121 56 37MB
German Pages [464] Year 1990
W I L H E L M D I L T H E Y • GESAMMELTE S C H R I F T E N XX. BAND
WILHELM DILTHEY GESAMMELTE SCHRIFTEN Von Band XVIII an besorgt von Karlfried Gründer und Frithjof Rodi
XX. BAND
VöR V A N D E N H O E C K & R U P R E C H T IN G Ö T T I N G E N
LOGIK UND SYSTEM DER PHILOSOPHISCHEN WISSENSCHAFTEN
V O R L E S U N G E N ZUR ERKENNTNISTHEORETISCHEN LOGIK UND METHODOLOGIE (1864-1903)
Herausgegeben von Hans-Ulrich Lessing und Frithjof Rodi
V&R V A N D E N H O E C K & R U P R E C H T IN G Ö T T I N G E N
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Dilthey, Wilhelm: Gesammelte Schriften / Wilhelm Dilthey. - Göttingen : Vandenhoeck u. Ruprecht. Von Bd. 18 an besorgt von Karlfrisd Gründer u. Frithjof Rodi. - Teilw. im Verl. Teubner, Stuttgart u. Vandenhoeck u. Ruprecht, Göttingen NE: Gründer, Karlfried [Hrsg.]; Dilthey, Wilhelm: [Sammlung] Bd. 20. Logik und System der philosophischen Wissenschaften: Vorlesungen zur Erkenntnistheoretischen Logik und Methodologie (1864-1903) / hrsg. von Hans-Ulrich Lessing u. Frithjof Rodi. - 1990 ISBN 3-525-30325-4
© 1990, Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen. - Printed in Germany. - Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gesetzt aus der Garamond 10/12 p von Linotype Satz: Fotosatz Otto Gutfreund, Darmstadt Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen
INHALT
Vorbericht der Herausgeber
XVII
A. F R Ü H E V O R L E S U N G E N Z U R L O G I K U N D Z U M S Y S T E M
DER PHILOSOPHISCHEN WISSENSCHAFTEN (Berlin und Basel
1864-1868)
1
* Absolute und formale Logik. Der Anfang des ersten Logik-Kollegs
1
Einleitung § 1. Die Logik Hegels § 2. Die gegenwärtige Lage der Logik und ihre Literatur 1. 2.
1 4 15
Die formale Logik Die absolute Logik oder die Logik der Identitätsphilosophie . .
15 18
Grundriß der Logik und des Systems der philosophischen Wissenschaften
19
Einleitung
19
Logik oder Theorie der wissenschaftlichen Erkenntnis, ihrer Formen und ihrer Methoden
20
I.
Empfindung, Wahrnehmung, Vorstellung und Sprache: das anschauliche Weltbild, welches den Gegenstand des Erkenntnisprozesses ausmacht § 1. Der Vorgang, in welchem die Empfindung entsteht § 2. Entdeckung, daß ferner scheinbar unmittelbar überlieferte und einfache Empfindungen schon Resultat eines psychologischen Prozesses sind § 3. Aus den qualitativen Empfindungen wird ein geometrisches Bild
* Mit * versehene Überschriften sind von den Herausgebern eingefügt.
20 20
20 20
Inhalt
VI §
4. Dieses räumliche Weltbild wird durch einen psychologischen Vorgang vom Ich unterschieden, außerhalb desselben gesetzt, und so wird aus Empfindung äußere Wahrnehmung
20
§
5. Wie nun, vermöge des Selbstbewußtseins, innere Wahrnehmung
§
6. Außere und innere Wahrnehmung als Fundament der menschli-
§
7. Vermöge einer durch die Bewegung in dem Raumbilde unter-
möglich wird
21
chen Erkenntnis
21
stützten Zergliederung desselben entsteht nun die Anschauung oder Einzelvorstellung
21
§
8. D i e Sprache als letztes Glied der von der Empfindung bis zum
§
9. Redeteile und Satz sind ein logisches Gebilde
diskursiven Denken führenden Prozesse
II.
21 21
U r t e i l , Begriff u n d S c h l u ß : die F o r m e n alles diskursiven D e n kens
22
§ 1 0 . Das Urteil als die Grundform des diskursiven Denkens
22
§ 11. Die Grundformen des Urteils in ihrer Bedeutung für das Problem der Erkenntnis
22
§ 12. Die Analyse der Urteilsformen ergibt die Denkgesetze
22
§ 13. Die philosophischen Standpunkte in ihrem Verhältnis zu dieser Analyse
III.
22
§ 14. Das begriffsbildende Urteil und der Begriff als Produkt desselben
23
§ 15. D e r Inhalt des Begriffs und die Definition
23
§ 1 6 . D e r Umfang des Begriffs und die Division
23
§ 1 7 . D e r Schluß
23
§ 1 8 . D e r Syllogismus
23
§ 19. D a s E n t h y m e n
24
D i e wissenschaftlichen M e t h o d e n : A u f r i c h t u n g einer w a h r h a f ten Welt v o n G e s e t z e n , auf deren G r u n d e unser D e n k e n u n d Handeln zu beruhen vermag
A.
24
§ 20. Das Problem der Erkenntnis in seiner letzten Fassung
24
§ 2 1 . Die Abstraktion
25
§ 2 2 . Die induktive Methode
25
§ 2 3 . Die deduktiven Methoden
25
§ 24. Die Intuition
25
§ 25. Zusammenfassung
25
D i e W i s s e n s c h a f t e n der A u ß e n w e l t . D i e N a t u r p h i l o s o p h i e
. . .
25
§ 2 6 . Grundbegriffe: äußere Wahrnehmung und Erfahrung
25
§ 2 7 . Mechanik
25
Inhalt
VII
§28. Dynamik §29. Organik § 30. Die Einheit der Natur
25 25 25
B.
Die Wissenschaften des Geistes
26
I.
Allgemeine grundlegende Wissenschaft des Geistes: Psychologie und Anthropologie §31. Die innere Erfahrung § 32. Seele und Leib § 33. Neuere Fragen über Ausdehnung und Form der Beseelung im Universum § 34. Empfindung (Physiologie und Psychologie der Sinne) § 35. Das intellektuelle Leben von Gefühlen durchflochten § 36. Triebe und Wille inmitten dieser Prozesse voranstrebend § 37. Die Gestalt unseres Seelenlebens als einer unerklärten Synthese dieser seelischen Funktionen §38. Die Verteilung des Menschengeschlechtes auf der Erde
II.
26 26 26 26 27 27 27 27 27
Die realen Wissenschaften des Geistes, vermöge deren nunmehr der Inhalt des Geistes erkannt wird
28
§ 39. Begründung dieses wahren Zusammenhangs unsrer Untersuchungen über den Menschen
28
1. Ethik §40. Analytische Grundlegung dieser Wissenschaft §41. Die Gesinnung § 42. Das Unveränderliche und das Wechselnde in der moralischen Welt
28 28 28 28
2. Rechts- und Staatsphilosophie § 43. Analyse der historisch gegebenen Standpunkte § 44. Die Gesellschaft §45. Das Recht §46. Der Staat
28 28 29 29 29
3. Religionsphilosophie §47. Aufgabe § 48. Die historische Analyse § 49. Grundlinien des Verständnisses der Religion
29 29 29 29
4. Ästhetik § 50. Kants Analyse § 51. Analyse der einzelnen Formen der Kunst, von ihrem physiologisch-psychologischen Grunde aus
30 30 30
VIII III.
Inhalt D i e Philosophie der Geschichte oder die Erklärung des Verlaufs geschichtlicher Erscheinungen aus seinen Gründen unter A n -
IV.
w e n d u n g deduktiver Methoden § 5 2 . Die Geschichte als Dialektik notwendig verknüpfter Ideen. . . . § 53. Der hier dargestellte Zusammenhang aller Untersuchungen des Geistes ermöglicht eine fruchtbare Methode für die Philosophie der Geschichte § 5 4 . Der Fortschritt der Menschheit
31 31
D e r praktische Beruf der Wissenschaften des Geistes
31
§ 55. Entwicklung des Menschen als höchste praktische Aufgabe, wie Erkenntnis des Menschen die höchste theoretische ist § 56. Die Bedingungen der menschlichen Entwicklung in Gesellschaft, Recht und Staat § 57. Die Bildung des einzelnen heranwachsenden Menschen § 58. Die Einwirkung auf den Menschen, dessen Erziehung geschlossen ist C.
30 30
31 31 32 32
Metaphysik und philosophische Theologie
32
§ 59. § 60. §61. §62.
32 32 32 32
Der Zusammenhang der Untersuchungen Die Möglichkeit einer abschließenden Weltansicht Komparative Analyse der Weltansichten Der Zweck; das Gute
L o g i k u n d S y s t e m der p h i l o s o p h i s c h e n Wissenschaften („Basler L o g i k " )
33
Einleitung
33
Geschichte des menschlichen Geistes und seiner Selbsterkenntnis in der Logik I.
A.
36
Abschnitt: Empfindung, Wahrnehmung, Vorstellung, Sprache als das anschauliche Weltbild, welches den Gegenstand des Erkenntnisprozesses ausmacht
51
Entstehung und Wert der äußern Wahrnehmung
51
§ 1. Einfache Sinnesempfindung § 2. Die Auswahl und Deutung der einfachen Empfindungen durch die denkende Seele § 3. Wahrnehmung der Außenwelt § 4. Das Selbstbewußtsein § 5. Die innere Wahrnehmung § 6. Innenwelt und Außenwelt
51 52 52 54 55 58
Inhalt
II.
III.
IX
§ 7. Anschauung, Einzelvorstellung, Allgemeinvorstellung § 8. Vorstellung und Sprache § 9. Sprache und Satz
59 60 61
Abschnitt: Urteil, Begriff und Schluß als die Formen alles diskursiven Denkens § 10. Das Urteil §11. Die Formen des Urteils § 12. Die Urteile der Relation und die Denkgesetze §13. Die Einheit des Bewußtseins §14. Der Begriff § 15. Die Definition §16. Die Einteilung § 17. Der Schluß im Allgemeinen. Die Folgerung §18. Der Syllogismus § 19. Wert der Technik des Syllogismus für Debatte und Rede
63 63 65 68 72 74 79 81 83 84 92
Abschnitt: Die wissenschaftlichen Methoden 95 § 20. Das Problem der Erkenntnis als Problem der wissenschaftlichen Methode 95 §21. Die Intuition 98 § 22. Induktion, Abstraktion und Deduktion in ihrem Zusammenwirken in den Naturwissenschaften 111 §23. Ergänzung dieser Methoden innerhalb der Naturwissenschaft . . 118 § 24. Die Durchführung und Umgestaltung der naturwissenschaftlichen Methoden für das Studium der geistigen Erscheinungen . . 121
B. DIE V O R L E S U N G ZUR E I N L E I T U N G IN DIE GEISTESWISSENS C H A F T E N (Berlin 1883) 127 Einleitung in das S t u d i u m der Geisteswissenschaften, Rechts- und Staatswissenschaften, T h e o l o g i e und Geschichte
127
Einleitung § 1. Absicht der Einleitung in das Studium der Geisteswissenschaften
127 128
I.
Abschnitt: Der Zusammenhang der Geisteswissenschaften und die Notwendigkeit einer philosophischen Grundlegung derselben 129 § 1. Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften 129 § 2. Die Zergliederung der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit in den Einzelwissenschaften des Geistes 130
X
Inhalt
II.
Abschnitt: Geschichte der Begründung der Geisteswissenschaften § 3. Das metaphysische Stadium der Wissenschaften § 4. Die Entwicklung der Geisteswissenschaften im metaphysischen Stadium der alten Völker § 5. Die Entwicklung der Geisteswissenschaften im Mittelalter oder im metaphysisch-theologischen Stadium der neuern Völker . . . § 6. Das Stadium der Einzelwissenschaften der Gesellschaft bei den neueren Völkern seit Wiederherstellung der Wissenschaften in Europa § 7. Das Studium der Gesellschaft vermittelst der Einzelwissenschaften derselben und die Hauptstadien seiner Entwicklung
III.
133 133 135 138
141 144
Abschnitt: Enzyklopädie der Geisteswissenschaften
152
I. Teil: Die erkenntnistheoretische Grundlegung
152
§ 1. Der Satz der Phänomenalität 152 § 2. 2. Satz: Unsre innren Zustände sind uns als Realität in objektiver Wahrheit gegeben 153 § 3. 3. Satz: Die innren Zustände laufen in einer realen Zeitfolge ab und sind in der Selbigkeit des Selbstbewußtseins so zu der Einheit des Lebens verbunden 153 § 4. 4. Satz: So sicher, als wir uns selbst gegeben sind, ist uns eine von uns unabhängige Außenwelt gegeben, innerhalb deren wir durch einen Schlußvorgang der Analogie andre Personen konstruieren 154 § 5. 5. Satz: Die Natur ist gemäß der Relativität der äußeren Wahrnehmung für uns ein System von Zeichen, welches eine uns unbekannte, objektive Ordnung auf eine für das praktische Leben zureichende Weise abbildet. D e m System dieses Naturzusammenhangs sind die menschlichen Personen nach Verhältnissen von Raum, Zeit und Kausalität eingefügt 155 § 6. 6. Satz: Die logischen Formen, in denen wir die Wahrnehmungen über unsre Zustände auffassen, lassen sich zerlegen, und zwar finden wir Bestandteile, deren Evidenz in unmittelbarem Gewahrwerden festgestellt werden kann, andre, welche inhaltliche Erfahrungen zur Grundlage haben. Beide Arten von Bestandteilen ermöglichen eine objektive Auffassung des innren §
Lebens 155 7. Ergebnis dieser grundlegenden Sätze: Ein objektives Wissen von den Vorgängen, welche das geistige Leben der Menschheit ausmachen, ist möglich 157
Inhalt
II. Teil: Von der Möglichkeit einer Erkenntnis dieses geistigen Lebens, d. h. einer Auffassung des Zusammenhangs der Gesetze § 8. Die erste Bedingung für die Erkenntnis des geistigen Lebens liegt in der Einordnung desselben in das Kausalsystem, welches die Naturwissenschaft aufgestellt hat § 9. Grenzen der Unterordnung des Geistigen unter den Naturzusammenhang. Anerkennung der selbständigen Grundeigenschaften und Entwicklung des geistigen Lebens auf der Erde § 10. Weitre Bedingungen, unter denen die Möglichkeit einer Erkenntnis des geistigen Lebens steht § 1 1 . Das hieraus abzuleitende Problem der wahren Methode und der Gliederung der Geisteswissenschaften § 1 2 . Erste Gruppe der Geisteswissenschaften § 13. Zweite Gruppe der Geisteswissenschaften. Die Erkenntnis der einzelnen Systeme der Kultur § 14. Dritte Gruppe der Geisteswissenschaften. Die Wissenschaften der äußeren Organisation der Gesellschaft § 1 5 . Vierte Gruppe der Geisteswissenschaften. Die Geschichtswissenschaft
XI
157
157
158 159 160 161 162 163 164
C. DIE BERLINER LOGIK-VORLESUNGEN DER ACHTZIGER J A H R E (1883-1888) 165 Logik und Erkenntnistheorie („Berliner Logik v o n 1885/86")
165
Einleitung § 1. § 2. § 3. § 4.
165 165 166 166 167
Die drei Aufgaben der Logik Erkenntnistheorie Methodenlehre Hauptrichtungen und Literatur
Erster Teil der Logik: Die innere und äußere Wahrnehmung und ihr Korrelat: die Wirklichkeit 169 Kapitel § § §
I. Die Tatsachen des Bewußtseins 5. Der Satz der Phänomenalität 6. Der falsche Phänomenalismus und sein Grundirrtum 7. Wille, Gefühl und Vorstellung wirken zusammen und bringen so die Unterscheidung der Gegenstände von dem Selbst, der Welt von einem Ich hervor
169 169 170
172
XII
Inhalt
Kapitel II. Die äußere Wahrnehmung § 8. Die Realität der Außenwelt § 9. Das Problem vom Erkenntniswert der äußeren Wahrnehmung . . § 10. Die Leistung der Empfindung im Zusammenhange der Erkenntnis §11. Die Mannigfaltigkeit der Empfindungen §12. Der Erkenntniswert der Empfindungen § 1 3 . Der Erkenntniswert der Raumvorstellung § 14. Allgemeine Lehre von der Relativität der äußeren Wahrnehmung
Kaptiel III. Die innere Wahrnehmung § 15. Der Unterschied der inneren und äußeren Wahrnehmung und die allgemeinsten Eigenschaften psychischer Tatsachen § 16. Die Bestreitung der objektiven Wahrheit des in der inneren Wahrnehmung Gegebenen von Kant und Comte § 1 7 . Die Wahrnehmung der Zustände anderer §18. Die Zeit
173 173 175 176 176 177 180 183
185 185 186 187 188
Zweiter Teil der Logik: Die formale Logik. Das Denken, seine Gesetze und seine Formen 189 §19. Das Denken. Die allgemeinsten Eigenschaften des Denkens . . . 190 § 2 0 . Gesetze und Formen des Denkens 190 § 21. Die Analysis der Formen des Denkens unterscheidet Begriff, Urteil und Schluß und den Zusammenhang derselben 191
Kapitel I. Die Denkgesetze §22. §23. §24. §25. §26. §27. § 28.
Das System der Denkgesetze Das oberste Gesetz der materialen Wahrheit Der Satz der Identität Der Satz des Widerspruchs Der Satz des ausgeschlossenen Dritten Der Satz des Grundes Der Zusammenhang der Denkgesetze rückwärts mit der Wahrnehmungs-und vorwärts mit der D e n k - u n d Methodenlehre. . .
Kapitel II. Der logische Operationenkreis und die Kategorien § 29. Die Verbindungen der einfachen Inhalte in Wahrnehmung und diskursivem Denken und der logische Operationenkreis §30. Das Ding und seine Eigenschaften: Substanz und Akzidens . . . § 3 1 . Ursache und Wirkung und der Begriff der Kausalität | | § 32. Essentialität oder das Wesen 11
191 191 192 193 195 196 198 200
201 201 202 204 206
Inhalt
XIII
§ 3 2 . Die Kategorien 206 § 33. Oberste logische Regel der Benutzung der Kategorien. Erkenntniswert der Kategorien 208
Kapitel III. Die Formen des Denkens 1. Das Urteil § 34. § 35. §36. §37. § 38.
Der Begriff des Urteils Die Einteilung der Urteile von Aristoteles und Kant Kritik der Einteilung der Urteile bei Kant Prinzip einer Einteilung der Urteile Verschiedenheit des Urteils nach seiner Stellung im Denkzusammenhang (d.h. zum erworbenen Zusammenhang des Seelenlebens, Zusammenhang mit etwaigen gegenwärtigen Wahrnehmungen) § 39. Verschiedenheit der Urteile nach der Beziehung des Subjekts zum Prädikat. Kategorische, hypothetische, disjunktive Urteile, allgemeine und besondere Urteile § 40. Verschiedenheit der Urteile nach den Beziehungen des urteilenden Subjekts zu der im Urteil stattfindenden Aussage. Bejahende, verneinende, problematische Urteile
Kapitel IV. Die Formen des Denkens 2. Der Begriff
209 209 209 209 210 212
212
213
215
216 216
§ 4 1 . Stellung des Begriffes im Denkzusammenhang 216 § 42. Der Inhalt des Begriffes und die Definition 217 § 43. Der U m f a n g eines Begriffes und seine Darstellung in der Einteilung 218
Kapitel V. Die Formen des Denkens 3. Der Schluß
219 219
§ 44. Die unmittelbare Folgerung oder die Folgerung nach formalen logischen Gesetzen 219 § 45. Der Syllogismus 220 § 46. Die aristotelische Syllogistik 220 § 4 7 . Syllogistik der formalen Logik 221 § 48. Verbindung von Schlüssen 226 § 4 9 . Der Analogieschluß 227 § 50. Der Induktionsschluß 227
Dritter Teil der Logik: Die Methodenlehre
228
§ 51. Ergänzung der formalen Betrachtungsweise des Schlusses durch die Erkenntnistheorie und Ubergang von der formalen Logik in die Methodenlehre 228
XIV
Inhalt
§ 52. Die psychologischen Grundgesetze, die vier elementaren logischen Operationen und die vier Methoden § 53. Kritik der Schlußlehre der formalen Logik von diesem erkenntnistheoretischen Standpunkte aus §54. Die Methoden §55. Der regressive Erkenntnisvorgang §56. Die Analysis § 57. Die Induktion §58. Der progressive Weg § 59. Die synthetische Methode
D. DIE SPÄTEN V O R L E S U N G E N ZUR SYSTEMATIK DER PHILOSOPHIE (Berlin 1899-1903)
229 230 231 231 232 232 234 234
235
S y s t e m der Philosophie in G r u n d z ü g e n ( „ S y s t e m I " )
235
Erster Teil des Systems: Grundlegung
235
1. Abschnitt: Die Analysis des geschichtlichen Bewußtseins 235 § 1. Die Anarchie des philosophischen Denkens in der Gegenwart und die Aufgabe der Selbstbesinnung 235 § 2. Die geschichtliche Selbstbesinnung über das Chaos der philosophischen Systeme 237 2. Abschnitt: Selbstbesinnung als Analysis des empirischen Bewußtseins § 1. Skeptizismus und die Philosophie als Selbstbesinnung § 2. Das empirische Bewußtsein § 3. Der unvermeidliche Zirkel alles Erkennens § 4. Der Sinnenglaube, der Satz des Bewußtseins und die Erkenntnis der Phänomenalität der äußeren Welt § 5. Die intellektualistische Auslegung vom Satz des Bewußtseins. Der Zweifel an der Existenz eines von uns Unabhängigen. Die Welt als Vorstellung und der vollendete Phänomenalismus . . . . 3. Abschnitt: Die Wahrnehmung und die in ihr gegebene Wirklichkeit § 1. Die Gültigkeit der inneren Wahrnehmung § 2. Die Realität der Außenwelt und die Repräsentation derselben in ihren Wirkungen auf unsere Sinne § 3. Die Verbindung der äußern mit der innern Wirklichkeit in dem Verstehen
253 253 254 259 264
272 277 277 299 310
Inhalt
XV
Zweiter Teil des Systems: Der Lebenszusammenhang und die Erkenntnis § 1. Die Struktur des Seelenlebens (der Lebendigkeit)
319 319
S y s t e m der P h i l o s o p h i e in G r u n d z ü g e n ( „ S y s t e m II")
332
I. Teil des Systems: Philosophische Grundlegung
332
I. Abschnitt: D e r allgemeine Teil der philosophischen Grundlegung
332
§ § § §
1. 2. 3. 4.
