Logik und Vernunft: Freges Rationalismus im Kontext seiner Zeit 9783495997130, 3495481192, 9783495481196


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Vorwort
Einleitung
Übersicht
Teil I: Ein Mathematiker als Philosoph
1.1. Die Reform der Logik auf der Basis der Mathematik
1.1.1. Die logischen Unvollkommenheiten der Alltagssprache
1.1.2. Urteil und beurteilbarer Inhalt
1.1.3. Funktion und Argument
1.1.4. Sinn und Bedeutung
1.1.5. Allgemeinheit und Existenz
1.2. Logische Klarheit
1.2.1. Individualbegriffe und Kennzeichen der Wiedererkennung
1.2.2. Wahrheitswertverläufe
1.2.3. Existenzpräsuppositionen
1.2.4. Das Wesen des Begriffs
1.2.5. Das Denkbare und das Zählbare
1.3. Das Prinzip der Priorität der Urteile vor den Begriffen
1.3.1. Die Entwicklungen des Prioritätsprinzips
1.3.2. Das Kontextprinzip und Freges erstes Argument gegen den Formalismus
1.3.3. Gedanke und Aussage
1.3.4. Klassentheorie und Begriffslogik
1.3.5. Analyse und Synthese
1.4. Frege, Russell und die Neukantianer
1.4.1. Die Ablösung der Logik von der Philosophie
1.4.2. Der Begriff des Urgesetzes
1.4.3. Nichtbeweisbarkeit und unmittelbares Einleuchten
1.4.4. Die Zielsetzungen des Neukantianismus
1.4.5. Freges Verbindungen zu den Neukantianern
Teil II: Logik und Erkenntnistheorie
2.1. Frege und die idealistische Tradition
2.1.1. Der Begriff des Idealismus bei den Neukantianern
2.1.2. Die Überwindung des Skeptizismus
2.1.3. Die vier Erkenntnisquellen
2.1.4. Nichtbeweisbedürftigkeit und Unbezweifelbarkeit
2.1.5. Der Skandal der Philosophie
2.2. Frege und der transzendentale Idealismus
2.2.1. Die Existenz eines aktualen Subjekts
2.2.2. Das Synthetische Apriori
2.2.3. Cogito Ergo Sum
2.2.4. Vernunft, Geist, und logische Erkenntnisquelle
2.2.5. Der Begriff der Erkenntnistheorie
2.3. Berechtigung versus Begründung
2.3.1. Erkenntnistheorie und Psychologie
2.3.2. Apriori und Aposteriori
2.3.3. Frege versus Russell über die Erkenntnistheorie
2.3.4. Freges zweites Argument gegen den Formalismus
2.3.5. Primäre und sekundäre Wahrheitsträger
2.3.6. Epistemische Modalitäten
2.4. Logik als Basisdisziplin der Philosophie?
2.4.1. Der Philosophiebegriff bei Frege und dem frühen Wittgenstein
2.4.2. Logik und Bedeutungstheorie
2.4.3. Sprache, Logik und Denken
2.4.4. Unsagbare Gedanken
2.4.5. Nicht Bedeutungstheorie, sondern Philosophie des Denkens
Literatur
Namenregister
Sachregister
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Logik und Vernunft: Freges Rationalismus im Kontext seiner Zeit
 9783495997130, 3495481192, 9783495481196

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Dorothea Lotter

Logik und Vernunft Freges Rationalismus im Kontext seiner Zeit

ALBER PHILOSOPHIE

https://doi.org/10.5771/9783495997130

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Dorothea Lotter Logik und Vernunft

ALBER PHILOSOPHIE

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https://doi.org/10.5771/9783495997130 .

Über das Buch Die Mehrzahl der Frege-Forscher im 20sten Jahrundert gehörte im Hinblick auf seine historische Einordnung einem von zwei einander entgegengesetzten Lagern an. Orthodoxe Analytiker betrachten Frege noch heute gerne als einen Denker, der radikal mit der erkenntnistheoretischen Tradition der Neuzeit gebrochen und die mathematische Logik gewissermaßen zur Basisdisziplin der Philosophie erhoben habe. Andere Autoren hingegen haben seit den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts Frege eher in die rationalistische und/oder neukantiansche Tradition neuzeitlicher Philosophie eingeordnet, innerhalb derer er seine frühe philosophische Ausbildung erfuhr. Die vorliegende Studie geht davon aus, dass der Neu-Kantianismus in seinen heute bekanntesten Formen in epistemologischer Hinsicht eine Weiterentwicklung des klassischen Rationalismus darstellt, und setzt sich kritisch mit Freges Form von Rationalismus auseinander. Dabei beschreitet sie im Hinblick auf den oben erwähnten Kontrast zweier historischer Perspektiven auf Freges Denken einen Mittelweg. Sie zeigt einerseits wesentliche Kontraste zwischen der klassisch-rationalistischen, der Kantischen und neu-Kantianischen, sowie – am Beispiel von Frege und Russell – der frühen »analytischen« Auffassung des Verhältnisses von Logik und Mathematik auf. Sie behandelt ferner wichtige methodologische Unterschiede in der jeweiligen Herangehensweise an philosophische Fragen, die zur Erklärung das Entstehen jener Kluft beitragen können, die sich zu Beginn des 20sten Jahrhunderts zwischen »analytischer« und »traditioneller« Philosophie auftat. Andererseits setzt sie sich aber auch kritisch mit dem lange Zeit vorherrschenden Vorurteil eines klaren Schnittes zwischen analytischer und neuzeitlicher Philosophie auseinander, welches sich sowohl als überzogen als auch philosophisch hinderlich erweist. Es behandelt wesentliche Unterschiede zwischen Frege, Russell und dem frühen Wittgenstein, die durch die lange Zeit vorherrschende Vereinnahmung Freges als »Vater der analytischen Philosophie« verwischt worden waren und seine Einstellung zur Logik und Philosophie historisch gesehen in einem falschen Licht erscheinen lassen. Frege, so könnte man es formulieren, erweist sich in dieser Studie gewissermaßen als der letzte große Vernunft-Rationalist. Die Autorin Dorothea Lotter promovierte im Jahre 2000 an der Ludwig-MaximiliansUniversität München. Danach war sie Forschungsstipendiatin der FritzThyssen-Stiftung, Gastforscherin an der University of California, Los Angeles, und Gastdozentin in Berkeley. Seit 2001 lehrt sie Philosophie und Logik an der Wake Forest University, North Carolina.

https://doi.org/10.5771/9783495997130 .

Dorothea Lotter

Logik und Vernunft Freges Rationalismus im Kontext seiner Zeit

Verlag Karl Alber Freiburg / München https://doi.org/10.5771/9783495997130 .

Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Alle Rechte vorbehalten – Printed in Germany © Verlag Karl Alber GmbH Freiburg / München 2004 www.verlag-alber.de Originalausgabe Einbandgestaltung und Satz: SatzWeise, Föhren Einband gesetzt in der Rotis SemiSerif von Otl Aicher Inhalt gesetzt in der Aldus und Gill Sans Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg 2004 www.difo-druck.de ISBN 3-495-48119-2

https://doi.org/10.5771/9783495997130 .

Hella Lotter, geb. Huning, zur Erinnerung

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Vorwort Das vorliegende Buch ist eine vollständig überarbeitete und aktualisierte Fassung einer früheren Version, die im Jahre 2000 an der Fakultät für Philosophie, Wissenschaftstheorie und Statistik der LudwigMaximilians-Universität München als Dissertation angenommen wurde. Ich möchte einer Reihe von Personen meinen Dank für anregende, informative und kritische Kommentare, Ermutigung und moralische Unterstützung aussprechen, die zur Fertigstellung dieses Buches beigetragen haben. Zunächst danke ich meinem Betreuer Wilhelm Vossenkuhl für seine zuverlässige und hilfreiche Unterstützung während des Abfassens der ursprünglichen Dissertation, sowie Verena Mayer und Matthias Schirn für ihr informatives Zweit- bzw. Drittgutachten derselben. Andreas Kemmerling, Eckart Förster, Dirk Greimann und anderen Mitgliedern des Departments in München bin ich dankbar für anregende Seminare und Gespräche, die zur Klärung oder Bewusstwerdung des einen oder anderen Problems bei Kant, Frege, oder anderen Autoren geführt haben. Jedwege Missinterpretationen meinerseits, die in der vorliegenden Arbeit auftreten sollten, sind mir selbst zuzuschreiben. Für finanzielle Unterstützung sowohl in der Zeit vor als auch nach meiner Promotion danke ich dem Land Bayern sowie der FritzThyssen-Stiftung, die mir im Rahmen eines Forschungsstipendiums mehrere akademische Aufenthalte in den USA ermöglichte. Der Thomas Jack Lynch Fund des Philosophie-Departments an der Wake Forest University gewährte mir einen finanziellen Zuschuss für die Fertigstellung letzter Arbeiten bei der Publikation des Buches. Ich danke Mike Grieco für seine Hilfe bei der Erstellung der Register. Sehr herzlich danke ich Tyler Burge und Hans Sluga für ihre in jeder Hinsicht unersetzliche Unterstützung, ohne die ich den Absprung nach Amerika nie hätte schaffen können. Auch meine Gespräche mit Calvin Normore und John MacFarlane an der UCLA bzw. in Berkeley gaben mir anregende Ideen und eröffneten ganz neue Perspektiven auf meine Forschung. Ich danke ferner meinen Studenten in München, Berkeley sowie an der Wake Forest University, von denen ich viel gelernt habe. Am meisten habe ich jedoch Andrew Cross zu danken. Winston-Salem, August 2003 A

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung

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Übersicht

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Teil I: Ein Mathematiker als Philosoph . . .

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41 45 50 52 57

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59 61 63 64 69

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78 81

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84 89

1.1. Die Reform der Logik auf der Basis der Mathematik 1.1.1. Die logischen Unvollkommenheiten der Alltagssprache . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2. Urteil und beurteilbarer Inhalt . . . . . . . . 1.1.3. Funktion und Argument . . . . . . . . . . . 1.1.4. Sinn und Bedeutung . . . . . . . . . . . . . 1.1.5. Allgemeinheit und Existenz . . . . . . . . . 1.2. Logische Klarheit . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1. Individualbegriffe und Kennzeichen der Wiedererkennung . . . . . . . . . . . 1.2.2. Wahrheitswertverläufe . . . . . . . . . 1.2.3. Existenzpräsuppositionen . . . . . . . 1.2.4. Das Wesen des Begriffs . . . . . . . . 1.2.5. Das Denkbare und das Zählbare . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

1.3. Das Prinzip der Priorität der Urteile vor den Begriffen 1.3.1. Die Entwicklungen des Prioritätsprinzips . . . 1.3.2. Das Kontextprinzip und Freges erstes Argument gegen den Formalismus . . . . . . . . . . . . 1.3.3. Gedanke und Aussage . . . . . . . . . . . . . 8

ALBER PHILOSOPHIE

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Dorothea Lotter https://doi.org/10.5771/9783495997130 .

Inhaltsverzeichnis

1.3.4. Klassentheorie und Begriffslogik . . . . . . . . . . 1.3.5. Analyse und Synthese . . . . . . . . . . . . . . .

95 99

1.4. Frege, Russell und die Neukantianer . . . . . . . . . . . 1.4.1. Die Ablösung der Logik von der Philosophie . . . . 1.4.2. Der Begriff des Urgesetzes . . . . . . . . . . . . . 1.4.3. Nichtbeweisbarkeit und unmittelbares Einleuchten 1.4.4. Die Zielsetzungen des Neukantianismus . . . . . . 1.4.5. Freges Verbindungen zu den Neukantianern . . . .

105 107 115 118 123 135

Teil II: Logik und Erkenntnistheorie 2.1. Frege und die idealistische Tradition . . . . . . . . . . 2.1.1. Der Begriff des Idealismus bei den Neukantianern 2.1.2. Die Überwindung des Skeptizismus . . . . . . . 2.1.3. Die vier Erkenntnisquellen . . . . . . . . . . . . 2.1.4. Nichtbeweisbedürftigkeit und Unbezweifelbarkeit 2.1.5. Der Skandal der Philosophie . . . . . . . . . . .

. . . . . .

148 151 156 161 164 167

2.2. Frege und der transzendentale Idealismus . . . . . . 2.2.1. Die Existenz eines aktualen Subjekts . . . . . . 2.2.2. Das Synthetische Apriori . . . . . . . . . . . 2.2.3. Cogito Ergo Sum . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4. Vernunft, Geist, und logische Erkenntnisquelle 2.2.5. Der Begriff der Erkenntnistheorie . . . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

173 175 179 187 200 208

2.3. Berechtigung versus Begründung . . . . . . . . . . . 2.3.1. Erkenntnistheorie und Psychologie . . . . . . . 2.3.2. Apriori und Aposteriori . . . . . . . . . . . . . 2.3.3. Frege versus Russell über die Erkenntnistheorie . 2.3.4. Freges zweites Argument gegen den Formalismus 2.3.5. Primäre und sekundäre Wahrheitsträger . . . . . 2.3.6. Epistemische Modalitäten . . . . . . . . . . . .

. . . . . . .

216 218 224 234 237 244 248

2.4. Logik als Basisdisziplin der Philosophie? . . . . . . . . . 257 2.4.1. Der Philosophiebegriff bei Frege und dem frühen Wittgenstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 2.4.2. Logik und Bedeutungstheorie . . . . . . . . . . . 268 A

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Inhaltsverzeichnis

2.4.3. Sprache, Logik und Denken . . . . . . . . . . . . 273 2.4.4. Unsagbare Gedanken . . . . . . . . . . . . . . . . 279 2.4.5. Nicht Bedeutungstheorie, sondern Philosophie des Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Namenregister

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Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310

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Einleitung

Erkenntnistheorie hat es nach der traditionellen Auffassung von Erkenntnis als wahrer gerechtfertigter Überzeugung mit drei philosophischen Problembereichen zu tun: (1) mit der Frage worin eine Rechtfertigung besteht und worauf sie letztlich beruht, (2) mit der Frage worin Wahrheit besteht, und (3) schließlich mit der Frage nach der Natur der Wahrheitsträger. Diese drei Bereiche behandelte Gottlob Frege nicht nur in seinen philosophischeren Schriften – einschließlich denen zur Sprachphilosophie –, sondern auch in seinen Abhandlungen zur Philosophie der Mathematik, und es ist nicht nur historisch sondern auch systematisch betrachtet eine interessante Frage, wie Freges jeweilige Positionen in diesen Bereichen miteinander zusammenhängen. Es ist eine Frage, deren Untersuchung Aufschluss geben wird über Freges Versuche, ein bestimmtes Ideal der Erkenntnistheorie aufrechtzuerhalten, das jedoch entgegen seinen Bemühungen schon bald radikal aus der auf der neuen Logik basierenden analytischen Tradition der Philosophie verbannt wurde. Eine Diagnose wie die, dass Frege in irgendeiner Weise philosophisch interessiert war, einer bestimmten philosophischen Strömung nahestand, oder gar philosophisch Interessantes leistete, mag dabei auf den ersten Blick erstaunen – in Anbetracht dessen, dass sein Hauptinteresse offenbar lediglich einer besseren Grundlegung der Mathematik galt, wie er selbst es in einer retrospektiven Zusammenfassung seiner wissenschaftlichen Arbeit beschreibt: 1 Von der Mathematik ging ich aus. In dieser Wissenschaft schien mir die dringlichste Aufgabe in einer besseren Grundlegung zu bestehen. Bald bemerkte ich, dass die Zahl nicht ein Haufe, eine Reihe von Dingen ist, auch nicht eine Eigenschaft eines Haufens, sondern dass die Zahlangabe, die auf Grund einer Zählung gemacht wird, eine Aussage von einem Begriffe enthält. […] Bei solchen Untersuchungen war die logische Unvollkommenheit der Sprache hinderlich. Ich suchte Abhilfe in meiner Begriffsschrift. So kam ich von der Mathematik zur Logik. 1

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Einleitung

Frege erwähnt in dieser Beschreibung seiner intellektuellen Entwicklung die Philosophie mit keinem Wort, vielmehr schildert er lediglich seinen Gang von der Mathematik zur Logik. Als charakteristisch und wesentlich für Freges Unternehmungen im Bereich der Logik und Mathematik wird daher heute üblicherweise sein Ziel betrachtet, den sogenannten Logizismus zu etablieren: Die These, dass die gesamte Arithmetik – d. h. sowohl ihre Gegenstände als auch ihre Gesetze – als eine Fortsetzung der Logik erweist. Durch dasselbe Projekt motiviert – der Reduktion der Mathematik auf die Logik – hatte auch Bertrand Russell zu Beginn des 20sten Jahrhunderts begonnen, eine technisch exakte Notation zu entwickeln, in der sich die Axiome der Mengentheorie und Logik sowie ihre logischen und mathematischen Folgerungen exakt aufzeigen lassen würden. Diese vor allem von Vorarbeiten Peanos und Booles im Bereich der Klassentheorie angeregte logische Sprache unterschied sich jedoch in einigen grundlegenden Hinsichten nicht unerheblich von derjenigen Freges, ebenso wie die Logik, die darin zum Ausdruck kommt – die sogenannte Typentheorie, wie sie in Russells und Whiteheads Principia Mathematica entwickelt wird. Der Ausdruck »Logizismus« selbst erhielt erst durch Rudolf Carnap im Jahre 1931 die spezifische Bedeutung, die er seither in der Analytischen Philosophie als einheitliche Bezeichnung für ein Projekt hat, dessen früheste Manifestation die Standardauffassung in Freges Schriften lokalisiert. 2 Auch heute noch ist die Auffassung verbreitet, Frege sei in erster Linie ein Mathematiker gewesen, der sich philosophischen Problemen grundsätzlich eher widerwillig zugewandt habe und auch dies nur, sofern ihn Grundlagenfragen der Mathematik dazu nötigten. Demnach wären alle philosophischen Probleme, mit denen sich Frege überhaupt beschäftigte, seinen spezifisch mathematischen, oder zur Philosophie der Mathematik im engeren Sinne gehörenden Projekten und Interessen – insbesondere dem des sogenannten Logizismus – vollständig untergeordnet gewesen. 3 Allerdings sind dabei wohl noch immer die meisten Interpreten – zumindest innerhalb der

Carnap führte ihn in dieser Bedeutung erstmals in Carnap 1931 ein. Zu früheren, allgemeineren Bedeutungen der Ausdrücke »Logizismus« und »Logismus« in der deutschsprachigen Philosophie des frühen 20sten Jahrhunderts siehe im folgenden Kapitel 1.4.4. 3 Vgl. etwa Angelelli 1967: 1: »Logicism and philosophy of number are the central aspects of Freges system, from which all the rest – not only his logic – has to be under2

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Einleitung

analytischen Philosophie – der Auffassung, dass Freges Projekt zur Grundlegung der Mathematik »in seinen Händen von formidabler philosophischer Fruchtbarkeit« 4 war. Die Fragen, die sich nun stellen, sind folgender Art: Was genau steckt hinter diesem Projekt, wie es Frege verstand – ist es im Wesentlichen nur als ein rein technisches Projekt im Sinne der heutigen Metamathematik aufzufassen, oder enthält es vielmehr im Kern gewisse philosophische Voraussetzungen und Zielsetzungen, die per se durch rein technische Ableitungs- und Definitionsprozeduren noch nicht vollständig erfasst sind? Um welche Voraussetzungen handelt es sich dabei? Wie, wenn überhaupt, unterscheidet sich Freges Logizismus philosophisch – nicht nur technisch – von Russells; und wie unterscheiden sich beider Projekte von Wittgensteins auf den ersten Blick sehr ähnlich anmutender These, dass die Mathematik »eine Methode der Logik« sei? Und ist es überhaupt legitim, nur solche Ansätze als »logizistisch« einzustufen und zu vergleichen, die sich wesentlich auf die Klassentheorie stützen? Der springende Punkt bei einem solchen Vergleich scheint hier die Auffassung von Logik zu sein, die der logizistischen These zugrunde liegt, und es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Frege in dieser Hinsicht vielleicht weniger modern gewesen sein könnte als es heute noch immer gerne gesehen wird. Um diesbezüglich Klarheit zu schaffen, möchte ich im ersten Teil des vorliegenden Buches die Verbindung von Logik und Mathe-

stood.« Kemmerling 1997: lf.: »Frege war Philosoph wider Willen. Er hatte eine Idee zur Grundlegung der Mathematik und versuchte, sie in die Tat umzusetzen, d. h. in einen systematischen Nachweis, daß die Arithmetik sich auf Logik und Mengenlehre zurückführen läßt. … Er behandelte philosophische Fragen nur dann, wenn sie sich im Verfolg seines metamathematischen Projektes stellten. Er empfand […] wohl wenig Vergnügen an typischen philosophischen Fragen. Eher scheint er sie als Belästigungen empfunden zu haben, denen er allerdings nicht auszuweichen vermochte. Wenn es bei der Zurückführung der Arithmetik auf die Logik nötig ist, von Gleichheit, von Zahlen, vom Analytischen und dem Synthetischen, vom Urteilen, von der Wahrheit, von den Zeichen, von ihrem Sinn und ihrer Bedeutung zu reden – nundenn, so sei es!« Siehe ferner Baker/ Hacker 1984: 8: »Freges avowed primary goal was to substantiate the thesis that arithmetic is part of pure logic. Everything else he did was peripheral.« Baker und Hacker geben allerdings gleichzeitig zu, dass sich bereits Freges vorbegriffsschriftliche Arbeiten zu den Grundlagen der Mathematik zwar nicht eigentlich im Gebiet der Philosophie bewegten, aber doch zumindest ein philosophisches Interesse an der Natur der Mathematik aufgewiesen hätten, siehe a. a. O., S. 12. 4 Vgl. Kemmerling, a. a. O. A

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Einleitung

matik, im zweiten hingegen die zwischen Logik und Erkenntnistheorie bei Frege untersuchen. Diese Untersuchung muss letztlich auch zu einer kritischen Diskussion von Dummetts Frege-Interpretation führen, die einige Etappen durchlaufen hat. Was alle Etappen in der Entwicklung der Dummettschen Frege-Rezeption gemeinsam haben, ist ihre Anbindung von Freges Logik an die Sprache und ihre damit verbundene Bemühung, Frege als den Begründer einer Art von Philosophie darzustellen, die sich selbst im Wesentlichen als Sprachphilosophie versteht. Damit verband Dummett zugleich die These, dass bei Frege erstmals die Logik als »Basisdisziplin der Philosophie auftrete« und in dieser Rolle die Erkenntnistheorie verdrängt habe. Ich möchte hingegen im folgenden Freges logizistisches Programm als ein erkenntnistheoretisches Programm darstellen, mit dem Frege noch immer an die Nachkantische Tradition der Transzendentalphilosophie anzuknüpfen suchte, wenngleich ihm dieser Versuch einer Fortsetzung der Tradition in mancherlei Hinsicht nicht vollständig gelungen war. Dabei interpretiere ich transzendentalphilosophische Ansätze in der Erkenntnistheorie als rationalistisch in einem weiteren Sinne; meine Untersuchung von Freges Erkenntnistheorie der Logik sollte somit von Interesse sein für die Geschichte und Problematik des Rationalismus überhaupt. Freges Rationalismus zum Thema eines ganzen Buches zu machen bedeutet daher nicht nur, eine spezifisch erkenntnistheoretische Lesart seines Projektes innerhalb der Philosophie der Mathematik zu understützen – in dieser Hinsicht schließt die vorliegende Interpretation an eine Richtung der Frege-Rezeption an, die erst gegen Ende der 70er Jahre des 20sten Jahrhunderts allmählich entstand und bis heute vor allem in den USA verbreitet ist. 5 Es bedeutet vielmehr auch herauszufinden, in welcher Hinsicht uns Frege in den Bereichen der Erkenntnistheorie, Intentionalitätstheorie und Ontologie interessante Einsichten hinterlassen hat, die sich – ob im negativen (abschreckenden) oder positiven (anregenden) Sinne – für die zeitgenössische systematische Forschung im Bereich der Erkenntnistheorie verwerten lassen. Wichtige zeitgenössische Repräsentanten dieser Richtung, an deren Arbeiten die vorliegende Untersuchung anknüpft, sind – trotz vorhandener Differenzen innerhalb dieser Gruppe, insbesondere über Ausmaß und Art des Einflusses Kants auf Freges Denken – Philip Kitcher, Hans Sluga, Tyler Burge, Gregory Currie, Gottfried Gabriel, Thomas Ricketts und Joan Weiner.

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Einleitung

Zwei Fragen drängen sich hier insbesondere auf. (1) In welchen Hinsichten genau ist Frege noch immer in die auf Kant zurückgehende transzendentalphilosophische Tradition einzuordnen? In welchen Hinsichten könnte man sagen, dass Frege diese Tradition lediglich in interessanter Weise »weiterentwickelt« hat – wie es etwa die Neukantianer beanspruchten – und in welchen Hinsichten könnte man sagen, dass er mit ihr brach? (2) In welcher Weise unterscheidet sich Freges Rationalismus, der immerhin am Anfang der analytischen Tradition des 20sten Jahrhunderts steht, von späteren Entwicklungen in der Erkenntnistheorie und Philosophie der Logik, von denen sich manche ebenfalls »rationalistisch« nennen? Diese beiden Leitfragen motivieren das vorliegende Buch, das die derzeit wohl erste umfassende Monographie speziell zu Freges Erkenntnistheorie darstellt. Das Buch ist als Lektüre sowohl für analytische als auch im Bereich der sogenannten Kontinentalphilosophie arbeitende Interessierte gedacht; in gewisser Weise zielt es ja gerade auch darauf ab zu zeigen, inwiefern die Anfänge der analytischen Philosophie zu einem großen Teil in den heute oft als obsolet betrachteten Systemen des Nachkantianismus und Nachhegelianismus liegen. Einige Topoi, die in den letzten Jahren im Hinblick auf Freges Erkenntnistheorie aufgekommen sind, mussten aus Platzgründen entweder ausgelassen oder kurzgefasst werden. So gehe ich im Zusammenhang mit meiner Diskussion von Freges Verhältnis zu den Neukantianern nicht mehr ausführlicher auf Lotze ein, weil in dieser Hinsicht schon viel von anderen Autoren (Hans Sluga, Michael Dummett und Gottfried Gabriel im Besonderen) geleistet wurde und das vorliegende Buch nicht speziell von Frege und den Neukantianern handelt. In systematischer Hinsicht habe ich aus Gründen des Umfangs die ansonsten sehr interessante Frage vernachlässigt, inwiefern Freges Logik gegenüber der allgemeinen Logik Kants tatsächlich als kognitiv gehaltvoll zu bezeichnen ist, wie Frege es in den Grundlagen der Arithmetik in Anspruch nahm. Ich denke nicht, dass Frege es überzeugend gelungen ist, dies zu zeigen – oder jedenfalls wäre es eine sehr ausführliche Diskussion wert, was unter »kognitiv gehaltvoll« in diesem Zusammenhang zu verstehen ist; dies wäre jedoch ein Topik für einen gesonderten Aufsatz.

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Einleitung

bersicht Ich möchte nun im folgenden eine Überblick und eine Zusammenfassung der verschiedenen Kapitel des vorliegenden Buches geben. Im ersten Teil soll die Verbindung von Philosophie, Logik und Mathematik bei Frege im Vergleich zu Russell und den Neukantianern behandelt werden. Ich beginne hier mit einer historischsystematischen Behandlung der Idee einer mathematischen Logik als Teil der Philosophie und liefere in diesem Zusammenhang eine Darstellung der wichtigsten Reformen, denen Frege die traditionelle Logik im Zuge seines logizistischen Projektes unterzog. Insbesondere wird hier auch die Idee einer Begriffsschrift behandelt, die die Alltagssprache in wissenschaftlichen Kontexten ersetzen soll, sowie der Übergang von Freges früher zu seiner späteren »Semantik« der Begriffsschrift. Ich unterscheide und diskutiere hier fünf wesentliche philosophische Prinzipien über die logische Struktur von Gedankeninhalten, die Freges Idee logischer Klarheit, seinem Begriff des Begriffs, sowie seinen Begriffen der Allgemeinheit, Existenz und Anzahl zugrundeliegen: Die Unterscheidung zwischen Funktion und Argument, das Prinzip der multiplen Zerlegung, das Prioritätsprinzip in zwei verschiedenen Versionen, das Kompositionalitätsprinzip sowie das Kontextprinzip. Lediglich das letztere Prinzip, so zeige ich hier, stiftet einen Zusammenhang zwischen der Ebene der Gedanken, ihrer Teile und ihrer Bezugsgegenstände, und der sprachlichen Ebene, in der diese Gedanken und ihre Bezugsgegenstände erst für uns faßbar werden. Ein wesentliches Resultat dieses ersten Teils im Hinblick auf die erste der beiden o. g. Leitfragen betrifft den Begriff des Denkbaren, wie er im Rahmen von Freges Logik zu verstehen ist (vgl. 1.2.5.): Als denkbar gelten Gegenstände innerhalb von Freges Logik nur dann, wenn sie sich unter scharf begrenzte Begriffe ordnen und somit eindeutig identifizieren lassen. Genau in diesem Fall auch sind aber Gegenstände zählbar. Freges Begriff der logischen Denkbarkeit ist also von vornherein so konzipiert, dass er notwendigerweise koextensional ist mit dem der Zählbarkeit. Es war hingegen ein wesentliches Ergebnis von Kants Kritik der reinen Vernunft, dass Dinge denkbar sind, die sich nicht quantitativ bestimmen lassen. Für Kant und seine Nachfolger umfasste die allgemeine Logik Urteile oder Gedanken, die in dem Sinne leer sind, dass sie keinen Bezug zu einem möglichen Gegenstand der Erfahrung haben und somit auch keinen Bezug zur 16

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Wahrheit oder Falschheit. Wenn wir solche Gedanken oder Urteile in etwa analog zu Freges sogenannten Scheingedanken – die weder wahr noch falsch sein können – verstehen, so bezog sich die Kantische Elementarlogik auch auf Scheingedanken, die Frege hingegen aus seiner Logik ausklammerte. Während also Kants formale Logik zwar in syntaktischer Hinsicht ärmer ist als Freges, ist sie im Hinblick auf ihren prinzipiellen Anwendungsbereich wesentlich umfassender, da sie sich nicht nur auf Zählbares, sondern auch auf NichtZählbares erstreckt. Und obwohl die Mathematik in gewisser Weise auch für Kant allgemeine Verstandesregeln enthält, die für die Erkenntnis eines Gegenstandes notwendig sind, ist ihre Allgemeinheit noch immer von derjenigen der reinen, allgemeinen Logik zu unterscheiden, die sich auch auf Urteile bzw. Begriffe erstreckt, die im Hinblick auf die Möglichkeit von Wahrheit oder Wirklichkeitsbezug, und somit auf Zählbarkeit, leer sind. Was hingegen bei Frege Denkbarkeit ist, fällt bei Kant bereits unter die Kategorie der Erkennbarkeit. Eine zweite wichtige Differenz ergibt sich im Hinblick auf den Vergleich zwischen Kants und Freges Theorien der Begriffsbildung (vgl. 1.3.5.). Während Frege zufolge die Begriffsbildung offenbar rein analytisch zugeht – durch Zerlegung beurteilbarer Inhalte bzw. Gedanken – dient die Analyse von Urteilen im Rahmen der formalen Logik bei Kant lediglich zur Klärung und Verdeutlichung der logischen Form von Begriffen; sie kann hingegen keine inhaltsstiftende Funktion übernehmen – sie kann nicht dazu dienen zu erklären, wie der Bezug eines Begriffs zu einem potentiellen Gegenstand möglich ist, unter welchen Bedingungen also ein Urteil, in dem der Begriff enthalten ist, als wahr bzw. falsch erachtet werden kann. Um inhaltlich vollständige, kognitiv gehaltvolle Begriffe zu erhalten, die wir zur Bildung wahrer oder falscher Urteile verwenden können, bedarf es nach Kant nicht nur der Zerlegung von Urteilen, sondern unabhängig davon auch einer Synthesisleistung des Verstandes. Es ist aber das Geschäft der transzendentalen, nicht der formalen (allgemeinen reinen) Logik, die Prinzipien dieser Synthesisleistungen des Verstandes aufzustellen, die die grundliegenden Bedingungen der Möglichkeit von Begriffsinhalten darstellen. Kant scheint demnach im Hinblick auf den Inhalt – wenn auch nicht die Form – eines Begriffs eine synthetische Theorie der Begriffsbildung zu vertreten. Im Gegensatz dazu scheint Frege die Aufgaben der transzendentalen und der allgemeinen Logik im Hinblick A

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auf die Erklärung der Entstehung von Begriffen nicht wirklich voneinander zu unterscheiden, bzw. die ersteren zugunsten der letzteren zu vernachlässigen. Die Frage, wie objektive, wahrheitsfähige Gedankeninhalte überhaupt möglich sind – die gewissermaßen Kants transzendentalphilosophische Untersuchungen geleitet hatte – wird bei Frege nicht wirklich beantwortet. Freges Idee des Zusammensetzens »neuer« Gedanken aus bereits zuvor verfügbaren Gedankenbausteinen gemäß dem Kompositionalitätsprinzip beantwortet sie nicht, da jene Bausteine selbst ja gemäß dem Prioritätsprinzip bereits durch Analyse anderer Gedanken gewonnen sein müssen. Im letzten Kapitel des ersten Teils gehe ich im Anschluss auf die vorhergehenden Untersuchungen auf Freges Verhältnis zu Russell einerseits und den Neukantianern andererseits im Hinblick auf das Verhältnis von Logik, Philosophie und Mathematik ein. Zunächst möchte ich die erkenntnistheoretische Ablösung der Logik von der Philosophie diskutieren, die wir erstmals im Werk Russells vorfinden, und in dieser Hinsicht einen genaueren Vergleich zwischen Russells und Freges Einstellung zur Logik durchführen. Einen besonderen und bezeichnenden Schwerpunkt bildet hier Russells Metapher von der Logik als Zweig der Mathematik, die sich inhaltlich mit der Art und Weise in Zusammenhang bringen lässt, wie Russell sich die Begründungsbasis einer logischen Theorie dachte. Obwohl sich große Ähnlichkeiten in Freges und Russells Verbindung von Logik und Klassentheorie ausmachen lassen, war Frege noch nicht ohne weiteres bereit gewesen, die Logik so zu verändern, wie Russell es tat, nur um zu zeigen, »dass die Mathematik identisch mit der Logik« sei. Vielmehr vertrat Frege gewisse philosophische Prinzipien, die sich auf die Idee der Vernunft oder Rationalität überhaupt beziehen und durch die das, was als zulässige Logik gelten kann, erheblich eingeschränkt wird. Vor allem im Hinblick auf den erkenntnistheoretischen Status der logischen Urwahrheiten weicht seine Auffassung erheblich von derjenigen Russells ab und ist dem zeitgenössischen Neukantianismus verwandter. Während Russell sich nach 1900 nahezu vollständig von der traditionell-rationalistischen Auffassung von Logik als einer vernunftbasierten und –geleiteten Disziplin verabschiedet zu haben scheint, bleibt Frege ihr offenbar noch immer in einigen wesentlichen Punkten hartnäckig treu. Der Begriff der Erkenntnistheorie selbst wird bei Russell im Zuge seiner Abkehr vom Kantischen Vernunftideal gewissermaßen empirisiert – eine Entwicklung, gegen die sich Frege Zeit seines Lebens zur Wehr gesetzt hat. 18

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Für Frege reichen in Anlehnung an Leibniz Konsistenz, Allgemeinheit und Nichtbeweisbarkeit im technischen Sinne für ein Gesetz, das den Anspruch erhebt, ein Urgesetz der Logik oder Mathematik zu sein, nicht aus. Ein Gesetz zum nichtbeweisbaren Axiom innerhalb eines axiomatischen Systems der Logik und Mathematik zu erheben ist für ihn nur dann vom erkenntnistheoretischen Standpunkt aus zulässig, wenn dieses Gesetz unabhängig von anderen unmittelbar einleuchtet – eine Forderung, durch die sich Freges Begriff des Axioms erheblich von derjenigen Russells unterscheidet und zugleich deutliche Affinitäten zur Leibnizschen und Kantischen Idee mathematischer Axiome ausweist. Genau in dieser Hinsicht auch steht Frege im Disput zwischen den Neukantianern und der Schule der modernen, symbolischen Logik im Anschluss an Boole, Hilbert und Russell deutlich auf der Seite der ersteren. Seine prinzipielle Ablehnung von Urgesetzen, die nicht selbst unmittelbar einleuchten, liefert schließlich auch eine Erklärung, warum Frege Russells Typentheorie nicht akzeptieren konnte, obwohl sie zum Zweck der Verwirklichung des logizistischen Programms entwickelt worden war. Gewisse erkenntnistheoretische, und vor allem spezifisch rationalistische Prinzipien bezüglich der Natur der Logik waren also für Frege maßgeblich in seiner Beurteilung alternativer Konzeptionen der Durchführung des logizistischen Programms. Insbesondere scheint für ihn der Nachweis des apriorischen Charakters der Arithmetik deutlich Vorrang zu haben vor dem Nachweis ihre mutmaßlichen »logischen« Wurzeln – insbesondere wenn der Begriff des Logischen dabei in einer Weise verändert werden müsste, die dem Rationalitätsideal, das Frege vorschwebte, nicht mehr gerecht wird. Die Idee des unmittelbaren Einleuchtens erhält somit einen besonderen Stellenwert in Freges Gedankengebäude, und die Frage entsteht, was Frege wohl darunter genau verstand, welche erkenntnistheoretische Relevanz es überhaupt hat und welche Voraussetzungen bezüglich der Natur der Logik wohl ein solches Kriterium erforderlich machen würden. Frege selbst versäumt es allerdings, in diesem Zusammenhang wirklich Klarheit zu schaffen. In 1.4.2. komme ich zu dem vorläufigen Ergebnis, dass das Einleuchten Frege zufolge zwar eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung für eine Urwahrheit sein kann – und dies gilt, selbst wenn wir Konsistenz, Allgemeinheit und Wahrheit zusätzlich voraussetzen. Eine Wahrheit, die einleuchtet, braucht daher noch nicht unbeweisbar zu sein, wenngleich umgekehrt von einer unbeweisbaren Wahrheit zu A

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erwarten ist, dass sie einleuchte. Was offenbar zusätzlich erforderlich ist, ist die Nichtbeweisbedürftigkeit des betreffenden Axioms. Ich wende mich schließlich kurz einigen neukantianischen Auffassungen des Verhältnisses von Logik und Mathematik zu, von denen einige in gewisser Weise und mit Vorbehalten als »logizistisch« eingestuft werden könnten. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den Neu-kantianischen und der Frege-Russellschen Tradition des Logizismus besteht jedoch darin, dass es den ersteren offenbar um eine Zurückführung der Mathematik nicht auf die allgemeine, formale Logik, sondern auf die transzendentale Logik im Sinne Kants geht. Insofern führten sie eigentlich nur den Kantischen Ansatz weiter, die Zahlen nicht etwa als Mengen, sondern Zahlangaben als Resultate der Anwendung eines transzendentalen, auf einer ursprünglichen Synthesisleistungen des Verstandes beruhenden Schemas der Kategorie der Quantität zu begreifen. Keiner jener neukantianischen Versuche, die »logische Natur« der Mathematik nachzuweisen, wurde dabei im Rahmen der neuen symbolischen Logik durchgeführt, derer sich Frege und Russell bedienten. Freges und Russells Enthusiasmus über die Nutzbarkeit der Mathematik für die Logik – und damit die Philosophie – schien bei ihren traditionellen deutschen Zeitgenossen im allgemeinen nicht besonders gut anzukommen. Der Widerstand der deutschen Neukantianer gegen die Vereinnahmung der Logik und Philosophie durch mathematische Methoden, Begriffe und Interessen war offenbar beachtlich, was möglicherweise u. a. historisch auf Kants eigene Einstellung zum Verhältnis von Mathematik und Philosophie zurückzuführen ist und sicherlich wenigstens zum Teil die getrennten Pfade erklären könnte, in denen sich die Philosophie zu Beginn des 20sten Jahrhunderts fortzubewegen begann. Hierzu trug wohl auch die Tatsache bei, dass Neukantianer und frühe analytische Philosophen bereits den Wert einer historischen Herangehensweise an systematische Fragen in der Philosophie sehr verschieden beurteilten. Teil II konzentriert sich auf das Verhältnis von Logik und Erkenntnistheorie bei Frege und setzt sich zugleich – insbesondere im letzten Kapitel – mit der auf Dummett zurückgehenden Lesart Freges als eines philosophischen Revolutionärs auseinander, der die Erkenntnistheorie als Basisdiziplin der Philosophie durch die Sprachphilosophie ersetzt habe. Ich beginne zunächst mit einer Untersuchung von Freges Verhältnis zur rationalistischen Tradition der 20

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Neuzeit und insbesondere zur Frage, inwieweit dieser traditionelle Rationalismus als Idealismus verstanden werden kann oder muß. Ausschlaggebend für diese Frage ist Freges Beitritt zur Deutschen Philosophischen Gesellschaft im Jahre 1919, die sich offiziell der »Pflege, Vertiefung und Wahrung deutscher Eigenart auf dem Gebiete der Philosophie im Sinne des von Kant begründeten und von Fichte weitergeführten deutschen Idealismus« verschrieben hatte. Dieser Beitritt Freges zu einer idealistischen Philosophengesellschaft erscheint kurios, da Frege offenbar selbst unter »Idealismus« stets eine erkenntnistheoretische Position verstanden hatte, die aufgrund ihrer psychologistischen oder historistischen Auffassung von Wahrheit, Denken und Erkenntnis für ihn indiskutabel gewesen war. Es zeigt sich jedoch, dass das Verständnis der Neukantianer von »Idealismus« wohl noch wesentlich weiter war, als wir es heute gewöhnt sind, sodass Frege Position in erkenntnistheoretischer Hinsicht durchaus in ihr Programm hineinpasste, wenngleich er selbst sich offenbar schwertat, sie überhaupt noch als »Idealismus« einzustufen. Die Bezeichnung »deutscher Idealismus« im Manifest der Deutschen Philosophischen Gesellschaft wurde jedoch offenbar nicht lediglich mit den Systemen Kants, Fichtes, Schellings und Hegels in Verbindung gebracht, sondern erstreckte sich auf frühere Formen des kontinentalen Rationalismus, sowie auf posthegelianische Entwicklungen in der deutschsprachigen Philosophie; insbesondere auch auf Freges früheren Lehrer Lotze. Der Ausdruck »deutscher Idealismus« war offenbar zu diesem Zeitpunkt zu einem Sammelbegriff geworden, der nahezu die gesamte deutschsprachige Tradition des Rationalismus umfasste. Die Gleichsetzung von deutschem Rationalismus mit deutschem Idealismus würde daher ansatzweise vielleicht auch erklären, warum das neukantianische Bekenntnis zum »deutschen Idealismus« Freges Beitritt in die Deutsche Philosophische Gesellschaft weder von seinem Standpunkt aus noch von dem der anderen Mitglieder im Wege gestanden haben muss. Frege hatte sich schon lange vor dem Zeitpunkt seines Beitrittes offen zu derjenigen Tradition der deutschen Philosophie bekannt, die mit Leibniz ihren Ausgang nimmt, und er sympathisierte insbesondere mit einigen wesentlichen Grundzügen der Kantischen Tradition. Was Freges Position in diesem Zusammenhang als spezifisch rationalistisch kennzeichnet, ist die Art und Weise, wie er den philosophischen Skeptizismus in verschiedenen Varianten zu überwinden versuchte (vgl. 2.1.4.). Wir finden bei ihm etwa Ansätze eines A

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Argumentes gegen die Induktion als ursprüngliche Schlussweise, die nicht nur – wie Gottfried Gabriel gezeigt hat – fast wörtlich von Windelband und Liebmann übernommen zu sein scheinen, sondern auch heute noch als spezifisch rationalistische Argumentationsformen gelten. Freges Logizismus-Projekt erhält in diesem Lichte eine dezidiert rationalistische Dimension, die darin besteht, der Mathematik eine absolut sichere Beweisgrundlage zu geben, die selbst wiederum ihre Gültigkeit gänzlich unabhängig von empirischer Erfahrung erhält. Die Nichtbeweisbedürftigkeit der Axiome ist für Frege ein zusätzliches Merkmal, dass seiner in den Grundlagen dargelegten Ansicht zufolge Erkenntnis a priori generell von Erkenntnis a posteriori unterscheidet. Nichtbeweisbarkeit und Nichtbeweisbedürftigkeit sind für Frege offenbar nicht dasselbe, denn es kann Wahrheiten geben, die nicht beweisbedürftig und dennoch innerhalb des einen oder anderen Systems beweisbar sind. Umgekehrt ist nicht jede unbeweisbare Wahrheit nicht-beweisbedürftig; die empirischen Urwahrheiten in einem induktiven Beweis z. B. werden bei Frege lediglich als unbeweisbar, nicht aber als eines Beweises nicht bedürftig angesehen. Was für die Nichtbeweisbarkeit eines Axioms erforderlich ist, ist seine Unbezweifelbarkeit. Tatsächlich scheinen Nichtbeweisbedürftigkeit und Unbezweifelbarkeit für Frege ein und dasselbe zu sein. Nur in diesem Falle kann offenbar ein Beweis, in dem ein Axiom als erste Prämisse eingeht, seine Aufgabe erfüllen, die Wahrheit des zu beweisenden Satzes »über alle Zweifel« zu erheben. Denn nur aus der Unbezweifelbarkeit bzw. Nichtbeweisbedürftigkeit eines Urteils folgt ihm zufolge unmittelbar dessen Wahrheit. Freges antiskeptische Argumente richten sich nicht nur gegen die Hume-Millsche, sondern auch gegen die Cartesische Form des Zweifels (vgl. 2.1.5., 2.2.3.). In Abgrenzung zum Ansatz des wissenschaftlichen Sensualismus demonstriert er dabei seine Affinität zu derjenigen Tradition, die sich Descartes’ cogito gewissermaßen zum Ausgangspunkt der Erkenntnistheorie nimmt, um dem philosophischen Skeptizismus entgegenzutreten, der sich nach Ansicht der Rationalisten automatisch aus einer rein empirischen, naturwissenschaftlichen Erkenntnistheorie ergeben würde. Otto Liebmann zufolge war es dieses Prinzip, »auf welchem der ganze moderne Idealismus ruht« 6 – und auch insofern Frege es seiner eigenen Behand6

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lung des Skeptizismus zugrundelegt, verschreibt er sich dieser Tradition. Obwohl jedoch Freges Versuch einer Überwindung des Cartesischen Zweifels ganz ähnlich wie Kants nicht über theologische Argumentationen verläuft, die Frege wie Kant zufolge die Grenzen menschlicher Erkenntnis überschreiten würden, finden wir bei ihm gleichzeitig auch nirgends den Ausdruck »transzendentaler Idealismus« lobend erwähnt – diejenige Form von Idealismus, mit Hilfe dessen Kant den Skandal der Philosophie ein für allemal zu beseitigen versucht hatte. Wir finden zwar in Freges Schriften vier verschiedene Erkenntnisquellen als dasjenige erwähnt, durch das ein Urteil, wenn es eine Erkenntnis darstellen soll, letztlich gerechtfertigt ist. Was jedoch nicht ohne Weiteres klar wird in Freges Charakterisierung der Erkenntnisquellen, ist, ob der Geist hier lediglich als Erkenntnisvermögen oder auch als Wahrmacher der Urgesetze anzusehen ist – und dies betrifft insbesondere die Frage nach der raumzeitlichen Natur empirischer Gegenstände. Solange hierfür aber keine klaren Argumente existieren, lässt sich Frege auch nicht eindeutig als ein transzendentaler Idealist einstufen. Freges und Kants Versuche einer »Widerlegung des Skeptizismus« vergleichend, komme ich zu folgenden Ergebnissen. Nach Kant gilt, dass nur durch etwas als beharrlich bzw. substantiell Gedachtes in der äußeren Erfahrung zeitlich geordnete innere Erfahrung überhaupt möglich sein kann, es also möglich sein kann, sich selbst nicht nur – in seinem Sinne – zu denken, sondern auch zu erkennen. Es gilt nach Kant daher, dass »das bloße, aber empirisch bestimmte, Bewusstsein meines eigenen Daseins […] das Dasein der Gegenstände im Raum außer mir« beweist. Auch Frege versucht in einem ersten Schritt die selbständige Existenz des eigenen Ichs als Träger von Vorstellungen nachzuweisen. Nichtsdestotrotz wird bei ihm nicht deutlich, warum wir nicht uns selbst allein mit Hilfe unserer inneren Bewusstseinszustände ganz unabhängig von äußerer Erfahrung identifizieren können sollten. Hinzu kommt, dass Frege zufolge »jeder sich selbst in einer besonderen und ursprünglichen Weise gegeben« sei, »wie er keinem anderen gegeben ist«. Diese Art und Weise, wie wir uns ursprünglich gegeben sind, wäre aber daher anderen nicht mitteilbar – jene privaten Ich-Gedanken, die der Zweifler hegen mag, können daher noch keineswegs als Evidenz für die Möglichkeit intersubjektiv fassbarer Gedanken oder einer objektiven Außenwelt dienen. Dies ist nur ein Beispiel dafür, dass – obwohl sich tendentiell durchaus Affinitäten zwischen Freges ErA

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kenntnistheorie und der transzendentalphilosophischen Tradition im Deutschland seiner Zeitgenossen ausmachen lassen – Freges Argumente auf diesem Gebiet der Erkenntnistheorie bruchstückhaft und lückenhaft bleiben. In jedem Fall kommt Kant ohnehin Freges eigenem Verständnis von »Idealismus« wesentlich näher (vgl. 2.2.–2.2.1.), obwohl Frege offenbar glaubte, durch seine strikte Trennung von Psychologischem und Logischem »Kants wahre Meinung« getroffen zu haben. Sofern dieser Anspruch überhaupt ernstzunehmen ist, hat sich Frege freilich sehr in seinem Vorbild Kant getäuscht. Kants Trennung von Form und Inhalt gestattet es ihm offenbar, eine Idee objektiver Vorstellungen zu vertreten, die wesentlich erst durch eine Beziehung auf Subjektives – Empfindungen, empirische Anschauungen – ihren Inhalt und Erkenntniswert erhalten. In dieser Hinsicht bereits waren bei Kant im Gegensatz zu Frege Logisches und Psychologisches noch immer sehr vermischt. Frege macht hingegen an verschiedenen Stellen deutlich, dass objektive Gedankeninhalte und Begriffe keine wesentlichen subjektiven Bestandteile enthalten können – einschließlich jeglicher inhaltsstiftender Beziehung zu Sinneswahrnehmungen oder empirischen Anschauungen. Die Vermischung von Logischem und Psychologischem tritt in Kants System auch darin zum Vorschein, dass dieser alle Erkenntnisgegenstände von der Möglichkeit empirischen und transzendentalen Selbstbewusstseins abhängig macht. Damit scheint Kant das Sein der Erkenntnisobjekte auf ein jeweiliges Subjekt zu relativieren, er spricht nicht von deren Existenz schlechthin, sondern vielmehr von ihrer Existenz oder ihrem Sein »für mich«. Kants Version eines Transzendentalismus scheint daher einem Idealismus verpflichtet zu sein, der die Existenz der Außenwelt – obwohl diese in einem bestimmten Sinn als objektiv gedacht wird – von derjenigen eines aktualen, mit den Vermögen des Denkens und Anschauens ausgestatteten Subjekts abhängig macht. Der Gedanke, dass die Außenwelt auch dann noch existieren würde, wenn keine solches Subjekt vorhanden wären, würde in diesem Begriffsrahmen vom transzendentalphilosophischen Standpunkt aus keinen Sinn machen. Zweifellos war Frege kein Idealist in diesem Sinne; d. h. wenn wir Idealismus – wie es heute üblich ist – als die Auffassung verstehen, dass die Gegenstände unserer Erkenntnis, oder auch die für uns fassbaren Tatsachen und Sachverhalte in der Welt, ja selbst mathematische Entitäten wie etwa Funktionen oder Mengen, von der Existenz zeitlicher mentaler Prozesse im 24

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menschlichen Geist abhängen, dann war Frege im Gegensatz zu Kant mit Sicherheit kein Idealist. Auf der anderen Seite sympathisierte Frege offenbar mit Kants Idee eines synthetischen Apriori, dessen Berechtigung auf erfahrungs-unabhängigen Erkenntnisquellen beruht (vgl. 2.2.2.). Sein Versuch einer Art transzendentalen Argumentation für die Wahrheit der Euklidischen Axiome allerdings lässt einige entscheidende Fragen offen und vermag nicht zu überzeugen, warum der physikalischen Außenwelt nicht eine nicht-euklidische Geometrie zugrundeliegen sollte. Frege versteht es offenbar in solchen Zusammenhängen nicht, den Schritt von der subjektiven Notwendigkeit einer bestimmten Art und Weise der Anschauung zur objektiven Notwendigkeit des Verhaltens der angeschauten Gegenstände zu tun, der für den transzendentalphi-losophischen Ansatz so zentral ist. Dies ist umso gravierender, wenn wir bedenken, dass Frege nach dem Scheitern des Logizismus-Programms bekanntlich die These etablieren wollte, dass die gesamte Arithmetik wenn auch nicht mehr durch die Logik allein, so doch durch Logik und geometrische Erkenntnisquelle bewiesen werden könne und somit noch immer apriori erkennbar sei. Es ist in erster Linie Freges Idee der Vernunft bzw. des objektiven Geistes als Anwendungsbereich und zugleich Erkenntnisquelle der Logik und Arithmetik, der Frege auf eine gewissermaßen transzendentalphilosophische Konzeption des Apriori festzulegen scheint. Denn bei Frege tritt die menschliche Vernunft als das allgemeinverbindliche, objektivitätsstiftende Rationalitätsideal schlechthin auf, das die Beliebigkeit der arithmetischen – und somit auch der logischen – Gesetzgebung über die Willkür einzelner Individuen hinweg ausschließt. Freges Charakterisierung zufolge besteht das Sein eines Gedankens, und somit auch einer Tatsache – die als wahrer Gedanke aufgefasst wird – darin, dass er von verschiedenen denkenden bzw. mit Vernunft ausgestatteten Wesen gefasst werden kann. Eine gewisse Ausnahme hiervon scheinen lediglich die vorhin erwähnten privaten Ich-Gedanken zu sein, die Frege kurz in »Der Gedanke« behandelt, weil diese ja per definitionem nur von einem einzigen (denkenden) Individuum gefasst werden könnten. Die Objektivität der Außenwelt hängt aber jedenfalls für Frege offenbar davon ab, dass sie gedacht werden kann – gäbe es keine Vernunft, keinen übergeordneten Standard der Rationalität, so wäre auch der Begriff der Objektivität obsolet, und Wesen, die nicht vernunftbegabt sind, würden über einen solchen Begriff gar nicht verfügen. A

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Frege erkennt gleichzeitig im Gegensatz zu Russell und den frühen analytischen Philosophen mindestens zwei erkenntnistheoretische Problembereiche an, die weder durch die Logik noch durch eine empirische Wissenschaft angemessen behandelt werden könnten. Zum einen handelt es sich hier um das Problem, wie objektive Gedanken – die primären Wahrheitssträger für Frege und somit unmittelbar relevant für seine Logik – überhaupt in der subjektiven psychologischen Realität einzelner Individuen auftreten können. Frege war es offenbar nicht gleichgültig, welcher Art ein Wahrheitsträger in der Logik ist, denn sonst hätte er nicht Zeit seines Lebens gegen den Formalismus und den Psychologismus argumentiert. Da offenbar bei Frege die Annahme der Zeit- und Raumlosigkeit der Gedanken als eine wesentliche Bedingung für die Objektivität und Ewigkeit der Wahrheitswerte selbst erachtet wird, von denen die logischen Gesetze handeln sollten, wird auch die Frage, wie wir diese Gedanken überhaupt fassen könnten, vor dem Hintergrund seiner Auffassung von Logik als normativer Theorie des richtigen Schließens ganz besonders dringlich. Das zweite Beispiel eines Problems, das für Freges Logik zentral aber durch sie selbst nicht lösbar ist, ist die Frage, worauf die Berechtigung der Urgesetze beruht, auf die ein apriorischer Beweis letztlich zurückführen muss. Auch hier bleiben Freges Bemühungen um eine Antwort lückenhaft. Seine »Vernunftphilosophie« ist im Hinblick auf ihre Ausführlichkeit und Detailtreue kaum mit der Kants, Fichtes, Hegels oder seiner neukantianischen Zeitgenossen zu vergleichen, obwohl ihm dieser Aspekt gerade im Hinblick auf die Grundlegung der Logik offenbar besonders am Herzen lag. Klar scheint jedoch, dass er nicht nur das letztere, sondern auch das erstere oben erwähnte Problem einem Bereich der Philosophie zuordnete, der dem logischen Beweis nicht zugänglich ist. Da sich das Problem einer außerlogischen erkenntnistheoretischen Grundlage auch für die logischen Grundgesetze selbst ergibt, demonstriert Frege hier wiederum seine Absetzung von Russell, für den sich die Gültigkeit der Logik, mit der wir arbeiten innerhalb der Logik und Mathematik selbst etablieren lässt. Frege betrachtete es als eine der Aufgaben einer philosophischen Erkenntnistheorie, sich um solche Rechtfertigungen von Wahrheiten zu kümmern, die auf etwas anderem beruhen als wiederum auf Wahrheiten. Die Idee einer erkenntnistheoretischen Rechtfertigung wird hier gewissermaßen als transzendentale Erörterung im Sinne 26

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Kants ins Spiel gebracht, denn wenn Frege schreibt »Es muss Urteile geben, deren Rechtfertigung auf etwas anderem beruht«, »wenn […] überhaupt Wahrheiten von uns erkannt werden«, so scheint es sich hierbei um eine außerlogische und zugleich nicht-empirische Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt zu handeln. Verschiedene Fragen schließen sich hier an. So lässt es Frege z. B. offen, ob tatsächlich alle Urwahrheiten – etwa die logischen Urwahrheiten selbst – überhaupt einer Rechtfertigung bedürfen. Dieser Umstand scheint diejenigen Interpreten zu bestärken, die nach wie vor der Ansicht sind, dass Erkenntnistheorie für Freges Logik keine Bedeutung gehabt habe. Um in dieser Hinsicht größere begriffliche Klarheit zu erzielen, führe ich in 2.3. eine Unterscheidung zwischen »Berechtigung« bzw. »gerechtfertigt sein« als Eigenschaften von Urteilen einerseits, und »Rechtfertigung«, »rechtfertigen«, »Begründung«, »begründen« und »begründet werden« für die Art und Weise ein, in der Individuen versuchen können, anderen die Berechtigung ihres Urteils nachzuweisen, bzw. die Art und Weise, in der dies bei einem Urteil unternommen wird. Dass ein Urteil oder eine Wahrheit gerechtfertigt werden kann, würde hierbei ihre Berechtigung bzw. ihr Gerechtfertigtsein voraussetzen, welches wiederum ihre Wahrheit impliziert. Dass eine Rechtfertigung gegeben werden kann, impliziert jedoch noch nicht, dass sie in einer beliebigen, epistemisch relevanten Situation gegeben werden muss. Die Frage, wodurch ein Urteil letztendlich gerechtfertigt ist, beantwortet Frege mit Hilfe seiner Theorie der Erkenntnisquellen bzw. seines Begriffs der Vernunft. Die Frage, die sich hieran anschließt, ist die nach der Art und Weise einer angemessenen erkenntnistheoretischen Rechtfertigung im zweiten Sinne. Auf der Suche nach Gründen, die keine Wahrheiten sind und die daher für eine erkenntnistheoretische Rechtfertigung in Freges Sinne geeignet wären, wende ich mich in 2.3.1. zunächst gewissen psychologistischen Interpretationen derselben zu, wie sie von Philip Kitcher und Michael Dummett suggeriert wurden. Freges Auffassung war es, dass im Falle der logischen Urgesetze kein Grund des Wahrseins gegeben werden könne, sondern vielmehr nur ein Grund des Fürwahrhaltens. Dummett weist jedoch darauf hin, dass Frege im Rahmen seiner Psychologismus-Kritik stets zwischen Wahrsein und Fürwahrhalten strikt unterschieden habe. Aus einem Grund des Fürwahrhaltens könne daher – so Dummett – nach Frege aber nicht die Wahrheit eines Gedankens folgen, weil Wahrheit ihm zufolge in keiner Weise A

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auf psychologische Vorgänge wie etwa das Fürwahrhalten zurückgeführt werden könne. Dummett verwendet dieses Argument, um gegen die Möglichkeit einer erkenntnistheoretischen Rechtfertigung der logischen Urgesetze zu argumentieren. Analog besteht Kitchers Analyse zufolge Freges Dilemma darin, dass er einerseits dem Eindringen der Psychologie in die Logik ablehnend gegenüberstand, andererseits aber sich genötigt sah, sein Programm zur Reform mathematischer Erkenntnis auf eine besondere erkenntnistheoretische Grundlage zu stellen. Dies kann freilich nur dann zu einem Dilemma werden, wenn man Erkenntnistheorie von vornherein als eine zur Psychologie gehörende Disziplin auffasst. Der Fehler nun, der m. E. sowohl Kitchers als auch Dummetts Analyse zugrundeliegt, ist die Auffassung, dass für Frege der Versuch, die logischen Axiome erkenntnistheoretisch zu begründen, zwangsläufig dem Bereich der Psychologie zufallen müsse. Offenbar war Frege nicht dieser Ansicht. Dummett liegt vollkommen richtig in seiner Annahme, dass für Frege weder die Psychologie noch auch die Physiologie oder irgendeine andere empirische Wissenschaft eine erkenntnistheoretische Grundlage der Logik darstellen konnte. Freges Argumentation gegen den sogenannten Psychologismus, die seine philosophischen Schriften dominiert, betrifft jedoch nicht allein die Logik, sondern auch die Erkenntnistheorie selbst. Denn ein Hauptstrang dieser Argumentation bezieht sich auf die irreduzible anti-naturalistische Natur sowohl der Berechtigung als auch der Begründung von Urteilen gegenüber ihrer Entstehung im Bewusstsein eines Individuums. Und wenn es spezifisch erkenntnistheoretische Rechtfertigungen bzw. Berechtigungen gibt, dann ist es nur konsequent, dass sich eine Argumentation über den Rechtfertigungsbegriff auch auf sie erstrecken muss. Aus diesem Grund ist auch Kitchers Charakterisierung der Fregeschen Theorie der Rechtfertigung als eine im weiteren Sinne psychologistische Theorie irreführend und unzutreffend. Kitcher zufolge ist Schließen bei Frege ebenso wie bei Kant einfach ein idealer psychologischer Prozess, und eine Theorie des idealen Schließens daher eine normative Theorie, die angibt, welche Gedankenprozesse wir zu durchlaufen haben, damit wir in den Besitz von Wissen gelangen. Eine solche Theorie des idealen Schließens würde aber eine Antwort auf die Frage, ob eine Person über Wissen verfügt, davon abhängig machen, welche inneren, mentalen Faktoren dazu geführt haben, daß sie das betreffende Urgesetz anerkannte. Was Kitcher 28

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und andere Naturalisten hier jedoch übersehen, ist, dass doch eine solche normative Theorie des Denkens nur dann Legitimität besitzen kann, wenn wir eine Basis haben, auf der die Normen selbst wiederum gerechtfertigt sind. Es genügt nicht, einfach normative Denkregeln aufzustellen – die Regeln müssen vielmehr selbst wiederum gerechtfertigt sein, um eine allgemeinverbindliche Grundlage zu haben. Wir benötigen also einen Grund, sie zu akzeptieren – und dieser Grund kann im Rahmen einer traditionell-rationalistischen Konzeption der Erkenntnis nicht einfach nur wiederum in einem beliebigen Gedankenprozess, oder auch nur in den psychologischen Gesetzmäßigkeiten des Denkens bestehen. Vielmehr muss es sich um einen Grund handeln, der ganz unabhängig von der psychologischen Praxis erklärt, warum bestimmte und keine anderen Normen des Denkens einzuhalten sind. In 2.3.2. schließe ich hieran eine neue Betrachtung von Freges Begriffen der Analytizität, Apriorität, Synthetizität und Aposteriorität und argumentiere, dass die so oft als Definition dargestellte Passage aus § 3 der Grundlagen wohl gar keine Definition darstellt. In 2.3.3 vergleiche ich Freges Konzeption von Rationalismus mit derjenigen Russells um 1912, von der ich zeige, dass sie auf eigentümliche Weise heutige Formen des Rationalismus vorwegnimmt und insgesamt die nachfolgende analytische Philosophie wesentlich stärker beeinflusst hat als Freges. 2.3.4. und 2.3.5. ist Freges Versuch gewidmet, anhand der Idee der Vernunft als Erkenntnis- und Geltungsgrundlage mathematischer Zeichenregeln den Formalismus auszuschalten. 2.3.6. beschließt die Suche nach der logischen Form erkenntnistheoretischer Gründe mit einer Diskussion des indirekten Beweises sowohl des Begriffs der Unmöglichkeit als Kandidaten für einen erkenntnistheoretischen Rechtfertigungsgrund. Die Notwendigkeit bzw. Unmöglichkeit des Denkens bzw. Erkennens, der in Kants transzendentalen Erörterungen eine zentrale Rolle spielt, erweist sich wohl auch bei Frege zumindest implizit als unerlässlich, weil er unmittelbar mit dem der Unbezweifelbarkeit zusammenhängt. Nach meiner Interpretation sind Kants transzendentale Argumentationsstrukturen auf modale Sätze oder Gedanken angewiesen, die zwar rational (vernunftgeleitet) sind, deren modaler Teil jedoch keine wirkliche Erkenntnis zum Ausdruck bringt, die also in gewissem Sinne leer, nämlich weder wahr noch falsch sind. Damit versucht Kant offenbar, eine dogmatische, rationale Psychologie zu umgehen, bei der sich der Verstand anmaßen würde, das Ich an sich A

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in seinem Wesen zu durchschauen. Wie Kant zählt nun auch Frege die Kategorien der Modalität nicht zum eigentlichen, für die Logik relevanten begrifflichen Inhalt des Urteils. Frege zufolge fügen also die Modalitäten dem Inhalt des Urteils nichts hinzu, sondern betreffen lediglich die Urteilsgründe. Damit aber würde auch Frege – ähnlich wie Kant – den Bereich des Modalen offenbar aus dem Bereich möglicher Wahrheiten und somit möglicher Erkenntnisse ausgrenzen. Dies steht in Einklang mit seiner Auffassung, dass Gründe des Fürwahrhaltens – im Unterschied zu Gründen des Wahrseins – selbst wiederum keine Wahrheiten sind. Was jedoch bei Frege im Unterschied zu Kant zu fehlen scheint, ist eine logische Basis für die Idee eines rationalen Grundes – eines Grundes, der der Vernunft des Denkers irgendwie zugänglich sein muss –, der keinen wahrheitsfähigen Denkinhalt darstellt bzw. der modalen Charakter hat. Frege verfügte zwar ab seiner mittleren Phase über die Idee von Scheingedanken; und man könnte diese Idee durchaus mit der einen »leeren« Gedankens oder Begriffs im Sinne Kants vergleichen. Dennoch finden wir bei Frege im Unterschied zu Kant diese Idee nicht systematisch in seine Logik oder Erkenntnistheorie aufgenommen. Er geht nicht darauf ein, was wir eigentlich – unabhängig von empirisch-psychologischen Fakten über uns oder andere – meinen, wenn wir versuchen, eine genuin erkenntnistheoretische Rechtfertigung der logischen Grundgesetze zu geben, die auf die Unmöglichkeit, anders zu denken, verweist. Selbst, wenn es sich dabei um einen Scheingedanken handeln würde, so hätte Frege diese Art Gedanken genauer zu erläutern, um seiner Erkenntnistheorie eine konsistente Basis zu verleihen. Freges fehlende Unterscheidung zwischen allgemeiner und transzendentaler Logik scheint keinen Raum für einen rationalen Grund zu lassen, der selbst keine theoretische Wahrheit darstellt. Freges logischer Apparat reicht nicht dafür hin, erkenntnistheoretische Rechtfertigungen überhaupt zu formulieren, da es unklar bleibt, was unter den Modalkategorien in ihrer Anwendung auf nichtbeweisbare Grundgesetze überhaupt zu verstehen ist: Die einzige Explikation der Kategorie der Notwendigkeit – durch die auch Unmöglichkeit definierbar wäre –, die wir bei Frege finden, bezieht sich lediglich auf solche Urteile, die ihrerseits wiederum durch allgemeine Gesetze gerechtfertigt werden können. Das letzte Kapitel ist schließlich vor allem einer ausführlichen und kritischen Auseinandersetzung mit Dummetts anti-erkenntnistheoretischer Interpretation der Fregeschen Logik gewidmet. Ich wer30

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de mich hier insgesamt auf die drei wichtigsten Etappen beschränken: Dummetts frühe Version, wie sie sich u. a. in seinem Buch »Frege – Philosophy of Language« von 1973 (Zweite Ausgabe 1981) findet, seine erste größere Modifikation in »The Interpretation of Freges Philosophy« von 1981 und schließlich seine zweite größere Modifikation in »The Origins of Analytical Philosophy« von 1993. Der erste Schritt in Dummetts Frege-Interpretation ist seine Diagnose, dass Frege in der Philosophie ein Revolutionär war, dessen Revolution darin bestanden habe, die Erkenntnistheorie, die seit Descartes die Rolle der philosophischen Fundamentaldisziplin gespielt habe, durch die Logik zu ersetzen und dadurch bei seinen Nachfolgern die Entwicklung eines gänzlich neues Philosophieverständnisses in die Wege zu leiten. Bereits diese These scheitert an dem Umstand, dass Frege mindestens zwei Bereiche anerkannte, in denen philosophische Probleme auftreten, die für die Logik unmittelbar relevant sind und die aber ihm zufolge gleichzeitig nicht durch die Logik, sondern durch die Erkenntnistheorie zu lösen sind. In diesem Sinne genau kann er offensichtlich die Logik nicht als grundlegende Disziplin betrachtet haben – Dummetts erstes Argument zugunsten Freges als Revolutionär bricht bereits hier zusammen. Dummett These von der Logik als Basis der Philosophie trifft offenbar eher auf Russell denn auf Frege zu. Die zweite These, die sich auch noch in Dummetts mittlerem Frege-Buch befindet, ist, dass die gesamte moderne analytische Philosophie von der Sprachphilosophie als Fundamentaldisziplin ausgehe, um über eine systematische Grundlage für adäquate sprachanalytische Methoden zur Behandlung philosophischer Probleme zu verfügen. Während aber Dummett in seinem ersten Buch noch Frege als denjenigen präsentiert hatte, der der Logik erstmals diese sprachphilosophische oder semantische Natur verlieh, bezeichnet er Freges Philosophie der Logik in seinem mittleren Buch bereits vorsichtiger als eine »Philosophie der Gedanken« (philosophy of thought); er räumt ferner ein, dass Freges Philosophie des Denkens eigentlich als die Fundamentaldisziplin der Philosophie und damit gewissermaßen als vorrangig vor jeglicher Bedeutungstheorie anzusehen ist. Nichtsdestotrotz nennt er aber auch hier wiederum den Standpunkt, dass jede sinnvolle Philosophie des Denkens nur sprachphilosophisch betrieben werden könne, als den wesentlichen Grundsatz der analytischen Philosophie in diesem Jahrhundert. Im Hinblick auf Dummetts Identifikation von Logik als SprachA

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Einleitung

philosophie lassen sich wiederum – wie ich hier zeigen möchte – wesentlich engere Verbindungen zum frühen Wittgenstein herstellen als zu Frege oder Russell. Bei keinem dieser drei Autoren jedoch scheint die Erkenntnistheorie in dem Maße von der Sprachphilosophie abtrennbar gewesen zu sein, wie Dummett es in seiner Revolutionsthese vorauszusetzen schien. Dies zeigt sich besonders deutlich anhand eines Vergleichs von Russells und Freges idealsprachlicher Semantik. Das Phänomen der unsagbaren Gedanken bei Frege stützt ferner – neben anderen Indizien – die Auffassung, dass Denkinhalte sich seiner Ansicht nicht nach der Sprache richten, sondern vielmehr umgekehrt die Sprache sich so weit wie möglich nach solchen Denkinhalten zu richten hat, um für Zwecke rationaler Klarheit tauglich zu sein. Auch hier wird deutlich, dass selbst der Begriff der Sprache bei Frege nicht den der Vernunft im Hinblick auf die Bedingungen der Möglichkeit von Objektivität ersetzen kann. Das Kapitel endet mit einer kritischen Diskussion von Dummetts Beobachtungen bezüglich der Abhängigkeit des Fregeschen Bedeutungsbegriffs von dem eines sprachlichen Ausdrucks in dem dritten o. g. Werk.

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Teil I: Ein Mathematiker als Philosoph Aus Freges Schriften geht hervor, dass er die Logik als Teildisziplin der Philosophie und somit seine logisch-mathematischen Untersuchungen als philosophischen Beitrag verstand. Der Ausdruck »Philosophie« ist fast durchweg mit positiven Konnotationen belegt. In einem Vortrag aus dem Jahre 1885 bei der Jenaschen Gesellschaft für Medizin und Naturwissenschaft empört sich Frege über »die ablehnende Haltung vieler Mathematiker gegenüber allem Philosophischen«, die jeder sachlichen Rechtfertigung entbehre, »wenigstens soweit sie sich auf die Logik miterstreckt«. 1 Ein Mathematiker, der keine philosophische Ader hat, so Frege auch, sei nur ein halber Mathematiker. 2 Es ist stets nur eine bestimmte Richtung in der Philosophie, gegenüber der er sich abwertend äußert, nämlich die psychologistische Herangehensweise an philosophische Probleme. So schreibt er z. B. in der Einleitung zu den Grundlagen: 3 Freilich sind meine Ausführungen […] wohl philosophischer geworden, als vielen Mathematikern angemessen scheinen mag; aber eine gründliche Untersuchung des Zahlbegriffes wird immer etwas philosophisch ausfallen müssen. Diese Aufgabe ist der Mathematik und der Philosophie gemeinsam. Wenn das Zusammenarbeiten dieser Wissenschaften trotz mancher Anläufe von beiden Seiten nicht ein so gedeihliches ist, wie es zu wünschen und wohl auch möglich wäre, so hegt das, wie mir scheint. an dem Überwiegen psychologischer Betrachtungen in der Philosophie, die selbst in die Logik eindringen. Mit dieser Richtung hat die Mathematik gar keine Berührungspunkte, und daraus erklärt sich leicht die Abneigung vieler Mathematiker gegen philosophische Betrachtungen.

Analog findet sich im Vorwort zu den Grundgesetzen eine auf den ersten Blick allem Philosophischen gegenüber abwertend wirkende Fußnote: »Mathematiker, die sich ungern in die Irrgänge der Philosophie begeben, werden gebeten, hier das Lesen des Vorworts abzubre1 2 3

FTA:104 Vgl. EMN: 293. GLA: S. 18 f. A

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chen.« 4 Es handelt sich bei dem nachfolgenden Text jedoch wiederum nur um eine Auseinandersetzung mit der psychologistischen Logik Benno Erdmanns. Für Frege gab es freilich – wie für jeden anderen Philosophen wohl auch – Irrgänge in der Philosophie; aber es gab auch philosophische Wege, die zu beschreiten ihm nicht nur sinnvoll und vernünftig, sondern für Grundlagenprobleme der Logik und Mathematik unabdinglich schienen. Frege ging soweit, den sogenannten Formalismus – neben dem Psychologismus eine der beiden von ihm am häufigsten und nachdrücklichsten attackierten Positionen – auf einen Mangel an philosophischem Verständnis zurückzuführen. 5 Frege bewegte sich offenbar Zeit seines Lebens zwischen zwei Disziplinen; er scheint aber insbesondere auch versucht zu haben, zwischen ihnen zu vermitteln. Denn nicht nur trat er bei den Mathematikern für die Relevanz philosophischer Fragestellungen in der Grundlagenforschung ein, sondern er empfahl zugleich den Philosophen die Mathematik als eine für die logische und erkenntnistheoretische Grundlagenforschung gleichermaßen ertragreiche »Fundgrube, die noch großer Ausbeutung fähig ist«: 6 Weil in der Mathematik mehr als den andern Wissenschaften der Stoff zurücktritt und durch das Denken beherrscht wird, weil ihr Gedankenbau besonders reich und fein entwickelt ist, so eignet sich gerade diese Wissenschaft, erkenntnistheoretischen und logischen Untersuchungen als Unterlage zu dienen.

Offenbar hielt Frege die Mathematik für diejenige zeitgenössische Wissenschaft, die im Hinblick auf die logische Klarheit der Beweisführung, des Gedankengangs und Ausdrucks allen anderen überlegen war. So schreibt er auch in den Grundlagen der Arithmetik: 7 Nachdem die Mathematik sich eine zeitlang von der Euklidischen Strenge entfernt hatte, kehrt sie jetzt zu ihr zurück und strebt gar über sie hinaus. GGA I: xiv. Vgl. EMN 293: »So ist einmal die formale Arithmetik vorherrschend gewesen, die Ansicht, nach der die Zahlen Zahlzeichen seien. Vielleicht ist ihre Zeit noch nicht vorüber. Wie kommt man dazu? Wenn man sich mit den Zahlen wissenschaftlich beschäftigt, fühlt man eine Verpflichtung zu sagen, was man unter Zahlen verstehe. Dieser begrifflichen Aufgabe gegenüber erkennt man sein Unvermögen, und kurz entschlossen erklärt man die Zahlzeichen für Zahlen. […] So kann nur sprechen, wer keine Spur von philosophischem Verständnis hat.« 6 RCo, 99. 7 GLA: i. 4 5

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[…] Für vieles wird jetzt ein Beweis gefordert, was früher als selbstverständlich galt. Die Grenzen der Giltigkeit sind erst dadurch in manchen Fällen festgestellt worden. […] So zeigt sich überall das Bestreben, streng zu beweisen, die Giltigkeitsgrenzen genau zu ziehen und, um dies zu können, die Begriffe scharf zu fassen.

Den Vorzug logischer Klarheit, des scharfen Fassens von Begriffen, vermisste Frege in der zeitgenössischen Erkenntnistheorie und Logik, und deshalb versprach er sich einen großen Nutzen davon, dass dieser eine mathematische »Unterlage« gegeben werde. Im Hinblick auf seine ›philosophische‹ Herangehensweise an Grundlagenfragen der Mathematik reihte Frege sich ausdrücklich in die rationalistische Tradition Euklids, Descartes’, Leibniz’, Newtons und Kants ein – Philosophen, die ihm zufolge sämtlich »das Bestehen einer besonders engen Verbindung zwischen Mathematik und Philosophie« gesehen haben. 8 Obgleich selbst kein hauptberuflicher Philosoph, versuchte Frege offenbar dennoch, in Anlehnung an diese Vorbilder die philosophischen Grundlagen derjenigen Disziplin, in der er sich am meisten zuhause fühlte, in kompetenter Weise zu erforschen und zu klären. Dem Euklidischen Ideal gemäß dachte sich Frege ein wissenschaftliches Erkenntnisgebiet, wie etwa das der Mathematik, als ein einziges, in sich geschlossenes axiomatisches System von Wahrheiten, die durch logische Beweisketten miteinander verbunden und aus einer kleinen Anzahl ihrerseits unbeweisbarer, einleuchtender Urwahrheiten »wie aus einem Keime entwickelt« werden könnten. 9 Diesen Keim von Urwahrheiten betrachtet Frege als das Wesen der betreffenden Wissenschaft, und ihn aufzufinden bedeutet zugleich, »Einsicht in [die] erkenntnistheoretische Natur« ihrer Gesetze zu nehmen. 10 . Zu diesem Zweck sollten möglichst wenige Urwahrheiten gefunden werden, aus denen sich alle anderen beweisen lassen würden. Die Methode des Beweises konnte und sollte daher dazu dienen, die Urwahrheiten herausgefinden. Der logische Beweis dient daher Frege nicht nur als Mittel dazu, die Wahrheit eines Satzes »über alle Zweifel« zu erheben, sondern auch dazu, die Zusammenhänge zwischen den Sätzen und damit das Wesen der betreffenden Disziplin zu erfassen. 11 LM: 219. Vgl. LM 221. Zum Begriff einer Urwahrheit siehe im folgenden ausführlicher 1.4.2. 10 GGA I: 1. 11 Vgl. BS: § 13; GLA: § 2. 8 9

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Wäre es aber gerechtfertigt, lediglich Freges Einstellung, dass exakte, spezifisch mathematische Methoden und Ideen der Logik und Philosophie zugrundeliegen sollten, als den Ursprung der modernen Logik und analytischen Tradition zu betrachten? Dies ist fraglich, denn bereits lange vor Frege haben rationalistische Erkenntnistheoretiker und Metaphysiker, wie etwa Descartes, Spinoza und Leibniz, von der sogenannten ›geometrischen‹, d.h. axiomatischen Methode Euklids Gebrauch gemacht, um philosophische Probleme zu lösen. Ich möchte daher in diesem ersten Teil meiner Untersuchung der Frage nachgehen, in welcher Weise genau Frege tatsächlich Mathematik, Logik und Philosophie zu verbinden versuchte, und wie sich dieser Ansatz zu alternativen Konzeptionen des Verhältnisses dieser drei Disziplinen verhält.

1.1. Die Reform der Logik auf der Basis der Mathematik Bereits Leibniz hatte die syllogistische Logik in gewisser Weise mathematisisiert, indem er als erster auf die Idee kam, sie in die Form eines symbolischen Rechenkalküls zu bringen und die herkömmlichen Schlussformen durch einige neue, spezifisch mathematische zu ergänzen. Tatsächlich betrachtete er die Logik als eine Art »universelle Mathematik« – als eine mathematischer Beweisführungsstrategie, die sich auf alle Bereiche des Denkens anwenden ließ. Auch die Idee einer logischen Idealsprache geht bekanntlich auf Leibniz zurück, der sich bereits lange vor Frege mit der Ungenauigkeit unserer Sprache beschäftigte und versuchte, eine exakte Universalsprache der Wissenschaft (characteristica universalis) zu konstruieren, in der sich jeder Begriff durch Definitionen auf eine gewisse Anzahl natürlicher Grundbegriffe zurückführen lassen würde. Dadurch, so dachte Leibniz, könnte eine Hierarchie von Begriffen hergestellt werden, die der natürlichen, kausalen Ordnung der Dinge entsprechen würde. Leibniz betrachtete die logischen Prinzipien als ursprüngliche Vernunftwahrheiten – Wahrheiten, die für das Denken überhaupt notwendig sind und deren metaphysischer Ursprung in der Beschaffenheit des göttlichen Intellekts liegt, an dem der menschliche teilhat. Leibniz schreibt hierzu in seinen Neuen Abhandlungen über den menschlichen Verstand: 12 12

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NA, I, 1, § 20. Ich übersetze hier das französische »principes« in beiden seiner Vor-

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Die Reform der Logik auf der Basis der Mathematik

Die allgemeinen Prinzipien [principes] gehen in unser Denken ein, dessen Seele und Zusammenhang sie ausmachen. Sie sind dazu notwendig, wie die Muskeln und Sehnen zum Gehen notwendig sind, wenn man auch nicht daran denkt. Der Geist stützt sich in jedem Augenblick auf diese Prinzipien, aber er kommt nicht so leicht dazu, sie aufzudecken, weil das eine große Aufmerksamkeit darauf erfordert, was man tut, welche die meisten wenig ans Nachdenken gewöhnten Menschen schwerlich besitzen.

Bei Leibniz besaß die Vernunft – bzw. der Verstand als ihr Sitz – demnach eine Doppelfunktion im Hinblick auf logische sowie mathematische Wahrheiten: Einerseits dient sie als ihr Wahrmacher, andererseits als ihr charakteristisches Erkenntnisvermögen. Als Wahrmacher mathematischer und logischer Prinzipien betrachtete Leibniz den Verstand, insofern er für ihn der Sitz sogenannter intellektueller, angeborener Ideen war, die den Gegenstand – oder auch die »Quelle« – jener Prinzipien bilden. Die Erkenntnis jener Ideen und Prinzipien, sowie ihrer logischen Beziehungen zueinander ist somit eine Selbsterkenntnis des Verstandes und der Vernunft, die durch Reflexion allein erlangt werden muss. Leibniz zufolge ließen sich alle Vernunftwahrheiten, einschließlich derer der Mathematik, durch Definitionen und die Anwendung logischer Schlussregeln – die selbst wiederum Vernunftwahrheiten sind – auf sogenannte identische Sätze zurückführen (wenn sie nicht schon selbst solche darstellen), deren Gegenteil einen unmittelbaren Widerspruch ergeben und somit in einer Art unmittelbarem indirektem Beweis durch den Verstand erkannt werden können. Leibniz schreibt: »Der ursprüngliche Beweis der notwendigen Wahrheiten kommt allein aus dem Verstand, und die anderen Wahrheiten stammen aus der Erfahrung oder den Beobachtungen der Sinne. Unser Geist ist fähig, die einen wie die anderen zu erkennen, aber er ist die Quelle der ersteren.« 13 Das System der für das Denken notwenigen Ideen oder Begriffe war für Leibniz, ebenso wie das der ihnen entsprechenden Wahrheikommnisse in dieser Textpassage als »Prinzipien«, während Engelhardt und Holz das erste Vorkommnis als »Ideen« übersetzen. Dies ist irreführend, da Leibniz strikt zwischen Prinzipien und Ideen unterschied: Prinzipien sind für ihn Wahrheiten, während Ideen für sich genommen für Leibniz nicht einmal wahrheitsfähige Entitäten sind. In dieser Hinsicht folgte er ganz einfach der neuzeitlichen Tradition wie schon vor ihm Descartes und Locke. Gleichzeitig war er offenbar der Auffassung, dass es die Natur unserer allgemeinen angeborenen Ideen ist, die die aus ihnen hervorgehenden allgemeinen Prinzipien des Denkens wahr macht. 13 NA: I, 1, § 10, 31. Vgl. dazu auch NA: I, 1, § 11, 33. A

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ten oder Prinzipien, hierarchisch geordnet. Auf der Basis einer gewissen Menge undefinierbarer absoluter Grundbegriffe und ihnen zugehörigen ersten Wahrheiten würden sich alle anderen reinen Verstandesbegriffe definieren und die ihnen zugehörigen abgeleiteten Vernunftwahrheiten beweisen lassen. Die Definitionen sollen dabei eine klare und deutliche Darstellung der Ideen geben, die dem Geist als natürliche Eigenschaften, als aktive Anlagen, innewohnen. Leibniz nannte als logisches Grundprinzip den Satz vom Widerspruch, der bei ihm nicht nur den Satz vom Ausgeschlossenen Dritten 14 , sondern zumindest in manchen seiner Schriften offenbar auch das Prinzip der Identität (Substitutionsprinzip) miteinschließt. Letzteres zeigt sich in Leibniz’ Charakterisierung der ursprünglichen Vernunftwahrheiten, die er auch »identische Sätze« nennt, weil sie »nur die gleiche Sache zu wiederholen scheinen, ohne uns irgendetwas zu lehren«. 15 In England befasste sich George Boole 1847 mit der algebraischen Natur logischer Gesetze. Sein Unternehmen bestand darin zu zeigen, dass Logik und mathematische Algebra fast ausnahmslos auf genau denselben symbolischen Rechengesetzen beruhen, mit dem Unterschied, dass die arithmetischen Symbole in diesen beiden Anwendungsbereichen auf unterschiedliche Weise zu interpretieren seien. 16 Nicht nur erwiesen sich Mathematik und Logik somit für Boole als auf das engste verwandte Disziplinen, da sie dieselben allgemeinen symbolischen Formelgesetze des Denkens erforschen, sondern das Studium der Logik setzte das Studium der Mathematik voraus, da die algebraischen Formeln in diesem Anwendungsbereich bereits weit besser erforscht waren als im Bereich der reinen Logik. Boole machte demnach unmittelbar von der arithmetischen Formelsprache Gebrauch, um einen symbolischen Kalkül für die Logik zu entwikkeln. Die Boolesche Algebra wurde in Deutschland vor allem durch Vgl. NA, IV, 2, § 1: »Das Prinzip des Widerspruchs lautet im allgemeinen: Ein Satz ist entweder wahr oder falsch. Das schließt zwei wahre Aussagen ein, die eine nämlich, dass […] ein Satz nicht zugleich wahr und falsch sein kann, und die andere, dass […] es kein Mittleres zwischen wahr und falsch gibt oder auch, dass es nicht möglich ist, dass ein Satz weder wahr noch falsch ist.« 15 Vgl. NA, IV, 2, § 1. Die ursprünglichen logischen Wahrheiten sind demnach für Leibniz nicht erkenntniserweiternd – so, wie die analytischen Urteile im Sinne Kants. Sie sind gewissermaßen Tautologien – nichtsdestotrotz betrachtete Leibniz sie nicht als inhaltsleer, wie es später bei Wittgenstein und den logischen Positivisten der Fall sein würde. 16 Vgl. Boole 1847: 3–14; 1853: 1–23. 14

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den Mathematiker Ernst Schröder verbreitet und trat damit in Konkurrenz zu Freges Begriffsschrift. 17 Im Hinblick auf die Nutzbarmachung der Mathematik für die Logik und Erkenntnistheorie berief sich Frege nun insbesondere auf Kant als denjenigen Philosophen, der in dieser Richtung bisher am meisten geleistet habe. 18 Tatsächlich hatte aber gerade Kant ausdrücklich zwischen mathematischer und philosophischer Methode unterschieden. Die philosophische Erkenntnis ist für Kant eine »Vernunfterkenntnis aus Begriffen«, die mathematische hingegen eine »aus der Konstruktion der Begriffe« sei, wobei einen Begriff zu konstruieren bedeute, die ihm korrespondierende Anschauung a priori darzustellen. 19 Zur Konstruktion eines mathematischen Begriffs – im Unterschied zum Verständnis eines philosophischen – wird demnach nach Kant auch das Vermögen der Einbildungskraft benötigt. Da Frege bereits diese Auffassung offensichtlich jedenfalls bis kurz vor seinem Tode nicht teilte, scheint seine Berufung auf Kant im Hinblick auf das Verhältnis von Mathematik und Philosophie – einschließlich der reinen Logik, die nach Kant wie Frege durchaus gänzlich unabhängig von jeglicher Anschaulichkeit ist – wenig gerechtfertigt. Darüberhinaus aber wies Kant auch darauf hin, dass nur die Mathematik, nicht aber die Philosophie, überhaupt mit Axiomen, expliziten Definitionen und Demonstrationen arbeiten könne. 20 Ein Axiom ist für Kant – im Unterschied zu Leibniz – ein synthetischer, d. h. erkenntniserweiternder, Grundsatz a priori, der gleichzeitig unmittelbar gewiss ist. Da nun ein Begriff sich nicht unmittelbar als mit einem anderen synthetisch verbunden erkennen lasse, kann die Philosophie, als reine Vernunfterkenntnis aus Begriffen, für Kant nicht auf unmittelbar einleuchtenden Axiomen beruhen. Analog verstand Kant unter einer mathematischen Demonstration einen anschaulichen – wenn auch apodiktischen – Beweis, der in der Philosophie aus eben denselben Gründen nicht angetroffen werden könne. Frege hätte sich auch den Disput zu Herzen nehmen sollen, den Boole in England mit dem Kantianer Hamilton auszutragen gehabt hatte. Hamilton betrachtete ausdrücklich zwar die Logik, nicht aber Zu den Unterschieden zwischen Freges Logik und der der Booleaner siehe ausführlicher Sluga 1987. 18 RCo: 99. 19 KrV: A 713/B 741. 20 KrV: A 727 ff./B 755 ff. 17

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die Mathematik, als einen Teil der Philosophie. 21 Unter Philosophie nämlich verstand eine Disziplin, welche durch spekulative, begriffliche Naturerkenntnis den Warum-Fragen nachgehe und dabei die wirkliche Existenz von Dingen sowie deren Ursachen a priori erforsche. Im Gegensatz dazu eigne sich die Mathematik lediglich dazu, Dass-Fragen zu beantworten, d. h. zur Bestimmung von Fakten beizutragen. Darüberhinaus diagnostizierte Hamilton den Mathematikern blindes Vertrauen in die Zuverlässigkeit ihrer Demonstrationen, was sie außerhalb ihres eigenen Bereiches dazu bringe, unkritisch jede Prämisse zu akzeptieren. Die Mathematik sei daher für die Philosophie sowohl nutzlos als auch geradezu gefährlich. 22 Boole stimmt Hamilton zu, dass wenn Philosophie tatsächlich die von jenem charakterisierte Disziplin ist – d.h. eine Disziplin, in der spekulative, nicht-empirische Naturerkenntnis erlangt werden soll, die Logik nicht zur Philosophie gehören könne. Wenn nämlich Philosophie im wesentlichen nur spekulative Metaphysik ist, so Boole, dann sollten wir die Logik nicht mehr länger mit der Philosophie, sondern vielmehr, und im Gegensatz dazu, mit der Mathematik in Zusammenhang bringen. 23 Hieraus folgt zwar nicht, dass Boole seine mathematische Analyse der Logik als ein gänzlich außerphilosophisches Unternehmen verstand; es folgt aber, dass er im Zuge seiner Annäherung von Logik und Mathematik zu einem gänzlich anderen Philosophieverständnis gelangte, das mit Hamiltons unvereinbar war. Im Gegensatz zu Boole war Frege nun allerdings nicht der Auffassung, dass die logischen Gesetze einfach als Algorithmen aufzufassen sind. Vielmehr hielt er die Abweichungen der Logik von der Arithmetik für »so wesentlich, dass die Auflösungen der logischen Gleichungen denen der algebraischen gar nicht ähnlich sind«. 24 Frege fand, dass es logische Gedankengänge gebe, die die Kapazität eines algebraischen Rechenkalküls übersteigen: 25 Wer verlangt, dass das Verhältnis der Zeichen mit dem der Sachen in möglichstem Einklange stehe, wird es immer als eine Umkehrung des wahren Sachverhaltes empfinden, wenn die Logik von der Arithmetik ihre Zeichen erborgt, die Logik, deren Gegenstand das richtige Denken ist, die Grundlage auch der Arithmetik. 21 22 23 24 25

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Vgl. Boole 1847: 11. Boole bezieht sich hierbei auf Hamiltons Aufsatz im Edinburgh Review. Vgl. Boole 1847: 13. BRL: 13. BRL: 13.

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Auch für Frege jedoch war die Mathematik nicht nur methodologisch, sondern auch theoretisch von großer Bedeutung für die Philosophie, insofern spezifisch mathematische Ideen sich dazu verwenden lassen würden, logische Begriffe und Beziehungen exakt zu explizieren und dabei die Logik insgesamt erheblich zu reformieren. Er unternahm dies erstmals 1879 im Rahmen seiner Begriffsschrift, eines der arithmetischen Formelsprache nachgebildeten Symbolismus. Nicht zuletzt hätte Frege dabei nicht vergessen dürfen, dass nach Kant hingegen die allgemeine Logik seit Aristoteles »bis jetzt keinen Schritt vorwärts hat tun können, und somit allem Ansehen nach geschlossen und vollendet zu sein scheint« 26 – eine Auffassung, die wir noch 1907 durch den Neukantianer Wilhelm Windelband verkündet sehen. 27 1.1.1. Die logischen Unvollkommenheiten der Alltagssprache Wie bereits vor ihm Locke und Leibniz erblickte Frege die Wurzel des Übels logischer Unklarheit in Philosophie und Wissenschaften in den naturgemäß logischen Unvollkommenheit der Alltagssprache. Diese Unvollkommenheiten rühren daher, dass – so Frege in seiner Spätschrift Erkenntnisquellen der Mathematik und der mathematischen Naturwissenschaften – bei ihrer Erschaffung für alltägliche Zwecke nicht nur die logische Anlage der Menschen maßgeblich war, sondern auch andere Anlagen, wie etwa die künstlerischen. Eine logisch perfekte Sprache wäre auch ganz ungeeignet für künstlerische oder alltägliche Zwecke. Es wäre z. B. in einer solchen Sprache nicht erlaubt, Eigennamen zu gebrauchen, denen keinerlei Gegenstände in der wirklichen Realität entsprechen – Namen wie etwa »Odysseus«. Fast die gesamte fiktionale Literatur lebt jedoch von dieser Möglichkeit. Zudem beruht die Wirkung dichterischer Texte zum großen Teil auf der Vieldeutigkeit von Wörtern, sowie auf subtilen, mehr oder weniger subjektiven Bedeutungsnuancen – wie etwa dem Unterschied zwischen »und« und »aber«, oder zwischen ›Ross‹, ›Pferd‹, ›Gaul‹ und ›Mähre‹ – die für die logische Betrachtungsweise ganz unerheblich, wenn nicht verwirrend sind. Diese Mängel hatten nach Freges eigener Aussage seine Unter26 27

KrV: B viii. Vgl. Windelband 1907: 184 f. A

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suchungen etwa zum Begriff der Zahl behindert. 28 Verschiedene Überlegungen schließen sich hier an. Wenn die Sprache aufgrund ihrer Unvollkommenheit philosophische Untersuchungen behindern kann, so müssen diese Untersuchungen zugleich in irgendeinem Sinne von ihr abhängen oder auf ihr beruhen. Tatsächlich ist für Frege offenbar menschliches Denken im allgemeinen ohne Sprache oder wenigstens ohne jegliches Symbolsystem nicht möglich. Ohne sprachliche Zeichen, so äußert sich Frege bereits in seiner Begriffsschriftphase, 29 wären weder gezielte Erinnerung an Vergangenes, noch eine Bezugnahme auf Dinge, die nicht gegenwärtig sind, noch begriffliches Denken im allgemeinen möglich. Erst durch sie gelingt es uns, uns nach Belieben in der Welt unserer sinnlichen Wahrnehmungen zu bewegen, abstrakte Begriffe zu formen, und so unser Denken durch unseren Willen und Verstand zu steuern. Menschliches Denken könne daher, so Frege, zumindest im Hinblick auf seine Entstehung in der Entwicklung des einzelnen Individuums mit einem »unhörbaren inneren Sprechen« identifiziert werden. Es ist zumindest für uns Menschen notwendig, dass »ein uns bewusster Gedanke mit irgendeinem Satze in unserem Bewusstsein verbunden ist«. 30 Wenn dem jedoch so ist, dann ist uns ein Gedanke oder Begriff gar nicht zugänglich ohne die Sprache; und wenn wir darin erfolgreich sein wollen, unsere Gedanken oder Begriffe zu klären, so müssen wir dies tun, indem wir die Bedeutungen (bzw. Sinne) der Sätze oder Ausdrücke klar fassen, die in unserer Sprache mit ihnen verbunden worden sind. Insofern kann die Sprache, in der wir denken gelernt haben, zugleich die Klarheit unseres Denkens beeinträchtigen, wenn sie logische Unvollkommenheiten aufweist. Freges Diagnose war, dass wir im »naturwüchsigen Denken« Psychologisches und Logisches miteinander vermischt haben, und dass es das Geschäft des Logikers sei, das Logische rein herauszusondern. 31 Dabei kommt es für ihn nicht darauf an, die psychologischen Komponenten des Denken ganz zu verbannen, was unmöglich und auch – aus den genannten Gründen künstlerischer Kreativität – gar nicht erstrebenswert wäre, sondern sie bewusst von den rein logischen unterscheiden zu lernen. Diese Aktivität bezeichnet er auch oft als einen »Kampf mit der Sprache«, 28 29 30 31

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Vgl. EMN: 289. WBB: 92 ff. Vgl. EMN: 288. Vgl. Log I: 7.

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da uns die Gedanken, die es zu klären gilt, nur in sprachlich-täuschender Verkleidung zugänglich sind. Frege will also nicht die Alltagssprache für alltägliche oder gar künstlerische Zwecke reformieren, sondern es geht ihm um eine Klärung unserer Denkinhalte durch Bewusstmachung ihres logisch relevanten Kerns – desjenigen Teils, der allein für mögliche logische Schlussfolgerungen relevant ist. Im Hinblick auf ihre logische Exaktheit weist die Alltagssprache für Frege zwei wesentliche Arten Unvollkommenheiten auf, nämlich solche semantischer und solche syntaktischer Art. Als semantische Unvollkommenheiten der Alltagssprache erachtete er (1) den Umstand, dass der semantische Gehalt alltagssprachlicher Ausdrücke oft mehr umfasst, als für logische Schlussfolgerungen eigentlich relevant ist, (2) die Ambiguität von Wörtern, (3) ihre Eigenart, Eigennamen zu schaffen, die nichts bezeichnen sowie (4) Begriffswörter, deren Sinn keinen klar umrissenen Begriff ergibt. 32 Auch in syntaktischer Hinsicht ist jedoch die Alltagssprache irreführend im Hinblick auf die logische Form der in ihr ausgedrückten Inhalte. Die Grammatik der Alltagssprache ist, so Frege, ungeeignet, die logische Struktur von Gedanken wiederzugeben, da sie nicht rigoros genug zwischen logischen und psychologischen Bestandteilen des »naturwüchsigen« Denkens unterscheiden könne. Hinderlich für die Erkenntnis logischer Zusammenhänge in der Alltagssprache ist Frege zufolge z. B. der Umstand, dass ein und dasselbe Wort je nach Kontext verschiedene logisch relevante Bedeutungen haben kann, wobei diese Bedeutungen sogar verschiedenen logischen Kategorien angehören können. Eine durchgehende Erscheinung, die Frege besonders hervorhebt, ist hierbei, dass ein und dasselbe Wort zur Bezeichnung sowohl eines Begriffes als auch eines unter diesen Begriff fallen-den Gegenstandes dienen kann (vgl. hierzu WBB: 50). Der Ausdruck »Pferd« etwa kann in Verbindung mit einem bestimmten Artikel zur Bezeichnung eines bestimmten Einzelwesens oder aber einer ganzen biologischen Art dienen; und er kann zusammen mit dem unbestimmten Artikel zur Bezeichnung eines Begriffs herangezogen werden wie in dem Satz »Dies ist ein Pferd«. Schwankungen des Sinnes, wenn nicht gar der Bedeutung, treten insbesondere bei ›eigentlichen‹ Eigennamen wie »Aristoteles« oder “Dr. Gustav Lauben“ auf. Zum einen wird ein und derselbe Name in der Alltagssprache üblicherweise zur Benennung ganz verschiedener Ein-zeldinge, einschließlich Personen, verwendet. Zum anderen ist hier nicht allgemein vorgeschrieben, welchen Sinn man mit einem solchen Namen zu verbinden hat, selbst wenn er zur Bezeichnung eines und desselben bestimmten Gegenstandes ver-wendet wird (vgl. hierzu die Diskussion des Namens »Aristoteles« in SB: 144, n.2.). Frege zufolge muss man in den ›Volkssprachen‹ schon zufrieden sein, »wenn nur in demselben Zusammenhange dasselbe Wort immer denselben Sinn hat« (SB: 145.).

