Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen [2., bearb. Aufl.] 9783050056913, 9783050051475

Wittgensteins "Philosophische Untersuchungen" sind mit ihrem philosophiekritischen Feuer, ihrer aphoristischen

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German Pages 224 Year 2011

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Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen [2., bearb. Aufl.]
 9783050056913, 9783050051475

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L W

Philosophische Untersuchungen

Klassiker Auslegen Auslegen Klassiker Herausgegeben von von Herausgegeben Otfried Höffe Höffe Otfried Band 13 36 Band

Otfried Höffe ist o. Professor für Philosophie Otfried Höffe ist o.Tübingen Professor für Philosophie an der Universität an der Universität Tübingen.

Karl Marx / Friedrich Engels Ludwig Wittgenstein

Die deutsche Philosophische Ideologie Untersuchungen Herausgegeben von Herausgegeben von Harald Bluhm Eike von Savigny

2., bearbeitete Auf lage

Akademie Akademie Verlag Verlag

Abbildung auf dem Einband: Ludwig Wittgenstein in Swansea, Foto von Ben Richards. © Wittgenstein Archive, Cambridge 1998. Redaktionelle Bearbeitung der 2. Auf lage: Almut Kristine von Wedelstaedt, Bielefeld.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-05-005147-5 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2011 Ein Wissenschaftsverlag der Oldenbourg Gruppe www.akademie-verlag.de Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Gesamtgestaltung: K. Groß, J. Metze, Chamäleon Design Agentur Berlin Satz: Frank Hermenau, Kassel Druck: MB Medienhaus Berlin Printed in the Federal Republic of Germany

V

Inhalt

Primärschriften- und Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

VII

1. Einleitung Eike von Savigny . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

2. Sprachspiele und Lebensformen: Woher kommt die Bedeutung? Eike von Savigny . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

3. Der Begriff der Familienähnlichkeit in Wittgensteins Spätphilosophie Hjalmar Wennerberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

4. Wittgensteins Philosophieren über das Philosophieren: Die Paragraphen 89 bis 133 … Richard Raatzsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

5. Wie Sprecher Ausdrücke meinen Eike von Savigny . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75

6. Regelfolgen Klaus Puhl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

7. Wittgensteins Privatsprachenargumentation Stewart Candlish . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 8. Denkwürdigkeiten. Mr. Ballard und der Impressionist Joachim Schulte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 9. Vorstellungen von Vorstellungen Oliver R. Scholz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 10. Wittgensteins letzter Wille. „Philosophische Untersuchungen“ 611–628 Hans-Johann Glock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

VI

I

11. Blick auf die Seele Noel Fleming . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Auswahlbibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Hinweise zu den Autoren

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215

VII

Primärschriften- und Siglenverzeichnis Nicht gedruckte Manuskripte und Typoskripte aus Wittgensteins Nachlaß werden allgemein nach der Zählung von G. H. von Wright bezeichnet („Wittgensteins Nachlaß“, in: ders., Wittgenstein, Frankfurt a. M. 1990, 45-76). Sie sind zugänglich in der unter dem Namen „Bergen Electronic Edition“ bekannten CD-ROM-Ausgabe: Wittgenstein’s Nachlass, Completed Edition on CD-ROM (5 CD-ROMs), Oxford U. P. 2000. In den Beiträgen des vorliegenden Bandes werden im Allgemeinen nur gedruckte Texte zitiert, und zwar bis auf den ersten und den letzten in der Liste der weiteren Texte mit Hilfe der angegebenen Kürzel. Wenn direkt aus Manuskripten oder Typoskripten zitiert wird, geschieht dies mit den Kürzeln MS bzw. TS und unter Angabe der Seitenzahlen des jeweiligen Originals. Für den nicht ganz übersichtlichen, im vorliegenden Band tatsächlich genutzten Ausschnitt aus dem Angebot gedruckter Texte der „Philosophischen Untersuchungen“ vergleiche man den letzten Absatz der Einleitung.

0.1 Haupttext PU Philosophische Untersuchungen, vor Publikation von KG (s. u.) gewöhnlich als „PU I“ bezeichnet; „PU II“ bezeichnete den Text des verschollenen TS 234, dessen handschriftliche (Diktat-)Vorlage, MS 144, in KG gedruckt vorliegt. Weitere Drucke, die im vorliegenden Band für den Textbezug benutzt werden, sind BS und WA. BS Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M. 2003 (Text von KG in der Bibliothek Suhrkamp) KG Philosophische Untersuchungen, Kritisch-genetische Edition, hrsg. von Joachim Schulte in Zusammenarbeit mit Heikki Nyman, Eike von Savigny und Georg Henrik von Wright, Frankfurt a. M. 2001 WA Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt a. M. 1984

0.2 Weitere Bezugstexte der Beiträge in diesem Bande Aufzeichnungen für Vorlesungen über „privates Erlebnis“ und „Sinnesdaten“, in: J. Schulte Hg., Wittgenstein: Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, Frankfurt a. M. 1989, 47-100 BlB

Das Blaue Buch, übers. von P. v. Morstein, in: Werkausgabe Bd. 5, Frankfurt a. M. 1984; Orig. The Blue Book, in: The Blue and Brown Books, Oxford 1958, 1972 BrB The Brown Book, in: The Blue and Brown Books, Oxford 1958, 1972; erster Teil von Wittgenstein übersetzt und umgearbeitet (= EPhilB), anschließender Teil übersetzt von P. v. Morstein als „Das Braune Buch“, in: Werkausgabe Bd. 5, Frankfurt a. M. 1984 BPP Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie, Bd. I und II, in: Werkausgabe Bd. 7, Frankfurt a. M. 1984 EPhilB Eine Philosophische Betrachtung, in: Werkausgabe Bd. 5, Frankfurt a. M. 1984 (von Wittgenstein übersetzter und umgearbeiteter erster Teil des BrB)

VIII LFW LPE LPP LS LW NFL PG TLP TB Zettel

P-  S A Lecture on Freedom of the Will, from the notes of Y. Smithies, in: J. C. Klagge, A. Nordmann eds., Philosophical Occasions, Indianapolis 1993 Lectures on „Private Experience“ and „Sense Data“, in: J. C. Klagge, A. Nordmann eds., Philosophical Occasions, Indianapolis 1993 Wittgenstein’s Lectures on Philosophical Psychology 1946-47, Notes by P. T. Geach, K. J. Shah, A. C. Jackson, ed. by P. T. Geach, Sussex 1988 Letzte Schriften über die Philosophie der Psychologie; Bd. I in: Werkausgabe Bd. 7, Frankfurt a. M. 1984; Bd. II, Das Innere und das Äußere, Frankfurt a. M. 1993 Last Writings on the Philosophy of Psychology, Oxford Bd. I 1982, Bd. II „The Inner and The Outer“ 1992 Wittgenstein’s Notes for Lectures on „Private Experience“ and „Sense Data“, ed. by R. Rhees, Philosophical Review 77, 1968, 275-320 Philosophische Grammatik, in: Werkausgabe Bd. 4, Frankfurt a. M. 1984 Tractatus Logico-Philosophicus, in: Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt a. M. 1984 Tagebücher 1914–1916, in: Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt a. M. 1984 in: Werkausgabe Bd. 8, Frankfurt a. M. 1984

1 Eike von Savigny

Einleitung

Ludwig Wittgenstein hat nur zwei philosophische Schriften selbst zum Druck gegeben: die gewöhnlich nach dem Titel der zweiten Ausgabe als „Tractatus Logico-Philosophicus“ zitierte „Logisch-Philosophische Abhandlung“ und den kleinen Aufsatz „Some Remarks on Logical Form“. Was sonst als seine „Werke“ veröffentlicht ist, sind mehr oder weniger gut isolierbare Stücke aus dem Nachlaß. Meistens handelt es sich um Typoskripte, teils mit einem von Wittgenstein selbst gewählten Titel, wie die „Philosophischen Bemerkungen“, teils betitelt von den Herausgebern, wie die „Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik“. Aber auch Manuskripte mit ersten Notizen ohne Spuren von Überarbeitung sind gedruckt worden; die bekanntesten sind „Über Gewißheit“ und die „Letzten Schriften über die Philosophie der Psychologie“. Diese Veröffentlichungspraxis ist von der Überzeugung der Herausgeber getragen, Wittgensteins manifeste Scheu, eigene Schriften (aus der Zeit nach dem „Tractatus“) für druckreif zu halten, dürfe nicht daran hindern, die philosophische Substanz seiner Überlegungen in das Nachdenken über Fragen einzubringen, die nicht nur ihn beschäftigt haben. Tatsächlich gibt es gute Gründe für die Einschätzung, die Nach-„Tractatus“-Philosophie stelle den bedeutenderen Beitrag Wittgensteins zum philosophischen Denken des 20. Jahrhunderts dar. Diese Gründe sind nur zum geringeren Teil darin zu sehen, daß die späteren Gedanken im ausdrücklichen Gegensatz zu den früheren entwickelt wurden, diese also wenigstens für den Autor überholt haben. Wichtiger ist, daß vielen Lesern die Wende weg von den unerbittlichen logischen Betrachtungen des „Tractatus“ mit ihrem umfassenden Erklärungsanspruch hin zu der lebensoffenen Beobachtungsfreude der späteren Schriften mit ihrem bescheidenen Ziel einer übersichtlichen Darstellung auch inhaltlich einleuchten will. Es ist deshalb angemessen, im Nachlaß nach Zeugnissen zu suchen, die noch am ehesten als veröffentlichungsreif angesehen werden können. Wittgensteins Arbeitsweise macht das nicht leicht.



E  S

Ab 1929 trug er Bemerkungen in Notizbücher ein, arbeitete dort an ihnen, wählte sie mit Änderungen für die Übertragung in weitere Notizbücher aus, mischte sie am neuen Ort mit neuen Bemerkungen, schlachtete mehrere Notizbücher in dieser Weise für ein neues aus, und so fort. Zwischendurch stellte er (durch Diktat) Typoskripte her, mit denen er ähnlich verfuhr, dabei auch maschinenschriftliche Textstücke handschriftlich weiter verwertend oder mit Schere und Leim neue Anordnungen erprobend. Aus diesen Textstadien Typoskripte als „Schriften“ auszuwählen ist jeweils eine substantielle Entscheidung. Im November 1936 begann in Wittgensteins Hütte in Skjolden am Sognefjord in Norwegen allerdings etwas Neues. Nachdem er den Versuch, das „Brown Book“ in deutscher Sprache umzuarbeiten, aufgegeben hatte, überschrieb er ein neues Manuskript mit dem Titel „Philosophische Untersuchungen“,1 und die Verwertung des fertigen Manuskripts läßt sich als Weiterarbeit an ein und derselben Schrift verstehen: Die Bemerkungen wurden über vier Umarbeitungsschritte hinweg jeweils en bloc übernommen (was Umstellungen, Abänderungen und einzelne Weglassungen nicht ausschloß); sie wurden in jedem Schritt vermehrt; ein thematisch geschlossener Block, der im ersten Umarbeitungsschritt dazugekommen war, wurde im zweiten Schritt wieder abgetrennt (als sei er auf Probe hinzugenommen worden; dieses TS 221 ist in der überarbeiteten Fassung von TS 222 als Teil I der „Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik“ veröffentlicht); und Wittgenstein behielt den Titel bei. Erstmals in der zweiten Fassung findet sich vor dem Haupttext darüber hinaus ein Vorwort (TS 225), mit dem der Verfasser zum Ausdruck bringt, daß die Schrift sich an Leser richtet.2 Die „Philosophischen Untersuchungen“, die bis auf marginale Änderungen 1946 abgeschlossen waren und von Wittgenstein offenbar für den Druck durchredigiert worden sind,3 haben damit als einzige unter den nachgelassenen Schriften den ausgeprägten Charakter eines Werks.

1 MS 142 der Zählung in G. H. v. Wright 1990 b. Es war dort noch als verschollen gemeldet, ist aber wiedergefunden. 2 Diese Skizze stützt sich auf G. H. v. Wright 1990 a und c sowie auf Joachim Schultes Darstellung in seiner „Kritisch-genetischen Edition“, 14 – 33 (KG, vgl. das Siglenverzeichnis). Die vier Fassungen nach MS 142 von 1936 sind TS 220/221 (1937/38) mit TS 225, TS 239 (spätestens 1943), die auf der Basis von TS 239 und TS 241 (1944) rekonstruierte „Mittelversion“ von 1945 und schließlich TS 227 von 1945/46, die Druckvorlage. Um die Sache zu komplizieren: Von TS 227 gab es drei Exemplare (mehr sind nicht bekannt). Die Druckvorlage heißt TS 227; sie ist verschollen. Die beiden noch greifbaren Exemplare sind Durchschläge; sie heißen TS 227a und TS 227b. Sie sind in verschiedenen Handschriften durchkorrigiert. Für das Nähere vgl. Schulte in KG, 26 f. und für die Einzelheiten 741 – 989. 3 Vgl. G. H. v. Wright 1995, 12 f., 20–23, und D. Stern 1996, 301 f.

E



Nach der Veröffentlichung 19534 (zusammen mit der englischen Übersetzung von G. E. M. Anscombe) sind die „Philosophischen Untersuchungen“ zuerst einer angelsächsischen Leserschaft bekannt geworden. Sie war durch Wittgensteins Lehrtätigkeit in Cambridge und durch die informelle Verbreitung seiner Gedanken darauf vorbereitet, und es hat in den fünfziger Jahren eine starke Resonanz gegeben. (Im deutschen Sprachraum begann die Rezeption in den frühen sechziger Jahren.) Wittgenstein wurde jedenfalls kurzfristig Mode; soweit sachliche Gründe dafür verantwortlich sind, wird man auf die drei Elemente verweisen, die das Werk zu seiner Zeit und für die Philosophie im 20. Jahrhundert wichtig gemacht haben: das Bild von der Sprache, das Bild von der Seele und das Bild vom Philosophieren. Das sind auch die drei Elemente, auf welche die Beiträge im vorliegenden Kommentar eingehen. Da die „Philosophischen Untersuchungen“ über die Numerierung der Abschnitte hinaus keine autorisierte Gliederung besitzen und die annähernde Übereinstimmung der bisher veröffentlichten Gliederungsbemühungen nach Abschnitt 363 schwindet, war die Wahl der Themen nicht vorgegeben. Und da Wittgenstein im Vorwort darüber hinaus in Anspruch nimmt, das Buch lasse sich auf Grund „der Natur der Untersuchung“ gar nicht in konventioneller Weise gliedern, mag man sogar meinen, ein kooperativer Versuch, diesen Klassiker auszulegen, dürfe gar nicht an etwas orientiert sein, was man als zentrale Themen ansehen und bestimmten Abschnittsfolgen mehr schlecht als recht zuordnen könne. (Diese einigermaßen diffuse Zuordnung bestimmt die Reihenfolge der Beiträge.) Solche Fragen der Interpretationsmethodik mögen hier offen bleiben; denn das allemal nützliche Unternehmen, viele von den Fragen zu berücksichtigen, die in der philosophischen Diskussion des Buchs eine große Rolle spielen; Themen so auszuwählen, daß möglichst viele nicht behandelte Themen exemplarisch mitvertreten werden; durch Konzentration auf wenige Themen einen tieferen Einstieg in die Sache zu erreichen; verschiedene Stimmen zu Worte kommen zu lassen; und schließlich verschiedene methodische und inhaltliche Ansätze der Interpretation auszuprobieren – dieses allemal nützliche Unternehmen ist in der Praxis ohnehin nicht anders anzugehen. Ich bin meinen Mitverfassern dafür dankbar, daß sie sich auf die aus solchen Bedürfnissen unvermeidbar folgenden Einschränkungen eingelassen haben. Keine Einschränkung, sondern eine ausdrückliche Ermutigung bedeutete der entschiedene Wunsch des Herausgebers der Reihe, möglichst viele aktive deutschsprachige Forscher 4 Oxford, Blackwell. Die Herausgeber, G. E. M. Anscombe und R. Rhees, haben sich damals eine Freiheit erlaubt, die von Kennern, gelinde gesagt, als fragwürdig angesehen wird (vgl. G. H. v. Wright 1995, 17–20; O. Scholz 1995, 40; D. Stern 1996, 304; Schulte in KG, 27-30): Sie haben zusammen mit den „Philosophischen Untersuchungen“ , dem TS 227, das TS 234 (verschollen; erhalten ist die handschriftliche Vorlage, MS 144) veröffentlicht, und zwar als „Teil II“; der eigentliche Text wurde „Teil I“ genannt. Beide Charakterisierungen stammen nicht von Wittgenstein, und es sind nie durch Publikation Gründe für die gemeinsame Veröffentlichung namhaft gemacht worden. Im vorliegenden Kommentar geht es ausschließlich um den sogenannten „Teil I“; der Ausdruck „Teil II“ wird nur für Verweise auf den gedruckten Text von TS 234 bzw. MS 144 benutzt, der natürlich zur Interpretation herangezogen werden kann.



E  S

zu Worte kommen zu lassen. Deshalb enthält der Band nur drei aus dem Englischen übersetzte Beiträge, nämlich die Arbeiten von Candlish, Wennerberg und Fleming, und nur die beiden letzteren sind schon früher publiziert. Alle anderen Beiträge werden zumindest in den hier vorliegenden Fassungen erstmals veröffentlicht. Die hier vorgelegte zweite Auf lage ist „durchgesehen“; Weiterentwicklungen ihrer Interpretationen zu dokumentieren haben die Autoren an diesem Ort nicht Gelegenheit gefunden. (Dem mag oft ein Mausklick auf den Verfassernamen abhelfen.) Nur die Auswahlbibliographie ist – zurückhaltend – ergänzt worden. Eine wesentliche Umwälzung mußte freilich zwingend berücksichtigt werden: Die Möglichkeiten, mit den „Philosophischen Untersuchungen“ wissenschaftlich zu arbeiten, haben sich seit der ersten Auf lage des vorliegenden Kommentars dramatisch verbessert. Zum einen liegt mit zwei elektronischen Editionen5 der gesamte Nachlaß in benutzerfreundlicher Form vor. Zum andern hat Joachim Schulte, aufbauend auf den Vorarbeiten von Heikki Nyman und Georg Henrik von Wright, mit detailliertem Kommentar und ausführlichen editorischen Berichten einen revidierten Text der „Philosophischen Untersuchungen“ zusammen mit seinen vier Vorstufen in der „Kritisch-genetischen Edition“ veröffentlicht (KG im Siglenverzeichnis; sie enthält auch die jetzt noch greifbare Textgrundlage des früher so genannten „Teils II“, nämlich Manuskript 144). Dieser PU-Text von KG ist auch separat verfügbar (BS im Siglenverzeichnis) und damit als Studientext geeignet. Wegen der Verbreitung des Drucks in der Werkausgabe von 1984 (WA im Siglenverzeichnis) werden Stellenverweise auf Seitenzahlen der eigentlichen „Philosophischen Untersuchungen“ (sog. „PU I“) für KG, BS und WA bzw. für den sog. „Teil II“ (in der Fassung von Manuskript 144 aus KG) mit MS 144 und WA angegeben. Für die Geduld und Sorgfalt, mit der sie die zweite Auf lage redigiert hat, danke ich Almut Kristine v. Wedelstaedt.

Literatur G. H. v. Wright 1990, Wittgenstein, übersetzt von Joachim Schulte, Frankfurt am Main; darin a: Einleitung, 11–22; b: Wittgensteins Nachlaß, 45–76; c: Die Entstehung und Gestaltung der „Philosophischen Untersuchungen“, 117–143. G. H. v. Wright 1995, Teil II der „Philosophischen Untersuchungen“: Eine beschwerliche Geschichte, in E. v. Savigny und O. Scholz (Hgg.), Wittgenstein über die Seele, Frankfurt am Main, 12–23. O. Scholz 1995, Zum Status von Teil II der „Philosophischen Untersuchungen“, in E. v. Savigny und O. Scholz (Hgg.), Wittgenstein über die Seele, Frankfurt am Main, 24–40. 5 Wittgenstein’s Nachlass, Completed Edition on CD-ROM. 5 CD-ROMs, Oxford U. P., 2000; Ludwig Wittgenstein: Gesamtbriefwechsel/Complete Correspondence. Electronic Edition, Past Masters, 2004.

E D. Stern 1996, Toward a Critical Edition of the „Philosophical Investigations“, in K. S. Johannessen, T. Nordenstam (Hgg.), Wittgenstein and the Philosophy of Culture, Wien, 298–309. J. Schulte in KG, 14-33.



2 Eike von Savigny

Sprachspiele und Lebensformen: Woher kommt die Bedeutung?

In den „Philosophischen Untersuchungen“ benutzt Wittgenstein häufig den Ausdruck „Sprachspiel“ und an drei Stellen im „Teil I“ den Ausdruck „Lebensform“; das sind die bekanntesten Reizwörter des Werks geworden. Ziel der nachstehenden Überlegungen ist es, für beide Begriffe Grundlinien einer disziplinierten Explikation herauszuarbeiten, die ihnen eine vernünftige Rolle in Wittgensteins Überlegungen zuweist. Will man sich vom hemmungslosen Assoziieren freimachen, dann bedarf die Interpretation einer massiven Einschränkung. Ich sehe sie darin, daß „Sprachspiel“ und „Lebensform“ im Rahmen einer einleuchtenden Interpretation der sogenannten „Gebrauchstheorie der Bedeutung“ eine wichtige Rolle spielen müssen, und werde eine Skizze des Zusammenhangs von Sprachspiel, Gebrauch und Bedeutung vorlegen, die zur Suche nach etwas zwingt, für das es bei Wittgenstein kein anderes Angebot als die Lebensform gibt; unter „Lebensform“ muß dann etwas ganz Bestimmtes verstanden werden. Wesentlich für dieses Unternehmen ist, einen sachlichen Kern für Wittgensteins Einbettungs-Idee zu ermitteln, die er damit ausdrückt, daß „eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen“ (PU 19) und daß „das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform“ (PU 23; die Hervorhebung fehlt in WA).

2.1 Gebrauch und Bedeutung Die Behauptung, die Bedeutung eines Worts oder der Sinn eines Satzes sei sein Gebrauch in der Sprache, gibt es in den „Philosophischen Untersuchungen“ nicht explizit.1 (Wittgenstein benutzt ziemlich durchgehend für Wörter das Wort „Bedeutung“ und für Sätze das Wort „Sinn“; darauf hat erstmals Hallett hingewiesen.2 Für die Ent1 Die immer wieder zitierte Formulierung aus PU 43 hat eine ganz andere Funktion; vgl. v. Savigny 1990. 2 Hallett 1977, ad PU 43.



E  S

wicklung eigener konstruktiver Gedanken macht er von dieser Unterscheidung keinen Gebrauch.) Aber an vielen Stellen spielen Annahmen, die mit einer solchen Gleichsetzung verwandt sind, eine Rolle für die jeweilige Argumentation und legen den Autor deshalb auf diese Annahmen ernsthaft fest. So fragt Wittgenstein in PU 20 b: „Aber besteht der gleiche Sinn der Sätze nicht in ihrer gleichen Verwendung?“ Er scheint an dieser Stelle zu meinen, daß die Gleichheit des Sinns von Sätzen in der Gleichheit der Verwendung bestehe. Fälle, in denen aus Gebrauchsunterschieden auf Bedeutungsunterschiede geschlossen wird, sind in den PU zu zahlreich, als daß man darauf einzeln verweisen müßte. Auch das Umgekehrte kommt vor, etwa wenn in PU 403–411 argumentiert wird, daß wenn die Äußerung „Irgend jemand hat Schmerzen – ich weiß nicht wer!“ verwendungsgleich wäre mit „Ich habe Schmerzen“, beide dann bedeutungsgleich wären (so daß die zweite ebensowenig wie die erste eine Feststellung wäre, die der Sprecher über sich selbst trifft). Und die Mühe, mit der PU 549–568 erörtern, ob gewisse Eigenheiten von Negationen, von Zahlwörtern oder solche des Verbs „sein“ wesentlich oder unwesentlich zu ihrem Gebrauch gehören, läßt sich am besten unter der Annahme verstehen, daß es um die Frage gehe, was zu ihrer Bedeutung gehöre; in dieselbe Richtung weist die an zahlreichen Stellen vorausgesetzte Annahme, die Bedeutung sei dann erfolgreich erklärt, wenn der Gebrauch erklärt sei. Will man sich auf alle diese unterschiedlich ausdrücklichen Formulierungen von argumentativ benutzten Annahmen einen Reim machen, dann bleiben die einfachen Gleichsetzungen von Sinn des Satzes und Bedeutung des Worts mit ihrem Gebrauch in der Sprache als nächstliegende Lösungen übrig. Das heißt freilich nicht, daß auch klar wäre, was man unter dem „Gebrauch in der Sprache“ zu verstehen hat.

2.2 Sprachspiele Die für ein Verständnis dieser „Gebrauchstheorie der Bedeutung“ fruchtbarste Vorstellung scheint Wittgensteins Gedanke zu sein, daß sprachliche Ausdrücke ihre Bedeutung ihrer „Rolle im Sprachspiel“ verdanken (nicht etwa der Sprecherabsicht oder den erzielten Wirkungen). Sprachspiele sind in den PU Verhaltensabläufe, in denen Sprechen und anderes Handeln miteinander „verwoben“ (PU 7) sind. Die PU kennen drei Möglichkeiten zu sagen, um welches Sprachspiel es geht, also Möglichkeiten, einzelne Sprachspiele zu kennzeichnen. Die erste wird schon in PU 1 benutzt, nämlich für eine „Verwendung der Sprache“, wo jemand zum Einkaufen geschickt wird; das Sprachspiel wird dadurch gekennzeichnet, daß der Ablauf in allen wesentlichen Einzelheiten beschrieben wird. Die zweite Kennzeichnungsweise hat die Form „das Sprachspiel des …“, wobei an der Leerstelle

S  L: W   B



die Bezeichnung oder Beschreibung einer Tätigkeit steht. Die längste Liste von so gekennzeichneten Sprachspielen bringt PU 23. Die dritte Kennzeichnungsweise hat die Form „das Sprachspiel mit dem Ausdruck …“; sie kommt in dieser Form erstmals in PU 71 vor. Damit ist die Menge aller auf die erste Weise zu kennzeichnenden Sprachspiele gemeint, in denen der Ausdruck verwendet wird; es handelt sich um den „Gebrauch“ des Ausdrucks. Für die Klärung von „Bedeutung“ durch „Gebrauch“ sind wir also zunächst einmal darauf angewiesen, hinreichend Interessantes über die in der ersten Weise gekennzeichneten Sprachspiele herauszufinden. Für alle davon in den PU genannten Exemplare gilt zweierlei: Erstens können sie mehr als einmal gespielt werden, und trotz Unterschieden zwischen beiden Durchführungen wird beide Male dasselbe Sprachspiel gespielt. Zweitens müssen Äußerungen und nichtsprachliche Tätigkeiten miteinander „verwoben“ sein, ein bildhafter Ausdruck dafür, daß Tätigkeiten und Äußerungen in genauer anzugebender Weise regelmäßig miteinander zusammenhängen. Wenn man diese Regelmäßigkeiten für ein Sprachspiel angegeben hat (so vollständig oder unvollständig und so genau oder ungenau, wie es gerade erforderlich ist), hat man das Sprachspiel gekennzeichnet und damit gesagt, was zweimal gespielt wird, wenn zwei Handlungsabläufe im Einklang mit den angegebenen Regelmäßigkeiten, aber sonst unterschiedlich, vorgekommen sind. Ein Sprachspiel, auf die erste Weise gekennzeichnet, ist also eine Menge von Regelmäßigkeiten, in denen Äußerungen und Tätigkeiten eine Rolle spielen. Läßt man in der Aufzählung der Menge von Regelmäßigkeiten den Ausdruck, um den es geht, einfach weg, dann definieren die Lücken zusammen eine Stelle in diesen Regelmäßigkeiten, und die so definierte Stelle kann man die „Rolle des Ausdrucks im Sprachspiel“ nennen. Wie weit muß dieses Sprachspiel gefaßt werden, wenn man darunter den „Gebrauch“ des Ausdrucks versteht, also die Menge aller Sprachspiele, in denen er vorkommt? In ihnen kommen ja auch andere Wörter vor, deren Bedeutungen wichtig sein können; diese Bedeutungen werden durch Mengen von Sprachspielen festgelegt, in denen der fragliche Ausdruck teilweise nicht vorkommt; und so weiter. Der Gebrauch scheint auszuufern. Schauen wir uns das Beispiel aus PU 1 an und schreiben dabei an der Stelle von „fünf“ „x“:

Ich schicke jemand einkaufen. Ich gebe ihm einen Zettel, auf diesem stehen die Zeichen: „x rote Äpfel“. Er trägt den Zettel zum Kaufmann; der öffnet die Lade, auf welcher das Zeichen „Äpfel“ steht; dann sucht er in einer Tabelle das Wort „rot“ auf und findet ihm gegenüber ein Farbmuster; nun sagt er die Reihe der Grundzahlwörter – ich nehme an, er weiß sie auswendig – bis zum Worte „x“ und bei jedem Zahlwort nimmt er einen Apfel aus der Lade, der die Farbe des Musters hat.

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Wenn wir nach einem Wort suchen, das an der Stelle von x eingesetzt werden kann, so daß sich dann eine einleuchtende Geschichte ergibt, werden wir zwar darauf verfallen, er habe die Äpfel gezählt; aber dem wäre nicht so, wenn wir die Bedeutungen der anderen zitierten Wörter nicht voraussetzten, also noch mehr Leerstellen hätten. Das gilt sogar dann, wenn wir die wesentlichen Kennzeichnungen aus der Beschreibung verstehen: Wir wissen also, daß der Kaufmann eine Schublade mit dem Wort „Äpfel“ (d. h. eine, auf der das Wort „Äpfel“ tatsächlich als „Namenstäfelchen“ (PU 15) steht und nicht zum Beispiel wie auf einer Pinnwand) aufmacht, daß er „rot“ in einer Farbtabelle findet und daß er die Reihe der Grundzahlwörter aufsagt. Kann jemand in dieser Situation die Reihe der Grundzahlwörter aufsagen, sich ganz normal benehmen und trotzdem mit dem fünften Wort nicht fünf Äpfel gezählt haben? So etwas kommt ja vor – etwa in: Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, wo ist meine Frau geblieben? Das ist, wenn wir „rote“ und „Äpfel“ frei interpretieren dürfen, durchaus möglich; „fünf rote Äpfel“ kann etwa „fünf Pfund Obst“ bedeuten, wenn wir die Geschichte so ergänzen: „Äpfel“ heißt „Obst“, und Obst ist auf Grund von Genmanipulationen so gezüchtet worden, daß die Farbe sich nach dem Gewicht richtet und das Gewicht im Handel nach der Farbe bestimmt werden kann. Rote Äpfel wiegen 500 g (infolge der Genmanipulationen sind sie fürchterlich viel größer geworden); die Farbtabelle enthält Symbole in Apfelform. Gelbe Äpfel (und grüne Birnen) wiegen 625 g; der Kaufmann hätte die Bestellung auch ausführen können, indem er vier gelbe Äpfel oder nach einer Tabelle mit farbigen Birnen vier grüne Birnen aus derselben (Obst-)Schublade geholt hätte. In keinem der drei Fälle hat er eine Bestellung von fünf einzelnen Dingen ausgeführt; vielmehr ist „fünf“ in allen Fällen die Maßzahl für das Gesamtgewicht der Früchte. – Das Beispiel ist nur deshalb so abwegig, weil wir die sehr starken Voraussetzungen aus der Beschreibung in PU 1 geschenkt haben. Hätte Wittgenstein statt „Nun sagt er die Reihe der Grundzahlwörter“ geschrieben: „Nun sagt er ,a-b-c-d-e‘“ (auf dem Zettel stünde „e rote Äpfel“), hätten wir es leichter, und noch leichter, wenn der Kaufmann „H – re – Herbst – Donnerstag – e“ sagte. Wenn der Gebrauch eines Ausdrucks die Menge der Sprachspiele ist, in denen der Ausdruck vorkommt, und wenn der Gebrauch die Bedeutung ausmachen soll, dann hat man, um die Bedeutung des Ausdrucks konkret durch seinen Gebrauch zu charakterisieren, zwei Alternativen: Entweder setzt man die Bedeutung aller unbegrenzt vielen Ausdrücke als charakterisiert voraus, die in mindestens einem Sprachspiel vorkommen, in dem der fragliche Ausdruck vorkommt; oder man charakterisiert die Bedeutung aller Ausdrücke einer Sprache auf einen Schlag. Es mag sein, daß daran kein Weg vorbeiführt; aber die Situation ist unschön für jemanden, der der Gebrauchstheorie der Bedeutung als wohlwollender Interpret eine nicht nur auf den Text gestützte, sondern auch plau-

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sible Fassung geben will. Die Bedeutung eines Ausdrucks als seinen Gebrauch in der Sprache zu erläutern ist eines; ein anderes ist es, diese Gleichsetzung durch Beispiele einleuchtend zu machen. Dazu muß man für interessante Paare von (im vortheoretischen Sinne) gleichbedeutenden Ausdrücken konkret zeigen, daß ihr Gebrauch gleich ist, und für interessante Paare von (im vortheoretischen Sinne) bedeutungsverschiedenen Ausdrücken, daß ihr Gebrauch sich unterscheidet. Wie will man diese konkrete Aufgabe angehen, wenn man entweder voraussetzen muß, daß die fragliche These für unbegrenzt viele Ausdrücke stimmt, oder den Vergleich für alle Ausdrücke der Sprache auf einmal durchführen muß?

2.3 Die Gebrauchstheorie für Äußerungsbedeutungen Es empfiehlt sich deshalb, von einem Baustein der Sprache auszugehen, dessen Gebrauch sich leichter konkret beschreiben läßt als der von Wörtern oder Sätzen; diese Einheit ist die bedeutungsvolle Äußerung. Es geht dann nicht mehr um die Bedeutung des Wortes „fünf“ oder um den Sinn des Satzes „fünf rote Äpfel“, sondern um die Frage, wieso eine Äußerung die Bedeutung hat, daß der Sprecher beim Adressaten fünf rote Äpfel bestellt. Daß die bedeutungsvolle Äußerung etwas anderes ist als ein bedeutungsvoller Satz und daß die Äußerungsbedeutung etwas anderes ist als die Satzbedeutung, kann man sich an Beispielen klarmachen. „Ich bin gerade an der Ausfahrt Gütersloh vorbei“ hat als Satz die Bedeutung, daß der Sprecher als letzte Ausfahrt Gütersloh passiert hat. Äußerungen dieses Satzes in einem Telefongespräch können, je nach dem engeren und weiteren Zusammenhang, ganz verschiedene Bedeutungen haben: der Sprecher teilt dem Adressaten mit, daß er als letzte Ausfahrt Gütersloh passiert hat (beide planen, wie sie sich am besten treffen können); der Sprecher weist den Vorschlag des Adressaten zurück, sich mit ihm an der Ausfahrt Gütersloh zu treffen; der Sprecher droht dem Adressaten damit, ihn in Sennestadt noch zu erwischen; der Sprecher bietet dem Adressaten an, ihn in Sennestadt zu besuchen; und so weiter. Mitteilen, daß …, den Vorschlag … zurückweisen, anbieten, daß …, damit drohen, daß … sind im Sinne der von Austin3 begründeten Sprechakttheorie „illokutionäre Rollen“, die zur Bedeutung der Äußerungen gehören. Wie wir sehen werden, hat Wittgenstein uns darüber so viel zu sagen, daß wir bei der Aufgabe, für die Gebrauchstheorie eine auf den Text gestützte Fassung auch konkret plausibel zu machen, nicht in die gerade geschilderte Zwickmühle geraten. Trotzdem entfernt die Interpretation sich vom Text, und zwar aus zwei Gründen. Zum einen hat Wittgenstein zwar immer wieder betont, wie wichtig die Umstände, unter denen ein Satz verwendet wird, für seinen Sinn seien. Aber daß die Bedeutung, 3 John L. Austin, How to do Things with Words, Cambridge, Mass., 1962.

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die die Äußerung eines Satzes unter bestimmten Umständen hat, etwas anderes ist als die Bedeutung (der Sinn) des unter diesen Umständen geäußerten Satzes, ist keine Unterscheidung, von der er ausdrücklich Gebrauch gemacht hätte. Dabei benutzt er sie in der Argumentation: Wer von einem Tag auf den andern verspricht „Morgen will ich dich besuchen“ – sagt der jeden Tag das Gleiche; oder jeden Tag etwas anderes? (PU 226.) Die Bedeutung des geäußerten Satzes ist jedesmal dieselbe; die Bedeutungen der Äußerungen sind jeweils das Versprechen, am Donnerstag, Freitag, … zu kommen. (Im Kontext geht es darum, daß die Frage, was als gleich zu gelten hat, vom Zusammenhang abhängt.) Und was Wittgenstein zu „grammatischen Sätzen“ sagt (zusammenhängend in PU 247–252), läßt sich nur so verstehen, daß er damit die Benutzung eines Satzes zum Zwecke der Erläuterung von Eigenheiten des Gebrauchs eines in ihm vorkommenden Ausdrucks meint, also nicht den Satz, sondern eine Äußerung des Satzes. Zum Beispiel ist es jedermanns ureigenes Recht, seine Absicht zu erklären; das gehört zum Gebrauch des Ausdrucks „Ich hatte die Absicht, …“. Deshalb ist der Ausdruck der Ungewißheit in einer solchen Erklärung fehl am Platze; das kann man mit einer Äußerung des Satzes „Nur du kannst wissen, ob du die Absicht hattest“ ausdrücken: „Nur du kannst wissen, ob du die Absicht hattest.“ Das könnte man jemandem sagen, wenn man ihm die Bedeutung des Wortes „Absicht“ erklärt. Es heißt dann nämlich: so gebrauchen wir es. (Und „wissen“ heißt hier, daß der Ausdruck der Ungewißheit sinnlos ist.) (PU 247.) Wittgenstein macht also vom Unterschied zwischen Satz und Äußerung zwar Gebrauch, rechnet aber nirgendwo Äußerungen zusätzlich zu Sätzen und Wörtern zum Inventar der Sprache. Zum andern paßt die darzulegende Interpretation verbal nicht zur zweiten der oben genannten Formen, in denen die „Philosophischen Untersuchungen“ Sprachspiele charakterisieren, also zur Form „das Sprachspiel des …“, wobei an der Leerstelle die Bezeichnung einer Tätigkeit steht. Einige dieser Charakterisierungen in PU 23 sind nämlich Bezeichnungen für Klassen von Äußerungen mit gemeinsamen illokutionären Rollen: befehlen, beschreiben, berichten, Vermutungen anstellen, Hypothesen aufstellen, bitten, danken, f luchen, grüßen. Wittgenstein kann nicht im Sinn gehabt haben, die Tatsache, daß eine Äußerung ein Befehl ist, durch ihre Rolle im Sprachspiel des Befehlens zu erläutern. Wir werden sehen, daß beide Schwierigkeiten nebensächlich sind. Im Zuge der hier vorgeschlagenen Interpretation läßt sich die Tatsache, daß eine Äußerung ein Befehl ist,

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durch ihre Rolle in einem für Befehle charakteristischen Sprachspiel klären, das konkret angegeben werden kann; und es wird sich auch zeigen, wie die Bedeutung eines Satzes davon abhängt, daß er in bedeutungsvollen Äußerungen, und die Bedeutung eines Worts davon, daß es in bedeutungsvollen Sätzen gebraucht werden kann. Wer Wittgensteins Beobachtungen respektiert, kann sie auf diese Weise zu einer etwas übersichtlicheren Darstellung (vgl. PU 122) zusammenfügen, als das ihm selbst gelungen ist. Statt zu sagen: „Wenn ein Ausdruck die Bedeutung von ,Apfel‘ hat, dann fällt sein Gebrauch mit dem Gebrauch von ,Apfel‘ zusammen“, werden wir die Gebrauchstheorie also an Beispielen der folgenden Form studieren: „Wenn eine Äußerung die Bedeutung hat, daß der Sprecher mit ihr beim Kaufmann fünf rote Äpfel bestellt, dann fällt ihr Gebrauch mit dem einer Bestellung von fünf roten Äpfeln zusammen.“ Der Gebrauch einer Bestellung von fünf roten Äpfeln muß natürlich unabhängig von dieser Kennzeichnung beschrieben werden. Unter dem Gebrauch ist weiterhin eine Menge von Regelmäßigkeiten zu verstehen, in denen die Äußerung mit nichtsprachlichem Verhalten „verwoben“ ist. Die Konzentration auf Beispiele, in denen es um Äußerungen mit gewissen Bedeutungen geht, paßt gut dazu, wie Wittgenstein für ein fiktives Beispiel feststellt, warum gewisse Leute keine Sprache haben: Denke, du kämst als Forscher in ein unbekanntes Land mit einer dir gänzlich fremden Sprache. […] (PU 206.) Denken wir uns, die Leute in jenem Land verrichteten gewöhnliche menschliche Tätigkeiten und bedienen sich dabei, wie es scheint, einer artikulierten Sprache. Sieht man ihrem Treiben zu, so ist es verständlich, erscheint uns ,logisch‘. Versuchen wir aber, ihre Sprache zu erlernen, so finden wir, daß es unmöglich ist. Es besteht nämlich bei ihnen kein regelmäßiger Zusammenhang des Gesprochenen, der Laute, mit den Handlungen; dennoch aber sind diese Laute nicht überf lüssig; denn knebeln wir z. B. einen dieser Leute, so hat dies die gleichen Folgen, wie bei uns: ohne jene Laute geraten ihre Handlungen in Verwirrung – wie ich mich ausdrücken will. Sollen wir sagen, diese Leute hätten eine Sprache; Befehle, Mitteilungen, u.s.w.? Zu dem, was wir „Sprache“ nennen, fehlt die Regelmäßigkeit. (PU 207.) Der letzte Satz ist so zu verstehen, daß die vorhandene Regelmäßigkeit (die Laute sind nötig, damit die Handlungen nicht in Verwirrung geraten) für eine Sprache nicht ausreicht. Regelmäßigkeiten in Sprachspielen legen gewisse, unter bestimmten Umständen geäußerte Laute also nur deshalb auf die Bedeutung von „Befehlen, Mitteilungen, usw.“ fest, weil die Regelmäßigkeiten für dieses Ergebnis reich genug sind. Wie müssen die Regelmäßigkeiten aussehen, damit sie gewisse, unter bestimmten Umständen geäußerte

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Laute auf solche Äußerungsbedeutungen festlegen? Wittgenstein sagt das nicht, gibt aber Tips zum Suchen, die uns erlauben, die Antworten für einige Beispiele selbst zu finden und die Gebrauchstheorie auf diese Weise plausibel zu machen. Ein solcher Tip findet sich in einem Abschnitt, dessen Kontext, die Privatsprachenargumentation, in unser Thema gehört, weil es um die Frage geht, woher die sprachliche Bedeutung kommt: Warum kann meine rechte Hand nicht meiner linken Geld schenken? – Meine rechte Hand kann es in meine linke geben. Meine rechte Hand kann eine Schenkungsurkunde schreiben und meine linke eine Quittung. – Aber die weitern praktischen Folgen wären nicht die einer Schenkung. (PU 268.) Wenn ein Sprecher einem Adressaten ein Ding schenkt, dann bestehen die „praktischen Folgen“ darin, daß der Sprecher nun gewisse Sachen nicht mehr darf, während der Adressat gerade diese Sachen darf – das Ding gebrauchen, seinen Gebrauch anderen vorenthalten oder gestatten, es beleihen oder verkaufen usw.; eine weitere „praktische Folge“ ist, daß der Adressat sich gegenüber dem Sprecher als dankbar zu erweisen hat, daß aber der Sprecher vom Adressaten keine bestimmte Gegenleistung fordern darf. Solche praktischen Folgen unterscheiden verschiedene Bedeutungen voneinander: Wenn der Sprecher dem Adressaten das Ding verkauft, darf der Sprecher vom Adressaten eine bestimmte Gegenleistung fordern, und der Adressat braucht dem Sprecher nicht dankbar zu sein. Wird das Ding vom Sprecher an den Adressaten vermietet, dann darf der Adressat das Ding nicht beleihen oder verkaufen und muß es irgendwann zurückgeben, und er schuldet dem Sprecher bis zur Rückgabe eine regelmäßige Gegenleistung. Wenn der Sprecher dem Adressaten das Ding dagegen leiht, ist der Adressat nicht zur Gegenleistung verpf lichtet. Das Beispiel des Schenkens wirft zwei Fragen auf. Die Schenkung ist ein Rechtsgeschäft; ist sie ein glückliches Beispiel für Sprachverwendung? Und inwiefern handelt es sich um Regelmäßigkeiten im Verhalten, wenn Sprecher und Adressat nach bestimmten Äußerungen gewisse Dinge dürfen oder müssen – sind das nicht Regeln? Die Antwort auf die beiden Fragen ist: Wenn Verhaltensregelmäßigkeiten ein bestimmtes Aussehen annehmen, dann heißt das nichts anderes, als daß das Verhalten Regeln folgt; und die für die Bedeutung von Äußerungen entscheidende Rolle im Sprachspiel ist gerade ihr Platz in solchen, regelfolgendes Verhalten ausmachenden Verhaltensregelmäßigkeiten. Deshalb haben die Äußerungen ihre Bedeutungen tatsächlich gerade aus dem Grunde, aus dem Rechtsgeschäfte ihre rechtliche Bedeutung haben: die von den Beteiligten anerkannten Rechte und Pf lichten der Betroffenen werden in charakteristischen Weisen umverteilt, und daß dem so ist, erschöpft sich in besonderen Regelmäßigkeiten im Verhalten aller Beteiligten. Regelfolgendes Verhalten läßt sich empirisch charakterisieren; regelmäßiges Verhalten mehrerer Leute ist regelfolgendes Verhalten, wenn es jedem jeweils für ihn selbst

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und für die anderen selbstverständlich ist und eine erlernbare Leistung darstellt.4 Dafür, daß ein Verhalten jemandem selbstverständlich ist, nennt Wittgenstein eine Reihe von Merkmalen (PU 210, 211, 212, 213, 219, 222, 223, 231, 240). Das Merkmal, erlernbare Leistung (PU 232–237) zu sein, ist fürs regelfolgende Verhalten wichtig, weil Abweichungen damit zu Fehlern werden, die von anderen korrigiert werden. Aus diesen Korrekturen zu lernen ist der Korrigierte bereit. Ein Außenstehender hätte also die Möglichkeit, am Korrekturverhalten Fehler zu erkennen (vgl. PU 54) und aus den Fehlern sowie dem nicht korrigierten, selbstverständlichen Verhalten die fragliche Regel hypothetisch zu erschließen. Er kann dann, statt die beobachteten Merkmale der Verhaltensregelmäßigkeiten einzeln aufzuzählen, sagen: „Das Verhalten der Leute folgt (vermutlich) der Regel R.“ Das ist eine Hypothese; der Außenstehende muß versuchen, die Regel R so zu formulieren, daß sie dasjenige Verhalten fordert, das den Leuten selbstverständlich ist, und daß sie dasjenige Verhalten verbietet, das Korrekturverhalten auslöst. Der Außenstehende könnte z. B. ein Sozialpsychologe sein, der das Verhalten von Leuten in Fahrstühlen untersucht, und könnte zu dem Ergebnis kommen: „Leute in Fahrstühlen folgen der Regel: ,Man hat möglichst großen Abstand voneinander zu halten.‘“ Es kann durchaus sein, daß die Formulierung der Regel in dieser sozialpsychologischen Hypothese zum erstenmal auftaucht; wenn die Hypothese zutrifft, dann weisen Leute im Fahrstuhl also ein Verhalten auf, mit dem sie einer Regel folgen, die sie selbst nicht kennen. An dieser Stelle können zwei Hinweise nützlich sein. Der erste: Tut der Sprecher eine Äußerung mit einer bestimmten Bedeutung, dann werden dadurch Rechte und Pf lichten umverteilt; diese Rechte und Pf lichten brauchen im übrigen mit dem Gebrauch von Sprache überhaupt nichts zu tun zu haben. Ein Steinpilz, den jemand im Wald findet und pf lückt, gehört ihm; diese Vorbedingung dafür, daß er ihn verschenkt, kann auch in einer Gruppe ohne Sprache erfüllt sein. Daß A vor B von den Früchten nehmen darf , ist Ergebnis davon, daß B A darum bittet zuzugreifen; denselben Sachverhalt gibt es ohne vorangehende Äußerung auch bei sozialen Tieren, die keine Sprache benutzen (etwa wenn sie eine Rangordnung haben). – Der zweite Hinweis: Sachverhalte wie „x gehört y“ liegen dann vor, wenn in den betreffenden Gruppen die für solche Sachverhalte charakteristischen Regeln gelten. Ob man das Wort „Regel“ benutzt, um auszudrücken, daß die für das Gelten von Regeln erforderlichen besonderen Verhaltensregelmäßigkeiten vorliegen, spielt keine Rolle. Viele Leute haben eindringlich die Vorstellung, einer Regel folge nur, wer sagen könne, er tue dies und jenes, „weil“ er das müsse. Sie können, statt den Wittgensteinschen Begriff vom regelfolgenden Verhalten zu benutzen, einfach davon reden, daß die Leute voneinander und von sich selbst das jeweilige Verhalten erwarten. Die Redeweise tut denselben Dienst. 4 Diese Charakterisierung von Wittgensteins Bild vom Regelfolgen findet sich erstmals in Kemmerling 1975. Vgl. Klaus Puhls Beitrag in diesem Bande.

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Im Kontext des Schenkungsbeispiels nennt Wittgenstein als zweites Beispiel dafür, daß Bedeutung etwas mit praktischen Folgen zu tun hat, den Fall, daß man sich etwas notiert (PU 260); das würde bei einer uns „gänzlich fremden Sprache“ erhebliche Zusatzkomplikationen bedeuten. Halten wir uns an mündliche Mitteilungen, wie in PU 207 genannt, und nehmen Wittgensteins Hinweis darauf ernst, daß man auch mit Mitteilungen etwas anfangen können muß: Ich möchte sagen: du siehst es für viel zu selbstverständlich an, daß man Einem etwas mitteilen kann. Das heißt: Wir sind so sehr an die Mitteilung durch Sprechen, im Gespräch, gewöhnt, daß es uns scheint, als läge der ganze Witz der Mitteilung darin, daß ein Andrer den Sinn meiner Worte – etwas Seelisches – auffaßt, sozusagen in seinen Geist aufnimmt. Wenn er dann auch noch etwas damit anfängt, so gehört das nicht mehr zum unmittelbaren Zweck der Sprache. (PU 363.) (Der Schlußsatz ist ironisch. – Vgl. auch PU 295–298, 386, 594 und 676.) Die „weitern praktischen Folgen“ einer Mitteilung haben also damit zu tun, was der Adressat mit der Mitteilung anfangen kann. Man muß nun unbedingt beachten, daß auch eine falsche Mitteilung eine Mitteilung ist; falsche Mitteilungen sind keine Verstöße gegen Sprachregeln. Der Adressat einer Mitteilung, daß p, ist nicht in der Lage dessen, der mit eigenen Augen gesehen hat, daß p. Er darf aber vom Sprecher erwarten, daß der für seine Mitteilung, daß p, einsteht; wer mitteilt, daß p, ähnelt einem, der sich dafür verbürgt, daß p. (Das findet man nicht bei Wittgenstein;5 es ist einem intelligenten Autor aber zu unterstellen.) Freilich kann dann eine Mitteilung nur in Situationen zustande kommen, wo dem Sprecher Wissen über den mitgeteilten Sachverhalt unterstellt wird (andernfalls liegt eine bloße Behauptung vor, die der Wette ähnelt) und dem Adressaten ein Interesse an der Information: Wie das Schenken nicht nur praktische Folgen hat, sondern auch die Vorbedingung, daß die zu verschenkende Sache dem Sprecher gehört, hat die Mitteilung nicht nur die praktische Folge, daß der Sprecher dem Adressaten für das Zutreffen geradesteht, sondern auch die Vorbedingung, daß von ihm das nötige Wissen und vom Adressaten ein Informationsbedarf erwartet werden. Genauso steht es mit dem Befehlen, das Wittgenstein am ausgiebigsten als Beispiel benutzt: Wenn ein Sprecher einem Adressaten befiehlt, eine Handlung auszuführen, dann muß der Adressat die Handlung ausführen. Allerdings kann der Sprecher nur dann etwas befehlen, wenn er die notwendige Autorität hat; auch das steht bei Wittgenstein nicht explizit, aber wo er ausführlich mit dem Beispiel arbeitet (PU 143–145, 185), ist

5 Sondern erstmals in John R. Searle, Speech Acts, Cambridge 1969, S. 66.

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der Sprecher der Lehrer und der Adressat der Schüler. (Die Vorbedingung, daß der Sprecher die Autorität haben muß, unterscheidet den Befehl zum Beispiel von der Bitte.) Man kann als Forscher in einem Land mit einer gänzlich fremden Sprache die Vermutung, Äußerungen seien Schenkungen, Mitteilungen oder Befehle, also daran überprüfen, ob es sich um Äußerungen handelt, die unter für Schenkungen, Mitteilungen oder Befehle bezeichnenden sozialen Vorbedingungen vorkommen und die dann charakteristische Auswirkungen auf die von den Sprachbenutzern anerkannten Verteilungen von Rechten und Pf lichten haben. Dabei muß man die für die Bedeutungen der Äußerungen wesentlichen Vorbedingungen und Ergebnisse unterscheiden von den sprachlichen Formen, die die Äußerungen in einer Einzelsprache haben, und weiteren Umständen, die regelmäßig gegeben sind, wenn die Äußerungen im Gebrauch dieser Einzelsprache die fraglichen Bedeutungen haben. Die für gewisse Äußerungsbedeutungen kennzeichnenden Vorbedingungen und Ergebnisse – ihre Rollen – sind für alle Sprachen gleich; daran kommt auch Wittgenstein nicht vorbei, denn andernfalls könnte man gar nicht herauszufinden versuchen, ob das Schenken eines Rings im Lateinischen wie im Englischen sprachlich vor sich gehen kann, ob es also in beiden Sprachen Äußerungen mit dieser Bedeutung gibt. (Natürlich kann es sein, daß zwei Sprachen keine Äußerungen mit genau gleicher Schenkungsrolle haben, so daß der Feldforscher mit „Schenken“ in beiden Fällen nicht identische, sondern verwandte Bedeutungen bezeichnen würde.) Dagegen werden die akustischen Eigenschaften sich stark unterscheiden, und auch die Umstände, unter denen die akustischen Ketten gerade diese Bedeutung annehmen. Im Lateinischen grüßt man mit „Salve“, im Englischen mit „How do you do?“; mit „How do you do?“ grüßt man im Englischen nur beim ersten Kontakt, während man damit im weiteren Verlauf des Abends nach dem Befinden fragt. (Möglicherweise handelt es sich dabei um einen gruppenspezifischen oder gar ausgestorbenen Brauch.) Welche Äußerungen Schenkungen oder Begrüßungen sind, stellt der Ethnolinguist an ihren konventionalen Rollen fest; wie Äußerungen mit dieser Rolle aussehen, schreibt er ins Lehrbuch der untersuchten Sprache, indem er angibt, welche Sätze unter welchen Umständen gerade diese Rolle spielen. Wir haben oben gesehen, daß es schwer ist, die Gebrauchstheorie der Bedeutung für Wörter oder Sätze durch Beispiele plausibel zu machen. Für die Bedeutung von Äußerungen haben wir das Problem gelöst. Wir können für einzelne Beispiele konkret angeben, welcher Gebrauch einer Äußerung dafür kennzeichnend ist, daß sie ihre Bedeutung hat; dabei identifizieren wir den Gebrauch mit dem charakteristischen Paar aus Vorbedingung und Ergebnis. Soweit diese Beispiele plausibel sind und verallgemeinerungsfähig aussehen, wird die Gebrauchstheorie plausibel. Führen wir ein solches Beispiel aus:

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E  S 1. Die Äußerung Geäußerter Satz: „Geh an die Tafel!“ Umstände: Der Adressat ist Schüler in der Klasse, die der Sprecher als Lehrer gerade unterrichtet. 2. Die Äußerungsbedeutung Der Sprecher trägt dem Adressaten auf („befiehlt ihm“, wie Wittgenstein in PU 185 sagt), an die Tafel zu gehen. 3. Der Gebrauch Wenn der Sprecher gegenüber dem Adressaten die Autorität hat, ihn an die Tafel zu rufen, und die unter 1 gekennzeichnete Äußerung tut, dann muß der Adressat an die Tafel gehen.

Wenn die unter 1 gekennzeichnete Äußerung die unter 2 gekennzeichnete Äußerungsbedeutung hat, dann ist der Gebrauch der Äußerung so, wie unter 3 angegeben. Er wird in 3 angegeben, ohne daß vorausgesetzt werden müßte, daß für weitere Äußerungsbedeutungen der kennzeichnende Gebrauch schon angegeben wäre. Verallgemeinert, bietet 3 eine Beschreibung des „Sprachspiels des Befehlens“ – soll x ein Befehl des Sprechers an den Adressaten sein, H zu tun, dann muß gelten: Wenn der Sprecher gegenüber dem Adressaten die Autorität hat, H von ihm zu verlangen, und der Sprecher gegenüber dem Adressaten x äußert, dann muß der Adressat H tun. Das Beispiel ist plausibel. Es ist darüber hinaus verallgemeinerungsfähig, weil man sieht, wie sich für verschiedene Äußerungen verschiedene Aufträge als Bedeutungen durchprobieren lassen und wie dann richtige Gebrauchsbeschreibungen herauskommen.

2.4 Die Gebrauchstheorie für Satz- und Wortbedeutungen Das bedeutet allerdings nicht, daß der Feldforscher ein einfaches Dechiffrierungsverfahren zur Verfügung hätte, mit dem er die Bedeutungen der Äußerungen in der ihm gänzlich fremden Sprache reihenweise knacken könnte. Im Gegenteil – er bekommt erhebliche Probleme, und gerade seine Probleme erlauben zu verstehen, welche Rollen Lebensformen für die Gebrauchstheorie spielen. Bevor wir uns dieser Frage zuwenden, ist allerdings noch zu klären, wie auf der Grundlage einer Gebrauchstheorie der Äußerungsbedeutung eine Gebrauchstheorie für Satzsinn und Wortbedeutung skizziert werden kann. Als Forscher im unbekannten Land mit der uns gänzlich fremden Sprache haben wir glücklich herausgebracht, daß „Dat is dir“ als eine von S, dem x gehört, an A gerichtete Äußerung, bei der S dem A das x aushändigt, das typische konventionale Ergebnis einer Schenkung hat. Wir nehmen deshalb die Hypothese an, „Dat is dir“ habe die Bedeutung, daß S A den übergebenen Gegenstand schenkt. Zu unserer Überraschung äußert

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derselbe Sprecher gegenüber demselben Adressaten beim Aushändigen desselben Gegenstandes am nächsten Tag wiederum „Dat is dir“; diesmal hat er den Gegenstand aus einem Fach eines Regals geholt, das er verwaltet und wo viele ähnliche Gegenstände lagern, die von verschiedenen Leuten im Laufe der letzten Stunden dort abgegeben worden sind. (Die Szene mag während des Karnevals in einem rheinischen Fundbüro spielen.) Diese zweite Äußerung, finden wir heraus, hat die konventionale Vorbedingung und das konventionale Ergebnis einer Mitteilung von S an A, daß der übergebene Gegenstand A gehört. Welche Bedeutung hat der Satz „Dat is dir“? Schenkung oder Mitteilung? Wittgenstein streitet an einigen Stellen mehr oder weniger explizit ab, daß Sätze außerhalb von Verwendungssituationen überhaupt Sinn hätten, so in PU 117 b (und mit demselben Beispiel in PU 514), PU 348, 349, 408, 409 und 520. Möglicherweise hat er übersehen, daß ein Satz, außerhalb einer Verwendungssituation betrachtet, etwas anderes ist als ein Satz, für den es keine Verwendungssituation gibt; auf diesen Sachverhalt wird allerdings einmal, nämlich in PU 525, ganz deutlich hingewiesen (und für Wörter genauso in PU 534). Der Bedeutungsbegriff hat aber für Sätze eine etablierte Verwendung, die zumindest in den Grenzen klar ist, in denen es einen disziplinierten Gebrauch des Begriffs der korrekten Übersetzung von einer Sprache in die andere gibt. In diesem Sinne hat der Satz „Dat is dir“ ungefähr dieselbe Bedeutung wie der Satz „This is yours“. Daraus folgt natürlich nicht, daß jede Äußerung des Satzes „This is yours“ dieselbe Bedeutung (im Sinne derselben Rolle im Sprachspiel) hat wie jede Äußerung des Satzes „Dat is dir“, und zwar schon deshalb, weil nicht jede Äußerung des Satzes „Dat is dir“ dieselbe Bedeutung hat. Auf unsere Frage nach der Bedeutung des Satzes „Dat is dir“ stehen uns zwei Antworten offen. Auf die eine legt Wittgenstein sich mit seinen polemischen Bemerkungen fest, und sie ist besonders unschön: Das Beispiel wird als Beleg dafür gewertet, daß der Satz „Dat is dir“ mehrdeutig ist; er hat überhaupt nur in Verwendungssituationen Sinn, und wenn er in n Situationen benutzt werden kann, um n verschiedene Dinge zu sagen, dann ist er n-deutig. Mit dieser Option verbaut man sich die ohnehin geringe Chance, eine übersichtliche Darstellung oder eben Theorie zu finden, die einem sagt, was für Dinge man in was für Situationen mit „Dat is dir“ sagen kann. (Man beachte, daß die Indexikalität für das Problem keine Rolle spielt.) Man hat auch keine Aussicht auf eine Theorie, die das unverzichtbare Datum rettet, daß „Dat is dir“ im Rheinischen dasselbe bedeutet wie im Schriftdeutschen „Das gehört dir“ und „Das ist deins“ oder wie im Englischen „This is yours“ – Sätze, die sich in bezug auf die bei ihren Verwendungen zustandekommenden Äußerungsbedeutungen weitgehend gleich verhalten wie „Dat is dir“. Wenn sie dasselbe bedeuten, dann sollte man auf Theorien des Rheinischen, des Schriftdeutschen und des Englischen hoffen dürfen, aus denen sich ergibt, daß sie dasselbe bedeuten.

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Das mag wohl oder übel zugunsten der zweiten Option ausgehen, nämlich so, daß die Theorien des Rheinischen, des Schriftdeutschen und des Englischen konkret angeben, was die Sätze bedeuten, indem sie etwas angeben, das sie zu der Bedeutung der Sätze erklären, also etwas, das am Satz hängt (sich aus Lexikon und Grammatik ergibt), nicht an Verwendungen des Satzes. Herauskommen muß dann, daß die Sätze dieselbe Bedeutung haben. Französische Lehrbücher des Rheinischen, des Schriftdeutschen und des Englischen könnten z. B. für alle drei Sätze als Bedeutungen angeben „que la chose indiquée appartient à la personne addressée“. Mit einer Metaphysik verwendungsunabhängiger Bedeutungen hat das nicht das geringste zu tun; man findet die Satzbedeutungen ja durch Versuch und Irrtum gerade so heraus, daß sie eine übersichtliche Angabe der Umstände gestatten, unter denen Äußerungen der Sätze ihre charakteristischen Rollen annehmen. Freilich muß man aufpassen, für die Theorien des Rheinischen, des Schriftdeutschen und des Englischen kein metaphysisches Korsett zu schmieden und etwa a priori begründen zu wollen, Satzbedeutungen müßten Wahrheitsbedingungen sein. In den anvisierten Theorien treten Satzbedeutungen als theoretische Entitäten auf, die man für Sätze postuliert (und deren Zuordnung zu den Sätzen auf der Basis von deren Struktur und Wörtern von der Semantik der jeweiligen Sprache geleistet werden muß), weil die Pragmatik der Sprache es anders nicht fertigbringt, diejenigen Äußerungsbedeutungen auf die Reihe zu bringen, die die Verwendungen der Sätze in typisierten Situationen haben. Welche theoretischen Entitäten eine Theorie zu Systematisierungs- und Voraussagezwecken postuliert, schreibt man ihr tunlichst nicht vor, sondern überläßt man am besten ihr selbst. Deshalb geht Wittgenstein in seiner Aversion gegen wolkige Bedeutungstheorien entschieden zu weit, wenn er behauptet, Sätze wie „Dies ist hier“ oder „Ich bin hier“ hätten außerhalb von Verwendungssituationen keinen Sinn (PU 117 b, 514); richtig ist, daß es wenige Typen von Situationen geben dürfte, in denen man sie verwenden könnte, um eine bedeutungsvolle Äußerung zu tun, und daß sie insbesondere nicht für selbstverifizierende Mitteilungen benutzt werden können. Auch ein diszipliniert eingeführter Begriff der Satzbedeutung kettet diese hinreichend eng an die „Rolle im Sprachspiel“; nur müssen Rollen von bedeutungsvollen Äußerungen (also von Verwendungen von Sätzen in Situationen, wo Äußerungsbedeutungen zustande kommen) unterschieden werden von Rollen von bedeutungsvollen Sätzen (also von Sätzen, die man in gewissen Situationen verwenden kann, um bedeutungsvolle Äußerungen zu tun). Die Rolle einer bedeutungsvollen Äußerung wird angegeben durch ihre konventionale Vorbedingung und ihr konventionales Ergebnis; die Rolle eines bedeutungsvollen Satzes ist sein Beitrag zum Zustandekommen der Rollen der bedeutungsvollen Äußerungen dieses Satzes. Dabei ist „Beitrag“ ein ziemlich bildhafter Ausdruck. Äußerungsbedeutungen sind im Standardfall Paare aus einer illokutionären Rolle (S empfiehlt A) und einer Proposition (daß A den Hund kauft). Man möchte deshalb meinen, der „Beitrag“ des geäußerten Satzes müsse eines von beiden sein; Wahrheitsbedingungen-Semantiker neigen instinktiv

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dazu, diesen Beitrag, also die Satzbedeutung, mit der Proposition der Äußerungsbedeutung zu identifizieren. Wie das Beispiel des in Standardsituationen für die genannte Empfehlung verwendbaren Satzes „Der Hund ist bissig“ zeigt, ist der Instinkt wenig hilfreich. Daß die Satzbedeutung den Beitrag des Satzes zu den Äußerungsbedeutungen darstellt, ist eine verkürzte Redeweise dafür, daß die Regeln für das Zustandekommen von Äußerungsbedeutungen – ihre Gesamtheit ist die Pragmatik der Sprache – mit zwei Informationen auskommen müssen: der über die relevanten Situationsumstände und der über die Satzbedeutung. Für die Pragmatik ist am Satz nur die Satzbedeutung interessant. Es ist erstaunlich, daß Wittgenstein mit der Bedeutung von Wörtern offenbar weniger Schwierigkeiten hatte als mit der Bedeutung (bei ihm: dem Sinn) von Sätzen; jedenfalls gibt es keine vergleichbare Polemik. (Die einzige deutliche Ausnahme findet sich in PU 117 a.) Wortbedeutungen sind nämlich noch eine Stufe theoretischer als Satzbedeutungen: Sie werden in der Semantik einer Sprache postuliert, weil diese sich anders nicht zu helfen weiß, wenn sie aus Wörtern und Satzstrukturen jene Satzbedeutungen konstruieren soll, die sie der Pragmatik der Sprache zur Verfügung stellen muß, damit diese systematisch voraussagen kann, welche Äußerungsbedeutungen die Verwendungen der Sätze in typisierten Situationen haben werden. Wenn die Bedeutung des Wortes seine Rolle im Sprachspiel ist, dann also insofern, als sie sein Beitrag zu den Bedeutungen der Sätze ist, in denen es vorkommt, deren Bedeutung oder Rolle wiederum ihr Beitrag zu den Bedeutungen oder Rollen ist, die ihre Äußerungen haben. Was dabei unter „Beitrag“ genau zu verstehen ist, hängt natürlich davon ab, wie der theoretische Aufbau der (hoffentlich korrekten!) Semantik bzw. Pragmatik aussieht. Da Wörter in vielen bedeutungsverschiedenen Sätzen und Sätze in vielen bedeutungsverschiedenen Äußerungen vorkommen, würden die Regeln dafür, wie man ein einzelnes Wort in Sprachspielen gebraucht, wohl Bände füllen. Die zutreffende Feststellung, ein Wort bezeichne – z. B. – die Farbe Rot, wäre keine Beschreibung seines Gebrauchs; dafür muß erst noch beschrieben werden, wie es konkret aussieht, daß das Wort die Farbe Rot bezeichnet (vgl. PU 10, 15, 53 u. ö.). Wittgenstein erweckt in vielen Überlegungen den Eindruck, als bestünden die Regeln für den Gebrauch eines Begriffsworts in den Regeln für seine Anwendung auf Exemplare, etwa wenn er in PU 66–78 gegen das Vorurteil, Bedeutungen seien einheitlich, präzise und fest, Beobachtungen darüber ins Feld führt, die dieses Vorurteil zwar erschüttern, allerdings eben für Anwendungsregeln. Wer das Wort „rot“ falsch anwendet, begeht aber im Allgemeinen keinen Verstoß gegen die Regeln für den Gebrauch von „rot“, sondern führt einen Auftrag wegen Lieferschwierigkeiten falsch aus, rät die Farbe von Smaragden falsch, fällt auf ein Farbwahrnehmungsexperiment herein oder gibt einen falschen Bericht über die Ampelstellung zur Unfallzeit. (In der Situation, wo die Beherrschung des Vokabulars an Farbmustern getestet wird, ist die falsche Anwendung dagegen ein Verstoß gegen die Gebrauchsregeln.) Ähnliches wie für Begriffswörter gilt für Eigennamen; die Regeln für

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ihre Verwendung in Sprachspielen sind alles andere als einfach, und die Komplikationen bestehen nicht darin, daß man Eigennamen nicht definieren kann (PU 79). Daß ein Gegenstand auf einen Namen getauft ist, heißt zum Beispiel so lange nichts, wie man die Zeremonie nicht als Taufe kennzeichnen kann; und sie ist keine Taufe, wenn sie nicht das Ergebnis hat, daß das Wort nachher als Name für den Gegenstand verwendet werden kann – ein offenkundiger Erläuterungszirkel. Bleibt die Folge aus, dann ist bloß das Täfelchen angeheftet, welches ja erst dadurch zum Namenstäfelchen wird, daß der darauf stehende Name den Gegenstand wirklich bezeichnet, also tatsächlich als Name für ihn gebraucht wird (PU 15, 26). Für Personennamen weist PU 27 (vgl. auch PU 691) unter bewußter Ausnutzung der Mehrdeutigkeit der Wendung „jemanden mit einem Namen rufen“ auf eine typische Verwendung hin: Wenn S in Richtung einer Gruppe von Menschen „Hans!“ ruft und daraufhin von genau einer Person aus der Gruppe erwartet wird, daß sie mit S Kontakt aufnimmt, dann paßt das zu der Annahme, daß diese Person Hans heiße. Aber man braucht nur über die vielfältigen sozialen Funktionen von Personennamen nachzudenken, um zu sehen, wie kompliziert es wird, auf dieser Basis Personennamen von Titeln oder Verwandtschaftsanreden zu unterscheiden; und es scheint fast ausgeschlossen, daß man die in einer Sprache verwendeten Eigennamen ohne sehr starke Annahmen über die Syntax, wohl auch über die Wortbildung dieser Sprache identifizieren könnte. Wörter haben also nicht nur in Sätzen Bedeutung und Sätze nicht nur in Äußerungen; aber Wörter haben nur insoweit Bedeutung, als sie für Satzbedeutungen, und Sätze nur insoweit, als sie für Äußerungsbedeutungen wesentlich sind.

2.5 Die Einbettung von Sprachen in Lebensformen Zu klären bleibt noch, was in dem bisher gezeichneten Bild die Lebensformen zu suchen haben. Wieso sind Sprachen einbettungsbedürftig, und inwiefern kann man, was sie einbettet, Lebensformen nennen? Die Antwort ergibt sich aus dem skizzierten Überprüfungsverfahren des Feldforschers dadurch, daß dieses Verfahren ihn relativ schnell zu einer Entscheidung für eine Gesamtbeschreibung des Systems von sozialen Regeln nötigt, dem die Leute im unbekannten Land folgen. Wittgensteins Idee funktioniert nur, wenn man sich in diesem Fall (bei der Beschreibung der Pragmatik einer natürlichen Sprache) ohne Wenn und Aber zum Überprüfungsholismus bekennt. Ich nenne vier Situationen, in denen der Feldforscher sich unter Gesichtspunkten der theoretischen Fruchtbarkeit zwischen Alternativen entscheiden muß, die sich nicht auf Bedeutungszuschreibungen beschränken, sondern Auswirkungen auf Hypothesen über soziale Regeln haben, in denen von Sprachverwendung nicht die Rede ist. Solche Situationen nenne ich „Theoriefallen“; ihre Aufzählung beruht auf der Erfahrung mit der Untersuchung

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eines relativ einfachen, natürlichen Kommunikationssystems und ist daher wahrscheinlich unvollständig. In die erste Theoriefalle gerät der Forscher deshalb, weil er, um annehmen zu können, die für eine von ihm vermutete Äußerungsbedeutung charakteristische konventionale Vorbedingung liege vor, soziale Regeln als implizit geltend annehmen muß, die ihm diesen Schluß für seine Testsituation erlauben. Daß ein Sprecher in einer ganz konkreten Situation die für einen gewissen Befehl notwendige Autorität hat, läßt sich nicht in dieser Situation feststellen, sondern nur durch einigermaßen weiträumige Beobachtungen. Die zweite Theoriefalle lauert auf der Seite des konventionalen Ergebnisses. Bleiben wir beim Befehl: Er hat als konventionales Ergebnis, daß der Adressat das Befohlene tun muß; aber wie wir wissen, kann dieses Müssen in der konkreten Situation ganz unterschiedlich aussehen je nachdem, wie die Regeln für die Erlaubnis oder Verpf lichtung zur Befehlsverweigerung, für die Pf licht des Vorgesetzten zur Durchsetzung des Befehls, für das Durchlaufen einer hintereinander geschalteten Reihe von Sanktionen usw. aussehen. Unterschiedliche Annahmen über diese Regeln sind also nötig, wenn man das Vorliegen eines Befehls für unterschiedliche Situationen vermuten will. Auf der Seite des konventionalen Ergebnisses lauert auch die dritte Theoriefalle. Es gibt viele Äußerungen, die auf Grund ihrer Bedeutung keine neue konventionale Lage hervorbringen, sondern eine vorher bestehende konventionale Lage verstärken oder abschwächen. Wenn der Sprecher den Adressaten um etwas bittet, ist der Adressat dazu nicht einfach verpf lichtet, sondern mehr als zuvor verpf lichtet; lehnt der Sprecher eine Bitte des Adressaten ab, dann hat der Adressat nicht etwa keinen Anspruch auf Erfüllung, sondern denselben wie vor seiner Bitte; dankt der Sprecher dem Adressaten, dann vermindert sich seine anderweitig bestimmte Pf licht zur Gegenleistung, und entschuldigt er sich, dann vermindert sich seine anderweitig bestimmte Pf licht zum Schadenersatz. Die vierte Theoriefalle lauert, wo Handlungen der Leute als sprachliche Äußerungen mit Bedeutungen charakterisiert werden. Es gibt zahllose nicht-akustische Handlungen, die wir nicht als sprachliche Äußerungen auffassen, die aber mit denselben Paaren aus konventionalen Vorbedingungen und konventionalen Ergebnissen einhergehen wie gewisse sprachliche Äußerungen. Ein Beispiel dafür ist, daß ein Herr einer Dame die Tür aufhält; die Situation hat dieselbe konventionale Aufmachung wie die Äußerung „Bitte nach Ihnen“, also wie das Angebot des Sprechers an die Adressatin, sie vorgehen zu lassen. Und es gibt akustische Verlautbarungen, die wir nicht als sprachliche Äußerungen auffassen, obgleich für sie dasselbe gilt wie fürs Türaufhalten. Man denke daran, daß in einer Besprechung alle darauf warten, daß endlich ein Vorschlag kommt, und einer lehnt sich nun vor, ordnet seine Papiere und räuspert sich: alle anderen erwarten dann von ihm, daß er einen Vorschlag macht. (Es ist verwunderlich, daß das Problem, wie Äußerungen identifiziert werden, in der Sprachphilosophie so wenig berücksichtigt wird.) Die theoretische Alternative lautet in diesen Fällen: Finden wir ein System von Regeln für Äußerungsbedeutungen, nach denen die akustische Verlautbarung als Äußerung mit

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einer Bedeutung gekennzeichnet werden kann, oder ist ein System von sozialen Regeln vorzuziehen, nach denen jemand dadurch Erwartungen weckt und ihnen genügen muß, daß er sich in kritischen Situationen auffällig benimmt? Aus dem Holismus der skizzierten Überprüfung von Bedeutungszuschreibungen ergibt sich der Gedanke, Sprachen seien in soziale Systeme (und in so verstandene Lebensformen) eingebettet, wenn man dieses Bild folgendermaßen konkretisiert: Daß ein Regelsystem (eine Sprache) in ein anderes (in eine Lebensform) eingebettet ist, heißt, daß die Möglichkeit, sich nach dem ersteren System zu verhalten und die von ihm vorgesehenen Ergebnisse zu erzielen (die Sprache zu benutzen), davon abhängt, daß man sich auch im letzteren System bewegt (daß man die Lebensform lebt). Verlangt man nun von einer zutreffenden Beschreibung der benutzten Sprache, daß sie Äußerungsbedeutungen solchen Verhaltensweisen zuschreibt, die unter charakteristischen konventionalen Vorbedingungen charakteristische konventionale Ergebnisse haben, die ihrerseits durch das Gelten von Regeln definiert sind, in denen von Sprachverwendung nicht die Rede ist, dann ist die konkretisierte Einbettungsbedingung erfüllt. Nicht alle Vorbedingungen und Ergebnisse müssen vorsprachlich möglich sein; zum Beispiel setzt die Frage „Ist diese Begründung schlüssig?“ voraus, daß eine Begründung vorausgegangen ist, und erzeugt die Erwartung an die Zuhörer, etwas dazu zu sagen. Es bedarf aber wenig Phantasie, sich die teils begriff lichen, teils empirischen Gründe vor Augen zu führen, aus denen es dabei nicht bleiben kann. Zum Beispiel enthalten Begründungen Feststellungen, Annahmen oder Behauptungen, mit denen der Sprecher sich auf mehr festlegt als bloß auf weitere Äußerungen. Außerdem sind Schlüssigkeitsbeurteilungen gewiß eine recht späte sprachliche Errungenschaft. Die Interpretation der „Lebensform“ als eines Systems sozialer Regeln ist bis hierher dadurch begründet, daß eine Wittgenstein vorsichtig weiterdenkende Interpretation des Zusammenhangs von „Sprachspiel“, „Gebrauch“ und „Bedeutung“ (oder „Sinn“) zu der Annahme nötigt, daß Sprachen in Systeme von sozialen Regeln eingebettet sind, gerade wie die eingangs dieses Kapitels zitierten Sätze aus PU 19 und PU 23 Sprachen in Lebensformen eingebettet wissen wollen, und daß das Einbettungsverhältnis zwischen Lebensform und Sprache ganz konkret beschrieben werden kann. Es gibt demgegenüber die Meinung, Wittgenstein verstehe unter Lebensformen Mengen von biologisch determinierten Verhaltensweisen.6 Für diese Interpretation gibt es auf den ersten Blick einen positiven Beleg: Man sagt manchmal: die Tiere sprechen nicht, weil ihnen die geistigen Fähigkeiten fehlen. Und das heißt: „sie denken nicht, darum sprechen sie nicht“. Aber: sie sprechen eben nicht. Oder besser: sie verwenden die Sprache nicht – wenn wir von den primitivsten Sprachformen absehen. – Befehlen, fragen, 6 Hunter 1968, insbes. S. 284–289.

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erzählen, plauschen gehören zu unserer Naturgeschichte so, wie gehen, essen, trinken, spielen. (PU 25.) Mit „unserer Naturgeschichte“ stellt Wittgenstein deutlich die biologische Verfassung des Menschen derjenigen der Tiere gegenüber, und zwar so, daß zur biologischen Verfassung des Menschen im Unterschied zu der der Tiere die Sprachverwendung gehört. Man könnte sogar versucht sein zu sagen: Da es soziale Tiere gibt, die aber, „wenn wir von den primitivsten Sprachformen absehen“, keine Sprache haben, könne es nicht das Sozialverhalten sein, welches nach Wittgensteins Meinung die Sprache einbette. Aber gegen diese Interpretation von PU 25 sprechen zwei Überlegungen. Zum einen ist natürlich durchaus möglich, daß nur die Spezies Homo sapiens sapiens organisch so ausgestattet ist, daß sie Formen des sozialen Verhaltens entwickeln konnte, die ausreichen, um Sprachen einzubetten. Zwar kann man das Zusammenleben vieler sozialer Tiere am besten dadurch beschreiben, daß man im oben explizierten Sinne sagt, sie folgten Regeln und ihr Verhalten wecke bei Artgenossen Erwartungen. Darüber hinaus gibt es viele Verhaltensweisen, für die die Ethologen keine anderen Funktionen finden als gerade die, daß damit das Verhalten von Artgenossen beeinf lußt wird; solches Verhalten wird Signal- oder kommunikatives Verhalten genannt. Und wenn in der ethologischen Literatur auch nicht auf die für den Anfang der konventionalen Sprache wesentliche Verknüpfung geachtet wird – Signalverhalten im ethologischen Sinne, das Erwartungen an Sprecher und Adressaten auch bei Dritten weckt –, mag es doch so sein, daß durchs Wimmern eines hungrigen Affenbabys die Mutter unter den Erwartungsdruck der ganzen Gruppe gerät, das Baby zu säugen. Das wäre dann die Urform des Bittens. Aber wir können Wittgenstein ruhig zugestehen, daß zu Menschensprachen ein solcher Sprung nötig ist, daß man sagen kann: Auch die intelligentesten Affen und Delphine haben einfach nicht das Gehirn, um ihr Signalverhalten so zu bereichern, daß es eine Unterhaltung übers Wetter erlaubt. Das menschliche Gehirn erlaubt diese Bereicherung des Signalverhaltens – freilich gerade deshalb, weil es die nötige Differenzierung des Sozialverhaltens erlaubt; denn Lautmodifikationen sind nur insoweit bedeutungsvoll, als die Artgenossen darauf reagieren können. Es ist also ganz richtig, daß dem (über die Anfänge hinausgehenden) Sprechen die biologische Verfassung des Menschen zugrunde liegt, aber eben gerade deshalb, weil die biologische Verfassung bestimmt, wie differenziert das Sozialverhalten sein kann. Zum andern muß man sich auch bei der Interpretation von PU 25 daran erinnern, wie wichtig der Kontext für die einzelnen Abschnitte ist. In PU 1 hat Wittgenstein bei Augustinus das Bild gefunden, dem Sprechen liege die innere Denkarbeit zugrunde. (Das Bild führt für Wittgenstein zur Gegenstandstheorie der Bedeutung.)7 Demgegenüber hat er von PU 1 c bis PU 19 a begründet, daß Ausdrücke nur dank ihrer Verwendung 7 Diese Interpretation von PU 1 habe ich ausführlich verteidigt in v. Savigny (1988) 1994, ad loc.