Gegenstand und Methode der philosophischen Grundlegung . . Der unvermeidliche Zirkel des Erkennens Begriff der Voraussetzungslosigkeit der Philosophie Die Grundlegung beruht auf dem Zusammenhang der Wissenschaften, welcher eine Erkenntnis der Wirklichkeit und eine rationale Regelung der Zweckzusammenhänge erzeugt § 5. Die beschreibende Psychologie enthält die notwendigen Vorbegriffe für die Grundlegung der Philosophie in der Wissenschaftslehre § 6. Begriff und Anordnung der Wissenschaftslehre II. Teil der Grundlegung: D i e Grundlegung in der Abfolge ihrer besonderen Teile
332 339 341
341
343 344
353
1. Abschnitt: D i e Lehre v o n der Gesetzmäßigkeit des Denkens (Gesetze und Formen): die reine oder allgemeine Logik . . § 1. Die Aufgabe. Umfang. Das Denken in den verschiedenen Gebieten des Seelenlebens. Der phänomenologische Ausgangspunkt. . § 2. Methode der Logik, Stoff und Form des Denkens § 3. Sonderung der Form des Denkens in die allgemeine Gesetzlichkeit desselben und die unter besonderen Bedingungen stehenden Formen § 4. Deskription der Denktätigkeit
359 360
Kapitel I. D i e Denkgesetze § 5. Das System der Denkgesetze § 6. Das Prinzip der materialen Wahrnehmung § 7. Der Satz der Identität § 8. Der Satz des Widerspruches § 9. Der Satz des ausgeschlossenen Dritten §10. Der Satz des Grundes
362 362 363 363 364 364 365
Kapitel II. D i e Formen des D e n k e n s
367
I. Das Urteil §11. Der Begriff des Urteils § 1 2 . Die Einteilung der Urteile bei Aristoteles und Kant §13. Prinzip einer Einteilung der Urteile
353 353 357
367 367 368 370
XVI
Inhalt
§ 1 4 . Verschiedenheit der Urteile nach ihrer Stellung im Erkenntniszusammenhang 371 § 15. Verschiedenheit der Urteile nach der Beziehung, in welcher Subjekt und Prädikat verknüpft sind 371 § 16. Verschiedenheit der Urteile nach Bejahung, Verneinung, Möglichkeit 372
II. Der Begriff
373
§ 1 7 . Stellung des Begriffs im Denkzusammenhang § 18. Der Inhalt des Begriffs und die Definition § 19. Der Umfang des Begriffs und seine Darstellung in der Einteilung
373 374 376
III. Der Schluß
377
§ 20. Der Syllogismus §21. Der Analogieschluß § 22. Die Gesetzlichkeit des menschlichen Geistes
377 378 378
Anmerkungen
381
Personenregister
415
Vorbericht der Herausgeber
I. Der vorliegende Band XX steht in unmittelbarer Beziehung zu den beiden vorhergehenden Bänden XVIII und XIX von Diltheys Gesammelten Schriften. Während der 1977 veröffentlichte Band XVIII (Die Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte) vornehmlich die Aufgabe hatte, die Vorgeschichte von Diltheys Fragment gebliebenem Hauptwerk, der Einleitung in die Geisteswissenschaften (I.Band, 1883), aus den Manuskripten des handschriftlichen Nachlasses zu dokumentieren, erfüllte der 1982 erschienene Band XIX (Grundlegung der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte) eine komplementäre Funktion. Mit diesem Band wurde der Versuch unternommen, den systematischen Teil des unvollendeten II. Bandes der Einleitung, d. h. die Erkenntnistheorie, Logik und Methodologie der Geisteswissenschaften, aus einer Vielzahl von fragmentarischen Texten, Dispositionsskizzen und Entwürfen zu rekonstruieren. So konnten nun erstmals neben der Genese des Projektes der Einleitung auch die Gesamtanlage sowie große Partien der systematisch-philosophischen Ausführung des kritischen Forschungsprogramms überblickt werden. Deutlich sichtbar wurden durch diese Edition allerdings auch die Lücken, die Dilthey vor einer möglichen Herausgabe des II. Bandes der Einleitung zu schließen gehabt hätte. Während das Vierte Buch, die erkenntnistheoretische Grundlegung, zum größten Teil ausgearbeitet ist und zusammen mit der in diesen Kontext gehörenden Akademie-Abhandlung von 1890, Beiträge zur Lösung der Frage vom Ursprung unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt und seinem Recht\ eine bis ins Detail gehende Vorstellung der von Dilthey intendierten Erkenntnistheorie zu geben vermag, gilt dies für die beiden anderen geplanten Bücher der systematischen Grundlegung keineswegs. So zeigen die Texte, die Dilthey als Grundlage für die auszuarbeitenden Bücher fünf und sechs, d. h. die Logik und Methodologie, zusammengestellt hatte und ' Ges. Sehr. V, S. 90-135.
XVIII
Vorbericht der Herausgeber
die in Auswahl der Rekonstruktion dieser Bücher in Band X I X zugrunde gelegt wurden, wie weit er selbst noch gegen Mitte der neunziger Jahre von einer definitiven Fertigstellung des systematischen Teils des II. Bandes entfernt war. Die bei dem Rekonstruktionsversuch des Fünften und Sechsten Buches offenkundig gewordene Tatsache, daß Dilthey in nicht unbeträchtlichem U m fang Material aus seinen Vorlesungen zur Logik und Erkenntnistheorie in die Textsammlungen einordnete, die die Grundlage der noch auszuarbeitenden systematischen Bücher darstellten, zeigt u.a. auch, welche Bedeutung seiner Vorlesungstätigkeit zukommt. Frei von dem Zwang zur definitiven Ausformulierung, aber doch unter dem Druck, ein jeweils geschlossenes Ganzes zu geben, hat Dilthey seine systematischen Gedanken nur im Hörsaal wirklich voll entfaltet. Während er vor allem auf dem Feld der Logik mit Publikationen auffallend zurückhaltend war, gehörte die erkenntnistheoretische Logik und Methodologie von seinem allerersten öffentlichen Kolleg an zum zentralen Bestand seiner Vorlesungen, und dies blieb so bis zur Arbeit seiner letzten Jahre. Die Wechselwirkung seiner Forschung und Lehre war in den vier Jahrzehnten seiner Lehrtätigkeit vollkommen: diente das Logik-Kolleg der frühen Berliner und der Basler Jahre zunächst als Vehikel für eine erste Artikulation des Gesamtkonzepts einer Grundlegung der Geisteswissenschaften, so wurde die jährlich vorgetragene Logik-Vorlesung der achtziger und neunziger Jahre dann das Medium der Differenzierung und Weiterführung dessen, was in den nicht zur Veröffentlichung kommenden Ausarbeitungen des Systems schon relativ früh festgelegt, aber im einzelnen nicht ausgeführt war. Die Vorlesungsnachschriften gestatten deshalb einen guten Einblick in seine Werkstatt, belegen gleichzeitig aber auch, was Dilthey in all den Jahren wirklich gelehrt hat. So kommt dieser Edition der Vorlesungen eine besondere Funktion zu. Einerseits gibt dieser Band einen Längsschnitt durch Diltheys systematische Vorlesungstätigkeit von 1864 bis 1903, der es u.a. erlaubt, Diltheys Forschungsprogramm einer philosophischen Begründung der Geisteswissenschaften nun auch im Reflex seiner Vorlesungen zu dokumentieren; somit ergänzt er die in den Bänden X V I I I und X I X unternommene genetische Rekonstruktion. Andererseits werden durch diese Vorlesungsedition diejenigen Resultate seiner philosophischen Forschungsarbeit erschlossen, die er nicht oder nur unzureichend in seinen Arbeitsmanuskripten fixiert hat. Damit ergänzt dieser Band auch die insbesondere von Band X I X geleistete systematische Rekonstruktion einer historischen Vernunftkritik. So finden sich u. a. in den Vorlesungen Auseinandersetzungen mit Hegels absoluter Logik, mit der formalen Logik, mit Kants Zeit-Theorie, mit der phänomenalistischen Erkenntnistheorie usw., die im bislang veröffentlichten Werk keine Entsprechung haben. Durch die positiven Ausarbeitungen, die in den Vorlesungen durch diese kritischen Auseinan-
Vorbericht der Herausgeber
XIX
dersetzungen vorbereitet werden, stellen die Vorlesungen ergänzende Materialien für Diltheys Erkenntnistheorie bereit. Aber es können nun auch einige Lücken geschlossen werden, wie sie etwa das rekonstruierte Fünfte Buch bislang noch aufwies. Die Vorlesungen besitzen aber nicht nur Bedeutung für Diltheys Projekt einer „Kritik der historischen Vernunft", sondern darüber hinaus ebenso für sein System der Wissenschaftslehre wie für sein System der Philosophie im ganzen. Diese Vorlesungen sind im Zusammenhang zu sehen mit Diltheys großen Kollegien über die Geschichte der antiken, mittelalterlichen und neueren Philosophie sowie den Vorlesungen, die er einzelnen Philosophen, insbesondere Schleiermacher und Spinoza, gewidmet hat; ferner mit Vorlesungen über Pädagogik (vgl. Ges. Sehr. IX), Ethik (vgl. Ges. Sehr. X) und Psychologie (die in Band XXI ediert werden). Neben diesen vier Themenkomplexen Geschichte der Philosophie, Psychologie, Pädagogik und Ethik nehmen die Vorlesungen zur theoretischen Philosophie jedoch den breitesten Raum in Diltheys Lehrtätigkeit ein. Sie machen den fast kontinuierlich vorgetragenen Kernbestand seiner Lehre aus. Hierbei ist eine Periodisierung unschwer vorzunehmen. Sieht man von der nur einmal, und zwar im Sommersemester 1883, gehaltenen Vorlesung Einleitung in das Studium der Geisteswissenschaften, Rechts- und Staatswissenschaften, Theologie und Geschichte und einem allerdings nur durch das Vorlesungsverzeichnis belegten Kolleg über Ergebnisse der gegenwärtigen Wissenschaft über Gesellschaft, Staat und Geschichte (Wintersemester 1883/84) ab, so lassen sich bei Diltheys im engeren Sinne systematisch-philosophischen Vorlesungen vier zeitlich und inhaltlich abgrenzbare Vorlesungskomplexe unterscheiden. Am Beginn seiner Lehrtätigkeit steht die Vorlesung Logik, mit besonderer Berücksichtigung der Geschichte und Methode der einzelnen Wissenschaften; dies ist das erste Kolleg, das Dilthey als Privatdozent in Berlin im Wintersemester 1864/65 hält und im folgenden Wintersemester wiederholt. Für dieses Wintersemester 1865/66 läßt Dilthey als Vorlesungskompendium einen Grundriß der Logik und des Systems der philosophischen Wissenschaften drucken. In Basel hält Dilthey im Wintersemester 1867/68 eine Vorlesung unter dem Titel Logik und System der philosophischen Wissenschaften, die zumindest im Aufbau wie der Vergleich mit dem Grundriß zeigt - nicht erheblich von der Berliner Fassung unterschieden ist. Diese Basler Vorlesung ist wohl auch weitgehend identisch mit der im Sommersemester 1869 in Kiel gehaltenen Vorlesung Logik und Wissenschaftslehre; genauere Angaben zu diesem Kolleg sind allerdings nicht möglich, da keine Nachschriften von dieser Vorlesung überliefert sind. Der zweite Vorlesungskomplex steht eindeutiger unter dem Titel Logik. Logik-Vorlesungen hält Dilthey - z. T. allerdings auch hier mit Titelergänzungen
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w i e . . . als Wissenschaft mit Darlegung der Methoden in den Einzelwissenschaften (Breslau, Sommersemester 1872) bzw. . . . mit besonderer Berücksichtigung ihrer Beziehung zu den Fachwissenschaften (Breslau, Sommersemester 1881) - im Sommersemester 1871 in Kiel sowie in Breslau im Sommersemester 1872, den Wintersemestern 1873/74 und 1877/78 und den Sommersemestern 1880 bis 1882. An diesen Logik-Zyklus schließt sich als dritter Vorlesungskomplex die große Vorlesung Logik und Erkenntnistheorie, die Dilthey in Berlin jeweils in den Wintersemestern 1883/84 bis 1893/94 und zum letzten Mal - mit dem Zusatz . . . als Grundlegung der Philosophie und der Einzelwissenschaften - im Sommersemester 1897 gehalten hat. Diese über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren gehaltene Vorlesung besitzt eine besondere Bedeutung, stellt sie doch den letzten Stand von Diltheys systematischen Überlegungen zu den Problemen von Logik und Erkenntnistheorie vor dem Abbruch der Arbeit am II. Band der Einleitung2 dar. Sie ist auch am besten belegt durch Nachschriften, als deren prominenteste, wenn auch nicht zuverlässigste Autoren H. Rikkert und A. Drews zu nennen sind. Den letzten Zyklus seiner systematischen Vorlesungen stellte Dilthey unter den Titel System der Philosophie in Grundzügen. Gelesen hat er dieses Kolleg jeweils im Sommersemester 1899-1906. Von dieser Vorlesung war bislang nur bekannt der Entwurf einer Einleitung, Die Kultur der Gegenwart und die Philosophie1', sowie ein Stück einer Kolleg-Nachschrift H. Nohls, die sein Schüler D. Bischoff unter dem Titel Diltheys Kant-Darstellung in seiner letzten Vorlesung über das System der Philosophie als Anhang zu seinem kleinen Buch Wilhelm Diltheys geschichtliche Lebensphilosophie (Leipzig und Berlin 1935, S. 46-63) veröffentlicht hat 4 . Es liegt in der Natur der Sache, daß diese Vorlesung vor allem durch diejenigen seiner Schüler überliefert ist, die damals zugleich seine Mitarbeiter waren: G. Misch und H. Nohl.
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Vgl. G. Misch, Vorbericht des Hrsg. zu Ges. Sehr. V, S. CXVIL. Ges. Sehr. VIII, S. 190-205. Bischoff bezeichnet diesen Text in einer editorischen Notiz als Teil einer Nachschrift von Diltheys letzter System-Vorlesung und datiert diese Nachschrift auf das Sommersemeser 1903. Wie allerdings ein Vergleich mit Skizzen zu Diltheys System-Vorlesungen der Jahrgänge 1905 und 1906 (Berliner Dilthey-Nachlaß, C 7 : 265-295 Rücks. und C 7 6 : 162-194) zeigt, kann es sich bei der fraglichen Nohl-Nachschrift nicht um eine Nachschrift von Diltheys letztem Kolleg zum System der Philosophie handeln. Die Datierung auf das Sommersemester 1903 ist dagegen zweifellos zutreffend. 3
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II. Was nun die verschiedenen Grade der Authentizität der Quellen5 betrifft, wie sie bei der Edition von Vorlesungen besonders zu beachten sind, so waren hier folgende Typen zu unterscheiden: a) die eigentlichen, mehrere Jahre hindurch verwendeten Kolleg-Manuskripte des Vortragenden in der typischen Mischung aus durchgängig ausformulierten Passagen, kurzen Sätzen und Stichworten, Einfügungen und Randnotizen, gegliedert nach Paragraphen und Unterpunkten; b) vollständige, stilistisch ausgefeilte Ausarbeitungen von Diltheys Hand für einzelne Kollegstunden; c) von Dilthey handschriftlich korrigierte und mit (z. T. umfangreichen) Randbemerkungen und Ergänzungen versehene Nachschriften, die vermutlich auf Diltheys Wunsch erstellt und ihm zur Verfügung gestellt wurden und sich in seinem handschriftlichen Nachlaß befinden; d) gleichfalls im Nachlaß aufgefundene Nachschriften, die keine Bearbeitungsspuren von Diltheys Hand aufweisen, durch ihren Fundort und z.T. durch wörtliche Entsprechungen mit Paralleltexten als hinreichend authentische Quellen gelten können; e) Nachschriften von der Hand der Dilthey besonders nahestehenden Schüler G. Misch und H. Nohl; f) sonstige, außerhalb des Umkreises der Dilthey-Schule aufgefundene Nachschriften. Als Quellen für die vorliegende Edition wurden vor allem Texte vom Typ c) verwendet. Dies gilt im besonderen für die Logik und Erkenntnistheorie aus den achtziger und neunziger Jahren und die späte Vorlesung über System der Philosophie in Grundzügen. Typ b) bildet eine Ausnahme: ein solcher Text wurde nur gefunden als Ausarbeitung der ersten Vorlesungsstunden des jungen Privatdozenten. Wegen der besonderen Authentizität und der biographischen Bedeutsamkeit des Textes wurde er an die Spitze des Bandes gestellt. Ein großes Problem stellte der Umgang mit Quellen vom Typ a) dar. Auffallend ist das Fehlen eines solchen Kollegheftes für die große Berliner Logik und das System der Philosophie in Grundzügen. Lediglich für die frühe Zeit konnte ein Konvolut von ca. 700 Seiten rekonstruiert werden, die sich an verschiedenen Stellen des handschriftlichen Nachlasses, vor allem in dem als eine Art Ablage dienenden Faszikel C 97 befinden. Gemäß dem Arbeitsstil Diltheys sind Teile dieses Konvolutes jedoch in Kladden eingelegt, die als Grundlage für die weitere Ausarbeitung des Fünften Buches der Grundlegung dienten (C37, 39, 42). Eine Edition dieses Materials im Sinne einer Rekonstruktion der ersten Fassung von Diltheys Logik-Vorlesung wäre nur möglich gewesen im Stile einer historisch-kritischen Dokumentation, die sämtliche Umarbeitungen, Strei5 Detaillierte Aufstellungen der Materialien, die der Edition zugrunde lagen, sind den jeweiligen editorischen Vorberichten im Anmerkungsteil zu entnehmen.
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chungen, Umstellungen etc. innerhalb dieser offensichtlich jahrelang benutzten Kolleg-Notizen hätte berücksichtigen müssen. Hier war bei der Herausgabe abzuwägen zwischen einem zwar authentischen, aber nur lückenhaft rekonstruierbaren und textkritisch zerstückelten Dokument und der lesbaren Präsentation eines Textes vom Typ d) (Basler Logik), dessen Authentizität zweifellos geringeren Grades ist. Gleichwohl haben sich die Herausgeber für die Edition dieses Textes entschieden, der (wie alle Vorlesungsnachschriften) nicht zuletzt auch eine Information darüber gibt, worüber der Autor im Hörsaal wirklich geredet hat. In welchem Maße Dilthey hinsichtlich einer Logik der Geisteswissenschaften zunächst noch mit dem Stoff gerungen hatte, kann die Basler Logik vermutlich deutlicher zeigen, als dies in einer philologischen Rekonstruktion von Diltheys Vorlesungsnotizen möglich wäre. Immerhin sei an dieser Stelle nachdrücklich auf das Vorhandensein einer Art „Urlogik" Diltheys hingewiesen, deren Rekonstruktion freilich zum Aufgabenbereich einer historisch-kritischen Dilthey-Ausgabe zu rechnen wäre. Gemäß der Anlage von Diltheys Gesammelten Schriften, die sich ausdrücklich nicht als eine historisch-kritische Gesamtausgabe verstehen, konnte es auch nicht darum gehen, jede Vorlesung oder gar jeden Vorlesungsjahrgang der jeweiligen Vorlesungszyklen zu dokumentieren 6 . Es war daher notwendig, aus den Vorlesungen, von denen uns Nachschriften zur Verfügung standen, eine Auswahl zu treffen. Zu den leitenden Auswahlprinzipien zählte neben den genannten Kriterien die systematisch-philosophische Bedeutung der Vorlesung, sodann die Bedeutung dieser Vorlesung für die Genese von Diltheys Denken und schließlich die allgemeinere philosophie- und wissenschaftsgeschichtliche Relevanz des jeweiligen Kollegs. Angestrebt war bei dieser Dokumentation von Diltheys systematischer Vorlesungstätigkeit, innerhalb der angedeuteten Grenzen ein möglichst umfassendes Bild aufgrund des zugänglichen Materials zu geben. Dies stand unter der Maxime, ein Maximum an Vollständigkeit bei einem Minimum an Redundanz zu erzielen. Allerdings konnte bei dieser leitenden Absicht einer möglichst breit angelegten Dokumentation ein gewisses Maß an Redundanz nicht vermieden werden. Grundsätzlich wurde der Versuch unternommen, das eher historisch-genetische Interesse mit dem vornehmlich systematischen Interesse zum Ausgleich zu bringen, ohne den Leser zu einer ermüdenden Lektüre des Immergleichen zu nötigen, aber auch ohne den Verlust historisch interessanter Varianten hinnehmen zu müssen. So wurde z. B. darauf verzichtet, die Genese der großen Berliner Logik-Vorlesung durch Abdruck der einzelnen Entwicklungsstadien zu belegen. Systematisch oder hi6 Vgl. H.-U. Lessing, Vollständigkeitsprinzip und Redundanz. Überlegungen am Beispiel der Edition der Nachschriften von Diltheys systematischen Vorlesungen, in: editio 2/1989, S. 18-27.
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storisch aufschlußreiche Varianten wurden im Anmerkungsteil dokumentiert; die für die Edition ausgewählten Nachschriften selbst wurden als möglichst integrale Einheiten belassen und von allem editorischen Beiwerk so weit entlastet, daß ein lesbarer Text erhalten blieb.