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So suggeriere sie nämlich, dass die grundlegende logische Beziehung diejenige zwischen einem Subjekt und einem Prädikat sei – eine Annahme, die sich in der Form des kategorischen Urteils der traditionellen Logik wiederspiegelt. Die wohl einschneidenste und folgenreichste Veränderung, die Frege daher unter dem Einfluss mathematischer Ideen in der Logik vornahm, ist die Dekonstruktion des kategorischen Urteils der Form »S ist P«. Es war vor allem die Entwicklung seiner Begriffsschrift als Formelsprache der Logik, die Frege zu neuen Einsichten über die logische Struktur von Urteilen bzw. deren begrifflichen Inhalten, die in mancher Hinsicht erheblich von traditionellen, auf Aristoteles zurückgehenden Auffassungen abwichen. Die Begriffsschrift sollte die Alltagssprache in bestimmten wissenschaftlichen Kontexten ersetzen, oder besser ergänzen können – in solchen Kontexten nämlich, in denen es darum geht, den logischen Gehalt von Sätzen zu bestimmen, d. h. festzustellen, in welchen logischen Beziehungen sie zu anderen Sätzen stehen. Frege zufolge war sie der Booleschen Algebra dabei überlegen; u. a. weil sie nicht lediglich einen Rechenkalkül (calculus ratiocinator) im Sinne Leibniz darstelle, sondern darüberhinaus begriffliche, insbesondere auch logische Inhalte, zum Ausdruck bringe und somit Leibniz’ Projekt einer characteristica universalis näher stünde. Frege schreibt hierzu im Jahre 1882: 33 Boole wollte, wenn ich ihn recht verstehe, eine Technik ausbilden, durch welche logische Aufgaben in systematischer Weise gelöst werden können, ähnlich wie die Algebra eine Technik der Elimination und der Berechnung von Unbekannten lehrt. […] Die logischen Gesetze nehmen dann die Form eines Algorithmus an […]. Vom Inhalte wird dabei ganz abgesehen. […] Es sei nun dagegen der Zweck meiner Begriffsschrift dargelegt. Ich hatte dabei von vornherein den Ausdruck eines Inhaltes im Auge. […] Eine lingua characterica soll, wie er sagt, peindre non pas les parole, mais les pensées.

Frege betrachtete den durch Boole eingeführten logischen Kalkül als unzulänglich, um sämtliche grundlegenden Gedankenbewegungen erschöpfend behandeln zu können. Darüberhinaus erachtete betrachtete er ihn im Unterschied zur Begriffsschrift als bloßen syntaktischen Kalkül, dessen logisch-algebraische Zeichen keine feste Bedeutungen haben. Die Begriffsschrift sollte hingegen dazu dienen, spezifisch logische und mathematische Gedanken klar zum Ausdruck 33

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BRL: 13 f.

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zu bringen, und nicht etwa nur dazu, logische Syntax zu betreiben oder ein System von Umformungsregeln für eine bestimmte Formelsprache zu liefern. Auch die Begriffschrift umfasste jedoch einen logisch exakten Symbolismus, mit dessen Hilfe sich exakte und lükkenlose Beweisketten konstruieren lassen würden. Dieser Symbolismus enthielt, zusätzlich zu den bereits geläufigen Zeichen der arithmetischen Formelsprache, auch Zeichen für die logischen Verhältnisse zwischen Sätzen der Arithmetik. Dadurch sollte sich besser erkennen lassen, auf welche letzten Axiome und Definitionen ein vollständiger Beweis arithmetischer Sätze zurückführt. Die Begriffsschrift sollte sich demnach zur sogenannten Sprache des Lebens »wie ein Mikroskop zum Auge« verhalten. 34 Zugleich erschien Frege dabei Leibniz’ ursprüngliches Projekt einer characteristika universalis als zu riesenhaft, insofern es sämtliche Erkenntnisbereiche umfassen sollte. Auf die Bereiche der Mathematik und Logik bezogen – diejenigen Bereiche, die ihn am meisten interessierten – schien es jedoch anwendbar. Auf diese Weise würde sich nachprüfen lassen, welches die Grundlagen mathematischer Erkenntnis sind. Später, so dachte sich Frege, würde sich die Begriffsschrift dann auch für die Gebiete der Geometrie, der reinen Bewegungslehre, der Mechanik, eventuell sogar der Physik und der Chemie erweitern lassen. 35 Da somit ihre Anwendung über das Gebiet der Mathematik weit hinausreichen könne, erachtete Frege die Begriffsschrift als ein überaus nützliches Werkzeug der Philosophie überhaupt in ihrem Bestreben, den Wissenschaften eine Grundlage zu geben sowie allgemein grösstmögliche Klarheit des Denkens zu erreichen. 36 1.1.2. Urteil und beurteilbarer Inhalt Frege beginnt seine begriffsschriftlichen Untersuchungen mit einer Unterscheidung zwischen Urteil und Urteilsinhalt. Letzterer ist was für wahr gehalten, was aber auch ohne Urteilsfällung – z. B. als bloße Annahme – gedacht werden kann. Die Unterscheidung zwischen Urteil und Inhalt musste dem Mathematiker Frege vor allem in indirek34 35 36

BS: xi. Vgl. BS: xi f. Vgl. BS: xiif. A

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ten Beweisen als besonders relevant erschienen sein, die von Annahmen ausgeht, von denen man im Beweis zeigen will, dass sie falsch sein müssen, indem man durch Herleitung widersprüchlicher Folgerungen von ihrer Falschheit Gewissheit erlangt. Frege betrachtete es offenbar als einen logisch – nicht nur erkenntnistheoretisch – relevanten Unterschied, ob ein Satz nur als Hypothese angenommen oder tatsächlich für wahr zu halten ist. Der Unterschied zwischen Urteil und beurteilbarem Inhalt ist in der Begriffsschrift symbolisch markiert: Ein Urteil ist durch die Kombination eines kleinen senkrechten mit einem daran anschließenden waagerechten Strich gekennzeichnet, dem wiederum der Ausdruck des beurteilbaren Inhaltes folgt. Der Inhaltsstrich »verbindet die darauffolgenden Zeichen bzw. deren Inhalte zu einem Ganzen«, und auf dieses Ganze bezieht sich die Bejahung, die durch den Urteilsstrich angedeutet wird. 37 Steht der Inhaltsstrich ohne Urteilsstrich vor einer Zeichenfolge, so wird damit kenntlich gemacht, dass der nachfolgende Inhalt eine bloße Annahme darstellt, bei der man sich des Urteils enthält. Der Inhaltsstrich unterscheidet ferner die beurteilbaren von den unbeurteilbaren Inhalten, in die die ersteren nach logischen Regeln zerlegbar sind. Beurteilbare und unbeurteilbare Inhalte sind in Freges früher Phase unter dem Oberbegriff »begrifflicher Inhalt« zusammengefasst. Dieser ist definiert durch seinen Beitrag zu den möglichen logischen Folgerungsbeziehungen zwischen Sätzen, in denen er zum Ausdruck kommt. Man könnte also den begrifflichen Inhalt eines Satzes oder Urteils auch als dessen Folgerungspotential charakterisieren. Dies hat u. a. zur Konsequenz, dass aktivische Sätze und ihre entsprechenden passivischen Umformungen, in denen Subjekt imd Objekt ihre Stellung im Satz vertauschen und durch die gewisse emphatische Unterschiede in der Mitteilung hergestellt werden können, vom Standpunkt der Logik aus als äquivalent anzusehen sind: 38 [D]ie Inhalte von zwei Urtheilen [können] in doppelter Weise verschieden sein: erstens so, dass die Folgerungen. die aus dem einen in Verbindung mit bestimmten ändern gezogen werden können, immer auch aus dein zweiten in Verbindung mit denselben ändern Urtheilen folgen: zweitens so, dass dies nicht der Fall ist. Die beiden Sätze: »bei Plataeae siegten die Griechen über die Perser« und »bei Plataeae wurden die Perser von den Griechen besiegt« 37 38

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Vgl. BS: § 2. BS: § 2.

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unterscheiden sich in der ersten Weise. Wenn man auch eine geringe Verschiedenheit, des Sinns erkennen kann. so ist doch die Übereinstimmung überwiegend. Ich nenne nun denjenigen Teil des Inhaltes, der in beiden derselbe ist, den begrifflichen Inhalt. Da nur dieser für die Begriffsschrift von Bedeutung ist, so braucht sie keinen Unterschied zwischen Sätzen zu machen, die den selben begrifflichen Inhalt haben.

Der Ausdruck »Inhalt« zu Beginn dieser Passage umfasst demnach den gesamten kognitiven Gehalt eines Satzes, während »begrifflicher Inhalt« nur dasjenige darin bezeichnet, was für die logischen Folgerungen relevant ist, die mit Hilfe des Satzes vorgenommen werden können. Im kognitiv-semantischen Gehalt natursprachlicher Sätze, in denen nach Frege üblicherweise »Logisches und Psychologisches miteinander verwachsen ist«, 39 ist begrifflicher Inhalt in diesem Sinne daher nur als Komponente, d. h. nicht in »reiner« Form, enthalten. Frege hatte nun im wesentlichen zweierlei an der traditionellen Subjekt-Prädikat-Analyse von Urteilen in der Logik auszusetzen: Zum einen, dass sie die Unterschiede in der logischen Form singulärer, partikulärer und allgemeiner und Sätze nicht differenziert genug behandeln könne, und zum anderen, dass sie übersehe, dass ein und derselbe beurteilbare Inhalt auf verschiedene Weisen aufgefasst werden könne, sodass »bald dieses, bald jenes als Subjekt und Prädikat erscheint«. 40 Freges Diagnose nach richtete sich diese Auffassung der logischen Struktur von Urteilen als aus einem Subjekt- und einem Prädikatbegriff (und einer Kopula) zusammengesetzt noch immer viel zu sehr nach der Grammatik der Alltagssprache, die dadurch unser Denken über Jahrhunderte hinweg irrezuführen vermochte. Freges Logik war hingegen nicht primär als eine Logik der Sätze gedacht, sondern vielmehr eine der Urteilsinhalte. Auf diese wandte er ein Prinzip an, das ich das »Prinzip der multiplen Zerlegung« (PMZ) nennen möchte. Nicht ein und derselbe logisch bereits strukturierte Satz, sondern vielmehr ein und derselbe Urteilsinhalt kann demnach prinzipiell auf verschiedene, logisch gleichermaßen zulässige Weisen in ein logisches Subjekt und ein logisches Prädikat zerlegt werden. Rein logisch betrachtet ließe sich z. B. das gesamte Folgerungspotential eines Urteils durch eine nominalisierte Satzform zum Ausdruck bringen. Das einzige Prädikat wäre dann das Prädikat »ist wahr« bzw. »ist eine Tatsache«, welches dann dem Urteilszeichen entsprechen 39 40

Log I: 7. BS: § 3. A

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würde; dieses aber trägt im Grunde genommen nichts zum begrifflichen Inhalt des Urteils bei: 41 Es lässt sich eine Sprache denken, in welcher der Satz: »Archimedes kam bei der Eroberung von Syrakus um« in folgender Weise ausgedrückt würde: »der gewaltsame Tod des Archimedes bei der Eroberung von Syrakus ist eine Thatsache«. Hier kann man zwar auch, wenn man will, Subject und Prädicat unterscheiden, aber das Subject enthält den ganzen Inhalt, und das Prädicat hat nur den Zweck, diesen als Urtheil hinzustellen. Eine solche Sprache würde nur ein einziges Prädicat für alle Urtheile haben: nämlich »ist eine Tatsache«. Man sieht, dass im gewöhnlichen Sinne von Subject und Prädicat hier keine Rede sein kann. Eine solche Sprache ist unsere Begriffsschrift und das Zeichen ‘ ist ihr gemeinsames Prädicat für alle Urteile.

Frege gibt uns hier zugleich eine Regel an die Hand, wie wir uns Ausdrücke der Begriffsschrift, die durch das Urteilszeichen eingeleitet werden, in die Umgangssprache übersetzt denken sollten, um sie von bloßen Annahmen unterscheiden zu können. Anstatt wie bisher den Inhalt von »Archimedes kam bei der Eroberung von Syrien um« umgangssprachlich in Subjekt-Prädikatform zu fassen, was den Unterschied zwischen Annahme und Behauptung verwischen würde, können wir ihn demnach, rein logisch betrachtet, mit Hilfe einer Nominalphrase wie »Der gewaltsame Tod des Archimedes bei der Eroberung von Syrakus« oder »der Umstand, dass Archimedes bei der Eroberung von Syrakus umkam« oder »der Satz, dass Archimedes …« zum Ausdruck bringen, solange es uns nur darum geht, diesen Inhalt »nicht als Urteil, sondern als Satz« hinzustellen. Ein Satz in diesem Sinne, dem das Urteilselement fehlt, ist demnach letztlich nur so etwas wie ein Name – ein Name für eine Tatsache oder auch einen Umstand oder Sachverhalt, der keine Tatsache ist, weil ihm die Wahrheit fehlt – und füllt somit grammatisch gesehen vollständig die Subjektstelle eines Urteils aus. Auch der traditionelle Unterschied zwischen kategorischen, hypothetischen und disjunktiven Urteilen hatte daher für Frege »nur eine grammatische Bedeutung«. 42 Dies ist so, weil ein Satz der Form P ! Q (hypothetisch) offensichtlich logisch äquivalent ist zu einem Satz der Form P _ Q (disjunktiv). Jedes kategorische Urteil P wiederum ist per Idempotenz logisch äquivalent zu einer Disjunktion

41 42

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BS: § 3. Vgl. BS: § 4.

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P _ P, und somit wiederum zu einem hypothetischen Satz der Form P ! P. Wie eine Passage aus Booles rechnende Logik belegt, betrachtete Frege PMZ zugleich auch als unmittelbare Grundlage seiner Theorie der Begriffsbildung: 43 Das Bilden der Begriffe lasse ich erst aus den Urteilen hervorgehen. Wenn man nämlich in dem beurteilbaren Inhalte »24 = 16« die 2 durch Anderes ersetzbar denkt, etwa durch (- 2) oder auch durch 3, was dadurch angedeutet werden mag, dass an die Stelle der 2 ein x gesetzt wird: x4 = 16, so zerfällt der beurteilbare Inhalt in einen bleibenden und einen veränderlichen Teil. Ersterer für sich betrachtet, aber mit Offenhaltung der Stelle für den letzteren, gibt den Begriff »4te Wurzel aus 16«. Man kann nun 24 = 16 in dem Satze aussprechen: »2 ist eine 4te Wurzel aus 16«, oder »das Einzelne 2 fällt unter den Begriff der 4ten Wurzel aus 16« oder »gehört der Klasse der 4ten Wurzel aus 16 an«. Ebenso gut kann man aber auch sagen: »4 ist Logarithmus von 16 bei der Basis 2«. Dann hat man die 4 als ersetzbar aufgefasst und so den Begriff »Logarithmus von 16 bei der Basis 2« erhalten: 2x = 16. Das x deutet hier die Stelle an, die das Zeichen des unter den Begriff fallenden Einzelnen einzunehmen hat. Wir können in x4 = 16 nun auch noch 16 ersetzbar denken, was wir etwa durch x4 = y darstellen. Wir erhalten so den Begriff einer Relation, nämlich der Beziehung einer Zahl zu ihrer 4ten Potenz.

Wir sehen hier deutlich, wie Frege durch seine mathematische Erfahrung mit Funktionen zu der Einsicht gelangen musste, dass die Unterscheidung zwischen logischem Subjekt und logischem Prädikat mehr oder weniger willkürlich ist. Die aus drei logisch einfachen Eigennamen, einem Funktionsausdruck und einem Relationsausdruck zusammengesetzte Gleichung 24 = 16, die Frege sich hier als Beispiel vornimmt, kann – soweit ich sehe – in der Tat sogar auf insgesamt 9 verschiedene Weisen in logisches Subjekt und logisches Prädikat zerlegt werden, je nachdem, welchen Eigennamen, oder Kombination von Eigennamen wir als Subjektausdruck ansehen wollen. Keine dieser Zerlegungsweisen ist einer anderen vom Standpunkt der Logik aus vorzuziehen, und so lassen sich aus ein und demselben Urteil BRL: 17 f. Vgl. auch Freges Brief an Marty oder Stumpf von 1882, WB 164: »Ich glaube nicht, dass es für jeden beurteilbaren Inhalt nur eine Weise, gebe, wie er zerfallen könne, oder dass eine der möglichen Weisen immer einen sachlichen Vorrang beanspruchen dürfe. In der Ungleichung 3 i 2 kann man ebensowohl 2 als Subjekt ansehen wie 3. In dem ersteren Falle hat man den Begriff »kleiner als 3«, in dem letzteren »grösser als 2«. Man kann auch wohl »3 und 2« als ein complexes Subjekt ansehen. Als Prädikat hat man dann den Beziehungsbegriff des Grösseren zum Kleineren.«

43

A

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bei verschiedenen logischen Zerlegungen 9 verschiedene Begriffe gewinnen und gleichzeitig 8 Gegenstände auf zum Teil unterschiedliche Weisen bestimmen: 44 Logisches Subjekt

Logisches Prädikat

2

x4 = 16

4

2x = 16

16

24 = x

h2,4,16i

xy = z

24

x = 16

h2,4i

xy = 16

h2,16i

x4 = y

h4,16i

2x = y

h24 ,16i

x=y

Durch das Urteil selbst ist demnach nicht genau bestimmt, was wir als dessen logisches Subjekt und logisches Prädikat ansehen sollen – dies hängt von der Art und Weise ab, wie wir es der Auffassung nach zerlegen und die Struktur eines Gedankens lässt Raum für multiple Zerlegungsweisen in Subjekt und Prädikat, sowie multiple Weisen, unbeurteilbare begriffliche Bestandteile abzusondern, um aus ihnen neue Gedanken bzw. Urteile zu formen. 1.1.3. Funktion und Argument Die Subjekt-Prädikat-Analyse erscheint demnach als nicht hinreichend, um die für die Logik relevanten Zusammenhänge von Urteilen und Sätzen zu erfassen. Darüberhinaus erweist sie sich für Frege nicht einmal als notwendig selbst im Bereich der heute so genannten Prädikatenlogik. Freges Einsichten über die Irrelevanz der Unterscheidung zwischen Subjekt und Prädikat motivierten ihn nämlich dazu, sie durch eine Unterscheidung zwischen Funktion und Argument zu ersetzen, wie sie ihm aus der mathematischen Analysis her vertraut waren. Funktionsausdrücke sind gewissermaßen unvoll»24 « würde nach Frege dieselbe Zahl wie »16« bezeichnen, sie aber auf andere Weise bestimmen; die beiden Zahlausdrücke haben »verschiedenen Sinn«.

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ständige, ungesättigte, oder ergänzungsbedürftige Zeichen, die in der Mathematik üblicherweise Variablen wie x oder y enthalten, wie etwa der Ausdruck »2 + x = 5«. Was immer man für diese Variablen einsetzt, ist Ausdruck eines Argumentes der Funktion. Funktionen ordnen jedem Argument aus ihrer Argumentmenge einen bestimmten Wert aus der Wertemenge zu. Auf die Analyse von Sätzen einer logisch idealen Sprache übertragen ließ sich nun jeder in dieser Sprache ausdrückbare und als wahr oder falsch beurteilbare Gedankeninhalt auf verschiedene Weise als Funktion-Argument-Struktur auffassen – ganz so wie die Sätze der Arithmetik. Frege fährt nun zwar in seinen späteren Schriften fort, von Subjekt und Prädikat eines Urteils zu sprechen; hierbei meint er jedoch dann jeweils eine bestimmte Auffassungsweise eines beurteilbaren Inhaltes in Funktion und Argument. Die Unterscheidung zwischen Funktion und Argument wird in Begriffsschrift in Verbindung mit dem Begriff des Urteils durch das Postulat eingeführt, dass man »in dem Ausdrucke eines Urtheils […] die rechts von ‘ stehende Verbindung von Zeichen immer als Function eines der darin vorkommenden Zeichen ansehen« könne. 45 Die Ausdrücke »Funktion« und »Argument« selbst werden in der Begriffsschrift noch sowohl für Ausdrücke als auch für ihre Inhalte selbst verwendet; erst später unterscheidet Frege terminologisch zwischen Funktionsausdrücken und den Funktionen selbst. Ein Funktionsausdruck ist nach Freges frühen Erläuterungen einfach ein Ausdruck der Art wie er übrigbleibt, wenn man sich »in einem Ausdruck, dessen Inhalt nicht beurteilbar zu sein braucht, ein einfaches oder zusammengesetztes Zeichen an einigen oder allen Stellen, an denen es vorkommt, als durch ein anderes, aber immer dasselbe Zeichen ersetzbar denkt«. 46 Der als auf diese Weise ersetzbar gedachte Ausdruck wiederum ist der Ausdruck des Argumentes. Mit Hilfe einer Funktion-Argument-Analyse kann ein und derselbe beurteilbare Inhalt als Wert verschiedener begrifflicher Funktionen für verschiedene Argumente aufgefasst, d. h. auf unterschiedliche Weise in Funktion und Argument zerlegt werden. Im Unterschied zur Subjekt-Prädikat-Auffassung lässt sich die Funktion-Argument-Analyse ferner nicht nur auf ganze Sätze, sondern auch auf Satzteile bzw. deren Bedeutungen anwenden. Der Ersetzung der traditionellen Subjekt-Prädikat-Analyse von 45 46

BS: § 2. BS: § 9. A

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Urteilen durch eine Unterscheidung von Funktion und Argument entspricht nun auch eine Ontologie von Gegenständen, Begriffen und Beziehungen. Bereits in einigen zwischen der Begriffsschrift und den Grundlagen entstandenen Arbeiten verwendet Frege für die begrifflichen Bestandteile, in die ein beurteilbarer Inhalt zerlegt werden kann, die Bezeichnungen »Einzelnes«, »Einzelding« oder »Gegenstand«, sowie »Begriff« und »Beziehung« oder auch »Eigenschaft«. Einzelne Gegenstände sind somit als Argumente von Begriffen bzw. Relationen aufzufassen, und diese Begriffe (Eigenschaften) und Relationen selbst als Funktionen im mathematischen Sinne. Auf der syntaktischen Ebene spiegelt sich der Unterschied zwischen Gegenstand und Funktion in der Verwendung zweier Arten sprachlicher Ausdrücke, nämlich Eigennamen (singuläre Termini), die zur Benennung bestimmter Einzelgegenstände dienen, und Begriffs- und Beziehungswörter (Funktionsausdrücke), die für Eigenschaften oder Relationen stehen. 1.1.4. Sinn und Bedeutung Freges Auffassung von der Semantik einer logisch idealen Sprache entwickelt sich in zwei Phasen, und diese Entwicklung kann im Anschluss an Alberto Coffa als Übergang von einem semantischen Monismus zu einem semantischen Dualismus rekonstruiert werden. 47 Beide Stilrichtungen haben die Anfänge der analytischen Tradition maßgeblich geprägt. Was sie mit ihren neuzeitlichen Vorgängern gemeinsam haben, ist eine im weitesten Sinne bildtheoretische und chemische Auffassung des Verhältnisses von Sprache, Denken und Gedachtem. Demnach bestehen sprachliche Gebilde ebenso wie das, was sie ausdrücken, aus logischen Bestandteilen, ähnlich wie chemische Zusammensetzungen aus Molekülen bestehen. Die syntaktischen Komponenten bilden dabei die ihnen entsprechenden semantischen Korrelate in gewisser Weise ab. Bedeutungen werden somit in dieser Tradition weitgehend hypostasiert, d. h. als eine Art Gegenstände betrachtet, die sprachlichen Ausdrücken zugeordnet sind. Die Diskrepanz zwischen Monismus und Dualismus entsteht in Bezug auf die Anzahl und Natur der erforderlichen vermittelnden Vgl. Coffa 1991: 79 f. Zur Entwicklung des Begriffs der Bedeutung (insbesondere bei Eigennamen) von Frege bis Wittgenstein siehe auch Lotter 2003.

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Entitäten, die wir postulieren müssen, um das Funktionieren von Sprache und Denken zu erklären und zu verstehen, was und wie Sätze einer Sprache zumindest unter idealen logischen Bedingungen etwas Wahres oder Falsches über die Welt aussagen können. Der Monist ist der Ansicht, dass wir nicht mehr als eine semantische Entität mit jeder syntaktischen Einheit verbinden müssen; der Dualist hingegen glaubt, dass sich syntaktische Gebilde auf Entitäten in der außersprachlichen Welt nur auf dem Umweg über eine zweite Art semantische Entitäten beziehen können. Freges erste Semantik ist monistisch im o. g. Sinne, weil die Gegenstände, Begriffe und Beziehungen, von denen ein Satz handelt, ihr zufolge die Bestandteile des beurteilbaren Inhaltes selbst und gleichzeitig die Bedeutungen der logischen Bestandteile des Satzes sind. Um 1890 erlebt Freges frühe Theorie der beurteilbaren Inhalte dann eine Verfeinerung, mit der sich einige technische Probleme lösen ließen, die sich aus der älteren Konzeption ergeben hatten, insbesondere ein Problem bezüglich des Inhaltes von Identitätsaussagen. In § 8 der Begriffsschrift stößt Frege auf den Umstand, dass Urteile der Form a = a uns nichts Neues mitteilen können, während solche der Form a = b oft sehr informativ sind. Dieser Unterschied muss, so Freges Überlegung, sich im begrifflichen Inhalt der Urteile wiederspiegeln. Wenn wir aber die Namen »a« und »b« in ihrer herkömmlichen Verwendungsweise betrachten, so ist ihr begrifflicher Inhalt einfach der Gegenstand, den sie bezeichnen – dieser aber ist in beiden Fällen derselbe, sofern a = b wahr ist. Würden wir also »a« und »b« in Identitätsurteilen in ihrer herkömmlichen Bedeutung verwenden, so könnten wir uns den kognitiven Unterschied zwischen a = a und a = b nicht erklären, oder anders gesagt: Um ihn erklären zu können, müssen wir im Rahmen von Freges früher Semantik davon ausgehen, dass Namen im Kontext von Identitätsaussagen grundsätzlich in anderer Bedeutung zu verwenden sind als in normalen Satzkontexten; und dies selbst in einer logisch idealen Sprache. Jedes Zeichen wird hierbei mit einer Bestimmungsweise des Bezeichneten assoziiert, sodass der Informationsüberschuss in einem Urteil der Form a = b sich dadurch ergibt, dass hier ein und derselbe begriffliche Inhalt als auf verschiedene Weisen bestimmbar erscheint. Frege fasst demnach in der Begriffsschrift die Identitätssätze als Sätze auf, in denen eine Inhaltsgleichheit von Zeichen behauptet wird; die Zeichen stehen also hier gewissermaßen für sich selbst und A

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nicht für das, was sie in gewöhnlichen Kontexten bezeichnen. Diese Lösung erschien ihm letztlich im Zusammenhang mit seiner Formalismuskritik als unbefriedigend. Wenn nämlich ein jedes Urteil der Form »a ist b« – zu denen auch Urteile gehören, in denen a und b beurteilbare Inhalte sind – eigentlich nichts anderes besagt als »Das Zeichen »a« hat denselben Inhalt wie das Zeichen »b««, dann wäre die Identität eines Gegenstandes generell nicht anderes als ein Verhältnis zwischen sprachlichen oder anderweitigen Zeichen. Wenn man aber die Identität von Zahlen – oder anderen Gegenständen – nicht unabhängig von ihren Zeichen denken kann, dann wäre wohl diese Position nur noch schwerlich von der formalistischen Haltung zu unterscheiden, dass Zahlen eigentlich nichts anderes als Zeichen sind. Davon abgesehen aber erlaubt Freges frühe Charakterisierung der Bedeutung des Zeichens für Identität nicht einmal, logisch zwischen extensionaler und intensionaler »Inhaltsgleichheit« von Ausdrücken zu unterscheiden, obwohl zugleich der Unterschied zwischen informativen und nicht-informativen Identitätssätzen bereits in seinen frühen Schriften eine wichtige Rolle spielt. Die Notwendigkeit eines logischen Zeichens für die Inhaltsgleichheit, so Frege in der Begriffsschrift, beruhe nämlich in erster Linie darauf, dass »derselbe Inhalt auf verschiedene Weise völlig bestimmt werden« könne, in welchem Fall das Urteil, das diese Tatsache zum Ausdruck bringt, »im kantischen Sinne ein synthetisches« sei. 48 Eine eher nebensächliche Funktion des Identitätszeichens – ein »mehr äußerer Grund« – hingegen sei diejenige, bei der ein einfaches Zeichen als Abkürzung für einen komplexen Ausdruck eingeführt wird; eine solche abkürzende Definition aber würde unsere Erkenntnis über den Gegenstand nicht erweitern. Auch hier aber werde durch das Identitätszeichen lediglich eine Gleichheit des Inhaltes der beiden Zeichen zum Ausdruck gebracht. 49 Frege meint offenbar im Rahmen seiner frühen Theorie mit »Inhalt« (eines Zeichens) – im Rahmen seiner frühen Konzeption des Urteils – offenbar einen begrifflich erfassten Gegenstand im logischen Sinne, der auf eine spezifische, mit dem Ausdruck verbundene Weise im Denken bestimmt ist. Freges frühe Konzeption lässt jedoch offenbar keinen Raum, um die Identität der Bestimmungs48 49

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BS: § 8. Ebd.

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weisen von der Identität des Gegenstandes selbst logisch zu unterscheiden, weil die Bestimmungsweisen hier nicht wirklich als etwas vom Zeichen verschiedenes anerkannt sind. Erst im Rahmen seiner Konzeption von Sinn und Bedeutung gelingt es Frege, zwischen intensionaler und extensionaler Identität und Verschiedenheit von Zeichen zu unterscheiden, obwohl dieser Unterschied eigentlich schon vorher eine wichtige Rolle gespielt hatte. Frege löst nun dieses Problem durch einen semantischen Dualismus von Sinn und Bedeutung. Gemäß der neuen Theorie ist das, was Frege früher »beurteilbarer Inhalt« genannt hatte, aufgeteilt in Gedanke und Wahrheitswert. Analog wird jeder unbeurteilbare begriffliche Teilinhalt eines Satzes in zwei Aspekte aufgeteilt, nämlich in den Gegenstand oder die Funktion einerseits, die durch den ihm korrespondierenden sprachlichen Ausdruck bezeichnet wird, und andererseits in das, was er als deren »Art des Gegebenseins« bezeichnet. Letzteres nennt er den »Sinn« des sprachlichen Ausdrucks, ersteres die »Bedeutung«. Gemäß dieser Auffassung entstehen somit für einen jeden Satz der logischen Idealsprache, sowie für seine logisch sinnvollen Bestandteile, zwei verschiedene, einander funktional zugeordnete semantische Ebenen des Sinnes und der Bedeutung, sodass der Sinn des Satzes der in ihm ausgedrückte Gedanke ist, und seine Bedeutung sein Wahrheitswert. Der Gedanke ergibt sich dabei als Funktionswert aus den Sinnen der Satzteile, ebenso wie der Wahrheitswert aus deren Bedeutungen. Diese Bedeutungen sind weiterhin die Gegenstände, Begriffe oder Beziehungen selbst, von denen der Satz etwas aussagt, und die ihnen entsprechenden Sinne Gedankenteile, die – so Frege – »in eigentümlicher Weise auf Gegenstände, Begriffe und Beziehungen hindeuten« 50 . Gegenstände, Begriffe und Beziehungen gehören somit nicht mehr zum unmittelbaren Inhalt eines Urteils, sondern zu einem durch diesen bestimmten, aber zugleich von ihm unterschiedenen Bereich der Bedeutungen – dessen, wovon diese Inhalte handeln. Der eigentliche logische Urteilsinhalt ist also ab Freges mittlerer Phase ein Gedanke, wobei er hierunter »nicht das subjektive Tun des Denkens, sondern dessen objektiven Inhalt« versteht. 51 Hieraus ergibt sich, dass auch der Wahrheitswert für Frege nicht mehr Bestandteil eines Denkinhaltes selbst, sondern vielmehr etwas 50 51

NS: 274. SB: 46. A

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sein soll, auf das sich ein solcher insgesamt beziehen mag. Frege bemerkt dazu, dass 52 das Verhältnis des Gedankens zum Wahren doch mit dem des Subjekts zum Prädikate nicht verglichen werden darf. Subjekt und Prädikat sind ja (im logischen Sinne verstanden) Gedankenteile; sie stehen aus derselben Stufe für das Erkennen. Man gelangt durch eine Zusammenfügung von Subjekt und Prädikat immer nur zu einem Gedanken, […] nie von einem Gedanken zu dessen Wahrheitswerte. Man bewegt sich auf derselben Stufe, aber man schreitet nicht von einer Stufe zur nächsten fort. Ein Wahrheitswert kann nicht Teil eines Gedankens sein, so wenig wie etwa die Sonne […].

Spätestens zu diesem Zeitpunkt scheint Frege die eigentümliche Natur dessen, was er als »behauptende Kraft« ansieht und im Symbolismus der Begriffsschrift dem Urteilszeichen entspricht, mit dem »Inhalt« des Wortes »wahr« gleichzusetzen – in beiden Fällen haben wir es mit etwas zu tun, das niemals Bestandteil eines beurteilbaren Inhaltes oder Gedanken werden kann und gleichwohl für die Logik des Urteils von größter Wichtigkeit ist. Das Prädikat »ist wahr« übernimmt hier dieselbe Funktion wie »ist eine Tatsache« in Freges früher Begriffsschrift-Version. Freilich ist dies ein problematischer Punkt in Freges Theorie der Wahrheit überhaupt, denn wenn das Wort »wahr« einen Inhalt hat, so muss dieser Inhalt Bestandteil eines Gedankens sein können. Hat es aber keinen Inhalt bzw. »Sinn«, so kann es sich Freges Semantik zufolge auf nichts beziehen, denn ohne einen Sinn kann ein Wort keine Bedeutung haben. Die einzige Lösung dieses Problems, die Frege hier anzubieten scheint, ist, dass die Wahrheitswerte gewissermaßen Bedeutungen von Wahrheitswertnamen darstellen – d. h. gewissermaßen komplexe Nominalphrasen wie »der Tod des Archimedes«, deren Sinne wiederum Gedanken sind. Nur indem wir solche Wahrheitswertnamen äußern bzw. deren Sinne denken, können wir uns demnach eigentlich auf Wahrheitswerte beziehen. Das Prädikat »ist wahr« besitzt dann lediglich die Funktion anzuzeigen – ohne es auszudrücken – dass der Wahrheitswert, auf den sich ein bestimmter Gedanke bezieht, für das Wahre gehalten werde oder werden solle. Den Wahrheitswertnamen in Freges späterer Semantik entsprechen somit jene Nominalphrasen in seiner früheren Semantik entsprochen, die eine Tatsache bzw. einen »Umstand, dass …« bezeichnen. In seinen spä52

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SB: 49.

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teren Schriften identifiziert er daher Tatsachen einfach mit wahren Gedanken. 53 Analog sind Begriffe oder Eigenschaften nach der Trennung von Gedanke und Wahrheitswert als Funktionen aufzufassen, deren Wert immer ein Wahrheitswert ist. Man könnte daher für diese Phase von Freges Schaffen den Ausdruck »Wahrheitswertfunktion« als treffende Bezeichnung für Begriffe verwenden. 1.1.5. Allgemeinheit und Existenz Die Unterscheidung zwischen Funktion und Argument, die die alte Subjekt-Prädikat-Struktur von Urteilen ablösen soll, führte schließlich auch zu einer Neudefinition des Existenzbegriffs sowie des Begriffs der Allgemeinheit. Frege entdeckte nämlich, dass es neben der Beziehung des Fallens eines Gegenstandes unter einen Begriff (Subsumtion), sowie der davon gänzlich verschiedenen der Unterordnung eines Begriffs unter einen anderen derselben Ordnung (Subordination) schließlich noch eine Beziehung zwischen Begriffen gibt, die in gewisser Weise der der Subsumption ähnlich ist und die Frege daher als das »Fallen eines Begriffs in einen höherstufigen« bezeichnete. Diese Unterscheidungen ergeben sich aus Freges Untersuchung der Unterschiede zwischen singulären, partikulären und allgemeinen Sätzen im Hinblick auf ihre logische Form. Singuläre Sätze enthalten sogenannte Eigennamen, die sich auf einzelne Gegenstände beziehen; sie sagen etwas über das Fallen eines Gegenstandes unter einen Begriff aus, welches für Frege die logische Grundbeziehung ist. Existenz und Allgemeinheit hingegen erweisen sich für Frege nicht als Begriffe erster Ordnung, die auf je einzelne Gegenstand anwendbar wären, sondern als Begriffe höherer Ordnung, die Begriffe niedrigerer Ordnung als Argumente annehmen. In einem Satz wie »Es gibt mindestens einen Menschen« wird also eigentlich über den Begriff des Menschen etwas ausgesagt, und zwar dass er durch mindestens einen Gegenstand erfüllt sei. Frege schreibt hierzu: 54 Ich will nicht sagen, es sei falsch, das von einem Gegenstande auszusagen, was hier von einem Begriffe ausgesagt wird; sondern ich will sagen, es sei unmöglich, es sei sinnlos. Der Satz »es gibt Julius Cäsar« ist weder wahr noch falsch, sondern sinnlos, wiewohl der Satz »es gibt einen Mann mit Namen 53 54

Vgl. Ged.: 359. BG: 75. A

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Julius Cäsar« einen Sinn hat: aber hier haben wir auch wieder einen Begriff, wie der unbestimmte Artikel er kennen läßt.

Der Begriff der Existenz ist somit bei Frege ein Begriff zweiter Ordnung, der sich als solcher gar nicht auf Einzeldinge anwenden lässt. Dasselbe kann man über die Allgemeinheit sagen, aus deren Verneinung sich ja der Existenzbegriff definieren lässt. In einem Allsatz wie etwa »Alle Menschen sind sterblich« haben wir es mit einer Subordination eines Begriffes unter einen anderen zu tun – einer logischen Beziehung, die sich wesentlich von beiden zuvor behandelten Beziehungen unterscheidet, obwohl auch hier wiederum etwas über das Verhältnis zweier Begriffe ausgesagt wird; nämlich dass alles, was unter den ersten subsumiert wird, auch unter den zweiten fällt. Insofern ist auch die Subordination eine Beziehung höherer Ordnung, nämlich eine Beziehung zwischen zwei Begriffen (derselben niedrigeren Ordnung). 55 Der Existenzbegriff hängt nun wesentlich mit dem Begriff der Zahl zusammen, denn schließlich ist die Bejahung der Existenz von etwas ist äquivalent zur Verneinung der Nullzahl in bezug auf einen Begriff.70 Analog sind Zahlangaben nicht als Aussagen von Gegenständen, sondern von Begriffen zu verstehen; Zahlbegriffe sind demnach ebensowenig Begriffe erster, sondern vielmehr zweiter Ordnung wie der Begriff der Existenz oder der der Allgemeinheit; d. h. sie sind Begriffe, die ausschließlich Begriffe erster Ordnung als Argumente annehmen. 56

1.2. Logische Klarheit Anhand seiner Logik der Begriffsschrift steht Frege nun auch ein präzises begriffliches Instrumentarium zur Verfügung, um die Idee logischer Klarheit zu explizieren. Auch diese Idee ist deutlich durch mathematische Überlegungen inspiriert, nämlich durch Überlegungen zu den Bedingungen der Möglichkeit des Zählens von Gegenständen. Das Problem der Klarheit tritt hierbei in zwei miteinander zusammenhängenden Varianten auf: (1) bezüglich der Schärfe eines

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Vgl. GLA: § 47. Vgl. GLA: § 46.

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Logische Klarheit

Begriffes, und (2) bezüglich der Bestimmtheit eines Gegenstandes des Denkens, bzw. der Bedeutung eines Eigennamens. In einem Brief an Anton Marty (oder Carl Stumpf) aus dem Jahre 1882 schreibt Frege hierzu: 57 Zählbar ist alles, nicht nur was im Raume nebeneinander ist, nicht nur das zeitlich aufeinander Folgende, nicht nur das Aeussere, sondern auch innere Vorgänge und Ereignisse in der Seele, Begriffe, die weder in zeitlichen noch in räumlichen, sondern nur in logischen Beziehungen zueinander stehen. Eine Schranke für die Zählbarkeit kann man nur in der Unvollkommenheit der Begriffe finden. Die Kahlköpfigen sind z. B. solange nicht zählbar, als nicht der Begriff der Kahlköpfigkeit so genau bestimmt ist, dass bei keinem Einzelnen ein Zweifel sein kann, ob er darunter falle. So ist denn also das Gebiet des Zählbaren soweit wie das des begrifflichen Denkens, und es würde eine Erkenntnisquelle von beschränkterem Umfang, etwa räumliche Anschauung, sinnliche Wahrnehmung, nicht genügen, die allgemeine Geltung der arithmetischen Sätze, zu verbürgen.

Frege macht hier im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zur Zählbarkeit von Dingen deutlich, daß er unter begrifflichem Denken, für welches die Logik universell zuständig sein soll, ein Denken versteht, welches so exakt sein muss wie die Formeln der Arithmetik, indem es ausschließlich mit Begriffen operiert, deren Umfang im Hinblick auf die Gesamtheit existierender Gegenstände eindeutig auf ja oder nein fixiert ist: Für jeden denkbaren Gegenstand x und jeden Begriff F muss eindeutig feststehen, ob x unter F fällt oder nicht. Nur unter der Voraussetzung, dass Gegenstände in diesem Sinne begrifflich denkbar sind – d. h. in dem Sinne, dass man sie unter scharf begrenzte Begriffe ordnen kann – ist Zählbarkeit Frege zufolge prinzipiell möglich. 1.2.1. Individualbegriffe und Kennzeichen der Wiedererkennung Um nun einen Gegenstand überhaupt zu denken, benötigen wir stets Begriffe, denn wie schon erwähnt ist nach Frege das Fallen eines Gegenstandes unter einen Begriff »die logische Grundbeziehung« bzw. das logische »Urvorkommnis«, auf das sich alle Beziehungen zwischen Begriffen zurückführen lassen sollen. 58 Diese Auffassung folgt 57 58

WB: 163 f. ASB: 128, LPM: 198. A

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sich auch aus Freges Analyse von Zahlbegriffen als Begriffen zweiter Stufe. Denn wann immer wir uns auf ein Einzelding beziehen wollen, müssen wir dabei die Einzahl ins Spiel bringen; als Zahlbegriff aber muss diese einen Begriff erster Stufe als Argument haben, wir müssen also wiederum einen Begriff ins Spiel bringen, unter den der Gegenstand fällt und von dem die Zahlangabe gemacht werden kann. Einen Gegenstand als bestimmtes Einzelding überhaupt zu erfassen, erfordert demnach in Freges Logik so etwas wie einen Individualbegriff. Für einen solchen – nennen wir ihn »F« – müssen nach Frege die folgenden beiden Bedingungen gelten: (a) F darf nicht leer sein, d. h. es muss mindestens einen Gegenstand geben, der unter F fällt; (b) es darf nur genau ein Gegenstand unter F fallen; d. h. wenn a ein Gegenstand ist, der unter F fällt, dann gilt für alle Gegenstände x: wenn x unter F fällt, dann x = a. Nach Frege ist die gedankliche Bezugnahme auf Einzeldinge letztlich nur mit Hilfe solcher Individualbegriffe möglich, durch die sich erst eindeutig identifizierende Kennzeichen – später Sinne von Eigennamen – bilden lassen. Wenn wir beispielsweise über einen Begriff wie ist ein Erdmond verfügen und wissen, dass unter ihn nur genau ein Gegenstand fällt, so können wir mit Hilfe dieses Begriffs den eingeschränkten Individualbegriff ist der Erdmond bilden. Dieser wiederum enthält die Identität – in Freges früherer Semantik die Inhaltsgleichheit zweier Ausdrücke – als ungesättigten Bestandteil, denn »ist der Erdmond« besagt ja nichts anderes als »ist identisch mit dem Erdmond«. Der verbleibende Bestandteil – der durch »der Erdmond« bezeichnet ist – identifiziert nun den Gegenstand eindeutig kraft der Merkmale, die den ursprünglichen Begriff »ist ein Erdmond« zusammensetzten, jedenfalls soweit unsere Annahme, dass es nur einen solchen Gegenstand gibt, auf den diese Merkmale als Eigenschaften zutreffen, wahr ist. 59 Frege spricht in diesem Zusammenhang auch davon, dass Gegenstände aus Begriffen definiert werden. 60 Frege zufolge ist dabei das den Gegenstand eindeutig identifizierende Kennzeichen nicht als dessen notwendiges Wesensmerkmal aufzufassen, obgleich die Definitionen mancher Gegenstände – wie etwa denen der Mathematik – durchaus a priori beweisbar sind. Daher ist sie, in heute gebräuchlicher Terminologie, nur als hinreichendes, nicht jedoch als notwendiges Identifikationskriterium zu 59 60

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Zur Unterscheidung zwischen Merkmal und Eigenschaft siehe GLA: § 53, BG: 76. GLA: § 74, Anm. 92.

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verstehen. Wäre es nämlich eine notwendige Eigenschaft des Gegenstandes selbst, so müsste es in jeder seiner Gegebenheits- oder Bestimmungsweisen enthalten sein und jeder Eigenname, der ihn eindeutig bestimmen wollte, müsste somit denselben Sinn bzw. Sinnbestandteil haben. Frege weist diese Auffassung jedoch zurück 61 Wenn man sagen wollte: q ist eine Richtung, wenn es durch die oben ausgesprochene Definition eingeführt ist, so würde man die Weise, wie der Gegenstand q eingeführt ist, als dessen Eigenschaft behandeln, was sie nicht ist. […] Man würde, wenn man diesen Ausweg wählte, voraussetzen, dass ein Gegenstand nur auf eine einzige Weise gegeben werden könnte; denn sonst würde daraus, dass q nicht durch unsere Definition eingeführt ist, nicht folgen, dass es nicht so eingeführt werden könnte. Alle Gleichungen würden darauf hinauskommen, dass das als dasselbe anerkannt würde, was uns auf dieselbe Weise gegeben ist.

Dies bedeutet für Frege, dass Gegenstände – da sie uns auf verschiedene Weisen gegeben sein bzw. bestimmt werden können – im Prinzip auch auf verschiedene Weisen definierbar sind. So definiert Frege etwa die Zahl 0 in seinen Grundlagen als Umfang des Begriffs des mit sich selbst Ungleichen lediglich aus erkenntnistheoretischen Gründen – nämlich weil sich logisch beweisen lasse, dass unter diesen Begriff nichts fällt, und die Definition somit aus den logischen Grundgesetzen herleitbar und in diesem Sinne analytisch sei. Rein technisch gesehen hätte Frege jedoch, wie er selbst anmerkt, »zur Definition der 0 jeden anderen Begriff nehmen können, unter den nichts fällt«. 62 1.2.2. Wahrheitswertverläufe Welcher Zahlbegriff nun auf einen Argumentbegriff zutrifft – z. B. welcher Zahlbegriff auf den Begriff der Kahlköpfigen anzuwenden ist –, hängt von der genauen Begrenztheit seines Umfangs ab, d. h. davon, wieviele Gegenstände im Bereich des Denkbaren genau unter ihn fallen. Was es für einen Begriff und eine Funktion überhaupt heißt, einen und nur einen Umfang zu haben – d. h. was es für sie heißt, scharf begrenzt zu sein – erklärt Frege ab seiner mittleren Phase anhand des Begriffs eines Wertverlaufes. Ein Wertverlauf 61 62

GLA: § 67. GLA: § 74. A

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einer Funktion ist eine eindeutige Zuordnung von Argumenten zu Funktionswerten derart, dass jedem Argument genau ein Funktionswert zugeordnet und zugleich genau festgelegt ist, welcher Funktionswert ihm zukommt. Frege veranschaulicht diese Zuordnungsweise anhand der Methode der analytischen Geometrie: Jedes syntaktisch zulässige Argument kann hierbei als Zahlenwert einer Abszisse und der dazugehörige Funktionswert als Zahlenwert der Ordinate eines Punktes betrachtet werden. Der gesamte Wertverlauf gleicht so einer Gesamtheit von Punkten, die sich in gewöhnlichen Fällen als Kurve darstellen lässt. 63 Ein Begriff ist demnach nur dann scharf begrenzt, wenn er jedem einzelnen denkbaren Gegenstand einen und nur einen Wahrheitswert zuordnet, wobei – gemäß der Auffassung von Begriffen als Wahrheitswertfunktionen – die Gesamtheit der aus je einem Argument und einem Wahrheitswert gebildeten Tupel die Elemente der Klasse bilden, die seinen Umfang ausmachen. Erst die scharfe Begrenztheit des Begriffes selbst kann also die Existenz seines Umfangs garantieren. Ist aber ein Begriff nicht scharf begrenzt, so hat er auch nach Frege keinen Umfang, und dies bedeutet, dass sich auch kein klarer Zahlbegriff anwenden ließe. Dies bedeutet nun auch, dass Gegenstände, die nur mit Hilfe von unscharfen Begriffen denkbar wären, prinzipiell nicht zählbar wären – jedenfalls nicht als die Gegenstände, die unter diese Begriffe fallen. Auch Individualbegriffe sind jedoch noch immer Begriffe, für die es möglich sein kann, dass sie ihren intendierten Umfang aus dem einen oder anderen Grund nicht eindeutig bestimmen – entweder, weil Bedingung (a) nicht erfüllt ist und somit kein einziger Gegenstand unter den Begriff fällt; oder weil Bedingung (b) nicht erfüllt ist und der Begriff somit auf mehr als einen Gegenstand zutrifft. Denn dass genau ein Gegenstand existiert, auf den die in der Kennzeichnung enthaltenen Merkmale zutreffen, kommt in der ungesättigten Identitätsbeziehung zum Ausdruck, die dem Individualbegriff anhaftet – in dem »ist identisch mit …« dass in »ist der Erdmond« enthalten ist. Die Unschärfe von Individualbegriffen – ihre mangelnde Fähigkeit, genau einen Gegenstand unter allen herauszugreifen – ist somit bei Frege gewissermaßen ein Sonderfall des allgemeinen Problems der logischen Klarheit und lässt sich auf das der Unschärfe von Begriffen im allgemeinen zurückführen. 63

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Vgl. FB: 23.

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1.2.3. Existenzpräsuppositionen Da nun Existenz und Einzigkeit bei Frege als Eigenschaften, aber nicht Merkmale eines Begriffs erster Stufe aufgefasst werden, können sie daher auch nicht Merkmale eines Individualbegriffs sein, unter den ein Gegenstand fällt. Hieraus erklärt sich Freges Konzeption des Sinns Sinns von Eigennamen. Ein solcher Sinn hat die Funktion, einen durch einen Eigennamen bezeichneten Gegenstand anhand einer »Art seines Gegebenseins« eindeutig zu bestimmen. Analog spricht Frege, wie wir sahen, in seiner frühen Phase von einer Bestimmungsweise, die einem Eigennamen zugeordnet sein muss. 64 Ich habe nun angedeutet, wie sich solche Sinne bzw. Bestimmungsweisen, die einem Eigennamen zugeordnet sind, als gesättigte begriffliche Inhalte (bzw. Gedankenteile) in Wiedererkennungsurteilen aus Individualbegriffen herleiten lassen. Die Individualbegriffe werden hierbei – wie wir sahen – logisch zerlegt in zwei Gedankenteile, von denen der eine auf die Beziehung der Identität hindeutet und der zweite einer Bestimmungsweise bzw. Art des Gegebenseins des Gegenstandes entspricht. Da nun die Eigenschaften der Existenz und Einzigkeit nicht Merkmale des Invidualbegriffs sein können, dürfen sie auch nicht als logische Bestandteile des Sinns eines Eigennamens angesehen werden. Vielmehr können sie nur als Präsupposition beim Gebrauch des Eigennamens mitgeführt werden. Frege liefert hierfür später eine an unsere semantische Intuition appellierende unabhängige Argumentation für diese Auffassung: 65 Wenn man etwas behauptet, so ist immer die Voraussetzung selbstverständlich, dass die gebrauchten einfachen oder zusammengesetzten Eigennamen eine Bedeutung haben. Wenn man also behauptet, Kepler starb im Elend«, so ist dabei vorausgesetzt, dass der Name »Kepler« etwas bezeichne; aber damit ist doch im Sinne des Satzes »Kepler starb im Elend« der Gedanke, dass der Name »Kepler« etwas bezeichne, nicht enthalten. Wenn das der Fall wäre, müsste die Verneinung nicht lauten »Kepler starb nicht im Elend«, sondern Ich weiche hier, wie es scheint, von Dummetts Interpretation in Dummett 1991: 3 f. ab. Dummett findet es nämlich »ganz besonders mysteriös«, dass das Thema der Identifikations- oder Wiedererkennungsmerkmale nach den Grundlagen offenbar gänzlich aus Freges Bewusstsein entschwunden sei. Zwar verwendet Frege den Ausdruck »Wiedererkennungs« nicht mehr nach den Grundlagen, doch wird die Idee eines mit einem Namen zur Bezeichnung verbundenen Identifikationskriteriums m. E. in Freges späteren Schriften konsequent weiterentwickelt. 65 SB: 54 f. 64

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»Kepler starb nicht im Elend, oder der Name »Kepler« ist bedeutungslos«. Dass der Name »Kepler« etwas bezeichne, ist vielmehr Voraussetzung ebenso für die Behauptung »Kepler starb im Elend« wie für die entgegengesetzte.

Freges Konzeption des Sinns von Eigennamen schließt in dieser Hinsicht konsequent an seine logische Unterscheidung zwischen Gegenstand und Begriff an. Bei einem Gegenstand, so hatte Frege erläutert, macht die Frage keinen Sinn, ob etwas unter ihn falle, nur bei einem Begriff könne man diese Frage stets stellen. Analog macht die Existenzfrage keinen logischen Sinn beim Gebrauch eines Eigennamens, während sie sich sehr wohl beim Gebrauch eines Begriffswortes stellt. Denn schließlich kann bei Frege ein Begriff als Bedeutung eines Begriffswortes durchaus auch dann bestehen, wenn kein einziger Gegenstand unter ihn fällt. 66 1.2.4. Das Wesen des Begriffs Eine wesentliche philosophische Motivation für Freges Auffassung von Begriffen und Beziehungen als Funktionen war sicherlich, den logischen Zusammenhalt eines beurteilbaren Inhaltes erklären zu können, ohne dabei in einen Bradleyschen Regress zu geraten. Sie beruhte auf der Einsicht, dass ein logisches Ganzes – wie etwa ein Urteil, begrifflicher Inhalt oder Gedanke – einen ergänzungsbedürftigen und einen gesättigten Teil enthalten müsse, um überhaupt eine Einheit zu bilden: 67

Vgl. ASB 135: »Beim Begriffe kann nun freilich wieder gefragt werden, ob ein Gegenstand unter ihn falle oder mehrere oder keiner. Aber dies geht unmittelbar nur den Begriff an. So kann ein Begriffswort logisch durchaus unanfechtbar sein, ohne dass es einen Gegenstand gibt, auf den es sich durch […] den Begriff selbst hindurch beziehe. Diese Beziehung auf einen Gegenstand ist, wie man sieht, eine mehr vermittelte und unwesentliche, sodass es wenig passend scheint, die Begriffswörter danach einzuteilen, ob unter den entsprechenden Begriff keiner oder ein oder mehrere Gegenstände fallen.« Auch selbstwidersprüchliche Begriffe, bei denen man a priori erkennen kann, dass nichts unter sie fällt, finden in Freges Ontologie der Gegenstände des Denkens bekanntlich einen Platz. Sowohl in den Grundlagen. als auch später in den Grundgesetzen macht Frege von der Zulässigkeit selbstwidersprüchlicher Begriffe zunächst bei seiner Definition der Zahl 0, später bei seiner Definition der Wahrheitswerte als Gegenstände, Gebrauch. 67 ALD: 274. 66

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Im Logischen scheint jede Verbindung von Teilen durch Ergänzung von etwas Ergänzungsbedürftigem zu Stande zu kommen. Aus lauter gesättigten Teilen kann im Logischen kein Ganzes bestehen. Die scharfe Scheidung von Ergänzungsbedürftigem und Gesättigtem ist sehr wichtig. In der Mathematik kennt man das Ergänzungsbedürftige im Grunde schon längst […] Man spricht hier von Funktionen, fasst jedoch, wie es scheint, das Wesentliche meist nur undeutlich auf.

Frege sah sich dem Problem ausgesetzt, die logische Einheit eines beurteilbaren Inhaltes – später eines Gedankens und Wahrheitswertes aus der logischen Natur ihrer Bestandteile erklären können zu müssen. Eine Einheit, so Freges Überlegung, könne nur zustande kommen, indem die Bestandteile verschiedenen, einander ergänzenden Kategorien angehören. Ist dies nicht der Fall, so können sie nicht aneinanderhaften, sie würden eines dritten Elementes bedürfen – etwa der Kopula in der traditionellen Logik – welches sie verbindet. Ist aber dieses dritte Element wiederum gesättigt, so könnte es sich nicht mit den anderen beiden – etwa Subjekt und Prädikatbegriff – ohne zwei weitere relationale Elemente verbinden, und so würden wir in einen unendlichen Regress geraten, wollten wir die Einheit des Urteils erklären, ohne dabei in sich selbst ergänzungsbedürftige Bestandteile anzunehmen. Freges verlieh jedoch offenbar seiner Idee von der Unselbständigkeit von Begriffen gegenüber Gegenständen auch noch eine tiefere metaphysische Dimension. Hätte er nämlich durch die Unselbständigkeit des Begriffs lediglich die logische Einheit eines Urteils oder beurteilbaren Inhaltes erklären wollen, so wäre es noch nicht unbedingt nötig gewesen, einen Begriff grundsätzlich – in sämtlichen gedanklichen Kontexten – als unselbständig anzusehen. Russell etwa genügte hierfür die Annahme, dass Begriffe sich je nach Kontext mal wie Funktionen und mal wie Gegenstände verhalten. 68 Diese Annahme genügt vom rein logischen Standpunkt aus, um Bradleys Regress zu entgehen, solange sich zeigen lässt, dass jede Proposition einen funktionalen, ergänzungsbedürftigen Bestandteil enthält. Bei Frege jedoch war dies wohl nicht das einzige Motiv. für seine Unterscheidung zwischen Gegenstand und Begriff, oder allgemeiner: In Russells Principles kann ein Begriff innerhalb einer Proposition auch die Rolle eines Dinges übernehmen, wobei er dann durch einen Eigennamen bezeichnet wird – wie etwa in »menschlich« und »(die) Menschlichkeit«, welche ein und denselben Begriff in verschiedenen logischen Rollen bezeichnen; vgl. Russell 1903: § 46.

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zwischen Gesättigtem und Ungesättigtem. Er postuliert in seinen nach 1879 erschienenen Schriften ausdrücklich einen absoluten logischen Unterschied nicht nur zwischen Gegenstand und Funktion als den beiden grundlegenden einander ergänzenden Kategorien des begrifflichen Denkens, sondern zwischen Gegenständen und Funktionen als Entitäten. Für Freges besteht die Natur jedes einzelnen Begriffs (oder einer Beziehung) darin, »unselbständig«, »ergänzungsbedürftig«, »prädikativ«, oder »ungesättigt« zu sein; die jedes Gegenstandes hingegen darin, »selbständig«, »vollständig«, »abgeschlossen« oder »gesättigt« zu sein. Damit begab er sich auf die Ebene der Metaphysik, insofern er versuchte, eine Erklärung des »Wesen des Begriffs« im Unterschied zum »Wesen des Gegenstandes« zu geben: 69 Als das Wesentliche für den Begriff sehe ich an, dass die Frage, ob etwas unter ihn falle, einen Sinn hat. »Christentum« z. B. wurde ich nur in dem Sinne einen Begriff nennen, wie es in dem Satze »diese Handlungsweise ist Christentum« gebraucht wird, nicht aber in dem Satze »das Christentum verbreitet sich weiter«. Der Begriff ist ungesättigt, indem er etwas fordert, was unter ihn falle: daher kann er nicht für sich allein bestehen. Dass nun Einzelnes unter ihn falle, ist ein beurteilbarer Inhalt, und der Begriff erscheint dabei als Prädikat und ist immer prädikativ.

Erst die metaphysische Wesensbestimmung des Begriffs gegenüber dem Gegenstand hat zur Konsequenz, dass ein Begriff niemals – in keinem Kontext – wie ein Gegenstand behandelt werden kann. Frege schreibt hierzu 1903: 70 Es ist klar, dass wir den Begriff nicht selbständig wie einen Gegenstand hinstellen können, sondern er kann nur in Verbindung vorkommen. Man kann sagen, dass er in ihr unterschieden, aber nicht aus ihr abgeschieden werden könne. Alle scheinbaren Widersprüche, auf auf die man hier stoßen kann., entspringen daraus, dass man den Begriff seiner ungesättigten Natur zuwider als einen Gegenstand behandeln will, wozu uns allerdings die Natur unserer Sprache zuweilen nötigt. Aber dies ist nur sprachlich.

Doch was genau ist gemeint, wenn Frege behauptet, dass ein Begriff im Gegensatz zu einem Gegenstand wesentlich nach etwas verlange, das unter ihn falle? Inwiefern ist dies eine Wesensbestimmung? Und gibt es einen Zusammenhang zwischen seiner Auffassung vom Wesen des Begriffs und seiner Idee der Logik überhaupt? 69 70

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WB: 163. GLG I: 270, Anm. 5.

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Zunächst ist festzuhalten, dass Frege – wie schon aus seiner Idee logischer Klarheit im Sinne einer ja-nein Fixierung von Begriffen ersichtlich wurde – auf der Zweiwertigkeit seiner Logik bestand. Wahrheit und Falschheit betrachtete er als nicht-graduierbar 71 Gleichzeitig steht der Begriff der Wahrheit offenbar im Mittelpunkt in Freges Logik; im Gegensatz zur Psychologie oder irgendeiner anderen Wissenschaft ist Wahrheit überhaupt – und nicht nur diese oder jene Wahrheiten – Frege zufolge ihr unmittelbares und eigentliches Untersuchungsobjekt. 72 Nach Freges Auffassung »wäre [es] wohl nicht unrichtig zu sagen, dass die logischen Gesetze nichts anderes sind als eine Entwicklung des Inhaltes des Wortes »wahr«. 73 Insofern sind aber Gedanken für die Logik auch nur insoweit interessant, als sie wahr oder falsch sein können. Ist dies nun der Fall, dann müssen Gedanken, die weder wahr noch falsch sind, gemäß dem Bivalenzprinzip aus dem Bereich der Logik ausgegrenzt werden. Solche Gedanken bezeichnet Frege denn auch als »Scheingedanken«: 74 Um die Scheingedanken braucht sich die Logik nicht zu kümmern, wie auch der Pysiker, der das Gewitter erforschen will, das Bühnengewitter unbeachtet lassen wird. Wenn im folgenden von Gedanken die Rede sein wird, so sollen darunter die eigentlichen Gedanken verstanden werden, die entweder wahr oder falsch sind.

Dass ein Denkinhalt sich als Scheingedanke entpuppt, kann nun drei Ursachen haben: Entweder er wird als singuläre Aussage über einen Gegenstand aufgefasst, den es gar nicht gibt, oder er bestimmt als singuläre Aussage ihren Gegenstand nicht eindeutig (es gibt mehr als einen Gegenstand, auf den das im Gedanken enthaltene Identifikationskriterium zutrifft); oder er enthält (bzw. bezieht sich auf) einen vagen Begriff, bei dem nicht genau für jeden Gegenstand bestimmt ist, ob er unter ihn fällt oder nicht. Die ersten beiden KlarVgl. Ged 344: »Was nur halb wahr ist, ist unwahr. Die Logik verträgt kein Mehr oder Minder«; Log II 161: »Ein eigentlicher Gedanke ist entweder wahr oder falsch. Wenn wir über ihn urteilen, so erkennen wir ihn entweder als wahr an oder wir verwerfen ihn als falsch«, KÜL 214: In der Logik gilt: jeder Gedanke ist entweder wahr oder falsch, tertium non datur.« 72 Vgl. Log I: 3. 73 Log I: 3. 74 Log II: 142; vgl. auch KÜL: 214: In Sage und Dichtung kommen Gedanken vor, die weder wahr noch falsch sind. Mit diesen hat die Logik nichts zu tun. In der Logik gilt: jeder Gedanke ist entweder wahr oder falsch, tertium non datur. 71

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heitsprobleme lassen sich nun – wie wir sahen – auf das letztere, das Problem der unscharfen Begriffe, zurückführen. Denn obwohl der gesättigte Teil eines Gedankens oder einer Aussage, der auf einen Gegenstand hindeutet, selbst kein Individualbegriff ist, lässt er sich aus einem solchen logisch herleiten. Es ist nun aus diesem Grund, dass die Forderung nach der scharfen Begrenzung der Begriffe Freges Werk von der Früh- bis in die Spätphase hinein durchzieht. Begriffe, die die Bedingung der scharfen Begrenzung nicht erfüllen, so schreibt Frege auch 1891, können »in der Logik nicht als Begriff anerkannt werden, ebensowenig wie in der Geometrie etwas als Punkt anerkannt werden kann, was nicht ausdehnungslos ist, weil es sonst unmöglich wäre, die geometrischen Axiome aufzustellen« 75 . Analog wäre es ohne das Erfülltsein der Forderung nach der scharfen Begrenzung der Begriffe, so Frege, »unmöglich, logische Gesetze von ihnen aufzustellen« 76 . Diese Unmöglichkeit hängt freilich von den Erwartungen ab, die an logische Gesetze gestellt werden, und vom Inhalt dieser Gesetze selbst. Frege hatte entdeckt, dass nur wenn Begriffe klar begrenzt sind im o. g. Sinne, sie zur Formulierung exakter Zahlangaben und arithmetischer Beweise tauglich sein können. Die Logik sollte daher für die Exaktheit sorgen, die nötig ist, um die Arithmetik auf einen bestimmten Gegenstandsbereich prinzipiell so anzuwenden, dass eindeutige Ergebnisse – etwa die genaue Anzahl der Kahlköpfigen zu einem bestimmten Zeitpunkt – erzielt werden können. Aus genau diesem Grund ist demnach ein unscharfer Begriff kein Begriff im Sinne der Fregeschen Logik, oder anders ausdrückt: Seine Schärfe ist ein logisches Wesensmerkmal des Begriffs im Sinne von Freges Logik, ebenso wie dasjenige seiner Ungesättigheit. Freges Exkurs in die metaphysischen Dimensionen des Begriffs scheint daher aber letzlich wiederum durch das Interesse motiviert, der Idee logischer Klarheit und Zählbarkeit einen konkreten Sinn zu verleihen. Was hierbei vorausgesetzt wird, ist die Unmöglichkeit von Begriffen, die nicht im Sinne der Logik scharf begrenzt sind, für die also nicht genau bestimmt werden könnte, welche Gegenstände bzw. Begriffe niedrigerer Stufe unter sie fallen und welche nicht. Die Ungesättigtheit von Begriffen legt sich als metaphysche Konsequenz aus dieser Forderung nahe; denn nur unter ihrer Bedingung würde 75 76

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T: 122. FB: 31.

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die Frage nach der scharfen Begrenztheit ihres Umfanges überhaupt Sinn machen – eine Frage, die ganz unabhängig von der nach der Einheit eines Urteils oder Gedankens ist. 1.2.5. Das Denkbare und das Zählbare Wir haben nun gesehen, inwiefern Freges Vorstellungen vom Wesen des Begriffs und von logischer Klarheit offenbar durch Überlegungen zur Bedingung der Möglichkeit des Zählens von Gegenständen des Denkens motiviert waren. Ohne scharfe Begriffe sind Gegenstände nicht zählbar, weil sie nicht einmal eindeutig bestimmbar, von allen anderen unterscheidbar wären. Nur unter der Voraussetzung, dass Gegenstände in diesem Sinne begrifflich denkbar sind – d. h. in dem Sinne, dass man sie unter scharf begrenzte Begriffe ordnen kann – gilt demnach für Frege die Annahme ihrer prinzipiellen Zählbarkeit. Indem Frege nun die Scheingedanken aus dem Bereich der Logik ausschließt, beschränkt er diesen somit auf den Bereich des Zählbaren. Im Rahmen seiner frühen Semantik gar, in der er noch nicht zwischen Sinn und Bedeutung unterschieden hatte, kann es nicht einmal Scheingedanken geben; vielmehr sind Sätze entweder als wahrheitsdefinit oder als vollkommen sinnleer anzusehen. 77 Diese Überlegungen erwiesen sich nun als äußerst wichtig, wenn wir ein Argument betrachten, mit dessen Hilfe Frege den logischen Charakter der Arithmetik philosophisch plausibel zu machen suchte. Ich möchte dieses Argument als Freges »Meister-Argument« für die logische Natur arithmetischer Gesetze bezeichnen. In ihm geht es im Wesentlichen um die universelle Anwendbarkeit der arithmetischen im Unterschied zu den geometrischen Gesetzen. 78 Das Argument verläuft in zwei wesentlichen Schritten. Die erste Prämisse ist, dass die Logik sich auf alles Denkbare beziehe. Die zweite Prämisse ist, dass dieser Bereich alles Denkbaren umfassender ist als der der Geometrie – dass wir also Dinge denken können, die nicht räumlich sind, und, wie es etwa die Entwicklung nicht-euklidischer Geometrien gezeigt hat, sogar ohne logischen Widerspruch das GeVgl. GLA: § 97. Vgl. zu diesem Argument Freges für den Logizismus und den Gegensatz von Geometrie und Arithmetik auch Currie 1982: 33 ff., Weiner 1986: 15, Tappenden 1995, die es jedoch in anderen Zusammenhängen behandeln als ich es hier tue.

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genteil der geometrischen Axiome annehmen können. Hieraus folgt nun im ersten Schritt, was Frege die Unabhängigkeit der geometrischen Axiome von den logischen Urgesetzen nennt, womit er hier wohl einfach meint, dass die Falschheit der ersteren mit der Wahrheit der letzteren konsistent ist: 79 Die Erfahrungssätze gelten für die physische oder psychologische Wirklichkeit, die geometrischen Wahrheiten beherrschen das Gebiet des räumlich Anschaulichen, mag es nun Wirklichkeit oder Erzeugnis der Einbildungskraft sein. Die tollsten Fieberphantasien, die kühnsten Erfindungen der Sage. und der Dichter, welche Tiere reden, Gestirne still stehen lassen, aus Steinen Menschen und aus Menschen Bäume machen und lehren, wie man sich am eignen Schöpfe aus dem Sumpf zieht, sie sind doch, sofern sie anschaulich bleiben, an die Axiome der Geometrie gebunden. Von diesen kann nur das begriffliche Denken in gewisser Weise loskommen, wenn es etwa einen Raum von vier Dimensionen oder von positivem Krümmungsmaße annimmt. Solche Betrachtungen sind durchaus nicht unnütz; aber sie verlassen den Boden der Anschauung. Wenn man diese auch dabei zu Hilfe nimmt, so ist es doch immer die Anschauung des Euklidischen Raumes, des einzigen, von dessen Gebilden wir eine haben. Sie wird dann nur nicht so, wie sie ist, sondern symbolisch für etwas anderes genommen: man nennt z. B. gerade oder eben, was man doch als Krümmung anschaut. Für das begriffliche Denken kann man immerhin von diesem oder jenem geometrischen Axiome das Gegenteil annehmen, ohne daß man in Widersprüche mit sich selbst verwikkelt wird, und wenn man Schlußfolgerungen aus solchen der Anschauung widerstreitenden Annahmen zieht.

Frege geht dann im zweiten Schritt über zu den Zahlgesetzen und stellt fest, dass eine solche logische Unabhängigkeit hier nicht vorhanden ist – die Falschheit eines Zahlgesetzes anzunehmen, käme schon einem logischen Widerspruch gleich, da alles, was denkbar ist, auch zählbar sein müsse. Hieraus folgt nun für Frege, dass die Zahlgesetze im o. g. Sinne von den logischen Urgesetzen abhängig sind, dass man also ihre Falschheit nicht ohne logischen Widerspruch annehmen könne: 80 Kann man dasselbe von den Grundsätzen der Zahlenwissenschaft sagen? Stürzt nicht alles in Verwirrung, wenn man einen von diesen leugnen wollte? Wäre dann noch Denken möglich? Liegt nicht der Grund der Arithmetik tiefer als der alles Erfahrungswissens, tiefer selbst als der der Geometrie? Die arithmetischen Wahrheiten beherrschen das Gebiet des Zählbaren. Dies 79 80

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GLA: § 14. ebd.

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ist das umfassendste; denn nicht nur das Wirkliche, nicht nur das Anschauliche gehört ihm an, sondern alles Denkbare. Sollten also nicht die Gesetze der Zahlen mit denen des Denkens in innigster Verbindung stehen?

Frege ist von diesem auf der Universalität bzw. »umfassenden Anwendbarkeit« der Arithmetik gegenüber der Geometrie beruhenden Argument so begeistert, dass er es ein Jahr später in einem Vortrag vor der Jenaer Gesellschaft für Medizin und Naturwissenschaft noch einmal in präziserer Form wiederholt: 81 Von allen den Gründen, welche für diese Ansicht [den Logizismus, D. L.] sprechen, will ich nur einen hier anführen, der auf der umfassenden Anwendbarkeit der arithmetischen Lehren beruht. In der Tat kann man so ziemlich alles zählen, was Gegenstand des Denkens werden kann: Ideales so gut wie Reales, Begriffe wie Dinge, Zeitliches so gut wie Räumliches, Ereignisse wie Körper, Methoden so gut wie Leitsätze; auch die Zahlen selbst kann man wieder zählen. […] Daraus ist doch wohl so viel zu entnehmen, dass die Grundsätze, auf denen sich die Arithmetik aufbaut, sich nicht auf ein engeres Gebiet beziehen dürfen, dessen Eigentümlichkeit sie so zum Ausdruck bringen wie die Axiome der Geometrie die des Räumlichen: sondern jene Grundsätze müssen sich auf alles Denkbare erstrecken; und einen solchen allgemeinen Satz zählt man doch wohl mit Recht der Logik zu.

Frege setzt hier voraus, dass jeder allgemeine Satz, der sich auf alles Denkbare erstreckt, zur Logik gehören müsse. Da die arithmetischen Sätze sich auf alles Denkbare beziehen, müssen daher auch sie zur Logik gehören. Auf den ersten Blick scheint dieses Argument nun eine gewisse intuitive Überzeugungskraft zu besitzen – jedenfalls sofern wir die Verbindung von Logik und Denkbarkeit akzeptieren, die Frege hier voraussetzt. Und doch wird es vielen von Freges Zeitgenossen, egal welcher Ausrichtung, eher naiv vorgekommen sein, zeugt es doch von einer weitgehenden Unkenntnis – oder zumindest stillschweigenden Übergehung – einschlägiger, traditioneller philosophischer Literatur zum Thema »Denkbarkeit« und zum Begriff der Logik selbst. Frege geht davon aus, dass die Logik die Aufgabe habe, »nur das Allgemeinste, was für alle Gebiete des Denkens Geltung hat, anzugeben«. 82 In dieser Hinsicht scheint seine Logik demnach die Funktion von Kants allgemeiner bzw. formaler reiner Logik (Elementarlogik) zu übernehmen. Die reine Analytik nämlich sollte nach Kant »die schlechthin notwendigen Regeln des Denkens« enthalten, »ohne 81 82

FTA: 108. Log II: 139. A

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welche gar kein Gebrauch des Verstandes stattfindet«, »ungeachtet der Verschiedenheit der Gegenstände, auf welche er gerichtet sein mag«. 83 Von der allgemeinen oder Elementarlogik unterschied Kant die Logiken des »besonderen Verstandesgebrauchs«, welche die Regeln enthalten sollen, »über eine gewisse Art von Gegenständen richtig zu denken«. Letztere bezeichnet Kant auch als »Organon dieser oder jener Wissenschaft«. 84 Für Kant reichten allerdings die Regeln der reinen Logik noch nicht als Bedingung der Möglichkeit des Wahrseins von Urteilen hin. Sie kann lediglich die möglichen Formen des Denkens eines Gegenstandes angeben, nicht aber erklären, wie es möglich sein soll, einen Gegenstand als solchen zu erkennen, wiederzuerkennen und zu identifizieren. Insofern bezeichnete Kant die reine Logik auch als formale Logik, da sie »von allem Inhalt der Erkenntnis« abstrahiert und »erwartet, dass ihr anderwärts, woher es auch sei, Vorstellungen gegeben werden, um diese zuerst in Begriffe zu verwandeln, welches analytisch zugeht«. 85 Kant schreibt: »Wenn Wahrheit in der Übereinstimmung einer Erkenntnis mit ihrem Gegenstand besteht, so muss dadurch dieser Gegenstand von anderen unterschieden sein; denn eine Erkenntnis ist falsch, wenn sie mit dem Gegenstand, worauf sie bezogen wird, nicht übereinstimmt.« 86 Kants Erkenntnisbegriff ist hier offensichtlich ein anderer als derjenige, der in der analytischen Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts diskutiert worden ist 87 ; denn er schließt noch nicht den Begriff der Wahrheit ein. Vielmehr besagt »Erkenntnis« bei Kant soviel wie »objektive Realität« eines Begriffs oder Urteils, als dessen Fähigkeit, wahr oder falsch zu sein oder in wahren bzw. falschen Urteilen zur Anwendung kommen zu können. 88 Kant setzt ferner voraus, dass ohne das Vermögen der Anschauung die Bestimmung eines Gegenstandes in einer Erkenntnis nicht möglich ist; denn er definiert ein KrV: A 52 B 76. Ebd. 85 KrV: A 76/B 102. 86 KrV: A 58, B 83. 87 Vgl. dazu auch Wolff 1995: 206, Anm. 34, der allerdings keine positive Bestimmung dieses Erkenntnisbegriffs zu geben versucht. Wolff unterscheidet auch zwischen zwei Bedeutungen des Ausdrucks »Erkenntnis« bei Kant, dem oben charakterisierten und einem, der wie der heute übliche Wahrheit impliziert. M. E. reserviert Kant für Erkenntnis in diesem letzteren Sinne den Ausdruck »Wissen« – so etwa in der Methodenlehre. 88 Zu dem hier gemeinten Begriff der objektiven Realität vgl. B xxvi. 83 84

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Objekt geradezu als »das, in dessen Begriff das Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung vereinigt ist« 89 . Hieraus aber ergibt sich bereits, dass die reine, allgemeine Analytik bei Kant – da sie sich lediglich auf die notwendigen Formen des Denkens, nicht aber auf die zur Erkennbarkeit von Gegenständen notwendigen inhaltlichen Gesetze des Möglichkeit des Denkens bezieht – gar nicht allein hinreichen würde, um zu erklären, wie ein Gegenstand als solcher erkennbar sein kann. Dies bleibt der transzendentalen Analytik überlassen, der es um die a priori bestimmbaren Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis und ihren Gegenständen – d. h. um die Möglichkeit von Inhalten des Denkens überhaupt – geht. In gewisser Weise umfasst die transzendentale Logik demnach u. a. so etwas wie eine Theorie der Bedingungen der Möglichkeit einer Bezugnahme auf Gegenstände, deren sprachliche Variante wiederum in etwa eine philosophische Semantik wäre. 90 Bei Frege würden sich demnach Überreste einer transzendentalen Logik vor allem in seiner Theorie von Sinn und Bedeutung finden; eine wirkliche Unterscheidung zwischen beiden Arten von Logik finden wir jedoch bei ihm nicht. Vielmehr finden wir bei ihm Elemente oder Funktionen beider Begriffe von Logik miteinander vermischt. Erstens handelt nach Frege die allgemeine Logik wesentlich von Gesetzen – nämlich den Gesetzen des Wahrseins überhaupt – und unterscheidet sich hierin bereits maßgeblich von Kantischen reinen Analytik, deren Regeln für sich genommen, d.h. unabhängig von ihren Anwendungen, keinen Wahrheitsgehalt haben und somit noch gar keine Gesetze im eigentlichen Sinne darstellen. 91 Es ist vielmehr bei Kant erst die transzendentale Analytik, in der allgemeine Gesetze bestimmt werden, die die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung überhaupt und somit von Gegenstandserkenntnis in Kants Sinne zum Ausdruck bringen. Zweitens wird erst die transzendentale Analytik von Kant als »Logik der Wahrheit« betrachtet, weil sie erst die Prinzipien enthalte, »ohne welche überall kein Gegenstand gedacht werden kann« 92 . Es ist also für Kant offenbar erst die transzendentale Analytik, in denen die Gesetze der Denkbarkeit eines Gegenstandes überhaupt formuliert werden, während die reine Logik sich bei ihm auf einen weiteren Bereich erstreckt. 89 90 91 92

KrV: B 137. Vgl. dazu auch MacFarlane 2000: 4.1.1. sowie MacFarlane 2002. Hierauf weist auch Wolff hin; vgl. Wolff 1995: 222 f. KrV: A 62/B 87. A

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Unter »Denkbarkeit« scheint Kant freilich in diesem Zusammenhang nur wieder die Wahrheitsfähigkeit von Urteilen zu verstehen bzw. die Erkennbarkeit von Gegenständen im o.g. Sinne des Ausdrucks »Erkennbarkeit«. Denn er schreibt als Begründung für die Einführung der Bezeichnung »Logik der Wahrheit« für die transzendentale Analytik auch: 93 »Denn ihr [der transzendentalen Analytik; D. L.] kann keine Erkenntnis widersprechen, ohne daß sie zugleich allen Inhalt verlöre, d. i. alle Beziehung auf irgendein Objekt, mithin alle Wahrheit.«

Wir müssen aber demnach bei Kant zwei Begriffe der Denkbarkeit unterscheiden: (1) Denkbarkeit im Sinne von Erkennbarkeit, und (2) Denkbarkeit in einem weiteren Sinne, der den der Erkennbarkeit nicht einschließt und der lediglich den Regeln der reinen Logik unterworfen ist. Denn es ist ein wesentliches Resultat von Kants Kritik der reinen Vernunft, dass Dinge denkbar sind, die sich nicht quantitativ bestimmen lassen. Während für Kant mögliche sinnliche Anschauung und mögliche Erfahrung notwendig für Erkenntnis in seinem Sinne ist – d.h. für das Denken eines Gegenstandes im ersten Sinne –, sind sie nicht notwendig für das Denken eines Gegenstandes im zweiten Sinne des Wortes. Da Sinnlichkeit und Verstand für Kant unabhängige Erkenntnisvermögen sind 94 kann sich der Verstand, auf der Basis der Kategorien, weiter erstrecken als die Sinnlichkeit – wenngleich er sich dann nur noch in spekulativem Denken ergeht, das keine Erkenntnisgrundlage mehr hat, da ihm unter dieser Bedingung die korrespondierenden raumzeitlichen Anschauungen fehlen. Kant schreibt diesbezüglich: 95 Sich einen Gegenstand denken, und einen Gegenstand erkennen, ist also nicht einerlei. Zum Erkenntnisse gehören nämlich zwei Stücke: erstlich der Begriff, dadurch überhaupt ein Gegenstand gedacht wird (die Kategorie), und zweitens die Anschauung, dadurch er gegeben wird; denn könnte dem Begriffe die korrespondierende Anschauung gar nicht gegeben werden, so wäre er ein Gedanke der Form nach, aber ohne allen Gegenstand, und durch ihn gar keine Erkenntnis von irgendeinem Dinge möglich; weil es, soviel ich wüsste, nichts gäbe, noch geben könnte, worauf mein Gedanke angewandt werden könne. KrV: A 62 f./B 87. Obwohl bereits er spkulierte, dass sie möglicherweise »einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel entspringen« (vgl. KrV: A 15, B 29). 95 KrV: B 146. 93 94

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Man kann sagen, dass die Möglichkeit, sich einen Gegenstand zu denken ohne ihn erkennen (eindeutig bestimmen) zu können, ein charakteristischer und integraler Bestandteil von Kants Philosophie ist. Ohne sie nämlich hätte er seine berühmte Unterscheidung zwischen Ding an sich (Noumenon) und Erscheinung (Phaenomenon) niemals vornehmen können, die sowohl seiner theoretischen als auch seiner praktischen Philosophie zugrundeliegt. Ein Noumenon nämlich ist nach Kant ein Ding, »welches gar nicht als Gegenstand der Sinne, sondern als ein Ding an sich selbst (lediglich durch den reinen Verstand) gedacht werden soll« 96 . Ein solches Ding an sich selbst müsste insofern, um für uns zu einem Erkenntnisgegenstand zu werden, dem Verstand unmittelbar, d. h. unabhängig von der Sinnlichkeit, gegeben sein. Hierfür jedoch wäre eine Art »intellektuelle Anschauung« notwendig; eine Anschauung nicht-sinnlicher Art, die vom Verstand selbst hervorgebracht wird. 97 Da der menschliche Verstand Kant zufolge hierzu nicht in der Lage ist, ist ein Noumenon für uns zwar denkbar, aber nicht erkennbar, weil ihm die anschaulichen Voraussetzungen einer eindeutigen Bestimmung fehlen. Dies bedeutet auch wiederum, dass es genaugenommen nicht zählbar ist, weil es aufgrund fehlender Anschaulichkeit durch die Verstandeskategorie der Einheit nicht eindeutig als ein numerisch-identischer Gegenstand bestimmt, d. h. von anderen Dingen unterschieden werden kann. 98 Für Kant erstreckt sich daher die allgemeine reine Analytik auch auf Urteile oder Gedanken, die in dem Sinne leer sind, dass sie keinen Bezug zu einem möglichen Gegenstand der Erfahrung haben und somit auch keinen Bezug zur Wahrheit oder Falschheit. Wenn wir solche Gedanken oder Urteile in etwa analog zu Freges Scheingedanken verstehen, so bezieht sich die Kantische reine Analytik klarerweise auch auf so etwas Scheingedanken, die Frege hingegen aus seiner Logik ausklammerte. Während also Kants formale Logik zwar in syntaktischer Hinsicht wesentlich ärmer ist als Freges, 99 ist sie im Hinblick auf ihren prinzipiellen Anwendungsbereich wesentlich umfassender; sie enthält nicht nur Regeln des Denkens von Zählbarem, sondern auch von Nicht-Zählbarem. Und obwohl die Mathematik in gewisser Weise auch für Kant allgemeine Verstandesregeln enthält, 96 97 98 99

KrV: A 254, B 310. Vgl. KrV: B 145. Vgl. dazu die Paralogismen der reinen Vernunft, KrV: A 344 ff./B 403 ff. Vgl. dazu ausführlicher Friedmann 1992. A

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die für die Erkenntnis eines Gegenstandes notwendig sind, ist ihre Allgemeinheit noch immer von derjenigen der reinen, allgemeinen Logik zu unterscheiden, die sich auch auf Urteile bzw. Begriffe erstreckt, die im Hinblick auf die Möglichkeit von Wahrheit oder Wirklichkeitsbezug leer sind. 100 Dieses Verhältnis zwischen den beiden Begriffen der Denkbarkeit, die in Kants Logik eine Rolle spielen, kommt auch in folgendem zum Ausdruck. Während die reine Analytik bei Kant im Hinblick auf die bloße Form des Denkens zweiwertig ist, erweist sich die Urteilstafel der transzendentalen Analytik als dreiwertig. Vom Standpunkt der elementaren Logik aus nimmt etwa das Urteil »Die Seele ist unsterblich« eine bejahende Form an; vom Standpunkt der transzendentalen Logik aus ist es gewissermaßen unbestimmt, weil es prinzipiell unmöglich ist, eine eindeutige positive Bestimmung des Gegenstandes Seele zu liefern. So verfügt Kant im Rahmen seiner transzendentalen Logik allein über eine dreiwertige Kategorie der Qualität: neben der Bejahung und der Verneinung findet sich hier noch die Unendlichkeit, die auf Urteile angewandt wird, die einen nur negativ, d.h. unvollständig bestimmbaren Subjektbegriff enthalten: 101 Ebenso müssen in einer transzendentalen Logik unendliche Urteile von bejahenden noch unterschieden werden, wenn sie gleich in der allgemeinen Logik jenen mit Recht beigezählt sind und kein besonderes Glied der Einteilung ausmachen. Diese nämlich abstrahiert von allem Inhalt des Prädikats (ob es gleich verneinend ist) und sieht nur darauf, ob dasselbe dem Subjekt beigelegt, oder ihm entgegengesetzt werde. Jene aber betrachtet das Urteil auch nach dem Werte oder Inhalt dieser logischen Bejahung vermittelst eines bloß verneinenden Prädikats, und was diese in Ansehung des gesamten Erkenntnisses für einen Gewinn verschafft. Hätte ich von der Seele gesagt, sie ist nicht sterblich, so hätte ich durch ein verneinendes Urteil wenigstens einen Irrtum abgehalten. Nun habe ich durch den Satz: die Seele ist nicht sterblich, zwar der logischen Form nach wirklich bejaht, indem ich die Seele in den unbeschränkten Umfang der nichtsterbenden Wesen setze. Weil nun von dem ganzen Umfange möglicher Wesen das Sterbliche einen Teil enthält, das Nichtsterbende aber den anderen, so ist durch meinen Satz nichts anderes gesagt, als dass die Seele eines von der unendlichen Menge Dinge sei, die übrigbleiben, wenn ich das Sterbliche insgesamt wegnehme. Dadurch aber wird nur die unendliche Sphäre alles Möglichen insoweit beschränkt, daß 100 Vgl. zum Unterschied zwischen der Allgemeinheit von Arithmetik und formaler Logik bei Kant auch die sehr interessante Diskussion in MacFarlane 2000: 4.1.2. 101 KrV: A 71 ff, B 97 f.

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das Sterbliche davon abgetrennt, und in dem übrigen Umfang ihres Raums die Seele gesetzt wird. Dieser Raum bleibt aber bei dieser Ausnahme noch immer unendlich, und können noch mehrere Teile desselben weggenommen werden, ohne dass darum der Begriff von der Seele im mindesten wächst, und bejahend bestimmt wird. Diese unendlichen Urteile also in Ansehung des logischen Umfanges sind wirklich bloß beschränkend in Ansehung des Inhalts der Erkenntnis überhaupt[…]

Wir sehen hier, dass die Subkategorie der Unendlichkeit, d.h. der nur negativen Bestimmung eines Begriffs durch ein Urteil, welche nur für die transzendentale Logik – für die Theorie der Reichweite unserer Erkenntnisse – eine Rolle spielt, im Rahmen der (klassischen) Elementarlogik auf die Subkategorie der Bejahung zurückgeführt wird. Unter »denkbar« verstand nun Frege offenbar im Unterschied zu Kant bereits die Eigenschaft eines Gegenstandes, als solcher eindeutig identifizierbar, wiedererkennbar und von allen anderen unterscheidbar zu sein. Denn wie wir oben sahen, findet Frege es offenbar einleuchtend, dass alles was denkbar ist, auch zählbar sein müsse – und was Freges Begriff der Zählbarkeit im Hinblick auf logische Klarheit und scharfe Begrenzheit von Begriffen impliziert, haben wir vorhin bereits gesehen. Dieser Begriff der Denkbarkeit nun entspricht nicht dem der Denkbarkeit im zweiten Sinne, sondern vielmehr der Erkennbarkeit eines Gegenstandes, d. h. dem der Denkbarkeit im ersten Sinne bei Kant. Hieraus ergibt sich nun folgendes im Hinblick auf Freges Meisterargument. Freges erste Prämisse war, dass alles, was denkbar ist auch zählbar sein müsse. Denkbarkeit bedeutete im Rahmen seiner Logik, dass der betreffende Gegenstand eindeutig durch ein Kennzeichen der Wiedererkennung bestimmt sowie unter einen scharf umrissenen Begriff subsumiert werden kann – dass er demnach von Kants Terminologie bereits als eindeutig identifizierbarer Gegenstand erfasst ist. Ebenso setzt die Zählbarkeit eines Gegenstandes des Denkens voraus, dass er eindeutig bestimmbar und unter scharf begrenzte Begriffe subsumierbar ist – nur in diesem Fall könnte er durch eine Zählung überhaupt erfasst werden. Genaugenommen versteht sich somit die Umkehrung der Prämisse »Alles Denkbare ist zählbar« gewissermaßen von selbst – alles Zählbare ist denkbar. Während nun Kant sicherlich dieser letzteren These zugestimmt hätte, trifft die erstere nach seinem Verständnis von Denkbarkeit nicht zu. Indem Frege in seinem Argument für die logische Natur der Arithmetik von einem Verständnis von Logik ausgeht, A

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dass wesentlich mit dem der Arithmetik übereinstimmt – beide sollen sich auf alles Denkbare erstrecken und was immer sich auf alles Denkbare erstreckt, gehört der Logik an – begeht er offenbar eine petitio principii gegenüber den Kantianern. Diese nämlich hätten keineswegs zugestimmt, dass die Arithmetik sich auf alles Denkbare in ihrem Sinne bezieht. Nur wenn man also Freges spezifischen, gewissermaßen transzendentallogisch angereicherten Begriff des Denkbaren voraussetzt und mit seiner Hilfe den Begriff der Logik bestimmt, gelangt man zu der Konklusion, dass die arithmetischen Gesetze logische Gesetze sein müssen, nicht hingegen unter Vorraussetzung von Kants schwächerem Begriff der Denkbarkeit.

1.3. Das Prinzip der Prioritt der Urteile vor den Begriffen Freges Theorie der Begriffsbildung, so hatten wir gesehen, beruhte auf dem Prinzip der multiplen Zerlegungsweisen von Urteilsinhalten. Ein allgemeineres Prinzip, das dem letzteren wohl noch zugrundeliegt, aber von Frege nicht wirklich von ihm unterschieden wird, ist in der Literatur als das Prinzip der Priorität der Urteile vor den Begriffen bezeichnet worden. 102 Frege schreibt im Zusammenhang seiner Auseinandersetzung mit Booles Logik (die Unterschiede zwischen beiden hervorhebend): 103 Im Gegensatz zu Boole gehe ich von den Urteilen und deren Inhalten statt von den Begriffen aus. Das genau definierte hypothetische Verhältnis beurteilbarer Inhalte hat für die Grundlegung meiner Begriffsschrift eine ähnliche Bedeutung wie die Umfangsgleichheit der Begriffe für die boolesche Logik. Das Bilden der Begriffe lasse ich erst aus den Urteilen hervorgehen. […] Statt also das Urteil aus einem Einzeldinge als Subjecte mit einem schon vorher gebildeten Begriffe als Prädicate zusammen zu fügen, lassen wir umgekehrt den beurtheilbaren Inhalt zerfallen und gewinnen so den Begriff. Allerdings muss der Ausdruck des beurtheilbaren Inhaltes, um so zerfallen zu können, schon in sich gegliedert sein. Man kann daraus schliessen, dass mindestens die nicht weiter zerlegbaren Eigenschaften und Beziehungen eigne einfache Bezeichnungen haben müssen. Daraus folgt aber nicht, dass losgelöst von den Dingen die Vorstellungen dieser Eigenschaften und Beziehun102 103

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Vgl. Bell 1979, Sluga 1980. BRL: 17, 19.

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gen gebildet werden; sondern sie entstehen zugleich mit dem ersten Urteile, durch das sie Dingen zugeschrieben werden.

Frege macht hier sehr deutlich, dass Begriffen (und Beziehungen) ontologisch gesehen auf den Urteilen beruht, in denen sie Gegenständen zugeschrieben werden. Die Urteilsinhalte sind für Frege zugleich auch logisch grundlegender als ihre Bestandteile, insofern diese nur aufgrund der Wahrheitsfähigkeit der ersteren sowie ihrer logischen Beziehungen zu anderen Urteilsinhalten überhaupt eindeutig bestimmt werden können. Die Priorität der Urteile vor den Begriffen hängt daher wiederum mit der Forderung der scharfen Begrenztheit derselben zusammen, die sich aus dem Satz des ausgeschlossenen Dritten ergibt. Ob aber ein Gedanke wahr ist oder falsch, kann nur in einem Urteil bestimmt werden, und daher könnte man auch das Prioritätsprinzip geradezu als Konsequenz aus der Forderung der scharfen Begrenztheit der Begriffe betrachten. Dem Prioritätsprinzip legt Frege offenbar eine These über die Unselbständigkeit der Begriffe gegenüber den Gegenständen zugrunde. In seinem bereits erwähnten Brief an Marty (oder Stumpf) schreibt er: »Ich glaube nun nicht, dass das Bilden der Begriffe dem Urteilen vorausgehen könne, weil das ein selbständiges Bestehen des Begriffes voraussetzte, sondern ich denke den Begriff entstanden durch Zerfallen eines beurteilbaren Inhaltes.« 104 Anders gefasst lautet diese Erklärung: Weil (oder insofern) Begriffe unselbständig sind, kann ihre Bildung dem Urteilen nicht vorausgehen. Man muss sich hier fragen, ob Frege nicht mit »unselbständig« hier dasselbe meint wie anderswo mit »ungesättigt«, oder ob es sich vielmehr bei der These der Unselbständigkeit von Begriffen um eine zusätzliche Wesensbestimmung handelt. M. a. W, will Frege hier letztlich die Prioritätsthese durch das wesentliche Ungesättigtsein von Begriffen erklären? 105 Augenfällig ist, dass Frege in Booles rechnende Logik den Begriff der Unselbständigkeit auch in einem anderen Sinne verwendet, WB: 164. Dummett 1981: 281 und Sluga 1980: 92 leiten umgekehrt das Ungesättigtsein der Begriffe aus der Prioritätsthese ab; mir scheint jedoch, dass eine genauere Exegese von Freges Argumentationsweise dafür spricht, dass ersteres – wenn es überhaupt in einer logischen Verbindung zur Prioritätsthese steht – argumentativen Vorrang haben müsste vor letzterem, dass also jenes in der Reihenfolge des Beweises die Rolle einer (ihrerseits zu begründenden) Prämisse haben müsste und dieses eine daraus folgende Konklusion ist. 104 105

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und dass dieser zweite Sinn der einzige ist, der maßgeblich von dem des Ungesättigtseins abweicht. Dieser zweite Sinn von »unselbständig« scheint jedoch offensichtlich für eine Wesensbestimmung der Kategorie des Begriffs – gegenüber der des Gegenstandes – ungeeignet. So weist Frege hier darauf hin, man dürfe »auch die Einzeldinge nicht sämtlich als gegeben voraussetzen, da einige, wie z. B. die Zahlen, durch das Denken erst erzeugt« würden. 106 Auch in den Grundlagen wiederholt er, dass die Zahl »weder als selbständiger Gegenstand noch als Eigenschaft an einem äußern Dinge vorgestellt werden« könne, weil »sie weder etwas Sinnliches noch Eigenschaft eines äußeren Dinges ist«. 107 Somit schreibt Frege offenbar auch den abstrakten Gegenständen eine gewisse, aber offenbar andere Art von Unselbständigkeit zu, nämlich z. B. den Zahlen – die er als Begriffsumfänge konzipierte – und allen anderen Begriffumfängen. Der Ausdruck »selbständig« in diesem Sinne des Wortes scheint sich nur auf solche Gegenstände zu erstrecken, die sinnlich wahrnehmbar bzw, raumzeitlich gegeben sind – Gegenstände der materiellen Außenwelt. Dass er hierbei einen anderen Sinn von »selbständig« im Auge gehabt haben muss, wird deutlich, wenn wir beachten, dass er an anderer Stelle in den Grundlagen zumindest die Zahlwörter wieder als selbständige Gegenstände hinstellt – nämlich im Zusammenhang mit ihrer logischen Rolle in Wiedererkennungsurteilen. 108 Da ich keine dritte Verwendungsweise der Ausdrücke »unselbständig« und »selbständig« in Freges Schriften ausmachen kann, schließe ich, dass die Unselbständigkeit, durch die Frege seine Prioritätsthese und Auffassung von Begriffsbildung zu begründen sucht, von Frege ursprünglich als identisch aufgefasst wurde mit der wesentlichen Ungesättigtheit der Begriffe. Allerdings zeigt die weitere Entwicklung von Freges ursprünglicher Idee der Priorität der Urteile vor den Begriffen in seinen späteren Schriften, dass sie hier auch mit der zweiten oben unterschiedenen Bedeutung von »unselbständig« in Verbindung gebracht wird.