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in Sprachspielen bedeutungsvolle Wörter, und von PU 19 b bis PU 24, daß Ausdrücke nur dank ihrer Verwendung in Sprachspielen sinnvolle Sätze seien. Hier faßt er erstmals zusammen: Der Verwendung der Sprache liegt das Denken nicht in dem Sinne zugrunde, daß wenn jemand nicht dächte, er dann auch nicht sprechen könnte; sondern daß jemand die Sprache verwendet, ist genausogut eine Verhaltensweise wie „gehen, essen, trinken, spielen“, die auch keine Übersetzungen eines vorgängig vorhandenen Innerlichen nach außen darstellen. Die Pointe des Worts „Naturgeschichte“ liegt also nicht darin, daß Sprechen Natur im Gegensatz zu Kultur wäre, sondern darin, daß die Charakterisierung eines Verhaltens als Sprechen genauso unabhängig von Überlegungen über ein zugrundeliegendes Denken ist wie die Charakterisierung eines Verhaltens als Spielen. Wittgenstein wiederholt die Kritik an Augustinus in PU 32, nachdem er von PU 26 bis PU 31 beschrieben hat, wie auch die hinweisende Definition auf die Einbettung in Sprachspiele angewiesen ist: Und nun können wir, glaube ich, sagen: Augustinus beschreibe das Lernen der menschlichen Sprache so, als käme das Kind in ein fremdes Land und verstehe die Sprache des Landes nicht; das heißt: so als habe es bereits eine Sprache, nur nicht diese. Oder auch: als könne das Kind schon denken, nur noch nicht sprechen. Und „denken“ hieße hier etwas, wie: zu sich selber reden. (PU 32 b.) PU 25 will also darauf hinaus, daß es ganz irreführend ist zu sagen, daß zum Sprechen das Denken nötig sei; wesentlich dafür, daß Menschen sprechen, sind vielmehr Verhaltensweisen, die eben nur bei Menschen vorkommen. Warum sie nur bei Menschen vorkommen, ist gar nicht Thema des Abschnitts. Unter „Lebensform“ etwas zu verstehen, das durch die biologische Verfassung des Menschen festgelegt ist, legt PU 25 also überhaupt nicht nahe. Und weitere Beobachtungen am Text schließen die Interpretation aus – es gibt für die PU unabgeschlossen viele menschliche Lebensformen, gerade wie die Interpretation der Lebensform als eines Systems von sozialen Regeln das erwarten läßt. Den ersten Beleg bietet PU 19 a: Man kann sich leicht eine Sprache vorstellen, die nur aus Befehlen und Meldungen in der Schlacht besteht. – Oder eine Sprache, die nur aus Fragen besteht und einem Ausdruck der Bejahung und der Verneinung. Und unzähliges Andere. – Und eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen. Darnach kann man sich unzählige Sprachen vorstellen; die beiden Beispiele sind „eine Sprache […], die nur aus Befehlen und Meldungen in der Schlacht besteht“ und „eine Sprache, die nur aus Fragen besteht und einem Ausdruck der Bejahung und der Verneinung“. Als Beispiele werden also disjunkte Sprachen angegeben. In diesem Fall kann der an „Und unzähliges Andere“ anschließende Satz „Und eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen“ sprachlich nicht anders verstanden werden als so, daß

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es zu disjunkten Sprachen unterschiedliche Lebensformen gibt. Die Lesart „die Lebensform des Sprachverwendens“ ist ausgeschlossen; dazu müßte der Satz so ähnlich lauten wie: „Freilich – eine dieser Sprachen vorstellen heißt immer, sich dieselbe Lebensform vorstellen.“ Zum selben Ergebnis kommt die Interpretation von PU 23, obgleich dort in b über „das Sprechen der Sprache“ gesagt wird, daß es „ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform“: Wieviele Arten der Sätze gibt es aber? Etwa Behauptung, Frage und Befehl? – Es gibt unzählige solcher Arten: unzählige verschiedene Arten der Verwendung alles dessen, was wir „Zeichen“, „Worte“, „Sätze“, nennen. Und diese Mannigfaltigkeit ist nichts Festes, ein für allemal Gegebenes; sondern neue Typen der Sprache, neue Sprachspiele, wie wir sagen können, entstehen und andre veralten und werden vergessen. (Ein ungefähres Bild davon können uns die Wandlungen der Mathematik geben.) Das Wort „Sprachspiel“ soll hier hervorheben, daß das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform. Aber zum einen ist „das Sprechen der Sprache“ nicht etwa dasselbe wie die Sprachverwendung (von der in PU 25 die Rede ist) – warum dann nicht einfach „Sprechen“? Die Lesart „das Sprechen dieser [jeweiligen] Sprache“ ist nicht nur möglich, sondern sogar geboten, weil „Sprachspiel“ ausdrücklich benutzt wird, um etwas am Sprechen der Sprache hervorzuheben, und es wird in a benutzt, um wie in PU 19 a darauf hinzuweisen, daß es unzählige „Typen der Sprache“ gibt. Also: Jedes Sprechen einer neuen Sprache ist ein neues Sprachspiel. Das ist genau das, worauf der Kontext der Stelle hinauswill. Zum anderen bedeutet, „daß das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform“, nicht etwa, daß jeder Sprachensprecher teilhat an der allumfassenden Lebensform, die dem Sprachverwenden zugrunde liegt oder es ausmacht, sondern daß jedes Sprechen einer Sprache in eine Lebensform eingebettet ist („ein Teil ist einer Tätigkeit, d. h. ein Teil einer Lebensform“: „oder“ ist wie englisch „or“ gebraucht); und verschiedene Sprachen kommen gerade durch Unterschiede zwischen den einbettenden Lebensformen zustande. Man muß sich das in a für die Arten der Ausdrucksverwendung, für die Typen der Sprache, für die Sprachspiele (wie in PU 19 a für die Sprachen) verwendete Wort „unzählig“ nämlich genauer anschauen. Natürlich braucht man nicht „unendlich viele“ zu lesen, sondern im Alltagsverständnis „unüberschaubar viele“; aber auf Grund zweier Sachverhalte heißt es auch „unabgeschlossen viele“: In PU 23 a wird gesagt, daß sich ständig neue Sprachspiele entwickeln, und die Beispielsliste in PU 23 c ist offenkundig so zu verstehen, wie Wittgenstein sich Erklärungen durch Beispiele überhaupt vorstellt: als offen und fortsetzbar. (Vgl. PU 69, 71, 75 u. ö.) Damit bekommt die Lebensform ein ganz erhebliches Gewicht: Unterschiede

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zwischen Lebensformen sind leicht vorstellbar, wenn sie für Unterschiede zwischen eingebetteten Sprachen verantwortlich sein sollen; zum Beispiel gibt es in einer Gesellschaft ohne Autoritätsverhältnisse keine Befehle, und das Schenken kennen wir nur, weil wir das Eigentum als Institution haben. Die Menge der sozialen Regeln einer Gesellschaft kann man sich natürlich jederzeit so verändert denken, daß Typen von Äußerungen entfallen, erst möglich werden oder sich Nuance für Nuance ändern. Die Einbettung der Sprache in die jeweilige Lebensform macht also verständlich, warum es unabgeschlossen viele Sprachen geben kann. Sie macht ja auch erst verständlich, wieso es die beiden primitiven Sprachen aus PU 19 a geben könnte. Sie sind nämlich alles andere als leicht vorzustellen – es sei denn, man malt sich einbettende Lebensformen, die von der unseren sehr stark abweichen, sehr ausführlich aus. Einbettende Lebensformen können so große Unterschiede aufweisen, daß es Unterschiede zwischen den einbettbaren Sprachen geben muß. Die Unterschiede brauchen nicht so weit zu gehen, daß in der einen Lebensform Institutionen existieren, die es in der anderen nicht gibt; kleinere Unterschiede genügen durchaus. Wir kennen zum Beispiel keine Äußerungen, deren Bedeutungen x, y und z wie folgt durch ihren Gebrauch gekennzeichnet wären:

(1) Soll die Äußerung die Bedeutung x haben, dann gilt: Wenn g dem Adressaten gehört, dann gehört g nach der Äußerung dem Sprecher, und der ist gegenüber dem Adressaten zur Dankbarkeit verpf lichtet. (2) Soll die Äußerung die Bedeutung y haben, dann gilt: Wenn der Sprecher Ehemann der Adressatin ist, dann sind die beiden nach der Äußerung nicht mehr verheiratet. (3) Soll die Äußerung die Bedeutung z haben, dann gilt: Wenn der Adressat den Sprecher beleidigt hat, dann muß der Adressat sich nach der Äußerung dem Sprecher zum Zweikampf stellen, und mit diesem Zweikampf sind – unabhängig vom Ausgang – die Folgen der Beleidigung erledigt. Äußerungen mit der Bedeutung x sind umgekehrte Schenkungen, solche mit der Bedeutung y einseitige Scheidungen und solche mit der Bedeutung z Duellforderungen. Alle drei Bedeutungen kommen mit den bei uns üblichen sozialen Institutionen aus. Aber damit Äußerungen mit solchen Bedeutungen üblich sein können, müssen die sozialen Systeme sich von unseren unterscheiden. Fangen wir bei der Duellforderung an: Sie kann bei uns heutzutage nicht üblich sein, weil es keine Teilmenge von Menschen gibt, die sich auf einen sogenannten Ehrenkodex verpf lichtet fühlen, dessen unbedingte Wahrung für das Aufrechterhalten der eigenen sozialen Stellung nötig ist und in dessen Rahmen sogenannte Beleidigungen Angriffe auf Rang und Geltung einer Person sind, für deren Abwehr das Risiko des Duells sich lohnt.

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Dafür, daß es die Ehescheidung durch einseitige Willenserklärung des Ehemannes geben kann, müssen Männer natürlich ganz erheblich mehr Rechte (von dem zur Scheidung abgesehen) haben als Frauen. Denn da die Ehe u. a. eine Versorgungsgemeinschaft ist und Ehemänner sich vor allem dann von ihren Frauen scheiden werden, wenn diese nicht mehr damit rechnen können, in die Versorgungsgemeinschaft mit einem anderen Mann einzutreten, und da außerdem der soziale Status der geschiedenen Frau niedriger ist als der der verheirateten, wäre der gesamtgesellschaftliche Widerstand der Frauen gegen solche Äußerungen aus einer gleichberechtigten Stellung heraus viel zu stark. Was das erste Beispiel angeht, das Aneignen fremder Sachen durch einfache Erklärung: Wenn es solche Äußerungen geben soll, dann muß es natürlich die Institution des Eigentums geben. Eigentum ist im wesentlichen Verfügungsmacht. Man muß in einer Gesellschaft mit einer Sprache, die solche Äußerungen erlaubt, über seine Sachen also verfügen können, obwohl andere die Möglichkeit haben, sie einem durch einfache Erklärung zu entziehen. Das könnte zum Beispiel dadurch erreicht werden, daß man Kredite aufnimmt und möglichst alle seine Sachen dafür verpfändet; wenn die Regel gilt, daß die Schulden am Pfand haften, werden andere es sich zehnmal überlegen, ehe sie sich eine möglicherweise belastete Sache aneignen. Im Unterschied zu unseren Idealen würde es dort als erstrebenswert gelten, sich buchstäblich bis an die Grenze der Belastbarkeit zu verschulden. Oder die Lebensform könnte so geartet sein, daß die entstehende Dankesschuld so drückend wäre, daß sie zwar keine Sicherheit, aber hinreichenden Schutz böte; man könnte sich zwar nicht darauf verlassen, am nächsten Tag noch alle seine Sachen sein eigen zu nennen, wohl aber die meisten. (Es ist übrigens klar, daß es Äußerungen dieser Art nur bei „Rückschlagverbot“ geben kann – was ein anderer sich bei mir geholt hat, darf ich mir nicht auf dieselbe Weise wiederholen.) Wenn es keine solchen Schutzmechanismen gäbe, gäbe es kein Eigentum mehr, und die Äußerung ließe sich nicht als Aneignen charakterisieren. Ich glaube, daß Wittgensteins eindrucksvollste Illustration einen solchen Fehler hat. Das Beispiel der Holzverkäufer aus dem Teil I der „Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik“ skizziert eine Lebensform, die von der unsern so stark abweicht, daß in ihr von Kaufen und Verkaufen gar nicht mehr die Rede sein kann. Er gibt im Kontext des Beispiels im Zuge seiner Überlegungen dazu, inwiefern man einen Beweis eigentlich anerkennen „müsse“, einige Beispiele für Anwendungen der Rechenkunst, die uns mehr oder weniger verrückt vorkommen; offenbar will er die in BGM I 152 gegenüber Frege angemahnte Aufklärung darüber nachliefern, „wie diese ,Verrücktheit‘ wirklich aussehen würde“.8 Wittgenstein findet sie im Ergebnis nicht so furchtbar verrückt, sondern 8 Wittgenstein zitiert Gottlob Frege, Grundgesetze der Arithmetik, 1. Band, Jena 1893 (reprographischer Nachdruck Hildesheim 1962), S. XVI. Frege kritisiert dort an Benno Erdmann die Auffassung, für Leute, die psychologisch anders geartet seien als wir, könnten eben deshalb auch andere logische Gesetze gültig sein. Ob Freges Bemerkung „Da haben wir eine bisher unbekannte Art der Verrücktheit“ sich auf diese vorgestellten Leute bezieht oder Erdmann selbst treffen soll, scheint der Kontext durchaus offenzulassen.

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nur, daß Leute, die die Rechenkunst wie beschrieben anwendeten, sich von uns bannig unterscheiden würden: In BGM I 148 zahlen sie für „Scheitholz“ (BGM I 143) z. B. ein und denselben Betrag für jede noch so verschieden große Menge, oder sie geben in BGM I 153 für Waren zwar Münzen, aber gerade so viele, wie ihnen gefällt. Im ersten Fall ist Wittgensteins Kommentar: „man hat etwa gefunden, daß man so leben kann“; im zweiten sagt er: „Wir würden uns diesen Leuten viel weniger verwandt fühlen, als solchen, die noch gar kein Geld kennen“. Richtig spannend wird es aber hier: Gut; aber wie, wenn sie das Holz in Stöße von beliebigen, verschiedenen Höhen schichteten und es dann zu einem Preis proportional der Grundf läche der Stöße verkauften? Und wie, wenn sie dies sogar mit den Worten begründeten: „Ja, wer mehr Holz kauft, muß auch mehr zahlen“? Wie könnte ich ihnen nun zeigen, daß – wie ich sagen würde – der nicht wirklich mehr Holz kauft, der einen Stoß von größerer Grundf läche kauft? – Ich würde z. B. einen, nach ihren Begriffen, kleinen Stoß nehmen und ihn durch Umlegen der Scheiter in einen ,großen‘ verwandeln. Das könnte sie überzeugen – vielleicht aber würden sie sagen: „ja, jetzt ist es viel Holz und kostet mehr“ – und damit wäre es Schluß. – Wir würden in diesem Falle wohl sagen: sie meinen mit „viel Holz“ und „wenig Holz“ einfach nicht das Gleiche, wie wir; und sie haben ein ganz anderes System der Bezahlung, als wir. (BGM I 149, 150.) Zu sagen, die Leute meinten mit „viel Holz“ und „wenig Holz“ nicht das Gleiche wie wir, scheint mir uninteressant; und der Kommentar, sie hätten ein anderes System der Bezahlung, ist entschieden zu schwach. Man dürfte sich davon überzeugen können, daß hier nicht einmal verkauft und gekauft wird, weil es mangels eines Zahlungssystems gar kein „System der Bezahlung“ gibt. Nimmt man an, daß die Leute nutzenorientiert handeln und das Scheitholz wirklich als Scheitholz handeln (also als Brennholz), dann werden sie natürlich folgendes tun: Sie kaufen hochgetürmtes Holz billig, breiten es aus, verkaufen es teuer, kaufen für den Erlös hochgetürmtes Holz billig, breiten es aus usw. usw. Wenn die anderen auch so schlau sind, gibt es nur noch Wiederverkäufer und keine Käufer mehr, und der Markt bricht in der Zeit zusammen, die man braucht, um einen hochgetürmten Haufen umzuschichten. Wenn die Sache weitergehen soll, muß es den Leuten also egal sein, wieviel wovon sie für ihr Holz bekommen; was sie bekommen, hat dann keinen Wert und ist kein Zahlungsmittel. Die Transaktionen sind keine Kaufgeschäfte. Das Ergebnis tritt nicht ein, wenn das Holz auf einem Stapel durch Ausbreiten des Stapels tatsächlich wertvoller wird, etwa weil es magische Kräfte bekommt. (Das mit den Scheitern unterhaltene Feuer gibt mehr magische Energie ab, wenn die Scheiter aus ei-

S  L: W   B



nem ausgebreiteten Stapel stammen.) Holz aus hochgetürmten Stapeln wird überhaupt nur deshalb verkauft, weil jeder Mensch nur einmal in seinem Leben einen Stapel ausbreiten darf; das ist ein wichtiges Ereignis und wird mit einem großen Fest gefeiert. Der Trick bei dieser Ergänzung von Wittgensteins Geschichte ist natürlich, daß wir besondere Nachfrage und eine Beschränkung des Angebots eingeschmuggelt haben. Leider wird die Situation dadurch ganz und gar normalisiert: Die Leute verhalten sich wie Katholiken, die an die Kraft des Wassers aus Lourdes glauben. Ein Beispiel für Kaufen und Verkaufen bei fast beliebiger Vergrößerung des Angebots haben wir nicht gefunden; und darauf will Wittgensteins Geschichte ja offenbar hinaus. Unter dieser Voraussetzung wird sich aber bei nutzenorientiert handelnden Leuten kein Tauschverkehr für das (praktisch unbegrenzt verfügbare) Gut entwickeln. Läßt man die Voraussetzung nutzenorientierten Handelns fallen, dann eröffnet sich dem Spiel der Phantasie ein weites Feld; aber Kaufen und Verkaufen oder so abstrakte Dinge wie Preise und Geld findet man auf diesem Felde sicher nicht. Wir haben es also damit zu tun, daß, verwoben mit gewissen Verhaltensweisen, Äußerungen mit Bedeutungen postuliert werden, denen in dieser Verbindung gar keine Lebensform zu Grunde liegen kann; und dann muß die Vermutung, eine Sprache mit den postulierten Bedeutungen werde gesprochen, mangels einbettender Lebensform fallengelassen werden.

Literatur P. F. Strawson 1954, Review of Wittgenstein’s Philosophical Investigations, in: G. Pitcher (Hg)., Wittgenstein: The Philosophical Investigations, Garden City, New York, 1966, 22–64, S. 25 f. J. F. M. Hunter 1968, „Forms of Life“ in Wittgenstein’s Philosophical Investigations, in: E. D. Klemke (Hg.), Essays on Wittgenstein, Urbana, Illinois, 1971, 273–297. A. Kenny 1973, Wittgenstein, London, 159–177. A. Kemmerling 1975, Regel und Geltung im Lichte der Analyse Wittgensteins, Rechtstheorie 6, 104–131. G. Hallett 1977, A Companion to Wittgenstein’s „Philosophical Investigations“, Ithaca, N.Y., ad PU 43. G. P. Baker, P. M. S. Hacker 1980, An Analytical Commentary on the Philosophical Investigations, Vol. I: Wittgenstein, Understanding and Meaning, Oxford, ad PU 23. R. Haller 1984, Lebensform oder Lebensformen? Grazer Phil. Stud. 21, 55–63. S. St. Hilmy 1987, The Later Wittgenstein: The Emergence of a New Philosophical Method, Oxford, 163–180. J. Schulte 1987, Erlebnis und Ausdruck: Wittgensteins Philosophie der Psychologie, München, 21–25. E. v. Savigny (1988) 1994, Wittgensteins „Philosophische Untersuchungen“: Ein Kommentar für Leser, Bd. I, Frankfurt a. M. E. v. Savigny 1989, Viele gemeinsame menschliche Handlungsweisen, in: W. Gombocz, H. Rutte, W. Sauer (Hgg.), Traditionen und Perspektiven der analytischen Philosophie (FS R. Haller), Wien, 224–238. J. Schulte 1989, Wittgenstein: Eine Einführung, Stuttgart, 130–173. N. Garver 1990, Form of Life in Wittgenstein’s Later Work, Dialectica 44, 175–201. E. v. Savigny 1990, The Last Word on Philosophical Investigations 43 a, Austr. Journ. Phil. 68, 241–243. J. Schulte 1990, Kontext, in: ders., Chor und Gesetz, Frankfurt a. M, 146–161.

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E  S

R. Raatzsch 1992, Physiognomische Sprachspiele, Konstanzer Berichte: Philosophie der Geistes- und Sozialwissenschaften, H. 8, 93–113; englisch in P. Philipp, R. Raatzsch (Hgg.), Essays on Wittgenstein, Bergen 1993, 114–126. R. Raatzsch 1993, Philosophical Investigations 206: The Common Behaviour of Mankind, in P. Philipp, R. Raatzsch (Hgg.), Essays on Wittgenstein, Bergen 1993, 74–92.

3 Hjalmar Wennerberg

Der Begriff der Familienähnlichkeit in Wittgensteins Spätphilosophie

3.1 In diesem Artikel möchte ich eine erläuternde Darstellung und Analyse von Ludwig Wittgensteins Begriff der Familienähnlichkeiten vorlegen. Eingeführt wird dieser Begriff im „Blauen Buch“ (S. 36–41) sowie in den „Philosophischen Untersuchungen“ (PU 65–71). Wittgenstein führt den Begriff ein, um die herkömmliche Theorie anzugreifen, wonach allen Entitäten, die unter einen gegebenen Begriff fallen, eine Menge von Eigenschaften oder Merkmalen gemeinsam sein muß, aufgrund von deren Vorhandensein es richtig ist, eine Entität unter diesen Begriff zu subsumieren. Nach dieser Theorie gelten z. B. alle Menschen als „vernünftige Tiere“: Jeder Mensch ist vernünftig und jeder Mensch ist ein Tier, und nichts, was kein Mensch ist, ist sowohl ein Tier als auch vernünftig. Es gibt jedoch Tiere, die keine Menschen sind, und es könnte auch vernünftige Wesen geben, die keine Menschen sind (z. B. Engel). Die Eigenschaft der Vernünftigkeit ist allen Menschen gemeinsam, doch die Eigenschaft, ein vernünftiges Tier zu sein, ist nicht nur allen Menschen gemeinsam, sondern überdies allen Menschen gemeinsam und eigentümlich. Gegen diese Theorie macht Wittgenstein geltend, es sei durchaus nicht so, daß alle unter einen gegebenen Begriff fallenden Entitäten eine Gemeinsamkeit aufweisen müssen; vielmehr können sie in vielen verschiedenen Hinsichten miteinander verwandt sein. Betrachten wir beispielsweise verschiedene „Spiele“: „Was ist allen diesen gemeinsam? – Sag nicht: ,Es muß ihnen etwas gemeinsam sein, sonst hießen sie nicht „Spiele“‘ – sondern schau, ob ihnen allen etwas gemeinsam ist. – Denn, wenn du sie anschaust, wirst du zwar nicht etwas sehen, was allen gemeinsam wäre, aber du wirst Ähnlichkeiten, Verwandtschaften, sehen, und zwar eine ganze Reihe. […] Schau z. B. die Brettspiele an, mit ihren mannigfachen Verwandtschaften. Nun geh zu den Kartenspielen über: hier



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findest du viele Entsprechungen mit jener ersten Klasse, aber viele gemeinsame Züge verschwinden, andere treten auf. Wenn wir nun zu den Ballspielen übergehen, so bleibt manches Gemeinsame erhalten, aber vieles geht verloren. –“ (PU 66) Diese Ähnlichkeiten nennt Wittgenstein „Familienähnlichkeiten“, „denn so übergreifen und kreuzen sich die verschiedenen Ähnlichkeiten, die zwischen den Gliedern einer Familie bestehen: Wuchs, Gesichtszüge, Augenfarbe, Gang, Temperament, etc. etc.“ (PU 67). Ehe wir zur Analyse dieser Auffassung übergehen, muß darauf hingewiesen werden, daß sie in Wittgensteins Spätphilosophie eine überaus wichtige Rolle spielt. Ihr Einf luß läßt sich in wenigstens drei verschiedenen Kontexten verfolgen. 1. Zu den wichtigen Problemen, die Wittgenstein im „Tractatus logico-philosophicus“ aufwirft, gehören Fragen wie „Was ist Sprache?“ oder „Was ist ein Satz?“. Und im „Tractatus“ gibt er folgende Antwort: „Die allgemeine Form des Satzes ist: Es verhält sich so und so“ (4.5, vgl. PU 114). Dieses Problem erachtet Wittgenstein in seiner Spätphilosophie für ein Scheinproblem, denn es gibt weder ein Wesen der Sprache noch eine allgemeine Form des Satzes. Die verschiedenen Sprachen (oder Sprachspiele) sind durch Familienähnlichkeiten miteinander verbunden, und das gleiche gilt auch für die diversen Arten von Sätzen (PU 65, 92, 108, 114). 2. Seit Sokrates haben schon viele Philosophen versucht, wichtige Begriffe oder Termini durch Angabe notwendiger und hinreichender Anwendungsbedingungen zu definieren. Von vielen neueren Philosophen – z. B. Moore und Russell – ist der Philosophie die Aufgabe der logischen Analyse zugeschrieben worden, und diese Philosophen sind oft davon ausgegangen, daß solche Definitionen tatsächlich aufgestellt werden können. Nach Wittgensteins Lesart dieser Anschauung ist „die Antwort auf diese Fragen […] ein für allemal zu geben; und unabhängig von jeder künftigen Erfahrung“ (PU 92). Gegen diese Philosophen erhebt Wittgenstein folgenden Einwand: „Wenn die Philosophen ein Wort gebrauchen – ,Wissen‘, ,Sein‘, ,Gegenstand‘, ,Ich‘, ,Satz‘, ,Name‘ – und das Wesen des Dings zu erfassen trachten, muß man sich immer fragen: Wird denn dieses Wort in der Sprache, in der es seine Heimat hat, je tatsächlich so gebraucht?“ (PU 116) Untersucht man, wie diese Wörter in der normalen Sprache tatsächlich verwendet werden, stellt man fest, daß den Situationen, in denen das jeweils betrachtete Wort zur Anwendung kommt, kein „Wesen“ gemeinsam ist und daß zwischen ihnen nur Familienähnlichkeiten bestehen. Die Suche nach einem solchen Wesen muß daher letztlich fehlschlagen. 3. Die Suche nach dem Wesen bestimmter psychologischer Termini hat einige Philosophen zu der Annahme geführt, es gebe eine Art von geistigen Entitäten, die nach Wittgensteins Meinung gar nicht existieren. Wollen wir z. B. jemandem die Bedeutung des Wortes „Kreis“ durch Zeigen auf verschiedene Kreise beibringen, müssen wir „auf die Form zeigen“. Sonst kann der Hörer unsere hinweisende Definition anders deuten, als sie gemeint war. So könnte er, falls alle gezeigten Kreise rot sind, auf den Gedanken kommen, „Kreis“ bedeute das, was in Wirklichkeit mit dem Wort „rot“ gemeint ist

D B  F



(PU 34). Es gibt jedoch keine körperliche Handlung, die den Situationen gemeinsam wäre, in denen wir „auf die Form des Kreises zeigen“ (im Gegensatz etwa zum „auf die Farbe Zeigen“). Und wir tun hier, was wir in tausend ähnlichen Fällen tun: Weil wir nicht eine körperliche Handlung angeben können, die wir das Zeigen auf die Form (im Gegensatz z. B. zur Farbe) nennen, so sagen wir, es entspreche diesen Worten eine geistige Tätigkeit. Wo unsere Sprache uns einen Körper vermuten läßt, und kein Körper ist, dort, möchten wir sagen, sei ein Geist. (PU 36). Lassen wir die Vorstellung fallen, den verschiedenen Situationen, in denen man „auf die Form des Kreises zeigt“, müßte irgend etwas gemeinsam sein, verschwindet damit auch ein Grund für die Annahme der Existenz eines „Gespensts in der Maschine“, um mit Gilbert Ryle zu reden (vgl. PU 153). Macht man im Anschluß an Wittgenstein geltend, ein bestimmter Begriff X sei ein Familienbegriff , so daß die unter ihn fallenden Gegenstände keine durchgängige Gemeinsamkeit aufweisen, sondern durch „Familienähnlichkeiten“ miteinander verbunden sind, läßt sich diese These in zweierlei Weise interpretieren. Es gibt nämlich eine stärkere und eine schwächere Lesart der These. Nach der stärkeren Lesart existiert kein Merkmal, das allen unter X fallenden Entitäten zukäme. Man könne an jedes beliebige Merkmal denken – stets sei es möglich, eine Entität ausfindig zu machen, der dieses Merkmal abgehe. (Zumindest könne man eine mögliche Situation beschreiben, in der dieses Merkmal fehle, obwohl es korrekt wäre, den Begriff X anzuwenden.) Die schwächere Lesart bestreitet nicht die Möglichkeit, ein Merkmal ausfindig zu machen, das allen unter X fallenden Entitäten zukommt, doch sie verneint die Möglichkeit, ein allen diesen Entitäten zukommendes Merkmal zu finden, das nicht auch Gegenständen zugeschrieben werden könne, welche nicht unter den Begriff X fallen. Die stärkere Lesart der Theorie leugnet, daß es ein allen unter X fallenden Entitäten gemeinsames Merkmal gebe, während die schwächere Version bestreitet, daß es ein Merkmal bzw. eine Menge von Merkmalen gibt, die allen diesen Entitäten gemeinsam und eigentümlich ist. Im Hinblick auf eine Vielzahl von Begriffen vertritt Wittgenstein offensichtlich die schwächere Lesart dieser These, doch es ist überaus zweifelhaft, ob er auch die stärkere Lesart gelten läßt. Er bestreitet zwar, daß alle Spiele „unterhaltend“ seien oder „Konkurrenz der Spielenden“ beinhalten (PU 66), aber es ist offenbar nicht berechtigt, daraus den Schluß zu ziehen, daß er die Existenz eines allen Spielen gemeinsamen Merkmals bestreiten würde. Nach meiner Überzeugung würde Wittgenstein nicht leugnen, daß alle Spiele Tätigkeiten sind. Dagegen würde er sicher bestreiten, daß irgendein Merkmal, das man als „wesentliches“ Merkmal der Spiele anzusehen geneigt wäre, tatsächlich allen Spielen zukommt.



H W

Nun hat Haig Khatchadourian behauptet, die Merkmale, die Wittgenstein vorschweben, wenn er bestreitet, daß allen unter einen Begriff X fallenden Entitäten ein Merkmal gemeinsam ist, seien „nicht bloß Arten von Eigenschaften oder bestimmbare1 Eigenschaften (bzw. Relationen oder beides), sondern bestimmte oder relativ bestimmte Eigenschaften (bzw. Relationen oder beides)“. Dann fragt er: „Aber wie bestimmt muß eine allen Angehörigen einer ,Familie‘ gemeinsame Eigenschaft sein, damit wir sagen dürfen, sie sei etwas allen Angehörigen ,Gemeinsames‘?“2 Diese Frage, meint er offenbar, müsse beantwortet werden, denn sonst sei Wittgensteins Auffassung in gewissem Sinne „ohne Gehalt“: Ist gefordert, daß alle Angehörigen einer Familie die gleichen bestimmten Eigenschaften aufweisen, ist damit zuviel verlangt. Eine solche These ist von keinem Befürworter der herkömmlichen Theorie vertreten worden. Ist dagegen nur gefordert, alle Angehörigen derselben Familie müßten die gleiche bestimmbare Eigenschaft besitzen, ist Wittgensteins Auffassung offensichtlich falsch, denn es gelingt ohne weiteres, Merkmale ausfindig zu machen, die allen Angehörigen einer Familie gemeinsam sind.3 Aus den obigen Überlegungen geht hervor, daß sich nur die stärkere Lesart der These Wittgensteins auf diese Weise kritisieren läßt. Die schwächere Lesart besagt, daß es eine Menge von Merkmalen gebe, die allen unter einen gegebenen Begriff fallenden Entitäten gemeinsam und eigentümlich sei, einerlei, wo man auf der Skala zwischen „bestimmt“ und „bestimmbar“ die Grenze zieht. Diese Unterscheidung zwischen den beiden Lesarten von Wittgensteins These hat Khatchadourian offenbar nicht berücksichtigt, denn er versucht diese These durch den Hinweis zu kritisieren, daß „es eben doch ein allen Arten von Spielen gemeinsames bestimmtes Merkmal gibt, nämlich die Fähigkeit, [unter ,Standardbedingungen‘ oder in ,Normalkontexten‘] in den Spielern und/oder Zuschauern Wohlgefallen auszulösen oder hervorzubringen“.4 Dieses Merkmal kommt zwar tatsächlich allen Spielen zu, aber es ist zugleich ein Merkmal mancher Tätigkeiten, die (wie Khatchadourian vermutlich einräumen würde) keine Spiele sind. Daß dieses Merkmal allen Spielen zukommt, widerlegt zwar die stärkere Lesart von Wittgensteins These über den Begriff „Spiel“, aber sie ist kein Einwand gegen die schwächere Lesart.

1 Diese Unterscheidung sei kurz erläutert. Ist F eine bestimmbare Eigenschaft im Verhältnis zu den bestimmten Eigenschaften G1 , G , …, dann kann ein Subjekt die Eigenschaft F nur haben, indem es eine von den Eigenschaften G1 , G , … hat. Z. B. ist „farbig“ bestimmbar im Verhältnis zu „blau“, „gelb“ usw., und „blau“, „gelb“ usw. sind bestimmt im Verhältnis zu „farbig“. (Anm. d. Übers.) 2 Khatchadourian 1957/58, S. 342. 3 Ebd., 343. 4 Ebd., 344.

D B  F



3.2 In einem Artikel über Universalien und Familienähnlichkeiten interpretiert J. R. Bambrough den Begriff der Familienähnlichkeiten wie folgt: „Es ist möglich, eine Menge von Gegenständen im Hinblick auf das Vorhandensein oder Fehlen der Merkmale ABCDE zu klassifizieren. Es kann durchaus geschehen, daß fünf Gegenstände edcba so beschaffen sind, daß jeder dieser Gegenstände vier der genannten Eigenschaften besitzt und der fünften ermangelt, wobei das fehlende Merkmal in jedem der fünf Fälle ein anderes ist. Diese Situation läßt sich durch das folgende einfache Diagramm veranschaulichen: 5 e

d

c

b

a

ABCD

ABCE

ABDE

ACDE

BCDE

Dieses Beispiel zeigt nach Bambroughs Darstellung, wie naheliegend es sein könnte, ein und dasselbe Wort auf mehrere Gegenstände anzuwenden, denen kein einziges Merkmal gemeinsam ist. Außerdem deutet Bambrough offensichtlich an, ohne es jedoch ausdrücklich zu behaupten, daß alle Anwendungen des Begriffs der Familienähnlichkeiten in Wittgensteins Text gemäß diesem Modell analysiert werden können. Freilich könne es geschehen, wie er hinzufügt, daß einer der Gegenstände (etwa b) gar nicht existiert. In dem Fall ist allen übrigen Gegenständen faktisch das Merkmal B gemeinsam. Doch dann wird es, wie Bambrough meint, nicht am Vorhandensein dieser Gemeinsamkeit liegen, daß alle Gegenstände mit dem gleichen Namen bezeichnet werden, denn dieser Name trifft ja außerdem auch auf einen möglichen Gegenstand zu, dem das Merkmal fehlt. Also ist das Vorhandensein von B, wie Bambrough ausführt, keine notwendige Bedingung dafür, einen Gegenstand mit dem betreffenden Namen zu bezeichnen. Dem hätte Bambrough hinzufügen können, daß B auch keine hinreichende Bedingung darstellt. Unter dieser Voraussetzung muß ein Gegenstand vier der Merkmale ABCDE aufweisen, um mit dem betreffenden Namen bezeichnet zu werden. Viele Gegenstände besitzen das Merkmal B, ohne so bezeichnet zu werden. Vermutlich lassen sich einige von Wittgensteins Beispielen für Familienähnlichkeiten tatsächlich mit Hilfe dieses Modells analysieren, doch mir scheint, daß Bambrough keine allgemeine Erklärung dargelegt hat, die sich auf die Gesamtheit der vielen Fälle anwenden ließe, in denen sich Wittgenstein des Begriffs der Familienähnlichkeit bedient. Es ist anzunehmen, daß Wittgenstein außerdem behaupten würde, daß man auch von fünf Gegenständen mit den folgenden Merkmalkombinationen sagen würde, sie seien durch Familienähnlichkeiten verbunden: 5 Bambrough 1960/61, 210.



H W

e

d

c

b

a

ABCD

BCDE

CDEF

DEFG

EFGH

Ferner glaube ich, daß zumindest einige der von Wittgenstein für Familienbegriffe erachteten Begriffe so beschaffen sind, daß die unter einen solchen Begriff fallenden Entitäten nur in diesem „lockeren“ Sinne durch Familienähnlichkeiten verbunden sind. Ein Hauptunterschied zwischen Bambroughs und meiner Interpretation liegt in Folgendem: Nach seiner Interpretation haben zwei beliebige Gegenstände mit gleichem Namen stets viele Merkmale gemein, während einige derartige Paare (z. B. e und a) nach meiner Interpretation überhaupt keine Gemeinsamkeiten aufzuweisen brauchen. Zunächst ist festzuhalten, daß es nach beiden Interpretationen sinnlos ist, die von manchen Philosophen vertretene Behauptung zu wiederholen, zwei Gegenstände seien durch Familienähnlichkeiten miteinander verbunden. Man benötigt wenigstens drei Gegenstände, um zwischen einem gemeinsamen Merkmal und Familienähnlichkeiten unterscheiden zu können. Nach meiner Interpretation könnte man einer solchen Behauptung aber dennoch einen Sinn verleihen, wenn man sie als Abkürzung für die Feststellung auffaßt, die beiden betreffenden Gegenstände ließen sich mit Hilfe einer Kette weiterer Gegenstände derart miteinander verketten, daß je zwei benachbarten Gegenständen viele Merkmale gemeinsam sind. Es gibt fünf Argumente, die für meine Interpretation und gegen die Interpretation Bambroughs sprechen: 1. In PU 67 schreibt Wittgenstein: „Warum nennen wir etwas ,Zahl‘? Nun etwa, weil es eine – direkte – Verwandtschaft mit manchem hat, was man bisher Zahl genannt hat; und dadurch, kann man sagen, erhält es eine indirekte Verwandtschaft zu anderem, was wir auch so nennen.“ Nach Bambroughs Interpretation gibt es immer eine „direkte“ Verwandtschaft zwischen je zwei Gegenständen, die unter denselben Begriff fallen, wogegen meine Interpretation eine Unterscheidung zwischen „direkter“ und „indirekter“ Verwandtschaft verschiedener Gegenstände zuläßt, welche unter denselben Begriff fallen. In dem oben angeführten Beispiel ist, wie man sagen kann, von einer „direkten“ Verwandtschaft zwischen e und d und einer „indirekten“ Verwandtschaft zwischen e und a die Rede. Im „Braunen Buch“ (S. 129/EPhilB S. 195-196, vgl. PU 122) weist Wittgenstein darauf hin, daß wir uns manchmal den Kopf über den Umstand zerbrechen, daß ein und dasselbe Wort gebraucht wird, um zwei völlig verschiedene Situationen zu kennzeichnen. So könnte man etwa fragen: „Worin liegt die Ähnlichkeit der Vorgänge: einen vergessenen Namen im Gedächtnis suchen, und, zum Beispiel, ein Buch im Schrank suchen?“ – „Eine Art der Beantwortung wäre jedenfalls die, eine Reihe von Bindegliedern zu beschreiben. So könnte man sagen, der Fall des materiellen Suchens, der dem Suchen im Gedächtnis am nächsten steht, ist nicht Suchen nach einem Buch im Schrank, sondern Nachschlagen einer Stelle, die wir vergessen haben, in einem Buch. Und nun könnte man weitere Fälle interpolieren.“ Dieses Beispiel steht völlig in Einklang mit

D B  F



meiner Interpretation. Um zu erklären, warum e und a in dem obigen Beispiel mit dem gleichen Namen bezeichnet werden, könnte man darauf hinweisen, wie ähnlich e dem d ist, d dem c, c dem b und b dem a. 2. Wittgenstein vergleicht die Extension eines Begriffes mit einem Faden, wobei die unter den Begriff fallenden Gegenstände winzigen Stückchen des Fadens entsprechen und die einzelnen Fasern den Merkmalen, die für die Familienähnlichkeiten zwischen den Gegenständen konstitutiv sind. „Und wir dehnen unseren Begriff der Zahl aus, wie wir beim Spinnen eines Fadens Faser an Faser drehen. Und die Stärke des Fadens liegt nicht darin, daß irgend eine Faser durch seine ganze Länge läuft, sondern darin, daß viele Fasern einander übergreifen“ (PU 67). Dieses Gleichnis spricht für meine Interpretation. 3. Im Rahmen der Kritik seiner eigenen „Tractatus“-Vorstellungen weist Wittgenstein in den „Philosophischen Untersuchungen“ darauf hin, daß unsere empirischen Begriffe vag sind, was allerdings kein Mangel unserer Sprache sei. Folglich habe der Philosoph auch nicht die Aufgabe, eine Idealsprache zu konstruieren, die nur exakte Begriffe enthält (PU 81). Viele unserer empirischen Begriffe haben wir durch hinweisende Definitionen gelernt, und der Gebrauch unserer Worte „ist nicht überall von Regeln begrenzt“ (PU 68).6 Dann stellt Wittgenstein die rhetorische Frage: „sollen wir sagen, daß wir mit diesem Wort eigentlich keine Bedeutung verbinden, da wir nicht für alle Möglichkeiten seiner Anwendung mit Regeln ausgerüstet sind?“ (PU 80) Wittgenstein bringt den Begriff der Familienähnlichkeit offenbar deshalb ins Spiel, um zu erklären, warum unsere empirischen Begriffe „verschwommene Ränder“ (PU 71) aufweisen und nicht von „einer Grenze abgeschlossen“ sind (PU 68). Bambroughs Interpretation dieses Begriffs gibt allerdings keinen Aufschluß darüber, warum ein Familienbegriff notwendig vag sein muß. Seine Interpretation ist vereinbar mit der These, alle Familienbegriffe seien exakt, und das ist eine These, die Wittgenstein nicht vertritt. Sofern ein Gegenstand wenigstens vier der Merkmale ABCDE aufweist, fällt er laut Bambrough unter den relevanten Begriff; und wenn er drei oder weniger dieser Merkmale besitzt, fällt er nicht darunter. Sind die Termini, von denen diese Merkmale zum Ausdruck gebracht werden, exakt, ist der betreffende Familienbegriff ebenfalls exakt; ob der Terminus anwendbar ist oder nicht, steht nie in Zweifel. Sind solche Termini dagegen vag, ist der Familienbegriff ebenfalls vag, doch diese Vagheit läßt sich nicht dadurch erklären, daß es sich hier um einen Familienbegriff handelt.

6 Anschließend fährt Wittgenstein fort: „aber es gibt ja auch keine Regel dafür z. B., wie hoch man im Tennis den Ball werfen darf, oder wie stark, aber Tennis ist doch ein Spiel und es hat auch Regeln.“ Dieser Vergleich scheint mir ein wenig irreführend zu sein, denn im Tennis ist es gestattet, den Ball so hoch oder so stark zu schlagen, wie man kann.

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Meine Interpretation der These Wittgensteins ist vermutlich besser geeignet, den Zusammenhang zwischen Vagheit und Familienähnlichkeit zu erklären. Doch zu diesem Zweck muß ich zunächst ein wenig weiter ausholen. Man könnte meinen, der Unterschied zwischen den beiden Interpretationen sei im Grunde nicht sonderlich interessant. Gehen wir davon aus, daß es n Merkmale gibt, die für die unter einen bestimmten Begriff fallenden Gegenstände „kennzeichnend“ sind, während ein solcher Gegenstand nur eine bestimmte Anzahl dieser Merkmale – etwa n/2 oder noch weniger – aufzuweisen braucht, um unter den betreffenden Begriff zu fallen. Dann kann es natürlich geschehen, daß zwei Gegenständen, die alle beide unter diesen Begriff fallen, kein für die unter diesen Begriff fallenden Gegenstände „kennzeichnendes“ Merkmal gemeinsam ist. Dabei möchte ich mich nicht auf diesen recht trivialen Einwand gegen Bambroughs Interpretation beschränken. Nach meinem Dafürhalten nimmt Wittgenstein das Faktum ernst, daß die Klassifikation der Gegenstände bzw. ihre Subsumtion unter verschiedene Begriffe ein historischer Vorgang ist, der sowohl einen rückwärts- als auch einen vorwärtsgerichteten Aspekt hat. Die Gegenstände, die unter einen bestimmten Terminus X fallen, sind zu verschiedenen Zeiten zum Vorschein gekommen und unter diesen Begriff subsumiert worden, und in der Zukunft werden neue Gegenstände darunter subsumiert werden. Der Faden in Wittgensteins Gleichnis hat keine feststehende, ein für allemal gegebene Länge, sondern er wächst ständig und wird immer länger. Neue Gegenstände treten in Erscheinung und fallen – neben den Gegenständen abcde – ebenfalls unter unseren Begriff. Nehmen wir an, ein neuer Gegenstand habe die Merkmale FGHI. Da wird es ganz natürlich sein, auch diesen Gegenstand unter unseren Begriff zu subsumieren. Dann kommt ein weiterer Gegenstand mit den Merkmalen GHIJ, der ebenfalls unter unseren Begriff subsumiert werden kann, usw. Nach meiner Interpretation könnte es sein, daß sich ein Gegenstand f in ähnlicher Weise zum Gegenstand a verhält wie a zum Gegenstand e – und das heißt, daß a und f kein „kennzeichnendes“ Merkmal gemeinsam haben, während ein weiterer Gegenstand g in ähnlicher Beziehung zu f stehen kann usf. Theoretisch könnte man so zu einer unendlichen Anzahl von unter den gleichen Begriff fallenden Gegenständen gelangen, deren „kennzeichnende“ Merkmale mit keinem anderen übereinstimmen. „Wie ist denn der Begriff des Spiels abgeschlossen? Was ist noch ein Spiel und was ist keines mehr? Kannst du die Grenzen angeben? Nein“ (PU 68). Sofern ich recht habe, behauptet Wittgenstein hier nicht nur, daß es Grenzfälle gibt, bei denen wir nicht wissen, ob es sich um Spiele handelt oder nicht, sondern er sagt, daß wir heute außerstande sind, die Merkmale der Tätigkeiten zu formulieren, die in der Zukunft zum Vorschein kommen und „Spiele“ genannt werden. Nehmen wir an, jemand beschreibe eine Tätigkeit, mit der sich einige Menschen im Jahre 2018 beschäftigen werden. Da ist es durchaus möglich, daß unsereiner nicht anzugeben vermag, ob man diese Tätigkeit ein Spiel nennen wird oder nicht. Aber sowohl nach der herkömmlichen Theorie als auch nach Bambroughs Wittgen-

D B  F



stein-Interpretation könnte man das wohl angeben. Nach der traditionellen Theorie braucht man bloß herauszubekommen, ob diese Tätigkeit die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für Spiele erfüllt, während man nach Bambroughs Interpretation herausbekommen muß, ob die Tätigkeit eine ausreichende Anzahl der für Spiele „kennzeichnenden“ Merkmale aufweist. Nun wollen wir ein Argument betrachten, das für Bambroughs Interpretation des Begriffs der Familienähnlichkeiten spricht. Mit Hilfe dieses Begriffs muß es Wittgenstein natürlich nicht nur gelingen zu erklären, warum manche Gegenstände unter einen bestimmten Begriff fallen, sondern auch, warum andere Gegenstände nicht darunter fallen. Wenn man von der Richtigkeit der Interpretation Bambroughs ausgeht, fällt diese Erklärung leichter als dann, wenn man meine Interpretation akzeptiert. Nach Bambrough können wir den Umstand, daß ein Gegenstand x nicht unter den Begriff A fällt, durch den Hinweis erklären, daß x zu den unter A fallenden Gegenständen in einer Beziehung der „Familienunähnlichkeit“ steht, das heißt: x ist jedem dieser Gegenstände in verschiedener Hinsicht unähnlich, aber nicht allen Gegenständen in derselben Hinsicht. Legt man meine Interpretation des Begriffs der Familienähnlichkeit zugrunde, ist dieser Sachverhalt anscheinend schwieriger zu erklären, denn daraus scheint sich zu ergeben, daß alles mit allem anderen im Sinne der Familienähnlichkeit verwandt ist. Nehmen wir einen beliebigen Gegenstand x, der nicht unter den Terminus A fällt. Dann wird es in vielen Fällen möglich sein, eine Reihe von Gegenständen zwischen x und einem bestimmten unter A fallenden Gegenstand so zu wählen, daß je zwei beliebige benachbarte Gegenstände viele Gemeinsamkeiten aufweisen. Aus meiner Interpretation scheint nun zu folgen, daß alle diese Gegenstände zueinander im Verhältnis der Familienähnlichkeit stehen. Dementsprechend kann man Familienähnlichkeiten zwischen einer Menge von Gegenständen erhalten, ohne daß ein allgemeiner Terminus vorhanden wäre, dessen Denotation aus diesen Gegenständen bestünde. Angesichts dieser Schwierigkeit stehen Wittgenstein zwei Möglichkeiten offen, seine Theorie zu verteidigen. Er könnte entweder eine sehr viel exaktere Definition für die als Familienähnlichkeiten geltenden Ähnlichkeitsbeziehungen angeben oder einräumen, daß Familienähnlichkeiten zwischen einer Menge von Gegenständen keine hinreichende, sondern nur eine notwendige Bedingung für die Existenz eines diese Gegenstände denotierenden allgemeinen Terminus abgeben. Nach meiner Auffassung vertritt Wittgenstein diese letztere Auffassung. Er macht gar nicht den Versuch, eine ganz präzise Definition der Familienähnlichkeit aufzustellen, durch die sich die hier erörterte Schwierigkeit lösen ließe. Aber was er über die Möglichkeit der Subsumtion neuer Gegenstände unter unsere Begriffe zu sagen hat, geht weit hinaus über die Feststellung, daß zwischen den unter denselben Begriff fallenden Gegenständen Familienähnlichkeiten bestehen.

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Nach meiner Überzeugung will Wittgenstein sagen, daß die Subsumtion neuer Gegenstände unter unsere Begriffe in einer Weise erfolgt, die von der herkömmlichen Theorie nicht erklärt werden kann. Wenn ein neuer und bisher unter keinen Begriff subsumierter Gegenstand auftaucht, wird er deshalb unter einen Terminus A subsumiert werden, weil er einigen der bereits unter A subsumierten Gegenstände ähnelt. Und wenn ein weiterer Gegenstand zum Vorschein kommt, der dem vorigen gleicht, wird er womöglich ebenfalls unter A subsumiert. Es wäre aber durchaus möglich gewesen, daß der zweite dieser neuen Gegenstände dann, wenn der erste nie in Erscheinung getreten wäre, nicht unter A, sondern unter einen anderen Begriff subsumiert worden wäre. Das heißt: unsere Termini oder Begriffe haben nicht nur in dem Sinne verschwommene Ränder, daß es Gegenstände gibt, bei denen man zweifeln kann, ob sie unter die betreffenden Begriffe fallen oder nicht. Diese Art der Vagheit kann man statische Vagheit nennen. Unsere Begriffe sind außerdem in einem weiteren Sinne vag, der von den Vertretern der herkömmlichen Theorie nicht berücksichtigt wird. Die Frage, ob ein Gegenstand unter einen bestimmten Terminus fällt oder nicht, hängt auch von den Merkmalen derjenigen Gegenstände ab, die schon früher unter ebendiesen Begriff subsumiert wurden. Die Reihenfolge, in der diese und andere Gegenstände zum Vorschein gekommen sind, kann die Klassifikation der neuen Gegenstände beeinf lussen. Diese Art von Vagheit darf man wohl als dynamische Vagheit bezeichnen. Wenn ein neuer Gegenstand zum Vorschein kommt, ähnelt er vielleicht nicht nur einigen der unter A, sondern auch einigen der unter andere Begriffe fallenden Gegenstände. Dennoch wird der Gegenstand nicht unter diese anderen Begriffe, sondern unter A subsumiert, obwohl man durchaus behaupten könnte, daß er etwa zu den unter B fallenden Gegenständen im Verhältnis der Familienähnlichkeit steht. Das Bestehen dieser Beziehung ist also keine hinreichende Bedingung für die Subsumtion des Gegenstands unter B. Woran liegt es, daß er nicht unter B, sondern unter A subsumiert wird? Diese Frage muß, glaube ich, in der gleichen Weise beantwortet werden, in der Wittgenstein auf eine völlig andersartige Frage erwidert. Angenommen, sagt er, wir bringen jemandem bei, auf einen Befehl der Form „+n“ eine Reihe wie 0, n, 2n, 3n usw. hinzuschreiben. Dann wird er, sobald er den Befehl „+1“ erhält, die Reihe der natürlichen Zahlen hinschreiben (PU 185). Erteilen wir ihm den Befehl „+2“, stellt sich die Frage, ob er an jedem Punkt eine neue Einsicht – eine Intuition – braucht, um diesen Befehl richtig auszuführen. Darauf erwidert Wittgenstein: „Richtiger, als zu sagen, es sei an jedem Punkt eine Intuition nötig, wäre beinah, zu sagen: es sei an jedem Punkt eine neue Entscheidung nötig“ (PU 186). Unsere vorige Frage muß ähnlich beantwortet worden: Es ist eine Entscheidung, den neuen Gegenstand nicht unter B, sondern unter A zu subsumieren. Eine solche Entscheidung gleicht einer konventionellen Abmachung, was aber nicht bedeutet, daß sie völlig willkürlich ist. Beeinf lußt wird eine derartige Entscheidung natürlich von der relativen Bedeutung der verschiedenen Ähnlichkeiten oder Familienähnlichkeiten zwi-

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schen dem neuen Gegenstand und den unter A bzw. B fallenden Gegenständen. Beeinf lußt wird die Entscheidung außerdem von der Anzahl der Begriffe, die in der von den Sprechern benutzten Sprache enthalten sind. Wäre der Terminus A gar nicht in der betreffenden Sprache vorhanden gewesen, hätte man den neuen Gegenstand vielleicht unter den Begriff B subsumiert. Folglich können wir den Umstand, daß ein Gegenstand x nicht unter den Terminus A fällt, durch den Hinweis erklären, daß man bei seinem ersten Auftauchen entschieden habe, ihn nicht in dieser Weise zu klassifizieren, und seither habe nichts darauf hingewirkt, die ursprüngliche Klassifizierung des Gegenstands rückgängig zu machen. Aber dieses Faktum braucht keineswegs die Möglichkeit auszuschließen, daß man den Gegenstand doch unter den betreffenden Begriff subsumiert hätte, wenn man ihm früher bereits eine entsprechende Menge von Gegenständen zugeordnet hätte oder wenn unserer Sprache bestimmte andere Begriffe gefehlt hätten. Wittgenstein behauptet, es gehe ihm nicht um Erklärungen, sondern er wolle nur das Funktionieren unserer Sprache beschreiben. Als Philosoph teile er uns keine neuen Informationen mit, sondern beschränke sich darauf, längst Bekanntes zusammenzustellen (PU 109, 126). Dieses Programm ist, was Wittgensteins Theorie der Familienähnlichkeiten betrifft, nach meinem Dafürhalten irreführend. Denn diese Theorie hat auch eine empirische Seite und versucht zu erklären, warum wir die Gegenstände in unserer Weise klassifizieren. Und obwohl Wittgenstein behauptet: „Die Philosophie darf den tatsächlichen Gebrauch der Sprache in keiner Weise antasten, sie kann ihn am Ende also nur beschreiben“ (PU 124), weist er darauf hin, wenn sich seine Theorie der Familienähnlichkeiten allgemein durchsetze, könne das die Art und Weise beeinf lussen, in der die Menschen Gegenstände klassifizieren (BrB S. 88/EPhilB S. 129 f.). 4. Angesichts der Einwände Wittgensteins gegen die herkömmliche Anschauung würde ein Verfechter dieser Anschauung vielleicht geltend machen, daß viele Termini mehrdeutig sind und etliche verschiedene Bedeutungen haben, weshalb die unter einen solchen Begriff fallenden Entitäten nicht allesamt Gemeinsamkeiten aufweisen. Aber – könnte dieser Verfechter behaupten – man kann einen solchen Begriff doch zumindest mit Hilfe einer Disjunktion verschiedener Merkmalmengen definieren. Diese Rechtfertigung der herkömmlichen Theorie lehnt Wittgenstein allerdings ab: „Wenn aber Einer sagen wollte: ,Also ist allen diesen Gebilden etwas gemeinsam, – nämlich die Disjunktion aller dieser Gemeinsamkeiten‘ – so würde ich antworten: Hier spielst du nur mit einem Wort. Ebenso könnte man sagen: es läuft ein Etwas durch den ganzen Faden, – nämlich das lückenlose Übergreifen dieser Fasern“ (PU 67). Ein Argument gegen disjunktive Definitionen lautet wie folgt: Selbst wenn man tatsächlich eine solche Definition eines Begriffs angeben kann, ist damit noch nicht erklärt, warum wir über diesen Begriff verfügen, denn mit Hilfe einer disjunktiven Definition kann man z. B. die aus Stühlen und Apfelsinen bestehende Klasse definieren, und das ist eine Klasse, die von keinem in unserer Sprache enthaltenen Terminus bezeichnet wird.

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Folglich läßt sich die herkömmliche Theorie nicht mit Hilfe disjunktiver Definitionen rechtfertigen. Träfe Bambroughs Interpretation des Begriffs der Familienähnlichkeiten zu, wäre es ein leichtes, eine disjunktive Definition eines Familienbegriffs aufzustellen: eine solche Definition würde angeben, daß ein Gegenstand, der unter einen gegebenen Begriff fallen soll, eine bestimmte Anzahl aus einer Gruppe vorher festgelegter Merkmale aufweisen muß. Eine solche Definition ist nach meinem Eindruck informativ und kann nicht als „Spielen mit Worten“ gekennzeichnet werden. Da sich Wittgenstein über den Gedanken der disjunktiven Definition lustig gemacht hat, ist Bambroughs Wittgenstein-Interpretation wahrscheinlich verfehlt. Meine Interpretation hat den Vorteil, daß sie erklärt, warum Wittgenstein die disjunktiven Definitionen ablehnte. Ließe sich eine solche Definition angeben, wäre sie in den meisten Fällen wahrscheinlich so lang und so unübersichtlich wie eine Aufzählung der unter den gegebenen Begriff fallenden Gegenstände. Das ist aber nicht der gravierendste Einwand dagegen. Eine solche Definition kann zutreffen, soweit es um die unter einen bestimmten Begriff fallenden und heute existierenden Gegenstände geht, aber sie wird nicht mehr zutreffen, wenn es sich um Gegenstände handelt, die in der Zukunft zum Vorschein kommen werden. Wir sind heute noch nicht in der Lage zu formulieren, welche Merkmale diese Gegenstände besitzen werden. Aus dieser Überlegung ergibt sich eine natürliche Interpretation der folgenden Bemerkung Wittgensteins: „Wieviele Arten der Sätze gibt es aber? Etwa Behauptung, Frage und Befehl? – Es gibt unzählige solcher Arten: unzählige verschiedene Arten der Verwendung alles dessen, was wir ,Zeichen‘, ,Worte‘, ,Sätze‘, nennen. Und diese Mannigfaltigkeit ist nichts Festes, ein für allemal Gegebenes; sondern neue Typen der Sprache, neue Sprachspiele, wie wir sagen können, entstehen und andre veralten und werden vergessen“ (PU 23). 5. Auf S. 48 des „Blauen Buchs“ führt Wittgenstein eine Unterscheidung zwischen „Kriterien“ und „Symptomen“ ein: „Mit ‚Symptom‘ bezeichne ich eine Erscheinung, die erfahrungsgemäß mit der Erscheinung zusammen auftritt, die unser definierendes Kriterium ist.“ Diese Unterscheidung wird dann in wichtiger Hinsicht eingeschränkt: „Es mag von praktischem Wert sein, ein Wort durch Bezug auf eine Erscheinung als das definierende Kriterium zu definieren, aber wir werden uns leicht überreden lassen, das Wort durch Bezug auf das, was wir dem obigen Gebrauch entsprechend als Symptom bezeichnet haben, zu definieren.“ In PU 79 heißt es sodann: „Das Schwanken wissenschaftlicher Definitionen: Was heute als erfahrungsmäßige Begleiterscheinung des Phänomens A gilt, wird morgen zur Definition von ,A‘ benützt.“ Nach meiner Auffassung meint Wittgenstein folgendes: Wir haben viele Phänomene beobachtet, die allesamt das Merkmal F besitzen, aufgrund von dessen Vorhandensein die Subsumtion unter einen bestimmten Begriff als richtig gilt (d. h. F ist das „definierende Kriterium“ der Phänomene dieser Art). Nun ist allen diesen Phänomenen de facto ein weiteres Merkmal G gemeinsam. In diesem Fall könnte es geschehen, daß wir unter den glei-

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chen Begriff auch ein neues Phänomen subsumieren, das zwar Merkmal G aufweist, aber nicht das Merkmal F. Damit hat sich das Merkmal G, das bisher als „Symptom“ galt, zum „Kriterium“ aufgeschwungen. Nehmen wir uns ein Beispiel vor: In der „westlichen“ Welt gelegene Städte besitzen eine Vielzahl kennzeichnender Merkmale, durch die sie sich von Städten des Ostens unterscheiden. Wenn nun eine im Osten gelegene Stadt wie Bagdad viele Merkmale aufweist, die für Städte der „westlichen“ Welt charakteristisch sind, könnten wir diese Stadt „westlich“ nennen, obwohl sie nicht im Westen liegt. Verfechter der herkömmlichen Theorie würden vielleicht der Ansicht zuneigen, daß eine im Osten gelegene Stadt per definitionem nicht als „westliche“ Stadt definiert werden kann. Wittgensteins Theorie ist da eher imstande, solche Wandlungen im Gebrauch eines Wortes zu erklären. Und um das begonnene Gedankenexperiment fortzuspinnen, könnte in der Zukunft folgendes geschehen: Was einst als „Symptom“ einer westlichen Stadt galt und jetzt ein „Kriterium“ ist, könnte allenthalben mit einem neuen „Symptom“ einhergehen, das dann zu gegebener Zeit seinerseits zum neuen „Kriterium“ wird, usw. Dieser Gedankengang läßt sich mit Bambroughs Interpretation des Begriffs der Familienähnlichkeiten kaum vereinbaren. Nachdem wir diese fünf Argumente gegen Bambroughs Interpretation des Begriffs der Familienähnlichkeiten formuliert haben, werden wir nun eine interessante Schlußfolgerung betrachten, zu der sich Bambrough berechtigt glaubt. Er wendet den Begriff der Familienähnlichkeiten auf das „Churchill-Gesicht“ an. Dieses Gesicht läßt sich nach seiner Annahme mit Bezug auf zehn Merkmale kennzeichnen (hohe Stirn, buschige Augenbrauen, blaue Augen, Römernase, Kinngrübchen usw.), doch ein Angehöriger dieser Familie brauche nur neun dieser zehn Merkmale aufzuweisen, um ein „Churchill-Gesicht“ zu haben. Bambrough fährt fort: „Wenn wir bedenken, daß das, was für Gesichter gilt, auch auf die einzelnen Gesichtszüge zutrifft – daß allen Kinngrübchen nichts weiter gemeinsam ist als ihre Kinngrübchenhaftigkeit, daß die möglichen Übergänge von der Römernase zur Stupsnase bzw. von hohen Backenknochen zu tiefen Backenknochen kontinuierlich abgestuft und zahllos sind –, sehen wir ein, daß es im Grunde unendlich viele unverkennbare Churchill-Gesichter geben könnte, die keine Gemeinsamkeiten besitzen. Ja, eigentlich braucht keinen zwei Angehörigen der Familie Churchill irgendein Merkmal gemeinsam zu sein“ (S. 211). Dieses Zitat enthält zwei verschiedene Argumente: 1. Die für das Churchill-Gesicht „kennzeichnenden“ Merkmale sind ihrerseits Familienbegriffe. Ferner sind die für jedes dieser „erststufigen“ Merkmale (z. B. Kinngrübchen) „kennzeichnenden“ Merkmale ebenfalls Familienbegriffe usf. ad infinitum (vgl. Bambrough, S. 214). Also selbst wenn zwei Churchill-Gesichtern viele „erststufige“ Merkmale gemeinsam sind, wird sich, sobald diese Merkmale „vollständig analysiert“ sind, zeigen lassen, daß diese Gesichter gar keine Gemeinsamkeiten aufweisen. 2. Zwei unter denselben Begriff (beispielsweise „Kinngrübchen“) fallende Gegenstände brauchen keine bestimmte Gemeinsamkeit zu besitzen, doch es kann sein, daß

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sie zwei verschiedene Merkmale besitzen, die bestimmte Eigenschaften bilden, welche unter dieselbe bestimmbare Eigenschaft fallen. Bambrough glaubt offenbar: Wenn Wittgenstein bestreitet, allen unter denselben Terminus fallenden Gegenständen müsse ein Merkmal gemeinsam sein, habe er Merkmale im Sinn, die bestimmte, aber ihrerseits nicht bestimmbare Eigenschaften sind. Eine Bestätigung dieses Gedankens vermag ich in Wittgensteins Schriften nicht zu finden. Und falls wir diesen Gedanken akzeptieren, wäre Wittgensteins These völlig uninteressant. Denn kein Befürworter der herkömmlichen Theorie würde etwa geltend machen, daß alle roten Gegenstände dieselbe Rotschattierung aufweisen müssen. Wird das zweite Argument zurückgewiesen, ist Bambroughs Schlußfolgerung nicht stichhaltig, sondern folgern läßt sich nur, daß dann, wenn eine gewisse Anzahl von Churchill-Gesichtern das gemeinsame Merkmal F aufweist, die Anzahl der ChurchillGesichter mit einer für F „kennzeichnenden“ Gemeinsamkeit wahrscheinlich kleiner ist. Zwei Churchill-Gesichter werden jedoch stets ein gemeinsames Merkmal besitzen, ganz egal, wie weit man bei der Analyse der höherstufigen Merkmale zu gehen versucht.

3.3 Wie groß ist der Anwendungsbereich von Wittgensteins Auffassung von den Familienähnlichkeiten? Welche Begriffe sind Familienbegriffe? Wittgenstein nennt im „Blauen Buch“ und im „Braunen Buch“ ebenso wie in den „Philosophischen Untersuchungen“ eine Vielzahl von Beispielen, die seine Vorstellung von Familienbegriffen exemplifizieren (die meisten sind psychologische Begriffe). Aber er stellt weder eine vollständige Liste dieser Begriffe auf noch formuliert er ausdrücklich eine Methode, mit deren Hilfe sich entscheiden ließe, ob es sich bei einem gegebenen Begriff um einen Familienbegriff handelt. Trotzdem sind sich die meisten Interpreten darüber einig, daß Wittgenstein hier eine Unterscheidung zwischen zwei Arten von Begriffen treffen möchte, nämlich zwischen denen, die Familienbegriffe sind, und denen, die keine sind. Aber sogar dieser Gedanke wird von Bambrough abgelehnt. Er behauptet, Wittgenstein halte alle Begriffe für Familienbegriffe. Um diese These zu stützen, kritisiert er Ayer und Strawson, die sich beide – in jeweils eigener Manier – bemüht haben, die Unterscheidung zwischen Familienbegriffen und anderen Begriffen zu formulieren. Bambrough zitiert die folgende Feststellung Ayers: „Wittgensteins Argumentation verdeutlicht, daß die Ähnlichkeit zwischen den Dingen, auf die dasselbe Wort zutrifft, graduell verschieden sein kann. In manchen Fällen ist die Ähnlichkeit weniger straff und direkt als in anderen.“7 Anschließend führt Bambrough aus, daß der von Ayer an der 7 Alfred J. Ayer, The Problem of Knowledge, London 1956, 10–12.

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zitierten Stelle genannte Gegensatz zwischen verschiedenen Arten von Begriffen keineswegs den Vorstellungen Wittgensteins entspricht, die ihm bei der Formulierung seiner Theorie der Familienähnlichkeiten vorschweben. Bambrough fährt fort: „Im Braunen Buch (S. 130) fragt er: ,Kannst Du mir sagen, was einem lichten und einem dunklen Rot gemeinsam ist?‘ [EPhilB S. 197], und im § 73 der Philosophischen Untersuchungen wird die Frage gestellt: ,Welchen Farbton hat das „Muster in meinem Geiste“ der Farbe Grün – dessen, was allen Tönen von Grün gemeinsam ist?‘“ (Ayers Beispiel für ein Wort, das eine unkomplizierte und direkte Ähnlichkeit zwischen den von diesem Wort bezeichneten Dingen angibt, ist „rot“. Daher darf man wohl annehmen, daß er alle Farbwörter dieser Kategorie zurechnen möchte.) Bambrough meint offenbar, Wittgenstein stelle diese (rhetorischen) Fragen deshalb, weil er glaube, die roten (oder grünen) Gegenstände besäßen gar keine Gemeinsamkeiten, sondern seien durch Familienähnlichkeiten miteinander verbunden. Das entspricht aber nicht Wittgensteins Meinung. Vielmehr weist er darauf hin, daß es verfehlt sei zu glauben, daß demjenigen, dem ein Farbwort (z. B. „grün“) hinweisend erklärt wird (also durch Zeigen auf ein Muster und gleichzeitige Äußerung der Worte „Diese Farbe heißt ,Grün‘“), dann, wenn er diese Erklärung versteht, eine Vorstellung des Erklärten vorschweben müsse, also eine Vorstellung von dem, „was allen Tönen von Grün gemeinsam ist“. Benutzt der Betreffende das Wort „grün“ im folgenden richtig, werden wir sagen, daß er die Gemeinsamkeit der gezeigten Gegenstände gesehen hat (PU 72– 74, BrB S. 130–132/EPhilB S. 195–198). Diese zuletzt genannte Feststellung gilt jedoch für alle Begriffe. Unser Kriterium für die Behauptung, jemand habe die Gemeinsamkeit der unter einen bestimmten Begriff fallenden Gegenstände gesehen, besteht darin, daß er das Wort richtig gebraucht (PU 75). Daher stimme ich Bambrough zu, wenn er meint, die von Ayer getroffene Unterscheidung komme bei Wittgenstein nicht vor. Damit hat Bambrough aber noch nicht bewiesen, daß Farbbegriffe von Wittgenstein für Familienbegriffe erachtet werden. Kommen wir nun auf Bambroughs Strawson-Kritik zu sprechen. Strawson macht in seinem Buch „Individuals“ einen Unterschied zwischen zwei Arten von komplexen Begriffen (das ist zumindest Bambroughs Auffassung).8 Dabei handelt es sich um die Unterscheidung zwischen Begriffen, die durch Angabe notwendiger und hinreichender Bedingungen definiert werden können, und Begriffen, die nicht so definierbar sind. Der Begriff „Bruder“ lasse sich als „männliches Geschwister“ definieren und gehöre daher in die erstere Klasse, während der Begriff „Spiel“ der letzteren Klasse zuzuordnen sei. Diese Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten komplexer Begriffe wird, wie Bambrough geltend macht, von Wittgenstein nicht getroffen. Selbst wenn man einen Begriff tatsächlich definieren könne, sei damit noch nicht bewiesen, daß es sich nicht um 8 Peter F. Strawson, Individuals, London 1959, 11.

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einen Familienbegriff handele, denn die im Definiens genannten Merkmale seien Familienbegriffe (oder müßten letztlich mit Hilfe von Familienbegriffen definiert werden), und dadurch werde auch das Definiendum zum Familienbegriff. Mein Einwand gegen diese Argumentation besagt, daß Wittgenstein gar nicht imstande ist, auf diese Art zu beweisen, daß alle Begriffe Familienbegriffe sind. Durch eine solche Argumentation wird nur bewiesen, daß man diese These nicht durch den Hinweis widerlegen kann, daß einige Begriffe mittels Angabe notwendiger und hinreichender Bedingungen bestimmt werden können, denn um die These zu widerlegen, muß man außerdem nachweisen, daß auch die im Definiens genannten Merkmale keine Familienbegriffe sind. Läßt sich ein Begriff durch andere Begriffe definieren, von denen wenigstens einer ein Familienbegriff ist, so ist auch der definierte Begriff nach Bambrough ein Familienbegriff. Man könnte den Begriff der Familienähnlichkeiten allerdings auch als relativen Begriff deuten und sagen, im Verhältnis zu den Begriffen „männlich“ und „Geschwister“ sei der Begriff „Bruder“ kein Familienbegriff, sofern „Bruder“ als „männliches Geschwister“ definiert werden kann. Doch wenn „männlich“ oder „Geschwister“ im Verhältnis zu anderen Merkmalen ihrerseits Familienbegriffe sind, kann man sagen, relativ zu diesen Merkmalen sei auch der Begriff „Bruder“ ein Familienbegriff. Bambrough faßt den Begriff der Familienähnlichkeiten allerdings nicht als relativen Begriff auf. Nach seiner Ansicht wird seine These, alle Begriffe seien Familienbegriffe, nicht durch das Faktum widerlegt, daß einige Begriffe wirklich definiert werden können. Sein Grund für diese Ansicht läuft darauf hinaus, daß eine Definition nichts Letztes ist. Die im Definiens vorkommenden Termini müßten ihrerseits ebenso definiert werden wie unser Definiendum-Terminus. Und die in diesen weiteren Definitionen vorkommenden Begriffe müßten dann ebenfalls definiert werden usf. ad infinitum. Nach Wittgenstein gebe es keine letzten, undefinierbaren, „einfachen“ Termini (vgl. PU 48), daher sei es stets unmöglich, eine letzte Definition zu formulieren. Manche Indizien sprechen dafür, daß Wittgenstein tatsächlich glaubt, die Familienähnlichkeitsmerkmale eines gegebenen Begriffs könnten ihrerseits Familienbegriffe sein. Auf S. 70 des „Blauen Buchs“ untersucht er Ausdrücke wie „eine Idee im Geiste haben“ und gibt folgenden Hinweis: „Wir könnten geneigt sein zu sagen, daß wir sowieso in all diesen Fällen von etwas geleitet werden, das in unserm Geiste ist. Aber dann werden die Wörter ,geleitet‘ und ,etwas in unserm Geiste‘ auf so viele verschiedene Weisen wie die Wörter ,Idee‘ und ,Ausdruck einer Idee‘ gebraucht.“ Das könnte man nun in dem Sinne auffassen, daß „eine Idee im Geiste haben“ zwar durch „leiten“ und „etwas in unserm Geiste“ definiert werden könne, doch dadurch, daß diese letzteren Begriffe Familienbegriffe seien, werde auch der erstere Begriff zum Familienbegriff. Wittgenstein behauptet aber nirgends, daß alle Begriffe definiert werden müssen. Daher ist keineswegs erwiesen, daß Bambroughs allgemeine These auch in Wittgensteins Philosophie enthalten ist.

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Dagegen gibt es einige andere Hinweise, die dafür sprechen, daß Wittgenstein diese These nicht vertrat. Im „Blauen Buch“ sagt er auf S. 52: „Es gibt Wörter mit mehreren klar umrissenen Bedeutungen. Es ist leicht, diese Bedeutungen zu katalogisieren. Und es gibt Wörter, von denen man sagen könnte: Sie werden auf tausend verschiedene Weisen gebraucht, die nach und nach miteinander verschmelzen. Kein Wunder, daß wir keine strengen Regeln für ihren Gebrauch aufstellen können.“ Es erscheint naheliegend, diese Bemerkung im Sinne der folgenden Behauptung zu interpretieren: Einige Wörter sind mehrdeutig und stehen in verschiedenen Kontexten für verschiedene Begriffe (die keine Familienbegriffe sind bzw. zumindest keine Familienbegriffe zu sein brauchen), während andere Wörter tatsächlich für Familienbegriffe stehen. Dann stellt sich die Frage: Wie kann man darüber befinden, ob ein gegebener Begriff ein Familienbegriff ist oder nicht? Zunächst wollen wir zwei Verfahrensweisen betrachten, durch die sich nicht bestimmen läßt, ob ein gegebener Begriff ein Familienbegriff ist. Erstens: Daß ein gegebener Begriff ein Familienbegriff ist, läßt sich nicht durch den schlichten Hinweis aufzeigen, daß die unter den Begriff fallenden Entitäten untereinander völlig verschieden sind. Dieser Sachverhalt läßt sich auch durch die herkömmliche Theorie ohne weiteres erklären. Denn obwohl allen diesen Entitäten eine Menge von Merkmalen gemeinsam ist, besitzt jede Entität außerdem eine Menge weiterer Merkmale, die unterschiedlich auf die verschiedenen Entitäten verteilt sind. Zweitens: Daß ein gegebener Begriff ein Familienbegriff ist, läßt sich nicht einfach dadurch beweisen, daß man eine Menge von Merkmalen ausfindig macht, von denen zwar kein einziges allen unter diesen Begriff fallenden Gegenständen zukommt, die aber so beschaffen sind, daß ein Gegenstand nur dann unter diesen Begriff fällt, wenn er eine gewisse Anzahl dieser Merkmale besitzt. Der Grund hierfür liegt in der Möglichkeit einer Merkmalmenge, die allen diesen Gegenständen gemeinsam und eigentümlich ist, während sie außer durch die Gemeinsamkeit dieser Merkmalmenge auch noch durch Familienähnlichkeiten miteinander verbunden sind. Um nachzuweisen, daß der gegebene Begriff ein Familienbegriff ist, genügt es nicht zu zeigen, daß die Gegenstände durch Familienähnlichkeiten verbunden sind, sondern man muß außerdem aufzeigen, daß ihnen keine Merkmalmenge gemeinsam ist. Aus ebendiesem Grund ist Wittgensteins Begriff „Familienähnlichkeiten“ irreführend. Man spricht nicht deshalb von Angehörigen derselben Familie, weil sich „Wuchs, Gesichtszüge, Augenfarbe, Gang, Temperament, etc. etc. [übergreifen und kreuzen]“ (PU 67), sondern weil sie gemeinsame Vorfahren haben. Doch bei einem Familienbegriff sollen die Familienähnlichkeiten zwischen den unter den gleichen Begriff fallenden Entitäten nicht nur de facto bestehen, sondern den Ausschlag dafür geben, daß diese Entitäten unter den Begriff fallen. Außerdem müssen wir eine weitere Methode der Unterscheidung zwischen Familienbegriffen und anderen Begriffen ablehnen. Wittgenstein bestreitet, daß der Begriff

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„Zahl“ als logische Summe seiner Unterbegriffe der Kardinalzahl, der Rationalzahl, der reellen Zahl usw. definiert werden kann. Ebensowenig läßt sich „Spiel“ als logische Summe einer entsprechenden Menge von Unterbegriffen definieren (PU 68). Diese Überlegung wird als Grund dafür genannt, die Begriffe „Zahl“ und „Spiel“ als Familienbegriffe aufzufassen. Dennoch wäre es meines Erachtens verfehlt, daraus den Schluß zu ziehen, Wittgenstein halte die Begriffe „Brettspiel“, „Kartenspiel“, „Ballspiel“ usw. nicht für Familienbegriffe. Und selbst wenn er sie nicht dafür hielte, könnte man das Beispiel nicht dahingehend verallgemeinern, daß sich daraus ein Verfahren ableiten ließe, um festzustellen, ob ein gegebener Begriff ein Familienbegriff ist. (Außerdem sind der Begriff „Zahl“ und seine diversen Unterbegriffe ein ausgesprochener Sonderfall.) Um zusammenzufassen: Daß ein gegebener Begriff ein Familienbegriff ist, läßt sich weder dadurch beweisen, daß man zeigt, wie verschieden die unter den Begriff fallenden Entitäten sind, noch dadurch, daß man zeigt, daß diese Entitäten durch ein Netz von Familienähnlichkeiten verknüpft sind. Daß ein gegebener Begriff kein Familienbegriff ist, läßt sich wiederum nicht dadurch beweisen, daß man zeigt, daß er als Unterbegriff unter einen Familienbegriff fällt. Aber wie kann man hier einen entsprechenden Beweis führen? Auf diese Frage weiß ich keine Antwort zu geben. Andererseits glaube ich andeuten zu können, in welcher Richtung die Antwort zu suchen ist. Vor allem im „Braunen Buch“ (z. B. S. 144 f./EPhilB S. 217) weist Wittgenstein darauf hin, daß wir unter verschiedenen Umständen häufig verschiedene Kriterien für die Anwendung eines Wortes benutzen. Daraus scheint zu folgen, daß die unter einen solchen Begriff fallenden Entitäten keine gemeinsamen Merkmale zu besitzen brauchen, aber einander dennoch ähnlich sind. Bei diesen Ähnlichkeiten handelt es sich nach meiner Wittgenstein-Interpretation um Familienähnlichkeiten zwischen den Entitäten. Daher lautet mein Vorschlag: Daß ein gegebener Begriff ein Familienbegriff ist, läßt sich nachweisen, indem man zeigt, daß wir für die Anwendung des Begriffs unter verschiedenen Umständen verschiedene Kriterien benutzen. Daß der Begriff kein Familienbegriff ist, läßt sich nachweisen, indem man zeigt, daß man unter allen Umständen dasselbe Kriterium für diesen Begriff verwendet. Dieses Verfahren wendet Wittgenstein selbst tatsächlich an, um zu zeigen, daß viele psychologische Begriffe Familienbegriffe sind.

3.4 Abschließend werden wir betrachten, welchen Gebrauch Bambrough von Wittgensteins Auffassung der Familienähnlichkeiten macht, um das von Realisten und Nominalisten erörterte Problem zu lösen.

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Selbst wenn sich eine „letzte“ Definition (was immer das heißen mag) für einen Begriff angeben ließe, wäre das Definiens, wie Bambrough geltend macht, kein vom definierten Begriff verschiedenes Merkmal. Dennoch haben nach Bambrough manche Philosophen behauptet, daß allen unter denselben Begriff fallenden Gegenständen etwas gemeinsam sein muß, was verschieden ist von dem Faktum, daß sie unter diesen Begriff fallen. „Daß Brüder männliche Geschwister sind, ist ihnen freilich gemeinsam, doch diese Gemeinsamkeit des Männliche-Geschwister-Seins läuft aufs gleiche hinaus wie ihr Brüder-Sein und heißt nicht, daß sie außer dem Brüder-Sein eine weitere Gemeinsamkeit besitzen“ (Bambrough, S. 214). Und nun heißt es, Wittgenstein habe an den Philosophen Kritik geübt, die diese Art von Realismus verfechten. Ich für mein Teil glaube aber nicht, daß je ein Philosoph behauptet hat, alle unter denselben Begriff fallenden Entitäten müßten eine Gemeinsamkeit aufweisen, außer daß sie eben unter diesen Begriff fallen. Überdies enthalten Wittgensteins Schriften keinen Hinweis darauf, daß er mit seiner Einführung des Begriffs der Familienähnlichkeiten eine solche Theorie angreifen will. Hätte er das gewollt, wäre seine nachdrückliche Behauptung, daß viele Begriffe nicht durch Angabe notwendiger und hinreichender Bedingungen definiert werden können, völlig irrelevant. Schauen wir uns jedoch an, wie Bambrough seinen Gedankengang weiter ausführt. Er sagt, Ayers These sei äußerst irreführend, wenn dieser schreibe: „Es ist richtig, wenn auch nicht im mindesten aufschlußreich, zu sagen, daß die Gemeinsamkeit der Spiele darin besteht, Spiele zu sein“ (Bambrough, S. 219). Ganz im Gegenteil: die Aussage, daß es allen Spielen gemeinsam ist, Spiele zu sein, sei eine wichtige philosophische Wahrheit, die sowohl von den Nominalisten als auch von den Realisten bestritten werde. Die Nominalisten behaupten nach Bambrough, daß allen Spielen nichts gemeinsam ist, außer daß sie Spiele heißen, während die Realisten behaupten, alle Spiele besäßen – abgesehen davon, daß sie Spiele sind – noch eine weitere Gemeinsamkeit. Nominalisten wie Realisten gingen von der (von Wittgenstein bestrittenen) Voraussetzung aus, daß „sich die Anwendung eines allgemeinen Terminus auf seine Exemplifizierungen objektiv nur dann rechtfertigen läßt, wenn sie außer der Gemeinsamkeit, Exemplifizierung dieses Begriffs zu sein, noch eine weitere Gemeinsamkeit besitzen“ (S. 217). Daher zögen die Nominalisten den Schluß, „daß es für die Anwendung eines allgemeinen Terminus keine objektive Rechtfertigung gibt“, während die Realisten den Schluß zögen, es „müsse ein zusätzliches gemeinsames Element geben“. Das Gefühl des Realisten, man müsse, um die Anwendung des betreffenden allgemeinen Terminus auf seine Exemplifizierungen objektiv zu rechtfertigen, nach einer Gemeinsamkeit der Spiele Ausschau halten, die über ihr Spiele-Sein hinausginge, ist nach Bambrough völlig fehl am Platz. Dennoch, führt Bambrough aus, sei dieses Gefühl ganz natürlich. Wenn ich frage, was diesen drei Büchern hier gemeinsam sei, werde der andere nachschauen, ob sie das gleiche Thema behandeln oder vom selben Verfasser stammen usw. Es werde ihm gar nicht in den Sinn kommen zu erwidern, die Gemein-

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samkeit der Bücher bestehe darin, daß sie Bücher seien. Und wenn der andere feststelle, daß die Bücher ansonsten keine spezifische Gemeinsamkeit aufweisen, werde er sagen, daß ihnen, soweit er sehe, gar nichts gemeinsam sei. Frage jemand nach den Gemeinsamkeiten aller Bücher, werde man ebenfalls versuchen, ein ähnliches Merkmal wie im Fall der bei drei Büchern unternommenen Suche ausfindig zu machen. Vielleicht werde man es für einen schlechten Scherz halten, wenn dann gesagt wird, die Gemeinsamkeit aller Bücher bestehe darin, daß sie allesamt Bücher sind. Doch diesmal handele es sich nicht um einen Scherz, sondern um eine wichtige philosophische Wahrheit. Diese Argumentation beruht, wie mir scheint, auf einem Irrtum. Wenn ich nicht nach der Gemeinsamkeit dreier gegebener Bücher frage, sondern auf drei Gegenstände zeige (bei denen es sich faktisch um Bücher handelt) und die Frage stelle, was diesen drei Gegenständen gemeinsam sei, kann der andere gewiß antworten, daß es Bücher sind. Frage ich dagegen, was diesen drei bei Rowohlt erschienenen Büchern gemeinsam ist, kann der andere nicht erwidern, ihre Gemeinsamkeit bestehe darin, daß sie bei Rowohlt erschienen sind. Das ist ein Anwendungsfall einer allgemeinen Regel: Wenn man im Zuge der Fragestellung bestimmte Informationen mitteilt, kann der andere nicht antworten, indem er sich auf eine Wiederholung dieser Informationen beschränkt. Die Frage „Was ist allen Büchern gemeinsam?“ weist also eine Sonderbarkeit auf, die Bambrough nicht erwähnt. Sie kann nämlich nicht formuliert werden, ohne daß man im Zuge der Fragestellung selbst schon die Antwort gibt. Auf die Frage „Was ist diesen drei bei Rowohlt erschienenen Büchern gemeinsam?“ kann man keine Antwort geben. Doch statt dessen kann man fragen: „Was ist diesen drei Büchern gemeinsam?“ und da lautet die Antwort: Sie sind bei Rowohlt erschienen. Nach meinem Eindruck kann man auch die Frage „Was ist allen Büchern gemeinsam?“ in ähnlicher Weise umformulieren, indem man fragt: „Was ist Lolita, Schloß Gripsholm, Nobodaddy’s Kinder und dergleichen gemeinsam?“ Und nun könnte man durchaus geltend machen, daß die Antwort „Es sind Bücher“ informativ ist. Die Fragen „Was ist diesen drei Büchern gemeinsam?“ und „Was ist allen Büchern gemeinsam?“ sind beide mehrdeutig. Man könnte nach einem Merkmal fragen, das diesen drei Büchern (bzw. allen Büchern) zukommt, und es dabei offenlassen, ob dieses Merkmal auch anderen Gegenständen zugeschrieben werden kann. Hier fragt man nach einem Merkmal, das den drei Büchern bzw. allen Büchern gemeinsam ist. Andererseits könnte man auch nach einem Merkmal fragen, das den drei Büchern (bzw. allen Büchern) zukommt, aber ansonsten keinem anderen Gegenstand. Das heißt, die Frage bezieht sich auf ein Merkmal, das den drei Büchern (bzw. allen Büchern) gemeinsam und eigentümlich ist. Stellt man nun die Frage nach der Gemeinsamkeit dreier gegebener Bücher, ist es naheliegend anzunehmen, daß sich die Frage auf ein Merkmal bezieht, das diesen drei Büchern gemeinsam ist, und nicht auf ein Merkmal, das diesen drei Büchern gemeinsam und eigentümlich ist. Bei Rowohlt sind ja auch noch andere Bücher erschienen. Und

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ebenso, wie sich diese Frage beantworten läßt, ließe sich wohl auch die entsprechende Frage im Hinblick auf alle Bücher beantworten. Man könnte ein Merkmal nennen, das allen Büchern und darüber hinaus noch manchen anderen Gegenständen zukommt. Wie ich bereits dargelegt habe, würde Wittgenstein wohl nicht bestreiten, daß es solche Merkmale gibt. Es wäre aber auch möglich, nach einem Merkmal zu fragen, das drei gegebenen Büchern gemeinsam und eigentümlich ist. Diese Frage läßt sich zwar wahrscheinlich nicht beantworten, aber möglich wäre eine Antwort schon. So könnte es z. B. sein, daß dies die einzigen deutschen Bücher sind, von denen eine Übersetzung in Suaheli vorliegt. Bei einer solchen Fragestellung ist die Antwort „Sie sind allesamt Bücher“ kein kläglicher Scherz, sondern falsch. Auch die entsprechende Frage hinsichtlich aller Bücher läßt sich wahrscheinlich nicht beantworten, aber möglich wäre es schon. Bücher könnten z. B. die einzigen Waren sein, für die es nach deutschem Recht Festpreise gibt. Und daß man annimmt, die Frage „Was ist allen Büchern gemeinsam?“ sollte in diesem Sinne interpretiert werden, ist sicher ganz natürlich. Daher bin ich der Ansicht, daß Bambrough keinen Beweis für seine Behauptung erbracht hat, der Standpunkt des Realisten habe etwas mit einem „natürlichen Gefühl“ zu tun. Bambroughs Einwände gegen den Nominalisten sind nach meinem Dafürhalten ebenso verfehlt. Laut Bambroughs Darstellung vermag der Nominalist nicht den Unterschied zu erklären zwischen den Einzeldingen, auf die ein gegebener allgemeiner Terminus zutrifft, und einer Menge von Gegenständen, denen buchstäblich und unbestreitbar nichts gemeinsam ist außer demselben Namen. Man kann beschließen, wie er meint, eine Anzahl vermischter Gegenstände (etwa den Stern Sirius, meinen Füllfederhalter, den Parthenon, die Farbe Rot, die Zahl Fünf und den Buchstaben Z) „Alpha“ zu nennen. Diese Gegenstände sind so ausgewählt, daß ihnen nichts weiter gemeinsam ist, außer daß ich sie „Alpha“ nenne. Zwischen einem allgemeinen Terminus wie „Stuhl“ und einem Ausdruck wie „Alpha“, den der Nominalist angeblich nicht zu erklären vermag, bestehen folgende Unterschiede: 1) Die Auswahl der Alphas ist willkürlich, die Auswahl der Stühle dagegen nicht; 2) die Klasse der Alphas ist eine abgeschlossene Klasse, während die Klasse der Stühle offen ist. Allerdings ist die Klasse der „Alphas“ gemäß Bambroughs Definition nicht abgeschlossen, denn sie enthält alle möglichen Exemplifizierungen der Farbe Rot, der Zahl Fünf und des Buchstabens Z. Doch die Definition läßt sich ohne weiteres verbessern, um diesem Einwand vorzubeugen. So lassen sich die drei genannten Entitäten durch drei Einzelgegenstände ersetzen, etwa den Eiffelturm, Präsident Eisenhower und die Stadt London. Mit der Festsetzung, daß die Klasse der „Alphas“ abgeschlossen ist, begeht Bambrough eine Petitio principii. Nehmen wir an, ich habe die oben genannten Gegenstände aufgezählt und füge nun hinzu, daß weitere Gegenstände, die den genannten gleichen, ebenfalls „Alphas“ sind. Ferner sei angenommen, daß unter denen, die diese

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Definition gelernt haben, allgemeine Übereinstimmung hinsichtlich der weiteren Gegenstände herrscht, die ebenfalls „Alpha“ heißen sollen. Unter diesen Umständen würde Wittgenstein den Ausdruck „Alpha“ vermutlich für einen allgemeinen Terminus erachten, der auf der gleichen Ebene steht wie „Stuhl“ oder „Buch“ (PU 242 und MS 144, S. 102/WA 572f.). Außerdem würden wir sagen, diese Leute hätten erkannt, was den verschiedenen „Alphas“ gemeinsam ist (BrB S. 138/EPhilB S. 205). Die Auswahl der „Alphas“ ist ebensowenig willkürlich wie die Auswahl der Stühle, die man zur hinweisenden Erklärung des Wortes „Stuhl“ benutzt. Vermutlich würde Wittgenstein sagen, es gehöre zu unserer Lebensform, daß einige hinweisende Erklärungen im Gegensatz zu anderen etwas „leisten“. Einige führen zu übereinstimmenden Verwendungsweisen des betreffenden Wortes, andere dagegen nicht. Nach einer Erklärung für diesen Unterschied sollten wir nicht suchen, sondern ihn als unumstößliches Faktum hinnehmen. „Alle Erklärung muß fort, und nur Beschreibung an ihre Stelle treten“ (PU 109). Wenn Bambrough dagegen festsetzt, „Alpha“ solle eine abgeschlossene Klasse bezeichnen, kann er auf diese Weise nicht mehr beweisen, daß es einen Unterschied zwischen dem Terminus „Alpha“ und einem allgemeinen Terminus gibt, denn es gibt viele allgemeine Termini, die für abgeschlossene Klassen stehen, z. B. den Ausdruck „amerikanischer Präsident im neunzehnten Jahrhunderts“. Daher muß ich den Schluß ziehen, daß Bambrough den Nachweis für seine Behauptung schuldig geblieben ist, Wittgenstein habe das in der Auseinandersetzung zwischen Realisten und Nominalisten umstrittene Problem gelöst.