III. So ergibt sich durch die Dokumentation dieses Bandes folgendes Gesamtbild: Wir lernen zunächst den etwa dreißigjährigen Privatdozenten kennen, der seit Ende 1862 „einen Entwurf einer Art Wissenschaftslehre täglich einige Stunden unter den Händen" 7 hat und diese Ideen nun in seinem ersten Kolleg darstellen will. Als „Kathedereinsichten" notiert er sich: „Meine Wärme hat noch nicht genug Schneide, die Leidenschaft selbst erscheint gemütlich, wenn sie nicht den Hintergrund einer ganz determinierten Stellung hat. Allein, da ich mein Leben hindurch einen ganz untersuchenden Gang zu gehen entschlossen bin, kann noch nichts so in mir determiniert sein; das ist für das Katheder, wenn man dabei wahrhaft ist, schlimm." 8 So steht am Anfang dieser vierzigjährigen Bemühung das klare Bewußtsein davon, daß der „ganz untersuchende Gang" eigentlich für das Katheder nicht taugt und für Dilthey doch der einzig mögliche Weg ist. Noch beim Aufbruch nach Basel, wo er sich „eine unerhörte Deutlichkeit abzwingen" will, beharrt er auf seiner „Abneigung gegen verfrühte oder einseitige, wenn auch glänzende Formulierungen." 9 Vor diesem Hintergrund gesehen sind die frühen Berliner und Basler Vorlesungen erste Entwürfe und Artikulationsübungen, die allerdings in einem erstaunlich großen Maße die spätere Systematik schon vorwegnehmen. Mit der Vorlesung zur Einleitung in die Geisteswissenschaften vom Sommer 1883 finden wir Dilthey nach fünfzehnjähriger Lehrtätigkeit in Basel, Kiel und Breslau wieder in Berlin, jetzt nicht nur am Ziel seiner Karriere, sondern auch im Besitz einer ausgereiften Konzeption, die er soeben in Gestalt des I. Bandes seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften als Programm vorgestellt hat. Die Vorlesung, die sicher auch die Funktion hatte, Dilthey nach der großen Anstrengung des in kürzester Zeit geschriebenen Buches 10 eine Verschnaufpause zu verschaffen, folgt zunächst dem Gang der Einleitung, geht aber in ihrer zweiten Hälfte über das Buch insofern hinaus, als sie einerseits die dort 7 Der junge Dilthey. Ein Lebensbild in Briefen und Tagebüchern 1852-1870, hrsg. von Clara Misch, geb. Dilthey, 2. Aufl. Stuttgart-Göttingen 1960, S. 178. 8 Ebd., S. 191. 9 Ebd., S. 233. 10 Vgl. H. Johach/F. Rodi, Vorbericht der Hrsg. zu Ges. Sehr. XIX, S. x ff.
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abgebrochene wissenschaftsgeschichtliche Betrachtung fortsetzt (das geplante Dritte Buch) und andererseits den systematischen Teil des geplanten II. Bandes (Viertes bis Sechstes Buch) skizziert. Dies geschieht im III. Abschnitt der Vorlesung: „Enzyklopädie der Geisteswissenschaften". Die beiden Elemente dieser Enzyklopädie, die erkenntnistheoretische Grundlegung und die Methodologie der Geisteswissenschaften, werden im Prinzip vorgestellt und erlauben einen Uberblick über die Gesamtkonzeption der Einleitung. Dadurch tritt diese Vorlesung an die Seite der in Band X I X der Gesammelten Schriften vorgelegten Rekonstruktion des systematischen Teils der Einleitung11 und vervollständigt diesen Rekonstruktionsversuch von einer anderen Seite aus. Dieses Kolleg ist damit - neben dem großen Gesamtplan zum Zweiten Band und den diversen Gliederungsskizzen - der einzige authentische Überblick über das Gesamtprojekt der Einleitung. Einen besonderen Schwerpunkt von Band X X bildet TeilC, Die Berliner Logik-Vorlesungen der achtziger Jahre (1883-1888), in dem Diltheys Vorlesung über Erkenntnistheorie und Logik dokumentiert wird. Dieses Kolleg trat die Nachfolge der verschiedenen Kieler und Breslauer Logik-Vorlesungen an 12 . Es ist - zusammen mit der späten System-Vorlesung - zweifellos das systematisch wichtigste Kolleg gewesen, mit dem Dilthey übrigens auch eine belegbare Resonanz erzielte. So schreibt Arthur Drews in seiner Selbstdarstellung: „Damals, im Sommer 1887, hörte ich auch eine Vorlesung bei Dilthey über Logik. Sie ist mir durch die Verständlichkeit und Flüssigkeit des Vortrags in angenehmer Erinnerung geblieben. Der Psychologismus Diltheys, seine Ableitung der logischen Formen und Gesetze aus der Unmittelbarkeit der Selbstwahrnehmung und seine Behauptung, daß die Denkformen sozusagen nur den Widerschein unserer seelischen Innenzustände darstellten, hat noch lange in mir
11 Vgl. Ausarbeitungen zum Zweiten Band der Einleitung in die Geisteswissenschaften. Viertes bis Sechstes Buch, Ges. Sehr. X I X , S. 58-295 und den Gesamtplan des Zweiten Bandes der Einleitung in die Geisteswissenschaften. Drittes bis Sechstes Buch („Berliner Entwurf"), Ges. Sehr. X I X , S. 296-332. 12 Aus der Kieler und Breslauer Zeit standen uns im übrigen, was kaum erstaunlich ist, nur wenige Nachschriften zur Verfügung. Es sind dies im wesentlichen: die undatierte Nachschrift einer Logik-Vorlesung (Berliner Dilthey-Nachlaß, C 3 8 : 47-72 Rücks. und 155-163 Rücks.), dann eine Nachschrift der Kieler Vorlesung aus dem Sommersemester 1876, „Hauptpunkte der Logik" (C 35 II: 9-13 Rücks. und 17-27 Rücks.), und schließlich die Nachschrift der Breslauer Vorlesung über „Logik" aus dem Sommersemester 1880 (C 38: 119-149 Rücks. und 118-118 Rücks.). - Über eine der letzten Vorlesungen der Breslauer Zeit berichtet Karl Joel: „Als nun der 18jährige Abiturient seine Studien in Breslau begann, wo damals Dilthey sich mit einer noch stark positivistisch getönten Vorlesung über Logik verabschiedete, da fand dieses erste Kolleg mit dem Refrain: Metaphysiker sind Narren, ein offenes Ohr und ein frohes Echo bei dem jungen Zuhörer." K. Joel, Selbstdarstellung, in: Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, hrsg. von R. Schmidt, 2., verbesserte Aufl. Leipzig 1923, S. 7 9 - 9 9 , hier: S. 81.
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nachgewirkt [ . . .]." 1 3 Auch in einer in jenen Jahren erschienenen Berliner Dissertation wurde auf diese Vorlesung Bezug genommen 14 . Mit der System-Vorlesung der Jahre 1899-1903 schließlich kommen wir bis zur Schaffensperiode des letzten Lebensjahrzehnts von Dilthey. Es ist die Welt des alten Dilthey, wie sie durch Berichte seiner Schüler Misch und Nohl (von denen auch einige der Nachschriften stammen) überliefert ist 15 . Kennzeichnend für den Schritt über die Berliner Logik der achtziger Jahre hinaus ist die neue Konzeption einer „Philosophie der Philosophie". Mit dem weit entwikkelten System einer erkenntnistheoretisch-logischen und methodologischen Grundlegung der Geisteswissenschaften verbindet sich nun das Programm einer Uberwindung von Skeptizismus und Relativismus durch den Aufweis der Verwurzelung aller weltanschaulichen Besonderheiten in der Struktur der menschlichen Seele. Dieses Gesamtbild des Zusammenhangs von Diltheys weitgehend „ungeschrieben" bzw. unveröffentlicht gebliebener Lehre bedarf nun einer Ausdifferenzierung von der inhaltlichen Analyse der einzelnen Texte aus.
IV. Die im ersten Teil des Bandes zusammengestellten Texte, die die erste Phase der Bemühungen Diltheys um die Ausarbeitung einer erkenntnistheoretischen Logik widerspiegeln, zeigen, daß sein Versuch, eine eigenständige logische Konzeption zu erarbeiten, zunächst auf dem Wege einer kritischen Auseinandersetzung mit den damals noch immer als repräsentativ geltenden Vertretern der absoluten und der formalen Logik, nämlich Hegel und Kant, verläuft. Gegen diese beiden prominenten logischen Richtungen setzt der Trendelenburg-Schüler Dilthey seinen Ansatz der Logik als „Theorie der Wissenschaft" 1 6 . Dilthey stellt sich mit diesem Programm ausdrücklich in die Reihe derjenigen, die, wie insbesondere die Naturwissenschaftler und Philosophen Herschel, Whewell, J.St. Mill und Comte, seit den dreißiger Jahren des
13 A. Drews, Selbstdarstellung, in: Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Band V, hrsg. von R. Schmidt, Leipzig 1924, S. 67-128, hier: S. 70. H Vgl./. Raffel, Die Voraussetzungen welche den Empirismus Locke's, Berkeley's und Hume's zum Idealismus führten, Phil. Diss. Berlin 1887, S. 13. 15 Vgl. G. Misch, Vom Lebens- und Gedankenkreis Wilhelm Diltheys, Frankfurt a. M. 1947; H. Nohl, Wilhelm Dilthey, in: Die Deutsche Bewegung. Vorlesungen und Aufsätze zur Geistesgeschichte von 1770-1830, hrsg. von O. F. Bollnow und F. Rodi, Göttingen 1970, S. 298-309. " Unten S. 1.
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19. Jahrhunderts vornehmlich in England und Frankreich Beiträge zu einer Logik und Methodologie der induktiven Wissenschaften geliefert haben. Darüber hinaus ist der Einfluß der Logischen Untersuchungen des Aristotelikers A. Trendelenburg auf die Versuche des frühen Dilthey unübersehbar. Wie Trendelenburg, der der Logik unter Rückgriff auf das aristotelische Organon einen dritten Weg, jenseits der formalen und dialektischen Logik, weisen wollte, bestimmt Dilthey als „Stoff" der Logik als Theorie des Erkennens die Gesamtheit aller Wissenschaften. Ihre Aufgabe ist es, „die intellektuellen Prozesse des Geistes von der Wahrnehmung ab bis zu der Induktion und dem Syllogismus und die auf diese Prozesse vom wissenschaftserfindenden Geiste gegründete Methoden der Wissenschaften" zu behandeln 17 . Logik in diesem Sinne ist die Selbstreflexion des wissenschaftlichen Denkens, ist erkenntnistheoretisch fundierte Wissenschaftslehre oder Wissenschaftstheorie. Dieser Ansatz zu einer Logik der wissenschaftlichen Vernunft sieht sich somit in ausdrücklichem Gegensatz sowohl einerseits zur formalen Logik kantischer Provenienz, die das bloße Denken in seinen reinen Formen, abgelöst von jeder Gegenständlichkeit (Stoff oder Materie), analysiert, wie andererseits zu Hegels metaphysischer Logik, die prätendiert, das Wesen der Dinge selbst zu erkennen. Die Kritik dieser Gestalten der Logik steht im Mittelpunkt des Fragments von Diltheys erster Logik-Vorlesung. Hegels absoluter Logik-und dem dieser Logik zugrunde liegendem Identitätsprinzip von Denken und Sein stellt Dilthey die „wirkliche Natur des menschlichen Denkens" gegenüber 18 . In einer intensiven Kritik - der ausführlichsten, die aus seiner frühen und mittleren Phase bekannt ist - setzt sich Dilthey mit diesem identitätsphilosophischen Theorem Hegels auseinander, das für ihn im Widerspruch „zu der Tatsache der Erfahrungswissenschaften, zu der Natur der Begriffe, zu der Natur der logischen Prozesse" steht 19 . Auch die Durchführung dieses Prinzips in Hegels System, seine spezifische dialektische Methode der Begriffsentwicklung, wird in diesem Text kritisiert, indem Dilthey auf den „rein subjektiven Charakter" dieser Methode verweist 20 . Den äußersten Gegensatz zur absoluten Logik stellt die sog. formale Logik dar, die „die Form des Denkens, gesondert von dem Inhalte desselben, als Gegenstand der logischen Untersuchung" auffaßt 21 . Der Vollender dieser Gestalt
17 18 19 20 21
Unten Unten Unten Unten Unten
S. S. S. S. S.
1. 7. 12. 14. 15.
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der Logik ist Kant, ihre klassische Form hat sie in Kants Lehrbuch der Logik gefunden. Die in Diltheys erstem Ansatz zu einer erkenntnistheoretischen Logik im Mittelpunkt stehende Auseinandersetzung mit Hegels absoluter Logik wird soweit die überlieferten Materialien eine Aussage gestatten - in den Vorlesungen der folgenden Jahre nicht weitergeführt; die Hegel-Kritik wird von ihm nur im geschichtlichen Abriß der Basler Logik kurz wiederholt 22 . Hegels metaphysische Logik - so scheint es - stellt für Dilthey keine Herausforderung mehr dar, sie zwingt nicht mehr zur Abgrenzung. Statt dessen zeigen aber alle Vorlesungen - von den frühen Berliner LogikVorlesungen bis zum späten Berliner System-Kolleg - eine durchgängige, intensive Auseinandersetzung mit Kant. Kants Philosophie ist der ständige Widerpart Diltheys; seine Transzendentalphilosophie ist der dauernde Orientierungspunkt, in positiver Anlehnung wie in kritischer Uberwindung. Dies ambivalente Verhältnis zu Kant zeigt sich schon im Grundriß der Logik und des Systems der philosophischen Wissenschaften, in dem er ausdrücklich Kants Philosophie als Ausgangspunkt der eigenen Überlegungen anführt. Die Berliner Vorlesung, deren Zusammenfassung der Grundriß darstellt, löst nun einerseits das im Einleitungstext formulierte Programm ein, den Prozeß des wissenschaftlichen Erkennens von der Empfindung über Wahrnehmung, Vorstellung und Sprache bis zu den Formen des diskursiven Denkens und über diese hinaus bis zu den wissenschaftlichen Methoden einer Analyse zu unterziehen. Darüber hinaus erhebt die Vorlesung einen Systemanspruch, indem hier ein System der philosophischen Wissenschaften skizziert wird: Auf der Basis der Logik als Theorie der wissenschaftlichen Erkenntnis, die den Weg des Erkennens von den elementaren Empfindungen bis zur methodisch abgesicherten wissenschaftlichen Erkenntnis beschreibt, folgt als Teil A eine Skizze der Grundlagen der Naturwissenschaften und als Teil B eine wesentlich breiter ausfallende Darstellung des Systems der Wissenschaften des Geistes. Ein TeilC „Metaphysik und philosophische Theologie" beschließt den Grund-
riß. Diesem frühen Grundriß kommt innerhalb der ersten Entwicklungsphase von Diltheys Denken insoweit eine besondere Bedeutung zu, als hier erstmals ein System der Geisteswissenschaften vorgestellt wird; er ist der eigentliche Keim von Diltheys Hauptwerk, der Einleitung in die Geisteswissenschaften, in dem er - nahezu zwanzig Jahre nach diesem ersten Entwurf - den Versuch unternahm, das hier skizzierte Grundgerüst auszuführen.
22
Vgl. u n t e n S. 4 7 - 4 8 .
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Darüber hinaus liegt in dieser frühen Berliner Vorlesung der Impuls zu einem anderen zentralen philosophischen Projekt Diltheys: der Philosophie der Philosophie. Der Paragraph 61 des C-Teils im Grundriß liefert schon die programmatische Uberschrift für die mehr als dreißig Jahre später beginnenden Untersuchungen zur Weltanschauungsphilosophie: „Komparative Analyse der Weltansichten". Das Konvolut der frühen Berliner Kolleg-Manuskripte, das in unserer Edition durch den Grundriß und die Nachschrift der in Basel erneut gehaltenen Vorlesung vertreten wird, muß - von den zahlreichen Uberarbeitungsspuren her zu schließen - die Grundlage für weitere Vorlesungen in Basel, Kiel und vielleicht Breslau gewesen sein. Mit Sicherheit läßt sich dies nur für die Basler Logik sagen, jenes im Wintersemester 1867/68 unter dem Titel Logik und System der philosophischen Wissenschaften gehaltene Kolleg. Die Entsprechungen sind eindeutig, wenn auch nie durchgängig, was sicher nicht allein aus dem zweifachen Transformationsprozeß auf dem Weg vom Manuskript zum mündlichen Vortrag und seiner schriftlichen Fixierung durch den Hörer zu erklären ist. So blieb, wenn man den Stand der sechziger Jahre für Diltheys Logik fixieren wollte (von den oben erwähnten Schwierigkeiten ganz abgesehen) nur der Rekurs auf die Nachschrift der Basler Logik. Wie die Nachschrift ausweist, umfaßte die Vorlesung nur den grundlegenden Teil des Grundrisses über „Logik oder Theorie der wissenschaftlichen Erkenntnis, ihrer Formen und ihrer Methoden". Diesen systematischen Ausführungen zur reinen Wissenschaftslehre wurde in der Basler Vorlesung ein Abriß der Geschichte der Logik vorausgeschickt. Abgesehen von dieser Erweiterung gegenüber dem Schema des Grundrisses, entspricht die Anlage der Vorlesung weitgehend dem entsprechenden Teil der ersten Berliner Vorlesungen. Einzig im III. Abschnitt, der von den wissenschaftlichen Methoden der Natur- und Geisteswissenschaften handelt, lassen sich einige Umstellungen ausmachen, die aber nicht von größerer Bedeutung sind. Ein besonderes Interesse vermag der §21 dieser Vorlesung über „Die Intuition" zu erregen. Dilthey entwickelt in diesem Paragraphen die Grundzüge einer Methodologie der Geisteswissenschaften, auch in der Absicht, zu einer Reform der Logik beizutragen. Die Logik - so sein Ausgangspunkt - stehe noch unter der Herrschaft der Methodologie der Naturwissenschaften; dies führe zu einer intellektualistisch verkürzten Auffassung des Denkens. Indem Dilthey zeigt, daß der Grund der wissenschaftlichen Verfahren nicht allein in den Verstandesoperationen liegt, sondern auch - besonders in den Geisteswissenschaften - in einer schöpferischen Phantasie, hofft er, die Grundlagen zu einer angemesseneren Methodologie der Geisteswissenschaften zu bereiten/ In diesem Zusammenhang arbeitet Dilthey das eigentümliche Interesse der Histo-
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rie an der Auffassung des Individuellen heraus und verteidigt, u. a. gegen Schopenhauer und den Empirismus, den wissenschaftlichen Charakter der historischen Wissenschaften: „Wir wollen den Menschen verstehen. Allen andern Objekten gegenüber handelt es sich um ein Interesse der Erklärung, dem Menschen gegenüber um ein Interesse des Verstehens. Bei den andern Objekten suche ich Erklärungsgründe. Diese geben mir kein inneres Bild der Dinge. Die Vorgänge der Natur verstehen wir nicht, wir haben die Wirkungsweise der Kraft, aber was das Agens seiner Natur nach sei, wissen wir nicht. Anders ist es im Gebiete der moralischen Welt. Hier verstehe ich alles." 23 In diesen Sätzen begegnet zum erstenmal in Diltheys Arbeiten die terminologisch bereits festgelegte, pointierte Gegenüberstellung der spezifischen Erkenntnisinteressen der Natur- und der Geisteswissenschaften, wie sie dann in den Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie von 1894 auf die berühmte, aber oft verkürzt gedeutete Formel gebracht wurde: „Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir." 24 Dieser so auffallend ausführlich geratene §21 der Basler Logik kann seine zeitliche und sachliche Nähe zu anderen Arbeiten Diltheys nicht verleugnen. Zu nennen ist nicht nur die Basler Antrittsrede Die dichterische und philosophische Bewegung in Deutschland 1770-180025, sondern vor allem die große Schleiermacher-Biographie, deren erster Band in jenen Jahren zum Abschluß
kam. Das Kapitel Die deutsche Literatur als Ausbildung einer neuen Weltansichtlb enthält die programmatische Forderung: „Diese ganze Welt der Anschauung gehört der wissenschaftlichen Forschung. Es ist ein folgenschwerer Irrtum, unsere abstraktesten Einsichten, die Erkenntnis der Gesetze, für die allein wertvollen zu halten, begreiflich bei einem Mill oder Buckle, aber unter uns durch die Richtung vieler bedeutender deutscher Forschungen von vornherein widerlegt." 27 Was in der Basler Logik unter dem etwas mißverständlichen Titel „Intuition" abgehandelt wird, dürfte in den späteren Vorlesungen in Kiel und Breslau in ähnlicher Weise zur Methodologie der Geisteswissenschaften ausgeführt worden sein. Dies läßt sich bei der derzeitigen Quellenlage nicht belegen. U m so eindrücklicher ist jedoch aus den zahlreichen Fragmenten aus dem Umkreis
der Abhandlung von 1875 Uber das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen der Gesellschaft und dem Staat zu ersehen, wie die Aufgabe einer Methodologie der Geisteswissenschaften für Dilthey in den siebziger 23 24 25 26 17
Unten S. 100. Ges. Sehr. V, S. 144. Ges. Sehr. V, S. 12-27. Ges. Sehr. X I I I / 1 , S. 183-207. Ges. Sehr. X I I I / 1 , S. 200.
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Jahren immer mehr an Gestalt gewann (vgl. Ges. Sehr. X V I I I ) , bis schließlich das Programm in der Abhandlung von 1875 formuliert und in der Einleitung von 1883 teilweise ausgeführt wurde. Als Thema einer Vorlesung finden wir das Problem erst wieder nachweisbar in der Berliner Vorlesung vom Sommersemester 1883 Einleitung in das Stu-
dium der
Geisteswissenschaften.