106 107 108

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BRL: 38. GLA: § 58. Vgl. GLA: § 62.

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1.3.1. Die Entwicklungen des Prioritätsprinzips In einem Brief an Jourdain aus dem Jahre 1910 findet sich nun jedoch die Prioritätsthese fast wortwörtlich wiederholt, aber diesmal für Klassen, d. h. abstrakte Gegenstände im engeren Sinne dieses Wortes erweitert, insofern deren Existenz nach Frege (scharf begrenzte) Begriffe voraussetze, deren Umfänge sie bilden: 109 Den calculus of judgments auf den calculus of concepts gründen, der eigentlich ein calculus of classes ist, das ist die richtige Ordnung auf den Kopf stellen: denn die Klassen sind etwas Abgeleitetes und können nur aus Begriffen (in meinem Sinne) gewonnen werden. Diese aber sind etwas Ursprüngliches, was in der Logik nicht entbehrt werden kann. Wir können eine Klasse nur dadurch bestimmen, dass wir die Eigenschaft angeben, die ein Gegenstand haben muss, um der Klasse anzugehören. Diese Eigenschaften aber sind die Merkmale eines Begriffs. Wir definiren einen Begriff und gehen von ihm zur Klasse über. Darum muss sich die Rechnung mit Klassen auf die Rechnung mit Begriffen gründen. Und die Rechnung mit Begriffen gründet sich selbst wieder auf die Rechnung mit Wahrheitswerthen.

Frege scheint hier demnach seine ursprüngliche Prioritätsthese über die logische Abhängigkeit der Begriffe von Urteilen im Zuge seiner Entwicklung einer Theorie abstrakter, logischer und mathematischer Gegenstände auch auf die Umfänge dieser Begriffe übertragen zu haben. Dies würde darauf hindeuten, dass zumindest zu diesem Zeitpunkt – der Brief an Jourdain stammt aus seiner mittleren Phase und behandelt Freges Kritik an Russells Logik – die These vom Ungesättigtsein der Begriffe im Unterschied zu den Gegenständen vielleicht nicht mehr als spezifischer Bestandteil der Prioritätsthese anzusehen ist. Denn da zu diesem Zeitpunkt Klassen oder Begriffsumfänge für Frege noch immer Gegenstände im logischen Sinne sind, erstreckt sich das Prioritätsprinzip offensichtlich nicht mehr nur auf Begriffe in Freges Sinne, sondern auch auf ›unselbständige‹ Gegenstände im zweiten Sinne – Gegenstände, deren Existenz sich vollständig aus Begriffen herleiten lässt. Wiederum 9 Jahre später erfolgt offenbar eine zusätzliche Erweiterung des Prioritätsprinzips in anderer Hinsicht. Frege fasst hier für Ludwig Darmstädter seine Auffassung von Logik folgendermaßen zusammen: 110 109 110

WB: 122. ALD: 273. A

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Das Eigenartige meiner Auffassung der Logik wird zunächst dadurch kenntlich, dass ich den Inhalt des Wortes »wahr« an die Spitze stelle, und dann dadurch, dass ich den Gedanken sogleich folgen lasse als dasjenige, bei dem Wahrsein überhaupt in Frage kommen kann. Ich gehe also nicht von den Begriffen aus und setze aus ihnen den Gedanken oder das Urteil zusammen, sondern ich gewinne die Gedankenteile durch Zerfällung des Gedankens. Hierdurch unterscheidet sich meine Begiffsschrift von ähnlichen Schöpfungen Leibnizens und seiner Nachfolger trotz des von mir vielleicht nicht glücklich gewählten Namens.

Die Art und Weise, wie Frege hier die philosophische Originalität seiner Logik beschreibt, einschließlich des historischen Vergleichs mit den »Schöpfungen Leibnizens und seiner Nachfolger« 111 erinnert an die Weise, wie er in seinen frühen Schriften die Prioritätsthese eingeführt hatte. 112 Frege überträgt nun seine eigenen vorhergehenden Versionen des Prioritätsprinzips – wonach erst die Begriffslogik, dann auch die Umfangslogik auf der Urteilslogik beruhe – in der obigen Passage von der Ebene der Klassen und Begriffe selbst auf die Ebene der Gedanken im Verhältnis zu ihren Teilen, wobei seine Rede vom Gewinnen von Gedankenteilen durch Zerlegung des Gedankens offenbar analog zu seiner früheren Rede vom Gewinnen von Begriffen aus Urteilen verläuft. Nicht alle Gedankenteile sind aber wohl als ungesättigt anzusehen, nämlich nicht all diejenigen, die »in eigentümlicher Weise« auf Gegenstände hindeuten. Somit erweist sich das Prioritätsprinzip in dieser letzten Version als ein Prinzip, das ausnahmslos auf Gesättigtes ebenso zutrifft wie auf Ungesättigtes. Prinzip, das aus-nahmslos auf Gesättigtes ebenso zutrifft wie auf Ungesättigtes. In seiner dritten Version bezieht sich das Prioritätsprinzip zuLeibniz hatte in seinen Neuen Abhandhungen über den menschlichen Verstand, mit deren grundlegenden Inhalten Frege vertraut war, die Auffassung vertreten, dass die »ausdrückliche Erkenntnis der Wahrheiten (tempore vel natura, d.h. der Zeit oder dem Wesen nach) später ist als die ausdrückliche Erkenntnis der Ideen, da die Natur der Wahrheiten von der Natur der Ideen abhängt, bevor man ausdrücklich die einen oder anderen (Wahrheiten; D. L.] ausbildet« (vgl. NA: I, 1, § 11). Unter den »Nachfolgern« versteht Frege hier offenbar wiederum die Booleaner; in Booles rechnende Logik war seine Einschätzung, dass »neuere englische und deutsche Mathematiker und Logiker wohl unabhängig von Leibniz auf denselben Gedanken gekommen« seien, vgl. BRL: 11. 112 In Booles rechnende Logik geht Frege bis auf Aristoteles zurück um zu demonstrieren, wie originell sein Prioritätsprinzip im Vergleich zur gesamten logischen Tradition ist, vgl. BRL: 16. 111

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dem offenbar auf Gedankenteile, und nicht – oder nicht unmittelbar – auf die Begriffe oder Gegenstände, auf die diese Gedankenteile bei korrekter Zerlegung hindeuten. Nun hängt die Identität von Begriffen und Gegenständen generell von der Bestimmtheit der Gedankenteile ab, die auf sie hinweisen, und d. h. von der Wahrheitsfähigkeit des Gedankens und seiner klaren logischen Zerlegbarkeit. Im Hinblick auf Gegenstände und Begriffe würde diese Version des Prioritätsprinzips somit auch gewissermaßen eine erkenntnistheoretischen Bedeutung erhalten. Es würde demnach in dieser dritten Version besagen, dass Gegenstände und Begriffe nur durch logische Zerlegung wahrheitsdefiniter Gedanken überhaupt im Denken genau bestimmt bzw. erkannt werden können. Zusammenfassend können wir also sagen, dass die Idee der Priorität der Urteile in Freges Logik und Erkenntnistheorie im wesentlichen zwei Thesen beinhaltet, von denen die erste die Bedingungen der Möglichkeit von Begriffen und – davon abgeleitet – deren Umfängen betrifft, die zweite hingegen die Bedingungen der Erkennbarkeit (Bestimmbarkeit) von Gegenständen und Begriffen im allgemeinen. Wir können somit zwei einander ergänzende Versionen des Prioritätsprinzips ausmachen: (PP1) Die Existenz von Begriffen und deren Umfängen setzt die Existenz der wahren und falschen Urteile voraus, in denen jene Begriffe Gegenständen des Denkens zu- oder abgesprochen werden. (PP2) Die Erkenntnis (Bestimmung) von Gegenständen oder Begriffen ist nur durch logische Analyse wahrheitsfähiger Gedanken möglich, wodurch wir erst Gedankenteile gewinnen, die auf diese Gegenstände und Begriffe hinweisen. PP2 scheint implizit wiederum ein drittes Prinzip PP3 zu enthalten, welches gewissermaßen die Einsichten von PP1 auf die Ebene der Gedanken überträgt: (PP3) Die Existenz logischer Gedankenteile hängt von der Existenz ganzer Gedanken ab, aus denen sie erst durch Zerlegung gewonnen werden. PP1 und PP3 erinnern an transzendentale Prinzipien, die die in der Natur eines Erkenntnissubjekts überhaupt gelegenen Bedingungen A

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der Möglichkeit abstrakter Gegenstände sowie Inhalte des Denkens charakterisiert. PP2 wiederum scheint keine Aussage über die Existenzbedingungen von Gegenständen des Denkens zu beinhalten, sondern lediglich eine über ihre Denkbarkeit bzw. die Möglichkeit unserer Bezugnahme auf sie. Beide Prinzipien zusammen lassen es zudem noch offen, in welchem Abhängigkeitsverhältnis nicht-abstrakte, raumzeitliche Ggenstände – Gegenstände sinnlicher Wahrnehmung etwa – zu den Gedanken stehen, die wir als rationale Wesen über sie fassen können. 1.3.2. Das Kontextprinzip und Freges erstes Argument gegen den Formalismus Nach meiner Auffassung liegt nun PP2 auch dem sogenannten »Kontextprinzip« zugrunde, das Frege bereits in den Grundlagen heranzieht, um den Begriff der Anzahl zu klären. Ich möchte kurz hierauf eingehen. Gemäß PP2 können wir nach Frege Gegenstände und Begriffe klar und eindeutig bestimmen nur, indem wir wahrheitsfähige Gedanken fassen und sie in logisch zulässiger Weise in Bestandteile zerlegen, sodass wir Gedankenteile bzw. begriffliche Inhalte erhalten, aufgrund derer wir die Gegenstände und Begriffe eindeutig ausmachen können. Nun gilt nach Frege – wie wir sahen –, dass wir Gedanken nur mittels der Sprache klar fassen und zerlegen können. Genau deshalb – und weil nach Frege die Alltagssprache mit logischen Mängeln behaftet ist – stellte die logische Arbeit für ihn zu einem großen Teil einen »Kampf mit den logischen Mängeln der Sprache« dar, die uns »doch wieder ein unentbehrliches Werkzeug« sei. 113 Das Kontextprinzip, wie es in der Frege-Literatur diskutiert worden ist, scheint nur in den Grundlagen ausführlicher behandelt zu werden; wir finden hier insgesamt vier verschiedene Formulierungen, die in ihrer Bedeutung jeweils leicht voneinander abweichen: (1) »Nach der Bedeutung der Wörter muss im Satzzusammenhange, nicht in ihrer Vereinzelung gefragt werden«, 114 (2) »Es genügt, wenn der Satz als Ganzes einen Sinn hat; dadurch erhalten auch seine Theile ihren Inhalt«, 115 113 114 115

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MLE: 272. GLA: x. GLA: § 60.

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(3) »Nur im Zusammenhange eines Satzes bedeuten die Wörter etwas«, 116 (4) »Wir stellten nun den Grundsatz auf, dass die Bedeutung eines Wortes nicht vereinzelt, sondern im Zusammenhange eines Satzes zu erklären sei.« 117 Sämtliche dieser Formulierungen stehen in Zusammenhängen, in denen Frege versucht, den Begriff der Anzahl zu klären. Es fällt zunächst auf, dass in der ersten, dritten und vierten Formulierung von »Bedeutung« und nur in einer vom »Sinn« und vom »Inhalt« eines Wortes die Rede ist. Wir müssen allerdings wohl davon ausgehen, dass Frege – wie überall in den Grundlagen – hier die Ausdrücke »Sinn« und »Bedeutung« offenbar noch äquivalent verwendete. 118 Insofern wäre also diese Diskrepanz zwischen den obigen Formulierungen nicht weiter bedeutsam. Die erste Formulierung gehört zu den drei Maximen, die Frege in der Einleitung zu den Grundlagen seiner Untersuchung zum Anzahlbegriff vorausschickt. 119 Es scheint sich hierbei um eine methodologische Forderung zu handeln, welche vorgibt, wie wir vorgehen müssen, wenn wir die Bedeutung eines Wortes bestimmen wollen. Als solche scheint sie auch offenbar ausdrücklich in der vierten Formulierung reflektiert zu werden, in der von der Art und Weise, wie wir die Bedeutung eines Wortes zu erklären haben, die Rede ist. Frege weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass durch Befolgung dieses Grundsatzes allein »die physikalische Auffassung der Zahl vermieden werden kann, ohne in eine psychologische zu verfallen«. 120 Die dritte Formulierung des Kontextprinzips, die an sich selbst betrachtet eher wie ein theoretisches Prinzip aussieht, leitet Freges Diskussion der Frage ein, wie »uns denn eine Zahl gegeben sein« soll, wenn wir keine Vorstellung oder Anschauung von ihr haben können«. 121 Diese Frage wird Frege Zeit seines Lebens plagen; er bezeichGLA: § 62. GLA: § 106. 118 Frege stellt in späteren Schriften ausdrücklich klar, dass er in den Grundlagen einen Unterschied zwischen Sinn und Bedeutung noch nicht gemacht habe; vgl. etwa seinen Brief an Husserl vom 24. 5. 1891, WB: 96. 119 Die beiden anderen Maximen betreffen die Unterscheidung zwischen Gegenstand und Begriff sowie die Trennung des Logischen vom Psychologischen. 120 GLA: § 106. 121 GLA: § 106. 116 117

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net es auch später noch im 2. Band der Grundgesetze, nachdem er durch Russell von der Inkonsistenz seines Systems überzeugt worden war, als das »Urproblem der Arithmetik«: 122 Als Urproblem der Arithmetik kann man die Frage ansehen: wie fassen wir logische Gegenstände, insbesondere die Zahlen? Wodurch sind wir berechtigt, die Zahlen als Gegenstände anzusehen? Wenn dies Problem auch noch nicht so weit gelöst ist, als ich es bei der Abfassung dieses Bandes dachte, so zweifle ich doch nicht daran, dass der Weg zur Lösung gefunden wird.

Voraussetzend, dass die Wörter »nur im Zusammenhange eines Satzes« etwas bedeuten, hatte Frege in den Grundlagen versucht, genau dieses Problem – wie uns Zahlen überhaupt gegeben sein, d. h. wie wir sie identifizieren, ihre Identität oder Verschiedenheit feststellen können, durch Klärung des »Sinns eines Satzes, in dem ein Zahlwort vorkommt« zu lösen. 123 Das Kontextprinzip sollte Frege somit insbesondere als theoretische Grundlage für eine Strategie der Erklärung dienen, wie uns nicht-anschauliche Gegenstände gegeben sein können, d. h. wie sie allein durch das Denken – unabhängig von jeglicher Anschauung – von anderen unterscheidbar sind. Diese theoretische Bedeutung des Kontextprinzips finden wir in der zweiten und dritten oben zitierten Formulierung, wobei die zweite im Gegensatz zu den anderen eine hinreichende, keine notwendige Bedingung dafür angibt, dass ein Wort einen Sinn bzw. Inhalt und somit, nach Freges früher Semantik, auch eine Bedeutung hat. Damit aber erweist sich das Kontextprinzip letztlich nur als eine sprachliche Variante von PP2 – das Satzganze des Kontextprinzips entspricht dem gesamten Gedanken im Zusammenhang von PP2, und die Sinne/Bedeutungen seiner Teile den Teilen des Gedankens, mit Hilfe derer uns erst Gegenstände oder Begriffe gegeben werden. Frege erblickt nun in der die Nichtbefolgung des Kontextprinzips die gemeinsame Wurzel sowohl formalistischer Theorien der Logik und Arithmetik als auch psychologistischer Theorien der Wortbedeutung. Er schreibt: 124 Es ist also die Unvorstellbarkeit des Inhaltes eines Wortes kein Grund, ihm jede Bedeutung abzusprechen oder es vom Gebrauche auszuschließen. Der Schein des Gegenteils entsteht wohl dadurch, dass wir die Wörter vereinzelt 122 123 124

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GGA II: 265. GLA: § 62. GLA: § 60.

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betrachten und nach ihrer Bedeutung fragen, für welche wir dann eine Vorstellung nehmen. So scheint ein Wort keinen Inhalt zu haben, für welches uns ein entsprechendes inneres Bild fehlt. Man muss aber immer einen vollständigen Satz ins Auge fassen. Nur in ihm haben die Wörter eigentlich eine Bedeutung. Die inneren Bilder, die uns dabei vorschweben, brauchen nicht den logischen Bestandteilen des Urteils zu entsprechen. Es genügt, wenn der Satz als Ganzes eines Sinn hat; dadurch erhalten auch seine Teile einen Inhalt. Diese Bemerkung scheint mir geeignet, auf manche schwierigen Begriffe wie den des Unendlichkleinen ein Licht zu werfen, und ihre Tragweite beschränkt sich wohl nicht auf die Mathematik.

Frege zeigt hier, wie eine psychologistische Bedeutungstheorie – die Auffassung, dass Bedeutungen bzw. Wortinhalte subjektive, durch Anschauung oder Einbildungskraft hervorgebrachte Vorstellungsbilder der bezeichneten Gegenstände sind – im Falle der Zahlen zu einer formalistischen Auffassung derselben führt, sobald wir realisieren, dass Zahlen überhaupt nicht in diesem Sinne vorstellbar sind. Er verwendet dann zunächst die erste Formulierung des Kontextprinzips (»Man muss […] immer einen vollständigen Satz ins Auge fassen. Nur in ihm haben die Wörter eigentlich eine Bedeutung«), um dann zu der zweiten oben erwähnten Formulierung zu gelangen. Diese Formulierung (»Es genügt, wenn der Satz als Ganzes eines Sinn hat; dadurch erhalten auch seine Teile einen Inhalt«) wird dann verwendet um zu erklären, wie ein Wort einen Inhalt haben, etwas bedeuten kann, ohne dass dieser Inhalt von unserem Vermögen der sinnlichen Anschauung oder der Einbildungskraft abhängt: Es scheint Frege hierfür hinreichend, dass ein Satz, in dem dieses Wort vorkommt, »als Ganzes einen Sinn« hat, hierdurch erhalten auch seine Teile einen Inhalt. Die formalistische Auffassung der Zahlen als inhaltsleeren Zahlwörtern ist damit unbegründet erwiesen, weil die psychologistische Bedeutungstheorie fehlgeht, indem sie das Kontextprinzip nicht berücksichtigt und somit übersieht, dass wir gar nicht nach subjektiven Vorstellungen zu suchen haben, um die Bedeutung eines Wortes zu finden, sondern nur nach dem Sinn eines Satzganzen. Ohne die zusätzliche Annahme, dass der Sinn eines Satzganzen nicht immer von unserem Anschauungs- oder Einbildungsvermögen abhängt, reicht das Kontextprinzip allerdings noch nicht hin, um die psychologistische Bedeutungstheorie gänzlich auszuschalten. Für einen Psychologisten nämlich, für den ein Gegenstand nur aufgrund von Anschauung oder Einbildungskraft identifizierbar, d. h. als EinA

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zelding erkennbar ist, ist es natürlich ausgeschlossen (unmöglich), dass ein Satz überhaupt einen Sinn haben und somit wahr oder falsch sein könnte, wenn dieser Sinn nicht auf unserem Anschauungsvermögen beruht. So schreibt sogar Kant, den wir nicht einmal als einen radikaler Psychologisten betrachten sollten: 125 Wenn eine Erkenntnis objektive Realität haben, d. i. sich auf einen Gegenstand beziehen, und in demselben Bedeutung und Sinn haben soll, so muss der Gegenstand auf irgendeine Art gegeben werden können. Ohne das sind die Begriffe leer, und man hat dadurch zwar gedacht, in der Tat aber durch dieses Denken nichts erkannt, sondern bloß mit Vorstellungen gespielt. Einen Gegenstand geben, wenn dieses nicht wiederum nur mittelbar gemeint sein soll, sondern unmittelbar in der Anschauung darstellen, ist nichts anderes, als dessen Vorstellung auf Erfahrung (es sei wirkliche oder doch mögliche) beziehen. Selbst der Raum und die Zeit, so rein diese Begriffe auch von allem Empirischen sind, und so gewiß es auch ist, daß sie völlig a priori im Gemüte vorgestellt werden, würden doch ohne objektive Gültigkeit und ohne Sinn und Bedeutung sein, wenn ihr notwendiger Gebrauch an den Gegenständen der Erfahrung nicht gezeigt würde-, ja ihre Vorstellung ist ein bloßes Schema, das sich immer auf die reproduktive Einbildungskraft bezieht, welche die Gegenstände herbeiruft, ohne die sie keine Bedeutung haben würden; und so ist es mit allen Begriffen ohne Unterschied.

Wir sehen hier, dass Kant bestreitet, dass wir im Denken auf bestimmte Gegenstände rein begrifflich Bezug nehmen können, d. h. ohne dabei unsere Einbildungskraft oder das Anschauungsvermögen zu gebrauchen. Die Begriffe, so Kant, erhalten ihren »Sinn und ihre Bedeutung« überhaupt erst auf diese Weise. Kant verbindet demnach hier gewissermaßen die Idee des Sinns eines Begriffs nicht nur etymologisch, sondern auch transzendentallogisch mit dem der Sinnlichkeit, die der Einbildungskraft erst das Material liefert. Unter »Bedeutung hingegen scheint er – wie aus einer anderen Passage hervorgeht – vorwiegend eine »Beziehung auf Objekte« 126 zu verstehen. Bedeutung in diesem Sinne ist für ihn demnach gar nicht ohne Sinnlichkeit möglich. Ohne Sinnlichkeit wäre für Kant demnach der Gedanke selbst – bzw. im übertragenen Sinne der Satz, der ihn ausdrückt – bar jeglichen Sinns und jeglicher Bedeutung. Er wäre, was Kant auch als einen »leeren« Gedanken oder Begriff bezeichnet. »Leer« bedeutet hier nicht bloß, dass kein Gegenstand de facto unter 125 126

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KrV: A 155 f./B 194 f. Vgl. KrV: A 146/B 185.

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ihn fällt, sondern vielmehr, dass die Bedingungen hierfür grundsätzlich unspezifiziert bleiben. Man kann sagen, dass Freges späteres Axiom V aus den Grundgesetzen dafür gedacht war, ein genaues Kriterium zu formulieren, welchem zufolge sich Zahlen klar und gänzlich unabhängig von sinnlichen Vorstellungen – wenn auch nicht von Begriffen – fassen lassen. Dieses Axiom besagt informell, dass zwei Wertverläufe von Begriffen (bzw. Begriffsumfänge) A und B genau dann gleich sind, wenn die A und B entsprechenden Funktionen »für dasselbe Argument immer denselben Funktionswert annehmen«. 127 Damit sollte gewährleistet sein, dass »eine Wertverlaufsgleichheit immer in eine Allgemeinheit einer Gleichheit umsetzbar ist und umgekehrt«. In diesem Axiom erblickte Frege lange nach den Grundlagen das einzige Mittel, logische Gegenstände – nämlich über die Begriffe, deren Umfänge sie sind – »zu fassen, zu erkennen«, ohne welches »eine wissenschaftliche Begründung der Arithmetik unmöglich« sei. 128 Axiom V macht m.E. weder das Kontextprinzip noch das Prioritätsprinzip in Variante PP1 überflüssig – da ja nach wie vor die Existenz ebenso wie die Faßbarkeit von Klassen von der der ihnen entsprechenden Begriffe, und diese wiederum von der Wahrheit von Sätzen bzw. Gedanken abhängt. Es tritt allerdings als Prinzip der Identität von Klassen und Anzahlen zum Kontextprinzip hinzu, das für sich genommen nicht hinreichen würde, alternative Auffassungen der Natur der Zahlen und ihrer Erkennbarkeit auszuschließen. 1.3.3. Gedanke und Aussage Die theoretische Seite des Kontextprinzips nun, die dessen methodologischen Anwendungen zugrundeliegt und in Formulierungen (2) und (3) zum Ausdruck kommt, enthält offenbar sowohl eine notwendige als auch hinreichende Bedingung dafür, dass Wörter Bedeutungen (bzw. begriffliche Inhalte zur Zeit der Grundlagen) haben. Wir können diese Bedingung folgendermaßen ausformulieren: (KP) Ein Wort hat eine Bedeutung (einen begrifflichen Inhalt) gdw. es im Zusammenhang eines (sinnvollen) Satzes vorkommt. 127 128

Vgl. GGA II: §§ 3, 9, 20. Vgl. GGA II: § 147. A

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Als solches scheint dieses Prinzip vollkommen damit vereinbar, dass ein Wort genau dieselbe Bedeutung in verschiedenen Satzkontexten hat; ebenso wie es damit vereinbar ist, dass ein Wort je nach Satzkontext verschiedene Bedeutungen haben kann. In einer logisch idealen Sprache, so dachte sich Frege, wäre der letztere Mangel beseitigt sein, weil hier die Bedeutungen der Wörter bereits eindeutig für alle Kontexte definiert sind; lediglich die Grundbegriffe müssten in diesem Falle durch kontextuelle Erläuterungen erklärt werden; d. h. durch die Verwendung der sie vertretenden Zeichen in Sätzen, sowie deren Wahrheitsbedingungen. Das Kontextprinzip besagt demnach lediglich, dass ein Wort nicht unabhängig von Satzzusammenhängen bedeutungsvoll ist im Sinne der Logik, weil diese ihm erst einen Sinn und somit eine Bedeutung verleihen können. Die Sprache war für Frege – wie wir sahen – ein für uns Menschen notwendiges Vehikel des Denkens, und als solches allein schien sie ihn als Untersuchungsobjekt überhaupt zu interessieren. Wenn wir daher bedenken, in welchem Zusammenhang Frege das Kontextprinzip verwendet – nämlich um den Begriff der Anzahl zu klären – so scheint es nur einfach ein semantischer Vorläufer des späteren PP2 zu sein. PP2 besagte: (PP2) Die Erkenntnis (Identifikation, scharfe Begrenzung) von Gegenständen oder Begriffen ist nur durch logische Analyse wahrheitsfähiger Gedanken möglich, wodurch wir erst Gedankenteile gewinnen, die auf diese Gegenstände und Begriffe hinweisen. Dieses Prinzip gründete sich ursprünglich, wie wir sahen, ursprünglich offenbar auf Freges Überlegungen zur logischen Klarheit von Begriffen und ihrer Abhängigkeit von der Wahrheitsfähigkeit von Gedanken. Frege stellte in seiner Logik, wie er es später zusammenfasste, »den Inhalt des Wortes »wahr« an die Spitze« und ließ dann »den Gedanken sogleich folgen […] als dasjenige, bei dem Wahrsein überhaupt in Frage kommen kann«. 129 Hierin kommt eine bestimmte Auffassung dessen, wie Gegenstände und Begriffe überhaupt klar gefasst und im Denken voneinander unterschieden werden können, zum Ausdruck. Frege zufolge ist dies nur möglich durch logische Analyse wahrheitsfähiger Gedanken, weil nur auf diese Weise die entsprechenden Gedankenteile die nötige logische Schärfe und Klar129

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ALD: 273.

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heit besitzen, um ihre außergedanklichen Bezugsentitäten (Gegenstände und Funktionen) eindeutig zu identifizieren und so eine intentionale Verbindung zum Bereich der Bedeutungen herzustellen. Diese Analyse muss sprachlich vonstatten gehen, nämlich indem Sätze logisch als syntaktische Strukturen aufgefasst werden, die aus Eigennamen und Begriffswörtern (bzw. Funktionsausdrücken) bzw. Begriffswörtern verschiedener Stufe bestehen. In Freges frühen Schriften finden wir hierfür den Ausdruck »Zerlegung eines begrifflichen Inhaltes der Auffassung nach«. 130 Eine solche Zerlegung der Auffassung nach besteht generell darin, dass man in einem Ausdruck ein einfaches oder zusammengesetztes Zeichen an einigen oder allen Stellen, an denen es vorkommt, als durch ein anderes, aber immer dasselbe Zeichen ersetzbar denkt. Man hat dadurch zunächst lediglich eine bestimmte logisch-syntaktische Gliederung des Ausdrucks in Argument (ersetzbares Zeichen) und Funktion (ungesättigtes Zeichen) vorgenommen, ohne dabei noch den Inhalt selbst zu zerlegen. Erst durch eine daran anschließende inhaltliche Zerlegung – etwa durch die tatsächliche Ersetzung eines Teilausdrucks durch eine Variable oder eine andere Konstante desselben syntaktischen Typs – lassen sich dann die begrifflichen Bestandteile des beurteilbaren Inhaltes vom analysierten Ganzen isolieren und zur Bildung neuer Sätze und neuer Gedanken gewinnen. All dies geschieht sprachlich; die Zerlegung der Auffassung nach gilt Frege als notwendige Voraussetzung für die (menschliche) Begriffsgewinnung und Erkenntnis von Gegenständen des Denkens. Frege gelangt in den Grundlagen auf diese Weise – durch inhaltliche Zerlegung paradigmatischer Zahlurteile und Substitution koextentionaler Zahlangaben zu der Einsicht, dass Zahlangaben als Aussagen von Begriffen aufgefasst werden müssen: 131 Um Licht in diese Sache zu bringen, wird es gut sein, die Zahl im Zusammenhange eines Urteils zu betrachten, wo ihre ursprüngliche Anwendungsweise hervortritt. Wenn ich in Ansehung derselben äußern Erscheinung mit derselben Wahrheit sagen kann: »Dies ist eine Baumgruppe« und »Dies sind fünf Bäume«, oder »Hier sind vier Kompanien« und »Hier sind 500 Mann«, so ändert sich dabei weder das Einzelne, noch das Ganze, das Aggregat, sondern meine Benennung. Das ist aber nur das Zeichen der Ersetzung eines Begriffes durch einen anderen. Damit wird uns als Antwort […] nahegelegt, dass die Zahlangabe eine Aussage von einem Begriffe enthalte. 130 131

Vgl. BS: § 9. GLA: § 46. A

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Bei dieser Demonstration der Methode logischer Sprachanalyse, die später als »Ursprung der analytischen Philosophie« gefeiert worden ist, 132 geht Frege offenbar wiederum – dem Kontextprinzip gemäß – von einem ganzen prinzipiell wahrheitsdefiniten Satzzusammenhang aus, um festzustellen, welcher logischen Kategorie die Bedeutung eines bestimmten Satzteils, nämlich der Zahlangabe angehört: ob sie nämlich ein Begriff erster oder vielmehr zweiter Stufe ist. Das Prinzip, dass er hier zusätzlich nwendet, ist das der Austauschbarkeit salva veritate. Nach Zerlegung des Satzes der Auffassung nach wird das Prädikat desselben »ist eine Baumgruppe« durch ein anderes ersetzt, das eine andere Zahlangabe enthält und doch gleichzeitig bei Anwendung auf denselben, durch »dies« bezeichneten Gegenstand denselben Wahrheitswert ergibt. Insofern sich demnach zeigt, dass zwei verschiedene, ungleiche Zahlangaben gleichermaßen für eine wahre Aussage über einen und denselben Gegenstand verwendet werden können, kann der Gegenstand selbst nicht das eigentliche Argument des Zahlbegriffes sein, sondern vielmehr der Begriff, auf den sich die Zahlangabe unmittelbar bezieht (ist Baumgruppe, Baum, etc.). Wie schon vorhin erläutert, erweist sich das Kontextprinzip, von dem Frege hier offenbar wieder Gebrauch macht, somit einfach als eine auf die Sprache übertragene Variante von PP2, welches die epistemischen Bedingungen der Möglichkeit unserer Erkennbarkeit bzw. Unterscheidbarkeit von Gegenständen und Begriffen betrifft, die als Bedeutungen von Wörtern und Satzzusammenhängenauftreten. Ich betrachte dieses Prinzip als erkenntnistheoretisch, insofern eine These über Erkennbarkeit natürlicherweise der Erkenntnistheorie zuzuordnen ist. In gewissem Sinne ist das Kontextprinzip freilich auch semantisch – da es von Wörtern und ihren Bedeutungen handelt – allerdings muss man den speziellen Sinn von »Bedeutung« berücksichtigen, den Frege dabei im Auge hat. Es ging ihm offenbar nicht einfach um konventionale alltagssprachliche Bedeutung, etwa um die Verwendungsweise der Wörter unserer Alltagssprache, sondern vielmehr in erster Linie um eine Erklärung dessen, wie uns Gegenstände des Denkens überhaupt gegeben sind. Das Interessante am Fregeschen Kontextprinzip bzw. dem mit ihm verbundenen Bedeutungsbegriff ist nach der hier vorgeschlagenen Interpretation, dass Wörtern nur in alethischen Kontexten – d. h. in wahrheitsfähigen Sätzen – eine Bedeutung in diesem speziellen, logischen Sinne zu132

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Vgl. Kenny 1995: 210.

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kommt. 133 Dies schließt nicht aus, dass sie auch unabhängig von Satzkontexten konventionale oder auch natürliche – etwa onomatopeutische – Bedeutungselemente aufweisen können. Frege bestätigt das Kontextprinzip als Prinzip über die gedankliche Ermittlung logischer Wortbedeutungen auch noch in späteren Schriften; so etwa in Bd. 2 seiner Grundgesetze, wo er auf es wiederum im Zusammenhang einer sehr elaborierten, Formalismuskritik zurückgreift. 134 In Bd. 1 verwendet er es, um Regeln dafür aufzustellen, unter welchen Bedingungen den Zeichen der Begriffsschrift eine Bedeutung zukommt. Das Kontextprinzip liegt offenbar auch Freges späterer Theorie des Urteilens zugrunde und tritt hier wiederum zusammen mit dem Prinzip der multiplen Zerlegung auf. Demnach ist Urteilen als ein »Unterscheiden von Teilen innerhalb des Wahrheitswertes«, der Bedeutung des Satzes, zu verstehen, welches durch Rückgang zum Gedanken vor sich gehe: »Jeder Sinn, der zu einem Wahrheitswerte gehört, würde so einer bestimmten Weise der Zerlegung [desselben] entsprechen.« 135 Die bereits in den Texten aus der Begriffsschriftphase enthaltene These der multiplen Zerlegbarkeit von Urteilsinhalten wird von Frege später auch dazu verwendet zu zeigen, wie sich die natürlichen Zahlen als Begriffsumfänge – und somit als logische Gegenstände nach seiner Auffassung – aus Anzahlbegriffen herleiten lassen. Frege kommt nämlich nun zu der sehr interessanten Einsicht, es sei nicht unmöglich, dass derselbe Gedanke »bei einer Zerlegung als singulärer, bei einer anderen als partikulärer, bei einer dritten als allgemeiner erscheint«: 136 In dem Satze »es gibt mindestens eine Quadratwurzel aus 4« wird nicht etwa von der bestimmten Zähl 2 etwas ausgesagt, noch von -2. sondern von einem Begriffe, nämlich Quadratwurzel aus 4, dass dieser nicht leer sei. Wenn ich aber den Gedanken so ausdrücke: »der Begriff Quadratwurzel aus 4 ist er133 Frege weist später in »Der Gedanke« darauf hin, dass sogenannte Satzfragen, die nach einer Ja-Nein Antwort verlangen, einen vollständigen Gedanken enthalten, der dann durch die Antwort »ja« behauptet wird. In diesem Falle könnte man also die Frage zusammen mit der Antwort als einen alethischen Kontext auffassen. Frege rechnet jedoch ausdrücklich Bittsätze, Wunschsätze, Befehlssätze, etc. nicht zu denjenigen Wortgebilden, die einen Gedanken ausdrücken, da bei ihnen Wahrheit nicht in Frage kommen könne; vgl. Ged.: 346. 134 Vgl. GGA II, § 97: »Nach Bedeutungen kann nur gefragt werden, wo die Zeichen Bestandteile von Sätzen sind, die Gedanken ausdrücken«. 135 SB: 150. 136 BG: 173. Vgl. auch Log II: 155 und KÜL: 218.

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füllt«, so bilden die ersten fünf Worte den Eigennamen eines Gegenstandes, und von diesem Gegenstand ist etwas ausgesagt. Aber man beachte wohl, daß diese Aussage nicht dieselbe ist wie die vom Begriffe gemachte. Dies ist nur wunderbar für einen, der verkennt, daß ein Gedanke mannigfach zerlegt werden kann und daß dadurch bald dieses, bald jenes als Subjekt und Prädikat erscheint. Durch den Gedanken selbst ist noch nicht bestimmt, was als Subjekt aufzufassen ist. Wenn man sagt: »das Subjekt dieses Urteils«, so bezeichnet man mir dann etwas Bestimmtes, wenn man zugleich auf eine bestimmte Art der Zerlegung hinweist.

Frege unterscheidet hier, wie wir sehen, ausdrücklich zwischen Gedanke und Aussage. Eine Aussage ist demnach ein Gedanke, der bereits in bestimmter Weise in logisches Subjekt und logisches Prädikat – in Argument und Funktion – zerlegt ist. Einem Gedanken entsprechen demnach genau so viele alternative Aussagen. wie es korrekte alternative Zerlegungs- oder Auffassungsweisen für ihn gibt. Die Aussagen, die man aufgrund der verschiedenen Auflassungsweisen eines und desselben Gedanken machen kann. unterscheiden sich also nicht hinsichtlich ihres begrifflichen Inhaltes, sondern nur hinsichtlich ihrer logischen Syntax: der Inhalt erscheint hier auf eine andere Weise syntaktisch strukturiert als in einer anderen Aussage. Die jeweilige Zerlegungsweise lässt sich begriffsschriftlich durch die Wahl der Zeichenkombination zum Ausdruck bringen. So führte Frege den Allquantor in die Begriffsschrift ein, um allgemeine Aussagen angemessen ausdrücken zu können; Existenz wiederum ließ sich durch einen negierten Allquantor zum Ausdruck bringen. Frege fasst Existenz- und Allsätze, wie wir sahen, ebenso wie Zahlangaben als Aussagen über Begriffe auf. Seine Idee war, dass ein mit Hilfe eines Quantors gebildeter Satz der Prädikatenlogik, wie etwa »es gibt mindestens eine Quadratwurzel aus 4«, genau denselben Gedanken ausdrücke wie ein Satz über einen Begriffsumfang – ein Satz, der demnach der Klassentheorie angehört. Für diesen Fall schlägt Frege die alltagssprachliche Wendung »der Umfang des Begriffs Quadratwurzel aus 4« oder einfach »der Begriff Quadratwurzel aus 4« vor. In diesem Falle erhalten wir gewissermaßen eine singuläre Aussage, die genau denselben Gedanken ausdrückt wie die ursprüngliche Existentialaussage. Freges Beispiel im obigen Fall ist »der (Umfang des) Begriff(s) Quadratwurzel aus 4 ist erfüllt«. 137 137 Ich überspringe hier das sogenannte Begriffsparadoxon, auf das ich später kurz eingehen werde; vgl. im folgenden 2.4.4.

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Man sollte sich hierbei allerdings fragen, ob das Zutreffen eines solchen Erfüllungsbegriffs, der ja eigentlich wohl eine Relation zwischen einem Begriff bzw. dessen Umfang und etwas, das ihn erfüllt, sein soll, tatsächlich ohne Gebrauch eines Zeichens für Existenz bzw. negierte Allgemeinheit überhaupt angemessen ausgedrückt werden könnte. Denn dass ein Begriff erfüllt ist, heißt ja, dass es etwas gibt, dass ihn erfüllt; und es scheint schwer, die Existenz hier ganz aus dem Spiel zu lassen, ohne dabei den Sinn des ursprünglichen Satzes zu verändern. Mindestens ebensowenig überzeugt das Beispiel der beiden Sätze »Christus gewann einige Menschen für seine Lehre« – Frege zufolge eine »singuläre« Aussage – und »Es gibt Menschen, die Christus für seine Lehre gewann« (eine partikuläre Aussage). 138 Denn es scheint hier wiederum rätselhaft, wie man den in dem ersten Satz ausgedrückten Gedanken angemessen ausdrücken könnte, ohne dabei in irgendeiner Weise Gebrauch von einem Existenzprädikat bzw. der negierten Allgemeinheit zu machen. Es mag zwar zutreffen, dass man in Sätzen wie »Christus gewann einige Menschen für seine Lehre« oder »der Begriff Quadratwurzel aus 4 ist erfüllt« den dem Eigennamen folgenden rechten Teil als grammatisches Prädikat auffassen kann – und den Eigennamen selbst als grammatisches Subjekt –, doch dies ändert m. E. nichts daran, dass die in jenen Sätzen ausgedrückten Gedanken logisch betrachtet wesentlich partikulär sind, insofern sie wesentlich die Idee der Existenz – bei Frege ein Begriff zweiter Stufe – beinhalten. 139 1.3.4. Klassentheorie und Begriffslogik Offenbar liegen nun, wie wir sahen, Freges Prinzipien der multiplen Zerlegung und der Priorität der Urteile seiner Auffassung vom Verhältnis zwischen Klassentheorie und Begriffslogik zugrunde, und sie sollten ferner seiner Idee einer rein gedanklichen Erzeugung von Zahlen eine logische Grundlage liefern. Obwohl nämlich Frege, wie wir sahen, Zahlangaben als Aussagen von Begriffen analysiert hatte, Vgl. EL: 203, Anm. 2. Es ist auch interessant, das Frege 1919 in seinen Aufzeichnungen für Ludwig Darmstädter, wieder in die Rede von Existential-Gedanken, partikulären Gedanken usw. zurückfällt; vgl. ALD: 275. Gleichzeitig erwähnt er hier noch immer, dass Zahlen als Umfänge von Begriffen zweiter Stufe, die Zahlangaben enthalten, aufzufassen sind; vgl. ebd., 277. 138 139

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waren seiner Ansicht nach diese Zahlbegriffe zweiter Stufe noch nicht die Gegenstände der Arithmetik selbst. Zu dieser Auffassung gelangt er genau auf der Basis von Überlegungen zur multiplen Zerlegbarkeit von Gedanken. Frege erkannte, dass Aussagen wie »Die Venus hat keinen Mond« – m. E. eine negierte Existenzaussage der Form »Es gibt nichts, dass unter den Begriff Venusmond fällt« oder »Der Begriff Venusmond ist nicht erfüllt« – sich ohne Verlust des gedanklichen Inhaltes umformen lassen in solche der Form »Die Anzahl der Venusmonde, ist (identisch mit der) 0«. Ebenso lässt sich »Der Wagen des Kaisers wird von vier Pferden gezogen« als »Die Anzahl der Pferde, die den Wagen des Kaisers ziehen, ist vier«. 140 Die Zahlen werden so bei Frege identifiziert mit Umfängen von Begriffen zweiter Stufe, wie sie in Zahlaussagen des ersten Typs zum Einsatz kommen. Sätze der jeweils letzteren Form sind ihm zufolge singuläre Wiedererkennungssätze, in denen eine Gleichheit zum Ausdruck gebracht wird. Die auf der rechten und linken Seite des Gleichheitszeichens stehenden Ausdrücke bestimmen dabei ein und dieselbe Zahl auf verschiedene Weisen und erweitern so im Urteil gleichzeitig unsere Erkenntnis, u. a. von Anzahlen, die empirischen Begriffen in der Welt zukommen. Wesentlich war für Frege dabei, wie wir bereits oben in seinem Schreiben an Jourdain sahen, die Priorität der Begriffslogik vor der Klassenlogik; denn nur so würde sich die Mengenlehre – einschließlich der Zahlentheorie – als ein Zweig der Logik erweisen lassen, und gerade auch hierin grenzte er sich ausdrücklich von den Anhängern einer Booleschen Algebra ab. So schreibt er 1895 in seiner Rezension über Schröders Gebietekalkül: 141 In der Tat halte ich dafür, dass der Begriff seinem Umfange logisch vorangeht, und betrachte den Versuch als verfehlt, den Umfang des Begriffs als Klasse nicht auf den Begriff, sondern auf die Einzeldinge zu stützen. Auf diesem Wege gelangt man wohl zu einem Gebietekalkül, aber nicht zu einer Logik. […] Der Gebietekalkül […] muss von der Logik ganz getrennt werden. Die Eulerschen Diagramme sind für die Logik ein hinkendes Gleichnis. […] Der Umfang eines Begriffes besteht nicht aus den Gegenständen, die unter den Begriff fallen, etwa wie ein Wald aus Bäumen, sondern er hat an dem Begriffe selbst, und nur an diesem seinen Halt. Der Begriff hat also den logischen Vorrang vor seinem Umfang. 140 141

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Vgl. GLA: § 46. KS: 209. Vgl. auch WB: 122.

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Diese Passage beweist ebenso wie diejenige aus dem Schreiben an Jourdain, dass Frege Begriffe ausdrücklich als etwas Ursprüngliches in der Logik und Klassen nur als etwas Abgeleitetes betrachtete. Um nun daher eine Klasse überhaupt zu bestimmen, muss nach Frege ein entsprechender Begriff definiert oder – im Falle eines undefinierbaren Grundbegriffs – erläutert werden, sodass klar ist, unter welchen Bedingungen ein beliebiger Gegenstand unter ihn fällt. Gleichzeitig aber – und dies ist ebenso wichtig im Auge zu behalten, wenn es darum geht, Freges Auffassung von Logik historisch einzuordnen – verbindet er immerhin die Logik mit der Klassentheorie in einer Weise, dass umgekehrt Begriffe ohne klar umgrenzte Umfänge, d. h. ohne entsprechende Klassen, von der Logik gar nicht als solche anerkannt sind. Selbst die Wahrheit von Axiom V – welches eine bikonditionale Form besitzt – enthält die Annahme, dass in der Logik kein Begriff denkbar ist ohne die Existenz eines Wertverlaufs als logischem Gegenstand. Denn aufgrund des absoluten Gegensatzes von Gegenstand und Funktion besteht für Frege die einzige Art und Weise, eine Identität von Begriffen auszusagen, in einer »Allgemeinheit einer Gleichheit«, wie sie auf der linken Seite von Axiom V erscheint, die aber bereits logisch äquivalent ist mit einer Gleichheit von Begriffsumfängen. Man könnte also genausogut sagen, dass die Identität von Begriffen von der ihrer Umfänge abhängt. Frege schreibt hierzu: 142 Aus dem Gesagten geht hervor, dass Gegenstände und Begriffe grundverschieden sind und einander nicht vertreten können. […] So ist auch die Beziehung der Gleichheit, worunter ich völliges Zusammenfallen, Identität, verstehe, nur bei Gegenständen, nicht bei Begriffen denkbar. […] Aber wenn auch die Beziehung der Gleichheit nur bei Gegenständen denkbar ist, so kommt doch bei Begriffen eine ähnliche vor, die als Beziehung zwischen Begriffen von mir Beziehung zweiter Stufe genannt wird, während ich jene Gleichheit Beziehung erster Stufe nenne. Wir sagen, ein Gegenstand a sei gleich einem Gegenstande b […] wenn a unter jeden Begriff fällt, unter den b fällt, und umgekehrt. Wir erhalten etwas Entsprechendes für Begriffe, wenn wir Begriff und Gegenstand ihre Rollen vertauschen lassen. Wir könnten dann sagen, die oben gedachte Beziehung findet zwischen dem Begriffe  und dem Begriffe X statt, wenn jeder Gegenstand, der unter  fällt, auch unter X fällt und umgekehrt.

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ASB: 130 ff. A

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Dies bedeutet nun aber gemäß Axiom _ nichts anderes als dass, obwohl Begriffe nicht als identisch mit Klassen aufgefasst werden, ihre Identität – und somit Existenz – davon abhängt, dass ihnen ein scharf begrenzter Umfang zugeordnet ist. Das Abhängigkeitsverhältnis der Klassen und Funktionen bei Frege ist daher rein logisch gesehen ein gegenseitiges: Auf der einen Seite bedürfen wir der Begriffe, um Klassen überhaupt als einzelne Gegenstände denken zu können, auf der anderen Seite aber können Begriffe vom Standpunkt der Logik aus ohne zugehörige Klasse – selbst wenn diese leer ist – nicht existieren. Frege stellt sich somit im Hinblick auf den Disput zwischen Inhalts- und Umfangslogikern ausdrücklich auf die Seite der letzteren: 143 […] damit ist den Umfangslogikern, wie ich glaube, ein bedeutendes Zugeständnis gemacht. Sie haben recht, wenn sie durch ihre Vorliebe für den Begriffsinhalt zu erkennen geben, dass sie die Bedeutung der Worte als das Wesentliche für die Logik ansehen, nicht den Sinn. Die Inhaltslogiker bleiben nur zu gerne beim Sinn stehen; denn was sie »Inhalt« nennen, ist, wenn nicht gar Vorstellung, so doch Sinn. Sie bedenken nicht, dass es in der Logik nicht darauf ankommt, wie Gedanken aus Gedanken hervorgehen ohne Rücksicht auf den Wahrheitswert, dass der Schritt vom Gedanken zum Wahrheitswert, dass, allgemeiner, der Schritt vom Sinne zur Bedeutung getan werden muss; dass die logischen Gesetze zunächst Gesetze im Bereich der Bedeutungen sind und sich erst mittelbar auf den Sinn beziehen. Wenn es einem auf die Wahrheit ankommt – und auf die Wahrheit zielt die Logik hin –, muss man auch nach den Bedeutungen fragen, muss man Eigennamen verwerfen, welche keinen Gegenstand bezeichnen oder benennen, wiewohl sie einen Sinn haben mögen; muss man Begriffswörter verwerfen, die keine Bedeutung haben. Das sind […] solche, bei denen die Umgrenzung verschwommen ist. Es muss von jedem Gegenstand bestimmt sein, ob er unter den Begriff falle oder nicht; ein Begriffswort, welches dieser Anforderung an seine Bedeutung nicht genügt, ist bedeutungslos.

In einer Logik, die sich ausschließlich am Inhalt der Begriffe orientiert, ganz ungeachtet ihres Umfanges – eine Logik, die z. B. im Hinblick auf ihre Umfänge unscharfe Begriffe zulässt – wäre Axiom _ hingegen schlichtweg falsch – ebenso wie in einer Klassentheorie, die Klassen auch ohne korrespondierende Funktionen zulässt. Es wäre gewiss interessant, Genaueres daürber zu wissen, wie Frege seine Logik in dieser Hinsicht – in Bezug auf das Verhältnis von Klassen und Begriffen – nach Entdeckung der Russellschen Antinomie zu 143

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ASB: 133.

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revidieren gedachte. Offensichtlich gab er Axiom _ auf, das er als die Wurzel der Inkonsistenz in seinem System erachtete. Es bleibt jedoch bis zum Schluss unklar – wie wir seinen Spätschriften entnehmen können – ob er weiterhin der Ansicht war, dass Begriffe und ihre Umfänge verschiedene Entitäten sind, oder ob er nicht gar die Klassentheorie ganz von der Logik abzukoppeln bestrebt war. Auch war er 1924, kurz vor seinem Tode, dahingelangt, Klassen bzw. Begriffsumfänge nicht mehr als Gegenstände anzusehen, und die Zahlen nicht mehr als Begriffsumfänge. 144 Ferner spricht er hier allgemein von einer »Vernichtung« der Mengenlehre durch die Paradoxien. Wir finden jedoch keine genaueren Angaben darüber, ob Frege zu diesem Zeitpunkt Begriffsumfänge überhaupt noch anerkannte, und wenn ja, ob er sie vielleicht nun mit den Begriffen selbst identifizierte. 1.3.5. Analyse und Synthese Wie schon erwähnt, abstrahiert Logik bei Kant »von allem Inhalt der Erkenntnis« und »erwartet, dass ihr anderwärts, woher es auch sei, Vorstellungen gegeben werden, um diese zuerst in Begriffe zu verwandeln, welches analytisch zugeht«. 145 Diese Charakterisierung der Begriffsbildung – »Verwandlung« von Vorstellungen in Begriffe – durch Analyse ähnelt auf den ersten Blick Freges Theorie der Begriffsbildung, und eine Reihe von Autoren hat Freges Prioritätsprinzip, in seiner ersten, omtologischen Variante PP1, tatsächlich auf Kant zurückgeführt. 146 Ich möchte im folgenden untersuchen, ob diese Verbindung tatsächlich so eng ist, wie zuweilen behauptet. Die beiden in diesem Zusammenhang am häufigsten angeführten Passagen bei Kant sind die folgenden: 147 Begriffe gründen sich […] auf der Spontaneität des Denkens, wie sinnliche Anschauungen auf der Rezeptivität der Eindrücke. Von diesen Begriffen kann nun der Verstand keinen anderen Gebrauch machen als dass er dadurch urteilt. Hieraus erhellet auch ein wesentlicher Fehler der Logik, so wie sie gemeiniglich abgehandelt wird, dass von den deutlichen und vollständigen Begriffen 144 145 146 147

Vgl. EMN: 288 f. KrV: A 76/B 102. Vgl. dazu Bell 1979, Sluga 1980, Currie 1982. KrV: B 93; Spitz.: A 30/31 A

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eher gehandelt wird, wie von Urteilen und Vernunftschlüssen, obgleich jene nur durch diese möglich sein.

Wir müssen nun freilich auch Kants Unterscheidung zwischen Form und Inhalt eines Begriffs berücksichtigen, die seiner Trennung der Aufgaben von transzendentaler und der reiner Logik zugrundeliegt. Es ist nämlich wichtig zu sehen, dass Kant nirgendwo behauptet, die Begriffe würden inhaltlich durch Analyse von Urteilen erzeugt – im Gegenteil macht er deutlich klar, dass keine Begriffe »dem Inhalte nach« analytisch entspringen können. 148 Vielmehr sagt Kant lediglich, dass Begriffe nur in Urteilen gebraucht werden können, sowie dass »deutliche und vollständige« Begriffe nur aufgrund von Urteilen und Vernunftschlüssen möglich sind. Daher könnte die Analyse von Urteilen im Rahmen der reinen (formalen) Logik bei Kant der Begriffsgewinnung nur im Hinblick auf die logische Form von Begriffen dienen. Die analytische Vorgehensweise kann jedenfalls überhaupt nur dann zur Gewinnung einer »Erkenntnis« im Sinne Kants führen, wenn eine Synthesisleistung des Verstandes vorausgesetzt wird, bei der »das Mannigfaltige der reinen Anschauung a priori […] zuerst auf gewisse Weise durchgegangen, aufgenommen und verbunden werde«. 149 Um also kognitiv gehaltvolle Begriffe zu erhalten, die wir zur Bildung wahrer oder falscher Urteile verwenden können, bedarf es nicht nur der Zerlegung von Urteilen, sondern auch einer durch den Verstand geleiteten Verbindung eines »Mannigfaltigen der Sinnlichkeit apriori«, »welches die transzendentale Ästhetik […] darbietet, um zu den reinen Verstandesbegriffen einen Stoff zu geben, ohne den sie ohne Inhalt, mithin völlig leer sein würden«. 150 Es ist diese Synthesisleistung des Verstandes – ein Akt der Spontaneität im Hinblick auf das Mannigfaltige der reinen Anschauung, durch die Begriffe erst ihren Inhalt, d. h. ihren Bezug zu möglichen Erkenntnisgegeständen erhalten. Die Analysis dient lediglich dazu, diesem anfangs noch »roh und verworren« auftretenden Begriffsinhalt eine klare Form zu geben. 151 Wenn demnach Kant davon spricht, dass sich Begriffe »auf der Spontaneität des Verstandes gründen, wie sinnliche Anschauungen auf der Rezeptivität« der Eindrücke, dann scheint er 148 149 150 151

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KrV: A 76 f./B 102. KrV: A A 77/B 102. KrV: A 76 f./B 102. KrV: A 77/B 103.

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in erster Linie jene aktive Synthesisleistung des Verstandes zu meinen, ohne die der Begriff bloße Form – und somit ohne Beziehung zur Wahrheit und ohne klar begrenzten Umfang – wäre. Es ist nun für Kant demnach das Geschäft der transzendentalen, nicht der formalen (allgemeinen reinen) Logik, die Prinzipien dieser Synthesisleistungen des Verstandes zu aufzustellen, die die grundliegenden Bedingungen der Möglichkeit von Begriffsinhalten darstellen. Diese Prinzipien umfassen die sogenannten Axiome der Anschauung, Antizipationen der Wahrnehmung, Analogien der Erfahrung, und Postulate des empirischen Denkens überhaupt. Die Möglichkeit einer Synthesis des Verstandes überhaupt erklärt Kant im Rahmen der transzendentalen Logik durch die sogenannte synthetische Einheit der Apperzeption. 152 Diese ist das Vermögen, »ein Mannigfaltiges gegebener Vorstellungen in einem Bewusstsein zu vereinigen« 153 – gewissermaßen das Vermögen des Verstandes selbst gewesen, der »höchste Punkt, an dem man allen Verstandesgebrauch, selbst die ganze Logik, und, nach ihr, die Transzdententalphilosophie heften muss«. 154 Kant unterscheidet wiederum die synthetische von der analytischen Einheit der Apperzeption, worunter er das Vermögen versteht, sich die »Identität des Bewusstseins in diesen Vorstellungen selbst« vorzustellen. Analytische Einheit der Apperzeption besteht also in dem klaren Bewusstsein eines bestimmten Merkmals oder einer Kombination von Merkmalen, das all diejenigen Gegenstände gemeinsam haben, die unter den Begriff subsumierbar sind. Insofern hängt »die analytische Einheit des Bewusstseins allen gemeinsamen Begriffen, als solchen, an«. 155 Jede analytische Einheit jedoch, jedes Bewusstsein eines Begriffs in abstracto, kann nach Kant nur unter einer vorausgedachten möglichen synthetischen Einheit vorgestellt werden, bei der die betreffenden Merkmale als Beschaffenheiten von Dingen oder in Verbindung mit anderen Merkmalen gedacht werden. Kant vertritt demnach – soweit ich sehe – eigentlich keine analytische, sondern eine synthetische Theorie der Begriffsbildung: »Eine Vorstellung, die als verschiedenen gemein gedacht werden soll, 152 153 154 155

Vgl. KrV: A 155/B 194. KrV: B 133. KrV: B 134. KrV: B 133 f. A

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wird als zu solchen gehörig angesehen, die außer ihr noch etwas Verschiedenes an sich haben, folglich muss sie in synthetischer Einheit mit anderen (wenngleich nur möglichen Vorstellungen) vorher gedacht werden.« 156 Die ursprüngliche Synthesisleistung des Verstandes besteht also gewissermaßen in der Bildung einer Art verworrenen synthetischen Urteils, die noch unabhängig von einer vorherigen analytischen Kenntnis eines Begriffs als Allgemeinbegriff vonstatten gehen muss. Das Problem, das Kant mit seiner Idee der ursprünglichen Synthesis zu lösen versucht, ist demnach im Wesentlichen das folgende. Ein klares und vollständiges Verständnis eines Begriffs kann ihm zufolge nur durch logische Analyse desselben erzielt werden. Um aber Begriffe analytisch zu klären, müssen nach Kant offenbar bereits synthetische Urteile vorhanden sein, in denen diese Begriffe dem Inhalt nach gebildet werden. Die Frage, die sich daher vom Standpunkt der Transzendentalphilosophie aus stellt – die die im menschlichen Geist befindlichen Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis untersucht – ist, was die ursprünglichen Bedingungen der Möglichkeit eines Urteils als synthetischer Einheit im Hinblick auf die Entstehung von Begriffsinhalten sind. Im Gegensatz dazu scheint Frege die Aufgaben der transzendentalen und der allgemeinen Logik im Hinblick auf Begriffe entweder nicht wirklich voneinander zu unterscheiden oder die ersteren zugunsten der letzteren zu vernachlässigen. Die einzige mir bekannte Stelle, wo er sich kurz über Kants Idee der synthetischen Apperzeption auslässt, ist die folgende aus den Grundlagen: 157 Die sammelnde Kraft des Begriffs übertrifft weit die vereinigende der synthetischen Apperzeption. Durch diese wäre es nicht möglich, die Angehörigen des Deutschen Reiches zu einem Ganzen zu verbinden; wohl aber kann man sie unter den Begriff »Angehöriger des Deutschen Reiches« bringen und zählen.

Frege scheint hier die »sammelnde Kraft« des Begriffs geradezu in Konkurrenz zur »vereinigenden Kraft« der synthetischen Apperzeption hinzustellen – und zwar im Hinblick auf die Mengenbildung und Zählbarkeit von Gegenständen des Denkens. Seine Überlegung scheint zu sein, dass die synthetische Apperzeption nicht hinreiche um Mengen zu bilden – hierfür bedürfe es der Begriffe, und somit 156 157

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KrV: B 134. GLA: § 48.

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der Urteile. Kant war demgegenüber der Ansicht gewesen, dass jeder Begriff ursprünglich selbst auf einer Synthesisleistung des Verstandes beruhe. Es bleibt nun unklar, ob Frege hier Kant tatsächlich widersprechen, oder ob er nur etwas klarstellen will, das die Kantische Philosophie – und hier insbesondere den Begriff der synthetischen Apperzeption – überhaupt betrifft. Frege hatte die Einheit des Urteils, wie wir sahen, ursprünglich – d.h. im Rahmen seiner früheren Theorie des Urteils – durch den eigentümlichen Gegensatz von gesättigten und ungesättigten logischen Bestandteilen zu erklären versucht. Auf die Ebene der Gedanken übertragen, würde hieraus folgen, dass deren Einheit analog generell durch die Vereinigung von gesättigten und ungesättigten Gedankenteilen zustandekommt. In Verbindung mit seiner Theorie der Begriffsbildung, wie sie in PP1 enthalten ist, sowie mit der später daraus abgeleiteten Auffassung über die Abhängigkeit der Gedankenteile von der logischen Analyse von Gedanken (PP3) erscheint jedoch eine solche Erklärung letztlich zirkulär, da sie auf etwas zurückgreift, dass seiner eigenen Aussage nach erst aufgrund der Analyse von Urteilen oder Gedanken entstehen kann, deren Einheit also schon voraussetzt. Nun vertritt Frege bekanntlich auch ein Kompositionalitätsprinzip für Gedanken, welches besagt, dass diese gewissermaßen aus logischen Gedankenbausteinen funktional zusammengesetzt werden können. 158 Insbesondere mit Hilfe der Sprache geht das Denken für Frege demnach nicht nur analytisch vonstatten, sondern auch synthetisch; Frege erklärt hierdurch in seiner Zusammenfassung für Darmstädter das Phänomen gedanklicher Kreativität: 159 Die Leistungen der Sprache sind wunderbar. Mittels weniger Laute und Lautverbindungen ist sie imstande, ungeheuer viele Gedanken auszudrücken und zwar auch solche, die noch nie vorher von einem Menschen gefasst und ausgedrückt worden sind Wodurch werden diese Leistungen möglich? Dadurch, dass die Gedanken aus Gedankenbausteinen aufgebaut werden. Und diese Bausteine entsprechen Lautgruppen, aus denen der Satz aufgebaut wird, der den Gedanken ausdrückt, sodass dem Aufbau des Satzes aus Satzteilen der Aufbau des Gedankens aus Gedankenteilen entspricht. Und den Gedankenteil kann man den Sinn des entsprechenden Satzteils nennen, so wie man den Gedanken als Sinn des Satzes auffassen wird. 158 Zur Problematik der Vereinbarkeit der Prinzipien der multiplen Zerlegung und der Kompositionalität siehe ausführlicher Kemmerling 1990, sowie Mayer 1990. 159 LM 243.

A

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Die Zusammensetzung eines Gedankens aus Gedankenbausteinen ist für Frege dabei nicht so zu verstehen, als würden jene dabei im eigentlichen Sinne psychologisch erzeugt. Gedanken existieren nach Frege vielmehr gänzlich unabhängig vom Denker. Gedanken waren für ihn nicht »das subjektive Tun des Denkens«, sondern etwas Objektives, und d. h. vom individuellen Denker Unabhängiges und intersubjektiv Erfassbares und Kommunizierbares. 160 Denken im Sinne des »Bringens eines Gegenstandes unter einen Begriff« ist für Frege daher die Anerkennung einer Beziehung, die schon vorher bestand. 161 Die Frage ist nun jedoch, wie denn die Einheit eines Urteiles oder Gedankens überhaupt – d. h. unabhängig von der Annahme der Existenz irgendeines analysierbaren Urteils oder Gedankens – zu erklären ist, wenn doch Gedankenbausteine grundsätzlich nur durch Analyse von Gedanken gewonnen werden können. Diese Frage wird durch das Kompositionalitätsprinzip nicht beantwortet. Frege kommt diesem Problem zwar in einer seiner Frühschriften nahe, wo er sich »die Vorstellungen von Eigenschaften und Beziehungen« als durch das erste Urteil entstanden denkt, in dem sie Dingen zugeschrieben werden. Er versäumt es jedoch, eine genauere Erklärung der Prinzipien zu versuchen, durch die jenes Entstehen der »Vorstellungen von Eigenschaften und Beziehungen« im ersten Urteil, durch das sie Dingen zugeschrieben werden, allererst ermöglicht wird. Zudem widerspricht die zeitliche Dimension, die Frege hier mit der Entstehung von Gedanken verbindet, seiner offiziellen Auffassung, dass Gedanken wie auch ihre Teile objektiv sind. Eine zweite, möglicherweise aufschlussreichere Erklärungsstrategie für die Möglichkeit von Gedanken überhaupt verläuft inner-halb von Freges philosophischem System über den Begriff der Ver-nunft. In den Grundlagen präsentiert uns Frege die menschliche Ver-nunft als ein allgemeinverbindliches und zugleich objektivitätsstiften-des Rationalitätsideal, das die Beliebigkeit der arithmetischen – und somit auch der logischen – Gesetzgebung über die Willkür einzelner Individuen hinweg ausschließt. Insbesondere bringt er hier 160 Die einzige Ausnahme – im Hinblick auf ihre Kommunizierbarkeit, wenn auch wohl nicht ihre Unabhängigkeit vom individuellen Denker – scheinen gewisse Erste-PersonGedanken zu sein, die Frege allerdings nur in »Der Gedanke« anspricht. Vgl. dazu Lotter 1999. 161 Vgl. Rhu: 181.

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den Begriff der Vernunft mit dem der Objektivität in Verbindung. Unter Objektivität, so Frege in § 26 der Grundlagen, verstehe er 162 »eine Unabhängigkeit von unserem Empfinden, Anschauen und Vorstellen, von dem Entwerfen innerer Bilder aus den Erinnerungen früherer Empfindungen, aber nicht eine Unabhängigkeit von unserer Vernunft; denn die Frage beantworten, was die Dinge unabhängig von der Vernunft sind, hieße urteilen, ohne zu urteilen, den Pelz waschen, ohne ihn nass zu machen«.

Die Objektivität eines Dinges wird hier charakterisiert als dessen Fähigkeit, gänzlich von den subjektiven, psychologischen Faktoren des menschlichen Bewusstseins unabhängig und für alle Denker dasselbe zu sein. Diese Fähigkeit wird nun offenbar davon abhängig gemacht, dass der betreffende Gegenstand – oder Begriff – durch die Vernunft erfassbar ist. Dies scheint aus seiner Erklärung dessen hervorzugehen, warum Objektivität keine Unabhängigkeit von der Vernunft bedeute: Dinge als unabhängig von der Vernunft bestimmt zu denken würde bedeuten über sie zu urteilen, ohne dabei zu urteilen. Denn Urteilen, so scheint Frege hier vorauszusetzen, ist eine Tätigkeit, die wesentlich durch die Gesetze der Vernunft bestimmt ist. Was die obige Passage demnach impliziert, ist, dass die Möglichkeit eines Dinges, Gegenstand eines Urteils – und somit dem Vernunftvermögen zugänglich – zu sein, notwendige Voraussetzung für seine Objektivität, und somit für seine Unabhängigkeit von der subjektiven Beschaffenheit eines individuellen Bewusstseins, ist. Dennoch liefert uns Frege keine genaueren Ausführungen zur Frage, wie denn genau die Vernunft es bewerkstelligt, die objektive Existenz von Gedanken zu ermöglichen, und was hier eigentlich genau unter »Vernunft« zu verstehen ist. Ich komme auf diese und andere Fragen, die sich bezüglich Freges Vernunftbegriff auftun im zweiten Teil zurück.

1.4. Frege, Russell und die Neukantianer Ich möchte nun einen Moment innehalten, um Freges geniale – wenn auch einige Fragen offenlassende – Verbindung von Logik Mathematik der philosophischen Tradition seiner Zeit gegenüberzustellen. Wie wurde Freges Ansatz von seinen Zeitgenossen aufgenommen? In welcher Weise könnte man sagen, dass sie ein typisches Produkt 162

GLA: 36. A

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ihrer Zeit war? In welcher Beziehung steht sie zu nachfolgenden Entwicklungen in der Philosophie der Logik? Inwiefern, wenn überhaupt, handelt es sich dabei überhaupt noch um ein philosophisches Projekt? Wie aus dem Bisherigen hervorgeht, war Freges Verständnis der Beziehung zwischen Mathematik und Philosophie, insbesondere Logik, kein einseitiges, sondern er glaubte, dass beide sich gegenseitig befruchten sollten. Obwohl er die Logik nicht, wie es Boole getan hatte, als bloße Algebra auffasste, schien er dennoch ähnlich wie Boole der Ansicht zu sein, dass logische Strukturen und Begriffe sich am besten am Vorbild arithmetischer Sätze studieren ließen, die somit der Logik und Philosophie als Idealmodell logischer Klarheit dienen könnten. Die beiden zentralen Begriffe seiner Logik – Argument und Funktion – entstammten der mathematischen Analysis. Der Geometrie wiederum entlehnte er die Idee einer strikten Axiomatik, die er zur Explikation seines Beweisbegriffes nutzbar machte, mit dessen Hilfe er schließlich in den Grundlagen auch neue Kriterien für die Unterscheidung zwischen analytischen, synthetischen, apriorischen und aposteriorischen Urteilen formulierte. 163 In diesem Sinne sollte die Mathematik nicht nur logischen, sondern auch erkenntnistheoretischen und metaphysischen Untersuchungen »als Unterlage dienen«. Wir sahen, wie Freges seine mathematische Logik zur Beantwortung von Fragen einsetzte, die unmittelbar die Philosophie selbst betreffen – Fragen wie etwa, was das »Wesen des Begriffs« im Unterschied zu dem des Gegenstandes ist, oder worin logische Klarheit besteht. Im Lichte seines logizistischen Programms, das von Vielen noch heute als Freges wesentliches Projekt betrachtet wird – hatte er damit zugleich in gewisser Weise die Logik, und indirekt die Philosophie selbst, mathematisiert um die Arithmetik zu logisieren. Die Mehrzahl der Frege-Forscher im 20sten Jahrhundert gehört nun im Hinblick auf seine historische Einordnung einem von zwei einander entgegengesetzten Lagern an. Orthodoxe Analytiker betrachten Frege noch heute gerne als einen Denker, der radikal mit der erkenntnistheoretischen Tradition der Neuzeit gebrochen und die mathematische Logik gewissermaßen zur Basisdisziplin der Philosophie erhoben habe. Andere Autoren hingegen neigen seit den 70er Jahren dazu, Frege eher in die neukantiansche Tradition einzuordnen, innerhalb derer er gewissermaßen seine frühe philosophische Ausbildung erfuhr. Wie nun jedoch aus dem Bisherigen bereits 163

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Vgl. dazu im folgenden ausführlicher 2.5–2.5.4.

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hervorging, vernachlässigte Frege typisch transzendentalphilosophische Fragestellungen und Untersuchungen eher. Dies deutet bereits darauf hin, dass eine korrekte historische Einordnung von Freges Ansatz wohl eher in der Mitte zwischen der Neukantianischen und der späteren analytischen Tradition in der Philosophie anzusiedeln ist. Ich möchte in diesem Zusammenhang im folgenden einige Kontraste zwischen der neukantianischen und analytischen Auffassung von Logik eingehen, sowie auf einige methodologische Unterschiede in der Herangehensweise an philosophische Fragen, die möglicherweise zur Erklärung das Entstehen der Kluft beitragen können, die sich zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts zwischen analytischer und traditioneller Philosophie auftat. 1.4.1. Die Ablösung der Logik von der Philosophie Die erste o. g. Linie der Frege-Rezeption führt gewissermaßen auf Russell und die Logischen Positivisten zurück. Während Frege, der professionelle Mathematiker, noch seinen Kollegen über die Wichtigkeit der Philosophie für die Mathematik gepredigt hatte, bemühte sich offenbar Russell, der professionelle Philosoph, den Mathematikern seine Logik schmackhaft zu machen, indem er zuweilen ihre philosophische Dimension herunterspielte und das Augenmerk vor allem auf die technischen Aspekte des Logizismus lenkte. Russell ging so weit, die mathematische Logik im Anlehnung an Boole geradezu als einen »Zweig der Mathematik« 164 zu erachten. Diese Metapher ist bezeichnend. Eine Disziplin A als Zweig einer Disziplin B zu bezeichnen, suggeriert, dass B in gewissem Sinne A umfasst, sich gleichzeitig aber noch weiter in andere Bereiche hinein erstreckt. Nach Russells Metapher von der Logik als Zweig der Mathematik wäre demnach die letztere – und zwar einschließlich der Geometrie – die umfassendere Disziplin, die die Logik im Hinblick auf deren Methodologie vollständig absorbiert, sich aber auch möglicherweise in Gebiete erstreckt, die nicht mehr zur logischen Forschung im engeren Sinne gehören. Die Logik wäre in diesem Fall, als Teildisziplin der Mathematik, primär im Hinblick auf ihren Nutzen als mathematische Teildisziplin zu begründen und aufzustellen; andere Anwendungen – etwa im Bereich der Philosophie – wären als sekundär anzusehen. 164

Russell 1914: 49. A

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Wenn wir etwa einen Blick auf die Art und Weise werfen, wie Russell 1908 seine Typentheorie einem spezifisch mathematischen Leserkreis vorstellte und zu rechtfertigen suchte, so drängt sich der Eindruck auf, dass jedenfalls zu diesem Zeitpunkt die mathematische Logik in ihrem Prozess der Loslösung von der Autorität traditioneller philosophischer Fragen und Überlegungen bereits weit vorangeschritten war: 165 The following theory of symbolic logic recommended itself to me in the first instance by its ability to solve certain contradictions, of which the one best known to mathematicians is Burali-Forti’s concerning the greatest ordinal. But the theory in question seems not wholly dependent on this indirect recommendation; it has also, if I am not mistaken, a certain consonance with common sense which makes it inherently credible. This, however, is not a merit upon which much stress should be laid; for common sense is far more fallible than it likes to believe. […] The theory of types raises a number of difficult philosophical questions concerning its interpretation. Such questions are, however, essentially separable from the mathematical development of the theory, and, like all philosophical questions, introduce elements of uncertainty which do not belong to the theory itself. It seemed better, therefore, to state the theory without reference to philosophical questions, leaving these to be dealt with independently.

In den obigen beiden Passagen bringt Russell offenbar zum Ausdruck, dass die Fähigkeit einer logischen Theorie, mathematische Paradoxien technisch aufzulösen, als hinreichendes Kriterium für ihre Zuverlässigkeit gelten solle. Die Typentheorie empfiehlt sich Russell demnach primär, weil sie geeignet scheint, den logischen Paradoxien der Mengenlehre zu entgehen und dabei zugleich eine Zurückführung der Mathematik auf die Logik im Sinne einer konsistenten Menge formaler Grundgesetze zu ermöglichen. Um Russell hier richtig zu verstehen, sollten wir seine Rede von der Auflösung mathematischer Paradoxien im Lichte des logizistischen Programms interpretieren. Russell hatte sein Projekt anhand der folgenden beiden Thesen charakterisiert: 166 165 Russell 1908: 59, 102. Der Aufsatz erschien erstmals im American Journal of Mathematics. 166 Russell 1903: v. In Carnap 1931 findet sich fast genau dieselbe Aufteilung des Logizismus in zwei Teilthesen, und er nennt hier Russell als den Hauptvertreter des Logizismus.

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»All pure mathematics deals exclusively with concepts definable in terms of a very small number of fundamental logical concepts, and […] all its propositions are deducible from a very small number of fundamental logical principles«.

Gemäß Russell sollten sich sämtliche mathematischen Sätze als Theoreme aus logischen – einschließlich mengentheoretischen – Axiomen und Definitionen erweisen. Eine mathematische Paradoxie wiederum – wie etwas diejenige über die Menge aller Mengen, die sich selbst nicht enthalten – besteht darin, dass sich innerhalb eines System zwei Sätze ableiten lassen, von denen der erste im Widerspruch zum zweiten steht. Es scheint klar, dass wenn sich ein solcher Widerspruch aus einer Menge von Axiomen ableiten lässt, diese Axiome selbst als inkonsistent zu verwerfen sind. Russell geht aber hier einen Schritt weiter – nicht nur gilt für ihn offenbar die Ableitbarkeit eines Widerspruchs als klare Falsifikation der Axiome, sondern das Fehlen eines solchen wird von ihm als zumindest im höchsten Maße zuverlässige Art der Bestätigung, wenn nicht gar Verifikation hingestellt. Als einzig alternatives Kriterium zieht Russell oben offenbar die Übereinstimmung der Axiome mit dem gesunden Menschenverstand in Betracht; diese nimmt für ihn allerdings eine zweitrangige Rolle ein. Philosophische Probleme, die die Theorie in anderer Hinsicht aufwerfen mag – einschließlich erkenntnistheoretischer Probleme – können offenbar seiner Ansicht nach gegenüber technischen Problemen innerhalb der Mathematik vernachlässigt und aufgeschoben werden, wenn es darum geht, die richtige logische Theorie zu finden. Russells Rechtfertigung dieser Herangehensweise beruht offenbar auf seiner oben geäußerten Annahme, dass speziell philosophische Fragen grundsätzlich »ungewiss« seien, und dass ferner das einzige Erkenntnisvermögen, welches uns zu ihrer Beantwortung zur Verfügung stehe – nämlich der sogenannte gesunde Menschenverstand – unzuverlässiger sei als es ihm selbst zu glauben genehm ist. Dieser Argumentation zufolge ist demnach offenbar eine logisch-mathematische Rechtfertigung eines logischen Systems im o. g. Sinne – genauer: eine pragmatische Rechtfertigung, die darauf beruht, inwieweit die Logik mathematische Paradoxien auflösen kann – in jedem Fall zuverlässiger als eine, die auf dem gesunden Menschenverstand beruht. Zugleich aber stellt für Russell die Logik das »Wesen der Philosophie« dar – alle genuin philosophischen Probleme, seien auf rein logische Probleme reduzierbar; oder anders gesagt: Erweist sich ein A

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Problem nach sorgfältiger logischer Analyse nicht als ein vollständig durch logische Mittel Lösbares, so ist es kein wirklich philosophisches Problem. 167 Insofern die Logik aber allein darüber entscheiden sollte, was ein philosophisches Problem und wie es zu lösen ist, und insofern das System logischer Axiome und Schlussregeln selbst wiederum in erster Linie im Hinblick auf seine Fähigkeit, mathematische Probleme zu lösen, zu bewerten und aufzustellen ist, kommt der Mathematik in Russells Händen vollkommene methodologische wie theoretische Autorität über die Philosophie zu. Retrospektiv wurde allerdings Russells Einstellung zum Verhältnis von Logik, Mathematik und Philosophie auch Frege zugeschrieben. Rudolf Carnap etwa behauptet 1931 in einer Gegenüberstellung der »alten« und der »neuen« Logik, dass bereits Frege die Logik – so wörtlich – als einen »Zweig der Mathematik« angesehen habe, und dass diese Auffassung später von Russell und Whitehead nur »bestätigt« worden sei. 168 Und auch Michael Dummett hat über Frege gesagt, dass dieser als erster »mit seiner Vorgehensweise« seine Meinung unter Beweis gestellt habe, dass man sich der Logik ganz unabhängig von jeglicher vorhergehender philosophischer Grundlage nähern könne. 169 Damit habe er gewissermaßen die Ära der modernen Logik (und analytischen Philosophie) begründet. Noch heute wird die Auffassung vertreten, dass, obwohl »einige Überlegungen, die er im Zuge der philosophischen Begründung und Durchführung seines logizistischen Programms angestellt hat, durchaus erkenntnistheoretischer Natur« gewesen seien, Freges »Ziel, die arithmetischen Wahrheiten durch ihre Ableitung aus logischen Urgesetzen und Definitionen allein als analytisch zu erweisen, […] Sache des Logikers, […] nicht des Erkenntnistheoretikers« sei, dass es sich dabei also um ein vorwiegend technisches Projekt handele. 170 Noch heute wird auch Freges Projekt zumeist einfach im Sinne einer »Zurückführbarkeit« der Arithmetik auf die Logik, bzw. ihrer »Ableitbarkeit« aus logischen Grundgesetzen aufgefasst. 171 Wäre es nun Frege primär um ein rein technisches Projekt geVgl. Russell 1914: 42. Vgl. Carnap 1930–31. In Carnap 1954: 2 wird ein Unterschied zwischen philosophischer und mathematischer Logik vorgenommen; Carnap klammert dabei die erstere aus seinem Interessenbereich aus. 169 Vgl. Dummett 1981a: xxxiii. 170 Schirn 1987, 92. 171 Vgl. Baker/Hacker (1984: 8), Schirn (1987: 92). 167 168

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gangen – dem Beweis einer logischen Folgerungsbeziehung zwischen zwei Mengen von Aussagen, dann hätte er lediglich eine Folgerungsbeziehung zwischen einer gegebenen Menge von – mehr oder weniger willkürlich als »logisch« klassifizierten – Grundsätzen L1, …, Ln und einer Menge von Grundsätzen A1, …, Am nachzuweisen brauchen derart, dass wenn wir in einer bestimmten formalen Kalkül L1, …, Ln als Axiome setzen, wir hieraus A1, …, Am als Theoreme ableiten können, indem wir eine explizite Definition sämtlicher in A1, …, Am enthaltenen Terme durch Terme liefern, die in L1, …, Ln enthalten sind. Auch die Definitionen bräuchten dann nur als willkürliche, vom praktischen Interesse der logizistischen Ableitbarkeitsthese geleitete Festsetzungen angesehen zu werden, in denen die Bedeutungen der betreffenden Terme festgelegt werden. Er hätte lediglich ein formales System zu entwickeln brauchen, in dem seine logischen Gesetze als Axiome in dem Sinne auftreten, dass sie konsistent sind und innerhalb des Systems nicht bewiesen werden können, und die arithmetischen Gesetze sich als Theoreme aus den ersteren formal ableiten lassen. Wäre Frege vorwiegend an den technischen Aspekten des logizistischen Programms gelegen gewesen, so hätten diese Kriterien genügt. Jegliche philosophischen Aspekte dieses Unternehmens hätten ihm dann mehr oder weniger gleichgültig sein müssen, einschließlich von Fragen nach dem erkenntnistheoretischen Status und der Natur der logischen Axiome – ob sie etwa Wahrheiten darstellen oder nur Formeln, ob bzw. wie ihre Wahrheit auch unabhängig von einem spezifischen Axiomensystem gerechtfertigt ist und worauf sie letztendlich beruht, oder auch, was spezifisch »logisch« an ihnen sein soll. Wäre es Frege lediglich darum gegangen, die formalen Beziehungen zwischen zwei bestimmten, mehr oder weniger willkürlich als »logisch« und »arithmetisch« ausgezeichneten Mengen von Grundgesetzen festzustellen, indem er beide in derselben formalen Sprache axiomatisierte, so hätte sein Projekt wohl an sich noch wenig genuin philosophischen Charakter gehabt. Ist nun diese Einschätzung in bezug auf Frege korrekt? Können wir Frege dies Einstellung zur Grundlegung der Logik zuschreiben? Oder handelt es sich bei solchen retrospektiven Zuschreibungen letztlich nur um Zeichen für die späte Vereinnahmung Freges durch die orthodoxe, konservative Linie in der analytischen Tradition des 20sten Jahrhunderts? Wir wissen jedenfalls, dass Frege selbst noch nicht die Logik als Teil der Mathematik bezeichnete, sondern anstatt dessen vielmehr A

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von Hermann Lotzes Metapher von der Mathematik als Zweig der Logik Gebrauch machte. Verbirgt sich hinter der Verschiedenheit der Metaphern auch ein Unterschied in Freges und Russells Auffassung vom Verhältnis von Logik und Mathematik? Eines scheint klar: Sowohl Frege als auch Russell waren der Ansicht, dass keine scharfe theoretische Trennlinie zwischen Logik und Arithmetik gezogen werden könne, dass sie also gewissermaßen »identisch« seien. Russell allerdings überträgt diese Haltung auch auf die Geometrie, also auf die gesamte Mathematik. Er schreibt: 172 The proof of their identity is, of course, a matter of detail: starting with premisses which would be universally admitted to belong to logic, and arriving by deduction at results which as obviously belong to mathematics, we find that there is no point at which a sharp line can be drawn, with logic to the left and mathematics to the right.

Analog meint Frege: 173 »Es ist keine scharfe Grenze zwischen Logik und Arithmetik zu ziehen; vom wissenschaftlichen Gesichtspunkte aus betrachtet, sind beide eine einheitliche Wissenschaft. Wenn man der Logik die allgemeinsten Grundsätze und vielleicht die allernächsten Folgerungen zuweist, der Arithmetik hingegen die weitere Ausbildung, so ist das so, als ob man von der Geometrie eine eigene Wissenschaft der Axiome abtrennen wollte.«

Die enge Verwandtschaft der beiden Disziplinen Arithmetik und Logik wurzelte Frege zufolge in der Natur ihres gemeinsamen Gegenstandsbereiches; allerdings hielt er eine praktische Grenzziehung zwischen den beiden Disziplinen wohl für angebracht: 174 Nun wird ja die Verteilung des gesamten Wissensgebietes nicht allein von theoretischen, sondern auch von praktischen Gesichtspunkten bestimmt, und ich will hiermit nichts gegen eine gewisse praktische Trennung sagen; nur darf sie nicht zur Kluft werden, wie es jetzt zu beiderseitigem Schaden der Fall ist.

Auch Frege suchte jedoch ganz bewusst nicht nur mathematische Methoden sondern auch Ideen im Zuge seiner Reform der traditionellen Logik nutzbar zu machen. Wie Russell erweiterte er die Logik um zusätzliche Gesetze über Begriffsumfänge und veränderte sie somit in einer, die diesem Projekt entgegenkam. Weder Frege noch 172 173 174

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Vgl. Russell 1919: 194. FTA: 103. FTA: 103 f.

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Russell scheinen zudem die Unterscheidung zwischen transzendentaler und formaler Logik aufrechterhalten zu haben, die noch bei den Neukantianern eine sehr wichtige Rolle spielte. Offensichtlich war Frege jedoch noch nicht ohne weiteres bereit, die Logik so zu verändern, wie Russell es tat, nur um zu zeigen, »dass die Mathematik identisch mit der Logik« sei. Denn ansonsten hätte er nach Russells Entdeckung der Antinomie einfach dessen Weg gehen und eine Typentheorie akzeptieren können. Anstatt dessen gab Frege aber letztendlich sein ursprüngliches Projekt auf und begann – gegen Ende seines Lebens – den alternativen, und leider unvollendeten, Versuch einer apriorischen Begründung der Arithmetik unabhängig von der Logik. Was ihn an der Typentheorie Russell störte, waren wohl mehrere Faktoren. Zum einen lehnte Frege eine Typenhierarchie für logische Gegenstände grundsätzlich ab, wenngleich er sie für Funktionen akzeptierte. Frege befürchtete nämlich, dass durch die Typentheorie eine »unabsehbare Mannigfaltigkeit von Arten« in der Logik entstünde und man dadurch Schwierigkeiten bekäme, »eine vollständige Gesetzgebung aufzustellen, durch die allgemein entschieden würde, welche Gegenstände als Argumente welcher Funktionen zulässig wären« 175 . Zudem beklagte er sich darüber, dass Russell die absolute Wesensverschiedenheit von Begriff und Gegenstand nicht anerkenne. Insbesondere aber lehnte Frege die Einführung einer logischen Hierarchie von Gegenständen und Propositionen auch deshalb ab, weil er befürchtete, dass dadurch die logischen Gesetze für sich selbst genommen keine strikte universelle Gültigkeit mehr besitzen würden 176 – und wir sahen, inwiefern diese Grundannahme über die Universalität logischer Gesetze sein Logizismusprojekt selbst ursprünglich motiviert zu haben scheint. Russells Typentheorie setzte hingegen voraus, dass es keine streng universellen Sätze geben könne, dass also ein Allquantor niemals dazu verwendet werden könne, einen Satz über alle Klassen, alle Eigenschaften, alle Gegenstände oder alle Propositionen zu formulieren. Denn Ausdrücke wie »alle Gegenstände« »alle Sätze«, »alle Eigenschaften« oder »alle Klassen« machen keinen Sinn innerhalb der Russellschen Logik. Auf dieser Basis können freilich Paradoxien wie GGA II: 255. GGA II: 254 f.; vgl. auch RSch: 193 ff. Siehe dazu ausführlicher Cocchiarella 1986: 221 ff. 175 176

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die einer Klasse aller Klassen, die sich selbst nicht enthalten, oder die eines Satzes über die Falschheit aller Sätze bestimmten Typs vermieden werden. Es wird einfach syntaktisch ausgeschlossen, dass ein Satz sich auf sich selbst beziehen oder eine Klasse sich selbst enthalten bzw. nicht enthalten könnte. Auch Russellsche logische Grundgesetze können aber demnach keine im strikten Sinne universellen Sätze sein. Er unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen Scheinvariablen und Realvariablen. Scheinvariablen geben vor, sich auf alle Gegenstände im Universum zu beziehen, während Realvariablen die Aussagefunktion lediglich auf je einen beliebigen Gegenstand anwendbar machen. Die logischen Grundgesetze, die bei Russell nur Realvariablen enthalten dürfen, dienen somit eigentlich nur noch als Schemata, die unabhängig von ihren konkreten, mannigfachen Anwendungen keine Bedeutung haben: 177 Hence the fundamental laws of logic can be stated concerning any proposition, though we cannot significantly say that they hold of all propositions. These laws have, so to speak, a particular enunciation, but no general enunciation. There is no one proposition which is the law of contradiction (say); there are only the various instances of the law. Of any proposition we can say: »p and not-p cannot both be true;« but there is no such proposition as »Every proposition p is such that p and not-p can not both be true«.

Diese Revision der logischen Grundgesetze, die Russell hier vornimmt, lief nun Freges Idee von Logik zuwider insofern durch erstere die Idee verabschiedet wird, dass es nach dem Gebot der Vernunft eine endliche, möglichst kleine Menge von logischen Urgesetzen geben müsse, die die logischen Grundformen des Denkens bzw. Wahrseins von Sätzen oder Gedanken überhaupt enthalten. 178 In gewisser Weise wurde durch die Einführung von Realvariablen die propositionale, wahrheitsfähige Natur der logischen Gesetze selbst in Frage gestellt. Rein technisch gesehen schien Russells Typentheorie geeignet zu sein, die These von der Ableitung sämtlicher mathematischer Sätze aus logischen Sätzen zu bestätigen; philosophisch betrachtet erschien sie Frege jedoch unbefriedigend. Er hatte offenbar sehr konRussell 1908: 230. Vgl. dazu GLA, § 5: »Hankel nennt mit Recht diese Annahme von unendlich vielen unbeweisbaren Urwahrheiten unangemessen und paradox. Sie widerstreitet in der Tat dem Bedürfnisse der Vernunft nach Übersichtlichkeit der ersten Grundlagen.« 177 178

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krete Vorstellungen davon, welche Eigenschaften ein logisches Urgesetz haben müsse; und Russells Typentheorie erfüllte diese Bedingungen nicht. Insbesondere aber stimmte Frege mit Russell nicht darin überein, dass Eigenschaften wie Konsistenz sowie die Fähigkeit, eine möglichst große Anzahl mathematischer Paradoxien aufzulösen, als hinreichende Wahrheits- oder auch nur Bestätigungskriterien für die logischen Axiome angesehen werden könnten. Frege hatte sehr konkrete Vorstellungen davon, was ein Urgesetz erkenntnistheoretisch betrachtet von seinen Folgerungen unterscheiden muss. 1.4.2. Der Begriff des Urgesetzes Eine für Frege offenbar besonders wichtige Frage ist nun die nach der Berechtigung der logischen Urgesetze selbst. Russell, so sahen wir, berief sich vorwiegend auf die Konsistenz und Leistungsfähigkeit der Axiome im Hinblick auf die Ableitbarkeit konsistenter mathematischer Konsequenzen. Es hat den Anschein, dass für ihn bereits – ebenso wie für Couturat – die Frage nach der Geltung und dem erkenntnistheoretischen Status der Grundbegriffe und Axiome offenbar keine Frage ist, die in einem theoretischen Sinne von außerhalb eines Axiomensystems gestellt werden könnte. 179 Die bloße Axiomatisierung einer Theorie – ihre Gliederung in Axiome und Theoreme, sowie die Zurückführung ihrer Begriffe auf Grundbegriffe in einer formalen Sprache – hat jedoch rein technisch gesehen noch keinerlei Implikationen etwa im Hinblick auf die erkenntnistheoretische oder metaphysische Grundlage dieser Axiome oder Definitionen selbst, geschweige denn der Begriffe und Wahrheiten, von denen in diesen Sätzen die Rede ist. Frege selbst weist wiederholt darauf hin, dass die Frage, welche Sätze einer Wissenschaft wir als Axiome nehmen und welche als Theoreme sich vom rein technischen Standpunkt aus nach dem System richtet, welches wir uns ausgewählt haben; rein technisch gesehen wären somit verschiedene Axiomatisierungen einer und derselben Aussagenmenge vollkommen gleichwertig. 180 Zu Couturat vgl. Natorp 1910: I, § 3, 8. Vgl. auch BS, § 13: »Nun muss freilich zugestanden werden, dass die Zurückführung nicht nur in dieser einen Weise möglich ist. Daher werden durch eine solche [ableitende; D. L.] Darstellungsweise nicht alle Beziehungen der Gesetze des Denkens klar gelegt. Es 179 180

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Frege schreibt nun in den Grundlagen einem Beweis zwei wesentliche Aufgaben zu: Nämlich erstens, die Wahrheit eines Satzes »über alle Zweifel« zu erheben, und zweitens, eine Einsicht in die logischen Beziehungen und Abhängigkeiten zwischen den Wahrheiten innerhalb einer Disziplin zu gewinnen. 181 In den Grundgesetzen schließlich dient der Beweis laut Frege dazu »jedes Axiom, jede Voraussetzung, Hypothese […], auf denen ein Beweis beruht, ans Licht« zu ziehen, und somit »eine Grundlage für die Beurteilung der erkenntnistheoretischen Natur« eines bewiesenen Gesetzes gewinnen. 182 Dies ist es offenbar, was er sich von seinem logizistischen Programm verspricht, welches nachzuweisen sucht, dass sich sämtliche arithmetischen Wahrheiten durch lückenlose Beweisketten auf Definitionen und rein logische Axiome zurückführen lassen. 183 Gemäß der Grundlagen versteht Frege unter einem Beweis eine Schlusskette, die von der zu beweisenden Wahrheit durch Schlussregeln über eine Reihe von anderen Wahrheiten bis hin zu diesen Urwahrheiten führt. Zu diesen Urwahrheiten gehören (a) offenbar allgemeine logische Gesetze, (b) allgemeine Gesetze nicht-logischer Art, (c) Definitionen, sowie (d) im Falle von Wahrheiten a posteriori Tatsachen, die sich auf bestimmte Einzelgegenstände beziehen und somit nicht allgemeiner Natur sind. 184 Eine Wahrheit, die vollständig durch eine Menge allgemeiner Gesetze – unter Zuhilfenahme von Definitionen – beweisbar ist, welche selbst wiederum »eines Beweises weder fähig noch bedürftig sind«, lässt sich aufgrund dessen allein als Wahrheit a priori erkennen. Dahingegen werden die Urwahrheiten, auf denen der Beweis einer aposteriorischen Wahrheit beruht, nur als unbeweisbar, nicht aber als eines Beweises nicht bedürftig bezeichnet. Die von Frege bei dieser Charakterisierung eines Urgesetzes verwendete Terminologie geht auf Lotze und Leibniz – nicht auf Kant – zurück. Leibniz’ identische Sätze – die ersten Vernunftwahrheiten – zeichneten sich dadurch aus, dass sie »nicht bewiesen werden können und auch keines Beweises bedürfen«. Als Kriterium gibt er hierfür giebt vielleicht noch eine andere Reihe von Urteilen, aus denen ebenfalls, mit Hinzunahme der in den Regeln enthaltenen, alle Denkgesetze abgeleitet werden können.« 181 GLA: § 2. 182 Vgl. GGA I: VII, 1. 183 Vgl. dazu Gabriel 1996: 331: »The entire program of logicism in […] Frege’s major works can be seen as an attempt to clarify the »epistemological nature« of arithmetic.« 184 Vgl. GLA: § 3; GGA I: vi.

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an, dass ihr Gegenteil bereits einen ausdrücklichen Widerspruch enthalte. 185 Bei Leibniz also kann die Wahrheit eines ursprünglichen logischen Axioms durch eine Art unmittelbarer indirekten Beweis herausgefunden werden, der auf der unmittelbaren Einsicht der Widersprüchlichkeit des Gegenteils beruht. Leibniz’ Charakterisierung der ersten Vernunftwahrheiten entspricht also in dieser Hinsicht Kants Kriterium der analytischen Urteile. Bei Frege gelten hingegen auch die Axiome der Euklidischen Geometrie als Urgesetze, d. h. als allgemeine Wahrheiten, die eines Beweis weder fähig noch bedürftig sind – bei ihnen kann es sich jedoch nicht um identische Sätze im Sinne Leibniz’ oder um analytische Urteile im Sinne Kants handeln, ihre Wahrheit Frege zufolge durchaus nicht bereits aufgrund des Satzes vom Widerspruch eingesehen werden. 186 Was bedeutet es nun für Frege überhaupt, dass ein Gesetz unbeweisbar und dass es eines Beweises nicht bedürftig ist? Was ist der Unterschied zwischen diesen beiden Merkmalen, wenn es überhaupt einen solchen gibt? Ich möchte hier im folgenden zunächst nur auf den ersten Begriff eingehen die Diskussion des zweiten auf Teil II verschieben.

185 Vgl. M: §§ 33, 35. Zu den affirmativen identischen Sätzen zählte er neben bekannten Tautologien der Aussagen- und Prädikatenlogik, wie etwa »Wenn A so A«, »Wenn A und B so B«, »Das gleichseitige Rechteck ist ein Rechteck«, auch Instanzen der Reflexivität der Identitätsrelation, die unmittelbar aus der Identität des Ununterscheidbaren folgt, ohne sie jedoch schwerlich – etwa auf der Basis des heutigen, reduzierten Widerspruchsgesetzes allein – zu beweisen wäre. Leibniz’ Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren besagt nach heutiger Standard-Interpretation (x)(y)(P)((P(x) $ P(y)) ! x = y. M. E. vertrat Leibniz auch die Umkehrung dieses Prinzips, d. h. (x)(y)(P) ½x = x ! (P(x) $ P(y)), welches Quine die »indiscernibility of identicals« nannte. Man kann jedoch die Reflexivität der Identität bereits aus dem ersteren Prinzip ableiten. Denn es gilt trivialerweise aufgrund der Regeln der Aussagenlogik (x)(P)½P(x) $ P(x). Hieraus erhalten wir dann nach Modus Ponens: (x) x = x. Es sollte hier hinzugefügt werden, dass Leibniz in den 5 Jahre zuvor vollendeten Neuen Abhandlungen auch eine Teilklasse von negativen identischen Sätzen anzuerkennen scheint, die im Unterschied zu den anderen nicht des Satzes vom Widerspruch bedürfen, um allein aufgrund eines Verstehens der in ihnen enthaltenen Begriffe als wahr erkannt zu werden. Es handelt sich hierbei um die sogenannten disparaten Sätze, in denen offenbar eine intensionale Verschiedenheit von Begriffen zum Ausdruck gebracht wird; vgl. NA, IV, 2, § 1. Zu Lotzes Verwendung der Leibnizschen Rede von der Unbeweisbarkeit und Nichtbeweisbedürftigkeit von Axiomen siehe Lotze Gabriel 1996. 186 Siehe dazu auch im folgenden 2.2.2. und 2.3.6.