3.5 Literatur H. Khatchadourian 1957/58, Common Names and „Family Resemblances“, Philosophy and Phenomenological Research 18, 341–358. R. Bambrough 1960/61, Universals and Family Resemblances, Proceedings of the Aristotelian Society 61, 207–222.

Erstveröffentlichung unter dem Titel „The Concept of Family Resemblance in Wittgenstein’s Later Philosophy“ in Theoria 33, 1967, 107–132. Übersetzt von Joachim Schulte.

4 Richard Raatzsch

Wittgensteins Philosophieren über das Philosophieren: Die Paragraphen 89 bis 133 …

… oder so ungefähr hätte es im Titel lauten können. Denn in Teil I der „Philosophischen Untersuchungen“ sind außer der Einteilung in Paragraphen keine Grenzen gezogen. Man kann natürlich welche ziehen, den Text also in Kapitel, Unterkapitel usw. einteilen, dabei Themen oder sprachliche Formen, die gewöhnlich Anfang und Ende von Kapiteln markieren, als Kriterium nehmend. Hat man Glück, trifft beides zusammen. Wir haben großes Glück. Denn PU 89 beginnt mit den Worten: Wir stehen mit diesen Überlegungen an dem Ort, wo das Problem steht: und PU 133 endet wie folgt: […] es wird nun an Beispielen eine Methode gezeigt, und die Reihe dieser Beispiele kann man abbrechen. – Es werden Probleme gelöst (Schwierigkeiten beseitigt), nicht ein Problem. Es gibt nicht eine Methode der Philosophie, wohl aber gibt es Methoden, gleichsam verschiedene Therapien. (PU 133 mit Einschub BS (S. 88)/KG (S. 817) zu PU 133/WA S. 305) Der vorletzte Absatz gibt uns einige Hinweise, wie das Vorangehende zu verstehen ist. Zunächst bedarf es nur der Erinnerung daran, daß die Probleme der Philosophie der Philosophie (mit einem verführerischen Wort gesagt: der Metaphilosophie) selbst philosophischer Natur sind. Also werden auch die Methoden ihrer Lösung an Beispielen gezeigt. In unserm Fall gehören hierzu vor allem Satz und Regel. Ein zweiter Hinweis liegt in den Worten „es wird nun […] gezeigt“. Hiermit wird das gerade Erläuterte explizit in den weiteren Fluß der Untersuchungen eingespeist. Der letzte Satz schließlich – „Es gibt nicht eine Methode, …“ – wirft auf das Kommende ein bestimmtes Licht; er läßt sich als Aufforderung verstehen: Lies die folgenden Ausfüh-

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rungen auch unter dem Gesichtspunkt der in den Bemerkungen 89–133 behandelten Methodenfragen, nimm sie als therapeutische Versuche! Noch deutlicher aber ist in bezug auf die Einbettung der hier betrachteten Sequenz von Bemerkungen in ihren Kontext der Anfang. „Mit diesen Überlegungen“ heißt nicht: „Nach diesen Überlegungen“, sondern soviel wie: „Die Überlegungen, die wir gerade angestellt haben, haben uns in eine Situation gebracht, in der wir …“. Wie können schon angestellte Überlegungen so etwas tun? Nun, indem sie ohne eine Erörterung des benannten Problems nicht hinreichend verständlich sind. Anfang und Ende des „metaphilosophischen Kapitels“ lassen uns von diesem erhoffen, was man von einem solchen erhoffen sollte: es ist ohne seinen Kontext so wenig hinreichend verständlich, wie es dieser ohne jenes ist. Was kann sich eine Metaphilosophie mehr wünschen, als wirklich gebraucht zu werden? Wie zeigt sich am besten, daß etwas wirklich gebraucht wird? Indem sich herausstellt, daß das Andere, welches man ohne es zuwege bringen kann, nur unzureichend verstanden werden kann. Aber dazu muß mit dem Anderen erst einmal begonnen werden. Und deshalb kommt das Philosophieren über das Philosophieren nicht am Anfang des Buches und auch nicht an seinem Ende zur Sprache, sondern erst nachdem ein Problem entfaltet und damit das Bedürfnis nach etwas Metaphilosophie spürbar wurde. Was eben mehr allgemein angedeutet wurde, muß sich nun detailliert am Text zeigen lassen. Daß dieser mit dem vorhergehenden engstens verbunden ist, wird mit dem ersten Satz von PU 89 – „Wir stehen mit diesen Überlegungen an dem Ort, wo das Problem steht: …“ – ja bloß behauptet. Zeigen muß es sich an dem Problem, welches nun behandelt werden muß und im zweiten Satz des „Eröffnungszuges“ so benannt wird: „In wiefern ist die Logik etwas Sublimes?“ (PU 89) Was heißt „sublim“?1 Klar ist: Je nachdem, was man unter „sublim“ versteht, wird man nach anderen Verbindungen zum Vortext suchen, und je nachdem, wie man den Vortext versteht, wird man dieser oder jener Variante von „sublim“ den Vorrang geben. Wie kann man dieses Wort denn verstehen? „Das Sublime“ und das ebenfalls vorkommende „sublimieren“ bedeuten sowohl „das Reine“ und „reinigen“ wie auch „das Erhabene“ und „erhaben machen“. Damit bieten sich zwei Tendenzen der Deutung an, die auch in der Literatur vertreten werden. Für beide Richtungen gibt es sie stützende Paragraphen. Dies macht die Mehrdeutigkeit von „sublim“ zwar interpretatorisch interessant, aber auch mißlich, solange man glaubt, sich für eine von beiden Deutungen entscheiden zu müssen. Man muß aber nicht! Um 1 Am Beginn stellt sich eine weitere Frage. Sie verdient diese Antwort: Unter „Logik“ versteht Wittgenstein sowohl den Gegenstand als auch die Disziplin und unter letzterer zumindest den Teil der Philosophie, zu dem er sein eigenes Tun (im „Tractatus“ und) in den „Untersuchungen“ zählt. Das heißt nicht, daß an allen Stellen des Vorkommens dieses Wortes alle seine Varianten sinnbewahrend eingesetzt werden können. Es bedeutet nur, daß meist klar ist, welche Variante zur Debatte steht, und daß da, wo dies nicht der Fall ist oder wo man nicht alle einsetzen kann, nicht viel philosophischer Gewinn aus diesem Tatbestand zu ziehen ist.

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dies zu sehen erinnere ich an Kants „Namenerklärung des Erhabenen“ (so der Titel von Paragraph 25 der gleich zitierten Schrift). „Erhaben“, schreibt er in der „Kritik der Urteilskraft“ (B 80–81, A 79–80), „nennen wir das, was schlechthin groß ist. Großsein aber, und eine Größe sein, sind ganz verschiedene Begriffe (magnitudo und quantitas). Imgleichen schlechtweg (simpliciter) sagen, daß etwas groß sei, ist auch ganz was anderes als zu sagen, daß es schlechthin groß (absolute non comparative magnum) sei. Das letztere ist das, was über alle Vergleichung groß ist.“ An dieser „Namenerklärung“ interessiert uns zunächst die Unterscheidung zwischen „groß“ und „über alle Vergleichung groß“. Ersteres Prädikat vergeben wir, indem wir Vergleiche zwischen verschiedenen Dingen anstellen. „Etwas ist groß“ heißt hier: „es ist im Vergleich zu anderem groß“. Letzteres dagegen bedeutet nicht „nach allen Vergleichen“, sondern „unabhängig von ihnen“. Allgemeiner: was vergleichbar ist, interessiert uns hier nicht als solches. Das erhabene Ding ist als erhabenes seiner vergleichbaren Eigenschaften ledig; es ist rein. Anders gesagt: Indem etwas als erhaben charakterisiert wird, wird es zugleich vollständig gereinigt, absolut purifiziert. Das Erhabene ist das Reine. In schönster Harmonie hiermit steht PU 38, die einzige Stelle, wo zuvor schon einmal vom Sublimieren die Rede ist. Dort geht es um eine „seltsame Auffassung“: daß das Wort „dieses“ der eigentliche Name sei. Da fragt man sich doch: „Aber warum kommt man auf die Idee, gerade dieses Wort zum Namen machen zu wollen, wo es offenbar kein Name ist? – Gerade darum.“ (PU 39) Die Antwort ist verwirrend; bis wir auf die Idee kommen, die Beförderung des Wörtchens „dieses“ in den Rang des eigentlichen Namens zu sehen als Ausdruck „einer Tendenz […], die Logik unserer Sprache zu sublimieren“. (PU 38) Wie drückt sich diese Tendenz aus? Jetzt am Beispiel des Begriffs des Satzes: „Einer könnte sagen ,Ein Satz, das ist das Alltäglichste von der Welt‘, und der Andre: ,Ein Satz – das ist etwas sehr Merkwürdiges!‘“ (PU 93, vgl. auch PU 363.) Hier wird zwei gegensätzlichen Einstellungen Ausdruck verliehen, nicht ein Vergleich angestellt. Die zweite Einstellung könnte man die staunende Einstellung dem Satz gegenüber nennen. Für sie gibt Wittgenstein zwei Motive. Betrachten wir das erste: „Warum sagen wir, der Satz sei etwas Merkwürdiges? Einerseits, wegen der ungeheuren Bedeutung, die ihm zukommt. (Und das ist richtig.)“ (PU 93) Noch einmal am Beispiel des Namens: Warum nennt man das Wörtchen „dieses“ den eigentlichen Namen? Nun, „man ist versucht, gegen das, was gewöhnlich ‚Name‘ heißt, einen Einwand zu machen; und den kann man so ausdrücken: daß der Name eigentlich Einfaches bezeichnen soll.“ (PU 39) „Man“ – das ist der Philosoph. Für ihn sind Satz und Name etwas sehr Merkwürdiges. Aber warum soll der Name gerade Einfaches bezeichnen? Weil er sonst kein gewöhnliches Ding beschreiben könnte. Ein solches ist zusammengesetzt aus Bestandteilen. Es ist so zusammengesetzt. Wäre es anders zusammengesetzt, so wäre es als das, was es jetzt ist, zerstört. Es existierte nicht mehr. Aber dann hätte der Name keine Bedeutung. Somit wären Sätze, in denen er vorkommt, sinnlos. Nun haben sie aber Sinn, also kann ein

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gewöhnlicher Name kein wirklicher Name sein. Jener muß durch diesen ersetzt werden. Von ihm steht fest: er muß bezeichnen, was nicht zusammengesetzt ist und deshalb nicht zerstört werden kann. Dies ist das eigentlich Einfache. Daß dies gerade vom Wort „dieses“ geleistet werden kann, sieht man, wenn man sich daran erinnert, daß „dieses“ mit den gewöhnlichen Namen eng zusammenhängt: über die hinweisende Definition, beim Reden über einen Gegenstand vor uns, als Platzhalter eines Namens u. a. m. Und so wie der Name eigentlich Einfaches, also nicht Zusammengesetztes, also Unzerstörbares bezeichnen soll, mithin nie seines Trägers verlustig gehen kann, so kann auch das „hinweisende ,dieses‘ [...] nie trägerlos werden.“ (PU 45) Methodologisch wichtig am gerade Skizzierten ist folgendes: Der Philosoph findet etwas sehr merkwürdig, fragt sich, wie es möglich ist, und meint nach genauer Überlegung zu wissen, was ein Name (ein Satz etc.) eigentlich sein muß. Wenn der Philosoph sich dann in der Welt umsieht, entspricht aber kein gewöhnlicher Name dem Begriff, den er sich vom Namen macht. Das, was wir tatsächlich „Name“ nennen, also gewöhnliche Namen, exemplifiziert den Begriff nur unrein, insofern es auch noch anderen Zwecken genügen muß als nur dem der Benennung. Insofern läßt sich auch kein Beispiel für einen Namen, der dem philosophischen Begriff entspricht, geben. Was könnte dann besser geeignet sein, den Begriff des Namens zu repräsentieren, als etwas, das offensichtlich kein Name ist? Nichts, könnte man sagen, kann reiner sein von den tatsächlichen Ausprägungen der Namenhaftigkeit als dasjenige, was gar kein Name ist. Das Wort „dieses“ symbolisiert den Begriff. Die „ungeheure Bedeutung“, von der in PU 93 die Rede ist, ist die ungeheure Bedeutsamkeit, die fundamentale Wichtigkeit des Satzes (des Namens, des Denkens, etc.) für unser Leben. Es ist der Satz, mit dem wir befehlen, beschreiben, berichten, vermuten, darstellen, erfinden, deklamieren, singen, raten, übersetzen, bitten, danken, f luchen, grüßen, bekennen und beten. (Vgl. die Liste der Arten der Sätze oder Sprachspiele in PU 23.) Wie wichtig oder fundamental ist der Satz? So wichtig, wie es etwa das Geld ist, oder so wichtig wie die Luft zum Atmen? Nun, wie gesagt, diese Wichtigkeit ist von einer Art, die jenseits alles Vergleichbaren liegt. Die Wichtigkeit des Satzes ist nicht größer als die des Geldes, aber auch nicht kleiner. Eher schon, könnte man sagen, gehört sie zu dem, was es überhaupt erst erlaubt, von mehr oder weniger Wichtigem zu reden. Insofern ist die Wichtigkeit des Satzes die eigentliche Wichtigkeit. Diese überträgt sich auf das, was den Satz möglich macht – den Namen, das Einfache, die Tatsache etc. Philosophische Probleme haben keine solitäre, sondern eine soziale Lebensweise. Sie bilden, wie Brecht einmal gesagt hat, Banden. Diese wird man los, indem man sie aufspaltet und einzeln bekämpft, jedes Mitglied nach seiner Façon. Insofern gibt es „nicht eine Methode der Philosophie, wohl aber gibt es Methoden“. (Einschub BS (S. 88)/KG (S. 817) zu PU 133/WA (S. 305) PU 133)

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Wenn es nun eine besondere – die staunende – Einstellung ist, die etwas erhaben macht, dann hat dieses Sublimieren aber auch nichts mit dem gewöhnlichen Reinigen zu tun. Es ist, mit anderen Worten, keine gewöhnliche Tätigkeit. Die Sublimierung und das Sublimierte haben selbst den Charakter des Seltsamen, Merkwürdigen. (Vgl. auch PU 196, 363.) So heißt es dann auch, die „seltsame Auffassung“, das Wort „dieses“ sei der eigentliche Name, hänge zusammen „mit der Auffassung des Benennens als eines, sozusagen, okkulten Vorgangs […]. Das Benennen erscheint als eine seltsame Verbindung eines Wortes mit einem Gegenstand. – Und so eine seltsame Verbindung hat wirklich statt, wenn nämlich der Philosoph, um herauszubringen, was die Beziehung zwischen Namen und Benanntem ist, auf einen Gegenstand vor sich starrt und dabei unzählige Male einen Namen wiederholt, oder auch das Wort ,dieses‘. Denn die philosophischen Probleme entstehen, wenn die Sprache feiert. Und da können wir uns allerdings einbilden, das Benennen sei irgend ein merkwürdiger seelischer Akt, quasi eine Taufe eines Gegenstandes. Und wir können so auch das Wort ,dieses‘ gleichsam zu dem Gegenstand sagen, ihn damit ansprechen – ein seltsamer Gebrauch dieses Wortes, der wohl nur beim Philosophieren vorkommt.“ (PU 38)2 „Ein Satz – das ist etwas sehr Merkwürdiges!“ – Daß etwas merkwürdig ist, heißt zumindest, daß es uns nicht so scheint, wie es gewöhnlich ist. Dies zeigt sich an den Reaktionen, die wir dem Merkwürdigen entgegenbringen, wie etwa der folgenden auf die „seltsame Auffassung“, das Wort „dieses“ sei der eigentliche Name: „Die eigentliche Antwort darauf ist: ,Name‘ nennen wir sehr Verschiedenes; das Wort ,Name‘ charakterisiert viele verschiedene, mit einander auf viele verschiedene Weisen verwandte, Arten des Gebrauchs eines Worts; – aber unter diesen Arten des Gebrauchs ist nicht die des Wortes ,dieses‘.“ (PU 38)3 2 Wer in Wittgenstein einen Instrumentalisten sieht, könnte ihn so lesen: Wenn die Sprache feiert, dann ist dies die Benutzung der sprachlichen Formen als Instrumente (PU 569) zu gar nichts oder als Selbstzweck. Der Vielzahl der sprachlichen Instrumente und ihrer Zwecke entspräche dann die Vielzahl der Arten des Feierns, sprich: der philosophischen Probleme. Man hätte dann nicht nur terminologisch, sondern auch inhaltlich die Andeutung einer Nähe zu Kant, der meint, das Erhabene hänge mit gar nichts oder nur mit sich selbst zusammen. Man beachte auch, wie verschieden die Färbung des Wortes „seltsam“ am Beginn und am Ende des Zitates ist. Man bekommt so einen Eindruck von Wittgensteins selten anerkannten Fähigkeiten zur feinen Ironie. Dies führt uns vielleicht zu PU 111, wo es heißt: „Warum empfinden wir einen grammatischen Witz als tief ? (Und das ist ja die philosophische Tiefe.)“ Wieder Kant: Was ist der Witz des Witzes? Daß er, übrigens: wie das Erhabene, gar nichts sagt (vgl.: Kant, a. a. O., B 222 ff.). Kant ist auch der Ansicht, daß das Erhabene nicht etwas ist, was man an den erhabenen Dingen (Personen, Vorgängen, Ereignissen etc.) feststellen oder entdecken kann, sondern daß es in der Beziehung des Subjektes auf das Ding konstituiert wird. Dies erinnert an die Charakterisierung des in PU 93 Ausgedrückten als Einstellung. Aber dies sind nur grobe Andeutungen. 3 Man könnte den Wittgensteinschen Gebrauch des Wortes „eigentlich“ als den einer besonderen, philosophischen Art von Negation betrachten: Etwas, sagt der Philosoph, ist eigentlich etwas anderes. Interessant ist hier die Negation der Ansicht, was etwas eigentlich sei. Insofern Wittgenstein dies wieder „die eigentliche Antwort“ nennt, redet er wie der Philosoph, der den ersten Zug machte. Es ist also eine doppelte Negation. Der Witz

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Dem, was Wittgenstein „die eigentliche Antwort“ nennt, sieht man an, daß sie unmittelbar zu den Ausführungen über Familienähnlichkeit führt. Allerdings spielt sie auch bis zu diesen Passagen keine Rolle mehr. Welches Gewicht ihr zukommt, sieht man aber rückblickend, wenn man sich die Frage ansieht, auf die das Konzept der Familienähnlichkeit die Antwort ist: „Hier stoßen wir auf die große Frage, die hinter allen diesen Betrachtungen steht. – Denn man könnte mir nun einwenden: ,Du machst dir’s leicht! Du redest von allen möglichen Sprachspielen, hast aber nirgends gesagt, was denn das Wesentliche des Sprachspiels, und also der Sprache, ist. […] Du schenkst dir also gerade den Teil der Untersuchung, der dir selbst seinerzeit das meiste Kopfzerbrechen gemacht hat, nämlich den, die allgemeine Form des Satzes und der Sprache betreffend.‘“ Wittgenstein hat zwei Antworten. Die eine: „Und das ist wahr.“ (PU 65) Zum anderen aber gibt er mit PU 65 ff. eine ausführliche Variante dessen, was in PU 38 „die eigentliche Antwort“ hieß. Was ist also an dem Vorwurf wahr? Nun, daß es eine allgemeine Form des Satzes, das Wesentliche des Sprachspiels in dem Sinne geben müsse, wie er dem Fragenden vorschwebt. Wie gesagt: die eigentliche Antwort auf die große Frage taucht zuerst nur als nicht weiter verfolgte Andeutung auf. Dies ist ein charakteristischer Zug der gesamten „Philosophischen Untersuchungen“. Der erste Abschnitt beginnt bekanntlich mit dem Zitat einer Stelle aus Augustinus’ „Bekenntnissen“, in welcher Augustinus das Lernen der Muttersprache beschreibt.4 An der Beschreibung interessiert Wittgenstein zunächst „ein bestimmtes Bild von dem Wesen der menschlichen Sprache“, welches der Leser in Augustinus’ Worten erhält. (Man beachte, daß das Bild nicht von Augustinus selbst gegeben wird.) In diesem Bild finden sich dann auch die Wurzeln einer philosophischen Idee von der Bedeutung eines Wortes. (Vgl. auch PU 2). Hiermit des Sache: man kommt nur scheinbar wieder am Ausgangspunkt an. Insofern ist Wittgenstein auch kein Common-Sense-Philosoph, selbst wenn manches, was er sagt, diesen Eindruck erwecken könnte. (Vgl. PU 116, 122, 124 ff.) 4 Augustinus berichtet hier, wie er die Sprache lernte. Der Kontext der Stelle, den Wittgenstein nicht zitiert, macht klar, daß Augustinus nicht aus der Erinnerung schöpft, sondern von seinem Fall sagt, was er später bei anderen Kindern beobachtet zu haben glaubt. Diese Form der Beschreibung des Lernens der Sprache entspricht natürlich dem Charakter der Schrift, zu der die Beschreibung gehört – eben den „Bekenntnissen“. Daß Wittgenstein eine solche Beschreibung gerade aus dieser Schrift zitiert, ist insofern bemerkenswert, als es sich bei den „Bekenntnissen“ um alles andere als eine sprachphilosophische Schrift handelt. Wenn es überhaupt ein philosophischer Text ist, dann ein ethischer in dem Sinne, in welchem im „Tractatus logico-philosophicus“ von Ethik die Rede ist – als etwas Höherem. Insofern könnte man nach der hier vorgeschlagenen Deutung der Worte „sublim“, „Sublimes“ und „sublimieren“ bereits im ersten Abschnitt der PU den Anfang der Auseinandersetzung mit der entsprechenden Problematik sehen. Allerdings ist dieser Anfang dann von sehr subtiler Art. Insofern Augustinus’ Bemerkungen nicht philosophischer Natur sind, ist die in der vorherigen Fußnote gemachte Bemerkung zum Wörtchen „eigentlich“ einschlägig. Inwiefern Wittgenstein nach der Kritik an dem „philosophische(n) Begriff der Bedeutung“ (PU 2) nicht wieder dort ankommt, wo die ganze Sache anfing – bei Augustinus’ Beschreibung des Lernens – sieht man in PU 32.

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beginnt das Spiel. Allgemein läßt sich sagen: Der Partner (manche Interpreten nennen ihn auch „Gegner“, wir können ihn auch „traditioneller Philosoph“ nennen) macht den ersten Zug. Dieser hängt zusammen mit einer bestimmten Beschreibung des Lernens der Sprache, hat aber als philosophischer eben auch eine gewisse Selbständigkeit. Auf den Zug reagiert Wittgenstein dann auf argumentativ außerordentlich vielfältige Weise. Betrachten wir als Beispiel kurz die drei Absätze nach dem Eröffnungszitat in PU 1. Zuerst weist Wittgenstein auf Dinge hin, die, obwohl von Augustinus nicht genannt, zu seiner Beschreibung gehören. Dabei wird die begriff liche Wahrheit benutzt, daß aus der Beschreibung eines Lernens eine Beschreibung des Gelernten abziehbar ist. Dem kann der Partner nur widersprechen, wenn er den begriff lichen Zusammenhang leugnet. Aber damit würde er seine eigene Schilderung in Frage stellen – was würde hier noch geschildert? Ein Lernen der Sprache sicher nicht. Vergleichen wir damit den letzten Absatz: die berühmte Szene im Kaufmannsladen. Die Einleitung dieses Absatzes, die Zurückweisung der dort gestellten Fragen, der Inhalt – alles dies spricht eine andere Sprache als der zweite Absatz. Der mittlere dagegen ist, sozusagen, ein Fall von doppelter Buchführung, so wie der folgende, nahezu klassische: „Augustinus beschreibt, könnten wir sagen, ein System der Verständigung; nur ist nicht alles, was wir Sprache nennen, dieses System. Und das muß man in so manchen Fällen sagen, wo sich die Frage erhebt: ,Ist diese Darstellung brauchbar, oder unbrauchbar?‘ Die Antwort ist dann: ,Ja, brauchbar; aber nur für dieses eng umschriebene Gebiet, nicht für das Ganze, das du darzustellen vorgabst.‘“ (PU 3) Nun ist Augustinus’ Darstellung aber intendiert für die Sprache als solche, und nicht für einzelne ihrer Gebiete. Deshalb wäre es genauso berechtigt, die Frage mit „Nein, unbrauchbar.“ zu beantworten. Nun antwortet Wittgenstein aber mit „Ja, …“; also kann man ihn so verstehen, daß er sich gewissermaßen noch im Rahmen des ursprünglichen Anliegens bewegt. Andererseits haben wir aber die Tatsache, daß er genausogut hätte sagen können „Nein, …“. Also könnte man auch sagen, er hätte Augustinus’ Gedankenbahnen schon verlassen. Jedenfalls ist der Effekt seiner Äußerung, daß sie auf eine stillschweigende Voraussetzung des von Augustinus Gesagten deutet: daß es ein Wesen der Sprache gebe oder geben müsse, das unabhängig von irgendeinem besonderen Gebiet der Sprache, einem einzelnen Sprachspiel angebbar sei. Diese Präsupposition wird dann direkt bestritten und durch anderes ersetzt in den „eigentlichen Antworten“, mit PU 65 ff. als Höhepunkt. Deren Nachteil ist, daß sie den Partner nicht überzeugen können, wenn „überzeugen“ heißt: den anderen mit Gründen zu einer Ansicht bringen. Gründe werden dagegen gegeben, wenn sie akzeptiert oder verworfen werden können, ohne daß man den eigenen Ansatz in Frage stellen muß. Der Nachteil dieses Vorgehens ist der, daß so die „VorausSetzungen“ des Ansatzes nicht eigens betrachtet werden können.5 5 In diesen Unterscheidungen findet sich ein Echo auf die beiden dominanten Lesarten der PU: (1) als Darstellungen dessen, was etwas (Sprache, Bedeutung, Verstehen, Geist etc.) ist und (2) als Therapien.

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Den Gegner zu überzeugen suchen heißt, sich einzulassen auf sein Bild davon, was ein Name, die Sprache, die Philosophie sein müssen. Dem steht entgegen: wie es sich verhält. Dies stellt Wittgenstein bloß hin und ergänzt es um die Aufforderung „denk nicht, sondern schau!“ (PU 66) Das Problem ist nicht, zu folgern, daß Familienähnlichkeit die Antwort ist, sondern sie als solche anzuerkennen. (Dies ist der Punkt, in dem die Therapeuten im Recht sind.) Aber dies heißt nicht, es sei egal, wie es zu dieser Anerkennung kommt, solange sie nur überhaupt zustande kommt. (Hier sitzen die Therapeuten wieder im Abseits.) Die Schwierigkeit ist, den Zusammenhang der verschiedenen Redeweisen zu sehen. (Daß man ihn nur schwer sieht, spiegelt sich in der Existenz zweier Lesarten.) Und deshalb bedarf es eines Kapitels zur Philosophie. Denn es ist schwer zu sehen, wie etwas dermaßen Schlichtes wie die Idee der Familienähnlichkeit „die eigentliche Antwort auf die große Frage“ sein kann. Daß man es nicht sieht, hängt zusammen mit dem Bild, welches man sich vom Philosophieren macht. Aber dieses Bild gehört selbst zu dem Philosophieren, welches man betreibt. Also kann man nicht nur das richtige Bild hinsetzen und es dann einfach anwenden. Denn die Frage ist: wie kommt man philosophisch zu dem richtigen Bild? (Wenn das Philosophieren ein Spiel ist, dann gehört Metaphilosophie zum Spiel; und wenn sie nicht dazugehörte, dann wäre es eben ein anderes Spiel, wenn man sie hinzufügte. Vgl. PU 121.) Die Wirksamkeit der Idee der Familienähnlichkeit beruht, wie gesagt, auf der Befolgung der Aufforderung „denk nicht, sondern schau!“ Daß die Sache sich im Bereich dessen, was man sehen kann, so verhält wie in PU 65 ff. geschildert, bestreitet der Partner aber nirgends. Über den, der meint „Ein Satz – das ist etwas sehr Merkwürdiges!“, heißt es deshalb: „Und dieser kann nicht: einfach nachschaun, wie Sätze funktionieren.“ (PU 93) Was kann er hier nicht? Nachschauen? Nein, er kann nicht einfach nachschauen, es beim Nachschauen belassen. Wer so wie er redet, glaubt schon zu wissen, was das sein muß – ein Satz (ein Name, die Philosophie etc.). Wir haben eine Idee vom Satz, und diese „sitzt gleichsam als Brille auf unsrer Nase, und was wir ansehen, sehen wir durch sie. Wir kommen gar nicht auf den Gedanken, sie abzunehmen.“ (PU 103) Eine solche Idee hinsichtlich des Satzes ist zum Beispiel diese: Der Satz ist ein Bild der Wirklichkeit. Der Satz ist ein Modell der Wirklichkeit, so wie wir sie uns denken. (TLP 4.01) Aus PU 38 wissen wir, was hier zu sagen ist: „Die eigentliche Antwort hierauf ist: ,Satz‘ nennen wir sehr Verschiedenes …“ Aber das ficht den Partner nicht an, das weiß er selbst: […] die scheinbare logische Form des Satzes [muß] nicht seine wirkliche sein […]. (TLP 4.0031)

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Wenn es die wirkliche logische Form des Satzes ist, welche erlaubt, daß der Satz die Welt abbildet, dann ist es die Aufgabe der Logik, hinter den scheinbaren Formen die wirklichen auszumachen, „den Dingen auf den Grund [zu] sehen, […] sich nicht um das So oder So des tatsächlichen Geschehens [zu] kümmern. – Sie entspringt nicht einem Interesse für Tatsachen des Naturgeschehens, noch dem Bedürfnisse, kausale Zusammenhänge zu erfassen. Sondern einem Streben, das Fundament, oder Wesen, alles Erfahrungsmäßigen zu verstehen.“ (PU 89) Die Rede davon, „den Dingen auf den Grund [zu] sehen“, ist ernst zu nehmen. Sie drückt das Bild aus, welches der Philosoph sich von dem macht, worauf es in der Logik oder der Philosophie ankommt: auf das Fundament oder den Grund, die in der Tiefe oder unter der Oberf läche liegen. Ein ganz ähnliches Bild ist dieses: Das Wesen liegt hinter den Erscheinungen. „Es ist uns, als müßten wir die Erscheinungen durchschauen: unsere Untersuchung aber richtet sich nicht auf die Erscheinungen, sondern, wie man sagen könnte, auf die ,Möglichkeiten‘ der Erscheinungen.“ (PU 90) Dieses Bild ist nun Wittgensteins Thema bei dem Versuch, die Frage nach der Sublimität der Logik zu beantworten. Was wir gewöhnlich sehen, sind die Erscheinungen, nicht das Wesen. Insofern können wir konstatieren: „,Das Wesen ist uns verborgen‘: das ist die Form, die unser Problem nun annimmt. Wir fragen: ,Was ist die Sprache?‘, ,Was ist der Satz?‘.“ (PU 92) Dem Bild vom Wesen einer Sache korrespondiert ein Bild vom Philosophieren: das des Durchschauens. Aber wofür ist dies Bild vom Durchschauen der Phänomene ein Bild? „Wir besinnen uns, heißt das, auf die Art der Aussagen, die wir über die Erscheinungen machen.“ (PU 90) Nur: inwiefern ist denn das Durchschauen der Phänomene ein Erinnern an die Art von Aussagen? Könnte man hier nicht das wiederholen, was anläßlich des Vorschlags, das Wörtchen „dieses“ als eigentlichen Namen zu betrachten, zu sagen war: daß dieses Durchschauen nun gerade kein Erinnern sei? Der Einwand ist berechtigt. Was wir beim Philosophieren tun, ist dies: wir erinnern uns an Arten von Aussagen. Was wir dem Bild vom Philosophieren zufolge tun, ist das: wir durchschauen Phänomene. Wie paßt beides zusammen? Wie gesagt: die Rede vom Durchschauen gibt ein Bild. Daß wir uns fragen, wie es mit dem zusammenpaßt, was wir tun, bedeutet, daß wir dieses Bild nicht nach reif licher Überlegung als das passende Bild gewählt haben. Zu dem Bild haben wir ohne Überlegung gegriffen. In einem anderen Zusammenhang heißt es bei Wittgenstein: „Und das Beste, was ich vorschlagen kann, ist wohl, daß wir der Versuchung, dies Bild zu gebrauchen, nachgeben: aber nun untersuchen, wie die Anwendung dieses Bildes aussieht.“ (PU 374) Was dort fruchtbar ist, wo dieses Zitat hingehört, ist auch hier mit Erfolg anwendbar. Also was ist das: etwas durchschauen? Nun, wann sagen wir, daß wir etwas durchschaut haben? Wann reden wir denn gewöhnlich von einem Unterschied zwischen Wesen und Erscheinung? Eine bunte Glasscheibe können wir durchschauen, eine trübe Flüssigkeit

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kann uns Durchsicht gewähren, so daß wir durch sie hindurch etwas sehen können, was hinter ihr oder auf ihrem Grund liegt. Aber was wir sehen, könnte auch anders sein, als es ist. Also sehen wir, wenn wir durch eine Scheibe oder eine Flüssigkeit hindurchsehen, nicht das Wesen des Durchschauten, wenn man von ihm in dem Sinne spricht, den der Philosoph im Auge hat, wenn er verlangt, es solle das sein, was nicht anders sein kann, als es ist, wenn die Erscheinung möglich sein soll, egal ob diese nun so oder anders ist. Wir durchschauen hier etwas, indem wir durch es hindurchsehen, sehen aber so nicht sein Wesen. Es gibt aber auch Fälle, in denen wir von einem Durchschauen und einem Sehen des Wesens reden – etwa dann, wenn wir sagen, wir hätten eine Person oder ihr Verhalten, durchschaut und sähen nun ihr wahres Motiv etc. Hier ist etwas nicht so, wie es zu sein scheint. Aber heißt dies, daß wir etwas sehen – das Motiv, oder daß die Person nicht glaubt, was sie behauptet –, was hinter dem Verhalten (oder in dem Handelnden) ist? Nehmen wir Lügen als ein Beispiel. Wenn einer lügt, dann kommt er manchmal damit durch, manchmal nicht. Das heißt, manchmal, aber nicht immer, bekommen wir heraus, daß er uns angelogen hat. Wenn wir es herausbekommen, dann, sagen wir, haben wir ihn durchschaut. Wie bekommen wir es heraus? Indem wir in sein Inneres schauen? Wie tun wir dies? Und warum schauen wir dann nicht gleich dort hinein? Hat er sein Innerstes verborgen? Und wie konnten wir dann trotzdem hineinsehen? Nein, wenn einer lügt, dann tut er etwas, was so aussieht, wie Aufrichtig-Sein aussieht. Deshalb konnte er uns ja täuschen. Wenn wir nun wissen, daß er gelogen hat, wenn wir ihn durchschaut haben, dann kommt zu dem, was wir vorher schon gesehen haben, noch etwas hinzu. Das neue Element verändert das Bild des Ganzen. Wir sehen: wir schauen nicht durch etwas hindurch, hinter es, sondern sehen, was wir vorher sahen, in einer neuen Umgebung. Wir durchschauen etwas, sehen auch sein Wesen, aber wir sehen nicht durch etwas hindurch, was wir vorher schon sahen, wenn wir von „hindurchsehen“ in dem Sinne reden wie in dem vorherigen Beispiel. Es ist also nicht so, daß wir nicht wüßten, wovon wir reden, wenn wir von einem Unterschied zwischen Wesen und Erscheinung und einem Durchschauen von Phänomenen reden. Man kann sich etwas darunter vorstellen, kann bestimmte Fälle nennen und beschreiben. Nur sind dies nicht Fälle, die der philosophischen Ausrichtung der Untersuchungen entsprechen. In deren Sinne könnte man sagen, daß das einzige, was man nicht wirklich durchschauen kann, die Erscheinungen sind. Oder man sagt, daß was immer wir brauchen, keine Erscheinung sein kann. Oder auch: daß das Durchschauen einer Erscheinung mit dem Ziel, etwas Interessantes zu sehen, nicht dasjenige Durchschauen ist, um welches es der Philosophie geht. – Was immer man sagen will, Wittgensteins besondere Behandlungsweise der Worte „durchschauen“, „Erscheinungen“ und „Möglichkeiten“ in PU 90 wird jetzt verständlich. Sie passen in ihrer gewöhnlichen Verwendung nicht auf die Weise zusammen, die der Philosoph gern hätte, um sein Anliegen zu formulieren. Denn soweit man Erscheinungen durchschauen kann, kommt man eben nicht bei

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dem an, worum es in der Philosophie geht – den Möglichkeiten, dem Wesen der Erscheinungen. Dies soll ja etwas sein, was nicht anders sein kann, als es ist, was jenseits des „So oder So des tatsächlichen Geschehens“ (PU 89) liegt. (So, wie es etwas Unzerstörbares geben muß, wenn es wirklich Namen gibt.) Betrachten wir nun dagegen, was wir tatsächlich tun – Erinnerungen zu einem bestimmten Zweck zusammentragen etc. (PU 127) –, so scheint dies dem Philosophen ungenügend, denn dies ist ja bestenfalls die Art, wie das, was er eigentlich tut, gemessen an dem Bild, welches er sich vom Philosophieren macht, erscheint. Darum bedarf es für ihn der Erläuterung, wenn Wittgenstein sagt: „Unsere Betrachtung ist daher eine grammatische.“ (PU 90) Oder: „Das Wesen ist in der Grammatik ausgesprochen.“ (PU 371) Die Frage ist: Inwiefern ist es philosophisch interessant, wie man ein Wort gebraucht, und nicht ausschließlich, welche Art von Gegenstand das ist, wofür das Wort steht? „Es kommt nicht aufs Wort an, sondern auf seine Bedeutung“ (PU 120). Der traditionelle Philosoph braucht also nicht zu bestreiten, daß Philosophieren ein Besinnen oder Erinnern ist. Das Wesentliche am Besinnen ist für ihn nicht, daß es eine grammatische Betrachtung, sondern daß es ein erster Schritt zur Wesensaufdeckung ist. Insofern ist das philosophische Besinnen eigentlich Wesensuntersuchung. Erinnern wir uns an die „eigentliche Antwort“ auf die „seltsame Auffassung“, das Wörtchen „dieses“ sei der eigentliche Name: wir nennen sehr Verschiedenes, miteinander vielfältig Verwandtes „Name“, aber eben nicht das Wort „dieses.“ (Vgl. PU 38) Wir können leicht eine hierzu analoge Antwort auf die Auffassung formulieren, das Wesentliche am Besinnen sei nicht, daß es eine grammatische Betrachtung, sondern daß es eigentlich philosophische Wesensuntersuchung sei. Aber dann fragt sich wieder, wie Wittgenstein die Zustimmung des Partners zu dieser Sichtweise erlangen will, die man in einer Synthese aus PU 43 und 127 so beschreiben könnte: „Man kann für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes ,Philosophieren‘ – wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benützung – dieses Wort so erklären: Die Arbeit des Philosophen ist ein Zusammentragen von Erinnerungen zu einem bestimmten Zweck.“ Das Problem ist: diese Charakterisierung des Philosophierens widerspricht nicht unbedingt dem Bild, welches sich der Partner davon macht; er hält sie nur für oberf lächlich, nicht das Wesen des Philosophierens treffend. Sie ist, sozusagen, der Sache äußerlich. Wittgenstein redet für ihn über etwas, was nur akzidentell zur Sache des Philosophierens gehört. Er hat andere Kriterien dafür, worüber er redet. Also redet er von etwas anderem. – In gewisser Weise ist dies richtig, in gewisser Weise nicht. Erinnern wir uns: Was stellt der Philosoph an, um herauszubringen, was, zum Beispiel, die Zeit ist? – Er „besinnt sich […] auf die verschiedenen Aussagen, die man über die Dauer von Ereignissen, über ihre Vergangenheit, Gegenwart, oder Zukunft macht. (Dies sind natürlich nicht philosophische Aussagen über die Zeit, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.)“ (PU 90) Das Verständnis des traditionellen Philosophen von

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seinem eigenen Tun ist dieses: Weil die Aussagen, die wir über die Dauer von Ereignissen machen, über ihre Vergangenheit etc. pp. keine philosophischen Aussagen sind, interessieren sie mich als solche nicht. Mich beschäftigt die Bedeutung des Wortes „Zeit“, ihr Begriff . (Vgl. PU 120) Was ein Wort bedeutet, wie soll ich dies herausbekommen, wenn nicht dadurch, daß ich die sinnvollen Sätze betrachte, in denen es vorkommt: die Aussagen, die wir über die Zeit machen? Da wir diese Aussagen machen, wissen wir schon, was Zeit ist. Also können wir es sagen? Nein, wenn wir gefragt werden, wissen wir es nicht. – Im „Tractatus“ wurde dies so ausgedrückt: „Der Mensch besitzt die Fähigkeit Sprachen zu bauen, womit sich jeder Sinn ausdrücken läßt, ohne eine Ahnung davon zu haben, wie und was jedes Wort bedeutet. – Wie man auch spricht, ohne zu wissen, wie die einzelnen Laute hervorgebracht werden.“ (TLP 4.002) Dies klingt paradox. Wie ist es möglich, daß wir nicht wissen, was die Worte bedeuten, die wir benutzen? Insofern läßt sich sagen: „Wir wollen etwas verstehen, was schon offen vor unsern Augen liegt. Denn das scheinen wir, in irgend einem Sinne, nicht zu verstehen.“ (PU 89) Dem „Tractatus“ zufolge beginnt das Verständnis mit der Akzeptanz der Forderung nach der Bestimmtheit des Sinns. Wenn der Satz auch seinen Sinn verhüllt, besagt die Forderung, so ist es doch ein bestimmter Sinn, der ausgedrückt wird. Später heißt es: „Der Sinn des Satzes […] kann freilich dies oder das offen lassen, aber der Satz muß doch einen bestimmten Sinn haben. Ein unbestimmter Sinn, – das wäre eigentlich gar kein Sinn.“ (PU 99) Ich kann sagen: „Das Buch liegt im Regal oder auf dem Tisch“ und damit offenlassen, wo genau es ist. Aber das ich dies offenlasse und nicht etwas ganz anderes, das muß bestimmt sein, wenn ich überhaupt etwas sage. Also hat der Satz Sinn; also kann es nicht darum gehen, ihm erst einen Sinn zu geben. Dann kann es nicht Aufgabe der Logik sein, den Menschen zu sagen, wie ein richtiger Satz ausschaut. Wir streben auch nicht ein Ideal an, welches der Logiker uns vorgibt, denn unsere natürliche Sprache ist bereits logisch vollkommen geordnet. (Vgl. TLP 5.5563, PU 81 ff., 98) Wo steckt die Ordnung? Im Satzzeichen? Der Satz als Satzzeichen allein scheint tot; wie bekommt er Leben? Durch das Denken des Satzsinnes, durch das Meinen des Gesagten. Also muß im Denken, im Meinen, vollkommene Ordnung sein. Wenn man sagt, was man meint, und meint, was man sagt, dann gebraucht man den Satz auf sinnvolle Weise. Insofern können wir auch sagen: Im sinnvollen Gebrauch lebt der Satz. (Vgl. TLP 3.326 ff., PU 432 f.) Also muß vollkommene Ordnung im Gebrauch sein. Der sinnvolle Gebrauch ist der Gebrauch entsprechend bestimmten Regeln. Anders gesagt: „wer einen Satz ausspricht und ihn meint, oder versteht, [betreibt] damit einen Kalkül […] nach bestimmten Regeln.“ (PU 81) Wenn es nicht Aufgabe der Philosophie ist, die Sprache in Ordnung zu bringen, weil alles in Ordnung ist, wie kann es dann Mißverständnisse geben? Entsteht ein Mißverständnis nicht dadurch, daß das Mißverstandene keinen Sinn hatte, der bestimmt genug war? – Natürlich gibt es Mißverständnisse. Diese lassen sich aus dem Weg räumen, in-

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dem der Sinn bestimmter gemacht wird, indem klar gemacht wird, was der Sinn ist. Ein Weg, die Wurzel von Mißverständnissen zu finden, ist der, daß man sich die Teile des Mißverstandenen ansieht und schadhafte auswechselt. Man sucht die Substanz, die das Wasser trübe macht, durch Analysen zu finden. Insofern ähnelt, was wir tun, wenn wir uns auf die Art unserer Aussagen besinnen, zwar einem Analysieren und mag auch dem Vorbeugen oder Wegräumen von Mißverständnissen dienen. (Vgl. PU 90.) Aber das ist weder für den traditionellen Philosophen noch für Wittgenstein das, was die Philosophie ausmacht. Sie sucht nicht die Wurzel dieses oder jenes Mißverständnisses, sondern die Wurzel aller möglichen Mißverständnisse. Was sie geben muß, ist, wie es scheint, „eine letzte Analyse unserer Sprachformen, also eine vollkommen zerlegte Form des Ausdrucks.“ (PU 91, vgl. auch TLP 3.23 ff.) Dies ist „das eigentliche Ziel unserer Untersuchung.“6 Also nicht: Wie kann man die Sprache in Ordnung bringen? Sondern: Was ist die Ordnung, das Wesen, die Grundlage jeder möglichen und also auch unserer Sprache? Denn das „scheint […] klar: Wo Sinn ist, muß vollkommene Ordnung sein. – Also muß die vollkommene Ordnung auch im vagsten Satze stecken.“ (PU 98) Insofern muß man sagen: Die Philosophie „läßt alles, wie es ist.“ (PU 124) Nicht: Die Philosophie sagt, alles solle bleiben wie es ist. Sondern: Wenn du willst, daß etwas nicht bleibt, wie es ist, dann glaube nicht, daß dein Grund, falls du einen hast, philosophischer Natur ist – wenn du unter „Philosophie“ weiterhin etwas verstehst, das einen Anspruch erhebt, wie wir ihn im „Tractatus“ einzulösen bestrebt waren. (Ein Anspruch, nebenbei bemerkt, der große Teile der Tradition unseres Faches kennzeichnet.) Wittgenstein knüpft in den PU an den Anspruch seines Philosophierens im „Tractatus“ an. Gerade weil er dies tut, sieht es ja aus, als vermeide er die „große Frage […] hinter allen diesen Betrachtungen“, die Frage, die ihm einst „das meiste Kopfzerbrechen gemacht hat“. (PU 65) Also wird nun zu zeigen sein, inwiefern dem alten Anspruch mit dem neuen Vorgehen nicht ausgewichen, sondern eben doch entsprochen wird. Wie entstehen Mißverständnisse? Zum Beispiel durch vage Sätze. Aber wenn Ordnung auch im vagsten Satz steckt, dann kann die Unbestimmtheit des Sinnes des vagen Satzes, die zu alltäglichen Mißverständnissen führt, nicht die Unbestimmtheit sein, die wir im Auge haben. Das, was wir im täglichen Leben „Sinn“ nennen, ist von ganz anderer Art als das, was wir in der Logik unter „Sinn“ verstehen. (So wie nichts, was wir gewöhnlich „Name“ nennen, eigentlich einer ist.) Und genauso ist, was wir gewöhnlich als eine Bestimmung des Begriffs des Sinnes geben würden, keine philosophische Bestimmung, denn die gewöhnliche Bestimmung wird Worte (Wahrheit, Satz, Bedeutung, Sprache, Vagheit, Exaktheit etc.) enthalten, die den gleichen Mangel aufweisen wie das Wort „Sinn“. Das bedeutet: Die Ordnung, die wir anstreben, „ist eine Über-Ordnung 6 Ebd.; zur „Analyse“ vgl. auch PU 60–64.

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zwischen – sozusagen – Über-Begriffen.“ (PU 97) – Was ist dann mit unserem Anspruch (aus dem „Tractatus“)? War dies ein Über-Anspruch? Galt der nicht auch den Grundlagen der Sprache, die wir tatsächlich sprechen? Was machen wir also mit unseren alltäglichen Sätzen, mit der gewöhnlichen Vagheit, dem üblichen Sinn? Wie können wir überhaupt sagen, daß etwas ein Satz ist? Kurz: „Wenn wir [wie im „Tractatus“, R. R.] glauben, jene Ordnung, das Ideal, in der wirklichen Sprache finden zu müssen, werden wir nun mit dem unzufrieden, was man im gewöhnlichen Leben ,Satz‘, ,Wort‘, ,Zeichen‘, nennt.“ (PU 105) Aber wenn das, was man gewöhnlich so nennt, uns nicht genügt, wir nicht einmal wissen, was man im Leben einen wirklichen Satz nennen kann, wie können wir dann sagen, daß wir in der Logik das Wesen des Satzes erkennen? Wovon können wir dann sagen, wir hätten sein Wesen erkannt? Von dem, was man gewöhnlich „Satz“ nennt? Aber dies ist ja eigentlich gar keiner! Nach wessen Wesen wurde dann in der Frage nach dem Wesen des Satzes gefragt? (Vgl. PU 120.) So gelangen wir dahin, wo es scheint, als „wäre unsre Logik eine Logik, gleichsam, für den luftleeren Raum.“ (PU 81) Aber dann hat sie auch nichts mit den Erscheinungen zu tun. Wie kann sie dann deren Wesen angeben? Was erkennen wir dann eigentlich in der Logik? Es scheint: Nichts. Wenn wir an dem Bild dessen, was die Logik eigentlich ist – ein Durchschauen der Phänomene zwecks Aufdeckung der vollkommenen Ordnung, die sich auch im vagsten Satz finden lassen muß, und zwecks Freilegung des klaren und strengen Kalküls, den wir beim Sprechen anwenden – festhalten, dann scheint es, als gelangten wir immer nur dahin, daß die Philosophie sich selbst in Frage stellt. (PU 133) „Wir sind aufs Glatteis geraten, wo die Reibung fehlt, also die Bedingungen in gewissem Sinne ideal sind, aber wir eben deshalb auch nicht gehen können. Wir wollen gehen; dann brauchen wir die Reibung. Zurück auf den rauhen Boden!“ (PU 107) Der rauhe Boden – das ist die alltägliche Art des Redens über den alltäglichen Gebrauch, den wir von den Worten „Satz“, „Wort“, „Sprache“, aber auch „Erscheinung“, „Wesen“ und „durchschauen“ machen. „Wir führen die Wörter von ihrer metaphysischen, wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück.“ (PU 116) Wenn wir philosophieren, dann ist dies kein Über-Durchschauen von Über-Begriffen, um deren Über-Wesen zu finden. – Einwand: Wenn du meinst, die „Philosophie der Logik redet in keinem andern Sinn von Sätzen und Wörtern, als wir es im gewöhnlichen Leben tun“ (Einschub BS (S. 80)/KG (S. 808) zu PU 108/WA (S. 298)), dann bist du wohl auch bereit, die Kristallreinheit der Logik zu opfern? Denn sie ist es doch, die uns in die Schwierigkeiten bringt. Wir wissen, daß die Logik das Wesen von Sprache, Denken und Welt ist; Kopfzerbrechen bereitet uns, daß wir sie dort nicht so finden können, wie sie sein muß. – Aber erinnern wir uns doch: Wer meint, „dieses“ sei der eigentliche Name, der redet, als wisse er eigentlich schon, was ein Name sein muß. Gemessen an diesem Begriff, findet er das, was gewöhnlich „Name“ genannt wird, unzureichend. Aber dies ist eben ein Vor-Urteil. All-

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gemeiner, auch die Begriffe „Satz“ und „Sprache“ einbeziehend, heißt dies: „Je genauer wir die tatsächliche Sprache betrachten, desto stärker wird der Widerstreit zwischen ihr und unsrer Forderung. (Die Kristallreinheit der Logik hatte sich mir ja nicht ergeben; sondern sie war eine Forderung.)“ (PU 107) Damit ist der Einwand jedoch noch nicht aus der Welt: „Was aber wird nun aus der Logik? Ihre Strenge scheint hier aus dem Leim zu gehen. – Verschwindet sie damit aber nicht ganz? – Denn wie kann die Logik ihre Strenge verlieren? Natürlich nicht dadurch, daß man ihr etwas von ihrer Strenge abhandelt.“ (PU 108) Und jetzt die Antwort: Richtig ist, daß die Logik keine Logik mehr ist, wenn sie ihre Strenge verliert. Insofern kann man ihr auch nichts von ihrer Strenge abhandeln. (Und nicht, weil es so schwer ist!) Nicht das Urteil, daß die so und so verstandene Logik das Wesen von Sprache, Denken und Welt ausdrückt, ist als solches falsch, sondern als Vorurteil führt es in die Irre, weil es uns hindert zu sehen, wie sich die Strenge der Logik in der Sprache findet. Was tun wir nun mit dem Vorurteil? Wittgenstein: „Der Philosoph behandelt eine Frage; wie eine Krankheit.“ (PU 255) Durchgeführt in unserm Fall, heißt dies: „Das Vorurteil der Kristallreinheit kann nur so beseitigt werden, daß wir unsere ganze Betrachtung drehen. (Man könnte sagen: Die Betrachtung muß gedreht werden, aber um unser eigentliches Bedürfnis als Angelpunkt.)“ (PU 108) „Unsere klaren und einfachen Sprachspiele sind nicht Vorstudien zu einer künftigen Reglementierung der Sprache, – gleichsam erste Annäherungen, ohne Berücksichtigung der Reibung und des Luftwiderstands. Vielmehr stehen die Sprachspiele da als Vergleichsobjekte, die durch Ähnlichkeit und Unähnlichkeit ein Licht in die Verhältnisse unsrer Sprache werfen sollen.“ (PU 130) So haben wir beides: die Kristallreinheit der Logik und ihren Zusammenhang mit unserer gewöhnlichen Sprache. Verschwunden ist der Dogmatismus, etwas müsse so und so sein. (Vgl. PU 81 und 131.) Wenn die Logik nicht mehr das unvergleichliche Wesen der Sprache und damit des Denkens und der Welt ausdrückt, was wird dann aus der Unterscheidung zwischen Wesen und Erscheinung? Verschwindet sie? Oder müssen wir auch hier die Betrachtung drehen? – Was war unser eigentliches Bedürfnis? Wir wollten den Dingen auf den Grund sehen, etwas verstehen, was schon offen vor unseren Augen liegt. (PU 89) Wir hatten bestimmte Bilder davon, was dies heißt: einer Sache auf den Grund sehen, das Fundament von etwas finden, das Wesen einer Erscheinung erkennen, eine letzte Analyse unserer Sprachformen geben. Und als wir die Bilder anwenden wollten, kam nicht das heraus, was wir uns erhofften. Der Philosoph betrachtet, auch im Fall des eigenen Tuns, die Bilder nicht als Ausdrucksformen (seines Bedürfnisses) oder als Darstellungsweisen (seines Strebens), sondern „prädiziert von der Sache, was in der Darstellungsweise liegt.“ (PU 104)



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Die Philosophie spricht nur in einem gewöhnlichen Sinn über Worte? Also doch nicht über die Dinge? Die Antwort, in PU 370 anhand eines Beispiels erläutert, lautet: „Nicht, was Vorstellungen sind, oder was da geschieht, wenn man sich etwas vorstellt, muß man fragen, sondern: wie das Wort ,Vorstellung‘ gebraucht wird. Das heißt aber nicht, daß ich nur von Worten reden will. Denn soweit in meiner Frage vom Wort ,Vorstellung‘ die Rede ist, ist sie’s auch in der Frage nach dem Wesen der Vorstellung. Und ich sage nur, daß diese Frage nicht durch ein Zeigen – weder für den Vorstellenden, noch für den Andern, zu erklären ist; noch durch die Beschreibung irgendeines Vorgangs. Nach einer Worterklärung fragt auch die erste Frage; aber sie lenkt unsre Erwartung auf eine falsche Art der Antwort.“ (Vgl. auch PU 120.) Wenn es stimmt, daß beide Fragen nach einer Worterklärung fragen, dann wird verständlich, warum es heißt: „Das Wesen ist in der Grammatik ausgesprochen.“ (PU 371) Also gibt es doch einen Unterschied zwischen Wesen und Erscheinung? Oder ist die Philosophie doch nicht etwas Einzigartiges, steht nur neben, aber nicht über oder unter den Naturwissenschaften (vgl. TLP 4.111)? Nein: „Richtig war, daß unsere Betrachtungen nicht wissenschaftliche Betrachtungen sein durften. […] Und wir dürfen keinerlei Theorie aufstellen. Es darf nichts Hypothetisches in unsern Betrachtungen sein.“ (PU 109) Was Wittgensteins Philosophieren von dem des traditionellen Philosophen (wie etwa dem Autor des „Tractatus“) unterscheidet, ist nicht, daß jener etwas ganz anderes tut als dieser. Beide besinnen sich auf Aussagen, tragen Erinnerungen an den Gebrauch von Worten zusammen. Aber Wittgenstein sieht (in den PU) im Wesen nicht etwas hinter den Erscheinungen oder unter der Oberf läche, sondern etwas, „was schon offen zutage liegt und was durch Ordnen übersichtlich wird.“ (PU 92) „Wir reden von dem räumlichen und zeitlichen Phänomen der Sprache; nicht von einem unräumlichen und unzeitlichen Unding.“ (Einschub BS (S. 80)/KG (S. 809) zu PU 108/WA (S. 298)) Gleichwohl bleibt es bei der Ansicht der „Abhandlung“, daß wir beim Philosophieren nicht Wissenschaft treiben. (Vgl. TLP 4.11 ff.) Das heißt: uns interessiert die Sprache nicht als Gegenstand einer möglichen Erklärung. Wir betrachten sie vielmehr wie ein Spiel. „Die Frage ,Was ist eigentlich ein Wort?‘ ist analog der ,Was ist eine Schachfigur?‘“ (PU 108)7 Der Unterschied zwischen Wesen und Erscheinung ist nicht von der Art, wie es das oben geschilderte Bild vom Durchschauen der Phänomene nahelegt. Aber das heißt nicht, daß es keinen Unterschied gibt. Im Gegenteil, auch wir (pluralis majestatis) trachten „in unsern Untersuchungen das Wesen der Sprache – ihre Funktion, ihren Bau – zu verstehen“. (PU 92) Nur begreifen wir jetzt unter „Wesen“ nicht etwas, das man sieht, wenn man etwas anstarrt und dabei zu durchschauen sucht, sondern etwas, das man sieht, indem man es anders ansieht. „Es ist eine Hauptquelle unseres Unverständnisses, daß wir den Gebrauch unserer Wörter nicht übersehen. – Unserer Grammatik fehlt es an 7 Man beachte die An- und Abwesenheit des Wörtchens „eigentlich“! Nebenbei: Damit ist gar nichts gegen eine wissenschaftliche Betrachtung der Sprache gesagt.

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

Übersichtlichkeit. – Die übersichtliche Darstellung vermittelt das Verständnis, welches eben darin besteht, daß wir die ,Zusammenhänge sehen‘. […] Der Begriff der übersichtlichen Darstellung ist für uns von grundlegender Bedeutung. Er bezeichnet unsere Darstellungsform, die Art, wie wir die Dinge sehen.“ (PU 122) Übersichtlich dargestellt wird die Familie der Gebrauchsweisen eines Wortes. Das heißt, daß man mit einer Art von Aussage nicht hinkommt, sondern mehrere betrachten, vielleicht sogar einige erfinden muß. „Eine Hauptursache philosophischer Krankheiten – einseitige Diät: man nährt sein Denken mit nur einer Art von Beispielen.“ (PU 593) Wie ordnen wir die Vielzahl von Beispielen? Gibt es eine natürliche Ordnung? „Wir wollen in unserm Wissen vom Gebrauch der Sprache eine Ordnung herstellen: eine Ordnung zu einem bestimmten Zweck; eine von vielen möglichen Ordnungen; nicht die Ordnung.“ (PU 132) Was ist dann unser Prinzip bei der Beschreibung dieser Ordnung? „[D]iese Beschreibung empfängt ihr Licht, d. i. ihren Zweck, von den philosophischen Problemen. Diese sind freilich keine empirischen, sondern sie werden durch eine Einsicht in das Arbeiten unserer Sprache gelöst, und zwar so, daß dieses erkannt wird: entgegen einem Trieb, es mißzuverstehen. […] Die Philosophie ist ein Kampf gegen die Verhexung unsres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache.“ (PU 109) Der Trieb, das Arbeiten unserer Sprache mißzuverstehen, erwächst aus unserem „eigentlichen Bedürfnis“ (PU 108), etwas zu verstehen, was schon offen vor unseren Augen liegt. (PU 89) „Wir achten auf unsere eigene Ausdrucksweise, […] verstehen sie aber nicht, sondern mißdeuten sie. Wir sind, wenn wir philosophieren, wie Wilde, primitive Menschen, die die Ausdrucksweise zivilisierter Menschen hören, sie mißdeuten und nun die seltsamsten Schlüsse aus ihrer Deutung ziehen.“ (PU 194) Wie bringen wir dem Wilden bei, daß es seltsame Dinge sind, die er tut? Wie begegnen wir dem Trieb, das Arbeiten unserer Sprache mißzuverstehen? Wenn gilt: „Was ist dein Ziel in der Philosophie? – Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zeigen.“ (PU 309), dann muß man fragen: Wie zeigt man einer Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas? Nun, indem man das Glas so dreht, daß die Fliege – ihrem natürlichen Trieb folgend! – den Ausweg findet. Aber um dies mit Erfolg zu können, muß man wissen, wohin ihr Trieb die Fliege führen wird. Was heißt es, dies zu wissen? „Die fundamentale Tatsache ist hier: daß wir Regeln, eine Technik, für ein Spiel festlegen, und daß es dann, wenn wir den Regeln folgen, nicht so geht, wie wir angenommen hatten. Daß wir uns also gleichsam in unsern eigenen Regeln verfangen. Dieses Verfangen in unsern Regeln ist, was wir verstehen, d. h. übersehen wollen. […] Die bürgerliche Stellung des Widerspruchs, oder seine Stellung in der bürgerlichen Welt: das ist das philosophische Problem.“ (PU 125) Wenn der Widerspruch auftritt, sagen wir, „[…] es kommt […] anders, als wir es gemeint, vorausgesehen, hatten. Wir sagen eben […]: ,So hab’ ich’s nicht gemeint.‘“ (PU 125) Der Philosoph versucht nun, den Widerspruch zu lösen, zu sagen, was Einer

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meint – meinen muß –, wenn er dies oder das sagt. Also versucht er, das Gemeinte auf andere Weise zu sagen, und dabei verfängt er sich doch wieder nur in neuen Widersprüchen. Wittgenstein macht hier einen Ausweg explizit: der Widerspruch ist Ausdruck des Mangels an Übersicht über die Regeln, denen wir folgen, wenn wir reden. Was Wittgenstein also wissen muß, wenn er der Fliege den Ausweg zeigen will, ist: welchen Regeln wir folgen, wie es sich in der bürgerlichen Welt verhält, wie es im gewöhnlichen Leben zugeht.8 Aber weiß der Philosoph denn nicht, wie es in der Welt zugeht? In einem Sinne ja, in einem anderen nicht. „Die für uns wichtigsten Aspekte der Dinge sind durch ihre Einfachheit und Alltäglichkeit verborgen. (Man kann es nicht bemerken, – weil man es immer vor Augen hat.) Die eigentlichen Grundlagen seiner Forschung fallen dem Menschen gar nicht auf. Es sei denn, daß ihm dies einmal aufgefallen ist. – Und das heißt: das, was, einmal gesehen, das Auffallendste und Stärkste ist, fällt uns nicht auf.“ (PU 129) Es fällt uns nicht auf – was sollte dies anderes heißen, als daß es für uns das Alltäglichste von der Welt ist? Wäre es also besser, statt „Ein Satz – das ist etwas sehr Merkwürdiges!“ zu sagen, den Satz so zu betrachten: „Ein Satz, das ist das Alltäglichste von der Welt“ (vgl. PU 93)? Warum sollte, wer so spricht, überhaupt „nachschauen, wie Sätze funktionieren“? Wonach sollte er Ausschau halten? Er bekäme doch nur Antworten auf Fragen, die er nicht hat, Lösungen für Probleme, die ihn nicht bewegen. Für ihn ist die Welt seicht. Das heißt nicht, daß seine Haltung keinen Wert hat. Sie hat einen – vorausgesetzt, der andere macht den ersten Zug im philosophischen Spiel, beginnt mit dem Staunen über den Satz, das seinen Ausdruck eben in der Äußerung findet „Ein Satz – das ist etwas sehr Merkwürdiges!“. Der erste Zug ist das Staunen über das Alltägliche. „Das, was man weiß, wenn uns niemand fragt, aber nicht mehr weiß, wenn wir es erklären sollen, ist etwas, worauf man sich besinnen muß. (Und offenbar etwas, worauf man sich aus irgendeinem Grunde schwer besinnt.)“ (PU 89) Denjenigen, für den der Satz das Alltäglichste von der Welt ist, zeichnet aus, daß er nicht zugibt, etwas überhaupt nicht zu verstehen, nur weil er es nicht weiß, wenn er es erklären soll. Aber das heißt eben auch nicht, daß er es weiß. Was ihm abgeht, ist nicht erst das Bedürfnis, etwas zu verstehen, was schon offen vor seinen Augen liegt, sondern bereits die Idee, daß er das nicht verstehen könnte; daß es nicht offensichtlich ist, sondern einer Untersuchung bedarf. In diesem Sinne ist seine Einstellung der anderen entgegengesetzt. Aber nur in dieser Entgegensetzung haben beide einen Wert. Anders gesagt: auch mit dem Ausspruch „Der Satz, das ist das Alltäglichste von der Welt.“ wird keine Arbeit verrichtet. Auch dies ist Teil des Feierns der Sprache. 8 Insofern haben seine Untersuchungen auch einen konstruktiven, wenn man das Wort weit dehnen will, „theoretischen“ Zug.

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Einerseits stellen wir immer wieder fest: „Die Ergebnisse der Philosophie sind die Entdeckung irgend eines schlichten Unsinns und Beulen, die sich der Verstand beim Anrennen an die Grenze der Sprache geholt hat.“ (PU 119) Andererseits gilt: „Die Probleme, die durch ein Mißdeuten unserer Sprachformen entstehen, haben den Charakter der Tiefe. Es sind tiefe Beunruhigungen; sie wurzeln so tief in uns, wie die Formen unserer Sprache, und ihre Bedeutung ist so groß, wie die Wichtigkeit unserer Sprache.“ (PU 111) Ein Widerspruch? Nein, denn: „Sie, die Beulen, lassen uns den Wert jener Entdeckung erkennen.“ (PU 119) Wie groß die Beulen sind, sieht man daran, daß Wittgenstein über 133 Abschnitte braucht, um der schlichten Idee Geltung zu verschaffen, daß nicht allem, was „Satz“ genannt wird, etwas gemeinsam sein muß. Inwiefern ist die Logik dann sublim, sprich: rein und erhaben? Oder ist sie doch nur das Alltäglichste von der Welt? Anders gefragt: „Woher nimmt die Betrachtung [auch die der Philosophie in den PU, R. R.] ihre Wichtigkeit, da sie doch nur alles Interessante, d. h. alles Große und Wichtige, zu zerstören scheint? (Gleichsam alle Bauwerke; indem sie nur Steinbrocken und Schutt übrig läßt.)“ (PU 118) Nun, wir haben gesehen: „es sind nur Luftgebäude, die wir zerstören, und wir legen den Grund der Sprache frei, auf dem sie standen.“ (Ebd.) „Sie“ – das sind die Sätze der Philosophen, die sie als Lösung der philosophischen Probleme anbieten. Diese Sätze sollen beschreiben, was man sieht, wenn man den Dingen auf den Grund sieht. Sie sollen die Fundamente beschreiben – und sind doch nur die Beschreibungen von Fundamenten von Luftschlössern. „,Die Sprache (oder das Denken) ist etwas Einzigartiges‘ – das erweist sich als ein Aberglaube (nicht Irrtum!) hervorgerufen selbst durch grammatische Täuschungen. Und auf diese Täuschungen, auf die Probleme, fällt nun das Pathos zurück.“ (PU 110)9

Literatur G. P. Baker, P. M. S. Hacker, An Analytical Commentary on the „Philosophical Investigations“. Vol. 1: Wittgenstein. Understanding and Meaning, Oxford 1980. D. Birnbacher, „Lassen wir uns nicht behexen!“ Eine Metakritik von Wittgensteins Kritik an der Sprachverführung des Denkens, in: Ders. und A. Burkhardt (Hgg.), Sprachspiel und Methode. Zum Stand der Wittgenstein-Diskussion, Berlin und New York 1985, 47–70. Ch. Crittenden, Wittgenstein on Philosophical Therapy and Understanding, International Philosophical Quarterly 10, 1970, 20–43. K.T. Fann, Wittgenstein’s Conception of Philosophy, Oxford, Berkeley 1969. P. Feyerabend, (Review of) Wittgenstein’s „Philosophical Investigations“, The Philosophical Review, Vol. 64, 1955, 449–483. G. Hallett, A Companion to Wittgenstein’s „Philosophical Investigations“, Ithaca and London 1977. 9 Ich möchte an dieser Stelle Ingolf Max, Eike von Savigny und Pirmin Stekeler-Weithofer für Gespräche, Hinweise und Kritiken danken.

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S. St. Hilmy, The Later Wittgenstein. The Emergence of a New Philosophical Method, Oxford, New York 1987. A. Kenny, Wittgenstein, London 1973. G. Luckhardt, Philosophy in the „Big Typescript“, Synthese 87, 1991, 255–272. G. Meggle, Wittgenstein – ein Instrumentalist?, in: D. Birnbacher und A. Burkhardt (Hgg.), Sprachspiel und Methode. Zum Stand der Wittgenstein-Diskussion, Berlin und NewYork 1985, 71–88. P. Philipp, Nachwort zu der von ihm im Leipziger Reclam-Verlag 1990 besorgten Ausgabe des TLP und der PU. R. Raatzsch, PI 1 – Setting the Stage, in: Grazer Philosophische Studien, Band 51, 1997, 1–38. Th. Rentsch, Heidegger und Wittgenstein. Existential- und Sprachanalysen zu den Grundlagen philosophischer Anthropologie, Stuttgart 1985. R. Rorty, Keeping Philosophy Pure, Yale Review 65, Spring 1976, 336–356. E. v. Savigny, Wittgensteins „Philosophische Untersuchungen“. Ein Kommentar für Leser, 2. Auf l., Frankfurt a. M. 1994 (Bd. I) und 1996 (Bd. II). E. v. Savigny, Der Mensch als Mitmensch. Wittgensteins „Philosophische Untersuchungen“, München 1996. G. H. v. Wright, Wittgenstein, Oxford 1982.

5 Eike von Savigny

Wie Sprecher Ausdrücke meinen

Die „Philosophischen Untersuchungen“ beschäftigen sich sehr ausführlich mit dem Verstehen und dem Meinen; diesen Themen zwar nicht allein, aber vorwiegend sind ungefähr die ersten einhundertundneunzig Abschnitte und dann noch einmal etwa die letzten sechzig gewidmet. Die fürs Meinen auf den ersten Blick befremdliche Position Wittgensteins – man muß Gebrauchsregeln beherrschen, um mit einem Ausdruck etwas zu meinen – ist fürs Verstehen nicht so überraschend und inhaltlich auch leichter plausibel zu machen.1 Wir beschränken uns deshalb darauf herauszuarbeiten, was Wittgensteins Bild davon ist, daß ein Sprecher etwas mit einem Ausdruck meint.

5.1 Meinen und Bedeutung Das Wort „meinen“ wird im Deutschen mit dem persönlichen Subjekt in zwei Bedeutungen häufig und in zweien seltener gebraucht. Häufig heißt es etwas Ähnliches wie „glauben“ oder „denken“; Beispiel: „Was meinst du dazu?“ Nicht diese Bedeutung interessiert hier, sondern die zweite häufige Bedeutung: „sagen wollen“, „über etwas reden wollen“; Beispiele: „Was meinst du mit dieser Bemerkung?“ „Wen hast du mit ,Spitzbube‘ gemeint?“ Meinen in diesem Sinne ist unser Thema. Neuerdings (bei Grimm 1885 noch nicht verzeichnet) wird „meinen“ auch in der Bedeutung „sagen“ gebraucht, etwa in Protokollen: „Der Vorsitzende meinte, man könne die Frage auf sich beruhen lassen.“ Nur noch selten kommt „meinen“ im Deutschen in der Bedeutung „beabsich1 Es ist eine brauchbare Leitlinie für die Interpretation der PU, das Verständnis, das man von einem Ausdruck hat, als knowing how im Sinne von Gilbert Ryle, The Concept of Mind, London 1949, Kap. 2, anzusehen und das Ereignis, daß man (auf Grund des Verständnisses vom Ausdruck) den Ausdruck, wenn er konkret gebraucht wird, hier und jetzt versteht, als Gebrauchmachen von diesem knowing how. Ganz stimmt die Parallele nicht, weil „Er hat mich verstanden“ keine Tätigkeit zuschreibt.

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E  S

tigen“ vor: „Er hat es gut gemeint“, „Ich meinte zu gehen“; in dieser Bedeutung bildet es das ebenso seltene Wort „Meinung“ in der Bedeutung „Absicht“:2 „Ich habe keine Meinung dazu“ heißt dann „Ich habe keine Lust dazu“. „Meinung“ kann im Deutschen sonst nur (als Verbalsubstantiv zu „meinen“ in der Bedeutung „glauben“) dasselbe wie „Ansicht“ heißen: „Würden jetzt bitte alle nacheinander ihre Meinung äußern?“3 Wie Sprecher es anstellen, mit einem Ausdruck etwas zu meinen, interessiert Wittgenstein deshalb, weil er wissen möchte, was dieses Meinen mit der Bedeutung des Ausdrucks zu tun hat. Für ihn leitet sich die Bedeutung gerade nicht vom Meinen der Sprecher her; vielmehr wird zu zeigen sein: Sprecher können für ihn nur deshalb etwas meinen, weil Ausdrücke schon etwas bedeuten. Hört jemand das auf Deutsch formuliert, dann mag es ihn – je nach seinen sprachtheoretischen Vormeinungen – überraschen oder befremden; paradox klingt es nicht. Anders im Englischen: „meinen“ heißt „to mean“, das Verbalsubstantiv „Meinen“ heißt „meaning“, und „meaning“ ist auch das englische Wort für „Bedeutung“. Wer sagen will, es gebe Bedeutung ohne Meinen, kann das auf Englisch so ausdrücken: „There is meaning without meaning.“ Und das klingt nicht gut. Es ist deshalb kein Wunder, daß die herrschende englischsprachige Sprachphilosophie sich um eine vom Begriff der Bedeutung unabhängige Explikation des Meinens bemüht hat; den entscheidenden Schritt hat Paul Grice getan.4 Anschließend folgte die Explikation des Begriffs der Bedeutung im Sinne dessen, was man mit einem Ausdruck zu meinen hat; implizit hat das Lewis 1969 geleistet, explizit Schiffer 1972.5 Da das gesamte Progamm nach philosophischen Standards ein Erfolg war, stellt niemand im angelsächsischen Sprachraum in Frage, daß „meaning is where something is meant“; und daran mag es liegen, daß der größte Teil der angelsächsischen Wittgenstein-Literatur die entgegengesetzte Pointe der PU glattweg verschlafen hat. Soweit sie sie nicht verschlafen hat, hat sie doch die beiden dafür aussagekräftigsten Abschnitte der PU übersehen, in denen Wittgenstein am Anfang eine Frage stellt, die er auf Grund einer für den Stil des Buchs ungewöhnlich systematischen Argumentation am Schluß explizit beantwortet: die Abschnitte 189 und 190. Zusammengenommen stellen sie seine Antwort auf die 2 So benutzt Wittgenstein „Meinung“ in PU 639. 3 „Meinung“ im Sinne von „was man mit einem Ausdruck sagen will“ gibt es im Deutschen – anders als für „meaning“ im Englischen – nicht. („Meinung“ in PU 186 ist klarerweise ironisch.) 4 Meaning, Phil. Rev. 66, 1957, 377–388. Damit hat er ein richtiggehendes philosophisches Forschungsprogramm lanciert; wichtige Fortschritte, nicht alle in dieselbe Richtung, erzielten Strawson, Intention and Convention in Speech Acts, Phil. Rev. 73, 1964, 439–460; John R. Searle, Speech Acts, Cambridge 1969, 42– 50; Stephen Schiffer, Meaning, Oxford 1972, Kap. 3; Jonathan Bennett, Linguistic Behaviour, Cambridge 1976, Kap. 5 und 6; Andreas Kemmerling, Was Grice mit „Meinen“ meint, in: G. Grewendorf (Hg.), Sprechakttheorie und Semantik, Frankfurt a. M. 1979, 67–118; ders., Utterer’s Meaning Revisited, in: R. Grandy, R. Warner (Hgg.), Philosophical Grounds of Rationality: Intentions, Categories, Ends, Oxford 1983, 131–155; Georg Meggle, Grundbegriffe der Kommunikation, Berlin/New York 1981. 5 D. Lewis, Convention, Cambridge, Mass., 1969; zu Schiffer s. vorige Anm.

W S A 

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seit PU 186 mit besonderer Eindringlichkeit diskutierte Frage dar, ob der Sprecher aus eigener Machtvollkommenheit bestimmen kann, wie er einen Ausdruck meint.6

5.2 Die Bestimmungsleistung des Meinens PU 190 endet mit dem Satz: So kann also das Meinen die Übergänge zum Voraus bestimmen. Wittgensteins Gegner hat PU 189 mit der Frage eingeleitet: „Aber sind die Übergänge also durch die algebraische Formel nicht bestimmt?“ Darauf hat Wittgenstein unmittelbar entgegnet: – In der Frage liegt ein Fehler. Deshalb sollte zwischen dem Anfang von PU 189 und dem Ende von PU 190 geklärt sein, welchen Fehler man zu vermeiden hat, wenn man zu Recht sagen möchte, die Übergänge seien durch die algebraische Formel zum Voraus bestimmt. Von „Übergängen“ ist deshalb die Rede, weil es im Vortext seit PU 185 um die weitere Entwicklung von Zahlenfolgen an beliebigen Stellen geht, also zum Beispiel um die Frage, was nach 1000 oder nach 100034 das nächste Glied der Folge an  = 2n ist (PU 185, 186). (Die im Text genannten „algebraischen Formeln“ sind teilweise unorthodox, zum Beispiel „+2“ für die eben genannte Folge oder „+3“ in PU 189.) Die Frage, ob „+2“ den Übergang von 100034 nach 100036 bestimmt, Zahlen, an die kein Beteiligter je gedacht hat, ist also dieselbe wie die, ob aus „an  = 2n“ folgt, daß a50018 100036 ist, oder anders ausgedrückt, ob „an  = 2n“ für n = 50018 100036 als Wert festlegt oder eben bestimmt. Die Sachverhalte, daß die Übergänge von einer beliebigen Stelle zur anderen und daß die Werte für beliebige Argumente bestimmt sind, brauchen also in diesem Zusammenhang nicht unterschieden zu werden. PU 190 ist wesentlich kürzer als PU 189, und PU 189 macht einen wesentlich umständlicheren Eindruck als PU 190. PU 190 scheint sogar so klar, daß man den Abschnitt für aus sich heraus verständlich halten möchte: Man kann nun sagen: „Wie die Formel gemeint wird, das bestimmt, welche Übergänge zu machen sind.“ Was ist das Kriterium dafür, wie die Formel ge6 Ähnlich eindringliche Diskussionen hat es vorher gegeben in PU 28, 29; 84–87; 139–141; eine weitere folgt in PU 198–201.



E  S meint ist? Etwa die Art und Weise, wie wir sie ständig gebrauchen, wie uns gelehrt wurde, sie zu gebrauchen.7 (PU 190 a.)