Dieser Vorlesung kommt eine besondere Bedeutung zu. Sie basiert zunächst auf dem 1883 erschienenen I. Band der Einleitung in die Geisteswissenschaften. Die Bezugnahme auf dieses Werk ist evident, sie reicht bis z.T. wörtlichen Übereinstimmungen. So referiert Dilthey im I.Abschnitt der Vorlesung im wesentlichen die Hauptthesen des Ersten Buches der Einleitung („Ubersicht über den Zusammenhang der Einzelwissenschaften des Geistes, in welcher die Notwendigkeit einer grundlegenden Wissenschaft dargetan wird"), in dem er seine Sicht der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit darlegt und die Erkenntnismöglichkeiten und Bedingungen dieser Wirklichkeit durch die Geisteswissenschaften aufzeigt. Im II. Abschnitt der Vorlesung teilt Dilthey zunächst die wesentlichen Ergebnisse der großen geschichtlichen Darstellung des Zweiten Buchs der Einleitung („Metaphysik als Grundlage der Geisteswissenschaften. Ihre Herrschaft und ihr Verfall") mit. Er geht aber dann insoweit über diese Darstellung, die den Zeitraum von den Vorsokratikern bis zum 18.Jahrhundert umfaßt, hinaus, als er diese Geschichte der Geisteswissenschaften bis zur Romantik und zur Historischen Schule fortführt. Damit skizziert Dilthey den Grundriß des geplanten, aber nie realisierten Dritten Buches der Einleitung, der den nicht fertiggestellten II. Band dieses Werks eröffnen sollte. Mit ihrem III. Abschnitt über die Enzyklopädie der Geisteswissenschaften erlaubt die Vorlesung einen Ausblick auf den geplanten II. Band der Einleitung, insofern Dilthey hier die in Aussicht gestellte erkenntnistheoretische Grundlegung sowie die Methodenlehre dieser Wissenschaftsgruppe in ihren Grundlinien skizziert. Dieses Kolleg ist - neben dem großen Gesamtplan zum Zweiten Band und den diversen in Band X I X edierten Dispositionen - der einzige authentische Uberblick über die Gesamtkonzeption der Einleitung. Im ersten Teil der Enzyklopädie, der erkenntnistheoretischen Grundlegung, führt Dilthey die zentralen Konzeptionen seiner Erkenntnisphilosophie, wie den „Satz der Phänomenalität", das Theorem der „Totalität des Bewußtseins", das Konzept der „Selbstbesinnung" und den Begriff des „Innewerdens", ein und entwickelt, ausgehend von einer Kritik der intellektualistischen Spielarten der Erkenntnistheorie, eine „realistische", d.h. die Wirklichkeit unverzerrt oder -verstümmelt auffassende Philosophie der Erkenntnis. Diese gipfelt in der These von der Möglichkeit, das „innere Leben" objektiv aufzufassen, wo-
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durch ein „objektives Wissen von den Vorgängen, welche das geistige Leben der Menschheit ausmachen", gewährleistet wäre 28 . Während es das Ziel der Grundlegung war, den Beweis der Möglichkeit einer objektiven Wissenschaft der geistigen Welt zu liefern, so ist es Diltheys Intention im zweiten Teil, die spezifischen Erkenntnisbedingungen dieses geisteswissenschaftlichen Erkennens zu entwickeln. Die Vorlesung beschließt eine eher rohe Skizze der Grundzüge der Methodologie und des Systems der Geisteswissenschaften.
V. Vergleicht man die Berliner Logik von 1885/86 mit dem Ansatz der sechziger Jahre, so zeigt sich als einer der wesentlichsten Unterschiede, daß der Ubergang von der Wahrnehmungslehre zur Logik im engeren Sinn nicht mehr in dem kontinuierlichen Fortschreiten von der Anschauung und Vorstellung zum sprachlichen Ausdruck der Vorstellung und schließlich zu Satz und Urteil stattfindet. Auf diesen Unterschied, bezogen auf die Fragmente zum Fünften Buch der Grundlegung, ist schon im Vorbericht zu Band X I X hingewiesen worden 29 . D a die Berliner Logik-Vorlesungen der achtziger Jahre die direkte Entsprechung zu jenen Fragmenten darstellen, kann der Vergleich mit der Frühphase des Diltheyschen Denkens hier noch einmal in differenzierterer Form wiederholt werden. Das frühe Berliner Vorlesungsmanuskript, der Grundriß und die Basler Logik stimmen darin völlig überein, den genetischen Zusammenhang zwischen Wahrnehmung und Denken dadurch aufzuweisen, daß sie die Sprache „als letztes Glied der von der Empfindung bis zum diskursiven Denken führenden Prozesse" behandeln. Diese zentrale, vermittelnde Stellung hat die Sprache in der Berliner Logik von 1885/86 scheinbar verloren. Der Aufbau der Vorlesung ist völlig verändert. Entsprechend den spätestens seit Anfang der achtziger Jahre vorliegenden Ausarbeitungen zum Vierten und Fünften Buch, mit denen die Vorlesung ja engstens korrespondiert, steht jetzt auch hier an der Spitze der erkenntnistheoretischen Grundlegung der Satz der Phänomenalität, von dem aus die Analyse der äußeren und inneren Wahrnehmung erfolgt. Der Ubergang zum formalen Teil der Logik geschieht scheinbar abrupt, indem nun zunächst die Denkgesetze behandelt werden. Erst der § 28 thematisiert wieder den genetischen Zusammenhang von Wahrnehmen und Denken und leitet eine Betrach-
28 29
Unten S. 157. Vgl. Ges. Sehr. X I X , S. iL.
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tung ein, die über die Kategorienlehre zur Urteilslehre weiterführt und innerhalb derer auch die Sprache - wenn auch nur kurz erwähnt - ihren Stellenwert hat. Diese Veränderungen gegenüber dem Ansatz der sechziger Jahre sind jedoch nicht grundsätzlicher Art und explizieren zum Teil nur, was im Prinzip schon in dem frühsten Berliner Manuskript angelegt ist. Schon dort nämlich spricht Dilthey von einem zweifachen „Kreislauf des logischen Geistes", womit er die beiden verschiedenen Weisen des Erfassens von Gegenständlichkeit meint: die Verbindung von Elementen der Wahrnehmung einerseits im anschaulich-intuitiven, andererseits im diskursiven Denken. Die Berliner Logik von 1885/86 nimmt in §29 dieses Thema der „Verbindung der einfachen Inhalte in Wahrnehmung und diskursivem Denken" wieder auf und führt den Begriff der „Intellektualität der Sinneswahrnehmung" für die elementaren logischen Operationen ein, die schon in der frühsten Berliner Vorlesung als „Vergleichen, Unterscheiden, Identifizieren" herausgehoben und als „die Möglichkeit alles menschlichen Erkennens bildend" bezeichnet worden waren. Entsprechend heißt es in der Berliner Logik von 1885/86: „Die primären Verbindungen im Wahrnehmen und Denken sind Ineinssetzen, Unterscheiden, so entstehen die Auffassungen von Ähnlichkeit, von Gradunterschied, von Allgemeinem und Besonderem; alsdann Trennen und Verbinden, so entstehen die Auffassungen von Ganzen, Teilen, Bestandteilen, Verbindungen, Beziehungen." 30 Uber die Art und Weise des Verbindens wird in diesem Zusammenhang verhältnismäßig wenig gesagt, und es findet in der Nachschrift der Berliner Logik ein rascher, beinahe unvermittelter Ubergang zum Kategorien-Problem statt31, der ohne den Vergleich mit den früheren Ansätzen in seiner grundlegenden Bedeutung nicht voll erkennbar ist. Die Frage nach der systematischen Stelle der Kategorienlehre in Diltheys Logik führt zu einem zentralen Problem, das nicht nur die äußere Gliederung der Vorlesungen betrifft. Daß Dilthey seit den Anfängen seiner Beschäftigung mit logischen Fragestellungen das Kategorienproblem in Verbindung mit sprachlogischen Fragestellungen zu sehen gewohnt war, ergibt sich aus der Art seiner Anknüpfung an Lotze und Ueberweg. So hat etwa Lotze seine Theorie der „Redeteile", auf die sich der § 9 von Diltheys Grundriß (allerdings kritisch) bezieht, an den Anfang seiner Logik32 gestellt und dort den Zusammenhang zwischen den einfachen logischen Formen der Sprache (Substantiv, Adjektiv und Verb) und den „einfachen ontologischen Begriffen" Substanz, Akzidens
30 31 32
Unten S. 202. Vgl. unten S. 202. Vgl. H. Lotze, Logik, Leipzig 1843, S.40ff.
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und Inhärenz zum Ausgangspunkt seiner Lehre von Begriff und Urteil gemacht. Wenn auch der Begriff „Kategorie" für diese ontologisch-metaphysischen Grundbegriffe bei Lotze nur beiläufig gebraucht wird 33 und das Kategorienproblem im ganzen in seiner Logik keine Rolle spielt, so war dieser Zusammenhang zwischen Sprachtheorie und Kategorienlehre doch offenkundig und gerade in jenen Jahren durch Ueberwegs System der Logik neu aktualisiert worden 34 . Aus nur teilweise entzifferbaren Notizen in Diltheys frühestem Berliner Vorlesungsmanuskript geht hervor, daß er den Grundgedanken Lotzes nicht teilte, die Redeteile seien Ausdruck der metaphysischen Grundbegriffe. Er schreibt: „Substantiv, Adjektiv und Verb sind nicht Gebilde des logischen Geistes, die durch metaphysische Voraussetzungen verursacht (Lotze). Die Anschauung geht in Substanz und Attribut, in Subjekt und Prädikat auseinander. Satz und Urteil sind da. Dies ist der logische Grundvorgang in der Sprachbildung der drei Redeformen." 3 5 Der Grundgedanke Diltheys, von einer komplexen Erfahrung artikulierend und zerlegend zu diskursiv ausdrückbaren Einzelbefunden zu gelangen (der Grund für die Priorität des Urteils vor dem Begriff), ist hier also schon maßgebend 36 . Diesem Ansatz mußte eine Kategorienlehre im Wege stehen, die ausging von der metaphysischen Vorgabe der Ordnung der Dinge und deren sprachlich-logischen Ausdruck durch die Redeteile. Es dürfte dies der Grund sein, warum das Kategorienproblem aus den frühen Vorlesungen - gleichsam als metaphysischer Restbestand auch noch der zeitgenössischen Logik - ausgeblendet blieb. Erst mit der Konzeption der widerständigen Dingerfahrung, die dem anthropologischen Theorem der Totalität der Menschennatur korrespondiert 37 , konnte auch eine entsprechend revidierte Kategorienlehre Eingang in die Logik Diltheys finden. Neben den in Band X I X mitgeteilten Fragmenten zum Fünften Buch, dessen 4. Abschnitt nun auch die Kategorien behandelt 38 , gibt die Berliner Logik von 1885/86 den Stand der achtziger Jahre wieder, allerdings - wie schon hervorgehoben - ohne daß die Kontinuität mit den früheren Ansätzen noch ohne weiteres erkennbar wäre. Die Genese dieser Konzeption, und damit der von Dilthey intendierte Stellenwert der Kategorienlehre, werden aus einer Logik-Vorlesung aus dem Sommersemester 1880 (Breslau) 39 er-
Vgl. ebd., S. 48. Vgl. F. Ueberweg, System der Logik und Geschichte der logischen Lehren, 2., neu bearbeitete Aufl. Bonn 1865, S. 88 ff. 35 Berliner Dilthey-Nachlaß, C 4 2 : 526. 36 Vgl. H.Johach/F. Rodi, Vorbericht der Hrsg. zu Ges. Sehr. X I X , S. iL. 37 Vgl. ebd., S. iL ff. 38 Vgl. Ges. Sehr. X I X , S. 247 ff. 39 Berliner Dilthey-Nachlaß, C 38:119-149 Rücks. und 118-118 Rucks. 33 34
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Vorbericht der Herausgeber
kennbar. Sie enthält in § 8 unter dem Titel „Das Ding, die Redeform und die Kategorien" eine wichtige Explikation des ursprünglichen Ansatzes. Da diese Vorlesung aus Gründen der Redundanz-Vermeidung (sie ist in vielen Teilen eine Vorstufe der Berliner Logik von 1885/86) nicht in diesen Band aufgenommen wurde, sei die für unseren Zusammenhang wichtigste Stelle hier zitiert: Das Tatsächliche, das uns gegenübertritt, das Ding, der Ansatzpunkt von Widerstand in ihm, ist der Keim für die Entwicklung der Kategorien. Was ist in der Vorstellung des Dinges unmittelbar gegeben? In einem jeden Ding ist: ein Ansatzpunkt von Einheit, der Realität in sich faßt, verbunden mit den Qualitäten, die wir diesem Ansatzpunkt von Einheit beilegen. Indem ich das Ding, diesen Ansatzpunkt von einheitlicher Realität, mit meinen Sinneswahrnehmungen verbinde und auffasse, gewinne ich das Ding, die Dinglichkeit, erhalte einen Träger der veränderlichen Eigenschaften, ausgestattet mit konstanten Eigenschaften, die Substanz. Diese Substanz (z. B. des Baumes) war Eines in dem, was Widerstand übte, Eines mit der Aktivität. Der Vorgang, daß der Gegenstand Widerstand leistet, wird von uns mit denselben Eigenschaften ausgestattet wie wir, die wir diesen Widerstand erfahren. Und so messen wir dem Dinge Aktivität bei, stellen das Ding in Wechselbeziehung zu uns, daher kommt zu der ersten Kategorie, Substanz, und der zweiten, den wechselnden Modi, die dritte, die wechselnde Tätigkeit, die Aktivität. Zwei berühren sich nahe, daher haben sie auch geschichtlich eine merkwürdige Rolle von Vertauschbarkeit gespielt: Die Substanz und die Aktivität, die Äußerung von Kraft, die causa, ist, vielfach vertauscht, von Leibniz identifiziert worden. Endlich 4.): Wir gewahren die einzelnen Dinge in viel veränderlichen anderen Relationen, der Zeit, Teil, Ganzes etc. Hier ist ein durchgreifender Unterschied zu machen: Die ersten drei enthalten ein Sinnlich-Anschaubares, dessen Grundlage in der Sinnlichkeit gegeben. Die vierte enthält aber nur Relationen, die zwischen dem Sinnlich-Anschaubaren gemacht sind. Also ihr Gehalt wird erst durch eine beziehende Tätigkeit erzeugt und ist so von allgemeinem Charakter. Daher bilden Adverbia, Pronomina, Flexionen die vierte Kategorie. So bilden sich die Worte als Ausdrücke von Vorstellungen, die beide [?] unserem Denken zugrunde liegen 40 .
Das Auseinandertreten der Anschauung in Substanz und Attribut, Subjekt und Prädikat, wie es in der frühen Berliner Vorlesung skizziert worden war, wird hier also in der Weise expliziert, daß aus der primären Erfahrung eines „Ansatzpunktes von einheitlicher Realität" die kategoriale Ordnung (Substanz, wechselnde Modi, Aktivität, Relationen) erst hervorgeht und sich in die sprachlich-diskursiven Elemente des Urteils ausdifferenziert. Von diesem Punkt ab, d. h. also unter der Voraussetzung der primären Dingerfahrung als Widerstand, kann Dilthey dann Lotzes Theorie der Redeteile übernehmen. Der entsprechende Abschnitt über die Sprache in der Breslauer Vorlesung von 1880 enthält folgende Passage: Die Sprache. In ihr sind uns Ausdrücke für unsere Vorstellungen gegeben. Demnach liegt das Streben vor, in dem Wort das Vorgestellte auch auszudrücken. Freilich sind die Sprachen verschieden, nicht immer ist in dem Lautbilde das, was im Vorstellungsvorgang angeschaut ist, auch wiedergegeben. Es sind zunächst drei Formen der Vorstellung, die besonders deutlich hervortreten: Die einen sind Vorstellungen von Dingen, Substanzen. In dem Substantiv ist zusammengefaßt der Kernpunkt eines Wahrnehmungsbestandes, nebst den Realitäten, die sich an denselben anschlie40
C 3 8 : 1 3 3 Rücks.-134.
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ßen. Sondern wir von diesem Kernpunkt des Wahrnehmungsbestandes (der Substanz) die Eigenschaften ab, so ergibt sich die Unterscheidung der Eigenschaftswörter. Endlich drittens: Wird ein Ding in Beziehung gesetzt zu den wechselnden Bewegungen der Tätigkeit oder des Leidens, so ergibt sich die Unterscheidung des Verbums 41 .
Es muß diesem Ansatz von 1880 gegenüber freilich festgehalten werden, daß auch er nur eine weitere Explikationsstufe ist auf dem Weg zu jener Konzeption, in der die Kategorie der Substanz hergeleitet wird aus der inneren Erfahrung der Selbigkeit des erlebenden Ich. Diese Konzeption - in der Einleitung von 1883 schon angedeutet im Zuge der Destruktion der Fundierungsfunktion der Kategorien Substanz und Kausalität 42 - ist in der Berliner Logik von 1885/ 86 festgehalten, dort freilich weitgehend losgelöst von sprachlogischen Überlegungen. Dies führt uns wieder zum Ausgangspunkt dieser die frühen Vorlesungen mit der Berliner Logik von 1885/86 vergleichenden Überlegungen zurück. Die Einführung der Kategorienlehre erfolgt hier im Zuge einer Betrachtung, in der „der Zusammenhang der Denkgesetze rückwärts mit der Wahrnehmungs- und vorwärts mit der Denk- und Methodenlehre" untersucht wird. Worin besteht nun dieser Zusammenhang, und was hat er zu tun mit dem genetischen Zusammenhang von Wahrnehmung, Sprache und Denken? Die Antwort lautet: Es ist die „Konstanz unseres Selbst", die „Konstanz eines Selben im Wechsel seiner Zustände, die Einheit, an welcher mehrfache Zustände wirkend und leidend sich finden", wie sie im Selbstbewußtsein gegeben ist 43 . Selbst die Dingerfahrung wird nun konstituiert durch die Erfahrung der Selbigkeit, denn der „ideelle lebendige Einheitspunkt", von dem aus die Kohärenz des Dings sich ergibt, erweist sich als Selbstprojektion der Lebendigkeit unseres Selbst. Erst von hier aus konnte dann die Wissenschaft - „mitangeregt durch die Beobachtung der syntaktischen Gliederung in der Sprache" - zu den abstrakten Begriffen von Substanz und Akzidens gelangen. Dilthey geht aber in der radikalen Ausdeutung der fundierenden Leistung der Selbigkeitserfahrung noch einen Schritt weiter, indem er auch die Denkgesetze aus ihr ableitet: „In der Konstanz dieses Seelenlebens ist die der Denkakte begründet. Sonach ist der Satz der Identität der Ausdruck der in uns erfahrenen Wirklichkeit." 44 Es entspricht dieser genetischen Relativierung des Geltungsanspruches der Denkgesetze, wenn Dilthey dem Satz der Identität und dem des Grundes Allgemeinheit und Notwendigkeit „in dem denkbar höchsten Grade" zuspricht: Von einer absoluten Geltung ist nicht die Rede, so 41 42 43 44
C 3 8 : 133. Vgl. Ges. Sehr. I,S. 398 ff. Unten S. 200 und 203, §§ 28 und 30. Unten S. 194, §24.
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Vorbericht der Herausgeber
wie auch in der Breslauer Vorlesung von 1880 den Denkgesetzen nur „relative Apriorität" zugestanden worden war 45 .
VI. Diltheys Kategorienlehre wird durch die Berliner Logik von 1885/86 noch in einem anderen Sinn erhellt, und zwar im Hinblick auf die Genese des Spätwerks. Wie sich aus dem Bisherigen ergibt, waren die in der Logik entwickelten Kategorien zunächst nur von Interesse im Zusammenhang mit einer relativ massiven, sinnlichen Dingerfahrung. Für eine Grundlegung der Geisteswissenschaften konnte dieses Ergebnis der erkenntnistheoretisch-logischen U n tersuchungen nicht ausreichen. Es bedurfte der Herausarbeitung von Kategorien des Lebens und der Geschichte, wie wir sie aus den Fragmenten des Spätwerkes (Ges. Sehr. VII) kennen. Dieses inzwischen vielfältig rezipierte Spätwerk ist nur selten in Beziehung gesetzt worden zu Diltheys früheren Versuchen, die Kategorienlehre in die Grundlegung der Geisteswissenschaften einzubeziehen. Dies gilt vor allem für die Einleitung in die Geisteswissenschaften. Diltheys Interesse am Kategorienproblem war dort von der These bestimmt, daß die Kategorien der Substanz und der Kausalität allmählich entwickelte Abstraktionen aus der lebendigen Erfahrung darstellten, wie sie unter den Anforderungen einer Erkenntnis der Außenwelt stattgefunden hat. Insofern sind sie „geschichtliche Erzeugnisse des mit den Gegenständen ringenden logischen Geistes" 46 . Auf das Problem einer erkenntnistheoretisch-logischen Grundlegung der Geisteswissenschaften angewandt, führte dieser Gedanke zu dem Ergebnis, daß jede metaphysische Begründung der Geisteswissenschaften im schlechten Sinne zirkulär verfahren muß, da die „aus dem Erlebnis der vollen Menschennatur abstrahierten und wissenschaftlich entwickelten Begriffe" 47 ihrerseits wieder zur wissenschaftlichen Begründung dieses Erlebnisses der vollen Menschennatur, etwa durch Übertragung des Substanzbegriffs auf die Seele, verwendet werden müßten. Dieser Grundgedanke von Diltheys Metaphysik-Kritik schien lange Zeit relativ beziehungslos neben dem Gedanken aus dem Spätwerk zu stehen, daß erst durch die Entwicklung sogenannter „Lebenskategorien" die gesellschaftlich-geschichtliche Wirklichkeit logisch faßbar gemacht werden könne und daß im Zusammenhang dieser Lebenskategorien eine besondere Wichtigkeit der
45 44 47
C 3 8 : 1 4 3 Rucks. Ges. Sehr. I, S. 366. Ges. Sehr. I, S. 360.
