität keine sinnvollen faktenbezogenen Sätze geäußert werden können. Auf jeden Fall wird es nützlich sein, die meisten Merkmale, die man mit philosophischen Verwendungsweisen des Wortes „metaphysisch"21 in Verbindung zu bringen gelernt hat, außer acht zu lassen, wenn es darum geht, Wittgensteins Denken zu begreifen und ein Gefühl zu entwickeln für die Belange, die ihm zur Zeit der Abfassung der in den Tagebüchern veröffentlichten Bemerkungen am Herzen lagen. Ein weiterer Grund, warum das Wort „metaphysisch" offenbar nicht gut gewählt ist, liegt in Wittgensteins These, daß es Die Bemerkung 30. 7. 1916 [8] scheint darauf hinzudeuten, daß Wittgenstein keinen Unterschied macht zwischen dem „Metaphysischen" und dem „Transzendenten". Aber selbst wenn es sich tatsächlich so verhalten sollte, trägt dieser Umstand nichts dazu bei, den richtigen Gebrauch des Wortes „metaphysisch" zu begreifen. 21
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dem Glücklichen gelinge, fortwährend in der Gegenwart und somit außerhalb der Dimension der Zeit zu leben. Diese These beinhaltet, daß der Unglückliche dagegen in der Zeit lebt, denn er hat Angst vor Dingen, die in der Zukunft geschehen können, und vielleicht macht er sich Hoffnungen auf bestimmte Ereignisse. Doch wenn es angemessen ist, hier von einem Leben in der Zeit zu sprechen, kann die Bezeichnung „metaphysisches Ich" in seinem Fall nicht beinhalten, daß er außerhalb der zeitlichen Dimension steht - und das wäre nun wirklich eine ungebräuchliche Verwendungsweise des Ausdrucks „metaphysisch". Diese Probleme werden sich letztlich vielleicht als weniger bedeutungsvoll und anstößig erweisen. Eine ernstzunehmende Schwierigkeit, deren Lösung nicht abzusehen ist, betrifft dagegen den zusammenfassenden Satz „Ich bin meine Welt". Versteht man diesen Satz buchstäblich im Sinne einer Identitätsaussage, durch die Ich und Welt gleichgesetzt werden, kann man verzweifeln an der Aufgabe, eine haltbare Interpretation der Bemerkungen ausfindig zu machen, die darauf hindeuten, das Ich dürfe nicht mit etwas in der Welt gleichgesetzt werden. Der einzige Ausweg aus dieser Schwierigkeit besteht eventuell darin, daß man mit großem Nachdruck den Umstand betont, Wittgenstein behaupte nicht, daß ich etwas in der Welt sei, sondern er poche darauf, daß ich meine Welt in ihrer Gesamtheit sei. Wenn ich mit meiner Welt als einem Ganzen identisch bin, kommt der Abstand zwischen mir und den verschiedenen Teilen der Welt in allen Fällen auf das gleiche hinaus, denn dann ist er gleich null — bzw. es erweist sich als sinnlos, von einem solchen Abstand zu reden - , und auf diesen Sachverhalt kann man sich berufen, um die „unerträgliche" Möglichkeit auszuschließen, daß „ein Teil der Welt mir näher [stünde] als ein anderer" (4. 11. 1916 [34]). Doch sofern dies die richtige Lesart der Aussage ist, daß ich meine Welt bin, dann gilt sie für den Unglücklichen ebensosehr wie für den Glücklichen. In dem Fall ist jedoch kaum noch einzusehen, wie sich die Auffassung vertreten ließe, daß der Glückliche - im Gegensatz zum Unglücklichen - mit der Welt übereinstimmt (vgl. Wittgensteins „Definition" des Glücks, 8. 7. 1916 [17]). Denn wenn es zwischen mir und meiner Welt (= der Welt [12. 8. 1916 (1); T L P 5.641]) keinen Abstand gibt, fragt es sich ganz unabhängig von meinem Glück oder Unglück, wie ein Mangel an Ubereinstimmung