Es könnte in diesem Zusammenhang um drei Fälle gehen: man meint irgend etwas mit einem unbekannten Ausdruck; oder man meint etwas Ungewöhnliches mit einem bekannten Ausdruck; oder man meint mit einem bekannten Ausdruck das Übliche. PU 190 a spricht über die Bestimmungsleistung, die das Meinen erbringt, wenn man mit einem bekannten Ausdruck das Übliche meint; sonst könnte sein ständiger Gebrauch nicht Kriterium dafür sein, wie er gemeint ist. (Wir stellen die Frage nach der Interpretation von „Etwa“ zurück.) Wem an der Bestimmungsleistung des Meinens liegt, der wird an diesem Fall weniger interessiert sein als an den beiden anderen. Wittgenstein nennt davon im folgenden nur den ersten, nämlich daß man mit einem unbekannten Ausdruck etwas meint. Da es hier nicht um die Frage geht, wie man es macht, mit einem bekannten Ausdruck nicht das Übliche, sondern überhaupt etwas zu meinen, kann man tatsächlich den Fall, daß man mit einem bekannten Ausdruck (nicht das Übliche, sondern) etwas Ungewöhnliches meint, genauso behandeln wie den, daß man mit einem unbekannten Ausdruck überhaupt etwas meint. Darüber spricht der zweite Absatz: Wir sagen z. B. Einem, der ein uns unbekanntes Zeichen gebraucht: „Wenn du mit ,x!2‘ meinst x2 , so erhältst du diesen Wert für y, wenn du 2x damit meinst, jenen.“ – Frage dich nun: Wie macht man es, mit „x!2“ das eine, oder das andere meinen? (PU 190 b.) Es ist natürlich kurios, daß Wittgenstein „z. B.“ schreibt, obwohl der Fall, daß ein unbekanntes Zeichen irgendwie gemeint wird, allem Anschein nach kein Beispiel dafür ist, daß eine der üblichen Formeln aus dem ersten Absatz wie üblich gemeint wird. Deshalb ist die Aufforderung „Frage dich nun“ sehr ernst zu nehmen; die Antwort auf die Frage muß nicht nur Aufschluß darüber geben, wie man es macht, mit einem unüblichen Ausdruck etwas Übliches zu meinen, sondern sollte auch das folgende Ergebnis haben: Wenn man mit einem unüblichen Ausdruck einen gewissen üblichen Ausdruck meint, dann ist Kriterium dafür, wie der unübliche Ausdruck gemeint ist, der ständige Gebrauch eines Ausdrucks. Das ist nicht trivial; die Antwort auf die Frage, wie man es macht, mit einem unüblichen Netz ein übliches Netz zu fangen, muß nicht das Nebenergebnis haben, daß wenn man mit einem unüblichen Netz ein übliches fängt, dann Kriterium dafür, wie man mit dem unüblichen Netz etwas fängt, gerade die Handhabung eines üblichen Netzes ist. Dazu kommt es allerdings, wenn man das übliche Netz 7 Der Nebensatz „wie uns gelehrt wurde, sie zu gebrauchen“ bezieht sich nicht auf Lehrmethoden; denn die werden für verschiedene Leute verschieden sein, ohne daß ihr Gebrauch sich unterschiede. Zu lesen ist: „wie sie zu gebrauchen uns gelehrt wurde“ (recte: „wie sie zu gebrauchen wir gelehrt wurden“). Es geht ums Unterrichtsergebnis.

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mit dem unüblichen gerade auf die Weise „fängt“, daß man das unübliche Netz wie das übliche Netz gebraucht. Dann fängt man mit dem unüblichen Netz gerade so wie mit dem üblichen. Tatsächlich erhalten wir eine befriedigende Interpretation der beiden Absätze, wenn wir die Frage, wie man es mache, „mit ,x!2‘ das eine, oder das andere [zu] meinen“, so beantworten: Wenn man bereit ist, „x!2“ wie „x2 “ zu gebrauchen,8 meint man „x2 “ mit „x!2“, und wenn man bereit ist, „x!2“ wie „2x“ zu gebrauchen, meint man „2x“ mit „x!2“. Dann ist das Kriterium dafür, daß man das unbekannte Zeichen „x!2“ irgendwie meint, offenbar der ständige Gebrauch eines Zeichens, nämlich der von „x2 “ oder der von „2x“. Die Fälle, in denen man ein unbekanntes Zeichen irgendwie meint, sind also (wie das Meinen üblicher Zeichen mit üblicher Bedeutung) Beispiele für Fälle, in denen ein ständiger Gebrauch Kriterium fürs Meinen ist. Wir hatten die Interpretation von „Etwa“ in PU 190 a zurückgestellt. Da sich in den „Philosophischen Untersuchungen“ nirgendwo ein Hinweis auf ein anderes Kriterium findet, wäre die Deutung „Zum Beispiel“ nicht mit Inhalt zu füllen. Ich schlage vor, „Ungefähr“ zu lesen, eine Einschränkung, die Wittgenstein mit PU 190 b präzisiert: Im gewöhnlichen Fall handelt es sich um eine übliche Formel, die in ihrer üblichen Bedeutung gemeint ist; dann ist ihr ständiger Gebrauch Kriterium dafür, wie sie gemeint ist. Im seltenen Fall handelt es sich um eine unübliche Formel, die wie eine übliche gemeint ist; dann ist Kriterium dafür, wie sie gemeint ist, nicht ihr ständiger Gebrauch, sondern der ständige Gebrauch der einschlägigen üblichen Formel. Dafür, daß ein Sprecher das übliche A mit dem unbekannten B meint, ist also Kriterium, daß er B auf die übliche Weise von A zu gebrauchen bereit ist. Diese Interpretation stützt sich auf drei Umstände: Sie macht verständlich, warum PU 190 b für das Meinen unbekannter und bekannter Ausdrücke durch „z. B.“ die Gleichheit der Kriterien insinuiert; eine naheliegende Alternative, nämlich das Bild vom Meinen dank der präsenten Bedeutung, lehnt Wittgenstein für alle Ausdrücke ab (s. Abschn. 3); und andere Vorschläge macht er nicht. Indem man „x!2“ irgendwie meint, bestimmt man also den Wert der Formel für beliebiges x, weil man „x!2“ insofern irgendwie meinen kann, als man damit eine übliche Formel wie üblich meint. Und über übliche Formeln ist in PU 190 a gesagt, wie man sie meinen und dadurch ihre Anwendung bestimmen kann: Es ist die Anwendung nach der „Art und Weise, wie wir sie ständig gebrauchen“. Das ist allerdings irritierend. Davon, daß ein Ausdruck irgendwie gemeint ist, redet man gewöhnlich nur dann, wenn er anders als normal (oder in einer von mehreren üblichen Bedeutungen) verwendet wird. Das gilt für „x!2“, einen neuen Ausdruck, der deshalb vorläufig nur anders als „normal“ gemeint sein kann. Aber wozu soll bei „x2 “ und bei „2x“ eigens das Meinen bestimmen,

8 In diesem dispositionalen Sinn ist „gebrauchen“ hier offenbar zu verstehen.



E  S

daß die beiden Ausdrücke für x = 0 und x = 2 dieselben Werte 0 bzw. 4 haben, wenn das doch ihrer ganz normalen Verwendung entspricht? Hier ist die Einleitung „Man kann nun sagen“ zu beachten, die zwar keineswegs ironisch ist oder (wie das in den PU redensartlich feste „Man möchte nun sagen“) eine Gegneräußerung signalisiert, die aber an den Diskussionszusammenhang erinnert und zusammenfaßt, was der haltbare Kern einer vorher kritisch diskutierten Vorstellung ist. Seit PU 1 wird die Vorstellung kritisch diskutiert, ein vom Individuum allein geleistetes Meinen lege die Bedeutung fest; seit PU 134 geht es konkreter um die angebliche Leistung der vor Eingriffen anderer geschützten („vorschwebenden“) und in diesem Sinne „innerlich“ gemeinten Bedeutung; schließlich seit PU 185 darum, daß man die Bestimmungsleistung eines in diesem Sinne internen Meinens gegenüber einem anderen, der den fraglichen Ausdruck anders verwenden zu müssen glaubt, nicht mit Mitteln der Vernunft durchsetzen kann – also darum, daß aus dem „internen Meinen“ nichts folgt. In Frage steht in PU 189 mithin der haltbare Kern der Auffassung, ein Individuum bestimme dadurch, daß es mit einem Ausdruck etwas meine, dessen Anwendung. Natürlich kann das Individuum auch einen üblichen Ausdruck in seiner üblichen Bedeutung meinen; und in PU 190 führt Wittgenstein den üblichen Fall, daß man einen unüblichen Ausdruck irgendwie meint und dadurch eine Anwendung für konkrete Einzelfälle bestimmt, auf den unüblichen Fall, daß man einen üblichen Ausdruck eigens wie üblich meint und dadurch eine Anwendung für konkrete Einzelfälle bestimmt, offenbar deshalb zurück, um seinem Gegner zu sagen: Wer durchs Meinen die Verwendung des Ausdrucks bestimmen will, muß sich letzten Endes auf übliche Verwendungen von Ausdrücken stützen; ob er seinen Gebrauch dann noch mit dem Epitheton „meinen“ schmückt, ist seine Sache. Das zu verstehen verlangt vom Gegner ein genaueres Verständnis davon, was es mit dem „Bestimmen“ der Verwendung auf sich hat, und ihm dazu zu verhelfen ist das Ziel des langen, umwegigen Abschnitts 189.9 Absatz c sagt: Die Frage „Steht dort eine Formel, die y bestimmt?“ heißt dann dasselbe wie: „Steht dort eine Formel dieser Art, oder jener Art?“ – und dazu ist vorher gesagt: Wir können anderseits verschiedene Arten von Formeln, und zu ihnen gehörige verschiedene Arten der Verwendung (verschiedene Arten der Abrichtung) einander entgegensetzen. Wir nennen dann Formeln einer bestimmten Art (und der dazugehörigen Verwendungsweise) „Formeln, welche eine Zahl y für ein gegebenes x bestimmen“,10 und Formeln anderer Art solche, „die die Zahl 9 Die folgende Interpretation unterscheidet sich von der von Stewart Candlish (in diesem Bande, Abschn. 2). Seiner Meinung nach will Wittgenstein zwischen kausalem und logischem Bestimmen unterscheiden. 10 WA wiederholt an dieser Stelle eine gute Zeile.

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

y für ein gegebenes x nicht bestimmen“. (y = x2 wäre von der ersten Art, y ≠ x2 von der zweiten.) Das „anderseits“ stellt diese Unterscheidung einer vorher getroffenen, grundlegenderen Unterscheidung in Absatz b gegenüber: Oder wir können sagen: „Diese Menschen sind so abgerichtet, daß sie alle auf den Befehl ,+3‘ auf der gleichen Stufe den gleichen Übergang machen.“ Wir könnten dies so ausdrücken: Der Befehl „+3“ bestimmt für diese Menschen jeden Übergang von einer Zahl zur nächsten völlig.“ (Im Gegensatz zu andern Menschen, die auf diesen Befehl nicht wissen, was sie zu tun haben; oder die zwar mit völliger Sicherheit, aber ein jeder in anderer Weise, auf ihn reagieren.) „y = x2 “ ist im selben Absatz als Beispiel in derselben Rolle wie „+3“ gebraucht; aber dieses Hinweises bedürfte es gar nicht, um klarzumachen: dasjenige Bestimmen, um das es in Absatz b geht, muß bereits vorausgesetzt werden, damit der in Absatz c gemeinte Unterschied zwischen Bestimmen und Nichtbestimmen überhaupt sinnvoll ist. Für eine Formel wie „y ≠ x2 “ ist im Sinne von Absatz b bestimmt, daß sie im Sinne von Absatz c für gegebenes x kein y bestimmt. (Im Sinne unserer Art, Arithmetik zu treiben, liegt fest: „y ≠ x2 “ ist keine funktionale Relation.) Der Fehler in der in PU 189 a gestellten Frage „Aber sind die Übergänge also durch die algebraische Formel nicht bestimmt?“ – besteht also offenbar darin, daß der Gegner den Unterschied zwischen Formeln, die Übergänge bestimmen, und solchen, die sie nicht bestimmen, machen will, ohne den dafür notwendigen Hintergrund zu akzeptieren. Den dafür notwendigen Hintergrund bilden gemeinsam beherrschte Verwendungsweisen für Formeln, in deren Rahmen sich ergibt, daß die einen Formeln Übergänge bestimmen (weil, wer so wie üblich rechnet, wohlbestimmte Werte erhält), die anderen Formeln nicht (weil, wer so wie üblich rechnet, keine wohlbestimmten Werte erhält). Für den Gegner soll das Bestimmen ja eine von gemeinsamen Verwendungsweisen unabhängige Leistung des Meinens sein. Wittgenstein diagnostiziert den Fehler gegen Ende von PU 189 so: – was wir aber mit der Frage anfangen sollen „Ist y = x2 eine Formel, die y für ein gegebenes x bestimmt?“ ist nicht ohne Weiteres klar.

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E  S

Die Formel stammt nämlich aus der uns vertrauten Art, Arithmetik zu treiben, und „x2 “ ist ein Paradebeispiel für einen Funktor. Deshalb kann die Frage die Vertrautheit mit unserer Art von Arithmetik, unserem Begriff der Funktion, testen: Diese Frage könnte man etwa an einen Schüler richten, um zu prüfen, ob er die Verwendung des Wortes „bestimmen“ versteht; oder es kann darum gehen, Übersicht über die Folgen von axiomatisch festgelegten Regeln für unsere Art, Arithmetik zu treiben, zu gewinnen (vgl. PU 125 b): oder es könnte eine mathematische Aufgabe sein, in einem bestimmten System zu beweisen, daß x nur ein Quadrat besitzt. PU 189 und 190 sagen damit: Es gibt tatsächlich ein Bestimmen der Verwendung des Ausdrucks durchs Meinen – man kann durchaus einen Ausdruck in einer Bedeutung meinen, dergestalt, daß die gemeinte Bedeutung festlegt, wie in Zukunft mit ihm umzugehen ist. Dieses Meinen ist aber nichts anderes, als daß man bereit ist, den Ausdruck so wie einen Ausdruck zu gebrauchen, der seine die Verwendung festlegende Bedeutung dank seinem etablierten Gebrauch hat. Meinen ist eine Form des Trittbrettfahrens. Ein Festlegen der Verwendung von irgendwie gemeinten Ausdrücken gibt es ohne den Anschluß an einen etablierten Gebrauch nicht; der etablierte Gebrauch ist für eine die Verwendung bestimmende Bedeutung, sei sie gemeint oder nicht, notwendig und hinreichend. Mit dieser Überlegung expliziert Wittgenstein das Wort „meinen“ als „sagen wollen“. „Sie hat mit ,Er ist gerade weg‘ gemeint, der Bus sei gerade abgefahren“ heißt, so verstanden, sie habe das sagen wollen, was sie mit „Der Bus ist gerade abgefahren“ hätte sagen können (oder auch mit „The bus is just gone“). Die Tatsache, daß sie das hat sagen wollen, erschöpft sich darin, daß sie für die Mitteilung geradezustehen bereit ist, daß der Bus gerade abgefahren ist, daß sie also bereit ist, sich mit „Er ist gerade weg“ in die Gebrauchsregeln von „Der Bus ist gerade abgefahren“ einzufügen. Versteht man „meinen“ in dieser Weise als „sagen wollen“, dann wird, was man meint, durch eine Sprache festgelegt, nämlich durch diejenige Sprache, in der man, statt „Er ist gerade weg“ zu sagen, auch sagen könnte: „Der Bus ist gerade abgefahren“ oder „The bus is just gone“. Wenn es keine Sprache gibt, in der ein Ausdruck die Bedeutung hat, in der der angeblich irgendwie gemeinte Ausdruck angeblich gemeint wird, dann kann er nicht so gemeint werden. Deshalb sagt Wittgenstein: Nur in einer Sprache kann ich etwas mit etwas meinen. (Einschub BS (S. 36)/ KG (S. 767-768) zu PU 35/WA S. 260 (keine genaue Zuordnung))

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5.3 Kein Meinen dank der präsenten Bedeutung Diese Auffassung hat Wittgenstein offenbar deshalb entwickelt, weil er nur ein bestimmtes alternatives Bild vom Meinen kritisch diskutiert hat; man könnte es das Bild vom „Meinen dank der präsenten Bedeutung“ nennen. Daß es sich ganz unvermerkt einschleichen kann, macht ein kleines Stück Wortakrobatik verständlich: Ein Sprecher meint xyz, d. h. er tut eine Äußerung in der Absicht, damit etwas zu sagen, das xyz bedeutet, wenn xyz die Bedeutung ist, auf die er es abgesehen hat. Er meint die Bedeutung, weil sie ihm so unmißverständlich präsent ist wie etwas, das er sehen kann. Diese Motivation unterstellt Wittgenstein, wenn er seinem Gegner die Ausdrucksweise in den Mund legt, die Bedeutung schwebe dem Sprecher vor,11 und dazu sehr ausdrücklich feststellt, daß es keine Rolle spiele, ob sie ihm als Vorstellungsbild gegenwärtig sei oder als Zeichnung vor ihm auf dem Tisch liege (PU 141 b). Es gibt ein weiteres, sachliches Motiv: Der Sprecher „weiß selbst am besten“, was er meint; das möchte man sich so erklären, daß ihm die gemeinte Bedeutung direkt zugänglich ist. (Dazu mehr in 5.5) Wittgensteins Polemik beruht im Kern auf der folgenden Überlegung: Wenn ein Sprecher mit einem Wort oder Satz etwas meint, dann muß das Folgen für die Verwendung des Ausdrucks haben. Meint er z. B. mit dem Wort „Würfel“ Würfel, dann muß er auf Grund seines Meinens gehindert sein, dem Satz „Das ist ein Würfel“, wobei auf ein Prisma gezeigt wird, zuzustimmen. Und meint er mit dem Satz „Addiere 2!“, es solle nach jeder beliebig angegebenen Zahl die zweitnächste herauskommen, dann muß er auf Grund seines Meinens gehindert sein, nach der Vorgabe „1000“ das Ergebnis „1004“ durchgehen zu lassen. Aus der „präsenten Bedeutung“ muß also folgen, welche Anwendung im Einzelfall richtig ist. Nach dem Bild vom Meinen dank der präsenten Bedeutung ist, wenn man es genau nimmt, das, was da präsent ist, selbst ein Symbol – ein Vorstellungsbild, ein artikulierter Gedanke oder was immer; denn sonst könnte für die richtige Verwendung nichts daraus folgen. Für die Anwendung des Ausdrucks, zu dessen Bedeutung dieses Symbol durchs Meinen gemacht werden soll, folgt natürlich nur dann etwas, wenn das Symbol Inhalt hat. Nun ist nicht einzusehen, wieso es im Rahmen der kritisierten Konzeption aus anderen Gründen Inhalt haben könnte als der Ausdruck, dessen Bedeutung es selbst sein soll. Denn man kann das vorschwebende Bild eines Würfels durch das Meinen einer geeigneten Projektionsvorschrift als Bild eines Prismas meinen und würde nach dem Bild vom „Meinen dank der präsenten Bedeutung“ mit „Würfel“ dann Prismen meinen (PU 139 d). Und man kann den verbal artikulierten Gedanken „Gib zu jeder vorgegebenen Zahl die zweitnächste an“ durch das Meinen einer geeigneten Interpretationsvorschrift als Spezialfall des Gedankens „Gib im n-ten Tausender zu k k+2n 11 PU 51, Einschub BS (S. 60)/KG (S. 789) zu PU 70/WA (S. 280) zu PU 71, PU 139-141 mit Einschub a) BS (S. 92)/KG (S. 823) zu PU 139/WA (S. 309) zu PU 140, PU 210, 323 b, 329, 663.

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an“ meinen und würde für „1000“ mit „addiere 2!“ 1004 herausbekommen (PU 186). Also muß man die „präsente Bedeutung“ ihrerseits durch eine geeignet gemeinte Interpretation festlegen, um die normale Bedeutung zu bekommen. Für diese gemeinte Interpretation stellt sich dasselbe Festlegungsproblem, und man steht mit der kritisierten Konzeption vor einem fehlerhaften unendlichen Deutungsregreß: Damit das Meinen eine Bedeutung festlegen kann, muß zuvor eine unendliche Reihe von Bedeutungen festgelegt sein. Wittgenstein spricht davon, daß man dann „Deutung hinter Deutung setzen“ müßte (PU 201); aber: Die Deutungen allein bestimmen die Bedeutung nicht. (PU 198.) Das Gricesche Programm12 hat Wittgenstein nicht mehr als mögliche Alternative kennengelernt. In diesem Programm wird das Meinen auf komplexe Sprecherabsichten zurückgeführt. Eine in diesem Zusammenhang informative Explikation des Begriffs der Sprecherabsicht vorausgesetzt, wird es von Wittgensteins Kritik am Bild vom „Meinen dank der präsenten Bedeutung“ nicht getroffen. Man darf aber darüber spekulieren, ob diese Explikation des Meinens, wenn Wittgenstein sie akzeptiert hätte, seine Pointe berühren würde. Das wäre natürlich der Fall, wenn für die PU der Inhalt von Absichten anders als durch gemeinsame Gebräuche festgelegt wäre. Das ist unwahrscheinlich; denn man findet im Text gute Gründe für die Interpretation, daß jedenfalls die Frage, ob eine Handlung absichtlich ist, auf Grund von in der Gruppe herkömmlichen Standards dafür zu beantworten ist, ob ihre Ausführung als beherrscht gelten kann.13

5.4 Meinen als sozialer Sachverhalt PU 190 ist ein für die Erläuterung von Wittgensteins Vorstellung von der die Anwendung bestimmenden „Leistung“ des Meinens reizvoller Abschnitt deshalb, weil er dort im Schlußsatz ganz ausdrücklich – mit typographischer Hervorhebung – sagt, was er seinem Leser gerade erläutert hat: So kann also das Meinen die Übergänge zum Voraus bestimmen. (PU 190 c.) (Mit „kann […] bestimmen“ wird natürlich nicht gesagt, daß das vielleicht oder möglicherweise so ist – so die englische Fehlübersetzung „will be“, dieser Fehler ist in der neuen Übersetzung (Oxford 2009) behoben –, sondern auf die vermeintliche, besondere Leistungskraft des Meinens ironisch angespielt.) Sie findet sich aber inhaltsgleich auch an einer Reihe von weiteren Stellen der PU, wo sie jeweils ebenfalls eine wesentliche Rolle 12 Vgl. Anm. 4. 13 Vgl. v. Savigny, Der Mensch als Mitmensch, München 1996, Kap. 8.

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im engeren und weiteren Kontext des Argumentationsgangs spielt.14 Es handelt sich ohne jeden Zweifel um Wittgensteins Meinung, und sie ist auch so vernünftig, wie ein gegenüber dem Autor wohlwollender Interpret sich das nur wünschen kann. Man meint einen Ausdruck in einer Bedeutung, dergestalt, daß diese Bedeutung einen auf eine bestimmte Verwendung in Einzelfällen festlegt, dadurch, daß man ihn in einer Rolle zu gebrauchen bereit ist (dispositional „gebraucht“), die durch eine etablierte AusdrucksVerwendungsweise bereitgestellt wird. Daß die nötige Verwendungsweise etabliert ist, ist also Voraussetzung dafür, daß man einen Ausdruck in einer Bedeutung (also inhaltlich bestimmt) meinen kann. Diese Voraussetzung ist natürlich ein sozialer Sachverhalt. Läge er nicht vor, dann würde man den Ausdruck nicht in einer Bedeutung meinen. Liegt er aber vor, dann meint man tatsächlich etwas. Es ist dann eine Tatsache, den Verwender des Ausdrucks betreffend, daß er etwas meint. Diese Tatsache ist keine Tatsache, die nur den Verwender des Ausdrucks beträfe; vielmehr handelt es sich um eine der zahllosen sozialen Tatsachen, ihn betreffend, als da sind: Er ist verheiratet (oder nicht verheiratet, je nachdem); er ist beliebt (oder nicht, je nachdem); er ist f leißig (oder nicht, je nachdem). Und so weiter – unzählige Tatsachen, die ihn deshalb betreffen, weil die sozialen Verhältnisse um ihn herum ihn darauf festnageln. Wären sie anders, dann wären die ihn betreffenden sozialen Tatsachen anders. Wer nach deutschem Recht verheiratet ist, wäre es nicht, wenn er dieselbe Prozedur vor dem Standesamt durchlaufen hätte, diese aber eine andere Bedeutung hätte. Wer in einer mit Zuwendung geizenden Gruppe beliebt ist, ist es nicht in einer, in der jeder so viel Zuwendung bekommt wie er. Wer in einer nordrhein-westfälischen Gesamtschule f leißig ist, könnte in der Mittelstufe eines bayerischen Gymnasiums ein Faulpelz sein, und zwar mit genau derselben individuellen Arbeitsleistung. Das ändert nichts daran, daß das Tatsachen sind. Richtige Tatsachen mit Ecken und Kanten, an denen man sich objektive blaue Flecken holen kann.

5.5 Sprecher wissen, was sie meinen Nicht genug damit, daß nach den „Philosophischen Untersuchungen“ Sprecher ihre Ausdrücke in diesen oder jenen Bedeutungen meinen können (wenn sie es denn für nötig halten, statt sich auf das zu verlassen, was sie mit ihrer Verwendung ohnehin sagen): Sie können nach den PU sogar wissen, was sie meinen und was sie sagen, und das in vier Spielarten. Da dieses Wissen nicht nur von den PU behauptet wird, sondern jeder denkende Mensch (oder in der Gegenüberstellung von PU 66: jeder nicht denkende, sondern schauende Mensch) es auf Schritt und Tritt antrifft, könnte man auch einfach erinnerungsweise darauf hindeuten und es anschließend auf Grund der skizzierten Ana14 Vgl. Anm. 6.

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lyse davon, was es in den PU mit dem Meinen auf sich hat, verständlich machen, um die Skizze durch Bewährung an ihren Folgerungen inhaltlich zu bestätigen. Exegetisch ist man aber in der angenehmen Lage, diese so richtigen Folgerungen auch als Behauptungen im Text der PU wiederzufinden. Der Sprecher weiß erstens, wie er eine Verwendung seines Ausdrucks meint, in dem Sinne, daß er sich im Zusammenhang mit der Verwendung so verhält, wie sich einer zu verhalten hat, der die Verwendung so und nicht anders meint.15 Er weiß, daß er einen Kollegen auf einer Konferenz in G. mit „Guten Tag, Herr L.“ begrüßt hat; und zwar weiß er das in dem Sinne, daß er es für normal hält, wenn Professor L. zurückgrüßt, und für hochnäsig, wenn der es nicht tut; daß er ihn beim zweiten Kontakt nach drei Minuten nicht noch einmal grüßt; daß er bei diesem zweiten Kontakt nicht auf einen erneuten Gruß wartet; daß er nicht überrascht ist, wenn der Kollege beim dritten Kontakt den Versuch eines Dritten, sie miteinander bekanntzumachen, abblockt; daß er beim Begrüßen eines zweiten Kollegen P., der sich mit L. unterhält, P.s verwunderte Aufforderung: „Ja Herr v. S., wollen Sie denn nicht den Kollegen L. auch begrüßen?“ mit der Erläuterung beantwortet: „Ich hatte schon die Ehre, Herrn L. guten Tag zu sagen.“ Kurz, der Sprecher kann mit seiner Äußerung „Guten Tag, Herr L.“ in der einem Gruß entsprechenden Weise umgehen – er hat ausdrücklich anerkannt, daß Professor L. als jemand zu behandeln ist, der in die allfälligen sozialen Transaktionen einzubeziehen ist, statt als Fremder und Außenstehender ignoriert zu werden, und hat damit für alle sichtbar die Verpf lichtung zu entsprechendem Verhalten übernommen. Solches Wissen ist Können – „knowing how“ im Sinne von Gilbert Ryles klassischer und weiterhin unverzichtbarer Kennzeichnung.16 Für die PU folgt, daß der Sprecher es hat, daraus, daß er seine Äußerung in einer bestimmten Bedeutung meint, deshalb, weil sein Meinen darin besteht, daß er zu der dieser Bedeutung entsprechenden, etablierten Verwendung des Ausdrucks bereit ist. Etablierte Verwendungsweisen haben es an sich, aus der Bereitschaft vieler einzelner zu Verhaltensweisen zu bestehen, die jeweils fast vollständig der etablierten Verhaltensweise entsprechen. Jeder einzelne ist im allgemeinen bereit, das Übliche zu tun, erwartet es von den anderen und erwartet, daß die anderen es von ihm erwarten. In diesem Sinne wissen, was man meint, unterscheidet sich also kaum vom Wissen, wie man sich als Angehöriger einer sozialen Schicht bei einem Treffen von Angehörigen dieser Schicht zu verhalten hat. Hier ist ein schlagendes Beispiel dafür, daß man nach den PU in diesem Sinne weiß, was man meint:

15 Das Beispiel folgt einer Aufforderung aus PU 489. 16 Vgl. Anm. 1.

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Wenn ich die Beschreibung gebe: „Der Boden war ganz mit Pf lanzen bedeckt“, – willst du sagen, ich weiß nicht, wovon ich rede, ehe ich nicht eine Definition der Pf lanze geben kann? (PU 70.) Im Kontext geht es um die Frage, ob nur der weiß, was er meint, der für die verwendeten Begriffe alle Regeln für alle Anwendungsfälle im voraus angeben kann – also um jemanden, der „knowing that“ im exemplarischen Sinne hat. Mit „willst du sagen, ich weiß nicht, wovon ich rede“ wendet sich Wittgenstein ungewöhnlich polemisch gegen diese überspitzte Forderung; und da die Frage rhetorisch ist, sagt er, daß er auch ohne „knowing that“ weiß, wovon er redet. Möglicherweise ist „willst du sagen, ich weiß nicht, wovon ich rede“ in PU 70 allerdings stärker zu interpretieren; dann würde diese Stelle nicht belegen, daß es für Wittgenstein ein Wissen, wovon man redet, im Sinne von „knowing how“ gibt, also ohne daß „knowing that“ nötig wäre, und von den Belegstellen wären andere anzuführen. Die Redeweise „Willst du sagen, ich weiß nicht, wovon ich rede“ hat nämlich viel von „Was fällt dir eigentlich ein, meine Ausdrucksweise zu kritisieren“. Dabei geht es nicht darum, ob man (im hier diskutierten epistemischen Sinn) weiß, was man meint, sondern darum, mit „Ich weiß selbst am besten“ oder ähnlichen „Ich weiß“ benutzenden Redewendungen, auch solchen in der Form rhetorischer Fragen, sozial definierte Standpunkte gegen mögliche Angriffe zu behaupten. Daß die individuelle Verwendungsfähigkeit dazu gehört, daß man sich dem sozial etablierten Gebrauch anschließt, ergibt sich aus zahlreichen Überlegungen in PU 198 – PU 242, wo Wittgenstein die Kennzeichen eines sozial etablierten Regelfolgens weitgehend daran erläutert, wie jeder einzelne sich verhalten muß, damit sie sich insgesamt, und daher wieder jeder einzelne für sich, regelfolgend verhalten. Wissen, was man meint, heißt zweitens, daß man in aller Regel den Inhalt eigener Äußerungen korrekt wiedergeben kann, sei es in indirekter Rede oder mit anderen Worten. Diese Fähigkeit haben Sprecher „in aller Regel“, nicht schon kraft ihrer Beherrschung der Sprache, in der sie ihre Äußerungen tun, weil es sich um eine metasprachliche Fähigkeit handelt; aber noch eher, als wir von einem guten Walzertänzer erwarten, daß er uns die Schrittfolge beschreiben kann, statt sie nur zu wiederholen, halten wir einen Sprecher des Deutschen für einigermaßen beschränkt, der die Frage „Was hast du ihm denn von der Angelegenheit erzählt?“ nicht beantworten kann, oder allenfalls durch eine wörtliche Wiederholung aus dem Gedächtnis. PU 501 appelliert ironisch an diese beim Gegner selbstverständlich vorauszusetzende Fähigkeit, und zwar in einem Zusammenhang, wo es um die Sprachabhängigkeit des Begriffs des Satzsinnes geht: „Der Zweck der Sprache ist, Gedanken auszudrücken.“ – So ist es wohl der Zweck jedes Satzes, einen Gedanken auszudrücken. Welchen Gedanken drückt also z. B. der Satz „Es regnet“ aus? –

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Eben den Gedanken, daß es regnet. – Man darf die in aller Regel bei kompetenten Sprechern ausgeprägte Fähigkeit, den Inhalt eigener Äußerungen wiederzugeben, freilich nicht mit der viel weitergehenden Forderung verwechseln, Sprecher müßten das können, damit ihre Äußerungen bedeutungsvoll seien. Drittens könnte Wissen, was man mit einem Ausdruck meint, darin bestehen, daß man eine vollständige Definition dieses Ausdrucks geben könnte. Das ist im allgemeinen eine theoretische Aufgabe für begnadete Linguisten mit viel theoretischem Verstand und mit viel Geld für Mitarbeiter; aber in besonders einfachen Fällen kann man die Forderung, ein einzelnes Wort aus einer Äußerung zu erläutern, vielleicht durch eine Definition befriedigen, die den eigenen Wortgebrauch genau trifft. Freilich ist man darauf angewiesen, daß niemand sich nach der Bedeutung der im Definiens verwendeten Ausdrücke erkundigt. Dann kann man z. B. auf die Frage „Was hast du jetzt mit ,Onkel‘ gemeint?“ antworten: „Einen Bruder des Vaters oder der Mutter.“ Zweifel an dieser Möglichkeit äußern die PU nicht; wo sie sich gegen die Definierbarkeit von Wörtern zu wenden scheinen, geht es durchweg ausschließlich darum, daß es nicht das Verfügen über solches definitorische Wissen ist, das den Wortgebrauch festlegt (vgl. insbesondere PU 66–80). Viertens heißt wissen, was man meint: Der Sprecher kann erklären, was er mit einer Äußerung meint, und was er da erklärt, ist verbindlich. Wenn er sagt: „Mit ,abrakadabra‘ meine ich ,Heute ist schönes Wetter‘“, dann ist sein „abrakadabra“ zu verstehen als „Heute ist schönes Wetter“ (warum, werden wir gleich sehen); damit, daß er das meint, hat er also recht, wenn er es nur sagt. Allerdings ist bekannt, daß eine Garantie dafür, mit einem Indikativsatz gewisser Art nicht Unrecht behalten zu können, kein Indiz für irrtumsgefeites Wissen ist. Austins explizit performative Äußerungen17 wie „Ich verspreche, morgen zu kommen“ bilden eine ganze Klasse von Gegenbeispielen, und der beim Pilzesuchen im Wald auf die Frage „Wo bist du?“ geantwortete Ruf „Ich bin hier“ kann zwar nicht falsch sein, drückt aber nichts aus, was man gemeinhin unter Wissen versteht – Bescheidwissen. Um was es anstelle von Bescheidwissen geht, wenn einer sagt: „Mit dem fetten alten Kerl habe ich Marcus Licinius Crassus gemeint“, wird deutlich, wenn man sich eine von vielen möglichen Reaktionen auf solch eine Äußerung ansieht: „Er muß schon am besten wissen, wen er gemeint hat“, und das noch einmal umformuliert: „Man muß es schon ihm selbst überlassen, über wen er hat reden wollen.“ Das scheint ein Spezialfall davon zu sein, daß wir Leute reden lassen und dann auf ihre Äußerungen reagieren, statt ihnen Äußerungen in den Mund zu legen. Deshalb ist es eine – sozial wahrscheinlich vorteilhafte – Konvention, Sprechern das Recht vorzubehalten, unklare Äußerungen selbst nachträglich zu interpretieren, ja sogar klare Äußerungen im Wege der nachträglichen Uminterpretation durch Äußerungen mit anderer Bedeutung zu ersetzen. (Das Recht hat Grenzen. Vor allem in sehr formellen 17 John L. Austin, How to Do Things with Words, Cambridge, Mass., 1962.

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Zusammenhängen muß es nicht gelten – wer bei einer Versteigerung den Arm hebt, hat das letzte Gebot erhöht, und es hilft ihm nichts zu sagen: „Ich wollte nur meiner Freundin zuwinken.“) Die PU anerkennen diese Unangreifbarkeit von „Ich meine“Äußerungen mehrfach, insbesondere innerhalb der Folge PU 661–693, die der Rolle von „Ich meine“-Äußerungen im Verhaltensmuster des etwas-mit-etwas-Meinens gewidmet ist; Ziel der Kritik ist die Vorstellung, die Sicherheit der Äußerungen beruhe darauf, daß sie über innerlich zugängliche seelische Vorgänge des Meinens berichteten: Aber wie, – kann ich denn nicht sagen „Mit ,abrakadabra‘ meine ich Zahnschmerzen“? Freilich; aber das ist eine Definition; nicht eine Beschreibung dessen, was in mir beim Aussprechen des Wortes vorgeht. (PU 665.) Mit „das ist eine Definition“ wird an das Recht des Sprechers, seine Äußerung zu interpretieren, erinnert. Das kann die Sicherheit verstehen helfen, mit der er das sagen kann. Das Recht, eine Äußerung zurückzuziehen, spielt in PU 668 eine Rolle: Aber kann man nicht auch so lügen, indem man sagt „Es wird bald aufhören“ und den Schmerz meint, – aber auf die Frage „Was hast du gemeint?“ zur Antwort gibt: „Den Lärm im Nebenzimmer“? In Fällen dieser Art sagt man etwa: „Ich wollte antworten …, habe mir’s aber überlegt und geantwortet …“ Unter einer Lüge stellt man sich zunächst einen falschen Bericht vor; es ist deshalb für Wittgenstein hier wichtig, daran zu erinnern, daß eine ganz ähnliche Form der Unzuverlässigkeit darin besteht, zu einer Äußerung nicht zu stehen. PU 682 nennt den Fall, daß der Inhalt einer Äußerung durch „Ich meine“ bekräftigt wird: „Du sagtest ,Es wird bald aufhören‘. – Hast du an den Lärm gedacht, oder an deine Schmerzen?“ Wenn er nun antwortet „Ich habe ans Klavierstimmen gedacht“ – konstatiert er, es habe diese Verbindung bestanden, oder schlägt er sie mit diesen Worten? – Kann ich nicht beides sagen? Wenn, was er sagte, wahr war, bestand da nicht jene Verbindung – und schlägt er nicht dennoch eine, die nicht bestand? Eine für den Stil der PU typische Formulierung dafür, daß das Sprechervorrecht besteht, findet sich im Rahmen einer therapeutischen Äußerung in PU 678 – „dem ja niemand widersprochen hat“: „Und doch meinte ich damals das eine und nicht das andre.“ Ja, – nun hast du nur einen Satz mit Emphase wiederholt, dem ja niemand widersprochen hat. Auf Grund des Sprechervorrechts kann man mit einer „Ich meine …“ – oder „Ich habe … gemeint“-Äußerung kaum je unrecht haben; die Äußerung ist aber darum nicht etwa

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ein Bericht, mit dem der Sprecher recht hätte. (Sie ist gar kein Bericht.) Mißversteht man sie als dem Irrtum nicht ausgesetzten Bericht, dann ist man rasch beim Bild von der „präsenten Bedeutung“; das Sprechervorrecht dürfte eine Quelle dieses Bildes darstellen. In dreierlei Hinsicht gibt es ein Wissen darum, was man meint, in den PU nicht. Man kann nicht allgemein den Gebrauch von Ausdrücken in einer vor allen anderen Beschreibungen ausgezeichneten Weise beschreiben, weil die Beschreibung der Rolle eines Ausdrucks von der Gewichtung mehr oder weniger nebensächlicher Einzelheiten der Verwendung abhängt. Wittgenstein macht das in PU 551–568 an Zahlwörtern, Verneinungspartikeln und dem Verb „sein“ vor und kommt nahe an das Ergebnis heran, daß Rollenbeschreibungen nur im Rahmen einer von mehreren gleich gut möglichen Gesamtbeschreibungen einer Sprache sinnvoll seien. Zweitens kann man nicht wissen, ob man einen Ausdruck so gebraucht, daß auch für die unvorstellbarsten Fälle klar wäre, ob er darauf passen würde (PU 80). Und schließlich gibt es kein Wissen darum, was man mit einem Ausdruck meint, das sich auf vergangene konkrete Anwendungen des Ausdrucks in Einzelfällen stützte und das kraft dieser Grundlage erlaubte, für die Zukunft zu deduzieren, welche Verwendung die korrekte wäre (PU 147).

Literatur J. V. Canfield 1975, Anthropological Science Fiction and Logical Necessity, Can. Journ. Phil. 4, 467–479. R. J. Fogelin 1976, Wittgenstein, London, 142 f. R. L. Arrington 1979, „Mechanism and Calculus“: Wittgenstein on Augustine’s Theory of Ostension, in: C. G. Luckhardt (Hg.), Wittgenstein: Sources and Perspectives, Hassocks, 303–338. G. P. Baker, P. M. S. Hacker 1980, An Analytical Commentary on the Philosophical Investigations, Vol. I: Wittgenstein, Understanding and Meaning, Oxford, ad PU 141. J. McDowell 1984, Wittgenstein on Following a Rule, Synthese 58, 325–363. C. McGinn 1984, Wittgenstein on Meaning, Oxford, 23, 42 f. G. P. Baker, P. M. S. Hacker 1985, An Analytical Commentary on the Philosophical Investigations, Vol. II: Wittgenstein, Rules, Grammar and Necessity, Oxford, ad PU 198, 201. J. F. M. Hunter 1985, Understanding Wittgenstein, Edinburgh, 34 f., 77 ff., 239. W. W. Tait 1986, Wittgenstein and the „Skeptical Paradoxes“, Journ. Phil. 83, 475–488. E. v. Savigny (1988) 1994, Wittgensteins „Philosophische Untersuchungen“: Ein Kommentar für Leser, Bd. I, Abschnitte 1 bis 315, Frankfurt a. M. E. v. Savigny (1989) 1996, Wittgensteins „Philosophische Untersuchungen“: Ein Kommentar für Leser, Bd. II, Abschnitte 316 bis 693, Frankfurt a. M. R. L. Arrington 1991, Sign-Post Scepticism, in: K. Puhl (Hg.), Meaning Scepticism, Berlin/New York, 13–33. J. F. M. Hunter 1993, Knowing What one Was Intending to Say, in: J. V. Canfield, St. G. Shanker (Hgg.), Wittgenstein’s Intentions, New York/London, 162–172.

6 Klaus Puhl

Regelfolgen

6.1 Vorbemerkung Eine Sprache sprechen, Schach oder Tennis spielen, Addieren und Wurzel ziehen, im Restaurant essen, einen Stadtplan lesen sind nur einige Beispiele für regelfolgende Aktivitäten. Zum Regelfolgen gehört offensichtlich die Ausrichtung des eigenen Tuns nach jenen Vorschriften, die die betreffenden Regeln ausmachen und die für eine, oft sogar unendliche Anzahl von Situationen bestimmen, was man tun muß, will man korrekt, d. h. der Regel entsprechend, handeln. Das Problem des Regelfolgens besteht darin, zu erklären, worin die Korrektheit solcher Tätigkeiten besteht und wie sie sich von sonstigen Vorgängen, insbesondere von bloß regelmäßigen Verhaltensweisen und Reaktionen unterscheiden. Was sind Regeln? Wie müssen sie beschaffen sein, um Handlungen leiten und rechtfertigen und vom Subjekt entsprechend gelernt und verstanden werden zu können? Worin besteht die Kenntnis einer Regel? Wie kann mich eine Regel lehren, was ich in einer neuen Situation zu tun habe? Läßt sich der Regelbegriff unabhängig von dem des Regelfolgens erklären, d. h. existieren die Regeln vor ihrer Anwendung und regeln sie diese unabhängig? Muß ich, um einer Regel zu folgen, immer angeben können, welcher Regel ich folge, also über einen Ausdruck der Regel verfügen? Inwieweit ist Regelfolgen ein soziales Phänomen? Diese Fragen gehören zu jenen, die Wittgenstein in den „Philosophischen Untersuchungen“ ausführlich erörtert.1 Da der Regelbegriff von sprachlicher Bedeutung, vom Meinen und Verstehen sprachlicher Ausdrücke und 1 Seit den späten siebziger Jahren ist das Problem des Regelfolgens auch ins Zentrum des interpretatorischen Interesses an den „Philosophischen Untersuchungen“ gerückt und hat die Frage, weshalb nach Wittgenstein eine Privatsprache unmöglich sei, zumindest insofern abgelöst, als das Hauptinteresse nun der Frage galt, ob die Privatsprachenargumentation (PU 243–315) eine Konsequenz der Überlegungen zum Regelfolgen ist oder unabhängig von ihnen gilt. Eine damit zusammenhängende weitere Streitfront eröffnete Saul Kripke mit seiner These, Wittgenstein vertrete einen Regel- und Bedeutungsskeptizismus, eine Behauptung, deren Begründung

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von arithmetischen Regeln nicht zu trennen ist, sind Wittgensteins Überlegungen für mindestens drei Gebiete der Philosophie von zentraler Bedeutung: für die Philosophie der Sprache, die Philosophie der Mathematik und die Philosophie der Psychologie.2 Wittgenstein erarbeitete sich seinen Regelfolgebegriff in kritischer Auseinandersetzung mit einer Auffassung von der Geltung oder Normativität von Regeln und von ihrem Zusammenhang mit regelfolgendem Verhalten, die sich wie folgt zusammenfassen läßt. Regeln sind (abstrakte oder mentale) Entitäten, die unabhängig, „auf eigene Faust“ (wie Wittgenstein sich in einem verwandten Zusammenhang (TB 5.11.1914) ausdrückt) und bevor sie angewendet werden, bestimmen, was als ihre korrekte und inkorrekte Befolgung gilt. Aus der Autonomisierung von Regeln ergibt sich dieser Auffassung zufolge die fundamentale Bedeutung, die ihren expliziten Formulierungen, dem Regelausdruck also, zukommt. Da Regeln autonom existieren, sind sie nur mit Hilfe ihres Ausdrucks oder ihrer Repräsentation für uns zugänglich, weil Regeln als solche kaum „ins Bewußtsein kommen“ können, sondern eben nur durch Vermittlung ihrer Repräsentationen, d. h. ihrer Formulierungen. Es kann sich also bei Regeln nur um ausdrücklich formulierte handeln. Wenn Regeln autonom über Korrektheit und Inkorrektheit entscheiden, müssen sie, so die kritisierte Regelkonzeption weiter, für jede Anwendungssituation im voraus festlegen, was zu tun ist, soll der Regel gefolgt werden. So würde die Regel für den Gebrauch eines Wortes für alle zukünftigen Weisen seiner Verwendung im voraus bestimmen, ob sie korrekt oder inkorrekt sind, gleichgültig wie wir in Zukunft geneigt sein werden, das Wort zu gebrauchen. Dieser Autonomisierung von Regeln entspricht außerdem eine bestimmte Konzeption ihres Meinens und Verstehens. Es muß sich dabei jeweils um einen geistigen Zustand handeln, der „auf seine Weise alle jene Übergänge doch schon gemacht“ (PU 188) hat, bevor wir, die Regelverwender, sie machen, keine einfache Vorstellung, da die Anzahl der Fälle, für die die Regel gilt, zumeist unüberschaubar groß, im arithmetischen Fall sogar unendlich ist. Die gegnerische Position behauptet also: Regeln bestimmen anwendungsunabhängig, erschöpfend und eindeutig, welches Verhalten mit ihnen übereinstimmt oder nicht. Das Verstehen und Meinen von Regeln sind geistige Zustände, aus denen ihre „richtige Verwendung entspringt“ (PU 146). Dieser intellektuell-theoretischen Konzeption zufolge spielt das praktische Tun, das „Folgen“ am Regelfolgen, eine untergeordnete Rolle. Wir befolgen vielmehr Regeln, weil wir ihre Repräsentationen und Formulierungen benutzen, und könnten dabei „Hirne im Topf“ sein. Wittgenstein vertritt dagegen eine Konzeption, wonach expliziten Repräsentationen und Formulierungen von Regeln eine untergeordnete Rolle zukommt, die zudem von der letztlich nicht-artikulierbaren, sich allerdings vom Text der „Philosophischen Untersuchungen“ weitgehend frei macht, weshalb sie hier nicht weiter verfolgt werden soll. (Siehe die Beiträge in Puhl 1991a.) 2 Regelfolgen ist ein wichtiges Thema der aus dem Wittgenstein-Nachlaß herausgegebenen „Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik“.

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quasi-natürlichen Art und Weise abhängt, wie wir nicht ausdrücklich festgesetzte Regeln befolgen. Wer hat die gegnerische Regelauffassung vertreten oder vertritt sie noch? Zunächst einmal der frühe Wittgenstein selber. In der 1921 veröffentlichten „Logisch-Philosophischen Abhandlung“ (dem „Tractatus Logico-Philosophicus“) entwickelt Wittgenstein eine Bildtheorie des sprachlichen Sinns. Dieser Theorie zufolge werden mit der Festlegung der Bedeutung eines (einfachen) Namens (der einen einfachen Gegenstand bezeichnet) notwendigerweise und unabhängig von seinem späteren Gebrauch die Korrektheitsbedingungen eben dieses Gebrauchs festgelegt: An unseren Notationen ist zwar etwas willkürlich, aber das ist nicht willkürlich: Daß, wenn wir etwas willkürlich bestimmt haben, dann etwas anderes der Fall sein muß. (Dies hängt vom Wesen der Notation ab.) (TLP 3.342) Damit ist auch die Frage, welche Sätze aus einem Satz folgen können, schon beantwortet, wenn der Sinn dieses Satzes bestimmt ist. Meinen und Verstehen repräsentieren in ihrem Inhalt das, „was der Fall sein muß“. Weder die eigenen noch die fremden sprachlichen Reaktionen spielen deshalb im „Tractatus“ für die Frage, was es heißt, mit sprachlichen Äußerungen etwas zu meinen oder sie zu verstehen, eine Rolle. Obwohl sich Wittgensteins späterer Regelbegriff besonders gegen die Bindung von Regeln an ihre expliziten Formulierungen und Repräsentationen wendet, richtet er sich auch gegen jene zeitgenössischen Linguisten und Sprachphilosophen, die die These vertreten, unser Sprachgebrauch verdanke sich einem angeborenen, jedenfalls aber impliziten, dem Bewußtsein unzugänglichen Regelsystem, einer „language of thought“ (Fodor) oder Chomskys genetisch determinierter „Universalgrammatik“. Auch diese Theorien behandeln die normative und handlungsleitende Funktion sprachlicher Regeln als das Resultat ihrer anwendungsunabhängigen Existenz und sehen im Sprachgebrauch nur den Vollzug, nicht aber die Konstituierung der Regelforderung.

6.2 Zur Textlage Das für das Regelfolgen zentrale Stück der „Philosophischen Untersuchungen“ wird zumeist mit den Abschnitten PU 139–242 identifiziert. PU 243–315 sind dem Problem der Privatsprache gewidmet. Diese Einteilung vermittelt allerdings den irreführenden Eindruck, in den vorhergehenden Abschnitten der „Philosophischen Untersuchungen“ spiele die Regelproblematik noch keine Rolle. PU 139–242 sind für Wittgensteins Anliegen sicherlich zentral und stehen auch im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit. Sie beschäftigen sich mit der entscheidenden Frage, wie eine Regel ihre korrekte und inkorrekte Anwendung bestimmt (PU 185–242), nachdem in PU 143–184 die Vorstellung

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bekämpft wurde, das Regelverstehen sei ein mentaler oder kausaler Zustand oder Prozeß, der für das Regelfolgen und den Sprachgebrauch in einem kausalen oder normativen Sinne verantwortlich wäre. Diese Argumentationslinie erreicht in PU 202 mit der zusammenfassenden Betonung des Praxischarakters des Regelfolgens einen vorläufigen Höhepunkt. Sie wird jedoch schon in den vorhergehenden Abschnitten vorbereitet. So begründen beispielsweise PU 53, 54, besonders aber 82, daß einer Regel zu folgen nicht zu heißen braucht, daß man sie ausdrücken kann. PU 26–37 argumentieren umgekehrt, daß weder die Verwendung eines Regelausdrucks für die Befolgung einer Regel hinreichend ist noch daß eine Festsetzung, etwa durch das Meinen eines Wortes oder einer Zeigehandlung, eine Gebrauchsregel für dieses Wort festlegen oder bestimmen kann, worauf gezeigt wird. PU 84–87 wollen mit der Vorstellung aufräumen, explizite Regeln könnten ein korrektes Anwendungsverhalten in allen Situationen garantieren.

6.3 „Was nenne ich ,die Regel, nach der er vorgeht‘?“ Die „Philosophischen Untersuchungen“ geben keine Definition des Regelbegriffs. Wittgenstein lehnt Wesensbestimmungen ab und behandelt die unterschiedlichen Regeln als lose durch Familienähnlichkeiten und nicht durch gemeinsame Merkmale miteinander verbundene Dinge, eine Strategie, die auch die vielen Beispiele von Regeln in den „Philosophischen Untersuchungen“ erklärt.3 Wittgenstein fragt also nicht „was ist eine Regel?“, sondern „wann sprechen wir von einem Befolgen einer Regel?“ Es darf deshalb nicht verwundern, daß PU 82 gleich drei Antworten auf die Frage: „Was nenne ich ‚die Regel, nach der er vorgeht‘?“ in Betracht zieht: Die Hypothese, die seinen Gebrauch der Worte, den wir beobachten, zufriedenstellend beschreibt; oder die Regel, die er beim Gebrauch der Zeichen nachschlägt; oder, die er uns zur Antwort gibt, wenn wir ihn nach seiner Regel fragen? PU 54 forderte den Leser schon bezüglich des Spielens auf: „Denken wir doch daran, in was für Fällen wir sagen, ein Spiel werde nach einer bestimmten Regel gespielt!“, und führt noch als weitere Fälle an: die Mitteilung der Regel als Unterrichtshilfe im Spiel und die Einbeziehung der Regel in die Spielhandlung, und betont weiter, daß man Spiele durch Zusehen lernen kann, ohne daß einem also die Spielregeln explizit mitgeteilt werden müssen. 3 Zur Familienähnlichkeit siehe PU 66 ff. Eine Aktivität gehört z. B. nicht deshalb zu den Spielen, weil sie ein bestimmtes Merkmal mit allen anderen Spielen gemeinsam hat. „Wir sehen [stattdessen] ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen. Ähnlichkeiten im Großen und Kleinen.“ (PU 66)

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Die in PU 54 und 82 genannten Möglichkeiten richten sich gegen die z. B. in PU 81 identifizierte und nach eigenem Bekunden von Wittgenstein selbst einmal vertretene Auffassung, daß jemand, der „einen Satz ausspricht und ihn meint, oder versteht, damit einen Kalkül betreibt nach bestimmten Regeln“. Dabei handelt es sich eigentlich um mehrere miteinander zusammenhängende Mißverständnisse bezüglich des Regelfolgens bzw. des Regelbegriffs, die sich aus der Gleichsetzung der Regel mit einer autonomen Entität, deren normative Geltung also unabhängig von ihrer Anwendung ist, ergeben. Die Mißverständnisse lauten: 1. Für das Lernen, Verstehen, Meinen und Befolgen einer Regel ist die Benutzung eines Ausdrucks oder einer mentalen Repräsentation der Regel notwendig und hinreichend. 2. Die Regel, nach der jemand handelt, muß von vorneherein feststehen. 3. Alle Aspekte eines regelfolgenden Verhaltens müssen durch die Regel (d. h. nach 1. durch ihren Ausdruck) bestimmt sein. Die verschiedenen, in PU 82 und 54 von Wittgenstein angeführten Antworten richten sich gegen diese Mißverständnisse. So führt „die Hypothese, die seinen Gebrauch der Worte, den wir beobachten, zufriedenstellend beschreibt“ eine Regel an, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, ob der Betreffende dabei etwas Bestimmtes, etwa eine Formulierung der Regel, denkt, oder ob er sich ausdrücklich vorgenommen hat, einer Regel zu folgen. Wir beschreiben sein Verhalten als ein regelgeleitetes, ohne uns um seine Motive oder darum, was sonst in ihm vorgeht, zu kümmern. Im zweiten und dritten der in PU 82 erwähnten Fälle handelt es sich zwar um explizite Regeln, die entweder schriftlich fixiert sind oder auf Anfrage vom Regelfolger genannt werden. Aber auch wenn uns jemand die Regel, der er folgt, expliziert, braucht das nicht zu heißen, daß er sich ihren Ausdruck vorgesagt hat, als er ihr folgte. Wittgenstein erwägt in PU 82 eine weitere Möglichkeit, die sich von den zuvor angeführten wesentlich zu unterscheiden scheint: Wie aber, wenn die Beobachtung keine Regel klar erkennen läßt, und die Frage keine zu Tage fördert? – Denn er gab mir zwar auf meine Frage, was er unter „N“ verstehe, eine Erklärung, war aber bereit, diese Erklärung zu widerrufen und abzuändern. – Wie soll ich also die Regel bestimmen, nach der er spielt? Er weiß sie selbst nicht. – Oder richtiger: Was soll der Ausdruck „Regel, nach welcher er vorgeht“ hier noch besagen? Auch wenn der Betreffende nicht weiß, welcher Regel er folgt, sich also auch auf keine explizite Regelformulierung festlegen kann, leugnet Wittgenstein nicht, daß er Regeln folgt, solange sein Verhalten als ein regelfolgendes erkennbar ist. Allerdings hat es dann kaum noch Sinn, von einer „Regel, nach der er vorgeht“ zu sprechen, wenn damit im Sinne der gegnerischen Position die Bindung des Regelfolgens an die Benutzung einer

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ausdrücklichen Regelformulierung oder Repräsentation gemeint ist. PU 83 verdeutlicht diesen Gedanken und nimmt zugleich das zweite der oben erwähnten Mißverständnisse aufs Korn. Wittgenstein weist hier am Beispiel des Ballspielens auf die Möglichkeit hin, von einem Spiel zu einem anderen zu wechseln, d. h. Regeln zu folgen, ohne immer einer ganz bestimmten zu folgen, oder die Regeln während des Spielens erst zu erfinden: „wir spielen und – ,make up the rules as we go along‘“. Dies macht es unter Umständen selbst für die Beteiligten unmöglich, die Frage nach den befolgten Regeln im voraus zu beantworten. Da aber eindeutig ein Ballspiel – ein regelfolgendes Verhalten – im Gange ist, folgen die Spieler irgendwelchen Regeln, auch wenn sie sie dauernd neu erfinden und vorher nicht wissen, wie die neuen Regeln aussehen werden: Und nun sagt einer: Die ganze Zeit hindurch spielen die Leute ein Ballspiel, und richten sich daher bei jedem Wurf nach bestimmten Regeln. (PU 83) „Bestimmte Regeln“ kann hier nur „irgendwelche Regeln“, nicht aber, wie der Gegner meint, „im voraus festgelegte Regeln“ heißen. Für den Vertreter autonomer Regeln heißt sich nach bestimmten Regeln zu richten, daß diese schon feststehen, bevor man ihnen folgt. In diesem Sinne würden sich die Leute in PU 83 nach keiner Regel richten, da sie diese erst erfinden bzw. dauernd wechseln. Im zweiten Sinn von „bestimmt“ folgen die Leute irgendwelchen Regeln, weil sie Ball spielen und wir ein Verhalten nur Ballspielen nennen, wenn es sich nach diesen oder jenen Regeln richtet, auch wenn sie während des Spielens geändert oder erst erfunden werden.4 Würden wir dies in Abrede stellen, könnten wir ihr Verhalten nicht als Ballspielen identifizieren. Gegen das dritte Mißverständnis des Regelfolgens polemisiert neben PU 84 z. B. auch PU 68 am Beispiel des Gebrauchs des Wortes „Spiel“. Seine Anwendung ist nicht „überall von Regeln begrenzt“, ebensowenig wie im Tennis geregelt ist, wie hoch der Ball beim Aufschlag zu werfen ist. (PU 68; der Spieler folgt hier zudem einer Regel: „wirf den Ball so hoch wie du willst!“, ohne daß sie im Regelverzeichnis des Tennis ausdrücklich formuliert wäre.) Der Gebrauch des Ausdrucks „Spiel“ kann eben nicht überall und jeden Zweifel ausschließend geregelt sein, da wir dann nicht mehr von einem Spiel sprechen würden. (PU 84) Zur weiteren Verdeutlichung dieses Gedankens vergleicht Wittgenstein in PU 85 die Regel mit einem Wegweiser, der mir verläßlich die Richtung zeigt. Bloß als Regelausdruck betrachtet, d. h. unabhängig von dem Umgang, den man mit ihm gelernt hat, läßt er aber eine Unzahl von Möglichkeiten offen, etwa ob ich auf dem Weg bleiben, neben ihm, querfeldein, auf allen Vieren, rückwärts oder vorwärts gehen soll, etc. Auch einer ganzen Reihe von Wegweisern oder Kreidemarkierungen würde es nicht gelingen, jede

4 Auf die Zweideutigkeit von „bestimmt“ weist v. Savigny 1996, 101 ff. hin.

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denkbare Unsicherheit auszuschließen. Wittgenstein stellt klar, daß dies kein Manko, sondern typisch für Wegweiser (und Regeln) ist: Also kann ich sagen, der Wegweiser läßt doch einen Zweifel offen. Oder vielmehr: er läßt manchmal einen Zweifel offen, manchmal nicht. Und dies ist nun kein philosophischer Satz mehr, sondern ein Erfahrungssatz. (PU 85) Es kann leicht so scheinen, als zeigte jeder Zweifel nur eine vorhandene Lücke im Fundament; so daß ein sicheres Verständnis nur dann möglich ist, wenn wir zuerst an allem zweifeln, woran gezweifelt werden kann, und dann alle diese Zweifel beheben. Der Wegweiser ist in Ordnung, – wenn er, unter normalen Verhältnissen, seinen Zweck erfüllt. (PU 87) Nur wer Regeln von ihrer Anwendung trennt, sie deshalb an ihren Ausdruck oder ihre Repräsentation bindet und von dem Ideal besessen ist, der Regelausdruck müsse für jede Möglichkeit eine eindeutige Antwort festsetzen, wird diese von Wittgenstein betonte Eigenart von Regeln und Wegweisern bemängeln oder gar als Begründung für einen Regelskeptizismus auffassen, wonach uns strenggenommen keine Regel sagen kann, was zu tun sei. In der alltäglichen Praxis jedenfalls spielt die theoretische Möglichkeit, Wegweiser oder Regeln anders als gewöhnlich zu verstehen, schon aus folgendem Grund keine Rolle. Wir lernen Regeln, indem wir lernen, ihnen zu folgen, d. h. indem wir lernen, uns in bestimmter Weise zu verhalten. Dabei spielt der Regelausdruck sicherlich eine Rolle, aber nur gemeinsam mit der ganzen Lernsituation, in der es darum geht, sich richtig zu verhalten, und gerade nicht darum, Regeln bzw. ihren Ausdruck zu interpretieren und alternative Verstehensweisen auszuschließen.

6.4 Wie die Regel ihre Anwendung nicht festlegt Einen Vertreter der kritisierten Position wird das Bisherige kaum überzeugen. Er wird einwenden, Wittgenstein habe bestenfalls auf Faktisches, auf unsere Praxis und Gepf logenheiten hingewiesen. Bei den in PU 82, 85, 87 usw. angeführten Fällen handele es sich entweder überhaupt nicht um Regelfolgen, oder sie widersprächen nicht der Autonomie von Regeln und der Wichtigkeit von Regelausdrücken; sie illustrierten vielmehr, wie unvollkommen und lückenhaft die alltägliche Praxis des Regelfolgens sei. Wittgenstein möchte aber kein Hobbypsychologe oder Anthropologe sein. Mit seinen Beispielen verfolgt er eine philosophische Absicht. Zum Zwecke der Argumentation akzeptiert er die gegnerische Position als Prämisse, um zu zeigen, welch absurde Konsequenzen sich aus der Annahme ergeben, für das Meinen und Verstehen einer Regel sei

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ihr Ausdruck und nicht ihre Anwendung zentral. Wittgensteins Ergebnis lautet: Explizite Regelfestsetzungen könnten weder die Eindeutigkeit und Sicherheit gewährleisten, die unsere Praxis des Regelfolgens gewöhnlich auszeichnet, noch sind sie dafür notwendig. Diese Argumentation ist neben den schon erwähnten Abschnitten und zusammen mit Wittgensteins eigener Auffassung vom Regelfolgen das Thema von PU 81 bis 202 bzw. 242 und gehört mit zum Originellsten und Faszinierendsten aus seiner Feder. Nehmen wir also an, Regeln seien deshalb verbindlich und handlungsleitend, weil sie ausdrücklich festgesetzt und formuliert sind. In PU 84–87 und 139–141 argumentiert Wittgenstein mit Hilfe eines Regreßarguments, daß diese Annahme die Eindeutigkeit und Sicherheit unseres alltäglichen Sprachgebrauchs nicht gewährleisten könnte, ohne daß aus der Falschheit der Annahme die Ungeregeltheit der Sprachverwendung folgen würde: Ich sagte von der Anwendung eines Wortes: sie sei nicht überall von Regeln begrenzt. Aber wie schaut denn ein Spiel aus, das überall von Regeln begrenzt ist? […] Können wir uns nicht eine Regel denken, die die Anwendung der Regel regelt? Und einen Zweifel, den jene Regel behebt, – und so fort? (PU 84; der erste Satz knüpft an PU 68 an.) Bei dem Regreß handelt es sich um einen der Festlegung der Regelforderung, wie sie sich die gegnerische Position vorstellt. Er wird wie folgt in Gang gesetzt. Angenommen es gäbe nur ausdrücklich festgesetzte Regeln, wie z. B.: „Unter ,Moses‘ verstehe ich den Mann, wenn es einen solchen gegeben hat, der die Israeliten aus Ägypten geführt hat“ (PU 87). Nun lassen sich aber für jede explizite Regelung offene Fälle konstruieren, also Fälle, für die die Regel keine Gültigkeit hat, weil sie einen Zweifel offen läßt: „Aber über die Wörter dieser Erklärung sind ähnliche Zweifel möglich, wie die über den Namen ,Moses‘ (was nennst du ,Ägypten‘, wen ,die Israeliten‘, etc.?).“ (PU 87) Um diese auszuschließen, bräuchte man neue Regeln, für die sich aber wiederum Zweifelsfälle finden lassen. Um diese Zweifel auszuschließen, müßte es eine weitere Regel geben, und so weiter, ad infinitum. Der Regreß zeigt, daß, gäbe es nur explizite Regeln, keine Regel verbindlich und deshalb auch nicht handlungsleitend sein könnte. Der Text läßt jedoch keinen Zweifel daran, daß diese theoretische Möglichkeit eines infiniten Regresses nur dem Verfechter der Regelautonomie zum Verhängnis wird, nicht aber gegen die Geregeltheit des normalen Sprachgebrauchs spricht, bei dem es zugegebenermaßen manchmal Mißverständisse und Unklarheiten gibt, die weitere Erklärungen notwendig machen: Man könnte sagen: Eine Erklärung dient dazu, ein Mißverständnis zu beseitigen, oder zu verhüten – also eines, das ohne die Erklärung eintreten würde; aber nicht: jedes, welches ich mir vorstellen kann. (PU 87)

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Insbesondere läßt sich also daraus kein Wittgensteinscher Regelskeptizismus ableiten, wonach die Idee des normativen Regelfolgens jeder rationalen Grundlage entbehren würde.

6.5 Psychologischer und logischer Zwang PU 139 greift das Regreßargument implizit wieder auf, dieses Mal aber nicht durch die Konstruktion offener Fälle für explizite Regeln, die nach weiteren Regeln verlangen würden, und so weiter, sondern durch den Nachweis, daß explizite Regelfestsetzungen mit verschiedenen Anwendungen vereinbar sind. Im Beispiel von PU 139 geht es um die Regel, die die Verwendung des Wortes „Würfel“ regieren soll. Angenommen, es handelt sich dabei um die Zeichnung eines Würfels, die mir in den Sinn kommt, wenn ich das Wort höre, und mir vorschwebt, wenn ich es anwende. Die gegnerische Position muß behaupten, diese Zeichnung würde mich zu einer ganz bestimmten Verwendung des Wortes „Würfel“ zwingen, will ich das Wort korrekt gebrauchen. Also müsse mir mit der Zeichnung „die ganze Verwendung des Wortes vorschweben“ (PU 139). Schließlich handele es sich ja um die Repräsentation jener Regel, die die Verwendung des Wortes für alle Fälle regeln soll. Wittgenstein räumt zwar in PU 140 ein, daß das Würfelbild eine gewisse Verwendung „nahelegt“, ja daß es uns zu einer bestimmten Anwendung zwinge, betont aber im gleichen Atemzug (PU 139), daß man „es auch anders verwenden konnte“, z. B. als Darstellung eines „dreieckigen Prismas“. Man müsse sich nur eine entsprechende „Projektionsmethode“ für die Zeichnung ausdenken. Auch für diese Projektionsmethode lassen sich allerdings verschiedene Anwendungsregeln denken, deren Anwendung wiederum verschieden geregelt werden könnte, und so weiter. PU 140 nennt die Tatsache, daß Bilder und Ausdrücke normalerweise eine bestimmte Verwendung haben und uns zumeist auch keine andere einfallen würde, einen „psychologischen Zwang“ und grenzt ihn von dem „logischen“ ab, der von der autonomen Regel ausgehen müßte, aber wegen des Regresses nicht ausgehen kann, da verschiedene Anwendungen der Regel logisch nicht auszuschließen sind und mit ein und demselben Regelausdruck vereinbart werden können. Unser ,Glaube, das Bild zwinge uns zu einer bestimmten Anwendung‘, bestand also darin, daß uns nur der eine Fall und kein andrer einfiel. […] Und das Wesentliche ist nun, daß wir sehen, daß uns das Gleiche beim Hören des Wortes vorschweben, und seine Anwendung doch eine andere sein kann. Und hat es dann beide Male die gleiche Bedeutung? Ich glaube, das werden wir verneinen. (PU 140) Daß es logisch möglich ist, „daß uns das Gleiche beim Hören des Wortes vorschwebt, und seine Anwendung doch eine andere sein kann“, ohne daß das Wort „dann beide

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Male die gleiche Bedeutung“ hat, widerspricht einer Auffassung, die die Gültigkeit von Regeln in Gestalt des Regelausdrucks (hier: Bild des Würfels) gegenüber ihren Verwendungsweisen verselbständigt. Dem Regelausdruck alleine wird die Last aufgebürdet, für alle zukünftigen Verwendungen des Wortes jetzt schon festzulegen, ob sie korrekt oder inkorrekt sind. Das kann er aber nur leisten, wenn es nicht einmal einen theoretischen Zweifel darüber geben kann, wie er anzuwenden ist, wogegen aber seine verschiedenen Anwendungsmöglichkeiten und das Regreßargument sprechen. Positiv ausgedrückt: Ausdrücke und Repräsentationen von Regeln legen nur deshalb eine bestimmte Verwendung fest, weil wir gewohnt sind, sie so und nicht anders zu gebrauchen. Der Gebrauch ist für die Bedeutung des Regelausdrucks, also seine Normativität wesentlich, kann also nicht selber im Befolgen ausdrücklich festgesetzter Regeln bestehen.

6.6 Wovon das Verständnis expliziter Regeln abhängt Die Frage, worin der Gebrauch und damit das Verständnis und das Meinen einer expliziten Regel besteht, untersucht Wittgenstein in PU 143 anhand einer Lehr-Lernsituation, in der einem Schüler ein bestimmtes Bildungsgesetz für die – unendliche – Reihe der natürlichen Zahlen beigebracht werden soll. Dabei betont Wittgenstein die unverzichtbare Rolle eines gemeinsamen und verläßlichen Reagierens auf die Lernsituation, das sich als die Fähigkeit erweist, Regeln zu folgen, die nicht ausdrücklich festgelegt sind und Voraussetzung des Erfassens der Regelerklärung ist. Nur weil der Lehrer sich darauf verlassen kann, daß der Schüler auf die ihm gegebenen Instruktionen sehr bald so reagiert, daß er die Reihe selbständig und korrekt fortsetzt, kann es zu einer Verständigung über das Bildungsgesetz kommen: Wir führen ihm etwa zuerst beim Nachschreiben der Reihe 0 bis 9 die Hand; dann aber wird die Möglichkeit der Verständigung daran hängen, daß er nun selbständig weiterschreibt. (PU 143) Der Schüler wird anfangs verschiedene Fehler bei seinem Versuch machen, die Reihe fortzusetzen. Geschieht dies aber in einer für uns regellosen Weise, d. h. schreibt er völlig wahllos irgendwelche Zahlen hin, „hört da die Verständigung auf“. (PU 143) Macht er einen systematischen Fehler, „werden wir beinahe versucht sein zu sagen, er habe uns falsch verstanden“ (ebd.). Von einem Mißverständnis zu sprechen, setzt allerdings voraus, daß die Verständigung noch nicht aufgehört hat, der Schüler also korrigiert werden kann, was wiederum heißt, daß er auf unsere Korrektur in der üblichen Weise reagiert: die Wirkung jeder weiteren Erklärung häng[t] von seiner Reaktion ab. (PU 145)

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Zwar sind theoretisch verschiedene Anwendungen des Bildungsgesetzes denkbar und durch entsprechende kompensatorische Maßnahmen mit ihm vereinbar. Dennoch sind wir in der Praxis auf eine ganz bestimmte Fortsetzung aus: „Die Anwendung bleibt ein Kriterium des Verständnisses.“ (PU 146) Das Regelverständnis kann kein geistiger Zustand sein, aus dem die korrekte Zahlenreihe in dem (nicht-kausalen) Sinne „entspringen“ würde, daß „die Übergänge alle schon gemacht sind“, bevor der Schüler sie wirklich macht. Nachdem Wittgenstein in PU 148–184 die Gleichsetzung der Kenntnis einer Regel im Sinne des eben Ausgeführten mit einem Können, dem Beherrschen einer Technik, vertieft hat, kommt er in PU 185 auf den Schüler aus PU 143 und die Frage zurück, worin, wenn nicht im Gebrauch eines Ausdrucks oder einer Repräsentation, das Meinen und Verstehen von Regeln und ihren Erklärungen besteht. Er nimmt an, der Schüler habe bis zur Zahl 1000 auf die Aufforderung, 2 zu addieren, immer die richtige Zahl hingeschrieben. Ab 1000 überrascht er uns dann aber dadurch, daß er 1004, 1008, 1012, etc. hinschreibt. Sämtliche Belehrungsversuche weist er mit der Beteuerung ab, er fahre auf die gleiche Weise fort wie bei den Zahlen bis 1000, und faßt unsere Gegenargumente als Bestätigung seiner Meinung auf, weshalb es auch nichts nützt, ihn mit weiteren Erklärungen zu bombardieren. Anscheinend verstand er die ihm gegebenen Beispiele und Erklärungen in einer von der unsrigen gänzlich verschiedenen Weise, so daß wir im nachhinein auch nicht berechtigt sind, von ihm zu sagen, er sei der Regel „addiere 2!“ (in unserem Sinne) gefolgt, obwohl er die richtigen Zahlen hingeschrieben hat. Offensichtlich versteht er die Regel „addiere 2!“, wie wir eine andere Regel, nämlich „addiere 2 bis zur Zahl 1000 und addiere dann 4!“ verstehen. Vom Standpunkt des Schülers aus ergibt sich die umgekehrte Situation. Seine Erklärungsversuche, weshalb seine Art der Reihenfortsetzung der Regel „addiere 2!“ entspreche und das Gleiche sei, das er schon bis 1000 gemacht hat, würden auf ähnliches Unverständnis unsererseits stoßen. Zwar müssen wir zugeben, daß er in seinem Sinne weiterhin das Gleiche tut. Aber wir würden es nicht verstehen. Wittgenstein betrachtet zum einen einen solchen Fall nicht als einen theoretischen Streit, sondern als einen Hinweis auf die unterschiedliche Natur des Betreffenden, aufgrund derer er auf Erklärungen und Beispiele eben anders reagiert als wir und in ihnen eine für uns unverständliche Regel entdeckt. Dieser Fall hätte Ähnlichkeit mit dem, als reagierte ein Mensch auf eine zeigende Gebärde der Hand von Natur damit, daß er in der Richtung von der Fingerspitze zur Handwurzel blickt, statt in der Richtung zur Fingerspitze. (PU 185) Das heißt umgekehrt, daß die Tatsache, daß wir gewöhnlich nach einigen Beispielen und Erklärungen wissen, wie eine Regel anzuwenden ist, sich nicht dem Erfassen ei-

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ner autonomen Regel verdankt, da man andernfalls den Fall des abweichenden Schülers mit dem Hinweis abtun könnte, er habe eben die Additionsregel noch nicht erfaßt, unsere Instruktionen letztlich doch mißverstanden oder leide an einem kognitiven Defizit. Der Verfechter autonomer Regeln würde natürlich die Möglichkeit der Verständigung nicht primär an das binden, was der Schüler weiter tut, sondern daran, ob er das Bildungsgesetz schon erfaßt hat oder nicht, woraus sich dann erst die richtige Verwendung ergeben würde. Für ihn ist nicht das Fortsetzen in bestimmter Weise das Kriterium des Verständnisses, sondern das Erfassen der anwendungsunabhängig existierenden Regel. Zweitens zeigt die Möglichkeit eines abweichenden Regelverständnisses, das sich nicht als Mißverständnis oder kognitives Defizit des Schülers abtun läßt, daß die Regel bzw. ihre Erklärung und ihre frühere Anwendung zu einer bestimmten Fortsetzung nicht im logischen, sondern nur im psychologisch-empirischen Sinne zwingen. Der bisherige Gebrauch der Regel, ihre Erklärung usw. fixieren ihre korrekte Verwendung und damit ihre Kenntnis nur in Abhängigkeit von unseren Reaktionen auf vergangenen Gebrauch und erhaltene Erklärungen. Will man also daran festhalten, daß der Inhalt einer Regel und ihr bisheriger Gebrauch eine bestimmte Anwendung festlegen, tun sie dies eben nur in einem empirischen, nicht in einem logischen Sinn.

6.7 Die Korrektheit des Befolgens einer Regel ist von ihrem etablierten Gebrauch nicht zu trennen Es ist wichtig zu verstehen, daß für Wittgenstein die Art und Weise, wie wir auf den vergangenen Gebrauch und auf Erklärungen reagieren, sich zwar unserer Natur verdankt, aber dennoch einen normativen Charakter hat, d. h. ein gefordertes Befolgen von Regeln, allerdings nicht von ausdrücklich formulierten, darstellt: Wir können etwa davon reden, daß Menschen durch Erziehung (Abrichtung) dahin gebracht werden, die Formel y = x2 so zu verwenden, daß Alle, wenn sie die gleiche Zahl für x einsetzen, immer die gleiche Zahl für y herausrechnen. Oder wir können sagen: „Diese Menschen sind so abgerichtet, daß sie alle auf den Befehl ,+3‘ auf der gleichen Stufe den gleichen Übergang machen.“ Wir könnten dies so ausdrücken: „Der Befehl ,+3‘ bestimmt für diese Menschen jeden Übergang von einer Zahl zur nächsten völlig.“ (Im Gegensatz zu andern Menschen, die auf diesen Befehl nicht wissen, was sie zu tun haben; oder die zwar mit völliger Sicherheit, aber ein jeder in anderer Weise, auf ihn reagieren.) (PU 189) „Daß Alle, wenn sie die gleiche Zahl für x einsetzen, immer die gleiche Zahl für y herausrechnen“ und damit die Formel y = x2 korrekt verwenden, läßt sich selber nicht mehr

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weiter begründen. Jede Begründung müßte ja, um einzuleuchten, unsere gemeinsame Reaktion voraussetzen. Dennoch befolgen wir, indem wir so reagieren, Regeln, da man sonst nicht sagen könnte, die Zahlen, die wir herausrechnen, seien korrekt. Der wesentlichen Rolle der Anwendung für die Konstitution der Regelforderung und ihres Verstehens hält der Vertreter der Regelautonomie in PU 147 entgegen, er müsse nicht, um zu wissen, wie er das Bildungsgesetz verstehe, warten, bis er es angewendet habe, bzw. sich an seine frühere Anwendung erinnern; außerdem beziehe sich die Regelkenntnis auf eine unendliche Zahlenreihe, während die Zahl der Anwendungen und Reaktionen nur endlich sei: „[...] Wenn ich sage, ich verstehe das Gesetz einer Reihe, so sage ich es doch nicht auf Grund der Erfahrung, daß ich bis jetzt den algebraischen Ausdruck so und so angewandt habe! Ich weiß doch von mir selbst jedenfalls, daß ich die und die Reihe meine; gleichgültig, wie weit ich sie tatsächlich entwickelt habe.“ […] Und du wirst vielleicht sagen: „Selbstverständlich! denn die Reihe ist ja unendlich und das Reihenstück, das ich entwickeln konnte, endlich.“ (PU 147) Wenn der Gegner recht hätte, könnte man nach Wittgensteins Konzeption eine Regel weder meinen noch verstehen, bevor man sie angewendet hat, was einer reductio ad absurdum gleichkäme. Die hier vom Gegner eröffnete Alternative zwischen anwendungs- und damit erfahrungsunabhängigem Meinen und Verstehen der Regel einerseits und ihrer Abhängigkeit von der tatsächlichen Anwendung gibt es jedoch für Wittgenstein nicht. Zwar versteht und meint jemand eine Regel nur, wenn er sie korrekt anwenden kann. Da die Korrektheit von dem gesellschaftlich etablierten Gebrauch der Regel nicht zu trennen ist, bestimmt die Weise, wie man eine Regel meint, durchaus ihre zukünftige Anwendung, ohne daß man sich jedesmal an die frühere Verwendung erinnern und ohne daß man auf die zukünftige warten muß.5 Das algebraische Bildungsgesetz in bestimmter Weise zu meinen, heißt nach Wittgenstein eben, sich seiner etablierten Anwendung zur Bildung der betreffenden Zahlenreihe anzuschließen. Um dies zu zeigen, erörtert Wittgenstein ausführlich, was wir meinen, wenn wir von uns selbst und anderen sagen, eine Regel werde verstanden oder gekannt. PU 148–184 untersucht die Gleichsetzung des Verständnisses mit einem expliziten Wissen. In PU 150 vergleicht Wittgenstein die Regelkenntnis mit einem Können und dem Beherrschen einer Technik, wie z. B. das ABC kennen oder Radfahren. Schließlich weiß man auch im voraus, was zu tun ist, um Rad zu fahren, wenn man radfahren kann. PU 149 kritisiert z. B. den gegnerischen 5 Ob sich die Korrektheit einer Regel dadurch definiert, daß Alle sie in einer bestimmten Weise anwenden, d. h. ob z. B. 2 + 2 deshalb 4 ergibt, weil alle in diesem Ergebnis übereinstimmen, oder Dinge rot sind, weil sie von Allen „rot“ genannt werden, ist eine Frage, die hier nicht diskutiert werden kann. Gegen eine einfache Antwort spricht z. B. PU 241 und 242.