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Kategorie der Bedeutung zukomme. Erst durch die Veröffentlichung des Fragments Leben und Erkennen in Band XIX dieser Ausgabe 48 wurde der Zusammenhang zwischen den beiden zeitlich so weit auseinanderliegenden Ansätzen erkennbar: Zu der Herleitung der Kategorie der „Substanz" aus der Grunderfahrung der Selbigkeit und der der „Kausalität" aus der Erfahrung von Wirken und Leiden trat nun die „Essentialität" als Abstraktion aus einer dritten Grunderfahrung, die sich beschreiben läßt als Erfahrung eines „Zentrums der Lebensstruktur" im Gegensatz zu bloß peripheren Bereichen. Aus dieser Erfahrung entstammt die Gruppe der Kategorien von Wesen, Sinn, Bedeutung, Wert und Zweck 49 . Erst mit diesem dritten Bereich sind diejenigen kategorialen Möglichkeiten erschlossen, die in den Geisteswissenschaften fruchtbar werden. Hier also waren die „Lebenskategorien" des Spätwerks vorbereitet. Während in Band XIX für das Auftreten dieser entscheidenden Neuerung im Konzept der Grundlegung der Geisteswissenschaften noch auf Texte der neunziger Jahre verwiesen werden mußte, ist es im Zuge der Vorbereitung des vorliegenden Bandes gelungen, eine eindeutige Datierung vorzunehmen. Die Nachschrift der Berliner Logik von 1885/86 enthält nämlich nach § 31 („Kausalität") eine ausführliche, allerdings nicht völlig entzifferbare Ergänzung von Diltheys Hand, durch die ein neuer Paragraph „Essentialität" eingeführt wurde 5 0 . Nachschriften aus den folgenden Jahren fixieren denn auch diese Erweiterung unter dem Titel: „Die Essentialität oder das Wesen (Wert, Zweck)." Daraus geht hervor, daß Dilthey zwischen dem Winter 1885/86 und 1886/87 zu dieser Erweiterung seiner Kategorienlehre gekommen ist. Diese Datierung ist insofern von Wichtigkeit, als damit die Jahre 1885-87, noch deutlicher als bisher erkennbar, eine Zeit des innovativen Schubes in Diltheys Denken gewesen sein müssen. In jenen Jahren entstand der 1887 erschie-
nene Aufsatz Die Einbildungskraft
des Dichters. Bausteine für eine
Poetik.
Man hat bisher übersehen, daß auch hier die drei Grundkategorien schon beisammenstehen: „Die Kategorie des Wesenhaften wird [wie] die von Substanz und Ursache aus der inneren Erfahrung in die äußere übertragen und bezeichnet zunächst den Inbegriff der Züge, in dem innere Lebendigkeit die Bedeutung eines Gegenstandes erfaßt. So bringt der Dichter vom Gefühle aus das Wesenhafte im Singularen oder das Typische hervor." 51 Von dieser Stelle aus kann vermutet werden, daß die neue Kategorie im Zusammenhang ästhetischer Reflexionen konzipiert und von dort her in die Logik übernommen wurde: Es
48 49 50 51
Ges. Sehr. XIX, S. 333-388. Vgl. Ges. Sehr. XIX, S. 374 ff. Vgl. unten S. 390f. Ges. Sehr. VI, S. 188.
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Vorbericht der Herausgeber
ist der Dichter, der in einem besonderen Maße befähigt ist, innere Erfahrungen mit äußeren zu verbinden, und dabei ist ihm das Wesenhafte näher als Substanz und Kausalität. Auch der allmähliche Abstraktionsvorgang wird in der Poetik für alle drei Kategorien dargestellt: „So entstehen die Beziehungen von Ding und Eigenschaft, von Ursache und Wirkung, von Wesen oder Essenz zu dem, was für das Wesen zufällig ist. Die Erstreckung solcher Beziehungsformen durch unsere Erfahrungen beruht überall auf der Ergänzung des Äußeren durch ein oftmals mit ihm verbundenes Inneres auf Grund der primären Tatsache, daß wir selber Inneres und Außeres zusammen sind. Aus dieser Belebung der Empfindungsaggregate treten allmählich in einer Entwicklungsreihe, welche durch Sprache und wissenschaftliches Denken hindurchgeht, die Kategorien in ihrem abstrakten begrifflichen Charakter hervor." 5 2 Somit sind die Nachschriften der Berliner Logik der achtziger Jahre nicht nur eine wichtige Quelle für die Weiterentwicklung von Diltheys Kategorienlehre, sondern auch ein Hinweis darauf, in welch engem Zusammenhang damals Logik und Poetik in seinem Denken standen. Zu fragen bleibt freilich, warum dieser Zusammenhang von Dilthey selbst oder von seinen engsten Schülern und Begründern der Gesammelten Schriften nicht deutlicher herausgestellt worden ist. Es war ja von der Existenz des wichtigen Fragments Leben und Erkennen bis zur Edition in Band X I X (1982) nichts bekannt, so daß die Lehre von den Kategorien des Lebens jahrzehntelang als eine Konzeption des Spätwerks gelten konnte. Völlig unverständlich ist auch, daß die Kategorienlehre in den systematischen Vorlesungen des letzten Lebensjahrzehnts, denen wir uns abschließend zuwenden, wieder verschwindet, anstatt, wie man aus dem Bisherigen folgern müßte, auf einer neuen Explikationsstufe die späten Schriften unmittelbar vorzubereiten.
VII. Im Mittelpunkt von Diltheys späten Vorlesungen zum System der Philosophie in Grundzügen stehen somit weniger die Probleme einer erkenntnistheoretischen Logik, wie sie insbesondere in den Berliner Logiken der achtziger Jahre exponiert wurden, als vielmehr die Fragen nach Möglichkeit, Bedingungen und Grenzen des Philosophierens selbst. Diltheys leitende Absicht in diesen System-Kollegien ist es, den nun in das Zentrum seiner Arbeit getretenen
52
Ges. Sehr. VI, S. 175. - Die vor allem von R. Makkreel vertretene These von der zentralen
Bedeutung der Poetik für Diltheys Philosophie findet durch die Auffindung dieses Zusammenhangs eine neuerliche Bestätigung.
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Forschungsansatz einer „Philosophie der Philosophie" mit seiner Philosophie der Erkenntnis zusammenzuschließen. Demgemäß trägt er in diesen Vorlesungen in erster Linie seine in historischer wie erkenntnistheoretischer Selbstbesinnung gewonnenen Einsichten vor und versucht, diese für ein tragfähiges Fundament einer zu entwickelnden Philosophie fruchtbar zu machen. Die erste der von uns veröffentlichten zwei Fassungen der System-Vorlesung (System I), die den letzten Teil des Bandes eröffnet, enthält zwei Teile von unterschiedlicher Länge. Im 1.Teil von SystemI - „ G r u n d l e g u n g " - , der den Großteil der Vorlesung umfaßt, entwickelt Dilthey in drei Abschnitten die Basistheoreme seiner Philosophie. Der 1. Abschnitt, „Die Analysis des geschichtlichen Bewußtseins", faßt Diltheys Philosophie der Weltanschauungen zusammen, wie sie insbesondere aus den in Band VIII der Gesammelten Schriften zusammengestellten Abhandlungen bekannt ist. Ausgehend von dieser Analyse der Vielfalt der philosophischen Systeme, die für den unbefangenen Betrachter das Bild eines Chaos erwecken, formuliert Dilthey die Forderung nach einer „geschichtlichen Selbstbesinnung", deren Aufgabe es ist, diese „Anarchie des philosophischen Denkens" zu überwinden. Was zunächst chaotisch oder anarchisch wirkte, wird von ihm in einer „Philosophie der Philosophie" auf drei immer wiederkehrende Grundformen („Typen") des philosophischen Denkens zurückgeführt. Dabei zeigt sich als Ergebnis dieser Weltanschauungsphilosophie, daß die drei von Dilthey herausgearbeiteten Typen der Weltanschauung, also Positivismus (später: Naturalismus), Idealismus der Freiheit und objektiver Idealismus, nicht aufeinander reduzierbare, sondern gleich legitime, aber auch gleich unbegründbare Möglichkeiten von Weltsicht darstellen. Jede dieser Weltanschauungen ist ein „Ausdruck, das Organ einer Stellung, Seite des Bewußtseins zur Wirklichkeit" 53 . Das heißt positiv formuliert: „Die Wirklichkeit ist ein Mehrseitiges, welches durch die verschiedenen Weltansichten einseitig ausgedrückt wird. Es ist die Vielseitigkeit des Lebens selbst, welche in der Mehrheit der Weltansichten zum Ausdruck gelangt." 5 4 Hieraus folgt nun weiterhin, daß „kein metaphysisches System, welches einen objektiven Zusammenhang der Wirklichkeit zu erkennen behauptet, [ . . . ] auf strenge wissenschaftliche Gültigkeit Anspruch machen [kann]" 5 5 . Diltheys Weltanschauungsphilosophie gipfelt in der These, daß die Weltansichten „bloße Symbole für das Unerkennbare des objektiven Weltzusammenhangs" sind 56 . Dieser Abschnitt gibt also im wesentlichen Diltheys 53 54 55 56
Unten S. 252. Ebd. Ebd. Ebd.
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Lehre von den Typen der Weltanschauungen wieder, wie er sie in verschiedenen Schriften seiner letzten Jahre ausgeführt hat. Entfaltete der 1. Abschnitt die geschichtliche Selbstbesinnung, so ist das Thema des folgenden Abschnitts die (erkenntnistheoretische) Selbstbesinnung des Subjekts als Analysis des empirischen Bewußtseins, um die in der Weltanschauungsphilosophie freigelegten Probleme einer Lösung zuzuführen. Im Mittelpunkt dieser Untersuchung steht das erkenntnistheoretische Grundproblem, also die Frage nach der Möglichkeit von Erkenntnis. Diltheys Ziel ist dabei die Widerlegung von Skeptizismus und Phänomenalismus. Dilthey nimmt hier seinen Ausgang von einer phänomenologisch zu nennenden Analysis des empirischen Bewußtseins. Als Ergebnis dieser Selbstbesinnung formuliert er als „Grundsatz der Philosophie" den „Satz des Bewußtseins". Dieser Satz ist der Ausgangspunkt der Philosophie, er behauptet, daß die „ganze Außenwelt [...] nur da [ist] als im Bewußtsein gegeben"57. Dieses Bewußtsein aber, und auf die Betonung dieser Tatsache legt Dilthey größtes Gewicht, ist „in der Lebenseinheit gegründet". Durch diese Fassung des Grundsatzes kann die intellektualistische Auslegung des Satzes, die die Wirklichkeit in letzter Instanz zum bloßen Schein einer vorstellenden Intelligenz erklärt, abgewiesen werden; Ich und Welt stehen in einem unlösbaren Zusammenhang. Mit diesen Thesen schließt Dilthey an die Überlegungen an, die er im Zusammenhang der Diskussion des Satzes der Phänomenalität entwickelt hat. An die Stelle des Satzes der Phänomenalität, der insbesondere in den erkenntnistheoretischen Manuskripten der frühen achtziger Jahre, vor allem der Breslauer Ausarbeitung58, sowie den Vorlesungen zur Logik und Erkenntnistheorie ausformuliert ist, tritt nun in dieser Vorlesung die umfassendere Konzeption vom „Satz des Bewußtseins" 59 . Gegen den Intellektualismus, insbesondere in seiner phänomenalistischen Variante, setzt Dilthey im 3. Abschnitt der Vorlesung, „Die Wahrnehmung und die in ihr gegebene Wirklichkeit", seine eigene Theorie der Wirklichkeitserkenntnis. Dieser Abschnitt, ohne Zweifel der zentrale Abschnitt des Kollegs, ist dreigeteilt. Zunächst unternimmt Dilthey den Versuch, durch eine Analyse des Gesamtkomplexes der inneren Erfahrung die Gültigkeit dieser Erfahrungsform zu begründen. Innerhalb dieses Erfahrungstypus unterscheidet Dilthey zunächst drei Stufen: das Innewerden, die innere Wahrnehmung und schließ57 58 59
Unten S. 258. Vgl. Ges. Sehr. XIX, S. 58 ff. Vgl. unten S. 264 ff.
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lieh die innere Erfahrung selbst. Weiterhin differenziert er zwischen drei Seiten der inneren Erfahrung: dem Innewerden und seiner Transformation in Beobachtung und Erinnerung, der Intellektualität der inneren Erfahrung und dem Zeitverlauf. Besondere Bedeutung kommt nun im folgenden dieser Zeitlichkeit der inneren Erfahrung zu. Innere Erfahrung ist immer zeitlich verfaßt, sie verläuft in der Zeit; Zeit ist - so Diltheys These - „Herzpunkt des Lebens" 60 . Diesem Phänomen der Zeit widmet Dilthey eine große und eingehende Untersuchung, in der er ausgehend von einer Phänomenologie des Zeitbewußtseins über eine Kritik an Kants Zeittheorie zu einer positiven Darlegung einer eigenen Theorie der Zeit gelangt, in deren Mittelpunkt sein Versuch steht, gegen den Transzendentalismus oder Phänomenalismus die Realität der Zeit - und damit des Lebens selbst - zu retten61. Mit dieser Zeitanalyse knüpft Dilthey an seine frühesten Überlegungen zur Phänomenologie der Zeit an, wie sie besonders ausführlich in der Basler Logik entwickelt sind. Welche Bedeutung Dilthey selbst dieser Zeit-Theorie für die Ausbildung seiner Philosophie beimaß, wird in einem seiner letzten Texte von ihm nachdrücklich betont. In der Fragment gebliebenen Vorrede für die noch von ihm geplante Sammlung seiner systematischen Abhandlungen aus dem Sommer 1911 schreibt er: Sollte die Realität der geistigen Welt gerechtfertigt werden, so bedurfte es dazu vor allem einer Kritik der Lehre Kants, welche die Zeit zu einer bloßen Erscheinung machte und damit das Leben selbst. [ . . . ] Mit der Kritik dieser Lehre setzte ich ein. So entstand der Satz: hinter das Leben kann das Denken nicht zurückgehen. Das Leben als Schein ansehen, ist eine contradictio in adjecto: denn in dem Lebensverlauf, in dem Wachsen aus der Vergangenheit und Sichhinausstrecken in die Zukunft, liegen die Realitäten, die den Wirkungszusammenhang und den Wert unseres Lebens ausmachen. Gäbe es hinter dem Leben, das in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verläuft, ein Zeitloses, dann wäre dieses ein Antezedens des Lebens: denn es wäre danach das, was für den Lebensverlauf in seinem ganzen Zusammenhang die Bedingung wäre: dieses Antezedens wäre dann das, was wir eben nicht erlebten und darum nur Schattenreich. In meinen Vorlesungen über Einleitung in die Philosophie ist wohl kein Satz so wirksam gewesen als dieser' 2 .
An diese Behandlung der inneren Erfahrung und ihrer konstitutiven Elemente schließt sich eine komplementäre Analyse der äußeren Erfahrung. In ihrem Mittelpunkt stehen Diltheys Argumente für die Notwendigkeit einer Annahme der Außenweltrealität. Hierbei stützt sich Dilthey im wesentlichen auf seine Realitätsabhandlung von 1890, die Beiträge zur Lösung der Frage vom Ursprung unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt und seinem Recht. Abgeschlossen wird dieser Abschnitt durch eine Untersuchung des Verste-
60 61 62
Unten S. 281. Vgl. unten S. 2 8 8 - 2 9 9 . Ges. Sehr. V, S. 5.
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hens und damit des Problems der Erfahrung des Fremdpsychischen. Dilthey analysiert in diesem Zusammenhang die verschiedenen Formen des Verstehens, die vom elementaren „psychologischen Verstehen" bis zum wissenschaftlichen Verstehen geschichtlicher Personen und historischer Komplexe reichen. Es fällt auf, daß Dilthey hier das Verstehen weiterhin am Modell des Analogieschlusses expliziert. Das Konzept des „objektiven Geistes", mit dem Dilthey im Aufbau die Möglichkeit des Verstehens begründet 63 , fehlt in dieser Vorlesung noch. Dies bestätigt die bisherige Theorie, daß die Konzeption eines „objektiven Geistes" zu Diltheys spätesten Theoremen gehört und wohl erst im Zusammenhang der Erarbeitung der großen späten Abhandlung über den Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften formuliert wurde. Der zweite Teil der Vorlesung, „Der Lebenszusammenhang und die Erkenntnis", umfaßt nur noch einen Paragraphen, in dem Dilthey die Struktur des Seelenlebens bzw. der Lebendigkeit analysiert und dabei die Grundzüge seiner deskriptiven Psychologie entwickelt. Dilthey weist auf das von ihm formulierte lebensphilosophische Grundprinzip der Unhintergehbarkeit der Lebenseinheit durch das Erkennen hin, exponiert seine These der Mehrseitigkeit des Lebens und schließt das Kolleg mit Betrachtungen über die „Rätselhaftigkeit des Lebens". Die in unserm Band nicht abgedruckte Nachschrift Nohl (1) der SystemVorlesung, die eine spätere Fassung des Kollegs repräsentiert, deckt sich in Anlage und Inhalt über weite Strecken mit dem System I. N u r die Einleitung, Philosophie und die Kultur der Gegenwart, die beiden folgenden Paragraphen über Begriff und Zusammenhang der Philosophie und die Schlußpartien über Logik bieten im Vergleich zum System I einige inhaltliche Abweichungen. Während diese Fassung der Vorlesung somit weitgehend mit der frühen Form des Kollegs übereinstimmt, begegnet uns mit dem System II eine fast vollständig veränderte Fassung der System-Vorlesung. Dies läßt sich schon an der Anlage unmittelbar ablesen. Das System II besteht aus zwei Teilen: Der 1. Teil enthält - wie das System I - die „Philosophische Grundlegung", während der 2. Teil die „Grundlegung in der Abfolge ihrer besonderen Teile" behandelt. Dieser 2. Teil sollte nun laut Diltheys Disposition aus drei Abschnitten bestehen: aus Logik, Erkenntnistheorie und Methodologie 64 . Uberliefert und in der Vorlesung offenbar nur vorgetragen wurde der 1. Abschnitt: „Die Lehre von der Gesetzmäßigkeit des Denkens (Gesetze und Formen): die reine oder 63 64
Vgl. Ges. Sehr. VII, S. 146-152; vgl. auch Ges. Sehr. VII, S. 208ff. Vgl. unten S. 353.
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allgemeine L o g i k " ; ein Teil des 3. Abschnittes wird in den Anmerkungen in Ergänzung der Nachschrift mitgeteilt. Im 1. Teil der Vorlesung umreißt Dilthey die Aufgabe, die er sich mit diesem Kolleg gestellt hat. Sein Ziel ist eine Begründung der menschlichen Erkenntnis. Dieses Programm ist nun nicht auf Erkenntnistheorie allein beschränkt, sondern versteht sich in einem umfassenden Sinne als Wissenschaftslehre. Die Wissenschaften bilden - wie auch schon in den frühen Berliner und Basler L o gik-Vorlesungen - den Ausgangspunkt der Arbeit, da Dilthey - und hier schließt er sich explizit an Kant an - von der Tatsache der positiven Wissenschaften ausgeht, um das Problem der Erkenntnis zu lösen. Deutlich wird in diesen Ausführungen zum Ansatz einer Wissenschaftslehre wiederum Diltheys Gegnerschaft zum (empiristischen) Phänomenalismus. Die Widerlegung dieser philosophischen Schule, deren Einfluß Dilthey für verhängnisvoll hält, gehört auch in dieser späten Vorlesung zu den entscheidenden Motiven seiner kritisch-philosophischen Arbeit. Wesentliches Ziel der Vorlesung ist es, die Gesetzmäßigkeit des menschlichen Geistes, die einerseits als Bedingung den Wissenschaften zugrunde liegt und andererseits sich in eben diesen Wissenschaften objektiviert, herauszuarbeiten und zu analysieren. Primäres Mittel zur Erkenntnis dieser Gesetzmäßigkeit ist die Logik, die die Formen und Gesetze des Denkens zum Thema hat. Unter Rückgriff auf seine Vorlesungen über Logik und Erkenntnistheorie der achtziger Jahre stellt Dilthey in einem 1. Kapitel zunächst die Denkgesetze dar, um dann im folgenden 2. Kapitel die sog. Formen des Denkens - Urteil, Begriff und Schluß - zu behandeln. Zum Vortrag der beiden folgenden Teile der 2. Hälfte der Grundlegung, also Erkenntnistheorie und Methodologie, scheint es in dieser Vorlesung wohl nicht gekommen zu sein; zweifelhaft ist wohl sogar, ob es Dilthey überhaupt noch gelungen ist, sein System vollständig in einer der noch folgenden Vorlesungen der Sommersemester 1904 bis 1906 vorzutragen. Die erhaltenen Stichworte zu den Kollegien aus den Jahren 1905 und 1906 sprechen eher dagegen. Soweit die erhaltenen fragmentarischen Aufzeichnungen eine Aussage gestatten, entspricht die Disposition der Vorlesung des Jahres 1905 überraschenderweise weitgehend der des System I. Vom 2. Abschnitt des 2. Teils der Grundlegung sind einige Notizen erhalten. Das 1. Kapitel der Erkenntnistheorie trägt den Titel: „Das Erleben und das Wissen der Person von sich selbst." Die drei Paragraphen dieses Kapitels erinnern an den Paragraphen 1 des 3. A b schnitts des 1. Teils von System I und lauten: „Inne-Werden als Grundlage der inneren Erfahrung", „Die Intellektualität der inneren Wahrnehmung" und „Der Zeitverlauf als Form der inneren Wahrnehmung". Soweit die vorhande-
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nen Aufzeichnungen erkennen lassen, hat Dilthey in dieses Kapitel die entsprechenden Partien seiner frühen System-Vorlesung eingebracht. Die Notizen zum Kolleg von 1906 zeigen andererseits, daß Dilthey die Disposition seiner Vorlesung nun wiederum umgestellt hat und den 1. besonderen Teil der Grundlegung, die Logik, der offenbar nicht zu Ende geführt wurde, anders strukturiert hat als im System II und hier insbesondere die Urteilslehre erheblich ausdifferenziert hat. Wie wichtig Dilthey sein System-Kolleg nahm, zeigt nicht zuletzt diese erstaunliche Tatsache, daß er seine Vorlesung offenbar von Semester zu Semester, z. T. tiefgreifend, umgearbeitet hat. Dieser Vorlesungsreihe kommt nun zweifellos dadurch eine herausragende Bedeutung zu, als sie einerseits das letzte Stadium von Diltheys Systematik soweit es in Vorlesungen zur Sprache kam - dokumentiert und andererseits das bislang kaum bekannte und so gut wie nicht erforschte Verbindungsstück zwischen seinem Denken in den späten neunziger Jahren und dem Spätwerk, das
im Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften von 1910 kulminiert, darstellt 65 . Darüber hinaus gewährt die System-Vorlesung in den beiden von uns veröffentlichten Fassungen einen Einblick in Diltheys nicht zur endgültigen Ausarbeitung gelangtes „unsystematische System", in dem er seine Philosophie der Philosophie mit seinen Überlegungen zur Erkenntnistheorie und Logik verknüpft. Dieser Aspekt von Diltheys Denken war nahezu ganz unbekannt und findet auch in seinen Arbeitsmanuskripten der Spätzeit, soweit bislang zu sehen ist, in dieser Ausführlichkeit keine Entsprechung. Mit der Veröffentlichung der beiden Versionen dieses Kollegs wird die Kenntnis des späten Dilthey um ein wichtiges Stück erweitert. Den Editionsprinzipien von Diltheys Gesammelten Schriften entsprechend wurden bei den in diesem Band veröffentlichten Texten Orthographie und Interpunktion den heute geltenden Regeln angeglichen. Eindeutige Abkürzungen wurden kommentarlos aufgelöst. Orthographische, syntaktische oder grammatikalische Fehler sowie fehlerhaft wiedergegebene Zitate wurden stillschweigend korrigiert. Sachliche Fehler, wie Irrtümer bei der Angabe von Geburtsdaten, bibliographischen Hinweisen etc., wurden ebenfalls ohne weiteren Hinweis verbessert. Darüber hinaus wurde die äußere Form der Nachschriften vereinheitlicht; Unterstreichungen, die von den Nachschreibern oder Dilthey stammen, sind grundsätzlich weggelassen. Zusätze der Herausgeber stehen in [ ], unleserliche Wörter in [ . . . ] , fragliche Entzifferungen sind mit [?] versehen. Einfügungen in einen Text aus einer an65
Vgl. Diltheys Vorbemerkung zum Aufbau, Ges. Sehr. VII, S. 79.