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1.4.3. Nichtbeweisbarkeit und unmittelbares Einleuchten Wenn wir die Nichtbeweisbarkeit als rein technisches Merkmal auffassten – in dem Sinne, dass es innerhalb eines Systems keine anderen Sätze gibt, aus denen das betreffende Gesetz logisch abgeleitet werden kann – dann bräuchten die logischen Axiome gemäß diesem Kriterium nicht einmal wahr zu sein. Denn ein Satz ist z.B. auch dann nichtbeweisbar innerhalb eines konsistenten Systems, wenn er zu den falschen Sätzen gehört. Und es wäre durchaus denkbar, dass ein Gesetz – ob fälschlicherweise oder mit Absicht – innerhalb eines Systems als Axiom genommen und somit hier als unbeweisbar erscheint, dessen Negation in einem anderen System als Theorem ableitbar ist. Auch aus der bloßen Konsistenz von Axiomen folgt noch keineswegs deren Wahrheit, worauf Frege in seiner Auseinandersetzung mit Hilbert insistiert. 187 Hieraus ergibt sich aber ein Problem. Wenn es nämlich eine Aufgabe von Beweisen ist, das Bewiesene »über allen Zweifel« zu erheben, dann können weder die formale Nichtbeweisbarkeit der Axiome – der ersten Prämissen des Beweises – noch ihre formale Konsistenz hinreichende Bedingungen für die Wahrheit der Axiome selbst sein. Ist aber die Wahrheit der Axiome nicht gesichert, so auch nicht die ihrer Theoreme, selbst wenn diese durch eine formal korrekte Folgerung aus ersteren abgeleitet wurden. Aus ähnlichen Gründen würde es wohl auch nicht helfen, die Beweisbarkeit eines Axioms innerhalb eines zweiten Systems als hinreichendes Wahrheitskriterium hinzustellen. Denn es müsste hier wiederum die Wahrheit der Axiome des zweiten Systems vorausgesetzt werden, was sich wiederum nur in einem dritten System beweisen ließe, und so weiter ad infinitum Jede Rechtfertigung eines Axioms durch Schließen hätte demnach nur eine relative Gültigkeit – relativ nämlich zu einem bestimmten Axiomensystem und Kalkül. Es scheint aber nun, dass Frege bereits die Unbeweisbarkeit nicht bloß als technisches Merkmal betrachtete, denn offenbar gilt für ihn hierbei das Einleuchten einer Wahrheit als notwendiges Kriterium. So verwirft er etwa in den Grundlagen Gleichungen mit hohen Zahlengrößen als Axiome, weil sie nicht unmittelbar einleuchten, was gegen ihre Unbeweisbarkeit spreche: »Und ist es denn 187 Vgl. dazu auch FTA: 109, wo Frege diese Einsicht in seiner Kritik des Formalismus zu verwenden sucht.

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unmittelbar einleuchtend, dass 135664 + 37863 = 173527 ist? Nein! […] Es spricht […] gegen ihre Unbeweisbarkeit; denn wie sollen sie anders eingesehen werden als durch einen Beweis, da sie unmittelbar nicht einleuchten?« 188 »Und ist es denn unmittelbar einleuchtend, dass 135664 + 37863 = 173527 ist? Nein! […] Es spricht […] gegen ihre Unbeweisbarkeit; denn wie sollen sie anders eingesehen werden als durch einen Beweis, da sie unmittelbar nicht einleuchten?«

Noch 1903 – nach Russells Entdeckung der Antinomie von der Klasse aller Klassen, die sich nicht selbst enthalten – führt Frege die Inkonsistenz seines logischen Systems auf sein Axiom _ zurück, von dem er sich »nie verhehlt« habe, »dass es nicht so einleuchtend ist wie die andern, und wie es eigentlich von einem logischen Gesetz verlangt werden muss«. 189 Dies liefert nun eine weitere philosophische Erklärung, warum Frege Russells Typentheorie nicht akzeptieren konnte. Russell nämlich räumte bereits 1904 gegenüber Frege ein, es sei »aber fast sicher, dass man, um den Widerspruch zu vermeiden, Urgesetze annehmen muss, die gar nicht einleuchtend sind«. 190 Insbesondere das sogenannte Klassenaxiom sowie das Unendlichkeitsaxiom waren von dieser Art. Es ist offenbar diese Einsicht, dass die Mathematik ohne die Annahme solcher logischer Grundgesetze nicht auf die Logik reduzierbar wäre, die Russell dazu veranlasste, bei der Entwicklung der Typentheorie vom Kriterium des Einleuchtens der Axiome Abstand zu nehmen – ein Schritt, den Frege offenkundig nicht mitmachen wollte. In dieser Hinsicht stimmt Freges Einstellung vielmehr vollkommen mit derjenigen Ernst Cassirers überein, der in seiner Philosophie der symbolischen Formen die Russellsche Begründung der Mengenlehre einer kritischen Betrachtung unterzieht. 191 Cassirer weist darauf hin, dass selbst wenn es uns wie Russell gelingt, durch bestimmte Beschränkungen bezüglich des Bildens von Mengen – wie es außer Russell auch Zermelo versuchte – die Paradoxien der Mathematik zu vermeiden, wir damit lediglich allen technischen Erfordernissen dieser Wissenschaft Genüge tun können. Eine grundsätzliche Frage aber würde hierbei noch unbeantwortet bleiben, nämlich diejenige nach 188 189 190 191

Vgl. GLA: § 5. GGA II: 253. WB: 250. Vgl. Cassirer 1929: Kap. 4, § 2. A

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der »inneren Notwendigkeit« der Axiome. Dadurch, dass ein Axiom durch Auflösung von Paradoxien zu günstigen Konsequenzen führt, zeigt es zwar, dass es bis zu einem gewissen Grad gültig ist, doch dies erklärt nicht, warum es so sei. Ein Zweifel bleibe hier immer noch bestehen im Hinblick auf die Möglichkeit bisher noch unbekannter Paradoxien, die aus besagtem Axiom ableitbar sein könnten und es somit als falsch erweisen würden. Cassirer zufolge mündet das Fehlen einer dauerhaften Versicherung der Gültigkeit der Axiome in eine »Grundlagenkrise der Mathematik«. Was die Neukantianer an Russells, Couturats – aber auch Freges – Auffassung von mathematischer Logik störte, war offenbar ihr scheinbares Unvermögen, die Frage »Wodurch nämlich sind uns diese letzten Sätze gewiss?« 192 auf befriedigende Weise zu lösen. Natorp verortete einen wesentlichen Fehler der neuen, symbolischen Logik im »dogmatischen Festhalten« im alten Aristotelischen Vorurteil, dass die Logik wesentlich »analytisch« vorgehe; dass es ihr lediglich um Definitionen und deduktive Beweise gehe – Definitionen, die bis zu letzten undefinierbaren Grundbegriffen reichten; und Beweise, die bei letzten, nicht mehr zu beweisende Sätze haltmachen. Natorp zufolge fällt vielmehr – im Anschluss an Kant – die Frage nach der Begründung der sogenannten »letzten Wahrheiten« in den Zuständigkeitsbereich der transzendentalen Logik, die die ursprünglichen Prinzipien der Synthesis bzw. der Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis und ihren Gegenständen erforscht. Da diese ursprünglichen Prinzipien des reinen Denkens weit über den Bereich der Mathematik hinausreichen müssten – d. h. nicht lediglich mit den Bedíngungen der Möglichkeit mathematischer Gegenstände, sondern mit dem Ursprung möglicher Erkenntnis und ihrer Gegenstände überhaupt zu tun habe – könne die transzendentale Logik nicht mit der Mathematik zusammenfallen, wenngleich die Mathematik umgekehrt wesentlich transzendentallogischen Ursprungs sei. 193 Natorp befindet gar, dass die neue, symbolische Logik generell aufgrund ihrer unzureichenden Grundlage der Rechtfertigung von Axiomen zwangsläufig in einen »sinnleeren Formalismus« einmünden müsse, für den die Wahrheit oder Geltung der Axiome eigentlich gänzlich irrelevant wird. 194 Dies folgt m. E. nicht unmittelbar; denn 192 193 194

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Vgl. Natorp 1910: I, § 4, 11. Vgl. Natorp 1910: I, § 3, 11, § 4. Vgl. Natorp 1910: I, § 3, 8.

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man könnte ja – zumindest nach heutiger Auffassung – die Axiome eines Systems durchaus für wahr halten und gleichzeitig der Ansicht sein, dass es keine systemunabhängige Weise gibt, diese Wahrheit nachzuweisen. Was aber sicherlich zutrifft, ist, dass systemrelative Wahrheitskriterien keine im traditionellen Sinne apriorische Erkenntnis in dem Sinne liefern können, dass diese aus den Bedingungen der Möglichkeit von Gegenstands-Erkenntnis überhaupt erklärt werden und somit den größtmöglichen Status von Gewissheit erlangen kann. Und die Auffassung, dass sowohl die Logik als auch die Mathematik apriorische Wissenschaften in diesem Sinne seien, war ein charakteristisches Merkmal des Neukantianismus im engeren Sinne der Marburger und Südwestdeutschen Schule. Russell versuchte allerdings wohl zumindest eine Zeit lang, seine Verabschiedung des Kriteriums des Einleuchtens der Axiome philosophisch zu rechtfertigen. Dies geschieht im Rahmen seiner Kritik an der Kantischen Tradition der Transzendentalphilosophie. Russell setzte dabei offenbar voraus, dass die Rede von gewissen für das Denken konstitutiven Geistesvermögen oder Prinzipien keinen wenig Sinn macht. Alles, worauf sich demnach ein Kriterium wie dasjenige des Einleuchtens der Axiome stützen könne, sei demnach der gesunde Menschenverstand, der allerdings als Erkenntnisvermögen unzuverlässig sei. Er schreibt hierzu 1913 in seinem Aufsatz »The Philosophical Importance of Mathematical Logic«: 195 On the subject of self-evident truths it is necessary to avoid a misunderstanding. Self-evidence is a psychological property and is therefore subjective and variable. It is essential to knowledge, since all knowledge must be either selfevident or deduced from self-evident knowledge. But the order of knowledge which is obtained by starting from what is self-evident is not the same thing as the order of logical deduction, and we must not suppose that when we give such and such premises for a deductive system, we are of opinion that these premises constitute what is self-evident in the system. In the first place selfevidence has degrees: it is quite possible that the consequences are more evident than the premises. In the second place it may happen that we are certain of the truth of many of the consequences, but that the premises only appear probable, and that their probability is due to the fact that true consequences flow from them. In such a case, what we can be certain of is that the premises imply all the true consequences that it was wished to place in the deductive system. This remark has an application to the foundations of mathematics, since many of the ultimate premises are intrinsically less evident than many 195

Russell 1913: 492 f. A

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of the consequences which are deduced from them. Besides, if we lay too much stress on the self-evidence of the premises of a deductive system, we may be led to mistake the part played by intuition (not special but logical) in mathematics. The question of the part of logical intuition is a psychological question and it is not necessary, when constructing a deductive system, to have an opinion on it.

In seinen Schriften nach 1903, d. h. nach der Entdeckung seiner mengentheoretischen Antinomie, die das logizistische Programm zu gefährden droht, beginnt Russell demnach, das traditionelle rationalistische Kriterium der Selbstevidenz von Urgesetzen oder letzten Axiomen einer eingehenden Kritik zu unterziehen und gelangt schließlich zu der Einsicht, dass die Ordnung der Erkenntnisse, die wir erhalten, wenn wir von dem ausgehen, was selbst-evident ist, nicht identisch sein muss mit der Ordnung ihrer logischen Ableitung voneinander – dass also Konsequenzen aus Urgesetzen oder Axiomen einen höheren Grad an Selbstevidenz besitzen können als die Axiome selbst. Wir erkennen hier aber auch unschwer, dass Russell in seiner Architektonik der Philosophie keinerlei Raum mehr lässt für eine Erkenntnistheorie, die nicht auf Psychologie, oder Psychologie und Logik, reduzierbar ist – eine Erkenntnistheorie, die nicht nur von Kant und den Neukantianern, sondern offenbar auch von Frege noch befürwortet wurde. 196 Dass sich auch Russell zumindest noch im Jahre 1900 der Möglichkeit einer genuin philosophischen Erkenntnistheorie bewusst war, wissen wir durch Lektüre seines Leibniz-Buches, wo er zwischen »epistemology«, einer philosophischen Disziplin, die sich mit den »allgemeinen Bedingungen des Wahrseins« und mit dem »Wesen der Proposition« beschäftige, und einem Bereich der Psychologie unterscheidet, in dem Fragen wie, »Wie finden wir oder andere eine Wahrheit heraus«?, oder »Was ist der Ursprung von Erkenntnissen als Ereignissen in der Zeit?« gestellt werden. Fragen der letzteren Art setzten zwar die Begriffe des Wahren und Falschen voraus und seien insofern von hybrider Natur, gehören aber – so Russell – gleichzeitig eher zur Psychologie, da hier insbesondere der (psychologische) Begriff der Überzeugung im Mittelpunkt stehe. 197 In seinem Buchfragment »Theory of Knowledge« von 1913 beschreibt er jedoch bereits die Erkenntnistheorie überhaupt als eine Mischung aus psychologi196 197

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Siehe dazu im folgenden ausführlicher 2.2.5. Vgl. Russell 1900: 160 f.

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schen und logischen Untersuchungen, wobei er die Frage nach dem Unterschied zwischen Wahrheit und Falschheit, sowie die Theorie des Urteils bzw. der Proposition, der Logik zuordnet. 198 Wir wir sahen, begann Russell im Zuge seiner Entdeckung der mengentheoretischen Paradoxien die Frage nach der Gewissheit der Axiome letztlich durch ihre erfolgreiche Anwendung auf die Mathematik zu beantworten, d.h. durch ihre Fähigkeit, zu konsistenten und einleuchtenden mathematischen Konsequenzen zu führen. Frege hingegen beruft sich weiterhin auf die Unbezweifelbarkeit oder das Einleuchten der Axiome selbst. Nun verfügte Frege – wie sich bereits vorhin zeigte und in Teil II noch deutlicher werden soll – offenbar selber über keine vollständige Erklärung dafür, woraus sich die Objektivität und Gültigkeit der mathematischen Urgesetze letztendlich ergibt – er beruft sich in dieser Hinsicht einfach auf das Vermögen der Vernunft. Mit seinen traditionellen, philosophischen Bekenntnissen bezüglich der rationalen Grundlagen der Mathematik und Logik scheint aber Frege dennoch den Neukantianern, die die philosophische Landschaft in Deutschland von 1860 an zunehmend beherrschten und in Deutschland sein unmittelbares philosophisches Umfeld bildeten, doch immerhin sehr viel näher gestanden zu haben als Russell. Diese These wird freilich noch im folgenden Verlauf dieser Untersuchung noch eingehender zu überprüfen und auszuwerten sein. Ich möchte daher diesen ersten Teil derselben mit einer Untersuchung der neukantianischen Auffassung des Verhältnisses von Logik, Philosophie und Mathematik beschließen. 1.4.4. Die Zielsetzungen des Neukantianismus Der Neukantianismus war als philosophische Bewegung seinerzeit breit gefächert und umfasste ein reiches Spektrum an erkenntnistheoretischen Positionen. Aus diesem Grunde ist es heute schwierig, eine klare Definition für diese historisch eng an Kant anknüpfende Tradition zu finden. Otto Liebmann, heute als einer der Begründer des Neukantianismus betrachtet wird, differenzierte strikt zwischen den unmittelbaren nachkantischen Bewegungen der ersten Generation und ihren Nachfolgern. Liebmann, Freges Kollege in Jena, betrachtete den Kritizismus als den wesentlichen Kern der gesamten 198

Vgl. Russell 1913: 46. A

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nachkantischen Philosophie und definierte dessen Wesen die »Einsicht, dass wir, bevor an irgendwelche Spekulation gegangen wird, genau untersuchen und uns Rechenschaft darüber geben müssen, was wir überhaupt zu erkennen vermögen, welches die Formen, Funktionen, Grenzen unseres Intellekts sind; dass wir die Frage an uns richten: Was kann ich wissen?« 199 Liebmann betrachtet Kants kritizistischen Ansatz als den gemeinsamen Ausgangspunkt vierer Schulen nachkantischer »Epigonen«, die jeweils den Kantischen Versuch einer Beantwortung jener Frage auf die eine oder andere Weise weiterentwickelt hatten, dabei aber sämtlich den Fehler begingen, in einen Dogmatismus zurückzufallen, indem sie es versäumten, sich jene Frage von vornherein ernsthaft und konsequent zu stellen. 200 Die idealistische Richtung sei dabei durch Fichte, Schelling und Hegel, die realistische durch Herbart, die empirische durch Fries, und die transzendente – wohlgemerkt nicht »transzendentale« – durch Schopenhauer vertreten. 201 Die Tatsache, dass das Kantische System »so verschiedenartigen Richtungen als Ausgangspunkt und gemeinsame Grundlage« gedient habe – nämlich nicht nur der idealistischen, sondern auch den ihr vollkommen entgegengesetzten realistischen und empiristischen –, war für Liebmann Zeichen seiner immanenten Widersprüchlichkeit, und man könne »so ziemlich a priori überzeugt sein, dass ein wirklich konsequent durchgeführtes System derartige Divergenz nicht nach sich gezogen haben würde«. 202 Liebmanns Diagnose war nun, dass es den »Epigonen«, d. h. den Anhängern der vier genannten nachkantischen Schulen nicht gelungen war, diesen Widerspruch – der seines Erachtens seine Wurzel in Kants Idee vom Ding an sich hatte – aufzulösen, ohne damit zugleich in einen Dogmatismus zurückzufallen. Genau aus diesem Grunde müsse auf Kant selbst zurückgegangen werden um eine genuine Verbesserung von dessen System, welches Liebmann als grundlegend für jegliche taugliche zukünftige Philosophie betrachtete, zu bewirken. 203 Das wesentliche Ziel für alle zukünftige Philosophie war demnach für Liebmann die Untersuchung der Frage, »wie denn die kriti199 200 201 202 203

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Liebmann 1865: 84; vgl. auch ebd. 11 f. Vgl. Liebmann 1865: 84 f. Vgl. Liebmann 1865, 8 f. Liebmann 1865: 111. Vgl. Liebmann 1865: 13, 213.

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sche Philosophie in konsequenter Entwicklung sich ausgenommen haben würde«. 204 Analog verkündete später Wilhelm Windelband: »Wir alle, die wir im 19. Jahrhundert philosophieren, sind die Schüler Kants. Aber unsere »Rückkehr« zu ihm darf nicht die bloße Erneuerung der historisch bedingten Gestalt sein, in welcher er die Idee der kritischen Philosophie darstellte. […] Kant verstehen, heißt über ihn hinausgehen.« 205 Noch in den 20er Jahren wurde zwischen sieben verschiedenen Schulen des Neukantianismus unterschieden, zu denen auch materialistische, physiologische und psychologische Ausrichtungen (Lange, Fries, Nelson) gezählt wurden. 206 In der neueren Forschung ist nun der Ausdruck »Neukantianismus« vorwiegend für die Marburger (Cohen, Natorp, Cassirer) und die Südwestdeutsche Schule (Windelband, Rickert, Cohn, Bauch) reserviert. 207 Was diese gemeinsam haben, war das Bestreben, den Sozial-, Geistes- und Naturwissenschaften eine spezifisch antinaturalistische erkenntnistheoretische Grundlage im Sinne Kants zu geben, um dabei zugleich der Philosophie – in Abgrenzung zur Psychologie, aber auch zur Mathematik und den Naturwissenschaften – eine prominente, fundamentale Rolle innerhalb der akademischen Disziplinen zu sichern. Was dabei konkret als »im Sinne Kants« oder als fruchtbare Weise einer Verbesserung und Weiterführung seiner Philosophie zu gelten hat, unterscheidet sich von Denker zu Denker. Nach Hermann Cohen ging es jedoch allen »Kantianern« im Wesentlichen darum, den »ewigen Bund zwischen Naturwissenschaft und Transzendentalphilosophie« zu schließen. 208 Philosophie sollte im Wesentlichen philosophische Grundlagenforschung der Naturwissenschaften und der Mathematik sein – allerdings sollte diese Grundlagenforschung den spezifischen Charakter transzendentaler Untersuchungen haben, insofern sie die im Erkenntnissubjekt gelegenen Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung und ihrer Gegenstände betreffen. 209 So betrachtet Cohen etwa die Zahlen transzendentalphilosophisch als begriffliche »Instrumente zur Erzeugung der Dinge als wissenschaftlicher Gegenstände«, und genau diese »Teilnahme der 204 205 206 207 208 209

Liebmann 1865: 207. Windelband 1883, IV. Vgl. dazu Peckhaus 2000. Vgl. Gabriel 1986; Ollig 1998. Vgl. Cohen 1887. Ebd. A

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Zahlen an dem Ursprung, an der Erzeugung der Gegenstände« stellt für ihn das eigentliche Problem der Zahl dar. 210 Analog spricht Natorp von dem »Gegenstand als unendlicher Aufgabe« der transzendentalen Logik bzw. Erkenntnistheorie in dem Sinne, dass diese das Prinzip des Ursprungs der Konstitution unendlich vieler Gegenstände durch Synthesis im reinen Denken zu erforschen habe. 211 Wir sehen hier wiederum, wie bei Kant, vor allem die Priorität der Synthese vor der Analyse als Denkbewegung betont; wobei die Grundüberzeugung darin besteht, dass von einem bloß »gegebenen Gegenstand« nicht die Rede sein könne, und demnach auch nicht von Erkenntnis als bloßer Analyse des Gegebenen. Erkenntnis von Gegenständen, so Natorp, bestehe vielmehr wesentlich in einem synthetischen Akt des Geistes, in einem kreativen Vermögen der Spontaneität. Sie könne nicht lediglich darin bestehen, das »Gegebene« deutlich zu machen, sondern jegliche Erweiterung des Denkens müsse synthetisch vonstatten gehen und dabei letztlich auf einem Ursprungsprinzip des Denkens beruhen, welches herauszufinden die philosophisch einzige Möglichkeit sei, das Problem der Grundlegung sämtlicher Wissenschaften einschließlich der Mathematik hinreichend zu bewältigen. 212 Analog argumentiert Cassirer, dass objektive Erkenntnisinhalte nur durch die Spontaneität des Verstandes – durch eine Aktivität des Ego – überhaupt möglich, und, Objektivität und Spontaneität demnach keine Gegensätze, sondern notwendige Korrelate seien. 213 Bis zu einem gewissen Grad sympathisierten die Neukantianer durchaus mit einer interdisziplinären Haltung im Hinblick auf das Verhältnis von Philosophie und Wissenschaften. Im Jahre 1907 beschreibt etwa der Wiener Philosophiehistoriker Oskar Ewald in einem Aufsatz für den Philosophical Review diese Strömung folgendermaßen: 214 … Neokantianism assumed to a large extent the inheritance of the master [Kant] in the sense of demanding a descent from the heights of abstract universality to the sphere of scientific inquiry. The Marburg school opened the road

Vgl. Cohen 1887. Vgl. Natorp 1910: I, § 5. 212 Vgl. Natorp 1910: I, § 5. Natorps Begriff des synthetischen Erkenntnis ist also im Wesentlichen derjenige des erkenntnisweiternden Urteils bei Kant. 213 Vgl. Cassirer 1910: VII, ii. 214 Ewald 1908: 401. 210 211

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to mathematical physics, Rickert the road to history, Natorp and Stammler to sociology. Of late, physical and especially mathematical problems have gained the ascendancy to such a degree as to threaten the obscuration of general philosophical interest. […] Investigators in the special sciences – mathematicians, physicists, psychologists, biologists, historians, sociologists – are seeking the philosophical basis for their methods and aims. Consequently, the cords that bind philosophy and the sciences together grow stronger, and questions of the right, aim, and limitations of such union become more prominent.

Ewalds Beobachtung hier ist, dass die Anbindung der Einzelwissenschaften an die Philosophie spätestens zu diesem Zeitpunkt nicht mehr nur Sache professioneller Philosophen ist, sondern sich vielmehr auch unter den Einzelwissenschaftlern selbst verbreitet hat. Wir sahen, dass sich Frege im Hinblick auf diese Nutzbarmachung der Mathematik für Logik und Erkenntnistheorie ausdrücklich auf Kant berufen hatte, 215 den er als ganz besonderes Vorbild hinstellt und der gleichzeitig die hauptsächliche Vorbildfigur der Neukantianer war. Im Kontext seiner Zeit betrachtet musste dies geradezu wie ein Bekenntnis zum Neukantianismus anmuten. Frege teilte mit den Neukanianern ihre Kritik an der formalistischen Auffassung der Mathematik und ihrer Gegenstände, der Auffassung, dass Zahlen eigentlich nur Zahlzeichen und Zahlgesetze nur mechanische Rechenregeln sind – eine Auffassung, die nach Cohen von den »großen Rationalisten« charakteristischerweise verschmäht wurde.216 Nicht zuletzt aber deutet Freges Haltung bezüglich der Gewissheit von Axiomen auf ein traditionelles Problembewusstsein im Hinblick auf die Forderung nach einer philosophischen Begründung der Wissenschaften hin, die wir bei Russell in dieser Form nicht mehr vorfinden. Auch in Freges langjährigem Projekt des Logizismus finden wir durchaus philosophische Dimensionen, die eine gewisse Affinität zur rationalistischen Tradition der Neuzeit einschließlich zumindest eines bestimmten Zweiges des Neukantianismus andeuten. 217 Noch Vgl. RCo: 99. Vgl. dazu Cohen 1887, Natorp 1910: I, § 2. Natorp lobt Frege ausdrücklich für dessen Kritik am Formalismus; vgl. III, § 4, 113. 217 Vgl. GLA § 3: »Mich haben auch philosophische Beweggründe zu solchen Untersuchungen bestimmt. Die Fragen nach der apriorischen oder aposteriorischen, der synthetischen oder analytischen Natur der arithmetischen Wahrheiten harren hier ihrer Beantwortung. Denn wenn auch diese Begriffe selbst der Philosophie angehören, so glaube ich doch, dass die Entscheidung nicht ohne Beihilfe der Mathematik erfolgen kann. Freilich hangt dies von dem Sinne ab, den man jenen Fragen beilegt.« 215 216

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bevor nämlich der Ausdruck »Logizismus« von Carnap 218 als spezielle Bezeichnung für Freges und Russells Projekt eingeführt wurde, die gesamte Arithmetik (im Falle Freges) bzw. Mathematik (im Falle Russells) auf Logik und Mengenlehre zu gründen, treffen wir ihn bereits im erkenntnistheoretischen und metaphysischen Diskurs des frühen zwanzigsten Jahrhunderts an als – teils pejorativ verwendete – Bezeichnung für (1) »die Doktrin einer rein begrifflichen Natur des Seins« 219 , oder (2) die »Reduktion des Nicht-Logischen auf das Logische« 220 , oder auch allgemeiner für (3) eine Bewegung, die sich gegen psychologistische, sensualistische and induktive Tendenzen in der Erkenntnistheorie richtet und dem Logischen somit eine unabhängige Existenz zu sichern sucht. 221 Alternative Bezeichnungen sind in diesem Zusammenhang auch »Logismus« und »logischer Idealismus« 222 Zu den Logizisten oder logischen Idealisten in diesem weiteren Sinne wurden neben Frege, Russell und Couturat u. a. auch Bolzano, Husserl, zuweilen auch Hegel, insbesondere aber die Marburger Schule des Neukantianismus gezählt. Frege selbst beschreibt sein Projekt auf unterschiedliche Weise. In Formale Theorien der Arithmetik ist nur die Rede davon, dass »alle arithmetischen Sätze allein aus Definitionen rein logisch abgeleitet werden können und demzufolge auch abgeleitet werden müssen«, 223 in den Grundlagen und im ersten Band seiner Grundgesetze davon, dass »die Arithmetik nur weiter ausgebildete Logik« sei. 224 In anderen Formulierungen jedoch bedient er sich philosophisch gehaltvollerer Terminologie. In der Begriffsschrift geht es ihm um die Frage, »wie weit man in der Arithmetik durch Schlüsse allein gelangen könnte, nur gestützt auf die Gesetze des Denkens, die über alle Besonderheiten erhaben sind. 225 Am Ende kommt er zu dem Ergebnis, gezeigt zu haben »wie das von jedem durch die Sinne oder selbst durch die Anschauung a priori gegebenen Inhalte absehende reine Denken allein aus dem Inhalte, welcher seiner eigenen Beschaffenheit entspricht, Urteile hervorzubringen vermag, die auf den ersten 218 219 220 221 222 223 224 225

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Vgl. Carnap 1931. Vgl. Ewald 1912: 502. Vgl. Wundt 1910: 511, 549–582. Vgl. Ziehen 1920: 172. Vgl. Ewald 1912: 502, Cassirer 1929, FTA: 103. GLA: § 87; GGA I: vii. BS: ix f.

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Blick nur auf Grund einer Anschauung möglich zu sein scheinen«. 226 In den Grundlagen erklärt er stolz, aus seiner Untersuchung habe sich »mit großer Wahrscheinlichkeit die analytische und apriorische Natur der arithmetischen Sätze« ergeben, und er sei damit zu einer Verbesserung der Ansichten Kants gelangt. 227 Gleichzeitig kommt er hier wiederum zu dem Ergebnis, dass die Zahlen »durch das Denken erst erzeugt« werden. 228 – eine Formulierung, die sehr an die transzendental-philosophischen Fragestellungen der Neukantianer erinnert. Auch der Logizismus im weiteren Sinne der Auffassung der Arithmetik als Teil der Logik, bzw. der »wesentlich logischen Natur des Mathematischen« 229 besitzt eine noch vor Frege lange zurückreichende philosophische Tradition, die sich bis auf Plato zurückverfolgen lässt und somit nicht erst mit der modernen mathematischen Logik beginnt. Es wäre freilich übertrieben, etwa Leibniz streng genommen als Logizisten im Fregeschen oder Russellschen Sinne zu betrachten. Denn obwohl die logische Natur und Grundlage mathematischer Beweisführungen für ihn eine wichtige Rolle spielten, bleibt es aus mehreren Gründen unklar, ob Leibniz überhaupt konsequent die Auffassung vertrat, sämtliche mathematischen, oder zumindest arithmetischen Begriffe könnten auf logische Grundbegriffe zurückgeführt werden, oder das es keine spezifisch mathematischen Beweismethoden gebe. Zum einen gibt er auf die Frage, welche Begriffe wir innerhalb des Verstandes als grundlegend und undefinierbar betrachten sollen, in seinen Schriften insgesamt keine klare Antwort. In den Neuen Abhandlungen nennt er an manchen Stellen Begriffe wie Sein (Existenz), Möglichkeit, Identität, Einheit, Ursache, Perzeption, Vernunft oder Kraft als potentielle Kandidaten für die Rolle der Grundbegriffe des Denkens, während er die Begriffe der Bewegung, der Ruhe, des Raumes, der Gestalt und der (ganzen) Zahl zu den abgeleiteten Begriffen zählt. 230 An einer anderen Stelle erklärt er allgemeiner, dass die Attribute Gottes – aus denen etwa die Idee des Seins und des Absoluten hervorgehen – als die »Quelle aller Ideen« anzusehen sind. 231 In anderen Schriften wiederum äußert er 226 227 228 229 230 231

BS: § 23. GLA, § 109. BRL: 38. Natorp 1910: § 1, 2. Vgl. etwa NA, I, iv, 63; II, v, 141, 143; xvi, 207. Vgl. NA: II, xvii, § 3, 213 f. A

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Zweifel, ob prinzipiell irgendein ursprünglicher Begriff, der allein aus sich selbst heraus begriffen werden können muss, vom menschlichen – im Unterschied zum göttlichen – Verstand überhaupt als solcher klar und deutlich erkannt werden kann. 232 Diese Zweifel deuten Leibniz’ kritisches Bewusstsein der prinzipiellen Grenzen menschlicher Selbstkenntnis an, welche der vollständigen Durchführung eines reduktionistischen Programms der Verstandesbegriffe und Vernunftwahrheiten prinzipiell im Wege stehen würden. Zum anderen wird nicht deutlich, welche Natur Leibniz den Grundbegriffen der Arithmetik zuerkannte. So definiert er z. B. die (ganze) Zahl als eine Vielheit von Einheiten, wobei hier offenbar die Idee der Einheit als Grundbegriff betrachtet wird. 233 Es bleibt hierbei unklar, ob er diese Idee selbst als im wesentlichen logische oder bereits als mathematische, oder vielleicht gar als metaphysische betrachtete. Eine solch strenge Klassifizierung der mutmaßlichen Grundideen des Verstandes hatte Leibniz noch nicht durchgeführt. Was Frege später insbesondere am Leibnizschen Programm störte, war, dass für Leibniz offenbar noch kein Unterschied zwischen dem allgemeinen Begriff der Einheit und der Zahl Eins als einem klar definierbaren, abstrakten Gegenstand bestand. 234 Falls es aber keinen solchen Unterschied gibt, und die Zahl Eins als Objekt der Arithmetik dasselbe ist wie der allgemeine Begriff der Einheit – den wir benötigen, um Objekte überhaupt voneinander zu unterscheiden – dann würde dies bedeuten, dass es für Leibniz entweder genuin arithmetische Grundbegriffe des Verstandes gab, die somit nicht erst aus »rein logischen« hergeleitet werden müssen, oder dass für ihn der Begriff der Anzahl selbst ganz einfach einen logischen Grundbegriff der Mathematik darstellte, der somit nicht weiter definierbar ist. Freges Idee wiederum, dass »alles Rechnen eine Art des Denkens ist, dass die Grundbegriffe und Grundsätze der Mathematik ihren systematischen Ort in der Logik haben« und dass die Arithmetik »als ein für sich selbst fortentwickelter Zweig der Logik« zu gelten habe, finden wir bekanntlich auch bereits bei Freges Lehrer Hermann Lotze 235, von dem Frege – und möglicherweise auch Russell und Coutu232 Vgl. A VI 4, 528.; zum Problem der Urbegriffe bei Leibniz vgl. auch Ishiguro 1990: 50–56. 233 Vgl. NA, II, xvi, § 4, 207. 234 Vgl. dazu GLA: § 37, 48. 235 Vgl. Lotze 1989a: § 18; vgl. auch § 112. Vgl. zu diesem Thema auch Sluga 1980: 57 f. und Gabriel 1989a: xxi f.

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rat – aller Wahrscheinlichkeit nach inspiriert wurde zu versuchen, dieses Programm erstmals zur konkreten Ausführung zu bringen. Auch einige der Neukantianer setzten jedoch die Plato-Leibniz-Lotzesche Linie fort. Für Natorp etwa war die Mathematik nicht nur insoweit der Logik ähnlich, als ihre Methoden und Beweisverfahren wesentlicher logischer Art seien, sondern er fand, dass sie darüberhinaus der Logik »unmittelbar zugehörig« sei in dem Sinne, dass (1) ihre Grundbegriffe »durch die Logik dargeboten«, d. h. zugleich »Begriffe der Logik« seien, sowie (2) ihre Grundsätze »in den Gesetzen der Logik enthalten oder aus ihnen ableitbar« seien. 236 Sieht man nun von den gewaltigen Unterschieden zwischen der neukantianischen Auffassung von Logik und derjenigen Freges und Russells ab, so wären auch Natorp und einige andere Neukantianer als Logizisten in jenem grundlegenden Sinne zu betrachten. 237 Freilich sind zwei Positionen, auch wenn sie gleich klingende Thesen beinhalten, schwerlich unter einen Hut zu bringen, wenn die Ausdrücke derer sie sich bedienen, gänzlich verschiedene Bedeutungen haben. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den Neukantianischen und der Frege-Russellschen Tradition des Logizismus besteht wohl bereits darin, dass erstere unter »Logik« hier nicht die allgemeine, formale Logik, sondern die transzendentale Logik betrachteten. Insofern führten sie eigentlich nur den Kantischen Ansatz weiter, die Zahlen nicht als abstrakte Gegenstände (Mengen), sondern als Resultate der Anwendung eines transzendentalen, auf einer ursprünglichen Synthesisleistungen des Verstandes beruhenden Schemas der Kategorie der Quantität zu begreifen. 238 Auch für Natorp – und ähnlich bei seinem Schüler Ernst Cassirer – hatten Zahlen und Zahlgesetze zwar »ihren Ursprung im reinen Denken«, wobei hier »reines Denken« im Sinne einer transzendentalen Logik à la Kant – die die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung und ihren Gegenständen zu untersuchen hat –, d. h. nicht im Sinne eines zeitlichen Geschehens, etwa eines psychologischen Vorgangs, sondern vielmehr Natorp 1910: I, § 1, 2. Tatsächlich wurde Natorps Logische Grundlagen der exakten Wissenschaften von 1912 von manchen Zeitgenossen als »der erste wirkliche Versuch« bezeichnet, »die Mathematik auf eine logische Grundlage zu stellen, die so breit ist, dass sie negative Zahlen, Brüche, irrationale, transfinite und imaginäre Zahlen ohne Notwendigkeit einer Verallgemeinerung des Zahlbegriffs von vornherein implizieren kann«, vgl. Maxwell 1912: 303. 238 Vgl. hierzu KrV: A 140/B 179 f. 236 237

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eines jeglicher Zeiterfahrung zugrundeliegenden »Setzens von Beziehungen« zu verstehen ist. 239 Die Zahl überhaupt wird dabei nicht lediglich als ein abgeleitetes, sekundäres Produkt des reinen Denkens verstanden, sondern vielmehr als »reiner und adäquater Ausdruck der Denkgesetzlichkeit in ihrem ganzen Umfang« 240 – sie tritt gewissermaßen bereits als Urmoment oder Prototyp des Denkens im Hinblick auf dessen quantitative Dimension auf. 241 Der Begriff der Zahl hat hier im ursprünglichen Sinne auch noch nichts mit dem der Existenz oder der Wahrheit zu tun, sondern ist vielmehr lediglich gewissermaßen eine grundlegende Gesetzmäßigkeit des Denkens eines Einheit oder Vielheit von Gegenständen überhaupt. 242 Der Ausgangspunkt bzw. die erkenntnistheoretische Grundlage jeglicher quantitativer Setzung des reinen Denkens ist dabei die Kategorie der Einheit als Subkategorie der Quantität. 243 Gemäß einer etwas früheren Definition Natorps sind Zahlen gewissermaßen »ideale Spezies«, d. h. Formen; sie »bestehen aus rein idealen Einzelheiten«. 244 Für Jonas Cohn wiederum, der der jüngeren Generation der Südwestdeutschen Schule angehörte, waren Zahlen formal – im Hinblick auf ihre »Denkform«, durch die sie als mit sich selbst identische erfasst werden können, – die abstraktesten Gegenstände des Denkens, die grundlegender als alle anderen sind. 245 Keiner jener neukantianischen Versuche, die »logische Natur« der Mathematik nachzuweisen, wurde im Rahmen der neuen symbolischen Logik durchgeführt, derer sich Frege und Russell bedienten – und dies ist kein Zufall, sondern entspricht einer grundlegenden Abneigung gegenüber diesem neuen Instrument philosophischen Denkens. Freges Enthusiasmus über die Nutzbarkeit der Mathematik für die Logik – und damit die Philosophie – konnte bei seinen traditionellen deutschen Zeitgenossen im allgemei-nen nicht besonders gut ankommen. Der Widerstand der deutschen Neukantianer gegen die Vereinnahmung der Logik und Philosophie durch mathematische Natorp 1910: III, § 1, 99. Natorp 1910: IV, § 5, 186. 241 Vgl. dazu auch Cassirer 1929: III, Kap. 3. 242 Vgl. Natorp 1910: III, § 1, 98. 243 Vgl. Natorp 1910: II, § 6, 54 f. 244 Vgl. Natorp 1901. 245 Vgl. Cohn 1908: 82–83. Zu diesen verschiedenen, dem heutigen Denken nicht leicht zugänglichen Versionen der neukantianischen Richtung des Logizismus siehe auch Pulkkinen 2001. 239 240

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Methoden, Begriffe und Interessen ist dabei vielleicht zumindest zum Teil auf die Kantische Einstellung zum Verhältnis von Mathematik und Philosophie zurückzuführen, die wir auch bei Hamilton vorfanden. Ewald zufolge wurde die Konzentration auf spezifisch mathematische Probleme im Zuge der Vereinzelwissenschaftlichung des Kantischen Erbes geradezu zu einer »Bedrohung des allgemeinen philosophischen Interesses«; und »Fragen der Berechtigung, dem Ziel und der Grenzen einer Vereinigung von Philosophie und Wissenschaften« spielten eine zunehmend prominentere Rolle innerhalb des philosophischen Diskurses. 246 Ewalds scheint hier nur eine allgemeine Stimmung wiederzuspiegeln, die unter traditionellen deutschsprachigen Philosophen in dieser Zeit verbreitet ist. Diese Stimmung richtet sich zunächst gegen Booles formale Algebra der Logik, erstreckt sich aber auch auf Freges und Russells Versuche, die Logik durch Mengenlehre anzureichern. Hermann Cohen sprach vom »Gespenst der formalen Logik« und sagt diesem den Kampf an: »Wir bekämpfen nicht nur ihr sachliches Recht; wir bestreiten auch ihre reale Existenz«. 247 Windelband verkündet noch 1907 in einer Art Bestandsaufnahme logischer Forschung zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts: 248 Als ob wir über nichts Besseres nachzudenken hätten als darüber, in welcher Ausdehnung der Umfang des Begriffes A dem des Begriffes B einzuordnen ist! […] In Deutschland hat dieser logische Sport, dem das Verdienst einer Übung formalen Scharfsinns nicht abzusprechen ist, wenig Anklang gefunden: hier und da ist man auf die Bedeutung dieser Analogien für arithmetische Lehren aufmerksam geworden; im ganzen wurde die Sache von den Logikern abgelehnt.

Natorp und Cassirer wiederum unterziehen die logizistischen Positionen Freges, Russells und Couturats einer eingehenden Kritik. Natorp argumentiert, dass die transzendentale Logik gewisse grundlegende Aufgaben habe – nämlich nach den Gesetzen zu fragen, wonach »überhaupt irgend ein Gegenstand der Wissenschaft sich zum Gegenstand erst gestaltet«. 249 Der Begriff der Anzahl – als Modifikation der Kategorie der Quantität – erweist sich für die Neukantianer im Anschluss an Kant als ein Begriff, über den wir verfügen müssen, 246 247 248 249

Ewald 1908: 401. Cohen 1902: 13, 503. Windelband 1907, 187. Natorp 1910: I, § 3, 11. A

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um überhaupt einen Gegenstand als solchen zu erkennen. Denn nach Kant gilt ja, dass »ich dasjenige, was ich voraussetzen muss, um überhaupt ein Objekt zu erkennen, nicht selbst als Objekt erkennen könne«. 250 Wenn dies aber so ist, dann kann der Begriff der Anzahl der Menge oder Klasse definiert werden, sofern wir unter einer Menge bereits einen Gegenstand im logischen Sinne verstehen. Aus der transzendentalphilosophischen Perspektive heraus erwies sich demnach die Anzahldefinition der Logizisten als zirkulär, weil sie den Begriff eines Gegenstandes voraussetzt, um den Begriff einer Zahl zu definieren, durch den aber erst der Begriff eines Gegenstandes überhaupt verstanden werden kann. Nun hatte Frege selbst im Zusammenhang mit seinem Prinzips der Priorität betont, dass die Begriffsumfänge sekundär gegenüber den Begriffen seien, und er hatte gewissermaßen zwischen Anzahlbegriffen und ihren Umfängen, den einzelnen Zahlen, die die Mathematik als ihre Gegenstände betrachtet, unterschieden. Allerdings setzte seine Auffassung der Identität eines Begriffs im logischen Sinne bereits voraus, dass einem solchen ein scharf begrenzter Umfang zukommt, wenn wir bedenken, dass Begriffe, die nicht scharf umgrenzt sind – die also keinen klaren Umfang haben –, von vornherein aus seiner Logik ausgeschlossen sind. Frege betrachtete sein Axiom V, durch das die Mengen in die Logik eingeführt werden, als ein logisches Grundprinzip der Arithmetik, in dem er zugleich das einzige Mittel sah, die Zahlen – nämlich über Begriffe, deren Umfänge sie sind – »zu fassen, zu erkennen«, ohne welches »eine wissenschaftliche Begründung der Arithmetik unmöglich« sei. 251 Bereits das Verständnis der Beziehung des Fallens eines Gegenstandes unter einen Begriff – welche für Frege die logische Urbeziehung und erforderlich ist, um nicht nur den Begriff einer Menge sondern auch den einer Allgemeinheit einer Gleichheit zu verstehen – involviert jedoch nach Ansicht der Kantianer die Idee der Einzahl, die daher nicht wiederum identisch mit dem Umfang eines Begriffs sein könne. 252 Freges spätere Abwendung von der Mengenlehre in der Logik, d.h. insbesondere KrV: A 402. Vgl. GGA II: § 147. 252 Vgl. Natorp 1910: III, § 4; Cassirer 1910: II, § iii. Für eine ausführlichere Diskussion der Divergenzen zwischen den Neukantianern und Russell bzw. Frege über den Begriff der Antahl siehe Pulkkinen 2001. Thiel 1997 diagnostiert Natorp in seiner Kritik an der »Zirkularität« der Fregeschen Anzahldefinition ein Missverständnis derselben. Der springende Punkt scheint aber zu sein, dass jene Kritik nur dann als Missverständnis 250 251

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von der Idee, dass Mengen und Zahlen als logische Gegenstände anzusehen seien, ist daher als ein effektiveres, weitreichenderes Zugeständnis an die Neukantianische Tradition in der Philosophie der Mathematik anzusehen. 1.4.5. Freges Verbindungen zu den Neukantianern Wir wissen nun auch, dass Frege im Jahre 1919 – zwei Jahre nach ihrer Gründung – der sogenannten Deutschen Philosophischen Gesellschaft beitritt, deren proklamiertes Ziel die »Pflege, Vertiefung und Wahrung deutscher Eigenart auf dem Gebiete der Philosophie im Sinne des von Kant begründeten und von Fichte weitergeführten deutschen Idealismus« war. 253 In deren offiziellem Organ – die von Freges Jenaer Kollegen Bruno Bauch herausgegebenen Beiträge zur Philosophie des deutschen Idealismus – erscheint in den Jahren 1918 bis 1926 nicht nur Freges philosophisch gehaltvollster Aufsatz »Der Gedanke«, sondern auch zwei weitere, durch den gemeinsamen Obertitel »Logische Untersuchungen« zusammenhängende Arbeiten. Bauch selbst bespricht Freges Ideen in mehreren seiner Arbeiten positiv und machte dabei auch auf die engen Verbindungen zwischen Freges und Lotzes Logik aufmerksam, die zur damaligen Zeit sehr einflußreich ist. 254 In seinem 1923 erschienen Monumentalwerk »Wahrheit, Wert und Wirklichkeit« lieferte er eine Interpretation von Freges Begriff des Gedankens (in dessen spezifischem Sinn von »Denkinhalt«) als möglicher Gedanke (im Sinne von »Denkepisode«) bei Leibniz. 255 Insbesondere Freges Unterscheidung zwischen Begriff und Gegenstand sowie die damit verbundene Idee der Unvollständigkeit bzw. Ungesättigtheit des Begriffs findet Eingang in Bauchs eigene Konzeption des Verhältnisses von Wahrheit, Wert und Wirklichkeit, innerhalb derer – sehr ähnlich wie bei Frege selbst – die Idee der Wahrheit die grundlegende Rolle spielt. 256 Eine mögliche nicht-philosophische Erklärung von Freges Verbindungen zu Vertretern der »deutsch-idealistischen« Tradition ist gesehen werden kann, wenn man Russells und Freges Logik bereits akzeptiert hat, wozu die Neukantianer aber offensichtlich nicht bereit waren. 253 Vgl. dazu Sluga 1980: 59 f. 254 Vgl. Bauch 1914, 1918, 1923. 255 Vgl. Bauch 1923: 55–66. 256 Vgl. dazu ausführlicher Sluga 1993: 92–95 sowie Zeidler 1994. A

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politischer Natur. Bekanntlich war die Deutsche Philosophische Gesellschaft nicht allein dem ursprünglichen offiziellen Ziel gewidmet, eine große philosophische Tradition zu bewahren. Vielmehr verstand sie ihre Mission von Anbeginn an als Ausübung einer Verantwortung gegenüber dem, was sie als spezifisch »germanischen« Geist betrachtete. Ganz im Sinne ihres Gründers Bauch entwickelte sie sich in den 20er Jahren zunehmend zu einer Institution, die der sogenannten »germanischen Weltauffassung« der Nazis auf philosophischer Basis entgegenkam und sie unterstützte. 257 Wie Freges Politisches Tagebuch gezeigt hat, muss ihm diese nationalistische und auch antisemitische Orientierung der Deutschen Philosophischen Gesellschaft seinerzeit sehr sympathisch gewesen sein. 258 Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass Nationalismus oder Antisemitismus allein Frege dazu bewegt hat, Kontakt zu den Neukantianern aufzunehmen. Frege führte in seinem letzten Lebensjahr auch mit Richard Hönigswald eine – freilich von Bauch vermittelte – Korrespondenz über eine geplante Veröffentlichung seines Aufsatzes »Erkenntnisquellen der Mathematik und der mathematischen Naturwissenschaften«, die dann lediglich durch seinen Tod verhindert wurde. 259 In seinem Brief an Frege vom 24. 4. 1925 schrieb Hönigswald: 260 Ich habe Ihnen noch herzlichen Dank zu sagen für Ihre feinsinnige Abhandlung »Erkenntnisquellen der Mathematik und der mathematischen Naturwissenschaften«, die mir durch Herrn Kollegen Bauch in Jena zugegangen ist. Der Geist, der sie erfüllt, und die methodischen Ergebnisse, zu denen sie gelangt, entsprechen restlos unseren Bestrebungen und Wünschen.

Freges Antwort auf den hierdurch eingeleiteten Brief beginnt folgendermaßen: 261

257 Dabei sind Bauchs Bestrebungen nicht einfach opportunistisch zu nennen; vielmehr hatte er sich nach eigener Einschätzung ganz unabhängig von jeglicher Partei-Ideologie dem Ziel verschrieben, dem deutschen Volk auf der Basis der Vernunft allein zu Hilfe zu kommen; vgl. Bauch 1929: 38. Siehe dazu auch ausführlicher Sluga 1993: 85–91. 258 Nach eigenen Angaben hatte Frege sich unter Bismarck noch zu den Liberalen gezählt, war aber spätestens nach der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg zur extrem Rechten übergewechselt, und wurde schließlich 1924 zu einem ausdrücklichen Bewunderer Adolf Hitlers; vgl. hierzu auch Sluga 1993: 89 f. 259 Vgl. die erhalten gebliebenen Briefe aus dieser Korrespondenz in WB: 83–87. 260 WB: 84. 261 WB: 85.

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Frege, Russell und die Neukantianer

»Eigentlich habe ich Ihnen mehr zu danken als Sie mir; denn es muss mir sehr daran liegen, dass etwas aus meiner Feder in Ihren Wissenschaftlichen Grundfragen erscheint, zumal, da wir in den Hauptpunkten so gut übereinstimmen.«

Könnte es nun Politisches gewesen sein, das Frege mit den »Hauptpunkten« meint, in denen er mit Hönigswald übereinzustimmen meinte? Ist es das, was Hönigswald meint, wenn er von der Verwandtschaft von »Geist« und »methodischen Ergebnissen« der Fregeschen Arbeiten spricht? Dies ist wohl aus zwei Gründen eher unwahrscheinlich. Erstens findet Politisches praktisch gar keinen Eingang in Freges philosophische Schriften, von einigen polemischen Bemerkungen hier und dort abgesehen. Insbesondere enthält der von Hönigswald gesichtete und zur Veröffentlichung eingereichte Aufsatz Freges keinerlei politische Kundgabe. Zweitens aber teilte Hönigswald, der jüdischer Herkunft war und daher 1933 zwangspensioniert, verfolgt und schließlich in die Flucht getrieben werden sollte, wohl kaum Freges oder Bauchs politische Überzeugungen; es ist daher wohl auszuschließen, dass er sich demselben germanischen »Geist« verschrieben haben könnten, dem die rechtsgerichtete Gruppe um Bauch huldigte. Es ist wohl naheliegender, dass Frege zumindest auch philosophische Gründe gehabt haben wird, Kontakte zu Vertretern der sogenannten »deutsch-idealistischen« Tradition aufzunehmen und zu pflegen, ebenso wie es offenbar philosophische Gründe für Hönigswalds und Bauchs Wertschätzung von Freges Arbeit gab. Hieraus folgt nicht, dass die Neukantianer von allem begeistert gewesen sein müssen, wofür Frege stand – was offensichtlich, wie wir im letzten Kapitel sahen, nicht der Fall war – oder umgekehrt. Es ist zuweilen suggeriert worden, dass Frege seine Kontakte zu den Neukantianern vorwiegend aus strategischen Gründen gesucht haben könnte. So schrieb etwa Robert Brandom 1986: 262 […] it is pointed out that Frege joined a philosophical society whose manifesto is explicitly Idealist and Kantian, and that he published in their journal. By itself, this shows little, for Frege had so much trouble getting his work into print and finding others willing to discuss it that we cannot be sure how much he would have put up with to secure such opportunities.

Sicherlich haben Freges Kontakte zu jener Gesellschaft zumindest ein klein wenig zur Bekanntwerdung seiner Ideen beigetragen und ihm 262

Brandom 1986: 273. A

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zu einigen Veröffentlichungen verholfen. Doch angesichts von Freges selbst-verkündeten Tugend der Wahrheitsliebe 263 müssten wir ihn dann schon für einen ausgemachten Heuchler halten, wenn wir es für möglich erachten, dass er diese Kontakte vorwiegend aus Gründen der Publicity gesucht hat. Hinzu kommt, dass er in der Regel sehr offen Kritik übte an den zeitgenössischen Mathematikern und Philosophen, deren Werke ihn interessierten, und neukantianische Arbeiten bildeten hiervon keine Ausnahme. Hatte Frege nämlich gegenüber den Mathematikern ihren Mangel an philosophischem Tiefgang kritisiert, so vermisste er in vielen zeitgenössischen Texten zur Philosophie der Mathematik sowohl mathematische Spezialkenntnisse als auch Klarheit des Ausdrucks und der Beweisführung. Dabei ging er in seiner Kritik nicht immer sehr diplomatisch vor, was sicherlich dazu beitrug, dass ein angestrebter fruchtbarer Gedankenaustausch zwischen ihm und den Neukantianern nicht recht gellang. Sehr deutlich manifestiert sich dieser Zug in seiner Rezension von Hermann Cohens 1883 erschienenem Das Prinzip der Infinitesimal-Methode und seine Geschichte: 264 Dass außer von Kant noch wenig in dieser Richtung geleistet ist, liegt wohl darin, dass ein geläufiges mathematisches und philosophisches Denken und genügende Kenntnisse auf beiden Gebieten nur selten vereinigt gefunden werden. Auch das vorliegende Buch scheint mir an dieser Klippe zu scheitern. Ich will nun die Möglichkeit nicht ganz abweisen, dass vielleicht mein mangelhaftes Verständnis mich an der vollen Würdigung hindert. Dennoch wage ich eine Besprechung in der Meinung, damit vielleicht einen klärenden und dem Verfasser erwünschten Gedankenaustausch herbeizuführen, und weil ich im ungünstigsten Falle durch die Schreibart Cohens entschuldigt zu sein glaube, welche sich keineswegs durch Klarheit auszeichnet und manchmal geradezu unlogisch ist.

Wie wir hier sehen, verfasst Frege diese Rezension offenbar mit dem Ziel, einen »klärenden und dem Verfasser erwünschten Gedankenaustausch herbeizuführen«. Ein solcher kommt freilich nicht zustande. Freges Kritik an Cohens Unklarheit, mangelnder logischer Transparenz des Ausdrucks – sowie mangelnder mathematischer Kenntnisse – stoßen bei diesem offenbar auf taube Ohren. Dies über263 Vgl. dazu Freges Brief an Dingler vom 17. 11. 1918, WB 44: »Ja, das Streben nach Wahrheit scheint mir der eigentliche Kern meines Berufes zu sein«. 264 RCo: 99.

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rascht nicht, wenn wir bedenken, dass Frege offenbar nicht nur der Mangel an mathematischer Kompetenz sowie logischer Transparenz von Cohens Gedankengangs misfällt, sondern ihm offenbar auch dessen methodische Herangehensweise insgesamt fragwürdig vorkommt. Frege fährt nämlich fort: 265 Ich vermisse hier das Streben nach Genauigkeit und logischer Unanfechtbarkeit des Ausdrucks, welche allein in Untersuchungen dieser Art dem Gedanken seine Klarheit verbürgen können. Und solche Bürgschaft verdient weit mehr Vertrauen als die, welche Cohen aus dem Einvernehmen mit dem geschichtlichen Gange des Problems entnimmt (S. III). Er irrt in der Meinung, dass zunächst allein die geschichtliche Einsicht eröffnen könne, was als eine logische Voraussetzung der Wissenschaft in Anspruch zu nehmen sei (S. IV). Im Gegenteil: Jene logischen Grundlagen werden wohl immer erst spät entdeckt, nachdem schon ein erheblicher Umfang des Wissens erreicht ist. Der geschichtliche Ausgangspunkt erscheint vom logischen Standpunkte aus meistens als etwas Zufälliges.

In dieser Passage kommt Freges generelle Ablehnung einer historischen Herangehensweise an philosophische Fragen zum Ausdruck, die aber den Neukantianern sehr geläufig war. Sehr wahrscheinlich hing dies mit einer tiefgehenden Abneigung Freges gegen die auf Hegel zurückgehende Idee zusammen, dass Begriffe und Wahrheiten in irgendeiner Weise selbst geschichtlich konstruiert oder bedingt sein müssten. Wie Freges Kritik an Cohen zeigt, könnte er dessen These, dass »zunächst allein die geschichtliche Einsicht eröffnen könne, was als eine logische Voraussetzung der Wissenschaft in Anspruch zu nehmen sei« in diesem Sinne, d. h. im Sinne einer Relativierung der Gültigkeit dieser logischen Voraussetzungen auf ihre Geschichte interpretiert zu haben – so, als ob Cohen zufolge diese Geschichte selbst ihnen erst Gültigkeit verleihen würde. Dabei hätte Frege Cohen allerdings wohl unrecht getan, denn jene Auffassung geht aus Cohens Äußerung nicht unmittelbar hervor. Vielmehr wäre eine »geschichtliche« Herangehensweise in Cohens Sinne auch dann gerechtfertigt, wenn man Freges Auffassung von der Ontologie von Begriffen sowie von ihrer Geschichte teilt. Denn schließlich gibt ja Frege selbst zu, dass es oft erst durch »große geistige Arbeit, die Jahrhunderte hindurch andauern kann« gelingt, »einen Begriff in seiner Reinheit zu erkennen«. Nichts aber ist wohl wissenschaftlich naheliegender, um einen solchen Erkenntnisprozess 265

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fortzusetzen oder gar zu Ende zu bringen, als an den Ergebnissen früherer Forscher anzuknüpfen und ihre Resultate weiterzuentwikkeln. Die Alternative hierzu wäre nämlich, diesen Prozess individuell immer wieder ganz von vorn zu beginnen, wodurch sich zuvor geleistete Arbeiten zwangsläufig stets als überflüssig erweisen würden. Tatsächlich hat Frege aber auch selbst eigentlich nichts anderes getan, als in der einen oder anderen Weise an die philosophische Tradition anzuknüpfen. Dies zeigt sich bereits daran, dass er in seinen eigenen Abhandlungen, insbesondere in den früheren Schriften, eine ganze Reihe von Vordenkern namentlich als solche erwähnt – allen voran Leibniz und Kant, aber auch Plato, Euklid und Newton. Im Unterschied allerdings zu seinen philosophischen Zeitgenossen lag es ihm fern, seine eigenen Thesen in einer umfangreichen und detaillierten Auseinandersetzung mit den Texten oder Gedankenbäuden früherer Philosophen zu entwickeln. Dies kann aber u. a. auch seinen Grund darin gehabt haben, dass es Frege generell schwerfiel, philosophische Texte genau zu lesen, geschweige denn, sie akkurat systematisch auszulegen – in diesem Bereich fühlte er sich wohl, und nicht zu unrecht, unsicher. Freges philosophiegeschichtliche Unbedarftheit zeigt sich nicht zuletzt auch in seiner Kritik an einer geschichtlichen Auffassung von Begriffen, Wahrheiten und Erkenntnis, die, falls sie sich gegen Hegel richten soll, an ihrem Ziel vorbeiläuft. Interessant ist, dass Frege die geschichtliche Auffassung der Ontologie von Dingen und Begriffen offenbar gleichsetzte mit einer individuell-psychologistischen Betrachtungweise. Wie wir in der folgenden Passage sehen, paraphrasiert er sie geradezu als die Idee, »dass die Begriffe in der einzelnen Seele so entstehen, wie die Blätter an den Bäumen«, sodass ihr Wesen nur durch eine psychologische Erklärung ihrer Entstehung in der individuellen Einzelseele erfasst werden könne: 266 Die geschichtliche Betrachtungsweise, die das Werden der Dinge zu belauschen und aus dem Werden ihr Wesen zu erkennen sucht, hat gewiss eine große Berechtigung; aber sie hat auch ihre Grenzen. Wenn in dem beständigen Flusse aller Dinge nichts Festes, Ewiges beharrte, würde die Erkennbarkeit der Welt aufhören und alles in Verwirrung stürzen. Man denkt sich, wie es scheint, dass die Begriffe in der einzelnen Seele so entstehen, wie die Blätter an den Bäumen, und meint ihr Wesen dadurch erkennen zu können, dass man ihrer Entstehung nachforscht und sie aus der Natur der menschlichen 266

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Seele psychologisch zu erklären sucht. Aber diese Auffassung zieht alles ins Subjektive und hebt, bis ans Ende verfolgt, die Wahrheit auf.

Diese Interpretation – wonach die geschichtliche Auffassung in der Tat »alles ins Subjektive« ziehen und »bis ans Ende verfolgt, die Wahrheit auf[heben] würde« – stimmt wohl weniger mit einer Hegelschen Variante überein, wonach Wahrheit und Begriffe zwar geschichtlich bedingt, aber keineswegs auf einzelne Individuen subjektiviert sind. Frege scheint diese Variante jedoch gar nicht berücksichtigt zu haben; oder wenn er dies tat, so hat er sie gewaltig missverstanden. An einer anderen Stelle wiederum wird die »geschichtliche« Auffassung biologisch im Sinne des Darwinismus gedeutet. Auch diese Deutung stimmt wohl nur mit einem sehr verzerrten Hegel überein, und die Fragen, die sich berechtigterweise aus ihr ergeben, hätten Hegel selbst wohl nicht weiter beunruhigt: 267 »In unserer Zeit, da die Entwicklungslehre ihren Siegeszug durch die Wissenschaften hält und die geschichtliche Auffassung aller Dinge die ihr zukommenden Grenzen zu überschreiten droht, muss man sich auf Fragen befremdlicher Art gefasst machen. Wenn sich der Mensch wie alle Lebewesen entwickelt und weiter entwickelt hat, haben dann alle Gesetze seines Denkens immer Geltung gehabt und werden sie immer Geltung behalten? Wird ein Schluss, der jetzt richtig ist auch noch in hundert Jahren richtig sein und ist er vor Jahrtausenden schon richtig gewesen?

Die Alternative allerdings, die Frege zur psychologischen und darwinistischen Form einer geschichtlichen Auffassung anbietet, scheint tatsächlich unvereinbar mit einer Hegelschen Konzeption zu sein. Frege setzt nämlich der psychologischen Variante einer geschichtlichen Auffassung als einzige Alternative die Idee gegenüber, dass »in dem beständigen Flusse aller Dinge« etwas »Festes, Ewiges« beharren müsse, weil andernfalls »die Erkennbarkeit der Welt aufhören und alles in Verwirrung stürzen« würde. Was er unter »ewig« versteht, wird deutlicher, wenn wir uns der Fortsetzung zu seiner Darwinismus-Kritik zuwenden. Frege schreibt hier: 268 Offenbar liegt hier eine Vermengung der Gesetze des wirklichen Denkens und der des richtigen Schliessens vor. Sehen wir uns die Sache einmal genauer an. Gesetze in dem Sinne, wie wir von Naturgesetzen, psychologischen, mathematischen und logischen Gesetzen sprechen, können sich ge267 268

Log I, 4. Log I: 4. A

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naugenommen überhaupt nicht ändern. Denn ein solches Gesetz, vollständig ausgesprochen, muss alle seine Bedingungen enthalten und nun unabhängig von Ort und Zeitpunkt gelten.

Was Frege in seiner Kritik der geschichtlichen Auffassung zum Ausdruck bringen will, ist offenbar, dass »die Erkennbarkeit der Welt« – und somit alle Wissenschaft – nur möglich ist, wenn wir die Möglichkeit eines Relativismus oder gar Subjektivismus von Wahrheit und Erkenntnis ausschließen können. Relativismus und Subjektivismus aber erschienen ihm notwendige Konsequenzen der Idee einer geschichtlichen Bedingtheit von Begriffen oder Tatsachen. Die restlose Beseitigung von Relativismus oder Subjektivismus schien ihm daher nur auf der Basis der Annahme möglich, dass die zu erkennenden Begriffe und Tatsachen selbst außerhalb von Raum und Zeit, und d. h. für ihn außerhalb jeglichen geschichtlichen Zusammenhangs bestehen. Frege schreibt demgemäß über die Idee der »Geschichte von Begriffen«: 269 Was man Geschichte der Begriffe nennt, ist wohl entweder eine Geschichte unserer Erkenntnis der Begriffe oder der Bedeutungen der Wörter. Durch große geistige Arbeit, die Jahrhunderte hindurch andauern kann, gelingt es oft erst, einen Begriff in seiner Reinheit zu erkennen, ihn aus den fremden Umhüllungen herauszuschälen, die ihn dem geistigen Auge verbargen.

Frege scheint hier davon auszugehen, dass Begriffe in irgendeiner Weise ganz unabhängig von unseren Bemühungen, sie zu erkennen existieren, und dass daher auch Begriffsgeschichte nichts anderes ist als die Geschichte unserer Erkenntnis von Begriffen (bzw. von Wortbedeutungen), nicht hingegen eine Geschichte ihrer Veränderungen oder Wandlungen. Was sich für Frege in bezug auf Begriffe im Laufe der Zeit verändern kann, ist einzig unser epistemischer Zugang zu ihnen. Begriffe selbst hingegen müssen »in ihrer Reinheit« prinzipiell unwandelbar sein. Dies ist, was Frege ein Jahr später in seiner Kritik an Cohen als den »logischen« Standpunkt bezeichnet. Damit aber rückte er etwas in den Vordergrund, dass seinerzeit allgemein als ein charakteristisches Merkmal des Neukantianismus angesehen wurde. Dies wird umso deutlicher, wenn wir Martin Heideggers spätere Kritik am Neukantianischen Vernunftbegriff betrachten. 1933 – acht Jahre nach Freges Tod – schreib Heidegger in seinem 269

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vom NS-Kultusministerium angeforderten Gutachten über Hönigswald im besonderen und den Neukantianismus im allgemeinen: 270 »Hönigswald kommt aus der Schule des Neukantianismus, der eine Philosophie vertreten hat, die dem Liberalismus auf den Leib zugeschnitten ist. Das Wesen des Menschen wurde da aufgelöst in ein freischwebendes Bewusstsein überhaupt und dieses schliesslich verdünnt zu einer allgemein logischen Weltvernunft. Auf diesem Weg wurde unter scheinbar streng wissenschaftlicher philosophischer Begründung der Blick abgelenkt vom Menschen in seiner geschichtlichen Verwurzelung und in seiner volkhaften Überlieferung seiner Herkunft aus Boden und Blut … Es kommt aber hinzu, daß nun gerade Hönigswald die Gedanken des Neukantianismus mit einem besonders gefährlichen Scharfsinn und einer leerlaufenden Dialektik verficht. Die Gefahr besteht vor allem darin, dass dieses Treiben den Eindruck höchster Sachlichkeit und strenger Wissenschaft erweckt und bereits viele junge Menschen getäuscht und irregeführt hat. Ich muss auch heute noch die Berufung dieses Mannes an die Universität München als einen Skandal bezeichnen …«

Diese Textstelle aus einem Gutachten Heideggers, in dem dieser seine eigene Philosophie mit der Ideologie der Nazis verband und gleichzeitig seine Beziehungen zur Partei dazu nutzte, um sich unliebsamer Rivalen zu entledigen, ist auch im Hinblick auf Freges Kritik an der historischen Konzeption von Wahrheit sehr interessant. Heideggers Idee einer »geschichtlichen Verwurzelung« des Menschen sowie »volkhaften Überlieferung seiner Herkunft aus Boden und Blut« dürfte genaugenommen wohl kaum Freges philosophische Zustimmung gefunden haben, wenn wir bedenken, wie kritisch dieser einer vorwiegend »geschichtlichen Betrachtungsweise« in der Philosophie gegenüberstand. Vielmehr hatte sich Frege ja offenbar einem Vernunftbegriff verschrieben, der mit dem der Neukantianer – oder allgemeiner gesagt, dem der Aufklärung – zumindest in den Hisichten, die Heidegger hier hervorhebt, vollkommen übereinstimmte. Heideggers Angriff auf den Neukantianismus hätte somit genausogut Frege gelten können. 271 270 Zitiert nach Schorcht 1990, 161. Hönigswalds Zwangspensionierung wurde mit Hilfe dieses Gutachtens von Heidegger bewerkstelligt. Zu Heideggers Bekämpfung des Neukantianismus siehe auch Sluga 1993 und Schmied-Kowarzik 1997. 271 Da andererseits auch Bauch und Frege Nationalsozialisten waren, zeigt dies allerdings, dass Heideggers Vernunftbegriff nicht notwendig gewesen zu sein scheint, um den Nationalsozialismus philosophisch zu unterstützen; oder, wenn er notwendig war, so haben die Mitglieder der deutsch-philosophischen Gesellschaft dies offenbar nicht bemerkt.

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Teil II: Logik und Erkenntnistheorie Die zweite einflußreiche Interpretationslinie, die sich seit den 70er Jahren innerhalb der Frege-Forschung entwickelt hat, tendiert im Gegensatz zur orthodoxen analytischen Philosophiegeschichtsschreibung dazu, Frege gewissermaßen vollständig in die Kantische Tradition einzuordnen. Dagegen spricht allerdings – wie wir sahen – bereits seine Auffassung von Logik, und insbesondere sein Versuch, die Arithmetik auf die allgemeine und nicht die transzendentale Logik zu gründen, sowie seine generelle Vernachlässigung spezifisch transzendentallogischer Fragestellungen. Auch sehen wir, dass Frege bereits jene für die orthodoxe analytische Tradition charakteristische Antipathie gegenüber einer historischen Herangehensweise an systematische Fragen zeigte, die auf dem möglichen Vorurteil beruht, die Auseinandersetzung mit historischen Vordenkern als Methode der Erforschung philosophischer Begriffe oder Probleme impliziere eine historizistische Auffassung der Natur von Begriffen oder Wahrheiten selbst gleich. Die Neukantianer haben gezeigt, dass dies nicht der Fall sein muss, indem sie zwar ihre Arbeiten konsequent als Weiterentwicklungen der Kantischen Transzendentalphilosophie verstanden – sich also vorwiegend im Rahmen eines bestimmten Denkrahmens bewegten –, gleichzeitig aber offenbar einen Begriff der Vernunft und also der Rationalität vertraten, der im Wesentlichen ungeschichtlich ist. Was die Neukantianer umgekehrt an der sich entwickelnden analytischen Philosophie stören musste, war deren Tendenz, einen ahistorischen rationalen Standpunkt zu beanspruchen, ohne diesen jedoch offenbar erkenntnistheoretisch hinreichend fundieren zu können, oder dies selbst für nötig zu halten. Freges Standpunkt etwa, dass Begriffe und Tatsachen historisch entdeckt, nicht aber geschaffen oder verändert werden können, verlangt nach einer Erklärung, wie dies denn überhaupt möglich sein soll – insbesondere aber, wie es unserem sterblichen, in der Zeit gefangenen menschlichen Bewusstsein möglich sein soll, ewige, zeitunabhängige Begriffe und Tatsachen zu erfassen. Ohne eine befriedigende Erklärung dieser A

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Art – etwa im Rahmen einer transzendentalen Logik – musste die Annahme objektiver Wahrheiten, einschließlich logischer Gesetze und Begriffe sich für die kritizistische Denkweise der Kantianer wie ein Paradestück dogmatischer, unbegründeter Spekulation präsentieren. Auf der anderen Seite ist wohl auch das lange Zeit vorherrschende Vorurteil eines klaren Schnittes zwischen analytischer und neuzeitlicher Philosophie überzogen sowie philosophisch geradezu hinderlich. Insbesondere hat es lange Zeit die Möglichkeit einer fruchtbaren Auseinandersetzung über das Verhältnis Freges zu seinen philosophischen Vordenkern verhindert. Die vollkommene Vereinnahmung Freges durch die orthodoxe analytische Philosophie hat m. E. ganz wichtige Unterschiede zwischen Frege, Russell und auch dem frühen Wittgenstein verwischt, die seine Einstellung zur Logik und Philosophie historisch gesehen in einem falschen Licht erscheinen lassen. 1 Eine ähnliche Vermutung hatte sogar Dummett bereits in den 70er Jahren zum Ausdruck gebracht: 2 Up to, say, 1950, the influence of Frege upon analytical philosophy had been very great, but it had been exerted largely at second hand, transmitted through a few rare, though influential, philosophers who had studied him directly – Church, Carnap, Russell and, above all, Wittgenstein; and so, for the most part, Frege’s doctrines reached others only as understood by those writers, and not clearly distinguished from their own opinions. Now, a quarter-century later […] every serious philosophy student […] acknowledges a thorough study of Frege’s writings as essential to a philosophical education; and the shift in perspective – and not merely in historical perspective – brought about by the recognition of Frege as the fountain-head of analytical philosophy, rather than supposing it to have begun with Russell, or with Wittgenstein, or with the Vienna Circle, has had a profound, and unifying effect.

Was nun Dummett in seiner Neubewertung von Freges Schaffen vor allem leistete, war, dessen spezifisch philosophische Dimension – und Intention – in den Vordergrund zu rücken. Im Gegensatz zu Russell oder Carnap lenkte Dummett das Augenmerk auf den Umstand, dass in der Logik wie auch in der Philosophie der Mathematik »notwendigerweise Fragen übrigbleiben, die der Philosoph stellt und die nicht Vgl. zur Verzerrung der neueren Philosophiegeschichte durch die analytische Philosophiegeschichtsschreibung insbesondere Sluga 1980. 2 Dummett 1978: 440. 1

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allein durch Anwendung mathematischer Techniken beantwortet werden können, sondern die eine Kombination dieser Techniken mit angemessener philosophischer Argumentation erfordern«. 3 Dummett zufolge hatte Frege genau diesen Umstand bereits erkannt – dies ist, was er gemeint habe, als er zum Ausdruck brachte, dass ein Mathematiker ohne philosophische Ader »nur ein halber Mathematiker« sei. 4 Dummetts Bemühungen mit dem Ziel, die philosophische Bedeutung und Fruchtbarkeit von Freges eigenen Arbeiten – im Kontrast zu denen Russells, Wittgensteins oder der logischen Empiristen – für die Entwicklung der analytischen Philosophie und modernen Logik, sowie ihre sich bis in die Gegenwart erstreckende Aktualität herauszuarbeiten, haben unzweifelhaft eine überaus stimulierende Wirkung auf die Frege-Rezeption innerhalb der analytischen Philosophie ausgeübt. Insofern jedoch Dummett selbst ein intellektuelles Produkt der nachfregeanischen analytischen Tradition ist – beeinflusst durch das durch die Augen Russells, Wittgensteins und der Logischen Positivisten gefilterte Frege-Bild – musste er zwangsläufig ebenso Gefahr laufen, Freges Ort in der Geschichte der Philosophie misszuverstehen und ihn gewissermaßen im Sinne einer Mischung aus Russellianer, Wittgensteinianer und Logischem Positivisten zu interpretieren. Insbesondere kommt in Dummetts Frege-Rezeption die Bedeutung der spezifisch traditionellrationalistischen Dimension von Freges Philosophie der Mathematik, die ihn den Neukantianern wohl doch noch näher bringt als Russell oder Wittgenstein, m. E. zu kurz. Einige Fragen im Hinblick auf Freges Verbindungen zu den Neukantianern sind nun noch nicht vollständig geklärt. Es muss z. B. noch genauer geklärt werden, was Frege einer philosophischen Gesellschaft vom philosophischen Standpunkt aus nahebrachte, die sich der Pflege und Bewahrung der deutsch-idealistischen Tradition verschrieben hatte. Wie sich in Teil I zeigte, bekundete Frege eine Affinität zur rationalistischen Tradition der Neuzeit, und dies kommt besonders in seinem Begriff der Vernunft als Basis der Objektivität zum Ausdruck. Könnten wir aber so weit gehen, Frege in irgendeiner Weise als einen »deutschen Idealisten« einzuordnen? Oder weist Freges Werk zumindest Aspekte auf, die die Förderer, die er im Kreis um Bruno Bauch hatte, dazu berechtigt haben könnten, ihn als sol3 4

Dummett 1981a: xxxii. Vgl. LMN: 293. A

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chen betrachteten? Und wenn nicht, was genau wären dann eigentlich die »Hauptpunkte« gewesen, in denen Frege glaubte, mit den Neukantianern so gut übereinzustimmen, wenn er sich doch selbst offenbar kaum in den Bereich der Transzendentalphilosophie vorgewagt hatte? Inwiefern schließlich unterscheidet sich Freges Auffassung in diesen Hinsichten, wenn überhaupt, von denjenigen Russells und des frühen Wittgenstein? Diesen Fragen möchte ich im folgenden genauer nachgehen, und ihre Antwort wird, so hoffe ich, zur Klärung der Begriffe der Transzendentalphilosophie und des Indealismus überhaupt beitragen, wie sie jedenfalls im Deutschland des ausgehendenden 19ten und beginnenden 20sten Jahrhundert verstanden worden sind.

2.1. Frege und die idealistische Tradition Die ersten Begriffe, der sich bei einer Untersuchung der Fregeschen Beziehungen zur »deutsch-idealistischen« Tradition als Untersuchungsobjekt anbieten, sind der des Idealismus im allgemeinen und des deutschen Idealismus im besonderen. Es ist zu bedenken, dass sich Frege mit dem Ausdruck »Idealismus« bezüglich seiner eigenen Position generell wohl eher schwertat. Denn was er selbst offiziell unter »Idealismus« verstand, lehnte er radikal ab. Idealismus war für ihn im wesentlichen eine erkenntnistheoretische Position; nämlich die Auffassung, dass subjektive Vorstellungen, Vorstellungen im Sinne der empirischen Psychologie, den ausschließlichen Gegenstand der Erkenntnis bzw. das ausschließliche Material von Gedankeninhalten bilden – eine Auffassung, als deren repräsentativen Vertreter er offenbar den Britischen Empiristen George Berkeley im Sinn hatte und deren Wurzel er im »Sensualismus« Lockes und »so viele[m], was sich daran geknüpft hat« 5 erblickte. Frege zufolge führte dieser Idealismus in letzter Konsequenz unvermeidlich in einen erkenntnistheoretischen Solipsismus – die Auffassung, dass »nur das Gegenstand meiner Betrachtung sein kann, was meine Vorstellung ist«. 6 Solipsismus wiederum galt Frege als Basis für drei erkenntnistheoretische Übel, die gleichermaßen die Möglichkeit eines intersubjektiven wissenschaftlichen Unterneh5 6

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Vgl. GLA §§ 25 f., BZ II: 115. Vgl. Ged: 355; zum Verhältnis von Idealismus und Solipsismus siehe auch GGA I: xix.

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Frege und die idealistische Tradition

mens ausschließen würden und um derentwillen der erkenntnistheoretische Idealismus für Frege indiskutabel war. Die erste Überlegung ist hier die folgende: Wenn für jeden nur das Gegenstand seiner Betrachtung (seines Denkens) sein kann, was seine eigene Vorstellung ist, so können verschiedene Menschen niemals dieselben Dinge betrachten, geschweige denn sinnvolle Meinungsverschiedenheiten über dieselben Dinge austragen: 7 Wenn jeder mit dem Namen »Mond« etwas Anderes bezeichnete, nämlich eine seiner Vorstellungen, […] so wäre freilich die psychologische Betrachtungsweise gerechtfertigt, aber ein Streit über die Eigenschaften des Mondes wäre gegenstandslos: Der eine könnte von seinem Monde ganz gut das Gegenteil von dem behaupten, was der Andere mit demselben Rechte von seinem sagte. Wenn wir nichts erfassen könnten als was in uns selbst ist, so wäre ein Widerstreit der Meinungen, eine gegenseitige Verständigung unmöglich, weil ein gemeinsamer Boden fehlte, und ein solcher kann keine Vorstellung im Sinne der Psychologie sein.

Eine nahe Variante dieses Argumentes bezüglich der Subjektivität von Gegenständen des Denkens im Rahmen einer idealistischen Erkenntnistheorie betrifft den Begriff der Wahrheit und die Frage danach, welcher Art ein Wahrheitsträger zu sein hat. Lassen sich nämlich, wie es der erkenntnistheoretische Idealist nach Freges Rekonstruktion haben möchte, die Begriffe der Wahrheit und Falschheit nur auf Vorstellungsverbindungen im psychologischen Sinne beziehen, d. h. auf das, was lediglich Inhalt des individuellen Bewusstseins eines Menschen ist, so könnte es Frege zufolge keine allen Menschen gemeinsame Wissenschaft geben, an der viele arbeiten könnten: 8 Jeder von uns beschäftigt sich mit den Inhalten seines Bewusstseins. Ein Widerspruch zwischen beiden Wissenschaften ist dann nicht möglich; und es ist eigentlich müßig, sich um die Wahrheit zu streiten, ebenso müßig, ja beinahe lächerlich, wie es wäre, wenn zwei Leute sich stritten, ob ein Hundertmarkschein echt wäre, wobei jeder von beiden denjenigen meinte, den er selber in seiner Tasche hätte, und das Wort »echt« in seinem besonderen Sinne verstünde.

Während Frege also in seinem ersten Argument die erkenntnistheoretische Annahme zur Absurdität führt, dass alle Gegenstände des Denkens subjektive Inhalte des jeweiligen Denkerbewusstseins sind, 7 8

GGAI: xix. Ged: 353. A

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richtet sich dieses zweite Argument – das vom Begriff der Wahrheit ausgeht – gegen die Subjektivität von Wahrheitsträgern, d. h. dessen, was überhaupt als wahr oder falsch betrachtet werden kann. Beide Argumente betreffen Aspekte seiner Erkenntnistheorie, wenn man hierunter eine Theorie dessen versteht, worin objektive Erkenntnis besteht bzw. wie sie möglich ist. Ein später Brief Freges an Ludwig Wittgenstein von 1920 zeigt nun, dass Frege mit anderen Formen von Idealismus als demjenigen, den er als »erkenntnistheoretischer Idealismus« bezeichnet, offenbar wenig anzufangen wusste: 9 Natürlich nehme ich Ihnen Ihre Offenheit nicht übel. Aber ich möchte gerne wissen, welche tiefen Gründe des Idealismus Sie meinen, die ich nicht erfasst hätte. Ich glaube verstanden zu haben, dass Sie selbst den erkenntnistheoretischen Idealismus nicht für wahr halten. Damit erkennen Sie, meine ich, an, dass es tiefere Gründe für diesen Idealismus überhaupt nicht gibt. Die Gründe dafür können dann nur Scheingründe sein, nicht logische. Man wird ja zuweilen von der Sprache irre geführt, weil die Sprache nicht immer den logischen Ansprüchen genügt. […] Gehen Sie, bitte, einmal meinen Aufsatz […] durch bis zu dem ersten Satze, dem sie nicht zustimmen, und schreiben Sie mir diesen Satz und die Gründe Ihrer Abweichung. So werde ich wohl am besten erkennen, was Sie im Auge haben. Vielleicht habe ich gar nicht in dem Sinne, wie Sie es meinen, den Idealismus bekämpfen wollen. Ich habe den Ausdruck »Idealismus« überhaupt wohl nicht gebraucht. Nehmen Sie meine Sätze ganz, wie sie dastehen, ohne mir eine Absicht unterzuschieben, die mir vielleicht fremd gewesen ist.

Manche Autoren vertreten die Auffassung, dass Frege hier seine distanzierte Haltung zum Idealismus überhaupt, d. h. nicht nur in seiner subjektivistischen, psychologistischen, sondern auch in anderen Varianten, insbesondere der Kantisch-transzendentalphilosophischen, zum Ausdruck gebracht habe. 10 Dies geht jedoch aus der obiBrief an Wittgenstein vom 3.4.1920, BWL: 24. Laut Kleemeier 1997: 148 f. etwa legt der obige Briefauszug, der bis jetzt als der einzige betrachtet werden kann, in dem Frege sich ganz allgemein über den Idealismus in jeder seiner Formen äußert, nahe, dass Frege dieser Art von Philosophie »ablehnend bis desinteressiert gegenüberstand«. Vor allem die letzten Bemerkungen in der obigen Passage werden bei ihr so gedeutet, als habe Frege nicht nur den subjektiven erkenntnistheoretischen Idealismus für eine logisch verfehlte Theorie gehalten, sondern dass es ferner gänzlich außerhalb seines Interessengebietes gelegen habe, sich mit dem Idealismus überhaupt zu befassen. Letzteres mag in gewissem Sinne zustimmen, insofern Frege offenbar nirgends die Frage nach der Legitimität anderer Formen des Idealismus behandelt. Um jedoch zu entscheiden, ob er jeglicher Art Idealismus tatsächlich »ableh-

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gen Passage nicht unmittelbar hervor, wenngleich es durchaus korrekt sein mag, dass Frege tatsächlich Schwierigkeiten hatte, sich einen vertretbaren Idealismus überhaupt vorzustellen bzw. zu verstehen, inwieweit eine für ihn vertretbare Position noch als »Idealismus« gelten könnte. Was in der obigen Passage vielmehr zum Ausdruck kommt, ist daher vor allem Freges Unsicherheit im Hinblick auf die Frage, ob es neben derjenigen Position, die er als »erkenntnistheoretischer Idealismus« bezeichnet, auch noch andere Formen des Idealismus geben könne, mit denen seine eigene Position vielleicht sogar vereinbar wäre. Dies geht vor allem aus dem Satz »Vielleicht habe ich gar nicht in dem Sinne, wie Sie es meinen, den Idealismus bekämpfen wollen« hervor. Denn das, was Wittgenstein offenbar mit »Idealismus« bzw. den »tiefen Gründen des Idealismus« meinte, konnte ja nicht das sein, was Frege selbst unter »erkenntnistheoretischem Idealismus« verstand, da er sich offensichtlich wusst war, dass Wittgenstein diese extreme Position ablehnte. 2.1.1. Der Begriff des Idealismus bei den Neukantianern Es zeigt sich auch, dass die Begriffe des Idealismus und des deutschen Idealismus bereits bei den Neukantianern alles andere als klar gefasst waren. Hegel hatte die Idee des Selbstbewusstseins, und die besondere Funktion, die ihr im Rahmen der Kantischen, Fichteschen, Schellingschen und seiner eigenen Philosophie zukam, als grundlegendes gemeinsames Merkmal betrachtet, das alle vier Systeme miteinander in einer Weise verbinde, die die Vorstellung einer gemeinsamen Entwicklung rechtfertigt. 11 Diese Charakterisierung der deutsch-idealistischen Schule, die vorübergehend in der Philosophiegeschichte sehr einflussreich war; 12 wird heute von gewissenhaften Idealismus-Forschern als solange zu vage betrachtet als bis geklärt ist, ob und inwiefern bei allen vier Begriffen des Selbstbewusstseins überhaupt wenend bis desinteressiert« gegenüberstand, müssen wir zunächst untersuchen, was seinerzeit überhaupt unter »Idealismus« verstanden wurde. 11 Vgl. Horstmann, 1991: 23. 12 Nach Horstmann 1991: 22 ff. wurde die auf Hegel zurückgehende Bedeutung des Ausdrucks »deutscher Idealismus« erstmals durch C. L. Michelet in dessen Geschichte der letzten Systeme der Philosophie in Deutschland von Kant bis Hegel (1837–38) verwendet. Etwa zeitgleich finden wir sie auch bei H. M. Chalibäus in dessen Historische Entwicklung der spekulativen Philosophie von Kant bis Hegel (1837). A

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sentliche Gemeinsamkeiten auszumachen sind, und ob – selbst wenn es solche Gemeinsamkeiten gibt – der Begriff des Selbstbewusstseins bei jenen Autoren nicht »in gänzlich verschiedenen Kontexten und unter ganz anderen Voraussetzungen von Bedeutung ist«. 13 Bereits Otto Liebmann jedoch, Bruno Bauchs Vorgänger in Jena und Freges Kollege, hatte – wie wir sahen – zwischen Kants Kritizismus und dem Idealismus Fichtes, Schellings und Hegels unterschieden. 14 Derjenige Aspekt der Kantischen Philosophie, welcher ihr ihren idealistischen – im Unterschied zum kritischen – Charakter verleiht, war für Liebmann die Tatsache, dass Kant bei der Beantwortung der oben genannten kritischen Frage »unter Anderem auch die Apriorität […] gewisser allgemeiner Erkenntnisformen findet, die man vor ihm für aus der Erfahrung geschöpft ansah«. 15 An einer späteren Stelle wiederum nennt Liebmann neben den apriorischen Erkenntnisformen insbesondere die transzendentale Apperzeption, oder Einheit des Selbstbewusstseins als den »Punkt der Kantischen Philosophie, an welchen die idealistische [d. h. die Fichte-SchellingHegelsche] Richtung anknüpfte« anführt. 16 In einer anderen Passage am Ende von Kant und die Epigonen bezeichnet Liebmann Descartes’ cogito ergo sum als dasjenige Prinzip, »auf welchem der ganze moderne Idealismus ruht«. 17 Liebmann begründet diese Diagnose nicht näher; möglicherweise liegt ihr bereits die in unserer Zeit von Miles Burnyeat vertretene Einsicht zugrunde, dass vor Descartes die Möglichkeit eines rein spirituellen Selbst konzeptuell einfach noch nicht ernsthaft in Betracht gezogen werden konnte, sodass daher auch die Möglichkeit eines globalen Außenwelt-Skeptizismus erst nach der

Vgl. Horstmann, a. a. O., 24. In dieser Hinsicht nahm Liebmann gewissermaßen die in der gegenwärtigen Idealismus-Forschung vorherrschende Auffassung vorweg, dass Kant selbst eigentlich nicht zu den Deutschen Idealisten im engeren Sinne gezählt werden kann, wenn auch sein System einen gemeinsamen Ausgangspunkt für Fichte, Schelling und Hegel bildete. Vgl. dazu Horstmann 1991: 27. Wir sahen, dass Liebmann das Wesen des Kritizismus als die »Einsicht« definierte, »dass wir, bevor an irgendwelche Spekulation gegangen wird, genau untersuchen und uns Rechenschaft darüber geben müssen, was wir überhaupt zu erkennen vermögen, welches die Formen, Funktionen, Grenzen unseres Intellekts sind; dass wir die Frage an uns richten: Was kann ich wissen?«, Liebmann 1865: 84; vgl. auch ebd. 11 f. 15 Liebmann 1865: 84. 16 Liebmann 1865: 140. 17 Liebmann 1865: 218. 13 14

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konzeptuellen Trennung von Körper und Geist überhaupt zu einer philosophischen Option werden konnte 18 Natorp wiederum findet in Descartes’ Erkenntnistheorie bereits die Kernidee einer Transzendentalphilosophie im Sinne Kants, und er interpretiert Descartes cogito demgemäß im Sinne von Kants transzendentaler Apperzeption – der synthetischen Einheit des Selbstbewusstseins. 19 Kant selbst hatte in der zweiten Auflage seiner Kritik der reinen Vernunft Descartes als Repräsentanten des sogenannten »problematischen Idealismus« vorgestellt – der »Theorie, welche das Dasein der Gegenstände im Raum außer uns […] für zweifelhaft und unerweislich […] erklärt«. 20 Auch für Kant war demnach philosophischer Skeptizismus, eine Haltung, die Descartes selbst freilich nie wirklich geteilt hat 21 , bereits eine Art von Idealismus – eine Art von Idealismus freilich, die er selbst glaubte, zugunsten eines »kritischen«, transzendentalen Idealismus verabschiedet zu haben. Als nun die Deutsche Philosophische Gesellschaft 1918 durch Bauch ins Leben gerufen wurde, waren seit Erscheinen von Liebmanns Kant und die Epigonen bereits 54 Jahre vergangen, und der Neukantianismus hatte sich fest an den deutschen Universitäten etabliert. In der Zwischenzeit war auch Hegel – der so Bauch, »als ich in die wissenschaftlich philosophische Arbeit eintrat, […] in seiner Bedeutung noch so gut wie gänzlich verkannt war« 22 – selbst bei den Neukantianern wieder zu einigem Ansehen gelangt, und einige Hegelsche Ideen fanden zumindest indirekt Eingang in die Entwicklung Neukantianischen Gedankenguts. Und obwohl Bauch selbst noch immer ganz in Liebmanns Sinn bekundete, dass »keine der großen geschichtlichen Erscheinungen auf dem Gebiete der Philosophie« ihn so beschäftigt habe wie Kant, dessen systematische Überlegungen er ganz in Kants Sinne weiterzuführen bestrebt war 23, gab er zu, dass Vgl. Burnyeat 1982. Vgl. dazu Natorp 1882. 20 KrV: B 274. 21 Es ist nicht klar, ob Kant ganz übersah, dass Descartes auf der Basis des Cogito und des Prinzips der Klarheit und Deutlichkeit durchaus einen Beweis der Realität der Außenwelt vorgebracht zu haben glaubte, oder ob er Descartes vielmehr lediglich als denjenigen Philosophen erwähnt, der diese Position sich als methodologischen Ausgangspunkt vorgenommen hatte. 22 Bauch 1929: 35. 23 Vgl. Bauch 1929, 35: »Von ihm [Kant; D. L.] ist […] die entscheidende Wirkung auf mich ausgegangen. Freilich bin ich nie sein kritikloser Anhänger gewesen. In meinen eigenen systematischen Arbeiten suchte ich die philosophischen Probleme in dem Sinne 18 19

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die Richtung, in die sich seine Weiterentwicklung der Kantischen Ideen bewegte, eine systematische Annäherung an Hegel darstellte. 24 Nicht viel anders als Liebmann beschreibt jedoch auch Bauch die Tradition, deren Bewahrung und Weiterführung sich seine Gesellschaft zum Ziel gesetzt hatte, als »eine große einheitliche Linie« von Leibniz über Kant und Fichte bis zu Hegel, »deren Fortführung auch über Lotze sich erstreckt, und die weiterzuziehen unsere eigentliche Aufgabe ist«. 25 Insgesamt sprechen diese frühen Verwendungen der Bezeichnung »Idealismus« dafür, dass auch der Ausdruck »deutscher Idealismus« im Manifest der Deutschen Philosophischen Gesellschaft nicht unbedingt nur mit den Systemen Kants, Fichtes, Schellings und Hegels in Verbindung gebracht wurden, sondern sich auch auf frühere Formen des kontinentalen Rationalismus, sowie auf posthegelianische Entwicklungen in der deutschsprachigen Philosophie miterstreckten; insbesondere auch auf Freges früheren Lehrer Lotze, dessen Bedeutung für den deutschen Idealismus von Bauch offenbar besonders hoch eingeschätzt wurde. 26 Der Ausdruck »deutscher Idealismus« war offenbar zu diesem Zeitpunkt zu einer Sammelbezeichnung geworden, die nahezu auf die gesamte deutschsprachige Tradition des Rationalismus bezogen wurde.27 Die Gleichsetzung von weiterzuführen, in dem ich den vom Zeitlich-bedingten unabhängigen bleibenden Ertrag der Leistung Kants sah.« 24 Wenngleich er einen unmittelbaren Einfluss Hegels auf die Entwicklung seines Denkens bestritt, vgl. Bauch 1929, 35: »Das geschah, zeitlich genetisch betrachtet, noch bevor ich Hegel […] genauer kennenlernte. Erst nachträglich, als das, was ich bisher an eigenen systematischen Arbeiten vorzulegen hatte, in meinem Denken schon Gestalt gewonnen, bemerkte ich, daß ich, bei gewiß recht erheblichen Differenzen, doch gerade von meinen Kantischen Ausgangspunkten her, in manchen entscheidenden Stücken zu Positionen gelangt war, die man als »Hegelisch« bezeichnen kann. Und von da aus habe ich, gleichsam wiederum nachträglich, die Verwandtschaften mit Hegel in meine Darstellungen einbezogen und hervorgehoben. Was man also bei mir als »Hegelianismen« bezeichnet hat, geht genetisch nicht eigentlich auf Hegels Einwirkung zurück, sondern liegt in der Richtung der Weiterbildung der ursprünglichen Form der Transzendentalphilosophie, trifft aber systematisch mit Grundeinsichten Hegels zusammen, ohne daß ich nun einfach dessen Anhänger geworden wäre.« 25 Bauch 1929: 36. 26 Vgl. dazu Lotzes Würdigung in Bauch 1918. 27 Warum dies geschah, lässt sich möglicherweise zum Teil auch politisch erklären. Wie schon erwähnt verfolgte die nationalistische Bewegung in der deutschen Universitätsphilosophie seit Ende des Ersten Weltkriegs zunehmend das Ziel, einen spezifisch »germanischen« Geist zu definieren und zu stärken – einen Geist, dessen Existenz freilich historisch nachzuweisen sein müsste. Dies musste zwangsläufig zu der Tendenz führen,

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deutschem Rationalismus mit deutschem Idealismus würde ansatzweise auch erklären, warum das neukantianische Bekenntnis zum »deutschen Idealismus« Freges Beitritt in die Deutsche Philosophische Gesellschaft weder von seinem Standpunkt aus noch von dem der anderen Mitglieder im Wege gestanden haben muss. Frege hatte sich schon lange vor dem Zeitpunkt seines Beitrittes zu derjenigen Tradition der deutschen Philosophie bekannt, die mit Leibniz ihren Ausgang nimmt, und er sympathisierte insbesondere mit der Kantischen Tradition in einigen wesentlichen Grundzügen, auf die noch im folgenden einzugehen sein wird. Schon in seinen frühen Schriften, insbesondere in den Grundlagen, bezeichnete er seine eigenen Ideen, ganz ähnlich wie vordem Liebmann und später Bauch, häufig als konstruktive Weiterführungen und Verbesserungen der Ansichten Kants; ebenso wie jene kann man ihn jedoch nicht einfach als unkritischen Anhänger oder gar Wiederkäuer Kantischen Denkens abwerten. Es ist aus diesen Gründen auch vollkommen verständlich, warum sich Frege bewusst in ein philosophisches Umfeld begab, in dem man bestrebt war, die von Leibniz und Kant über seinen früheren Lehrer Lotze führende Tradition neu zu beleben und weiterzuführen. In Anbetracht der Zwischenzeit entstandenen Weitläufigkeit des Begriffs »deutscher Idealismus« innerhalb der deutschen Philosophie seiner Zeit kann es auch durchaus sein, dass Frege sich selbst über diesen Begriff im weiteren Sinne im Unklaren war und daher das, was ihn an der auf Kant zurückgehenden Tradition interessierte oder wichtig erschien, gar nicht so recht als idealistisch einzustufen wusste. Wir haben in Teil I gesehen, dass Frege offenbar bereits in den Grundlagen die Idee einer synthetischen Einheit der Apperzeption als gegenüber der sammelnden Kraft des Begriffs unterlegen bezeichnet hatte. Es bleibt also unklar, ob Frege sich überhaupt zu dem Prinzip, dass die Möglichkeit von Begriffen und Urteilen, oder gar die einer objektiven Außenwelt überhaupt, auf der synthetischen Einheit des Selbstbewusstseins beruhen müsse, bekannte, oder ob er mit dieser Idee viel anzufangen vermochte. Genau diese Unsicherheit bezüglich der Rolle der synthetischen Apperzeption könnte der Grund gewesen sein, warum sich Frege nirgendwo speziell zum Bedie Geschichte des deutschen Rationalismus gewissermaßen zu vereinheitlichen, um ihr die nötige Evidenz für die Einzigartigkeit und Besonderheit der deutschen gegenüber anderen, philosophisch »degenerierten« Formen des Denkens – etwa dem Britischen Empirismus oder dem Amerikanischen Pragmatismus. A

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griff des transzendentalen Idealismus äußert und auch in seinem einschlägigen Brief an Wittgenstein kaum etwas über seine etwaige Kenntnis und Unterscheidung verschiedener Varianten des Idealismus durchblicken lässt. Es bleibt in jedem Fall somit uns überlassen zu entscheiden, inwieweit Frege überhaupt in eine wie von Bauch propagierte »große einheitliche Linie« von Leibniz über Kant und Fichte bis zu Hegel und weiter eingeordnet werden kann. Es bleibt die interessante Frage, was Freges Rationalismus – im Unterschied etwa zu Russells und Wittgensteins Ansätzen in der Philosophie der Logik und Erkenntnistheorie – mit dem der Neukantianer, Leibniz’ oder Kant gemeinsam hat, und ob und inwiefern man diesen Rationalismus überhaupt als Idealismus verstehen könnte. Dieser Frage möchte ich im folgenden nachgehen. 2.1.2. Die Überwindung des Skeptizismus Die ursprüngliche erkenntnistheoretische Motivation des Rationalismus – so sieht es etwa unser Zeitgenosse Laurence BonJour – ist, den Herausforderungen des Skeptizismus durch eine Verteidigung der Möglichkeit a priorischer Vernunfterkenntnis zu begegnen. Für BonJour, der sich selbst als einen moderaten Rationalisten betrachtet, kommt die Zurückweisung der Idee apriorischen Wissens oder apriorischer Rechtfertigung einer Zurückweisung rationalen Schlussfolgerns und Argumentierens im allgemeinen gleich – sie läuft ihm zufolge auf einen intellektuellen Selbstmord hinaus. 28 BonJour verdeutlicht das Problem folgendermaßen im Hinblick auf den epistemischen Status logischer Schlussregeln: Ein Argument, welches dazu dienen soll, eine bestimmte Überzeugung zu rechtfertigen, besteht selbst wiederum aus einer Menge von Überzeugungen, von der behauptet wird dass eine, nämlich die Konklusion, aus den anderen (den Prämissen) folgt. Der argumentative Übergang von den Prämissen zur Konklusion ist ein Schluss. Die Frage ist nun, ob es einen hinreichenden Grund dafür gibt, dass die Konklusion des Argumentes entweder wahr oder zumindest wahrscheinlich ist, falls die Prämissen wahr sind. Falls kein solcher Grund existiert, dann hätte das Argument keine rationale Überzeugungskraft und der Schluss 28

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Siehe hier und im folgenden BonJour 1998: 3 ff.