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Schritt, die Kenntnis des ABCs oder die Fähigkeit, Rad zu fahren, einen „Zustand der Seele“ oder treffender des „Seelenapparates“ zu nennen. Mit diesem Zustand ist eine Disposition gemeint, also etwas, das sich im Aufsagen des ABCs oder im Radfahren äußern würde, aber unabhängig von seinen Äußerungen – etwa als mentaler Zustand oder als Hirnzustand – identifiziert werden könnte. Das Ergebnis dieser Untersuchungen ist für den Vertreter eines autonomen Regelverständnisses ungünstig: Keine der untersuchten Weisen der Regelkenntnis läßt sich anwendungsunabhängig erklären. Dennoch betont Wittgenstein aber, daß „das Meinen die Übergänge zum Voraus bestimm[t]“ (PU 190). Daß die Kenntnis einer algebraischen Bildungsregel eine Fertigkeit ist, die sich auf unendlich viele Zahlen bezieht, bereitet Wittgenstein weniger Probleme als der gegnerischen Auffassung. Für Wittgenstein zeigt sich das Verständnis der Bildungsregel in der Weise, wie sie für beliebige Zahlen verwendet wird. Der unendlich große Anwendungsbereich des Verständnisses drückt sich darin aus, daß ohne Ende immer wieder neue Zahlen angegeben werden können, auf die die Regel anzuwenden ist. Der Anhänger autonomer Regeln meint dagegen, die Kenntnis der Regel müsse darin bestehen, daß man schon jetzt von allen Zahlen wisse, wie sie der Regel gemäß hinzuschreiben sind. („,Die Übergänge sind eigentlich schon gemacht; auch ehe ich sie schriftlich, mündlich, oder in Gedanken mache‘“. PU 188) Wir haben schon gesehen, daß jede Formulierung oder Repräsentation dieses Wissensinhalts – z. B. eine Formel, die einem einfällt oder die man aufsagt – mit verschiedenen Anwendungen vereinbar ist. Das für den algebraischen Fall zusätzlich entstehende Problem lautet: Wie kann ein Inhalt von sich aus für unendlich viele Fälle im voraus die korrekte Verwendung der Regel fixieren? Wittgensteins Antwort lautet natürlich: überhaupt nicht, da es schon für endlich viele Fälle nicht funktioniert. Die folgenden Abschnitte (bis PU 197) führen den Gedanken aus, daß das Meinen und Verstehen einer Regel oder eines Ausdrucks nicht nur im Gebrauch eines Regelausdrucks oder dem Erfassen seiner Erklärung bestehen kann, sondern auch darin, daß man die Regel entsprechend der etablierten Praxis anzuwenden beabsichtigt oder anzuwenden lernt. In diesem Sinne kann das Meinen also auch nach Wittgenstein „die Übergänge zum Voraus bestimmen“: Man kann nun sagen: „Wie die Formel gemeint wird, das bestimmt, welche Übergänge zu machen sind.“ Was ist das Kriterium dafür, wie die Formel gemeint ist? Etwa die Art und Weise, wie wir sie ständig gebrauchen, wie uns gelehrt wurde, sie zu gebrauchen. […] So kann also das Meinen die Übergänge zum Voraus bestimmen. (PU 190)

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Wo ist die Verbindung gemacht zwischen dem Sinn der Worte „Spielen wir eine Partie Schach!“ und allen Regeln des Spiels? – Nun, im Regelverzeichnis des Spiels, im Schachunterricht, in der täglichen Praxis des Spielens. (PU 197)

6.8 „Die gemeinsame menschliche Handlungsweise ist das Bezugssystem …“ Kommen wir zu PU 198–202, den in letzten Jahren vor allem durch Kripkes provokante Interpretation vermutlich am meisten diskutierten Abschnitten der „Philosophischen Untersuchungen“. Kripke meinte in ihnen Wittgensteins Bedeutungsskeptizismus samt skeptischer Lösung zu entdecken. Ein weiterer Streitpunkt ist die Frage, ob Wittgenstein mit der These vom Praxischarakter der Regelfolgens die Sozialität oder die mit der sozialen Isoliertheit des Regelfolgers verträgliche Regelmäßigkeit und Mehrfachanwendung betont.6 In PU 198 kommt Wittgenstein wieder auf den Regreß aus PU 141 zu sprechen, den er nun als einen Deutungsregreß behandelt. Wenn der Regelausdruck anwendungsunabhängig eine bestimmte Anwendungsregel festlegen kann, muß ein Verstehen der Regel in der richtigen Deutung ihres Ausdrucks bestehen. Wie aber schon PU 141 und 142 zeigten, sind verschiedene Anwendungen mit der Repräsentation der Regel vereinbar. Die Deutung alleine kann mir also nicht sagen, worin die richtige Anwendung besteht: „Aber wie kann mich eine Regel lehren, was ich an dieser Stelle zu tun habe? Was immer ich tue, ist doch durch irgend eine Deutung mit der Regel zu vereinbaren.“ – Nein, so sollte es nicht heißen. Sondern so: Jede Deutung hängt, mitsamt dem Gedeuteten, in der Luft; sie kann ihm nicht als Stütze dienen. Die Deutungen allein bestimmen die Bedeutung nicht. (PU 198) Den Regreß verursachen also nicht die verschiedenen Deutungsmöglichkeiten als solche, sondern die gegnerische Auffassung, die lautet, daß mein Gebrauch eines Wortes durch einen Regelausdruck geleitet wird – „addiere 2!“, Würfelbild, algebraische Formel, Wegweiser –, der mir vor diesem Gebrauch zur Verfügung steht und der von 6 Die Frage, ob die Gesellschaftlichkeit für das Regelfolgen wesentlich ist, kann an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden. Eine soziale Interpretation des Regelbegriffs vertreten z. B. von Savigny 1996, N. Malcolm 1986, S. Kripke 1987 und M. Williams 1991. Zur Gegenseite gehören D. Pears 1988, G. Baker/P. Hacker 1985, J. McDowell 1984 und C. McGinn 1984. Eine Motivation für die soziale Auffassung des Regelfolgens liegt in der Interpretation Wittgensteins, wonach das Argument gegen die Möglichkeit einer Privatsprache (PU 243– 315) eine bloße Konsequenz der Betrachtungen zum Regelfolgen und eigentlich schon mit PU 202 abgeschlossen ist. (V. Savigny ist hier eine Ausnahme.) Demnach wäre der Privatsprachler jemand, der versuchen würde, einer Regel sozial isoliert zu folgen. „Privatim“ aus PU 202 müßte also „sozial isoliert“ meinen. (Für eine Kritik dieser Strategie siehe Puhl 1991.)

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mir richtig gedeutet werden muß, soll ich wissen, was zu tun ist. Eine solche Deutung würde aber nur den ursprünglichen Regelausdruck ersetzen, wäre also selber ein weiterer Ausdruck und müßte ebenfalls gedeutet werden, und so weiter. Deshalb hängt „jede Deutung, mitsamt dem Gedeuteten, in der Luft“ und bestimmen „Deutungen allein die Bedeutung nicht“. Das Resultat wäre die Auf lösung der normativen und der handlungsleitenden Funktion der Regel: „Unser Paradox war dies: eine Regel könnte keine Handlungsweise bestimmen, da jede Handlungsweise mit der Regel in Übereinstimmung zu bringen sei. Die Antwort war: Ist jede mit der Regel in Übereinstimmung zu bringen, dann auch zum Widerspruch. Daher gäbe es hier weder Übereinstimmung noch Widerspruch. Daß da ein Mißverständnis ist, zeigt sich schon darin, daß wir in diesem Gedankengang Deutung hinter Deutung setzen; als beruhige uns eine jede wenigstens für einen Augenblick, bis wir an eine Deutung denken, die wieder hinter dieser liegt. Dadurch zeigen wir nämlich, daß es eine Auffassung einer Regel gibt, die nicht eine Deutung ist; sondern sich, von Fall zu Fall der Anwendung, in dem äußert, was wir „der Regel folgen“, und was wir „ihr entgegenhandeln“ nennen. (PU 201) Löst sich der Unterschied zwischen Befolgung und Verletzung der Regel auf, kann es auch keine Regel mehr geben, die uns sagen könnte, was zu ihrer Befolgung zu tun ist, und auf die wir uns berufen könnten, um unser Tun zu rechtfertigen. Das Resultat wäre der Zusammenbruch eines unter Korrektheitsbedingungen stehenden Sprachgebrauchs und von Sprache und Bedeutung überhaupt. Deshalb wiederholt Wittgenstein sogleich seine Beteuerung aus PU 198 und betont, das Paradox sei nicht das eigene, sondern verdanke sich dem nun schon bekannten Mißverständnis, das Erfassen der Regel bestehe in einer Deutung. In PU 198–202 erläutert Wittgenstein auch seine eigene Konzeption des Regelfolgens, um sie dann in den folgenden vierzig Abschnitten genauer auszuführen: „Also ist, was immer ich tue, mit der Regel vereinbar?“ – Laß mich so fragen: Was hat der Ausdruck der Regel – sagen wir, der Wegweiser – mit meinen Handlungen zu tun? Was für eine Verbindung besteht da? – Nun, etwa diese: ich bin zu einem bestimmten Reagieren auf dieses Zeichen abgerichtet worden, und so reagiere ich nun. Aber damit hast du nur einen kausalen Zusammenhang angegeben, nur erklärt, wie es dazu kam, daß wir uns jetzt nach dem Wegweiser richten; nicht, worin dieses Dem-Zeichen-Folgen eigentlich besteht. Nein; ich habe auch noch an-

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gedeutet, daß sich Einer nur insofern nach einem Wegweiser richtet, als es einen ständigen Gebrauch, eine Gepf logenheit, gibt. (PU 198) Darum ist ,der Regel folgen‘ eine Praxis. Und der Regel zu folgen glauben ist nicht: der Regel folgen. Und darum kann man nicht der Regel ,privatim‘ folgen, weil sonst der Regel zu folgen glauben dasselbe wäre, wie der Regel folgen. (PU 202) Jemand richtet sich nach einem Wegweiser nur, wenn es die Institution oder Praxis des Sich-nach-Wegweisern-Richtens gibt. Deshalb meint „Abrichten“ nicht bloß eine kausale Konditionierung, sondern das Erlernen, wie man an dieser Praxis teilnimmt, ohne daß dabei Deutungen eine besondere Rolle spielen. PU 202 betont zusammenfassend den Praxischarakter des Regelfolgens, der für den Einzelnen Korrektheitsstandards setzt. (Eine Praxis kann man mehr oder weniger gut oder überhaupt nicht beherrschen.) Jemand, der der Regel auf Grund von Deutungen folgen würde, würde ihr dagegen „privatim“ folgen, weil er in derselben Situation wäre wie einer, der nur glaubt, der Regel zu folgen, und für den dieser Glaube die einzige Überprüfungsmöglichkeit dafür wäre, ob er der Regel wirklich folgt. Zum Praxischarakter gehört die Regelmäßigkeit, d. h. die mehrfache Anwendung der Regel, wie PU 199 im Zusammenhang mit der Frage, ob Regelfolgen ein einziges Mal stattfinden könne, betont: Ist, was wir „einer Regel folgen“ nennen, etwas, was nur ein Mensch, nur einmal im Leben, tun könnte? – Und das ist natürlich eine Anmerkung zur Grammatik des Ausdrucks „der Regel folgen“. Es kann nicht ein einziges Mal nur ein Mensch einer Regel gefolgt sein. Es kann nicht ein einziges Mal nur eine Mitteilung gemacht, ein Befehl gegeben, oder verstanden worden sein, etc. – Einer Regel folgen, eine Mitteilung machen, einen Befehl geben, eine Schachpartie spielen sind Gepflogenheiten (Gebräuche, Institutionen). Einen Satz verstehen, heißt, eine Sprache verstehen. Eine Sprache verstehen, heißt eine Technik beherrschen. PU 237 fordert ausdrücklich Regelmäßigkeit und nennt noch die Lernbarkeit als Bedingung für den regelfolgenden Charakter eines Verhaltens. Für den Verfechter autonomer, anwendungsunabhängiger Regeln ist es natürlich durchaus möglich, daß einer Regel nur einmal von einem Menschen gefolgt wird, ja daß sie überhaupt nicht befolgt wird. Aus dem gleichen Grund bedarf es auch keiner Institution des Regelfolgens, und es wäre „denkbar [...], zwei Leute spielten in einer Welt, in der sonst nicht gespielt wird, eine Schachpartie, ja auch nur den Anfang einer Schachpartie, – und würden dann gestört.“ (PU 205) Wenn es die Praxis

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und Institution des Regelfolgens gibt, kann es natürlich auch Wittgenstein zufolge (formulierte) Regeln geben, die nicht oder nur einmal von einem Einzigen befolgt werden, und Regeln, denen ein Einzelner, ohne es zu wissen, folgt. Die vorausgesetzte Institution, Gepf logenheit des Regelfolgens muß wegen des andernfalls drohenden Festsetzungsregresses (siehe oben) in der Praxis bestehen, Regeln zu folgen, die nicht ausdrücklich formuliert und festgesetzt sind. PU 204 macht das deutlich: Damit Einer ein Spiel erfinden kann, muß es die Praxis des Spielens geben, von der weiter oben (PU 82, 83) schon gezeigt wurde, daß sie nicht nur im Befolgen ausdrücklich und im voraus formulierter Regeln bestehen kann. Ob es sich bei dieser Praxis um eine grundsätzlich soziale handeln muß oder ob sie auch von einem sozial isolierten Wesen etabliert werden kann, ist eine Frage, die hier nicht diskutiert werden kann. Zumindest ist klar, daß Regelmäßigkeit und Lernbarkeit insofern soziale Begriffe sind, als sie nur auf ein Verhalten zutreffen, das auf dem Hintergrund unserer Praxis als regelfolgendes beschreibbar ist. Auch hat Wittgenstein die früheren Manuskriptstellen, in denen er sozial isoliertes Regelfolgen zuläßt, solange es von uns gelernt werden kann, in den Text der „Philosophischen Untersuchungen“ nicht aufgenommen.7 In den folgenden Abschnitten bis PU 242 vertieft Wittgenstein seine praxisbezogene Konzeption des Regelfolgens. Vor allem betont er, daß zum Befolgen einer Regel oder zur Anwendung eines Wortes weder jedesmal eine Intuition (213, 214, vgl. 186) oder Inspiration (232, 237) noch eine Wahl (219) notwendig sind. Wir folgen der Regel blind (219) „mit völliger Sicherheit“ (212), ohne Gründe (211, 212) und sind Fehlern ausgesetzt (208). Wittgensteins Regelfolger ist nicht das egozentrische und hauptsächlich denkende und repräsentierende Subjekt der Philosophiegeschichte (wozu auch der „Tractatus“ gehört), sondern vor allem ein aktives und soziales Wesen. Als Mitglied einer Sprachgemeinschaft eignet es sich jene etablierten Reaktionen und Verhaltensweisen an, die das Regelfolgen und den Sprachgebrauch ausmachen und die einen konstitutiven Beitrag zur Festlegung von Regeln, zu ihrer Geltung und zu ihrer Kenntnis leisten.

Literatur G. P. Baker/P. M. S. Hacker 1985, Wittgenstein. Rules, Grammar and Necessity, Volume 2 of an Analytical Commentary on the Philosophical Investigations, Oxford. A. Hattiangadi, Oughts and Thoughts: Rule-Following and the Normativity of Meaning, Oxford 2007. S. Kripke 1987, Wittgenstein über Regeln und Privatsprache, Frankfurt a. M. N. Malcolm 1986, Nothing is Hidden, Oxford. J. McDowell 1984, Wittgenstein on Following a Rule, Synthese 58, 325–363. C. McGinn 1984, Wittgenstein on Meaning, Oxford. A. Miller, C. Wright eds., Rule-Following and Meaning, Chesham 2002. 7 Baker/Hacker (1985) führen diese Stellen an. (169–179)

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D. Pears 1988, The False Prison, Vol II, Oxford. K. Puhl 1991, ,Bedeutungsplatonismus und Regelfolgen‘, Grazer Philosophische Studien 41, 105–125. K. Puhl (Hg.) 1991a, Meaning Scepticism, Berlin/New York. E. v. Savigny 1994, Wittgensteins „Philosophische Untersuchungen“: Ein Kommentar für Leser, Bd. 1, 2. Auf l., Frankfurt. E. v. Savigny 1996, Der Mensch als Mitmensch. Wittgensteins „Philosophische Untersuchungen“, München. M. Williams 1991, Blind Obedience, Rules, Community and the Individual, in Puhl 1991a, 93–125.

7 Stewart Candlish

Wittgensteins Privatsprachenargumentation

7.1 Ein Problem der Wittgensteinlektüre besteht darin, daß man Wittgensteins Schriften ohne Interpretationshilfe vielleicht unverständlich findet, während viele der verfügbaren Interpretationen derart irreführend sind, daß ihre Hinderlichkeit den Nutzen überwiegt. Das gilt insbesondere für die Vorstellung von einer Privatsprache. Bei diesem Thema wird die Situation durch den schieren Umfang der Sekundärliteratur verschlimmert, denn hier hat das Schrifttum so gewaltige Ausmaße angenommen, daß es im einzelnen gar nicht mehr zu überblicken ist. Dieser unbefriedigenden Situation möchte ich abzuhelfen versuchen. Dazu werde ich erstens die bisherigen Interpretationen in eine ungefähre Klassifikation einordnen, die dem Leser helfen wird, sich in dieser Literatur zurechtzufinden. Der zweite und wichtigere Schritt besteht darin, daß ich den Leser zum Text zurückzuführen versuche, indem ich die zentrale Privatsprachenargumentation durch eine Darstellung erläutere, die insofern kohärent ist, als sie Wittgensteins eigene Anordnung aller Bemerkungen des ausschlaggebenden Teils der „Philosophischen Untersuchungen“ (PU 256–271) respektiert.1 Diese Beschränkung auf ein recht kleines, aber höchst wichtiges Stück des Wittgensteinschen Textes sollte die Möglichkeit geben, meine Vorschläge ohne Mühe zu überprüfen und nötigenfalls zu korrigieren. Die meisten Ansichten zum Thema Privatsprache lassen sich in einer der drei folgenden Kategorien unterbringen: Die größte und historisch älteste dieser Kategorien nenne ich die altorthodoxe Lehre, der sowohl Kritiker als auch Befürworter Wittgen1 Das sind die Abschnitte, auf die sich von jetzt an die Bezeichnung „die Privatsprachenargumentation“ bezieht, womit ich keineswegs fälschlich suggerieren möchte, das sei die einzige relevante Gruppe von Überlegungen, die Wittgenstein zu diesem Thema vorlegt.

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steins anhängen. Als Repräsentant dieser Richtung wird hier Robert Fogelin gewählt.2 Zur zweiten Kategorie gehört ein Grüppchen von Autoren, die in den siebziger Jahren Einwände gegen eine von allen Vertretern der altorthodoxen Lehre vorausgesetzte Grundannahme erhoben haben. Die prominentesten Angehörigen dieser Gruppe sind Oxford-Philosophen, die sich die Aufgabe gestellt haben, Wittgenstein zu interpretieren und gegenüber der philosophischen Welt zu verteidigen. Als ihr Stellvertreter sei hier Anthony Kenny genannt, dessen Einf luß in die Augen springt.3 Zur dritten Kategorie gehören die Autoren, die in neuerer Zeit Probleme erörtern, die sich aus Saul Kripkes bekannter Deutung der Privatsprachenargumentation ergeben.4 Auf sie werde ich später eingehen. Fogelin und Kenny werden hier unter anderem deshalb als Repräsentanten gewählt, weil beide bemüht sind, die Privatsprachenargumentation auf eine im oben angedeuteten Sinne kohärente Weise zu deuten (während die meisten Interpreten Bemerkungen aus dem Text herauslösen, die ihren eigenen Absichten entsprechen, unbequeme Textstellen jedoch außer acht lassen). Ich werde zwar geltend machen, daß keiner dieser beiden Versuche gelingt (und Kennys Vorschlag überdies halbherzig ist), aber beide lassen immerhin erkennen, daß sie sich über die Notwendigkeit im klaren sind, dieser Mindestforderung der Interpretation zu entsprechen.

7.2 Eine weitere Anforderung an eine befriedigende Interpretation der Privatsprachenargumentation verlangt, daß es möglich sein muß zu erkennen, wie sie in den Gesamtaufbau der „Philosophischen Untersuchungen“ paßt. Unmittelbar vor Beginn dieser Argumentation (PU 241 f.) deutet Wittgenstein an, die Existenz der den Sprachgebrauch bestimmenden und die Verständigung ermöglichenden Regeln sei abhängig von der Übereinstimmung des menschlichen Verhaltens. Z. B. reagierten Menschen im allgemeinen so übereinstimmend, daß es möglich sei, Kinder – im Gegensatz zu Katzen – durch Zeigen dazu abzurichten, auf das Gezeigte zu blicken (vgl. PG S. 94). Eine Aufgabe der Privatsprachenargumentation besteht darin, deutlich zu machen, daß nicht nur unsere wirkliche Sprache, sondern sogar die Möglichkeit der Sprache und der Begriffsbildung auf der Möglichkeit dieser Übereinstimmung beruht. Eine weitere und mit dieser zusammenhängende Aufgabe besteht im Widerstand gegen die Vorstellung, uns stünden metaphysische Absolutheiten zu Gebote und 2 Fogelin 1976. 3 Kenny 1973. Peter Hacker schreibt in der Einleitung seines ersten Wittgenstein-Buchs (Hacker 1972), seine eigene Interpretation der Privatsprachenargumentation sei wesentlich von Kennys Auffassung geprägt. 4 Kripke 1982.

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wir seien imstande, die Welt in ihrem Ansichsein aufzuspüren und insofern in den Griff zu bekommen, als jede andere Vorstellung von ihr falsch sein müsse (vgl. MS 144, S. 88/WA S. 578). Für Philosophen besonders verlockend ist die Annahme, Beispiele für derart absolute Erkenntnisse seien Zahlen und Empfindungen: sich selbst identifizierende Gegenstände, die uns die Regeln für den Gebrauch ihrer Namen von sich aus aufzwingen. Die Zahlen behandelt Wittgenstein im Teil über Regeln (PU 185–242; weitere ausführliche Erörterungen finden sich in anderen Schriften). Zu manchen dieser Ausführungen gibt es im Rahmen von Wittgensteins Erörterung der Empfindungen genaue Entsprechungen, denn in beiden Bereichen liegt die gleiche Verwirrung hinsichtlich der Art und Weise zugrunde, in der der Akt des Meinens die künftige Anwendung einer Formel oder eines Namens bestimmt. Bei den Zahlen besteht die Verlockung, die mathematische Bedeutung von „bestimmen“ mit der kausalen zu verwechseln. Im mathematischen Sinne „bestimmt“ etwa die Formel y = 2x den Zahlenwert von y für einen gegebenen Wert von x (im Gegensatz zu y > 2x, wo das nicht der Fall ist), während es im kausalen Sinne z. B. durch die mathematische Ausbildung bestimmt wird, daß normale Menschen stets denselben Wert für y hinschreiben werden, sofern die erste Formel und ein Wert für x gegeben sind (der Gegensatz hierzu wären Lebewesen, bei denen eine solche Ausbildung ein buntes Gemisch von Ergebnissen bewirkt, vgl. PU 189). Diese Verwechslung löst die Einbildung aus, das Ergebnis einer richtig ausgeführten wirklichen Rechnung sei das unumgängliche Resultat der mathematischen Bestimmung, so als wäre der Gang der Ereignisse von der Bedeutung der Formel selbst geprägt. Bei den Empfindungen liegt die entsprechende Verlockung in der Annahme, Empfindungen täten sich von selbst kund. So scheint es sich beispielsweise mit den Schmerzen zu verhalten: Man fühle unmittelbar, was Schmerzen sind; man brauche der Empfindung nur einen Namen zu geben, und auf der Stelle seien die Regeln für den späteren Gebrauch des Namens festgelegt. Daß sich dieser Eindruck einer Einbildung verdankt, versucht Wittgenstein ebenso deutlich zu machen wie die Einsicht, daß sich auch die Identität der Schmerzen erst aus einer gemeinsamen Praxis der Äußerung, des Reagierens und des Sprachgebrauchs herleitet. Wären Schmerzen etwas metaphysisch Absolutes, das mir seine Identität in der gekennzeichneten Weise aufzwingt, wäre die Möglichkeit einer solchen gemeinsamen Praxis ohne Belang für den Schmerzbegriff. Denn das Wesen des Schmerzes würde mir in einem einzigen geistigen Akt seiner Benennung offenbart, alle späteren Fakten bezüglich der Verwendung des Namens wären irrelevant für die Bedeutung des Namens, und der Name selbst könnte etwas Privates sein. Aus der Privatsprachenargumentation ergeben sich folgende Schlüsse: solche späteren Fakten können nicht belanglos sein; Namen können nichts Privates sein; die Vorstellung von der Offenbarung des eigentlichen Wesens einer Empfindung durch einen einzigen Akt unmittelbaren Kennenlernens ist konfus.

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S C

7.3 Nachdem Wittgenstein die Idee der Privatsprache in PU 243 ins Spiel gebracht hat, legt er im Rahmen einer vorläufigen Erörterung (PU 244–255) dar, daß es zwei Bedeutungen des Wortes „privat“ gibt, die dem Philosophen hier vorschweben könnten; doch natürliche Sprachen (wie das Deutsche) seien faktisch in keiner dieser beiden Bedeutungen privat. Sodann wendet sich Wittgenstein in PU 256 der Frage zu, ob es überhaupt eine private Sprache geben könne. Dabei spricht er zwar weiterhin von Empfindungen und vom Beispiel der Schmerzen, doch hier sollte man bedenken, daß es sich nicht um unsere Empfindungen – die Alltagsfakten des menschlichen Daseins – handelt, sondern um die Empfindungen eines Wesens von der Art einer cartesianischen Seele (die womöglich, wie in PU 257 und 283 angedeutet wird, mit einem physischen Körper verbunden ist), und das wäre ein Wesen ohne öffentlich zugängliches Leben, aber mit entsprechend privaten „Empfindungen“ – das heißt, bei ihnen würde es sich nicht um die alltäglichen Tatsachen der menschlichen Existenz selbst handeln, sondern um die vermeintlichen Muster von philosophischen Erklärungen dieser Tatsachen. In PU 256 deutet Wittgenstein an, durch Betrachtung einer natürlichen Sprache könne man eigentlich nicht zur Vorstellung von einer privaten Sprache gelangen, denn natürliche Sprachen seien nicht privat, da unsere Empfindungen hier zum Ausdruck gebracht werden. Aber ebenso unmöglich sei es, zu dieser Vorstellung zu gelangen, indem man – wie er anschließend erwägt – von einer natürlichen Sprache ausgeht und einfach alle Empfindungsäußerungen von ihr subtrahiert (zeitweilige Lähmungserscheinungen stehen nicht zur Debatte). Denn selbst wenn es in einer solchen Situation, in der das Lehren unmöglich ist, eine Sprache geben könnte, so sei doch, wie er in PU 257 sagt, durch die an früherer Stelle (PU 33–35) dargelegte Argumentation bezüglich der hinweisenden Definition gezeigt worden, daß die bloße „geistige Assoziation“ einer Sache mit einer anderen allein nicht ausreiche, um die eine zum Namen der anderen zu machen. Die Benennung der eigenen Empfindung setze die Vorbereitung eines Postens für das neue Wort voraus, d. h. sie verlange einen Empfindungsbegriff. Der Versuch der Benennung einer Empfindung in einem begriff lichen Vakuum werfe nur Fragen auf wie: Worin soll dieses Verfahren eigentlich bestehen? Und welchem Zweck soll es dienen? Doch um nun zum Kern der Sache vorzudringen, schiebt Wittgenstein die erste Frage beiseite und tut so, als sei es im Hinblick auf die zweite ausreichend, wenn man sich in der Vorstellung in die Lage versetze, in der man, um über die eigenen Empfindungen Tagebuch zu führen, den Grundstein für eine private Sprache legt.

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7.4 Aber er hat immer noch eine steile Hürde vor sich, die ihn daran hindert, das Thema überhaupt zu behandeln, nämlich den Umstand, daß er zur Erörterung der Sache bestimmte Wörter benutzen muß, deren Zulässigkeit eben in Frage steht. Daher ist er in PU 258 gezwungen, Handlungen wie das hinweisende Definieren, das Konzentrieren der Aufmerksamkeit, Sprechen, Schreiben, Erinnern, Glauben usf. zu erwähnen, während er doch gerade darauf hinauswill, daß in der betrachteten Situation eigentlich nichts von alledem möglich ist. (Ebendarum geht es auch in PU 261: eine angemessene Beschreibung dieser Situation könnte man nur mit Hilfe eines unartikulierten Lauts geben.) Von den Interpreten ist diese Schwierigkeit häufig übersehen worden, was besonders im Hinblick auf das Verständnis des als nächstes zu besprechenden Tagebuch-Beispiels unerfreuliche Resultate gezeitigt hat. Fogelin etwa behandelt dieses Beispiel als einen Fall, in dem er selbst – ein lebendiger Mensch mit menschlichem Körper – ein Tagebuch führt und die Vorkommnisse einer Empfindung festhält, die er niemandem sonst zu schildern vermag. Hier sollte ein für allemal klargestellt werden, daß wir uns die Beschreibung des Tagebuch-Führens nicht so vorstellen dürfen, als handele es sich um einen möglichen oder letztlich sogar verständlichen Fall. Vor allem dürfen wir uns nicht vorstellen, daß hier ein Mensch Tagebuch führt. (Siehe oben, Abschnitt 3!) Daher ist es wichtig für die Argumentation, daß das Tagebuch-Beispiel in der ersten Person vorgeführt wird, ohne daß wir unsererseits der Frage auf den Grund gehen: „Wer spricht da eigentlich?“ In diesem Stadium dürfen wir uns einfach nicht den Kopf über die Frage zerbrechen, ob die Tagebuch-Geschichte letzten Endes sinnvoll ist oder nicht. Aber die Möglichkeit, daß sie vielleicht keinen Sinn hat, darf man nicht außer acht lassen, während man die anschließenden Ausführungen liest, die strenggenommen ständig von Gänsefüßchen verunstaltet sein müßten. (Ich werde hin und wieder Gänsefüßchen einsetzen, um diese Möglichkeit ins Gedächtnis zu rufen. Zu diesem Zweck werde ich französische Anführungszeichen benutzen.)

7.5 Fassen wir die bisherigen Erkenntnisse zusammen: In PU 256 fragt Wittgenstein hinsichtlich der „privaten Sprache„: „Wie bezeichne ich meine Empfindungen mit Worten?“ In PU 257 erinnert er uns daran, daß wir nicht antworten können: „So, wie wir es normalerweise tun.“ Also ist unsere Frage, die auf das gleiche hinausläuft wie die Erkundigung nach möglichen Bedeutungen der in einer „privaten Sprache“ verwendeten Ausdrücke, immer noch offen; und die Antwort muß von den wirklich hergestellten Verbindungen zwischen Wörtern und Empfindungen unabhängig sein.

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Um zu einer Antwort zu gelangen, macht Wittgenstein dem Vertreter der Privatsprachen-Theorie Beine und läßt ihn eine Runde drehen, indem er die Vorstellungen des Empfindens, Tagebuch-Führens usw. (trotz der in PU 257 geübten Kritik) einstweilen voraussetzt und sich nun ausmalt, er befinde sich in der Lage eines Privatsprachlers, der seine Empfindungen in einem Tagebuch festhält. Das Ziel ist der Nachweis, daß dieser Privatsprachler selbst dann, wenn man ihm das einräumt, nicht imstande ist, einem Empfindungswort Bedeutung zu verleihen und diese Bedeutungszuschreibung durchzuhalten. Die ausschlaggebende Argumentation beginnt hier, in PU 258. Mit Bezug auf das Tagebuch-Beispiel weist Wittgenstein darauf hin, „daß sich eine Definition des Zeichens nicht aussprechen läßt“. Das sagt Wittgenstein vermutlich nicht, um einen ihm fernliegenden empiristischen Gesichtspunkt hervorzuheben, sondern weil das ein Beispiel ist, in dem eine Sprache fundiert werden soll. Um dem »Zeichen« eine Bedeutung zu geben, muß demnach durch privates Tun eine hinweisende Definition gegeben werden, indem ich mich auf die Empfindung konzentriere und zur gleichen Zeit das Zeichen verfertige. Bei diesem Tun kann aber nur dann eine echte und leistungsfähige hinweisende Definition herausspringen, wenn die Herstellung der Verbindung wirklich gelingt und von Dauer ist. Wittgenstein schreibt dementsprechend: „,Ich präge sie mir ein‘ kann doch nur heißen: dieser Vorgang bewirkt, daß ich mich in Zukunft richtig an die Verbindung erinnere.“ Denn durch bloß episodisches Achtgeben und Notieren ohne weitere Konsequenzen definiere ich gar nichts – nicht einmal für mich selbst und erst recht nicht für andere.

7.6 An diesem Punkt sollten wir innehalten und die Worte „Ich erinnere mich in Zukunft richtig an die Verbindung“ eingehender untersuchen. Diese Formulierung hat, wie Kenny hervorhebt, ein entscheidendes und bleibendes Mißverständnis der ganzen Argumentation bewirkt. Denn normalerweise ist sie im Sinne der Forderung interpretiert worden, das Zeichen „E“ müsse, um eine Bedeutung zu erhalten, im behauptenden Gebrauch von nun an stets als wahre Aussage bzw. in einer wahren Aussage verwendet werden. Das heißt, behauptend darf ich das Zeichen „E“ nur dann gebrauchen, wenn ich wirklich die Empfindung E habe (es sei denn, ich lüge – was jedoch bei Selbstgesprächen keine relevante Eventualität darstellt). Daher hat man gewöhnlich gemeint, die anschließende Argumentation betreffe die Zulänglichkeit der Erinnerung, die verhüten soll, daß ich später meine Empfindungen verkenne, indem ich künftig etwa eine andere Art von Empfindung als „E“ bezeichne. Diese übliche Darstellung der Argumentation wird von Kenny samt ihrer historischen Entwicklung wie folgt resümiert (S. 191 f.):

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Von vielen Autoren sind die Worte „Ich erinnere mich richtig an diese Verbindung“ im Sinne von „Ich verwende ,E‘ dann und nur dann, wenn ich wirklich E habe“ aufgefaßt worden. Dann haben sie gemeint, Wittgenstein gehe es mit seiner Argumentation um eine skeptizistische Frage hinsichtlich der Erinnerung: Wieso kannst du sicher sein, daß du dich richtig erinnerst, wenn du beim nächsten Mal eine Empfindung „E“ nennst? Zur Untermauerung dieser Interpretation zitieren sie dann vielleicht Wittgensteins Rat: ‚Eliminiere dir immer das private Objekt, indem du annimmst: es ändere sich fortwährend; du merkst es aber nicht, weil dich dein Gedächtnis fortwährend täuscht‘ (MS 144, S. 72/ WA S. 542). Die Kritiker Wittgensteins haben das so interpretierte Argument ganz und gar nicht überzeugend gefunden. Die Zuverlässigkeit der Erinnerung stelle den Benutzer einer privaten Sprache doch sicher nicht vor größere oder kleinere Probleme als den Sprecher einer öffentlichen Sprache. Dagegen haben sich die Befürworter Wittgensteins wiederum mit dem Hinweis gewehrt, daß bei öffentlichen Gegenständen – im Gegensatz zu privaten Empfindungen – Erinnerungsfehler korrigiert werden können und daß dort, wo Korrekturen ausgeschlossen seien, auch von Korrektheit nicht die Rede sein dürfe. Daraufhin haben die Wittgenstein-Kritiker entweder bestritten, daß Wahrheit Korrigierbarkeit voraussetzt, oder sie haben zu zeigen versucht, daß auch im privaten Fall eine Überprüfung möglich ist. Das ist das Wechselspiel von Kritik und Verteidigung, das ich als altorthodoxe Auffassung bezeichnet habe. Ein gutes Beispiel für diese orthodoxe Auffassung ist Fogelin, der auf S. 162–164 seines Buches deutlich macht, daß Wittgensteins Argumentation seiner Meinung nach dem Versuch dient, sich gegenüber einer allgemein skeptizistischen Einstellung zum Erinnerungsvermögen einen speziellen Vorteil zu sichern. (Fogelins Darstellung läßt sich leider nicht durch ein kurzes Zitat belegen.) Überdies gehört Fogelin zu beiden Gruppen der von Kenny unterschiedenen Wittgenstein-Kritiker, insofern er sowohl bestreitet, daß Wahrheit (absolute) Korrigierbarkeit voraussetzt, als auch meint, daß eine (begrenzte) Überprüfung im privaten Fall tatsächlich möglich ist.5 Für die weite Verbreitung dieser Deutung der Argumentation gibt es nach meinem Eindruck drei Gründe: Erstens halten die Philosophen, die von der Vorstellung einer privaten Sprache nicht loskommen, im allgemeinen Ausschau nach einer Ordnung der Dinge, in der faktische Irrtümer ausgeschlossen sind; d. h. sie versuchen den Skeptizismus durch die Entdeckung absoluter Gewißheit zu überwinden. (Als Beispiel wird normalerweise Descartes zitiert.) Da dürfte es so aussehen, als seien 5 Allerdings ist Fogelin der Ansicht, Wittgenstein gelinge der Nachweis der weniger anspruchsvollen These der kontingenten Unmöglichkeit einer privaten Sprache.

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skeptische Argumente die natürliche Gegenwehr. So schreibt Fogelin (auf S. 153): „Die Privatsprachenargumentation führt uns zu dem vertrauten Feld zurück, auf dem schon viele Schlachten der neuzeitlichen Philosophie ausgetragen worden sind.“ Unmittelbar anschließend spricht Fogelin dann von der Entdeckung des Erkenntnisfundaments in der subjektiven Selbstgewißheit. Zweitens ist es einleuchtend (wenn auch nicht unbedingt richtig) anzunehmen, daß man sich hinsichtlich der Beschaffenheit der eigenen gegenwärtigen Empfindungen nicht irren kann. Diese Annahme wäre allerdings kaum noch zu vertreten, wenn sich beweisen ließe, daß die Vorstellung von einer privaten Sprache die Konsequenz nach sich zieht, in diesem Bereich sei man genauso fehlbar wie in jedem anderen auch. Drittens ist es zumindest plausibel zu meinen, daß die richtige Bedeutungszuordnung zu Empfindungswörtern in Unfehlbarkeit resultieren könnte, denn es ist nicht klar, welche Möglichkeit außer verfehlter Bedeutungszuschreibung in Frage käme, wenn man eine Empfindung verkennt. Aber die Interpretation von PU 258, die ich hier im Anschluß an Kenny verfechten werde, stellt die Frage der Unfehlbarkeit bei künftigen Verwendungen des Zeichens „E“ als für diese Argumentation belanglos hin. Kenny hat recht, wenn er im Hinblick auf die altorthodoxe Richtung schreibt: „Sowohl die Kritik als auch die Verteidigung beruhen auf einer Fehldeutung der Argumentation.“ Wenn man sich PU 258 genau anschaut, sieht man, daß sich „Ich erinnere mich an die Verbindung“ auf die Erinnerung an eine Bedeutung – die Bedeutung des Zeichens „E“ – bezieht, nicht auf die Feststellung, daß ich künftig nur E „E“ nenne.6 Auch um bei einem künftigen Urteil einen faktischen Irrtum7 machen zu können, muß ich Ausdrücke benutzen, die eine Bedeutung haben. (Kenny sagt hier, ich müsse auch ihre Bedeutung kennen. Das scheint mehr zu beinhalten als bloß die „richtige Erinnerung an die Verbindung“. Vielleicht hat Kenny recht, doch mit dieser Feststellung gerät er auf den im nächsten Abschnitt aufgezeigten Irrweg.)

7.7 Jetzt, da wir uns Klarheit über den Inhalt der Verbindung verschafft haben, an die man sich richtig erinnern soll, können wir uns dem Text von PU 258 zuwenden. Hier soll ich mir vorstellen, eine private Sprache gebrauchen zu wollen. Ich habe eine Empfindung und notiere zur gleichen Zeit das Zeichen „E“, so wie ich in einem normalen Fall ein Zeichen durch hinweisende Definition einführen könnte. Anschließend „glaube“ ich, diesem Zeichen „E“ eine Bedeutung verliehen zu haben, und verwende nun das Zeichen 6 Diese Konsequenz ist freilich, wie wir gesehen haben, zu erwarten, wenn es sich bei E um Empfindungen handelt, doch darauf kommt es an dieser Stelle nicht an. Es spielt also keine Rolle, ob diese Erwartung zutrifft. 7 Im Gegensatz zu einem Irrtum hinsichtlich der Bedeutung.

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für das Urteil, daß ich jetzt wieder die gleiche Empfindung spüre. Was meine ich bei der zweiten Gelegenheit mit „E“? Da gibt es zwei naheliegende Antworten, und beide werden von Wittgenstein einer Betrachtung unterzogen. Eine dieser Antworten lautet, daß mit „E“ nichts anderes gemeint ist als dieselbe (Art von) Empfindung, wie ich sie jetzt habe. Darauf erwidert Wittgenstein schlicht: „richtig ist, was immer mir als richtig erscheinen wird. Und das heißt nur, daß hier von ,richtig‘ nicht geredet werden kann.“ Das ist äußerst gedrängt formuliert. Um es weniger komprimiert zu sagen: Faktenbezogene Behauptungen setzen die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Falschheit voraus – die Unterscheidung zwischen einer Äußerung, wie es sich verhält, und einer Äußerung, wie es sich nicht verhält. Die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Falschheit wiederum setzt die weitere Unterscheidung zwischen der Quelle der gemeinten Bedeutung und der Quelle der Wahrheit des Gesagten voraus. Nun wollen wir annehmen, daß ich einen Gegenstand vor mir habe und von ihm sage: „Dies ist E.“ Berufe ich mich sodann auf ebendiesen Gegenstand, um die Bedeutung des Zeichens „E“ zu erklären, beraube ich meine Anfangsäußerung jeglichen Anspruchs auf den Rang einer faktenbezogenen Behauptung – die Äußerung wird bestenfalls zur hinweisenden Definition. (Das Wort „bestenfalls“ ist hier – aus den im 4. Abschnitt genannten Gründen – wichtig.) Mit anderen Worten, diese Antwort ist ein Versuch, den Kuchen sowohl aufzubewahren als auch zu essen. Das ist zwar stets verlockend, aber ganz besonders dann, wenn man als Philosoph im Rahmen der gegenwärtigen Erfahrung nach empirischer Gewißheit sucht, also nach einer Gewißheit, der es bei dieser Art der Annäherung beschieden ist, sich für immer jeglichem Zugriff zu entziehen.8 Die zweite der von Wittgenstein betrachteten Antworten auf die Frage nach dem, was ich mit „E“ meine, lautet: Mit „E“ meine ich nicht diese jetzige (Art von) Empfindung, sondern Empfindungen der früher „E“ genannten Art. Bei der Beschreibung von Wittgensteins Behandlung dieser Erwiderung geht Kenny in die Irre: Als nächstes wollen wir annehmen, der Sprecher der privaten Sprache sage: „Mit ,E‘ meine ich die früher ,E‘ genannte Empfindung.“ Da er die frühere Empfindung jetzt nicht mehr hat, muß er sich auf sein Gedächtnis verlassen, sich ein Erinnerungsmuster von E ins Gedächtnis rufen und es mit seiner derzeitigen Empfindung vergleichen, um zu sehen, ob die beiden gleich sind. Aber natürlich muß er sich die richtige Erinnerung ins Gedächtnis rufen. Ist es nun möglich, daß auf diesen Ruf die falsche Erinnerung im Gedächtnis erscheint? Wenn nicht, dann bedeutet „E“ ebenjene Erinnerung, die dem Betreffenden in Verbindung mit „E“ in den Sinn kommt, und dann gilt wieder als richtig, was richtig zu sein scheint. Wenn es aber doch möglich ist, weiß er eigentlich 8 Diesen Sachverhalt hat Wittgenstein immer wieder hervorgehoben. Siehe z. B. PU Einschub BS (S. 36)/KG (S. 767-768) zu PU 35/WA S. 260 (keine genaue Zuordnung); NFL S. 276 f., 314, 320; BGM III 37.

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S C gar nicht, was er meint. Es fruchtet nichts, wenn er sagt: „Naja, zumindest glaube ich, daß das wieder die Empfindung ,E‘ ist“, denn das kann er nicht einmal glauben, ohne zu wissen, was mit „E“ gemeint ist (PU 260).9

Wie gesagt, Kenny hat recht, wenn er feststellt, daß mit „Ich erinnere mich richtig an die Verbindung“ auf die Erinnerung an eine Bedeutung Bezug genommen wird, weshalb die üblichen Erörterungen dieser Bemerkungen fehl am Platze seien. Aber implizit hat Kenny auch angedeutet, daß die ganze Frage des Erinnerungsskeptizismus gar nicht angebracht ist, wenn es um die „private Sprache“ geht. Und das ist gleichfalls richtig, denn der Text stützt eine solche Deutung eben nicht. (Die Interpreten haben sich beim Versuch der Erhellung von Wittgensteins Erörterung einfach selbst im Licht gestanden.) Doch nun sehen wir, daß Kenny an dieser Stelle meint, Wittgensteins Argumentation beruhe im Grunde auf einer weit weniger einleuchtenden Einstellung als dem konventionellen Erinnerungsskeptizismus – und weit weniger einleuchtend ist sie, weil sie eine extremere Version der gleichen Einstellung ist. Denn danach wird aus der entscheidenden These folgende Behauptung: „Wenn es möglich ist, daß ich mich nicht richtig an meine frühere hinweisende Definition von ,E‘ erinnere, weiß ich eigentlich nicht, was ,E‘ bedeutet.“ Das ist eigentlich bloß eine erweiterte Form des konventionellen Erinnerungsskeptizismus, der sich nicht mehr nur auf Urteile, sondern auch auf Bedeutungen bezieht. Außerdem ist es ein elementarer Grundsatz der Erkenntnistheorie, daß daraus, daß man etwas weiß, offensichtlich nicht folgt, daß ein Irrtum hinsichtlich dieses Etwas unmöglich ist, sondern nur, daß man sich faktisch nicht irrt.10 Was ist hier schiefgegangen? Warum vertritt Kenny, nachdem er so viele frühere Mißverständnisse korrigiert hat, zum Schluß eine Lesart der Argumentation Wittgensteins, die so abwegig ist, daß es ungereimt wäre, sie Wittgenstein zu unterstellen, ohne zunächst die Möglichkeit eines geeigneteren Anwärters auf diesen Posten in Erwägung zu ziehen? Die Antwort lautet, daß Kenny einem übersehenen Teil dieses Mißverständnisses selbst anhängt, denn ebenso wie die weitaus meisten mir bekannten Autoren geht er davon aus, daß es sogar im Fall der „privaten Sprache“ tatsächlich so etwas gibt wie die vom Privatsprachler vorgenommene Anwendung eines Zeichens auf eine private Empfindung, weshalb das Problem darin bestehe, daß man sich später an diese frühere Anwendung erinnern muß, damit „E“ überhaupt Bedeutung hat (bzw. damit der Privatsprachler die Bedeutung kennt). Demnach scheint es sich um die Frage zu handeln, ob das zugegebenermaßen fehlbare Gedächtnis des Betreffenden ausreicht, um die gemeinte Bedeutung (bzw. die Bedeutungskenntnis) zu sichern oder aufrechtzu9 Kenny 1973, S. 194. Hackers Erklärung dieser Stelle ist zwar weniger deutlich formuliert, kommt aber im wesentlichen auf das gleiche hinaus (vgl. P. M. S. Hacker 1972, S. 236). 10 Wer diesen Grundsatz nicht elementar genug findet, um eine Erläuterung überf lüssig zu finden, kann sich auf den Anfangsseiten des folgenden Artikels informieren: Winston Nesbitt, Stewart Candlish, Determinism and the ability to do otherwise, Mind 89, S. 415–420.

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erhalten. Aber warum sollte man diese Annahme gelten lassen? Was berechtigt uns zu der Annahme, daß der Privatsprachler auch nur imstande ist, zunächst einmal für sich selbst das eigene Zeichen hinweisend zu definieren? Das ist ja, wie im 4. Abschnitt unterstrichen wurde, eine der Fragen, die hier zur Debatte stehen. Außerdem zeigen PU 260 und 261, daß Wittgenstein ganz und gar nicht willens war, eine Argumentation zugunsten der privaten Sprache von dieser Annahme ausgehen zu lassen (Kenny muß PU 260 daher Gewalt antun, während er PU 261 unberücksichtigt läßt). In diesen beiden Bemerkungen erinnert Wittgenstein daran, daß schon aus früheren Abschnitten der „Philosophischen Untersuchungen“ (vgl. PU 33–35) hervorgeht, daß ein Verfahren der hinweisenden Definition nur dann zum Erfolg führt, wenn außerdem bestimmte Zusatzbedingungen erfüllt sind. Die Beschreibung des Tagebuch-Beispiels läßt nirgends erkennen, daß diese Bedingungen erfüllt wären. Erst an späterer Stelle (PU 270 f.) stellt sich Wittgenstein eine teilweise Erfüllung dieser Bedingungen vor, und dort ergibt sich das Resultat, daß es sich um eine öffentliche Sprache handeln muß. Vielfach mißverstanden wird hier Wittgensteins nachdrücklicher Hinweis, es müsse zwischen wirklichem Regelfolgen und dem bloßen Glauben, man folge einer Regel, eine Unterscheidung geben. Dieser Hinweis zieht aber nicht (wie gemeinhin angenommen wird) die Forderung und letztliche Ablehnung der „Erinnerungsunfehlbarkeit in einer privaten Sprache“ nach sich, wobei die Forderung darauf beruhen soll, daß man sich ohne Unfehlbarkeit stets irren könnte, ohne es je zu merken, während im Falle der gegebenen Unfehlbarkeit die Unterscheidung zwischen wirklichem Regelfolgen und dem bloßem Glauben, daß man der Regel folge, abgeschafft würde. In Wirklichkeit besagt Wittgensteins Argumentation folgendes: Der Privatsprachler ist nicht imstande, ausschließlich durch „private hinweisende Definition“ die Bedeutung eines Zeichens festzusetzen – denn dazu müßte die Technik des Zeichengebrauchs eingeführt werden (PU 260). Diese Technik kann, wie wir gesehen haben, nicht mit Hilfe wiederholter „hinweisender Definitionen“ funktionieren, denn dadurch wird die Unterscheidung zwischen Meinen und Wahrheit abgeschafft und somit die Möglichkeit faktenbezogener Urteile zerstört. Die sogenannte „Definition“ muß sich also auf eine andere Grundlage stützen, um die Beständigkeit des Zeichengebrauchs zu gewährleisten. Aber gerade diese Möglichkeit ist ja in Frage gestellt. Welche Bewandtnis hätte es hier mit der Beständigkeit? Was hieße es denn, „in der Art und Weise fortzufahren, in der das Zeichen verwendet wird“? Die gleiche Art und Weise wie was? Da man nicht davon ausgehen kann, daß es überhaupt eine Art und Weise der Zeichenverwendung gibt, deren Bestimmung oder gar Begründung dem Privatsprachler unabhängig von seinem späterem Eindruck der richtigen Art und Weise gelänge, müßte der Befürworter der »privaten Sprache« nachweisen, daß es eine solche Art und Weise wirklich gibt. Nun könnte es so aussehen, als wäre dieser Nachweis dadurch möglich, daß man sich auf die Erinnerung des Privatsprachlers beruft. Er erinnere sich eben daran, wie er das Zeichen zuvor verwendet hat. Und das sieht ganz unkompliziert aus, denn man meint: Gewiß

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S C

hat er damals etwas getan, denn er erinnert sich ja daran. Es ist auch gar nicht verlangt, daß seine Erinnerung unfehlbar sein muß. Aber die Erinnerung muß doch wenigstens eine Erinnerung sein, d. h. sie muß – ob zutreffend oder nicht – von etwas Bestimmtem handeln, was unabhängig von der Erinnerung daran existiert hat. Und so etwas vermag die »Erinnerung« nicht zu erschaffen. Das ist die Argumentation des Abschnitts PU 265, der oft arg mißverstanden und erkenntnistheoretisch gedeutet worden ist.11 Wieder können wir nicht voraussetzen, daß es im Falle des Privatsprachlers eine wirkliche (sei’s auch nur geistige) Tabelle der Bedeutungen gegeben hat, die er sich jetzt ins Gedächtnis ruft und bei der er sich auf sein Gedächtnis verlassen muß, denn das Original ist nicht mehr vorhanden. Es kann vielmehr – wie PU 260–264 zeigen – sein, daß nichts Bestimmteres mehr vorhanden ist als ebendiese „Erinnerung an die Tabelle“. Wenn man also meint, der Privatsprachler könne sich an die Bedeutung von „E“ erinnern, indem er sich an die früher hergestellte Verbindung zwischen dem Zeichen „E“ und einer Empfindung erinnert, setzt man voraus, was selbst erst nachgewiesen werden muß, nämlich daß es tatsächlich eine unabhängige Verbindung gegeben hat, an die man sich erinnern könne. Die Fehlbarkeit der Erinnerung – auch der Erinnerung an Bedeutungen – ist nicht zur Sache. Es geht nicht darum, daß jetzt Zweifel bestehen an der Zuverlässigkeit der Erinnerung, sondern darum, daß der Status des damaligen Geschehens zweifelhaft war. Und dieser ursprüngliche Zweifel, der nichts mit Erkenntnistheorie zu tun hat, läßt sich später nicht ausräumen, indem man sich auf „Erinnerungen“ an einen Status beruft, der in seinem Wesen von Anfang an in Zweifel stand. Das heißt, wenn es ursprünglich keine echte Verbindung gegeben hat, wird sie durch die „Erinnerung“ nicht erschaffen. Wenn wir andererseits gar nicht annehmen, daß es unabhängig von der ins Gedächtnis zu rufenden Erinnerung etwas mit dem erforderlichen Status gegeben hat, verhält es sich wieder so, daß „richtig ist, was richtig erscheint“: Die „Erinnerung“ an die „Verbindung“ wird benutzt, um sich selbst zu bestätigen, denn einen unabhängigen Zugang zur „erinnerten Verbindung“ gibt es nicht (nicht einmal den unabhängigen Zugang, den wir als Schilderer des Beispiels genießen, denn die Frage lautet, ob wir ein solches Beispiel überhaupt nennen können). Darum schreibt Wittgenstein (PU 265): „Als kaufte Einer mehrere Exemplare der heutigen Morgenzeitung, um sich zu vergewissern, daß sie die Wahrheit schreibt.“ Nun können wir die von Kenny außer acht gelassenen Abschnitte 266–268 einordnen, denn sie sind Beispiele, die die eben dargelegten Gedanken veranschaulichen.

11 Oft, aber nicht immer. Siehe z. B. v. Savigny 1969, S. 54–58.

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7.8 Bisher hat sich die Argumentation, wie oben im 3. Abschnitt angemerkt, auf Seelen ohne Verhältnis zu Körpern oder im Verhältnis zu bloß trägen Körpern bezogen. In PU 269 wird jedoch zu Beispielen übergegangen, in denen zwar körperliches Verhalten vorliegt, aber dennoch die Verlockung besteht, an etwaige – unabhängig vom öffentlichen Gebrauch der Wörter gegebene – private Bedeutungen zu denken. In diesem Zusammenhang erwähnt Wittgenstein drei Fälle, die alle normaler Art sind und deren Existenz wir auch in der Praxis zu bestimmen vermöchten. Da ist erstens der Fall dessen, der das Wort versteht; zweitens der Fall dessen, der es nicht versteht und überhaupt nichts damit anzufangen weiß; drittens der Fall dessen, der es zu verstehen glaubt und dem Wort seine eigene, unzutreffende Bedeutung beilegt. Der dritte dieser Fälle könnte, wie Wittgenstein andeutet, den Anschein erwecken, sich in solcher Weise verallgemeinern zu lassen, daß eine ganze Reihe von Lauten, die niemand sonst versteht, die aber scheinbar von ihrem Sprecher verstanden werden, uns dazu verlocken könnte, von privaten Bedeutungen hinter dem öffentlichen Verhalten zu reden. Das deutet auf eine weitere Chance für den Befürworter des Privatsprachengedankens hin: Könnte der Privatsprachler seinem Zeichen „E“ nicht vielleicht eine Bedeutung verleihen, indem er den privaten Zeichengebrauch mit einem öffentlichen Phänomen verknüpft? Das würde anscheinend dazu dienen, der Notierung „E“ im Tagebuch (PU 260) eine Funktion zu geben und damit der hinweisenden Definition einen Platz anzuweisen. Außerdem würde es wohl gewährleisten, daß dem Gebrauch, den der Privatsprachler von dem Ausdruck „E“ macht, unabhängig von seinem eigenen Eindruck der Beständigkeit tatsächlich eine gewisse Beständigkeit verliehen wird. Zur Betrachtung dieser Vorstellung bedient sich Wittgenstein in PU 270 f. des ManometerBeispiels, und seine Kritik besagt, daß diese Methode der Bedeutungsverleihung zwar funktioniert, die verliehene Bedeutung jedoch eine öffentliche ist: Der sogenannte „private Gegenstand“ erweist sich als belanglos für die Bedeutung. Der Befürworter der „privaten Sprache“ würde vermutlich hoffen, daß das Beispiel wie folgt funktionierte: Wenn ich auf der Grundlage meiner Empfindung immerfort sage, daß mein Blutdruck steigt, und das Manometer zeigt, daß ich recht habe, beweist dieser Erfolg bei der Beurteilung des eigenen Blutdrucks, daß ich dem Zeichen „E“ tatsächlich eine private Bedeutung verliehen hatte und das Zeichen nun jedesmal in der gleichen Weise für das Urteil verwendet habe, daß meine Empfindung jedesmal die gleiche war. In Wirklichkeit zeigt das Beispiel jedoch nichts weiter, als daß der bloße Glaube, jetzt die gleiche Empfindung zu haben wie seinerzeit, als mein Blutdruck stieg, ein gutes Indiz dafür sein kann, daß mein Blutdruck steigt. Ob die Empfindung „in einem privaten Sinne wirklich die gleiche“ ist oder nicht, wird völlig belanglos für die Frage der Beständigkeit des Gebrauchs von „E“. Das heißt, es gibt keine Lücke zwischen dem wirklichen Wesen der Empfindung und meinem Eindruck von dieser Empfindung.

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„E“ könnte in diesem Fall nicht mehr bedeuten als „Empfindung des steigenden Blutdrucks“. Ja, nach allem, was wir über die Rolle des Zeichens erfahren, bedeutet es vielleicht nichts weiter als „Blutdruck steigt“.

7.9 Die übliche Auffassung der Privatsprachenargumentation, die bei den Auseinandersetzungen im Rahmen der altorthodoxen Lehre von beiden Seiten vorausgesetzt wird, läuft, wie wir gesehen haben, darauf hinaus, daß sie sich erstens auf den Erinnerungsskeptizismus stützt und zweitens die These vertritt, daß dieser Skeptizismus unter Verhältnissen einer „privaten Sprache“ von spezieller und unanfechtbarer Bedeutung ist. Dieser altorthodoxen Lehre hängt auch Fogelin an, der (auf S. 162–169) zeigt, daß sie nur eine schwache Lesart der Argumentation zuläßt, und zwar eine Lesart, die Wittgenstein selbst vermutlich für schwächer als beabsichtigt erachtet hätte. Aber wie wir ebenfalls gesehen haben, beruht diese übliche Auffassung auf einer Fehldeutung des Texts; und die Hauptursache dieser Fehldeutung sind erkenntnistheoretische Vorurteile. Allerdings führt Kennys Alternativanschauung, die als Antwort auf die Feststellung dieser Fehldeutung formuliert wurde, wie wir gesehen haben, ebenfalls zu einer Lesart der Argumentation, die dermaßen verfehlt ist, daß es unvernünftig wäre, sie für eine angemessene Wiedergabe von Wittgensteins Gedankengang zu halten. Dementsprechend habe ich versucht, eine Lesart der Argumentation vorzuführen, die sich getreu an den Text hält und namentlich die alten und neuen Interpretationsfehler vermeidet. Jetzt kann man erkennen, daß es sachlich gar nichts mit all dem Gezänk um die Bedeutung der Fehlbarkeit der menschlichen Erinnerung auf sich hat, das im Rahmen der altorthodoxen Lehre aufgekommen und dann zurückgekehrt ist, um die Autoren zu plagen, die am meisten dazu beigetragen haben, dieser orthodoxen Anschauung den Garaus zu machen. Diese Feststellung löst wahrscheinlich eine weitere Frage aus. Wird der Erinnerungsskeptizismus wegen seiner Irrelevanz für die Privatsprachenargumentation ausgeschlossen, fragt es sich, ob zwei damit zusammenhängende orthodoxe Einwände ebenfalls ohne Belang sind. Der erste dieser Einwände lautet, die Argumentation widerlege sich selbst, indem sie auch die öffentliche Sprache in Acht und Bann tue. Der zweite Einwand besagt, die Argumentation widerlege sich auch deshalb, weil sie eine durchaus einleuchtende Möglichkeit ausschließe, nämlich den Fall des sogenannten „Robinson Crusoe“, der im Gegensatz zu Defoes ursprünglichem Crusoe von Geburt an allein ist, aber dennoch eine seinen eigenen Zwecken dienende Sprache ersinnt, ohne daß ihm zuvor jemand anders eine andere Sprache beigebracht hätte. Angesichts dieses zweiten Einwands erweckten Wittgensteins Befürworter einen unsicheren Eindruck, da sie viel-

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fach zu der Konzession gezwungen waren, dieser Fall werde durch die Argumentation tatsächlich ausgeschlossen, während sie die (nicht sonderlich einleuchtende) Behauptung verfochten, ein solcher Crusoe sei wirklich unmöglich und die Konzession daher harmlos. Soweit die Frage den ersten Einwand betrifft, ist sie bereits beantwortet worden. Die vermeintliche Bedrohung der öffentlichen Sprache ging einzig und allein von der Behauptung aus, daß sich der Erinnerungsskeptizismus nicht auf den privaten Fall beschränken ließe. (Ein anschauliches Beispiel ist das oben im 6. Abschnitt angeführte Kenny-Zitat.) Doch da der Skeptizismus bezüglich der Erinnerung im Rahmen der Argumentation gar keine Rolle spielt, besteht kein Grund zur Annahme, daß sich überhaupt eine Beschränkungsfrage stellt. Ebendarum steht auch die andere Eventualität gar nicht zur Debatte, nämlich die Eventualität der Selbstwiderlegung der Argumentation, weil sie eine Möglichkeit ausschließe, deren Verwirklichung uns bekannt ist, und zwar die Möglichkeit der Sprache, die wir bereits besitzen. Der oben im 7. Abschnitt erbrachte Nachweis, daß eine Berufung auf den Erinnerungsskeptizismus unterbleibt, bedeutet die Verschiebung der Beweislast von der Frage nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Erinnerung an eine hinweisende Definition auf die Frage, ob es überhaupt eine hinweisende Definition geben könne. Daher können wir die Frage mit Bezug auf den zweiten Einwand beantworten. Es liegt auf der Hand, daß eine Argumentation, in deren Brennpunkt die Frage der hinweisenden Definition steht, nicht darauf festgelegt ist, alle hypothetischen Fälle möglicher „Robinson Crusoes“ von vornherein auszuschließen. Es gibt nämlich keine apriorische Grenze, welche der Vorstellung von einer hinreichend komplexen Lebensform Einhalt geböte, in der dafür gesorgt wäre, daß ein solches Lebewesen eine bestimmte hinweisende Definition aufstellen könnte. Ein solcher Crusoe lebt im Gegensatz zu dem Privatsprachler in einer Welt, die von seinem Eindruck von dieser Welt unabhängig ist. Also bestünde in dieser Welt auch die Möglichkeit bestimmter Ereignisse, an die er sich erinnern und die er vergessen könnte. Bei einigen dieser Ereignisse könnte es sich um Verbindungen von Zeichen mit Gegenständen handeln.12

7.10 Saul Kripkes Darstellung von Wittgensteins Auseinandersetzung mit Regeln und der privaten Sprache hat zu vielen zweitstufigen Erörterungen Anlaß gegeben, die von erheblich anderer Art sind als Wittgensteins eigene Ausführungen. Diese Erörterungen bilden die dritte der oben im 1. Abschnitt unterschiedenen Interpretationskategorien. Dabei wird häufig so verfahren, als liege gar nichts an der Frage, ob Wittgensteins ei12 An dieser Stelle ergeben sich weitere Komplikationen. Siehe Canfield 1996.

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S C

gene Argumente von der Interpretation Kripkes überhaupt erfaßt werden. Heute darf man geradezu behaupten, der Ausdruck „Privatsprachenargumentation“ habe eine weitere Bedeutung erhalten, in der er sich auf Kripkes Wiedergabe dieser Argumentation bezieht. Die von Kripke verfochtene Interpretation ähnelt der hier vorgelegten insofern, als er ebenfalls die altorthodoxe Lehre ablehnt und die Abhängigkeit der Erörterung des Privatsprachenproblems von der Auseinandersetzung mit dem Regelfolgen betont. Ein Unterschied liegt darin, daß Kripke den Anfangssatz von PU 201 besonders herausstreicht: „Unser Paradox war dies: eine Regel könnte keine Handlungsweise bestimmen, da jede Handlungsweise mit der Regel in Übereinstimmung zu bringen sei.“ Dazu meint Kripke (a. a. O., S. 68/9013 ), daß „sich die Unmöglichkeit einer privaten Sprache bei Wittgenstein aus seiner skeptischen Lösung des eigenen Paradoxes“ ergebe. Doch Wittgenstein selbst wischt dieses „Paradox“ bereits im nächsten Absatz vom Tisch: „Daß da ein Mißverständnis ist, zeigt sich schon darin …“ Das wird von Kripke offenbar übersehen, denn nach seiner Auffassung wirft dieses Paradox ein echtes und tiefschürfendes Problem bezüglich des Bedeutungsbegriffs auf. Zur Veranschaulichung wählt Kripke das Beispiel der Addition. Was heißt: die Regel der Addition begreifen? Es gibt potentiell unendlich viele Anwendungsmöglichkeiten der Regel, und neben der üblichen Interpretation der Regel lassen sich auch abwegige Deutungen mit jeder endlichen Menge von Anwendungen der gewöhnlichen Art (wie 19 + 38 = 57) in Einklang bringen. Wie kommt es also, daß ich mit „plus“ die übliche – und nicht eine andere – Additionsfunktion meine? Diese Frage führt nach Kripke zu einer an Hume gemahnenden Problemstellung, auf die Wittgenstein nach Kripkes These mit einer „skeptischen Lösung“ à la Hume antwortet. Das Problem formuliert Kripke in zweierlei Weise. Die erste Formulierung lautet: „Es gibt wirklich keine Tatsache in bezug auf mich, die einen Unterschied zwischen der Situation macht, in der ich mit ,plus‘ eine bestimmte Funktion meine […], und der Situation, in der ich gar nichts meine“ (S. 21/34). Weil es keine solche Tatsache gebe, gelange Wittgenstein – wie Kripke meint – dahin, zur Erklärung der Bedeutung von Aussagen wie „Mit ,plus‘ habe ich die Addition gemeint“ nicht mehr auf Wahrheitsbedingungen zu verweisen, sondern statt dessen Behauptbarkeitsbedingungen zu nennen, bei denen nicht nur die potentielle, sondern auch die faktische Übereinstimmung der Gemeinschaft eine Rolle spiele. (Daher rührt auch die These von der „skeptischen Lösung“ [S. 68/90], denn Wittgenstein mache dem Skeptiker das Zugeständnis, daß es für solche Aussagen keine Wahrheitsbedingungen gebe.) Diese Art der Übereinstimmung berechtigt nach Kripkes Darstellung trotz des fehlenden Tatbestands zu der Behauptung, mit ,plus‘ hätte ich die Addition gemeint.

13 Seitenzahlen des Originals 1982/der Übersetzung 1987; zitiert nach 1987.

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Daß die Bedeutung in dieser Form an die Übereinstimmung in einer Gemeinschaft geknüpft wird, schließt die Möglichkeit einer privaten Sprache natürlich sofort aus und läßt die Argumentation in PU 256–271 überf lüssig erscheinen. Diese Überf lüssigkeit zwingt zu einer seltsamen Textinterpretation, deren Merkwürdigkeit durch die Feststellung unterstrichen wird, daß die erste Formulierung des skeptischen Problems auf der Voraussetzung beruht, wir hätten unabhängig vom Begriff der Wahrheit einer Aussage eine gewisse Vorstellung davon, was eine Tatsache sei. Eine der Grundeinsichten der „Philosophischen Untersuchungen“ besteht aber gerade darin, daß wir keine solche Vorstellung davon haben; die Definition von Tatsachen gelingt nur auf dem Weg über die Verwendungsweisen der sprachlichen Ausdrücke, mit deren Hilfe die Tatsachen behauptet werden. Die unverstellte Erkenntnis dieser Verwendungsweisen kann durch manche philosophische Schwierigkeit behindert werden, und oft entsprechen die Verwendungsweisen überhaupt nicht unseren Erwartungen, woraus sich dann der Eindruck ergibt, daß es keine Wahrheitsbedingungen gebe. Kripkes zweite Formulierung lautet: „Wittgenstein zieht die Verknüpfung zwischen früheren ,Intentionen‘ oder früherem ,Meinen‘ und jetziger Praxis in Zweifel, z. B. zwischen meinen früheren ,Intentionen‘ in bezug auf ,plus‘ und meiner jetzigen Rechnung“ (S. 62/83). Hier liegt der Gedanke zugrunde, durch die jeweilige Auffassung der den Gebrauch von ,plus‘ festsetzenden Regel werde nicht bestimmt, daß der Betreffende bei jeder der zahllosen neuen Rechnungen künftig eine eindeutige Antwort gibt. Der Eindruck, daß hier noch etwas fehlt, ist jedoch ein Ergebnis der oben im 2. Abschnitt gekennzeichneten Verwechslung zweier Bedeutungen des Bestimmungsbegriffs. Kripkes Analyse der Privatsprachenargumentation krankt also daran, daß er sich ohne Begründung auf Vorstellungen stützt, gegen die Wittgenstein selbst Einwände genannt hat. Dennoch ist diese Analyse so einf lußreich, daß es nunmehr eine neuorthodoxe Lehre gibt, die insofern über die altorthodoxe hinausgeht, als sie die Erörterung nicht nur unabhängig vom Text des Originals führt, sondern diese Nichtberücksichtigung in manchen Fällen stolz als entschiedenen Vorteil hinstellt.14 Meine Darstellung der Privatsprachenargumentation hat ebenfalls einen Vorteil, der allerdings weniger anspruchsvoll ist. Dieser Vorteil hat zwei Seiten: Zum einen löst meine Darstellung die Argumentation von den nicht sachdienlichen Zusätzen der altorthodoxen Lehre. Wichtiger ist zweitens, daß sie im Hinblick auf diesen zentralen Teil von Wittgensteins eigenem Text eine weder von der alt- noch von der neuorthodoxen Lehre angebotene Gesamtdeutung vorlegt, die nicht nur zeigt, daß dieser Text eine überzeugende Argumentation zur Begründung einer bedeutungsvollen Schlußfolgerung enthält, sondern auch im Sinne des ersten Abschnitts der vorliegenden Arbeit kohärent ist.

14 So z. B. Boghossian 1989.

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S C

7.11 Literatur E. v. Savigny 1969, Die Philosophie der normalen Sprache, Frankfurt a. M. P. M. S. Hacker 1972, Insight and Illusion, Oxford. A. Kenny 1973, Wittgenstein, London; deutsch: Wittgenstein, Frankfurt a. M. 1974. R. J. Fogelin 1976, Wittgenstein, London. S. A. Kripke 1982, Wittgenstein on Rules and Private Language, Oxford; deutsch: Wittgenstein über Regeln und Privatsprache, Frankfurt a. M. 1987. P. Boghossian 1989, The Rule-following Considerations, Mind 98, 507–549. J. V. Canfield 1996, The Community View, Philosophical Review 105.

Übersetzt von Joachim Schulte

8 Joachim Schulte

Denkwürdigkeiten. Mr. Ballard und der Impressionist

8.1 Denken ist kein unkörperlicher Vorgang, der dem Reden Leben und Sinn leiht, und den man vom Reden ablösen könnte, gleichsam wie der Böse den Schatten Schlemihls vom Boden abnimmt. (PU 339) Er schlug ein, kniete dann ungesäumt nieder, und mit einer bewunderungswürdigen Geschicklichkeit sah ich ihn meinen Schatten, vom Kopf bis zu meinen Füßen, leise von dem Grase lösen, aufheben, zusammenrollen und falten und zuletzt einstecken. (Adelbert von Chamisso, Peter Schlemihls wundersame Geschichte)

  : Wittgensteins Ref lexionen über psychologische Begriffe enthalten eine Darstellung fruchtloser Bemühungen, durch Isolierung geistiger Vorgänge und deren konzentrierte Betrachtung zu begriff licher Klarheit zu gelangen. Der starre Blick auf den inneren Vorgang verleitet uns zum Mißverständnis der Rolle sprachlicher Ausdrücke: „Als wäre es der Zweck des Satzes, Einen wissen zu lassen, wie es dem Andern zu Mute ist: Nur, sozusagen, im Denkapparat und nicht im Magen“ (PU 317). Das Grundmotiv der auf vielfältige Weise scheiternden Erklärungsversuche charakterisiert Wittgenstein durch das Bild des Schlemihlschen Schattens: So, wie der Böse den Schatten Schlemihls vom Boden ablöst, trachten auch wir, durch säuberliche Abtrennung einer Problemschicht Ergebnisse zu erzielen. Oft kommt dabei zunächst nicht mehr heraus, als daß wir anstelle eines wirren Knäuels von Beispielen und Begriffsverwendungen zwei (oder mehr) Begriffe vor uns haben, von denen wir uns einbilden, ihnen müßten jeweils deutlich unterscheidbare Arten von Vorgängen entsprechen, deren eingehende Betrachtung alle wichtigen Probleme lösen werde. In Wirklichkeit führt dieses Vorgehen nur zum Anfang einer philosophischen Fragestellung, denn mit der Ablösung des Schattens wird durchweg nichts weiter erreicht als eine Scheinbefriedigung, die sich der Anstrengung der geleisteten Unterscheidungsarbeit verdankt, aber keine langfristigen Klärungserfolge verbuchen kann. Ist die Trennung erst einmal vollzogen – glaubt der Philosoph, den richtigen Schlemihl vor sich und den Schatten des Mannes im Sä-

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J S

ckel zu haben –, hat es keinen Zweck, die frühere Einheit unvermittelt wiederherstellen zu wollen. Solche Risse sind durch kein bekanntes Bindemittel zu kitten, sondern nun heißt es, den getrennten Elementen auf der Spur zu bleiben, die Spaltungsresultate zu betrachten und etwaigen Schaden zu diagnostizieren. Den Schatten bekommt Schlemihl nicht zurück, ehe ihn der Böse allen möglichen Fährnissen ausgesetzt hat. Mehrere der durch philosophisches Fragen abgelösten Schatten werden von Wittgenstein aufs Korn genommen und im Verhältnis zu ihrem ursprünglichen Eigner untersucht. Ein besonders hervorstechendes Paar ist das Gespann Sprechen/Denken, bei dessen Betrachtung man zu fragen geneigt ist, ob regelrechtes Denken die Beherrschung einer Sprache voraussetzt, ob der artikulierte Satz das Gedachte angemessen wiedergibt, ob der formulierte Gedanke vor der Formulierung „fertig“ sein muß und dergleichen mehr. Immer wieder verleiten solche Problemstellungen zur intensiven Beobachtung seelischer Vorgänge und zur Annahme, mit Hilfe derartiger Beobachtungen seien die Probleme womöglich zu lösen. Jedesmal zeigt Wittgenstein, daß der Weg der Introspektion keine wirklich überzeugenden Lösungsmöglichkeiten bietet, sondern leicht in die Irre führt. Nicht selten würzt Wittgenstein seine Bemerkungen zu dieser Thematik mit einer gehörigen Portion Ironie. Das kann den verfehlten Eindruck erwecken, er wolle sich über das Verfahren der Introspektion generell lustig machen oder gar die Möglichkeit innerer Erfahrung grundsätzlich bestreiten. Manche Interpreten der „Philosophischen Untersuchungen“ übersehen nur allzu leicht, daß die von Wittgenstein als unzulänglich hingestellten und mitunter ironisierten Standpunkte zwar nur erste Schritte, aber eben auch immerhin erste Schritte sind, also Versuche und Vorschläge beinhalten können, die nicht rundweg abgelehnt und für nichtig erklärt werden müssen, sondern als Ansatzpunkte und tastende Sondierungsmanöver gedeutet werden dürfen.

8.2 Der Professor: „Wer keinen Schatten hat, gehe nicht in die Sonne, das ist das Vernünftigste und Sicherste.“ (Chamisso, Schlemihl)

.   : Thematisiert wird die Frage „Kann man denken, ohne zu reden?“ in PU 327. Der Verweis auf die Möglichkeit der Betrachtung innerer Vorgänge wird durch den Vergleich mit der weit schwierigeren Zugänglichkeit astronomischer Ereignisse offenbar als nicht sonderlich vielversprechend gekennzeichnet. Andererseits darf man nicht außer acht lassen, daß die Art der Frage den Gedanken an Selbstbeobachtung unmittelbar nahelegt. Eine dezidierte Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit sprachunabhängigen Denkens wird von William James gegeben, einem Lieblingsautor Wittgensteins. Auf diese Antwort bezieht sich Wittgenstein nicht nur in PU 342, sondern auch an anderen Stellen seiner Schriften (vgl. etwa „Zettel“ 109). James, der hier freilich nicht aus eige-

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ner Erfahrung berichten kann, zitiert das Zeugnis des notorischen Mr. Ballard, der – da von Geburt an taub und stumm – aus erster Hand bestätigen könne, bestimmte Gedanken gehabt zu haben, als er sie sprachlich noch gar nicht zu artikulieren vermochte.1 Die Worte Ballards sind eines der seltenen expliziten Zitate, die in den „Philosophischen Untersuchungen“ angeführt werden, und schon allein deshalb einer eingehenden Betrachtung wert. Wie diese Worte nach Wittgensteins Meinung zu verstehen sind, kann natürlich nur der Zusammenhang des Zitats erkennen lassen. Der Text lautet: William James, um zu zeigen, daß Denken ohne Sprechen möglich ist, zitiert die Erinnerung eines Taubstummen, Mr. Ballard, welcher schreibt, er habe in seiner frühen Jugend, noch ehe er sprechen konnte, sich über Gott und die Welt Gedanken gemacht. – Was das wohl heißen mag! – Ballard schreibt: „It was during those delightful rides, some two or three years before my initiation into the rudiments of written language, that I began to ask myself the question: how came the world into being?“– Bist du sicher, daß dies die richtige Übersetzung deiner wortlosen Gedanken in Worte ist? – möchte man fragen. Und warum reckt diese Frage – die doch sonst garnicht zu existieren scheint – hier ihren Kopf hervor? Will ich sagen, es täusche den Schreiber sein Gedächtnis? – Ich weiß nicht einmal, ob ich das sagen würde. Diese Erinnerungen sind ein seltsames Gedächtnisphänomen – und ich weiß nicht, welche Schlüsse auf die Vergangenheit des Erzählers man aus ihnen ziehen kann! (PU 342) Diese Bemerkung soll der weiteren Betrachtung als Ausgangspunkt dienen. Über ihren Sinn besteht kein Einvernehmen, und oft wird ihre Tendenz verkannt. Um weiteren Mißverständnissen vorzubeugen, soll zunächst angedeutet werden, wie PU 342 zu lesen ist: Im ersten Satz referiert Wittgenstein die These James’, Denken sei auch ohne Sprechen möglich, wie die Aussage Ballards belege, der sich als Taubstummer tiefsinnige Gedanken gemacht habe, bevor er sie in einer Sprache zu formulieren wußte. Im zweiten Satz fragt sich Wittgenstein (mit Ausrufezeichen!), was die Schilderung Ballards eigentlich bedeute. Auf diese Frage folgt das ausführliche englische Zitat aus Ballards Erinnerungen. Hier sollte man, wie gesagt, genau auf den Wortlaut achten. Der angeführte Passus dürfte auf die meisten Leser sofort unplausibel wirken. Woran liegt das? Der Grund ist wohl der, daß die Erinnerung an hocherfreuliche Ausritte in der Jugendzeit ohne weiteres glaubhaft wirkt, während die behauptete Reminiszenz an die Frage nach der Entstehung der Welt einfach nicht einleuchten will. Der erste Teil der Schilderung ist offenbar unproblematisch, weil der Hörer sie sogleich mit bestimmten Bildern in Verbindung bringt, die weder die Existenz einer komplexen Gesellschaftsord1 William James, The Principles of Psychology, Bd. 1, (1890) Nachdruck New York 1950, 266–269.

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J S

nung noch raffinierte begriff liche Hilfsmittel voraussetzen. Die Erinnerung an prächtige Ausritte – etwa in herrlicher Landschaft, bei strahlendem Sonnenschein und auf treuen Pferden – können wir als Erlebnisbericht aus der frühen Kindheit ebenso leicht glauben wie als Darstellung der Eindrücke eines Neandertalers, dem sie von einem Romancier zugeschrieben werden (man denke etwa an William Goldings Inheritors). Der Erinnerungsbericht wirkt einleuchtend, weil die in der Erinnerungsbehauptung wiedergegebene Wahrnehmung keiner anspruchsvollen begriff lichen Mittel bedarf. Der zweite Teil des Erinnerungsberichts löst dagegen ungläubiges Staunen aus: Dieser Mensch soll sich unter diesen Bedingungen gefragt haben, wie die Welt entstanden sei! In welcher Weise kann er sich das gefragt haben? Der wichtigste Grund unseres Zweifels wird von Ballard selbst genannt und unterstreicht somit die unmittelbare Unplausibilität seines Berichts, denn indem er ausdrücklich betont, die geschilderten Eindrücke stammten aus einer Zeit lange vor dem Erlernen seiner ersten Sprache, stößt er den Hörer geradezu auf den Einwand, eine Frage wie die nach der Entstehung der Welt sei ohne Sprachbeherrschung und Kenntnis der entsprechenden begriff lichen Mittel gar nicht denkbar. Diesem naheliegenden – und von Ballard (bzw. James) nahegelegten – Einwand mangelt es gewiß nicht an Überzeugungskraft. Aber was in die Augen zu springen scheint, verdeckt oft ein kompliziertes Gef lecht von Voraussetzungen und Vorurteilen. Deshalb sollten wir uns die Ausgangssituation genauer anschauen: Nicht nur dem taubstummen kleinen Ballard, sondern jedem Kind und jedem Neandertaler würden wir die Fähigkeit absprechen, die Frage nach der Entstehung der Welt in der von Ballard angedeuteten Form zu stellen. Mit der Sprachkenntnis als solcher hätte das wenig zu tun, aber viel mit anderen Kenntnissen oder Umgebungsbedingungen. Weder dem Taubstummen noch dem kleinen Kind, noch dem Neandertaler würden wir die Behauptung glauben „Damals begann ich mir die Frage zu stellen: ,Wie ist es zur Entstehung der Welt gekommen?‘“. Nicht glauben würden wir sie aus ähnlichen Gründen wie denen, die auch manche Darstellung des ersten Teils von Ballards Erinnerungsbericht jeglicher Plausibilität berauben könnten: Hätte Ballard es nicht bei der bloßen Erwähnung erfreulicher Ausritte belassen, sondern den erlebten Eindruck mit Gemälden von Caspar David Friedrich oder Fragonard, mit Gedichten von Keats oder Walt Whitman, mit Symphonien von Haydn oder Tschaikowsky verglichen und behauptet, ebendies seien seine damaligen Impressionen gewesen, hätten wir uns nicht ohne weiteres von der Zuverlässigkeit seines Berichts überzeugen lassen. Und der Grund unseres Mißtrauens hätte auf der Hand gelegen, denn weder dem jungen Taubstummen noch einem Kind oder einem Neandertaler könnten einleuchtend die für derartige Vergleiche nötigen Kenntnisse unterstellt werden. Dabei beinhaltet „Kenntnisse“ nicht nur ein bestimmtes Vokabular und die unmittelbare sinnliche Bekanntschaft mit den genannten Kunstwerken, sondern auch die komplizierte praktische Fähigkeit zum selbständigen Anstellen solcher Vergleiche. Dagegen hätten wir keine (zumindest nicht die gleiche Art von)

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Schwierigkeit mit einem Erinnerungsbericht der folgenden Art: „Was ich damals (als junger Taubstummer, Kind, Neandertaler) empfand, erinnert mich (mit allen Kulturwassern gewaschenen, erwachsenen und zivilisierten Menschen der Neuzeit) an Prousts Schilderung von Vermeers Ansicht von Delft (oder dergleichen).“ Sofern dieser Satz Probleme aufwirft, sind sie anderer Art als beim vorigen Beispiel, denn dieser neue Satz handelt im wesentlichen von meiner jetzigen Person und nur indirekt von meinem damaligen Zustand. Der erste Teil von Ballards Erinnerungsbericht läßt sich also in einer Weise umformulieren, die zu ähnlichen Problemen und zu einer ähnlich ungläubigen Reaktion Anlaß gibt wie seine Frage nach der Entstehung der Welt. Daher sollte man sich überlegen, ob dieser zweite Teil des Erinnerungsberichts vielleicht anders gefaßt und so ausgedrückt werden könnte, daß wir nicht mehr mit ungläubigem Zweifel darauf reagieren. Hier bietet sich eine Wiedergabe wie die folgende an: „Was ich damals empfand, war ein tiefes Erstaunen über das Wunder des Seienden, in dem ich heute erste Ansätze zur Frage nach der Entstehung der Welt erblicke.“ Aber das wäre natürlich keine Umformulierung von Ballards zitierter Erinnerungsbehauptung, sondern eine völlig veränderte Schilderung der damaligen (wie der jetzigen) Situation. Eine weitere Möglichkeit wäre die, daß Ballard auf die Frage nach dem wahren Sinn seines Berichts ein wenig zurücksteckt und erläuternd fortfährt: „Ich empfand angesichts der Schönheit der Welt großes Staunen und den Drang, mir das Woher dieses herrlichen Anblicks verständlich zu machen.“ Diese oder eine ähnliche Formulierung hätte den Vorteil der schützenden Vagheit. Die Empfindungen des Staunens und der nicht exakt gekennzeichneten Neugier sind so unbestimmt, daß wir sie auch jungen Taubstummen, Kindern, Neandertalern und mitunter sogar Tieren zuschreiben. Gewiß spielt hier die Sprachbeherrschung eine Rolle, aber allein entscheidend ist sie nicht. Mindestens ebenso ausschlaggebend ist, daß wir den Ausdruck „Frage nach der Entstehung der Welt“ sogleich mit naturwissenschaftlichen, philosophischen oder theologischen Gedanken in Verbindung bringen. Diese Gedanken involvieren zwar – im Gegensatz zum vagen Staunen und zur nicht genauer bestimmten Neugier – sprachliche Artikulierungsfähigkeiten, aber es sind nicht allein diese Fähigkeiten, sondern vor allem jene Gedanken, die wir dem jungen Taubstummen ebensowenig zuzubilligen bereit sind wie einem Kind oder einem Neandertaler. Mit der soeben angedeuteten vageren Formulierung von Ballards Bericht kommen wir in die Nähe von Wittgensteins folgendem Satz. Der besagt nämlich, daß man angesichts des zitierten Berichts von Ballard fragen möchte, ob er mit seiner Wiedergabe die seinerzeit wortlosen Gedanken richtig in Worte übersetzt habe. Die angedeutete vagere Formulierung wäre dann eine Möglichkeit, auf diese Frage zu antworten. Doch die Frage selbst enthält eine Merkwürdigkeit, die Wittgenstein betont, indem er darauf hinweist, daß sie sonst gar nicht zu existieren scheine, gerade hier aber ihren Kopf her-

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vorrecke. Die Übersetzung wortloser Gedanken in Worte – können wir uns von dieser Vorstellung einen Begriff oder immerhin ein Bild machen? Die hier angeschnittene Problematik steht im Mittelpunkt nicht nur von PU 342, sondern offenkundig auch einer ganzen Reihe weiterer Ref lexionen dieses Kontexts. Ehe diese Problematik eingehender besprochen wird, seien einige kurze Bemerkungen zu den letzten drei Sätzen von PU 342 eingefügt, um häufig anzutreffenden Mißverständnissen zu begegnen: Die Frage nach der Richtigkeit der Übersetzung wortloser Gedanken in Worte könnte zwar eine Frage nach der Zuverlässigkeit des Gedächtnisses sein, aber darauf kommt es, wie Wittgenstein darlegt, in diesem Zusammenhang nicht an. Dennoch spielt das Gedächtnis hier eine wichtige Rolle. Denn Ballards Worte sind ein „Gedächtnisphänomen“, und zwar ein „seltsames“. Das heißt nun allerdings nicht, wie Hacker in seinen exegetischen Ausführungen zu dieser Textstelle schreibt, das Gedächtnisphänomen sei durch und durch irrig („an aberration“) und verdiene die Kennzeichnung „eine seltsame Reaktion […], mit der wir nichts anzufangen wissen“ (PU 288).2 Was Wittgenstein tatsächlich sagt, ist, daß dieses Gedächtnisphänomen keine klare Auskunft darüber gibt, welche Schlüsse daraus auf die Vergangenheit des Betreffenden gezogen werden können. Das soll doch wohl heißen, daß die Mehrzahl der „Gedächtnisphänomene“ Schlüsse auf die Vergangenheit der gemeinten Person zuläßt oder sogar nahelegt. So kann meine Abwehrreaktion gegen Nachbar Schmitzens Hund ein Gedächtnisphänomen sein, aus dem Schmitz unmittelbar folgern kann, daß ich entweder mit seinem oder einem anderen Hund in der Vergangenheit ein unangenehmes Erlebnis gehabt habe. Erinnerungen sind normalerweise ganz und gar nicht „seltsame“ Gedächtnisphänomene, sondern im Regelfall das direkteste und oft zuverlässigste Mittel, um Schlüsse auf die Vergangenheit des Betreffenden zu ziehen. Doch nun meint Wittgenstein, Ballards Erinnerungen seien ein Gedächtnisphänomen, dessen Seltsamkeit darin liege, daß man nicht wisse, welche Schlüsse aus ihnen auf die Vergangenheit gezogen werden können. Um einzusehen, warum hier keine Schlüsse auf die relevante Vergangenheit möglich sind, sollten wir uns die vagere Formulierung von Ballards Bericht ins Gedächtnis rufen. In dieser Formulierung ist nur von den Empfindungen des Staunens und der Neugier die Rede. Das ist eine Form des Berichts, die – als Erinnerungsphänomen betrachtet – eine Reihe von Schlüssen auf die Vergangenheit des Sprechers zuläßt: Man kann sich ganz gut ausmalen, wie der junge Ballard auf seinem Pferd sitzt und beim Anblick der Landschaft eine Begeisterung empfindet, die Staunen und Neugier aufkommen läßt. Wer Ballards Empfindungen schildern wollte, könnte auch Worte wie „Woher das alles?“ oder dergleichen benutzen. Ähnlich verfährt man ja gelegentlich bei der Wiedergabe der Empfindungen von Tieren, Kindern oder Neandertalern. Aber ebenso, wie es unangebracht wäre, diesen Wesen Vergleiche mit Proust oder Fragonard 2 P. M. S. Hacker 1990, 367.