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oder Harmonie zwischen mir und der Welt überhaupt möglich sein soll. An diesem Punkt, so scheint mir, kann kein Interpretationsversuch umhin, äußerst spekulativ zu werden und bestenfalls in Andeutungen zu reden. Wittgensteins These besagt, daß auch dann, wenn es zwischen den Fakten der Welt des Glücklichen und den Fakten der Welt des Unglücklichen praktisch keine Unterschiede gibt, ihre jeweiligen Welten dennoch völlig verschieden sind.22 Bringt man das bisher Gesagte in Anschlag, muß dieser Unterschied mit der Einstellung des wollenden Ichs zur Welt zusammenhängen, und das heißt: er muß zusammenhängen mit der Einstellung des Ichs zu dem mit ihm selbst identischen Mikrokosmos. Eine Möglichkeit, das zu formulieren, liefe auf die Feststellung hinaus, daß Glück bzw. Unglück in der Art und Weise bestehen, in der man sich mit der Welt und d. h. im Grunde mit sich selbst - identifiziert. Daß dieser Ansatz richtig ist, wird auch durch die zahlreichen mystischen und pantheistischen Elemente bestätigt, die sich in Wittgensteins Denken nachweisen lassen. Das Ich, dem es gelingt, sich mit der Welt als Ganzem zu identifizieren, kennt keine Vorurteile. Es hat weder Vorlieben für bestimmte Teile der Welt, noch lehnt es irgendwelche Elemente ab. Es ist nun wirklich zum Weltwillen geworden (vgl. 17. 10. 1916 [3]). Das Ich, dem das gelingt, hat das Problem des Lebens gelöst, was zugleich bedeutet, daß es für dieses Ich kein solches Problem mehr gibt (6. 7. 1916 [3]; TLP 6.521). Damit ist dem Ich der Sinn des Lebens klar geworden, aber es wird dann, wie Wittgenstein gegen Ende des Tractatus sagt, nicht angeben können, worin dieser Sinn bestand (7. 7. 1916 [1]; TLP 6.521).
22 Hier darf man wohl annehmen, daß der Vergleich nicht zwischen zwei verschiedenen Personen zur gleichen Zeit angestellt zu werden braucht, sondern womöglich etwa zwischen meinem unglücklichen gestrigen Ich und meinem glücklichen Ich von heute.
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Leibniz, G. W. 289 Malcolm, N. 134 McGuinness, B. F. 69, 307f. Mounce, H. N. 239 Niedermair, K. 249,251 Pears, D. F. 283 Peirce, C. S. 236 Peterson, D. 243 f. Potter, M. 79 Putnam, H. 87
Davidson, D. 65, 86 Descartes, R. 276f. Dummett, M. 65, 71, 74, 82f„ 90, 175
Quine, W. 64,86
Finch, H. 20 Fogelin, R.J. 15,174,210,218, 224, 227f., 237, 239 Frege, G. 18f., 44, 65, 74f., 81, 92, 101, 147, 161,278
Ramsey, F. P. 103, 127, 268 Rheinwald, R. 151 Richter, V. 251 Russell, B. 17, 40f., 71,77, 91, 121, 142, 147f., 175, 235, 243, 282
Geach, P. 210, 218, 224, 227£, 239
Schopenhauer, A. 282, 310 Scott, P. 151 Siitonen, A. 239 Skyrms, B. 142, 165 Soames, S. 210, 218, 224, 227f., 239 Spencer-Brown, G. 246 Stenius, E. 19, 97, 141 Sundholm, G. 239f.
Hacker, P. M. S. 134, 310f. Hacking, I. 155 Hatcher, W. 151 Hintikka.J. 251 James, W. 285 Kant, I. 53f. Kenny, A. 20,135 Ladd Franklin, C. 281f. Lambek, J. 151
Vickers, S. 170 Weiner, J. 74 Winch, P. 127 Wright, G. H. von 79f., 166
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Sachregister Abbildende Beziehung 111 ff., 118 Abbildung 44 Allgemeine Satzform 179, 203ff., 235, 251 Alltagssprache 272 Analyse, logische 129,152 Antinomie, Russellsche 147f. Bedeutung 20 Begriff, formaler 184f. Bildtheorie 19, 155 Content 71 f. Context principle
Definition 12f., 30f. Deutung 112, 120f.