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deren Nachschrift sind zwischen | | gestellt. Die von Dilthey an Texten vorgenommenen Korrekturen wurden übernommen und sind durch Kursivdruck kenntlich gemacht; seine Textergänzungen wurden ebenfalls kursiviert, die Randbemerkungen, Notizen etc. von seiner Hand wurden in den Anmerkungen dokumentiert. Von Dilthey gestrichene Passagen, die aber gleichwohl von Belang sind, wurden in < > gesetzt. Die Anmerkungen zu den Texten beschränken sich auf Zitatnachweise und die Mitteilung bedeutsamer Varianten aus anderen Nachschriften. Den Mitarbeitern der Dilthey-Forschungsstelle am Institut für Philosophie der Ruhr-Universität Bochum, Christian Jarghoff und Theo Roos, danken wir für jahrelange intensive Bemühung um diesen Band. U m das Manuskript in seinen zahlreichen Fassungen haben sich Britta Borowy, Christel Jünemann und Line Wittel verdient gemacht. Obgleich sich die Herausgabe der hier edierten Texte auf relativ gut lesbare studentische Nachschriften stützt, war der Anteil an Entzifferungsarbeiten wegen der vielen Randnotizen, Einschübe und Korrekturen von Diltheys Hand besonders groß; Frau Irmgard Linke hat auch für diesen Band entscheidende Voraussetzungen für die Edition geschaffen und verdient unseren besonderen Dank 66 . Dr. Michael Albrecht und Dr. Helmut Johach haben im Zuge einer Bestandsaufnahme der für die Bände X I X und X X in Frage kommenden Manuskripte wertvolle Vorarbeiten bei deren Sichtung, Ordnung und Entzifferung geleistet. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat durch ihre stetige Unterstützung die Mitarbeit all der Genannten ermöglicht. Schließlich gilt unser Dank wie immer dem Zentralen Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR und der Handschriftenabteilung
der Nie der sächsischen Staats- und Universitätsbibliothek
Göttingen für die in
jahrelanger Zusammenarbeit bewährte Hilfe und für die Genehmigung zur Veröffentlichung der Texte. Bochum, Januar 1989
Hans-Ulrich Lessing Frithjof Rodi
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Dieser Dank verbindet sich mit dem Ausdruck der Trauer über den am 5. August 1989 erfolgten Tod von Irmgard Linke.
A. FRÜHE VORLESUNGEN ZUR LOGIK UND ZUM SYSTEM DER PHILOSOPHISCHEN WISSENSCHAFTEN (Berlin und Basel 1864-1868)
* Absolute und formale Logik. Der Anfang des ersten Logik-Kollegs [Einleitung] Meine Herren! Ich habe der Ankündigung meiner Vorlesung über Logik hinzugefügt: „mit besonderer Berücksichtigung der Geschichte und Methode der einzelnen Wissenschaften". Ich würde mich des unsterblichen Ausdrucks von Fichte bedient und diese Vorlesung Wissenschaftslehre genannt haben, wenn an diesen Namen nicht bestimmte historische Erinnerungen, und damit falsche Nebenbegriffe geknüpft wären. Aber in seinem wahren Verstände begriffen, welchen freilich auch Fichte noch nicht ganz entwickelt hat, deutet dieser Name bereits auf die richtige Definition der Logik. Logik ist Theorie der Wissenschaft, Theorie des wissenschaftlichen Erkennens. Eine vollkommene, vollkommen begründete und eingesehene Definition bildet den Schluß einer Wissenschaft. Wo nun aber [um] das Objekt derselben Streit ist und daher das Bedürfnis hervortritt, von vornherein dasselbe einigermaßen zu umgrenzen, da ist eine vorläufige Beschreibung unvermeidlich. Das ist der Fall der Logik. Ich bestimme demnach vorläufig die Aufgabe derselben, wie sie mir der gegenwärtige Zustand der Wissenschaften zu gebieten scheint. Logik ist die Theorie des menschlichen Erkennens, welche die intellektuellen Prozesse des Geistes von der Wahrnehmung ab bis zu der Induktion und dem Syllogismus und die auf diese Prozesse vom wissenschaftserfindenden Geiste gegründete Methoden der Wissenschaften behandelt. Die Natur dieser Behandlung besteht darin, daß sie durch Analyse erklärt und in ihrer Bedeutung für unsere letzte Aufgabe, uns des gesamten Zusammenhangs der natürlichen und geistigen Welt für Theorie und Praxis zu bemächtigen, würdigt. Diese Be-
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Frühe Vorlesungen zur Logik (1864-1868)
Schreibung der Aufgabe unserer Wissenschaft kann erst im Verlauf meiner Ausführungen selbst zu einer Definition führen, aber dann kann sie auch zu einer ganz strengen und einfachen Definition zusammengezogen werden. Der Stoff der Logik liegt somit in der Gesamtheit aller Wissenschaften, nach den in ihnen waltenden intellektuellen Prozessen und Methoden angesehen. Indem damit die logische Untersuchung aus der bloßen Reflexion über die logischen Vorgänge im eigenen Innern, die ewige Mikroskopie der formalen Logiker, zu diesem umfassenden Gegenstande sich erhebt: gewinnt sie für den Fortschritt der Wissenschaften eine ungemeine Bedeutung. Sie tritt unter die fruchtbarsten modernen Wissenschaften. So hat sie, kaum zwei Dezennien in diesem Sinne behandelt, bereits in England und Frankreich durch die Arbeiten von Herschel, John Stuart Mill, Whewell, Comte eine ungemeine Bewegung hervorgerufen. Männer wie der große Historiker Grote in England bekennen, ihr das Beste zu verdanken; in Deutschland haben sich Liebig und Schleiden ähnlich ausgesprochen. Diese Logik ist, nach der freilich noch viel eingreifenderen festen Grundlegung der Psychologie, die nächste Schöpfung jenes modernen philosophischen Geistes, der sich in einer merkwürdigen Ubereinstimmung gleichzeitig in Deutschland, Frankreich und England erhoben hat. In diesem Geiste beabsichtige ich Ihnen die Logik vorzutragen. Obwohl einer so grenzenlosen Aufgabe gegenüber das bisher Geleistete noch in den Anfängen ist, [ist], was der einzelne hinzuzufügen vermag durch menschliche Leistungsfähigkeit eng begrenzt. Aber abgesehen von der weit kräftigeren Anregung, welche die Mitteilung einer in vollem Voranstreben begriffenen Wissenschaft Ihnen gewähren muß: gerade für die Universitätsstudien erscheint mir die Logik, in ihrem wahren Verstände als Theorie des wissenschaftlichen Erkennens und seiner Methoden genommen, von besonderer Fruchtbarkeit. Nach einem der gewöhnlichen Ansichten entgegengesetzten [ . . . ] von Ihnen einzusehenden Gesetz ist der Grad der Fruchtbarkeit von Wissenschaften für das Leben ausschließlich abhängig von ihrer rein wissenschaftlichen Vollendung, durchaus nicht von der Natur ihres Gegenstandes. Wissen ist Macht. Genauso weit als wir einen Kreis in der Natur oder geistigen Welt Gesetzen unterwerfen, erhalten wir auch die Macht, durch diese Gesetze Vorgänge der inneren oder äußeren Welt mit bewußter Kunst zu leiten. Die Logik ergreift die kühne Aufgabe, die Fortschritte des wissenschaftlichen Geistes, soweit diese von den Methoden abhängig sind, zu leiten. Sie erörtert, wie die Methoden sich bildeten und welche Tragweite sie besitzen; sie vergleicht dieselben. Besonders indem sie die in ihrer Vollendung sehr weit gediehenen Methoden der Naturwissenschaften mit denen vergleicht, welche in Theologie, Geschichte, Philologie und Jurisprudenz angewandt worden sind, trifft sie die Lebensfragen dieser Wissenschaften. Hierauf, auf das Verhältnis der histori-
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sehen, philologischen und theologischen Methoden zu den von den Naturwissenschaften ausgebildeten werde ich durch diese ganzen Vorlesungen hindurch Ihre Aufmerksamkeit richten. Sehr selten wird diese Methode in den Einzelwissenschaften behandelt. Nie kann sie im Verhältnis zu der ganzen Aufgabe menschlicher Erkenntnis [besser] begriffen werden als in der Logik. Indem Sie also in beständiger Gefahr sind, sich nicht nur in Ihre Einzeldisziplin, sondern in den bloßen Stoff, die rudis indigestaque moles 1 desselben zu verlieren: soll aus der Logik gewissermaßen Ihnen ein wissenschaftliches Selbstbewußtsein entspringen, ein Bewußtsein über dies Ihr gegenwärtiges Tun und Ihre eigentliche Aufgabe. Diese Bewußtheit wird Ihnen zunächst ungemein viel Kraft und Zeit ersparen, die sonst in einem unmethodischen Arbeiten beinahe nutzlos verschwendet wird. Sie wird ihnen aber auch den idealen Zusammenhang mit der großen Aufgabe menschlichen Erkennens und dem Ganzen der aus diesem Triebe erwachsenen wissenschaftlichen Wahrheiten erhalten, diesem Ganzen entdeckter Wahrheiten, welches allein, in dieser Welt beständiger Ebbe und Flut gleicher Fluktuation, ganz gleichmäßig darüber hin voranschreitet, ewig jung, ewig wachsend, unsterblich. Die Taten der Menschen erzeugen nur zeitweilige Güter und zeitweilige Übel; aber die Entdeckungen des wissenschaftlichen Geistes verlassen uns nie; sie fließen fort in einem ewigen unsterblichen Strom. Wie sie wachsen, bestimmen sie immer mächtiger und ausschließlicher auch die bisher von ihnen unabhängigen Ereignisse und Gewalten in der physischen und moralischen Welt. Dieser ruhelos und unendlich voranschreitende wissenschaftliche Geist, die intellektuellen Prozesse, auf denen er beruht, die Methoden, durch welche er sich der physischen und geistigen Welt bemächtigt: er ist der Gegenstand der echt wissenschaftlichen Logik. Ich habe vorläufig das Objekt der Logik bezeichnet und begrenzt in seinen allgemeinsten Umrissen. Es handelt sich nun darum, diese Begrenzung zu begründen. Zwei andre Bestimmungen stehen ihr gegenüber, die der formalen Logik und die der Logik Hegels. Wir bestimmen den Gegenstand der Logik gewissermaßen durch einen disjunktiven Schluß, indem wir nachweisen, daß weder das Wesen der Dinge selber, wie die Logik Hegels annimmt, noch das bloße Denken in seinen von allem Gegenstand abgelöst gedachten Formen, wie die formale Logik behauptet, diesen Gegenstand ausmacht. Es ist aber dabei die Tragweite eines disjunktiven Schlusses dieser Art nicht zu überschätzen. Hier kann er nur dazu dienen, zwei bisher herrschende Möglichkeiten auszuschalten und so einen wiewohl nach seinem Inhalt noch unbestimmt gedachten Umkreis abzugrenzen. Demnach würden die Widerlegungen der Bestimmungen Hegels und der formalen Logiker über Objekt und Methode der Logik uns in den beiden ersten Vorlesungen beschäftigen. Ich habe das deutlichste Bewußtsein davon,
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wie schwierig und ohne greifbare Anwendung diese beiden abstrakten Untersuchungen für diejenigen sind, welche mit dem Studium der Philosophie beginnen. Ich muß Sie bitten, die Anstrengung, welche ich für diese beiden Vorlesungen von Ihnen fordre, als ein Opfer zu betrachten, welches Sie meinem methodischen Gewissen bringen. Denn erst auf der Grundlage dieser Untersuchungen dürfen wir dann die Geschichte der Logik und ihren wahren Gesichtspunkt behandeln, als eine Geschichte des fortschreitenden wissenschaftlichen Geistes, seiner wissenschaftlichen Methoden und der logischen Reflexion über dieselben.
< D a s erste Kapitel behandelt demnach: Gegenstand und Methode der Logik. §1. Die Logik Hegels 2 Die formale Logik sagt: Mein Objekt ist das von seinen Gegenständen losgelöst behandelte Denken. Indem ich von jedem möglichen Gegenstande meines Denkens abstrahiere, wie der Mathematiker von dem Gewicht oder der Farbe usw. der Dinge im Raum abstrahiert: erhalte ich die reinen Formen des Denkens: den Begriff, das Urteil, den Schluß. Logik ist Kunstlehre des Denkens, d. h. Analyse dieser Formen, damit das Denken sie bewußt und sicher bilde. Die Logik als Theorie des Erkennens sagt: Mein Objekt ist das Denken, welches in dem Universum der Wissenschaften seine Wirklichkeit hat, wie es in diesen zugrundeliegenden Prozessen und den von dem erfindenden wissenschaftlichen Geiste darauf begründeten Methoden sich des Zusammenhanges der Erscheinungen, ihrer Gesetze und ihres einmütigen Sinnes zu bemächtigen strebt.> Die absolute Logik sagt: Mein Objekt ist das Denken, welches von vornherein mit dem Wesen der Dinge einmütig, ja mit ihm identisch ist. Es ist nicht das Ziel meiner Arbeit und der Arbeit des voranschreitenden wissenschaftlichen Geistes, mich dem innersten Kern der uns erscheinenden Welt zu nähern: von vornherein, kraft meiner Natur, bin ich mit ihm ganz eins. Meine Gedankenentwicklung ist die Entwicklung der Sache selber. Denn die Vernunft, deren Entwicklung die Welt ist, wird sich in mir dieser ihrer Entwicklung bewußt. Sie wird in mir nachgedacht. Und zwar in mir als reinem, d. h. gar nicht auf Erfahrung ruhenden, völlig erfahrungslosem Denken. Dies reine Denken ist an und für sich mit dem Wesen der Dinge identisch. Indem es sich in einem System von Begriffen aus sich selber herausentwickelt, entwickelt es die Vernunft der Welt.
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Diese absolute Logik ist somit Identitätsphilosophie, da die Entwicklung des reinen Denkens und die Entwicklung des Wesens der Dinge, Denken und Sein, für sie identisch sind. Ihr Objekt somit ist nicht das Denken allein, auch nicht das menschliche Denken in seiner voranschreitenden Vertiefung in den Zusammenhang der Dinge, sondern das mit dem Wesen der Dinge an sich und von vornherein einmütige Denken. Der szientifische Begründer dieser Identitätsphilosophie ist Hegel. Hätte diese absolute Logik recht, so wäre unser Unternehmen eitel, durch vorsichtige Untersuchung der logischen Prozesse und der verschiedenen auf sie gegründeten erfindenden Methoden, welche in den verschiedenen Wissenschaften herrschen, jenen Fortgang des wissenschaftlichen Geistes zu verstehen und zu leiten, in welchem er sich dem Kern der Dinge nähert. Ein Denken tritt uns gegenüber, welches mitten in diesem Kern der Dinge von vornherein steht, eine Methode, welche ohne alle Hilfsmittel der Erfahrungswissenschaften, durch ihre eigene Bewegung die Entwicklung der Sache selber ausdrückt. Die Ansprüche dieser Methoden müssen widerlegt werden, wenn wir nicht in unsrem Unternehmen zwar nicht etwas völlig Eitles, aber doch etwas Untergeordnetes zu tun glauben sollen. Auch uns beseelt der Idealismus, dem Wesen und Kern der Dinge so nahe als möglich zu kommen; aber eben als der intellektuellen Organisation der Menschen möglich. Nie, in der ganzen Geschichte des menschlichen Denkens, ist ein gleicher Anspruch erhoben; nie ein gleiches Versprechen gegeben worden. Unser menschliches Denken wird zum Göttlichen erhoben. Die Logik - sagt Hegel ist das Reich des reinen Gedankens; dieses Reich ist die Wahrheit, wie sie ohne Hülle an und für sich selbst ist. „Der Inhalt der Logik" - abermals seine Worte - „ist die Vorstellung Gottes wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist." 3 Nie aber auch in der ganzen Geschichte des menschlichen Denkens hat die Philosophie eine tiefere Niederlage erlitten, als durch den logischen Hochmut dieses Systems. Wenn die Erfahrungswissenschaften Dezennien hindurch die Philosophie perhorresziert haben, wenn die Philosophie im Leben der Nation eine lange Zeit hindurch, welche nun endlich abzulaufen beginnt, die Bedeutung für den Fortgang der Wissenschaften verlor, welche ihr zukommt: so hat der Konflikt zwischen diesem logischen Hochmut und dem berechtigten Selbstgefühl der Erfahrungswissenschaften, zwischen den unfruchtbaren Allgemeinbegriffen dieser Philosophie und der fruchtbaren Genauigkeit der Methoden in den Erfahrungswissenschaften dieses Urteil über die Philosophie verschuldet. In dieser Lage der Hegeischen Philosophie gegenüber der europäischen Wissenschaft liegt das objektive Urteil der Geschichte über sie. In diesen Augenblicken gehört ihr kein positiver Forscher von Bedeutung mehr an oder bedient sich des gepriese-
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nen Hilfsmittels ihrer Methode. Auch diejenigen Forscher, welche am Leitfaden desselben zuerst ihre Untersuchungen begannen, wie Zeller, Kuno Fischer, Baur, Strauß, haben diese Methode fallengelassen. Die Bedeutung dieser Philosophie für den Fortgang der Wissenschaften ist damit zu Ende. Ihre Stellung ist nur noch in den Schulen. Es ist daher heute möglich, mit ruhiger U n parteilichkeit ihre vergangene Bedeutung zu würdigen. An mehreren Stellen dieser Vorlesung werden wir den Einfluß dieser Methode auf die theologischen und historischen Wissenschaften untersuchen. Gegenwärtig sind die Bestimmungen zu prüfen, durch welche sie Objekt und Methode der Logik umzugestalten unternommen hat. Wir prüfen diese Bestimmung ganz unparteiisch, indem wir versuchen, sie in ihrem Motiv zu begreifen. Denn erst aus den Motiven eines Systems wird seine Macht über die Gemüter verstanden. Die beiden Darstellungen der absoluten Logik in dem zweibändigen System der Logik und in dem ersten Bande der Enzyklopädie sind beide von einem leidenschaftlichen Gegensatz gegen die Erkenntnistheorie der kritischen Philosophie durchzogen. Ich entwickle den Hauptgedanken ihrer Polemik. Die kritische Philosophie will die menschliche Erkenntnis erklären. Ich erkläre die Erkenntnis, indem ich sie in ihre Elemente zerlege. Wieweit ich auch diese Zerlegung fortsetze: ich treffe immer auf den Stoff der Wahrnehmung auf der einen, die Form derselben auf der anderen Seite. Diese Form sowohl der Anschauung als des gedachten Zusammenhangs stammt aus dem Geiste. Sie ist somit subjektiv. Was wir daher anschauen und begreifen, sind nur Erscheinungen, d. h. der im formenden Geiste gestaltete Stoff: Das Ding an sich, d. h. die Erscheinungswelt, sofern diese subjektive Formung im anschauenden und begreifenden Geiste weggedacht wird, ist unerkennbar. In dem Gegensatz somit zwischen der subjektiven Erscheinungswelt und dem unerkennbaren Ding an sich zerreibt sich der Drang der Erkenntnis. Was bleibt, wenn diese Erscheinungen in die Erkenntnis fallen, aber nicht das Ding an sich? Diese Erkenntnis, sagte Hegel, ist „wie wenn einem Manne richtige Einsicht beigemessen würde, mit dem Zusatz, daß er jedoch nichts Wahres, sondern nur Unwahres einzusehen fähig sei. So ungereimt das Letztere wäre, so ungereimt ist eine wahre Erkenntnis, die den Gegenstand nicht erkennte, wie er an sich ist." 4 Wir resümieren: Die Kritik der Formen des Verstandes durch die kritischen Philosophen hat das Resultat, daß diese Formen keine Anwendung auf das Ding an sich haben. Dies kann aber keinen andren Sinn haben, als daß diese Formen an ihnen selbst etwas Unwahres sind 5 . Die Kritik, indem sie das Wesen der Dinge und die subjektiven Erkenntnisformen als einander völlig heterogen auffaßte: hat sonach dem Trieb des Erkennens sein Ziel genommen. Denn eben dieses Ding an sich, die wahre Natur des den Erscheinungen Zugrundeliegenden, ist dieses Ziel.