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in den Mund (oder Verstand) zu legen, wäre es völlig verfehlt, Ballard die Beschäftigung mit der Frage nach der Entstehung der Welt zu unterstellen. Woran liegt das? Wir haben ganz schematisch mehrere Arten des Berichts unterschieden: 1) allgemeine Schilderung der Empfindungen, 2) Unterstellung einer primitiven Frage, die den Gemütszustand resümieren soll, 3) Ersetzung der primitiven durch eine präziser gefaßte und theoretische Kontexte involvierende Frage.3 Da könnte es so aussehen, als hätte man hier eine Art von Progression vor sich, die Übergänge von 1) zu 2) und von 2) zu 3) gestatten müßte. Aber so ist es eben nicht. Die Geschichte läßt sich, wie wir gesehen haben, so erzählen, daß man mit einem gewissen Recht von 1) nach 2) gelangt, aber wenn man dann von 2) nach 3) fortschreitet, geht der Zusammenhang mit 1) verloren. Würde man eine andere Geschichte (NB „eine andere Geschichte“ – nicht „diese Geschichte anders“) erzählen, könnte man zwar von 2) nach 3) fortschreiten, aber in keinem der erwogenen Fälle können aus 3) Schlüsse auf 1) gezogen werden.

8.3 „Ein Tisch denkt nicht“ ist nicht vergleichbar einer Aussage wie „Ein Tisch wächst nicht“. (Ich wüßte gar nicht, ,wie das wäre, wenn‘ ein Tisch dächte.) Und hier gibt es offenbar einen graduellen Übergang zu dem Fall des Menschen. („Zettel“ 129)

: Diese Überlegungen dienen der Vorbereitung auf die Betrachtung von Wittgensteins oben bereits genannter Zentralfrage: „Bist du sicher, daß dies die richtige Übersetzung deiner wortlosen Gedanken in Worte ist?“ Vorhin haben wir mögliche Umformulierungen von Ballards Bericht betrachtet und dabei (extrem schematisch, versteht sich) drei Stadien unterschieden. Dieses Dreistadienschema könnte man nun durch Analogie auf den Fall der „Übersetzung“ zu übertragen versuchen. Doch dabei wird man alsbald bemerken, daß dieser Versuch der Übertragung nicht gelingt. Eine Übersetzung führt von einer Sprache zur anderen oder von einem sprachähnlichen System zum anderen, aber man kann weder aus jedem beliebigen System in jedes andere übersetzen, noch darf man die Wiedergabe oder Schilderung eines Sachverhalts mit einer Übersetzung des Sachverhalts in eine Sprache oder ein sprachähnliches Gebilde verwechseln. Es mag zwar angehen, Empfindungen durch Worte, bildliche Darstellungen oder auch Musik wiederzugeben; aber sie werden auf diese Weise nicht übersetzt. Man kann zwar aus dem Deutschen ins Englische und in gewissem Sinne auch aus einem malerischen oder musikalischen Stil in einen anderen übersetzen, aber nicht von der Malerei in die 3 Das hier und beim Impressionisten-Beispiel verwendete Verfahren der schrittweisen Substitution ist in dieser spezifischen Form von PU 530 f. angeregt. Vgl. PU 531, in dem sich auch die am Schluß dieses Aufsatzes angedeutete Folgerung abzeichnet: „Wir reden vom Verstehen eines Satzes in dem Sinne, in welchem er durch einen andern ersetzt werden kann, der das Gleiche sagt; aber auch in dem Sinne, in welchem er durch keinen andern ersetzt werden kann. (So wenig wie ein musikalisches Thema durch ein anderes.)“

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Musik oder von der Musik in Lyrik. Zwischen solchen Kunstäußerungen kann es zwar Ähnlichkeiten und Entsprechungen (sowie Disparitäten und „Reibungen“ usw.) geben, aber Übersetzung findet einfach nicht statt. Es gibt dementsprechend keine Übersetzung von 1) [Empfindungen des Staunens und der Neugier] in 2) [vage Formulierung à la „Woher das alles?“ oder dergleichen], während 3) unter manchen Umständen – bei veränderter „Geschichte“ – als präzisierende Paraphrase und insofern als eine Art von Übersetzung von 2) in eine „exaktere“ oder eine „stärker theoriebeladene“ Sprache gedeutet werden könnte. Auf diesem gewundenen Weg sind wir nun zu einer Antwort auf die Frage gelangt, ob Ballard sicher sein könne, die wortlosen Gedanken aus der Zeit vor dem Erlernen einer Sprache richtig in Worte übersetzt zu haben. Nein, er kann nicht sicher sein, weil es hier gar keine Übersetzung geben kann. Die beiden relevanten Bereiche – wortlose Gedanken einerseits und Wortsprache andererseits – stehen nicht in einem Verhältnis möglicher Übersetzbarkeit zueinander. Ebendarum ist Ballards Formulierung, er habe sich damals die Frage nach der Entstehung der Welt gestellt, ein seltsames Gedächtnisphänomen, das keine Schlüsse auf die Vergangenheit zuläßt; denn man weiß einfach nicht, auf welchem Weg man von dieser Fragestellung zu einer nachvollziehbaren Gemütsverfassung des jungen Ballard zurückschreiten könnte. Welche Übersetzungsmanöver von Lermontows russischer Fassung des Goethe-Gedichts „Über allen Gipfeln ist Ruh“ zum deutschen Original zurückführen, kann man Schritt für Schritt aufzeigen.4 Dagegen verhält sich Ballard in Wittgensteins Beispiel wie ein Komponist, der behauptet, seine symphonische Dichtung Also sprach Zarathustra sei eine Übersetzung von Nietzsches Also sprach Zarathustra. Es mag zwar sein, daß er bestimmte Szenen aus Nietzsches Buch in irgendeinem Sinne wiedergegeben hat, aber eine Übersetzung ist das eben nicht. Lenkt man den Blick nun auf die umfassendere Thematik von PU 316 ff., also die Frage nach der Bedeutung des Begriffs „denken“ – insbesondere nach dem Verhältnis des Denkens zum Sprechen –, geht die Tendenz der bisher angestellten Überlegungen offenbar in Richtung der Folgerung, daß Denken und Sprechen nicht im Verhältnis ineinander übersetzbarer, sprachähnlicher Systeme stehen. Dabei beruhte die Frage, die überhaupt erst zur Annahme eines solchen Verhältnisses führte, auf der zusätzlichen Vorstellung, daß Denken und Sprechen separate (bzw. separierbare) Vorgänge sind, die gleichzeitig oder nacheinander ablaufen können. Sowohl die Unterstellung eines Verhältnisses der Übersetzbarkeit als auch die Annahme der Separierbarkeit von Denk- und Sprechvorgängen sind offenbar Objekte von Wittgensteins Kritik in PU 316 ff.; doch diese Kritik wird größtenteils nicht direkt geübt, sondern auf Umwegen, die z. B. durch die Betrachtung von Ballards Erinnerungsbericht angedeutet werden. Die Indirektheit 4 Ganz andere Schritte würden vom zweiten Nachtlied des Wandrers zu Ringelnatz’ Abendgebet einer erkälteten Negerin führen.

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der Kritik hat zur Folge, daß die wirkliche Tragweite und die effektive Schlagkraft der impliziten Gedanken erschlossen werden müssen und daher, je nach Standpunkt des Interpreten, ganz unterschiedlich eingeschätzt werden können. So möchte mancher vielleicht zu bedenken geben, daß dem Begriff der Übersetzung in der oben umrissenen Interpretation zuviel Gewicht beigemessen und eine zu buchstäbliche Deutung gegeben worden ist. Es könne doch sein, daß dieser Begriff eher bildlich verstanden und „übersetzen“ im Sinne eines an weniger fest umrissene Bedingungen gebundenen Übertragungsvorgangs gedeutet werden müsse. Man denke etwa an PU 335, in dem der Begriff „übersetzen“ explizit metaphorisch gebraucht wird: Was geschieht, wenn wir uns bemühen – etwa beim Schreiben eines Briefes – den richtigen Ausdruck für unsere Gedanken zu finden? – Diese Redeweise vergleicht den Vorgang dem einer Übersetzung, oder Beschreibung: Die Gedanken sind da (etwa schon vorher) und wir suchen nur noch nach ihrem Ausdruck. Dieses Bild trifft für verschiedene Fälle mehr, oder weniger zu. – Aber was kann hier nicht alles geschehen! – Ich gebe mich einer Stimmung hin, und der Ausdruck kommt. Oder: es schwebt mir ein Bild vor, das ich zu beschreiben trachte. Oder: es fiel mir ein englischer Ausdruck ein, und ich will mich auf den entsprechenden deutschen besinnen. Oder: ich mache eine Gebärde, und frage mich: „Welches sind die Worte, die dieser Gebärde entsprechen?“ Etc. Richtig ist, daß die Suche nach dem angemessenen Ausdruck eines Gedankens hier mit einer Übersetzung verglichen und dieser Vergleich als Bild bezeichnet wird. Doch dabei darf nicht übersehen werden, daß Wittgenstein erstens zwischen „Übersetzung“ und „Beschreibung“ unterscheidet („vergleicht den Vorgang dem einer Übersetzung, oder Beschreibung“) und daß die vier genannten Beispiele unterschiedlicher Art sind und nicht alle dem „Bild“ der Übersetzung entsprechen. Das dritte dieser vier Beispiele ist ein Fall von Übersetzung im alltäglichsten Sinne des Begriffes, während es sich im zweiten und vierten Beispiel um Beschreibungen handelt. Das erste Beispiel ist kurios, denn es ist nicht leicht zu erkennen, inwiefern hier Übersetzen oder Beschreiben überhaupt ins Spiel kommen. Wenn ich mich einer Stimmung hingebe und sich der angemessene Ausdruck wie von selbst einstellt, kann eine Beschreibung vorliegen, falls der Ausdruck die Stimmung erkennbar charakterisiert. Das Besondere an der Situation ist wohl die gleichsam automatische Art und Weise, in der dem Betreffenden die Formulierung in den Sinn kommt. Aber darf man diese Mühelosigkeit als übersetzungstypisch kennzeichnen? Sicher nicht. Oder möchte man von „Übersetzung“ sprechen, weil es hier ein Richtig und ein Falsch, ein Passend und ein Unpassend gibt? Diese Merkmale reichen gewiß nicht aus, um die Anwendung des Begriffs der Übersetzung zu rechtfertigen. Höchstens kann man sagen, daß die Art, in der sich der stimmungsadäquate

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Ausdruck einstellt, der ähnelt, in der eine mühelose Übersetzung gelingt, insofern man nicht anzugeben weiß, wie man das Ergebnis erreicht hat, obwohl man meint, auf einem bestimmten (vorgegebenen?) Weg dorthin gelangt zu sein. Das Übersetzen eines Satzes p der Sprache A in den Satz q der Sprache B beinhaltet ein Deuten des einen Satzes durch den anderen, das vor allem mit Hilfe der vom Sprachwechsel bewirkten Kontextveränderung zuwege gebracht wird. Erkennbar wird die Interpretationsleistung aber erst, wenn man p und q nebeneinanderhalten und in ihrem Verhältnis beurteilen kann. Eine solche Betrachtung zeigt jedoch zugleich, daß p und q stets ihrem Kontext verhaftet bleiben müssen, daß auch die gelungenste Übersetzung das Original da läßt, wo es immer schon war, nämlich in der Sprache, in der es zu Hause ist und aus der es auf keinem Wege herausgeführt werden kann. Diese Einsicht führt zu einem Gefühl der Ohnmacht, der Unzulänglichkeit, das sich trotz der vorliegenden Übersetzung einstellt. Aber es ist ein völlig anderes Gefühl als die Ohnmacht oder Unzulänglichkeit, die jemand empfindet, der die Sprache A gar nicht versteht und keine Übersetzung q kennt. Wittgensteins Erwägungen deuten darauf hin, daß Denken und Sprechen noch viel weiter auseinanderliegen können als A und B für den Sprachkundigen. Denn beim Verhältnis Denken/Sprechen ist noch nicht einmal klar, wie man von der einen Seite auf die andere gelangen könnte oder was – um im Bild zu bleiben – jemand lernen müßte, um vom einen Medium ins andere zu „übersetzen“.

8.4  –  : Immer wieder geht es in PU 316 ff. um das Verhältnis Sprechen/Denken. Mal wird das Denken als eine Art inneres Sprechen aufgefaßt, mal als ein wortloser, aber sprachähnlicher Vorgang, der bestimmte Übergänge zur sprachlichen Formulierung nahelegt, gestattet oder gar vorschreibt. Jedesmal zeigt sich, daß diese Auffassung zu Ungereimtheiten führt, daß die zunächst einleuchtend wirkende Vorstellung von übersetzungsähnlichen Übergängen nicht zu halten ist. Ganz ähnliche Probleme tauchen auch in anderen Zusammenhängen von Wittgensteins Erörterungen psychologischer Begriffe auf. Betrachten wir etwa den Abschnitt PU 368, der zur Erörterung des Begriffs „Vorstellung“ („sich etwas vorstellen“) gehört. Diese Bemerkung lautet: Ich beschreibe Einem ein Zimmer, und lasse ihn dann, zum Zeichen, daß er meine Beschreibung verstanden hat, ein impressionistisches Bild nach dieser Beschreibung malen. – Er malt nun die Stühle, die in meiner Beschreibung grün hießen, dunkelrot; wo ich „gelb“ sagte, malt er blau. – Das ist der Eindruck, den er von diesem Zimmer erhielt. Und nun sage ich: „Ganz richtig; so sieht es aus.“

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Hier ist zunächst folgendes festzuhalten: a) Der Schluß wirkt überraschend, weil er eine Art Widerspruch zu enthalten scheint. b) Die geschilderte Situation beinhaltet mehrere Übergänge, die übersetzungsartigen Charakter haben. Demnach können wir hoffen, durch Parallelbetrachtung Aufschluß über die Ballard-Problematik zu gewinnen. Vergegenwärtigen wir uns die von Wittgenstein geschilderte Situation! Zwei Personen sind beteiligt: Lynkeus, der Schilderer des Gesehenen, und Déjàvu, der in vielen Pinselführungstechniken erfahrene Kunstmaler. Lynkeus beschreibt ein Zimmer, und er beschreibt es sehr genau, denn er nennt sogar die Farben der diversen Möbelstücke. Nun fordert er den malgewandten Déjàvu auf, das beschriebene Zimmer in impressionistischer Manier wiederzugeben. (An dieser Stelle gehen Hackers exegetische Erläuterungen übrigens zu weit: Er behauptet, Lynkeus wolle mit seiner Beschreibung vor allem die Stimmung des Zimmers darstellen und Déjàvu habe die Aufgabe, in erster Linie das Atmosphärische des Raums wiederzugeben. Für beide Annahmen gibt es im Text keine Grundlage;5 vor allem sind sie überf lüssig.) Déjàvu führt die gestellte Aufgabe aus, aber er verändert die in Lynkeus’ Schilderung explizit genannten Farben in eklatanter Weise: aus grünen Stühlen werden dunkelrote; aus gelben Gegenständen werden blaue usw. Diese Darstellung entspricht dem Eindruck, den Déjàvu durch Lynkeus’ Beschreibung gewonnen hat. Und jetzt kommt der Clou: Lynkeus, der sehen wollte, ob Déjàvu die „Beschreibung verstanden hat“, sagt angesichts des danach gemalten Bildes: „Ganz richtig; so sieht es aus.“ Dieses Urteil scheint einen offensichtlichen Widerspruch zu enthalten, denn die ursprüngliche Beschreibung enthielt genaue Farbangaben, von denen die gemalte Wiedergabe auffallend abweicht. Wie kann man da behaupten, daß sowohl die Beschreibung als auch das Gemälde den gemeinten Gegenstand – das Zimmer – richtig darstellen? Zunächst ist es wichtig, den Überblick über die verschiedenen Schritte zu behalten: 1. Lynkeus gibt seine Schilderung des Zimmers. 2. Déjàvu macht sich eine Vorstellung von dem beschriebenen Zimmer. 3. Déjàvu malt ein impressionistisches Bild, das seine Vorstellung von dem Zimmer wiedergeben soll; das Bild weicht in wichtiger Hinsicht von explizit genannten Elementen der Schilderung ab. 4. Lynkeus bestätigt, daß das Gemälde eine zutreffende Darstellung des Zimmers enthalte. Eine Möglichkeit bestünde nun freilich darin, daß sich Lynkeus hinsichtlich der Farben geirrt und Déjàvu die Beschreibung (intuitiv? anhand kontextbezogener Überlegungen?) korrigiert hat. Das ist aber sicher nicht gemeint, und Wittgensteins Text enthält keinen Hinweis auf diese Möglichkeit. Wichtig ist, daß Déjàvu ein impressionistisches Bild malen soll. Diese Aufgabe gestattet in mancher Hinsicht gewisse Freiheiten, verlangt aber gleichzeitig ein beträchtliches Maß an Übereinstimmung mit dem Original, also dem durch Lynkeus’ Beschreibung 5 Es sei denn, man interpretiert „impressionistisch“ unnötigerweise im Sinne von „atmosphärisch“ oder „stimmungsgeladen“.

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vermittelten Aussehen des Zimmers. Denn wenn sich Déjàvu an eine besonders realistische Stilrichtung hätte halten müssen, wäre die einschneidende Änderung der Farben ein Verstoß gewesen und hätte von Lynkeus als Fehler erkannt werden müssen. Wäre dagegen eine abstrakte „Darstellung“ zugelassen, könnte das Bild derart frei sein, daß von Richtigkeit oder gar Übereinstimmung überhaupt nicht die Rede sein dürfte, denn dann wäre praktisch jedes stilkonforme Bild mit der Aufgabenstellung vereinbar. Aber die so gegebene Möglichkeit der Ausbalancierung von Darstellungsfreiheit und Entsprechungswunsch schafft die Probleme nicht aus der Welt. Wie lassen sich die vorhin aufgezählten Schritte 1. bis 4. rechtfertigen? Von 1. nach 2.: Lynkeus gibt anhand seiner Erinnerung an ein bestimmtes Zimmer (womöglich unter Hinzuziehung von Photographien, Skizzen, Notizen, Einbildungskraft usw.) in Sätzen eine Beschreibung des Zimmers. Déjàvu hört zu und macht sich eine Vorstellung von diesem Zimmer. Déjàvus Vorstellung wird von zahlreichen Eindrücken geprägt sein, von Erinnerungen, Assoziationen, Ansichten über Lynkeus und anderem mehr. Diese Vorstellung enthält zweifellos ein bildliches Element, denn es handelt sich um die Beschreibung des Aussehens des Zimmers, und Déjàvu ist ein Maler, der dieses Zimmer durch ein Bild darstellen soll. Nun darf man zwar sicher sagen, daß von dem Zimmer über Lynkeus’ Beschreibung gewisse Projektionslinien bis zu Déjàvus Vorstellung führen, aber diese Projektionslinien lassen notgedrungen vieles vage. Steht im Zimmer der Schrank rechts vom Tisch (sRt), so wird man diese Relation sRt vielleicht auch in Lynkeus’ Beschreibung und in Déjàvus Vorstellung wiederfinden. Aber mit Sicherheit gibt es eine extrem hohe Zahl von Relationen im Zimmer, die weder in der Beschreibung noch in der Vorstellung auftauchen. Außerdem werden in der Beschreibung Relationen genannt, die Déjàvu mit oder ohne Grund aus seiner Vorstellung ausläßt, und umgekehrt wird in der Vorstellung aus eigener Aktivität sicher das eine oder andere Moment hinzugefügt bzw. verändert. Ein Großteil von übereinstimmenden Elementen und Relationen muß sowohl in der Beschreibung als auch in der Vorstellung gegeben sein, sonst könnte von einer Gleichbezüglichkeit der beiden einfach nicht die Rede sein. Aber völlige numerische bzw. qualitative Gleichheit ist weder erreichbar noch nötig. Von 2. nach 3.: Auf der Basis seiner anhand von Lynkeus’ Beschreibung gewonnenen Vorstellung malt Déjàvu ein Bild des Zimmers. Das Bild soll seinen Eindruck wiedergeben. Daher wird die Vorstellung (2.) eine wichtige Rolle spielen, die ihr in anderen Zusammenhängen sicher nicht zukäme. Wir können die übereinstimmende Elemente und Relationen verbindenden Projektionslinien also getrost über die Vorstellung hinaus verlängern und bis zum Bild (3.) fortsetzen. Von 3. nach 4.: Lynkeus betrachtet Déjàvus Bild und stellt fest: „Ganz richtig; so sieht es aus.“ Er sagt nicht, es sei eine ungefähr oder in mancher Hinsicht zutreffende Wiedergabe. Nein, das Bild sei eine genau getroffene Darstellung des Zimmers. Das Bild

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entspreche seiner Beschreibung und, soweit er sehe, auch dem Aussehen des Zimmers selbst. Hier ist klar: die Projektionslinien können nicht bis zur 4. Stufe durchgezogen werden. Zwischen 1. und 4. besteht ein unüberbrückbarer Gegensatz. Die Beschreibung Lynkeus’ läßt sich nicht widerspruchsfrei mit seiner Zustimmung zu Déjàvus Bild in Einklang bringen, denn Lynkeus’ Aussagen über die Farben der Dinge sind mit dem Bild nicht zu vereinbaren. Irgendwo sitzt hier ein Fehler, eine Ungereimtheit. Aber wo? Die erste Möglichkeit, die wir jedoch sogleich ausschließen müssen, wäre die, daß sich Lynkeus geirrt hat – entweder 1. oder 4. (oder beide) seien falsch. Diese Möglichkeit müssen wir deshalb ausschließen, weil die gegebene Darstellung – die in PU 368 erzählte Geschichte – durchaus plausibel und nachvollziehbar ist. Vielleicht stutzen wir zunächst wegen des augenscheinlichen Gegensatzes zwischen 1. und 4., aber dann sehen wir ein, daß sich die Sache genau so zutragen kann und verständlich ist. Der Anschein der Widersprüchlichkeit muß sich also irgendwie beseitigen lassen. Die zweite Möglichkeit ist die, daß unsere schematische Wiedergabe einen Fehler oder ein irreführendes Moment enthält. Ebendas ist, wie ich meine, die Möglichkeit, auf die Wittgenstein hinauswill. Das angedeutete Schema enthält zwei maßgebliche Elemente: erstens die Einteilung in klar getrennte Stufen, zweitens das Bild der Projektionslinie (und die Projektionslinie wiederum gleicht den Übersetzungsschritten des Ballard-Beispiels). Beides sind sicher zulässige Mittel der Darstellung, aber sie können offenbar irreführend wirken. Diese Wirkung haben sie vor allem dann, wenn man verkennt, daß Stufeneinteilungen ebenso wie Projektionslinien Mittel analytischer oder deskriptiver Verfahrensweisen sind, die nachträglich an einen Vorgang, eine Geschichte, ein Phänomen oder anderes herangetragen werden, um auf diese Weise zu besserem Verständnis zu gelangen. Den angestrebten Zweck können sie erfüllen, aber es kann auch geschehen, daß man durch die Anwendung dieser Mittel den Eindruck gewinnt, der Stufeneinteilung entsprächen in der Wirklichkeit (bzw. in unserem Bewußtsein, in der Sprache usw.) korrespondierende Abläufe, Mechanismen oder Systeme, die wie die Räder einer Gangschaltung so miteinander verbunden sind, daß ein Gang gleichsam notwendig auf den anderen folgt, nur nach dem anderen eingelegt werden kann und im Rahmen der gegebenen Konfiguration den Schluß zuläßt, welche Gänge vorher geschaltet wurden. Den mechanischen Abläufen in der Sache oder im betrachteten System entsprächen Projektionslinien, die in komplizierteren und offensichtlich nicht mechanischen Fällen zwar nicht soviel Stringenz und Exaktheit in Anspruch nehmen können, aber trotzdem nichts von ihrem geometrisch-strengen Charakter einbüßen. Das ist die Vorstellung, die in der einen oder anderen Form die von Wittgenstein monierte Art des Irrtums auslöst: Stufeneinteilung und das Durchziehen von Projektionslinien suggerieren eine Determiniertheit der betrachteten Sachverhalte, die vergessen läßt, daß ihre Systematizität nur erborgt und die unterstellten Verbindungen nur Schatten eines Mittels der anschaulichen Darstellung sind.

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Beziehen wir diese allgemeinen Erkenntnisse zurück auf das Beispiel der impressionistischen Wiedergabe des Zimmers, ergibt sich, daß Stufeneinteilung und Projektionslinien zwar zum Verständnis der geschilderten Situation beitragen und mithelfen können, den Grund unseres anfänglichen Stutzens herauszuarbeiten, ihrerseits aber keine Entsprechungen irgendwelcher Realitäts- oder Systemelemente sind, die stets bestimmten Regeln gehorchen. Vorstellungen, Beschreibungen, Eindrücke und Angemessenheitsurteile sind nicht so miteinander verknüpft, daß eins streng aus dem andern abgeleitet werden kann. Lynkeus’ Urteil „So sieht’s aus“ ist durch kein vorgängiges Element des Geschehens determiniert, nicht einmal durch seine eigenen Erinnerungsaussagen über das Aussehen des dargestellten Zimmers. Der Hauptgrund für diese Indeterminiertheit dürfte in der starken Kontextgebundenheit der Darstellungsmittel liegen. Farbe, Form und Schatten summieren sich in Bildern zu immer neuen Gesamtkomplexen, die durch geringfügige Variation ihren Aussagegehalt radikal ändern bzw. trotz erheblicher Retuschen weiterhin das gleiche sagen können. Werden einige Farben ausgewechselt, kann das den Ton oder die Stimmung eines Bildes insgesamt so ändern, daß es als Ganzes dem Original stärker gleicht als ein ähnliches Bild mit originalgetreuer Farbgebung. Darum kann Lynkeus behaupten, das Zimmer sehe so aus wie auf dem von Déjàvu gemalten Bild, obwohl die Farben mancher Gegenstände völlig verschieden sind; denn die einzelnen Bestandteile verknüpfen sich im Bild in ganz anderer Weise zu einem Gesamteindruck als in der dem Bild koordinierten Realität.

8.5 Ich würde jetzt aber nicht sagen: „Denken ist schwer.“ Es gibt zwar, glaube ich, in der Philosophie ein Stadium, in dem man dieses Gefühl hat, und der Stoff, an dem ich jetzt arbeite, ist hart wie Granit, aber ich weiß, wie ich ihn anpacken muß. (Wittgenstein im Gespräch mit Drury, 19496 .)

-: Einige der von Wittgenstein nur angedeuteten Gedanken dürften durch die Parallelisierung des Ballard-Beispiels mit dem Fall des Impressionisten ins Auge springen: die Feststellung der Irreführung durch die von anfänglichem Stutzen in die Wege geleitete Schritt-für-Schritt-Analyse; die Einsicht, daß Übersetzung bzw. Projektion oder ähnliche Verfahren extrem verfahrens-, kontext- und stilgebunden sind; der Gedanke, daß Schattenvorgänge wie Denken und Vorstellen nicht gefahrlos von ihrem Herrn – dem eigentlichen Schlemihl in Gestalt des Redens, Malens oder sonstwie öffentlichen Darstellens – gelöst werden können. Schon als Andeutungen und in milder Vagheit formuliert, sind diese Ideen starker Tobak. Aber im Grunde verweisen die bisher nachgezeichneten Gedanken auf eine noch 6 Rush Rhees (Hg.), Ludwig Wittgenstein: Porträts und Gespräche, Frankfurt am Main 1987, 219.

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weit radikalere Folgerung. Diese soll in gebotener Kürze und auf der bisherigen Deutung fußend als bloßer Fingerzeig aufscheinen. Die radikalere Folgerung, auf die hier angespielt wird, dürfte deutlicher werden, wenn man den in vielen Interpretationen nicht leicht unterzubringenden Abschnitt PU 341 (also die dem Ballard-Beispiel unmittelbar vorangehende Bemerkung) in den Mittelpunkt rückt: „Gedankenloses und nicht gedankenloses Sprechen ist zu vergleichen dem gedankenlosen und nicht gedankenlosen Spielen eines Musikstücks.“ Diese Bemerkung ruft sogleich den Anfang von PU 330 in Erinnerung, in dem die Frage nach der Verwandtschaft zwischen Denken und Sprechen ausdrücklich thematisiert wird. Auf diese Frage reagiert Wittgenstein dort mit der typischen Einleitungsf loskel „Man möchte sagen“. Diese Floskel läßt erkennen, daß die Antwort naheliegt, aber tendenziell verfehlt ist oder in die Irre führen kann: „Man möchte sagen, es [das Denken] ist das, was denkendes Sprechen vom gedankenlosen Sprechen unterscheidet.“ Und gerade wenn man von dieser naheliegenden Antwort ausgeht, stellt sich, wie Wittgenstein meint, leicht die in PU 316 ff. exponierte und kritisierte Auffassung des Denkens als eines selbständigen Begleitvorgangs ein: „Und da scheint es [das Denken] eine Begleitung des Sprechens zu sein. Ein Vorgang, der vielleicht auch etwas anderes begleiten, oder selbständig ablaufen kann.“ Wittgensteins Remedur beginnt demnach mit genau den gleichen Worten wie die Ausgangsformulierung der kritisierten Anschauung: Zunächst wird die Differenz zwischen gedankenlosem und nicht gedankenlosem Sprechen als ein möglicher Ausgangspunkt der angegriffenen Konzeption hingestellt, der das Denken als selbständiger Begleitvorgang gilt. Anschließend wird – bei der gleichen Basis ansetzend – empfohlen, das gedankenlose und das nicht gedankenlose Sprechen mit dem gedankenlosen und dem nicht gedankenlosen Spielen eines Musikstücks zu vergleichen. Wie läßt sich dieser Gedanke auf das Ballard-Beispiel übertragen? Eine Schwierigkeit liegt offenbar darin, daß Wittgenstein nicht vom Komponieren, sondern vom Spielen eines Musikstücks redet. Das Spielen eines Musikstücks setzt aber das Vorhandensein der zu spielenden Pièce voraus. Im Ballard-Beispiel ging es aber doch anscheinend gerade um die Frage, ob der Erzähler recht haben konnte mit seinem vermeintlichen Bericht, selbständig – komponierend, nicht spielend-interpretierend – auf bestimmte Gedanken gekommen zu sein. Aber mit ebendieser Fragestellung geraten wir freilich wieder in die gleiche oder eine ähnliche Bredouille, wie sie oben bei der Erörterung des Ballard-Beispiels (und in ähnlicher Form im Fall des Impressionisten) aufgezeigt wurde. So verfahrend landen wir auf einem der bereits gekennzeichneten Schritt-für-SchrittWege des Übersetzens, Projizierens oder sonstigen Darstellens, und bei diesem Vorgehen kommen wir früher oder später an einen Punkt, an dem das Fortschreiten – sei es glücklicher- oder unplausiblerweise – nicht mehr zu rechtfertigen ist. Nein, die Empfehlung Wittgensteins ist einigermaßen wörtlich zu nehmen: Wir müssen uns auf eine Stufe begeben, auf der wir es einerseits mit einem gegebenen Musikstück

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zu tun haben, dessen gedankenlose oder nicht gedankenlose Spielweisen dann andererseits zu unterscheiden und mit dem Fall des Sprechens zu vergleichen sind. Diese Ebene ist erreicht, wenn man Fragen wie die nach der Möglichkeit des sprachlosen Denkens oder der exakten Übereinstimmung zwischen Vorstellungsbild und gemaltem Bild überwunden und hinter sich gelassen hat. Derartige Fragen – lautet Wittgensteins implizite Antwort – muß man auf sich beruhen lassen. Der Streit um Möglichkeit oder Unmöglichkeit sprachlosen Denkens ist ein Streit um des Kaisers Bart: Wo gesprochen wird, können wir uns fragen, ob die Äußerungen durchdacht sind oder nicht. Wo es Sätze gibt, kann man sich nach der Möglichkeit der Übersetzung erkundigen. Wo es keine Sätze und keine satzähnlichen Gebilde gibt, kann von Übersetzung nicht die Rede sein. Und wo nicht gesprochen wird, findet die Frage nach dem Denken keinen Ansatz. Aufs Ballard-Beispiel bezogen, heißt das: Die beschriebene Situation berechtigt uns zu gewissen Zweifeln. Diese Zweifel beziehen sich aber nicht darauf, ob der taubstumme Junge wirklich schon denken konnte. Vielmehr setzen sie bei der Feststellung an, daß hier sozusagen die Stilebene – die Interpretation des Musikstücks – verfehlt wurde. Die in Ballards Bericht angeschnittene Ursprungsfrage verweist auf einen – philosophischen, naturwissenschaftlichen oder theologischen – Kontext, der die Möglichkeit der Übersetzung zulassen müßte, während die geschilderte Situation der Übersetzung keinen Ansatzpunkt bietet. Resultat: mit Ballards Bericht stimmt etwas nicht; ein Weg zeichnet sich ab, doch er führt nirgendwohin. (In analoger, aber nachgerade umgekehrter Hinsicht kann die Wiedergabe des Impressionisten treffend sein, obwohl keine schrittweise nachvollziehbare Analyse vom Vorstellungsbild zur vermeintlichen Projektion führt. Resultat: der Impressionist zeichnet ein stimmiges Bild, zu dem er auf keinem deutlich rekonstruierbaren Weg gelangt ist.) In entsprechender Weise müssen wir uns, wenn die Frage „Wird hier gedacht?“ ansteht, auf eine Ebene verfügen, auf der die Streitereien um des Kaisers Bart keinen Ansatzpunkt mehr finden, so daß wir uns auf die eher entscheidbaren „Stilfragen“ konzentrieren können, also Fragen, bei denen es etwa darum geht, ob die verschiedenen Teile der vorliegenden Schilderung zusammenpassen. (Gemeint ist hier die Bedeutung des Wortes „zusammenpassen“, in der der Schluß von Ballards Bericht nicht mit dem Anfang zusammenpaßt.) Am Tempo, an der Phrasierung und einigen weiteren Merkmalen läßt sich erkennen, ob jemand ein Musikstück gedankenlos oder nicht gedankenlos spielt. Ähnlich verhält es sich beim Reden. Wer mechanisch oder konfus daherredet, redet gedankenlos. Von dem, der exakt und wohlgesetzt formuliert und mit nuancierter Betonung spricht, sagen wir (normalerweise), daß er sich Gedanken gemacht hat. Wenn wir dagegen fragen, ob es nicht möglich sei, daß sich der mechanisch oder im Schlaf Redende etwas dabei denkt, geraten wir auf die schiefe Ebene und schon bald zu bloßen Wortstreitigkeiten:

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„Könnte eine Maschine denken?“ (PU 359) „Aber eine Maschine kann doch nicht denken!“ (PU 360) „Der Sessel denkt bei sich selber ..…“ (PU 361) An der schiefen Ebene kommt man nach Wittgenstein vorbei, indem man sich auf die Ebene der stilistischen Bewertung begibt. „Stilistisch“ ist hier freilich nur ein Kürzel für eine äußerst umfassende Gruppe von Fragen bezüglich des Zusammenpassens verschiedener Beschreibungsteile. Wittgensteins Beispiele zeigen den Weg: Mr. Ballard und der Impressionist deuten in jeweils verschiedener Manier auf Möglichkeiten des Zusammenpassens und unüberwindliche Hürden auf dem Weg des Übersetzens oder Projizierens. Der Maler könnte ein weit realistischeres, aber weniger stimmiges und treffendes Bild malen. Ballard wiederum könnte seinen Bericht anders formulieren, und zwar – wie oben angedeutet – so, daß die Teile besser zusammenpassen. In diesem Fall würden wir seine Schilderung nicht so leicht bezweifeln. Allerdings wäre der Bericht nun auch längst nicht mehr so anspruchsvoll wie in der von William James zitierten Form. Das von Wittgenstein oft in findiger Weise benutzte Mittel des Ebenenwechsels kann mehreren Zwecken dienen. Im hier besprochenen Zusammenhang kommen vor allem zwei in Frage: Die erste wichtige Funktion des Ebenenwechsels ist der Nutzen als Instrument der Kritik und der dadurch ermöglichten Korrektur. Unstimmigkeiten von der Art der Ungereimtheiten des Ballard-Beispiels können durch das Hin und Her zwischen den Ebenen aufgespürt, dingfest gemacht und durch Korrektur eventuell ausgeräumt werden. Zum anderen kann der Schritt auf die Ebene der stilistischen Beschreibung und Bewertung die Einsicht in eine Art von Stimmigkeit ermöglichen, die – etwa im Sinne der Gestaltpsychologie – erkennen läßt, inwiefern ein Ganzes mehr bzw. etwas anderes sein kann als die Summe seiner Teile. Diese Art der Betrachtung hilft verstehen, warum die impressionistische Darstellung des Zimmers trotz der Unvereinbarkeit mit der Summe der einzelnen Projektionsschritte „richtig“ wirken kann. Das betrachtete Gebilde – einerlei, ob Gemälde, Musikstück oder sprachliche Schilderung – bezieht seine Stimmigkeit aus einer gewissen Geschlossenheit, die zugleich Abgeschlossenheit bedeutet und kein Zurückgehen auf die Ebene der analytischen Einzelschritte zuläßt. Die Ungereimtheiten der analytischen Ebene brauchen sich auf der Ebene der stilistischen Betrachtung nicht wieder einzustellen. Mit der Änderung des Blickwinkels kann sich auch das betrachtete Objekt ändern. Aber sobald man zur analytischen Ebene zurückkehrt, kommen die Ungereimtheiten wieder zum Vorschein. Die hier umrissene Interpretation verweist zugleich auf eine mögliche Lesart des ansonsten problematischen Abschnitts PU 329: „Wenn ich in der Sprache denke, so schweben mir nicht neben dem sprachlichen Ausdruck noch ,Bedeutungen‘ vor; sondern die Sprache selbst ist das Vehikel des Denkens.“7 Nähme man die in den letzten Worten enthaltene Empfehlung in striktem Wortsinn metaphorisch, wäre die resultie7 Vgl. PG, 161.

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J S

rende Lehre „recht schwach – schließlich kann der Passagier [des Vehikels] das Fahrzeug verlassen und ohne jedes Fahrzeug spazierengehen, sich auch auf dem Promenadendeck oder im Gang des Eisenbahnwagens hin- und herbewegen. Er ist mit seinem Fahrzeug nur zufällig verbunden […].“8 Das „Vehikel“, möchte ich meinen, ist eher im Sinne des „Musikstücks“ aufzufassen. Es ist in gewisser Hinsicht ein fertiges Gebilde, das „sich mir selbst sagt“ (vgl. PU 523), in anderer Hinsicht aber erst durch die Interpretation (im Sinne des gedankenvollen „Spiels“) Leben gewinnt. Dieses Leben ist aber kein Schattenwesen, keine eingehauchte Seele aus Bedeutungsäther, sondern es liegt ausschließlich im Spiel des Musikstücks, im Gebrauch der Sprache. Ob die Teile des auf bestimmte Weise gespielten Stücks – der auf bestimmte Weise gebrauchten Formulierungen – zusammenpassen, ist eine Interpretationsfrage, über die man (im Gegensatz zur Ausgangsfrage von PU 342) in ersprießlicher Weise streiten kann.

Literatur E. v. Savigny (1989) 1996, Wittgensteins „Philosophische Untersuchungen“: Ein Kommentar für Leser, Bd. II, Abschnitte 316 bis 693, Frankfurt a. M. P. M. S. Hacker 1990, An Analytical Commentary on the Philosophical Investigations, Vol. III: Wittgenstein, Meaning and Mind, 2. Teil, Oxford.

8 v. Savigny (1989) 1996, 17.

9 Oliver R. Scholz

Vorstellungen von Vorstellungen

9.1 Umgebungen Während in den Abschnitten 1–315 der „Philosophischen Untersuchungen“ sprachphilosophische Fragen im Mittelpunkt standen, treten in den Abschnitten 316–693 mehr und mehr die psychologischen Begriffe in den Vordergrund, also Begriffe wie Denken, Vorstellung, Erwartung, Absicht, Wollen etc. Die beiden Stränge sind dabei auf vielfältige Weise miteinander verknüpft. So lassen sich manche Lehren und Diagnosen zur sprachlichen Bedeutung auf den umfassenderen Bereich der Intentionalität des Geistigen hin verallgemeinern. Weitere Verbindungen werden deutlich, wenn man die Relevanz der Untersuchungen zum Sagenwollen und Meinen (PU 633–693) für die bedeutungstheoretischen Diskussionen bedenkt. Ein psychologischer Begriff, den Wittgenstein besonders eingehend unter die Lupe nimmt, ist der Begriff der Vorstellung. Seine Erörterung folgt auf die Abschnitte, die der Klärung der Bedeutung des Wortes „denken“ gewidmet waren (Abschnitte 316–362). Zusammenhängend wird der Vorstellungsbegriff in den Abschnitten untersucht, die mit PU 363 beginnen: „,Wenn ich mir etwas vorstelle, so geschieht doch wohl etwas!‘ […].“ Wo die Ausführungen zur Vorstellung enden, ist umstrittener. Viele Kommentatoren setzen das Ende bereits bei Abschnitt 397 an;1 ein deutlicher Einschnitt liegt jedoch erst nach Abschnitt 427 vor.2 1 Hacker 1990 macht aus PU 363–427 drei Kapitel: Imagination (PU 363–397); The self and self-reference (PU 398–411); Consciousness (PU 412–427). Glock 1996, 286 gelangt zu einem ähnlichen Vorschlag: PU 363– 397: imagination and mental images; PU 398–411: the first-person pronoun ,I‘ and the nature of the self; PU 412–427: consciousness. Hallett 1977, 7 findet gar kein Vorstellungskapitel, sondern gliedert wie folgt: XII. „Each Equivalent to Each“ (PU 363–397); XIII. The I (PU 398-411); XIV. Consciousness (PU 412–427). 2 Dafür argumentiert von Savigny in seinem Kommentar (1989, 2 1996); ihm zufolge erstreckt sich das Vorstellungskapitel also von PU 363 bis PU 427.

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Aus welchen Gründen mag Wittgenstein gerade dem Begriff der Vorstellung eine eigene umfangreiche Untersuchung gewidmet haben? Nun, erstens ist dieser Begriff ohne Frage um seiner selbst willen von vitalem Interesse. Es handelt sich nicht um einen psychologischen Begriff wie jeden anderen. Das Thema läßt uns aus vielen Gründen nicht kalt: Vorstellungen sind ein Anteil unseres Seelenlebens, der uns besonders am Herzen liegt; sie können uns erfreuen und trösten, aber auch quälen. Und die Vorstellungsgabe ist für uns verknüpft mit liebgewonnenen Persönlichkeitsidealen wie Kreativität und Originalität, die wir Künstlern und Erfindern zusprechen und an denen wir selbst auch teilhaben möchten. Zweitens können Vorstellungen und Vorstellungsbilder in Theorien der Wahrnehmung, des Gedächtnisses und allgemeiner: der Erkenntnis auf eine lange Karriere zurückblicken.3 So glaubten die britischen Empiristen (aber natürlich nicht nur sie), daß der Geist mit Vorstellungen (ideas) und Sinneseindrücken (impressions) ausgestattet sei – unterschieden allein durch den Grad ihrer Lebendigkeit. Überwiegend wurde dabei an mehr oder weniger verblaßte oder frische mentale Bilder gedacht. Unser gesamtes geistiges Leben – Wahrnehmen, Denken, Erinnerung, Vorstellung, Träumen etc. – erscheint unter diesen Annahmen als ein Erzeugen bzw. Wachrufen, Kombinieren, Trennen oder anderweitiges Bearbeiten und Verändern solcher innerer Bilder. Drittens ist der Vorstellungsbegriff schon aufgrund der über Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende dominierenden Vorstellungstheorie der Bedeutung auch von beträchtlicher sprachphilosophischer Relevanz. Sprachliche Ausdrücke, so lautete die Grundidee, verdanken ihre Bedeutung dem Umstand, daß sie (primär) für Vorstellungen, für Ideen, stehen. Zwei Ausdrücke hätten demnach dieselbe Bedeutung, wenn sie für dieselbe Idee stünden. Mit einem sprachlichen Ausdruck etwas zu meinen, liefe darauf hinaus, mit ihm eine bestimmte Vorstellung zu assoziieren; und den Ausdruck zu verstehen, bestünde wohl darin, dieselbe Vorstellung in sich wachzurufen, die der Sprecher mit ihm verknüpft hat. Spielarten dieser Theorie hatte Wittgenstein in PU 134–197 vernichtend kritisiert und dabei eine andere Auffassung vom Verstehen eines Satzes ausgearbeitet. (Im Vorstellungskapitel kommt er in PU 395–397 anhand des Begriffs der Vorstellbarkeit kurz auf das Verhältnis von Vorstellung und Sinn zurück – wie auch noch später z. B. in PU 449–451.) Nicht zuletzt ist der Vorstellungsbegriff ein besonders lehrreicher Fall für das Wittgensteinsche Projekt einer philosophischen Untersuchung der psychologischen Begriffe, ihrer Methode und ihrer Möglichkeiten und Grenzen. So verwundert es nicht, daß sich Wittgenstein im sogenannten Teil II der „Philosophischen Untersuchungen“4

3 Eine brauchbare Zusammenstellung klassischer Texte bietet der Teil III von Beakley/Ludlow 1992. Empfehlenswert ist auch der historische Überblick in White 1990, Teil I. 4 Vgl. bes. MS 144, S. 9 ‹iii›/WA S. 494; eine gründliche Interpretation dieses Textes bietet Krüger 1995.

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und vor allem in den „Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie“5 eingehend mit dem Thema „Vorstellung“ beschäftigt hat. In der Sekundärliteratur fällt auf, daß sich die Autoren wesentlich auf Stellen aus BPP stützen, wenn sie auf Wittgensteins Untersuchungen zum Vorstellungsbegriff eingehen.6 Für die Interpretation der „Philosophischen Untersuchungen“ ist jedoch zu beachten, daß die Fragestellungen, unter denen Wittgenstein den Begriff der Vorstellung in Teil I analysiert,7 sich noch in mancherlei Hinsicht von denjenigen unterscheiden, die ihn später leiteten, als er einen „Plan zur Behandlung der psychologischen Begriffe“ (BPP II 63) vor Augen hatte. Ich konzentriere mich auf die einschlägigen Abschnitte des ersten Teils. Ein Satz- oder Abschnitts-Kommentar ist in diesem Rahmen nicht möglich;8 nach einem Überblick über die Fragestellungen und die angewandte Methode greife ich Schlüsselthemen und -stellen heraus.

9.2 Übersicht Zur besseren Orientierung seien knappe Hinweise zur thematischen Gliederung von PU 363–427 vorausgeschickt: Die Abschnitte 363–374 setzen bei einem verführerischen Bild ein: wenn jemand sich etwas vorstelle und dies mitzuteilen versuche, dann sei von einem inneren Geschehen, einem inneren Vorgang, und dessen Mitteilung die Rede. Dieses Bild eines inneren Vorgangs des Vorstellens wird im folgenden kritisch, diagnostisch und therapeutisch behandelt. Wie Wittgenstein in PU 375–385 zu zeigen versucht, lassen sich Vorstellungen nicht nach dem Modell von Gegenständen begreifen, die mithilfe einer inneren Wahrnehmung, eines inneren Wiedererkennens oder innerer hinweisender Erklärungen identifiziert würden. Die Abschnitte 386–411 setzen sich mit unterschiedlichen Ausprägungen der Idee auseinander, man verfüge autonom über seine Vorstellungen. Weder verfügt man epistemisch über sie in der Form eines intimen Kennens oder Wissens von innen her, noch kann man sich einfach unbeschränkt vorstellen, was man will. Und vor allem hat es keinen Sinn zu sagen, man besitze seine Vorstellungen in besonderer Weise. In diesem Zusammenhang rücken in PU 398–411 von der Äußerung „Ich habe eine Vorstellung 5 Vgl. bes. BPP II 63–147 und LS I 308–319. 6 Siehe etwa Budd 1989, Kapitel V, oder ter Hark 1990, Kapitel 7.3. 7 So weisen die Untersuchungen zum Begriff der Vorstellung hier auffällige Parallelen zu den Ausführungen über die private Sprache (PU 243–315) und zum Denken (PU 316–362) auf. 8 Ausgezeichnete Kommentare dieser Art liegen jetzt mit von Savigny 1989/2 1996, ad loc., und Hacker 1990, ad loc., vor.

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von …“ die Rollen der Wörter „haben“ und „ich“ in den Mittelpunkt. (Die Abschnitte 403–411 stellen dabei anhand von „ich habe Schmerzen“ eine gleichlaufende Betrachtung an, für die frühere Einsichten ausgewertet werden können.) In PU 412 ff. wird geltend gemacht, daß die eigenen Vorstellungen nicht zeigend identifiziert werden können, indem man seine Aufmerksamkeit auf sie richtet. Von denjenigen eigenen seelischen Phänomenen, auf die man seine Aufmerksamkeit richtet, sagt man nun auch, sie seien einem „bewußt“. Und das Substantiv „Bewußtsein“ kann dann als Sammelbegriff für alle möglichen bewußten seelischen Sachverhalte dienen. So kommt hier – über die Diskussion der problematischen Rolle des inneren Aufmerkens für die Identifizierung von Vorstellungen – das Thema „Bewußtsein“ ins Spiel, dem Wittgenstein anschließend grundsätzlichere Betrachtungen widmet. Die Rede von Hirnprozessen und die vom Bewußtsein gehören, wie hier betont wird, völlig unterschiedlichen Beschreibungsebenen und Sprachspielen an. Wittgenstein macht insbesondere auf die Gefahr aufmerksam, solche kategorialen Unterschiede so auf die Wirklichkeit zu projizieren, daß der Eindruck einer rätselhaften unüberbrückbaren „Kluft“ entsteht. Das Kapitel endet mit Diagnosen und therapeutischen Vorschlägen (im Sinne von PU 133 und 255) zu den fragwürdigen Bildern, die sich uns beim Nachdenken über die Bewußtseinszustände aufdrängen.

9.3 Methode in der Philosophie der Psychologie Wie soll man nun bei einer philosophischen Untersuchung des Begriffs der Vorstellung vorgehen? Einen guten Einstieg bieten die Abschnitte 370–374. Wittgenstein zieht hier ein erstes methodisches Zwischenfazit9 vor dem Hintergrund von PU 363–369. In PU 363 war das neue Thema „Vorstellung“ eingeführt worden – und zwar in charakteristischer Verknüpfung mit der Kategorie des (inneren) Geschehens: „,Wenn ich mir etwas vorstelle, so geschieht doch wohl etwas!‘ […].“10 Wie sehr es Wittgenstein auch im Zusammenhang mit der Vorstellungsthematik auf das Bild „in mir geschieht etwas“ ankommt, unterstreichen PU 423 („Gewiß, in dir geschehen alle diese Dinge. […]“) und PU 427 („[…], was hinter seiner Stirn vorging.“) In PU 364 hatte sich Wittgenstein 9 Überhaupt fällt auf, daß das Vorstellungskapitel von methodischen und diagnostischen Intermezzi durchsetzt ist: PU 370–374, 383–384, 387, 401–402, 414, 415, 423–427. Auch dies deutet darauf hin, daß aus der Untersuchung des Begriffs der Vorstellung Lehren zu ziehen sind, deren Bedeutung weit über dieses Thema hinausreicht. Insofern gilt für das Beispiel „Vorstellung“, was Wittgenstein in PU 133 angekündigt hatte: „[…] es wird nun an Beispielen eine Methode gezeigt, und die Reihe dieser Beispiele kann man abbrechen“ – oder fortsetzen! 10 Ähnlich gelagerte Kritiken am Bild des inneren Vorgangs oder Zustands hatte Wittgenstein zuvor schon in bezug auf einige andere psychologische Begriffe geäußert; vgl. etwa PU 33–34 (die Aufmerksamkeit auf etwas richten; die Erklärung so und so meinen/deuten), 305 (Erinnerung), 314 (Kopfschmerzen), 316 (Denken), 321 (plötzliches Verstehen), 361 (im Innern zu sich selbst sprechen) etc.

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dann dem Beispiel des Kopfrechnens zugewandt, das man ja als Rechnen in der Vorstellung (so ausdrücklich in PU 364 b) auffassen kann. Das Kopfrechnen ist aus mehreren Gründen von besonderem Interesse: Erstens handelt es sich um einen zentralen Fall, „in welchem von der Vorstellung ein regelmäßiger Gebrauch im Alltagsleben gemacht wird.“ (BPP I 649) Für den Zusammenhang der „Philosophischen Untersuchungen“ ist ein zweiter Punkt noch wichtiger: Stärker als bei anderen Vorstellungsphänomenen drängt sich beim Kopfrechnen das Bild eines zeitlich ausgedehnten inneren Vorgangs auf, der einem äußeren Geschehen (einem lauten Rechnen oder einem Rechnen auf dem Papier) Punkt für Punkt entspräche. Mit PU 364 b kommt eine weitere Facette des Gebrauchs von „in der Vorstellung“ bzw. „vorgestellt“ ins Spiel; diese Ausdrücke können auch als Kontrast zu „wirklich“ verwendet werden, wobei Verwirrungen drohen, wie in PU 365–366 ausgemalt und gleichsam vorgeführt wird.11 In PU 366 b bis 368 wird das Sprachspiel „die eigene Vorstellung beschreiben“ und im Zusammenhang damit das Verhältnis von Vorstellungen zu Bildern angesprochen. PU 369 kehrt am Beispiel des Kopfrechnens zum Bild des inneren Vorgangs zurück: „Man möchte fragen: „Wie ist das – was geht da vor – wenn Einer im Kopfe rechnet?“ […]“ Hier hakt Wittgenstein nun mit einem Vorschlag zur Methode ein: „Nicht, was Vorstellungen sind, oder was da geschieht, wenn man sich etwas vorstellt, muß man fragen, sondern: wie das Wort „Vorstellung“ gebraucht wird. […].“ (PU 370) Anstatt die Fragen zu stellen: „Was sind Vorstellungen?“ und „Was geschieht da, wenn man sich etwas vorstellt?“, sollen wir also fragen: „Wie wird das Wort „Vorstellung“ gebraucht?“ Aus welchem Grund schlägt Wittgenstein diesen Perspektivenwechsel vor? Hinweise darauf geben neben PU 369–374 einige frühere Stellen, in denen er methodische Kommentare zu verwandten Fragestellungen abgegeben hat. In PU 321 etwa hieß es: „„Was geschieht, wenn ein Mensch plötzlich versteht?“ – Die Frage ist schlecht gestellt. Fragt sie nach der Bedeutung des Ausdrucks „plötzlich verstehen“, so ist die Antwort nicht das Hinweisen auf einen Vorgang, den wir so nennen.“ Augenscheinlich ist Wittgenstein der Meinung, daß auch die Frage „Was geschieht da, wenn man sich etwas vorstellt?“ schlecht gestellt ist. Aber kehren wir, um dies zu verstehen, zunächst zu der Frage „Was ist eine Vorstellung?“ zurück. Fragen der Form „Was ist F?“ wurden traditionell als Fragen nach dem Wesen von F aufgefaßt; die Antwort sollte dementsprechend die Form einer Wesensdefinition annehmen. So verstanden, fragt die erste Frage nach dem Wesen der Vorstellung. Ordnet man Vorstellungen nun in einem nur scheinbar harmlosen (vgl. PU 308!) weiteren Schritt kategorial als (innere) Vorgänge oder Geschehnisse ein, so ergibt sich zwanglos die zweite Frage „Was geschieht da, wenn man sich etwas vorstellt?“. Und diese kann man dann so auffassen, daß sie nach der Natur eines rätselvollen inneren Vorgangs fragt, über den mithilfe bestimmter (etwa introspektiver oder natur11 Vgl. dazu Schulte 1991.

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wissenschaftlicher) Methoden mehr herauszufinden ist. Insofern lenkt die Frage „Was sind Vorstellungen?“ – gerade wenn Vorstellungen als Vorgänge aufgefaßt werden – auf falsche Antworten. Wittgenstein beharrt demgegenüber darauf, zunächst die Bedeutung des Wortes „Vorstellung“ zu erklären, und zu fragen, wie es gelernt und gebraucht wird, wie es ins Sprachspiel eintritt. Er antizipiert sogleich einen naheliegenden Einwand gegen diesen von ihm empfohlenen „linguistic turn“: „Das heißt aber nicht, daß ich nur von Worten reden will. Denn soweit in meiner Frage vom Wort „Vorstellung“ die Rede ist, ist sie’s auch in der Frage nach dem Wesen der Vorstellung.“ (PU 370) Mit „in meiner Frage“ bezieht sich Wittgenstein offenkundig auf „Was sind Vorstellungen?“ zurück. (Er stellt im Anschluß zunächst zwei negative Behauptungen auf: Diese Frage ist erstens nicht durch ein Zeigen zu erklären – weder für den Vorstellenden selbst, noch für eine andere Person; a fortiori ist sie nicht durch innere, private hinweisende Erklärungen zu beantworten (vgl. PU 374, 380). Sie ist zweitens auch nicht durch die Beschreibung irgendeines Vorgangs zu erledigen.) Dem drohenden Vorwurf des Gegners, das philosophische Thema zu verfehlen, begegnet Wittgenstein dann nochmals im nächsten Abschnitt, der zur Klärung heranzuziehen ist: „Das Wesen ist in der Grammatik ausgesprochen.“ (PU 371) Das, was traditionell als Wesen angesprochen wird, drückt sich demnach gerade in der Grammatik aus. Mit der Grammatik eines Wortes oder Satzes beschreibt man die Regeln ihrer korrekten Verwendung. Die Grammatik bestimmt so auch, „[w]elche Art von Gegenstand etwas ist“ (PU 373); denn sie legt fest, was sinnvollerweise über solche Gegenstände gesagt werden kann und was nicht. Um Wittgensteins methodische Ratschläge in PU 370–374 besser verstehen zu können, empfiehlt es sich, noch etwas weiter auszuholen. Der Psychologie seiner Zeit hat Wittgenstein bei anderer Gelegenheit eine unbarmherzige Diagnose gestellt: Sie sei gekennzeichnet durch „Verwirrung und Öde“.12 Dieser klägliche Zustand sei aber nicht einfach daraus zu erklären, daß es sich um eine vergleichsweise junge Wissenschaft handele. Vielmehr beruhe die Misere darauf, daß Begriffsverwirrungen und experimentelle Methoden eine unheilige Allianz eingehen, so daß die Probleme, die uns beunruhigen, und die zu ihrer Lösung angewandte Methode „windschief an einander vorbeilaufen“.13 Begriff liche (philosophische) und empirische (wissenschaftliche) Untersuchungen müssen nach Wittgenstein strikt auseinandergehalten werden. Den begriff lichen Klärungen kommt dabei eine logische und methodische Priorität gegenüber der empirischen Theorienbildung zu; insbesondere bilden sie die Voraussetzung für sinnvolle und fruchtbare Fragestellungen und Experimente. Wittgenstein

12 MS 144, S. 70/WA S. 543; vgl. BPP I 1039. 13 MS 144, S. 70/WA S. 543; ähnlich in BPP I 1039.

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drängt darum auch in der Philosophie der Psychologie zu einer Hinwendung zur Sprache – als dem unumgänglichen ersten Schritt. Unsere Sprache enthält zahlreiche Wörter und Wendungen, die unsere seelischen und geistigen Seiten betreffen. So beinhaltet unser psychologischer Wortschatz Substantive („Schmerz“, „Gedanke“, „Erwartung“, „Vorstellung“ etc.), dazu zahlreiche Adjektive, Adverbien („absichtlich“, „unwillkürlich“ u. a.) und auch etliche Verben („denken“, „zweifeln“, „hoffen“, „meinen“ etc.). Alle diese Ausdrücke verwenden wir in einer großen Vielfalt von Sätzen, die wiederum in die unterschiedlichsten Sprachspiele eingebettet werden können. Ein Wort wie „Vorstellung“ ist deshalb im Zusammenhang ganzer Sätze und in dem weitläufigeren Kontext der Sprachspiele zu untersuchen, in denen die Sätze jeweils verwendet werden.14 Psychologische Begriffe sind von Haus aus Begriffe des Alltags oder wenigstens Begriffe, die an solche anknüpfen. Insbesondere sind sie nicht vorrangig zum Zwecke wissenschaftlicher Theorienbildung eingeführt worden. Ihre Verwendung kann weitverzweigt, uneinheitlich und verworren sein. Für den Philosophen stellt sich die Aufgabe, diese Verwendung zu entwirren und übersichtlich zu machen. Auch die Grammatik von „Vorstellung“ ist keineswegs leicht zu übersehen. Anzustreben ist eine übersichtliche Darstellung der Regeln, nach denen die Wörter „sich vorstellen“, „Vorstellung“ und „vorgestellt“ in den verschiedenartigen Sprachspielen gebraucht werden. Dabei sind die Beziehungen zu anderen Begriffen, insbesondere zu den Wahrnehmungsbegriffen („sehen“, „hören“ etc.) und zum Bildbegriff, zu beleuchten.

9.4 Die Sprachspiele mit dem Wort „Vorstellung“ Verschaffen wir uns vorab einen Überblick über besonders charakteristische Wendungen und Sprachspiele. Zunächst kann ich die eigene Vorstellung äußern oder kundtun; als sprachliche Ausdrucksformen stehen mir dafür im Deutschen etwa Wendungen wie „ich stelle mir vor, daß …“, „ich habe die Vorstellung, daß …“, „ich sehe jetzt … lebhaft vor mir“ u. ä. zur Verfügung. Hier ist von vornherein zu beachten, daß sich meine Vorstellungen nicht nur in verbaler Form äußern: Ich kann genausogut vorspielen oder malen bzw. zeichnen, was ich mir vorstelle und wie ich mir es vorstelle. Darüber hinaus können Vorstellungen auch durch feinere Abschattungen des Verhaltens charakterisiert sein.15 Zu den Sprachspielen mit dem Wort „vorstellen“ gehört insbesondere das Spiel „die eigene Vorstellung beschreiben“ – oder weniger mißverständlich: „beschreiben, was ich mir vorstelle“ bzw. 14 Auf die Beachtung des Satzzusammenhangs zielt im Vorstellungskapitel, wie der Kontext deutlich macht, die Ermahnung in PU 421: „Sieh den Satz als Instrument an, und seinen Sinn als seine Verwendung!“ 15 Vgl. BPP II 145.

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„…, wie ich mir etwas vorstelle“. Und dann sprechen wir natürlich auch Dritten Vorstellungen zu – etwa mit den Worten „er/sie stellt sich vor, daß …“ oder „er/sie hat die Vorstellung …“. Besonders kennzeichnend für unsere Verwendung der Wortfamilie „Vorstellung“ sind ferner die Wendungen „in der Vorstellung“ und „(bloß) vorgestellt“, die recht verstanden ganz harmlos sind, aber dennoch immer wieder zu Mißverständnissen geführt haben.

9.5 Wie sich Wittgensteins Gegner das Vorstellen vorstellen Die Bemerkungen, aus denen sich die „Philosophischen Untersuchungen“ zusammensetzen, haben bekanntlich weitgehend Dialogcharakter. Wittgenstein setzt sich in der Regel mit einem oder mehreren imaginierten Gesprächspartnern oder Gegnern auseinander. Es ist deshalb oft hilfreich, die meist nur skizzierten Gegentheorie(n) zusammenhängend zu rekonstruieren, um zu sehen, welche Elemente Wittgenstein im Verlauf des Disputs angreift und welche davon er tatsächlich auch erschüttert. Versuchen wir also, die Auffassung auf den Begriff zu bringen, die Wittgenstein im Vorstellungskapitel ins Visier nimmt: „Sich etwas vorzustellen, ist ein innerer Vorgang. Dieses innere Geschehen korrespondiert Punkt für Punkt einem äußeren Gegenstück. So ist das visuelle Vorstellen (das Sehen in der Vorstellung, „vor dem geistigen Auge“) ein innerer Vorgang, der eine exakte Parallele zum Sehen von Gegenständen der Außenwelt liefert.16 Neben den mit einer bestimmten Sinnesmodalität verknüpften Vorstellungen kennen wir Phänomene wie das Rechnen in der Vorstellung (idiomatischer: das Kopfrechnen), das Reden in der Vorstellung (das stille (Selbst-) Gespräch), das Lesen in der Vorstellung (das stille Lesen) und verwandte Erscheinungen. Auch hier entspricht der innere Vorgang Stück für Stück einem öffentlichen äußeren Vorgang: dem lauten Rechnen oder Rechnen auf dem Papier, dem lauten Sprechen, dem lauten Lesen etc. An all diesen inneren Vorgängen sind wesentlich private Gegenstände beteiligt: Vorstellungsbilder oder andere innere Repräsentationen, die einem eigenen Raum angehören, zu dem nur der Vorstellende Zutritt hat. Solche Bilder entsprechen genau den äußeren Bildern, die uns aus Museen, Galerien, Filmen und Fotoalben vertraut sind, – mit dem einzigen Unterschied, daß sie sich innen, im Geiste, befinden und notwendigerweise nur einer Person zugänglich sind. Diese privaten Bilder können inwendig (mit dem geistigen Auge) gesehen werden; zumindest können sie zeigend identifiziert werden, indem der Vorstellende seine innere Aufmerksamkeit auf sie richtet. 16 Entsprechendes gilt für das auditive, olfaktorische, gustatorische und taktile Vorstellen. Die philosophische Tradition war jedoch zumeist einseitig auf den Fall des visuellen Vorstellens fixiert.

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Von diesen inneren Gegenständen kann ich eine Beschreibung „abziehen“ – im Sinne von „einen Abzug machen“, „kopieren“ (vgl. PU 374). Die Korrektheit und Güte der Vorstellungsbeschreibung bemißt sich danach, wie genau sie dem inwendig geschauten Bild entspricht. Solche Beschreibungen beruhen auf (inneren) Beobachtungen und eignen sich dazu, anderen mitgeteilt zu werden. Diese Mitteilung bewirkt bei anderen, daß sie wissen, daß ich eine Vorstellung habe, und wissen, was ich mir vorstelle bzw. wie ich mir es vorstelle (vgl. PU 363).“ Soweit das ebenso suggestive wie wirkmächtige Bild des Gegners, das Wittgenstein in allen seinen Facetten kritisiert hat. Einigen dieser Kritiken und Diagnosen wollen wir im folgenden nachgehen.

9.6 „Ich stelle mir … vor“: Vorstellungen, Ausdrucksäußerungen und Kriterien Folgen wir Wittgensteins Ratschlag und sehen uns die Verwendung des Wortes „vorstellen“ in den einschlägigen Sprachspielen an. Auf Fragen hin oder auch aus eigenem Antrieb äußern wir Wendungen wie: „Ich stelle mir … vor“, „ich sehe … lebhaft vor mir“ etc. Will uns jemand in unsere Vorstellungen hereinreden, sagen wir daneben auch schon einmal Dinge wie „Ich weiß, was ich mir vorstelle“. Solche psychologischen Sätze in der 1. Person Singular Präsens (genauer gesagt: bestimmte Verwendungen solcher Sätze) bilden ein wiederkehrendes Thema der „Philosophischen Untersuchungen“. Wittgenstein untersucht u. a. Verwendungen von „jetzt verstehe ich“, „jetzt weiß ich weiter“, „jetzt kann ich fortsetzen“ , „ich habe Schmerzen“, „ich erwarte“, „ich hoffe“, „ich habe die Absicht“, „ich beabsichtige“, „ich meine“, „ich fürchte mich“, etc.17 Besonders ausführlich werden Verstehens- (PU 151–155, 180–184 u. ö.), Schmerz- (bes. PU 288–299) und Meinens-Ausdrucksäußerungen (bes. PU 661– 693) behandelt. Die Untersuchungen haben hier wie auch bei anderen Themen sowohl kritische und therapeutische als auch konstruktive Seiten. Der Philosoph muß in diesem Zusammenhang ein kompliziertes Gef lecht falscher Bilder von den seelischen Sachverhalten, von der sprachlichen Bedeutung und von der Wahrnehmung bekämpfen.18 17 Wittgenstein benutzt in diesem Zusammenhang vorzugsweise die Begriffe „Äußerung“ oder „Ausdruck“. Da diese Termini schon anderweitig vielfältig besetzt sind, sollte man besser einen noch nicht vorbelasteten Kunstausdruck verwenden. In der angelsächsischen Literatur hat sich der Terminus „avowals“ eingebürgert, der in dieser Rolle auf Gilbert Ryle zurückgehen dürfte. (Vgl. Ryle 1949, 101 f., 183 f. sowie ders. 1993, 215– 218.) Einem Vorschlag von Eike von Savigny folgend (vgl. besonders 1996, Kapitel 9), werde ich zumeist von „Ausdrucksäußerungen“ sprechen und dabei auch vor dem vielsilbigen Monstrum „Vorstellungs-Ausdrucksäußerungen“ nicht zurückschrecken. 18 Siehe dazu jetzt umfassend: von Savigny 1996, Kapitel 9.

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Wie bereits vor dem Vorstellungskapitel deutlich wurde, dienen Ausdrucksäußerungen in ihrer Standardverwendung nicht als Beschreibungen oder Berichte. Vor allem sind sie keine Beschreibungen von etwas intern Beobachtetem und Wahrgenommenem. Sie sind vielmehr als erlernte Ersatzformen oder Erweiterungen des nichtverbalen Ausdrucksverhaltens anzusehen (vgl. u. a. PU 244 f., 343, 585). Ihr Status gleicht somit eher dem von Gesichtsausdrücken, Grimassen, Gebärden, Ausrufen, Seufzern etc. als dem von Protokollen. Kinder lernen von einem bestimmten Alter an, anstatt zu schreien oder zu stöhnen, Ausrufe wie „Aua“ zu gebrauchen, und später schließlich, Sätze wie „Ich habe fürchterliche Schmerzen!“ oder „Es tut höllisch weh!“ anzuwenden. Statt mit dem Fuß aufzustampfen, lernen sie „Mist!“ auszurufen, und endlich auch, Dinge zu sagen wie „Jetzt werde ich aber wirklich wütend.“ Man lehrt sie so ein neues, potentiell wesentlich differenzierteres Ausdrucksverhalten. Ähnliches gilt für das Ausdrücken von Freude, Begeisterung, Ärger, Gram, Ekel, Grauen, Zweifel u. a.19 Ausdrucksäußerungen fungieren als besonders auffällige und besonders artikulierte Elemente in den komplexen Ensembles, die seelische Muster ausbilden.20 In solchen Ensembles fügen sich typischerweise das Verhalten des Subjekts, mehr oder weniger weitläufige räumliche und zeitliche Begleitumstände sowie die Reaktionen anderer Personen zusammen. Die sprachlichen Ausdrucksäußerungen können in beliebig feinkörniger Weise signalisieren, welcher seelische Sachverhalt vorliegt, und – im Falle der intentionalen Sachverhalte –, welchen Bezug und Inhalt er jeweils hat. Wenden wir uns nun den Vorstellungen und den Vorstellungs-Ausdrucksäußerungen im besonderen zu. In PU 377 wird auf die charakteristische Asymmetrie zwischen der dritten und der ersten Person hingewiesen: „Was ist das Kriterium der Gleichheit zweier Vorstellungen? – Was ist das Kriterium der Röte einer Vorstellung? Für mich, wenn der Andre sie hat: was er sagt und tut. Für mich, wenn ich sie habe: garnichts. Und was für „rot“ gilt, gilt auch für „gleich“.“ Auf die Frage: Woher weißt du, daß eine andere Person sich vorstellt, etwas sei rot? lautet demnach die korrekte Antwort: Ich nehme wahr, was sie sagt und tut; und dieses öffentliche verbale und nonverbale Verhalten dient mir als Kriterium dafür, was sie sich vorstellt. Dagegen wäre auf die Frage: Woher weißt du, daß du dir vorstellst, etwas sei rot? zu erwidern: In einem Sinne weiß ich das überhaupt nicht; vor allem wende ich keine Kriterien an, um festzustellen, was ich mir vorstelle. Vielmehr habe ich eben Deutsch gelernt und wende aufgrunddessen Wörter dieser Sprache mit hinreichender Zuverlässigkeit an; aufgrund dieser Fertigkeit

19 In einigen Verwendungen fungieren Ausdrucksäußerungen, wie PU 180 am Beispiel von „jetzt weiß ich weiter“ betont, als Signale: „Es wäre, in diesem letzteren Fall z. B., ganz irreleitend, die Worte eine „Beschreibung eines seelischen Zustandes“ zu nennen. – Eher könnte man sie hier ein „Signal“ nennen; und ob es richtig angewendet war, beurteilen wir nach dem, was er weiter tut.“ 20 Zu diesem Musterrezept für das Verständnis seelischer Sachverhalte vgl. von Savigny 1988, 15–24, und 1996, Kapitel 9. Ich komme weiter unten darauf zurück.

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beherrsche ich insbesondere die in diesem Zusammenhang relevanten Sprachspiele mit dem Wort „Vorstellung“ und mit dem Farbwortschatz (vgl. PU 381). Wittgenstein setzt sich in den „Philosophischen Untersuchungen“ unablässig mit einem falschen Bild von der Unangreifbarkeit und Unbestreitbarkeit solcher Ausdrucksäußerungen auseinander. Sein Gegner deutet diese eigentümliche Zuverlässigkeit und Geschütztheit als eine besondere Gewißheit, die auf der Irrtumsfreiheit introspektiver „Augenzeugenberichte“ beruhen soll. Tatsächlich besteht ja eine weitreichende Autorität der ersten Person bezüglich ihrer Vorstellungen, Vorstellungsbilder und -inhalte. Was das Subjekt sich vorstellt, wird festgelegt durch das, was es sagt. Wenn die Person sagt, daß sie eine Vorstellung von x hat, dann ist dadurch bestimmt, daß es sich um eine Vorstellung von x handelt – es sei denn, es liegen besondere Umstände (etwa Unaufrichtigkeit) vor, die die einschlägige Präsumtion entkräften. Aber bei dieser Autorität handelt es sich nicht um eine epistemische, sondern um eine vorrangig sozial garantierte Sicherheit: Die Vorstellungs-Ausdrucksäußerung ist nicht deshalb unangreifbar, weil sie in einer unfehlbaren inneren Wahrnehmung gründete, sondern weil es zum Sprachspiel der Vorstellung gehört, anderen Leuten nicht in ihre Ausdrucksäußerungen hineinzureden, es lägen denn besondere Gründe vor. Die Kompetenz, alleinzuständig, zuverlässig und verbindlich meine Vorstellungen zu äußern, habe ich mit der Sprache erworben (PU 381); ich habe sie gelernt, indem ich die Regeln der Sprachspiele mit dem Wort „Vorstellung“ gelernt habe.

9.7 Die eigene Vorstellung beschreiben Zur Beherrschung des Vorstellungs-Sprachspiels gehört maßgeblich, daß man beschreiben kann, was man sich vorstellt.21 Im Unterschied zu Schmerzen etwa lassen sich Vorstellungen insbesondere auch über ihre Bezugsgegenstände und ihre Inhalte charakterisieren (nach dem Muster: „ich habe eine Vorstellung von …“). Erste-Person-Äußerungen, die Seelisches betreffen, können, wie der Fall der Vorstellungs-Ausdrucksäußerungen belegt, also durchaus deskriptive und informative Seiten haben. Dies steht jedoch nicht im Widerspruch dazu, wie Wittgenstein die „avowals“ gekennzeichnet hat. Worauf es ihm ankommt, läßt sich folgendermaßen umschreiben: Zwar können Ausdrucksäußerungen auch einen beschreibenden Charakter haben; aber sie sind in solchen Fällen keine auf Wahrnehmung beruhenden Protokolle eines privaten inneren Vorgangs, wie er von Leib-Seele-Dualisten postuliert wird, noch Beschreibungen von bloßem Verhalten, wie die Behavioristen meinen. Vielmehr ist eine Vorstellungs-Ausdrucksäußerung – sofern sie denn beschreibende Anteile aufweist – eine indirekte Beschreibung des Vorgestellten: Ich beschreibe einen Gegenstand, eine 21 Vgl. BPP II 145: „Zu dem Sprachspiel mit „vorstellen“ gehört jedenfalls die Beschreibung der Vorstellung.“

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Person (o. ä.), wie ich mir ihn bzw. sie vorstelle – ähnlich wie ich mit der Äußerung meiner Farbeindrücke vom sommerlichen Himmel („Wie blau der Himmel ist!“) indirekt die Farbe des Himmels beschreibe (vgl. PU 272–280, bes. 275). Ohnehin darf uns der Umstand, daß wir in allen diesen Fällen von „Beschreibungen“ reden, nicht zu der Ansicht verführen, es läge im Kern dasselbe Sprachspiel – mit denselben Rechten und Pf lichten, denselben Ansprüchen und Folgen – vor; dies betonten schon die Abschnitte 290–291.

9.8 Vorstellung und Wahrnehmung Der Begriff der Vorstellung hängt auf vielfältige Weise mit den Wahrnehmungsbegriffen (Sehen, Hören usw.) zusammen.22 Der Gegner macht sich freilich ein verkehrtes – wieder einmal übermäßig vereinfachtes – Bild von den Beziehungen: Er möchte das Vorstellen schlicht und einfach als einen besonderen Fall von Wahrnehmung: ein inneres Wahrnehmen (vorzugsweise ein inneres Sehen) auffassen. Es ist deshalb angezeigt, den Begriff der Vorstellung mit Begriffen wie Sehen (Hören etc.) auf der einen und Begriffen wie Trugwahrnehmung und Halluzinieren auf der anderen Seite zu vergleichen. Wittgenstein hat versucht, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu beschreiben. In dem Sprachspiel mit dem Wort „sehen“ sind Verbindungen, Züge und Reaktionen vorgesehen, die in dem Vorstellungssprachspiel sinnlos wären. So ist Sehen begriff lich mit Hinschauen und Beobachten verknüpft. Durch Wahrnehmung und Beobachtung erwerben wir Informationen über die Außenwelt. Die betrachteten und beobachteten Dinge sind dabei grundsätzlich auch für andere Personen sichtbar. Wenn man etwas sieht, hat es Sinn zu versuchen, es besser, genauer zu sehen, etwa indem man näher herangeht, schärfer hinschaut, die Brille putzt etc. Wer schlecht sieht, mag sich vertrauensvoll an einen Augenarzt oder einen Optiker wenden. Mit dem Vorstellen verhält es sich offenbar ganz anders. Wer sich etwas besser vorstellen möchte, schließt oft gerade die Augen oder starrt ins Leere, um sich nicht ablenken zu lassen. Und wer nicht in der Lage ist, sich etwas vorzustellen, dem hilft auch kein Augenarzt, und übrigens erst recht kein auf das Auge des Geistes spezialisierter Internist oder Neurophysiologe. Weitere Unterschiede zwischen der Grammatik von „sehen“ („hören“ etc.), „halluzinieren“ und „vorstellen“ treten zu Tage, wenn wir die Imperativform untersuchen.23 Man kann jemandem nicht ohne weiteres befehlen, den Eiffelturm zu sehen – oder auch: einen Dolch zu halluzinieren. Dagegen hat es Sinn, eine Person aufzufordern, sich den 22 In einer nachgelassenen Bemerkung ging Wittgenstein so weit zu behaupten: „Es ist dem ,Vorstellen‘ wesentlich, daß zu seiner Äußerung die Begriffe der Sinneswahrnehmung verwendet werden.“ (BPP I 885) Zur Kritik vgl. Glock 1996, 169. 23 Vgl. PU 393: „Stell dir vor, daß ….!“ sowie BPP II 63 u. ö.

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Eiffelturm vorzustellen – oder sich vorzustellen, „jeder der Leute, die ich auf der Straße sehe, habe furchtbare Schmerzen, verberge sie aber kunstvoll“ (PU 391). Das Vorstellen ist partiell dem Willen unterworfen – anders als das Sehen und das Halluzinieren. Wir können Vorstellungen zumindest teilweise steuern, d. h. sie wachrufen und, wenn sie unangenehm werden, wieder unterdrücken oder verbannen. Zumindest hat es Sinn, dies zu versuchen, und häufig gelingt es uns auch. Sich etwas vorzustellen, ist eher etwas, was man tut, etwas Aktives und Schöpferisches, als etwas, das einem geschieht, zustößt, oder das man empfängt. (Insofern ähnelt das Vorstellen eher dem Malen oder Zeichnen als dem Sehen oder Halluzinieren.) Dazu paßt ferner, daß wir auch nicht in derselben Weise überrascht werden können von dem, was wir uns vorstellen, wie uns verblüffen mag, was wir wahrnehmen oder halluzinieren.

9.9 Vorstellungen, Vorstellungsbilder und Bilder Zwischen den Begriffen „Vorstellung“, „Vorstellungsbild“ und „Bild“ gibt es ebenfalls vielfältige Verbindungen, die leider auch allzu leicht fehlgedeutet werden können.24 Erinnern wir uns dazu wiederum an die gegnerische Auffassung: Für Wittgensteins Gegner sind Vorstellungen (im einfachsten Falle) geistige Bilder, auf die der Vorstellende seine Aufmerksamkeit richten, die er sehen und betrachten kann. Von diesen inneren bildhaften Repräsentationen liest er seine Vorstellungsbeschreibung ab. Diese traditionsreiche imagistische oder piktorialistische Auffassung der Vorstellung ist aus vielerlei Gründen unhaltbar; sie verzerrt die Grammatik des Wortes „Vorstellung“ in eklatanter Weise. Zunächst ist daran zu erinnern, daß die Anwendung des Wortes „Vorstellung“ sehr viele Fälle umfaßt, bei denen niemand versucht wäre, von geistigen Bildern zu sprechen. So können wir uns etwa vorstellen, wie etwas klingt, riecht, schmeckt oder sich anfühlt, ohne daß dafür innere Bilder im wörtlichen Sinne zur Erklärung postuliert werden können. Eine Ausweitung des Modells, die in der Annahme geistiger Kopien irgendwelcher (d. h. nicht notwendig bildhafter) Art bestünde, wirkt nicht besonders verlockend.25 Ohnedies scheint in vielen weiteren Fällen überhaupt keine Beziehung zu einer – sei es visuellen, sei es nicht-visuellen – Repräsentation zu bestehen. Wenn ich etwa kundgebe: „Ich kann mir gut vorstellen, daß Helmut Kohl wiedergewählt wird“, „Ich kann mir vorstellen, daß ein Computer entwickelt wird, der jeden Menschen im Schach schlagen kann“ oder: „Ich stelle mir diese Art, seinen Beruf zu verlieren, besonders unangenehm vor“, so brauchen mir dabei überhaupt keine besonderen Bilder oder anderen Darstellungen vorzuschweben. 24 In vielen Sprachen hängen die einschlägigen Wörter schon etymologisch miteinander zusammen („imagination“ – „image“ o. ä.), wodurch die Versuchung, die Begriffe über Gebühr miteinander zu assimilieren, sicher verstärkt wird. 25 Darauf hat Ryle 1949, 252 f. mit besonderem Nachdruck hingewiesen.