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wäre epistemisch ungerechtfertigt, unabhängig davon, ob die Prämissen de facto wahr sind oder nicht. BonJour argumentiert nun im Sinne des Rationalismus, dass kein Argument vollständig auf empirischer Basis gerechtfertigt sein könne. Denn jegliche empirische Grundlage eines Argumentes würde sich stets als zusätzliche empirische Prämisse formulieren lassen, und wenn alle empirischen Prämissen dieser Art explizit gemacht worden sind, ist die anvisierte Konklusion entweder ausdrücklich unter ihnen oder sie ist es nicht. Ist das erstere der Fall, dann wäre der Schluss bzw. das Argument gar nicht nötig, um die Konklusion zu rechtfertigen. Ist jedoch das letztere der Fall, dann geht der Schluss über das hinaus, was vollständig aus der Erfahrung hergeleitet warden kann – er würde ein zusätzliches Schlussprinzip benötigen, welches durch Erfahrung nicht vollständig gerechtfertigt werden kann, sondern a priori rechtfertigbar sein muss: 29 For even though in practice we often do employ empirical elements that function as principles of inference rather than s premises, e. g. the principle that a certain sort of frown indicates puzzlement on the part o the person exhibiting it, such inferences still rely on an a priori justification for the transition from observations to the principle in question, which is presumably inductive in character, and also on a priori principles of logic that justify the transition from the empirical principle together with specific observations to the conclusion.

BonJour zufolge ist demnach die einzige Alternative zur Annahme erfahrungsunabhängiger (apriorischer) Rechtfertigungsmöglichkeiten ein Skeptizismus radikalster Sorte – Skeptizismus im Hinblick auf die Mehrzahl unserer Wissensansprüche, mit Ausnahme derjenigen, die sich unmittelbar durch Erfahrung, oder sinnliche Wahrnehmung, vollständig rechtfertigen lassen. Wir könnten etwa keinerlei epistemisch gerechtfertigten Überzeugungen über die Vergangenheit, die Zukunft, die unbeobachteten Aspekte der Gegenwart, über Dinge, die nicht direkt beobachtbar sind, noch irgendwelche epistemisch gerechtfertigten allgemeinen Überzeugungen über irgendetwas erlangen, wenn wir nicht auch über Überzeugungen verfügten, oder zumindest verfügen könnten, die a priori gerechtfertigt sind. Denn sobald die Konklusion eines Schlusses den Inhalt direkter Er-

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fahrung überschreitet, wird es unmöglich, den Schluss vollständig auf der Basis direkter Erfahrung zu rechtfertigen. 30 Dieses Argument geht auf klassische antiskeptizistische Gedankengänge zurück, die wir in ähnlicher Form bei Lotze, Windelband, Liebmann und Frege finden. 31 Frege argumentiert in einer Fußnote in den Grundlagen gegen die Auffassung, dass die Induktion die einzige ursprüngliche Schlussweise sein und somit alle Erkenntnis auf Erfahrungstatsachen beruhen könne. Er argumentiert hier, dass wenn wir selbst einen induktiven Schluss als gerechtfertigt ansehen wollen, voraussetzen müssen, dass er »auf dem allgemeinen Satz« beruhe, »dass dieses Verfahren die Wahrheit oder doch eine Wahrscheinlichkeit für ein Gesetz begründen könne«. 32 Dieser Satz müsse dann wiederum freilich seine Begründung unabhängig von jeglichem induktiven Beweisverfahren haben, um eine hinreichende, nicht-zirkuläre Rechtfertigungsgrundlage für die Induktion überhaupt liefern zu können. Selbst die Induktion also müsse, um Rechtfertigungen im eigentlichen Sinne liefern zu können, letztlich auf Gesetzen beruhen, die nicht in Erfahrungstatsachen begründet sind. Frege nennt solche Gesetze »Urgesetze«, worunter er – wie wir in Teil I sahen – Gesetze versteht, die »eines Beweises weder fähig noch bedürftig sind«. Sein Argument ist also, dass wenn man überhaupt allgemeine Erkenntnisse für möglich halten will, man voraussetzen muss, dass es solche Urgesetze gibt, sofern die Anerkennung der allgemeinen Wahrheiten nicht lediglich bloßen Glauben, sondern rational gerechtfertigte Erkenntnis darstellen soll. Frege zieht dabei gar nicht erst die Möglichkeit in Betracht, dass Humes These, Induktion beruhe letztlich nur auf Gewohnheit, stichhaltig sein könnte, und dass es also vielleicht in der Tat gar keine rational gerechtfertigte Erkenntnis allgemeiner Wahrheiten im Sinne eines apriori erkennbaren Rechtfertigungsgrundes gibt. Die Konsequenz, dass wenn Induktion nicht selbst wiederum unabhängig von der Erfahrung gerechtfertigt ist, sie nichts weiter als eine psychologische Erscheinung sei, »eine Weise, wie Menschen zu dem Glauben an die Wahrheit eines Satzes kommen, ohne dass dieser Glauben irgendwie gerechtfertigt wäre« 33 ist BonJour 1998: 4. Zu Lotzes, Liebmanns und Windelbands Versionen dieses Argumentes siehe Gabriel 1986, 86 f., 92. Ansätze zu dieser Argumentationsweise finden sich auch bei Kant, KrV: B127 f., A91 f./B123 f. 32 Siehe hier und im folgenden GLA: § 3, Anm. 7. 33 GLA: § 3, Anm. 7. 30 31

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für ihn inakzeptabel in einem Maße, dass es ihm nicht einmal der Mühe wert ist zu fragen, ob sie nicht vielleicht auch einfach eine unangenehme Wahrheit sein könnte, oder auf unabhängige Weise zu versuchen, sie zu widerlegen. Seine Widerlegungsstrategie des Empirismus besteht im Grunde genommen ausschließlich darin zu argumentieren, dass eine rein empiristische Erkenntnistheorie automatisch auf einen Skeptizismus hinauslaufen würde, und dass wir daher Urgesetze in seinem Sinne annehmen müssen, um einen allgemeinen Skeptizismus überhaupt ausschalten zu können. Obwohl BonJours Argumentation weitaus ausführlicher und detaillierter ist als Freges in den Grundlagen der Arithmetik sehen wir deutliche Parallelen. Hier wie dort ergibt sich die rationale Inakzeptabilität einer rein empirischen – oder naturalistischen – Wissenskonzeption aus der Idee, dass Erkenntnis eine Rechtfertigungsgrundlage voraussetze, aus deren Wahrheit die Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit der zu begründenden Konklusion logisch folgen müsse, und dass selbst die Schlussregeln, auf denen die Folgerung beruht, epistemisch – d. h. nicht etwa nur pragmatisch – gerechtfertigt sein müssten. Unter einer epistemischen Rechtfertigung (»epistemic justification«) versteht BonJour eine Rechtfertigung, bei der die Rechtfertigungsgründe in einer internen, logischen Relation zu der zu rechtfertigenden Überzeugung stehen derart, dass sie die Chance ihres tatsächlichen Wahrseins aufgrund dieser Relation allein vergrößern. 34 Analog schreibt Frege, dass die Frage, wie ein Satz am festesten zu begründen sei, »mit dem innern Wesen des betrachteten Satzes« zusammenhänge, d. h. mit seinen logischen Beziehungen zu anderen Sätzen, die entweder aus ihm als Folgerungen abgeleitet und auf andere Weise Bestätigung finden können, oder aus denen er sich selbst als Folge ergibt. 35 BonJour unterscheidet epistemische von anderen Arten der Rechtfertigung, welche etwa auf der Basis moralischer, religiöser oder pragmatischer Gründe erfolgen und eine Person dazu veranlassen können, eine bestimmte Überzeugung anzunehmen, ohne ihr dabei jedoch aufgrund des Fehlens einer logischen Folgerungsbeziehung – oder zumindest einer die Wahrscheinlichkeit der Konklusion unterstützende semantische Beziehung zwischen Grund und zu Begründendem – wirkliche Erkenntnis bezüglich dieser Überzeugung 34 35

Vgl. BonJour 1998, 1 f. Vgl. BS, ix. A

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zu liefern. Analog ergibt sich die Inakzeptabilität von Gewohnheit, Tradition, oder anderer nicht-epistemischer Gründe als Basis für die Erkenntnis allgemeiner Wahrheiten unmittelbar aus dem engen Zusammenhang zwischen Erkenntnis und Rechtfertigung im logischen Sinne, auf den Frege bereits in seinem Vorwort zur Begriffsschrift hinweist, und von dem er den psychologischen Prozess des »Erringens« einer Erkenntnis – der von der logischen Struktur einer Wahrheit unabhängig und von Individuum zu Individuum verschieden sei – strikt unterscheidet: 36 Das Erkennen einer wissenschaftlichen Wahrheit durchläuft in der Regel mehrere Stufen der Sicherheit. Zuerst vielleicht aus einer ungenügenden Zahl von Einzelfällen erraten, wird der allgemeine Satz nach und nach sicherer befestigt, indem er durch Schlussketten mit anderen Wahrheiten Verbindung erhält, sei es dass aus ihm Folgerungen abgeleitet werden, die auf andere Weise Bestätigung finden, sei es dass er umgekehrt als Folge schon feststehender Sätze erkannt wird. Es kann daher einerseits nach dem Wege gefragt werden, auf dem ein Satz allmählich errungen wurde, andrerseits nach der Weise, wie er nun schliesslich am festesten zu begründen sei. […] Also nicht die psychologische Entstehungsweise, sondern die vollkommenste Art der Beweisführung liegt der Einteilung [nämlich der Wahrheiten in solche, deren Beweis rein logisch vorgehen kann, und solche, bei denen er sich auf Erfahrungstatsachen stützen muss; D. L.] zugrunde.

Diese Passage legt nahe, dass der Prozess der Erkenntnis einer wissenschaftlichen Wahrheit erst dann abgeschlossen ist, wenn man herausgefunden hat, wie sie »am festesten zu begründen sei«. Ein Erkenntnisprozess bleibt demnach unvollendet, solange er nicht durch die zusätzliche Erkenntnis der Art und Weise, wie er am besten und sichersten auf der Basis anderer Wahrheiten bewiesen werden kann, ergänzt wird. Es ist offenbar diese zusätzliche Meta-Erkenntnis, die Frege im Rahmen seines Logizismus-Projektes für die arithmetischen Wahrheiten gewinnen will, weil ohne sie der wissenschaftliche Charakter der Arithmetik überhaupt in Zweifel stünde. Es ist zugleich diese Dimension seines Projektes – das Bestreben, die Arithmetik auf eine sichere, erkenntnistheoretische Grundlage zu stellen – die Frege dazu zwingt, u. a. Humes allgemeinen erkenntnistheoretischen Skeptizismus zu attackieren; denn dieser setzt ja die Möglichkeit der Nicht-Existenz von Wahrheiten oder Schlussregeln, die unabhängig von Erfahrungstatsachen begründet sind, voraus – also 36

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BS, ixf.

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auch die Nichtexistenz apriori gerechtfertigter logischer Urwahrheiten, die als Prämissen in die Beweisketten der Arithmetik eingehen könnten. Aus genau demselben Grund betrachtet Frege in den Grundlagen weniger die zeitgenössischen Mathematiker als vielmehr die Vertreter einer empiristischen Erkenntnistheorie als seine eigentlichen Gegner: 37 Meine Ergebnisse werden, denke ich, wenigstens in der Hauptsache die Zustimmung der Mathematiker finden, welche sich die Mühe nehmen, meine Gründe in Betracht zu ziehen. […] Die Aufnahme bei den Philosophen wird je nach dem Standpunkte verschieden sein, am schlechtesten wohl bei jenen Empirikern, die als ursprüngliche Schlussweise nur die Induktion anerkennen wollen und auch diese nicht einmal als Schlussweise, sondern als Gewöhnung. Vielleicht unterzieht einer oder der andere bei Gelegenheit die Grundlagen seiner Erkenntnistheorie einer erneueten Prüfung.

2.1.4. Die vier Erkenntnisquellen In seiner Spätschrift Erkenntnisquellen in der Mathematik und den mathematischen Naturwissenschaften greift Frege das Problem der induktiven Erkenntnis a posteriori erneut auf, wobei er sich hier auf die Art und Weise konzentriert, wie Sinneswahrnehmungen zur induktiven Rechtfertigung von Naturgesetzen beitragen. Frege unterscheidet hier zwischen insgesamt vier verschiedenen Erkenntnisquellen, von denen drei offenbar unabhängig von der Sinneserfahrung sind: 38 Eine Erkenntnis kommt dadurch zustande, dass ein Gedanke als wahr anerkannt wird. […] Als Erkenntnisquelle sehe ich das an, wodurch die Anerkennung der Wahrheit, das Urteil, gerechtfertigt ist. Ich unterscheide folgende Erkenntnisquellen: 1. Die Sinneswahrnehmung, 2. die logische Erkenntnisquelle, 3. die geometrische und die zeitliche Erkenntnisquelle. Jeder dieser Erkenntnisquellen entsprechen Trübungen, die ihren Wert verringern.

Diese Unterscheidung ist wohl ursprünglich als Komplement zu derjenigen zu verstehen, die Frege bereits in den Grundlagen zwischen analytischen, synthetischen, apriorischen und aposteriorischen 37 38

GLA: 24. EMN: 286. A

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Wahrheiten vollzogen hatte. Denn die Idee der Erkenntnisquellen findet sich bereits in einem Brief Freges an Marty (oder Stumpf) aus dem Jahre 1882 – zwei Jahre vor Erscheinen der Grundlagen. Frege weist hier darauf hin, dass »eine Erkenntnisquelle von beschränkterem Umfange, etwa räumliche Anschauung, sinnliche Wahrnehmung, nicht genügen [würde], die allgemeine Geltung der arithmetischen Sätze zu verbürgen«. 39 Die Theorie der Erkenntnisquellen kann also nicht erst ein spätes Produkt von Freges philosophischem Denken sein. Um nun herauszufinden, welche Erkenntnisquelle für die Rechtfertigung einer bestimmten Wahrheit zuständig ist, empfiehlt Frege offenbar, einen Beweis durchzuführen. Denn ein Beweis diene nicht nur dazu, die Wahrheit eines Satzes »über alle Zweifel« zu erheben, sondern auch dazu, eine Einsicht in die logischen Beziehungen und Abhängigkeiten zwischen Wahrheiten innerhalb einer Disziplin zu gewinnen. 40 Auf diese Weise nur könnten wir »jedes Axiom, jede Voraussetzung, Hypothese […], auf denen ein Beweis beruht, ans Licht« ziehen, und somit – wie Frege es später in seinen Grundgesetzen der Arithmetik formuliert, »eine Grundlage für die Beurteilung der erkenntnistheoretischen Natur« eines bewiesenen Gesetzes gewinnen. 41 Die Art des möglichen idealen Beweises eines Wahrheit soll also Frege zufolge Auskunft darüber geben, durch welche Erkenntnisquellen eine Wahrheit gerechtfertigt ist, und hierin genau scheint ihre erkenntnistheoretische Natur zu bestehen. Frege macht nun auch in seinem Spätfragment über die Erkenntnisquellen deutlich, dass empirische Erkenntnis nicht allein aufgrund von Sinneseindrücken gerechtfertigt sein könne, sondern dass selbst Erkenntnis a posteriori zusätzlich des Beitrags anderer, nicht-empirischer Erkenntnisquellen bedarf. 42 Er begründet diese anti-empiristische Haltung hier aufgrund des Phänomens der Sinnestäuschungen, die – wenn sie nicht aufgrund anderer Indizien korrigiert werden – zu Fehlurteilen über die Außenwelt führen würden. Zu den Gesetzen des physikalischen Geschehens, die zur Korrektur und »Reinigung« unserer Wahrnehmungen herangezogen werden müssten, gehören nun nach Frege die empirischen, induktiv auf39 40 41 42

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BW: 164. GLA: § 2. Vgl. GGA I: VII, 1. Vgl. dazu EMN: 286 ff.

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grund von Sinneswahrnehmungen gewonnenen Naturgesetze selbst. Zwischen ihnen und den Sinneswahrnehmungen besteht demnach so etwas wie ein dialektisches Rechtfertigungsverhältnis; keines von beiden ist epistemisch vollkommen unabhängig vom anderen. Beide bedürfen zudem zu ihrer Rechtfertigung bzw. Korrektur zusätzlich noch der logischen, sowie der geometrischen – und wohl auch der zeitlichen – Erkenntnisquelle: 43 Die schon erkannten Naturgesetze ermöglichen uns, Sinnestäuschungen zu vermeiden. So lehrt uns die Kenntnis von der Beugung des Lichts, dass manche Bilder, die uns das Mikroskop liefert, durchaus unzuverlässig sind. Um die Naturgesetze zu erkennen, brauchen wir von Täuschungen freie Sinneswahrnehmungen. Die Sinneswahmehmungen allein können uns also wenig nützen; denn zur Erkenntnis der Naturgesetze brauchen wir auch die anderen Erkenntnisquellen: die logische und die geometrische. So können wir nur Zug um Zug vorwärtskommen, indem uns immer ein Fortschritt in der Erkennung der Naturgesetze vor Sinnestäuschungen bewahrt, und die mehr gereinigten Wahrnehmungen uns zu besserer Erkenntnis der Naturgesetze verhelfen. Wir müssen uns hüten, den Wert der Sinneswahrnehmungen zu hoch einzuschätzen; denn ohne die anderen Erkenntnisquellen wäre wenig mit ihnen anzufangen. Wir brauchen die Wahrnehmungen; aber um sie auszunützen, brauchen wir auch die anderen Erkenntnisquellen. Nur alle vereint machen uns das immer tiefere Eindringen in die mathematische Physik möglich.

Frege zufolge schreitet die empirische Wissenschaft demnach dialektisch voran, wobei die Basisdaten – die Wahrnehmungsurteile – im Zuge dieses Voranschreitens durch andere, allgemeine Gesetze allmählich von Täuschungen und Fehlern gereinigt werden. Es gibt dieser Auffassung zufolge im Prinzip keine endgültigen, unrevidierbaren »Urwahrnehmungen« in den empirischen Wissenschaften; und aus diesem Grunde wohl bezeichnete Frege die besonderen Urwahrheiten, auf die ein Beweis aposteriori zurückführen muss, in seinen Grundlagen nur als unbeweisbar, nicht jedoch als eines Beweises nicht bedürftig, während die Basisprämissen eines reinen deduktiven Beweises – wie wir sahen – für Frege sowohl unbeweisbar als auch eines Beweises nicht bedürftig sind. 44 EMN: 287. Vgl. GLA: § 3. Ob nun auf diesem Wege des dialektischen Fortschreitens der empirischen Wissenschaft jemals natürliches Endziel des wissenschaftlichen Fortschritts prinzipiell denkbar und erreichbar ist, darüber hat Frege direkt nichts gesagt; es findet sich allerdings eine kurze Bemerkung in »Über Sinn und Bedeutung«, aus der hervorgeht,

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2.1.4. Nichtbeweisbedürftigkeit und Unbezweifelbarkeit Was heißt es nun für Frege, dass ein Gesetz eines Beweises nicht bedürftig ist? Wenden wir uns in diesem Zusammenhang noch einmal Freges Charakterisierung der Axiome in seinem Fragment von 1914, »Logik in der Mathematik«, zu. Frege wiederholt hier, dass »die Axiome […] Wahrheiten [sind] wie die Theoreme, aber solche, welche in unserem Systeme nicht bewiesen werden, eines Beweises auch nicht bedürftig sind« 45 . Er fährt nun fort: 46 Daraus folgt, dass es falsche Axiome nicht gibt, dass wir auch keinen Gedanken als Axiom anerkennen können, dessen Wahrheit uns zweifelhaft ist: denn dann ist er entweder falsch und deswegen kein Axiom, oder er ist zwar wahr, aber eines Beweises bedürftig und deswegen kein Axiom. Nicht jede Wahrheit, welche keines Beweises bedarf, ist ein Axiom, denn sie könnte immerhin in unserem System bewiesen werden.

Wir sehen hier wiederum, dass Nichtbeweisbarkeit und Nichtbeweisbedürftigkeit für Frege offenbar nicht dasselbe sind, da ja gilt, dass »nicht jede Wahrheit, welche keines Beweises bedarf, […] ein Axiom [ist], denn sie könnte immerhin in unserem System bewiesen werden.« Für Frege mag es demnach nichtbeweisbedürftige Wahrheiten geben, die dennoch innerhalb des einen oder anderen Systems beweisbar sind. Wir haben ferner in Teil I gesehen, dass Frege Beweisbarkeit und Nichtbeweisbarkeit für zumindest eingeschränkt systemrelative Eigenschaften hielt, insofern nämlich eine Wahrheit, die in einem System nichtbeweisbar ist, in einem anderen zu den beweisbaren Wahrheiten gehören kann. Die wesentliche Einschränkung ergab sich hierbei aus seinem Begriff des Einleuchtens – vom erkenntnistheoretischen Standpunkt aus darf eine Wahrheit, die nicht unmittelbar einleuchtet, nach Frege auch nicht als unbeweisbar angesehen werden. Das Fehlen unmittelbaren Einleuchtens erweist sich somit als hinreichende Bedingung für die Beweisbarkeit einer Wahrheit. Wie hängt nun das Einleuchten mit der Nichtbeweisbedürftigdass wir nie zu einer vollständigen, »allseitigen« Erkenntnis eines Gegenstandes gelangen können; vgl. dazu SB: 144. Dies deutet darauf hin, dass das Voranschreiten der empirischen Wissenschaft sich höchstens an einem theoretischen Ideal der Vollständigkeit und Endgültigkeit orientieren kann, welches sie jedoch praktisch nie erreicht. 45 LM: 221. 46 Ebd.

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keit zusammen? Frege weist in »Logik in der Mathematik« darauf hin, dass sich oft auch solche Wahrheiten beweisen lassen, die eines Beweises nicht bedürftig erscheinen, weil sie ohne dies einleuchten. 47 Der Gebrauch des Wortes »erscheinen« könnte in diesem Zusammenhang darauf hindeuten, dass nach Frege etwas einleuchten kann ohne tatsächlich nichtbeweisbedürftig zu sein. Hierfür spricht auch Freges Forderung, dass man sich in der Mathematik nicht damit beruhigen dürfe, »dass etwas einleuchte, dass man sich von etwas überzeuge, sondern man muss eine klare Einsicht in das Gewebe der Schlüsse anstreben, die dieser Überzeugung als Stütze dienen.« 48 Nur auf diese Weise, so Frege, könnten die Urwahrheiten gefunden und ein System aufgebaut werden. Auch diese Passage deutet darauf hin, dass die Eigenschaft einer Wahrheit, einzuleuchten, noch keineswegs ausschließt, dass sie etwa keines Beweises bedürfe, der erst diejenigen grundlegenderen Wahrheiten aufdecken würde, die sie stützen und die daher jenes Einleuchten überhaupt erst verursachen. Das Einleuchten wäre demnach allenfalls eine notwendige, nicht hingegen eine hinreichende Bedingung der Nichtbeweisbedürftigkeit, ebenso wie sein Fehlen eine hinreichende, wenn auch nicht notwendige Bedingung für die Beweisbarkeit einer Wahrheit ist. Worin besteht aber dann Nichtbeweisbedürftigkeit im Unterschied zu bloßem Einleuchten? Was wäre über das Einleuchten hinaus erforderlich? Gemäß der vorhin zitierten Passage aus »Logik in der Mathematik« nun folgt aus der Forderung der Nichtbeweisbedürftigkeit, »dass wir keinen Gedanken als Axiom anerkennen können, dessen Wahrheit uns zweifelhaft ist«. Kurz darauf heißt es, dass wenn eine Wahrheit zweifelhaft ist, sie eines Beweises bedürfe und deshalb kein Axiom sein könne. Dies scheint nun eindeutig: Eine Wahrheit ist für Frege offenbar nichtbeweisbedürftig genau dann, wenn sie unbezweifelbar ist. Frege setzt ferner offenbar voraus, dass Unbezweifelbarkeit Wahrheit impliziert. Hieraus folgt dann, dass auch Nichtbeweisbedürftigkeit Wahrheit impliziert. Unbezweifelbarkeit wiederum ist eine Eigenschaft, die sich nur dann als sinnvolles Explikans der Nichtbeweisbedürftigkeit eignet, wenn man sie als kategoriale Eigenschaft betrachtet, die auf bestimmte Wahrheiten ganz unabhängig von deren Beziehungen zu anderen Wahrheiten zutrifft. In einem relativen Sinne sind ja auch solche Wahrheiten unbezwei47 48

LM: 220. LM: 221. A

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felbar, deren Unbezweifelbarkeit auf derjenigen anderer Wahrheiten beruht. Solche Wahrheiten jedoch wäre noch immer beweisbedürftig, weil sonst ihre Wahrheit bezweifelt werden könnte. Der Begriff der Unbezweifelbarkeit, mit dessen Hilfe Frege den der Nichtbeweisbedürftigkeit zu explizieren versucht, muss sich demnach auf seinen Gegenstand unabhängig von dessen Beweisrelationen zu anderen Wahrheiten anwenden lassen. Frege erlaubt und ermutigt demnach die Aufstellung verschiedener alternative Axiomensysteme, in denen verschiedene Mengen von Gesetzen als unbeweisbare Axiome auftreten können – dies aber nur unter der erkenntnistheoretischen Bedingung, dass in jedem von ihnen die Axiome unmittelbar einleuchtend und unbezweifelbar sind. Es ist demnach durchaus nicht so, dass Frege das, was die Herausgeber der Nachgelassenen Schriften die »klassische Auffassung vom Wesen eines Axioms« bezeichnet haben, der zufolge ein solches »vor anderen Sätzen dadurch ausgezeichnet [ist], dass es einen maximalen Grad unmittelbarer Einsicht in die Natur der Sache, um die es geht, […] vermittelt« hinter sich ließ. 49 Die erkenntnistheoretische Berechtigung eines Axioms beruht demnach bei Frege offenbar darauf, dass es – neben seiner Allgemeinheit, Konsistenz und Nichtbeweisbarkeit – auch an und für sich selbst unbezweifelbar sind. Nur in diesem Falle kann offenbar, wie Frege es an anderer Stelle definiert, die Wahrheit eines Axioms »feststehen« ohne bewiesen werden zu können. 50 Nur dann auch kann ein Beweis, in dem dieses Axiom als erste Prämisse eingeht, seine Aufgabe erfüllen, die Wahrheit des zu beweisenden Satzes »über alle Zweifel« zu erheben. Dies gilt nicht nur für apriorische Wahrheiten, sondern auch für solche Wahrheiten, deren Beweis induktiv geführt werden muss. Mit der Voraussetzung, dass es Schlussweisen gebe, die unabhängig von jeglichen Erfahrungstatsachen allein durch das geleitet werden, was Frege die »Gesetze des Denkens« nennt, ebenso wie mit der Idee, dass die logischen Gesetze Gesetze seien, »auf denen

Vgl. LM: 222. Anm. Ganz richtig deuten die Herausgeber auch an, dass eine vollständige System-Relativität der Axiome – nach der es etwa gänzlich willkürlich wäre, welche allgemeinen Wahrheiten man als Axiome zum Aufbau eines Systems nimmt – in einem Widerspruch zu Freges Theorie der Erkemitnisquellen stehen würde. Sie wäre aber, wie wir hier sehen, bereits mit Freges Begriff der Nichtbeweisbedürftigkeit unvereinbar. 50 Vgl. GLG I: 262. 49

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alle Erkenntnis beruht«, stellte sich Frege gegen den Empirismus Hume-Millscher Prägung, der im ausgehenden 19ten Jahrhundert auch im deutschsprachigen Raum viele Anhänger gefunden hatte. Einer psychologistischen Auffassung zufolge, wie sie Mill vertrat, muss die Gültigkeit logischer Gesetze letztendlich wiederum auf psychologischen Gesetzen, also auf außerlogischen Erkenntnissen beruhen, die nur auf empirischem Wege zu entdecken sind. 51 Logik selbst würde so zu einer Disziplin, die durch empirische Tatsachen – nämlich Tatsachen über die psychologischen Regelmäßigkeiten des Denkens und Schlussfolgerns – begründet werden müsste. Frege sah offenbar keinen anderen Weg, gegen diese Auffassung zu argumentieren als die Annahme unbezweifelbarer Basiswahrheiten, die ganz unabhängig von der Biologie oder psychologischen Beschaffenheit einzelner denkender Wesen gewissermaßen in der Natur des Denkens und der Erkenntnis selbst begründet sind. Der Begriff des Urgesetzes allein verleiht – im Hinblick auf dessen Aspekt der Unbezweifelbarkeit – Freges Projekt des Logizismus einen dezidiert erkenntnistheoretischen Charakter. 2.1.5. Der Skandal der Philosophie Der Skeptizismus spielt schließlich auch eine Rolle in den Überlegungen, die zu Freges drittem Argument gegen den erkenntnistheoretischen Idealismus in »Der Gedanke« führen, in dem es vorwiegend um die Reichweite möglicher Erkenntnis unter der Voraussetzung geht, dass alle möglichen Gegenstände des Denkens nur unsere eigenen subjektive Vorstellungen sind. Hier wiederum nämlich zieht Frege die Konsequenz, dass jene Voraussetzung notwendigerweise in einen radikalen Skeptizismus bezüglich unseres Wissens über die Außenwelt und über das Fremdseelische führen müsse: 52 Für Mill war die Logik bekanntlich einfach ein Teil der empirischen Psychologie; daher glaubte er, dass die Allgemeingültigkeit der logischen Gesetze nur auf empirischem, induktivem Wege begründet werden könnten, vgl. sein 1843: 145 f.: »[Logic] is not a science distinct from, and coordinate with Psychology. So far as it is a science at all, it is a part, or branch of Psychology; differing from it, on the one hand, as a part differs from the whole, and on the other, as an Art differs from science. Its theoretical grounds are wholly borrowed from psychology, and include as much of that science as is required to justify the rules of that art.« 52 Ged: 354, 355. 51

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Vielleicht ist das Reich der Dinge leer, und ich sehe keine Dinge, auch keine Menschen, sondern ich habe vielleicht nur Vorstellungen, deren Träger ich selbst bin. Etwas, was ebensowenig wie mein Ermüdungsgefühl unabhängig von mir bestehen kann, eine Vorstellung kann kein Mensch sein, kann nicht mit mir zusammen dieselbe Wiese betrachten, kann nicht die Erdbeere sehen, die ich halte. Dass ich statt der ganzen Umwelt, in der ich mich zu bewegen, zu schaffen gemeint, eigentlich nur meine Innenwelt habe, ist doch ganz unglaublich. Und doch ist es unausweichliche Folge des Satzes, dass nur das Gegenstand meiner Betrachtung sein kann, was meine Vorstellung ist. Was würde aus diesem Satz folgen, wenn er wahr wäre? Gäbe es dann andere Menschen? Das wäre schon möglich; aber ich wüsste nichts von ihnen; denn ein Mensch kann nicht meine Vorstellung, folglich, wenn unser Satz wahr wäre, auch nicht Gegenstand meiner Betrachtung sein. […] So ergibt sich: Entweder ist der Satz falsch, dass nur das Gegenstand meiner Betrachtung sein kann, was meine Vorstellung ist; oder all mein Wissen und Erkennen beschränkt sich auf den Bereich der Vorstellungen, auf die Bühne meines Bewusstseins. In diesem Falle hätte ich nur eine Innenwelt, und ich wüsste nichts von anderen Menschen.

Frege greift hier ganz offenkundig auf ein Thema zurück, das im Mittelpunkt von Kants theoretischer Philosophie gestanden hatte: der sogenannte Skandal der Philosophie, den auch Kant bereits als Herausforderung zur Widerlegung des »psychologischen« – oder auch »materialen« bzw. »empirischen« – Idealismus empfunden hatte. Dieser Idealismus ist in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft geradezu definiert als die »Theorie, welche das Dasein der Gegenstände im Raum außer uns entweder bloß für zweifelhaft und unerweislich, oder für falsch und unmöglich erklärt«. 53 Kant schreibt hierzu: 54 Der Idealismus mag in Ansehung der wesentlichen Zwecke der Metaphysik für noch so unschuldig gehalten werden, (das er in der Tat nicht ist) so bleibt es immer ein Skandal der Philosophie und allgemeinen Menschenvernunft, das Dasein der Dinge außer uns […] bloß auf Glauben annehmen zu müssen, und, wenn es jemand einfällt es zu bezweifeln, ihm keinen genugtuenden Beweis entgegenstellen zu können.

Als Hauptvertreter der ersteren Variante, des »problematischen Idealismus« führte Kant dabei – wie wir sahen – Descartes an; die zweite Variante wiederum, den »dogmatischen Idealismus« schrieb er Ber53 54

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KrV: B 274. KrV: B xxxix, Fußnote.

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keley zu. 55 Kants Unterfangen in der zweiten Auflage der Kritik war also, den psychologischen Idealismus in beiden Varianten – der Cartesischen und der Berkeleyschen – zu widerlegen, um dem Skandal der Philosophie ein Ende zu bereiten. Freges drittes Argument, welches sich in seinem Aufsatz »Der Gedanke« aus dem Jahre 1918 findet, stellt einen ähnlichen Widerlegungsversuch dar, auf den im folgenden noch näher einzugehen ist. 56 Vorwegnehmend richtet sich der Standpunkt, den Frege hier einnimmt, offenbar wiederum vor allem gegen die Haltung eines Vertreters des wissenschaftlichen Positivismus, der nach Freges Diagnose glaubt, »in den Sinneseindrücken die sichersten Zeugnisse von Dingen zu haben, die ganz unabhängig von seinem Fühlen, Vorstellen, Denken bestehen, die sein Bewusstsein nicht nötig haben«. 57 Auch in seinem späten Fragment über die Erkenntnisquellen heißt es analog, dass die Sinneswahrnehmung – die für die Erkenntnis räumlicher, physikalischer Gegenstände notwendig ist – die unzuverlässigste von allen Erkenntnisquellen sei, obgleich gerade sie »von vielen für die zuverlässigste, wenn nicht für die einzige Erkenntnisquelle gehalten wird«. 58 Die Sinnesphysiologie oder irgendeine andere empirische Wissenschaft, die auf der Basis der Zuverlässigkeit von Sinneseindrücken von der Existenz einer Außenwelt ausgeht, um die Vorgänge in unserem Bewusstsein zu erklären stellt demnach für Frege einen erkenntnistheoretisch vollkommen verkehrten Ausgangspunkt für eine Widerlegung des Skeptizismus dar. Denn obwohl sie eine ausgefeilte Theorie darüber anzubieten habe, wie »Lichtstrahlen, im Auge gebrochen, die Endigungen der Sehnerven treffen und da eine Veränderung, einen Reiz bewirken« und wie »etwas davon weitergeleitet [wird] zu Nervenfasern und Ganglienzellen«, 59 seien doch die In der ersten Auflage noch hatte Kant sich lediglich auf die erste, skeptische Variante konzentriert, die er hier »empirischer Idealismus« nennt und folgendermaßen beschreibt: »Unter einem Idealisten muss man […] nicht denjenigen verstehen, der das Dasein äußerer Gegenstände der Sinne leugnet, sondern der nur nicht einräumt: dass es durch unmittelbare Wahrnehmung erkannt werde, daraus aber schließt, dass wir ihrer Wirklichkeit durch alle mögliche Erfahrung niemals völlig gewiss werden können.« (A 368). 56 Siehe im folgenden 2.1.5. 57 Ged.: 355. 58 EMN: 287. 59 Ged: 355. 55

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Reizungen der Sehnerven selbst epistemisch nicht unmittelbar gegeben, sondern vielmehr nur eine theoretische Annahme: 60 Wir glauben, dass ein von uns unabhängiges Ding einen Nerv reize und dadurch einen Sinneseindruck bewirke; aber genaugenommen erleben wir nur das Ende dieses Vorganges, das in unser Bewusstsein hineinragt. Könnte nicht dieser Sinneseindruck, diese Empfindung, die wir auf einen Nervenreiz zurückführen, auch andere Ursachen haben, wie ja auch derselbe Nervenreiz auf verschiedene Weise entstehen kann? Nennen wir das in unser Bewusstsein fallende Vorstellung, so erleben wir eigentlich nur Vorstellungen, nicht aber deren Ursachen.

Es scheint klar, dass Frege hier – in Abgrenzung zum Ansatz des wissenschaftlichen Sensualismus – zumindest seine Affinität zu derjenigen Tradition demonstriert, die sich Descartes’ cogito gewissermaßen zum Ausgangspunkt der Erkenntnistheorie nimmt. Denn was Frege ja hier als metaphysische Möglichkeit voraussetzt, ist ja ein Cartesisches Ich, das ganz unkörperlich ist – eine Möglichkeit, die nach Burnyeats Diagnose allererst den Außenwelt-Skeptizismus, ebenso wie den Idealismus bezüglich der sogenannten Außenwelt, zur philosophischen Option werden lässt. Insofern verschreibt sich Frege hier demjenigen Prinzip, auf welchem nach Liebmann »der ganze moderne Idealismus ruht« 61 . Es hätte demnach den Anschein, als wäre Frege in seiner Kritik des erkenntnistheoretischen Idealismus letztendlich darum bemüht, das Kantische oder gar Cartesische Programm der Widerlegung des Idealismus bzw. Skeptizismus zu unterstützen. Allerdings müssen wir bedenken, dass zumindest Kant diesem Idealismus lediglich eine andere Art von Idealismus, nämlich den sogenannten transzendentalen Idealismus entgegensetzte, auf dessen Basis er allein den Skandal der Philosophie für eliminierbar hielt. Unter transzendentalem Idealismus »aller Erscheinungen« verstand Kant dabei »den Lehrbegriff, nach welchem wir sie insgesamt als bloße Vorstellungen, und nicht als Dinge an sich selbst, ansehen, und demgemäß Zeit und Raum nur sinnliche Formen unserer Anschauung, nicht aber für sich gegebene Bestimmungen, oder Bedingungen der Objekte, als Dinge an sich selbst sind.« 62 Raum und Zeit waren für Kant nicht etwas, das den Dingen an sich selbst unabhän60 61 62

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Ged: 356. Liebmann 1865: 218. KrV: A 369 f.

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gig von der Art und Weise, wie wir sie wahrnehmen, zukommt, sondern vielmehr »zwei Erkenntnisquellen, aus denen apriori verschiedene synthetische Erkenntnisse geschöpft werden können, wie vornehmlich die reine Mathematik in Ansehung der Erkenntnisse vom Raume und dessen Verhältnissen ein glänzendes Beispiel gibt«. 63 Wir hatten in Teil I gesehen, dass hingegen für Leibniz der »ursprüngliche Beweis der notwendigen Wahrheiten«, zu denen er die logischen und mathematischen Wahrheiten zählte, »allein aus dem Verstand« kommt, während die anderen Wahrheiten aus der Erfahrung oder den Beobachtungen der Sinne stammen. Für Leibniz spielte dabei der Geist eine Doppelrolle im Hinblick auf die Erkenntnis logischer und mathematischer Wahrheiten: Er ist nicht nur fähig, sie zu erkennen – etwa, wie man eine empirische Wahrheit aufgrund von Fakten erkennt – sondern ist zugleich ihre »Quelle«; d. h. dasjenige, auf dem ihre Wahrheit beruht. 64 Insofern war für Leibniz die Erkenntnis logischer und mathematischer Wahrheiten nicht lediglich eine passive, rezeptive, sondern vielmehr auch eine aktive Angelegenheit: Jene Wahrheiten werden gewissermaßen dadurch als notwendig erkannt, dass sie konstitutive Wesensmerkmale des Verstandes selbst betreffen; Denken und Begreifen wären für uns unmöglich, wenn wir nicht jene konstitutiven Verstandeswahrheiten stets anwenden würden – selbst wenn uns diese Anerkennung nicht immer bewusst sein muss. Genau in diesem Sinne ist der Verstand selbst bei Leibniz als die »Quelle« dieser Wahrheiten zu betrachten. Analog betrachtete Kant sowohl Vernunft als auch Sinnlichkeit nicht nur als Erkenntnisvermögen, sondern auch gewissermaßen als ultimative Wahrmacher apriorischer Urteile. Im Unterschied zu Leibniz jedoch betrachtete er Raum und Zeit im ursprünglichen Sinne nicht als Begriffe, sondern als reine Anschauungsformen. Dem transzendentalen Idealismus zufolge kommen daher den Gegenständen nur insoweit raumzeitliche Bestimmungen zu, als sie mögliche Gegenstände der Erfahrung sind – und dies bedeutet: Nur insoweit als sie sich nach unserem Erkenntnisvermögen richten. Durch diese von Kant als »veränderte Methode der Denkungsart« bezeichnete Voraussezung, »dass wir nämlich von den Dingen nur das apriori erkennen, was wir in sie hineingelegt haben«, versuchte Kant, die Möglichkeit erkenntniserweiternder, d. h. in seinem Sinne syntheti63 64

KrV: A 38, B 56. NA: I, 1, § 10, 31. Vgl. dazu auch NA: I, 1, § 11, 33. A

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scher Urteile a priori zu erklären. 65 In Einklang mit seiner Kopernikanischen Wende, durch die er erklären wollte, wie synthetische Erkenntnis apriori von Gegenständen der Außenwelt überhaupt möglich ist, wird raumzeitliche Anschauung notwendig, nicht nur um einen Gegenstand als solchen zu erkennen, sondern auch damit ein Erkenntnisgegenstand überhaupt für uns existieren kann: »Wenn die Anschauung sich nach der Beschaffenheit der Gegenstände richten müsste, so sehe ich nicht ein, wie man a priori von ihr etwas wissen könne; richtet sich aber der Gegenstand (als Objekt der Sinne) nach der Beschaffenheit unseres Anschauungsvermögens, so kann ich mir diese Möglichkeit schon vorstellen.« 66 Ist nun die reine Anschauung Bedingung der Möglichkeit des Gegebenseins, so sind die sogenannten Verstandeskategorien oder reinen Begriffe für Kant Bedingungen der Möglichkeit des Denkens von Gegenständen. Beide sind notwendig, um Gegenstände als solche zu erkennen; eine Erkenntnis, deren Gegenstand nicht prinzipiell raumzeitlich erfahrbar ist, kann es für Kant ebensowenig geben wie eine Erkenntnis, die nicht logischintentional auf ein Objekt bezogen ist – was nach Kant nur durch Begriffe möglich ist: 67 Weil ich aber bei diesen Anschauungen, wenn sie Erkenntnisse werden sollen, nicht stehen bleiben kann, sondern sie als Vorstellungen auf irgendetwas als Gegenstand beziehen und diesen durch jene bestimmen muss, so kann ich entweder annehmen, die Begriffe, wodurch ich diese Bestimmung zustande bringe, richten sich auch nach dem Gegenstande, und dann bin ich wiederum in derselben Verlegenheit, wie ich a priori hiervon etwas wissen könnte; oder ich nehme an, die Gegenstände oder, welches einerlei ist, die Erfahrung, in welcher sie allein (als gegebene Gegenstände) erkannt werden, richte sich nach diesen Begriffen …

Beides also, nicht nur Verstandeskategorien, sondern auch reine Anschauung, gelten bei Kant als Bedingungen der Möglichkeit nicht nur der Erfahrung, sondern der Gegenstände von Erfahrung selbst, wenn wir die Annahme aufrecht erhalten wollen, dass wir a priori etwas über die Außenwelt wissen können: »Die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung, und haben darum objektive

65 66 67

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KrV: B xviii. Vgl. KrV: B xvii. KrV: B xvii.

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Gültigkeit in einem synthetischen Urteil a priori.« 68 Dass die Grundsätze des reinen Verstandes a priori wahr sind, bedeutet zugleich, dass sie der »Quell aller Wahrheit, d. i. Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihren Objekten« sind, insofern sie den »Grund der Möglichkeit der Erfahrung, als des Inbegriffes aller Erkenntnis, darin uns Objekte gegeben werden mögen, in sich enthalten«. 69 Nichtsdestotrotz hielt bereits Kant bei diesen Grundsätzen, die »selbst nicht in höheren und allgemeineren Erkenntnissen gegründet sind – einen Beweis für »möglich, ja auch nötig«, der nun nicht mehr »objektiv«, d. h. auf der Basis anderer Erkenntnisse, sondern »aus den subjektiven Quellen der Möglichkeit einer Erkenntnis des Gegenstandes überhaupt« geführt werden müsse, »weil der Satz sonst gleichwohl den größten Verdacht einer bloß erschlichenen Behauptung auf sich haben wurde.« 70 Die Grundsätze der transzendentalen Analytik sind demnach für Kant keine mathematischen Axiome, die unmittelbar einleuchten müssten, sondern vielmehr grundlegende philosophische Prinzipien über die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis, die durch eine zusätzliche Begründung als solche ausgewiesen werden müssen. Bei Frege hingegen finden wir zwar vier verschiedene Erkenntnisquellen als dasjenige erwähnt, durch dass ein Urteil, wenn es eine Erkenntnis darstellen soll, letztlich gerechtfertigt ist. Was jedoch nicht ohne Weiteres klar wird aus Freges Charakterisierung der Erkenntnisquellen, ist, ob der Geist hier lediglich als Erkenntnisvermögen oder auch als Wahrmacher der Urgesetze anzusehen ist – und dies betrifft insbesondere die Frage nach der raumzeitlichen Natur empirischer Gegenstände, wie ich im folgenden zeigen möchte.

2.2. Frege und der transzendentale Idealismus Was nun Frege, wie aus dem Bisherigen hervorging, mit den neuzeitlichen Rationalisten, einschließlich Kant, in philosophischer Hinsicht generell noch immer zu verbinden scheint, ist, dass er gewisse, a priori gültige Prinzipien des Denkens überhaupt als Bedingungen der Möglichkeit von Objektivität überhaupt anzusehen schien. Sich 68 69 70

KrV: A 158, B 197. KrV: A 237/B 296. KrV: A 148 f. B 188. A

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Logik und Erkenntnistheorie

an die Terminologie der rationalistischen Tradition der Neuzeit anschließend bezeichnet er diese Vermögen oder Prinzipien als »Vernunft«, oder einfach »Geist«. Indem die Logik, oder auch – nach Freges Auffassung – die Mathematik sich die Untersuchung solcher grundlegenden Strukturen des Denkens und Erkennens von Gegenständen zur Aufgabe macht, werden sie automatisch zu Teildisziplinen einer Philosophie des Geistes. Im Hinblick auf Freges offizielles Verständnis von »Idealismus« scheint gleichzeitig klar, dass er selbst Kant offenbar nicht als einen Idealisten in seinem Sinne einstufte. Dies geht aus einer Passage in den Grundlagen hervor, wo Frege in einer Fußnote erstmals zwischen objektiven und subjektiven Vorstellungen unterscheidet: 71 Die Vorstellung im subjektiven Sinne ist das, worauf sich die psychologischen Assoziationsgesetze beziehen; sie ist von sinnlicher, bildhafter Beschaffenheit. Die Vorstellung im objektiven Sinne gehört der Logik an und ist wesentlich unsinnlich, obwohl das Wort, welches eine objektive Vorstellung bedeutet, oft auch eine subjektive mit sich führt, die jedoch nicht seine Bedeutung ist. Die subjektive Vorstellung ist oft nachweisbar verschieden in verschiedenen Menschen, die objektive für alle dieselbe. Die objektiven Vorstellungen kann man einteilen in Gegenstände und Begriffe. Ich werde, um Verwirrung zu vermeiden, »Vorstellung« nur im subjektiven Sinne gebrauchen. Dadurch, dass Kant mit diesem Wort beide Bedeutungen verband, hat er seiner Lehre eine sehr subjektive, idealistische Färbung gegeben und das Treffen seiner wahren Meinung erschwert. Die hier gemachte Unterscheidung ist so berechtigt wie die zwischen Psychologie und Logik. Möchte man diese immer recht streng auseinanderhalten!

Frege erhebt hier den Anspruch, durch seine strikte Unterscheidung zwischen subjektiven und objektiven Vorstellungen »die wahre Meinung« Kants besser getroffen zu haben als dieser selbst. Freilich muss sich seine Kritik hier auch gegen die eigene frühere Wortwahl richten, denn bis zu diesem Zeitpunkt hatte Frege selbst noch keinen Unterschied zwischen zwei verschiedenen Arten von Vorstellung gemacht. Die Unterscheidung zwischen subjektiven und objektiven Vorstellungen im Hinblick auf den Inhalt und die Gegenstände objektiver Erkenntnis ergibt sich für Frege ferner aus seiner ersten Maxime in den Grundlagen, nämlich dass das Subjektive vom Objektiven, das Logische vom Psychogischen streng zu trennen sei. 72 71 72

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GLA: § 26, Anm 47. Vgl. GLA: x.

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Frege und der transzendentale Idealismus

Frege macht also hier deutlich, dass objektive Erkenntnisgegenstände und die Arten ihres Gegebenseins bzw. Kriterien ihrer Wiedererkennung keine subjektiven Bestandteile enthalten können. 73 Kant selbst scheint jedoch diese strikt antipsychologische Auffassung von Erkenntnisgegenständen und der Art und Weise ihrer Bestimmung noch nicht geteilt zu haben. In seiner »Stufenleiter der Vorstellungen« trifft er folgende Unterscheidungen: 74 Die Gattung ist Vorstellung überhaupt (repraesentatio). Unter ihr steht die Vorstellung mit Bewusstsein (perceptio). Eine Perception, die sich lediglich auf das Subjekt, als die Modifikation seines Zustandes bezieht, ist Empfindung (sensatio), eine objektive Perzeption ist Erkenntnis (cognitio). Diese ist entweder Anschauung oder Begriff (intuitus vel conceptus). Jene bezieht sich unmittelbar auf den Gegenstand und ist einzeln; dieser mittelbar, vermittelst eines Merkmals, was mehreren Dingen gemein sein kann.

Eine Anschauung, die zur unmittelbaren Bestimmung eines Gegenstandes dienen soll, enthält aber nun nach Kant notwendig auch Empfindung; insofern sind für Kant Anschauungen im Hinblick auf ihren spezifischen Gehalt subjektiv, obwohl sie aufgrund ihrer reinen Form zu den objektiven Vorstellungen gehören. Da Anschauungen Kant zufolge notwendig sind, um einen Gegenstand als solchen zu erkennen, kann er Freges strikte Trennung von Logik und Psychologie offensichtlich noch nicht vertreten haben. Ich möchte nun im folgenden untersuchen, inwiefern man ihm dann überhaupt noch so etwas wie einen transzendentalphilosophischen Ansatz zuschreiben könnte, und wie sich dieser auf der anderen Seite vom Kantischen ebenso wie von gewissen Nachkantischen Ansätzen unterscheiden würde. 2.2.1. Die Existenz eines aktualen Subjekts Die Vermischung von Logischem und Psychologischem wurzelt m. E. in Kants System in dessen impliziter theoretischer Verpflichtung auf die Existenz eines aktualen, denkenden und anschauuenden Subjekts. Inwiefern sich hieraus ein Problem für die Möglichkeit objektiver, wissenschaftlicher Erkenntnis in der Psychologie selbst ergibt, welches Frege erst durch seine Unterscheidung von Sinn und Bedeutung zu beheben weiß, ist Gegenstand der Diskussion in Lotter 2001. 74 KrV: A 320/B 376 f. 73

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Kant zufolge müssen nämlich »alle Vorstellungen eine Beziehung auf ein mögliches empirisches Bewusstsein« haben, »denn hätten sie dieses nicht, und es wäre gänzlich unmöglich, sich ihrer bewusst zu werden; so würde das soviel sagen, sie existierten gar nicht.« 75 Empirisches Bewusstsein, d. h. innere Anschauung 76 , ist also für Kant im Grunde genommen eine zusätzliche, nach Freges Terminologie rein subjektive Bedingung der Möglichkeit sowohl von Erkenntnis als auch ihrer Gegenstände. Alles empirische Bewusstsein hat wiederum nach Kant »eine notwendige Beziehung auf ein transzendentales (vor aller besonderen Erfahrung vorhergehendes) Bewusstsein, nämlich das Bewusstsein meiner selbst, als die ursprüngliche Apperzeption«. 77 Diese Beziehung zu einem transzendentalen Bewusstsein – der »bloßen Vorstellung Ich in Beziehung auf alle anderen (deren kollektive Einheit sie möglich macht)« – ist wiederum so gedacht, dass sie das empirische Bewusstsein erst möglich macht. Das Ich denke muss nach Kant »alle meine Vorstellungen begleiten können; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte, was ebenviel heißt, als die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein«. 78 Das transzendentale Selbstbewusstsein ist nun eine Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung, die sogar der Anwendung der Kategorien noch vorausgeht. Die Möglichkeit selbst der logischen Form aller Erkenntnis beruht somit nach Kant auf der Möglichkeit empirischen Bewusstseins, welche wiederum auf der Möglichkeit des transzendentalen Bewusstseins beruht, d. h. dem Vermögen der Selbstbezugnahme und Selbstzuschreibung von Vorstellungen. Für Liebmann ist dieses Prinzip der transzendentalen Apperzeption einer derjenigen Aspekte der Kantischen Philosophie, welcher ihr ihren idealistischen – im Unterschied zu einem bloß kritischen – Charakter verleiht, und derjenige »Punkt der Kantischen Philosophie, an welchen die idealistische [d. h. die Fichte-Schelling-Hegelsche] Richtung anknüpfte«. 79 Auffallend ist bereits, dass Kant das Sein der Erkenntnisobjekte stets auf ein Subjekt zu relativieren scheint. Er spricht nicht von deren Existenz schlechthin, sondern vielmehr von ihrer Existenz oder ihrem Sein »für mich«. Dies ist keine zufällige Wortwahl. Kants 75 76 77 78 79

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KrV: A 117. Vgl. KrV: A 107. KrV: A 117. KrV: B 132. Liebmann 1865: 140.

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Frege und der transzendentale Idealismus

Transzendentalismus scheint aus den o. g. Gründen einem Idealismus verpflichtet zu sein, der die Existenz der Außenwelt – obwohl diese in einem bestimmten Sinn als objektiv gedacht wird – von derjenigen eines aktualen, mit den Vermögen des Denkens und Anschauens ausgestatteten Subjekts abhängig macht. Der Gedanke, dass die Außenwelt auch dann noch existieren würde, wenn keine solchen Subjekte vorhanden wären, würde in diesem Begriffsrahmen vom theoretischen Standpunkt aus keinen Sinn machen. Wir können ihm zwar einen empirischen Sinn verleihen, indem wir versuchen, mit Hilfe unserer Einbildungskraft von der gegenwärtigen und vergangenen Erfahrungen in die Zukunft zu extrapolieren. Doch bleibt klar, dass die so vorgestellte Zukunft nur dann zur Realität werden könnte, wenn es ein Subjekt gibt, das sie wahrnimmt oder zumindest im Prinzip wahrnehmen kann. Unabhängig von dieser Möglichkeit wäre keine Außenwelt in einem erkenntnistheoretisch relevanten Sinne möglich. Denn es wäre ja niemand da, für den die Gegenstände der Außenwelt, oder auch nur Vorstellungen von ihnen, ein Dasein haben würden. Noch Ludwig Wittgenstein hat diese Konsequenz der Kantischen Philosophie in seinem Tractatus gewissermaßen auf die Spitze getrieben, indem er darauf hinweist, dass »beim Tod die Welt sich nicht ändert, sondern aufhört«. 80 Kant scheint sich zudem in mindestens vier Passagen in der ersten Kritik ausdrücklich auf die Abhängigkeit der psysikalischen Welt von einem aktual existierenden Subjekt festzulegen. Im Kontext der Transzendentalen Ästhetik heißt es etwa, dass »wenn wir unser Subjekt oder auch nur die subjektive Beschaffenheit der Sinne überhaupt aufheben, alle die Beschaffenheit, alle Verhältnisse der Objekte in Raum und Zeit, ja selbst Raum und Zeit verschwinden würden, und als Erscheinungen nicht an sich selbst, sondern nur in uns existieren können« 81 . Die zweite Passage befindet sich in der A-Ausgabe der Paralogismen im Kontext von Freges Zurückweisung des Materialismus. Der Materialismus würde laut Kant die These beinhalten, dass die Existenz des denkenden Subjekts von der der Materie abhänge, während dem transzendentalen Idealismus zufolge umgekehrt die Materie vom Subjekt abhänge. Auch hier wieder heißt es, dass »wenn ich das denkende Subjekt wegnähme, die ganze Körperwelt wegfallen muss, als die nichts ist, als die Erscheinung in 80 81

T: § 6.431. KrV: A 42/B59. A

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Logik und Erkenntnistheorie

der Sinnlichkeit unseres Subjekts und eine Art Vorstellungen desselben« 82 . Nun könnte man hier noch versucht sein, Kants Postulat jener Beziehung der Erkenntnisgegenstände zu einem möglichen empirischen und transzendentalen Bewusstsein durch den Gedanken zu modifizieren, dass die Möglichkeit von Bewusstsein ja bereits durch die Möglichkeit eines denkenden Subjekts gegeben wäre. Demgemäß würde die physikalische Außenwelt nicht von einem aktualen, sondern nur von einem möglichen Subjekt abhängen. Dieser Ausweg jedoch scheint Kant im Rahmen seines transzendentalen Idealismus versperrt, weil dieser eine rationale Psychologie, die die Bedingungen der Möglichkeit eines denkenden Subjekts überhaupt untersuchen könnte, ebenso zurückweisen muss wie eine rationale Theologie. Für Kant gilt ja, wie wir sahen, dass »ich dasjenige, was ich voraussetzen muss, um überhaupt ein Objekt zu erkennen, nicht selbst als Objekt erkennen könne« 83 . Erkennen wir also empirisches sowie transzendentales Selbstbewusstsein als Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis von Objekten an, so schließt eine transzendentalphilosophische Herangehensweise die Möglichkeit aus, jemals bestimmen zu können, unter welchen Bedingungen ein solches Selbstbewusstsein wiederum möglich wäre. Denn dies würde ja bedeuten, die innere Konstitution eines denkenden Subjektes als Ding an sich erkennen zu können, welches uns dem transzendentalen Idealismus zufolge prinzipiell nicht zugänglich ist. Wir müssen also zwar ein denkendes Subjekt postulieren, um die Möglichkeit transzendentalen und somit empirischen Bewusstseins zu erklären, aber dadurch »erkenne ich […] dieses denkende Selbst seinen Eigenschaften nach nicht besser, noch kann ich seine Beharrlichkeit, ja selbst nicht einmal die Unabhängigkeit seiner Existenz, von dem etwaigen transzendentalen Substratum äußerer Erscheinungen einsehen, denn dieses ist mir, ebensowohl als jenes, unbekannt« 84 . Es scheint also unvermeidlich, dass im Kantischen System zwar kein allerhöchstes göttliches Wesen, aber doch immerhin ein aktual existierendes denkendes sowie anschauendes Selbst vorausgesetzt werden muss, um die Möglichkeit einer raumzeitlichen Außenwelt philosophisch überhaupt erklären zu können. 82 83 84

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A 383. KrV: A 402; siehe auch B 422. KrV: A 383.

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Frege und der transzendentale Idealismus

Zweifellos war Frege kein Idealist in diesem Sinne; und wenn wir Idealismus – wie es heute üblich ist – als die Auffassung verstehen, dass die Gegenstände unserer Erkenntnis, oder auch die für uns fassbaren Tatsachen und Sachverhalte in der Welt, ja selbst mathematische Entitäten wie etwa Funktionen oder Mengen von der Existenz zeitlicher mentaler Prozesse im menschlichen Geist abhängen 85 , dann war Frege den obigen Überlegungen zufolge im Gegensatz zu Kant mit Sicherheit kein Idealist. Im Hinblick auf die objektive Existenz der erkennbaren Welt nimmt sich Frege viel eher als Platonist und Realist aus. Für ihn macht der Gedanke durchaus Sinn, dass »selbst, wenn alle Vernunftwesen einmal gleichzeitig in einen Winterschlaf verfallen würden«, die Wahrheit eines Satzes nicht verschwinden, sondern »ganz ungestört bleiben« würde. 86 Auch aus diesem Grund ist es erstaunlich, dass Frege offenbar der Ansicht war, mit seiner strikten Trennung von objektiven und subjektiven Vorstellungen »Kants wahre Meinung« getroffen zu haben. Freges Position weicht in dem Maße vom Kantischen wie auch Nachkantischen Ansätzen ab, in dem die Idee eines aktual existierenden denkenden Subjekts zur Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis und ihren potentiellen Gegenständen erhoben wird. 2.2.2. Das Synthetische Apriori Was Frege hingegen zumindest auf den ersten Blick insbesondere mit der Kantischen im Unterschied zur Leibnizschen Tradition zu verbinden scheint, ist die Idee des Synthetischen Apriori. Dieser Term wird allerdings erst in den Grundlagen der Arithmetik explizit zur Klassifikation der verschiedenen Erkenntnis- bzw. Beweisarten herangezogen und hier wie bei Kant auf die Geometrie angewandt. 87 Auch hinsichtlich der möglichen Kombinationen von Erkenntnisarten kommt Frege erst hier ausdrücklich zu demselben Ergebnis wie Kant: Es gibt ihm zufolge sowohl analytische als auch synthetische Urteile a priori, sowie synthetische Urteile a posteriori, jedoch keine analytischen Urteile a posteriori. Synthetische Urteile a priori, so Frege hier, haben als letzten Erkenntnisgrund die reine Anschauung.88 85 86 87 88

Vgl. dazu etwa Burge 1996, 353, und ähnlich schon Russell 1912. GLA: § 77. Vgl. GLA: §§ 3, 12–17, 89. GLA, § 12. A

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War Frege nun vielleicht vor den Grundlagen noch gar nicht mit der Idee des synthetischen Apriori vertraut? Oder lehnte er es womöglich zu dieser Zeit noch ab? Ersteres ist eher unwahrscheinlich. Denn zwar finden wir in Freges vorbegriffsschriftlichen Schriften noch keinen ausdrücklichen Gebrauch des Ausdrucks »synthetisch a priori« – weder in ablehnender noch in zustimmender Weise. Doch in der Begriffsschrift bereits weist er am Ende ausdrücklich darauf hin gezeigt zu haben »wie das von jedem durch die Sinne oder selbst durch die Anschauung a priori gegebenen Inhalte absehende reine Denken allein aus dem Inhalte, welcher seiner eigenen Beschaffenheit entspricht, Urteile hervorzubringen vermag, die auf den ersten Blick nur auf Grund einer Anschauung möglich zu sein scheinen«. 89 Wir müssen also wohl davon ausgehen, dass Frege mit diesem Aspekt von Kants Erkenntnistheorie bereits vor den Grundlagen vertraut war. Es bleiben dann wohl nur zwei mögliche rationale Erklärungen dafür, dass Frege in der Begriffsschrift offenbar gar nicht in Betracht zog, dass die arithmetischen Wahrheiten – wie Kant gemeint hatte – synthetischa priori und also erfahrungsunabhängig und zugleich nicht durch »rein logische Beweisführung« begründbar sein könnten. Entweder lehnte Frege tatsächlich – obschon mit der Idee des synthetischen Apriori vertraut – die Idee synthetischer Urteile a priori vor den Grundlagen noch generell ab. Oder er erwähnte sie in der Begriffsschrift lediglich deshalb nicht, weil er glaubte, zuvor bereits in seiner Habilitationsschrift von 1874 überzeugende Argumente gebracht zu haben, warum die arithmetischen Sätze nicht von dieser Art sein könnten. 90 Im ersten Falle gäbe es wiederum zwei alternative epistemische Einstellungen zur Geometrie, die er vor den Grundlagen hätte haben können: Entweder hätte er in Anlehnung an Leibniz’ Zweiteilung von (notwendigen) Vernunftwahrheiten und (zufälBS: § 23. Zudem verwendet Frege in § 8 der Begriffsschrift, wo er die Möglichkeit informativer Identitätssätze erörtert, ausdrücklich die Idee eines synthetischen Urteils oder Satzes im Sinne Kants. 90 Man könnte hiergegen wiederum einwenden, dass Frege es immerhin nicht viel später – nämlich in den Grundlagen – es durchaus noch für nötig hielt, den nicht-anschaulichen Charakter der Arithmetik zu verteidigen und dort auch sein Argument aus der Habilitationsschrift zu wiederholen. Die Grundlagen stellen jedoch ohnehin ein von vornherein wesentlich philosophischer – im traditionellen Sinne – ausgerichtetes Werk dar, sodass Frege es vielleicht hier für wichtiger hielt, philosophische Argumente für den analytischen Charakter der Arithmetik zu wiederholen, als in der Begriffsschrift. 89

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ligen) Tatsachenwahrheiten die geometrischen Sätze als analytisch – d. h. als a priori aber unabhängig von der Anschauung geltend – ansehen müssen. Oder Frege vertrat vor den Grundlagen eine aprioristische Konzeption der Arithmetik und Logik zusammen mit einer empiristischen Auffassung der Geometrie. Die erstere Option – das Frege vor den Grundlagen die Axiome der Geometrie für analytisch hielt – wird jedoch durch Freges Äußerungen sowohl in der Dissertation als auch in der Habilitationsschrift widerlegt. Bereits seine Dissertation von 1873 nämlich geht von der Annahme aus, dass »die ganze Geometrie zuletzt auf Axiomen beruht, welche ihre Gültigkeit aus der Natur unseres Anschauungsvermögens herleiten«. 91 In seiner Habilitationsschrift beschäftigte sich Frege dann erstmals mit erkenntnistheoretischen Aspekten der Arithmetik, und hier versucht er – gegen Kant – zu zeigen, dass die arithmetischen Gesetze sämtlich aus einem erweiterten Größenbegriff herleitbar seien, der selbst wiederum nicht mehr hinreichend durch die Anschauung begründet sein kann. Frege geht hier bereits von einem bemerkenswerten Unterschied in der Art aus, wie Geometrie und Arithmetik ihre Grundsätze begründen: 92 Die Elemente aller geometrischen Konstruktionen sind Anschauungen, und auf Anschauungen verweist die Geometrie als Quelle ihrer Axiome. Da das Objekt der Arithmetik keine Anschaulichkeit hat, so können auch ihre Grundsätze aus der Anschauung nicht stammen. Wie sollte diese auch Sätze verbürgen können, welche von allen so verschiedenartigen Größen gelten, von denen einige Gattungen uns vielleicht noch unbekannt sind?

Es liegt nun nahe, Formulierungen wie »Anschauungen«, »Anschauung« und vor allem »Natur unseres Anschauungsvermögens« in diesen Schriften im Sinne Kants auf eine Anlage zu beziehen, die uns unabhängig von jeglicher tatsächlichen Erfahrung gegeben ist, sodass sie als Quelle der Gültigkeit der geometrischen Axiome diesen zugleich eine erfahrungsunabhängige Geltung verschaffen würde. In diesem Fall hätte Frege tatsächlich bereits vor der Begriffsschrift die Auffassung vertreten, dass es synthetische Wahrheiten a priori gibt und dass die geometrischen Sätze von dieser Art sind. Seine Auslassung der entsprechenden dritten Kategorie von Rechtfertigungsarten KS: 1. Freges Anliegen ist hier, diese Kantische Annahme gegen einen Einwand zu verteidigen, der sich darauf stützt, dass wir den imaginären Gebilden der Geometrie oft Eigenschaften beilegen, die nicht selten jeder Anschauung widersprechen. 92 KS, 50 f. 91

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in der Begriffsschrift ist dann wohl am besten nur so zu erklären, dass er meinte, es stünde ohnehin bereits außer Frage, dass die arithmetischen Sätze nicht von dieser Art sein könnten. Allerdings erwähnt Frege vor den Grundlagen auch nirgendwo ausdrücklich, das die geometrischen Axiome seiner Ansicht nach auf reiner im Gegensatz zu empirischer Anschauung beruhen. 93 Selbst der Ausdruck »Natur unseres Anschauungsvermögens« in Freges Dissertation könnte im Prinzip auch mit der (nicht-Kantischen) Auffassung vereinbar sein, dass sich die geometrischen Grundsätze auf empirisch-anthropologische Tatsachen über unser menschliches Anschauungsvermögen gründen. 94 Wenn dies der Fall ist, dann war Frege vor den Grundlagen kein Apriorist im Sinne Kants in bezug auf die Geometrie. Denn wenn die geometrischen Axiome sich auf anthropologische, biologische oder kulturgeschichtliche Wahrheiten gründen, die wiederum nur auf empirischem Wege begründbar sind, so würde dies bedeuten, dass die Geometrie selbst eine empirische Disziplin wäre. Es ist also zumindest möglich, dass Frege zu Beginn seiner intellektuellen Entwicklung noch eine empiristische oder naturalistische Auffassung der Geometrie vertrat, obgleich sich in seinen Schriften keinerlei wirklich positive Evidenz für ein solches Abweichen von der Kantischen Position finden lässt. In den Grundlagen jedenfalls, sowie in einigen seiner Spätfragmente, verbindet Frege sehr deutlich die Idee der Anschauung oder des Anschauungsvermögens als Quelle der Geometrie mit der der Erfahrungsunabhängigkeit bzw. »Reinheit« im Sinne Kants. 95 Für die Frage etwa, warum wir die Axiome der Euklidischen Geometrie für wahr halten sollen, finden wir in den Grundlagen – im Zusammenhang des »Meisterargumentes« die folgende Antwort: 96 [D]ie geometrischen Wahrheiten beherrschen das Gebiet des räumlich Anschaulichen, mag es nun Wirklichkeit oder Wirklichkeit oder Erzeugnis der Einbildungskraft sein. Die tollsten Fieberphantasien, die kühnsten Erfindungen der Sage und der Dichter, welche Tiere reden, Gestirne still stehen lassen, aus Steinen Menschen und aus Menschen Bäume machen und lehren, wie man sich am eignen Schöpfe aus dem Sumpf zieht, sie sind doch, sofern sie Der Ausdruck »Anschauung« wird bereits bei Kant selbst in zwei Bedeutungen verwendet. Frege verwendet ihn zumindest manchmal im empirisch-psychologischen Sinne; vgl. BS: § 8, SB: 145 f., Anm. 3. 94 Darauf hat Gottfried Gabriel hingewiesen; vgl. Gabriel 1996: 339, Anm. 33. 95 GLA, § 12. 96 GLA: § 14. 93

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anschaulich bleiben, an die Axiome der Geometrie gebunden. Von diesen kann nur das begriffliche Denken in gewisser Weise loskommen, wenn es etwa einen Raum von vier Dimensionen oder von positivem Krümmungsmaße annimmt. Solche Betrachtungen sind durchaus nicht unnütz; aber sie verlassen den Boden der Anschauung. Wenn man diese auch dabei zu Hilfe nimmt, so ist es doch immer die Anschauung des Euklidischen Raumes, des einzigen, von dessen Gebilden wir eine haben.

Freges erkenntnistheoretisches Argument hier ist, dass unser räumliches Anschauungsvermögen und unsere Einbildungskraft grundsätzlich so beschaffen sind, dass wir gewissermaßen nicht im Widerspruch zu den Axiomen der Geometrie anschauen könnten – selbst, wenn wir dies wollten. Die Axiome der Geometrie sind somit unbezweifelbar, nicht weil sie – im Unterschied zu denen der Logik – auf dem Satz des Widerspruchs beruhen, sondern vielmehr, insofern sie die in Kantischer Terminologie notwendigen Bedingungen räumlicher Anschauung zum Ausdruck bringen, während jegliche nichtEuklidische Geometrie den Boden der Anschauung verlassen muss. Die Axiome der Euklidischen Geometrie zu verwerfen, würde bedeuten, der Art und Weise, wie wir Dinge nur wahrnehmen können, jegliche Glaubwürdigkeit abzusprechen. Dies würde aber bedeuten, dass wir uns jeglicher anschaulichen Grundlage unserer Erkenntnis von räumlichen Gegenständen überhaupt entledigen müssten. Es bleibt nun dennoch im Rahmen von Freges Konzeption mathematischer Erkenntnis die Frage bestehen, warum denn die Natur unserer Raumanschauung hinreichen soll, um die notwendige Gültigkeit der Euklidischen Axiome in bezug auf die empirische Außenwelt zu gewährleisten: Wenn Zahlen uns auf nicht-anschauliche Weise gegeben sein können, warum sollte dies nicht auch bei Gegenständen in Raum und Zeit so sein? Obwohl Frege Kants Idee von Raum und Zeit als Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnisgegenständen überhaupt zugunsten der Existenz abstrakter Gegenstände verabschiedet hatte, versuchte er offenbar noch immer, eine Art transzendental-philosophische Begründung der Euklidischen Axiome im Sinne Kants zu liefern – eine Begründung, die an die Beschaffenheit derjenigen grundlegenden Geistesvermögen appelliert, ohne die empirische Gegenstandserkenntnis nicht möglich wäre. Allerdings lassen Freges Begründungsversuche in dieser Hinsicht einige Fragen offen, wie ich im folgenden zeigen möchte. Bereits in seiner Habilitationsschrift hatte Frege argumentiert, dass die Geometrie im Unterschied zur Arithmetik auf AnschauA

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ungen als Quelle ihrer Axiome verweise, weil »die Elemente aller geometrischen Konstruktionen […] Anschauungen« seien. 97 Diese Überlegung wird in den Grundlagen weiter ausgearbeitet, wo Frege in § 13 folgendermaßen für die erkenntnistheoretische Verschiedenheit von Geometrie und Arithmetik argumentiert: Die geometrischen Axiome bedürfen der Anschauung als Quelle, weil ohne sie die »Gegenstände der Geometrie«, nämlich geometrische Punkte und Geraden, gar nicht unterscheidbar wären. Erst wenn man nämlich mehrere Punkte oder Geraden zugleich in der Anschauung auffasst, werde eine Unterscheidung überhaupt möglich; ein einzelner geometrischer Punkt sei für sich betrachtet von irgendeinem anderen gar nicht zu unterscheiden – ganz im Gegensatz zu einer Zahl. Die Möglichkeit der Begründung allgemeiner Sätze in der Geometrie durch die Anschauung ist dabei Frege zufolge dadurch gegeben, dass die angeschauten Punkte, Geraden und Ebenen eigentlich »gar keine besonderen« sind – es handele sich bei ihnen vielmehr gewissermaßen um paradigmatisch instantiierte Formen der besonderen Gegenstände, Geraden und Ebenen, die wir in der empirischen Wirklichkeit vorfinden können. Genau aus diesem Grunde können jene geometrischen Formen als Vertreter einer ganzen Gattung gelten. Die Zahlen hingegen seien ganz unabhängig von unserer Anschauung eindeutig voneinander unterscheidbar; jede von ihnen verhalte sich daher wie ein Einzelding. Wenn aber nun unabhängig von der Anschauung geometrische Punkte, Ebenen oder Geraden gar nicht voneinander unterscheidbar sind, dann gilt dies im übertragenen Sinne auch für physikalische Gegenstände, da diese ja kaum anders als durch raumzeitliche Bestimmungen lokalisierbar sind. 98 Dieses Argument setzt aber freilich bereits voraus, dass die Begriffe von Raum und Zeit, die auf die physikalischen Gegenstände anzuwenden sind, diejenigen der Euklidischen Geormetrie sein müssen. Dies ist aber genau das Problem: Warum sollten wir dies annehmen; warum sollten wir, genauer gesagt, annehmen, dass sich die Gegenstände der Außenwelt überhaupt nur durch die Euklidische KS, 50 f.; vgl. auch ebd.: »Da das Objekt der Arithmetik keine Anschaulichkeit hat, so können auch ihre Grundsätze aus der Anschauung nicht stammen. Wie sollte diese auch Sätze verbürgen können, welche von allen so verschiedenartigen Größen gelten, von denen einige Gattungen uns vielleicht noch unbekannt sind?« 98 In seiner späteren Schrift »Über Sinn und Bedeutung« hingegen bezeichnet Frege Örter und auch Zeitpunkte und Zeiträume als Gegenstände im logischen Sinne; vgl. dazu SB: 155, Anm. 97

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Geometrie eindeutig individuieren lassen würden? Warum sollte der Euklidische Raum – wie Kant gemeint hatte – eine Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnisgegenständen überhaupt sein? Frege findet m. E. letztlich keine befriedigende Antwort auf diese Frage, und somit auch nicht auf die Frage, warum die Euklidische Geometrie wahr sein muss. Im Gegenteil sehen wir ihn noch in einem späteren Fragment ausdrücklich die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass eine nicht-Euklidische Geometrie wahr sein könnte und damit die Euklidische Geometrie widerlegen würde. Sein einziger Ausweg scheint hier zu sein, sich auf die Tradition zu berufen: 99 Wagt man es, Euklids Elemente, die mehr als 2000 Jahre ein unbestrittenes Ansehen behauptet haben, als Astrologie zu behandeln? Nur dann, wenn man es nicht wagt, kann man auch Euklids Axiome nicht als falsch oder zweifelhaft hinstellen. Dann muss die nicht-Euklidische Geometrie zu den Unwissenschaften gezählt werden, die man nur noch als geschichtliche Seltsamkeiten einer geringen Beachtung wert achtet.

Falls diese Passage – wohlgemerkt aus einem unveröffentlichten Fragment – auch nur den Ansatz eines Argumentes darstellen soll, so kann es als solches nicht einmal seinen Autor selbst überzeugt haben; immerhin hatte Frege zuvor selbst die Logik des Aristoteles, deren Tradition beinahe ebenso weit zurückreicht wie die Euklidische Geometrie, einer erheblichen Reform unterzogen. Das Berufen auf Tradition konnte aber auch schon deshalb Frege nicht befriedigt haben, weil er sich wiederholt ausdrücklich gegen jegliche geschichtliche Auffassung von Wahrheiten oder Begriffen ausgesprochen hatte. Die erkenntnistheoretische Begründung der Euklidischen Geometrie scheint für Frege demnach bis zum Schluss als ein mehr oder weniger offenes Problem bestanden zu haben. Dies ist umso gravierender, wenn wir einen Blick auf Freges Spätschriften werfen, in denen er nach dem Scheitern des Logizismus-Programms einen neuen Versuch der Grundlegung der Arithmetik skizziert. Jener neue Versuch nämlich, den er nicht mehr durchzuführen vermochte, sollte bekanntlich die These etablieren, dass die gesamte Arithmetik wenn auch nicht mehr durch die Logik allein, so doch durch Logik und geometrische Erkenntnisquelle bewiesen werden könne. Frege ist hier nach Aufdeckung der Russell-

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Vgl. EG: 182. A

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schen Antinomie noch immer bestrebt, seine frühere Behauptung zu verteidigen, dass »die Arithmetik der Sinneswahrnehmung [bzw. Erfahrung] keinen Beweisgrund zu entnehmen [braucht]«. 100 Auch in »Neuer Versuch einer Grundlegung der Arithmetik«, »Zahlen und Arithmetik« sowie »Erkenntnisquellen der Mathematik und der mathematischen Naturwissenschaft« – ein Fragment, welches er kurz vor seinem Tode noch zu veröffentlichen vorhatte – unterscheidet er ausdrücklich zwischen »Anschauung« einerseits und »Sinneswahrnehmung« bzw. »Erfahrung« andererseits als verschiedenartigen Erkenntnisquellen. 101 Ein »Erkennen aus der geometrischen Erkenntnisquelle« wird auch hier noch immer ausdrücklich als ein »Erkennen a priori« bezeichnet. 102 Die Wahl dieses alternativen, geometrischen Weges zu einer Grundlegung der Mathematik scheint Philip Kitchers These zu bestätigen, dass Frege der Nachweis der apriorischen Natur der Arithmetik von Beginn an weitaus wichtiger und grundlegender erschienen sein mag als der ihrer Analytizität, die für Frege nur eine mögliche Form von Apriorismus darstellte. 103 Seine Argumentation für den nichtempirischen Charakter der geometrischen Erkenntnisquelle verläuft in dieser Spätschrift nun folgendermaßen: Aus dieser Erkenntnisquelle fließe »das Unendliche im eigentlichen und strengsten Sinne des Wortes«, nämlich im Sinne einer unendlichen Anzahl von Punkten auf jeder geraden Strecke oder Kreislinie, oder einer unendlichen Anzahl von Geraden, die durch jeden Punkt gehen. 104 Solche unendlichen Anzahlen könnten nun von uns prinzipiell nicht sinnlich wahrgenommen werden; daher könne auch die Berechtigung von Urteilen über Unendliches in der Geometrie nicht der Sinneswahrnehmung bzw. Erfahrung entstammen, sondern müssen auf einer erfahrungsunabhängigen Erkenntnisquelle beruhen. Interessant ist hier auch, dass Frege – wie Kant – zusätzlich zu Siehe NVG, 298 f. Wobei er allerdings den Ausdruck »reine Anschauung« hier ebensowenig verwendet wie in seinen vorbegriffsschriftlichen Arbeiten; vgl. NV, 298; EMN, 286; ZA, 296 f. 102 Vgl. ZA, 296 f. 103 Kitchers Auffassung ist, Freges wesentliches philosophisches Ziel sei die Etablierung der These gewesen, dass mathematische Erkenntnis a priori ist – was immer man hierbei unter »a priori« verstehen mag; vgl. Kitcher 1979, 1986: 300 ff. 104 Vgl. EMN, 293 f. Frege zieht die Idee, dass der Begriff des Unendlichen möglicherweise auch durch empirische Abstraktion konstruiert werden könnte – etwa im Sinne Lockes –, hier nicht einmal in Betracht. 100 101

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der geometrischen eine zeitliche Erkenntnisquelle anerkennt, durch die Urteile über Unendliches gerechtfertigt werden können. 105 Warum er es nun nicht in Erwägung zieht, die Arithmetik wie Kant auf die reine Anschauung der Zeit zu gründen, bleibt unklar. In jedem Fall wäre – selbst wenn Frege länger gelebt hätte – wohl auch dieser neue Versuch einer Grundlegung der Arithmetik philosophisch unergiebig geblieben, solange Frege nicht imstande war, die Wahrheit der Euklidischen Axiome gegenüber denen einer nicht-Euklidischen Geometrie stichhaltig – und auf philosophische Weise zu begründen. Der Rekurs auf unser Vermögen der Raumanschauung allein genügt hierfür nicht, solange diese Art Anschauung nicht gleichzeitig eindeutig als Bedingung der Möglichkeit physikalischer Gegenstände entweder im Sinne eines transzendentalen Idealismus oder zumindest im Sinne eines – wie auch immer fundierten transzendentalen Realismus – ausgewiesen worden ist. In »Über Sinn und Bedeutung« weist Frege darauf hin, dass man unter »Anschauung« einen Gegenstand verstehen könne, »sofern er sinnlich wahrnehmbar oder räumlich ist«. 106 Diese Bemerkung deutet zwar in gewissem Maße darauf hin, dass er mit der Idee des transzendentalen Idealismus, wonach die raumzeitlichen Gegenstände gewissermaßen durch unser Anschauungsvermögen konstitutiert sind, gespielt hat. Nichtsdestotrotz scheint es ihm im Zusammenhang mit seinen Argumenten für die Wahrheit der Euklidischen Geometrie nicht gelungen zu sein, diesen Ansatz durch eigene Argumentation nachhaltig zu stärken. 2.2.3. Cogito Ergo Sum In seinem Aufsatz »Der Gedanke« nun liefert Frege ein Argument gegen den Skeptizismus, das in gewisser Weise sowohl an Descartes als auch an Kant erinnert, insofern es sich wesentlich auf die Einsicht stützt, dass das Ich als Träger von Bewusstseinsinhalten selbst als etwas Beständiges, von diesen Unabhängiges gedacht werden muss. Systematisch betrachtet ist dieses Argument allerdings nicht lückenlos im Hinblick auf die Prämissen, die nötig wären um den Skeptizismus zu widerlegen. Die These, die Frege hier im ersten Schritt wider105 106

EMN, 294. Vgl. SB: 146, Anm. A

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legen will, ist dass nur das Gegenstand meiner Betrachtung sein könne, was meine Vorstellung ist. 107 Prädikatenlogisch können wir diese These im heute üblichen Symbolismus folgendermaßen explizieren: (EI) 8 x ½GB(ICH, x) ! VORST (ICH, x) 108 Aus dieser These folgt für Frege, dass sich »all mein Wissen und Erkennen […] auf den Bereich der Vorstellungen« beschränke, »auf die Bühne meines Bewusstseins«, sodass gilt: »In diesem Falle hätte ich nur eine Innenwelt, und ich wüsste nichts von anderen Menschen.« 109 Unter einer Vorstellung als Bestandteil der Innenwelt versteht Frege hier alles, was – wie er an anderer Stelle ausführt – »Teil oder Modus der Einzelseele« 110 ist, was also den Inhalt des Bewusstseins eines einzelnen Individuum ausmacht. Hierzu zählt er u. a. Sinneseindrücke, empirische Anschauungen, Schöpfungen der Einbildungskraft, Empfindungen, Gefühle, Stimmungen und Neigungen. Vorstellungen sind Frege zufolge subjektiv in zweierlei Hinsicht: Zum einen werden sie durch den Akt der Vorstellung erst erzeugt, zum anderen können sie nicht mehreren Individuen angehören. Eine Vorstellung ist in diesem Sinne gewissermaßen geistiges Privateigentum ihres Trägers; eine »innere Anschauung« im Sinne Kants. Die Frage, der Frege also in seinem Argument nachgeht, ist: Muss alles, was für mich ein Gegenstand des Denkens sein kann, automatisch auch eine subjektive Vorstellung von mir sein? Frege entwickelt nun einen indirekten Beweis, der die Annahme wiederlegen soll, dass alles, was für mich ein Gegenstand des Denkens werden kann, eine meiner Vorstellungen ist. Die erste Überlegung ist hier die folgende. Wenn EI gilt, dann muss ich selbst als Träger meiner Vorstellungen ebenfalls eine meiner Vorstellungen sein. Es würde also gelten: (P2) VORST(ICH, ICH)

107 Vgl. Ged. 355. Ein Gegner, den er dabei u. a. im Auge zu haben scheint, ist offenbar der österreichische Positivist Ernst Mach; vgl. dazu Currie 1982, Mayer 1996, Picardi 1996. Zu einer anderen logischen Rekonstruktion dieses Argumentes siehe StuhlmannLaeisz 1995. 108 GB(x,y) ist hierbei ein zweistelliges Prädikat, welches besagt: y ist Gegenstand der Betrachtung von x. VORST(x, y) ist ein zweistelliges Prädikat für »y ist eine Vorstellung von x). »ICH« können wir in diesem Kontext als Eigennamen auffassen. 109 Vgl. Ged: 355. 110 Vgl. SB: 146.

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Hier aber hätten wir nun den Fall einer Vorstellungen, die sich selbst trägt, die also letztlich keines anderen Trägers bedarf. Eine solche Vorstellung aber wäre Frege zufolge von einem selbständigen Gegenstand nicht zu unterscheiden; es wäre also keine Vorstellung im eigentlichen Sinne mehr. Demnach muss also eine Vorstellung einen Träger haben, der von ihr verschieden ist. Die Annahme, dass ich meine Vorstellung bin, führt demnach zu einem Widerspruch im Hinblick auf den Begriff der Vorstellung selbst. Die nächste Überlegung ist nun, dass ich als Vorstellung vielleicht eine andere Vorstellung meiner selbst als Träger haben könnte. In diesem Fall würde also gelten, dass jede Vorstellung von mir von einer anderen Vorstellung von mir getragen wird. Zwei Möglichkeiten eröffnen sich hierbei: Zum einen könnte die Reihe der Ich-Vorstellungen einen geschlossenen Zirkel bilden – eine Option, die Frege gar nicht erst in Betracht zieht, vermutlich, weil sie letztendlich wiederum darauf hinauslaufen würde, dass eine Vorstellung, wenn auch indirekt über andere Vorstellungen, sich selbst trägt. Die verbleibende Option wäre also die Idee einer unendlichen – beispielsweise auf die natürliche Zahlenreihe N abgebildeten – Folge von ich-Vorstellungen ich1, ich2, …, , von denen jede von ihrem Nachfolger getragen wird. 111 Diese Folge also wäre unser ursprüngliches »ICH« – einfach die Menge aller Ich-Vorstellungen, die eine Person von sich selbst haben kann. Dass etwas Gegenstand meiner Betrachtung ist würde nun analog bedeuten, dass sein Betrachter ein Element von ICH ist. Es würde also gelten: (P3) ICH:= x/ n " N: x= ichn _ x=ichn+1 _ … _ x=ichn+1000 _ …, / (P4) 8x,y ½VORST (x, y) ! x6¼y Hieraus folgt dann: (P5) 8n, x ½(n " N & x=ichn) ! VORST(ichn, ichn) Es gilt ferner: (P6) ) 8x ½x " ICH $ 9y (y " ICH & VORST(y,x)

111 Da anzunehmen ist, dass es aufgrund der Endlichkeit eines menschlichen Bewusstseins ein letztes Glied in dieser Folge gibt – d. h. eine letzte Vorstellung ich1 – bräuchten wir sie nur als in einer Richtung unendlich verlaufend zu denken.

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Die ursprüngliche Annahme EI wäre demnach folgendermaßen zu modifizieren: (EI*) 8x, n " N: ½GB(ichn, x) ! (ichn " ICH & VORST (ichn, x)) Frege weist jedoch auch diese Aufspaltung des Ichs in unendlich viele Einheiten mit dem folgenden Argument zurück: 112 Oder kann ich Teil des Inhalts meines Bewusstseins sein, während ein anderer Teil vielleicht eine Mondvorstellung ist? Findet das etwa statt, wenn ich urteile, dass ich den Mond betrachte? Dann hätte dieser erste Teil ein Bewusstsein, und ein Teil des Inhalts dieses Bewusstseins wäre wiederum ich. Und so fort. Dass ich so ins Unendliche in mir eingeschachtelt wäre, ist doch wohl undenkbar; denn dann gäbe es ja nicht nur ein ich, sondern unendlich viele. Ich bin nicht meine eigene Vorstellung, und wenn ich etwas von mir behaupte, z. B. dass ich im Augenblick keinen Schmerz empfinde, so betrifft mein Urteil etwas, was nicht Inhalt meines Bewusstseins, nicht meine Vorstellung ist, nämlich mich selbst. […] Ich habe eine Vorstellung von mir, aber ich bin nicht diese Vorstellung. Es ist scharf zu unterscheiden zwischen dem, was Inhalt meines Bewusstseins, meine Vorstellung ist, und dem, was Gegenstand meines Denkens ist. Also ist der Satz falsch, dass nur das Gegenstand meiner Betrachtung sein kann, was zum Inhalte meines Bewusstseins gehört.

Frege verwirft also hier die Idee, dass ich als Träger meiner Vorstellungen selbst wiederum eine Vorstellung sein könnte durch die in seinen Augen absurde Konsequenz, dass es dann unendlich viele Iche geben müsse. Also folgt, dass ich keine meiner Vorstellungen sein kann. Es ergibt sich, dass wir uns – sofern wir über unsere gegebenen Vorstellungen reflektieren – als selbständigen, einheitlichen Träger unserer Vorstellungen denken müssen, der nicht wiederum eine Vorstellung sein kann. Also folgt, dass nicht alles, was Gegenstand unseres Denkens sein kann, eine unserer Vorstellungen ist. Was hat Frege nun mit dieser Einsicht gewonnen, und wie verhält sich dieses Argument etwa zu Kants Widerlegung des Idealismus in der Kritik der reinen Vernunft? Zunächst ist festzuhalten, dass der zu widerlegende Idealismus nach Freges Diagnose die skeptische Konsequenz hatte, dass sich »all mein Wissen und Erkennen […] auf den Bereich der Vorstellungen« beschränke, »auf die Bühne meines Bewusstseins«, sodass ich »in diesem Falle nichts von anderen Menschen« wüsste. 113 Dies skeptische Konsequenz würde also so112 113

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Ged.: 357. Vgl. Ged: 355.

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Frege und der transzendentale Idealismus

wohl unser Wissen von einer materiellen Außenwelt als auch über Fremdpsychisches betreffen. Das Motiv von Freges Widerlegung des Idealismus ist demnach, genau diesen Skeptizismus auzumerzen. Folgt dies aber aus seinem Ergebnis, dass nicht jeder Gegenstand unseres Denkens eine unserer Vorstellungen sein kann? Reicht Freges Argument hin, um uns Gewissheit über die Existenz einer Außenwelt und anderer Menschen zu verschaffen? Dies scheint nicht unmittelbar der Fall zu sein. Freges Argumentation dafür, dass wir selbst als Gegenstand unseres eigenen Denkens keine Vorstellung unserer selbst, sondern vielmehr Träger unserer Vorstellungen sind, beweist nicht, dass irgendein von unserem Ich verschiedener Gegenstand unseres Denkens keine Vorstellung von uns ist. Hierfür hätte Frege noch weitere Voraussetzungen benötigt. Die Entdeckung, dass wir uns selbst als Träger unserer Vorstellungen als von diesen verschieden denken müssen, lässt die Natur unserer selbst noch vollkommen offen; wir könnten z. B. – wie Descartes glaubte, auf der Basis des Cogito gezeigt zu haben – immaterielle Substanzen sein, sodass der Nachweis unserer Existenz als denkende Wesen per se noch keineswegs die Existenz einer materiellen Außenwelt impliziert. Sowohl Descartes als auch Kant versuchten bekanntlich, die Existenz dessen, was sie jeweils unter einer geistunabhängigen Außenwelt verstanden, durch eine Art deduktives Argument zu etablieren, welches unter Voraussetzung der Gewissheit der Prämissen zu vollständiger Gewissheit über die Konklusion führen würde. Frege hingegen gibt offenbar zu, dass unser Wissen über die Dinge der Außenwelt stets nur einen gewissen Grad der Wahrscheinlichkeit erreicht: 114 In der Tat! Mit dem Schritte, in dem ich mir meine Umwelt erobere, setze ich mich der Gefahr des Irrtums aus. Und hier stoße ich auf einen weiteren Unterschied meiner Innenwelt von der Außenwelt. Dass ich den Gesichtseindruck des Grünen habe, kann mir nicht zweifelhaft sein; dass ich aber ein Lindenblatt sehe, ist nicht so sicher. So finden wir im Gegensatz zu weit verbreiteten Meinungen in der Innenwelt Sicherheit, während uns bei unsern Ausflügen in die Außenwelt der Zweifel nie ganz verlässt. Dennoch ist die Wahrscheinlichkeit auch hierbei in vielen Fällen von der Gewissheit kaum zu unterscheiden, sodass wir es wagen können, über die Dinge der

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Ged.: 358. A

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Außenwelt zu urteilen. Und wir müssen das sogar wagen, wenn wir nicht weit größeren Gefahren erliegen wollen. Insofern Frege nun in diesem Kontext nicht einmal versucht, wenigstens allgemeine apriorische Prinzipien über die Existenz und Gesetzlichkeit der Natur bzw. der ausgedehnten Materie überhaupt zu etablieren, scheint seine Widerlegung des Skeptizismus demnach, verglichen mit derjenigen Descartes oder auch Kants – des größten Vorbildes der Neukantianer – im Hinblick auf die Reichweite der Konsequenzen seines Argumentes wesentlich schwächer zu sein.

Was Frege Kant dennoch näher bringt als der Erkenntnistheorie der früheren Rationalisten ist der Umstand, dass er seine Erkenntnistheorie nicht auf dem Umweg über einen Gottesbeweis zu etablieren sucht. Descartes und Leibniz erklärten zwar die Zuverlässigkeit unmittelbar klarer und deutlicher Erkenntnisse zunächst durch die Existenz angeborener Ideen, die den Inhalt allgemeiner Prinzipien der Rationalität ausmachen, sodass wir uns ihrer Anerkennung gewissermaßen gewissermaßen gar nicht entziehen können, wenn wir nicht unserer eigenen rationalen Natur zuwider urteilen wollen. Der wohl stärkste und naheliegendste Einwand, der sich gegen eine rein nativistische Basis der Erkenntnistheorie vorbringen lässt, ist jedoch der folgende: 115 Even if certain propositions were innate, this would have no epistemological significance; the question of how propositions originate is irrelevant to determining their truth value. It is conceivable that we should come into the world with our minds stuffed with rubbish, and that the acquisition of genuine knowledge should require the systematic uprooting of every innate idea.

Das Problem für den Nativisten ist demnach, dass seine Berufung auf das Angeborensein gewisser Prinzipien oder Begriffe zwar möglicherweise erklären kann, warum sie uns unmittelbar einleuchten oder wir sie als notwendig ansehen, dass eine solche Erklärung allein aber noch nicht hinreichen würde, um die objektive Wahrheit oder gar Notwendigkeit dieser Prinzipien zu garantieren. Und dies ist genau das Problem, das Descartes durch seine Version des ontologi115 Jolley 1984: 167. Wir finden diese Kritik einer nativistischen Erkenntnistheorie wahrscheinlich erstmals in Parker 1666, 55: »But suppose that we were born with these congenite anticipations, and that they take root in our very faculties, yet how can I be certain of their truth and veracity? For ’tis not impossible but the seeds of error might have been the natural results of my faculties, as weeds are the first and natural issues of the best soyles, how then shall we be sure that these spontaneous notions are not false and spurious?«

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schen Gottesbeweises zu lösen versucht hatte, auf dessen Basis er zu der Einsicht gelangen will, dass Gott uns in dem, was uns die Vernunft – das natürliche Licht – klar und deutlich als wahr zeigt, nicht täuschen könne. 116 Dieses Argument setzt freilich wiederum voraus, dass wir überhaupt eine klare und deutliche Idee Gottes als eines allgütigen Wesens besitzen, und es setzt ein Prinzip voraus, aus dem folgen würde, dass die Ursache einer Idee mindestens ebensoviel Realität – oder metaphysische Selbständigkeit – besitzen muss wie das intentionale Objekt derselben, das durch die Idee repräsentiert wird. Ein unendlicher Geist besitzt davon mehr als ein endlicher, da letzterer durch ersteren erschaffen ist. Daher kann jenem Prinzip zufolge nach Descartes die Idee eines höchst vollkommenen Wesens nicht durch uns selbst, die wir endliche Wesen sind, erschaffen worden sein. Nicht zuletzt setzt Descartes’ Argumentation voraus, dass Allgüte die Möglichkeit, dass Menschen sich über die geistunabhängige Existenz der Außenwelt täuschen können, ausschließt. Dass dies so sei, darüber kann man freilich streiten, und insofern Gottes Güte und Allmacht traditionell ohnehin als weit außerhalb des Bereiches unvollkommener menschlicher Tugenden liegend gedacht wird, bleibt es fraglich, ob hierfür ein überzeugendes theoretisches Argument geliefert werden könnte. Kant hatte demgemäß den Umweg über Gott in einer rationalistischen Strategie zur Widerlegung des Skeptizismus im Rahmen seiner Transzendentalphilosophie ausgeschlossen. Gott kann im Rahmen des transzendentalen Idealismus aufgrund seiner prinzipiellen Unsinnlichkeit ebensowenig ein möglicher Gegenstand der Erfahrung – und somit der Erkenntnis – sein wie etwa die menschliche Seele als ein Ding an sich betrachtet: 117 Für Objekte des reinen Denkens ist ganz und gar kein Mittel, ihr Dasein zu erkennen, weil es gänzlich a priori erkannt werden müsste, unser Bewusstsein aller Existenz aber (es sei durch Wahrnehmung, unmittelbar, oder durch Schlüsse, die etwas mit der Wahrnehmung verknüpfen), gehört ganz und gar zur Einheit der Erfahrung, und eine Existenz außer diesem Felde kann zwar nicht schlechterdings für unmöglich erklärt werden, sie ist aber eine Voraussetzung, die wir durch nichts rechtfertigen können.

116 Vgl. Descartes 1641, 3. und 4. Meditation. In der 6. Meditation liefert Descartes, hierauf aufbauend, seinen Beweis vom Dasein der materiellen Dinge und von der Verschiedenheit von Körper und Geist. 117 KrV: A 601 f./B 629 f.