Form des Zeigens 52f. Form, logische 186ff. Formalism 67 Formenreihe 27, 203f. fundamental thought 109 Grenze der Welt 313,322 Grundgedanke 231
Kausalsätze 196f. Kennzeichnungstheorie 152 Konstante, logische 160
Lambda-Notation 217,226 logical form 106 logical picture 106 logical space 95 Logik 22
N-Anwendung 216,218 N-Funktion 235f., 239 N-Operator 30, 205f„ 212ff. Nicht-Reflexivität 44, 60 Objektivität 277 Ontology 69 Operation 232ff„ 240f.
Egoismus, theoretischer 315 Elementarsatz 23, 128ff., 225 Erfahrung 298 Existenzquantifikation 212
Ich 293f., 296 Ich, metaphysisches 312 Ich, philosophisches 312 Intention 128, 132f. Intentionalität 113 Interne Beziehung 197ff„ 201
318
Meaning 99 Meinen 132 Modallogik 166 Möglichkeit 2 If.
64f„ 75, 78, 79ff.
Handlung 248f. Hauptproblem der Philosophie
Körpereigener
35f.
Paradoxie, Grellingsche 147 Peirce-Pfeil 29f„ 205f., 212, 214 picture theory 89f. place in logical space 93f. Possibility 94, 103 possible worlds 95f. Privatsprachenargument 297 Projektion 123 Projektionsmethode 127f. Projektionsregeln 124 Projektive Beziehung 122f., 181, 186ff. Proposition 89f„ 105 Propositionale Einstellungen 257f.
194f.,
Quantorenvertauschung 217 ff. Raum, logischer 141f., 163f. Raum, topologischer 174f. Realismus 288 Reduzibilitätsaxiom 151 reference 70, 77ff.
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SACHREGISTER Reflexionsverbot 152 Reflexivität 40f.,42 Regel 124, 137f.,250f. Sachverhalt 21 f. Sagen 35, 40, 42, 58ff. Satz 26, 194, 231f. Satzanalyse, funktionale 180fE, 182 Satz-Kandidat 194,263 Satzliste 211ff., 221f. Satzvariable 211,215 Satzzeichen 181f. Scheinaussagen 38f. Scheinsatz 259, 265 Seele 317f. Sense 70f., 75f. Sign 76,77 Sinn 17f., 20, 23f. Sinn-Äquivalenz 260 Solipsismus 280f., 314f. Sprache 237f. Sprachkritik 60f. Struktur 24 Subjekt, transzendentales 313 Subjektivität 276ff. Substanz 237f. Substitution 12f., 15
Symbol 76, 182,187 Symbolismus 41 Tatsache 288 Thought 97f. Typentheorie 37, 40, 149f. Urteilstheorie 269 Urzeichen 29 Variable 27, 184, 210f„ 234 Verstehen 124 Wahrheitsfunktion 17, 26, 161, 191fif., 203, 242f. Wahrheitsoperationen 200ff. Wahrheitstafel 191f. Wahrscheinlichkeit 200 Welt 15, 22, 32, 237f. Welt, meine 280 Welt, zu-, abnehmen der 305f. Weltseele 316 Willen 315 Wirklichkeit 15,23 Zeigen 35, 40, 42,45ff. Zuordnungen 119, 125
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Hinweise zu den Autoren Erich Ammereller, geb. 1960, promovierte 1995 in Oxford in Philosophie. 1996-1998 arbeitete er in dem DFG-Forschungsprojekt „Rationale Motivation"; derzeit ist er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Department für Philosophie der Universität München tätig. Die Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Ethik, der Handlungs- und Motivationstheorie, Theorien der praktischen Rationalität und in der Philosophie Wittgensteins. Veröffentlichungen: Wittgensteins Philosophische Untersuchungen (im Druck); Wittgenstein on Intentionality, in: H. Glock (ed.), Wittgenstein: A Critical Reader (2000); Die Autorität der ersten Person. Wittgensteins grundlegende Einsicht, in: Philosophisches Jahrbuch 1999. David Bell studierte Philosophie in Dublin und Kanada, wo er seinen PhD erhielt. Nach einem Postgraduiertenaufenthalt in Kanada, sowie Studienaufenthalten in Dublin und Göttingen wurde er an der Universität Sheffield am Department für Philosophie tätig, wo er immer noch ist; daneben hatte er mehrere Gastprofessuren, unter