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Die Voraussetzung, welche zu dieser Selbstverneinung des Denkens führt, muß aufgehoben werden. Die Begriffe, durch welche wir die Erscheinungen verknüpfen, sind nicht subjektiv, dem Ding an sich heterogen, sie sind mit diesem Dinge an sich, dem Wesen der Dinge identisch. Die Voraussetzung des begreifenden Geistes ist die Identität der Begriffe und des zu begreifenden Wesens der Dinge. Wir entwickeln das Wesen der Dinge, indem wir die Begriffe aus dem reinen Denken entwickeln. Es ist ein kategorischer Geist, der aus diesem Schlüsse spricht. Das Wesen der Dinge muß begriffen werden. Die Voraussetzung dieser Aufgabe ist, daß es eins mit dem begreifenden Geiste und seinen Begriffen sei. Die Macht des Hegelschen Denkens liegt in diesem Wuchtigen, Gediegenen, das ohne viel U m schweife auf den Kern, die Sache losgeht. Untersuchung der Mittel der Erkenntnis, bevor diese sich mit dem Wesen der Dinge beschäftigen, nennen wir ein Schwimmen auf dem Lande. Wie beurteilen wir diese Gedankenreihe Hegels, welche das Motiv seiner Lehre der Identität von Denken und Sein bildet? Es ist eine unzweifelhaft richtige leitende Maxime der Forschung, daß das Netz der Begriffe und die Dinge, welche gewissermaßen in seine Maschen fallen, einander nicht total heterogen sein können. Es ist dieselbe Naturordnung, welche beide umschließt. Die ganze Aufgabe der Logik ist nun, an der Hand dieser leitenden Maxime die Methoden zu prüfen in bezug auf ihre Kraft, sich dem Wesen der Dinge von irgendeiner Seite zu nähern. Aber die Logik Hegels verwandelt ohne weiteres diese leitende Maxime in ein Prinzip. Diese Identität, das Ziel, welchem die Geschichte der Wissenschaften in ungeheuren Epochen doch unsäglich langsam entgegenstrebt, ist ihr von vornherein in der glücklichen Natur des philosophischen Denkens gegeben. Dieses Denken ist an sich mit dem Wesen der Dinge eins. I. Diesem Prinzip stellt sich die wirkliche Natur des menschlichen Denkens gegenüber. Es ist leicht, die Diskrepanz zu zeigen, welche zwischen der Entwicklung des reinen Denkens in einem System von Begriffen und der Entwicklung des Wesens der Dinge besteht. Und zwar sowohl in bezug auf den Gang der Entwicklung als auf die Begriffe, in welchen dieser Gang sich vollzieht. Der Gang, welchen die Entwicklung unseres Denkens nimmt, ist nicht notwendig einmütig mit dem, welchen die Sache nimmt. Dazu müßte dieses Denken im Mittelpunkte der Welt stehn und die Gesamtheit der Wirklichkeit in den wahren Abhängigkeitsverhältnissen ihrer Teile in einem Blicke überschauen. Anstatt dessen findet sich unser Denken abgeleiteten Eigenschaften der Dinge eher gegenüber als ihrem Wesen, den Folgen oft näher als ihren Gründen. Demgemäß entstehen unserem Denken eine Menge von notwendi-
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gen Verrichtungen des Unterscheidens, des Zusammensetzens, des Beziehens, welche doch aber alle nur vorbereitende formale Mittel der Erkenntnis sind. Ihre Reihenfolge entspricht nicht dem inneren Vorgang in dem Gegenstande, sondern der Stellung des Anschauenden zu demselben. An die Stelle dieses wirklichen Verhältnisses des Denkens zu dem Ding setzt die absolute Logik eine Fiktion. Ebenso sind auch die Begriffe, in welchen sich die Dialektik des reinen Denkens vollzieht, keineswegs streng und genau mit den Bestimmungen identisch, in welchen sich das Wesen der Dinge entwickelt. So erblickt die Logik Hegels Urteile und Schlüsse in der Natur und ihren Prozessen. Nicht ein Prozeß des Denkens sind Urteil und Schluß, sondern ein Prozeß in dem Wesen der Dinge. Wir erkennen hier gern das geistreiche Wortspiel an. Die Identitätsphilosophie ist die wahre Heimat des beständigen Spiels mit Analogien, da die Vertauschung der Vorgänge im Denken und der Vorgänge im Sein beständig von ihr gehandhabt werden. Bei den untergeordneten Schülern H e gels sinkt diese Natur seines Denkens zu einer wahren Taschenspielerei, welche mit Hilfe von schlechten Wortetymologien, figürlichen Ausdrücken, logischen Verrenkungen der Begriffe und von ähnlichem Apparat das Unmögliche ermöglicht. D e r tiefe Sinn Hegels für Realität und seine echte Gelehrsamkeit bewahren ihn vor solchen Exzessen. Aber wenn, nach dem von uns angeführten Beispiele, Urteile und Schlüsse in der Natur und ihren Prozessen gesehen werden, so bleibt das eben eine Vertauschung, die Verwechselung einer geistvollen Analogie mit strenger Identität des Vorgangs im Denken und des Vorganges in der Natur. Die Analogie liegt bei dem Schlüsse darin, daß in ihm, sowohl als in der Natur eine Vermittlung des Allgemeinen mit dem Besonderen gefunden werden kann. Das Besondere in der Natur ist abhängig vom Allgemeinen: Diesen Gedanken würden wir zwar auch für keinen strengen Ausdruck des Sachverhalts halten; wir gehen indes hier auf die Analyse desselben nicht ein. Besteht nun aber der logische Schluß in dieser Abhängigkeit des Besonderen vom Allgemeinen? Vielmehr in der Bewegung des Gedankens besteht er, welcher diese Abhängigkeit reproduziert. Diese, im Gegensatz zur bloßen Ideenassoziation, welche ja ebenfalls das Allgemeine und das Besondere aneinanderbringt, macht das Wesen des Schlusses aus. Dies Wesen also ist nur in dem menschlichen Geiste, nur aus dessen besonderer Organisation zu erklären; es ist in dem Wesen der Dinge nur durch eine gewaltsame Umdeutung und Vermischung des spekulativen Denkens.
II. So fallen die Entwicklung des Seins und die des Denkens, die Bestimmungen der Sache und die vom reinen Denken erzeugten Kategorien wieder völlig auseinander. Der Machtspruch von ihrer Identität unterliegt der stärkeren Gewalt ihres realen Verhältnisses. Und nun zeigt sich erst das Problem des
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wissenschaftlichen Erkennens wieder, wie es aus diesem realen Verhältnisse unserer wahrnehmenden und erkennenden Funktionen zu ihrem Gegenstande entspringt, ein Problem, welches der kategorische Ausspruch der Identität nur verdeckt, nicht löst. Denn soll dies Problem auch nur deutlich gesehen werden, so muß zunächst die spezifische Differenz zwischen Denken und Sein, die jetzt nota specifica eines jeden von beiden, durch welche sie, welche auch ihre Beziehung sei, allererst zwei sind, erblickt werden. Von ihr aus kann erst das Verhältnis beider zueinander, die Art des Ubergangs zwischen ihnen erklärt werden. Dann erst zeigt sich, wie schwierig dies Verhältnis zu fassen, wie vielfach die Arten des Ubergangs sind, durch welche unser Erkennen sich des Seins zu bemächtigen sucht. Die reale Welt der wirklichen wissenschaftlichen Methoden tut sich auf. Wie Hegel das Verhältnis dieser Methoden zu seinem eigenen Denken, ich sage nicht vernachlässigt hat, sondern nach der Natur seines Systems wissenschaftlich zu untersuchen ganz außerstande war: dies ist derjenige schwache Punkt seines Systems, welcher auch für das philosophisch ungebildete Bewußtsein, das die Unhaltbarkeit des Systems der absoluten L o gik selber nicht streng einzusehen vermag, unbedingt gegen ihn entschieden hat. Dies System, welches mit solcher Wucht auf die Einheit der Weltanschauung dringt, welches mit solchem Pathos diese Einheit genießt, statuiert in dem menschlichen Geiste einen völlig ununtersuchten und völlig unauflösbaren Dualismus. Dies System des reinen Gedankens und die Wissenschaften der Erfahrung stehen in dem menschlichen Geiste nebeneinander, ohne daß ihr Verhältnis erklärt würde. III. Wir fragen dennoch: Wie verhalten sich die Erfahrungswissenschaften zu dem reinen Denken der absoluten Logik? Die Erfahrungswissenschaften mit ihrem mächtigen Inhalte sind eine unbestrittene Tatsache, eine Macht, mit welcher sich jede neue auftretende Methode auseinandersetzen muß. Sollen nun die dialektische Methode und die Erfahrungswissenschaften nebeneinander jede für sich ablaufen und am Ziele sich begegnen? Es ist nicht einzusehen, wozu dann der menschliche Geist zwei Wege suchte, nach demselben Ziel; am wenigsten einzusehen, warum er nicht jenen mühsamen Weg der allmählich wachsenden Erfahrung, der durch Jahrtausende sich hindurchwindet, fahren ließe. Diese ganze Schwierigkeit aber bei Seite gelassen, enthält die Stellung des reinen Denkens zu den Erfahrungswissenschaften folgendes unentrinnbare Dilemma. Entweder die Dialektik gesteht, daß sie in den Erfahrungswissenschaften ihre Voraussetzung hat. Sie behauptet nicht, ohne Erfahrung, ohne vorausgewonnene Resultate der einzelnen Wissenschaften, gewissermaßen prophetisch aus sich zu schöpfen; sie bedarf derselben. Ein Teil der Schüler Hegels hat die-
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ses Zugeständnis gemacht. Die dialektische Entwicklung, durch welche ein Begriff aus dem andren und dem in ihm verborgenen Widerspruch sich entwickelt, geschieht auf der Grundlage der einzelnen die menschliche Erfahrung umfassenden Wissenschaften. Daraus folgt, daß die dialektische Methode von den Methoden der andern Wissenschaften abhängig ist. Denn setzt die Logik die Resultate der einzelnen Wissenschaften voraus, so setzt sie auch die Methode voraus, durch welche diese Resultate gewonnen wurden. Von der Richtigkeit dieser Methoden ist sie in der Richtigkeit ihres eigenen Denkens abhängig. Will sie nicht völlig unkritisch sein, so muß sie diese Methode prüfen. Daraus folgt, daß die Prüfung der Methoden der einzelnen Wissenschaften die wissenschaftliche Grundlage für das reine Denken selber ist. Die Theorie des wissenschaftlichen Erkennens, wie wir sie in der Vorlesung versuchen, ist der unentbehrliche Unterbau für das luftige Gebäude einer Logik des reinen Denkens. Diese Logik selber wird zu einer höheren Empirie, welche aus den einzelnen Erfahrungen die Harmonie des Ganzen herzustellen bemüht ist. Diese Voraussetzung demnach, daß sich die absolute Logik der Erfahrungswissenschaften bediene, ein Zugeständnis, welches die Einsicht in die wahre Entstehung der Kategorien und ihrer Reihenfolge [ermöglichte] 6 , würde den Bestand der absoluten Logik selber aufheben. Sie würde sich selber vernichten, wenn sie der Erfahrung Eingang in ihre Dialektik gestattete. Sie verfällt also der andren Seite des Dilemmas. Die andre Möglichkeit war: Die dialektische Entwicklung ist unabhängig und nur aus sich selber bestimmt. Dann muß sie in der Tat alles aus sich wissen. Sie erkläre demgemäß die Tatsache, daß ihr Wissen nur so weit reicht als die Erfahrung, daß sie bisher weder irgendeinen Punkt der künftigen geschichtlichen Entwicklung vorauszusagen im Stande war, noch auch nur einen Schritt über die von der Naturwissenschaft gegebene Erklärung hinauszugehen vermochte. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall: Ihre geschichtlichen und naturphilosophischen Entwicklungen zeigen bereits heute gegenüber den Resultaten der exakten Methode überall Widersprüche. Der auffallendste Fall dieser Art ist bekannt. Hegel demonstrierte in seiner lateinischen Abhandlung über die Planetenbewegung, in einer Anmerkung, eine Lücke im astronomischen System aus der Idee 7 , und bald darauf entdeckte das Fernglas in dieser Lücke die Ceres. Schleiden hat an diesem Punkte die absolute Logik eingehend widerlegt; er hat gezeigt, daß die absolute Logik, wo sie irgendeinen eigenen Weg anschlägt, in die Irre geht 8 . IV. Man braucht auch nur auf die Natur der Begriffe einzugehen, um die ungeheuren Geburten eines Begriffs aus dem andren als ein Märchen zu erkennen. Der Begriff als solcher hat überhaupt keine Bewegung: er ist nicht An-
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fang, sondern Ende. Nachdem er aus den besondren Vorstellungen gebildet ist, haben wir zunächst hierin volle Befriedigung. Soll es nun bei dieser Befriedigung in dem erreichten Begriff nicht bleiben, so muß etwas Neues hinzutreten. N u r durch das Hinzutreten ähnlicher und entgegengesetzter Begriffe entsteht ein neuer, von dem ersten verschiedener. Daß aber der abstraktere Begriff den konkreteren erzeugen solle: widerspricht geradezu der Natur der Dinge. Denn das Produkt kann nicht mehr enthalten, als was die Faktoren hineingeben. Wir haben das Motiv der absoluten Logik in dem Gegenüber der kritischen Philosophie von Hegels gediegenem, dem Kern der Dinge zustrebenden Geiste sich erhebenden Bedürfnis entdeckt, das Wesen der Dinge zu begreifen. Indem ich unternehme, das Wesen der Dinge zu begreifen, habe ich zur Voraussetzung dieses Unternehmens die Einmütigkeit zwischen diesem Wesen der Dinge und den Begriffen meines begreifenden Geistes. Wir sahen aber, daß diese Voraussetzung nur den Wert einer leitenden Maxime der logischen Untersuchung, nicht den eines Prinzips des logischen Systems hat. Vielmehr erweist sich weder der Gang unsres Denkens mit der Entwicklung der Sache, noch der aus dem reinen Denken geschöpfte Begriff mit dem Wesen der Dinge als identisch. Der Gang unsres Denkens nicht mit der Entwicklung der Sache: denn unser Denken, nach seiner Lage außerhalb des Mittelpunktes der Dinge, schreitet in vielfachen ganz subjektiven Operationen von den Eigenschaften zu der Substanz, von den Folgen zu ihren Gründen voran. Der aus dem reinen Denken geschöpfte Begriff [deckt sich] nicht mit dem Wesen der Dinge: denn wenn wir sagen, daß die Dinge urteilen und schließen, daß das Planetensystem oder der Staat ein Schluß sei, so sprechen wir nur eine mehr oder weniger tiefe Analogie aus, wir begreifen damit nicht das Wesen der Dinge, von denen wir reden. Indem also diese Identität vorausgesetzt wird, so wird dadurch nur das wahre Problem der Logik verdeckt, nicht gelöst: die Beziehung des menschlichen Denkens zu der Welt der Gegenstände. Es wird dadurch nur ein Dualismus zwischen Erfahrungswissenschaften und reinem Denken geschaffen, nicht das Problem Kants gelöst, das metaphysische Denken und die Welt der Erfahrung miteinander zu versöhnen. Vielmehr steigert dieses System das Mißverhältnis zwischen der Erfahrung und dem metaphysischen Denken zu einem Widerspruch. Es kann weder gedacht werden, daß das reine Denken der Erfahrung bedarf, noch daß es ohne sie voranschreite. Nicht, daß es ihrer bedarf: denn sonst ruhte es auf der Gewißheit der Methoden, durch welche diese Erfahrung gewonnen ist, es ruhte somit auf einer fundamentaleren Wissenschaft, der Theorie der induktiven, d. h. erfahrenden Erkenntnis. Nicht, daß es ohne sie voranschreite: denn der Begriff, der ohne die Erfahrung blind ist, müßte hier den Anspruch erheben, aus sich selber alles zu wissen. Dieser Anspruch
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steht mit dem, was die absolute Logik wirklich weiß, im Widerspruch. Nicht weniger mit der Natur des Begriffs, welcher unfähig ist, aus sich selber einen zweiten Begriff, und zwar den konkreteren, zu erzeugen. Indem wir demnach das Prinzip der absoluten Logik, die Identität von Denken und Sein, für sich hier am Beginn der Logik einer Prüfung unterwerfen: erkennen wir den Widerspruch, in welchem es zu der Tatsache der Erfahrungswissenschaften, zu der Natur der Begriffe, zu der Natur der logischen Prozesse steht. Es gibt eine andere Art der Kritik, welche an dem durchgeführten System selber die Haltbarkeit des Prinzips und der Methode prüft. Diese Kritik beleuchtet den inneren Bau eines Systems; sie prüft nicht seine Grundlage an dem Verhältnis der Begriffe zu den Sachen, sondern an dem Verhältnis der Begriffe untereinander. In diesem unserem Falle fällt dieser Kritik zu, die dialektischen Ubergänge, durch welche Hegel die Reihenfolge der reinen Begriffe oder Kategorien gewinnt, zu prüfen. Wir untersuchten die Gültigkeit seines Prinzips und seiner Methode für sich, dieses Verfahren dagegen prüft Prinzip und Methode an ihrer Durchführung im System. Dieser Kritik hat Trendelenburg in seinen Logischen Untersuchungen 9 das System Hegels unterworfen. Er hat auf das überzeugendste dargetan, wie die Anschauung bei jedem Ubergang von einem Begriff zum andren herzueilt, wie sie in Wahrheit das synthetische Element ist, welches die Begriffe bewegt und fortgestaltet. An der Entwicklung der ersten Kategorien hat er jeden Versuch einer Korrektur Hegels geprüft und widerlegt. Diejenigen, welche sich über die Undurchführbarkeit des Prinzips der Identität an dem System selber überzeugen wollen, dürfen wir auf die zweite Auflage dieses Buches 1862 verweisen. Der Verlauf unserer Vorlesungen wird aber die wichtigsten Punkte, auf denen die Dialektik der Begriffe beruht, zu genauer Untersuchung bringen, vor allem die Natur der Negation, eines der schwierigsten logischen Probleme, und den Satz der Identität. Die Kritik des Prinzips der Identität und der auf dasselbe gegründeten dialektischen Methode vollzieht sich in der kritischen Erörterung über das Prinzip, welche wir angestellt haben, und in der Prüfung desselben an dem darauf gebauten Systeme selber, deren Hauptpunkte in der Geschichte der Logik, in der merkwürdigen Theorie der Negation und bei der Erörterung des Satzes der Identität, abgehandelt werden. Aber diese Kritik ist erst vollendet, wenn der Sinn des Systems erklärt ist. Wir haben nun das Motiv Denken und Sein in Hegels Geiste entsprang. Auch die thode, welche jenes Prinzip solchen Erklärung.
dargestellt, aus welchem der Satz der Identität von energischem, auf den Kern der Sachen gerichteten Dialektik der Begriffe, Hegels eigentümliche Meder Identität im Systeme durchführt, bedarf einer
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Man kann diese Methode auf ein Verfahren zurückführen, dessen sich das Denken nicht selten bedient. Ein Verfahren, welches auf die Aufklärung dunkler Vorstellungen gerichtet ist. Wir fangen an, über den Begriff des Absoluten nachzudenken. An diesem Anfang unseres Denkens ist der Begriff des Absoluten unbestimmt; wir wissen nicht, was es sei. Wenn wir nun aber von einem X nichts positiv sagen können, was es ist, so können wir doch sehr oft negieren, daß irgendeine Definition, die wir davon aufstellen, etwa A, richtig sei. Wir können also selber das Gemeinte nicht aussprechen; aber wir wissen genau, daß A das nicht ausdrückt, was wir unter X meinen. Wenden wir dies an auf unsren Fall. Wir wollen uns über den dunkel vorschwebenden Inhalt des Absoluten aufklären. Wir suchen zunächst ein Merkmal auf, das ihm zukomme. Wir sagen: Das Absolute ist Sein. Oder in unserer obigen Bezeichnung ausgedrückt: X ist = A. Entspricht nun aber das Gefundene völlig dem, was wir suchen? Wir fühlen, daß dies nicht der Fall ist und bemerken, worin dieser Mangel liegt. Wir fügen also eine diesem Mangel entgegengesetzte ergänzende Bestimmung B hinzu. Und so spinnt sich eine Reihe von Begriffen an, welche das nur Vorschwebende immer näher durch ergänzenden Gegensatz der schon gefundnen Begriffe auszudrükken suchen. Solange wir nun in jedem Falle genau angeben können, inwiefern A dem X nicht entspricht, inwiefern B den Mangel des A ergänzt; solange erscheint uns diese ganze Art der Überlegung als das, was sie wirklich ist, nämlich als ein subjektiver Gedankengang, durch den wir allmählich von einer ungenauen Erklärung eines X zu einer genauen und genügenden zu gelangen suchen. N u n geschieht es aber, und bei den schwierigen Gegenständen, welche diese höchsten Probleme der Philosophie behandeln am häufigsten, daß uns die Motive keineswegs völlig klar sind, aus denen uns eine gegebene Erklärung ungenügend erscheint. Wie ein Dichter durch unaussprechbare, nur gefühlte Obersätze getrieben wird, Charaktere und Situationen über einen bestimmten Punkt hinaus und in einer bestimmten Richtung weiterzuführen: so fühlen wir zwar lebhaft, ja mit innerem Drang, aber nicht deutlich, nicht analysierbar, daß eine gefundene Bezeichnung für den Inhalt irgendeiner Ahnung nicht genügt, sondern zu einer anderen übergegangen werden müsse. In solchem Falle nun scheint uns, eben weil wir uns der Motive des Fortschritts nicht bewußt sind, als geschehe derselbe überhaupt ohne unser Zutun. Nicht wir dennoch, die untersuchenden Subjekte, glauben A ungenügend zu finden; nicht wir fügen B hinzu und setzen von neuem A + B = X . Sondern X selber scheint durch eine innere Unruhe seines Wesens aus sich herauszugehen, zu A zu werden, auch in A keine Ruhe zu haben, sondern indem es A negiert zugleich in eine neue Form A + B überzugehen.