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Der Begriff eines höchsten Wesens ist eine in mancher Hinsicht sehr nützliche Idee; sie ist aber eben darum, weil sie bloß Idee ist, ganz unfähig, um vermittelst ihrer allein unsere Erkenntnis in Ansehung dessen, was existiert, zu erweitern. […] Es ist also an dem so berühmten ontologischen (Cartesischen) Beweise, vom Dasein eines höchsten Wesens, aus Begriffen, alle Mühe und Arbeit verloren …

Obgleich nun Frege mit Kants Auffassung bezüglich aller Gegenstände des reinen Denkens jedenfalls bis zu seiner Spätphase offensichtlich nicht übereinstimmte – da sein Projekt ja darin bestanden hatte, die Zahlen als solche Gegenstände auszuweisen und ihre Erkennbarkeit aus reinen Begriffen zu demonstrieren – teilte er offenbar Kants Ansicht bezüglich der prinzipiellen Nicht-Erkennbarkeit Gottes. An einer früheren Stelle nämlich in seiner Argumentation gegen den erkenntnistheoretischen Idealismus zieht er kurz die Möglichkeit in Erwägung, dass unsere Vorstellungen, unser ganzer Bewusstseinsinhalt zugleich »Inhalt eines umfassenderen, göttlichen Bewusstseins« ist, sodass in diesem Falle auch wir selbst Teil dieses göttlichen Bewusstseins, also nur letztlich Vorstellungen Gottes wären. 118 Diese Überlegungen überschreitet jedoch Frege zufolge »so weit die Grenzen des menschlichen Erkennens, dass es geboten ist, diese Möglichkeit außer acht zu lassen«. 119 Damit setzt sich also Frege von Descartes ab und es bleibt ihm im Rahmen einer rationalistischen, antiskeptischen Philosophie nur noch in Anlehnung an Kant die Option, den Skeptizismus durch kritische Reflektion über die die Bedingungen der Möglichkeit des menschlichen Denkens bzw. Erkennens – insbesondere des gedanklichen Bezugs auf Vorstellungen – überwinden zu versuchen. Wir können uns Frege zufolge keine Vorstellung ohne einen Träger derselben denken, der selbst wiederum keine Vorstellung sein kann. Da wir uns, wie Frege vorauszusetzen scheint, unserer Vorstellungen bewusst sind, müssen wir daher auch uns selbst als ihren Träger denken können – es gibt also wenigstens einen Gegenstand unserer Betrachtung, der keine unserer Vorstellungen ist. Frege schließt also von dem Vorhandensein von Bewusstseinsinhalten auf die Existenz von etwas, dass nicht zu den Bewusstseinsinhalten gehört und dennoch Gegenstand unseres Denkens ist oder sein kann. Dieser Durchbruch von den Vorstellungen zu ihrem Träger, den Frege für seinen 118 119

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eigenen Fall aus der Perspektive der ersten Person vollzieht, soll ihm nun in einem zweiten Schritt automatisch den Weg eröffnen, auch andere Menschen als selbständige Träger von Vorstellungen, »ähnlich mir selber« anzuerkennen. 120 Darüberhinaus meint Frege, dass das Ergebnis des ersten Schrittes – nicht alles ist Vorstellung, was Gegenstand meines Denkens sein kann – die Anerkennung von Gedanken nach sich zieht, die im Gegensatz zu Vorstellungen sowohl unabhängig vom Denker sind als auch intersubjektiv anderen Menschen fassbar. 121 Bereits der erste Schritt gibt uns aber einige Fragen auf. Insbesondere ist unklar, welche impliziten Voraussetzungen, wenn überhaupt, wir Frege hier über die Natur des Denkens zuschreiben und was wir unter der Idee des Ichs als Träger von Vorstellungen verstehen sollen. Ein Empirist z. B. könnte einwenden, dass Denken ein wesentlich sinnlicher Vorgang ist, und selbst Kant hatte ja gemeint, dass zwar nicht das Denken, aber doch das Erkennen von Gegenständen grundsätzlich der sinnlichen Anschauung bzw. des auf ihr basierenden Vermögens der Einbildungskraft bedürfe. Ein radikaler Empirist würde gar behaupten, dass Denken letztendlich nur eine komplexe Form der sinnlichen Wahrnehmung bzw. der Erinnerung an sinnliche Wahrnehmung ist. In diesem letzterem Fall aber wäre die Idee des Ichs als Träger meiner Vorstellungen eine Idee, die eigentlich sinnleer ist. Da wir beim Blick nach innen, in unser eigenes Bewusstsein, überhaupt nur Vorstellungen erleben, nicht aber ihren vermeintlichen Träger, könnten wir unter Voraussetzung einer radikal empiristischen Theorie des Denkens diesen Träger nicht einmal wirklich denken, geschweige denn seine Existenz als etwas von diesen Vorstellungen Unabhängiges und Einheitliches annehmen. Um Frege also im weiteren Verlauf seines Argumentes folgen zu können, müssen wir bereits gewisse Annahmen über die Natur des Denkens machen, und zwar insbesondere über die Art und Weise, wie wir einen Gegenstand eindeutig bestimmen, ihn als solchen zum Gegenstand unserer Betrachtung machen können. Andernfalls würde der Schluss von der Existenz von Bewusstseinsinhalten zu der eines selbständigen Bewusstseinsträgers einen Fehlschluss darstellen. Auf der anderen Seite, so zeigt sich schnell, würde jede zusätzliche Annahme über die Natur der Denkens, sofern sie nicht auf un120 121

Vgl. Ged. 358. Ebd. A

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abhängige Weise begründet ist, aus demselben Grunde eine petitio principii gegenüber dem radikalen Empiristen darstellen. Frege diskutiert dieses Problem freilich im gleichen Aufsatz an etwas späterer Stelle. Die Sinneseindrücke, so Frege hier, seien nur ein notwendiger, kein hinreichender Bestandteil des Prozesses der Sinneswahrnehmung; zu einer Wahrnehmung eines äußeren Gegenstandes aufgrund von Sinneseindrücken bedürfe es außerdem der Denkkraft, die uns durch das Fassen von Gedanken erst den Blick in eine gemeinsame, intersubjektive Außenwelt eröffnet und ohne die wir für immer in unserer Innenwelt eingeschlossen bleiben wurden: 122 Zur Sinneswahrnehmung gehört doch wohl als notwendiger Bestandteil der Sinneseindruck, und dieser ist Teil der Innenwelt. Denselben haben zwei Menschen jedenfalls nicht, wenn sie auch ähnliche Sinneseindrücke haben mögen. Diese allein eröffnen uns nicht die Außenwelt. Vielleicht gibt es ein Wesen, das nur Sinneseindrücke hat, ohne Dinge zu sehen oder zu tasten. Das Haben von Gesichtseindrücken ist noch kein Sehen von Dingen. Wie kommt es, dass ich den Baum gerade dort sehe, wo ich ihn sehe? Offenbar liegt es an den Gesichtseindrücken, die ich habe, und an der besonderen Art von solchen, die dadurch zustande kommen, daß ich mit zwei Augen sehe. Auf jeder der beiden Netzhäute entsteht, physikalisch gesprochen, ein besonderes Bild. Ein anderer sieht den Baum an derselben Stelle. Auch er hat zwei Netzhautbilder, die aber von meinen abweichen. Wir müssen annehmen, dass diese Netzhautbilder für unsere Eindrücke bestimmend sind. Demnach haben wir nicht nur nicht dieselben, sondern merklich voneinander abweichende Gesichtseindrücke. Und doch bewegen wir uns in derselben Außenwelt. Das Haben von Sinneseindrucken ist zwar nötig zum Sehen der Dinge, aber nicht hinreichend. Was noch hinzukommen muss, ist nichts Sinnliches. Und dieses ist es doch gerade, was uns die Außenwelt aufschließt; denn ohne dieses Nichtsinnliche bliebe jeder in seiner Innenwelt eingeschlossen.

Diese Aussage über die Bedingungen der Möglichkeit von Sinneswahrnehmung lässt sich nun auch auf die Denkbarkeit des eigenen Ich als Träger meiner Vorstellungen übertragen: Ohne die Fähigkeit, Gedanken zu fassen, die unseren Bewusstseinsinhalten erst einen intentionalen Gegenstandsbezug verleihen, wäre wir wohl einfach nur »Wesen, die Sinneseindrücke haben ohne zu sehen oder zu tasten« – wir könnten uns selbst als denkende Wesen somit unter dieser Bedingung nicht zum Gegenstand der Betrachtung nehmen. Freges Be122

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Ged.: 360.

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handlung des Problems der Sinneswahrnehmung entspricht, wie in der Literatur argumentiert worden ist, Kants Einsicht, dass Anschauungen ohne Begriffe blind sind, dass es also auch keine Gegenstandswahrnehmung ohne Begriffe, und d. h. ohne Urteile, in denen Begriffe miteinander verknüpft auf Anschauungen angewendet werden, geben kann. 123 Was wir jedoch bei Frege wiederum im Unterschied zu Kant vermissen, ist eine etwas tiefergehende Erklärung, warum denn Intentionalität nur durch Gedanken möglich sein soll – insbesondere aber, in welchem Verhältnis die Gedanken in einem Wahrnehmungsurteil zu den Sinneseindrücken verhalten, wie also ihr Inhalt überhaupt möglich sein soll. Denn Sinneswahrnehmungen sind für Frege letztlich wiederum nichts anderes als singuläre Urteile – bzw. deren Inhalte – über Gegenstände, die man »sehen. tasten, kurz, mit den Sinnen wahrnehmen kann, wie Bäume, Steine, Häuser«. 124 Diese Urteile werden charakteristischerweise u. a. aufgrund von Sinneseindrücken gefällt und gegebenenfalls gerechtfertigt, die unserem Bewusstsein durch die Sinnesorgane als »etwas Äußeres« zugeführt werden. Die Sinneseindrücke, die uns zu einem solchen Urteil veranlassen und es gegebenenfalls rechtfertigen helfen sollen, sind aber daher nun nicht selbst die Gegenstände der Sinneswahrnehmung; vielmehr können jene – wie alle subjektive Vorstellungen – »nicht gesehen oder getastet, weder gerochen, noch geschmeckt, noch gehört werden«. 125 Auf der anderen Seite können die Sinnesempfinden Freges Auffassung von Objektivität zufolge offenbar nicht Bestandteile (des Inhalts) von Gedanken sein. Dies geht bereits aus Freges strikter Trennung von objektiven und subjektiven Vorstellungen in den Grundlagen hervor. Er befindet hier ausdrücklich, es sei »ungereimt, dass an Unsinnlichem vorkomme, was seiner Natur nach sinnlich ist« 126 ; und auch in seinem viel späteren Aufsatz »Die Verneinung« spricht er sich sehr deutlich dafür aus, dass »wenn das Ganze keines Trägers bedarf, […] auch keiner seiner Teile eines Trägers [bedarf]« 127 .Wenn aber nun die Sinnesempfindungen weder zum Bereich der Bedeutung bzw. Wahrheitswertes eines Gedankens noch 123 124 125 126 127

Vgl. dazu auch Prauss 1976, Sluga 1980, Carl 1994. Ged.: 351. Ged.: 351. GLA: § 24. Vern.: 366. A

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auch zu seinen Bestandteilen zu rechnen sind, dann hätten sie lediglich eine kausale Beziehung zu unserem Denkvermögen und würden gar nichts zu dem Inhalt unserer Gedanken beitragen. Die Frage, wie denn dann der Inhalt eines Wahrnehmungsurteils – einschließlich eines Urteils über unsere eigenen Vorstellungen und ihren Träger – und damit sein Bezug zur Außenwelt möglich sein soll, bleibt also in diesem Zusammenhang bei Frege eigentlich unbeantwortet. Diese Frage ist aber wichtig, weil Freges Gedankeninhalte offensichtlich rein intensionale Entitäten sind, die daher nicht lediglich durch kausale Beziehungen des jeweiligen denkenden Subjekts zur sinnlichen Außenwelt entstehen können. Eine andere Schwierigkeit in Freges Argument hatte ich bereits angedeutet. Die Entdeckung, dass wir uns selbst als Träger unserer Vorstellungen als von diesen verschieden denken müssen, lässt die Natur unserer selbst noch vollkommen offen. Frege glaubt allerdings offenbar, dass der Durchbruch von den Vorstellungen zu ihrem Träger aus der Erste-Person-Perspektive automatisch die Möglichkeit eröffnet, auch andere Menschen als selbständige Träger von Vorstellungen, »ähnlich mir selber« anzuerkennen. 128 Der Ausdruck »Mensch« bezieht sich jedoch – im Gegensatz zu »Geist«, »Wesen« oder einfach »Träger« – auf einen biologischen Organismus. Insbesondere involviert wohl die Bezugnahme auf einen anderen Menschen, wenn sie gelingen soll, gewisse raumzeitliche Bestimmungen. Frege erklärt aber nicht, inwiefern und warum dies bereits bei der Bezugnahme auf das eigene Ich der Fall sein müsste. Im Gegenteil hatte er noch kurz vor Beginn seines antiskeptischen Argumentes darauf hingewiesen, dass »jeder sich selbst in einer besonderen und ursprünglichen Weise gegeben« sei, »wie er keinem anderen gegeben ist« 129 . Es ist daher nicht ohne weiteres ersichtlich, wie der Zweifler im Augenblick des großen Zweifels sich selbst in derselben Weise erkennbar sein soll, wie er anderen erkennbar ist. Kant hatte dieses Problem in seiner Widerlegung des Idealismus auf der Basis seiner Analogien der Erfahrung dadurch zu lösen versucht, dass die Bestimmung des eigenen Selbst niemals gänzlich aufgrund von innerer Anschauung möglich sein könne, sondern vielmehr etwas von ihr verschiedenes »Beharrliches« bedürfe, dessen

128 129

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Vgl. Ged.: 358. Ged.: 350.

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Wahrnehmung wiederum nur durch ein Ding außer mir möglich ist: 130 Ich bin mir meines Daseins als in der Zeit bestimmt bewusst. Alle Zeitbestimmung setzt etwas Beharrliches in der Wahrnehmung voraus. Dieses Beharrliche kann aber nicht eine Anschauung in mir sein. Denn alle Bestimmungsgründe meines Daseins, die in mir angetroffen werden können, sind Vorstellungen, und bedürfen als solche selbst ein von ihnen verschiedenes Beharrliches, worauf in Beziehung der Wechsel derselben, mithin mein Dasein in der Zeit, bestimmt werden können.

Nur durch etwas als beharrlich bzw. substantiell Gedachtes in der äußeren Erfahrung also, so Kant, könne zeitlich geordnete innere Erfahrung überhaupt möglich sein, könne es also möglich sein, sich selbst nicht nur – in seinem Sinne – zu denken, sondern auch zu erkennen, d. h. sich selbst als einen über die Zeit hinweg beständigen Träger von wechselnden Vorstellungen zu bestimmen. Es gilt nach Kant daher, dass »das bloße, aber empirisch bestimmte, Bewusstsein meines eigenen Daseins […] das Dasein der Gegenstände im Raum außer mir« beweist. 131 Kant geht hier einerseits zwar nicht soweit zu behaupten – wie Frege es versucht – dass dadurch bereits die Existenz anderer Menschen als denkender Subjekte bewiesen oder wahrscheinlich gemacht ist. Doch andererseits liefert sein Argument durchaus Gewissheit über die Existenz äußerer, materieller Erfahrungsgegenstände im allgemeinen; wenngleich Raum und Zeit selbst bei ihm eigentlich Konstrukte des menschlichen Geistes sind. Frege hingegen bekennt sich nicht zu einer solchen transzendental-logischen Beziehung zwischen der Art und Weise, wie wir uns selbst gegeben sind, und unserer Erfahrung äußerer Dinge. Zwar gibt er zu verstehen, dass wir, wenn wir anderen eine Mitteilung über uns selbst machen wollen, wir das Wort »ich« in einem Sinn gebrauchen müssen, »der auch anderen fassbar ist«, wie etwa »derjenige der in diesem Augenblick zu Euch spricht«. 132 Wenn wir also voraussetzen, dass dieses Wort »ich« sozusagen zwei parallele Sinne haben kann, von denen der eine kommunizierbar, der andere hingegen nicht kommunizierbar ist, sich dabei aber auf ein und denselben Gegenstand bezieht, so scheint das Ich als Träger von Vorstellungen Frege zufolge durchaus keine rein immaterielle Substanz zu sein, sondern 130 131 132

KrV: B 275 f. KrV: B 275. Ged.: 350. A

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vielmehr ein öffentlich identifizierbares menschliches Wesen. Nichtsdestotrotz wird bei ihm nicht deutlich, warum wir nicht uns selbst allein mit Hilfe unserer inneren Bewusstseinszustände ganz unabhängig von äußerer Erfahrung identifizieren können sollten. Hinzu kommt, dass die Art und Weise, wie wir uns ursprünglich gegeben sind, Frege zufolge anderen nicht mitteilbar ist, dass also jene privaten Ich-Gedanken, die der Zweifler hegen mag, noch keineswegs als Evidenz für die Möglichkeit intersubjektiv fassbarer Gedanken dienen können. 133 Obwohl sich also tendentiell durchaus Affinitäten zwischen Freges Erkenntnistheorie und der transzendentalphilosophischen Tradition im Deutschland seiner Zeitgenossen ausmachen lassen, bleiben Freges antiskeptische Argumente demnach durchaus lückenhaft. 2.2.4. Vernunft, Geist, und logische Erkenntnisquelle Wir haben nun in Teil I gesehen, wie Frege in den Grundlagen die menschliche Vernunft als ein allgemeinverbindliches und zugleich objektivitätsstiftendes Rationalitätsideal anzusehen schien. Außer der dort zitierten Passage finden sich in seinen Frühschriften drei weitere kurze Passagen zur Vernunft als Bedingung der Möglichkeit von Objektivität. In der ersten geht es um die Frage, wie es sein könne, dass die Zahl etwas Unsinnliches und zugleich Objektives ist; und Frege hebt hervor, dass ihre Objektivität nicht in einem Sinneseindruck liegen könne, sondern – soweit er sehe – nur in der Vernunft. 134 Die menschliche Vernunft wird hier also als Erklärungsgrund dafür angeführt, wie und warum etwas wie eine Zahl uns objektiv gegeben sein kann – Zahlen, so meint Frege auch an anderer Stelle, »werden durch das Denken erst erzeugt«. 135 Der eigentliche Gegenstand der Vernunft sei die Vernunft, so Frege, und fügt erläuternd hinzu, wir beschäftigten uns in der Arithmetik mit Gegenständen, die uns »nicht als etwas Fremdes von außen durch Vermittelung der Sinne bekannt werden, sondern die unmittelbar der Vernunft gegeben sind,

133 Freges private und öffentliche Ich-Gedanken werden ausführlicher diskutiert in Lotter 1999. 134 GLA: § 27. 135 BRL: 38.

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welche sie als ihr Eigenstes völlig durchschauen kann«. 136 Zahlen und sonstige Gegenstände sind demnach für Frege gewissermaßen spezifische, konstitutive Bestandteile oder Aspekte der Vernunft. 137 In seinem ersten Logik-Entwurf schließlich charakterisiert Frege einen beurteilbaren Inhalt als etwas »Objektives, das soll heißen, etwas, das für alle Vernunftwesen, für alle, die es zu fassen vermögen, genau dasselbe ist, wie etwa die Sonne etwas Objektives ist« 138 . Vernunft wird hier also auch als Bedingung der Möglichkeit des Fassens oder Erkennens von etwas Objektivem hingestellt – und auch dies lässt sich daraus erklären, dass sie selbst gewissermaßen objektivitätsstiftend ist. Diese Deutung bestätigt sich auch noch in Schriften um 1923, wo Frege das »Sein eines Gedankens« durch den Umstand erläutert, dass »der Gedanke als derselbe von verschiedenen Denkenden gefasst werden könne« 139 . Allerdings kann es sich bei der Fregeschen Vernunft nicht um ein subjektives Seelenvermögen in dem Sinne handeln, das seine objektivitätsstiftende Ausübung ähnlich wie bei Kant etwa das Vorhandensein von empirischen Bewusstseinsinhalten, oder generell die Existenz eines denkenden Subjekts erfordern würde. Denn der Begriff der Objektivität selbst impliziert ja bei Frege, wie wir sahen, im Unterschied zu Kant eine vollkommene Unabhängigkeit von jeglichen subjektiven, einen »Träger« voraussetzenden Faktoren. Obwohl somit Frege an manchen Stellen seines Werkes die Objektivität der Gedanken als bloße Intersubjektivität zu verstehen scheint, ist sein Objektivitätsbegriff insgesamt stärker als derjenige Kants, da er eine vollkommene Unabhängigkeit davon impliziert, dass irgendein denkendes oder des Denken fähiges Wesen tatsächlich existiert. Es ist hinzuzufügen, dass jene privaten, nicht-kommunizierbaren Ich-Gedanken, von denen Frege im Zusammenhang mit der Idee der Selbstbezugnahme spricht, durchaus nicht von anderen denkenden Wesen gefasst werden können, obwohl Frege ihnen dennoch nicht ihre Objektivität abzusprechen scheint. Auch dies würde dafür sprechen, dass Objektivität für ihn – im Gegensatz zu Kant – sich nicht einfach auf Intersubjektivität beläuft. Auf der anderen Seite spricht wohl die Evidenz auch gegen 136 137 138 139

GLA: § 105. Vgl. dazu auch Sluga 1980. Log I: 7. Vern: 365. A

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Dummetts Auffassung, dass für Frege ein Gedanke unabhängig davon wahr oder falsch ist, dass irgendjemand ihn fassen kann. 140 Denn wie wir sahen, beruhte für Frege das Sein eines Gedankens geradezu darauf, dass er von einem des Denken fähigen, d. h. vernunftbegabten Wesens – vorausgesetzt, ein solches existiert – gefasst werden könne. 141 Die Fähigkeit, Gedanken beliebiger Art zu fassen, scheint ja gerade das zu sein, was das Denken ausmacht – trivialer Weise also kann es keine Gedanken geben, die nicht prinzipiell von einem denkenden Wesen gefasst werden können. Dennoch besteht ein großer Unterschied darin, ob man die Existenz des Objektiven von aktualen denkenden Subjekten abhängig macht – wie Kant es tat – oder von möglichen, wie Frege es vorzuziehen scheint. Da bei Frege ein wahrheitsfähiger Gedanke – eine Tatsache – keinerlei subjektive Aspekte enthält, scheint sich dieses Problem bei ihm nicht aufzutun. Wie wir im folgenden jedoch noch sehen werden, kann auch Frege der Idee eines möglichen denkenden Wesens keinen vollständigen Sinn verleihen. Einige Autoren vertreten die Auffassung, Freges Begriff einer logischen Erkenntnisquelle oder angeborenen logischen Fähigkeit spiele eine dem früheren Vernunftbegriff vergleichbare Rolle in Freges späteren Schriften. 142 Dies ist möglich, obgleich wir bedenken müssen, dass die Vernunft nicht nur logischen Inhalten und Gegenständen, sondern auch sämtlichen anderen objektiven Dingen zugrundeliegen soll. Sie liegt z. B. offenbar auch den Gegenständen und Gesetzen der Geometrie zugrunde, insofern diese ebenbso Objektivität für sich beanspruchen können wie die Logik. Frege schreibt hierzu: 143 Der Raum gehört nach Kant den Erscheinungen an. Es wäre möglich, daß er andern Vernunftwesen sich ganz anders als uns darstellte. Ja, wir können nicht einmal wissen, ob er dem einen Menschen so wie dem andern erscheint; denn wir können die Raumanschauung des einen nicht neben die des andern legen, um sie zu vergleichen. Aber dennoch ist darin etwas Objektives enthalten; alle erkennen dieselben geometrischen Axiome, wenn auch nur durch die Tat, an und müssen es, um sich in der Welt zurechtzufinden. Objektiv ist darin das Gesetzmäßige, Begriffliche, Beurteilbare, was sich in Worten ausVgl. Dummett 1981a: 38. Weiner 1995 greift u. a. auf diesen Punkt zurück, um – gegen Burge – den Kantischen, antirealistischen Charakter des Fregeschen Objektivitätsbegriffs zu verteidigen. 142 Vgl. Kleemeier 1997: 146 f. 143 GLA: § 26. 140 141

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drücken lässt. Das rein Anschauliche ist nicht mitteilbar. Nehmen wir zur Verdeutlichung zwei Vernunftwesen an, denen nur die projektivischen Eigenschaften und Beziehungen anschaulich sind: das Liegen von drei Punkten in einer Gerade, von vier Punkten in einer Ebene usw.; es möge demeinen das als Ebene erscheinen, was das andere als Punkt anschaut und umgekehrt. Was dem einen die Verbindungslinie von Punkten ist, möge dem anderen die Schnittkante von Ebenen sein usw., immer dualistisch entsprechend. Dann könnten sie sich sehr wohl mit einander verständigen und würden die Verschiedenheit ihres Anschauens nie gewahr werden, weil in der projektivischen Geometrie jedem Lehrsatze ein anderer dualistisch gegenübersteht; denn das Abweichen in einer ästhetischen Wertschätzung würde kein sicheres Zeichen sein. In bezug auf alle geometrischen Lehrsätze wären sie völlig im Einklange; sie würden sich nur die Wörter in ihre Anschauung verschieden übersetzen. Mit dem Worte »Punkt« verbände etwa das eine diese, das andere jene Anschauung. So kann man immerhin sagen, daß ihnen das Wort etwas Objektives bedeute; nur darf man unter dieser Bedeutung nicht das Besondere ihrer Anschauung verstehen.

Frege weist hier darauf hin, dass in der Raumanschauung selbst etwas Objektives enthalten sei, welches daher für alle Vernunftwesen dasselbe sein müsse. Unter dem Objektiven versteht er hier generell das Begriffliche, Gesetzmäßige, Beurteilbare überhaupt – dies aber umfasst im Falle der Geometrie freilich nicht nur Logisches und Arithmetisches. Da auch Freges Wahrheitsbegriff sowie der Begriff des beurteilbaren Inhaltes generell in den Bereich des Objektiven fallen, ist es daher naheliegend, dass die Vernunft in seinem Sinne nicht nur die logische, sondern auch die geometrische und zeitliche Erkenntnisquelle umfasst. Damit hätte Frege dann allerdings die Kantische Unterscheidung zwischen reiner Anschauung einerseits und Kategorien andererseits, bzw. zwischen reiner Sinnlichkeit und Verstand, im Hinblick auf die Möglichkeit von Objektivität und Apriorität von Erkenntnis fallengelassen. Auf der anderen Seite hätten wir hier im erweiterten Begriff der Vernunft ein Indiz dafür, dass Frege die nicht-empirischen Erkenntnisquellen generell nicht nur als Erkenntnisvermögen, sondern gewissermaßen auch als Wahrmacher apriorischer Wahrheiten erachtete, insofern sie erst die objektiven Gesetzmäßigkeiten stiften, die in der Logik und Mathematik beschrieben werden. Autoren, die der Annahme einer transzendentalphilosophischen Grundlage des Fregeschen Ansatzes von vornherein eher verhalten oder gar skeptisch gegenüberstehen, haben zuweilen darauf hingewiesen, daß der Vernunftbegriff nach den Grundlagen in Freges A

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Schriften gar keine Rolle mehr spiele. 144 Dies ist m. E. nicht korrekt. Zwar stimmt es, dass Frege den Ausdruck »Vernunft« nach den Grundlagen nur noch selten verwendet; dennoch wird er nicht ganz fallengelassen, denn Frege verwendet ihn noch im Kontext seiner Formalismus-Kritik in Bd. 2 der Grundgesetze, wo er verlangt, dass die Zeichenregeln der Arithmetik »im Namen der Vernunft oder der Natur« aufgestellt werden müssten. 145 Abgesehen davon scheint der Vernunftbegriff auch in Bd. 1 der Grundgesetze eine wenigstens implizite Rolle in Freges Überlegungen zur Begründung der logischen Gesetze zu spielen. Frege bezeichnet die logischen Gesetze, als Gesetze des Wahrseins, hier auch als »Grenzsteine in einem ewigen Grunde befestigt« – und hierin genau sieht er den Grund ihrer Normativität, ihre erkenntnistheoretische Rechtfertigung: 146 Wenn so das Wahrsein unabhängig davon ist, daß es von irgendeinem anerkannt wird, so sind auch die Gesetze des Wahrseins nicht psychologische Gesetze, sondern Grenzsteine in einem ewigen Grunde befestigt, von unserem Denken überflutbar zwar, doch nicht verrückbar. Und weil sie das sind, sind sie für unser Denken maßgebend, wenn es die Wahrheit erreichen will.

Wenngleich Frege hier den Ausdruck »Vernunft« nicht verwendet, scheint er implizit bei dieser Charakterisierung der logischen Gesetze, mit Hilfe der Metapher eines »ewigen Grundes« von der Idee eines ewigen Rationalitätsstandards Gebrauch zu machen,. Denn was sollte sonst jener »ewige Grund« sein, von dem Frege oben spricht? Darauf, dass es sich um ein Ideal oder Prinzip von Rationalität überhaupt handeln muss, ohne welches rationales Denken überhaupt nicht möglich wäre, deuten auch die Überlegungen hin, die Frege in der im selben Text enthaltenen, in der Literatur viel diskutierten Passage anstellt, in der er eine mögliche Begründung der logischen Grundgesetze von einem außerlogischen Standpunkt aus zunächst in Erwägung zieht, sich aber dann scheinbar nicht wirklich auf sie festlegen will: 147 Die Frage […], warum und mit welchem Rechte wir ein logisches Gesetz als wahr anerkennen, kann die Logik nur dadurch beantworten, dass sie es auf andere logische Gesetze zurückführt. Wo das nicht möglich ist, muss sie die Antwort schuldig bleiben. Aus der Logik heraustretend kann man sagen: wir 144 145 146 147

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Vgl. etwa Kleemeier 1997: 146 f. Siehe dazu im folgenden ausführlicher 2.2.2. [GGA I: xvi.] GGA I: xvii.

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Frege und der transzendentale Idealismus

sind durch unsere Natur und die äussern Umstände zum Urtheilen genötigt, und wenn wir urtheilen, können wir dieses Gesetz – der Identität z. B. – nicht verwerfen, wir müssen es anerkennen, wenn wir nicht unser Denken in Verwirrung bringen und zuletzt auf jedes Urtheil verzichten wollen. Ich will diese Meinung weder bestreiten noch bestätigen und nur bemerken, dass wir hier keine logische Folgerung haben. Nicht ein Grund des Wahrseins wird angegeben, sondern des Fürwahrhaltens. Und ferner: diese Unmöglichkeit, die für uns besteht, das Gesetz zu verwerfen, hindert uns zwar nicht, Wesen anzunehmen, die es verwerfen: aber sie hindert uns, anzunehmen, dass jene Wesen darin Recht, haben: sie hindert uns auch, daran zu zweifeln, ob wir oder jene Recht haben. Wenigstens gilt das von mir. Wenn Andere es wagen, in einem Athem ein Gesetz anzuerkennen und es zu bezweifeln, so erscheint mir das als ein Versuch, aus der eigenen Haut zu fahren, vor dem ich nur dringend warnen kann. Wer einmal ein Gesetz des Wahrseins anerkannt hat, der hat damit auch ein Gesetz anerkannt, das vorschreibt, wie geurtheilt werden soll, wo immer, wann immer und von wem immer geurtheilt werden mag.

Wir sehen hier, dass Frege die Normativität etwa des Gesetzes der Identität nicht empirisch begründet – etwa durch Evidenz dafür, dass alle oder die meisten Menschen tatsächlich in Einklang mit ihm denken – sondern vielmehr dadurch, dass es uns unmöglich wäre, rational zu denken und zu urteilen, wenn wir das Gesetz verwerfen würden. Wir könnten zwar in einem solchen Falle noch immer eine Art »naturwüchsiges Denken« ausüben, das aber dann nicht in systematischer Weise zur Wahrheit führen würde. Frege verwendet hier an solchen Stellen Argumente, die zeigen sollen, dass Erkenntnis und selbst klares Denken unmöglich wären, wenn wir nicht bestimmte Gesetze oder Begriffe der Logik voraussetzen. Ansätze zu einer solchen Argumentationsweise finden wir auch bereits in der Begriffsschrift, wo er die rein logische Beweisführung als »die festeste« auszeichnete, da sie sich auf eine besondere Art von Gesetzen gründe – nämlich solchen, die »von der besonderen Beschaffenheit der Dinge absehend, sich allein auf die Gesetze gründet, auf denen alle Erkenntnis beruht«. 148 Es geht auch aus seinen späteren Schriften hervor, dass er zumindest die Idee einer Vernunft, die vom individuellen Denker unabhängig und zugleich gewissermaßen Bedingung der Möglichkeit rationalen Denkens überhaupt ist, wohl nie aufgegeben hat. In »Der Gedanke« von 1918 verwendet er den Ausdruck »Geist«, der etwas 148

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bezeichnen soll, welches zu erforschen man als die Aufgabe der Logik und der Mathematik hinstellen könne. 149 Auch hier wieder beeilt er sich jedoch, nicht in einen empirischen Psychologismus zu fallen; weder die Logik noch die Mathematik, so Frege, hätten als Aufgabe, die Seelen und den Bewußtseinsinhalt zu erforschen, dessen Träger der einzelne Mensch ist. Nicht zufällig verwendete er hierbei auch den Ausdruck »Geist« in zwei Bedeutungen. »Geist« wird einmal im Singular und einmal im Plural gebraucht; wobei die Aufgabe von Logik und Mathematik auf den »Geist« im Singular bezogen wird: Die Erforschung des Geistes, nicht der Geister, könne man als die Aufgabe von Logik und Mathematik ansehen. In den Grundlagen hatte er, wie wir sahen, analog im Zusammenhang mit den Gegenständen der Arithmetik von der Vernunft als dem eigentlichen Gegenstand der Vernunft gesprochen. »Geist« im Singular meint demnach offenbar die objektiven, nicht-empirischen und dabei notwendigen Faktoren menschlichen Denkens und menschlicher Erkenntnis und würde somit an die Stelle des früheren Ausdrucks »Vernunft« treten. »Geist« im Plural hingegen bezeichnet wohl die Bewusstseinsinhalte der einzelnen denkenden oder erkennenden Subjekte, in denen sich der Geist im Singular als ihnen gemeinsames rationales Erkenntnisvermögen instantiiert und die Frege daher in seinen früheren Schriften auch als »Vernunftwesen« bezeichnet. 150 Diese individuellen Geister oder Vernunftwesen unterscheiden sich wiederum u. a. dadurch voneinander, dass sie außerdem ein individuelles Bewusstsein haben, welches die subjektiven, psychologischen Faktoren und Inhalte des Denkens und Erkennens umfasst – all das nämlich, was Frege auch an anderer als Stelle als »Teil oder Modus der Einzelseele« bezeichnet. 151 Wenn nun Frege der Logik und der Mathematik die Aufgabe zuschreibt, den Geist, nicht aber die Geister zu erforschen, dann meint er damit, dass sie nicht diejenigen Faktoren des menschlichen Denkens und Erkennens erforschen soll, hinsichtlich derer sich die Vernunftwesen voneinander unterscheiden, nicht also die subjektiven Inhalte des Bewusstseins selbst, sondern vielmehr diejenigen, hinsichtlich derer sie sich nicht voneinander unterscheiden – d. h. hinsichtlich der in der Natur des

149 150 151

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Siehe Ged: 359. Vgl. GLA: § 77, EMN: 288. Siehe SB: 146.

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rationalen Denkens selbst begründeten Bedingungen der Möglichkeit objektiver Erkenntnisinhalte und –gegenstände überhaupt. Ein Problem ergibt sich freilich hier, das Frege zugibt, nicht lösen zu können, wenngleich er es als genuin philosophisches Problem anerkennt. Frege bleibt nämlich eine Erklärung schuldig, wie denn der durch die menschliche Vernunft oder den Geist geleitete Vorgang des Gedankenfassens überhaupt vonstatten gehen soll, wie also die Interaktion zwischen objektivem und subjektivem Geist eigentlich gelingen kann. In seinem zweiten Logik-Entwurf bezeichnet er den Vorgang des Denkens – als »vielleicht […] den geheimnisvollsten von allen« – als einen Vorgang, der, weil er einen nicht-psychologischen Gedankeninhalt involviere, »bereits an der Grenze des Seelischen« liege und deshalb »vom rein psychologischen Standpunkt aus nicht vollkommen wird verstanden werden können«. 152 1918 postuliert er eine Art objektives Seelenvermögen, die »Denkkraft«, mit dessen Hilfe er die Möglichkeit zu erklären sucht, wie mehrere Menschen ein und denselben objektiven Gedanken fassen können: 153 Wir haben einen Gedanken nicht, wie wir etwa einen Sinneseindruck haben; wir sehen aber auch einen Gedanken nicht, wie wir etwa einen Stern sehen. Darum ist es anzuraten, hier einen besonderen Ausdruck zu wählen, uns als solcher bietet sich uns das Wort »fassen« dar. Dem Fassen der Gedanken muss ein besonderes geistiges Vermögen, die Denkkraft entsprechen. Beim Denken erzeugen wir nicht die Gedanken, sondern wir fassen sie. Denn das, was ich Gedanken genannt habe, steht ja im engsten Zusammenhange mit der Wahrheit.

Frege begibt sich an solchen Stellen nach eigener Einschätzung aus dem Gebiet der Logik hinaus; er begibt sich in ein philosophisches Gebiet, für das er die Logik nicht mehr zuständig hält, das aber gleichzeitig auch nicht durch die empirische Psychologie vollständig erforscht werden könne. 154 An solchen Problemen wie dem, wie das Denken objektiver Denkinhalte durch den subjektiven Geist des Individuums überhaupt möglich ist – eine Frage, mit der sich seinerzeit die Transzendentalphilosophie und die Phänomenologie beschäftigte – stößt Frege an die Grenzen seiner philosophischen Kompetenz. Und Log II: 157. Ged: 358 f. 154 Vgl. Log II, 157: »Aber eben weil er [der Vorgang des Denkens] seelischer Art ist, braucht sich die Logik darum nicht zu kümmern. Uns genügt, dass wir Gedanken fassen und als wahr erkennen können; wie das zugeht, ist eine Frage für sich.« 152 153

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es scheint, dass zumindest solange es einem Fregeaner nicht gelingt, eine angemessene Antwort auf diese Frage zu finden, auch die Idee eines möglichen denkenden Subjekts, und damit die vorhin vorgeschlagene verbesserte Definition von Objektivität als rationaler Denkbarkeit auch bei ihm unvollständig bleibt. 155 Von einem ideengeschichtlichen Standpunkt aus ist es jedoch in jedem Fall interessant, dass und wie Frege überhaupt Stellung bezieht hinsichtlich der Frage, welcher Art das Problem der Möglichkeit des Denkens ist: Er insistiert geradezu, dass es kein rein psychologisches noch auch so etwas wie ein neurophysiologisches Problem sein könne – genau deshalb, weil Denken selbst eben kein rein materieller oder psychologischer Vorgang sei. Frege scheint hier demnach offensichtlich für die Berechtigung einer philosophischen Theorie des Denkens einzutreten. 2.2.5. Der Begriff der Erkenntnistheorie Diese Überlegungen geben nun auch weiteren Aufschluss über die erkenntnistheoretische Grundlage von Freges Logik. Frege charakterisiert die Logik sowohl als eine Theorie des Wahrseins als auch des richtigen Schließens; diese letztere Bedeutung von »Logik« finden wir bei ihm erstmals um die Zeit der Grundlagen herum, sie erhält sich aber auch in sämtlichen seiner späteren Schriften: 156 Die Gründe nun, welche die Anerkennung einer Wahrheit rechtfertigen, liegen oft in anderen schon anerkannten Wahrheiten. […] Die Logik hat es nur mit solchen Gründen des Urteilens zu tun, welche Wahrheiten sind. Urteilen, indem man sich anderer Wahrheiten als Rechtfertigungsgründen bewusst ist, heißt schließen. Es gibt Gesetze über diese Art der Rechtfertigung, und diese Gesetze des richtigen Schliessens aufzustellen, ist das Ziel der Logik.

Beim richtigen Schließen also, dessen Gesetze aufzustellen der Logik als Aufgabe zufällt, handelt es sich um eine bestimmte Art der Rechtfertigung einer Wahrheit; eine Rechtfertigung, die sich stets auf eine andere Wahrheit als Rechtfertigungsgrund stützen muss. Für den Urteilenden besteht der Prozess der Rechtfertigung des Urteils dem155 Es bleibt hier somit offen, wie Frege ein mögliches denkendes Subjekt definieren würde. Denn solange nicht geklärt ist, unter welchen Bedingungen ein Subjekt in der Lage ist, Gedanken zu fassen, bleibt eine jede solche Definition unvollständig. 156 Log I: 3.

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gemäß darin, dass dieser sich anderer Wahrheiten als rechtfertigender Gründe bewusst ist. Schließen heisst dabei für Frege nicht einfach nur formal Ableiten bzw. Folgern in dem Sinne, dass wenn die Prämissen wahr sind auch die Konklusion wahr sein muss. Vielmehr insistiert Frege spätestens ab seiner mittleren Phase ausdrücklich auf einem Unterschied zwischen Schließern und Folgern – einem Unterschied, der sich auf sein Verständnis von korrekter Urteilsfällung gründet. In Urteilen, so hatten wir gesehen, kommt nach Frege die Anerkennung der Wahrheit eines beurteilbaren Inhalts oder Gedankens zum Ausdruck. Ein Schluss nun muss sich nicht nur auf korrekte Folgerungsregeln stützen, sondern auch auf eine im Sinne der Fregeschen Logik korrekte Verwendung des Urteilszeichens bzw. seines pragmatischen Äquivalents, der sogenannten »behauptenden Kraft«. In einer Behauptung wird nun die Wahrheit ihres Inhaltes behauptet. Nur wenn demnach die Prämissen tatsächlich als wahr anerkannt sind, sollten sie in korrekten logischen Schlüssen auftreten können. Dies bedeutet, dass ein bloße Annahme als Prämisse nicht zugelassen ist, bzw. dass ein Schluss, der eine solche Annahme enthält – wie etwa ein indirekter Beweis – nur ein Pseudo-Schluss ist. 157 Frege definiert: »Ein Schluss […] ist eine Urteilsfällung, die auf Grund schon früher gefällter Urteile nach logischen Gesetzen vollzogen wird. Jede der Prämissen ist ein bestimmter als wahr anerkannter Gedanke, und im Schlußurteil wird gleichfalls ein bestimmter Gedanke als wahr anerkannt.« 158 Es scheint nun gleichzeitig aber auch, dass Freges Schlussregeln – sofern sie korrekt verwendet werden – nicht lediglich das Fürwahrhalten der Prämissen erfordern, sondern ihr tatsächliches Wahrsein. 159 Denn für Frege besteht ja der ideale Zweck eines Schlusses darin, die Wahrheit der Konklusion zu beweisen. Die Aufstellung der Schlussregeln ist dabei durch den allgemeinen Gedanken geleitet, dass – wie Frege es später formuliert – »aus Formeln, die wahre Gedanken ausdrücken, immer nur solche Formeln abgeleitet werden könnten, welche ebenfalls wahre Gedanken ausdrücken«. 160 Einen Vgl. Freges Brief an Dingler vom 31. 1. 1917, WB: 30. Bemerkungen für Jourdain (1910), WB: 118. 159 Ich stimme hier mit Currie l987 überein. Andere Autoren, wie etwa Stoothoff 1963, sind der Ansicht, nach Frege bräuchten die Prämissen nur für wahr gehalten werden, müssten aber nicht selbst wahr sein. 160 GGA II: § 91. 157 158

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korrekten Schluss, der falsche Prämissen enthält, kann es daher im Rahmen seiner Logik ebensowenig geben wie einen Schluss, der eine Scheinbehauptung enthält – es würde sich hierbei um einen »Pseudoschluss« handeln; dahingegen kann man aus falschen Prämissen durchaus korrekte Folgerungen ableiten: 161 Andererseits kann man nur aus wahren Prämissen etwas schließen. […] Nehmen wir an, wir haben willkürlich die Sätze gebildet »2h1« und »Wenn etwas kleiner als l ist, dann so ist es grösser als 2«, ohne zu wissen, dass diese Sätze wahr seien. Rein formal könnten wir daraus ableiten »2h2«: aber das wäre kein Schluss, weil die Wahrheit der Praemissen fehlt. Und die Wahrheit des Schlusses, wäre durch den Pseudoschluss nicht besser begründet als ohne ihn. Und dies Verfahren hätte keinen Zweck für die Erkenntnis irgendeiner Wahrheit.

Das Folgern oder formale Ableiten ist also dadurch vom Schließen zu unterscheiden, als letzteres auf die Rechtfertigung von Urteilen abzielt, während ersteres nur auf die logischen Verhältnisse zwischen beurteilbaren Inhalten oder den ihnen entsprechenden Sätzen sein Augenmerk lenkt. Schlüsse lassen sich also anhand der Unterscheidung zwischen Urteil und Inhalt als Beziehungen zwischen Urteilen, Folgerungen hingegen als Beziehungen zwischen beurteilbaren Inhalten bzw. Gedanken (oder Sätzen) charakterisieren. Das Verhältnis von Folgerung und Schluß bei Frege ist dann derart, daß für jeden richtigen Schluß eine korrekte Folgerung, aber nicht für jede richtige Folgerung ein korrekter Schluss existiert. Insofern setzen freilich die Regeln des korrekten Schließens die des korrekten Folgerns voraus – die Logik hat somit auch die Aufgabe, diejenigen Gesetze aufzustellen, »nach denen ein Urtheil durch andere gerechtfertigt ist, einerlei, ob jene selbst wahr sind«, 162 erschöpft sich jedoch nicht darin, da sie außerdem offenbar die zusätzlichen allgemeinen Regeln aufzustellen hat, anhand derer zwischen einer korrekten Folgerung und einem korrekten Schluss unterschieden werden kann. Die Idee der Logik als Theorie der idealen Rechtfertigung wird noch heute als Charakteristikum rationalistischer Konzeptionen von 161 Brief an Dingler vom 31. 1. 1917, WB: 30. Vgl. auch GLG II, 303 f.: »Aus falschen Prämissen kann überhaupt nichts geschlossen werden«, und Bemerkungen für Jourdain, WB, 118: »Zwar kann ich, ohne die Wahrheit von A anerkannt zu haben, untersuchen, welche Folgerungen sich aus der Annahme, A sei wahr, ergeben: aber das Ergebnis wird dann die Bedingung wenn A wahr ist enthalten. Damit ist aber gesagt, dass A keine Praemisse ist: denn die wahren Praemissen kommen im Schlussurtheile nicht vor.« 162 KL: 190.

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Logik angesehen. 163 Pseudoschlüsse im Sinne Freges sind bei ihm genau deshalb als logisch inkorrekt ausgezeichnet, weil »dies Verfahren […] keinen Zweck für die Erkenntnis irgendeiner Wahrheit« hätte. 164 Denn ein Beweis könne »die Wahrheit eines Urtheils nur insoweit verbürgen, als die Urtheile wahr sind, auf die man zur Rechtfertigung zurückgeht«. 165 Die Frage nach der Wahrheit eines Gedankens aber stellte für Frege grundsätzlich eine »erkenntnistheoretische Frage« 166 dar, und insofern die Logik Gesetze darüber aufstellt, wie diese Frage im Prinzip zumindest für solche Erkenntnisse beantwortet werden kann, deren Grund eine Wahrheit ist, übernimmt sie erkenntnistheoretische Aufgaben in genau diesem Sinne. Dasselbe würde demgemäß für die Arithmetik gelten, insofern diese nur eine »weiter ausgebildete Logik« ist: 167 Demnach würde […] jeder arithmetische Satz ein logisches Gesetz, jedoch ein abgeleitetes sein. Die Anwendungen der Arithmetik zur Naturerklärung wären logische Bearbeitungen von beobachteten Tatsachen; Rechnen wäre Schlußfolgern. Die Zahlgesetze werden nicht […] eine praktische Bewährung nötig haben, um in der Außenwelt anwendbar zu sein […].

Da nun Frege das System der Logik und Arithmetik selbst wiederum als eine Menge von Wahrheiten auffasst, bedeutet dies, dass auch das logizistische Projekt der Zurückführung der letzteren auf die erstere für ihn im Wesentlichen ein erkenntnistheoretisches Projekt darstellt. Freges Logizismus-These besagt ja im Wesentlichen, dass die arithmetischen Urteile zu denjenigen gehören, die rein logisch bewiesen werden können; und dies bedeutet für Frege, dass die ersten Prämissen jedes Beweis in Logik und Arithmetik logische Axiome sein müssen. Wie wir in Teil I sahen, wird in der heutigen Frege-Rezeption jedoch gerade im Hinblick auf Freges Abgrenzung von Logik und Erkenntnistheorie noch immer argumentiert, dass »das Ziel, die arithmetischen Wahrheiten durch ihre Ableitung aus logischen Urgesetzen und Definitionen allein als analytisch zu erweisen, […] Sache des Logikers, […] nicht des Erkenntnistheoretikers« sei. 168 Wenn Vgl. dazu Wagner 1987: 6. Siehe oben der Brief an Dingler, WB: 30. 165 KL: 190. 166 Vgl. GGA II: § 137, Anm. 2. Diese Bemerkung findet sich im Kontext von Freges Kritik an Helmholtz’ empirisch-psychologischer Begründung der Arithmetik. 167 GLA: § 87. 168 Schirn 1987, 92. 163 164

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unter »Ableitung« hier nun lediglich die rein technische Seite des Beweises gemeint ist, dann mag es zutreffen, dass diese Aufgabe in den Bereich der Logik fällt, doch ist dies – wie wir gesehen haben – nicht das einzige Ziel von Freges Logizismus; es geht Frege letztlich um einen Beweis in seinem Sinne, und ein solcher hat ein erkenntnistheoretisches, kein rein technisches Ziel. Und selbst, wenn Freges Auffassung von den Aufgaben der Logik sich tatsächlich auf das rein technische beschränkt hätte, dann müssten wir zugestehen, dass er sich offensichtlich de facto nicht nur als Logiker, sondern auch als Erkenntnistheoretiker betätigte. Bereits aus Freges Begriffsschrift geht hervor, dass offenbar erkenntnistheoretische Zielsetzungen und Voraussetzungen diesem Projekt zugrundeliegen, nämlich die Frage nach der Begründung der arithmetischen Wahrheiten im Gegensatz zur psychologischen Genese ihrer Anerkennung durch uns. 169 Begründungsfragen gehören aber nach traditioneller Auffassung in den Bereich der Erkenntnistheorie. Erkennt man nun einen über das Schließen selbst hinausgehenden Rechtfertigungsbedarf nicht an, so fällt die Logik einfach mit der Erkenntnistheorie zusammen. Dies ist wohl in der Mehrzahl der analytischen Wissenschaftstheorien des 20sten Jahrhunderts so gewesen. So spricht auch Popper allgemein von einer Erkenntnis- oder »Forschungslogik«, die im Unterschied zur Erkenntnispsychologie »nur an logischen Zusammenhängen« interessiert sei – an Fragen »von der Art, ob und wie ein Satz begründet werden kann; ob er nachprüfbar ist; ob er von gewissen anderen Sätzen abhängt oder mit ihnen im Widerspruch steht usw.«. 170 Wolfgang Stegmüller spricht noch 1973 von der zunehmenden Tendenz der Wissenschaftstheorie, sich als bloße angewandte Logik zu verstehen. 171 Autoren hingegen, die eher der Kantischen Tradition zugeneigt sind – wie etwa Gerold Prauss – haben Frege hingegen als »Überwinder solcher Wissenschaftstheorie« in Anspruch genommen, die die philosophische Erkenntnistheorie zu liquidieren suche, »indem sie angeblich Stück für Stück sich selbst an ihre Stelle setzt, oder indem sie, soweit ihr dies nicht gelingen will, Erkenntnistheorie an die empirischen Wissenschaften ausliefert«. 172 169 170 171 172

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BS: ix f. Popper 1989: 6. Stegmüller 1973: 7. Prauss 1976: 60 f.

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Wir sahen, dass es für Frege offenbar eine wichtige Frage war, worauf die Berechtigung der logischen Urgesetze selbst beruht. Die logische Erkenntnisquelle soll im Unterschied zu den anderen »fast überall beteiligt« 173 sein, d. h. nicht nur in Logik und Mathematik, sondern in allen Wissenschaften, in denen es um eine deduktive Rechtfertigung von Wahrheiten aufgrund anderer Wahrheiten und um die klare Erkenntnis von Begriffen und Gegenständen geht. Die logische Erkenntnisquelle wird also als Bedingung der Möglichkeit des Schließens überhaupt, d. h. der Anwendung der logischen Schlussgesetze angenommen. Genaugenommen könnte man also sagen, dass jede Schlusskette, die als solche einen logischen Beweis ihrer Konklusion darstellt, im Ganzen zusätzlich unmittelbar durch die logische Erkenntnisquelle gerechtfertigt sein muss. Wie Natorp uns belehrt 174 , würden wir entweder in einen unendlichen Regress oder einen Zirkel geraten, wollten wir versuchen die Wahrheit der logischen Axiome allein auf deduktive Art zu begründen. Frege war sich genau dieses Problems selbst bewusst; er erwähnt es ausdrücklich in seinem ersten Logik-Entwurf, der in die Zeit der Grundlagen fällt, sowie im Vorwort zu seinen Grundgesetzen in einer Passage, die ich vorhin bereits zitiert habe: 175 Die logischen Gesetze sind selber Wahrheiten, und es erhebt sich hier wieder die Frage nach der Berechtigung des Urteils. Wenn diese nicht auf Wahrheiten beruht, so braucht sich die Logik nicht weiter darum zu kümmern. Wenn dagegen ein logisches Gesetz durch Schlüsse auf andere zurückführbar ist, so ist es offenbar Aufgabe der Logik, diese Zurückführung auszuführen. Die Frage […], warum und mit welchem Rechte wir ein logisches Gesetz als wahr anerkennen, kann die Logik nur dadurch beantworten, dass sie es auf andere logische Gesetze zurückführt. Wo das nicht möglich ist, muss sie die Antwort schuldig bleiben.

Die entscheidende Frage ist also hier, woher denn die Gesetze und Schlussregeln der Logik selbst – sofern sie einen Wahrheitsanspruch erheben – ihre Berechtigung finden sollen. Diese Frage nun kann die Logik Frege zufolge nur dann beantworten, wenn diese Berechtigung wiederum auf einer Wahrheit beruht, das betreffende Urteil also beweisbar ist. Wir begegnen hier also wiederum einem philosophischen 173 174 175

NVG: 299. Vgl. Natorp I, § 3, 8. Log I: 6; GGA I: xvi. A

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Problem, dass sich für einen zentralen Begriff innerhalb von Freges Logik auftut – nämlich für den des korrekten Schlusses bzw. Beweises –, das ihm aber gleichzeitig mit den Mitteln der Logik allein prinzipiell nicht lösbar scheint. Zugleich lautet eine der Forderungen, die Frege an korrekte Beweise stellt, dass sie die Wahrheit des zu beweisenden Satzes »über alle Zweifel« erheben sollten. Dies ist aber nur möglich, wenn die Wahrheit der Axiome oder ersten Prämissen des Beweises selbst wiederum auf irgendeine Weise garantiert werden kann. Ist dies nicht der Fall, so kann auch die Wahrheit jedes einzelnen abgeleiteten Satzes – selbst bei noch so formal korrekt durchgeführtem Pseudo-Beweis – nicht garantiert werden. Darüberhinaus zählten für Frege auch die Schlussgesetze der Logik gewissermaßen zu den Axiomen, insofern sie nicht lediglich – im Sinne des Formalismus – rein syntaktische, mechanische Umformungsregeln, sondern vielmehr wahre Gedanken ausdrücken sollten im Einklang mit der generellen Idee, dass aus Wahrem immer nur Wahres gefolgert werden könne. 176 Das Problem der Berechtigung der logischen Axiome selbst stellte sich Frege demnach auf der Basis seiner eigenen erkenntnistheoretischen Anforderungen an die Logik mit besonderer Dringlichkeit – obwohl es ein Problem ist, für dessen Lösung er die Logik im engeren Sinne nicht mehr zuständig hielt. In dieser Hinsicht gleicht es dem Problem, wie wir objektive Gedanken – als unmittelbare Sinngehalte der Logik, und Wahrheitsträger – durch unser subjektives Bewusstsein überhaupt fassen können. Wie Frege erkennt, ist die Logik als Theorie des Schließens in seinem Sinne vom erkenntnistheoretischen Standpunkt aus offenbar nicht vollständig in bezug auf ihre eigenen Grundlagen: Es ist unmöglich, durch Schließen allein zu entscheiden, ob ein gegebener Schluss den Anforderungen richtigen Schließens entspricht, und dies betrifft selbst Schlüsse, die ausschließlich logische bzw. arithmetische Wahrheiten als Prämissen und Konklusionen haben. Im Sinne Freges müsste nun ein logisches Axiom idealerweise »ein Gedanke« sein, »dessen Wahrheit feststeht, ohne jedoch durch eine logische Schlußkette bewiesen werden zu können«. 177 Die beiden Fragen, die sich hier vom erkenntnistheoretischen Standpunkt aus stellen, sind: (1) Wie kann die Wahrheit der Axiome selbst, von

176 177

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Vgl. GGA II: § 104. GLG I: 262.

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der die Wahrheit sämtlicher ihrer Folgerungen abhängt, festgestellt werden?, und (2) Worauf beruht sie? Freges geht offenbar die erste Frage in seinem ersten Logik-Entwurf folgendermaßen an: »Wenn […] überhaupt Wahrheiten von uns erkannt werden, so kann dies [logisches Schließen; D. L.] nicht die einzige Art der Rechtfertigung sein. Es muss Urteile geben, deren Rechtfertigung auf etwas anderem beruht, wenn sie überhaupt einer solchen bedürfen.« 178 Für Frege reicht die Logik, obwohl sie eine Theorie der Rechtfertigung ist, demnach nicht hin, um uns vollständige Erkenntnis von Wahrheiten zu liefern. Es bedarf hierfür zusätzlich einer zweiten, zusätzlichen Art von Rechtfertigung, die sich von der ersteren dadurch unterscheidet, dass die rechtfertigenden Gründe hier keine Wahrheiten sind. Urteile, die unmittelbar durch diese Art Gründe gerechtfertigt sind, können demnach offenbar auch nicht vollständig durch andere Wahrheiten gerechtfertigt werden – falls sie, wie er sagt, einer solchen überhaupt bedürfen. Wie wir anhand der obigen Passagen sehen, scheint Frege die Idee einer erkenntnistheoretischen Rechtfertigung gewissermaßen als transzendentale Erörterung im Sinne Kants ins Spiel zu bringen, d. h. als Angabe einer Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt. Denn wenn Frege schreibt »Es muss Urteile geben, deren Rechtfertigung auf etwas anderem beruht«, »wenn […] überhaupt Wahrheiten von uns erkannt werden«, dann ist das »muss« wohl in diesem Sinne zu verstehen. Frege sagt nun nicht, dass die Rechtfertigung jedes Urteils auf etwas anderem beruhen müsse; es ist aber naheliegend in Anbetracht seiner Konzeption des Schlusses, dass er dabei die jeweils letzten Prämissen im Sinn hatte. Damit also die Wahrheit eines Urteils p für uns zu einer Erkenntnis werden kann, müsste dessen logische Rechtfertigung letztlich auf Urteile q, r, s zurückführen, deren Rechtfertigung nicht wiederum auf einer Beweiskette wahrer Urteile, sondern »auf etwas anderem« beruht – auf etwas, das zu bestimmen Aufgabe der Erkenntnistheorie ist. Diese Deutung wird durch zwei bereits zitierte Randbemerkungen Freges in den Grundgesetzen bestätigt, wonach die Frage nach der Wahrheit eines Satzes generell eine, so wörtlich, »erkenntnistheoretische« Frage ist 179 , sowie ein Beweis dazu diene »eine Grundlage für die Be-

178 179

Log I: 3. Siehe GGA II: § 137, Anm. 2. A

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urteilung der erkenntnistheoretischen Natur« eines bewiesenen Gesetzes zu gewinnen. 180 Frege verbindet nun seine Unterscheidung zweier einander ergänzender Arten von Rechtfertigung mit einer Unterscheidung zwischen Logik und Erkenntnistheorie als philosophischen Disziplinen, die sich mit Begriffen der Rechtfertigung befassen: Logik habe es im Hinblick auf den Begriff der Rechtfertigung nur mit Gründen zu tun, die Wahrheiten sind, der Erkenntnistheorie hingegen falle die Aufgabe der Rechtfertigung jener Wahrheiten zu, die nicht wiederum bewiesen werden können, deren Gründe also keine Wahrheiten sind. Hieraus ergeben sich zwei Fragen: (1) Was ist wohl eine erkenntnistheoretische Rechtfertigung in Freges Sinne, und (2) dachte Frege, dass die logischen Grundgesetze von der Art seien, dass sie überhaupt erkenntnistheoretisch gerechtfertigt werden können? Wenn ja, dann würde die Gültigkeit der Logik, mit der wir arbeiten, nach Frege überhaupt nur mit Hilfe der Erkenntnistheorie etabliert werden können – nicht aber, wie Russell es vorgeschlagen hatte, innerhalb der Logik und Mathematik selbst.

2.3. Berechtigung versus Begrndung Irreführend in der obigen Passage über die relativen Aufgaben von Logik und Erkenntnistheorie in Freges erstem Logik-Entwurf ist nun freilich der Zusatz, »wenn sie überhaupt einer Rechtfertigung bedürfen« – eine Einschränkung, die wörtlich genommen die vorhergehende Forderung nach einer erkenntnistheoretischen Rechtfertigung aufzuheben oder zumindest in Frage zu stellen scheint. Denn wenn die letzten Prämissen einer Beweiskette, die selbst nicht wiederum durch andere Urteile gerechtfertigt werden können, gar keiner Rechtfertigung bedürfen, so bedürfen sie auch keiner erkenntnistheoretischen Rechtfertigung. Dies würde wiederum diejenigen Interpreten bestärken, die nach wie vor der Ansicht sind, dass Erkenntnistheorie für Freges Logik keine Bedeutung gehabt habe. Denn wenn Frege damit meint, dass sich für jene Urteile gar keine Rechtfertigung geben lassen muss, so würde er damit die Erkenntnistheorie, die er gerade noch als erkenntnisfundierende Disziplin ausgezeichnet hatte, im selben Atemzug als überflüssig erklären – 180

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Vgl. GGA I: vii.

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Berechtigung versus Begrndung

jedenfalls im Hinblick auf ihre vermeintliche Aufgabe, Urteile zu begründen. Ob nun diese Auffassung korrekt ist, hängt davon ab, was in diesem Kontext unter »Rechtfertigung« zu verstehen ist. Wir müssen hier vielleicht zwischen zwei Forderungen unterscheiden: Erstens können wir verlangen, dass ein Individuum, welches die logischen Gesetze zum Zwecke der Erkenntnisgewinnung anwendet, über eine Rechtfertigung bzw. Begründung derselben im Sinne eines rechtfertigenden Argumentes verfügen muss. Zweitens können wir verlangen, dass die Anerkennung dieser Gesetze berechtigt bzw. ein Denker im Hinblick auf dieses Urteil im Recht sein oder Recht haben muss. Diese beiden Bedeutungen von »gerechtfertigt« hängen miteinander zusammen, sind aber nicht identisch; im ersten Fall heißt »gerechtfertigt«, dass ein rechtfertigendes Argument durch den Denker tatsächlich geliefert wurde, im zweiten lediglich, dass eine solche Rechtfertigung im Prinzip gegeben werden kann. Hieraus folgt, dass eine Erkenntnis gerechtfertigt – ihre Wahrheit garantiert – sein kann ohne dass noch der individuelle Denker sich eines rechtfertigenden Argumentes überhaupt bewusst ist. Umgekehrt müsste eine vollständige individuelle Rechtfertigung darauf bezug nehmen, worauf die Berechtigung des Urteil selbst beruht, und eine tatsächlich gegebene Rechtfertigung bzw. Bgründung kann in dieser Hinsicht mehr oder weniger überzeugend, korrekt oder inkorrekt sein. Frege hat zwischen diesen beiden Bedeutungen nicht klar unterschieden. Seine häufige Rede von der Berechtigung eines Gesetzes, Urteils oder einer Urteilsfällung, 181 deutet auf den zweiten Sinn von Rechtfertigung hin, ebenso wie seine Erwähnung der Erkenntnisquellen, durch die ein Urteil gerechtfertigt ist. Frege sagt hier nichts über den individuellen Denker und dessen Bewusstsein von Gründen, sondern er spricht nur von »Erkenntnisquellen«, die er auch an anderen Stellen als angeborene »Fähigkeiten« oder »Anlagen« bezeichnet. 182 Die Ausübung dieser Vermögen oder Anlagen kann zudem getrübt sein – eine der wichtigsten Ursachen für eine Trübung der logischen Erkenntnisquelle etwa ist für Frege,wie wir sahen, die Alltagssprache. Freges Charakterisierung von erkenntnistheoretischer Rechtfertigung nun suggeriert möglicherweise, dass ein Urteil letztendlich Vgl. Log I: 6; GLA: § 3. Von »logischen Fähigkeiten« spricht Frege in GGA II: § 74, von »logischer Anlage« vor allem in EMN. 181 182

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durch etwas gerechtfertigt sein muss, dass nicht wiederum eine Wahrheit ist, dass aber ein individueller Denker nicht in jedem Fall über eine entsprechende vollständige und korrekte Begründung verfügen muss, um einen Anspruch auf Erkenntnis zu erheben. In diesem Sinne meint Frege es möglicherweise, wenn er sagt, es müsse Urteile geben, deren Rechtfertigung auf etwas anderem beruht, »wenn sie überhaupt einer solchen bedürfen«. Der Ausdruck »Rechtfertigung« scheint hier im ersten Sinne des Wortes verwendet zu werden. Was Frege dann allenfalls vorauszusetzt, ist, dass im Falle des Zweifels im Prinzip ein rechtfertigendes Argument gegeben werden können sollte, dass dies aber nicht in jeder epistemischen Situation erforderlich ist. Ich möchte nun zum Zweck der Klarheit im folgenden die Ausdrücke »Berechtigung« und »gerechtfertigt sein« für den zweiten Sinn reservieren, während »Rechtfertigung«, »rechtfertigen«, »Begründung«, »begründen« und »begründet werden« für die Art und Weise stehen soll, in der Individuen versuchen können, anderen die Berechtigung ihres Urteils nachzuweisen, bzw. die Art und Weise, in der dies bei einem Urteil unternommen wird. Dass ein Urteil oder eine Wahrheit gerechtfertigt werden kann, würde hierbei ihre Berechtigung bzw. ihr Begründetsein voraussetzen. Dass eine Rechtfertigung gegeben werden kann, impliziert jedoch noch nicht, dass sie in jeder beliebigen, epistemisch relevanten Situation gegeben werden muss. Die Frage, wodurch ein Urteil letztendlich gerechtfertigt ist, beantwortet Frege mit Hilfe seiner Erkenntnisquellen, wie wir sahen. Die Frage, die noch genauer geklärt werden muss, ist, welcher Art eine erkenntnistheoretische Begründung oder Rechtfertigung im ersten Sinne sein müsste. 2.3.1. Erkenntnistheorie versus Psychologie Problematisch erscheint nun eine in dieser Hinsicht vieldiskutierte Passage in den Grundgesetzen, die ich bereits vorhin zitiert habe und in der Frege eine mögliche Rechtfertigung der logischen Grundgesetze von einem außerlogischen Standpunkt aus in Erwägung zu ziehen scheint, sich aber dann offenbar nicht wirklich auf sie festlegen will: 183 183

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Die Frage […], warum und mit welchem Rechte wir ein logisches Gesetz als wahr anerkennen, kann die Logik nur dadurch beantworten, dass sie es auf andere logische Gesetze zurückführt. Wo das nicht möglich ist, muss sie die Antwort schuldig bleiben. Aus der Logik heraustretend kann man sagen: wir sind durch unsere Natur und die äussern Umstände zum Urtheilen genötigt, und wenn wir urtheilen, können wir dieses Gesetz – der Identität z. B. – nicht verwerfen, wir müssen es anerkennen, wenn wir nicht unser Denken in Verwirrung bringen und zuletzt auf jedes Urtheil verzichten wollen. Ich will diese Meinung weder bestreiten noch bestätigen und nur bemerken, dass wir hier keine logische Folgerung haben. Nicht ein Grund des Wahrseins wird angegeben, sondern des Fürwahrhaltens. Und ferner: diese Unmöglichkeit, die für uns besteht, das Gesetz zu verwerfen, hindert uns zwar nicht, Wesen anzunehmen, die es verwerfen: aber sie hindert uns, anzunehmen, dass jene Wesen darin Recht, haben: sie hindert uns auch, daran zu zweifeln, ob wir oder jene Recht haben Wenigstens gilt das von mir. Wenn Andere es wagen, in einem Athem ein Gesetz anzuerkennen und es zu bezweifeln, so erscheint mir das als ein Versuch, aus der eigenen Haut zu fahren, vor dem ich nur dringend warnen kann. Wer einmal ein Gesetz des Wahrseins anerkannt hat, der hat damit auch ein Gesetz anerkannt, das vorschreibt, wie geurtheilt werden soll, wo immer, wann immer und von wem immer geurtheilt werden mag.

Dummett hat die ersten beiden Sätze dieser Passage als eindeutiges Indiz dafür aufgefasst, dass Frege hier die Frage nach der Rechtfertigung der logischen Grundgesetze für gänzlich unbeantwortbar erklärt, dass also eine weitere Rechtfertigung nicht einmal möglich sei. 184 Er behauptet ferner, dass Frege im restlichen Teil der Passage darüberhinaus eine bestimmte vermeintliche Rechtfertigung zurückweise. 185 Dazu ist zunächst zu sagen, dass selbst wenn letzteres der Fall wäre, hieraus nicht folgen würde, dass Frege erkenntnistheoretische, außerlogische Rechtfertigungen der Logik generell für unmöglich hielt. Davon abgesehen aber weist Frege jene Erklärung, dass wir das Identitätsgesetz annehmen müssen, wenn wir nicht unser Denken in Verwirrung bringen wollen, in der obigen Passage keineswegs zurück. Er sagt nicht: »Ich teile diese Meinung nicht«, sondern viel184 Vgl. Dummett 1982, 134: »This is quite explicit: No justification can be given for accepting those laws of logic which cannot be derived from other laws.« Zu einem ähnlichen Resultat kommt auch de Pierris 1988: 305, 310. 185 Vgl. Dummett 1991 a, 134 f. Auch hier wiederum berücksichtigt Dummett in seiner Argumentation in keinster Weise Freges Idee einer erkenntnistheoretischen Rechtfertigung einer Wahrheit durch etwas anderes als eine andere Wahrheit, d. h. durch einen Grund, der selbst keine Wahrheit ist.

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mehr: »Ich will diese Meinung weder bestreiten noch bestätigen«. Er weist sie, wenn überhaupt, nur als logische Rechtfertigung zurück. 186 Die für Dummett und andere Autoren problematische Äußerung Freges zur Begründung logischer Grundgesetze ist vor allem der Satz, dass im Falle der Frage nach der Berechtigung der logischen Grundgesetze »nicht ein Grund des Wahrseins« angegeben werde, »sondern des Fürwahrhaltens.« Dummett weist darauf hin, dass Frege im Rahmen seiner Psychologismus-Kritik stets zwischen Wahrsein und Fürwahrhalten strikt unterschieden habe. Aus einem Grund des Fürwahrhaltens könne nach Frege nicht die Wahrheit eines Gedankens folgen, weil Wahrheit ihm zufolge in keiner Weise auf psychologische Vorgänge – wie es das Fürwahrhalten, »sei es von Einem, sei es von Vielen, sei es von Allen« Dummett zufolge ist – zurückführbar sei. Dummetts Argumentation gegen die Möglichkeit einer erkenntnistheoretischen Rechtfertigung der logischen Axiome bei Frege trifft sich an diesem Punkt mit einer Argumentation Kitchers aus dem Jahre 1979, in der dieser – sogar entgegen Dummett – Freges erkenntnistheoretische Verwurzelung in der Kantischen Philosophie nachzuweisen sucht. Kitcher präsentiert uns hier ein – wenn auch in seinen Augen auflösbares – Dilemma, mit dem Frege konfrontiert gewesen sei: 187 Frege’s vehement opposition to the intrusion of psychology into logic leads him, apparently, to set on one side the question of how we can or do know the basic laws of logic to be true. Yet, if the significance of his program consists in the reform of mathematical knowledge then it obviously required that there be a source of logical knowledge which can produce knowledge superior to that which we obtain in other ways.

Kitchers Analyse zufolge besteht Freges Dilemma darin, dass er einerseits dem Eindringen der Psychologie in die Logik ablehnend gegenüberstand, andererseits aber sich genötigt sah, sein Programm zur Reform mathematischer Erkenntnis auf eine besondere erkenntnistheoretische Grundlage zu stellen. Warum aber sollte Freges Ab186 Eine ähnliche Interpretation dieser Passage liefert auch Gabriel 1986: 93, 1996: 345. Burge 1996: 365 f. Hingegen bezieht offenbar Freges Meinungsenthaltung auf die Frage ob wir durch unsere Natur und die äußeren Umstände zur Anerkennung der Wahrheit der logischen Gesetze gezwungen sind – eine Frage, die er, im Gegensatz zu derjenigen über die normativen Gründe des Fürwahrhaltens der logischen Gesetze, als psychologische deutet. 187 Vgl. Kitcher 1979: 241.

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lehnung der Psychologie als Grundlage der Logik im Zusammenhang mit dem Begründungsbedarf für die logischen Axiome überhaupt relevant gewesen sein? Dies kann nur dann zu einem Dilemma werden, wenn man Erkenntnistheorie von vornherein als eine zur Psychologie gehörende Disziplin auffasst – und dies ist denn auch offenbar Kitchers Voraussetzung bei seinem Versuch, das obige Dilemma aufzulösen, wie wir im folgenden noch sehen werden. Der Fehler, der m. E. sowohl Kitchers als auch Dummetts Analyse zugrundeliegt, ist die Auffassung, dass für Frege – oder auch unabhängig von ihm – der Versuch, die logischen Axiome erkenntnistheoretisch zu begründen, zwangläufig dem Bereich der Psychologie zufallen müsse. Offenbar war Frege nicht dieser Ansicht; der Begriff der Vernunft – auf den er sogar die Objektivität der Dinge stützt – ist selbst nicht als ein psychologischer Begriff zu verstehen. Dummett liegt vollkommen richtig in seiner Annahme, dass für Frege weder die Psychologie noch auch die Physiologie oder irgendeine andere empirische Wissenschaft eine erkenntnistheoretische Grundlage der Logik darstellen konnte. Freges Argumentation gegen den sogenannten Psychologismus, die seine philosophischen Schriften dominiert, betrifft jedoch nicht allein die Logik, sondern auch die Erkenntnistheorie selbst. Denn ein Hauptstrang dieser Argumentation bezieht sich auf die irreduzible anti-naturalistische Natur sowohl der Berechtigung als auch der Begründung von Urteilen gegenüber ihrer Entstehung im Bewusstsein eines Individuums. Und wenn es spezifisch erkenntnistheoretische Rechtfertigungen bzw. Berechtigungen gibt, dann ist es nur konsequent, dass sich eine Argumentation über den Rechtfertigungsbegriff auch auf sie erstrecken muss. Eine von Freges Argumentionslinien für die Trennung von Logik und Psychologie lässt sich folgendermaßen zusammenfassen. Zunächst geht er davon aus, dass »obwohl jedes unserer Urteile ursächlich bedingt ist, […] doch nicht alle Ursachen rechtfertigende Gründe sind«. 188 Psychologische Ursachen aber können »ebenso wohl zum Irrtum wie zur Wahrheit führen; sie haben überhaupt keine innere Beziehung zur Wahrheit; sie verhalten sich zum Gegensatz von wahr und falsch gleichgültig«. 189 Denn – wie Frege in den Grundgesetzen ausführt – es ist »kein Widerspruch, dass etwas wahr ist, was von

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allen für falsch gehalten wird«. 190 Die Logik kann daher keine Ursachenforschung darstellen, noch die logischen Gesetze durch bloße Ursachen begründet sein. 191 Da die Psychologie sich nun lediglich mit den Ursachen beschäftige, die uns nach psychologischen Gesetzen zum Urteilen veranlassen, können die Gesetze der Logik daher auch nicht durch psychologische Untersuchungen gerechtfertigt werden 192 ; ebensowenig solle sich die Psychologie einbilden, »zur Begründung der Arithmetik irgendetwas beitragen zu können«. 193 Mit derselben Argumentation aber wäre nicht nur die Logik, sondern auch die Erkenntnistheorie – wenn beide es mit Gründen und mit Rechtfertigung im Unterschied zur zeitlich-kausalen Entstehung von Erkenntnissen zu tun haben – strikt von der Psychologie zu unterscheiden. Frege stimmte daher folgerichtig ausdrücklich Hermann Cohen zu, dass »die Erkenntnis nicht als psychologischer Vorgang den Gegenstand der Erkenntnistheorie bildet, und dass demnach Erkenntnistheorie von Psychologie scharf zu sondern ist«. 194 Die mangelnde Berücksichtigung des Unterschiedes zwischen Ursachen und Gründen ist Freges Ansicht nach die Wurzel des Empirismus, der aus genau den genannten Gründen zu verwerfen ist: »Indem eine empirische Richtung in der Philosophie diesen Unterschied nicht genügend beachtet, gelangt sie dazu, wegen der empirischen Veranlassungen unseres Denkens, alle unsere Erkenntnisse als empirische auszugeben.« 195 Wenn die Erkenntnis nun nicht als psychologischer Vorgang den Gegenstand der Erkenntnistheorie bildet, als was bildet sie dann sonst ihren Gegenstand? Die Antwort hierauf scheint einfach zu sein: als ein Wahrheits- oder Geltungsanspruch. Frege beschreibt das Zustandekommen einer Erkenntnis als die Anerkennung der Wahrheit eines Gedankens. Nicht der Gedanke allein, sondern erst er zusammen mit seiner Bedeutung, seinem Wahrheitswert, gebe eine Erkenntnis – erst die Anerkennung der Wahrheit des Gedankens, »das eigentliche Urteilen«, mache die Erkenntnis aus. 196 Das Urteil erhebt dadurch einen normativen Anspruch – nämlich, dass der in ihm be190 191 192 193 194 195 196

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GGA I: xvii f. Log I: 2. Vgl. KL: 190. GLA: vi. RCo: 102. ebd. Vgl. SB: 150; EMN: 286.

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hauptete Gedanke einen bestimmten Wert habe, dass er wahr sei. Eine solche Behauptung hat nun auch normative Konsequenzen; denn »jedes Gesetz, das besagt, was ist, kann aufgefasst werden als vorschreibend, es solle im Einklange damit gedacht werden, und ist also in dem Sinne ein Denkgesetz«. 197 Urteile erheben in dieser Hinsicht den Anspruch auf allgemeine normative Verbindlichkeit im Hinblick auf die Wahrheitsfindung. Freilich setzt dies voraus, dass wir Wahrheit überhaupt als obersten rationalen Wert anerkennen – aber dies tun wir nach Frege offenbar bereits einfach dadurch, dass wir urteilen: Im Urteil wird nicht lediglich die Wahrheit eines oder des anderen Gedankens anerkannt, sondern indem wir überhaupt urteilen, erkennen wir gewissermaßen Wahrheit selbst als einen Wert an. Aus diesem Grund ist auch Philip Kitchers Charakterisierung der Fregeschen Theorie der Rechtfertigung als eine im weiteren Sinne psychologistische Theorie irreführend und unzutreffend. Kitcher zufolge ist Schließen bei Frege – und Kant – einfach ein idealer psychologischer Prozess, und eine Theorie des idealen Schließens daher eine normative Theorie, die angibt, welche Gedankenprozesse wir zu durchlaufen haben, damit wir in den Besitz von Wissen gelangen. 198 Eine solche Theorie des idealen Schließens würde die Frage, ob eine Person über Wissen verfügt, davon abhängig machen, welche inneren, mentalen Faktoren dazu geführt haben, dass sie das betreffende Konklusion anerkannte. Was Kitcher und andere Naturalisten hier jedoch übersehen, ist, dass doch eine solche normative Theorie des Denkens nur dann Legitimität besitzen kann, wenn wir eine Basis haben, auf der die Normen selbst wiederum gerechtfertigt sind. Es genügt ja nicht, einfach normative Denkregeln aufzustellen – die Regeln müssen vielmehr selbst wiederum gerechtfertigt sein, um eine allgemeinverbindliche Grundlage zu haben. Diese Grundlage kann aber nach Frege nicht einfach nur wiederum ein beliebiger Gedankenprozess, oder auch nur die psychologischen Gesetzmäßigkeiten des tatsächlichen Denkens in menschlichen Individuen sein. Ganz in diesem Sinne kann es nach Frege, wie aus dem Bisherigen hervorging, keine empirisch-psychologische Tatsache im eigentlichen Sinne geben – ob sie den Normen entspricht oder nicht – deren Nennung einen Wissensanspruch der genannten Art auf nicht-zirkuläre Weise 197 198

GGA I: xv. Vgl. Kitcher 1979: 246. A

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begründen könnte. Dasselbe gilt m. E. aber auch für Kant, wenn dieser über die reine Logik schreibt, sie habe »keine empirischen Prinzipien, mithin schöpft sie nichts (wie man sich bisweilen überredet hat) aus der Psychologie, die also auf den Kanon des Verstandes gar keinen Einfluss hat«. 199 Aus diesen Gründen nun scheint die Idee einer erkenntnistheoretischen Rechtfertigung – im Unterschied zu einer rein semantischen oder einer naturalistischen – für Frege so wichtig gewesen zu sein. Im Rahmen der Fregeschen Konzeption fallen der Logik und Erkenntnistheorie generell die Aufgabe zu, zu prüfen, welche Berechtigung Wahrheitsansprüche haben; die letztere jedoch ist insbesondere dort zuständig, wo die Logik selbst nicht mehr ausreicht – und dieser Bereich würde die Wahrheitsansprüche der Logik selbst einschließen. Wie bei allen anderen Urteilen erhebt sich hier die Frage nach der Berechtigung derjenigen Urteile, in denen die Anerkennung der Wahrheit der logischen Gesetze ausgesprochen wird. Dass auch diese eine Berechtigung haben müssen, die im Falle des Zweifels nachzuweisen ist, scheint im Hinblick auf die Normativität, die Frege den logischen Gesetzen zuschreibt, einleuchtend. Denn obwohl, wie Frege klarstellt, es kein Widerspruch ist, »dass etwas wahr ist, was von allen für falsch gehalten wird« 200 , wäre es ein Widerspruch, dass etwas wahr ist, was von allen für falsch gehalten werden sollte bzw. muss, die danach streben, die Wahrheit zu finden. In diesem Sinne lässt es sich erklären, dass eine erkenntnistheoretische Rechtfertigung keine weiteren Tatsachen als Gründe anführen kann. Erkenntnistheoretische Rechtfertigungen können daher eigentlich nur normative Rechtfertigungen sein, die einen Grund dafür angeben, warum wir ein unbeweisbares Grundgesetz für wahr halten sollten – nicht dafür, warum wir dies tatsächlich tun oder nicht tun. 2.3.2. Apriori und Aposteriori Diese Überlegungen führen uns nun auch zu einer neuen Betrachtung von Freges Unterteilung der Wahrheiten in analytische, synthe199 KrV; A 54 B 78. Kant beschrieb die formale Logik auch als eine »Wissenschaft des richtigen Verstandes- und Vernunftgebrauches überhaupt, aber nicht subjektiv, d. i. nicht nach empirischen (psychologischen) Prinzipien, wie der Verstand denkt, sondern objektiv, d. i. nach Prinzipien a priori, wie er denken soll«; vgl. Logik, Einleitung, I. 200 GGA I: xvii f.

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tische a priori und synthetische a posteriori in den Grundlagen. Für Frege betreffen »jene Unterscheidungen von a priori und a posteriori, analytisch und synthetisch« die Frage, worauf im tiefsten Grunde die Berechtigung des Fürwahrhaltens beruht. 201 Jegliche Antwort auf diese Frage wird dann automatisch Aufschluss darüber geben, ob auch die Begriffe ›a priori‹, ›a posteriori‹, ›analytisch‹ und ›synthetisch‹ bei Frege genuin erkenntnistheoretischen oder lediglich logischen Charakters sind. Denn insofern sich für Frege jene Unterscheidungen darauf beziehen, »worauf die Berechtigung zur Urteilsfällung beruht«, 202 kann man darüber streiten, welche Art Berechtigung Frege hier wohl im Sinn hatte – eine erkenntnistheoretischer oder eher eine logischer Art. Im letzteren Fall wäre der tiefste Grund, auf dem die Berechtigung einer Urteilsfällung beruht, lediglich so etwas wie eine ihrerseits unbegründbare Wahrheit; 203 im ersteren ein Grund, der selbst keine Wahrheit ist und den herauszufinden somit in den Aufgabenbereich der Erkenntnistheorie fallen würde. Bei seiner Formulierung der Kriterien für Analytizität, Apriorität, Synthetizität und Aposteriorität erwähnt Frege die Idee einer erkenntnistheoretischen Rechtfertigung oder Berechtigung nicht ausdrücklich. Dafür aber begegnen wir hier den Ausdrücken »Urgesetz« und »Urwahrheit«, die bereits behandelt wurden. Frege schreibt: 204 »Es kommt […] darauf an, den Beweis zu finden und ihn bis auf die Urwahrheiten zurückzuverfolgen. Stößt man auf diesem Wege nur auf die allgemeinen logischen Gesetze und auf Definitionen, so hat man eine analytische Wahrheit, wobei vorausgesetzt wird, dass auch die Sätze mit in Betracht gezogen werden, auf denen die Zulässigkeit einer Definition beruht. Wenn es aber nicht möglich ist, den Beweis zu führen, ohne Wahrheiten zu benutzen, welche nicht allgemein logischer Natur sind, sondern sich auf ein besonderes Wissensgebiet beziehen, so ist der Satz ein synthetischer. Damit eine Wahrheit a posteriori sei, wird verlangt, dass ihr Beweis nicht ohne Berufung auf Tatsachen auskomme; d. h. auf unbeweisbare Wahrheiten, die Aussagen von bestimmten Gegenständen enthalten. Ist es dagegen möglich, den Beweis ganz aus allgemeinen Gesetzen zu führen, die selber eines Beweises weder fähig noch bedürftig sind, so ist die Wahrheit a priori.

201 202 203 204

GLA: § 3. Ebd. Diese Auffassung vertritt offenbar de Pierris 1988: 291. GLA: § 3. A

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Nun wird aber diese Passage standardgemäß nicht nur als Kriterium, sondern als Definition der Begriffe ›a priori‹, ›a posteriori‹, ›analytisch‹ und ›synthetisch‹ aufgefasst. 205 Dies erscheint jedoch aus mehreren Gründen nicht überzeugend. Wenn wir davon ausgehen wollen, dass jene Begriffe bei Frege primär auf Wahrheiten oder Urteile bezogen werden – wie es etwa nach der obigen Passage den Anschein hat 206 – so scheint erstens die obige mutmaßliche Definition nicht erschöpfend in bezug auf ihren Gegenstandsbereich zu sein, da sie die Urwahrheiten (bzw. die entsprechenden Urteile) nicht selbst mit einschließt. Denn wenn die Apriorität einer Wahrheit mit Rückgriff auf die Idee der (möglichen) Beweisbarkeit durch Urwahrheiten bestimmter Art definiert ist, dann können gerade diese Urwahrheiten selbst per definitionem nicht wiederum a priori sein, da sie in derselben Definition als »eines Beweises nicht fähig« charakterisiert sind. Tatsächlich würden sich die Urwahrheiten, aus denen sich eine apriorische Wahrheit beweisen lassen soll, wohl aufgrund ihrer Unbeweisbarkeit in gar keine der vier Kategorien einordnen lassen. 207 Dies aber stünde wohl im Widerspruch zu Freges eigenen methodologischen Prinzipien, wenn wir uns daran erinnern, was er in § 88 der Grundlagen an Kants Definition von Analytizität und Synthetizität auszusetzen hat: Nämlich, dass wenn man sie zugrunde legt, »die Einteilung in analytische und synthetische Urteile nicht erschöpfend«

Vgl. dazu etwa Dummett 1982, 132; Burge 2000, 13 ff. Vgl. dazu Burge 2000: 12, der Freges Auffassung des Apriori auf Leibniz zurückführt. 207 Michael Dummett unterstellt Freges »Definitionen« in diesem Zusammenhang eine »uncharacteristic carelessness, in that no provision is made for those truths which are incapable of proof …«; vgl. Dummett 1982, 132. Er versäumt es jedoch, die Möglichkeit überhaupt in Erwägung zu ziehen, dass jene »Definitionen« vielleicht gar nicht als Definitionen gedacht waren, und liefert daher nicht einmal Gründe, warum wir sie dafür halten sollten. Dies ist erstaunlich, da Frege m. W. Nirgendwo sagt, dass es sich um Definitionen handeln soll. Dabei scheint Dummett anderweitig eher dem exegetischen Prinzip zuzuneigen, dass man nicht etwas in einen Autor hineinlesen sollte, wenn sich keine ausdrückliche positive Evidenz dafür finden lässt. Vgl. dazu etwa seine Kritik an Slugas früherer These, für Frege seien Raum und Zeit Anschauungen a priori gewesen und er habe Kants Auffassung geteilt, dass die geometrischen Axiome synthetisch a priori sind: »… it is going very far beyond the demonstrable facts to assert that, throughout his life, he [Frege] held them [the axioms of geometry] to be synthetic a priori; we have no positive reason to affirm, though no specific reason to doubt, that he continued to view the Kantian trichotomy analytic/synthetic a priori/analytic a priori with favour« (ebd., 128). 205 206

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sei. Frege hätte sich demnach mit einer nicht erschöpfenden Definition jener Begriffe nicht zufriedengeben können. Zweitens müssen wir bedenken, dass Frege den Anspruch erhebt, »keinen neuen Sinn« in jene Unterscheidungen hineinlegen, sondern »nur das treffen« zu wollen, »was frühere Schriftsteller, insbesondere Kant, damit gemeint haben«. 208 Nach traditioneller rationalistischer Auffassung bezeichnet nun »a priori« die Eigenschaft einer Rechtfertigung, eines Beweises oder Beweisgrundes, unabhängig von der inneren oder äußeren Erfahrung zu sein; im abgeleiteten Sinne ist es demnach die Eigenschaft einer Wahrheit, eines Urteils oder einer Kognition überhaupt, unabhängig von der Erfahrung begründet zu sein. 209 In diesem Sinne jedoch würden wir erwarten, dass die Urwahrheiten, die den ihnen abgeleiteten Wahrheiten a priori zugrunde liegen, ebenso a priori sein müssen, sofern es ihre Folgerungen sind. 210 Denn falls sie es nicht sind – sondern etwa willkürlich nach pragmatischen Gesichtspunkten oder inneren psychologischen Erlebnissen ausgewählt – so würde dies wohl im Rahmen des traditionellen Rationalismus nicht hinreichen, um den erkenntnistheoretischen a priori-Status ihrer logischen Folgerungen zu gewährleisten. Würden wir daher annehmen, Frege habe in der obigen Passage nicht nur hinreichende, sondern auch notwendige Bedingungen der Apriorität oder Analytizität aufgestellt, 211 wie es bei einer genuinen GLA, § 3, Anm. 1. Dies scheint jedenfalls die primäre Anwendung des Ausdrucks »a priori« bei Leibniz und Kant zu sein. Leibniz wendet den Begriff des A priori in seinen Schriften kontinuierlich auf den der Erkenntnis an, auf Weisen des Erkennens oder Wahrnehmens der Wahrheit einer Proposition, vor allem aber auf Gründe und Beweise. Lediglich in den Neuen Abhandlungen schreibt er die Eigenschaft der Apriorität direkt den Wahrheiten selbst zu; vgl. NA, Vorwort, I vii, 2–10; IV, xi, 13. Bei Kant scheint der (logisch) primäre Anwendungsbereich für den Begriff des A priori die subjektiven Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt zu sein. Urteile, Kognitionen oder Wahrheiten sind demnach auch bei Kant nur in einem abgeleiteten Sinne a priori, nämlich gdw. ihre Wahrheit ausschließlich auf den menschlichen Geist konstituierenden Bedingungen a priori der Möglichkeit von Erfahrung beruht. 210 Leibniz unterscheidet in diesem Sinne ausdrücklich zwischen ersten, ursprünglichen a priori Wahrheiten und ersten, ursprünglichen a posteriori Wahrheiten; vgl. NA, IV, Kap. ix, § 3. Auch Kant bezeichnet, wie wir sahen, Grundsätze, die »die Gründe anderer Urteile in sich enthalten« und zugleich »selbst nicht in höheren und allgemeineren Erkenntnissen gegründet sind« als »Grundsätze a priori«; vgl. KrV: A 148 f. B 188. 211 Für diese Deutung argumentiert Burge 2000, 14 ff. Er vermag seine Auffassung nur dadurch mit einer erkenntnistheoretischen, rationalistischen Interpretation von Freges Begriff des Apriori zu vereinbaren, indem er Freges fehlende Berücksichtigung des er208 209

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Definition der Fall zu sein hätte, so stünde dies in krassem Widerspruch zu Freges eigenem Anspruch, keinen neuen Sinn in jene Unterscheidungen hineingelegt zu haben. Denn in diesem Falle würden nicht nur, wie schon zuvor ausgeführt, die Urwahrheiten selbst aufgrund ihrer Nichtbeweisbarkeit die Definition des Apriori nicht erfüllen, sondern auch jener Begriff selbst seines ursprünglichen, erkenntnistheoretischen Sinnes im Grunde genommen entleert. Wir wissen freilich, dass solche begriffshistorischen Ansprüche Freges möglicherweise cum grano salis genommen werden sollten. In Anbetracht seiner Kritik an Kants Definition der Analytizität und Synthetizität ist ja offenkundig, dass er sie zu eng fand. Insofern könnte man hier einwenden, dass für ihn zumindest Kants Begriff des Analytischen extensional – im Hinblick auf seinen Umfang – ohnehin nicht mit seinem eigenen übereinstimmte. Wenn sich jedoch zeigt, dass Frege offenkundig ganz bewusst nicht immer einen Begriff in demselben Sinne verwendet wie ein anderer Autor, obwohl er gleichzeitig den Anspruch erhebt, es zu tun, dann ist dies auch im Falle des Apriori nicht auszuschließen. 212 Ich denke aber nicht, dass dieser Einwand im o. g. Fall stark genug ist. Denn zum einen macht Frege selbst auf seinen im Vergleich zu Kant erweiterten Begriff des analytischen Urteils aufmerksam – er übersieht also diese leichte Abweichung vom Kantischen Original nicht einfach – während wir keinen entsprechenden Hinweis bezüglich des Kantischen oder Leibnizschen Begriffs vom Apriori bei Frege finden. Die beiden Fälle sind also nicht ohne weiteres analog zu behandeln. Davon abgesehen aber denke ich, dass Frege sich im Grunde genommen gar nicht widerspricht – ob bewusst oder unbewusst – wenn er auf der einen Seite behauptet, keinen neuen Sinn in die Unterscheidungen zwischen analytisch und synthetisch, a priori und a posteriori hineingelegt zu haben, und auf der anderen Seite zugibt, Kant habe über eine zu enge Begriffsbestimmung des Analytischen verfügt. Es kommt hierbei darauf an, was Frege in diesem Zusammenhang unter »Sinn« versteht, und wir müssen auch bedenken, kenntnistheoretischen Status der Urwahrheiten an der genannten Stelle im Anschluss an Dummett als ein Versäumnis von Seiten Freges abtut, welches »nicht von großer Bedeutung« sei; vgl. Burge 2000: 20, Anm. 18. Burge hält es für »einfach und angemessen, die Urwahrheiten und Schlussregeln als a priori zu betrachten«; genommen würde dies aber in direktem Widerspruch dazu stehen, was er als Freges Definition des Apriori erachtet. 212 So argumentiert Dummett 1982, 131.

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dass dieser Ausdruck in den Grundlagen noch nicht die spezielle technische Bedeutung besitzt, die er erst ab Freges mittlerer Phase erhält. Frege behauptet z. B. nicht, dass der Ausdruck »analytisch« bei Kant denselben Sinn habe wie bei ihm selbst 213 , sondern vielmehr, dass jene Unterscheidung denselben Sinn bei Kant und anderen früheren Schriftstellern habe wie bei ihm selbst. »Sinn« braucht hier nicht in einem präzisen, semantischen Sinn genommen werden; eher hatte wohl Frege eine philosophische Grundidee im Auge, die er nicht nur bei Kant, sondern auch bei anderen Rationalisten vorgefunden zu haben glaubte. Ganz in Einklang hiermit führt Frege in § 88 der Grundlagen aus, dass Kant – trotz seiner zu engen Begriffsbestimmung des Analytischen – der von Frege benutzte weitere Begriff »vorgeschwebt zu haben scheint«. Diese Einschätzung dessen, was Kant angeblich vorschwebte, obwohl er noch über eine zu enge Begriffsbestimmung verfügte, stimmt ferner vollkommen mit Freges Überlegungen zur Begriffsgeschichte überein, die er in der Einleitung zu den Grundlagen anstellt und die ich bereits im Zusammenhang mit seiner Kritik am Historizismus diskutiert hatte: 214 Was man Geschichte der Begriffe nennt, ist wohl entweder eine Geschichte unserer Erkenntnis der Begriffe oder der Bedeutungen der Wörter. Durch große geistige Arbeit, die Jahrhunderte hindurch andauern kann, gelingt es oft erst, einen Begriff in seiner Reinheit zu erkennen, ihn aus den fremden Umhüllungen herauszuschälen, die ihn dem geistigen Auge verbargen.

Was Frege hier zum Ausdruck zu bringen scheint ist, dass eine begriffsgeschichtlich bedingte Bedeutungsverschiebung eines Ausdrucks gleichzeitig als ein Fortschritt in der Erkenntnis eines und desselben Begriffs verstanden werden kann. Freges Auffassung bezüglich des Ausdrucks »analytisch« ist demnach aller Wahrscheinlichkeit nach analog im Sinne einer Bedeutungsverschiebung zu verstehen, die gleichzeitig einen Erkenntnisfortschritt in bezug auf diesen Begriff selbst darstellt, insofern dieser von Kant zwar bereits anvisiert, aber noch nicht »in seiner Reinheit« erfasst worden war. 215 Wir werden also wohl dahin gedrängt, Freges Behauptung, denDies ist, was Dummett in § 88 der Grundlagen hineinliest, vgl. Dummett 1982: 131. GLA, vii. 215 Ganz in diesem Sinne weist Frege auch in § 27, Anm. 47 der Grundlagen darauf hin, dass Kant durch seine Verwendung des Ausdrucks »Vorstellung« in zwei verschiedenen Bedeutungen – nämlich einer subjektiven und einer objektiven – »seiner Lehre eine sehr 213 214

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selben Sinn in die Unterscheidungen zwischen analytisch und synthetisch, sowie zwischen a priori und aposteriori hineingelegt zu haben wie Kant und andere traditionelle Rationalisten, ernstnehmen zu müssen. Wenn wir ihm nun in dieser Hinsicht keine Inkohärenz unterstellen wollen, dann ergeben sich hieraus im Lichte der Argumentation dieses Abschnittes zwei mögliche Konsequenzen: Entweder es war Frege gar nicht bekannt, dass sich bei Kant und Leibniz der Begriff des A priori auch auf die Urwahrheiten oder Grundprinzipien miterstreckt, auf denen alle sonstige Erkenntnis a priori beruht. Oder wir müssen akzeptieren, dass Freges angebliche und vieldiskutierte ›Definition‹ des A priori und des Analytischen genaugenommen gar nicht als Definition im strikten Sinne gedacht war. Bezüglich der ersten Option ist folgendes zu sagen. Zwar wissen wir, dass Frege als professioneller Mathematiker Kants Werk – oder auch das anderer »früherer (philosophischer) Schriftsteller« – keineswegs ausführlich und mit hinreichend tiefem philosophischen Verständnis studiert hat. Dennoch: Zu sehen, dass sich bei Leibniz und Kant die Idee des Apriori im Sinne einer erfahrungsunabhängigen Erkenntnisgrundlage auf die letzten Prämissen der vollständigen Beweiskette einer abgeleiteten a priorischen Wahrheit miterstreckt, erfordert keine professionelle philosophische Schulung, sondern lediglich die Fähigkeit, die einschlägigen Passagen lesen zu können. Und Frege hatte nachgewiesenermaßen sowohl die Kritik der reinen Vernunft als auch die Neuen Abhandlungen über den menschlichen Verstand studiert, aus denen er in den Grundlagen ausführlich zitiert. Ich denke daher, dass wir diese Option guten Gewissens verabschieden sollten. Die zweite Option, nämlich dass Freges angebliche ›Definition‹ des A priori und des Analytischen gar keine genuine Definition ist, erscheint mir insgesamt bei weitem plausibler. Es bleibt nun noch zu klären was denn jener Sinn sein soll, der nach Freges eigener Aussage seine Unterscheidungen zwischen a priori und a posteriori, analytisch und synthetisch mit denjenigen früherer Philosophen verbindet. Es scheint, dass die aufschlussreichste Passage hierzu die folgende ist: 216

subjektive, idealistische Färbung gegeben und das Treffen seiner wahren Meinung erschwert« habe. 216 GLA: § 3; meine Hervorhebungen.

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Jene Unterscheidungen von a priori und a posteriori, analytisch und synthetisch betreffen nun nach meiner Auffassung nicht den Inhalt des Urteils, sondern die Berechtigung zur Urteilsfällung. Da, wo diese fehlt fällt auch die Möglichkeit jener Einteilung weg. Ein Irrtum a priori ist dann ein ebensolches Unding wie etwa ein blauer Begriff. Wenn man einen Satz in meinem Sinne a posteriori oder analytisch nennt, so urteilt man nicht über die psychologischen, physiologischen und physikalischen Verhältnisse, die es möglich gemacht haben, den Inhalt des Satzes im Bewusstsein zu bilden, auch nicht darüber, wie ein anderer vielleicht irrtümlicherweise dazu gekommen ist, ihn für wahr zu halten, sondern darüber, worauf im tiefsten Grunde die Berechtigung des Fürwahrhaltens beruht.