anderem in München, und war 1995-1996 Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind Philosophie der Logik und Mathematik, Sprachphilosophie, Philosophie des Geistes und die Metaphysik der Erfahrung. Buchveröffentlichungen: Husserl (1990); Frege's Theory of Judgement (1979); Wissenschaft und Subjektivität: Der Wiener Kreis und die Philosophie des 20. Jahrhunderts (hrsg. mit W. Vossenkuhl, 1993). Daneben zahlreiche Aufsatzpublikationen in Fachzeitschriften. Der Aufsatz Solipsismus, Subjektivität und öffentliche Welt aus dem vorliegenden Band erschien bereits in: W. Vossenkuhl (Hrsg.), Von Wittgenstein lernen, Berlin 1992. Michael Fetter studierte Philosophie an der Universität München, wo er auch mit einer Arbeit über die Philosophie Wittgensteins promovierte. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Philosophie des Deutschen Idealismus und der Philosophie Wittgensteins. Verena Mayer, geb. 1956, promovierte 1989 in München in den Fächern Philosophie, theoretische Linguistik und deutsche Literatur; 1998 erfolgte ebenfalls in München die Habilitation. Sie arbeitete als wissenschaftliche Assistentin an der Universität München, wo sie derzeit als Projektleiterin des Projekts „Tugend im Kulturvergleich" tätig ist. Die Forschungsschwerpunkte liegen in der Erkenntnistheorie, der Sprachphilosophie und der Ethik. Buchveröffentlichungen: Gottlob Frege (1996); Semantischer Holismus. Eine Einführung (1997). Der in dem vorliegenden Buch abgedruckte Aufsatz Der Tractatus als System erschien bereits in der Zeitschrift Acta Anafytica, Vol. 10, 1993. Ulrich Metsehl, geb. 1959, studierte Philosophie, Theoretische Linguistik und Politikwissenschaft an der Universität München. Die Promotion erfolgte 1987; 1986-1993 war er als Assistent an der Universität Bayreuth tätig, 1993-1998 als Assistent an der Universität München; dort habilitierte er sich
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HINWEISE ZU DEN AUTOREN auch 1994. Lehrtätigkeiten an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen und der University of Minnesota (USA). Seit 1998 lehrt er an der Technischen Universität München Philosophie und Ethik der Technik, sowie Wissenschaftstheorie. Buchveröffentlichimg: Uber einige verwandte Möglichkeiten der Behandlung des Wahrheitsbegriffs (1989). Joachim Schulte, geb. 1946, promovierte 1977 in Oxford in Philosophie. Er war Mitarbeiter am Wittgenstein Archiv in Tübingen und Gastprofessor in Bologna und Graz. Derzeit lehrt er an der Universität Bielefeld. Buchveröffentlichungen: Erlebnis und Ausdruck (1987); Wittgenstein (1989); Chor und Gesetz (1990). Stephan Sellmaier, geb. 1964 , studierte Logik und Wissenschaftstheorie, Philosophie und Tibetologie und promovierte 1998 an der Universität München in Philosophie. Derzeit ist er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Department für Philosophie der Universität München am Lehrstuhl I tätig. Seine Forschungsschwerpunkte sind Moraltheorie und praktische Rationalität, sowie die frühe Philosophie Wittgensteins. Peter M. Sullivan erhielt seinen PhD 1989 in Oxford, wo er bei M. Dummett und D. Bostock studierte. Seit 1993 lehrt er an der Universität von Sterling. Seine Forschungsschwerpunkte sind die frühe Philosophie Wittgensteins, die Philosophie Freges und Ramseys Philosophie der Mathematik. Veröffentlichungen: Neben zahlreichen anderen Aufsätzen veröffendichte er: The sense o f ' a name of a truth-value' (Philosophical Quarterly 44, 