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Dennoch drängt sich bei etlichen Vorstellungsphänomenen der Vergleich mit Bildern und die Rede vom Vorschweben von Bildern auf. So erklärt sich wohl auch die ungebrochene Attraktivität imagistischer Vorstellungsauffassungen.26 Vielleicht behalten sie ja ein eingeschränktes Recht, wenn man sie nur zur Beschreibung und Erklärung dieser speziellen Phänomene heranzieht. Wittgenstein gibt aber zu bedenken, daß die in der Tat bestehenden Beziehungen zwischen Vorstellungen und Bildern dabei falsch lokalisiert würden. Richtig ist zwar: Vieles von dem, was man sich vorstellen kann, kann auch bildhaft dargestellt werden. Auf die Frage „was stellst du dir vor?“ kann man daher häufig mit einem Bild antworten; so könnte man ein Bild zeichnen oder malen, das zeigen soll, was man sich vorstellt und wie man es sich vorstellt. Und man könnte auch ein entsprechendes Bild beschreiben. Zur Beschreibung von Vorstellungen gebrauchen wir sprachliche Ausdrücke und Techniken, die wir auch bei der Beschreibung von Gemälden, Zeichnungen u. ä. anwenden; insoweit überschneiden sich die Sprachspiele „eine Vorstellung beschreiben“ und „ein Bild beschreiben“. Aus all dem folgt aber keineswegs, Vorstellungen seien Bilder – und Vorstellungsbeschreibungen darum schlicht ein Fall von Bildbeschreibungen. Insbesondere folgt nicht, daß die zur Charakterisierung einer Vorstellung benutzten Bilder von einem vorgängigen inneren Bild abgezogen sein müßten. Schon in PU 301 hatte Wittgenstein betont: „Eine Vorstellung ist kein Bild, aber ein Bild kann ihr entsprechen.“27 Im Vorstellungskapitel berühren die Abschnitte 366–368 verwandte Fragen. Besonders einschlägig ist hier der brillante PU 367: „Das Vorstellungsbild ist das Bild, das beschrieben wird, wenn Einer seine Vorstellung beschreibt.“ Meisterhaft ist diese Bemerkung schon deshalb, weil Wittgenstein hier bewußt (nämlich zu therapeutischen Zwecken) eine Formulierung gesucht und gefunden hat, die sich sowohl sein Gegner, als auch er selbst auf die Fahnen schreiben können – freilich bei fundamental verschiedener Deutung. Der Vertreter der Gegentheorie liest den Satz folgendermaßen: „Das Vorstellungsbild ist das innere Bild, das ich vor meinem inneren Auge sehe, wenn ich mir etwas vorstelle, und von dem ich meine Beschreibung abziehe, wenn ich meine Vorstellung beschreibe.“ Wittgenstein zufolge besagt die Bemerkung – recht verstanden – dagegen etwas ganz anderes: „Um zu beschreiben, was ich mir vorstelle, kann ich ein Bild beschreiben, das ich auch selbst zeichnen oder malen könnte.28 Und der Inhalt meiner Vorstellung ist dadurch festgelegt, wie ich beschrieben habe,

26 Vgl. dazu kritisch Scholz 1991, Kapitel 6.3 sowie Scholz 1995 und die dort angeführte neuere Literatur. 27 Im Nachlaß findet sich eine Bemerkung, die an Klarheit nichts zu wünschen übrig läßt: „[…] Die Vorstellung ist nicht ein Bild, noch ist der Gesichtseindruck eines. Weder ,Vorstellung‘ noch ,Eindruck‘ ist ein Bildbegriff, obwohl in beiden Fällen ein Zusammenhang mit einem Bild statt hat, und jedesmal ein anderer.“ (BPP II 112; vgl. „Zettel“ 638) 28 Oder eine andere Person malen lassen könnte! Siehe PU 368.

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was ich mir vorstelle. (Von dieser Art ist die Beziehung zwischen einer Vorstellung und einem Bild.)“ Eine wichtige Ergänzung liefert der PU 389, den wir uns deshalb kurz ansehen wollen: „„Die Vorstellung muß ihrem Gegenstand ähnlicher sein, als jedes Bild: Denn wie ähnlich ich auch das Bild dem mache, was es darstellen soll, es kann immer noch das Bild von etwas anderm sein. Aber die Vorstellung hat es in sich, daß sie die Vorstellung von diesem, und von nichts anderem, ist.“ Man könnte so dahin kommen, die Vorstellung als ein Über-Bildnis anzusehen.“ Wittgenstein diagnostiziert hier unbarmherzig, wie sich sein Gegner immer tiefer in seinen „grammatischen“ Einbildungen verstrickt. Die unleugbaren, vom Imagisten aber fehlgedeuteten, Beziehungen zwischen den Begriffen „Vorstellung“ und „Bild“ haben ihn zunächst dazu verführt, die Vorstellungen selbst als innere, nur privat zu betrachtende Bilder aufzufassen. Nun mißversteht er aber auch die Sicherheit, mit welcher der Vorstellende festlegen kann, was er sich vorstellt. Ironischerweise erklärt nämlich gerade die imagistische Auffassung die Eindeutigkeit der Vorstellung nicht – jedenfalls dann nicht, wenn sie sich der verbreiteten Auffassung anschließt, Bilder bezögen sich auf das Objekt, dem sie am ähnlichsten sind.29 Die Kombination dieser Mißverständnisse drängt den Gegner zu dem verzweifelten Schritt, Super-Bilder oder, wie Wittgenstein es ausdrückt: ein „Über-Bildnis“ zu postulieren. Vorstellungen erscheinen ihm wie Bilder, die er nun jedoch mit hypertrophen Eigenschaften ausstatten muß, die Bilder im landläufigen Sinne gerade nicht besitzen.

9.10 Elemente eines konstruktiven Gegenbildes Wie gesehen, war und ist es verführerisch, die Vorstellungsphänomene als innere Doppelgänger vertrauter äußerer Vorgänge aufzufassen. Zu der Parallelisierung konnte man schon durch die Mittel der Sprache verführt werden, die – wie so oft – Ungleichartiges über Gebühr assimilieren, wie die folgenden Ausdruckspaare illustrieren: „in der Vorstellung sehen“ – „sehen“; „in der Vorstellung hören“ – „hören“; „in der Vorstellung sprechen“ – „sprechen“; „in der Vorstellung rechnen“ – „rechnen“ etc. Wittgenstein schlug zunächst vor, das sich aufdrängende Bild ernstzunehmen (PU 374), um im Anschluß zu zeigen, daß es nicht in kohärenter Weise anwendbar ist. Wie in anderen Fällen auch begnügt sich Wittgenstein aber nicht damit, die Gegentheorien ad absurdum zu führen und nur zerstörte „Luftgebäude“ (PU 118) zurückzulassen; er liefert Fehlerdiagnosen und weist auf eine konstruktive Alternative hin. Das alternative Gesamtbild vom Seelischen läßt sich auf die Formel bringen: öffentlich wahrnehmbare Muster statt inwendig beobachteter Parallelvorgänge. Seelische oder 29 Diese Ähnlichkeitsauffassung des Bildes ist natürlich ohnehin unhaltbar (vgl. dazu ausführlich Scholz 1991, Kapitel 2); man beachte aber, daß Wittgenstein sie sich nicht zueigen zu machen braucht (was er übrigens, wie andere Stellen zeigen, auch nicht tut).

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geistige Sachverhalte oder Phänomene sind Muster einer gewissen Art, nämlich mehr oder weniger weitläufige Lebensmuster.30 Auch Vorstellungen sind spezielle Muster auf dem Band des Lebens. Darin, daß jemand sich etwas, zum Beispiel das Gesicht von Nastassja Kinski, vorstellt, kann sich vielerlei zusammenfügen, beispielsweise: daß er die Augen schließt, vor sich hinstammelt „Wie schön sie doch ist!“ und zu seinem Gegenüber sagt „Ich sehe jetzt Nastassja Kinski vor mir, wie sie sich – in „Paris, Texas“ – plötzlich umwendet und über ihre fragile Schulter schaut“. Wenn jemand sich etwas vorstellt, kann dies natürlich auch ganz anders aussehen. Statt die Augen zu schließen, starrt das vorstellende Subjekt vielleicht wie blind vor sich hin; anstatt sprachlich zu äußern, wie es sich etwas vorstellt, fertigt es womöglich eine Zeichnung, ein Gemälde oder einen Film (!) an etc. Diese Variabilität ist dabei durchaus typisch für seelische Muster. Einen weiterführenden Hinweis zur Charakterisierung des Vorstellens gibt PU 391 (vgl. auch PU 393). Es geht dort um die Frage, ob man sich vorstellen kann, „jeder der Leute, die ich auf der Straße sehe, habe furchtbare Schmerzen, verberge sie aber kunstvoll“, und vor allem darum, wie ein solches Vorstellen aussehen könnte. In diesem Zusammenhang heißt es: „Und wenn ich mir das nun vorstelle, – was tue ich; was sage ich zu mir selbst; wie sehe ich die Leute an? Ich schaue etwa Einen an und denke mir „Das muß schwer sein, zu lachen, wenn man solche Schmerzen hat“, und vieles dergleichen. Ich spiele gleichsam eine Rolle, tue so, als hätten die Andern Schmerzen. Wenn ich das tue, sagt man etwa, ich stelle mir vor, ….“ (PU 391) Es bestehen in der Tat auffällige Verwandtschaften zwischen den Begriffen Vorstellung, So-tun-als-ob und eine-Rolle-Spielen, denen weiter nachzugehen wäre. Vielleicht kann man das Vorstellen, insbesondere das visuelle und bildhafte Vorstellen, geradezu als eine besondere Form des So-tun-als-ob begreifen.31 Daß eine Person sich das Gesicht von Nastassja Kinski vorstellt, kann dahingehend verstanden werden, daß sie sich in gewissen Hinsichten so verhält, als sehe sie das Gesicht von Nastassja Kinski. Gegenüber manchen bildhaften Vorstellungen kann es angemessener sein, Beschreibungen der Form „stellt-sich-x-vor“ so aufzufassen, daß die imaginierende Person in bestimmten Hinsichten so tut, als zeichne oder male sie x. Genauso wie „vorstellen“ bilden Verben wie „so tun als ob“, „vorgeben“ etc. intensionale Kontexte. Daraus, daß eine Person so tut, als sei das-und-das der Fall, folgt nicht, daß es der Fall ist. Mithin folgt daraus, daß sie beispielsweise so tut, als sehe sie etwas bzw. ein Bild von etwas, weder daß sie wirklich etwas sieht, noch daß es da etwas Gesehenes, etwa ein Bild, gibt. „So tun als ob“, „vor30 Vgl. MS 144, S. 1/WA S. 485; MS 144, S.106/WA S. 576, sowie BPP II 651, 652, 672, 673; LS I 206, 211, 365, 406, 862, 869, 942, 966; LW II, S. 26, 35, 40, 42–43, 55, 61, 81, 84. Das an diesen Stellen angedeutete Musterrezept wird bei von Savigny 1988, 15–24, und 1996, Kapitel 9, erläutert und weiterentwickelt. 31 Eine Entfaltung dieses Grundgedankens findet sich auch bei Ryle 1949, Kapitel VIII. Zum folgenden vgl. Scholz 1995, 56–61.

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geben“ etc. sind ferner intentionale Verben in dem folgenden Sinne: Sagt man von einer Person, sie habe so getan, als ob p, so sagt man damit eo ipso, sie habe es absichtlich getan. So tun als ob ist wie Vorstellen etwas Aktives und Kreatives, das weitgehend dem Willen unterworfen ist. Vorgeben kann mit oder ohne Täuschungsabsichten auftreten. Beim Vorstellen liegen in der Regel – ebenso wie beim Fingieren der Dichter und der Schauspieler auf der Bühne – keine sinistren Absichten vor. Es handelt sich in diesem Sinne um spielerisches So tun als ob. Von solchen und weiteren „grammatischen“ Beobachtungen könnte eine konstruktive Alternative zu den verkehrten Bildern vom Vorstellen ihren Ausgang nehmen. Wittgenstein selbst hat dazu Anregungen und methodische Ratschläge gegeben, deren systematische Ausarbeitung und Bewertung nach wie vor aussteht.

Literatur B. Beakley, P. Ludlow (Hgg.), The Philosophy of Mind: Classical Problems/Contemporary Issues, Cambridge/Mass. 1992. M. Budd, Wittgenstein’s Philosophy of Psychology, London & New York 1989. H.-J. Glock, A Wittgenstein Dictionary, Oxford 1996. P. M. S. Hacker, Wittgenstein: Meaning and Mind (An Analytical Commentary on the Philosophical Investigations, Vol. 3), Oxford 1990. Hallett, Garth 1977, A Companion to Wittgenstein’s ,Philosophical Investigations‘, Ithaca, New York. M. R. M. ter Hark, Beyond the Inner and Outer: Wittgenstein’s Philosophy of Psychology, Dordrecht 1990. H. W. Krüger, , Fragwürdige Bilder. Wittgenstein über den Inhalt der Vorstellung, in: E. von Savigny und O. R. Scholz, (Hgg.), Wittgenstein über die Seele, Frankfurt am Main, 1995, 72–83. G. Ryle, The Concept of Mind, London 1949. G. Ryle, Aspects of Mind, hg. v. René Meyer, Oxford 1993. E. von Savigny, Wittgensteins ,Philosophische Untersuchungen‘: Ein Kommentar für Leser, Band I, Frankfurt a. M. 1988/1994. E. von Savigny, Wittgensteins ,Philosophische Untersuchungen‘: Ein Kommentar für Leser, Band II, Frankfurt a. M. 1989/1996. E. von Savigny, Der Mensch als Mitmensch: Wittgensteins ,Philosophische Untersuchungen‘, München 1996. E. von Savigny und O. R. Scholz, (Hgg.), Wittgenstein über die Seele, Frankfurt a. M. 1995. O. R. Scholz, Bild, Darstellung, Zeichen. Philosophische Theorien bildhafter Darstellung, Freiburg im Breisgau/München 1991. O. R. Scholz, Bilder im Geiste? – Das Standardmodell, sein Scheitern und ein Gegenvorschlag, in: K. SachsHombach (Hg.) 1995, Bilder im Geiste. Zur kognitiven und erkenntnistheoretischen Funktion piktorialer Repräsentationen, Amsterdam & Atlanta, Georgia 1995. J. Schulte, Adelheid and the Bishop – What’s the Game? in: R. L. Arrington und H.-J. Glock (Hgg.), Wittgenstein’s ,Philosophical Investigations‘: Text and Context, London 1991, 138–151. A. R. White, The Language of Imagination, Oxford 1990.

10 Hans-Johann Glock

Wittgensteins letzter Wille. „Philosophische Untersuchungen“ 611–628

Die Abschnitte 611 bis 628 der „Philosophischen Untersuchungen“ stellen ein „Kapitel“ über den Willen dar. Wittgenstein eröffnet die Diskussion wie folgt: „Das Wollen ist auch nur eine Erfahrung“, möchte man sagen (der ‚Wille‘ auch nur ‚Vorstellung‘). Er kommt, wenn er kommt, und ich kann ihn nicht herbeiführen. (PU 611) Diese rätselhafte Stelle knüpft an zwei andere Abschnitte im mittelbaren Kontext an. Sie folgt auf einen langen Abschnitt (PU 571–610), der sich mit der Idee geistiger Vorgänge und Zustände befaßt und folgendermaßen beginnt: Irreführende Parallele: Psychologie handelt von den Vorgängen in der psychischen Sphäre, wie Physik in der physischen. Sehen, Hören, Denken, Fühlen, Wollen, sind nicht im gleichen Sinne die Gegenstände der Psychologie, wie die Bewegungen der Körper, die elektrischen Erscheinungen, etc., Gegenstände der Physik. Das siehst du daraus, daß der Physiker diese Erscheinungen sieht, hört, über sie nachdenkt, sie uns mitteilt, und der Psychologe die Äußerungen (das Benehmen) des Subjekts beobachtet. (PU 571) Nach Wittgenstein gilt also für „wollen“ dasselbe wie für andere intentionale Verben wie „denken“, „beabsichtigen“ oder „meinen“: es bezeichnet nicht eine „Erscheinung“ oder ein „Phänomen“, einen geistigen oder physiologischen Prozeß oder Zustand, der unser Sprechen und Handeln begleitet. Die einzigen Phänomene, mit denen diese Verben begriff lich verknüpft sind, sind nämlich nicht derartige Begleiterscheinungen, sondern diejenigen Äußerungen des Wollens (etc.) im Verhalten, auf die wir uns stützen, wenn wir sagen, jemand wolle etwas (Glock/Preston 1995; Glock 1996 b, 179–184, 286–292).

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Im Geist dieser methodologischen Bemerkung diskutiert Wittgenstein daraufhin die Begriffe der Erwartung, Überzeugung, Hoffnung und Absicht. Dabei liefert er eine weitere Diagnose der von ihm bekämpften Position: „Wenn wir philosophieren, möchten wir Gefühle hypostasieren, wo keine sind“ (PU 598). Demnach reiht sich PU 611 in die vorhergehende Diskussion dadurch ein, daß sie die Frage aufwirft, inwiefern das Wollen eine Erfahrung oder ein Gefühl ist, ein Vorgang in einer separaten psychischen Sphäre. Die Anspielung auf die Unterscheidung zwischen Wille und Vorstellung erinnert aber auch an PU 176 (von Savigny 1996, 287). Dort geht es um die Frage, ob ich beim Befolgen einer Regel ein „Erlebnis des Einf lusses“ oder „des Weil“ meiner Handlung habe, d. h. dessen, was mich dazu bewegt, auf bestimmte Weise zu handeln. Wittgenstein gesteht zu, daß wir versucht sind, ein solches Erlebnis anzunehmen. Zugleich aber möchte ich kein erlebtes Phänomen „Erlebnis des Einf lusses“ nennen. (Hier liegt die Idee: der Wille ist keine Erscheinung). (PU 176) In „Eine Philosophische Betrachtung“ stellt Wittgenstein beide Auffassungen einander direkt gegenüber. Hier gibt es einen seltsamen Widerstreit zweier Ideen: Man möchte sagen „der Wille ist keine Erfahrung“ und – „der Wille ist doch nur Erfahrung“ (EPhilB 235). Dieser Widerstreit ist nicht nur für unser Kapitel von entscheidender Bedeutung, sondern für Wittgensteins Behandlung des Willens in seinem gesamten Werk (Candlish 1991, 1998; Hacker 1996, Kap. 5). Wittgenstein drückt ihn durch Bezug auf Schopenhauers Unterscheidung zwischen der Welt als Wille und der Welt als Vorstellung aus. Auf der einen Seite steht die empiristische Auffassung, derzufolge auch das Wollen nur eine Erfahrung ist, ein psychisches Phänomen, das Teil der kausalen Naturordnung und daher unseren Entscheidungen nicht unterworfen ist. Auf der anderen Seite steht die transzendentalphilosophische Auffassung, wonach der Wille keine Erscheinung ist, nichts, das uns nur widerfährt, sondern „nur Treibendes und nicht Getriebenes“ (PU 618), „das eigentliche Agens“ und daher ein „ausdehnungsloser Punkt“, der selbst „kein Volumen der Erfahrung“ hat (PU 620). Ich werde zunächst den historischen Hintergrund für diesen Gegensatz beim frühen Wittgenstein und seinen Vorgängern klären (Abschnitt 1). Die nächsten sechs Abschnitte sind jeweils einem Teil von PU 611–628 gewidmet. Sie zeigen, wie sich die von Wittgenstein diskutierten Behauptungen und seine Repliken vor diesem Hintergrund zu einem Gedankengang ordnen lassen. Trotz Wittgensteins sprunghafter Taktik wird seine Strategie klar. Er versucht den Gegensatz zwischen empiristischen und transzendentalen Positionen dialektisch aufzulösen. Erstens weist er beide Auffassungen zurück;

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zweitens hinterfrägt er die von ihnen zugrunde gelegte Annahme, der Unterschied zwischen willkürlichem und unwillkürlichem Handeln bestehe in etwas, das dem Handeln vorausgehe oder es begleite. Im letzten Abschnitt gehe ich kurz auf die Implikationen unseres Kapitels für die gegenwärtige Debatte über den Willen ein.

10.1 Der Hintergrund Die empiristische Position findet sich z. B. bei Hume,1 demzufolge der Wille nichts anderes ist als ein Eindruck (impression), den wir verspüren, wenn wir eine Körperbewegung einleiten. Sie beherrscht auch die frühen psychologischen Studien zum Willen, z. B. bei Wundt, Bain, Helmholtz und Mach. Laut Wundt sind alle freiwilligen Handlungen von einem Gefühl der Innervation gekennzeichnet. William James bestritt die Existenz dieser Innervationsgefühle. Gleichzeitig lief seine „idea motor“-Theorie jedoch darauf hinaus, das Wollen einer körperlichen Handlung sei die „kinaesthetic idea … of what the act is to be“:2 daß ich zum Zeitpunkt t eine körperliche Bewegung der Art B vollführen will, heißt, daß ich zu t eine Erinnerung an diejenigen kinästhetischen Empfindungen habe, die mit früheren Ausführungen von B verbunden waren. In The Analysis of Mind (Kap. XIV) schloß Russell sich dieser Theorie an. Im Einklang mit seiner generellen These „that all psychic phenomena are built up out of sensations and images alone“ bestand er darauf, daß „sensations and images, with their causal laws, yield all that seems to be wanted for the analysis of the will, together with the fact that kinaesthetic images tend to cause the movements with which they are connected“3 . (Vgl. Shanker 1993.) Die transzendentalphilosophische Perspektive findet ihren explizitesten Ausdruck in Schopenhauers Willensmetaphysik. Schopenhauer unterscheidet zwischen einer noumenalen und einer phänomenalen Welt. Was letztere anbelangt, so vertritt er einen radikalen Idealismus: „die Welt ist meine Vorstellung“,4 d. h. sie ist nichts anderes als der Inbegriff der zum Subjekt gehörenden Vorstellungen. Aber diese Welt als Vorstellung ist ihrerseits die Manifestation eines Dinges an sich, nämlich der Welt als Wille, einer unpersönlichen Urkraft. Gegen Kant besteht Schopenhauer darauf, daß dieses Ding an sich erkennbar ist, obwohl es nicht den Erscheinungsformen unterliegt. Denn unsere Körper sind eine direkte Manifestation dieses kosmischen Willens, und zu unserem ei1 D. Hume, A Treatise of Human Nature, Oxford 1978 (1. Auf l. 1739), II.iii.1. 2 W. James, The Principles of Psychology, New York 1890, 492 f. 3 B. Russell, The Analysis of Mind, London 1921, 279, 285. 4 A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, in: Sämtliche Werke Bd. I–II, Frankfurt 1986 (1. Auf lage 1819 und 1844), Bd. I, §§ 1–5.

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genen Wollen haben wir einen direkten Zugang, da unsere eigenen Handlungen nicht bloße Erscheinungen sind, sondern Ereignisse, die wir „von innen heraus“ verstehen.5 Wittgensteins Diskussion des Willens im „Tractatus“ verbindet empiristische und transzendentalphilosophische Motive.6 Ausgangspunkt ist seine zweiteilige Auffassung des Ich, die mit einer Diskussion des Solipsismus verknüpft und von Schopenhauer beeinf lußt ist. Wie Kant und Schopenhauer lehnt er die Cartesische Vorstellung vom Ich ab. „Das denkende, vorstellende Subjekt gibt es nicht.“ In einem Buch mit dem Titel „Die Welt, wie ich sie vorfand“ wäre zwar von meinem Leib die Rede und auch von der „menschlichen Seele“, einer Abfolge geistiger Episoden, die den Gegenstand der Psychologie bilden, aber nicht von einer einheitlichen Seele im Sinne von Descartes, einer mentalen Substanz, der die geistigen Zustände innewohnen (TLP  5.631 und 5.5421). Im Geiste Kants und Schopenhauers postuliert der „Tractatus“ aber zusätzlich zu dieser Abfolge geistiger Episoden ein metaphysisches Subjekt. Es gibt ein „philosophisches Ich“ oder „metaphysisches Subjekt“. Dieses ist aber kein „Gegenstand“, kein „Teil der Welt“, sondern ihr „Zentrum“, d. h. sowohl „eine Voraussetzung ihrer Existenz“ als auch ihre „Grenze“. Denn „die Welt ist meine Welt“, sie ist das, was von meinem philosophischen Ich sprachlich abgebildet wird.7 Aber das metaphysische Subjekt der Abbildung ist selbst kein Gegenstand der Abbildung, sondern ein „ausdehnungsloser Punkt“. Sein Verhältnis zu dem, was abgebildet wird, ist analog dem des Auges zum Gesichtsfeld, und zwar nicht dem des Sinnesorganes (das Teil des Körpers ist), sondern dessen, was Wittgenstein später das „geometrical eye“ genannt hat (5.631–5.641; TB 11.6., 2.8.–11.8., 2.9.16; BlB 63; LPE 257; s. a. Schopenhauer a. a. O. Bd. I, § 2, Bd. 2, Kap. 22 und 41). Eng verknüpft mit dieser Zweiteilung in psychologisches bzw. empirisches und philosophisches bzw. metaphysisches Ich ist die Zweiteilung des Willens. Auf der einen Seite steht „der Wille als Phänomen“, der nur die Psychologie interessiert und der ein Teil jener Abfolge geistiger Episoden ist, welche die Seele im Sinne der Psychologie ausmachen. Auf der anderen Seite steht „der Wille als Träger des Ethischen“, von dem aber nicht gesprochen werden kann (TLP 6.423). „Das vorstellende Subjekt ist wohl leerer Wahn. Das wollende Subjekt aber gibt es. Wäre der Wille nicht, so gäbe es auch nicht jenes Zentrum der Welt, das wir das Ich nennen, und das der Träger der Ethik ist“ (TB 5.8.16; s. a. 15.–17.10.16). Diese Stellen legen nahe, daß das wollende Subjekt mit dem philosophischen Ich identisch ist, jenem metaphysischen Subjekt der Abbildung, das ebenfalls kein Teil der Welt und kein Gegenstand sprachlicher Abbildung ist. Wie Schopenhauer betrachtet Wittgenstein die Welt, den Gegenstand der Vorstellung bzw. Abbildung, als wertneutral und verortet daher die Ethik in einem Willen, der 5 A. a. O. Bd. I, § 19, Bd. 2, Kap. 18. 6 Zu Wittgensteins früher Position s. Winch 1968; Lange 1989; Glock 1999 und 1996 b, s. v. „solipsism“ und „will“). 7 Zu den solipsistischen Konsequenzen dieser Idee s. Glock 1996 b, 348–352.

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außerhalb der abgebildeten Welt steht. Aber für Schopenhauer ist der Wille eine blinde und schädliche Kraft, die es zu überwinden gilt. Für Wittgenstein dagegen muß der Wille der „Träger von Gut und Böse“ sein, und zwar deshalb, weil Einstellungen wie Liebe oder Mitleid – denen auch Schopenhauer positiven moralischen Wert zuspricht – selbst Ausübungen des Willens sind (TB 21., 24., 29.7.16). Wie bei Schopenhauer, so ist bei Wittgenstein das wollende Subjekt unpersönlich, ein „Weltwille“. Aber in einem höheren Sinne (dem Sinn nämlich, in dem der Solipsismus wahr ist) ist dieser Wille, der „die Welt durchdringt“, „mein Wille“ (TB 11.6., 17.10.16). Außerdem lehnt Wittgenstein Schopenhauers metaphysische Auffassung ab, wonach der Wille das Ding an sich ist, welches sich in der phänomenalen Welt manifestiert. Der metaphysische Wille ist keine Urkraft, welche die Welt bestimmt, sondern eine ethische „Stellungnahme des Subjekts zur Welt“. Er verändert nicht die Tatsachen, sondern vielmehr „die Grenzen der Welt“: der gute Wille ist derjenige des glücklichen Menschen, der die Tatsachen mit stoischer Gleichmut hinnimmt (TB 5., 8., 29., 30.7., 4.11.16; TLP 6.421–6.43). Dieser kontemplativen Auffassung des Willens liegt die Überzeugung zugrunde, daß der Wille impotent ist. „Die Welt ist unabhängig von meinem Willen“ (TLP 6.373; TB 11.6., 8.7.16). Zwei Gründe für diese Auffassung lassen sich finden. Erstens läßt die Annahme, meine Körperbewegungen seien meinem Willen unterworfen, es so aussehen, „als stünde ein Teil der Welt mir näher als ein anderer“. Dies ist genau Schopenhauers Position; aber Wittgenstein hält sie für „unerträglich“, vielleicht aus folgendem Grund: Wenn die Welt nichts anderes ist als das, was ich abbilde, kann ich nicht zu einem Teil der Welt noch eine zweite, nicht-abbildende Beziehung haben (TB 4.11.16; s. TLP 5.62 ff.). Der zweite Grund ist die Humesche Auffassung von Kausalität, derzufolge zwischen zwei empirischen bzw. weltlichen Ereignissen keine logische Beziehung besteht. „Und außerhalb der Logik ist alles Zufall“ (TLP 6.3). Es gibt keinen „Kausalnexus“, der es erlaubte, „aus dem Bestehen irgendeiner Sachlage auf das Bestehen einer von ihr gänzlich verschiedenen Sachlage“ zu schließen (TLP 5.135–5.1361). Dies gilt auch für das Verhältnis zwischen meinen Willensentscheidungen – psychologischen Ereignissen, die Teil meines empirischen Ichs sind – und meinen Körperbewegungen. Daß meinem Arm-heben-Wollen das Heben meines Armes folgt, ist keine „innere Notwendigkeit“. „Auch wenn alles, was wir wünschen, geschähe“, so würde es sich doch nur um einen zufälligen physikalischen Zusammenhang zwischen „Wille und Welt“ handeln, der seinerseits nicht meinem Willen unterworfen wäre (TLP 5.1362, 6.374). Aus dieser Auffassung folgt, daß Willensfreiheit nicht darauf hinauslaufen kann, daß ich meine eigenen Handlungen kontrolliere, sondern nur darauf, daß ich meine künftigen Handlungen ebensowenig vorhersagen kann wie irgendwelche anderen Ereignisse. Es folgt auch, daß Schopenhauer in zweifacher Hinsicht unrecht hatte. Ich habe keine intuitive Gewißheit meiner eigenen Handlungen und der menschliche Körper hat keine Sonderstellung. Zwar unterstehen manche Glieder meinem Willen, andere nicht. Das besagt aber nur, daß es im ersteren Fall eine zufällige Korrelation zwischen einem geis-

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tigen Ereignis und der Bewegung des Gliedes gibt. Denn selbst „mein Körper“ ist nur „ein Teil der Welt unter anderen Teilen der Welt“, auf einer Stufe mit Steinen, Tieren oder den Körpern anderer Menschen (TLP 5.631, 5.641; TB 2.9., 12.10.16). Die Zweiteilung des Willens im „Tractatus“ hat zur Folge, daß der Wille auf ein rein kontemplatives Phänomen reduziert wird. Der metaphysische Wille ist nur eine ethische Einstellung, und der psychologische Wille ist ein empirisches Phänomen wie jedes andere: „ich kann ihn nicht herbeiführen“, und er ist nur zufällig mit meinen Körperhandlungen verknüpft. Einige Stellen der „Tagebücher“ bringen gegen diese paradoxe kontemplative Auffassung triftige Einwände vor. Zum einen folgen sie Schopenhauers Unterscheidung von Wünschen und Wollen. Nur ersteres ist ein bloßes Phänomen (Erfahrung), dem keine Körperbewegung zu folgen braucht. Letzteres dagegen ist „nicht die Ursache der Handlung“ – welche mit der Handlung nur auf kontingente Weise verknüpft sein könnte – „sondern die Handlung selbst“. „Man kann nicht wollen, ohne zu tun.“ Deswegen können wir mit bezug auf unsere gewollten Handlungen Gewißheit haben: ich kann nicht nur autoritativ sagen, welche meiner Bewegungen willentlich sind, sondern auch z. B. vorhersagen, daß ich in fünf Minuten willentlich meinen Arm heben werde (TB 4.–9.11.16; Schopenhauer a. a. O. Bd. I, § 16). Es scheint, als verfolge Wittgenstein diesen Gedanken deshalb nicht weiter, weil er keine Vorstellung bzw. Erfahrung ausmachen kann, an der sich diese Gewißheit festmachen ließe. Zum anderen deutet Wittgenstein an diesen Stellen an, daß selbst das Vorstellen – d. h. die Abbildung der Welt, welche die Bildtheorie zu erklären sucht – eine Betätigung des Willens zu beinhalten scheint. Demnach wäre Abbildung unmöglich, falls wir nicht wenigstens gewisse mentale Ereignisse kontrollieren könnten (TB 21.7.16). Hier liegt eine grundlegende Inkonsistenz in Wittgensteins früher Position. Einerseits wird der Wille als impotent abgetan. Andererseits aber scheinen es willentliche Akte des Meinens oder Hinweisens zu sein, welche die Sprache (Satzzeichen) auf die Welt (Situationen) projizieren, Akte des metaphysischen Subjekts, die kein Teil der Sprache oder der Welt sind, sondern deren Grenzen bestimmen (TB 15.10., 9.11., 26.11.16; TLP 5.62, 5.641). In den frühen dreißiger Jahren diskutiert Wittgenstein den Willen zunächst aus dieser Perspektive. Er behauptet, daß Denken, Beabsichtigen und etwas Meinen keine „Phänomene“, „Erscheinungen“ oder „Vorgänge“ sind, d. h. keine psychologischen oder physiologischen Begleiterscheinungen des Redens und Handelns. Solche Erscheinungen sind kein „lebender Gedanke“, der die Welt abbildet, sondern „tot“, da das Subjekt ihnen nur „von außen“ gegenübersteht, als passiver Zuschauer. Widerfährt es mir z. B. nur, daß mir ein geistiges Bild oder ein geistiger Satz durch den Kopf geht (z. B. bei zwanghaften Bildern oder Ohrwürmern), ohne daß ich ihn als Ausdruck meines Gedankens anerkenne, so ist diese Erscheinung ohne Belang dafür, was ich denke. Dies ist „analog“ der „Schopenhauerschen Auffassung“ (PG 144) des Willens, die Wittgenstein wie folgt charakterisiert:

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„Der Wille kann kein Phänomen sein, denn jedes Phänomen geschieht wieder nur, wird von uns hingenommen, ist aber nicht etwas, was wir tun. Der Wille ist nicht etwas, was ich geschehen sehe, sondern er besteht gleichsam darin, daß wir in der Handlung sind; daß wir die Handlung sind“ (PG 144, s. 143–148; Zettel 235–238). In späteren Fassungen (BrB 150–155; EPhilB 233–237) wird der Wille ohne direkten Bezug auf die Intentionalitätsproblematik diskutiert. Aber in den „Philosophischen Untersuchungen“ ist der Zusammenhang insofern wiederhergestellt, als das Kapitel über den Willen einer Diskussion des Beabsichtigens (PU 629–660) und des Etwas-Meinens (PU 661–693) vorausgeht. Dies ist kein Zufall. Denn ein Resultat dieser Kapitel ist, daß nur solche Lebewesen etwas beabsichtigen oder meinen können, die autoritativ ausdrücken können, was sie beabsichtigen oder meinen, und die für das, was sie meinen, verantwortlich sein können. Dies setzt aber die Fähigkeit zu willentlichem Handeln voraus. Wille und Vorstellung sind also nicht radikal getrennt wie bei Schopenhauer, sondern verweisen aufeinander.

10.2 PU 611–613: Die Kritik der empiristischen Position Wittgenstein beginnt die Diskussion in PU 611 mit einer Darlegung der empiristischen Position, wonach das Wollen i) nur eine Erfahrung oder „Vorstellung“ ist; ii) kommt, wann es kommt, und daher nicht herbeigeführt werden kann. „Eine Philosophische Betrachtung“ (235–236) legt nahe, daß Wittgenstein diese beiden Behauptungen für äquivalent hält, wohl deshalb, weil Erfahrungen paradigmatische geistige Phänomene oder Vorstellungen sind, die nicht dem Willen unterworfen sind. Aus der Diskussion des Hintergrundes ist klar, daß sich beide Behauptungen bei James, Russell und in der Diskussion des phänomenalen Willens im „Tractatus“ finden lassen. Aber die Art, wie Wittgenstein diese Position einführt („möchte man sagen“), deutet an, daß er sie noch immer für philosophisch verlockend hält. Dafür lassen sich folgende Gründe finden: Erstens scheint unsere Gewißheit darüber, daß wir etwas wollen und was wir wollen, zu verlangen, daß sich der Wille „auf eine Vorstellung“ bezieht (TB 4.11.16). D. h., es muß geistige Episoden geben, die wir in der Introspektion unfehlbar feststellen können und die mit unseren Willensakten identisch sind oder zumindest eindeutig mit ihnen korrelieren. Zweitens legen gewisse Experimente nahe, daß man nicht immer wollen kann. Es fällt uns z. B. schwer, ein Viereck zu zeichnen, wenn wir nur über einen Spiegel auf das Blatt

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schauen, oder einen bestimmten Finger einer verschränkten Hand zu bewegen, sofern dieser nicht berührt wird (PU 617; TB 4.11.16; BrB 153–154; EPhilB 236). Drittens scheint es, daß man zwar bestimmte Tätigkeiten wie Schwimmen wollen kann, aber nicht das Wollen selbst (PU 613). Ryle könnte hinzufügen, daß die Idee, auch das Wollen könne gewollt werden, einen Regreß impliziert:8 wäre das Wollen selbst eine freiwillige Handlung wie Schwimmen, so müßte jedes Wollen selbst wieder durch ein Wollen hervorgebracht werden, etc. Wittgensteins Replik auf die empiristischen Behauptungen (i) und (ii) geht zunächst nicht auf diese Motive ein. Stattdessen fragt er, wovon das Wollen abgesetzt wird, wenn es heißt, man könne es nicht herbeiführen (PU 611 b). Der nächste Abschnitt liefert die Antwort: nämlich von willentlichen Handlungen wie der Bewegung meines Armes, die im Gegensatz zum Herzklopfen gerade nicht als etwas gelten, das kommt, wenn es kommt, sondern als etwas, das wir tun (PU 612). Dies deutet auch eine erste Schwierigkeit mit der empiristischen Position an. Gewollte Handlungen sind eben gerade nicht etwas, das uns widerfährt. Und wenn der Empirist antwortet, daß dies für die Handlungen gelten mag, aber nicht für das Wollen, das sie verursacht, so ist die transzendentale Antwort plausibel (s. o). Bei willentlichen Handlungen sind wir „in der Handlung“, d. h. wir sind für sie verantwortlich. Das wäre aber unmöglich, falls das Wollen, das diese Handlungen angeblich auszeichnet, seinerseits eine von uns passiv erlebte Erfahrung wäre. PU 613 verfolgt einen anderen Einwand gegen die empiristische Position. In dem Sinn, in dem man überhaupt etwas herbeiführen kann, kann man auch das Wollen herbeiführen. Denn X herbeiführen heißt etwas tun, zu dessen kausalen Konsequenzen X gehört. Zu diesen Konsequenzen des Handelns kann aber auch Wollen gehören. So kann ich das Schwimmen-Wollen herbeiführen, indem ich ins Wasser springe. Aber der Empirist wollte eigentlich etwas anderes bestreiten, nämlich daß man wollen wollen kann. Damit hat er in gewisser Weise Recht. Es hat keinen Sinn, vom Wollen-Wollen zu sprechen. Aber daraus folgt nur, daß Wollen keine freiwillige Handlung ist, nicht, daß Wollen etwas ist, das uns nur widerfährt. Wollen ist eben keine Handlung, weder eine „willkürliche“ noch eine unwillkürliche (u. a. weil Wollen nicht befohlen werden kann und nichts ist, das mißlingen oder versucht werden kann, s. PU 618). An diesem Punkt wird PU 613 undurchsichtig. Und mein falscher Ausdruck kam daher, daß man sich das Wollen als ein unmittelbares, nichtkausales, Herbeiführen denken will. Dieser Idee aber liegt eine irreführende Analogie zu Grunde; der kausale Nexus erscheint durch einen Mechanismus hergestellt, der zwei Maschinenteile verbindet. Die Verbindung kann auslassen, wenn der Mechanismus gestört wird. 8 G. Ryle, The Concept of Mind, London 1949, Kap. III 1.

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Bei dem falschen Ausdruck kann es sich entweder um (a) „Ich kann das Wollen nicht wollen“ (PU 613) handeln oder um (b) „Ich kann das Wollen nicht herbeiführen“ (PU 611). Die letztere Lesart ist plausibler. Erstens ist (a) ja laut PU 613 korrekt. Zweitens bezieht sich die Diagnose des falschen Ausdrucks auf die Idee des Herbeiführens. Drittens geht dies auch aus „Zettel“ 579–580 und aus MS 114, 105, 111 hervor (zitiert in Hacker 1996, 595): (b) ist ein falscher Ausdruck für (a). Es beruht nämlich auf dem folgenden Schluß: P1 : Das Wollen einer Handlung ist ein Herbeiführen der Handlung. P2 : Man kann nicht wollen wollen. C: Man kann das Wollen nicht herbeiführen. Der Schluß ist gültig, aber P1 ist falsch, wie „Zettel“ 579 darlegt. Denn gemäß der oben angedeuteten Analyse führen wir nicht unsere (freiwilligen) Handlungen selbst herbei, sondern nur deren kausale Konsequenzen. So führe ich z. B. nicht herbei, daß ich die Treppe hinaufrenne, wohl aber kann ich durch dieses Rennen heftiges Herzklopfen herbeiführen.

10.3 PU 614–616: Die Unterscheidung von Wollen und Wünschen Wer P1 akzeptiert, betrachtet entweder das Wollen als ein unmittelbares Herbeiführen (PU 613), was dem Sinn von „herbeiführen“ widerspricht.9 Oder aber er denkt, daß ich meine willkürlichen Bewegungen wie das Heben meines Armes mittelbar verursache. PU 614 bestreitet dies, aber Wittgensteins Gründe finden sich anderswo. Erstens treffe ich keine Vorbereitungen, um meinen Arm zu heben (MS 111, 313); zweitens unterliegen die physiologischen Prozesse, von denen man sagen könnte, sie verursachten die Bewegung des Armes, wie z. B. die Nervenreizungen, gerade nicht meinem Willen (s. BrB 153). PU 614 beläßt es dabei, zu bestreiten, daß das Wünschen ein Mittel zur Herbeiführung der Bewegung sei. Der Grund dafür, daß Wittgenstein auf diese keineswegs naheliegende Behauptung eingeht, ist der, daß sie eine Folge der empiristischen Position ist. Laut James z. B. ist das Wünschen ebenso eine kinästhetische Idee wie das Wollen. Was 9 Die Einfügung „nichtkausales“ erklärt sich aus der „irreführenden Analogie“, die fälschlicher Weise davon ausgeht, daß alle kausalen Beziehungen indirekter Art sind, was Wittgenstein selbst explizit bestreitet (Glock 1996 b, „causation“). Die Analogie liegt der Idee des unmittelbaren Herbeiführens in folgendem Sinn zu Grunde: da beim „Herbeiführen“ unserer Handlungen keine Gefahr besteht, daß die Verbindung zwischen Wollen und Handlung zusammenbricht, und da es scheint, als ob nur durch die Einführung von Zwischengliedern diese Gefahr entsteht (fälschlicher Weise, wie die abschließende Bemerkung in Klammern andeutet), scheint es, als müsse die Verbindung ein unmittelbares Hervorbringen sein (s. a. MS 111, 167).

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diese geistigen Episoden unterscheidet, sind nicht ihre intrinsischen Eigenschaften, sondern vielmehr, daß beim bloßen Wunsch entgegengesetzte Neigungen im Spiel sind, die ein entsprechendes Handeln vereiteln (a. a. O., S. 525). Ähnlich im „Tractatus“ (6.374), wo Wollen als eine mentale Episode behandelt wird, die ebenso impotent ist wie bloßes Wünschen. PU 616 attackiert diese Position durch eine grammatische Bemerkung: wenn ich meinen Arm hebe, so habe ich mir nicht gewünscht, er möge sich heben. Ich kann höchstens wünschen, mein Arm möge sich auf eine besonders elegante Weise bewegen, aber das bestärkt nur Wittgensteins Behauptung, daß Wünschen dort beginnt, wo die einfache willkürliche Handlung aufhört. Es folgt, daß eine einfache willkürliche Handlung nicht in einen Wunsch und eine von ihm verursachte Körperbewegung analysiert werden kann. PU 615 behandelt die transzendentale Gegenposition (Schopenhauer a. a. O. Bd. I, § 18; TB 4.11.16), die diese Lektion respektiert. Das Wollen ist nicht ein Wünschen, das die Handlung als eine ihrer kausalen Konsequenzen hat, sondern die Handlung selbst. Aber es ist dies im „gewöhnlichen Sinne“ von Handlung, was wohl heißt, nicht als ein Ausdruck des Schopenhauerschen Weltwillens, sondern im Sinne gewöhnlicher Handlungen. PU 615 begegnet auch dem offenkundigen Einwand, das Wollen könne nicht mit der Handlung identisch sein, da wir wollen können, ohne tatsächlich zu handeln. In solchen Fällen ist das Wollen identisch mit dem Versuch oder der Bemühung zu handeln. Denn Versuchen ist ebenso etwas, was wir tun – etwas, das befohlen werden kann – wie vollzogene Handlungen (Zettel 589; LPP 80).

10.4 PU 617–620: Übergang zur transzendentalphilosophischen Position PU 617 diskutiert eines der Experimente, welche den Empiristen dazu verleiten anzunehmen, das Wollen sei eine bloße Erfahrung (kinästhetischer Art). Zugleich leitet der Abschnitt aber auch über zu einer Diskussion der transzendentalen Gegenposition. Wenn wir unsere Finger in besonderer Weise verschränken, so sind wir manchmal nicht im Stande, einen bestimmten Finger auf Befehl zu bewegen, wenn der Befehlende bloß auf den Finger zeigt – ihn bloß unserm Aug zeigt. Wenn er ihn dagegen berührt, so können wir ihn bewegen. Man möchte diese Erfahrung so beschreiben: wir seien nicht im Stande, den Finger bewegen zu wollen. Der Fall ist ganz verschieden von dem, wenn wir nicht im Stande sind, den Finger zu bewegen, weil ihn etwa jemand festhält.

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Wittgenstein lehnt die Erklärung ab, wonach in solchen Fällen der Wille deshalb keinen Angriffspunkt finde, weil wir kein (kinästhetisches) Gefühl vom betroffenen Körperteil haben (z. B. James a. a. O., S. 490–491). Denn wie sollte ein solches Gefühl mich lehren, wo der Wille anzupacken hat? In seiner Diskussion der kinästhetischen Empfindungen findet sich noch ein weiterer Einwand: aus der Tatsache, daß man in Abwesenheit kinästhetischer Empfindungen (z. B. in lokaler Narkose) bestimmte Dinge nicht tun kann, folgt nur, daß die kinästhetischen Empfindungen kausale Voraussetzungen sind, nicht, daß sie uns im Normalfall als Anhaltspunkt dienen (BPP I 382–408, 754–798). Dies liefert allerdings kein Argument gegen den empiristischen Verdacht, das Experiment zeige, daß man nicht wollen wollen könne. PU 617 b beläßt es bei dem Hinweis, daß dies keine apriorische Einsicht in das Wollen generell ist, sondern nur ein empirisches Resultat, das auf bestimmte Fälle beschränkt ist. Falls das „hier“ von PU 618 sich auf PU 617 bezieht, so geht es wohl um die Vorstellung (von Wittgensteins Antagonisten), daß die Schwierigkeit, den Finger zu bewegen, keinesfalls darauf zurückgeführt werden kann, daß ich meinen Willen nicht in Bewegung setzen kann, sondern allenfalls darauf, daß mein trägheitsloser Wille keinen Anhaltspunkt findet. Aber auf jeden Fall nimmt PU 618 nicht nur Wittgensteins Gedankengang von PU 613 wieder auf (Candlish 1991, 218; von Savigny 1996, 293), sondern führt auch PU 617 fort. So wie PU 613 gegen den Empiristen geltend machte, daß es mir nicht deswegen mißlingt zu wollen, weil der Wille bloße Erfahrung ist, so macht PU 618 gegen den Transzendentalisten geltend, daß es mir nicht deswegen gelingt, weil der Wille nur Treibendes ist. Beide Positionen ignorieren, daß das Wollen eben keine Handlung ist, die gelingen oder mißlingen kann. Wie PU 619 festhält: ich kann nur insofern jederzeit wollen, als ich nicht versuchen kann zu wollen. In PU 620 formuliert Wittgenstein die transzendentale Auffassung, wonach das Wollen jenseits der Erfahrung liegt. Das Tun, das eigentliche Agens, ist im Gegensatz zu der resultierenden Körperbewegung kein Gegenstand der Erfahrung, sondern ein „ausdehnungsloser Punkt“, so wie das metaphysische Subjekt im transzendentalen Solipsismus des „Tractatus“ (5.631–5.64; s. a. PG 144, 156). In MS 115 (107) folgt eine explizite Diagnose dieses Bildes. Der Eindruck, das Wollen sei aktiv auf eine Weise, die es verbietet, es in der Erfahrung anzusiedeln, beruht auf der Tatsache, daß wir den Gegensatz zwischen willkürlichen und unwillkürlichen Handlungen manchmal durch den Gegensatz zwischen Ausdrucksweisen wie „Ich hebe meinen Arm“ und Ausdrucksweisen wie „Mein Arm hebt sich“ ausdrücken.

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10.5 PU 621–623: Die Subtraktionsfrage und das Versuchen PU 621 geht zur Bekämpfung des transzendentalen Ansatzes über. Aber vergessen wir eines nicht: wenn ‚ich meinen Arm hebe‘, hebt sich mein Arm. Und das Problem entsteht: was ist das, was übrigbleibt, wenn ich von der Tatsache, daß ich meinen Arm hebe, die abziehe, daß mein Arm sich hebt? Aber in welchem Gegensatz steht der grammatische Satz „Wenn ich meinen Arm hebe, so hebt sich mein Arm“ zu der Idee, das eigentliche Tun liege jenseits jeglicher Erfahrung? Im Anschluß an die in PU 620 ausgelassene Diagnose von MS 115 macht PU 621 darauf aufmerksam, daß zwischen den beiden Ausdrucksformen wesentliche Zusammenhänge bestehen, die es verbieten, sich auf erstere, und damit ein transzendentes Tun, zu konzentrieren. Allgemeiner gesprochen, es gibt Phänomene, die mit willkürlichen Handlungen wesentlich verknüpft sind. Dies richtet sich insbesondere gegen den „Tractatus“, demgemäß weder der metaphysische Wille noch der phänomenale Wille in irgendeinem „logischen“ oder „inneren“ Zusammenhang mit Körperbewegungen stehen (s. o.). Frühere Stellen verdeutlichen diese Kritik an der transzendentalen Konzeption. Die Vorstellung, der Wille sei keine Erfahrung, beruht nicht auf Introspektion (EPhilB 235). Im Gegenteil, wenn ich meinen Arm willentlich bewege, so mache ich auch Erfahrungen: ich sehe und spüre, wie ich den Arm bewege. Dann versuche also einmal zu unterscheiden zwischen allen Erfahrungen des Handelns plus dem Tun (das keine Erfahrung ist) und allen diesen Erfahrungen ohne das Element des Tuns. Überlege, ob Du dieses Element [sic!] auch weiter noch bedarfst, oder ob es Dir nun obsolet erscheint. (PG 145) Daraus ergibt sich zugleich der Zusammenhang mit der berühmten Subtraktionsfrage: „was ist das, was übrigbleibt, wenn ich von der Tatsache, daß ich meinen Arm hebe, die abziehe, daß mein Arm sich hebt?“ Wenn der Unterschied zwischen willkürlicher und unwillkürlicher Bewegung nicht jenseits der Erfahrung anzusiedeln ist, so muß es scheinbar doch eine Erfahrung geben, die zum bloßen Heben meines Armes hinzukommen muß, damit ich meinen Arm hebe. Aus dem vorhergehenden ist jedoch klar, daß Wittgenstein diese Frage für irreführend hält. Denn die Subtraktion könnte nur dann erfolgreich sein, wenn der Unterschied zwischen willkürlicher und unwillkürlicher Handlung in etwas besteht, das der Körperbewegung vorausgeht – ob nun reines Tun oder Erfahrung. Wittgensteins Gedankengang läuft aber darauf hinaus, daß genau dies nicht der Fall ist. Im Gegensatz zu Ref lexbewegungen ist etwas Tun nichts, das mir bloß geschieht und das ich beobachte. Aber der Unterschied ist nicht, daß im letzteren Fall ein reines Tun jenseits der Erfahrung im Spiel ist (PG 145).

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In den PU argumentiert Wittgenstein für diese Position nur indirekt, indem er zwei mögliche Antworten auf die Subtraktionsfrage zurückweist. Mein willentliches Heben des Armes unterscheidet sich von dem unwillkürlichen Heben des Armes nicht dadurch, daß ich versuche, den Arm zu heben. „Wollen“ wird manchmal in der Bedeutung von „versuchen“ gebraucht – nämlich in den Fällen, in denen es nicht mit einer erfolgreichen Handlung identisch ist (PU 615; BPP I 51). Aber bei einer derart einfachen willkürlichen Handlung ist (zumindest in der Regel) kein Versuch im Spiel (PU 622). Ich kann nur unbedingt danach trachten, etwas zu tun, wenn die betreffende Handlung mit Schwierigkeiten verknüpft ist oder das Risiko des Scheiterns besteht (PU 623; s. LS I 848; MS 129, 163–166).

10.6 PU 624–626: Die Subtraktionsfrage und kinästhetische Empfindungen Wittgenstein verwendet mehr Mühe auf die Antwort, daß der Unterschied darin liege, daß mein Wollen entweder in bestimmten kinästhetischen Empfindungen bestehe (PU 621 b) oder von solchen Empfindungen zumindest derart begleitet werde, daß ich das willentliche Armheben am Erscheinen dieser Empfindung erkennen könne (PU 624–626). Gemäß dieser Auffassung bewege ich meinen Arm genau dann, wenn sich mein Arm bewegt, während ich diejenige kinästhetische Empfindung verspüre, welche normalerweise diese Bewegung begleitet. Die Ideo-Motor-Theorie von James unterscheidet sich von dieser Auffassung nur dadurch, daß sie die kinästhetischen Empfindungen durch die Idee der entsprechenden Empfindungen ersetzt (d. h. durch die Erinnerung an sie oder durch die Vorstellung von ihnen). In anderen Teilen seines Werkes bestreitet Wittgenstein die Voraussetzung, wonach alle willkürlichen Bewegungen von solchen Empfindungen begleitet werden. Hier jedoch stellt er nur in Abrede, daß wir den Unterschied zwischen willkürlichem und unwillkürlichem Armheben an diesen Empfindungen erkennen können. In PU 624 stellt er sich zunächst ein Experiment vor, bei dem das Subjekt unter dem Einf luß elektrischer Ströme fälschlicher Weise behauptet, es bewege seinen Arm. Ein solches Experiment würde nahelegen, daß wir derartige Behauptungen auf der Grundlage kinästhetischer Empfindungen machen. Im Gegenzug fordert uns Wittgenstein dazu auf, unseren Arm hin und her zu bewegen und uns dennoch einzureden, er stehe still (vgl. PG 144 und James a. a. O., S. 527). Das unausgesprochene Resultat soll sein, daß dies nicht gelingt. Die ebenfalls unausgesprochene Folgerung: selbst wenn kinästhetische Empfindungen das Armheben begleiten, kann man sie nicht von der Bewegung selbst abtrennen; also können sie auch nicht die Antwort auf die Subtraktionsfrage liefern. PU 625 geht einen Schritt weiter. Mein Wissen, daß ich den Arm gehoben habe, beruht nicht darauf, daß ich die dafür typischen kinästhetischen Empfindungen wie-

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dererkenne. Denn da diese Empfindungen sich nach PU 624 nicht von der Bewegung isolieren lassen, ist das Kriterium dafür, daß ich die Empfindungen richtig wiedererkannt habe, meine Sicherheit, daß ich den Arm gehoben habe. Wir erschließen die Position und Bewegung unserer Glieder also nicht aus kinästhetischen Empfindungen, wie vor allem Russell annahm (s. Candlish 1995). Die epistemische Priorität liegt nicht bei den Empfindungen, sondern bei der Bewegung. PU 626 verstärkt diese Folgerung. In bewußter Opposition zu James (a. a. O., S. 38) und wahrscheinlich unbewußter Opposition zu Berkeley behauptet Wittgenstein, daß die korrekte Angabe auf die Frage „Wo fühlst du etwas Hartes, Rundes?“ nicht ist „In meiner Hand!“ sondern z. B. „In der Stockspitze!“ Deshalb wird die Härte des Stockes nicht aus einer Beschreibung von Gefühlen im Finger erschlossen, sondern direkt verspürt.

10.7 PU 627–632: Das Vorhersagen willkürlicher Handlungen PU 627 leitet einen neuen Abschnitt ein, in dem Wittgenstein das Vorhersagen willkürlicher Handlungen vom Vorhersagen anderer Ereignisse unterscheidet. Dabei deutet er zugleich seine positive Auffassung vom Willen an und schafft einen Übergang zur Diskussion des Begriffs der Absicht (PU 634–660). PU 627 knüpft indirekt an PU 621 an. Indem Wittgenstein „und wenn es 5 schlägt, macht mein Arm nun diese Bewegung“ von „und wenn es 5 schlägt, hebe ich meinen Arm“ absetzt, deutet er nämlich an, daß die Subtraktionsfrage schon deshalb irreführend ist, weil sie eine absichtliche Handlung (ich hebe den Arm) in Worten beschreibt (mein Arm hebt sich), die nur für bloße Körperbewegungen angemessen sind, z. B. wenn sich mein Arm deswegen hebt, weil ich mich auf bestimmte Weise gegen die Türe lehne. Insbesondere schafft der erste Ausdruck logischen Raum dafür, daß mich die Bewegung des Armes überrascht. Gegen diese Möglichkeit hebt PU 628 hervor, daß die Abwesenheit der Überraschung ein charakteristisches Merkmal willkürlicher Bewegungen ist. Die Frage, warum die Abwesenheit des Staunens die willkürliche Bewegung charakterisiert, wird zurückgewiesen, weil es sich hierbei um eine grammatische Bemerkung handelt, die für den Begriff der willkürlichen Bewegung konstitutiv ist (Hacker 1996, 611; s. a. von Savigny 1996, 300), und nicht etwa um eine Sicherheit, die auf kinästhetischen Empfindungen basiert. PU 629 weist ebenso wie PU 633 auf die Wichtigkeit des Umstandes hin, daß wir unsere willkürlichen Bewegungen vorhersagen können, ein Umstand, der vor allem von Induktionsskeptikern wie dem jungen Wittgenstein ignoriert wird. PU 630–632 vergleichen die Vorhersage, welche mit Befehlen (ob an andere oder einen selbst gerichtet) oder einer Absichtserklärung verbunden ist, mit induktiven Vorhersagen, erst von chemischen Reaktionen (PU 630), dann von physiologischen Reaktionen des eigenen Körpers. Zwischen beiden Sprachspielen bestehen Verwandtschaften – so ist z. B.

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die Vorhersage der eigenen absichtlichen Handlung genausowenig unfehlbar wie die induktive (PU 631). Es gibt aber auch wichtige Unterschiede (PU 630). Das Vorhersehen der eigenen Handlung aus der Absicht beruht nicht auf Induktion. Die Vorhersage, ich würde jetzt zwei Pulver einnehmen, stützt sich z. B. nicht auf die Beobachtung meines bisherigen Verhaltens (PU 631; s. a. MS 144, S. 98/WA S. 569). Die „Antezedentien“ dieses Satzes waren vielmehr meine Gedanken und Handlungen, nicht jedoch in dem Sinne, daß sie die induktiven Anhaltspunkte für meine Vorhersage liefern, sondern dadurch, daß sie meinen Entschluß begründen oder auf nicht-kausale Weise erklären. Aber kein bestimmtes geistiges Ereignis muß meiner Handlung vorhergegangen sein. Der Entschluß ist ebensowenig wie das Wollen eine bestimmte Erfahrung, die dem Handeln vorhergeht. Dies könnte zu folgender Annahme verleiten: Die Vorhersage beruht darauf, daß die Willensäußerung die Ursache und die Handlung ihr Effekt ist. Wittgenstein gibt zu, daß eine physiologische Untersuchung eine solche kausale Korrelation zu Tage bringen könnte (m. E. wohl eher zwischen der neurologischen Ursache der Äußerung und der neurologischen Ursache der Handlung). Aber in Abwesenheit einer solchen Untersuchung bleibt nur die Feststellung, daß die Möglichkeit der Vorhersage meiner eigenen absichtlichen Handlungen ein wichtiges Sprachspiel ist (PU 632).

10.8 Die Folgen Ironischer Weise hat unser Kapitel die gegenwärtige Diskussion des Willens hauptsächlich durch die absichtlich irreführende Subtraktionsfrage beeinf lußt. Diese wird zumeist aus ihrem Zusammenhang gerissen, für bare Münze genommen und zur Schlüsselfrage der Handlungstheorie erklärt – ein Beispiel dafür, daß philosophische Irrtümer meistens produktiver sind als philosophische Einsichten. Wittgensteins Kritik an der transzendentalen Position ist nicht nur zu kryptisch; ihr Angriffsziel würde von den meisten analytischen Handlungstheoretikern erst gar nicht ernstgenommen werden. Dagegen liegt Wittgensteins Kritik an der Identifikation des Wollens mit kinästhetischen Empfindungen zumindest im Trend, da dieser Begriff heutzutage mit größerer Skepsis behandelt wird, zum Teil aufgrund von Wittgensteins Privatsprachenargumentation (s. Candlish 1995). Wittgensteins Reaktion auf die andere empiristische Antwort auf die Subtraktionsfrage wiederum hat traurige Berühmtheit erlangt, nämlich als ein Beispiel für die angebliche methodologische Oberf lächlichkeit der „Philosophie der normalen Sprache“. Laut Grice vertritt Wittgenstein folgende Position: „A versucht, X zu tun“ ist wahr nur unter der Bedingung, daß X für A mit Schwierigkeiten, Anstrengungen oder dem Risiko des Scheiterns verbunden ist oder dies zumindest so erscheinen mag. Grice läßt offen, ob

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bei Nichterfüllung dieser Bedingungen für Wittgenstein „A versucht, X zu tun“ einfach falsch oder weder wahr noch falsch ist. Wittgensteins Text legt die erste Alternative nahe. Beiden Alternativen jedoch hält Grice folgendes entgegen. Bei Nichterfüllung dieser Bedingungen ist die Äußerung „A versucht, X zu tun“ zwar irreführend, aber trotzdem wahr (1989, 6–7). Als Grund dafür wird oft angegeben, die Äußerung erfülle keinen Zweck, weil sie zu offensichtlich wahr sei. Diese Behauptung ist jedoch offensichtlich falsch. Sie impliziert nämlich, daß es weniger offensichtlich ist, daß A versucht, X zu tun, und daher eher wert, gesagt zu werden, wenn X für A mit Anstrengungen verbunden ist, z. B. wenn A versucht, einen schweren Stein zu heben. Aber das sind gerade die alleroffensichtlichsten Fälle von Versuchen. An manchen Stellen begeht Grice einen ähnlichen Fehler. Er deutet an, daß Wittgenstein sich weigert, „versuchen“ auf Fälle anzuwenden, die als Paradebeispiele für Versuchen gelten können und sich zur Erklärung des Begriffes besonders eignen (1989, 10). Aber das mühelose Heben des Armes ist gerade kein Paradebeispiel fürs Versuchen und eignet sich keineswegs zur Erklärung des Begriffs, da es nämlich den Gegensatz zwischen „versuchen, X zu tun“ und „einfach X tun“ nicht verdeutlicht. Jedoch liefert Grice auch eine plausiblere Version des Einwandes. „A versucht, seinen Arm zu heben“ ist irreführend, weil es eine pragmatische Konvention gibt, derzufolge man nicht eine schwächere Behauptung machen soll, wenn man in der Lage ist, eine stärkere zu machen, wie „A hebt seinen Arm“. Aber auch darauf gibt es eine Wittgensteinsche Replik (ausführlicher dazu Glock 1996 b, 216–221; andere Repliken bei Hacker 1996, 568–575, Candlish 1998 und Glock 1996 a, 216-219). Nehmen wir an, ich beobachte Steffi Graf dabei, wie sie mühelos ihre Vorhand durchzieht. Plötzlich sagt mein Nachbar: „Graf versucht, Tennis zu spielen.“ In diesem Fall ist die angemessene Reaktion nicht die Anmahnung einer pragmatischen Diskurskonvention – etwa „Warum sagst du mir das? Ich kann es doch selber sehen“ –, sondern vielmehr die Korrektur einer Fehlanwendung des Wortes, etwa „Was soll denn das heißen ‚Sie versucht’s‘? Siehst du nicht, wie mühelos sie spielt?“ Grice hat also Wittgensteins Bedenken gegen die universelle Anwendung des Wortes „versuchen“ keineswegs entkräftet, was für einige Handlungstheorien (z. B. Hornsby 1980, Kap. III; O’Shaugnessy 1980, Kap. 9–11) den Ruin bedeuten könnte. Relativ unbekannt, aber noch wichtiger ist jedoch Wittgensteins Attacke auf die kausale Konzeption des Willens, die sowohl der empiristischen als auch der transzendentalphilosophischen Auffassung zugrundeliegt. Aus der Diskussion des Herbeiführens geht hervor, daß das Wollen keine kausale Relation ist, keine Relation des Vollstreckens, in der wir zu unseren Handlungen stehen. In dieser Beziehung antizipiert Wittgenstein Davidsons Position. Davidson (1980) bestreitet nämlich die Aristotelische These, wonach Handelnde die Ursachen ihrer Handlungen sind. Davidson bleibt jedoch einer kausalen Konzeption verhaftet. Die Ursache intentionaler Handlungen sind „pro-atti-

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tudes“, Kombinationen von Überzeugungen und Wünschen, die ihrerseits wiederum mit Zuständen des Gehirns identisch sind. Wittgenstein vertritt demgegenüber die „hermeneutische Position“, wonach Überzeugungen und Wünsche, oder allgemeiner gesprochen die Gründe meiner Handlungen, nicht als deren Ursachen aufgefaßt werden können (Glock 1996, „causation“). Das Kapitel zum Willen bringt jedoch einen zusätzlichen Gegensatz zu Davidsons kausalistischen und empiristischen Voraussetzungen zutage. Denn pro-attitudes sind Zustände, in denen ich mich nur passiv befinde, und der Beginn solcher pro-attitudes sind Ereignisse, die uns nur widerfahren. Das würde jedoch heißen, daß intentionale Handlungen Dinge sind, die sozusagen von selbst passieren, an denen wir als Personen nicht beteiligt sind und die uns z. B. auch überraschen können müßten. Im Einklang mit der transzendentalen Position lehnt Wittgenstein diese empiristische Position ab. Wenn A zum Zeitpunkt t eine willentliche Handlung vollzieht, so besteht der Unterschied zu einer unwillkürlichen Körperbewegung nicht in einem Phänomen, einer Handlung, einem Zustand oder einem Ereignis, das t vorausgeht oder begleitet. Daraus folgt jedoch nicht, wie die transzendentale Position annimmt, daß der Unterschied in einer Ursache jenseits der Erfahrung zu suchen ist. Das Wollen ist kein Phänomen innerhalb der Erfahrung, aber auch kein transzendentes Etwas jenseits der Erfahrung. Wittgensteins Alternative zu beiden Positionen ist in den „Philosophischen Untersuchungen“ nur kurz angedeutet, wird aber in späteren Werken ausgearbeitet („Zettel“ 577–599; BPP I 840–852, 897–902). Der Unterschied zwischen willentlichen Handlungen und bloßen Körperbewegungen besteht nicht in tatsächlichen Ereignissen (gleich ob mentaler oder physiologischer Art), sondern im Kontext der Handlung und in dem, was der Handelnde bei dieser Gelegenheit zu tun in der Lage ist (also einer Potentialität im Sinne von Aristoteles). Dabei erwähnt Wittgenstein insbesondere die folgenden Merkmale: i) die Möglichkeit, eine Handlung zu befehlen, und die Tatsache, daß diese Befehle nicht automatisch ausgeführt werden; ii) die Möglichkeit des Handelnden, anders zu handeln; iii) die Abwesenheit der Überraschung; iv) den Charakter der Bewegung und ihr Verhältnis zu den Umständen. Eine empiristische Analyse wie die Davidsons könnte diesen Punkten vielleicht nur dadurch begegnen, daß sie solche kontextuellen und potentiellen Elemente für bloße Einbildungen erklärt und damit insbesondere den vorphilosophischen Begriff der Willensfreiheit in Frage stellt. Wittgensteins eigene Verteidigung dieses Begriffs (LFW) stellt bei weitem nicht das letzte Wort dar. Dennoch ist die empiristische Ablehnung dieses Begriffs schwer zu begründen, unter anderem deshalb, weil die Möglichkeit ver-

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antwortlichen Handelns eine jener Voraussetzungen ist, auf denen unsere Sprachspiele und unsere Lebensform beruhen. Dieser Gedanke verbindet Strawsons „Freedom and Resentment“ mit Wittgensteins „Über Gewißheit.“ Falls er sich verteidigen läßt, so haben wir guten Grund für die Behauptung, daß das Wollen nicht eine bloß passive Erfahrung ist.

Literatur St. Candlish, Das Wollen ist auch nur eine Erfahrung, in: R. L. Arrington und H. J. Glock (Hgg.), Wittgensteins Philosophische Untersuchungen: Text and Context, London 1991, 203–226. St. Candlish, Kinästhetische Empfindungen und Epistemische Phantasie, in: E. von Savigny und O. Scholz (Hgg.), Wittgenstein über die Seele, Frankfurt 1995. St. Candlish, The Will, in H. J. Glock (ed.), Wittgenstein: A Critical Reader, Oxford 1998. H. J. Glock, Abusing Use, Dialectica 50, 1996, 205–223 (a). H. J. Glock, A Wittgenstein Dictionary, Oxford 1996 (b). H. J. Glock, Schopenhauer and Wittgenstein: Representation as Language and Will, in: C. Janaway (ed.), The Cambridge Companion to Schopenhauer, Cambridge 1999. H. J. Glock, J. M. Preston, Externalism and First-Person Authority, The Monist 78, 1995, 515–533. P. Grice, Studies in the Way of Words, Cambridge/Mass. 1989. P. M .S. Hacker, Wittgenstein: Mind and Will, Vol. 4 of an Analytical Commentary on the Philosophical Investigations, Oxford 1996. J. Hornsby, Actions, London 1980. E. M. Lange, Wittgenstein und Schopenhauer, Cuxhaven 1989. B. O’Shaugnessy, The Will, Cambridge 1980. E. von Savigny, Wittgensteins „Philosophische Untersuchungen“: Ein Kommentar für Leser, Band II, Frankfurt 1996 (1. Auf l. 1989). St. Shanker, The Nature of Willing, in: J. V. Canfield und St. Shanker (eds.), Wittgenstein’s Intentions, New York 1993, 195–243. Winch, P., Wittgenstein über den Willen, in: Ratio 10, 1968, 32–44.

11 Noel Fleming

Blick auf die Seele

11.1 „,Aber sagst du denn nicht, daß nichts weiter geschieht, als daß er stöhnt, und daß sich nichts dahinter befindet?‘ Was ich sage, ist, daß nichts hinter dem Stöhnen liegt.“ („Aufzeichnungen für Vorlesungen über ,privates Erlebnis‘ und ,Sinnesdaten‘“, S. 78) Diese Stelle gibt, wie mir scheint, eine gedrängte Zusammenfassung einer Auffassung vom Geist und von seiner Beziehung zum Körper, die sich in Wittgensteins Spätwerk findet. Aus praktischen Gründen wird im folgenden Text unterstellt, daß es sich hierbei um Wittgensteins eigene Anschauung vom Geist handelt. An anderer Stelle deutet Wittgenstein an, in seinen Spätschriften wolle er keine philosophischen Thesen vertreten. Also ist das vielleicht gar keine philosophische These im relevanten Sinne. Weitere Möglichkeiten wären die, daß Wittgenstein nicht ganz widerspruchsfrei formuliert oder diese Auffassung nur dialektisch darlegt, während er sich in anderen philosophischen Zusammenhängen nicht weniger entschieden zu anderen Anschauungen vom Geist bekannt hätte. Bilder haben den Philosophen nicht weniger Kopfzerbrechen bereitet als der Geist, und das oben angeführte Zitat läßt sich ebenso wie andere Stellen aus Wittgensteins Schriften ohne weiteres umformulieren und in einen Dialog über Bilder einbauen: „,Aber sagst du denn nicht, daß nichts weiter zu finden ist als die Leinwand und daß dahinter oder darüber hinaus nichts vorhanden ist?‘ Was ich sage, ist, daß es nichts hinter der Leinwand gibt oder darüber hinaus.“ Freilich ist die Wand, an der das Bild hängt, dahinter, wenn es sich z. B. um El Grecos „Blick auf Toledo“ handelt, das im Metropolitan Museum hängt. In anderer Hinsicht ist auch der Maler mit seinem Pinsel dahinter sowie die am Tajo gelegene Stadt selbst. Aber nichts von alledem ist im Bild wiedergegeben. Hinter dem Stöhnen stehen, je nachdem, die Stimmbänder, das

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Zentralnervensystem, vielleicht eine Verletzung sowie die betreffende Person selbst. Aber nichts von alledem ist der von dieser Person empfundene Schmerz. Angenommen, wir stimmen dem anderen zu, der meint, das an der Wand hängende Bild sei nicht die auf dem Bild zu sehende stürmische Landschaft (bzw. nicht einfach mit dieser Landschaft gleichzusetzen), es sei also nicht die im Bild abgebildete Szenerie. Was zutreffend über jenes gesagt werden kann, könne nicht zutreffend oder vielleicht nicht einmal sinnvoll über diese gesagt werden; wer die Farben und Formen auf der Leinwand sieht, erblickt nicht unbedingt auch die im Bild dargestellte Landschaft. Daher könnte der Dialog wie folgt weitergehen: „Und doch gelangst du immer wieder zum Ergebnis, die Landschaft selbst sei ein Nichts.“ – „Nicht doch. Sie ist kein Etwas, aber auch nicht ein Nichts! Das Ergebnis war nur, daß ein Nichts die gleichen Dienste täte wie ein Etwas, worüber sich nichts aussagen läßt. Wir verwarfen nur die Grammatik, die sich uns hier aufdrängen will“ (nach PU 304). Was wir abgelehnt haben, ist die Vorstellung von der Landschaft als einem weiteren Gegenstand, der verschieden wäre von der Leinwand, die ihn sowohl verbirgt als auch zum Vorschein kommen läßt – ein Gegenstand, der an keiner Wand hängt und noch nicht einmal sichtbar ist, es sei denn, für das innere Auge oder die ästhetische Vorstellungskraft. „Bist du nicht doch ein verkappter Reduktionist? Sagst du nicht doch, im Grunde, daß alles Fiktion ist, außer der bemalten Leinwand?“ – „Wenn ich von einer Fiktion rede, dann von einer grammatischen Fiktion“ (nach PU 307). Denn daß wir auf dem Bild den Gewitterhimmel und die Stadt sehen, ist ebenso unbestreitbar wie der Sachverhalt, daß sich die Menschen an manches erinnern und Schmerzen empfinden. Die hier bestrittene und durch die Fragen des Gesprächspartners angedeutete philosophische Anschauung kommt den meisten von uns heute verfehlt vor. Nach meinem Dafürhalten ist die in den Erwiderungen nahegelegte Gegenansicht richtig und entspricht dem Bildbegriff Wittgensteins. Es ist jedoch tatsächlich geltend gemacht worden, daß das sozusagen eigentliche Bild – also z. B. die stürmische Landschaft von Toledo samt der unheimlichen Lichterscheinungen – nur im Geist des Malers oder des Betrachters existierte. Das physische Bild sei ein bloßes Zeichen, nichts weiter als eine Vermittlungsinstanz. Das wäre so ähnlich wie Lockes Auffassung, wonach unsere gesprochenen und geschriebenen Wörter nichts weiter sind als äußere Zeichen für Ideen, die nur in der Privatheit des Geistes existieren. Doch dieser Auffassung vom Bild gleicht mehr als nur die Vorstellung Lockes von der Beziehung zwischen Wort und Gedanken. Eine Parallele bildet außerdem die Lockesche, Cartesische, dualistische Anschauung vom Geist selbst, während der Gegenansicht vom Bild die von Wittgenstein vertretene Gegenansicht vom Geist entspricht. In der vorliegenden – trotz aller spekulativen Elemente hauptsächlich interpretativen – Abhandlung möchte ich den Versuch machen, Wittgensteins Geistbegriff durch Vergleich mit der Gegenansicht vom Bild zu verstehen. Der Geist entspricht dem Gehalt des Bildes bzw. in einem bestimmten Sinn (nämlich im Sinne des Bildinhalts, der nicht

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außerhalb des Bildes zu existieren braucht) dem Gegenstand des Bildes, also etwa der Szenerie oder Landschaft von Toledo, während der Körper dem Bild selber – dem physischen Objekt – entspricht, also etwa der an der Wand hängenden Leinwand. Manchmal sagen wir, jemand sei nachgerade ein Bild des Trotzes oder der Dankbarkeit. Bei Wittgenstein heißt es: „Der menschliche Körper ist das beste Bild der menschlichen Seele“ (MS 144, S. 11/WA S. 496). Diesen Aphorismus könnte man so deuten, als wollte Wittgenstein damit feststellen, daß Bilder und Skulpturen von Personen – d. h. von menschlichen Körpern – die besten, wenn nicht gar die einzigen sichtbaren Darstellungen der Seele sind, die wir kennen oder uns ausmalen können. Aber es gibt offenbar nicht den geringsten Grund, den Aphorismus so aufzufassen, als sei damit gesagt, daß das Bild des Körpers oder der Person das beste Bild der Seele sei. Weit eher bedeutet er wohl, daß wir gerade dann, wenn wir den Körper betrachten, die Seele besonders gut sehen. Wenn wir den Körper im Gesamtbereich seiner Verhaltensweisen anschauen, werden wir unmittelbar mit der Seele konfrontiert, wie wir auch der Landschaft unmittelbar gegenüberstehen, sobald wir die an der Wand hängende Leinwand betrachten. Freilich sehen wir weder die Seele genauso wie den Körper noch die Landschaft – den Gewitterhimmel usw. – genauso wie die Leinwand. Aber es gibt keine andere, jedenfalls keine bessere Möglichkeit, die im Bild erblickte Landschaft zu sehen. Photographien oder Kopien des Bildes sind nicht so nützlich, zumindest nicht nützlicher. Eine Reise nach Spanien bringt auch nichts ein. Ebenso gibt es keine andere, jedenfalls keine bessere Möglichkeit, die im Körper erblickte Seele zu sehen. Photographien und Gemälde des Körpers oder der Person taugen nicht soviel oder doch generell nicht mehr. Im Inneren des Kopfes nachzuschauen, nützt ebenfalls nichts. Hierauf weiß der Dualist manche Erwiderung zu geben. (Mehr darüber weiter unten, im Abschnitt 5.) Erstens sei zwar nichts auszusetzen an der vagen Ausdrucksweise, man könne die Seele „sehen“, indem man den von der Seele belebten Körper anschaue. (Sogar ein Auto auf der Straße kann erschrocken aussehen.) Aber in Wirklichkeit könne man die Seele natürlich nicht sehen. Zweitens sei der Dualist besser als Wittgenstein in der Lage, von der Bildanalogie Gebrauch zu machen, denn der Dualist könne sagen, daß jedermanns Selbstkenntnis von der eigenen Seele dem Sachverhalt entspreche, daß wir außerhalb des Bildes sehen, was wir – zumindest der Art nach – auch im Bild wahrnehmen. (Zugestanden, die in El Grecos Gemälde zu sehende Szene – ja vielleicht sogar die dort zu erkennende Stadt – können wir nirgendwo sonst zu Gesicht bekommen. Dennoch können wir Stürme, Städte und sogar Toledo außerhalb von Bildern sehen. Und daß es sich so verhält, ist vermutlich eine Bedingung der Möglichkeit, daß wir dergleichen auch in Bildern sehen.) Drittens seien Bilder außerstande, Licht auf das Wesen des Geistes zu werfen, denn schon der Begriff des Bildes setze geistige Wesen oder Personen mitsamt ihren Reaktionen auf bemalte Leinwandstücke und mit Krakeln versehenes Papier voraus.

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11.2 Im „Braunen Buch“ vergleicht Wittgenstein die Situation, in der man in einer Zeichnung ein Gesicht – Striche auf dem Papier als Bild eines Gesichts – sieht, mit dem verständnisvollen Lesen (S. 259). In beiden Fällen sind wir versucht, fälschlich anzunehmen, hier gebe es zweierlei Vorgänge, zweierlei Erlebnisse oder Bestandteile, die dabei zusammenaddiert werden. Die Linien können wir sehen, ohne in der Zeichnung das Gesicht zu erkennen (selbst wenn wir obendrein wissen, daß es sich um die Zeichnung eines Gesichts handelt), und wir können auch ohne Verständnis lesen. Also ist das Sehen des Gesichts nicht bloß das Sehen der Linien, und das Verstehen ist nicht bloß das Aussprechen der Wörter. Doch das Sehen des Gesichts besteht nicht in einem geheimnisvollen Akt, durch den man an sich sinnlose und für sinnlos erkannte Linien verständlich deutet. Ebensowenig ist das Verstehen der Worte ein Vorgang, der sich im Inneren des Geistes verborgen abspielt, während wir außerhalb nur eine Reihe sinnloser Geräusche von uns geben oder hören. In engem Zusammenhang damit steht, daß wir dann, wenn wir etwas als etwas sehen, das Gesehene nicht deuten. „Deuten ist ein Denken, ein Handeln; Sehen ein Zustand. […] Deuten wir, so machen wir Hypothesen, die sich als falsch erweisen mögen. – ,Ich sehe diese Figur als ein …‘ kann so wenig verifiziert werden (oder nur in dem Sinne) wie ,Ich sehe ein leuchtendes Rot‘“ (MS 144, S. 72/WA S. 550). Wer die Zeichnung als Bild eines Gesichts sieht, erlebt, wie man sagen könnte, das Sehen des Bildes eines Gesichts. Es heißt nicht, daß er denkt oder folgert, die Zeichnung sei das Bild eines Gesichts oder könne ein solches Bild sein. Wer mit Verständnis liest oder spricht bzw. meint, was er sagt, vollzieht ebensowenig zwei Handlungen auf einmal, wie jemand, der in einer Zeichnung ein Gesicht sieht, sowohl die Zeichnung – die Linien auf dem Papier – sieht als auch diese Linien deutet oder sie als Bild eines Gesichts interpretiert. Auch wenn wir wissen oder glauben, daß jemand das Gesagte versteht, deuten wir weder sein Verhalten noch schließen wir von dem Gesehenen und Gehörten auf etwas uns Verborgenes in seinem Inneren. Was den anderen betrifft, können wir uns irren, und das läßt sich beweisen, indem man z. B. seine Antworten auf bestimmte Fragen oder seine Umformulierung einer schlecht vorgelesenen Textstelle als Beleg anführt. Damit ist aber nicht gezeigt, daß das Verstehen oder das Mißverstehen irgendwie in seinem Inneren versteckt wäre. Man kann einen gewöhnlichen Felsbrocken fälschlich für einen Strauch halten, aber der Grund ist nicht etwas im Inneren des Felsbrockens Verborgenes. Ceteris paribus irren wir uns wahrscheinlich eher bei Personen als bei Felsbrocken. Aber wahrscheinlich irren wir uns auch dann eher, wenn es um die Frage geht, ob das Auto anspringen wird oder ob sich die Wolken jetzt wirklich zusammenballen werden. „Die Unvorhersehbarkeit des menschlichen Benehmens. Wäre sie nicht vorhanden, – würde man dann auch sagen, man könne nie wissen, was im Andern vorgeht?“ („Zettel“ 603) Außerdem ist kein in der Privatheit des

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Inneren einer Person ablaufender Vorgang auch nur für den Betreffenden selbst eine ausreichende Bestätigung der Behauptung, daß er etwas verstanden oder nicht verstanden habe. Wenn er später außerstande ist, bestimmte Fragen zu beantworten usw., ist überhaupt nicht klar, daß er etwas verstanden hat – einerlei, was seinerzeit vor sich gegangen ist. Wodurch wird nachgewiesen, daß der andere etwas versteht? Hier gibt es nichts außer der Gesamtheit seiner Verhaltensäußerungen in ihrer jeweiligen Umgebung vor, während und nach dem Akt des Lesens. In diesem Fall dürfte die Umgebung recht weitläufig sein, denn das Lesen setzt eine Menge menschlicher Eigenschaften und einen Großteil der menschlichen Lebensformen voraus. Doch daß der andere einen Felsbrocken gesehen hat, müßte auf die gleiche Art und Weise nachgewiesen werden. „Nur inmitten gewisser normaler Lebensäußerungen gibt es eine Schmerzäußerung. Nur inmitten von noch viel weitgehender bestimmten Lebensäußerungen den Ausdruck der Trauer oder der Zuneigung. U.s.f.“ („Zettel“ 534) Es gibt auch noch andere Tiere, die Schmerzen, Zuneigung und vermutlich auch Trauer zum Ausdruck bringen; aber nur der Mensch kann mit oder ohne Verständnis lesen. Nun ist es allerdings nicht so, als ließe sich das Lesen völlig vom verständnisvollen Lesen abtrennen. Gäbe es kein Verstehen, gäbe es auch kein Lesen, obwohl es vielleicht etwas recht Ähnliches geben könnte: In einer Welt ohne geistbegabte Lebewesen könnte es, nachdem sich die Menschen gegenseitig umgebracht haben, z. B. Maschinen geben, die auch weiterhin Geräusche bestimmter Art von sich geben, während sie bestimmte Arten von Schriftzeichen abtasten. Aber in dieser Situation gäbe es ebensowenig ein Sehen wie ein Lesen oder ein Verstehen. Die Augen von Statuen schauen uns nicht an; sie scheinen uns nur anzublicken. Allerdings sind wir ebenso wie andere Tiere imstande, etwas anzuschauen, ohne es zu sehen, wie wir (Menschen) ja auch imstande sind, ohne Verständnis zu lesen. Aber daraus, daß die Angemessenheit der Umgebung eine notwendige Bedingung ist, folgt nicht, daß das derzeitige Geschehen keine Bedeutung hat. Jemand kann etwas mit Verständnis vorlesen, und wir können ihm dabei zuschauen und zuhören. „Schau ins Gesicht des Andern und sieh das Bewußtsein in ihm und einen bestimmten Bewußtseinston. Du siehst auf ihm, in ihm, Freude, Gleichgültigkeit, Interesse, Rührung, Dumpfheit, usf.“ („Zettel“ 220, vgl. 221 bis 225.) „Nun, man könnte so sagen: Wenn man das Benehmen des Lebewesens sieht, sieht man seine Seele“ (PU 357, vgl. PU 537 und MS 144, S. 97/WA S. 568). Tatsächlich ist die Freude im Gesicht der Person grundlegender für den Begriff der Freude – für das Wesen der Freude – als irgendwelche privaten Vorgänge im Inneren der Menschen. Denn ebendies – daß man unter solchen Umständen so ausschaut und so handelt – ist das, was wir „sich freuen“ nennen. Was Freude ist, wissen wir daher, daß wir die Haltung und das Verhalten solcher Personen in solcher Umgebung betrachtet haben. Was der Geist ist, wissen wir daher, daß wir die Haltung und das Verhalten von Menschen und sonstigen Tieren betrachtet haben.