Derjenige Sinn jener Unterscheidungen, den Frege hier als den seinigen bezeichnet scheint ganz einfach wiederum den antipsychologistischen Charakter seiner Erkenntnistheorie zu umfassen. Die Apriorität oder Analytizität eines Urteils oder einer Wahrheit ergibt sich für Frege nicht aus der Art und Weise, wie ein individueller Denker dazu kommt, es für wahr zu halten, sondern vielmehr aus dem »tiefsten Grund«, auf dem die Berechtigung des Fürwahrhaltens beruht. Während er in der Begriffsschrift noch lediglich Begründung und psychologische Entstehungsweise einander gegenüberstellte, bringt er in den Grundlagen den allgemein nicht-empirischen Charakter von Begründungs- oder Berechtigungsfragen noch deutlicher zum Vorschein, indem er sie nicht nur strikt von psychologischen, sondern auch von physiologischen und physikalischen Betrachtungen abgrenzt. Freges Motiv ist hier wiederum die Beziehung zwischen Berechtigung und Wahrheit, die eben nicht durch psychologische oder physikalische Ursachen des Fürwahrhaltens ersetzt werden kann. Die Eigenschaft eines Urteils oder einer Wahrheit, analytisch, synthetisch, a priori oder a posteriori zu sein, kann für Frege nichts mit jeglichen empirischen Faktoren zu tun haben, die ein Individuum dazu bewegt haben mögen, das Urteil für wahr zu halten – einschließlich psychologischer Zustände. Denn kein empirischer Faktor könnte wohl jemals die Wahrheit etwa einer apriorischen Erkenntnis in dem Maße verbürgen, dass ein Irrtum ausgeschlossen ist. Davon abgesehen wäre eine Unterscheidung zwischen Erkenntnissen a priori und a posteriori wenig sinnvoll, wenn beide Begriffe sich letztlich auf empirische Ursachen beziehen würden. Wie wir hier also sehen, legte Frege demnach offenbar seiner Unterscheidung zwischen den besagten Kategorien einen strikt und irreduzibel anti-naturalistischen Begriff der Berechtigung oder Begründung zugrunde. Die UnA

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terscheidungen sollten auf der Art und Weise beruhen, wie eine Erkenntnis oder ein Urteil begründet ist und nicht darauf, auf welche Weise seine Wahrheit einem menschlichen Individuum bewusst geworden wird. Es scheint nun auch dies zu sein, was Frege vor allem als den ursprünglichen Sinn jener Unterscheidungen betrachtet – dasjenige, was nach seiner in dieser Hinsicht vollkommen korrekten Auffassung »frühere Schriftsteller, insbesondere Kant, damit gemeint haben«. 217 Im Verlauf des 19ten Jahrhunderts waren im Rahmen der Frieschen Schule physiologische und psychologische Konzeptionen des Apriori beliebt geworden, die von den Neukantianern im Zuge ihrer Zurückbesinnung auf den Kantischen Kritizismus und Antinaturalismus zurückgewiesen wurden. Auch Frege glaubte – und m. E. zu Recht – in dieser Hinsicht nicht etwas im Wesentlichen Neues vollbracht, sondern lediglich an eine wohl etablierte philosophische Tradition angeknüpft zu haben. In der Tat liegt Frege hier m. E. zumindest in dieser Hinsicht richtig, obwohl er dabei nicht allein mit Kant selbst, sondern auch mit Leibniz einerseits und den Neukantianern sowohl der Marburger als auch der Südwestdeutschen Schule andererseits auf einer Linie lag. Frege selbst beruft sich in den Grundlagen ausdrücklich auf Leibniz, der die »Geschichte unserer Entdeckungen, die verschieden ist in verschiedenen Menschen«, von der »Verknüpfung und natürlichen Ordnung der Wahrheiten« unterschied, »die immer dieselbe ist«. 218 Wie für Frege war auch für Leibniz bereits nur die letztere überhaupt von Belang, denn die natürliche Ordnung der Wahrheiten ergab für ihn eine entsprechende »natürliche Ordnung« der Erkenntnisse, in der jede Wahrheit ihre besondere Stelle besitzt, ganz unabhängig davon, wie oder ob irgendjemand sie erlangt oder an sie zu denken gebracht wurde. 219 Die Unterscheidung zwischen der sinnlich-psychologischen Verursachung einer bewussten Erkenntnis und der Quelle ihrer Geltung findet sich implizit jedoch auch bei Kant, der in der Kritik der reinen Vernunft zwei Weisen unterscheidet, wie Erfahrung im Bewusstsein einer Erkenntnis involviert sein kann: nämlich einerseits als das, womit alle Erkenntnis anfange, und andererseits als das, woraus sie entspringt. 220 Frege 217 218 219 220

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GLA, § 3, Anm. 1. NA, IV, vii, 8. Cf. NA, IV, vii, 7 Vgl. KrV, B1.

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Berechtigung versus Begrndung

stimmt auch sowohl mit Leibniz als auch mit Kant darin überein, dass jedes Urteil und jede Erkenntnis als Bewusstseinsepisode einer Person psychologische Ursachen haben muss, da diese die empirischen Bedingungen der Möglichkeit menschlichen Denkens überhaupt darstellen – wenngleich sich das Dasein eines Gedankens oder auch sein Wahrsein nicht darin erschöpfen, als Bewusstseinsepisode eines Individuums aufzutreten. 221 In einer anderen Schrift setzt Frege das, was er unter »Erkenntnistheorie« versteht, mit Cohens Begriff der Erkenntniskritik gleich; 222 diese aber ist bei Cohen selbst als »die genauere Unterscheidung von Begriffen und Begriffs-Elementen, die nur da möglich ist, wo nicht Bewußtseins-Akte schlechthin, sondern wissenschaftliche Vorgänge und in Erkenntnissen objektivierte Akte des Bewußtseins zur Untersuchung kommen« 223 definiert. Ob nun Frege sich Cohens Definition genau angeschaut hat, sei dahingestellt; seine antipsychologistische Auffassung spiegelt sich jedoch – wie Gottfried Gabriel gezeigt hat – in fast denselben Formulierungen auch in den Schriften Windelbands und Liebmanns wieder. 224 Sie verbindet Frege mit den Neukantianern nicht nur der Südwestdeutschen, sondern auch der Marburger Schule, mit Leibniz wie auch mit Kant. Gerade weil Frege aber in dieser Hinsicht mit sämtlichen, ansonsten mehr oder weniger voneinander abweichenden antinaturalistischen Positionen in der Erkenntnistheorie, einschließlich Vertretern der Phänomenologie und der Bolzano-Schule, übereinstimmt, reicht Freges Antipsychologismus allein noch nicht hin, um zu folgern, dass – wie etwa Gottfried 221 Siehe dazu auch GLA, § 105, Anm. 127, wo Frege darauf hinweist, dass wir ohne sinnliche Eindrücke – obwohl diese für ihn nichts mit der Begründung der arithmetischen Gesetze zu tun haben – »dumm wie ein Brett wären und weder von Zahlen noch von sonst etwas wüssten« Analog gilt für Leibniz, dass wir ohne Sinne selbst an intellektuelle Ideen und die von ihnen abhängenden Wahrheiten gar nicht denken könnten, auch wenn jene nicht ihren Ursprung in den Sinnen haben; vgl. NA, I, 1, § 11. Auch Kant bezweifelt nicht, dass »alle Erkenntnis mit der Erfahrung anfange«: »… denn wodurch sollte das Erkenntnisvermögen sonst zur Ausübung erweckt warden, geschähe es nicht durch Gegenstände, die unsere Sinne rühren und teils von selbst Vorstellungen bewirken, teils unsere Verstandestätigkeit in Bewegung bringen, diese zu vergleichen, sie zu verknüpfen oder zu trennen, und so den rohen Stoff sinnlicher Eindrücke zu einer Erkenntnis der Gegenstände zu verarbeiten, die Erfahrung heißt?« (KrV: B1) Dies bedeutet für ihn konkret, dass »der Zeit nach […] keine Erkenntnis in uns vor der Erfahrung vorher[geht]«. 222 RCo: 100. 223 Vgl. Cohen 1887. 224 Vgl. Gabriel 1986.

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Gabriel argumentiert hat – Freges erkenntnistheoretische Grundposition genau diejenige des Neukantianismus ist. 225 2.3.3. Frege versus Russell über die Erkenntnistheorie Freges anti-naturalistische Auffassung von Erkenntnistheorie – eine Auffassung, die sich nicht zuletzt in seiner eigentümlichen Verwendung des Begriffs der Vernunft oder des Geistes bemerkbar macht – steht hingegen in deutlichem Kontrast zu Russells Idee von Erkenntnistheorie sowie sämtlichen an sie anknüpfenden späteren Konzeptionen innerhalb der analytischen Philosophie des 20ten Jahrhunderts. Russell weist im Rahmen seiner expliziten Kritik an der Kantischen Tradition der Transzendentalphilosophie die Idee gewisser für das Denken konstitutiver Geistesvermögen oder Prinzipien ausdrücklich zurück, aufgrund derer die Wahrheit logischer oder mathematischer Grundprinzipien hätte erklärt werden können. Der traditionelle Begriff der Vernunft, der bei Kant und Leibniz nicht nur als Erkenntnisvermögen, sondern auch als ultimativer Wahrmacher a priorischer Wahrheiten fungierte, wird bei Russell durch den des gesunden Menschenverstandes (common sense) ersetzt. Hierbei handelt es sich ihm zufolge jedoch um einen psychologischen Begriff, der somit eigentlich nur empirisch zugänglich ist. Auch das Einleuchten bzw. die Selbstevidenz logischer oder mathematischer Propositionen stellte für Russell lediglich ein psychologisches Kriterium dar, das daher »subjektiv und variabel« sei. Es ist unter diesen Voraussetzungen eigentlich überraschend, dass er – wie wir sahen – gleichzeitig die Selbstevidenz als »wesentlich für unsere Erkenntnis« einstuft, insofern »alles Wissen entweder selbstevident oder aus selbstevidentem Wissen hergeleitet sein müsse«. 226 Letztendlich adoptiert Russell mit dieser Haltung eine psychologische Konzeption apriorischer Erkenntnis, wonach diese einfach durch ein unmittelbares psychologisches Erlebnis – das Russell auch »unmittelbare Bekanntschaft« nennt – auf mysteriöse Weise zustande kommt, ohne dass er über eine Erklärung verfügen würde, die die Zuverlässigkeit solcher inneren Bekanntschaftserlebnisse wahrscheinlich machen könnte. Die Erkenntnistheorie selbst wird bei 225 226

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Vgl. Gabriel, ebd. Russell 1913: 492 f.

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Russell – wie wir sahen – zu einer Mischung aus psychologischen und logischen Untersuchungen, wobei er die Frage nach dem Unterschied zwischen Wahrheit und Falschheit, sowie die Theorie des Urteils bzw. der Proposition, der Logik selbst zuordnet. Frege hingegen tritt offenbar für die Berechtigung einer philosophischen Theorie des Denkens und der Erkenntnis ein, die weder auf die formale Logik noch auf die Psychologie reduziert werden könnte, und unterstützte genau damit seinerzeit den neukantianischen Standpunkt. Da der Begriff des Gedankens zusammen mit dem der Wahrheit für Freges Logik grundlegend war, erkannte Frege somit sehr wohl gewisse philosophische Grundlagen bzw. noch vorordnete philosophische Fragen an, ohne deren Beantwortung Logik und Mathematik – wie er sie auffasste – gar keinen Sinn gemacht hätte. Denn welchen Sinn macht eine Logik, wenn wir uns nicht erklären können, wie wir ihre Inhalte überhaupt erfassen? Es ist klar, wie sich hieraus unmittelbar ein Erklärungsbedarf ergibt, den die Logik selbst – noch auch nach Frege die Psychologie oder Physiologie – nicht zu befriedigen vermag, von dem aber ihre Glaubwürdigkeit abhängt. Darüberhinaus bringt Russell in seinem Bestreben, die Allgemeinverbindlichkeit apriorischen Wissens plausibel zu machen, ohne zu einer transzendentalphilosophischen Begründung derselben greifen zu müssen, einen starken Universalien-Realismus ins Spiel, der im Gegensatz zu demjenigen Freges in keinster Weise durch Annahmen über die Natur rationalen Denkens überhaupt plausibel gemacht wird: 227 Logic and mathematics forces us, then, to adopt a kind of realism in the scholastic sense, that is to say, to admit that there is a world of universals and truths which do not bear directly on such and such particular existence. This world of universals must subsist, although it cannot exist in the same sense as that in which particular data exist. We have immediate knowledge of an indefinite number of propositions about universals: this is an ultimate fact, as ultimate as sensation is. Pure mathematics […] is the sum of everything we can know, whether directly or by demonstration, about certain universals.

Russell beschreibt demnach hier die Annahme, dass wir über unmittelbares Wissen einer unbestimmten Anzahl von Propositionen über Universalien verfügen, als eine ultimative Tatsache, so ultimativ wie das Faktum sinnlicher Empfindung. Es ist jedoch bereits fraglich, ob 227

Russell: 1913, 492. A

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die Philosophie wirklich keine interessanten Fragen über die Bedingungen der Möglichkeit von Empfindung aufzuwerfen haben, sondern sich einfach mit dem unerklärlichen Faktum derselben zufriedengeben sollte. Noch fraglicher und problematischer erscheint aber die Annahme unseres unmittelbaren und zugleich unerklärlichen Wissens über Universalien in der Logik und Mathematik. Hier wäre eine philosophische Untersuchung darüber, worauf denn dieses unmittelbare Wissen beruhen soll und wie es möglich ist, ganz besonders wünschenswert. Es ist zugleich erstaunlich, wie sehr die Russellsche Auffassung apriorischer Erkenntnis, wonach es sich hierbei gewissermaßen um ein rein psychologisches Phänomen handeln soll, welches auf mysteriöse Weise unseren Geist mit einer von diesem gänzlich unabhängigen Außenwelt verbindet, gegenwärtige Entwicklungen in der analytischen Erkenntnistheorie vorweggenommen hat. So scheint etwa BonJours Definition apriorischer Rechtfertigung derjenigen Russells um 1913 erstaunlich nahezukommen: 228 According to rationalism, a priori justification occurs when the mind directly or intuitively sees or grasps or apprehends (or perhaps merely seems to itself to see or grasp or apprehend) a necessary fact about the nature or structure of reality. Such an apprehension may […] be discursively mediated by a series of steps of the same kind, as in a deductive argument. But in the simplest cases it is allegedly direct and unmediated, incapable of being reduced to or explained by any rational or cognitive process of a more basic sort – since any such explanation would tacitly presuppose apprehension of the very same kind.

Bei Russell wie auch bei BonJour wird nicht der Geist oder die Natur unseres Denkens, sondern vielmehr »die Struktur der Realität« als Wahrmacher apriorischer Erkenntnisinhalte hingestellt. Russells logische und mathematische Universalien sind nämlich letztendlich nichts anderes als allgemeine Bestandteile einer Außenwelt, die von der Art und Weise, sie zu erkennen, gänzlich unabhängig ist. Russell zufolge beschäftigt sich die Logik genauso sehr mit der wirklichen Welt wie die Zoologie, obzwar mit ihren »abstrakten und allgemeinen« Merkmalen. 229 Beeinflusst durch Leibniz – wenn auch in ganz anderer Weise als Frege – war Russell, der Auffassung, die Logik habe »Wahrheit in allen möglichen Welten« zum Ziel.

228 229

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BonJour 1998: 15 f. Russell 1919: 169.

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Im Gegensatz zu Leibniz – und Frege – besteht jedoch bei Russell keine theoretische Verbindung zwischen Realität und Denken. Diese Konzeption ist problematisch in zweierlei Hinsicht: Erstens lässt sie es vollkommen offen, warum die reale Außenwelt eine bestimmte logische Struktur besitzen muss, wenn das Vorhandensein dieser Struktur nicht aus gewissen Bedingungen der Möglichkeit rationalen Denkens zu erklären ist. Frege liefert hierfür wenigstens den Ansatz einer Erklärung. Zweitens hinterlässt jene Konzeption uns das Rätsel, wie wir denn in der Lage sein sollen, die absolute, allgemeine Struktur aller möglichen Welten a priori zu erkennen. Das Kriterium des Einleuchtens von Konsequenzen aus unseren Axiomen, das Russell um 1913 vorgeschlagen hatte, gibt hierauf keine Antwort, da dieselben Konsequenzen ja auch aus einer anderen denkbaren Menge von Axiomen ableitbar sein könnten. Russells Annahme einer unmittelbaren Bekanntschaft mit Universalien wiederum bleibt ebenfalls rätselhaft in bezug auf die Axiome, solange uns diese nicht einleuchten. Doch selbst, wenn sie uns einleuchten würden, so würde dieser Umstand, als rein psychologisches Phänomen aufgefasst, aufgrund der stets gegebenen Möglichkeit einer Täuschung nicht hinreichen, um die Wahrheit dessen, was uns da einzuleuchten scheint, zu verbürgen. Während zwar auch Frege offen zugibt, über keine Erklärung des Vorgangs des Gedankenfassens zu verfügen, erkennt er hingegen an, dass es sich hierbei um ein genuines philosophisches Problem handelt, das weder durch Logik noch durch Psychologie gelöst werden könnte. 2.3.4. Freges zweites Argument gegen den Formalismus Für Frege nun sind – wie für Natorp, Cohen, aber auch Russell – Logik und Mathematik Wissenschaften, in denen Urteile gefällt und somit Wahrheitsansprüche erhoben werden. Im Zusammenhang mit seiner Kritik am Formalismus in Bd. 2 der Grundgesetze begründet er dies folgendermaßen. Gemäß der formalen Arithmetik, so Frege hier, wären arithmetische Gesetze einfach Regeln über die Ersetzbarkeit von Zahlfiguren oder Buchstaben durch andere Zahlfiguren und Buchstaben, die aber ansonsten keinerlei Inhalt haben. Die Regeln würden dann so etwas besagen wie: wenn eine Gleichung gegeben ist und eine Formel, welche einen der einen Seite jener gleichgestalA

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teten Bestandteil enthält, so ist es erlaubt, diesen durch einen der anderen Seite der Gleichung gleichgestalteten Bestandteil zu ersetzen. 230 Die Regeln sind nun zwar auch hier in gewissem Sinne »vorschreibend, wie gedacht werden soll« – oder, besser, wie die Figuren oder Figurengruppen zu manipulieren sind. Denn es werden durch sie einige Handlungen im Rechenspiel als zulässig anerkannt, und es darf nichts geschehen, das nicht durch eine Regel erlaubt ist. Da nun jedoch, so Frege, die Figuren- oder Buchstabengruppen, von denen die Regeln handeln, in diesem Fall selbst als bedeutungslos betrachtet werden, handele es sich hier nicht um Wahrheiten wie in der inhaltlichen Arithmetik. 231 Daraus folgt für Frege, dass »was der arithmetische Gesetzgeber als regelrecht anerkennen will, […] in seinem Belieben« liege – eben weil er durch keine Rücksicht auf die Bedeutungen der Figuren beschränkt sei, die »für ihn amtlich nicht vorhanden sind«. Die Regeln seien in diesem Fall nicht »im Namen der Vernunft oder der Natur aufgestellt«, und daher seien sie »als Richtschnuren für das Handeln den Sittengesetzen näher verwandt als den Gesetzen der inhaltlichen Arithmetik, die zwar verkannt, aber nicht übertreten werden können«. 232 Was Frege hier unter »Natur« im Gegensatz zu »Vernunft« versteht, ist freilich unklar. Wenn die Vernunft nämlich allen Gesetzmäßigkeiten zugrundeliegen soll, dann müsste sie wohl auch den Gesetzmäßigkeiten der Natur zugrundeliegen. Möglich ist also, dass Frege hier »Vernunft« in einem engeren Sinne verwendet, in dem es sich nur auf die logischen und arithmetischen Gesetze bezieht. Möglich ist auch, dass »Natur« und »Vernunft« hier äquivalent verwendet werden. Das obige Argument enthält nun – jedenfalls, wenn meine nun folgende Rekonstruktion korrekt ist – mehr oder weniger explizite Prämissen, die im gegenwärtigen Zusammenhang sehr aufschlussreich sind. Der interessante Aspekt des Argumentes ist dabei wohl der Unterschied in der Art der Normativität von Sittengesetzen einerseits, und logischen, arithmetischen oder Naturgesetzen andererseits. Formulieren wie die erste Prämisse versuchsweise folgendermaßen:

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GGA II: § 109. GGA II: § 110. Ebd.

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(1) Wenn ein Gesetz »im Namen der Vernunft oder der Natur« aufgestellt wird, dann drückt es eine Wahrheit über die Bedeutungen der in ihm enthaltenen Zeichen aus. Gesetze, die diese Bedingung des Wahrseins nicht erfüllen – die also entweder gar keinen Gedanken oder so etwas wie einen Scheingedanken ausdrücken, können demnach nicht im Namen der Vernunft oder der Natur aufgestellt sein. Zweitens gilt offenbar so etwas wie folgendes: (2) Wenn die Normativität eines Gesetzes derart ist, dass es zwar verkannt, aber nicht übertreten werden könnte, dann wurde es im Namen der Vernunft oder Natur aufgestellt. Die betreffende Normativität ist in dieser Hinsicht wesentlich stärkerer Natur als die eines Sittengesetzes, das zwar – so Frege – ebenfalls eine »Richtschnur für das Handeln« darstelle, aber im Unterschied zu ersterem prinzipiell übertreten werden könne. Frege wiederholt diesen Gedankengang einige Jahre später in seinem Aufsatz »Der Gedanke«, wo er die logischen Gesetze auch von den Naturgesetzen abgrenzt: 233 Man gebraucht das Wort »Gesetz« in doppeltem Sinne. Wenn wir von Sittengesetzen und Staatsgesetzen sprechen, meinen wir Vorschriften, die befolgt werden sollen, mit denen das Geschehen nicht immer im Einklange steht. Die Naturgesetze sind das Allgemeine des Naturgeschehens, dem dieses immer gemäß ist. Mehr in diesem Sinne spreche ich von Gesetzen des Wahrseins. Freilich handelt es sich hierbei nicht um ein Geschehen, sondern um ein Sein. Aus den Gesetzen des Wahrseins ergeben sich nun Vorschriften für das Fürwahrhalten, das Denken, Urteilen, Schließen.

Wie in anderen Wissenschaften können auch die logischen und arithmetischen Gesetze sowohl als Gesetze aufgefasst werden, die besagen, was ist, als auch »als vorschreibend, es solle im Einklange damit gedacht werden«. Sie unterscheiden sich jedoch von den Naturgesetzen dadurch, dass das, was sie beschreiben, »kein Geschehen, sondern ein Sein« sei. Es scheint nun, dass Frege in seiner Argumentation gegen den Formalismus zunächst einfach die stärkere Art der Normativität für die logischen und arithmetischen Gesetze in Anspruch nimmt; wir erhalten also:

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Ged.: 342. A

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(3) Die sich aus den logischen und arithmetischen Gesetzen ergebenden Vorschriften können zwar verkannt, aber nicht übertreten werden. Hieraus folgt dann gemäß Prämissen (1) und (2), dass die logischen und arithmetischen Gesetze eine Wahrheit zum Ausdruck bringen müssen. Offenbar ist nun für Frege nicht jedes Gesetz, das vorschreibt, es solle im Einklang damit gedacht werden, eines, das besagt, was ist. Freges Überlegung ist offenbar, dass nur wenn ein Gesetz besagt, was ist – wenn es also eine Wahrheit zum Ausdruck bringt –, seine Normativität für uns den Grad von Verbindlichkeit erreicht, dass wir in Einklang mit ihm denken müssen. Die Normativität im stärkeren Sinne richtet sich demnach aber bei Frege somit letztendlich nach dem Wert, den die Wahrheit für uns hat, denn wir können natürlich ein solches Gesetz auch ignorieren oder es verkennen, was im praktischen Leben ja oft genug geschieht. Wir erhalten also so etwas wie: (Def) Ein Gesetz kann zwar verkannt, aber nicht übertreten werden im Sinne des in (2) erwähnten Normativitätsbegriffs gdw. wenn es um Wahrheitsfindung geht – d. h. es kann nicht übertreten werden, ohne dass wir dabei die Wahrheit, verfehlen. Ein Sitten- oder Staatsgesetz wäre demnach also auch nur deshalb überhaupt übertretbar in diesem Sinne – und nicht nur lediglich verkennbar –, weil es nicht den Anspruch erhebt, eine Tatsache, etwa über den Begriff der Sitte oder des Staates überhaupt, auszusagen. Dies erscheint zumindest auf den ersten Blick einleuchtend, da ja Staaten oder Sitten existieren können, die auf ganz anderen Richtlinien beruhen als den unsrigen. Hieraus scheint sich zu ergeben, dass wir Prämissen (2) und (3), in denen vom starken Normativitätsbegriff die Rede ist eigentlich schärfer fassen müssen, nämlich als: (2*) Wenn die Normativität eines Gesetzes derart ist, dass es zwar verkannt, aber nicht übertreten werden könnte, ohne dabei die Wahrheit zu verfehlen, dann wurde es im Namen der Vernunft oder Natur aufgestellt. (3*) Die sich aus den logischen und arithmetischen Gesetzen ergebenden Vorschriften können zwar verkannt, aber nicht übertreten werden, ohne dabei die Wahrheit zu verfehlen. 240

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Hieraus würde folgen, dass die logischen und arithmetischen Gesetze im Namen der Vernunft oder der Natur aufgestellt wurden, und dass sie genau deshalb – gemäß Prämisse (1) – selbst wiederum eine Wahrheit über die Bedeutungen der in ihm enthaltenen Zeichen ausdrücken. Was folgt aber nun hieraus bezüglich des Verhältnisses zwischen der Eigenschaft eines Gesetzes, »im Namen der Vernunft oder der Natur« aufgestellt worden zu sein und seiner Eigenschaft, eine Wahrheit über die Bedeutungen der in ihm enthaltenen Zeichen auszudrücken, die in Prämisse (1) thematisiert wurde? Frege schreibt: 234 In Wahrheit kann ja niemandem hierdurch [durch das Aufstellen rein formaler Zeichenregeln; D. L.] eine Freiheit gegeben werden, die er nicht schon hat; diese Regeln werden nicht im Namen der Natur oder der Vernunft aufgestellt […]. Es handelt sich hier nicht um Wahrheit […]; was der arithmetische Gesetzgeber als regelrecht anerkennen will, liegt in seinem Belieben …

Diese Textstelle scheint dabei nicht allein, wie ich es in meiner ursprünglichen Formulierung von Prämisse (1) zum Ausdruck brachte, Wahrheit als notwendige Bedingung dafür anzusehen, dass ein Gesetz im Namen der Vernunft oder der Natur aufgestellt wurde, sondern auch umgekehrt die Begriffe der Vernunft bzw. der Natur als notwendige Bedingungen für den der Wahrheit, Wahrheit also auch als hinreichende Bedingung für Vernunft oder Natur als dasjenige, in dessen Namen das betreffende Gesetz aufgestellt wurde. Denn Frege scheint hier nicht nur sagen zu wollen, dass nur wenn ein Gesetz eine Wahrheit über die Bedeutungen der in ihm enthaltenen Zeichen ausdrückt, es »im Namen der Vernunft oder der Natur« aufgestellt« ist, sondern auch, dass nur wenn Zeichenregeln im Namen der Vernunft oder der Natur aufgestellt werden, sie eine Wahrheit über die Bedeutungen der darin enthaltenen Wörter ausdrücken können. Es ergibt sich also: (1*) Ein Gesetz wurde »im Namen der Vernunft oder der Natur« aufgestellt« gdw. es eine Wahrheit über die Bedeutungen der in ihm enthaltenen Zeichen ausdrückt. Frege scheint also letzlich auch vorauszusetzen, dass nur wenn ein beliebiges Gesetz »im Namen der Vernunft oder der Natur« auf234

GGA II: § 110. A

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gestellt wurde, es überhaupt eine Wahrheit zum Ausdruck bringen kann. Im Namen von etwas aufgestellt worden zu sein, bedeutet intuitiv, dass dieses Etwas dem Aufgestellten Autorität bzw. Berechtigung verleiht. Es ist nun bereits klar, dass Frege nicht der Ansicht war, dass die logischen und arithmetischen Gesetze Naturgesetze darstellen. Sie tun dies nicht, Frege zufolge, weil sie »kein Geschehen, sondern ein Sein« beschreiben, nämlich das Wahrsein überhaupt. Für Frege bedeutet dies, dass das, was sie beschreiben, zeitlos sein muss, im Unterschied zu dem, was Naturgesetze beschreiben. Die Gesetze der Logik können also auch nicht etwa auf der Biologie des Menschen beruhen, da diese im Prinzip veränderlich ist. Wenn aber unsere biologische Natur nicht hinreicht, den logischen Gesetzen ihre Autorität zu verleihen, so kann es nach Frege offenbar nur die Vernunft sein – bzw. »Natur« in einem apriorischen Sinn, der selbst wiederum durch die Vernunft oder die Art und Weise unseres Denkens über die Natur bestimmt ist. Dass ein logisches Gesetz berechtigt oder wahr ist, muss demnach für Frege bedeuten, dass es im Namen der Vernunft aufgestellt wurde. Vom heutigen Standpunkt aus ließe sich nun einwenden, dass selbst, wenn – wie Frege es im Sinne seines Prioritätsprinzips annahm – Bedeutungen nur im Kontext wahrheitsfähiger Sätze eindeutig identifizierbar sind – man Sitten- oder Staatsgesetze z. B. im Sinne Searles als institutionelle Tatsachen auffassen kann, 235 die also in diesem Sinne besagen würden, was ist, und aus aus denen sich dann automatisch Vorschriften für unser Verhalten ergeben würden. Jedes Sitten- oder Staatsgesetz wäre demnach als eine konstitutive Beschreibung eines konkreten Sitten- oder Staatsbegriffes aufzufassen. Wenn sich eine solche Auffassung von Sittengesetzen oder Staatsgesetzen mit Freges Begriff der logischen Klarheit in Einklang bringen ließe, dann würde in diesem Falle gemäß (1*), (2*) und (3*) auch folgen, dass die betreffenden Gesetze »im Namen der Vernunft oder der Natur« aufgestellt wurden und deshalb auch denselben starken Normativitätsanspruch haben würden, den Frege Naturgesetzen oder Vernunftgesetzen zuschreibt. Gegen die Sitten- oder Staatsgesetze zu verstoßen, wäre in diesem Fall einfach darauf zurückzuführen, dass man sie verkannt – ihre Wahrheit nicht anerkannt oder zu einem gegebenen Zeitpunkt verfehlt – hat. Dasselbe könnte man nun aber auch von Spielregeln oder von 235

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Vgl. dazu Searle 1969: 50 ff.

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Regeln einer formalen Kunstsprache sagen, wie der der Mathematik. Selbst wenn man diese Regeln so auffasst, dass sie sich auf Zeichen anstatt auf Zeicheninhalte beziehen, ließe sich hier im Prinzip ein Wahrheitsbegriff anwenden, sofern man die Zeichenregeln so auffasst, dass sie institutionelle Tatsachen – nämlich Spielzüge in einem Rechenspiel – zum Ausdruck bringen. Die Idee einer institutionellen Tatsache wäre demnach – sofern sie mit Freges Begriff der logischen Klarheit vereinbar ist – wohl eine Herausforderung an seine Argumentation gegen den Formalismus. Aber mehr noch: Man könnte die Gesetze der Logik selbst als Aussagen betrachten, die so etwas wie institutionelle oder konventionelle Tatsachen beschreiben; dann hätte man Wahrheit selbst als einen konventionellen oder institutionellen Wert bestimmt. Gemäß (1) wären die logischen und arithmetischen Gesetze dann noch immer »im Namen der Vernunft oder der Natur« aufgestellt, und gemäß (2) scheinen sie dann auch noch immer die starke normative Autorität zu besitzen, die Frege ihnen zuspricht – gegen sie zu verstoßen, könnte dann nur so erklärt werden, dass man sie verkennt oder nicht akzeptiert, so wie man ein bestimmtes Sittengesetz, als institutionelle Tatsache aufgefasst, möglicherweise verkennen oder nicht akzeptieren mag. In diesem Falle würde freilich der Begriff der Vernunft ebenso zu einem konventionalen oder gar stipulativen Begriff werden wie der der Wahrheit selbst. Und schließlich: Die Begründung der logischen Gesetze selbst würde dann rein semantisch, d. h. mit Rekurs auf die konventional festgelegten Bedeutungen der logischen Zeichen allein erfolgen. Mit Erkenntnistheorie hätte diese Art Begründung dann nur noch wenig zu tun; denn aus welchem Grunde wir die Bedeutungen unserer logischen Zeichen so festlegen, wie wir es tun, wäre in diesem Fall vollkommen irrelevant. Im Grunde genommen würde es sich hier gar nicht um eine Rechtfertigung handeln, da diese ja nur im Rekurs auf Konventionen erfolgt, die selbst wiederum ganz beliebig sein können. Frege begegnet jedoch dieser Herausforderung damit, dass er die Vernunft, oder genauer: den durch die Vernunft gesetzten Wahrheitsbegriff, als unabhängig von konkreten logischen Axiomen oder Zeichenregeln zu beschreiben und genau dadurch seine Beliebigkeit auszuschließen sucht. Ein wichtiger Schritt scheint hierbei die These von der Undefinierbarkeit von Wahrheit zu sein, da sie impliziert, dass Wahrheit nicht auf irgendeinen anderen – ob semantischen, syntakischen psychologischen oder psysikalischen Begriff – reduziert A

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oder relativiert werden kann. Allerdings schließt die Undefinierbarkeit der Wahrheit per se noch nicht aus, dass sie z. B. ein rein semantischer Begriff sein könnte – falls wir z. B. undefinierbare semantische Begriffe gibt. Der zweite nötige Schritt – den er allerdings von der Undefinierbarkeitsthese nicht wirklich zu unterscheiden scheint – ist Freges Idee, dass die primären Wahrheitswertträger nicht syntaktische Gebilde, etwa Aussagesätze, sondern vielmehr, zumindest ab seiner mittleren Phase, die Gedanken selbst sind. 2.3.5. Primäre und sekundäre Wahrheitsträger Sätze – im Sinne von Wahrheitswertnamen 236 – sind demnach nur sekundäre Wahrheitsträger, die einen Wahrheitswert nur im übertragenen Sinne aufgrund der durch sie ausgedrückten Gedanken erhalten. 237 Man kann Frege zufolge von wahren Sätzen, wahren Bildern oder Vorstellungen sprechen, in dem Sinne, dass diese in einer Übereinstimmung von etwas mit etwas bestehen, aber dann ist noch immer die dabei behauptete Wahrheit stets die eines Gedankens – nämlich des Gedankens, dass eine solche Übereinstimmung besteht: 238 »Man findet die Wahrheit ausgesagt von Bildern, Vorstellungen, Sätzen und Gedanken. Es fällt auf, dass hier sichtbare und hörbare Dinge zusammen mit 236 Ich verwende hier den Ausdruck »Satz« nicht im Sinne von Freges »Begriffsschriftsatz«; dieser Ausdruck bezieht sich bei Frege auf begriffsschriftliche Gebilde, die ein Urteilszeichen enthalten, und somit eine wesentlich behauptende im Gegensatz zu einer besagenden oder beschreibenden Funktion haben. 237 Vgl. dazu KL 189: »Der sprachliche Ausdruck eines Gedankens ist der Satz. Man spricht im übertragenen Sinne auch von Wahrheit eines Satzes. Ein Satz kann nur dann wahr oder unwahr sein, wenn er Ausdruck eines Gedankens ist«, sowie Ged 344: »Was nennt man einen Satz? Eine Folge von Lauten; aber nur dann, wenn sie einen Sinn hat, womit nicht gesagt sein soll, daß jede sinnvolle Folge von Lauten ein Satz sei. Und wenn wir einen Satz wahr nennen, meinen wir eigentlich seinen Sinn. Danach ergibt sich als dasjenige, bei dem das Wahrsein überhaupt in Frage kommen kann, der Sinn eines Satzes. […] Ohne damit eine Definition geben zu wollen, nenne ich Gedanken etwas, bei dem überhaupt Wahrheit in Frage kommen kann. Was falsch ist, rechne ich ebenso zu den Gedanken, wie das, was wahr ist.« 238 Ged 343 f. Dieses zentrale Argument für die Undefinierbarkeit der Wahrheit findet sich in einer früheren Version auch in Log II: 139 f., 142, 145 f.; ich zitiere hier die spätere, reifere Version, die Frege selbst zur Veröffentlichung freigegeben hat. Zu Freges Argument über die Undefinierbarkeit der Wahrheit siehe die ausführliche Diskussion in Greimann 1994.

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Sachen vorkommen, die nicht mit den Sinnen wahrgenommen werden können. Das deutet darauf hin, dass Verschiebungen des Sinnes vorgekommen sind. In der Tat! Ist denn ein Bild als bloßes sichtbares, tastbares Ding eigentlich wahr? und ein Stein, ein Blatt ist nicht wahr? Offenbar wurde man das Bild nicht wahr nennen, wenn nicht eine Absicht dabei wäre. Das Bild soll etwas darstellen. Auch die Vorstellung wird nicht an sich wahr genannt, sondern nur im Hinblick auf eine Absicht, daß sie mit etwas übereinstimmen solle. Danach kann man vermuten, daß die Wahrheit in einer Übereinstimmung eines Bildes mit dem Abgebildeten bestehe. […] Was müssten wir dann aber tun, um zu entscheiden, ob etwas wahr wäre? Wir müssten untersuchen, ob es wahr wäre, dass etwa eine Vorstellung und ein Wirkliches – in der festgesetzten Hinsicht übereinstimmten. Und damit ständen wir wieder vor einer Frage derselben Art, und das Spiel könnte von neuem beginnen. So scheitert dieser Versuch, die Wahrheit als eine Übereinstimmung zu erklären. So scheitert aber auch jeder andere Versuch, das Wahrsein zu definieren. Denn in einer Definition gäbe man gewisse Merkmale an. Und bei der Anwendung auf einen besonderen Fall käme es dann immer darauf an, ob es wahr wäre, daß diese Merkmale zuträfen. So drehte man sich im Kreise. Hiemach ist es wahrscheinlich, daß der Inhalt des Wortes »wahr« ganz einzigartig und undefinierbar ist.«

Dasselbe ist der Fall, würde man versuchen, Wahrheit als die Übereinstimmung eines Satzes mit einer Tatsache zu definieren. Freges Argument gegen die Idee der Wahrheit als Übereinstimmung einer subjektiven Vorstellungsverbindung mit der Wirklichkeit lässt sich gleichermaßen auf alle möglichen Variationen einer sogenannten Korrespondenz- oder Abbildtheorie der Wahrheit anwenden. Freges Kernidee ist, dass jede konkrete Instanziierung einer Abbildbeziehung selbst wiederum eine Tatsache darstellen muss, sodass wir, wenn wir Wahrheit als Übereinstimmung eines logischen Bildes mit der Wirklichkeit definieren wollten, eine Definitionsgleichung der folgenden Form aufstellen müssten: (W) (Ein Wahrheitswertträger) X ist wahr gdw. (es wahr ist dass) es einen Wahrmacher Y für X gibt, mit dem X übereinstimmt. Dieser Satz stellt nun nach Freges Kriterien für die Adäquatheit von Definitionen offenbar deshalb keine Definition der Wahrheit dar, weil das Definiendum »ist wahr« im Definiens bereits enthalten ist. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn wir »ist wahr« in beiden Vorkommnissen dieselbe Bedeutung zuschreiben. Man könnte freilich – in Einklang mit meinen vorigen Überlegungen zum primären und sekundären Wahrheitsbegriff bei Frege »ist wahr« im Definiendum A

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auch verschieden von »ist wahr« im Definiens auffassen; dann ließe sich gemäß Freges Auffassung des primären Wahrheitsbegriffs (W) z. B. in eine sekundäre Wahrheitsdefinition umformen – d. h. in eine Definition des sekundären aufgrund eines primären Wahrheitsbegriffs: (W*) (Ein Satz) X ist (sekundär) wahr gdw. (es primär wahr ist, dass) X mit seinem Wahrmacher Y übereinstimmt. In diesem Fal hätte man den sekundären auf den primären Wahrheitsbegriff zurückgeführt, der seinerseits undefiniert bleibt. Freges These von der Undefinierbarkeit der Wahrheit betrifft daher lediglich den primären Wahrheitsbegriff, welcher nicht auf Sätze, sondern unmittelbar auf Gedanken angewendet wird. Dieser eigentliche, primäre Wahrheitsbegriff – d. h. der Inhalt des Wortes »wahr«, wie er in der behauptenden Kraft zum Ausdruck kommt – wäre demnach so zu verstehen, dass die Wahrheit des Wahrheitsträgers aus dessen vollständiger Übereinstimmung mit seinem »Wahrmacher«, und d. h. in diesem Fall mit einer objektiven Tatsache resultiert. 239 Wahre Denkinhalte sind demnach identisch mit Tatsachen; die Frage eines Vergleichs einer Entität mit einer anderen kommt im Rahmen dieser Konzeption gar nicht auf. 240 Die Wahrheit von Sätzen hingegen kann jedoch nicht in ihrer Identität, sondern muss in einer anderen Art von Beziehung zu einer Tatsache liegen, die sie ausdrükken – einer Beziehung, die bei Frege der des Ausdrückens eines wahren Gedankens entsprechen würde. Freges Argument für die Undefinierbarkeit der Wahrheit lässt sich u. a. als Kritik an Russells und des frühen Wittgenstein Abbildtheorien der Wahrheit auffassen. 241 Mit Wittgensteins Auffassung von Wahrheit als Übereinstimmung eines logischen Bildes mit der Wirklichkeit sollte Frege über seinen persönlichen Kontakt zu ihm 239 Es kann sich hierbei freilich nicht wiederum um eine Definition des Wahrheitsbegriffs handeln; denn Wahrheit scheint für Frege kein komplexer Begriff zu sein, den man weiter in logische Bestandteile zerlegen könnte. Zudem scheint Frege umgekehrt den Begriff der Tatsache mit Hilfe der Begriffe des Gedankens und des Wahren zu explizieren. Vgl. dazu auch Greimann 2003: 66 f., 217. Nichtdestotrotz können wir aber sagen, dass für Frege ein wahrer Gedanke grundsätzlich identisch mit einer Tatsache ist; es handelt sich hierbei um so etwas wie eine Erläuterung des Wahrheitsbegriffs im Unterschied zu einer formalen Explikation. 240 Vgl. dazu Dodd/Hornsby 1992, Candlish 1996. 241 Laut Sluga 1999 ist Wittgenstein der eigentliche Gegner Freges in jener Argumentation.

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vertraut gewesen sein. Russell fasste jedoch bereits in einem Brief an Frege aus dem Jahre 1904 den Gedanken grundsätzlich als eine »psychologische Privatsache« auf und unterschied ihn vom »Objekt des Gedankens« welches er auch als »Komplex« bzw. – in Anlehnung an Bolzano – als »Satz-an-sich« bezeichnet. 242 Wittgenstein wurde mit Russells Ideen ab dem Jahre 1911 vertraut, als er sein Studium im Cambridge aufnahm. In beiden Fällen jedoch handelte es sich um Formen einer Abbildtheorie, wobei Wahrheit als Übereinstimmung eines Satzes oder Gedankens im psychologischen Sinne mit einer außergeistigen Tatsache aufgefasst wird. Zwar sind auch bei Frege Tatsachen unabhängig vom individuellen Denker wahr oder falsch – sie sind nichts Subjektives –, aber der Unterschied liegt hier darin, dass sie selbst als Denkinhalte gefasst werden, wodurch die Übereinstimmungsfrage gänzlich eliminiert wird. Diese Abhängigkeit der Wahrheit von Sätzen oder subjektiven Vorstellungsverbindungen von der Wahrheit von Gedanken, und die für Frege typische Gleichsetzung wahrer Gedanken mit Tatsachen scheint nun einer Definition der Wahrheit aufgrund anderer – z. B. rein semantischer oder ontologischer – Begriffe keinen Raum mehr zu lassen. Dies verhindert es auch, Wahrheit im primären Sinne bei Frege als einen semantischen Begriff zu verstehen, der allein mit Rekurs auf sprachliche Konventionen oder Zeichenregeln erläutert werden könnte. Die Tatsachen, die Frege durch die logischen Gesetze ausgedrückt sieht, können daher nicht institutionelle Tatsachen sein, ihre Wahrheit kann nicht auf Konvention beruhen, durch die sie etwa erst hervorgebracht werden. Die Zeichenregeln einer logischen Idealsprache müssen vielmehr unabhängig davon berechtigt sein, dass sie von einer wissenschaftlichen Gemeinschaft als solche eingeführt und verwendet werden. Die Berechtigungsbasis solcher Zeichenregeln, insbesondere für die logischen und mathematischen Symbole, muss außerhalb der Sprache selbst liegen, weil der Vernunftbegriff, auf den Frege die Berechtigung der Zeichenregeln zu stützen scheint, offenbar ein gänzlich unkonventionaler, nicht-institutioneller Basisbegriff ist, der sich nicht auf andere Begriffe reduzieren lässt.

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Vgl. WB: 250 f. A

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2.3.6. Epistemische Modalitäten Welche Form nehmen nun erkenntnistheoretische Begründungen bei Frege generell an, wenn die Gründe hierbei nicht wiederum Wahrheiten sein dürfen? Dies hängt wohl ebenso von der zuständigen Erkenntnisquelle ab, wie das Gerechtfertigsein von Urteilen. Im Falle aposteriorischer Erkenntnisse scheinen die Urwahrheiten aufgrund ihrer prinzipiellen Beweisbedürftigkeit – jedenfalls spricht Frege ihnen keine Nichtbeweisbedürftigkeit zu, wie wir sahen – ohnehin prinzipiell stets einer Rechtfertigung durch andere Wahrheiten zu bedürfen. Hier würde sich das Problem der spezifisch erkenntnistheoretischen Rechtfertigung also gar nicht auftun – oder jedenfalls nur im Hinblick auf diejenigen ersten Prämissen, die ihrerseits apriorischer Natur sind. Als hinreichende Bedingung einer nichtbeweisbedürftigen und somit apriorischen Urwahrheit nennt Frege deren Unbezweifelbarkeit; als psychologisches Symptom derselben ihr unmittelbares Einleuchten. Letzteres hingegen kann sicherlich nicht als erkenntnistheoretischer Grund akzeptabel sein, da das Phänomen des Einleuchtens als solches einfach nur wiederum eine psychologische Tatsache, also eine Wahrheit darstellen würde. Frege verlangt hingegen, dass eine apriorische – etwa mathematische oder logische – Urwahrheit im Namen der Vernunft überhaupt aufgestellt wird. Die Idee der Vernunft oder des objektiven Geistes liegt hier offenbar dem der Unbezweifelbarkeit zugrunde. »Unbezweifelbarkeit« impliziert ja, dass nicht anders als so rational gedacht werden kann. Freilich kann uns etwas als unbeweifelbar erscheinen, das in Wirklichkeit nicht unbezweifelbar ist. Bei einer erkenntnistheoretischen Rechtfertigung würde es also darum gehen, für die tatsächliche rationale Unbezweifelbarkeit einer Wahrheit zu argumentieren – d. h. dafür, dass ohne sie rationales Denken oder Erkennen für uns überhaupt unmöglich wäre. Da es zudem offenbar für Frege mindestens zwei verschiedene Arten unbezweifelbarer Urwahrheiten gibt, muss ferner gezeigt werden, worin die jeweilige Unbezweifelbarkeit besteht. Wir erkennen hier unschwer die Parallelen zwischen Freges Idee einer erkenntnistheoretischen Rechtfertigung und Kants Idee einer transzendentalen Deduktion. Auch letztere nämlich soll keine Antwort auf eine »quid-facti«-Frage darstellen, d. h. nicht nach einer Tatsache als Grund suchen – etwa über die psychologische Entstehung unseres Glaubens an die betreffende Wahrheit – sondern viel248

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mehr auf eine »quid-juris«-Frage, die danach danach fragt, wodurch der Anspruch des in dem betreffenden Urteil enthaltenen Begriffs auf »objektive Gültigkeit« berechtigt ist 243 , d. h. worauf sich die Notwendigkeit des betreffenden Prinzips gründet. »Objektive Gültigkeit« ist in diesem Zusammenhang als die Eigenschaft eines Begriffs zu verstehen, Objekte, die unter ihn fallen, als Erkenntnisgegenstände allererst möglich zu machen. Im Falle der reinen Verstandesbegriffe ist sie notwendige Bedingung der Wahrheitsfähigkeit jeglicher Urteile über Gegenstände überhaupt. Die Antwort auf eine quid-juris-Frage muss also nach Kant im Falle eines höchsten Erkenntnisprinzips mit Rekurs auf die »subjektiven Quellen der Möglichkeit einer Erkenntnis des Gegenstandes überhaupt« gegeben werden, d. h. es muss gezeigt werden, dass und warum es uns prinzipiell unmöglich wäre, einen Gegenstand als solchen zu erkennen, wenn das zu beweisende Prinzip nicht wahr wäre. Man kann nun sagen, dass auch die Kantische Begründungweise auf unser Fürwahrhalten abzielt und in ganz bestimmtem Sinne normativ ist – sie beantwortet die Frage, aus welchem Grund wir das betreffende Prinzip für wahr halten sollen. Sie tut dies, indem sie zeigt, dass die Falschheit des Prinzips im Widerspruch zur Möglichkeit von Erfahrung überhaupt steht. Die Stärke der Normativität, die bei einer solchen Begründung nachgewiesen wird, beruht also auf der Notwendigkeit der bzw. Anerkennung des betreffenden Prinzips im Hinblick auf die Möglichkeit seines Zweckes – was normativ in diesem Sinne ist, dem kann nicht zuwidergehandelt werden ohne dass dieser Zweck dabei nicht erfüllt wird. Hätte Dummett nun Recht mit seiner Behauptung, Frege habe eine Rechtfertigung der logischen Grundgesetze für unmöglich gehalten, dann würde sich dieser offenbar als ein Dogmatiker, kein kritischer Philosoph im Sinne Kants erweisen. Und wenn Dummett generell meint, dass Frege in dieser Hinsicht die moderne Logik begründet habe, dann ist eben auch die moderne Logik und alle darauf beruhende Philosophie, so wie Dummett sie versteht, zwangsläufig dogmatisch in jenem Sinne. Denn nur eine kritische Philosophie hinterfragt natürlicherweise ihre eigenen Grundprinzipien und verlangt somit nach deren Rechtfertigung – denn, so Kant, »widrigenfalls beurteilt der unbefugte Geschichtsschreiber und Richter grundlose Behauptungen anderer, durch seine eigenen, die ebenso grundlos 243

Vgl. KrV: A 84 ff./B 116 ff. A

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sind«. 244 War nun Frege ein kritischer oder ein dogmatischer Philosoph? Ich würde sagen, in der Mitte zwischen beiden, wobei ein gewisser Mangel an tiefergehenden kritischen Untersuchungen in seinem Werk kaum zu übersehen, aber auch einfach dadurch erklärbar ist, dass er kein sehr erfahrener, noch auch historisch versierter Philosoph war. Es scheint, dass er der Idee einer kritischen Philosophie sehr wohl zugeneigt war und sie bis zu einem gewissen Grad selbst praktizierte. Interessant ist zunächst, dass er wie Kant in widerholtem Maße auf die Rechtsterminologie zurückgreift, wenn es um die Aufgaben und Geltungsansprüche der Logik und Arithmetik geht, sowie auf die Idee der Normativität logischer Gesetze, wenn es darum geht sie zu begründen. Er weist auch auf eine unmittelbare Affinität der Mathematik (und Logik) zur Rechtswissenschaft hin, insofern in beiden dem Schließen und Definieren besondere Wichtigkeit zukomme. 245 Wenn wir uns seinen Versuchen zuwenden, Logik und Geometrie erkenntnistheoretisch zu begründen, finden wir, dass Frege an die Tradition transzendentaler Deduktionen anzuknüpfen versucht, wenngleich seine Argumentationen freilich nie auch nur annähernd die Komplexität und Dichte der Kantischen erreichen. Insbesondere aber scheint Frege sich nie ernsthaft mit der Idee befasst zu haben, wie sich ein Grund des Fürwahrhaltens überhaupt im Sinne seiner Logik als ein rationaler Grund denken ließe. Bei Kant ist die grundlegende Idee hier die der Unmöglichkeit. »Unmöglichkeit« kann bei Kant zweierlei meinen: Nämlich entweder Undenkbarkeit oder Unerkennbarkeit. Kant unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen logischer und realer Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit, und analog zwischen formaler (logischer) und materialer Notwendigkeit. 246 Möglichkeit und Notwendigkeit als rein formale Kategorien betreffen lediglich die Form der Begriffe und ihrer Verknüpfung miteinander; sie beruhen lediglich auf dem Satz des Widerspruchs; es darf ihnen keinerlei Annahme über die Struktur oder das Wesen der Welt zugrundeliegen. Reale oder materiale – oder auch »transzendentale« – Modalitäten hingegen beruhen nicht allein auf dem Satz des Widerspruchs, sondern auch auf den anderen

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KrV: B 27. Vgl. LM: 219. Vgl. KrV: B xxvi, Anm.

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Grundsätzen der transzendentalen Analytik, die die Bedingungen der Möglichkeit sinnlicher Erfahrung überhaupt betreffen: 247 Die Möglichkeit eines Gedankens oder Begriffs beruht auf dem Satze des Widerspruchs, z. B. der eines denkenden unkörperlichen Wesens (eines Geistes). Das Ding, wovon selbst der bloße Gedanke unmöglich ist (d. i. der Begriff sich selbst widerspricht), ist selbst unmöglich. Das Ding aber, wovon der Begriff möglich ist, ist darum nicht ein mögliches Ding. Die erste Möglichkeit kann man die logische, die zweite die reale Möglichkeit nennen; der Beweis der letztern ist der Beweis der objectiven Realität des Begriffs, welchen man jederzeit zu fordern berechtigt ist. Er kann aber nie anders geleistet werden, als durch Darstellung des dem Begriffe correspondirenden Objects; denn sonst bleibt es immer nur ein Gedanke, welcher, ob ihm irgend ein Gegenstand correspondire, oder ob er leer sei, d. i. ob er überhaupt zum Erkenntnisse dienen könne, so lange, bis jenes in einem Beispiel gezeigt wird, immer ungewiß bleiben.

Aus der bloß logischen Möglichkeit eines Begriffs – seiner Widerspruchsfreiheit – folgt demnach nach Kant keineswegs, dass es real (empirisch) mögliche Gegenstände gibt, auf die er zutreffen kann. Reale Möglichkeit setzt logische Möglickeit zwar voraus, folgt aber nicht umgekehrt aus ihr. Im Falle von analytischen – logisch wahren – Urteilen ist Kants Kriterium demgemäß, dass ihr Gegenteil einen unmittelbaren Widerspruch ergibt und in diesem Sinne logisch unmöglich – undenkbar – ist. In dieser Hinsicht folgt Kants Begriff des analytischen Urteils vollkommen Leibniz’ Idee einer ersten Vernunftwahrheit bzw. eines identischen Satzes. In beiden Fällen kann die Wahrheit gewissermaßen durch einen unmittelbaren indirekten Beweis eingesehen werden, nämlich indem man die Negation des betreffenden Urteils bildet und sieht oder zeigt, inwiefern sie in einen Widerspruch führt. Dies könnte uns nun auch einen Anhaltspunkt darüber geben, worin eine erkenntnistheoretische Rechtfertigung der logischen Urgesetze im Sinne Freges bestehen mag. Ein indirekter Beweis nämlich beruht nicht auf Wahrheiten, sondern auf Falschheiten, obwohl er zur rationalen Erkenntnis von Wahrheiten führt. Frege rechnete daher den indirekten Beweis ausdrücklich nicht zu den Rechtfertigungen im logischen Sinne, d. h. nicht zu den eigentlichen deduktiven Beweisen; dies folgt unmittelbar aus seiner Charakterisierung des Schließens. Somit erweist sich der indirekte Beweis als ein mög247

FORT: AA XX 325 f. A

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licher Kandidat für eine erkenntnistheoretische Rechtfertigung. Frege schreibt selbst: 248 »Gedanken, die sich vielleicht später als falsch herausstellen, haben ihre Berechtigung in der Wissenschaft und dürfen nicht als nicht seiend behandelt werden. Man denke an den indirekten Beweis. Hierbei vollzieht sich die Erkenntnis der Wahrheit geradezu durch das Fassen eines falschen Gedankens.«

Im Falle des indirekten Beweises hätten wir also gewissermaßen einen Grund, der keine Wahrheit ist und dennoch zur Erkenntnis einer Wahrheit führt. Allerdings hilft dies noch nichts im Falle des Satzes vom Widerspruch selbst – die Erkenntnis, dass wir sein Gegenteil für falsch halten sollen, kann ja nicht wiederum auf dem Satz vom Widerspruch beruhen – dies wäre zirkulär. Es käme hier wiederum darauf an, auf unabhängige Weise für die Unmöglichkeit des Gegenteils zu argumentieren – d. h. ohne den Satz des Widerspruches selbst vorauszusetzen –, und damit zugleich für die absolute Normativität des betreffenden Gesetzes. Eine solche Argumentation könnte etwa nach dem folgenden Muster verlaufen. Wir haben gesehen, dass zwar auch Sitten- oder Staatsgesetze in einem schwachen Sinne normativ sind; individuelle Staats- oder Sittengesetze sind jedoch im Hinblick auf ihre grundsätzliche Funktion – ein Staats- oder Sittensystem zu konstitutieren – austauschbar. Den Grundsätzen der Logik und transzendentalen Analytik hingegen kann nach Kant nicht zuwidergehandelt werden, ohne dass dabei Denken und Erkenntnis für uns überhaupt unmöglich wird – es gibt für uns keine alternativen Grundsätze, auf denen alle unsere Erkenntnis beruht. Es gibt keine alternative Grundlage des Denkens und der Erkenntnis – oder auch des ethischen Handelns – während sich prinzipiell verschiedene Gesetzessysteme für die Staatsführung oder die Sittenhaftigkeit ausdenken lassen, die gleichmaßen gut den Zweck erfüllen würden, Ordnung im Staat zu erhalten. Nun könnte man hier einwenden, dass sich doch die Behauptung der Notwendigkeit eines Prinzips für Erkenntnis, rationales Denken oder ethischen Handelns in gewissem Sinne ebenfalls als eine Tatsache auffassen ließe, nämlich als modale Tatsache, die einen Notwendigkeitsoperator enthalten würde. Somit wäre der Hinweis auf die Unmöglichkeit von Denken ohne die Anerkennung gewisser Prinzi248

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Vern: 364.

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pien eigentlich kein Grund, der keine Wahrheit ist, wie Frege es für einen epistemischen Grund verlangt hatte. Kant scheint jedoch modale Tatsachen bzw. Urteilsinhalte nicht anerkennen zu wollen. Die Modalität von Urteilen – die die Momente des problematischen, des assertorischen und des apodiktischen Urteils unter sich enthält – ist nach Kant offenbar als epistemische, nicht als ontologische Kategorie anzusehen; sie soll daher nicht irgendetwas Zusätzliches zum Inhalt des nachfolgenden Urteils beitragen, dem sie zugefügt wird. Kant schreibt hierzu: 249 Die Kategorien der Modalität haben das Besondere an sich: dass sie den Begriff, dem sie als Prädikate beigefügt werden, als Bestimmung des Objekts nicht im mindesten vermehren, sondern nur das Verhältnis zum Erkenntnisvermögen ausdrücken. Wenn der Begriff eines Dinges schon ganz vollständig ist, so kann ich doch noch von diesem Gegenstande fragen, ob er bloß möglich, oder auch wirklich, oder, wenn er das letztere ist, ob er gar notwendig sei? Hierdurch werden keine Bestimmungen mehr im Objekte selbst gedacht, sondern es fragt sich nur, wie es sich (samt allen seinen Bestimmungen) zum Verstande und dessen empirischen Gebrauche, zur empirischen Urteilskraft und zur Vernunft (in ihrer Anwendung auf Erfahrung) verhalte?

Die Modalität der Urteile ist eine ganz besondere Funktion derselben, die das Unterscheidende an sich hat, daß sie nichts zum Inhalte des Urteils beiträgt […], sondern nur den Wert der Copula in Beziehung auf das Denken überhaupt angeht. Problematische Urteile sind solche, wo man das Bejahen oder Verneinen als bloß möglich (beliebig) annimmt. Assertorische, da es als wirklich (wahr) betrachtet wird. Apodiktische, in denen man es als notwendig ansieht. […] Weil nun hier alles sich gradweise dem Verstande einverleibt, so dass man zuvor etwas problematisch urteilt, darauf auch wohl es assertorisch als wahr annimmt, endlich als unzertrennlich mit dem Verstande verbunden, d. i. als notwendig und apodiktisch behauptet, so kann man diese drei Punktionen der Modalität auch so viel Momente des Denkens überhaupt nennen. Für Kant sind also Modalitäten nur »Momente des Denkens überhaupt«, die das Verhältnis eines Urteilsinhaltes bzw. Begriffs »zum Erkenntnisvermögen überhaupt« ausdrücken, nicht aber potentielle Inhalte von Urteilen. Dies ist nun interessant, da es unmittelbar mit der Frage zusammenhängt, wie eine Rechtfertigung gegeben werden kann, die keine Tatsache, keinen Urteilsinhalt, als Grund 249

KrV A 219, B 266; KrV: A 226 f., B 279 f.; KrV: A 47 ff. B 100 f. A

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anführt. Wenn wir z. B. sagen »Das Urteil »Jedes Ereignis hat eine Ursache« muss wahr sein, weil es uns unmöglich wäre, Ereignisse in anderer Weise zu denken«, dann würden wir doch aus heutiger Sicht verlangen, dass dieser angegebene Grund wahr ist, denn man könnte hierüber ja auch streiten. Kant meinte nun offenbar, dass der Grund hier nur in einem bestimmten Verhältnis des Gedachten zu unserem Denk- oder Erkenntnisvermögen liegt – und da uns davon keine Anschauung gegeben werden kann, haben wir auch keinen wirklichen Erkenntnisinhalt. Kant transzendentale Argumentationsstrukturen scheinen demnach auf Sätze oder Gedanken angewiesen zu sein, die zwar rational (vernunftgeleitet) sind, deren modaler Teil jedoch keine wirkliche Erkenntnis zum Ausdruck bringt, die also in gewissem Sinne leer, nämlich weder wahr noch falsch sind. Damit versuchte Kant offenbar, eine dogmatische, rationale Psychologie zu umgehen, bei der sich der Verstand anmaßen würde, das Ich an sich in seinem Wesen zu durchschauen. Wir finden bei Frege zwar eine der Kantischen bis zu einem gewissen Grad ähnliche Auffassung von Modalitäten; allerdings ist die einzige Charakterisierung derselben, die er uns überhaupt gibt – nämlich diejenige aus der Begriffsschrift – schwerlich anwendbar auf solche Urteile, die eine »erkenntnistheoretische« oder »transzendentale« Rechtfertigung im genannten Sinne erfordern würden. Wie Kant zählte Frege die Kategorien der Modalität nicht zum eigentlichen, für die Logik relevanten begrifflichen Inhalt des Urteils, sondern sie reduzieren sich nach seiner Auffassung auf eine bloße Verschiedenheit in der epistemischen Einstellung der urteilenden Person, oder auch in der Art und Weise, ob und wie das Urteil objektiv bewiesen werden kann. Er schreibt hierzu: 250 Das apodiktische Urtheil unterscheidet sich vom assertorischen dadurch, dass das Bestehen allgemeiner Urtheile angedeutet wird, aus denen der Satz geschlossen werden kann, während bei dem assertorischen eine solche Andeutung fehlt. Wenn ich einen Satz als nothwendig bezeichne, so gebe ich dadurch einen Wink über meine Urtheilsgründe. Da aber hierdurch der begriffliche Infialt des Urtheils nicht berührt wird, so hat die Form des apodiktischen Unheils für uns keine Bedeutung. Wenn ein Satz als möglich hin250 BS: § 4. Gabriel 1989a weist darauf hin, dass auch Lotze eine epistemische Auffassung der Modalitäten vertreten habe; möglicherweise ist diese jedoch einfach ein Charakteristikum aller anti-naturalistischen Positionen innerhalb der Neukantianischen Strömungen.

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gestellt wird, so enthält sich der Sprechende entweder seines Urtheils, indem er andeutet, dass ihm keine Gesetze bekannt seien, aus denen die Verneinung folgen würde; oder er sagt, dass die Verneinung des Satzes in ihrer Allgemeinheit falsch sei. Im letzteren Fall haben wir ein particular bejahendes Urtheil nach der gewöhnlichen Bezeichnung. »Es ist möglich, dass die Erde einmal mit einem anderen Weltkörper zusammenstößt« ist ein Beispiel für den ersten, und »eine Erkältung kann den Tod zur Folge haben« ist eins für den zweiten Fall.

Frege zufolge fügen also die Modalitäten dem Inhalt des Urteils nichts hinzu, sondern sie betreffen lediglich die Urteilsgründe, wobei hier auch der Begriff der Allgemeingültigkeit bzw. Universalität eine wichtige Rolle zu spielen scheint. Man bezeichnet ein Urteil nach Frege zu Recht als problematisch – seinen Inhalt als möglich – wenn man unzulängliche Gründe dafür hat, sein Gegenteil anzunehmen oder wenn man weiß, dass sein Gegenteil (etwa: »Eine Erkältung hat nicht den Tod zur Folge«) nicht allgemeingültig ist. Frege spricht im ersten Fall auch von einer Urteilsenthaltung. Möglichkeit im ersten Sinne ließe sich demnach einfach durch das Weglassen der behauptenden Kraft bzw. des Urteilszeichens zum Ausdruck bringen. Demnach wäre ein Urteil als unmöglich zu klassifizieren, wenn man weiß, dass sein Gegenteil wahr bzw. allgemeingültig ist. Analog bezeichnet Frege ein Urteil als apodiktisch bzw. notwendig, wenn es allgemeine Gesetze gibt, aus denen allein das Urteil geschlossen werden kann. »Notwendigkeit«, »Möglichkeit« und »Unmöglichkeit« sind aber gleichzeitig für Frege nur Mittel, um etwas »anzudeuten«; sie können schon deshalb offenbar nichts zum Inhalt eines Urteils beitragen – sie haben keinen »Sinn« in Freges spezifischem Sinne des Wortes bzw. drücken keinen begrifflichen Inhalt aus. In dieser Hinsicht gleichen sie dem Urteilszeichen selbst bzw. der behauptenden Kraft, die ja auch nichts zum Inhalt des Urteils hinzufügen soll, sondern vielmehr nur dessen Wahrheit behauptet. Damit aber würde auch Frege – ähnlich wie Kant – den Bereich des Modalen offenbar aus dem Bereich möglicher Wahrheiten und somit möglicher Erkenntnisse ausgrenzen. 251 Dies steht in Einklang mit seiner Auffassung, dass Gründe des Fürwahrhaltens – im Unterschied zu Gründen des Wahrseins – selbst wiederum keine Wahrheiten sind, sofern modale Urteile als solche Gründe infrage kommen. 251 Gabriel 1996 interpretiert Freges frühe Auffassung der Modalitäten als im Wesentlichen psychologische, insofern hier nur davon die Rede ist, was der Denker selbst als seine Gründe ansieht.

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Was jedoch bei Frege zu fehlen scheint, ist gewissermaßen eine semantisch-konzeptuelle Basis für die Idee eines rationalen Grundes – eines Grundes, der der Vernunft des Denkers irgendwie zugänglich sein muss –, der keinen wahrheitsfähigen Denkinhalt darstellt bzw. der modalen Charakter hat. Frege verfügte zwar ab seiner mittleren Phase über die Idee von Scheingedanken; und man könnte diese Idee durchaus mit der einen »leeren« Gedankens oder Begriffs im Sinne Kants vergleichen. Dennoch finden wir bei Frege im Unterschied zu Kant diese Idee nicht systematisch in seine Logik oder Erkenntnistheorie aufgenommen. Frege lässt zwar Raum für eine psychologische Interpretation von modalen Sätzen – ähnlich derjenigen, die er später von Sätzen der Form »A weiß, dass …«, »A glaubt, dass …« gibt 252 – die aber seiner eigenen Auffassung nach keine Grundlage für die Darstellung einer erkenntnistheoretischen Rechtfertigung darstellen könnte. Er geht nicht darauf ein, was wir eigentlich – unabhängig von empirisch-psychologischen Fakten über uns oder andere – meinen, wenn wir versuchen, eine genuin erkenntnistheoretische Rechtfertigung der logischen Grundgesetze zu geben, die auf die Unmöglichkeit, anders zu denken, verweist. Selbst, wenn es sich dabei um einen Scheingedanken handeln würde, so hätte Frege diese Art Gedanken genauer zu erläutern, um seiner Erkenntnistheorie eine konsistente Basis zu verleihen. Freges Charakterisierung der apodiktischen Urteile passt nun aber auch aus einem anderen Grund schwerlich zu einem Fall, in dem die Notwendigkeit unserer Anerkennung der logischen Grundgesetze zum Ausdruck gebracht wird, bzw. die »Unmöglichkeit, sie zu verwerfen«. Denn Notwendigkeit wird ja hier mit Rekurs auf das Vorhandensein allgemeiner Gesetze – also Wahrheiten – erklärt, was keinen Raum für eine erkenntnistheoretische Rechtfertigung der Grundgesetze selbst lässt. Freges einzige Diskussion des Begriffs der Notwendigkeit – der eine so wichtige Rolle für die Idee einer erkenntnistheoretischen Rechtfertigung zu spielen scheint – kann demnach nicht erklären, wie eine solche Rechtfertigung überhaupt funktionieren soll. Und obwohl er modale Ausdücke häufig verwendet, um zu erklären, warum wir die Axiome der Geometrie und der Logik anerkennen müssen, versäumt er es, jemals eine seinen eige-

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Vgl. SB: 151 ff.

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Logik als Basisdisziplin der Philosophie?

nen erkenntnistheoretischen Ansprüchen genügende Konzeption der Modalitäten zu entwickeln. Wie sehen also hier erneut, dass Freges konzeptueller Apparat eigentlich nicht dafür hinreicht, erkenntnistheoretische Rechtfertigungen überhaupt zu formulieren, da es unklar bleibt, was unter den Modalkategorien in ihrer Anwendung auf nichtbeweisbare Grundgesetze überhaupt zu verstehen ist: Die einzige Explikation der Kategorie der Notwendigkeit – durch die auch Unmöglichkeit definierbar wäre –, die wir bei Frege finden, bezieht sich lediglich auf solche Urteile, die ihrerseits wiederum durch allgemeine Gesetze gerechtfertigt werden können. Auch der Begriff der Unbezweifelbarkeit, den Frege für die Urwahrheiten anbietet, scheint diese Funktion nicht übernehmen zu können. Denn »Unbezweifelbarkeit« enthält ja in gewissem Sinne die Idee einer Unmöglichkeit im epistemischen Sinne – nämlich der Unmöglichkeit rationalen Zweifels.

2.4. Logik als Basisdisziplin der Philosophie? Ich möchte im Anschluss an diese Überlegungen zur Fregeschen Erkenntnistheorie das noch heute weit verbreitete Dummettsche Bild von Freges Logik einer Analyse und Kritik unterziehen um zu zeigen, inwiefern es an Freges ursprünglichen Intentionen vorbeiläuft. Der erste Schritt in Dummetts Frege-Interpretation – seit Beginn der 70er Jahre eine Reihe von Modifikationen erfahren hat – war seine Diagnose, dass Frege in der Philosophie ein Revolutionär war, dessen Revolution darin bestanden habe, die Erkenntnistheorie, die seit Descartes die Rolle der philosophischen Fundamentaldisziplin gespielt habe, durch die Logik zu ersetzen und dadurch bei seinen Nachfolgern die Entwicklung eines gänzlich neues Philosophieverständnisses in die Wege zu leiten. 253 Er schreibt hierzu 1967: 254 253 Die nahezu unhinterfragte Voraussetzung, Frege habe keinerlei Interesse an erkenntnistheoretischen Fragen gehabt, war jedoch schon vor Dummetts erstem FregeBuch vor allem im britischen Raum weit verbreitet. So lesen wir etwa in Geach 1961: 137 über Frege: »[I]t is certain that he wholly rejected an epistemological approach to philosophical problems. (His life-long attitude was: First settle what is known, and how these known truths are to be analysed and articulated – and only then can you profitably begin to discuss what makes these truths dawn upon a human being; if you try to start with a theory of knowledge, you will get nowhere).« 254 Dummett 1978: 89; der Aufsatz erschien erstmals 1967 in der von P. Edwards her-

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From the time of Descartes until very recently the first question for philosophy was what we can know and how we can justify our knowledge, and the fundamental philosophical problem was how far scepticism can be refuted and how far it must be admitted. Frege was the first philosopher after Descartes totally to reject this perspective, and in this respect he looked beyond Descartes to Aristotle and the Scholastics. For Frege, as for them, logic was the beginning of philosophy; if we do not get logic right, we shall get nothing else right. Epistemology, on the other hand, is not prior to any other branch of philosophy; we can get on with philosophy of mathematics, philosophy of science, metaphysics, or whatever interests us without first having undertaken any epistemological inquiry at all. It is this shift of perspective, more than anything else, which constitutes the principal contrast between contemporary philosophy and its forbears, and from this point of view Frege was the first modern philosopher. The change of perspective was not yet to be found in Frege’s junior Russell; the first work after Frege’s to display it was Wittgenstein’s Tractatus Logico-philosophicus. It is for this reason that Frege, for all the narrowness of his interests, is of such significance for presentday philosophy.

Diese prägnante Passage enthält eine Reihe von interessanten Thesen sowohl philosophiehistorischer als auch metaphilosophischer Art. Zunächst ist festzuhalten, dass Dummett es hier offenbar vorzieht, Frege mit Wittgenstein anstatt mit Russell in Verbindung zu bringen. Als Grund hierfür gibt er an, dass der Perspektivenwandel von Erkenntnistheorie zu Logik, den Frege eingeleitet habe, noch nicht bei Russell, sondern erst bei Wittgenstein vollends zum Ausdruck gekommen sei. 255 Wir sahen allerdings, dass Russell jedenfalls noch um 1908 seine logische Typentheorie ganz unabhängig von erkenntnistheoretischen oder sonstigen Überlegungen zu begründen suchte. Erkenntnistheoretische Überlegungen scheinen lediglich – wie wir im folgenden noch sehen werden – in der Entwicklung von Russells logischer Semantik eine Rolle zu spielen. Man kann Dummetts philosophiehistorischen Exkurs auch in anderen Hinsichten kritisieren. So setzt er z. B. einfach voraus, dass »es in jeder beliebigen Epoche bestimmte Teildisziplinen der Philosophie gibt, die grundlegender erscheinen als andere in dem Sinne, dass eine angemessene Lösung von Problemen im einen Bereich von einer vorhergehenden angemessenen Lösung in einem grundlegenderen ausgegebenen Encyclopedia of Philosophy. Dummett wiederholte die hier ausgedrückten Thesen dann auch in Dummett 1981a. 255 Vgl. hier und im folgenden auch Dummett 1981a: xxxiii.

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Bereich abhängen«. 256 Verschiedene Fragen ergeben sich hieraus. Die erste wäre z. B., was wir in diesem Zusammenhang unter »vorausgesetzt« verstehen sollen. Nehmen wir einmal an, dass Dummett unter dem Vorausgesetztwerden einer Disziplin von einer anderen folgendes versteht: Eine Disziplin A setzt eine Disziplin B vollständig voraus bzw. B ist grundlegender als A, wenn kein Problem in A gelöst werden kann, ohne dass zuvor eines in B gelöst wird. Eine Fundamentaldisziplin im Sinne Dummetts wäre dann eine Teildisziplin, die grundlegender als alle anderen in dem Sinne ist, dass jede angemessene Lösung eines Problems in irgendeinem Bereich von einer vorhergehenden Lösung in jenem Fundamentalbereich abhängen würde. Zum anderen dürfte umgekehrt keine Lösung innerhalb der Fundamentaldisziplin eine Lösung in einer der anderen Disziplinen voraussetzen. Es ist jedoch fraglich, ob eine Disziplin in diesem Sinne von einer anderen vollständig vorausgesetzt werden kann – oder wenn ja, ob dies überhaupt so sein sollte. Möglicherweise ist eine interdisziplinäre Philosophie in jedem Fall wünschenswerter – eine Philosophie, in der die verschiedenen Teildisziplinen in gegenseitigen Voraussetzungsverhältnissen stehen können. Inwiefern soll nun insbesondere bereits Frege aktiv an der Revolution beteiligt gewesen sein, die die Ära der modernen Logik und Philosophie angeblich einleitet? Möglicherweise meint Dummett, dass Frege die Revolution nur vorbereitet, aber noch nicht selbst konsequent durchgeführt habe. Prüfen wir diese schwächere Möglichkeit. Dummett nennt zwei Hinsichten, in denen Frege gewissermaßen die Vorarbeiten zu Wittgensteins Bruch mit der erkenntnistheoretischen Tradition geleistet: (1) Frege habe als erster durch die Praxis seines Vorgehens seine Auffassung demonstriert, dass Logik unabhängig von jeglicher ihr zugrundeliegenden philosophischen Disziplin betrieben werden könne; (2) Frege habe sich vehement dagegen ausgesprochen, dass psychologische Erwägungen in irgendeiner Weise relevant für die Logik seien: »… that is, that the mental processes that we experience in the course of acquiring or employing concepts ought not to figure in an analysis of those concepts«. 257 Wie aus dem Bisherigen nun bereits hervorgeht, ist die erste 256 257

Vgl. Dummett 1981a: xv. Dummett 1981a: xxxiii. A

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dieser beiden Annahmen inkorrekt, und die zweite wiederum spielte offenbar keine Rolle für Freges Verständnis von Erkenntnistheorie. Frege hat uns zwar keine vollständige Erkenntnistheorie geliefert; aber er hat in Anbetracht seines philosophisch eingeschränkten Hintergrundes sein Bestes getan, eine Konzeption dessen zu entwickeln, was als Inhalt und Gegenstand rationalen Denkens überhaupt in Frage kommt, und wie wir solche Inhalte und Gegenstände überhaupt identifizieren können. Damit zugleich hat er uns – wenn man so will – zumindest ansatzweise eine Antwort auf die Frage geliefert, »was wir erkennen und wie wir unsere Erkenntnis rechtfertigen können« – genau diejenige Frage, die Dummett zufolge am Ausgang der neuzeitlichen Philosophien steht. Gerade die Frage, wie weit der Skeptizismus widerlegt werden kann bzw. inwieweit er zuzulassen ist, gehörte gewissermaßen zu Freges Repertoir an philosophischen Grundsatzfragen, wie wir nicht allein im Zusammenhang mit seiner zugegebenermaßen eher am Rande geführten Diskussion des Induktionsproblems, sondern in weitaus stärkerem Maße in seiner Kritik am Formalismus – der die Erkenntnis mathematischer und logischer Gegenstände ausschließen würde – und insbesondere auch an psychologischen Auffassungen der Natur des Gedankens sehen. Insbesondere war sich Frege offenkundig mindestens zweier philosophischer Problembereiche bewusst, die unmittelbar für seine Logik relevant waren, deren Lösung aber seiner Ansicht nach nicht durch die Logik selbst durchführbar wären. Zum einen handelte es sich hier um das Problem, wie objektive Gedanken – die primären Wahrheitssträger für Frege und somit unmittelbar relevant für seine »Gesetze des Wahrseins« – in subjektiven Bewusstseinsepisoden einzelner Individuen gefasst werden könnten. Zu diesen Gedanken gehörten seiner Ansicht nach auch die logischen Gesetze selbst, die er nicht als syntaktische Spielregeln, sondern vielmehr als kognitiv gehaltvolle Gesetze auffasste. Frege war es offenbar nicht gleichgültig, welcher Art ein Wahrheitsträger in der Logik ist, denn sonst hätte er nicht Zeit seines Lebens gegen den Formalismus und den Psychologismus argumentiert. Da er offenbar die Annahme der Zeit- und Raumlosigkeit dieser Gedanken als eine wesentliche Bedingung für die Objektivität und Ewigkeit der Wahrheitswerte selbst erachtete, von denen die logischen Gesetze handeln sollten, musste die Frage, wie wir diese Gedanken überhaupt fassen könnten, im Rahmen seiner Auffassung von Logik ganz besonders dringlich sein. Das zweite Beispiel eines Problems, das für Freges Logik zentral 260

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aber durch sie selbst nicht lösbar ist, war die Frage, worauf die Berechtigung der logischen Grundgesetze beruht. Frege unternahme, wie wir sahen, einige Bemühungen, eine Antwort auf diese Frage zu geben, wenngleich er sich offenbar nicht imstande sah, eine ausgefeilte, professionelle Antwort zu geben; sein Begriff der Vernunft umfasst kaum mehr als eine Beschreibung des Begriffs der Wahrheit selbst als absolutem, ewigem Wert, eine Charakterisierung des Begriffs der Objektivität sowie eine grobe Darstellung dessen, wie logische Gegenstände aufgrund der logischen Erkenntnisquelle bzw. Vernunft durch Analyse in sich strukturierter Gedanken gewonnen werden können. Wenn Frege in »Der Gedanke« davon spricht, dass es eine Aufgabe der Logik und Mathematik sei, den »Geist« aber nicht »die Geister« zu erforschen, oder wenn er in den Grundlagen die Vernunft als ihren eigenen Gegenstand bezeichnet, so scheint er damit einen Hinweis geben zu wollen, dass er die Gedanken selbst, ebenso wie die Wahrheitswerte und die Zahlen für ein Erzeugnis der Vernunft hält. Freilich ist seine »Vernunftphilosophie« im Hinblick auf ihre Ausführlichkeit und Detailtreue kaum mit der Kants, Fichtes, Hegels oder seiner neukantianischen Zeitgenossen zu vergleichen, obwohl ihm dieser Aspekt gerade im Hinblick auf die Grundlegung der Logik offenbar besonders am Herzen lag. Es ist jedoch anzunehmen, dass Frege nicht nur das letztere, sondern auch das erstere Problem in den Bereich derjenigen philosophischen Disziplin einordnet, den er als »Erkenntnistheorie« bezeichnet. In diesem Sinne genau konnte er offensichtlich die Logik nicht als grundlegende Disziplin betrachtet haben; Dummetts erstes Argument zugunsten Freges als Revolutionär bricht aus diesem Grund zusammen. Zugleich war, wie wir sahen, keine der beiden oben genannten Probleme Frege zufolge durch die Psychologie zu lösen; Dummetts zweites Argument, dass Frege deswegen die Erkenntnistheorie nicht als grundlegende Disziplin angesehen habe, weil sie psychologischen Fragestellungen einen Vorrang vor logischen geben würde, kann also ebenfalls auf Frege nicht zutreffen. Es setzt einen Begriff von Erkenntnistheorie voraus, den Frege einfach nicht teilte und der viel eher bei Russell zu finden ist, der im Zuge seiner Abwendung von der Kantischen Philosophie auch den Begriff einer ewigen Vernunft verabschiedet und ihn durch einen psychologischen Begriff des Common Sense ersetzt hatte.

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2.4.1. Der Philosophiebegriff bei Frege und dem frühen Wittgenstein Die Idee der Logik als Basisdisziplin der Philosophie ist somit eine, die wir eher bei Russell, den logischen Positivisten und – mit gewissen Einschränkungen – dem frühen Wittgenstein antreffen; und in dieser Hinsicht versäumte es Dummett offenkundig, einen wichtigen Unterschied zwischen diesen Philosophen und Frege zu bemerken. Wir sahen, dass für Russell die Logik das »Wesen der Philosophie« darstellte, insofern alle genuin philosophischen Probleme auf Probleme der angewandten Logik reduzierbar seien. Diese Auffassung finden wir auch bei Rudolf Carnap und dem frühen Nelson Goodman, der im Anschluss an Carnap verkündete, dass jedes sinnvolle philosophische Problem sich »konstruktionalistisch«, d. h. auf axiomatische Weise lösen lassen müsse. 258 Der frühe Wittgenstein wiederum versteht unter Philosophie generell »keine Lehre, sondern eine Tätigkeit«, deren Zweck allerdings nicht die Entwicklung axiomatischer Systeme, sondern vielmehr die »logische Klärung der Gedanken« sei: Sie solle »die Gedanken, die sonst, gleichsam, trübe und verschwommen sind, klar machen und scharf abgrenzen. Philosophieren resultiere demnach nicht in philosophischen Sätzen, sondern vielmehr im »Klarwerden von Sätzen«. 259 Wie bei Frege ist nach Wittgensteins Diagnose die Verschwommenheit und Klärungsbedürftigkeit der Gedanken darauf zurückzuführen, dass die Umgangs- oder Alltagssprache »den Gedanken verkleidet«, und zwar so, »dass man nach der äußeren Form des Kleides nicht auf die Form des bekleideten Gedanken schließen kann«. 260 Es sei daher »menschenunmöglich, die Sprachlogik aus ihr unmittelbar zu entnehmen« 261 . Alle Philosophie ist demnach für Wittgenstein logische Sprachkritik. 262 Die richtige Methode der Philosophie, so Wittgenstein, 263 wäre eigentlich die: Nichts zu sagen, als was sich sagen lässt, also Sätze der Naturwissenschaft – also etwas, was mit Philosophie nichts zu tun hat –, und dann immer, wenn ein anderer etwas Metaphysisches sagen wollte, ihm

258 259 260 261 262 263

262

Vgl. Goodman 1963, 1977; Carnap 1961. T: § 4.112. T: § 4.002. T: § 4.002. T: § 4.0031. T: § 6.53.

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nachzuweisen, dass er gewissen Zeichen in seinen Sätzen keine Bedeutung gegeben hat. Diese Methode wäre für den anderen unbefriedigend – er hätte nicht das Gefühl, dass wir ihn Philosophie lehrten – aber sie wäre die einzig streng richtige.

Es besteht nun offenkundig eine interessante Parallele zwischen Wittgensteins Auffassung von Philosophie überhaupt und Freges Verständnis von den Aufgaben des Logikers. Wie ich in Teil I gezeigt habe, spielte der Begriff der logischen Klarheit – wie er er ihn im Rahmen seiner Logik verstand – eine zentrale Rolle in Freges Denken. Freges Diagnose war gewesen, dass wir im naturwüchsigen Denken Psychologisches und Logisches miteinander vermischt haben, und dass es demnach das Geschäft des Logikers sei, das Logische rein herauszusondern. Diese Aktivität bezeichnete er als einen »Kampf mit der Sprache. Was er hierunter verstand, scheint Wittgensteins Sprachkritik offenbar sehr nahe zu kommen. In beiden Fällen geht es um die logische Klärung der Gedanken, um die Aufdeckung ihrer exakten logischen Struktur. Somit wird das, was Frege als eine charakteristische Tätigkeit des Logikers betrachtete – die logische Klärung unserer Gedanken – bei Wittgenstein einfach zur Philosophie überhaupt erhoben. Freilich findet sich auch in Freges Schriften eine Verbindung zwischen Philosophie und logischer Sprachkritik, und dies ist nur konsequent, da die Logik für Frege zur Philosophie gehörte. Dennoch hat es – wie wir sahen – nicht den Anschein, als erschöpfte sich die Philosophie für Frege darin. Die einzige Stelle nämlich, an der er sich zu den Aufgaben der Philosophie äußert, ist die folgende aus Begriffsschrift: 264 Wenn es eine Aufgabe der Philosophie ist, die Herrschaft des Wortes über den menschlichen Geist zu brechen, indem sie die Täuschungen aufdeckt, die durch den Sprachgebrauch über die Beziehungen der Begriffe oft fast unvermeidlich entstehen, indem sie den Gedanken von demjenigen befreit, womit ihn allein die Beschaffenheit des sprachlichen Ausdrucksmittels behaftet, so wird meine Begriffsschrift, für diese Zwecke weiter ausgebildet, den Philosophen ein brauchbares Werkzeug werden können. Es ist anzunehmen, dass Frege wohl persönlich das »Brechen der Herrschaft des Wortes über den menschlichen Geist« und »die Befreiung des Gedankens« als eine der Aufgaben der Philosophie empfand; aber er behauptet nirgends, dass es sich dabei um die einzige 264

BS: xii f. A

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Aufgabe handele. Wäre dies der Fall gewesen, so hätte Frege die Philosophie – wie es der frühe Wittgenstein zu tun scheint – mit der Logik gleichsetzen müssen. Gerade aber seine Auffassung des Verhältnisses von Logik und Erkenntnistheorie, wie er sie um die Zeit der Grundlagen erstmals ausformuliert, zeigt deutlich, dass zumindest die letztere für ihn nicht Teil der Logik war, bzw. nicht Teil derjenigen Disziplin, die die logische Klärung der Gedanken zur Aufgabe hat – derjenigen Disziplin, die der frühe Wittgenstein als »Philosophie« bezeichnet. 265 Hieraus ersehen wir auch, dass Frege unter »Erkenntnistheorie« noch etwas ganz anderes verstand als Wittgenstein. Erkenntnistheorie ist nämlich bei Wittgenstein einfach definiert als »Philosophie der Psychologie«. 266 Gleichzeitig verstand Wittgenstein unter »Psychologie« eine empirische Disziplin, er zählte sie zu den Naturwissenschaften. Dies bedeutet dann im Lichte von Wittgensteins Verständnis von Philosophie, dass für ihn offenbar die Erkenntnistheorie, als Zweig der Philosophie, nur noch die Aufgabe hat, paradigmatische Sätze bzw. Gedanken der Psychologie logisch zu klären, bzw. eine logische Kritik der psychologischen Sprache im o. g. Sinne zu liefern. Somit erschöpft sich offenbar Erkenntnistheorie bei Wittgenstein in angewandter formaler Logik, was der Idee eine besonderen Art von erkenntnistheoretischer Rechtfertigung keinen Raum mehr lässt. Man könnte daher wohl Dummett darin zustimmen, dass zumindest im Falle Russells, der logischen Positivisten und des frühen Wittgenstein die Idee der Logik als philosophischer Basisdisziplin – welche Version von Logik man auch immer vertritt – vielleicht wirk265 Ironischerweise hatte Frege – dem der vermeintliche Mangel an Klarheit in zeitgenössischen philosophischen Abhandlungen es generell enorm erschwerte, auf eine Wellenlänge mit den meisten seiner Philosophen-Kollegen zu kommen und einen intensiven Gedankenaustausch herbeizuführen – gerade mit Wittgensteins Tractatus besondere Verständnisschwierigkeiten, weil dieser für Freges Geschmack bei der Einführung seiner Grundbegriffe zu wenige Begründungen liefere. Frege schreibt 1919 an Wittgenstein: »Nachdem man Ihr Vorwort gelesen hat, weiss man nicht recht, was man mit Ihren ersten Sätzen anfangen soll. Man erwartet eine Frage, ein Problem gestellt zu sehen, und nun liest man etwas, was den Eindruck von Behauptungen macht, die ohne Begründungen gegeben werden, deren sie doch dringend bedürftig sind. Wie kommen Sie zu diesen Behauptungen? Mit welchem Probleme hängen sie zusammen? Ich möchte eine Frage an die Spitze gestellt sehen, ein Rätsel dessen Lösung kennen zu lernen erfreuen könnte. Man muss gleich anfangs Mut fassen, sich mit dem folgenden zu beschäftigen.« (BLW: 23 f.). 266 T: § 4.1121.

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lich zutrifft, insofern hier Philosophie als im Wesentlichen angewandte Logik definiert ist. Ob diese Idee charakteristisch für analytische Philosophie überhaupt ist, scheint jedoch nicht so klar. Bereits beim frühen Wittgenstein müssen wir bedenken, dass dessen Tractatus ja aus lauter Sätzen besteht, die genaugenommen seiner Auffassung nach unsinnig sind und somit in den Bereich des Mystischen fallen. Was diese Sätze aber zeigen, ähnelt in vielerlei Hinsicht Freges erkenntnistheoretischen Überlegungen zum Verhältnis von Logik, Denken und Wirklichkeit. Wittgenstein scheint die Fregesche Konzeption des Verhältnisses von Logik und Denken geradezu auf den Punkt zu bringen, wenn er es als seine Grundintention bezeichnet, »dem Denken eine Grenze [zu] ziehen«. 267 Zugleich ist die Logik charakterisiert als ein ›Spiegelbild der Welt‹. 268 Die Grenze des Denkbaren wird somit zugleich bestimmt als die Grenze dessen, was alles in der Welt der Fall sein kann – und dies ist nicht mehr und nicht weniger, als was einen Satz wahr oder falsch macht. Analog waren für Frege Gedanken – die den Bereich des Denkbaren abgrenzen – die primären Wahrheitträger, und wahre Gedanken betrachtete er als die Tatsachen in der Welt. Alles, was jenseits dessen liegt, was sich klar sagen lässt – nämlich ausschließlich Sätze der Naturwissenschaft – bezeichnete Wittgenstein als »undenkbar«, »sinnlos« oder gar »unsinnig«, »mystisch« oder »transzendental«. Sinnlos oder unsinnig ist dabei alles, was sich seiner Natur nach nicht logisch abbilden lässt – für das es keine passende logische Form gibt, die es zu einem Sachverhalt machen würde, der in klaren logischen Beziehungen zu den Tatsachen in der naturwissenschaftlichen Welt steht. Ethik, Religion und Ästhetik im philosophischen Sinne sind unaussprechlich, insofern sie von etwas handeln, das außerhalb der logisch abbildbaren Welt liegt. Frege unterscheidet freilich im Gegensatz zu Wittgenstein in seiner mittleren Phase zwischen eigentlichen Gedanken und Scheingedanken, und ein Satz, der einen Scheingedanken ausdrückt, ist für ihn noch nicht unsinnig. Während Frege zudem nirgends verlauten lässt, dass Ethik oder Ästhetik, oder auch die Überlegungen, die zu einer erkenntnistheoretischen Grundlegung der Logik in seinem Sinne gehören, aus dem Bereich der Philosophie herausfallen, rechnet Wittgenstein sie offenbar zum Bereich des Mystischen, der für die 267 268

T: S. 9. T: §§ 5.61, 6.13. A

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Philosophie im eigentlichen Sinne nur insoweit interessant ist, als diese zeigen kann, warum die in jenen Bereichen verwendeten Sätze unsinnig sind. Wir haben es hier bei Wittgenstein demnach weitgehend mit einer Verschiebung metaphilosophischer Begriffe zu tun: Was Frege als eine Haupttätigkeit des Logikers betrachtete, wird zur einzigen Haupttätigkeit des Philosophen beim frühen Wittgenstein. Was Frege hingegen als Erkenntnistheorie betrachtete, fällt offenbar in den Bereich des Mystischen bei Wittgenstein. Dies wird besonders deutlich wenn wir uns Wittgensteins Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen zuwenden, die er gegenüber Russell als das »Hauptproblem der Philosophie« bezeichnet. 269 Hierbei handelt es sich um zwei grundverschiedenen Formen dessen, wie Sprache oder Lebenspraxis auf etwas hindeuten können. Sagen oder Ausdrücken ist die wesentliche semantische Beziehung, die zwischen Zeichen und Dingen oder Sachverhalten in der Welt besteht. Sätze dienen hierbei als logische Bilder oder Modelle dessen, was in der Welt vor sich geht, und können demnach ihren Gegenstand entweder richtig oder falsch abbilden. Logik, Ethik, Ästhetik und die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens können hingegen laut Wittgenstein nicht in der Sprache abgebildet werden, da sie sich gar nicht auf Tatsachen in der Welt beziehen. 270 Dennoch »spricht« Wittgenstein über die Logik – obwohl die dabei verwendeten Sätze – genaugenommen unsinnig sind – und er gibt sogar eine Art Begründung ihres apriorischen Charakters, die der Fregeschen sehr nahe kommt: »Dass die Logik a priori ist, besteht darin, dass nicht unlogisch gedacht werden kann.« 271 Die Sprache selbst, so Wittgenstein, verhindere jeden Fehler, und genau deshalb könne das Einleuchten, von dem Frege und Russell noch gesprochen hatten, entbehrlich werden. 272 Solche Überlegungen muten aber nur wieder wie eine Art transzendentale Argumente an, in dem die Logik hierbei als Bedingung der Möglichkeit des Denkens überhaupt und als Wesen der Sprache ausgezeichnet wird. 273 Es scheint auch, dass Wittgensteins Idee vom Sich-Zeigen der Logik in der Sprache in gewisser Weise eine bloß subjektiv verifizierende Funktion überBW: 88. Wittgenstein zufolge handelt die Logik »von jeder Möglichkeit und alle Möglichkeiten sind ihre Tatsachen«; vgl. T: 2.0121. 271 T: § 5.1363. 272 ebd. 273 Vgl. T § 4.121: »Der Satz zeigt die logische Form der Wirklichkeit. Er weist sie auf.« 269 270

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nimmt. 274 Denn es ist schwer zu sehen, wie sich etwas zeigen könnte, ohne dass es von jemandem auf bestimmte Weise wahrgenommen wird. Wittgenstein selbst spricht im Falle der Mathematik von einer »Anschauung«, die durch die Sprache geliefert werde. 275 In Anbetracht dessen schließlich, dass die Sprache Wittgenstein zufolge »den Gedanken verkleidet«, ist kaum zu sehen, wie er die Schwierigkeiten, die sich hieraus für den individuellen Denker ergeben, zu entscheiden, ob sich etwas tatsächlich zeigt oder nur den Anschein hat, sich zu zeigen, in irgendeiner Weise besser zu lösen imstande ist als noch Frege. In jedem Fall zeigt Wittgensteins frühe Vorgehensweise bereits, dass für ihn offenbar der Bereich des Mystischen und Unsinnigen, innerhalb dessen er sich bewegen muss, um die Sonderstellung und den apriorischen Charakter der Logik zu begründen, gewissermaßen vorausgesetzt werden muss, um der logischen Sprachkritik überhaupt Legitimität zu verleihen. Ob er diesen Bereich nun zur Philosophie selbst rechnet oder nicht, spielt dabei eigentlich keine wesentliche Rolle. In diesem Sinne kann man sagen, dass Wittgenstein zwar nominell die Logik als Basisdisziplin der Philosophie hinstellt, dass aber die Philosophie insgesamt für ihn den Bereich des Mystischen gewissermaßen voraussetzt – und sei es nur, um der Logik Legitimität zu verleihen. Insofern ist auch Dummetts Diagnose über Wittgenstein eher mit Vorsicht zu genießen. Dummetts Diagnose über die Logik als Grundlage der Analytischen Philosophie überhaupt scheitert freilich in noch stärkerem Maße an Wittgensteins Spätphilosophie. Wenn wir jedenfalls die Philosophischen Untersuchungen noch immer als ein Werk der analytischen Philosophie betrachten wollen – was freilich auch angefochten werden könnte –, dann müssen wir jedenfalls zur Kenntnis nehmen, dass zu diesem Zeitpunkt nicht die logische Unvollkommenheit der Alltagssprache, sondern umgekehrt das logische Exaktheitsideal, aus dem sich die Idee dieser Unvollkommenheit erst herleitet, den Rang einer philosophischen Krankheit einnimmt, welche durch therapeutische Maßnahmen geheilt werden muss. Die Therapie besteht dabei darin, Sprache und somit Denken auf die alltäglichen, praktischen Situationen zurückzuführen, in denen sie als Ausdruck unserer Lebensform zu Hause sind. Wittgenstein weist nun die 274 275

Vgl. dazu auch Vossenkuhl 1999. T: § 6.233. A

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Idee einer in der Alltagssprache verborgenen logischen Struktur des reinen Denkens zurück, ebenso wie die Idee, dass Bedeutung und Verstehen wesentlich mit dem Versuch einer logisch exakten Beschreibung der Welt, und somit mit Wahrheit oder Falschheit zusammenhängen müssten. Hieraus ergibt sich, dass eine logische Analyse nicht nur gänzlich überflüssig ist, sondern auch gar nicht das zu leisten vermag, was sie zu leisten vorgibt: nämlich, das was wir meinen und denken in irgendeiner Weise klarer zu machen als es im Alltag und in der normalen Sprache immer schon ist. Spätestens zu diesem Zeitpunkt jedenfalls hatte Wittgenstein offenkundig die Idee der Logik als Basisdisziplin der Philosophie endgültig verabschiedet. 2.4.2. Logik und Bedeutungstheorie Der zweite wichtige Aspekt von Dummetts früher Frege-Rezeption betrifft nun Freges Begriff der Logik selbst. Die Geschichte der Logik wird standardgemäß noch heute in drei wesentliche historische Perioden eingeteilt, von denen die älteste von Aristoteles bis zum ausgehenden Mittelalter reiche, die mittlere sich über die gesamte Neuzeit erstrecke und die moderne mit Frege beginnt. 276 Diese chronologische Dreiteilung beruht auf einer parallelen Unterscheidung dreier grundlegender Auffassungen dessen, worauf sich logische Gesetze beziehen, und worauf somit ihre Wahrheit oder Gültigkeit beruht. Der ontologischen Auffassung zufolge handeln die logischen Gesetze von den allgemeinen Formen des Seins; ihre Wahrheit gründet sich somit auf das Wesen der Wirklichkeit. Der erkenntnistheoretischen Auffassung zufolge – häufig auch im weiteren Sinne als »psychologistische Auffassung« bezeichnet – sind sie entweder deskriptive oder normative Gesetze des Denkens und handeln somit von Denkvollzügen, -prinzipien oder strukturen, bzw. von Bedingungen der Möglichkeit von Denken und Erkenntnis. Der sprachlichen Auffassung zufolge sind sie schließlich Gesetze der oder einer Sprache. Frege ist nun im 20sten Jahrhundert als einer der Begründer nicht nur der modernen Logik sondern gleichzeitig der analytischen Sprachphilosophie gefeiert worden. Die Standardauffassung ist dabei, dass Frege auch der erste war, der eine sprachliche Auffassung 276

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Vgl. etwa Tugendhat/Wolf 1983: 7 ff.