1994); Problems for a Construction of Meaning and Intention (Mind 103, 1994); T h e Totality of Facts (Proceedings of the Aristotelian Society, 2000). Andrej Ule, geb. 1946, promovierte 1981 in Philosophie in Ljubljana, dort habilitierte er sich auch. Er arbeitete an der Universität von Ljubljana an der Philosophischen Fakultät als Dozent und ausgeordneter Professor; derzeit ist er dort ordentlicher Professor für Analytische Philosophie und Wissenschaftstheorie mit den Forschungsschwerpunkten Logik, Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, die Philosophie Wittgensteins und komparative Philosophie. Buchveröffentlichungen: Grundlegende philosophische Fragen der modernen Logik (1981); Von der Philosophie zur Wissenschaft und zurück (1984); Die Philosophie Wittgensteins (1991); Gegenwärtige Wissenschaftstheorien (1994); Wissen, Wissenschaft und Wirklichkeit (1996); Wissenschaft und Realismus (1996); Operationen und Regeln bei Wittgenstein. Vom logischen Raum zum Regelraum (1997); Kleines Lexikon der Logik (1998). Matthias Varga van Kibed, geb. 1950, promovierte 1976 in München in den Fächern Logik und Wissenschaftstheorie, Mathematik und Philosophie; Habilitation 1987 in München. Er hatte Stellungen als wissenschaftlicher Assistent, akademischer Rat und Oberrat, Oberassistent und als Professurund Lehrstuhlvertreter an der Universität München inne; darüber hinaus war er als Gastprofessor an den Universitäten Wien, Ljubljana, Graz, Konstanz, Maribor, Tübingen und am Interuniversitätszentrum Klagenfurt/Wien/Linz /Graz tätig, sowie als Gastforscher an der Universität Göttingen; derzeit
HINWEISE ZU DEN AUTOREN
arbeitet er als Apl. Professor für Logik und Wissenschaftstheorie an der Universität München und als Lehrbeauftragter am Institut für medizinische Psychologie der Universität München. Forschungsschwerpunkte sind Paradoxientheorie, Nichtstandardlogiken, Semiotik, die Philosophie Wittgensteins, Spencer Browns und Peirces, Grundlagen des systematischen Denkens und der systematischen Therapie und Beratung. Buchveröffentlichungen: Strukturtypen der Logik (1984, zusammen mit W. Stegmüller); Ganz im Gegenteil. Tetralemmaarbeit und andere Grundformen systematischer Strukturaufstellungen (2000, zusammen mit I. Sparrer). Der im vorliegenden Buch veröffendichte Aufsatz Variablen im Tractatus wurde bereits 1993 in der Zeitschrift Erkenntnis, Band 39, veröffentlicht. Wilhelm Vossenkuhl, geb. 1945, studierte Philosophie, Neuere Geschichte und Politikwissenschaft an der Universität München, wo er im Jahre 1972 promovierte. 1977-1986 war er Assistent am Institut für Philosophie der Universität München; 1980 erfolgte die Habilitation. 1986-1993 hatte er den Lehrstuhl für Philosophie der Universität Bayreuth inne, seit 1993 den Lehrstuhl I für Philosophie an der Universität München. Seit 1999 ist er Prorektor der Universität München. Zu den Forschungsschwerpunkten gehören die Philosophie W. von Ockhams, Kants, Wittgensteins, die Erkenntnistheorie, Sprachphilosophie, Ethik und Sozialphilosophie. Buchveröffentlichungen: Neben zahlreichen Aufsätzen erschienen unter anderem: Bedingungen der Möglichkeit. Transcendental Arguments und transzendentales Denken (1984, hrsg. mit E. Schaper); Reading Kant. New Perspectives on Transcendental Arguments and Critical Philosophy (1989, hrsg. mit E. Schaper); Von Wittgenstein lernen (Hrsg., 1992); Ludwig Wittgenstein (1995).
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