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11.3 Personen zeigen also Freude oder Verständnis, wie das Bild eine Stadt unter dem Gewitterhimmel zeigt. Manchmal müssen wir das Aussehen und die Handlungen einer Person bzw. die Formen auf der Leinwand oder die Linien auf dem Papier deuten, um sie zu verstehen, doch im Regelfall braucht das Gesehene gar nicht gedeutet zu werden, weil es unmittelbar verständlich ist. Wir brauchen uns gar nicht zu bemühen, über das, was wir vor uns haben, hinauszugehen. Wir könnten auch sagen, daß wir im Regelfall insofern doch über das, was wir vor uns haben, hinausgehen oder schon hinausgegangen sind, als es unter eine Minimalbeschreibung der Farben, Formen und Hautverschiebungen fällt. Aber das heißt nicht, daß wir – womöglich sogar mit Hilfe einer Hypothese – zu etwas Innerem oder Verborgenem vorangeschritten sind. Wenn man in jemandes Gesicht Freude sieht, heißt das nicht, daß man mit Hilfe einer Hypothese über sein Innenleben einige äußere Zeichen interpretiert hat. Es heißt nicht einmal, daß man eine Hypothese über sein äußeres Leben akzeptiert, obwohl dieser Gedanke immer noch vorzuziehen wäre, da er nicht die Vorstellung beinhaltet, wir müßten die Phänomene durchdringen, um zur Freude des anderen vorzustoßen. Es heißt weit eher, daß man in bestimmter Weise auf den anderen reagiert und seine Freude ebenso erlebt wie seinen Zorn, also den Anblick seiner Freude erfährt. Gefolgert wird hier ebensowenig wie dann, wenn wir selbst Freude empfinden. In gewissem Sinne sehen wir das Gesicht des anderen zweifellos in einem Kontext, dessen Artung uns generell durchaus bekannt ist, obwohl wir hier vielleicht keine Ahnung von den Einzelheiten haben. Doch in phänomenologischer Hinsicht ist es eher so, als sähen wir im Gesicht des anderen einen Kontext: die Bedeutung ist in seinem Gesicht gegeben, sie steht ihm genauso unverkennbar im Gesicht geschrieben, wie man ein Auto aus der Nebenstraße kommen sieht oder schwarze Wolken am Himmel erblickt – oder El Grecos „Toledo“ an der Wand. Dennoch scheint es zwischen der Art und Weise, in der das Gesicht des anderen seine Freude zeigt, und der Art und Weise, in der die Leinwand die Gewitterszene oder die Zeichnung das Gesicht darin zeigt, einen wichtigen Unterschied zu geben. Damit dieses Stück Leinwand zum Bild einer Stadt oder Ortschaft unter gewittrigem Himmel wird, ist nichts weiter nötig, als daß wir sagen, ja, es verhalte sich wirklich so. (Hätte El Greco das Gemälde „Porträt eines Heiligen“ genannt, würden wir z. B. annehmen, daß es nach seiner Absicht allegorisch aufgefaßt werden sollte.) Doch damit einem Menschen Freude im Gesicht geschrieben steht – das heißt: damit er sich wirklich freut –, ist mehr nötig als unsere Zustimmung, daß es sich bei dem Gesehenen um Freude handelt. Sein übriges Verhalten und die Situation können zeigen, daß er sich nicht freut. Er kann uns einfach mitteilen, daß er allem Anschein zum Trotz traurig ist, obwohl eine solche Äußerung vielleicht nur dann überzeugend wirkt, wenn er außerdem angeben kann, warum er froh aussieht, wenn er es gar nicht ist. Und selbst wenn er es angibt, ohne daß wir etwas herausbekommen, kann er allem Anschein zum Trotz und obwohl

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wir übereinstimmend Freude in seinem Gesicht sehen, dennoch wirklich traurig sein. Ob sich jemand freut, hängt nicht von uns ab, sondern von ihm. Die Betrachtung dieses Einwands wird sich auf den folgenden Seiten dieser Abhandlung in der einen oder anderen Weise immer wieder bemerkbar machen. Doch zunächst ist darauf hinzuweisen, daß auch ob etwas das Bild einer Stadt ist, nicht von uns abhängt, sondern von ihm. Wir können den „Blick auf Toledo“ nicht in das „Porträt eines Heiligen“ verwandeln, indem wir übereinkommen, daß es sich in Wirklichkeit um das Porträt eines Heiligen handelt. Oder vielmehr: wir können gar nicht übereinkommen, daß es sich darum handelt. Lassen wir die Frage nach der Absicht außer acht. Dann heißt „in der erforderlichen Weise übereinkommen, daß es sich um ein Bild von x handelt“, daß man es bei der Betrachtung völlig natürlich findet zu behaupten, es handele sich um ein Bild von x, daß man spontan so reagiert, als handele es sich um ein Bild von x, wobei diese Reaktion ohne vorherige Kenntnis dieses Bildes erfolgen muß. Es heißt: sehen, daß es sich um ein Bild von x handelt, indem man x in dem Bild sieht. Außerdem heißt es, daß man imstande ist, auf die relevanten Teile des Bildes – die Formen und Farben auf der Leinwand – zu deuten, durch die es zu einem Bild dessen wird, was es darstellt. (Sogar für das, was vorher und hinterher geschieht, läßt sich ein Analogon angeben, wenn man etwa an das Beispiel des Films denkt. Beinahe jede Schilderung eines Films wird ganz wesentlich – wenn auch implizit – nicht nur das augenblickliche Geschehen auf der Leinwand oder im Film betreffen, sondern überdies frühere oder spätere Vorgänge und sogar Dinge, die passiert wären oder hätten passieren können.) Damit ein Bild wirklich zu diesem Bild wird, muß es auf seiner Oberf läche die (geometrisch beschreibbaren) Linien und Formen (und, sofern es farbig ist, die entsprechenden Farben) tragen, durch die es in der dem Bild eigentümlichen Weise dem Abgebildeten ähnelt. Aber wodurch werden diese Linien und Formen zu den für diesen Zweck geeigneten, so daß sie dem Gegenstand des Bildes ähneln und dieser für uns im Bild sichtbar wird? Diese spezielle Art der Ähnlichkeit hätten wir nämlich auch verkennen können, und manches Projektionssystem würde es gestatten, aus dieser Menge von Linien und Formen nahezu alles Beliebige abzuleiten, sie als Darstellung von beinahe allem Beliebigen zu begreifen und sie mit einiger Übung vielleicht sogar als Darstellung von allem Beliebigen zu sehen. Wodurch also werden diese Linien und Formen zu den richtigen? Die Antwort muß anscheinend lauten, daß wir halt diese – und nicht jene – Linien und Formen für das erkennen, worauf wir von Natur aus als ein Bild ebendieses Gegenstandes reagieren und worin wir von Natur aus ein solches Bild sehen. Es hätte auch sein können, daß wir nicht in dieser Weise darauf reagiert hätten. Manche Menschen reagieren vielleicht gar nicht in dieser Weise darauf. Zuallermindest variieren die bildlichen Darstellungssysteme von einem Ort zum anderen und von einer Zeit zur anderen. (Mit der Formulierung „wir reagieren von Natur aus so“ meine ich also nicht, daß diese Reaktion weder kulturell noch historisch bedingt ist.) Es scheint jedoch so zu sein, daß die meisten Menschen das Gleiche als Bild anerkennen,

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was auch von anderen Menschen für ein Bild gehalten wird. Wenn es Menschen gäbe, die auf nichts in dieser Weise reagierten, gäbe es für sie keine Bilder; und sofern sie es nicht von anderen lernen könnten, würden sie nicht einmal wissen, was ein Bild ist. „,Ich sehe diese Figur als ein ...‘ kann so wenig verifiziert werden (oder nur in dem Sinne) wie ,Ich sehe ein leuchtendes Rot‘“ (MS 144, S. 72/WA S. 550). Welches ist der Sinn, in dem sich „Ich sehe ein leuchtendes Rot“ verifizieren läßt? Vielleicht meint Wittgenstein: (nur) indem man herausfindet, ob der Betreffende weiß, was ein leuchtendes Rot ist, was „leuchtendes Rot“ bedeutet. Die objektive Kraft von „Ich sehe diese Figur als ein …“ ist vielleicht nicht stärker als etwa die von „Ich sehe rosa Elefanten“. Aber wenn wir objektiv in Anspruch nehmen, ein leuchtendes Rot oder rosa Elefanten zu sehen bzw. das Bild eines Gesichts, einer Ente oder eines Hasen, können wir uns auch irren. Wenn ich aufrichtig äußere, in der Zeichnung ein Gesicht zu sehen, folgt daraus nicht, daß es sich um die Zeichnung eines Gesichts handelt oder daß sonst jemand ein Gesicht darin sehen wird. Wieder wollen wir von der Möglichkeit der Ermittlung des beabsichtigten Bildgegenstands absehen. Dann läßt sich, daß ich recht habe, wenn ich das Bild als Darstellung eines Gesichts sehe, oder daß es zumindest als solches gesehen werden kann, „verifizieren“ oder bestätigen, indem man auf die Merkmale der Zeichnung hinweist, durch die es zu einem solchen Bild wird, und indem man es mit anderen Zeichnungen und Bildern von Gesichtern sowie mit wirklichen Gesichtern vergleicht. Doch damit das gelingt, müssen andere Personen mir zustimmen, indem sie ebenso wie ich selbst auf die Zeichnung reagieren oder allmählich zu der gleichen Reaktionsweise gelangen. Es muß gesichert sein, daß auch die anderen das Gesicht in der Zeichnung sehen. Übereinstimmung im Urteil und Übereinstimmung in der Reaktionsweise laufen hier weitgehend auf das gleiche hinaus, und es würde nicht lange dauern, bis wir zur Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung gelangten, wie es ja auch geschähe, wenn es um die Frage ginge, ob die Wand dort leuchtend rot ist. Der Einwand besagte, daß es nicht von uns – nicht von unserer Reaktion auf den anderen – abhängt, ob er froh ist bzw. etwas versteht, sondern von ihm selbst. Die Replik lautete, daß es in erster Linie nicht von uns, sondern von dem betreffenden Bild abhängt, ob es ein Bild von x ist. Es muß die Merkmale aufweisen, durch die es zu einem Bild von x wird und kraft deren es x in jener speziellen Weise ähnelt, in der Bilder dem Abgebildeten ähneln. Daraufhin wurde eingeräumt, daß das, wodurch diese Merkmale zu den hierfür geeigneten werden, doch von unserer Reaktion auf sie abhängt oder vielmehr davon, daß wir in der faktisch gegebenen Weise auf sie reagieren und sie entsprechend sehen. Aber nach Wittgensteins Meinung verhält es sich, wie ich glaube, beim Verstehen und bei der Freude ganz ähnlich. Wir können durchweg aufzeigen, welche Eigenschaft des Verhaltens (einschließlich der Haltung) einer Person zeigt, daß sie etwas versteht oder Freude empfindet, und inwiefern das vorangehende und spätere Verhalten dazu passen muß (andernfalls ist eine Erklärung erforderlich). Aber wodurch wird ein bestimmtes Verhalten zur richtigen Verhaltensweise, die an den Tag gelegt werden

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sollte und imstande ist, das Verständnis bzw. die Freude zu verkörpern? Im Grunde wird es dadurch richtig, daß wir angemessen darauf reagieren; und unsere Reaktion ist nicht anders geartet und nicht weniger gewiß – und fehlbar – als das Sehen. Wir stellen keine Hypothesen über Vorgänge im Inneren des anderen auf, indem wir aus der Ähnlichkeit zwischen unserem Verhalten und seinem eigenen Analogieschlüsse auf sein Innenleben ziehen. Beziehungen zwischen dem derzeitigen Aussehen und Handeln des anderen und seiner Fähigkeit zu späterem Fortfahren und Verhalten bemerken wir nicht einmal, noch bleiben sie uns im Gedächtnis. Um es knapp und in groben Zügen zu formulieren, steht es vielmehr so, daß wir z. B. unsererseits froh sind, wenn wir jemanden mögen, der im Fall erfreulicher Nachrichten entsprechend aussieht und handelt. Wir sind in gewissem Maße vom anderen angetan und bereit, uns auf ihn zu verlassen, wenn er beim Sprechen oder Vorlesen einer Textstelle entsprechend aussieht und sich entsprechend anhört. Diese Reaktionsweisen sind spontan und unmittelbar, und wir sehen unserer Reaktion entsprechend bzw. reagieren gemäß dem Gesehenen: die Art unserer Reaktion und die Art des Gesehenen sind unauf löslich miteinander verknüpft. Über die „Reize“, von denen solche „Reaktionen“ ausgelöst werden, können wir generell vielleicht nichts weiter sagen, als daß, was so aussieht und sich so verhält, eben ein menschliches, sehendes, Freude und Schmerz empfindendes, verstehendes usw. Wesen ist. Ebenso ist etwas, was so aussieht, ein Bild. (Man stelle sich vor, daß wir an einer Straßenecke oder in einer Kunstgalerie stehen und auf die Leute in unserer Umgebung bzw. auf das Bild an der Wand zeigen.) Hier können wir weit besser – wenn nicht sogar weit mehr – sehen, als wir zu sagen vermögen. Das eine heißt eben – von außen betrachtet –, daß der Körper eine Seele hat; das andere heißt eben – bezüglich der Leinwand –, daß auf dem Bild eine Gewitterszene ist. Ebenso, wie Bild und Szene am gleichen Ort und einander dennoch inkommensurabel sind, so verhält es sich auch mit Körper und Seele. Ebenso, wie wir beim Reden über den Sturm auf Teile des Bildes zeigen, so zeigen wir auch beim Reden über Verstehen und Freude auf den Kopf und das Herz – und in jedem dieser Fälle muß das Zeigen richtig aufgefaßt werden. Die Sichtbarkeit der Seele ist nicht einfach von der gleichen Art wie die Sichtbarkeit des Körpers, ja nicht einmal von der gleichen Art wie die Sichtbarkeit der Landschaft. Aber die Seele ist ebensowenig wie die Landschaft unsichtbar oder hinter dem Körper bzw. hinter dem Bild verborgen. Schmerz, Freude, Verstehen usw. sind (zumindest) genauso verschieden voneinander wie Tag und Nacht. Aber sie alle sind – wie der Geist oder die Seele selbst – kein Etwas wie der Körper, aber auch nicht ein Nichts, denn sie können gesehen werden. Ganz ähnlich steht es mit der Landschaft: sie ist kein Etwas wie das Gemälde, aber auch nicht ein Nichts, denn sie kann ebenfalls gesehen werden. Wer die Landschaft nicht zu sehen vermag, sieht nicht, was da in den Farben und Formen auf der Leinwand vorhanden ist. Der Seelenblinde würde nicht sehen, was in der Haltung und im Verhalten des Körpers vorhanden ist. Wir erfinden hier nichts, sondern dem anderen entgeht, was wir finden. (Es gibt noch weitere „Sachen“, die aus verschiedenen, aber zusammenhängenden

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Gründen vielleicht kein Etwas, aber womöglich auch nicht ein Nichts sind, nämlich: die Anmut oder Plumpheit des Gangs, die Handlung eines Romans oder Schauspiels, der Sinn oder die Bedeutung eines Wortes, die Glücklichkeit oder Unglücklichkeit eines Lebens.) Doch sofern der menschliche Körper das beste Bild der menschlichen Seele ist, sind es die übrigen menschlichen Seelen, die ihn durch ihre faktischen Reaktionsweisen in der gleichen Weise dazu machen, in der sie durch ihr entsprechendes Reagieren gewöhnliche Bilder zu Bildern machen. Jeder physikalistischen oder nichtmentalistischen Beschreibung wird das Leben und der Geist, den wir an der Haltung und am Verhalten des Körpers – der Person – wahrnehmen, genauso entgehen, wie sich das am Bild Wahrgenommene jeder rein geometrischen (und farbbezogenen) Beschreibung entzieht. In keinem dieser beiden Fälle besteht auch nur annähernd so etwas wie eine Folgerungsbeziehung. Selbst wenn wir uns der mentalistischen Sprache bedienen, können wir das relevante Aussehen und die betreffenden Handlungen wahrscheinlich nur ungefähr oder mit völlig trivialen Formulierungen kennzeichnen, doch wir erkennen dieses Aussehen und diese Handlungen, sobald wir ihrer ansichtig werden, und wir reagieren auf sie, indem wir sie erkennen. Unser Verständnis der mentalistischen Sprache beruht auf diesem Erkennen, nicht umgekehrt. Natürlich beruht auch nichts von alledem auf Wissen, das durch Selbstbetrachtung erlangt wurde. „Zu meinem Begriff gehört hier mein Verhältnis zur Erscheinung. […] Sicher sein, daß der Andre Schmerzen hat, zweifeln, ob er sie hat, usf., sind so viele natürliche instinktive Arten des Verhältnisses zu den andern Menschen, und unsre Sprache ist nur ein Hilfsmittel und weiterer Ausbau dieses Verhaltens“ („Zettel“ 543 und 545, vgl. 542). Wenn diese Wittgenstein-Interpretation zutrifft, könnte man sagen, daß er insofern, als er im Hinblick auf Geist oder Seele Behaviourist ist, einen doppelseitigen Behaviourismus vertritt. Ob etwas eine Person ist und ob es eine Seele hat bzw. ist, hängt nicht nur von seinem öffentlichen Verhalten und Reagieren ab, sondern im gleichen Maße auch von unserem Verhalten und Reagieren auf es. Diese Reaktionsweise unsererseits beruht wiederum nicht auf Deutung, Meinungsbildung oder Meinungsäußerung, sondern ist die Grundlage unserer Deutung anderer Personen und unserer Meinungen über sie. „Meine Einstellung zu ihm ist eine Einstellung zur Seele. Ich habe nicht die Meinung, daß er eine Seele hat“ (MS 144, S. 10/WA S. 495). Wer diese Einstellung hat, reagiert in vielfältiger Weise auf die Menschen, auf die er stößt, während diese Menschen ihrerseits in bestimmter Weise auf ihn reagieren. „Wie könnte man die menschliche Handlungsweise beschreiben? Doch nur, insofern man die Handlungen der verschiedenen Menschen, wie sie durcheinanderwimmeln, schilderte“ („Zettel“ 567). Sofern Wittgenstein Behaviourist ist, ist er also kein Reduktionist. Das Verhalten, welches die Seele zeigt und die Seele verkörpert, läßt sich gar nicht beschreiben, ohne auch das Verhalten anderer Seelen ins Spiel zu bringen, also ein Verhalten, das ihre menschlichen – bedachten – Reaktionen aufeinander wesentlich mit einschließt. Schon

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das entsprechende Reden über Aussehen, Handlungen und Reaktionen ist ein Sprachgebrauch, der die Existenz geistiger Wesen beinhaltet: Was die Seele ist, läßt sich nicht mit verhaltensbezogenen Begriffen angeben, ohne dabei die Seele vorauszusetzen. Um es zu wiederholen: vielleicht sind wir überhaupt nicht imstande, in irgendeiner Terminologie ganz befriedigend zu sagen, welches Verhalten relevant ist, wie wir ja auch nicht imstande sind, ganz befriedigend anzugeben, was ein Bild ist. Allerdings sind wir in beiden Fällen dazu imstande, es zu sehen.

11.4 Aber wie steht es, wenn sich eine Maschine so verhält wie ein Mensch? Würde eine solche Maschine allein deshalb der Menschlichkeit entbehren, weil sie (etwa aus Knochen, Fleisch und Blut) gebaut wurde – wie ein Stück bemalter Leinwand allein deshalb des Bildcharakters entbehren könnte, weil es nicht als Bild aufgebaut, also nicht als Bild gemalt wurde? Die Antwort lautet offenbar, daß sich eine Maschine – ganz unabhängig von der Frage ihrer Entstehung – in mancher Hinsicht wie ein Mensch verhalten und trotzdem eine Maschine sein könnte. In anderer Hinsicht dagegen wäre das nicht möglich. Ein großer Teil oder Bereich oder die meisten Aspekte des menschlichen (und tierischen) Verhaltens könnten von einem Automaten, einem Roboter oder einer Maschine kopiert, wenn nicht gar verbessert werden. In einem bestimmten Sinn könnte ein Automat vieles, wenn nicht sogar das meiste oder alles von dem tun, was die Menschen tun. Beispielsweise könnte der Automat einen Kessel auf den Herd stellen und wieder fortnehmen, sobald das Wasser kocht, anschließend das Wasser über den gemahlenen Kaffee schütten, den fertigen Kaffee „abschmecken“, indem er ein wenig davon in eine Öffnung seines „Körpers“ kippt, „sagen“, daß der Kaffee stark ist, indem er die Laute „Der Kaffee ist stark“ von sich gibt, usw. In ähnlicher Weise könnte der Automat einen Brief tippen und „schreiben“ oder „verfassen“, ein Buch „lesen“, über „Gesehenes“ oder Unzuträglichkeiten in seinem Inneren „berichten“ und uns „behandeln“, wenn mit unserem Inneren etwas nicht stimmt. Der Mensch ist ein Wesen, das tut, was ein solcher Automat täte; aber der Mensch ist außerdem ein Wesen, das so aussieht, wie ein solcher Automat nicht aussehen könnte, solange er lediglich ein Automat bliebe. Wenn man sich vorstellt, jemand verhalte sich wie ein Automat, malt man sich aus, daß er sich mechanisch, steif, hölzern, ausdruckslos und ohne expressive Bewegungen benimmt sowie ohne das geistig geprägte Mienenspiel und Körperverhalten, das unsere Einstellung und unsere Reaktionen zu ihm als einem Menschen auslöst und rechtfertigt. Grob gesprochen, ist jedes Wesen – auch ein Automat – ein Mensch, wenn es wie ein Mensch aussieht und handelt. Würde ein Automat nicht nur Bewegungen mit den gleichen physischen Resultaten wie unsere eigenen machen, sondern sähe auch genauso aus (und hörte sich genauso an) wie wir, könnten

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wir gar nicht umhin, ihn für einen Menschen zu halten. Wir Menschen kämen gar nicht umhin, ihn auch als Menschen zu sehen. Daß er sich freut oder Schmerzen hat, könnten wir z. B. ebensowenig bezweifeln, wie wir das heute im Hinblick auf einander können (vgl. MS 144, S. 10/WA S. 495 und PU 420). Es ist nicht so, als ließen sich diese Spielarten der Expressivität des Gesichts und des Körpers anders als trivial so beschreiben, daß daraus folgt, in diesem Körper wohne eine Seele. Doch unter allen auch nur annähernd normalen Umständen zweifeln wir bei unseren Begegnungen mit anderen nicht daran, daß sie Menschen sind; ein solcher Zweifel wäre auch gar nicht möglich. Die wirkliche, erlebte Bedeutung des Beseeltseins – ja die Seele selbst – kommt in ihnen ebenso zum Vorschein, wie die Gewitterszene im Bild erscheint. Wir sehen sie dort; es ist unvorstellbar für uns, daß sie nicht dort wäre. (Wollte man einen Beweis dafür verlangen, daß dies hier ein Mensch ist, wäre das wie die Forderung nach einem Beweis dafür, daß das hier ein Bild ist. Wollte man mit der am Körper wahrgenommenen Seele in unmittelbarere Verbindung treten, gliche das dem Wunsch, den im Bild gesehenen Schauplatz zu betreten.) Das Verhältnis zwischen Personen und möglichen Automaten gleicht hier in etwa dem Verhältnis zwischen Bildern und wirklichen Bauplänen. Der Bauplan eines Kerkerraums gäbe uns vielleicht die gleichen „Informationen“ wie einer von Piranesis Stichen. Doch im Bauplan könnten wir das unermeßliche Verlies nicht ebenso sehen wie in Piranesis Bild. Wären wir doch dazu imstande, würden wir den Bauplan als Bild sehen. Grob gesprochen, ist alles – auch ein Bauplan – ein Bild, wenn es aussieht wie ein Bild oder wenn es – in einer anderen, aber damit zusammenhängenden Bedeutung von „aussehen wie“ – so aussieht wie das Abgebildete.

11.5 Auf eine der Erwiderungen, die dem Dualisten am Ende des 1. Abschnitts in den Mund gelegt wurden, kann man ohne Umschweife antworten. Die Erwiderung lautete, daß Bilder nicht zur Erhellung des Geistbegriffs benutzt werden können, weil Bilder ihrerseits Geistiges voraussetzen. Aber das gleiche gilt auch für den Körper als Bild der Seele; und für den Geist selbst gilt es nicht minder. Wittgenstein ist kein Reduktionist. Der mit seiner Auffassung einhergehende Behaviourismus ist ein doppelseitiger Behaviourismus. Daß der Begriff des Geistes nur unter Voraussetzung der Gegebenheit des Geistes abgeleitet werden kann, wird nicht zugegeben, sondern behauptet. Folgt daraus, daß es weder einen einsamen Einzelmenschen noch ein Bild geben könnte, wenn niemand existierte, der ihn oder es sähe? (Wobei unberücksichtigt bleibt, daß das Bild ein Artefakt ist.) Offenbar folgt nichts weiter daraus, als daß ein solches Bild unter manchen Bedingungen als Bild gesehen würde, wenn es Personen gäbe, die es betrachteten, und daß die einsame Seele von anderen Personen als Seele gesehen würde, wenn es Personen

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gäbe, die sie kennten. (Vermutlich folgt außerdem, daß ein einsamer Mensch nur dann wüßte, was er ist, wenn er über einen beträchtlichen Vorrat an angeborenen Kenntnissen verfügte. Aber dieser Schluß ergibt sich außerdem schon aus anderen Lehrsätzen Wittgensteins.) Der Dualist vertritt im Hinblick auf den Geist keine reduktionistische Auffassung. Vielleicht ist es ein Vorurteil, darauf zu pochen, daß der Behaviourist eine solche Auffassung vertreten müsse. Andererseits kann der Dualist für sein Teil ebenfalls einräumen, daß der menschliche Körper das beste Bild der menschlichen Seele ist; sofern die Seele überhaupt sichtbar ist, könne sie im Körper gesehen werden. Aber in Wirklichkeit sehen wir sie natürlich nirgends. Oder wenn wir sie sehen, dann nicht in der gleichen Weise, in der wir die Szene im Bild sehen, sondern bestenfalls so, wie wir die außerhalb des Bildes gegebene Szene bei der Betrachtung des Bildes sehen, falls das Bild eine solche Szene wiedergibt. Mit diesem besten Fall ist allerdings zuviel gegeben, denn die Szene außerhalb des Bildes ist schon an und für sich sichtbar, die Seele dagegen nicht. Die dritte Erwiderung des Dualisten lautete, nach seiner Anschauung bilde der Körper als Bild der Seele etwas anderes ab als den Körper (insofern hier überhaupt eine Abbildung möglich ist). Wie wir den Inhalt des gewöhnlichen Bilds sehen, weil wir auch außerhalb des Bilds Dinge gesehen haben, so begreifen wir (möglicherweise) den Körper irgendwie als Bild der Seele, weil wir schon – jeweils vom eigenen Fall her – wissen, was die Seele ist. Was kann der Körper nach Wittgensteins Anschauung abbilden? Die Seele natürlich. Aber was ist die Seele nach Wittgensteins Auffassung anderes als der Körper selbst mit seinem Mienenspiel und seinen Bewegungen, während zur gleichen Zeit eine Vielzahl weiterer Körper das gleiche tut? Aber die Vorstellung vom Körper als Bild des gelebten Lebens ist gar nicht so unplausibel. Wenn wir sagen, jemand sei nachgerade ein Bild des Mutes oder des Trotzes, meinen wir wohl kaum, daß er uns an einen unsichtbaren Zustand erinnert, den wir im Privatbereich der eigenen Seele vielleicht erfahren haben, vielleicht auch nicht. Eher dürfte gemeint sein, daß seine Haltung diesen Zustand offenkundig verkörpert. Wenn er uns an weitere Dinge erinnert, handelt es sich um andere Verhaltensweisen, sichtbare Erscheinungen und Handlungen, von denen sie verkörpert oder gezeigt werden. In diesem Sinne war die einst im Bahnhof vibrierend und zischend Rauch ablassende Dampf lokomotive ein Bild von Kraft – in erster Linie ein Bild ihrer eigenen Kraft, ihres eigenen Verhaltens auf den Geleisen. Außerdem besaß sie tatsächlich Kraft, wie sie dastand mit ihrem Kessel voller Dampf unter Druck. Aber der Mensch, der ein wahres Bild des Mutes ist, ist wirklich oder vielleicht mutig, so wie der menschliche Körper, der das Bild der Seele ist, tatsächlich beseelt ist. (Hier besteht die Verlockung zu meinen, daß der Mut oder die Seele in ähnlicher Weise im Körper enthalten sind wie der Dampf im Kessel. Aber der Dampf ist ebensowenig die Kraft, wie das Gehirn der Geist ist; und der Dampf steht zur Lokomotive und der von ihr gezeigten Kraft ungefähr im

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gleichen Verhältnis, in dem das Gehirn zum Körper und zu den vom Körper gezeigten Regungen des Geistes stehen mag.) Im Fall von Körper und Seele kann man meinen, die „Abbild“-Beziehung bestehe zwischen den Schattierungen der Haltung und des Verhaltens einerseits und den vergleichsweise großmaßstäblichen Handlungen, die den Geist (in weitergehender und gewissermaßen entschiedenerer Weise) erkennen lassen. Aber in mancher Hinsicht entspräche die nichtgegenständliche Malerei dem Körper als „Bild“ der Seele eher als die gegenständlichen Gemälde oder Zeichnungen. Wittgenstein meint in seinem Aphorismus sicher ein gegenständliches Bild. Außerdem steht hinter allen meinen bisherigen Ausführungen Wittgensteins Erörterung des Etwas-als-etwas-Sehens, in deren Rahmen er unter anderem verschiedene Bedeutungen von „sehen“ unterscheidet, die mit dem Thema „den Körper sehen und die Seele sehen“ zumindest in Zusammenhang stehen (MS 144, S. 38 ff./WA S. 518 ff.). Aber Wittgenstein behauptet gewiß nicht, daß die Seele als etwas vom Körper Getrenntes existieren könnte, so wie der Bildgegenstand unabhängig vom Bild existieren könnte und tatsächlich oft unabhängig vom ihm existiert. (Eschers Bilder scheinen hier belanglos zu sein. Man kann auch wirkliche Modelle anfertigen, die wie einige der in diesen Bildern vorkommenden Objekte aussehen. In jedem Fall dürften logisch unmögliche Turmstrukturen und Treppenhäuser kaum ein angemessenes Modell der Seele abgeben.) Die nichtgegenständliche Malerei hat den Vorteil, daß ihre Bilder nicht Bilder von etwas sind, jedenfalls nicht in der gleichen Weise wie gegenständliche Gemälde. Dennoch können nichtgegenständliche Bilder voller Leben sein, froh, energisch, düster, stark, überschwenglich usw. Wir erblicken diese Eigenschaften in ihnen, wie wir auch die Seele im Körper sehen. Wenn bei Wittgenstein von Bildern die Rede ist, scheint es ihm oft vor allem auf den Gegenstand des Bildes im Sinne des Bildinhalts anzukommen; und von diesem Inhalt kann man leicht annehmen, daß er nicht außerhalb des Bildes und unabhängig vom Bild existieren kann. Wittgenstein spricht von einem Landschaftsbild, einer Phantasielandschaft, in der ein Haus steht, „und jemand fragte ,Wem gehört das Haus?‘“ In erster Linie geht es Wittgenstein um die Einsicht, daß die Beantwortung dieser Frage sozusagen logisch unmöglich sein kann. Doch dann fügt er sogleich hinzu: „Es könnte übrigens die Antwort darauf sein: ,Dem Bauer, der auf der Bank davor sitzt.‘ Aber dieser kann sein Haus dann, z. B., nicht betreten“ (PU 398, Hervorhebung von mir). Darauf könnte man erwidern: „Natürlich kann er das Haus betreten – es sei denn, er hätte etwa seinen Schlüssel verloren.“ (Man vergleiche die Fortsetzung des Schachspiels in PU 365.) Aber es ist schon etwas Wahres an der Behauptung, der Bauer könne das Haus nicht betreten. Dieser Bauer, der in diesem Bild dargestellte Mann wird, wie man sagen darf, für immer dort sitzen, solange das Bild erhalten bleibt und von niemandem verändert oder übermalt wird. Im gleichen Sinne wird der Himmel in El Grecos Gemälde für immer stürmisch bleiben.

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Die Metapher oder das Gleichnis des Körpers als Bild der Seele hat zweifellos Grenzen. Irgendwo hören die Ähnlichkeiten, sofern sie überhaupt bestehen, auf. Aber ein Punkt, an dem das Gleichnis sicher nicht versagt – außer in ganz außergewöhnlichen und fragwürdigen Fällen –, ist das Faktum, daß das Bild nicht mit dem Abgebildeten identisch ist. Denn der Körper ist ja auch nicht das gleiche wie die Seele. Ich möchte bezweifeln, daß Wittgenstein mit dem „menschlichen Körper“ die Masse aus Knochen und Fleisch meint, die nicht nur der Körper einer lebendigen Person, sondern auch eine Leiche sein kann. Aber selbst wenn man den menschlichen Körper tatsächlich mit der lebendigen Person gleichsetzt, behauptet man nicht, die Person sei identisch mit ihrem Geist oder ihrer Seele. Die Grammatik der Aussagen über den Geist ist verschieden von der Grammatik der Aussagen über den Körper oder die Person. Man könnte sagen, der als rein physischer Gegenstand begriffene Körper entspreche dem in gleicher Weise begriffenen Bild, während der lebendige menschliche Körper dem als Bild – z. B. als Darstellung einer vom Gewitter bedrohten Stadt – aufgefaßten Bild entspricht. Das im Bild Gesehene entspricht dann der im Körper gesehenen Seele.

11.6 Aber inwieweit ist Wittgenstein überhaupt ein Behaviourist, auch wenn man davon ausgeht, daß hier von dem oben so genannten doppelseitigen Behaviourismus die Rede ist? Wittgenstein sagt: „Ein ,innerer Vorgang‘ bedarf äußerer Kriterien“ (PU 580). Der Dualist könnte erwidern, natürlich verhalte es sich so, was bestimmte Zwecke betrifft. Außerdem kann dieser Spruch darauf hindeuten, daß, was immer die äußeren Kriterien erfüllt, nicht mit dem „inneren Vorgang“ gleichgesetzt werden kann, sofern der Vorgang wirklich ein innerer ist und die Kriterien (bloß) äußere sind. Aber die – womöglich ironisch gemeinten – Anführungszeichen stammen von Wittgenstein selbst. Die Unterscheidung zwischen einem solchen Vorgang und den ihn betreffenden Kriterien läuft vielleicht auf nichts weiter hinaus als die Unterscheidung zwischen einer Fähigkeit oder Wahrscheinlichkeit und den sie zur Erscheinung bringenden Akten oder Verhaltensstücken. Diese zweite Unterscheidung ist verträglich mit einer behaviouristischen Auffassung vom Geist, ohne jedoch eine solche Auffassung zu verlangen. Sie kann außerdem die meisten – wenn auch nicht alle – Unterschiede zwischen der Grammatik von Aussagen über den Körper und der Grammatik von Aussagen über die Seele erklären. (Mit dem Behaviourismus ist diese Unterscheidung verträglich, weil Fähigkeiten in keiner das Problem des Fremdseelischen anheizenden Weise etwas „Inneres“ oder „Privates“ sind. Erforderlich ist der Behaviourismus allerdings nicht, es sei denn, daß z. B. alle Äußerungen der Tendenz zur Schmerzempfindung notwendig von anderen beobachtet werden können.)

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Wittgenstein sagt: „Der Satz ,Empfindungen sind privat‘ ist vergleichbar dem: ,Patience spielt man allein.‘“ (PU 248) Das mag so lange nichtbehaviouristisch klingen, bis man den Vergleich ernst nimmt. Patience spielt man nicht gemeinsam, es sei denn zufällig (oder mit Absicht – aber auf keinen Fall wesentlich oder notwendig). Wenn man gemeinsam Patience spielt, dann nur nebeneinander; es werden also zwei Patiencen gelegt. Ebensowenig haben wir gemeinsam Empfindungen, rote Haare oder die Fähigkeit zum Fahrradfahren. Andererseits spielen wir tatsächlich Tennis miteinander, schließen Freundschaft miteinander und diskutieren miteinander. Freundschaften schließt man ebensowenig allein, wie man allein diskutiert. Den Raum des Gemäldes kann man nicht betreten; aber das ist nicht so ähnlich wie die Unmöglichkeit, den Buckingham-Palast zu betreten. Eher gleicht es der Unfähigkeit, auf Farben zu laufen oder den Tod Hamlets im Stück zu verhindern. Eine Bemerkung, die behaviouristisch klingt und wohl wirklich behaviouristisch ist, aber zugleich Rätsel aufgibt, ist die Bemerkung über den Topf (PU 297). Der an das zu Anfang zitierte Dialogfragment aus den „Vorlesungen“ anklingende Abschnitt 296 lautet: „,Ja, aber es doch da ein Etwas, was meinen Ausruf des Schmerzes begleitet! Und um dessentwillen ich ihn mache. Und dieses Etwas ist das, was wichtig ist, – und schrecklich.‘ – Wem teilen wir das nur mit? Und bei welcher Gelegenheit?“ (Darauf könnte der Dualist erwidern: „Nun, wir teilen es einem Philosophen wie dir mit, und zwar anläßlich der Lektüre deines Buches.“ Wäre eine solche Antwort ein Zeichen mangelnder Einsicht?) In PU 297 heißt es: „Freilich, wenn das Wasser im Topf kocht, so steigt der Dampf aus dem Topf und auch das Bild des Dampfes aus dem Bild des Topfes. Aber wie, wenn man sagen wollte, im Bild des Topfes müsse auch etwas kochen?“ Es fällt offenbar schwer, dieses Gleichnis nicht behaviouristisch aufzufassen, und recht leicht, einen Zusammenhang zwischen diesem Gleichnis und der Behauptung zu sehen, der Körper sei das beste Bild der Seele. Freilich, im Körper geht etwas in ebendem Sinne vor sich, in dem im Bild des Topfes nichts vor sich geht. Doch was da im Körper vor sich geht, ist nicht eine Reihe geistiger Vorgänge. Aber mit dem „Bild des Topfes“ meint Wittgenstein offenbar den Topf im Bild. Im ersten Satz der Bemerkung 297 spricht er von dem aus dem Bild des Topfes aufsteigenden Bild des Dampfes, wie er auch im zweiten Satz vom Bild des Topfes redet. (Es geschieht leicht, daß man einen Teil oder Aspekt der Leinwand oder der betrachteten Linien in gewissem Sinn als das gleiche auffaßt wie den Topf oder Dampf im Bild, denn wir sehen sie ja als gleich.) Wollte man nun darauf pochen, daß in einem Teil oder Aspekt (etwa den Farben und Formen) der Leinwand oder der Zeichnung etwas kochen müsse, wäre das nicht nur philosophisch wirr, sondern geradezu töricht. Es gliche der Reaktion des Provinzbanausen, der auf die Bühne eilt, um Hamlet beizustehen, oder der Kinoleinwand zu Leibe rückt, um dem Filmbösewicht an den Kragen zu gehen. Nehmen wir jedoch an, daß wir drei Bilder vor uns haben: eines zeigt den Topf mit daraus aufsteigendem Dampf, ein weiteres den Topf ohne daraus aufsteigenden Dampf und ein

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drittes einen umgekippten Topf. Diese Bilder könnten eine Geschichte illustrieren, und es wäre naheliegend, sie (in umgekehrter Reihenfolge) so aufzufassen, daß sie zuerst den Topf zeigen, der darauf wartet, gefüllt zu werden; zweitens den fürs Kochen vorbereiteten Topf; und drittens den Topf, der jetzt voller kochenden Wassers auf dem Herd steht. (Es kann sein, daß jemand den Kopf voll hat oder daß in seinem Kopf etwas vor sich geht. Wir für unser Teil können uns fragen oder können wissen, worum es sich handelt. Aber geht im Kopf jedes Menschen mit Bewußtsein stets etwas vor sich? Anscheinend nicht, denn unser Kopf kann auch leer sein, während er im Normalfall wahrscheinlich weder leer noch voll ist.) Die Situation ist vielleicht folgende: Es gibt Bestandteile und Aspekte menschlichen Verhaltens – zu denen Aussehen, Ausdrucksschattierungen, Tonfall und geäußerte Worte sowie kleinste Körperbewegungen gehören –, auf die wir in bestimmter Weise reagieren und die wir in bestimmter Weise auffassen, sehen und hören. Ebenso gibt es Bestandteile oder Aspekte bemalter Leinwandstücke und Zeichnungen, auf die wir in bestimmter Weise reagieren und die wir in bestimmter Weise auffassen und sehen. In beiden Fällen sind unsere Reaktionen ausschlaggebend, sofern solche Verhaltensweisen und physischen Objekte die Signifikanz und Bedeutung haben sollen, die den Kern unserer Auseinandersetzung mit Personen und Bildern ausmachen. So sehen wir die Freude im Gesicht einer Person, und genauso sehen wir den Topf und den Dampf im Bild. Sobald wir über das so Gesehene hinausgehen und z. B. fortschreiten zu Aussagen über im Topf kochendes Wasser, zu Gedanken, die jemandem durch den Kopf gehen, oder zu Gefühlen, die er in seinem Gemüt empfindet, vollziehen wir einen weiteren Schritt, an dem nichts auszusetzen ist, solange er Sinn hat, der aber auch in die Irre führen kann. Das Gleichnis des Topf-Bildes scheint darauf hinzudeuten, daß wir irregeleitet sind, sobald wir meinen, daß Gedanken und Gefühle an einem inneren Ort ungefähr in der gleichen Weise ablaufen wie öffentliche Vorgänge, wenn jemand gewisse Worte äußert und sein Gesicht einen bestimmten Ausdruck annimmt, so z. B. wenn er „Das ist herrlich!“ ausruft und sich vor Freude nicht zu fassen weiß. (Vgl. die Erörterung des Kopfrechnens in PU 364 und 366, insbesondere die letzte Zeile von PU 364.) Einerlei, ob Wittgenstein Behaviourist ist oder nicht, jedenfalls ist er durchgängig der Meinung, daß die öffentlichen Gegebenheiten, die das Lernen der Begriffe gestatten und deren zutreffende Anwendung möglichst weitgehend erkennen lassen oder bestätigen, für die Begriffe des geistigen Bereichs ebenso die Grundlage bilden wie für alle sonstigen Begriffe. Bei den Begriffen für Geistiges handelt es sich um öffentliches Verhalten unter Umständen, die ihrerseits öffentlich sind. Dieses Verhalten ist die Grundlage alles Übrigen, das mit geistigen Begriffen zu tun haben mag. Alles andere beruht auf dieser Grundlage und würde ohne sie hinfällig oder versagen – es wäre gar nicht als Bestandteil dessen vorhanden, was wir unter dem „Geist“ verstehen. Doch dann gewinnt es den Anschein, als beruhte alles andere nicht wirklich auf dieser Grund-

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lage, sondern würde – begriff lich gesprochen – zu deren nicht erfaßbarem Echo oder zu einer Art von Sinnbild oder Traum unserer Sprache und des maßgeblichen öffentlichen Verhaltens. Dieses Verhalten ist der funktionierende, arbeitende Geist. Es ist das, was geschieht, wenn sich die Räder des Geistes drehen. Und die Räder sind ihrerseits nichts anderes als die Fähigkeiten und Tendenzen, die, insgesamt genommen, zwischen menschlichen Körpern und anderen Körpern in dieser Welt einen Unterschied machen. (Einige andere Körper – etwa die der sogenannten höheren Tiere – haben viele oder sogar die meisten dieser Fähigkeiten, während andere Körper vermutlich keine derartigen Fähigkeiten besitzen. Außerdem unterscheidet natürlich schon allein die physische Erscheinung sogar in der Todesstarre zwischen verschiedenen Lebewesen.) Man könnte sagen, daß wir es hier mit einem begriff lichen oder grammatischen Epiphänomenalismus zu tun haben, wonach alles Nichtöffentliche ohne wesentliche Bedeutung für die Welt ist, einschließlich des geistigen Bereichs. Der Sinn aller Aussagen über das Innenleben sei davon abhängig, daß dieses Innenleben eine Außenseite hat, außer der wir nichts sehen und nichts zu sehen brauchen. (Nicht anders als wir stellt auch der Solipsist Fragen, erteilt Befehle und verliebt sich; also ist er kein Solipsist.) Der Sinn der Aussage, daß andere Wesen Geist und Bewußtsein haben, Freude und Schmerzen empfinden, Dinge begehren usw., steht ihnen im Gesicht geschrieben und ist an ihrem Verhalten abzulesen. Aber jetzt scheint es, soweit es um die Existenz des Geistes geht, nicht mehr darauf anzukommen, ob es wirklich ein Inneres gibt, denn sofern es überhaupt ein Inneres gibt, ist es in begriff licher Hinsicht belanglos, wenn auch vielleicht nicht in kausaler oder – bei Zugrundelegung einer Identitätstheorie – in metaphysischer Hinsicht. Nehmen wir an, es gebe außer dem Zentralnervensystem usw. eigentlich gar kein Inneres. Das ist jedoch, wenn außen alles gleich bleibt, genug – und zwar zum Glück, denn ansonsten steht uns nichts zu Gebote, anhand dessen wir die Begriffe für Geistiges lernen und anwenden könnten. Außerdem müssen unsere Reaktionen auf öffentliches Verhalten ihrerseits als öffentliches Verhalten begriffen werden. Nun könnte man versuchen, vom Epiphänomenalismus loszukommen, indem man behauptet, diese zuletzt genannte Annahme sei ungereimt. Wenn außen alles genauso bleibt, wie es jetzt ist, folge daraus, daß auch das Innere vorhanden ist, denn daß es ein Inneres gebe, heiße, daß alles Äußere – einschließlich aller feinen Nuancen des menschlichen Verhaltens und unserer Reaktionen auf sie – so ist wie jetzt. Doch damit kommt man vom Epiphänomenalismus nicht los. Wenn die Existenz eines Inneren der Gedanken, Gefühle usw. auf nichts anderes hinausläuft als das Vorhandensein eines Äußeren in seinem derzeitigen Zustand, dann ist damit schon angegeben, was es mit der Existenz des Inneren auf sich hat. Damit ist gesagt, was die Behauptung der Existenz des Geistigen eigentlich bedeutet, nämlich daß das Äußere – das menschliche Verhalten – in seiner jetzigen Form vorhanden ist. Was es für Bilder heißt, daß in ihnen Gewitter und Gesichter vorkommen, liegt ebenfalls darin, daß die Bilder sozusagen auf ihrer Außenseite – der bemalten Leinwand und den schwarzen

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Linien auf weißem Papier – nicht anders beschaffen sind als jetzt, während wir nach wie vor genauso auf sie reagieren wie heute. Wieder sind unsere Reaktionen nach dieser Wittgenstein-Interpretation ebenso ausschlaggebend für unsere Begriffe vom Geistigen wie das Verhalten, auf das damit reagiert wird: „[…] es [ist] ein primitives Verhalten […], die schmerzende Stelle des Andern zu pf legen, zu behandeln, und nicht nur die eigene […]. Was aber will hier das Wort ,primitiv‘ sagen? Doch wohl, daß die Verhaltungsweise vorsprachlich ist: daß ein Sprachspiel auf ihr beruht, daß sie das Prototyp einer Denkweise ist und nicht das Ergebnis des Denkens“ („Zettel“ 540 f.). Es steht hier ebenso wie im Falle des Bildes an der Wand: Schmerzverhalten, Verstehensverhalten oder freudiges Verhalten ist nur deshalb das, was es ist – läßt nur deshalb die Anwendung des jeweils relevanten Begriffs zu –, weil wir in der faktisch gegebenen Weise darauf reagieren. Um es zu wiederholen: nach dieser Auffassung vom Geistigen folgern oder erschließen wir ebensowenig, daß es andere Personen gibt und daß der Solipsismus verfehlt ist, wie wir folgern oder erschließen, daß es Bilder gibt. Einen Seelenblinden können wir uns vorstellen, und auch einen Menschen, der blind ist für das, was wir in Bildern sehen; und beide Arten der Blindheit können in gradueller Abstufung existieren. Doch im allgemeinen sind die Menschen nicht seelenblind, und dieser Satz ist nach meiner Wittgenstein-Interpretation notwendig wahr. Wären die Menschen im allgemeinen seelenblind, gäbe es die Leute, wie es sie heute gibt, nicht. Ebenso gäbe es keine Bilder im heutigen Sinne, wenn die Menschen blind wären für das, was in Bildern zu sehen ist. Wir sehen eben, daß es andere Personen gibt. Wer nicht seelenblind ist, sondern die Seele zu sehen vermag, erfaßt die Existenz der anderen in genauso direkter und unmittelbarer Weise wie die Existenz seiner selbst. Daß der andere eine Seele hat, erschließen wir ebensowenig, wie wir erschließen, daß das Gemälde einen Gewitterhimmel oder die Zeichnung ein Gesicht enthält. Eine Seele haben heißt, daß man von Natur aus auf die anderen als Seelenbesitzer reagiert und sie von Natur aus als Seelenbesitzer sieht.

11.7 Ist diese Auffassung vom Geist die richtige? Vorausgesetzt, daß wir von Natur aus auf die anderen als Seelenbesitzer reagieren, bleibt immer noch unklar, ob unser Verständnis des Geistigen – ganz zu schweigen etwa von Helen Kellers Auffassung dieses Begriffs – wirklich von dieser Voraussetzung abhängt. Der Skeptiker oder Dualist mag zwar einräumen, daß wir die Geistbegabtheit der anderen und somit die Existenz anderer Personen in dieser Welt de facto ebensowenig bezweifeln können wie den Gedanken, daß die Zukunft der Vergangenheit gleichen wird. Aber folgt daraus, daß der Begriff der Zukunft oder die Zukunft selbst genauso determiniert sind? Hier stellt sich unter anderem die Frage, ob philosophische Zweifel, die sich niemals zu echten Zweifeln aus-

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wachsen, deshalb philosophisch desavouiert sind. Und damit hängt die weitere Frage zusammen, ob es sinnvoll ist, Dinge zu sagen, die wir außer beim Philosophieren nie sagen würden. Setzen wir ferner voraus, daß das Lernen und die Anwendung der Begriffe für Geistiges zumindest im gleichen Maße mit dem Verhalten der anderen und unseren Reaktionen darauf zusammenhängen wie mit der Berücksichtigung des Bewußtseins von inneren geistigen Vorgängen. Sofern es zwischen dem Erlernen und der Anwendung eines Begriffs und dessen Inhalt eine notwendige oder interne Beziehung gibt, ist der Geist – oder zumindest der Begriff des Geistes – daher wesentlich verknüpft mit öffentlichem Verhalten und Reaktionen auf dieses Verhalten, die auch ihrerseits öffentliches Verhalten sind. Aber gibt es eine solche Beziehung wirklich? Der Skeptiker oder Dualist wird es bezweifeln; und der Dualist kann dennoch einräumen, daß die Art und Weise, in der wir mit dem Begriff des Geistes umgehen, auf vielen von uns für völlig zuverlässig erachteten kontingenten Zusammenhängen zwischen dem Inneren und dem Äußeren beruht, also zwischen den privaten Lebensregungen des Geistes und dem öffentlichen Verhalten. (Der Dualist würde demnach behaupten, daß unser Sprachspiel hier stets auf einer „stillschweigenden Voraussetzung“ beruht. Vgl. MS 144, S. 13/WA S. 498.) Richtig ist auch, daß viele unserer Reaktionen auf das öffentliche Verhalten anderer ihrerseits nicht weniger öffentlich sind als die Freude oder das Verstehen. Wir sehen andere und reagieren auf andere, die einander und uns sehen und auf einander und uns reagieren. Aber daraus folgt weder, daß alle derartigen Reaktionen etwas Öffentliches sind, noch daß sie alle im Bereich der Begriffe für Geistiges eine wesentliche Rolle spielen. In den bisherigen Abschnitten bin ich zunächst implizit und dann explizit davon ausgegangen, daß sie tatsächlich etwas Öffentliches sind. Denn wenn man einräumt, daß zumindest einige der für den Begriff des Geistes wesentlichen Reaktionen nicht öffentlich sind, verliert der Behaviourismus à la Wittgenstein für den Cartesianer sehr viel von seiner Bedrohlichkeit, während die Beziehung zwischen Innen und Außen so rätselhaft bleibt wie eh und je. Sie bleibt so rätselhaft wie der Zusammenhang zwischen äußeren Kriterien und innerem Vorgang, wenn die Anführungszeichen um den „inneren Vorgang“ verschwinden und die Erfüllung der äußeren Kriterien irgendwie gewährleisten muß, daß sich ein (im eigentlichen Sinne) innerer Vorgang abspielt. Die Wittgensteinsche Anschauung läuft also vermutlich darauf hinaus, daß alle fürs Geistige wesentlichen Vorkommnisse öffentlich sind. Doch diese Anschauung vom Geist wirkt unglaubhaft. Mir jedenfalls kommt sie unglaubhaft vor, wenn ich darüber nachdenke – buchstäblich unglaubhaft, und zwar buchstäblich während ich darüber nachdenke, wenn ich an meinem Schreibtisch sitze und mir Gedanken über die Frage mache, was ich als nächstes hinschreiben soll. Jemand anders, der mich sieht und mein Verhalten (einschließlich meines Gesichtsausdrucks usw.) beobachtet, könnte zwar sehen, daß ich denke oder immerhin nachdenklich aussehe, aber er könnte nicht sehen, woran ich denke. Dennoch geht etwas mehr oder weniger Spezifisches

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in meinem Geist vor sich, und zwar unabänderlich privat, wie es scheint. Außerdem scheint es zum Wesen unserer Vorstellung vom „Geist“ zu gehören, daß sich diese und andere Vorgänge – wie z. B. Gefühle – „im Inneren“, im Geist, unserem Sehvermögen entzogen abspielen. Zu diesen sonstigen Vorgängen, die den anderen nur durch unsere Äußerungen zugänglich sind, werden gewiß auch viele unserer Reaktionen auf ihr öffentliches Verhalten gehören. Aber der begriff liche Epiphänomenalismus kann zur Lösung dieses Problems einiges beitragen. Etwas wirklich Inneres und vom äußeren Verhalten Getrenntes ist nicht wesentlich für den Geist, sofern die Existenz des im eigentlichen Sinne Inneren nicht durchs Verhalten gewährleistet ist. Ebendas scheint nicht möglich zu sein, wenn das wirklich Innere tatsächlich etwas Getrenntes ist. Dennoch kann der eigentliche innere Vorgang ablaufen und – wie das Gehirn – in kausaler Hinsicht für das äußere Verhalten erforderlich sein. (Der begriff liche Epiphänomenalismus ist dem herkömmlichen Epiphänomenalismus also gewissermaßen entgegengesetzt.) Äußere Kriterien gewährleisten hier nicht, daß ein solcher Vorgang vonstatten geht, wohl aber, daß er dann, wenn er sich zuträgt, unter einen Teilbegriff für Geistiges fällt, der von anderen Teilbegriffen abgegrenzt ist – etwa unter „Hoffnung“ im Gegensatz zur „Erwartung“ oder unter „Denken“ im Gegensatz zum „müßigen Grübeln“. Die eigentlichen inneren Regungen können für uns zwar von höchster Wichtigkeit sein, aber ihre Eigenart erhalten sie erst durch äußere Vorgänge. Begriff lich gesprochen, bleibt das Innere, soweit es um den Begriff des Geistes geht, ein Epiphänomen des Äußeren. Aber nur diese eigentlichen inneren Ereignisse, deren Vorkommen durch kein Verhalten gewährleistet ist, bleiben Epiphänomene. Denn wenn jemand so aussieht und so handelt wie wir anderen, ist es tatsächlich gewährleistet – dann folgt es einfach –, daß er ein Innenleben in dem Sinne hat, daß er ein Mensch ist, der denkt, fühlt, beabsichtigt usw. Das in diesem Sinne verstandene Innenleben – also die Regungen des Geistes, die in begriff licher Hinsicht für das Leben des Menschen unabdingbar sind – bleibt uns anderen bei der Betrachtung als solches ebensowenig verborgen wie die Bildszene bei der Betrachtung der Leinwand an der Wand. Wie kommt es dann, daß wir normalerweise sehen, was in dem Bild enthalten ist, und im Regelfall nicht sehen, was im Geist einer anderen Person vor sich geht? Nun, eine Person ist kein Bild. Sie hat Fähigkeiten und Tendenzen von einer Komplexität, wie sie in anderen Bereichen nicht anzutreffen ist, z. B. nicht im Bereich der Gewitter, und erst recht nicht im Bereich der Bilder. Dennoch vermögen wir selbst bei Gewittern häufig nicht zu erkennen, wie sich ihr weiterer Ablauf gestalten wird. „Die Unvorhersehbarkeit des menschlichen Benehmens. Wäre sie nicht vorhanden, – würde man dann auch sagen, man könne nie wissen, was im Andern vorgeht?“ („Zettel“ 603.) Doch im Regelfall ist man selbst imstande anzugeben, was man tun wird, während die anderen nicht dazu imstande sind. Man weiß oder kann sagen, was einem vorschwebt, während die anderen es nur erraten können, sofern man es ihnen nicht mitteilt. (Auch

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wenn wir bestreiten, daß es sich hierbei um Kenntnis des eigenen Geistes handelt, ist doch klar, daß man das eigene Denken und Fühlen nicht in der gleichen Weise sieht wie manchmal die anderen, die sich anschauen, wie der Betreffende handelt und aussieht.) Das ist so ähnlich, als würden Bilder in unvorhersehbarer Weise ihren Inhalt ändern, und das überdies in einer Weise, die durch ein unseren in der ersten Person formulierten psychologischen Äußerungen entsprechendes Kennzeichen andeutet, daß ein Wandel bevorsteht oder daß diese Bilder unter anderen Umständen jetzt anders aussehen würden, also Bilder von anderen Gegenständen wären. Vielleicht wäre es möglich, eine Maschine zu bauen, die unter bestimmten Bedingungen einen falschen Eindruck erweckt, z. B. den Eindruck, sie bedürfe der Regulierung, während sie zugleich mit Blinkern versehen ist, die angeben, wie sie unter anderen Bedingungen funktionieren würde, wenn wir die richtigen Knöpfe betätigen würden. Doch solche Analogien besagen nicht viel. Denn die eigentlichen inneren Vorgänge im Geiste einer Person laufen weder bloß auf das gleiche hinaus wie die Wahrheit einiger kontrafaktischer Aussagen über ihr eventuelles Handeln unter anderen Umständen noch auf das gleiche wie ihre Äußerung der gegenwärtigen Gedanken, Gefühle und Absichten. Es hat eher den Anschein, als liefen sie auf das gleiche hinaus wie das, was dieser Person die Möglichkeit gibt, solche Äußerungen von sich zu geben, oder wie das Konglomerat aus Wissen und Gewußtem, wenn sie z. B. Freude darüber empfindet, ihre Gedanken für sich behalten zu haben. Aber über derlei Wissen kann der Vertreter des begriff lichen Epiphänomenalismus drei Dinge sagen: Erstens ist es keine notwendige Wahrheit, daß jemand über solches Wissen verfügt. „,Ich weiß, was ich will, wünsche, glaube, fühle,‘ …... (u. s. f. durch alle psychologischen Verben) ist entweder Philosophen-Unsinn, oder aber nicht ein Urteil a priori“ (MS 144, S. 93/WA S. 564). Zweitens verfügt man über solches Wissen, wenn man in den richtigen Situationen die richtigen Antworten gibt oder geben würde. Und eine jetzt gegebene Antwort kann uns dazu veranlassen, gelten zu lassen, daß zu einem früheren Zeitpunkt, als es noch nicht erkennbar war, wirklich etwas im Geist des Betreffenden vor sich ging. Doch der Sinn dieses Sprachspiels des Fragens, was jemand denkt, empfindet usw., beruht darauf, daß im allgemeinen weitgehende Übereinstimmung zwischen den Antworten der Menschen auf solche Fragen und ihrem sonstigen Verhalten herrscht. Daher gilt drittens: wenn das sogenannte eigent­liche Innenleben wirklich eine Rolle spielt, wenn es um diese Art der Selbsterkenntnis geht, bleibt das eigentliche Innere sogar hier begriff lich überf lüssig und verdankt seine Identität als Bestandteil der geistigen Lebensregungen den entsprechenden äußeren Kriterien. Wenn jemand sagt: „Ich weiß, was ich bin – ein Mensch“, oder: „Ich weiß, daß ich Bewußtsein – eine Seele – habe“, ist das ebenfalls entweder Philosophen-Unsinn oder nicht ein Urteil a priori und wird, ebenso wie das entsprechende Urteil in der dritten Person, für zweifellos zutreffend erwiesen, wenn man sieht, daß sich der Betreffende angemessen verhält.

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Ebenso wird das Urteil, jemand sei ein geistbegabtes Wesen oder habe eine Seele, für zweifellos zutreffend erwiesen, wenn er wie ein Mensch aussieht und entsprechend handelt, indem er ein Verhalten an den Tag legt, auf das wir nur so reagieren können, wie man eben auf das Verhalten eines beseelten Wesens reagiert. Die für Wittgensteins Auffassung vom Geist vielleicht überzeugendste Begründung nennt er in seinem Beispiel der auf der Straße spielenden Kinder (PU 420). Es scheint nämlich undenkbar, daß solchen Wesen die Seele abgehen könnte. Wenn wir Kinder spielen sehen oder Personen zuschauen, die sich beim Spaziergang miteinander unterhalten, wissen wir von ihnen genauso gut wie von uns selbst, daß sie Geist besitzen. Jede Auffassung, die es auch nur möglich erscheinen ließe, daß sie keine geistbegabten Wesen seien, ist entweder verfehlt oder von uns mißverstanden worden. Davon sind wir im höchstmöglichen Maße überzeugt. Aber ebenso überzeugt sind wir offenbar von der Anschauung, daß die im eigentlichen Inneren des Geistes – im privaten Bereich des Bewußtseins – ablaufenden Vorgänge ein wesentliches Element, vielleicht sogar im Grunde das Ganze des geistigen Vermögens ausmachen. Ich für mein Teil bin mir überhaupt nicht im klaren darüber, wie diese beiden augenscheinlich wahren Überzeugungen in Einklang zu bringen sind. Erstveröffentlichung unter dem Titel „Seeing the Soul“ in Philosophy 53, 1978, 33–50. Übersetzt von Joachim Schulte.

Auswahlbibliographie 1. Biographie B. F. McGuinness, Wittgenstein: A Life, I: Young Wittgenstein, London 1988; deutsch: Wittgensteins frühe Jahre, Frankfurt a. M. 1992 R. Monk, Ludwig Wittgenstein, The Duty of Genius, London 1990; deutsch: Wittgenstein. Das Handwerk des Genies, Stuttgart 1992 J. Klagge ed., Wittgenstein: Biography and Philosophy, Cambridge 2001 J. Schulte, Ludwig Wittgenstein: Leben, Werk, Wirkung, Frankfurt a. M. 2005

2. Bibliographie F. H. Lapointe, Ludwig Wittgenstein: A Comprehensive Bibliography, London 1980 St. Shanker, V. A. Shanker, A Wittgenstein Bibliography, London 1986 G. Frongia, B. F. McGuinness, Wittgenstein: A Bibliographical Guide, Oxford 1990 R. Drudis-Baldrich, Bibliografia Sobre Ludwig Wittgenstein, Madrid 1992 P. Philipp, Bibliographie zur Wittgenstein-Literatur, Bergen 1996 (Eine sehr hilfreiche, kommentierte Auswahlbibliographie bei Schulte, s. o. 1.)

3. Gesamtwerk A. Kenny, Wittgenstein, London 1973 R. J. Fogelin, Wittgenstein, London – New York 1976,2 1987 G. H. von Wright, Wittgenstein, Oxford 1982 J. Schulte, Wittgenstein, Stuttgart 1989 C. Diamond, The Realistic Spirit: Wittgenstein, Philosophy, and the Mind, Cambridge, Mass., 1991 H. J. Glock, A Wittgenstein Dictionary, Oxford 1996; deutsch: Wittgenstein. Ein Lexikon, Darmstadt 2000 P. M. S. Hacker, Wittgenstein’s Place in Twentieth-Century Analytic Philosophy, Oxford 1996 H. Sluga, D. Stern eds., The Cambridge Companion to Wittgenstein, Cambridge 1996 H. J. Glock ed., Wittgenstein: A Critical Reader, Oxford 2001 B. F. McGuinness, Approaches to Wittgenstein, London – New York 2002 A. Pichler, S. Säälä, Wittgenstein: The Philosopher and His Works, Wittgenstein Archives Univ. Bergen, 2005 R. Raatzsch, Ludwig Wittgenstein zur Einführung, Hamburg 2008 H. Biesenbach, Anspielungen und Zitate im Werk Ludwig Wittgensteins, Wittgenstein Archives Univ. Bergen, 2011 O. Kuusela, Marie McGinn eds., The Oxford Handbook of Wittgenstein, Oxford, erscheint demnächst H. J. Glock, J. Hyman eds., The Blackwell Companion to Wittgenstein, Oxford, erscheint demnächst

4. Zwischen „Tractatus“ und „Philosophischen Untersuchungen“ St. Hilmy, The Later Wittgenstein: The Emergence of a New Philosophical Method, Oxford 1987 D. Stern, Wittgenstein on Mind and Language, Oxford 1995

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F. Mühlhölzer, Braucht die Mathematik eine Grundlegung? Ein Kommentar des Teils III von Wittgensteins „Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik“, Frankfurt a. M. 2010 (Teil III der BGM ist von 1939/1940.)

5. „Philosophische Untersuchungen“ 5.1 Hilfsmittel H. Kaal, A. McKinnon, Concordance to Wittgenstein’s Philosophische Untersuchungen, Leiden 1975 Wittgenstein’s Nachlass. Completed Edition auf CD-ROM. Oxford 2000 (Geeignet für anspruchsvolle Recherchen)

5.2 Kommentare G. Hallett, A Companion to Wittgenstein’s Philosophical Investigations, Ithaca, N. Y. 1977 G. P. Baker, P. M. S. Hacker, An Analytical Commentary on the „Philosophical Investigations“, Vol. 1: Wittgenstein, Understanding and Meaning, Oxford 1980; von P. M. S. Hacker allein revidierte 2. Auf l. Oxford 2005; Vol. 2: Wittgenstein, Rules, Grammar and Necessity, Oxford 1985 E. v. Savigny, Wittgensteins „Philosophische Untersuchungen“. Ein Kommentar für Leser. Band I: Abschnitte l bis 315, Frankfurt a. M. 1988, 2 1994; Band II: Abschnitte 316 bis 693, Frankfurt a. M. 1989, 2 1996 P. M. S. Hacker, An Analytical Commentary on the „Philosophical Investigations“, Vol. 3: Wittgenstein, Meaning and Mind, Oxford 1990; Vol. 4: Wittgenstein, Mind and Will, Oxford 1996 R. Raatzsch, Eigentlich Seltsames. Wittgensteins „Philosophische Untersuchungen“. Ein Kommentar, Band I (PU 1 – 65), Paderborn 2003

5.3 Monographien und Sammlungen einzelner Autoren E. K. Specht, Die sprachphilosophischen und ontologischen Grundlagen im Spätwerk Ludwig Wittgensteins, Köln 1963 F. Scholz, Untersuchungen zum Problem der Empfindungswörter bei Wittgenstein, Diss. München 1969 J. Bogen, Wittgenstein’s Philosophy of Language, London 1972 J. V. Canfield, Wittgenstein: Language and World, Amherst 1981 C. McGinn, Wittgenstein on Meaning, Oxford 1984 J. F. M. Hunter, Understanding Wittgenstein, Edinburgh 1985 N. Malcolm, Nothing is Hidden, Oxford 1986 R. Haller, Fragen zu Wittgenstein und Aufsätze zur Österreichischen Philosophie, Amsterdam 1986 R. Ackerman, Wittgenstein’s City, Amherst 1988 D. F. Pears, The False Prison, Bd. 2, Oxford 1988 O. Hanf ling, Wittgenstein’s Later Philosophy, London 1989 J. Schulte, Chor und Gesetz, Frankfurt a. M. 1990 E. v. Savigny, Der Mensch als Mitmensch. Wittgensteins „Philosophische Untersuchungen“, München 1996 S. Cavell, „Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen“ und andere philosophische Essays, Frankfurt a. M. 2002 B. F. McGuinness, Approaches to Wittgenstein, London – New York 2002 D. Stern, Wittgenstein’s „Philosophical Investigations“, Cambridge 2004 S. Schroeder, Wittgenstein: The Way out of the Flybottle Polity, Cambridge 2006

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5.4 Sonstige Sammlungen von Beiträgen vor allem zur Spätphilosophie G. Pitcher ed., Wittgenstein, The Philosophical Investigations, Garden City, N. Y., 1966 H. Morick ed., Wittgenstein and the Problem of Other Minds, New York 1967 P. Winch ed., Studies in the Philosophy of Wittgenstein, London – New York 1969 E. D. Klemke ed., Essays on Wittgenstein, Urbana, Ill., 1971 O. R. Jones ed., The Private Language Argument, London 1971 A. Ambrose, L. Lazerowitz eds., Ludwig Wittgenstein: Philosophy and Language, London – New York 1972, 1973 Essays on Wittgenstein in Honour of G. H. von Wright, Amsterdam 1976 (= Acta Philosophica Fennica 28, H. 1-3) G. Vesey ed., Understanding Wittgenstein, Ithaca, N. Y., 1976 K. T. Fann ed., Ludwig Wittgenstein, Atlantic Highlands, N. Y, 2 1978 C. G. Luckhardt ed., Wittgenstein: Sources and Perspectives, Hassocks 1979 D. F. Gustafson, B. L. Tapscott eds., Body, Mind, and Method, Dordrecht 1979 I. Block ed., Perspectives on the Philosophy of Wittgenstein, Oxford 1981 S. H. Holtzman, C. M. Leich eds., Wittgenstein: To Follow a Rule, London 1981 D. Birnbacher, A. Burkhardt Hgg., Sprachspiel und Methode, Berlin 1985 J. Butterfield ed., Language, Mind, and Logic, Cambridge 1986 St. Shanker ed., Ludwig Wittgenstein – Critical Assessments, London, Sydney, Dover, 4 Bde. 1986 J. V. Canfield ed., The Philosophy of Wittgenstein, A Fifteen Volume Collection, New York – London 1986 (ab Band 4) P. Winch, D. Z. Phillips eds., Wittgenstein: Attention to Particulars (FS R. Rhees), New York 1989 R. L. Arrington, H.-J. Glock eds., Wittgenstein’s Philosophical Investigations: Text and Context, London 1991 K. Puhl ed., Meaning Scepticism, Berlin, New York 1991 P. A. French, Th. E. Uehling, H. K. Wetterstein eds., The Wittgenstein Legacy, Notre Dame 1992 J. Schulte, G. Sundholm eds., Criss-Crossing a Philosophical Landscape (FS B. F. McGuinness), Grazer Phil. Studien 42, 1992 W. Vossenkuhl Hg., Von Wittgenstein lernen, Berlin 1992 J. V. Canfield, St. G. Shanker eds., Wittgenstein’s Intentions (FS J. Hunter), New York – London 1993 R. Egidi ed., Wittgenstein: Mind and Language, Dordrecht – Boston – London 1995 P. Frascolla, D. Marconi, A. Voltolini eds., Wittgenstein: Mind, Meaning, and Metaphilosophy, Houndmills, Basingstoke, 2001 S. Schroeder ed., Wittgenstein and Contemporary Philosophy of Mind, Houndmills, Basingstoke, 2001 E. Ammereller, E. Fischer eds., Wittgenstein at Work. Method in the „Philosophical Investigations“, London – New York 2004 M. Kober ed., Deepening Our Understanding of Wittgenstein, Sonderheft der Grazer Philosophischen Studien 71, 2006 G. Kahane, E. Kanterian, O. Kuusela eds., Wittgenstein’s Interpreters, Oxford 2007 D. Whiting ed., The Later Wittgenstein on Language, Houndmills, Basingstoke, 2009 A. M. Ahmed ed., Wittgenstein’s „Philosophical Investigations“: A Critical Guide, Cambridge 2010

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6. Nach den „Philosophischen Untersuchungen“ J. Schulte, Erlebnis und Ausdruck: Wittgensteins Philosophie der Psychologie, München 1987 M. McGinn, Sense and Certainty, Oxford 1989 M. Budd, Wittgenstein’s Philosophy of Psychology, London 1989 M. ter Hark, Beyond the Inner and the Outer: Wittgenstein’s Philosophy of Psychology, Dordrecht 1990 E. v. Savigny, O. R. Scholz Hgg., Wittgenstein über die Seele, Frankfurt a. M. 1995 D. Moyal-Sharrock ed., The Third Wittgenstein: the Post-„Investigations“ Works, Aldershot 2004 D. Moyal-Sharrock, Understanding Wittgenstein’s „On Certainty“, Houndmills, Basingstoke, 2004, 2. 2007 D. Moyal-Sharrock, W. H. Brenner eds., Readings of Wittgenstein’s „On Certainty“, Houndmills, Basingstoke, 2005, 2 2007

Sachregister ähneln 189f. äußeres Kriterium 197, 202–204 Äußerung 23f., 165 Äußerungsbedeutung 11–18, 20f., 23f. algebraische Formel 77 Analyse 67 Anwendung der Regel 51, 99–105, 107 Arbeitsweise Wittgensteins 1f. Ausdruck 95, 97f. Ausdruck eines Gedankens 137 Ausdrucksäußerung 155–157 Ausdrucksverhalten 156, 187 Autorität der ersten Person 88–90, 157 Ballard 130–135 Bedeutung 7–31, 85 Bedeutungsskepsis 105 Befehl 16–18 begriff licher Epiphänomenalismus 200, 203f. Behaviourismus 192–195, 197f., 202 Bericht 156 Beschreibung 156 besinnen 65, 72 bestimmbare Eigenschaft 36, 46 bestimmen 77–82, 94–99, 113 bestimmte Eigenschaft 36, 46 Bestimmtheit des Sinns 66 Bewußtsein 150 Bild 161, 183–185, 188, 191, 193–197, 200f., 203 Bild des Topfes 198f. Bildtheorie 93

dynamische Vagheit 42 Ebenenwechsel 145 einfach 57f. Einstellung zur Seele 192 Empfindung 112–116, 118–120, 122–124, 135f. empiristische Auffassung vom Willen 167, 171– 173, 181 Erfahrung 165f., 171, 176 erhaben 56f., 73 Erinnerung 116–122, 124f., 131–133 Erklärung 70 Ethik 168f. Familienähnlichkeit 33–54, 60, 62, 94 Familienbegriff 35, 46–50 Festsetzungsregreß 108 Gebrauch 7–22, 24, 78f., 84, 102f. Gedächtnisphänomen 131, 134, 136 Gedanken 131, 133 gemeinsam und eigentümlich 33, 35f., 49, 52f. gemeinsames Merkmal 37–46 Gewißheit 171 Grammatik 65, 70, 152f. grammatischer Epiphänomenalismus 200 grammatischer Satz 12 Handlung 172f., 175f. Holzverkäufer 29

Crusoe 124f. definieren 47f. Definition 34, 58, 88, 116, 118, 121, 125 Denkapparat 129f. denken 129–146 denken und sprechen 130f., 133–136, 138, 143– 145 deuten 97, 186, 188 Deutung 84, 105–107 Deutungsregreß 84, 105 Ding an sich 169 disjunktive Definition 43f. Dualismus 184f., 194f., 197f., 201f.

impressionistisches Bild 138–142 indirekte Rede 87 inneres Geschehen, Inneres 129f., 150, 154, 186– 188, 191, 197, 200, 202–205 Introspektion 130 kausale Konzeption des Willens 180 Kausalität 113, 169, 172–174 Kenntnis 132 Kenntnis des eigenen Geistes 204 kinästhetische Empfindung 167, 175, 177–179 kinästhetische Idee 173 knowing how 75, 86f.

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S

Körper das beste Bild der Seele 185, 192, 195f. Körper und Seele 183, 185, 191, 194, 196f. Kontextgebundenheit 142, 144 Kontextveränderung 138 Kopfrechnen 151 Korrigierbarkeit 117 Kriterium 44f., 50, 155–157 Lebensform 7–31, 54 Leinwand 183–185, 188, 191, 200, 203 Lernbarkeit 107f. Lernen 60f., 202 lesen 186f. Logik 56f., 66–69, 73 Manometer 123 Maschine und Mensch 193f. Mehrdeutigkeit 19 meinen 75–90, 92, 95, 97, 101, 103f., 113 meinen und Bedeutung 75–77 Mensch 193–195 mentales Bild 148 Merkmal 37 Metaphilosophie 55 metaphysisches Subjekt 168, 170, 175 Methode 55, 150–153 Mitteilung 16 Muster 47, 161f. Nachlaß 1f., 4 Name 21f., 57–59, 62f., 67f., 113f. Naturgeschichte 25f. noumenal 167 Ordnung 66f., 71 Person 197 phänomenal 167 philosophieren 55–73 präsente Bedeutung 83f., 90 praktische Folge 14, 16 Praxis 107f. privat 107, 113f., 154, 198, 203 private Sprache 111–127 Privatsprachenargumentation, altorthodoxe Auffassung 111f., 117, 124 Privatsprachenargumentation, neuorthodoxe Auffassung 127

Projektionsmethode 83, 99 psychologische Begleiterscheinung 170 psychologische Begriffe 129, 147–149, 199–203 psychologischer und logischer Zwang 99f. Reagieren auf die Lernsituation 100, 102 Reaktion 189–191, 198, 200–202 Reaktionsweise 191f. Realist und Nominalist 50–54 rechtfertigen 51 Regel 14f., 21–26, 92–99, 101–104, 106–108, 126, 166 Regelausdruck 92f., 95–97, 99f., 104–106, 108 Regelfestsetzung 98 Regelfolgen 91–108, 121, 126 Regelmäßigkeit 9, 13f., 107f. Regelskepsis 97–99, 125–127 Regreß 98f. rein 56f., 59, 73 Rolle im Sprachspiel 8f., 12–14, 17, 19–21 Satz 57–60, 62f., 67f., 72 Satz- und Wortbedeutung 18–22 Schenkung 14 Schüler 101 Seele 183–205 Seelenblinder 191, 201 sehen als 190, 196 Selbsterkenntnis 204 so tun, als ob 162f. sozialer Sachverhalt 84f. Spiel 36, 94–96, 107 Sprachspiel 7–31 Sprachspiele mit dem Wort „Vorstellung“ 153f. Sprechakttheorie 11 Sprecherabsicht 84 Sprechervorrecht 89 statische Vagheit 42 staunende Einstellung 57, 59, 72 sublim 56, 59, 73 Subtraktionsfrage 176–179 Symptom 44f. Tabelle 122 Tagebuch-Beispiel 115f., 118–122 Teil II 3f., 55–73 Theorie 70 therapeutischer Versuch 56

S transzendentalphilosophische Auffassung vom Willen 167, 174f., 181 Übereinstimmung 126 Übereinstimmung des menschlichen Verhaltens 112 Übereinstimmung in der Reaktionsweise 190 Übergang 77, 84, 135–142 Übersetzung 131, 133, 135–138 Übersetzung wortloser Gedanken in Worte 134f. übersichtliche Darstellung 70f. Umgebung 187 unmittelbares Kennenlernen 113 Ursache 179 Ursache der Handlung 170 Vagheit 39f., 67 Verhalten 192, 199–203 Verhaltensregelmäßigkeit 14f. Verhaltensweise 185 verkörpern 195 Verständnis 104 Verständnis expliziter Regeln 100–102 Verstehen 75, 91, 95, 97, 101, 103–105

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versuchen 177, 180 Verwandtschaft 33, 38 Vorbedingung 16f., 24 Vorhersagen willkürlicher Handlungen 178f. vorstellendes Subjekt 168 Vorstellung 138, 140, 147–163, 165–167, 170f. Vorstellung und Wahrnehmung 158f. Vorstellungsbeschreibung 157f., 160 Vorstellungsbild 83, 144, 154, 159–161 Vorstellungstheorie der Bedeutung 148 Wegweiser 96f. Wesen 34, 63, 68, 70, 151f. Wesen der Sprache 61 Wesen und Erscheinung 63–65, 68–70 wesentliches Merkmal 35 Widerspruch 71f. Wille 165–182 Willensfreiheit 169 willentliche Handlung 172, 176 Wissen 177 wissen, was man meint 85–90 wollendes Subjekt 168 wünschen 173f. Würfel 83, 99

Hinweise zu den Autoren Stewart Candlish ist Herausgeber des Australasian Journal of Philosophy und Fellow der Australian Academy of the Humanities. 2007 veröffentlichte er bei Palgrave, Macmillan, die Monografie „The Russell/Bradley Dispute and Its Significance for TwentiethCentury Philosophy” (Paperb. 2009), 2010 das Kapitel „British Idealism: theoretical philosophy” im „Routledge Companion to Nineteenth-Century Philosophy”. Demnächst erscheinen bei Oxford U. P. „The Tractatus and the Unity of the Proposition” in J. Zalabardo ed., „Reading Wittgenstein”, und „The Identity Theory of Truth” in M. Glanzberg ed., „Oxford Handbook of Truth”. Noel Fleming hat Philosophie an der Harvard University und in Oxford studiert. Er lehrte an der Universität Manchester sowie an der Yale University, der Vanderbilt University und der University of California in Santa Barbara. Den Schwerpunkt seiner Veröffentlichungen bilden die Philosophie des Geistes und philosophische Klassiker. Er ist 2010 verstorben. Hans-Johann Glock ist Professor für Philosophie an der Universität Zürich und Gastprofessor an der University of Reading. Seine Forschungsschwerpunkte (mit den wichtigsten Buchveröffentlichungen) sind die Philosophie des Geistes („La mente de los animales“, KRK Ediciones 2009), Sprachphilosophie („Quine and Davidson on Language, Thought and Reality“, Cambridge U. P. 2003), Geschichte der Analytischen Philosophie („What is Analytic Philosophy?“, Cambridge U. P. 2008) und Wittgenstein („Wittgenstein’s ‚Philosophical Investigations‘: Text and Context“, hg. mit R. L. Arrington, London und New York 1991; „Wittgenstein and Quine“, hg. mit R. L. Arrington, London und New York 1996; „A Wittgenstein Dictionary“, Oxford 1996, dt. „Wittgenstein-Lexikon“, Darmstadt 2000; „Wittgenstein and Analytic Philosophy“, hg. mit J. Hyman, Oxford 2009; demnächst erscheint „The Oxford Companion to Wittgenstein“, hg. mit J. Hyman). Klaus Puhl ist Universitätsdozent und Seniorlecturer für Philosophie an der Universität Wien. Studium der Philosophie, Logik und Wissenschaftstheorie in Saarbrücken und München; 1986 Promotion, 1997 Habilitation in Graz; Lehr- und Forschungsaufenthalte in St. Andrews, Cambridge und Oxford; 2002 bis 2004 Vertretungsprofessur für Theoretische Philosophie in Innsbruck. Buchveröffentlichungen: „Meaning Scepticism“ (hrsg. 1991), „Subjekt und Körper“ (1999); Aufsätze zu Wittgenstein, zur Sprachphilosophie und zur Philosophie des 20. Jahrhunderts.

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H   A

Richard Raatzsch hat an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg studiert und promoviert. Er lehrt heute Praktische Philosophie an der EBS – Universität für Wirtschaft und Recht i. Gr., Wiesbaden. Eike v. Savigny ist Professor emeritus für Philosophie an der Universität Bielefeld. Oliver R. Scholz lehrt seit 2001 Philosophie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Joachim Schulte lehrt Philosophie an der Universität Zürich. Bis 2004 einer der Verwalter von Wittgensteins Nachlaß, seit 2004 Member of the Board of Editors of Wittgenstein’s Nachlass. Autor von vier Büchern und zahlreichen Artikeln über Wittgenstein sowie Mitherausgeber der kritischen Ausgaben von Wittgensteins Hauptwerken. Hjalmar Wennerberg lehrte Philosophie 1963–1972 an der Universität Uppsala, 1981– 1986 an der Universität Lund, deren Emeritus er ist. 1962 veröffentlichte er das Buch „The Pragmatism of C. S. Peirce“, 1971 „Den cartesianska cirkeln“ („Der cartesische Zirkel“).