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von Logik im o. g. Sinne vertrat. Diese Deutung wurde insbesondere wiederum durch Dummett gefördert, demzufolge Frege die Logik als Wahrheitstheorie und damit zugleich als systematische Bedeutungstheorie konzipiert habe – er habe somit die Auffassung vertreten, dass die Logik im Wesentlichen eine semantische Theorie sei bzw. die Explikation spezifisch semantischer Begriffe zur Aufgabe habe. 277 Die Notwendigkeit der Entwicklung einer solchen allgemeinen philosophischen Bedeutungstheorie ergibt sich nach Dummetts früher Interpretation aus Freges systematischer Methode, Begriffe grundsätzlich auf dem Wege einer logischen Analyse der Bedeutungen der entsprechenden sprachlichen Ausdrücke im Kontext von Sätzen bzw. Urteilen, d. h. auf der Basis einer Anwendung des Kontextprinzips zu klären. Es ist demnach insbesondere das sogenannte Kontextprinzip aus den Grundlagen der Arithmetik bzw. Freges darauf basierende Entscheidung, die Natur der Zahl durch Analyse der Bedeutungen von Zahlwörtern im Zusammenhang von Sätzen zu klären, welche bis heute als die Geburtsstunde der analytischen Philosophie betrachtet wird. 278 Bereits die o. g. Einteilung ist jedoch aus verschiedenen Gründen unzureichend und irreführend. Zum einen suggeriert sie, dass sprachliche, erkenntnistheoretische und ontologische Auffassungen von Logik gleichsam notwendigerweise einander ausschließen müssten. Wie wir sahen, hatte Dummett Frege als den ersten Logiker präsentiert, bei dem die Logik die Erkenntnistheorie als Basisdisziplin der Philosophie ablöste. Zusammen mit dem zweiten Aspekt der Dummettschen Interpretation ergibt dies, dass Frege als erster die Erkenntnistheorie als Fundamentaldisziplin durch eine philosophische Bedeutungs- oder auch Wahrheitstheorie – ersetzt habe. 279 Implizit steckt hinter dieser Deutung wiederum die Annahme, dass nicht nur Logik, sondern auch logische Semantik unabhängig von Erkenntnistheorie betrieben werden können, dass also auch insbesondere Freges Semantik und Sprachphilosophie erkenntnistheoriefrei gewesen sei. Es lässt sich aber in Frage stellen, ob eine philosophische Bedeutungstheorie überhaupt gänzlich erkenntnistheoriefrei sein kann. Ich möchte dies kurz an Russells Theorie der Bedeutung illustrieren. 277 278 279

Vgl. Dummett 1981a: 669 f. Vgl. Dummett 1981a: 669 f., 1981b: 36 ff., 1993: 5, Kenny 1995: 210 f. Vgl. Dummett 1981: 669 f. A

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Wenn wir Russells Theorie des Denotierens betrachten, an der dieser in den Jahren zwischen 1903 und 1918 arbeitete, so sehen wir unschwer, wie eng diese mit seiner Unterscheidung zwischen Erkenntnis von Gegenständen und Erkenntnis von Wahrheiten einerseits, sowie zwei verschiedenen Arten von Gegenstandserkenntnis verbunden ist, nämlich Erkenntnis durch Beschreibung (description) und Erkenntnis durch unmittelbare Bekanntschaft (acquaintance). 280 Erkenntnis eines Gegenstandes durch Beschreibung – nämlich mit Hilfe einer Kennzeichnung – setzte Russell zufolge stets Erkenntnis von Wahrheiten über jenen Gegenstand voraus; nämlich zumindest die Wahrheit, dass es genau einen Gegenstand gibt, auf den die Kennzeichnung bzw. der Sinn zutrifft. Unmittelbare Bekanntschaft hingegen war für Russell eine Art und Weise der Gegenstandserkenntnis, die logisch unabhängig von jeglicher Beschreibung und damit zugleich von einer Erkenntnis von Wahrheiten ist. Sie ist – wie schon erwähnt – eine psychologische Beziehung, die entweder in Form sinnlicher Wahrnehmung, oder als Erinnerung visueller Natur, oder sogar als eine Art intellektuelle Anschauung stattfinden kann, bei der etwa abstrakte logische Formen oder Universalien durch den Geist unmittelbar erkannt werden. Russell gibt dabei zwar zu, dass es voreilig wäre anzunehmen, Menschen besäßen tatsächlich jemals Erkenntnis von Gegenständen durch Bekanntschaft, ohne zugleich einige Wahrheiten über diese Gegenstände zu kennen. Dies bedeutet jedoch für ihn nicht, dass unsere Erkenntnis durch Bekanntschaft logisch gesehen unser Wissen von Wahrheiten voraussetzt oder gar von ihm ununterscheidbar ist. Im Gegenteil gründet sich all unsere Erkenntnis Russell zufolge auf Erkenntnis durch Bekanntschaft und wird so durch sie erst möglich – selbst Beschreibungen können wir nur verstehen, insofern wir Bekanntschaft mit den Bedeutungen ihrer Bestandteile haben. Russells Grundprinzip forderte, dass jede Proposition, wenn sie verständlich sein solle, aus lauter uns unmittelbar bekannten Bestandteilen bestehen müsse – es schien Russell undenkbar, dass wir ein Urteil fällen oder eine Annahme machen könnten, ohne bereits unabhängig von diesem Urteil Bekanntschaft mit den Gegenständen zu haben, auf die es sich letztlich bezieht. Im Gegensatz zu Frege war demnach Russell der Ansicht, dass ein Gegenstand, Begriff oder eine Beziehung dem Geist unmittelbar 280

270

Vgl. Russell 1912: Kap. V.

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gegenwärtig sein kann und dass dies sogar der Fall sein muss, damit wir Wahrheiten überhaupt verstehen können. Russells Bedeutungstheorie verletzt somit deutlich Freges Prioritätsprinzip, aber auch Freges Idee, dass wir auf Gegenstände (und Begriffe) nur auf dem Umweg über Arten ihres Gegebenseins bezugnehmen können. Für Frege war – zumindest ab seiner mittleren Phase 281 – Erkenntnis von Gegenständen überhaupt nur möglich in Form einer Erkenntnis von Wahrheiten, und d. h. durch Beschreibung dieser Gegenstände, und diese Einsicht schlägt sich in seiner Bedeutungstheorie nieder. Sie ist auch m. E. einleuchtend; denn es scheint doch, dass Erkenntnis von Gegenständen oder Begriffen stets darin bestehen muss, dass ihnen eine Eigenschaft zu oder abgesprochen wird – und dies bedeutet, dass wir sprachlich einen entsprechenden Gedanken fassen, der wahr ist. 282 Erkenntnis durch Bekanntschaft und durch Beschreibung sind nun in Russells Bedeutungstheorie durch eine strikte Unterscheidung zwischen Eigennamen im logischen Sinne (logically proper names) und singulären Kennzeichnungen (definite descriptions) reflektiert. 283 Ein Eigenname ist definiert als etwas, das ein Einzelding bezeichnet. Im Gegensatz zu Frege jedoch ist Russells Grundidee hier, dass echte Eigennamen sich ganz unabhängig von jeglicher Kennzeichnung auf ihren Gegenstand beziehen müssen. Benennen ist für Russell im Gegensatz zum Beschreiben eine unmittelbare Beziehung zwischen Zeichen und Gegenstand, die demnach nicht durch einen Fregeschen Sinn, sondern nur durch »unmittelbare Bekanntschaft« hergestellt werden kann. 284 Ein Eigenname ist ein vollständiges Symbol, insofern er unabhängig von jeglichem Kontext einen bestimmten Gegenstand bezeichnet; er besitzt demnach eine Bedeutung »in sich selbst«. Singuläre Kennzeichnungen hingegen lassen sich bei einer vollständigen, korrekten Analyse der Sätze, in denen sie vorkommen, vollständig eliminieren. 285 Um 1918 bezeichnet Russell die Kennzeichnungen daher auch – ähnlich wie Frege die Prädikatausdrücke – als unvollständige Symbole, d. h. Ausdrücke, deren In Begriffsschrift hingegen erkannte auch Frege noch die unmittelbare Anschauung als eine Weise an, wie ein geometrischer Punkt bestimmt werden könne, wobei auch dieser unmittelbaren Bestimmungsweise ein Name entspreche; vgl. BS: § 8. 282 Vgl. dazu auch Ged.: 345. 283 Vgl. Russell 1918: 253 ff. 284 Vgl. Russell 1912: Kap. V. 285 Russell 1956, 51. Vgl. dazu ausführlicher Lotter 2003. 281

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Bedeutung lediglich in ihrem Gebrauch besteht, nicht jedoch in einer Entität, die als eigenständiger logischer Bestandteil einer Proposition auftreten kann. 286 Unmittelbare Bekanntschaft können wir jedoch nach Russell nicht mit allen Arten von Entitäten haben. Auf physikalische Gegenstände etwa, sowie auf die geistigen Zustände anderer Personen können wir nur durch Beschreibung bezugnehmen. Wenn wir etwa auf einen Stuhl vor uns zeigen und sagen »Dieser Stuhl ist grün«, so sind die Worte »dieser Stuhl« als eine Kennzeichnung zu analysieren, welche denjenigen Gegenstand denotiert, der diese und jene Sinnesdaten hervorgerufen hat. 287 Unmittelbar gegeben sind uns dabei jedoch nur die Sinnesdaten selbst, nicht der Stuhl, auf dessen Existenz sie hinzuweisen scheinen. Eine Konsequenz aus Russells Bedeutungstheorie ist daher, dass eine logische Idealsprache eine wesentlich private Sprache sein muss, die anderen Sprechern nicht verständlich sein kann, einfach deshalb, weil ein anderes Erkenntnissubjekt nicht in der Lage wäre, unmittelbare Bekanntschaft mit unseren eigenen Sinnesdaten herzustellen. Mit dieser Idee hätte er sich kaum weiter von Frege entfernen können, für den Gedanken – dasjenige, was innerhalb einer Idealsprache zum Ausdruck kommen soll – im Wesentlichen etwas Objektives und nach Möglichkeit Kommunizierbares sein sollten. Der Unterschied zwischen beider Auffassungen der Semantik einer logisch idealen Sprache scheint aber im Kern erkenntnistheoretischer Natur zu sein. 288 Russell 1956, 253 ff. Vgl. Russell 1912: 47. 288 Die besondere Rolle, die Russells Theorie der Bekanntschaft für die Entwicklung seines logischen Atomismus zu spielen scheint, deutet dabei zugleich darauf hin, dass er vielleicht seine offiziellen Bekenntnisse zur Logik als »Wesen der Philosophie« nicht immer ganz konsequent verfolgte. Es ist allerdings zu bedenken, dass er selbst die Typentheorie als Inspiration auch für seine Philosophie des Atomismus betrachtete; vgl. Russell 1918, 178: »The kind of philosophy that I wish to advocate, which I shall call Logical Atomism, is one which has forced itself upon me in the course of thinking about the philosophy of mathematics, although I should find it hard to say exactly how far there is a definite logical connection between the two.« Die Verbindung zwische Russells Logik, Erkenntnistheorie und Metaphysik lässt sich vielleicht am besten folgendermaßen herstellen: Russells metaphysische Theorie begreift die Welt als ultimativ aus einzelnen, logisch-einfachen Bestandteilen zusammengesetzt, die hierarchisch zu Klassen und Klassen von Klassen geordnet sind. Diese Idee scheint unmittelbar durch die Typentheorie inspiriert zu sein, durch die er das logizistische Programm auf spezifische Weise zu verwirklichen suchte, ohne dabei in Paradoxien zu geraten. Während Frege noch alles als vollständigen, logisch gleichwertigen Gegenstand betrachtete, das durch einen Ei286 287

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2.4.3. Sprache, Logik und Denken Dass nun für Frege in der Tat eine enge Beziehung zwischen Logik und Sprache zu bestehen schien, lässt sich kaum bestreiten. 289 Frege hatte verkündet, dass wenn wir über »eine logisch vollkommenere Sprache« verfügten, wir »vielleicht weiter keine Logik« bräuchten oder sie einfach »aus der Sprache ablesen« könnten. 290 In seinen »Aufzeichnungen für Ludwig Darmstädter« scheint er die Entwicklung seiner Begriffsschrift geradezu als die wesentliche Tätigkeit des Logikers hinzustellen: 291 Von der Mathematik ging ich aus. In dieser Wissenschaft schien mir die dringlichste Aufgabe in einer besseren Grundlegung zu bestehen. Bald erkannte ich, dass die Zahl nicht ein Haufe, eine Reihe von Dingen ist, auch nicht eine Eigenschaft eines Haufens, sondern dass die Zahlangabe, die auf Grund einer Zählung gemacht wird, eine Aussage von einem Begriffe enthält. […] Bei solchen Untersuchungen war die logische Unvollkommenheit der Sprache hinderlich. Ich suchte Abhilfe in meiner Begriffsschrift. So kam ich von der Mathematik zur Logik.

Solche Passagen können sogar, wenn man isoliert betrachtet, auf den ersten Blick leicht den Eindruck entstehen lassen, dass Logik in der Tat für Frege nichts anderes als die sogenannte Begriffsschrift, d. h. jene »Formelsprache des Denkens« war, oder besser diejenige Disziplin, die die Entwicklung der Begriffsschrift als einziges Ziel hat. 292 Sie lassen den Eindruck enstehen, dass Logik für Frege ausschließlich gennamen in seinem Sinne bezeichnet werden kann – alles demnach, was keine Funktion ist – nimmt Russell in seiner Logik eine Hierarchisierung logischer Typen von Gegenständen und Sätzen vor, wobei alle höherstufigen Gebilde sich als Klassen aus niedrigerstufigen Elementen ergeben bzw. auf sie reduzierbar sind. Metaphysisch betrachtet sind sämtliche höherstufigen ›Gegenstände‹ für Russell demnach nichts als logische Fiktionen, die aus den untersten, einfachen Urelementen oder Atomen durch logische Klassen- oder Ordnungsbildung konstruiert sind. Die Atome wiederum sind erkenntnistheoretisch gekennzeichnet durch unsere Fähigkeit, unmittelbare Bekanntschaft mit ihnen herstellen zu können. Russells Erkenntnistheorie entscheidet demnach darüber, was als Atom oder Urelement zu betrachten sind; seine mathematisierte Logik hingegen liefert die Grundstruktur der Welt. 289 Ich selbst z. B. habe in Lotter 2003 bei meiner Untersuchung der Anfänge der Analytischen Philosophie auf Freges, Russells und Wittgensteins Theorie der Eigennamen zurückgegriffen, um die Diskussionen zu illustrieren, die die Entwicklung der Analytischen Philosophie zu Beginn des 20sten Jahrhunderts vorangetrieben haben. 290 NS: 273; MLE: 272. 291 NS: 273; MLE: 272. 292 Diese Auffassung finden wir noch bei Gabriel in dessen 1978: xii. Gabriel wechselte A

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mit Sprache zu tun gehabt habe – sei es in kritischer Hinsicht mit der »Sprache des Lebens«, deren logische Mängel zu bekämpfen für Frege eine Hauptaufgabe des Logikers war, sei es in konstruktiver Hinsicht mit einer idealen Kunstsprache, von der Frege sagte, dass sie sich zur ersteren »wie ein Mikroskop zum Auge« verhalte. 293 Allerdings müssen wir bedenken, dass diese Verbindung für Frege keine unmittelbare war, sondern vielmehr eine, die auf dem Umweg über Freges Auffassung der Entstehung menschlichen Denkens zustande kommt. Wir sahen in Teil I, dass Frege zufolge menschliches Denken generell sprachlich sein muss in dem Sinne, dass »ein uns bewusster Gedanke mit irgendeinem Satze in unserem Bewusstsein verbunden ist«. 294 Die Sprache nimmt daher für Frege die Rolle einer anthropologischen Bedingung der Möglichkeit des Denkens ein. Zugleich aber soll die Logik für Frege die allgemeinsten Gesetze des Denkens liefern – diejenigen Gesetze, bei deren Übertretung rationales Denken selbst unmöglich wird. Insofern könnte man von einem mehr oder weniger engen »Zusammenhang von Logik und Sprachphilosophie« bei Frege sprechen, insofern »in seinem Bemühen um die Logik […] Sprachphilosophie sozusagen mitgeliefert wird« – wenngleich sich Frege nicht primär als Sprachphilosoph verstand. 295 Erinnern wir uns nämlich, dass für ihn der unmittelbare Gegenstand der Logik die Wahrheit war, und dass der Gedanke als Wahrheitsträger für ihn gleich an zweiter Stelle kam, insofern logische Beziehungen und Funktionen von Wahrheitswerten in der logischen Struktur von Gedanken reflektiert und nur über eine Analyse derselben erkennbar sind. Die primären Wahrheitswertträger waren für Frege jedoch, wie wir sahen, zumindest ab seiner mittleren Phase die Gedanken selbst. Daher bildete die Sprache für Frege offenbar nicht den unmittelbaren Gegenstand seiner logischen Untersuchungen. Er weist jedenfalls 1918 darauf hin, dass er nur deshalb gezwungen sei, sich mit der Sprache zu befassen, weil uns ein Gedanke erst durch eine Auseinandersetzung mit der Sprache überhaupt zugänglich werden könne: 296 später im Anschluss an Slugas Arbeiten zu einer neukantianischen Lesart von Freges Ansatz über. 293 BS, § 2. 294 Vgl. EMN: 288. 295 Vgl. Gabriel 1978: xi.

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Ich bin hier nicht in der glücklichen Lage eines Mineralogen, der seinen Zuhörern einen Bergkristall zeigt. Ich kann meinen Lesern nicht einen Gedanken in die Hände geben mit der Bitte, ihn von allen Seiten recht genau zu betrachten. Ich muss mich befugen, den an sich unsinnlichen Gedanken in die sinnliche sprachliche Form gehüllt dem Leser darzubieten. Dabei macht die Bildlichkeit der Sprache Schwierigkeiten. Das Sinnliche drängt sich immer wieder ein und macht den Ausdruck bildlich und damit ungeeignet. So entsteht ein Kampf mit der Sprache, und ich werde genötigt, mich noch mit der Sprache zu befassen, obwohl das ja hier nicht meine eigentliche Aufgabe ist.

Die Idee, dass wir im Rahmen von erkenntnistheoretischen Untersuchungen auch die Art und Weise, wie die Sprache als Kommunikations- und Ausdrucksmittel funktioniert, untersuchen müssen, ist auch durchaus keine neuartige, sondern findet sich sehr häufig gerade in Abhandlungen der neuzeitlichen Philosophie, allen voran bei Locke und Leibniz. Beide waren sich bereits dessen bewusst, dass menschliches Wissen und Denken nur mit Hilfe der Sprache gelingt, dass aber andererseits die Alltagssprache im Hinblick auf die Klarheit ihrer Bedeutung und logischen Struktur unvollkommen ist und daher genauerer Analyse bedarf, um die in ihr ausgedrückten Ideen klar und deutlich werden zu lassen. 297 Obwohl sprachphilosophische Untersuchungen vielleicht insgesamt bei Locke und Leibniz vielleicht nicht soviel Raum einnehmen als bei Frege, ist daher durchaus nicht einzusehen, warum seine sprachphilosophischen und semantischen Bemühungen ebenso wie bei Locke und Leibniz eingebettet sein sollten in ein erkenntnistheoretisches Rahmenprojekt. 298 In neueren Arbeiten wird Frege m. E. nicht zu Unrecht als »Sprachphilosoph aus einer Notlage heraus« bezeichnet, der letztlich erkenntnistheoretische Ziele vor Augen hatte – wenngleich vielleicht vorwiegend im Hinblick auf mathematische Gegenstände, Begriffe und Gesetze – und diese verfolgte, indem er Mittel gebrauchte, die man der philosophischen Semantik zurechnen kann. 299 Ged.: 350, Anm. 4. Locke, 1789, III, Kap. 9–11; Leibniz, NA, III, Kap. 9–11. 298 Selbst Dummett gibt zu, dass die Methode der Begriffsanalyse durch Sprachanalyse per se Freges Ansatz noch nicht wesentlich von den erkenntnistheoretischen Ansätzen neuzeitlicher Philosophen unterscheidet. Es würde, so Dummett, einer erkenntnistheoretischen Grundorientierung in der Philosophie keineswegs widersprechen, erhöbe man die Notwendigkeit einer Bedeutungsanalyse philosophisch relevanter Ausdrücke zur methodologischen Maxime über die Art und Weise, wie erkenntnistheoretische Untersuchungen betrieben werden sollten; vgl. Dummett 198a: 667. 299 Vgl. Gabriel 1996: 333. 296 297

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Im Anschluss an Gordon Baker und Peter Hacker kann man in diesem Zusammenhang zwei idealtypische Auffassungen des Verhältnisses von Sprache und Denkinhalt unterscheiden, 300 wobei ja gerade eine Konzeption des letzteren von besonderer erkenntnistheoretischer Bedeutung ist. Der ersten Auffassung zufolge ist dieses lediglich »äußerlich und kontingent« in dem Sinne, dass die Sprache zwar möglicherweise ein notwendiges Instrument des Gedankenfassens – gewissermaßen ein erkenntnistheoretisches Werkzeug – aber nicht konstitutiv für die Denkinhalte selbst ist, also keine metaphysische Grundlage derselben bildet. Eine Konsequenz aus dieser Auffassung ist dann, dass die Gedanken ihre logische Struktur und ihren Wahrheitswert ganz unabhängig von der Sprache besitzen und dass ferner diese logische Struktur nicht notwendigerweise in irgendeinem Satz einer Sprache reflektiert sein muss. Um freilich ihre Aufgabe als Vehikel des Denkens so gut wie möglich zu erfüllen, muss in diesem Fall die logische Struktur der Sprache so genau wie möglich der logischen Struktur der Gedanken angepasst werden, nicht aber umgekehrt die logische Struktur der Gedanken derjenigen der Sprache. Diese erste Auffassung finden wir im Rationalismus der Neuzeit – insbesondere bei Leibniz. Während nämlich dieser mit Frege darin übereinstimmt, dass die Sprache ein notwendiges Werkzeug des Denkens für uns Menschen sei, war er zugleich der Auffassung, dass God und die Engel keinerlei sinnlicher, materieller Zeichen bedürften, um denken zu können. 301 Wahrheiten und Begriffe bestehen demnach für Leibniz als Inhalte göttlichen Denkens unabhängig davon, dass es eine Sprache gibt, in der sie ausgedrückt werden können. Sie werden nicht erst durch eine ideale charakteristica universalis erschaffen, sondern diese muss ihnen im Hinblick auf deren logische Struktur angeglichen werden. Die alternative idealtypische Auffassung, die bei Baker und Hacker vor allem Wittgenstein zugeschrieben wird, ist, dass Sprache nicht allein eine anthropologische Bedingung der Möglichkeit des Denkens, sondern vielmehr eine metaphysisch konstitutive Rolle für dessen Inhalte einnimmt. Dies bedeutet, dass die Beziehungen zwischen der Sprache und ihren Inhalten »intern und notwendig« sind in dem Sinne, dass die logische Struktur der Gedanken von den 300 301

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Vgl. Baker & Hacker 1984: 63 ff. Vgl. NA, bk. IV, Kap. 5, § 1.

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Sätzen abhängt, die sie ausdrücken. Die Idee eines Gedankens, dessen logische Struktur nicht exakt in einer Sprache wiedergegeben werden könnte, oder der im Prinzip von einem rationalen Wesen – wie etwa Gott oder den Engeln – auch ohne sprachliches Medium gefasst werden könnte, würde demnach gar keinen Sinn machen. Beim frühen Wittgenstein wird der Gedanke denn auch einfach als der »sinnvolle Satz« definiert; 302 die Sprache ist hier – wie wir sahen – metaphysisch konstitutiv für die logische Struktur dessen, was in ihr überhaupt ausgedrückt oder abgebildet werden kann. Es lässt sich nun, wie ich denke, leicht zeigen, dass Frege – im Unterschied zu Wittgenstein – in dieser Hinsicht deutlich der ersten Auffassung des Verhältnisses von Sprache und Denken zuneigte und sich damit zugleich offenbar noch immer in der Tradition des neuzeitlichen Rationalismus bewegte. Freges angebliche Sprachphilosophie, so scheint es, war eigentlich nur als Methode gedacht, das »reine Denken« zu erforschen. Die Gedanken (Denkinhalte), Begriffe und Wahrheitswerte selbst waren jedoch für ihn offensichtlich sprachunabhängig in dem Sinne, dass sie nicht erst durch die Entwicklung einer Sprache entstehen oder konstituiert werden, sondern umgekehrt jedem Kommunikationsmittel zugrunde liegen müssen, damit dieses überhaupt seine Aufgabe erfüllen kann. Besonders deutlich kommt diese Einstellung Freges in seinem Spätfragment »Erkenntnisquellen in der Mathematik und den mathematischen Naturwissenschaften« zum Ausdruck. Frege weist hier noch einmal darauf hin, dass jeder Gedanke im menschlichen Bewusstsein mit einem Satz verbunden sein müsse; es sei andererseits jedoch kein Widerspruch, »Wesen anzunehmen, welche denselben Gedanken wie wir fassen können, ohne dass sie ihn in eine sinnliche Form zu kleiden brauchen«. 303 Es macht demnach für Frege Sinn, sich ein logisches Denken vorzustellen, welches überhaupt nicht semiotisch-abbildend vonstatten geht. Insofern somit die Logik der Gedanken selbst sprachunabhängig ist, liegt das Wesen des Denkens für ihn nicht im Wesen der Sprache. Frege gibt zu verstehen, dass sich »das Denken als solches nicht aus dem Sprechen ableiten« lasse, sondern dass es »als das Erste« erscheine; »die an der Sprache bemerkten logischen Mängel« könnten wir daher nicht dem Denken selbst zur Last legen. Das Denken, so Frege, könne zwar hinsichtlich seiner Ent302 303

Vgl. T: § 4. Hier und im folgenden EMN: 289. A

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stehung »in der Entwicklung des einzelnen« mit einem »unhörbaren inneren Sprechen« identifiziert werden könne, hierdurch aber sei keineswegs das Wesen des Denkens bezeichnet. Das Wesen des Denkens könne man umgekehrt gerade nur dadurch betrachten, dass man davon absieht, wie es beim einzelnen ins Bewusstsein tritt. Man könnte nun versucht sein, zumindest Freges frühe Auffassung des Verhältnisses von Sprache, Denken und Logik als eine internalistische im Sinne des frühen Wittgenstein zu begreifen. Denn Frege umschreibt hier z. B. die Bedeutung des sogenannten Inhaltsstriches, der beurteilbare Inhalte andeuten soll, u. a. mit den Worten »der Satz, dass …«, womit er den beurteilbaren Inhalt selbst gewissermaßen mit dem ihn ausdrückenden Satz zu identifzieren scheint. Dies kann man noch als eine terminologische Ungenauigkeit betrachten; schwerwiegender ist allerdings Freges frühe Interpretation der Identität als Inhaltsgleichheit. Wenn nämlich ein jedes Urteil der Form »a ist b« – zu denen auch Urteile gehören, in denen a und b beurteilbare Inhalte sind – eigentlich nichts anderes besagt als »Das Zeichen »a« hat denselben Inhalt wie das Zeichen »b««, dann lässt sich wohl schwerlich noch Raum finden für eine sprachunabhängige Existenz von Gegenständen überhaupt, einschließlich von beurteilbaren Inhalten. Denn die Identität eines jeden möglichen Gegenstandes wäre in diesem Falle gar nicht denkbar unabhängig von ihrer Verbindung zu sprachlichen oder anderweitigen konventionellen Zeichen. Es ist allerdings unklar, ob diese frühe Auffassung von Identität bei Frege tatsächlich durch metaphysische Überlegungen bezüglich des Verhältnisses von Logik und Sprache, bzw. Sprache und Denken motiviert war. Immerhin finden wir in der Begriffsschrift bereits die Wahrheit nicht dem Satz als syntaktischem Gebilde, sondern vielmehr der »Vorstellungsverbindung« zugeschrieben, als die Frege den beurteilbaren Inhalt betrachtet. 304 Zudem verkündet Frege hier bereits, dass selbst die Begriffsschrift – als ideale logische Sprache – ihre Aufgabe, den Gedanken rein wiederzugeben, nur bis zu einem gewissen Grad erfüllen könne: 305 Freilich gibt auch sie, wie es bei einem äußern Darstellungsmittel wohl nicht anders möglich ist, den Gedanken nicht rein wieder; aber einerseits kann man diese Abweichungen auf das Unvermeidliche und Unschädliche beschränken, 304 305

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Vgl. BS: § 2. BS: vii.

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andererseits ist schon dadurch, dass sie ganz anderer Art sind als die der Sprache eigentümlichen, ein Schutz gegen die einseitige Beeinflussung durch eines dieser Ausdrucksmittel gegeben.

Es ist auch wichtig zu sehen, dass Frege hier die Begriffsschrift be– reits ausdrücklich selbst als ein nur »äusseres« Darstellungsmittel der Gedanken bezeichnet. Die Abweichungen, von denen er hier spricht, resultieren möglicherweise aus den multiplen Zerlegungsweisen eines und desselben Gedankens, von denen selbst in einer idealen Sprache durch einen Satz jeweils nur eine herausgegriffen werden kann. Da aber seiner Ansicht nach die verschiedenen Zerlegungs- oder Darstellungsweisen eines Gedankens oder beurteilbaren Inhaltes logisch vollkommen äquivalent sind, ist keine von ihnen einer anderen vom logischen Standpunkt aus vorzuziehen. Für Frege mag dies ein Zeichen gewesen sein, dass ein durch einen solchen Satz ausgedrückter Gedanke bzw. beuteilbare Inhalt durch den Satz allein nicht vollständig wiedergegeben ist, da ein einzelner Satz dessen multiple Struktur nicht vollständig erfassen kann. Dies könnte also vom rein logischen Standpunkt aus der Grund sein, warum selbst ein Begriffsschriftsatz laut Frege einen Gedanken »nicht rein« wiedergibt. Ein Gedanke ist, wie wir sahen, für Frege nicht dasselbe wie eine Aussage im Fregeschen Sinne – seine Logik war daher keine Logik der Aussagen, im Gegensatz zu derjenigen des frühen Wittgenstein, die auch in dieser Hinsicht die Logik und analytische Philosophie des 20sten Jahrhunderts weitaus stärker geprägt hat als Freges.

2.4.4. Unsagbare Gedanken Nun könnte man hier noch immer einwenden, dass doch ein Gedanke oder beurteilbare Inhalt für Frege möglicherweise wenn nicht mit einem bestimmten Satz der Begriffsschrift, dann zumindest mit derjenigen Menge von Sätzen zu identifizieren wäre, die ihn in der einen oder anderen logisch korrekten Weise wiedergeben. In diesem Falle wäre Freges frühe Logik noch immer eine Logik der Sprache gewesen, und Wahrheitswerte somit rein semantische Entitäten. Frege weist jedoch in der Begriffsschrift auch darauf hin, dass gewisse Grundsätze des Denkens – nämlich diejenigen, die den Regeln für die Anwendung logischer Zeichen entsprechen – in der Begriffsschrift gar nicht ausgedrückt werden könnten, weil sie »ihr zu Grunde lieA

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gen« würden. 306 Vielmehr, so sahen wir vorhin, ergeben sich diese Regeln offenbar unmittelbar aus dem Vernunftvermögen selbst. Gleichzeitig aber dachte sich Frege die Begriffsschrift gewissermaßen als Universalsprache der Logik; die Unterscheidung zwischen Metaund Objektsprache und die Idee einer Hierarchie logischer Sprachen wurde erst von Tarski untersucht. 307 Fasst man daher die den Zeichenregeln der Begriffsschrift entsprechenden »Grundsätze des Denkens« selbst wiederum als Wahrheiten auf – wie es Frege offenbar bereits in der Begriffsschrift tat, wo er von Urteilen spricht, die durch das reine Denken selbst hervorgebracht werden 308 –, so zeigt auch dies, dass Wahrheit bereits beim frühen Frege kein rein semantischer Begriff gewesen sein kann und dass er wohl auch zu diesem Zeitpunkt bereits der Auffassung gewesen sein muss, dass nicht alle Denkinhalte notwendigerweise eine exakte »Abbildung in der Welt der Sprache« haben. 309 Die Idee »unsagbarer« Gedanken ist auch ein wichtiges Thema in Freges mittlerer Phase, wo sie vor allem in Form des sogenannten Begriffsparadoxons thematisiert wird. Dieses Problem entsteht, wann immer wir versuchen, eine direkte Aussage über etwas Ungesättigtes zu machen, wobei wir dieses dann wie einen Gegenstand behandeln. So kann sich etwa in einem Satz wie »Der Begriff Pferd Vgl. dazu BS: § 13. Erst in seinen letzten Lebensjahren kam Frege auf die Idee, dass man in der Logik zwischen einer »Hilfssprache«, in der die Gedanken gefasst werden und die somit als »Brücke zwischen dem Sinnlichen und dem Unsinnlichen« dient, und einer »Darlegungssprache« unterscheiden sollte, in der sich unser eigentlicher Gedankengang, unsere Beweisführung vollziehe; vgl. LA: 280. Doch auch die Überlegungen, die er hierzu anstellt, sind noch sehr vage und unausgegoren. Sie beschränken sich auf die Überlegung, dass die Darlegungssprache mit der Umgangssprache, d. h. mit unserem geschriebenen oder gesprochenen Deutsch zusammen fallen würde, und dass ihr Verhältnis zur Hilfssprache darin bestunde, das die Sätze der letzteren die Gegenstände der ersteren bilden. Zur Bezeichnung der Sätze der Hilfssprache, so Frege, sollten dabei Eigennamen der Darlegungssprache verwendet werden, die aus den in Anführungszeichen eingeschlossenen hilfssprachlichen Sätzen gebildet werden. Es scheint dabei nicht so zu sein, dass für Frege die Darlegungsssprache in irgendeinem Sinne semantisch reichhaltiger sein müsse als die Hilfssprache. 308 Vgl. BS: § 23. 309 Vgl. Freges gewissermaßen im Widerspruch hierzu stehende Äußerung aus der Spätschrift »Die Verneinung«: »Die Welt der Gedanken hat ihr Abbild in der Welt der Sätze, Ausdrücke, Wörter, Zeichen. Dem Aufbau des Gedankens entspricht die Zusammensetzung des Satzes aus Wörtern, wobei die Reihenfolge im allgemeinen nicht glcichgültig ist«; vgl. Vern.: 367. 306 307

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ist ein leicht gewinnbarer Begriff« der Ausdruck »der Begriff Pferd« nicht auf einen Begriff, sondern nur auf einen Gegenstand im logischen Sinne beziehen – naheliegender Weise würde es sich hierbei um den Umfang des Begriffs, der diesen gewissermaßen nur »vertritt«. 310 Denn ein Ausdruck wie »der Begriff soundso« ist nach Freges Kriterien ein typischer Eigenname, der nicht die Rolle eines Prädikates übernehmen kann. Dies ist nicht nur, weil der Ausdruck »der Begriff Pferd« als ein Eigenname hingestellt wird, der demnach einen Gegenstand zu bezeichnen vorgibt, sondern auch, weil der Ausdruck »ist ein (leicht gewinnbarer) Begriff« doch offenbar als ein Prädikat verwendet wird, welches sich auf Begriffe, nicht aber auf Gegenstände beziehen soll. Demnach müsste es aber – nach Freges Rekonstruktion – ein Begriffswort höherer Stufe sein. Nun sind freilich Sätze der Form »x ist ein Gegenstand« oder »y ist eine Funktion« durchaus legitim, solange wir darauf achten, daß an die Argumentstelle von »x« nur Eigennamen und an die von »y« nur Funktionsausdrücke gesetzt werden. Wir könnten jedoch nicht in einem Satz unmittelbar zum Ausdruck bringen, dass etwas, x, ein Gegenstand, aber keine Funktion ist: ja, wir könnten grundsätzlich nicht in logisch sinnvoller Weise sagen, dass eine Funktion kein Gegenstand, ein Gegenstand keine Funktion sei. Frege hat solche und andere kontraintuitiv erscheinende Konsequenzen aus der irreduziblen Mehrsortigkeit seiner Logik selbst gesehen: 311 In dem Satze »Etwas ist ein Gegenstand« nimmt das Wort »Etwas« eine Argumentstelle erster Art ein, vertritt einen Eigennamen. Was wir also auch an die Stelle von »Etwas« einsetzen mögen, wir erhalten immer einen wahren Satz: denn ein Functionsname kann die Stelle von »Etwas« nicht einnehmen. Wir befinden uns hier durch die Natur der Sprache in eine Zwangslage, versetzt, die uns zu ungenauen Ausdrücken nöthigt. So geht es uns mit dem Satze »A ist eine Function«; er ist immer ungenau: denn »A« vertritt einen Eigennamen. Der Begriff der Function muss ja ein Begriff zweiter Stufe sein, während er in der Sprache immer als Begriff erster Stufe erscheint. Während ich dies schreibe, bin ich mir wohl bewußt, mich wieder ungenau ausgedrückt zu haben.

Frege gesteht also zu, dass die Ausdrücke »Funktion« und »Begriff« eigentlich Namen von Begriffen zweiter Stufe sein müssten, weist aber darauf hin, dass ihre Rolle innerhalb der Alltagssprache jedoch 310 311

Vgl. BG: 171. Vgl. WB: 218. A

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die von Funktionsnamen erster Stufe ist. Er erklärt demnach das Begriffsparadoxon zur Konsequenz aus den logischen Mängeln der alltagssprachlichen Grammatik, hält es jedoch nicht für ein logisches Paradoxon. Das scheinbare Paradox entstehe, so Frege, aus dem Umstand, dass die Ausdrücke »ist eine Funktion« oder »ist ein Begriff« in der Alltagssprache in logisch inkonsistenter Weise verwendet werden und daher vom logischen Standpunkt aus eigentlich zu verwerfen sind: 312 Die Schwierigkeit in dem Satze »eine Function nimmt niemals die Stelle eines Subiects ein« ist wohl nur scheinbar, veranlaßt durch die Ungenauigkeit des sprachlichen Ausdrucks: denn die Wörter »Function« und »Begriff« sind logisch eigentlich zu verweilen. Sie sollten ja Namen von Functionen zweiter Stufe sein, sie stellen sich aber sprachlich dar als Namen von Functionen erster Stufe.

Michael Resnik hat hingegen das Begriffsparadoxon als eine echte logische Inkonsistenz von Freges Systems betrachtet, gerade weil es gegen das Prinzip verstoße, dass jeder Gedanke sich hinsichtlich seiner Struktur in der Sprache abbilden lassen müsse. 313 Genau diese Prämisse aber scheint der eigentlich interessante Streitpunkt zu sein; wir können Frege nicht einfach retrospektiv eine Auffassung von Logik zuschreiben, die er nicht vollständig teilte. Man mag sich darüber streiten, ob die Idee unsagbarer Gedanken überhaupt Sinn macht oder nicht; aber es wäre unfair, Frege lediglich unter einer Voraussetzung zu kritisieren, die er nicht teilte. Freges Idee der unsagbaren Gedanken war offenbar ein integraler Bestandteil seiner Philosophie, der wahrscheinlich auch die Wittgensteinsche Idee der unsinnigen Sätze inspiriert hat, die als Erläuterungen logischer und philosophischer Grundbegriffe den Tractatus ausfüllen. Der entscheidende Unterschied scheint hier darin zu liegen, dass während Frege zufolge unsagbare Gedanken prinzipiell durch »Winke und Hinweise« vermittelt werden können – wobei WB: 224. Vgl. Resnik 1965, 339: »On his view, a theory can only be a body of thoughts, for its doctrines are supposed to be true or false, and only thoughts are true or false. But any body of thoughts, any theory, must have an image in the world of sentences. On its own saying, Frege’s theory is supposed to be one withoul an image in the world of sentences. The structure of some of its thoughts is not mirrored in the structure of sentences. Therefore, on its own saying, Frege’s theory of incomplete entities is not a theory at all: it is self-referentially inconsistent.« Resnik stützt sich hierbei auf die in Anm. 62 zitierte Passage aus Vern. 312 313

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man sich auf ein »entgegenkommendes Verständnis« von Seiten des Lesers verlassen muss 314 – nach Wittgenstein die unsinnigen Sätze eigentlich gar nicht auf spezielle Sachverhalte oder Wahrheiten hinweisen, die lediglich in der Sprache nicht ausdrückbar sind. Im Hinblick auf die logischen Grundbegriffe ist dies durch Wittgensteins formalistische Konzeption ausgeschlossen. Der ›Grundgedanke des Tractatus‹ ist, dass die logischen und mathematischen Zeichen nichts vertreten. 315 Logische Symbole haben lediglich eine syntaktische Funktion in der Sprache; sie dienen nicht etwa dazu, logische Gegenstände oder Begriffe zu bezeichnen. Es gibt folglich auch gar keine Entitäten, die als Bedeutungen logischer Zeichen in Frage kämen; 316 314 Vgl. LM, 224: »Die Wissenschart bedarf der Kunstausdrücke, die ganz bestimmte und feste Bedeutungen haben: und um sich über diese Bedeutungen zu verständigen und mögliche Missverständnisse auszuschliessen, wird man Erläuterungen geben. Freilich kann man auch dabei wieder nur Wörter der Sprache gebrauchen, die vielleicht ähnliche Mängel zeigen, wie die sind, denen die Erläuterung abhelfen sollte. So scheinen denn wieder neue Erläuterungen nötig zu werden. Theoretisch betrachtet kommt man so eigentlich nie ans Ziel; praktisch gelingt es doch, sich über die Bedeutungen der Wörter zu verständigen. Freilich muss man dabei auf ein verständnisvolles Entgegenkommen, auf ein Erraten dessen, was man im Auge hat, rechnen können. Alles dieses aber geht dem Aufbau des Systems voraus, gehört nicht ins System. Bei dem Aufbau selbst muss vorausgesetzt werden, dass die Wörter bestimmte und bekannte Bedeutungen haben.« Frege weist hier darauf hin, dass es kein eindeutiges, mechanisches Verfahren gibt, die Bedeutung eines nicht-definierbaren Ausdrucks vollständig zu erklären, weil man dazu immer auf andere Allsdrücke – in Satzkontexten – zurückgreifen muß, deren Bedeutung ihrerseits nicht gleichzeitig miterklärt wird, sodass um die Vollständigkeit der ersten Erklärung zu erreichen, weitere Erklärungen der erklärenden Ausdrücke nötig wären, und man so in einen unendlichen hermeneutischen Regress gerät. Da nun aber alle komplexen Bedeutungen von den Bedeutungen ihrer Bestandteile und letztlich von den nicht-definierbaren Grundbegriffen abhängen, muss hier eine besondere Art von »Verständnis« vorausgesetzt werden, damit Verstehen überhaupt möglich erscheint. Zu einem anderen Ergebnis scheint Vossenkuhl 1995 zu kommen, der Frege eine Auffassung des Verstehens als bloßes »logisches Ableiten« im Sinne etwa der Entwicklung von Definitionsketten zur Gewinnung von Zahlen, d. h. einen »analytischen Fundamentalismus« zuschreibt; vgl. ebd., S. 302. Diese Charakterisierung trifft jedoch m. E. viel eher auf Russell zu als auf Frege; denn für diesen beginnt der Verstehensprozess wie wir sahen – bei einer unmittelbaren Bekanntschaft mit logisch einfachen Erkenntnisgegenständen. Bei Frege hingegen kann das logische Ableiten oder Definieren nur einen Teil des Verstehensprozesses ausmachen, weil die Grundbegriffe, aus denen abgeleitet oder definiert wird, selbst nur durch Vermittlung von Gedanken, und diese wiederum nur im Zusammenhang eines ganzen Systems von Gedanken verständlich sind. 315 Vgl. T: § 4.0312. 316 Vgl. T: § 5.4.

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die einzigen logischen Entitäten, von denen überhaupt die Rede sein kann, sind die logischen Zeichen selbst und ihre Verwendungsregeln. Das Wesen der Logik liegt demnach für Wittgenstein in der »logischen Syntax irgendeiner Zeichensprache«, und einen logischen oder mathematischen Satz zu beweisen, bedeutet – wie bei Boole – nach Zeichenregeln gewisse mechanische, sukzessive Rechenoperationen durchzuführen. Wittgenstein hätte sich in dieser Hinsicht wohl kaum weiter von Frege – und selbst Russell noch zu Beginn des 20sten Jahrhunderts – entfernen können. Was aber Frege mit Wittgenstein noch gemeinsam hat, und was diese drei Vordenker der analytischen Philosophie gleichzeitig von der Tarskischen Tradition logischer Semantik unterscheidet, die seither diese Tradition dominiert hat, ist die Zurückweisung jeglicher Form einer logisch-semantischen Metatheorie der Logik. Weder Frege noch Wittgenstein hielten es für möglich, eine »Theorie« der Wahrheit oder Bedeutung aufzustellen, die selbst wiederum logisch klar ausdrückbar oder axiomatisierbar gewesen wäre – Frege, weil er die ersten Grundsätze des Denkens, aus denen sich die logischen Zeichenregeln für die Begriffsschrift ergeben, für unsagbar hielt; und Wittgenstein, weil er sie wegen ihrer Unsagbarkeit überhaupt nicht als Grundsätze im eigentlichen Sinne anerkannte, sondern als etwas, das sich nur syntaktisch in der Sprache zeigen kann, um überhaupt verstanden zu werden. 317 Insofern muss Dummetts ursprüngliche These, dass nicht allein Freges Methode der Begriffsanalyse durch Bedeutungsanalyse, sondern insbesondere sein Voranstellen des Projektes einer logischen Bedeutungstheorie – die sich als Metatheorie auf die Wahrheitsbedingungen von Sätzen einer Objektsprache gründen würde – vor allen anderen philosophischen Projekten den eigentlichen Bruch mit der neuzeitlichen Tradition eingeleitet habe, 318 zurückgewiesen werden. Dummett beging dabei den Fehler, nicht nur Frege, sondern auch Wittgenstein mit Tarski in einen Topf zu werfen – ein Fehler, für den übrigens die Logischen Positivisten wohl in diesem Fall nicht verantwortlich zu machen sind. Denn Carnap selbst nennt korrekterweise nicht Frege, Russell oder Wittgenstein, sondern vielmehr die Warschauer Schule um Kotarbinski und Tarski als den Ursprung der se-

317 318

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Vgl. dazu auch van Heijenoort 1967, Sluga 1999. Vgl. Dummett 1981a: 667.

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mantischen Konzeption der Logik, die im 20sten Jahrhundert so einflussreich geworden ist. 319 2.4.5. Nicht Bedeutungstheorie, sondern Philosophie des Denkens Die These nun, dass die gesamte moderne analytische Philosophie von der Sprachphilosophie als Fundamentaldisziplin ausgehe, um über eine systematische Grundlage für adäquate sprachanalytische Methoden zur Behandlung philosophischer Probleme zu verfügen, findet sich auch in Dummetts zweitem Frege-Buch. Hier bezeichnet Dummett Freges Philosophie der Logik allerdings bereits vorsichtiger als eine »Philosophie der Gedanken« (philosophy of thought) 320 , nennt aber – ähnlich wie in seinem ersten Buch – den Standpunkt, dass jede sinnvolle Philosophie des Denkens nur sprachphilosophisch betrieben werden könne, als den wesentlichen Grundsatz der analytischen Philosophie in diesem Jahrhundert. Der »analytische« Standpunkt zeichnet sich nach Dummett durch drei Kernthesen aus: 321 (AP1) keine philosophische Sprachtheorie setze eine philosophische Theorie des Denkens voraus; (AP2) aus jeder philosophischen Theorie der Sprache folge hingegen automatisch eine philosophische Theorie des Denkens; (AP3) es gebe kein adäquateres Mittel als eine philosophische Theorie der Sprache, um eine philosophische Theorie des Denkens zu entwickeln. Dass diese drei Thesen tatsächlich von allen analytischen Philosophen vertreten werden, ja sogar, ob sie überhaupt plausibel erscheinen, mittlerweile auch unabhängig von einer Reaktion auf Dummetts Frege-Interpretation in Zweifel gezogen. 322 Insbesondere ist aus dem im letzten Kapitel genannten Gründen der Ausdruck »Theorie« in seiner Anwendung auf Frege, Russell und Wittgenstein Vgl. Carnap 1942: ixf. Vgl. Dummett 1981b: 36 ff.; siehe auch 1993: 4 ff., 127 ff. 321 Vgl. Dummett 1981b: 39. In Dummett 1993 sind diese drei »Kernthesen« der Analytischen Philosophie auf zwei reduziert; siehe dazu im folgenden 3.2.5. 322 Vgl. etwa Baker/Hacker 1984: 7, Anm. 10; Kleemeier 1997: 108 f.; Glock 1997a:, Monk 1997. Dahingegen scheint Sluga zumindest in diesem Punkt mit Dummett übereinzustimmen; vgl. Sluga 1980, 2: »It is the characteristic tenet of that school [i. e. that of analytical philosophy] that the philosophy of language is the foundation of all the rest of philosophy.« 319 320

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hier problematisch und sollte daher vielleicht durch den allgemeineren, und vageren, Begriff einer Konzeption ersetzt werden. Aber auch bei einer solchen Reformulierung trifft die erste These ganz offensichtlich nicht auf Frege zu, dessen sprachphilosophische Überlegungen ja auf bestimmten Annahmen über die Natur von Wahrheit, Objektivität, Bedingungen der Möglichkeit rationalen Denkens, sowie Bedingungen der Möglichkeit des Fassens von Begriffen und des Erkennens von Gegenständen beruhen, die auch ohne Rekurs auf sprachphilosophische Begriffe erläutert werden können. Das Funktionieren der Sprache als Kommunikationsmittel wird ja bei Frege genau dadurch erklärt, dass wir aufgrund unseres Vernunftvermögens Gedanken zu fassen imstande sind, die unabhängig vom einzelnen Denker, aber dennoch jedem Denker gleichermaßen zugänglich sind. Die Objektivität der Gedanken wird ganz offensichtlich bei Frege nicht erst durch die Sprache geschaffen, sondern sie gilt Frege als eine Bedingung der Möglichkeit sprachlicher Kommunikation überhaupt. 323 Nicht nur AP1, sondern auch AP2 erweisen sich somit als unzutreffend im Hinblick auf Frege. AP3 wiederum ist problematisch einfach aus dem Grund, weil Frege gar keine Theorie der Sprache in einem axiomatisierbaren Sinn entwickelt hat. Dummett hat offenbar vor allem Freges Konzeption von Sinn und Bedeutung im Auge, die in Dummetts Frege-Interpretation im Vordergrund steht. Diese Konzeption hatte Frege erst in seiner mittleren Phase entwickelt, und seine früheren Überlegungen zum begrifflichen Inhalt von Zeichen, zur Bestimmungsweise des Bezeichneten oder zum Kennzeichen der Wiedererkennung von Gegenständen sind im Großen und Ganzen eher fragmentarisch und unausgegoren. Ich erinnere hier nur an Freges frühe Charakterisierung der Bedeutung des Zeichens für Identität, die es noch nicht einmal erlaubt, logisch zwischen extensionaler und intensionaler »Inhaltsgleichheit« von Ausdrücken zu unterscheiden, obwohl zugleich der Unterschied zwischen informativen und nicht-informativen Identitätssätzen bereits in seinen frühen Schriften eine wichtige Rolle spielt. 324 Aber auch Freges spätere Konzeption von Sinn und Bedeutung würde sich wegen des Begriffsparadoxons – übertragen auf

323 Eine genau entgegengesetzte Analyse von Freges Antipsychologismus liefert Picardi 1996. 324 Vgl. I, 1.1.4.

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die Idee der Bedeutung eines Begriffswortes – gar nicht in logisch einwandfreien Sätzen vollständig ausdrücken lassen. Dummett macht nun zumindest anderweitig in seinem zweiten Frege-Buch bereits deutliche Zugeständnisse an die erkenntnistheoretische Richtung der Frege-Rezeption, u. a. indem er hier einzuräumen scheint, Frege habe durchaus Interesse an erkenntnistheoretischen Fragen gehabt. 325 Allerdings bleibt er noch immer dabei, dass für Frege nicht die Erkenntnistheorie, sondern die Analyse von Bedeutungen der Ausgangspunkt der Philosophie war: 326 To take epistemology as the starting point of philosophy, even construed as embracing all justifications of whatever type, is to assume that questions concerning what we know and what is the basis of that knowledge can be discussed in advance of an analysis of the meanings of the sentences that express that knowledge. Frege, on the contrary, did not think that we could profitably undertake to enquire into the justification for our acceptance of the basic laws of arithmetic, and of the theorems provable from them, without first achieving a thorough analysis of the meanings of the statements in which those laws and theorems were expressed.

Dummett scheint aber hier zu übersehen, dass Frege die Analyse von Bedeutungen und die Erkenntnis logischer Beziehungen zwischen Gedanken der Mathematik und Logik offenbar ganz einfach als Bestandteil eines Beitrags zur Erkenntnistheorie ansah. Wenn nun Dummett unter »basic laws of arithmetic« in der obigen Passage die logischen Urgesetze versteht, sodass es sich bei ihrer Rechtfertigung um eine Rechtfertigung erkenntnistheoretischer Art handeln würde, so sehe ich nicht, inwiefern Freges allgemeine Bestimmung ihrer Rechtfertigungsbasis im reinen Denken, in der Vernunft oder logischen Erkenntnisquelle selbst abhängig von einer Analyse der Bedeutung ihrer Sätze sein soll. Wenn Dummett andererseits die Rechtfertigung konkreter Gesetze im Auge hat – wie etwa dem Gesetz der Identität oder Axiom V – d. h. eine Rechtfertigung dafür, dass das eine oder andere mutmaßliche logische Gesetz seine Berechtigung tatsächlich unmittelbar aus der Natur rationalen Denkens selbst hernimmt, dann scheint klar, dass ein Verständnis dieses Gesetzes in Form einer Bedeutungsanalyse in jedem Fall notwendige Voraussetzung für sein unmittelbares Einleuchten, und also für die Gewissheit wäre, dass es sich um eine Erkenntnis handelt. Frege be325 326

Vgl. Dummett 1981b: 62. Dummett 1981b: 62. A

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trachtet ja selbst das Fassen eines Gedankens – sein Verstehen –, welches bei uns Menschen sprachlich vonstatten gehen muss, als notwendige Vorbedingung seiner Erkenntnis. 327 Dann aber ist schwer nachvollziehbar, warum – selbst wenn Dummett hier richtig liegt und Frege wirklich dachte, dass wir die Frage nach der Rechtfertigung der Grundgesetze der Arithmetik nicht ohne vorherige Analyse von Bedeutungen beantworten können – dies zeigen sollte, dass die Erkenntnistheorie, vor allem in dem weiteren Sinn, in dem sie alle Rechtfertigungstypen umfassen würde, für Frege nicht die Basisdisziplin der Philosophie gewesen sein sollte. Denn wenn Erkenntnis darin besteht, gerechtfertigte wahre Gedanken oder Sätze zu verstehen, dann involviert eine vollständige Erkenntnistheorie auch eine Konzeption dessen, wie ein Gedanke sprachlich zu fassen ist. Dummett räumt nun in seinen späteren Arbeiten auch ein, dass Freges Philosophie des Gedankens eigentlich als die Fundamentaldisziplin und damit gewissermaßen als vorrangig vor jeglicher Bedeutungstheorie anzusehen ist. Allerdings begründet er dies lediglich mit der janusköpfigen, teils semantischen, teils nicht-semantischen Natur des Fregeschen Gedankenbegriffs – genau dieser würde einer Gleichsetzung von Freges Logik mit einer wahrheitskonditionalen Semantik im Wege stehen: 328 Frege was perfectly clear about that to which truth attaches, to which the predicate »is true« is applied: it is a thought which is the primary bearer of truth and falsity, which is, in the first place, said to be true or false; a sentence can be said to be true or false only in a derivative sense, as expressing a true or false thought. Now Frege’s notion of a thought looks both ways. On the one hand, a thought is the sense of a sentence, its sense being that part of its meaning which is relevant to its truth or falsity. If we concentrate on this part of the notion, it will appear quite faithful to Frege to subsume the theory of truth under the theory of meaning. On the other hand, however, a thought is for Frege something eternal and immutable, which does not depend for its existence upon our either expressing it or even grasping it […]. It seems to follow that, just as, since a thought exists, and is true or false independently of our grasping it or recognizing its truth-value, an account of thought and of truth and falsity ought to make no reference to our minds, so, since a thought exists, and is true or false independently of our expressing it, such an account ought to make no reference to our language. So regarded, what Frege called »logic« has nothing to do with language. 327 328

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Vgl. EMN: 289. Dummett 1981b: 38 f.

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Dummett gesteht auch zu, dass daher Frege offiziell wohl noch keine vollständige Identifikation von Philosophie der Gedanken mit Sprachphilosophie, wie sie in den drei oben angeführten Thesen zum Ausdruck kommt, vorgenommen hatte. Auch in seinem 1993 erschienenen Buch über die Ursprünge der Analytischen Philosophie greift er auf diese modifizierte Auffassung zurück: Da bei Frege der Gedanke ontologisch gesehen Priorität vor der Sprache hat, sollte es demgemäß die Philosophie des Gedankens, und nicht die Sprachphilosophie sein, die bei Frege offiziell als philosophische Basisdisziplin anzusehen ist. 329 Er fügt jedoch hier ein umfangreiches Argument dafür an, dass Frege diese Prioritätsordnung nicht konsequent habe einhalten können, und dass seine Vorgehensweise eigentlich – wenn auch nicht offiziell – zumindest die folgenden beiden Kernthesen der analytischen Philosophie erfülle: 330 (AP1*) Eine philosophische Konzeption des Denken kann aus einer philosophischen Konzeption der Sprache heraus hergeleitet werden, und (AP2*) erstere kann nur aus letzterer hergeleitet werden. Da nämlich, so Dummett, der Gedanke und nicht der Satz bei Frege primärer Wahrheitsträger ist, sollte es auch primär der Gedanke und nicht der Satz sein, der als Bedeutungsträger in Frage kommt, da ja der Wahrheitswert bei Frege die Bedeutung des Satzes ist. Konsequenterweise müsste es auch der Sinn eines Eigennamens sein, der primär auf den Gegenstand bezugnimmt, und nicht der Eigenname selbst. 331 Falls es sich nun hierbei um eine These über die Verwendung des Ausdrucks »Bedeutung« bei Frege handeln sollte, so folgt diese allerdings nicht unmittelbar aus der Voraussetzung, dass der Wahrheitswert genaugenommen dem Gedanken zukommt. Denn die Ausdrücke »Sinn« und »Bedeutung« gehören bei Frege vorwiegend zum Diskurs über die Sprache; und während es korrekt ist, dass diese Ausdrücke nur mit Hilfe der Ausdrücke »Gedanke« und »Wahrheitswert« erklärt werden können, scheinen letztere, die zum eigentlichen Diskurs über die sprachunabhängigen Bedingungen der Möglichkeit rationalen Denkens gehören, auch auch unabhängig von 329 330 331

Dummett 1993: 8. Vgl. Dummett 1993: 4. Vgl. Dummett 1993: 8. A

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den ersteren verständlich. Während also ein Eigenname oder Satz seine Bedeutung nur kraft einer Beziehung erhalten kann, die zwischen dem durch ihn bezeichneten Gegenstand und einer bestimmten Art seines Gegebenseins besteht, ist Frege nicht gezwungen, den Ausdruck »Bedeutung« direkt auf Gedanken oder Gedankenteile (bzw. Sinne sprachlicher Ausdrücke) anzuwenden. Nun schreibt Frege in der Tat den Ausdruck »Bedeutung« an mindestens drei Stellen nicht sprachlichen Ausdrücken, sondern Gedanken zu. Beide Stellen befinden sich in dem Aufsatz »Über Sinn und Bedeutung«. Einmal heißt es hier nämlich, dass »der Gedanke […] für uns an Wert [verliert], sobald wir erkennen, dass zu einem seiner Teile die Bedeutung fehlt«. 332 Hier werden offenbar Bedeutungen direkt Gedankenteilen zugeschrieben. An einer anderen Stelle heißt es, dass »in jedem Urteil […] schon der Schritt von der Stufe der Gedanken zur Stufe der Bedeutungen […] geschehen ist«. 333 Drittens schließlich weist Frege hier darauf hin, dass »der bloße Gedanke allein noch keine Erkenntnis gebe, sondern erst der Gedanke zusammen mit seiner Bedeutung, d. h. seinem Wahrheitswerte«. 334 Solche Passagen deuten darauf hin, dass für Frege auch der Begriff der Bedeutung kein primär semantischer Begriff ist, sondern vielmehr seiner Philosophie des Gedankens im engeren Sinne angehört. Frege setzt hier möglicherweise einfach eine Verwendungsweise des Ausdrucks »Bedeutung« fort, die – wie wir bereits in Teil I sahen – mindestens bis auf Kant zurückgeht. 335 Kant nämlich schrieb ja bereits sowohl Ausdrücken als auch Begriffen Sinn und Bedeutung zu. Obwohl wir erwarten sollten, dass eine systematische Beziehung zwischen beiden Verwendungsweisen besteht, unterließ er es allerdings, uns mitzuteilen, wie sich die Bedeutung von Begriffen genau zur Bedeutung von Ausdrücken verhält 336 , und er liefert uns nicht, was einer semantischen Theorie auch nur nahekommen würde.337 In SB: 149. Ebd. 334 SB: 150. 335 Vgl. I, 1.3.2. 336 In der Akademie-Ausgabe finden sich insgesamt 16 Passagen, in denen Kant die beiden Ausdrücke »Sinn« und »Bedeutung« zusammen verwendet, und zwar stets entweder mit bezug auf Ausdrücke oder auf Begriffe. Von Sinn und Bedeutung sprachlicher Ausdrücke spricht Kant z. B. in KrV: B 285, sowie in »Träume eines Geistersehers«, AA II 321. 337 Im Unterschied zu Locke, Leibniz und später Frege scheint Kant wenig Interesse an der Frage gehabt zu haben, welche Rolle die Sprache für unser Denken spielt. 332 333

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beiden Fällen verwendete Kant zudem die beiden Ausdrücke »Sinn« und »Bedeutung« nahezu synonym; jedenfalls liefert er uns – wie Frege in seiner Frühphase – nirgends eine klare Unterscheidung. Allerdings scheint Kant eine klare Verbindung zwischen der Eigenschaft eines Begriffs, eine Bedeutung zu haben, und seiner Eigenschaft, eine Beziehung zu Objekten zu haben, herzustellen. Für Kant nämlich sind z. B. »die Schemata der reinen Verstandesbegriffe die wahren und einzigen Bedingungen […], diesen eine Beziehung auf Objekte, mithin eine Bedeutung zu verschaffen« 338 , und es gelte vom Subjektbegriff in einem singulären Urteil »ohne Ausnahme, gleich als wenn derselbe ein gemeingültiger Begriff wäre, der einen Umfang hätte, von dessen ganzer Bedeutung das Prädikat gelte«. 339 Obwohl Kant es hier nicht genau spezifiziert, scheint doch alles darauf hinzudeuten, als wenn er unter »Bedeutung« entweder die Gegenstände versteht, die im Umfang eines Begriffs liegen, oder die Beziehung des Begriffs zu diesen Gegenständen. Was Kant wiederum unter »Begriff« verstand, kommt in etwa den Gedankenteilen Freges sehr nahe; es handelt sich dabei jedenfalls um Bestandteile von Urteilen, und Kant verwendet oft den Ausdruck »Gedanke« äquivalent zu »Begriff« oder jedenfalls im Sinne einer Begriffsverbindung. 340 Dummett argumentiert nun, dass Frege, für den Gedanken und ihre Teile gewissermaßen ontologisch primär gegenüber Sätzen und Ausdrücken sind, diese Prioritätsordnung bei seiner Erklärung des Unterschiedes zwischen Sinn und Bedeutung in der mittleren Phase notgedrungen habe verletzen müssen. Die vermeintliche Priorität, so Dummetts Punkt, sei demnach für Frege eigentlich nicht vertretbar gewesen. 341 Dummetts Argument verläuft hier folgendermaßen: Er geht von einer Erklärung des Fregeschen Begriffs des Sinns als der Art des Gegebenseins der Bedeutung eines Ausdrucks aus. 342 Der Begriff des Sinns könne demnach nicht ohne den der Bedeutung erklärt werden. Wenn dies aber so ist, dann müssen wir bereits über den Begriff der Bedeutung verfügen, um den des Sinns zu verstehen. Dann aber können wir Bedeutung nicht wiederum als Eigenschaft des Sinns erklären, weil unsere Erklärung sonst zirkulär wäre. Also 338 339 340 341 342

KrV: A 145 f./ B 185; Zur ersten Passage vgl. auch Holenstein 1983. A 71/B 96. Vgl. KrV: A 50–51/ B 74–75; B 146, B 148 f. Vgl. hier und im folgenden Dummett 1993: 8 f. Dummett 1993: 9. A

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sind wir gezwungen, Bedeutung primär als Eigenschaft sprachlicher Ausdrücke und nicht Sinne anzusehen. Freges offizielle Konzeption der Bedeutung als Eigenschaft des Sinns sei somit unhaltbar. Dieselbe Überlegung wendet Dummett auch auf Freges offizielle These an, dass ein Sinn – d. h. z. B. ein Gedanke – im Prinzip (wenn auch nicht von menschlichen Wesen) auch ohne sprachlichen Ausdruck gefasst werden könne, d. h. auf andere Weise als als Sinn eines Ausdrucks, dem eine Bedeutung zukommt. Er beruft sich hierbei u. a. auch auf Freges Taktik in den Grundgesetzen, die Bedingungen der Bedeutungshaftigkeit sprachlicher Zeichen ohne jegliche Erwähnung ihres Sinns festzulegen. 343 Wenn der Begriff der Bedeutung bei Frege tatsächlich sekundär gegenüber dem des Sinns wäre, dann könnte er nicht unabhängig von dem des Sinns verstanden werden und Freges Bedeutungsfestsetzungen wären ebenfalls vollkommen unverständlich. Es sei aber umgekehrt so, dass Frege hier erst nach Festlegung der Bedeutungen der Zeichen seines Symbolismus den Begriff des Sinns einführt und diesen durch den der Bedeutung erklärt. Der Sinn eines Satzes der Begriffsschrift nämlich, wird hier erklärt als der Gedanke, dass die Wahrheitsbedingungen desselben erfüllt sind, und der Sinn eines Satzteils wird erklärt als der Beitrag desselben zum Ausdruck des Gedankens. Wir müssen daher zuerst wissen, was es für einen Satz heißt, wahr zu sein, um zu wissen, was es für den Satz heißt, einen Gedanken auszudrücken. Aus diesem Grunde auch sei Freges Konzeption eines »nackten« Gedankens eigentlich unverständlich, weil wir nicht in der Lage wären, überhaupt zu sagen, was es heißen würde, einen nackten Gedanken zu fassen. Und eine Konzeption, die nicht vollständlich erklärbar wäre, erweckt bei Dummett den Verdacht auf Inkonsistenz. 344 Dummetts Punkt ist letztlich derjenige: In jedem Fall ist eine Theorie dessen, wie ein Gedanke sprachlich gefasst werden kann, leichter zu entwickeln als eine Theorie des Fassens eines nackten Gedankens. Eine Theorie der ersten Art ist zudem nötig, um zu erklären, wie Gedanken ausgedrückt und kommuniziert werden können. Frege besitzt nun eine Konzeption dessen, wie ein Gedanke durch einen Satz sprachlich ausgedrückt werden kann. Entweder könne nun eine parallele Theorie bezüglich nackter Gedanken formuliert werden indem man einfach die Bezüge zur Sprache weglässt, oder es könne dies 343 344

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Vgl. GGA I: § 32. Dummett 1993: 11.

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nicht. Falls es gelingt, dann ließe sich die Philosophie der Gedanken aus der Philosophie der Sprache herleiten; AP1* wäre also in diesem Fall erfüllt. Falls es nicht gelingt, dann verfügen wir in keiner Weise über eine Konzeption des Gedankens, die von Bezügen zur Sprache unabhängig wäre; in diesem Falle aber wären sowohl AP1* als auch AP2* erfüllt, da dann jede philosophische Konzeption des Gedankens automatisch eine sprachphilosophische Konzeption wäre. Dummett übersieht in dieser Argumentation eine Reihe von Eigenheiten in Freges Ansatz, die aber m. E. zentral für ein angemessenes Verständnis der Art von Philosophie sind, der er zugeneigt war. Im Hinblick auf Dummetts Voraussetzung, dass bei Frege der Begriff des Sinns nicht unabhängig von dem der Bedeutung, und somit der letztere nicht unabhängig von dem der Sprache erklärt werden könne, ist zunächst zu bemerken, dass selbst, wenn dies der Fall ist, es kein überzeugender Einwand gegen die ontologische Priorität der Gedanken vor der Sprache darstellt. Denn warum sollte eine ontologische Prioritätsordnung notwendigerweise mit der relativen Priorität zusammenfallen, in der die Dinge erklärt werden müssen? Insbesondere ist stark zu bezweifeln, dass es sich bei Freges Erklärungen der Grundbegriffe seiner Philosophie des Denkens und Sprachphilosophie um genuine Realdefinitionen handeln. Vielmehr wird es sich wohl eher um Erläuterungen der entsprechenden Ausdrücke handeln, die als solche keinerlei ontologische Implikationen haben sollten. Selbst wenn also der Ausdruck »Sinn« von uns nur dann verstanden werden könnte, wenn wir bereits den Ausdruck »Bedeutung« verstehen, sodass »Bedeutung« selbst wiederum nur mit Rekurs auf sprachliche Ausdrücke verstanden werden kann, so würde dies noch nicht implizieren, dass Bedeutungen nicht primär Sinnen zukommen unabhängig von deren Beziehung zu sprachlichen Ausdrücken. Im Gegenteil stünde es vollkommen in Einklang mit Freges These, dass uns Menschen das Denken nur sprachlich möglich ist, wenn wir uns auf sprachliche Ausdrücke beziehen müssen, um zu verstehen, was Bedeutungen sind. Sobald wir dies verstanden haben, könnten wir dann auch die prinzipielle Unabhängigkeit der Gedanken von der Sprache verstehen, einfach indem wir – wie Dummett vorschlägt – die sprachlichen Bezüge, die uns das Verständnis des Begriffs der Bedeutung vermittelt haben, über Bord werfen. 345 Dieses 345

Diese Vorstellung erinnert an Wittgensteins Leitermetapher, durch die dieser den A

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Ergebnis stünde demnach im Widerspruch zu AP2*, da hier noch immer Raum gelassen würde für eine Philosophie der Gedanken, die nicht aus der Sprache hergeleitet werden muss – selbst, wenn eine solche Philosophie uns Menschen nicht zugänglich wäre. Hierdurch wäre Dummetts Argument freilich noch nicht entkräftet; sein Ergebnis war ja, dass zumindest AP1* für Frege unvermeidlich ist. Wie nun aber aus dem Bisherigen hervorgeht, verfügte Frege offenbar über keinerlei vollständige Theorie dessen, wie ein Gedanke gefasst werden kann; und er hielt diesen Prozess selbst weder für logisch, noch für psychologisch, noch für sprachlich vollständig erklärbar. Es scheint zudem, als würde diese Diagnose bei Frege jegliche Art des Gedankenfassens betreffen, d. h. nicht nur das Fassen nackter Gedanken, sondern auch das Fassen von Gedanken durch die Sprache. Seine Konzeption von Sinn und Bedeutung sprachlicher Ausdrücke kann also daher gar nicht als vollständige Theorie des Denkens oder der Kommunizierbarkeit von Gedanken intendiert gewesen sein, sondern kann allerhöchstens einen Teil einer solchen Theorie darstellen. Freges Zuhilfenahme objektiver und zugleich transzendentaler Geistesvermögen wie der Denkkraft, der Vernunft oder der logischen Erkenntnisquelle bei seiner Erklärung der Objektivität und Kommunizierbarkeit von Gedanken weist deutlich darauf hin, dass für ihn jegliche philosophische Erklärung des Gedankenfassens wohl kaum durch sprachphilosophische Überlegungen erschöpft werden könnte. Dies würde demnach auch AP1* ausschließen. Es ist dabei auch unklar, ob Frege eine solche vollständige Theorie überhaupt für menschenmöglich hielt. In Anbetracht dessen, dass er es für menschenunmöglich hielt, Gedanken unabhängig von der Sprache zu fassen, ist es naheliegend, dass er auch den Bereich möglicher rationaler Spekulation über das Wesen des Gedankens für limitiert hielt. Dieses Bewusstsein der Grenzen menschlicher Erkenntnis aber ist ein Kennzeichen transzendentalphilosophischer Ansätze in der Philosophie, durch das sie sich auch von früheren Formen einer rationalen Psychologie, Theologie und Kosmologie unterscheiden. Freges Erwägung der Möglichkeit des Fassens nackter Gedanken dient lediglich dazu, die Sprachunabhängigkeit des Gedankens – und damit auch der Welt der Tatsachen – zu erläutern. Frege ist dabei im Rahmen seines Ansatzes nicht verpflichtet zu erklären, wie denn gelogischen Status der Sätze des Tractatus, aufgefasst als Erläuterungen, zu charakterisieren sucht.

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nau ein solches Fassen von Gedanken ohne Sprache vor sich gehen soll. Die Idee einer solchen Möglichkeit spielt bei Frege gewissermaßen eine ähnliche Rolle wie Kants Erwägung der möglichen Existenz rationaler Wesen, deren Anschauung anders ist als die unsrige. 346 In beiden Fällen handelt es sich um die Einsicht, dass unser Erkenntnisoder Denkvermögen in der einen oder anderen Hinsicht in einer Weise limitiert ist, die eine Verabsolutierung desselben nicht zulässt. In Freges Fall dient sie dazu zu zeigen, dass Denken nicht wesentlich, sondern nur in seiner Ausübung durch einen Angehörigen der menschlichen Spezies, der Sprache bedarf. In dieser Hinsicht ist sein Ansatz – ähnlich wie auch Kants – charakteristischerweise noch wesentlich weniger anthropozentrisch als es in der analytischen Philosophie im heutigen Sinne allgemein üblich ist. Was wir Frege einzig vorwerfen können, ist, dass er im Gegensatz zu Kant innerhalb seiner Konzeption von Logik eigentlich keinen Raum für rationale Gedanken über prinzipiell nicht klar Erkennbares ließ, dass er also zwischen allgemeiner und transzendentaler Logik nicht mehr unterschied. Ganz davon abgesehen aber kann ich Dummetts Voraussetzung, der Begriff des Sinns bei Frege könne nur durch den der Bedeutung erläutert werden, und der letztere nur über den der Sprache, nicht recht folgen. Gerade in demjenigen exegetische Kontext, auf den Dummett sich hier vor allem zu beziehen scheint, nämlich §§ 29–30 der Grundgesetze, weist Frege ja darauf hin, dass seine Regeln der Bedeutungshaftigkeit von Ausdrücken »nicht als Erklärungen der Worte »eine Bedeutung haben« oder »etwas bedeuten« aufzufassen« seien; und zwar deshalb, weil »ihre Anwendung immer voraussetzt, dass man einige Namen schon als bedeutungsvoll erkannt hat« – sie könnten daher lediglich dazu dienen, »den Kreis solcher Namen allmählich zu erweitern«. 347 Die urprünglichen Namen als bedeutungsvoll zu erkennen, setzt jedoch für Frege voraus, dass man einschlägige Sätze als wahr (oder falsch) erkennt, in denen diese Namen vorkommen. Und die Erkenntnis der Wahrheit oder Falschheit von Sätzen setzt notwendigerweise das Fassen der von ihnen ausgedrückten Gedanken voraus. Nirgends finden sich in Freges Schriften Indizien dafür, dass der Ausdruck »Bedeutung« nur mit Rückgriff auf die Sprache erklärt werden könnte; im Gegenteil deutet ja Freges An346 347

Vgl. KrV: B 145 f. GGA I: § 30. A

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wendung dieses Ausdrucks auf Gedanken und Gedankenteile darauf hin, dass er prinzipiell dazu in der Lage war, ihn gänzlich ohne Erwähnung sprachlicher Ausdrücke zu erklären. Insofern der Begriff des Gedankens durch den der Wahrheit erklärbar ist – d. h. als dasjenige, dem Wahrheit oder Falschheit primär zukommt –, lassen sich auch Bedeutungen leicht als funktionale »Teile« des Wahrheitswertes erklären, die den Teilen des wahren oder falschen Gedankens entsprechen. Frege hat ja in der Tat Ansätze zu einer solchen Erklärung entwickelt. 348 Noch ein letzter Aspekt von Dummetts Argument ist einer weiteren Betrachtung wert. Während nämlich m. E. kein Problem zu bestehen scheint, den Fregeschen Begriff der Bedeutung ohne Rekurs auf sprachliche Ausdrücke, und d. h. von außerhalb der Sprachphilosophie zu erläutern, scheint dies schwieriger im Hinblick auf seinen Begriff des Sinns. Sowohl »Sinn« als auch »Bedeutung« sind ja relationale Ausdrücke, insofern sich stets fragen lässt, von was etwas der Sinn oder die Bedeutung ist. In dieser Hinsicht unterscheiden sie sich vom Begriff des Gedankens bei Frege. 349 Im Unterschied zu »Bedeutung« jedoch kann man »Sinn« bei Frege nicht durch den Begriff des Gedankens oder Gedankenteils erläutern, ohne sie dabei zugleich funktional mit sprachlichen Ausdrücken in Verbindung zu bringen. Denn Sinne sind identisch mit Gedanken oder Gedankenteilen nur insofern diese durch sprachliche Zeichen ausgedrückt werden. Und obwohl Frege »Sinn« auch mit Hilfe der Idee eines Art des Gegebenseins von Gegenständen erläutert, wird letzterer nicht einfach mit dem Sinn eines Ausdrucks identifiziert – wie es in Dummetts Interpretation den Anschein hat 350 – sondern vielmehr als etwas dargestellt, was im Sinn enhalten ist oder ihm entspricht. 351 Das würde aber bedeuten, dass gerade der Begriff des Sinns bei Frege – im Unterschied zu dem der Bedeutung – ein spezifisch sprachphilosophi348 Vgl. die bereits zitierte Stelle in SB: 150, wo Frege das Urteilen als »Unterscheiden von Teilen innerhalb des Wahrheitswertes« charakterisiert, welches »durch Rückgang zum Gedanken« vor sich gehe. 349 Der Begriff des Wahrheitswertes wiederum scheint jedoch ebenfalls eher relational zu sein, da man ja immer nach etwas fragen kann, das wahr oder falsch ist. 350 Vgl. Dummett 1993: 8 f. 351 Frege spricht vom Enthaltensein der Art des Gegebenseins im Sinn in SB: 144 ff.] und von der Entsprechung zwischen Sinn und Art des Gegebenseins in Ged: 350. Ob dieser Wandel in seiner Terminologie irgendeine inhaltliche Bedeutung hat, wird sich wohl kaum klären lassen.

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scher Begriff ist. Freilich würden wir diesen Begriff für eine reine Philosophie der Gedanken kaum benötigen, weil uns hier die Begriffe der Wahrheit, des Gedankens, des Gedankenteils, der Funktion, des Gegenstandes und der Bedeutung vollkommen hinreichen würden. 352 »Sinn« bei Frege ist somit gewissermaßen ein Bindeglied zwischen Sprachphilosophie und Philosophie des Denkens, der aber nicht unbedingt notwendig für die letztere sind. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Freges Begriff des Sinns auch deutlich von demjenigen Kants. Wie wir sahen, schrieb Kant sowohl Sinne als auch Bedeutungen nicht nur sprachlichen Ausdrükken, sondern auch Begriffen zu, wenngleich nicht genau klar wird, was er genau unter dem Sinn eines Begriffs verstand. Freilich erinnert Freges Rede von der Art des Gegebenseins eines Gegenstandes, die im Sinn eines Eigennamens enthalten sei oder ihm entspreche, an Kants Terminologie; doch für letzteren sind Arten des Gegebenseins von Gegenständen Bestandteile empirischer Anschauungen, nicht Gedankenteile. In jedem Fall erhielt der Begriff des Sinns bei Frege definitiv eine im Verleich zu seiner traditionellen Verwendung neue Bedeutung, wenngleich er noch immer im Rahmen einer Konzeption des Verhältnisses von Gedanke und Gegenstand des Denkens verwendet wird. 353

352 Wenngleich sie aufgrund des Begriffsparadoxons ungeeignet wären, um eine genuine Theorie im Sinne einer logisch transparenten Menge von Sätzen zu bilden. 353 Der Ursprung von Freges Konzeption von Sinn und Bedeutung wird in neuerer Zeit vor allem bei Sluga und Carl in der Kantischen Doktrin von Begriff und Gegenstand, bzw. im Verhältnis zwischen unserer Fähigkeit zu Denken und der Rolle der Anschauung beim Erkenntnisprozess verortet; vgl. Sluga 1980: 154, Carl 1994: 150 f. Es lässt sich allerdings bezweifeln, ob Frege Kant so genau gelesen hat, dass er seine Konzeption etwa unmittelbar im Anschluss an Kant entwickelte.

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Dorothea Lotter https://doi.org/10.5771/9783495997130 .

Namenregister

Angelelli, I.: 12 Anm. 3 Aristoteles: 41, 43 Anm. 32 f., 44, 82 Anm. 112, 185, 268 Baker, G.: 13 Anm. 3, 110 Anm. 170, 276, 285 Anm. 329 Bauch, B.: 135 ff., 143 Anm. 270, 147, 152–155 Bell, D.: 78 Anm. 102, 99 Anm. 146 Berkeley, G.: 148, 169 Bolzano, B.: 128, 233, 247 BonJour, L.: 156–159, 236 Boole, G.: 12, 19, 38 ff., 44, 49, 78 f., 82 Anm. 111 f., 96, 106 f., 133, 284 Bradley, F.: 64 f. Brandom, R.: 137 Burge, T.: 7, 14 Anm. 5, 179 Anm. 88, 202 Anm. 146, 220 Anm. 186, 226 ff. Burnyeat, M.: 152 f., 170 Candlish, S.: 246 Anm. 240 Carl, W.: 197 Anm. 124, 297 Anm. 363 Carnap, R.: 12, 108 Anm. 165, 110, 128, 146, 262, 284 f. Cassirer, E.: 119 f., 125 f., 128, 131–134 Cocciarella, N.: 113 Anm. 175 Coffa, A.: 52 Cohen, H.: 125 ff., 133, 138 f., 142, 222, 233, 237 Cohn, J.: 125, 132 Couturat, L.: 115, 120, 128, 133 Cross, A.: 7 Currie, G.: 14 Anm. 5, 69 Anm. 78, 99 Anm. 146, 188 Anm. 107, 209 Anm. 159 Darmstädter, L.: 81, 95 Anm. 140, 103, 273

Descartes, R.: 22, 31, 35 ff., 152 f., 168, 170, 187, 191–194, 257 f. Dingler, H.: 138 Anm. 263, 209 ff. Dodd, J.: 246 Anm. 241 Dummett, M.: 14 f., 20, 27 f., 30 ff., 62 Anm. 64, 79 Anm. 105, 91 Anm. 132, 109, 144 f., 199, 216 ff., 223 Anm. 210, 225 Anm. 216 f., 249, 257–262, 264, 267 ff., 275 Anm. 298, 284–289, 291–296 Engelhardt, W. von: 37 Anm. 12 Erdmann, B.: 34 Euklid: 34 ff., 69 f., 117, 140, 182–185, 187 Ewald, O.: 126 ff., 133 Fichte, J.: 21, 26, 124, 135, 151 f., 154, 156, 176, 261 Förster, E.: 7 Friedman, M.: 75 Anm. 99 Gabriel, G.: 14 f., 22, 116 f., 125 Anm. 206, 130 Anm. 235, 158 Anm. 31, 182 Anm. 94, 220 Anm. 186, 233 f., 254 f., 253, 273 ff. Goodman, N.: 262 Greimann, D.: 7, 244 Anm. 237, 246 Anm. 239 Hamilton, W.: 39 f., 133 van Heijenoort, J.: 284 Anm. 317 Helmholtz, H.: 211 Anm. 165 Holenstein, E.: 291 Anm. 338 Holz, H.: 37 Anm. 12 Hönigswald, R.: 136 f., 143 Horstmann, R.: 151 f. Husserl, E.: 85 Anm. 118, 128 A

Logik und Vernunft https://doi.org/10.5771/9783495997130 .

307

Namenregister Hacker, P.: 13 Anm. 3, 110 Anm. 171, 276, 285 Anm. 322 Hegel, G. W. F.: 21, 26, 124, 128, 139 ff., 151–154, 156, 176, 261 Heidegger, M.: 142 f. Van Heijenoort, J.: 284 Anm. 217 Hilbert, D.: 19, 118 Hornsby, J.: 246 Anm. 240 Hume, D.: 22, 158, 160, 167

Mayer, V.: 7, 103 Anm. 158, 188 Anm. 107 Mill, J. S.: 22, 167 Monk, R.: 285 Anm. 322 Natorp, P.: 115 Anm. 179, 120 f., 126 f., 129, 131–134,153, 213, 237 Newton, I.: 35, 140 Ollig, H.: 125 Anm. 207

Ishiguro, H.: 130 Anm. 232 Jolley, N.: 192 Anm. 115 Jourdain, P.: 81, 96 f., 209 f. Kant, I.: 7, 14–17, 20–30, 35, 38 f., 41, 71–78, 88 f., 99 -103, 116, 120, 123– 127, 131, 133 ff., 138, 151–154, 158, 168–187, 190–197, 199–202, 215, 223–234, 249–256, 290 f., 295, 297 Kemmerling, A.: 7, 13 Anm. 3 f., 103 Anm. 158 Kenny, A.: 92 Anm. 132, 269 Anm. 278 Kitcher, P.: 14 Anm. 5, 27 f., 186, 220 f., 223 Kleemeier, U.: 150 Anm. 10, 202 Anm. 141, 204 Anm. 143, 285 Anm. 322 Leibniz, G.: 18 f., 21, 35–39, 41, 44 f., 81, 115 f., 121, 127 ff., 133, 138, 154 ff., 171, 179 f., 192, 226 ff., 230– 234, 236 f., 251, 275 f., 290 Anm. 337 Liebmann, O.: 22, 123 ff., 152–155, 158, 170, 176, 233 Locke, J.: 37 Anm. 12, 41, 148, 186 Anm. 104, 275, 290 Anm. 337 Lotter, D.: 52 Anm. 47, 104 Anm. 160, 175 Anm. 72, 200 Anm. 133, 271 Anm. 285, 273 Anm. 289 Lotze, H.: 15, 21, 112, 116 f., 130 f., 135, 154 f., 158, 254 Anm. 250 MacFarlane, J.: 7, 73 Anm. 90, 76 Anm. 100. Marty, A.: 79, 162 Maxwell, J.: 131 Anm. 237

308

Parker, S.: 192 Anm. 115 Peano, G.: 12 Peckhaus, V.: 125 Anm. 206 Picardi, E.:188 Anm. 107, 286 Anm. 323 de Pierris, G.: 219 Anm. 184, 225 Anm. 203 Plato: 129, 131, 140 Popper, K.: 212 Prauss, G.: 197 Anm. 123, 212 Pulkkinen, J.: 132 f. Quine, W. v. O.: 117 Anm. 185 Resnik, M.: 282 Rickert, H.: 125, 127 Ricketts, T.: 14 Anm. 5 Russell, B.: 16, 18 ff., 25 ff., 29, 31 f., 65, 81, 86, 105–156,179 Anm. 29, 185, 216, 234–237, 246, 255, 258 f., 262 f., 268–73, 284 ff. Schelling, F.: 21, 124, 151 f., 154, 176 Schirn, M.: 7, 110 Anm. 170, 211 Anm. 168 Schmied-Kowarzik, W. 143 Anm. 269 Schorcht, C.: 143 Anm. 269 Schröder, E.: 39, 96 Searle, J.: 242 Anm. 214 Sluga, H.: 7, 14 f., 39 Anm. 17, 78 f., 99 Anm. 146, 130 Anm. 235, 135 f., 143 Anm. 269, 146 Anm. 1, 197 Anm. 123, 201 Anm. 137, 226 Anm. 207, 246 Anm. 241, 274 Anm. 392, 284 f., 297 Anm. 353 Stegmüller, W.: 212 Stoothoff, R.: 209 Anm. 159

ALBER PHILOSOPHIE

Dorothea Lotter https://doi.org/10.5771/9783495997130 .

Namenregister Stuhlmann-Laeisz, R.: 188 Anm. 107 Stumpf, C.: 49 Anm. 43, 59, 79, 162 Tappenden, J.: 69 Anm. 78 Thiel, C.: 134 Anm. 252 Tugendhat, E.: 268 Anm. 276 Vossenkuhl, W.: 7, 267 Anm. 274, 283 Anm. 314 Wagner, S.: 211 Anm. 163 Weiner, J.: 14 Anm. 5, 69 Anm. 78, 202 Anm. 141

Whitehead, A.: 12, 110 Windelband, W.: 41, 125, 133, 158 Anm. 31, 233 Wittgenstein, L.: 13, 32, 38 Anm. 15, 52 Anm. 47, 146 ff., 150 f., 156, 177, 246 f., 258 f. 262–268, 273 Anm. 289, 277 ff., 283 f., 293 Anm. 345 Wolf, U.: 268 Anm. 276 Wolff, M.: 72 f. Zeidler, K.: 135 Anm. 255

A

Logik und Vernunft https://doi.org/10.5771/9783495997130 .

309

Sachregister

Analyse: 9, 18 f., 28, 40, 47, 50 f., 60, 83, 90 ff., 95, 99–104, 110, 126, 220 f., 261, 268 f., 271 f., 274 f., 284, 286 ff. Analytizität: 29, 186, 225–28, 231 Analytik: 71, 73–76, 173, 251 f., 257, 259 –, analytisch: 11, 15, 17, 20, 26, 29, 31, 36, 38, 52, 61 f., 72, 92, 99–102, 106 f., 110 f., 117, 120, 127, 129, 145 ff., 161, 179 ff., 211 f., 224 ff., 228–31, 234, 236, 251, 265, 267 ff., 273, 279, 283 ff., 287, 295 Anschauung: 24 f., 39, 59, 70–75, 85– 88, 99 ff., 105, 128 f., 162, 170 ff., 175–88, 195, 197 f., 202 f., 226, 254, 267, 270 f., 295, 297 a posteriori: 9, 22, 29, 106, 116, 127, 161 ff., 179, 224–28, 230 f., 248 a priori: 9, 19, 22, 25 f., 29, 39 f., 60, 64, 73, 88, 100, 106, 113, 116, 121, 124, 127 ff., 152, 156 ff., 161, 166, 171 ff., 179–182, 186, 192 f., 203, 224–232, 236, 242, 248, 266 f. Axiom: 12, 19 f., 22, 25, 28, 35 f., 39, 45, 68, 70 f., 89, 97 ff., 101, 106, 109–12, 115–23, 164–67, 181–85, 202, 211– 14, 220 f., 226, 237, 243, 256, 262, 284, 286 f. Bedeutung: 8, 10, 13, 31 f., 41–44, 51– 55, 59, 63 f., 69, 84–93, 98, 111, 114, 131, 142, 147, 163, 174 f., 182, 184, 187, 197, 203, 206, 222, 229, 238–43, 245, 263, 268–76, 283, 285–97 Begriff: 8 f., 11, 16 ff., 24, 27, 30, 34– 37, 39–50, 52–55, 57–74, 76–106, 117, 125, 128, 133 ff., 139 f., 142, 145, 155, 171 f., 174 f., 185, 196 f.,

310

203 f., 213, 228 f., 232 f., 251, 255 f., 263 f., 270 f., 273, 275, 276 f., 280– 83, 286, 290 f., 297 Begründung: 9, 18, 27 f., 74, 78, 80, 87, 89, 107, 110, 113, 119 f., 123, 127, 134 f., 143, 146, 152, 158 ff., 162, 167, 173, 180–85, 187, 196, 204 f., 207, 210–13, 216–35, 237, 243, 248 ff., 258, 264, 288 Berechtigung: 9, 25–28, 86, 115, 133, 140 f., 147, 166, 174, 186, 208, 213 f., 216–55, 261, 287 Beweis: 22, 26, 29, 34–39, 45 f., 61, 68, 79, 106, 110 f., 116 f., 119 f., 129, 131, 138, 153, 158, 160–66, 168, 171, 173, 179 f., 186, 188, 191–94, 199, 205, 209, 211–16, 225 ff., 230, 249, 251, 280, 284 –, beweisbar: 9, 19, 22, 30, 35, 60, 114, 116–19, 163–66, 224–28, 257 –, beweisbedürftig: 9, 20, 22, 117, 164– 67, 248 denkbar: 8, 16 f., 59, 61 f., 69–79, 96 f., 118, 163, 190, 196, 208, 237, 250 f., 265, 270, 278 Einleuchten: 9, 19, 35, 39, 117 ff., 123, 164 ff., 173, 192, 224, 234, 237, 240, 248, 266, 287 empirisch: 18, 22 ff., 26 ff., 30, 40, 96, 101, 124, 147 f., 155, 162 ff., 167 ff., 171, 173, 176 ff., 182 ff.., 186, 188, 199, 201, 203, 205 f., 211 f., 221 ff., 231 ff., 251 ff., 264, 297 –, Empirismus: 159, 161, 167, 181, 195 f., 222 Erkenntnis: 11, 14, 21–24, 27–30, 35, 37–40, 43, 45, 54, 59, 62 f., 72–77,

ALBER PHILOSOPHIE

Dorothea Lotter https://doi.org/10.5771/9783495997130 .

Sachregister 82 f., 88, 90 f., 96, 99 f., 102, 109, 117, 120, 122, 125 f., 139 f., 142, 148, 152, 156, 158 ff., 164, 167 ff., 170 ff., 174 ff., 178 f., 182 f., 186, 192 ff., 203–207, 210 ff., 215–18, 220, 222, 227, 229–36, 249, 251–55, 260, 268, 270 f., 283, 287 f., 290, 294 f., 297 –, Erkenntnisquelle: 9, 23, 25, 41, 128, 136, 161–69, 171, 173, 185 ff., 200, 202 f., 213, 217 f., 248–51, 261, 277, 287, 294 –, Erkenntnistheorie: 9, 11, 14 f., 17– 21, 26 ff., 30 ff., 34 ff., 46, 61, 83, 92, 106, 109 ff., 115 f., 122 f., 125–128, 145, 148 f., 150 f., 153, 156, 159–62, 164, 166 ff., 170, 177, 181–85, 192, 194, 200, 208, 211–22, 224 f., 227 f., 231, 233–36, 243, 248, 251 f., 254, 256–61, 264 f., 268 f., 272 f., 275 ff., 287 f. Formalismus: 8 f., 26, 29, 34, 54, 84, 86 f., 93, 118, 120, 127, 204, 214, 237, 239, 243, 260, 283 Gegenstand: 12, 16 f., 23 ff., 37, 40 f., 43, 50, 52–55, 57–69, 72–77, 79–99, 103 ff., 112 ff., 124–127, 130–35, 148 f., 153, 164, 166–69, 172–79, 183 ff., 187–91, 194–97, 199–202, 206 f., 222, 225 f., 233, 249, 251, 260 f., 270–75, 278, 280 f., 283, 286, 289 ff., 296 f. Geschichte: 14, 139–143, 145 ff., 151, 153, 155, 182, 185, 208, 229, 232, 249, 268 Idealismus: 9, 21–25, 124, 128, 135, 137, 147–55, 167–71, 173 f., 176–79, 187, 190 f., 193 f., 198, 230 Logizismus: 12, 14, 19 f., 22, 25, 69, 71, 106 ff., 110 f., 113, 116, 122, 127 ff., 131–34, 160, 167, 185, 211 f., 272 Mathematik: 8, 11–14, 16–20, 22, 24, 26, 28 f., 33–41, 44 f., 49–53, 58, 60,

65, 75, 81 f., 87, 105–15, 119–122, 126–39, 141, 146 f., 161, 163 ff., 171, 173 f., 179, 183, 186, 203, 206, 212 f., 220, 230, 234–37, 242, 247 f., 250, 258, 260 f., 267, 272 f., 275, 277, 283 f., 287 Möglichkeit: 16 ff., 20, 23 f., 27–30, 32 f., 35, 38, 40 ff., 45 f., 49, 57–60, 62, 68 ff., 72–76, 83 f., 88 ff., 92 f., 100–105, 107 f., 114 f., 120 ff., 125 f., 129 ff., 134 f., 138, 142 f., 145 f., 148 ff., 152, 154 f., 157 f., 160, 162 f., 167–73, 176–80, 182–85, 189, 192 ff., 196–205, 207 f., 213, 217–20, 225–28, 230 f., 232, 236 ff., 243, 245, 248–57, 259, 261 f., 266, 268, 270 ff., 274, 276, 278 f., 283 f., 286, 289 f., 293 ff. Naturalismus: 28 f., 125, 159, 182, 221, 223 f., 231–34, 254 Neukantianismus: 9, 15 f., 18–21, 26, 41, 105–7, 113, 120–3, 125–9, 131– 139, 142 f., 145, 147 f., 151, 153 ff., 192, 232–5, 254, 261, 274 Notwendigkeit: 16 f., 19, 25, 29 f., 36 f., 42, 50, 54, 60 f., 71, 73–6, 86, 88–91, 105, 118, 120, 126, 131, 142 f., 146, 165, 167, 169, 171 f., 175 f., 180, 183, 192, 196, 206, 227, 241, 249 f., 252 f., 255 ff., 269, 275 f., 280, 287 f., 293, 295, 297 Objektivität: 18, 23–26, 32, 55, 72, 88, 104 f., 123, 126, 146 f., 150, 155, 172– 75, 177, 192, 197, 200–3, 206–8, 214, 221, 224, 229, 233, 246, 248 f., 254, 260 f., 272, 286, 294 psychologisch: 24, 26, 28 ff., 42 f., 47, 70, 85, 104 f., 122, 125, 127, 131, 141, 149, 158, 160, 167 ff., 174 f., 182, 204, 206 ff., 211 f., 220–4, 227, 231, 243, 247 f., 255 f., 260 f., 263 f., 294 –, Psychologismus: 21, 26 ff., 33 f., 86 ff., 128, 140, 150, 167, 206, 220, 231–37, 268, 270, 286

A

Logik und Vernunft https://doi.org/10.5771/9783495997130 .

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Sachregister Rationalismus: 9, 14 f., 18–22, 29, 35 f., 122, 127, 147, 154–7, 172 ff., 192 ff., 210, 227 ff., 236, 276 f. Rechtfertigung: 11, 23, 26–30, 33, 36, 39, 108 f., 111, 118, 120 f., 139, 149, 151, 156–63, 172 f., 181, 186, 193, 197, 204, 208–13, 215–25, 236 f., 243, 248 f., 251–4, 256 f., 260, 264, 287 f. Sinn: 8, 13, 43, 47, 50, 52, 55–8, 61, 63 f., 66, 69, 73, 84–9, 92, 95, 98, 103, 127, 175, 227–30, 244, 255, 265 ff., 270, 277, 282 f., 286, 288–97 Skeptizismus: 9, 21 ff., 152 f., 156–60, 167, 169 f., 187, 189 f., 192 ff., 198, 200, 203, 260 Solipsismus: 148 Subjektivität: 23–26, 41, 55, 87, 104 f., 141 f., 148 ff., 167, 173–7, 179, 188, 195 ff., 200 ff., 206 f., 214, 224, 227, 229 f., 234, 245, 247, 249, 260, 266 Synthese: 9, 17, 20, 99–103, 120, 126, 131 –, synthetisch: 13, 25, 29, 39, 54, 101 ff., 106, 126 f., 153, 155,

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161, 171 ff., 179–81, 224 ff., 228, 230 f. transzendental: 9, 14 f., 17 f., 20, 23–6, 29 f., 73 f., 76 ff., 83, 88, 100 ff., 107, 113, 120 f., 124 ff., 129, 131, 133 f., 145 f., 148, 150, 152 ff., 156, 170 f., 173, 175–8, 183, 187, 193, 199 f., 203, 207, 215, 234 f., 248, 250 ff., 254, 265 f., 294 f. Urgesetz: 9, 19, 23, 26 ff., 70, 110, 114– 117, 122 f., 158 f., 161, 167, 173, 225, 251, 287 Urwahrheit: 18 f., 22, 27, 35, 114, 116, 161, 163, 225–8, 230, 248, 257 Vernunft: 9, 16, 18, 25 ff., 29 f., 32, 36– 39, 74 f., 100, 105, 114, 116 f., 123, 129 f., 136, 142 f., 145, 147, 153, 156, 168, 171, 174, 179 f., 190, 193, 200– 7, 221, 224, 230, 232, 234, 238–43, 247 f., 251, 253, 256, 261, 280, 286, 294 Zweifel: 9, 22 f., 29, 35, 59, 116, 118, 120, 123, 130, 160, 162, 164–7, 183, 191, 198, 214, 218, 224, 248, 257, 285

ALBER PHILOSOPHIE

Dorothea Lotter https://doi.org/10.5771/9783495997130 .