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Die drei Momente jener subjektiven Überlegung erscheinen daher jetzt als drei Momente einer objektiven Überlegung des Inhalts. Unsere Unzufriedenheit mit der ungenauen Erkenntnis desselben erscheint als ein eigener Vervollkommnungstrieb in diesem Inhalt. Diese dem Inhalte selber zugeschriebene Unruhe ist es nun, was Hegel unter dem Namen der immanenten Negativität als das Lebensprinzip in der Entwicklung sowohl des Absoluten als des Denkens bezeichnet, indem er behauptet, daß der Begriff aus sich selbst in sein Gegenteil umschlage (während er eigentlich von uns falsch definiert worden ist), denn dies Gegenteil negiere (was in der Tat wieder wir tun, indem wir die Irrigkeit der Definition einsehen), endlich durch diese doppelte Negation sich zugleich positiv eine neure höhere Gestalt gebe (was ebenfalls wir tun, indem wir nicht bloß das Falsche negieren, sondern eine positive Verbesserung hinzufügen). Die Dialektik Hegels ist somit nichts andres als die Gedankenbewegung, durch welche wir eine dunkle Vorstellung aufklären. Was uns befähigt fortzuschreiten, ist dies, daß das Ziel, zu dem wir kommen wollen, oder das Ideal des Absoluten, das wir meinen, uns bereits vorschwebt, obwohl dunkel und unaussprechlich. Dieser ganze Gehalt des Absoluten also, der erst am Ende entwickelt hervortritt, ist doch schon im Anfange latent vorhanden, und er allein ist die treibende Unruhe, die von Hegel sogenannte immanente Negativität, durch welche dieser Anfang aus sich herausstrebt und eine bestimmte Richtung des Fortschrittes einschlägt. Indem wir so die dialektische Methode erklären, entdecken wir ihren rein subjektiven Charakter. In der Subjektivität des Forschenden liegt, warum irgendeine Stufe nicht genügt und welches das Mittel ist, nicht bloß ihre Einseitigkeit zu negieren, sondern positiv das Bessere zu finden. Wenn in zwei völlig isolierten Köpfen diese immanente Dialektik sich vollzöge, selbst von demselben Begriffe aus: wie verschieden würde die Reihe der Begriffe sein, durch welche jede dieser beiden die Einseitigkeit des ersten Begriffs zu ergänzen bemüht wäre! Es wäre die tatsächliche Widerlegung eines Prinzips und einer Methode, welche die Erfahrungswissenschaften und die philosophische Kritik gleicherweise zurückweisen müssen. Das Wesen der Dinge ist nicht an sich einmütig mit dem Begriff, die Entwicklung desselben nicht an sich einmütig mit der Entwicklung des reinen Denkens, der dialektische Prozeß, in welchem sich diese Entwicklung des reinen Denkens vollziehen soll, ist nicht auf die Voraussetzung der Anschauung und des von einem Bilde des Absoluten bereits dunkel bewegten Gemüts. Das Prinzip Hegels löst sich vor uns auf, das menschliche Denken und die Welt der Gegenstände fallen wieder auseinander. Die Logik muß einen andren Ausgangspunkt suchen als in dieser vorausgesetzten Identität.
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§ [2.] Die gegenwärtige Lage der Logik und ihre Literatur 10 < D i e formale Logik bestimmt das Objekt der logischen Untersuchung mit besonderer Schärfe. Die metaphysische Untersuchung geht über die Akte unseres Denkens hinaus auf das Objekt; die Logik hat es mit unserem Denken zu tun; [...]> [1.] Die formale Logik Unter der Bezeichnung der formalen Logik faßt man eine ganze Richtung zusammen. Das Gemeinsame ist, daß die Form des Denkens, gesondert von dem Inhalte desselben, als Gegenstand der logischen Untersuchung aufgefaßt wird. Diese Richtung bildet somit den äußersten Gegensatz gegen die absolute Logik. Während diese Objekt und Subjekt als identisch faßte, bleibt die formale Logik nicht einmal bei der Absonderung des denkenden Subjektes stehen. Sie zerlegt diesen subjektiven Vorgang abermals nach seinem Inhalt und nach seiner Form. Die Untersuchung dieser vom lebendigen Erkennen abstrahierten Form des Denkens ist die formale Logik. Der Ursprung der formalen Logik liegt nicht in Aristoteles. Sie beruft sich mit Unrecht auf seine Autorität. Das Motiv, aus welchem dieselbe entsprang, war die Ansicht der Logik als einer Technik des Denkens, welche der Philosophie selber vorausginge. Wo diese Ansicht der Logik als einer schulmäßigen Technik herrscht, drängt sie dahin, alles dasjenige aus derselben auszuscheiden, wodurch sie mit dem philosophischen System selber zusammenhängt. Denn dieses System soll ja erst beginnen, nachdem die logische Übung vollendet ist, gewissermaßen soll die Arbeit nun erst ihren Anfang nehmen, nachdem das Werkzeug geschärft ist. Das war nicht der Gedanke des Aristoteles von der Stellung der Logik im Ganzen seiner philosophischen Wissenschaft. Die Logik des Aristoteles hat ihren Zweck in sich selbst und in ihrem eigenen Gegenstande, ganz in gleicher Weise wie die philologische Betrachtung der organischen Natur oder des menschlichen Ethos; ihre Prinzipien fallen ebenso wie die der übrigen Wissenschaften der JtQtbxr) cpiAooocpia anheim. Dementsprechend spricht er nirgends die Ansicht aus, die Formen des Denkens lediglich aus sich selber zu begreifen, wie [es] das Prinzip der formalen Logik ist. Vielmehr ist ihm die Wissenschaft durch den Gegenstand bedingt, die Betrachtung ihrer Form daher nicht von der des Inhaltes zu sondern. Der Gedanke einer solchen Sonderung ist modern und ihm völlig fremd. Als aber in Griechenland die Sektenphilosophie sich erhob und die rhetorischen Interessen den Ernst des philosophischen Denkens überwucherten, als die hellenische Virtuosität dialektischer Kunst über den Ernst der Probleme Herr wurde, da sank die große Schöpfung des Aristoteles, das Organon menschlichen Erkennens, zu
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einer Technik herab, welche in den Schulen der Rhetoren praktischen Zwecken dienstbar wurde. Da ward folgerichtig die Logik aus ihrem tieferen Zusammenhang mit Metaphysik und Psychologie losgelöst. Aber es ist unrichtig, von da ab die Entstehung der formalen Logik zu rechnen. Diese konnte erst mit vollem Bewußtsein in einer Philosophie durchgebildet werden, welche den Gegensatz von Form und Inhalt auf die menschliche Erkenntnis anwendet. Das geschah aber in der kritischen Philosophie Kants. Dieser demnach ist der Vollender des genauen Begriffs der formalen Logik und seiner genauen Durchführung.
Kants Lehrbuch ist die klassische Gestalt der formalen Logik. Er selbst hat es nicht herausgegeben. Er las nach dem Kompendium des von ihm sehr geschätzten Wolffianers Meier. Die handschriftlichen Anmerkungen und Erläuterungen, welche er zum Zwecke seiner Vorlesungen in sorgsamer Ausführung diesem Kompendium beifügte, hat Jäsche 1800 als Lehrbuch der Logik Kants herausgegeben 11 . Wir entwickeln den Grundgedanken der Logik in der Begründung, welche er in dieser Entwicklung Kants gefunden hat. folgendermaßen abgrenzen: 1) Urteile sind voneinander verschieden nach ihrer Stelle in dem Zusammenhang des Erkenntnisprozesses. Hieraus entsteht eine sehr große Mannigfaltigkeit von Urteilsunterschieden; 2) sind Urteile voneinander verschieden durch die Art der Beziehung, welche in denselben vollzogen sind; und 3) Urteile sind unterschieden voneinander nach dem Verhältnis des Bewußtseins zu den möglichen [?] Beziehungen™.
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§ 14. Verschiedenheit der Urteile nach ihrer Stellung im Erkenntniszusammenhang Wir beginnen zunächst beim Benennungsurteil: Dies ist eine Rose. Sie nehmen ein Existentialurteil: Es gibt böse Menschen. Das ist wieder eine ganz einfache Aussage über Tatsachen. Sokrates existierte. Daran schließt sich sodann ein Urteil, welches eine Wahrnehmung ausdrückt: Mir ist warm. Ein Urteil ferner, welches eine Vergleichung ausdrückt; dies ist nur eine Wahrnehmung zweiten Grades. Fassen wir diese Fälle näher ins Auge: Der einfachste Urteilsvorgang hat seinen Ausdruck im subjektlosen Satz. Das Wahrnehmungsurteil entwickelt sich als Zergliederungssatz, und Wahrnehmungen können miteinander verglichen werden; Gleichheit, Verschiedenheit, Grade werden ausgedrückt. Alle diese Klassen sind nun entweder singulare oder plurale und empirisch allgemeine Urteile. Hiervon unterscheiden sich nun die notwendigen. Sie bezeichnen keine bloße Summierung von Erfahrungen, sondern drücken Verhältnisse aus, die an jeder Stelle festgestellt werden können. Die notwendigen Urteile nennen wir, wenn sie unabhängig auftreten, Axiome; von diesen sind die Urteile unterschieden, welche in der Elementarwissenschaft liegen. Von Axiomen unterscheiden wir diejenigen Sätze, die die notwendige Bedingung für die Lösung einer notwendigen Aufgabe sind. N u n blicken Sie zurück! Da sehen wir ein Aufsteigen aus niederen zu höheren Stufen: Da haben wir erst ganz elementare Urteile, dann sehen wir Urteile von empirischer Allgemeinheit, weiter dann notwendige und allgemeine Sätze, dann Axiome und kommen schließlich zu den höchsten Axiomen: dem Satz der Identität und dem des Grundes. Sie haben hier die Glieder einer Entwicklung, die aufsteigt von dem Gegebenen; dann werden Wahrnehmungen verglichen usw. Ich komme zur zweiten Einteilung.
§ 15. Verschiedenheit der Urteile nach der Beziehung, in welcher Subjekt und Prädikat verknüpft sind Nach diesem Gesichtspunkt unterscheiden wir kategorische, hypothetische, disjunktive, allgemeine und besondere Urteile. Der eigentliche Mittelpunkt der Urteilslehre ist das kategorische Urteil. Das kategorische Urteil ist ein Urteil, in welchem von einem Subjekt ein Prädikat prädiziert wird; es sagt eine Zugehörigkeit, eine Realbeziehung aus, die zwischen S und P stattfindet, oder auch eine Beziehung, die als Verstandeshandlung zwischen S und P hergestellt werden kann. - Dagegen behauptet das hypothetische Urteil, daß zwei Hypothesen zueinander im Verhältnis von Grund
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und Folge stehen: Gilt A, so gilt B. Die Materie dieses Urteils bilden der Vordersatz und der Nachsatz. Die vom Urteile ausgehenden Beziehungen sind die der Konsequenz. D e m „ist" des kategorischen Urteils entspricht das „wenn so" des hypothetischen. Dies Urteil darf selbstverständlich nicht als zusammengesetztes aufgefaßt werden. Viele Logiker haben das hypothetische Urteil als aus einfachen Urteilen bestehend angenommen. Dies ist leicht widerlegbar, denn zwei einfache Urteile zusammengesetzt, geben noch kein hypothetisches. Aber damit ist die Sache nicht abgetan. Tatsächlich findet im hypothetischen Urteil zwischen zwei Sätzen, zwischen zwei - nicht Urteilen, sondern Hypothesen - eine Verbindung [statt]; tatsächlich haben wir es mit einer Zusammensetzung zu tun; es ist eine höhere Stufe. Das disjunktive Urteil besteht ebenfalls aus mehreren Sätzen: A ist entweder B oder C . Diese Formel ist zusammengesetzt. Entweder ist A =j= B oder A ist =(= C . < D i e s e Sätze bilden die Materie des Urteils. So entstehen verschiedene Formen: A ist entweder oder es ist n i c h t . > Das Urteil selbst ist die Herstellung der Beziehung zwischen den membra disjuncta. A :pB A :pC. Und diese Beziehung zwischen den Gliedern der Disjunktion bleibt immer der Hauptpunkt. Das disjunktive Urteil steht unter dem Satz des ausgeschlossenen Dritten; sonach kennt auch die Disjunktion eine logische Abhängigkeitsbeziehung. Daher würde die Einteilung in kategorische usw. Urteile auch durch eine Zweiteilung erreicht werden können. Sie sehen, wir haben es auch hier mit einer aufsteigenden Reihe zu tun; die elementare Form ist das kategorische U r teil. Und zwischen den elementaren kategorischen Urteilen werden Beziehungen hergestellt, mögen diese Beziehungen nun Disjunktion oder Folge sein. Und der menschliche Geist hat die Fähigkeit, immer kompliziertere Verhältnisse zu schaffen. - An dieser Stelle ist nun aber einer weiteren Urteilsunterscheidung zu gedenken; nämlich zwischen S und P besteht noch eine weitere Formverschiedenheit der Beziehungen; sie fließt aus dem Verhältnis der Sphäre von S und P : O b der ganze Umfang des S in das P fällt oder nur ein Teil des S, danach unterscheiden wir allgemeine und besondre (partikulare) Urteile. Diese Ausdrücke bezeichnen hier ganz andres wie vorhin.
§ 16. Verschiedenheit der Urteile nach Bejahung, Verneinung, Möglichkeit Verneinende und problematische Urteile haben nicht immer bejahende Urteile zur Voraussetzung, wohl aber immer eine vorschwebende Möglichkeit solcher bejahender Urteile. Wo der Zusammenhang eine Entscheidung über eine schwebende Frage nicht gestattet, entsteht diese Differenz; ihr Ausdruck ist das problematische Urteil. Sowohl das verneinende als das problematische
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Urteil setzt eine Beziehung zwischen S und P voraus. Insoweit sind sie noch Urteile. So sehen wir also erstlich, daß < d i e vier Klassen Kants nicht haltbar sind. Ferner ergibt sich, d a ß > in jeder Klasse eine Entwicklungsreihe auftritt. Und so gelangen wir zu dem Schluß, daß keineswegs die zwölf Funktionen wirkliche Unterschiede in den Bedingungen des Bewußtseins enthalten, vielmehr daß wir ein viel einfacheres Verhältnis vor uns haben. Jedoch wollte man nun sagen, das ist überhaupt die Funktion des Verstandes und die ganze Funktion des Verstandes, so wäre das ein voreiliger Schluß. So werden wir Kants zwölf Kategorien noch nicht los.
II. Der Begriff 231 § 17. Stellung des Begriffs im Denkzusammenhang Der Gegenstand der Logik ist der menschliche und geschichtliche Denkzusammenhang überhaupt. Die Entwicklung der logischen Formen, die ich hier vornehme, darf nur als eine Abstraktion aus diesem Zusammenhang angesehen werden. 1) Unter Begriff umfaßt die formale Logik zunächst das, was Element eines Urteils ist, Subjekt, Prädikat, ÖQ05, terminus. Der formalen Logik ist also jede Vorstellung, sofern sie diese Funktion erfüllt, ein Begriff. Die Anforderung, die der Denkzusammenhang an einen Begriff stellt, liegt in der Abgrenzung desselben von andern Vorstellungen und in der Auffassung der innern Beziehungen, welche innerhalb des Begriffes die Merkmale desselben bestimmen. In diesem Sinne gibt es auch einen Begriff der Erde, der Sonne usw. 2) Begriffe sind nun aber in einem engeren Sinne allgemeine Begriffe. So entsteht eine zweite Auffassung des Begriffs. Begriff ist dann die Repräsentation einer allgemeinen Vorstellung im Denkzusammenhang. Der Begriff drückt dann die Regel aus, nach welcher die Beziehung von Merkmalen in einer begrenzten Reihe von Fällen stattfindet. Die Fälle bilden dann den Umfang des Begriffs, die Merkmale den Inhalt. Von dem Begriff fordern die Denkgesetze Bestimmtheit, Klarheit, festes Verhältnis zur Wirklichkeit und feste Verbindung mit einem Wort selber. Zudem verlangt der Satz vom Grunde, daß der Begriff in festen Beziehungen zu andern Begriffen stehe. Endlich muß derselbe in der Wirklichkeit enthalten sein und dieselbe vertreten. - Ein einfacher Inhalt, den wir zur Auffassung bringen und ein Wort für denselben festlegen, kann nur aufgefaßt werden; eine Verbindung von den Inhalten in der Einzelvorstellung kann nur beschrieben werden. Die Prädikate der Urteile, welche
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ein gemeinsames Subjekt haben, werden als die Merkmale des Begriffs bezeichnet. Sie können einfache Inhalte haben oder Verbindungen von Inhalten. Die näheren Merkmale sind im Begriff gemäß der Verbindungsweise, deren das Bewußtsein fähig ist, miteinander verknüpft. Der Ausdruck derselben sind die Kategorien der Begriffe; also ist der Begriff nicht eine Summe von Merkmalen, sondern ihre Beziehungen. Er darf nicht als Produkt der Merkmale bezeichnet werden. Wir nennen die Darstellung des Inhalts des Begriffs seine Definition. Die einzelnen Tatsachen, welche einem Begriffe untergeordnet sind, bilden seinen Umfang. Der unvollkommene Begriff, welcher nur eine einzelne Tatsache zum Umfange hat, ist der Einzelbegriff. In der Regel beherrscht der Begriff eine bestimmte oder unbestimmte Vielheit von Tatsachen; wir nennen ihn dann den allgemeinen Begriff. Die Darstellung dieser Vielheiten kann durch eine Aufhäufung vollzogen werden, wenn die Zahl, die unter ihn fällt, eine geringe ist. H ö h e r ist die Form der Darstellung, welche wir Einteilung nennen. In ihr bemächtigen wir uns des Umfangs eines Begriffes, indem wir die verschiedenen Typen oder Klassen, welche unter ihn fallen, aufzählen. - Inhalt und Umfang eines Begriffes stehen zueinander im umgekehrten Verhältnis: Je weniger ein Begriff unter sich enthält, desto mehr enthält er in sich; und umgekehrt. Der Streit um die Geltung der Allgemeinbegriffe hat einen breiten Raum von Diskussion eingenommen. Der berühmte Gegensatz der realistischen Philosophie des Mittelalters und der nominalistischen tritt hier hervor. Es war im Grunde ein metaphysischer Streit, welcher die Logik nichts angeht. Denn es handelt sich um die Frage, ob dem Begriff etwas im Wesen der Dinge, das als Realität bestände, entspräche; entweder, daß man annahm, es entspräche ihnen eine Form der Natur, wie Aristoteles sagte, oder eine Idee, wie Piaton, oder es entspräche ihnen in der Gottheit eine Idealvorstellung, wie die Neuplatoniker annahmen. Alle diejenigen, welche solche Annahmen hatten, hießen Realisten; Nominalisten sind diejenigen, welche einen solchen metaphysischen Wert des Begriffs in Abrede stellen. Sie behaupten, der Begriff sei eine bloße Vertretung der einzelnen Exemplare. Sonach sind die Begriffe bloße Namen, sie repräsentieren etwas, nämlich eine Vielheit von Dingen.
§ 18. Der Inhalt des Begriffs und die Definition Die Darstellung des Inhalts eines Begriffes ist die Definition. Eine Definition ist nur bei denjenigen Begriffen möglich, welche einen Zusammenhang von Inhalten einschließen; Begriffe, in welchen ein einfacher Inhalt vorgestellt wird, werden in einfacher Anschauung vorgestellt, können aber nicht definiert
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werden. Singulares kann beschrieben werden, es kann aber nicht auf den Zusammenhang einer begrenzten Zahl von Inhalten zurückgeführt werden. Nehmen Sie die Sonne oder Europa, so können Sie diese Dinge beschreiben. Die Zahl der Merkmale ist bei der Bestimmung eines Singularen unbestimmt. In diesem Sinne ist es fraglich, ob man von einer Definition der Erde sprechen kann. Das eigentliche Gebiet der Definition ist der Begriff, der die wissenschaftliche Repräsentation einer allgemeinen Vorstellung ist. Die Prädikate eines solchen Begriffs bezeichnen wir als Merkmale. Diejenigen Merkmale, durch die ein Begriff zureichend bestimmt werden kann, nennen wir die wesentlichen Merkmale, die essentiellen. Die Unterschiede sind Akzidenzien oder Modi eines Begriffs. Konstitutive wesentliche Merkmale nennen wir die, welche den bleibenden Grund enthalten, aus denen alle weitern Merkmale abgeleitet werden können. Als konsekutive Merkmale bezeichnen wir die, welche von den ersten auf zureichende Weise vertreten werden. Die wesentlichen Merkmale sind entweder die, welche einem Begriffe mit einem übergeordneten gemeinsam sind; oder die, welche ihn von diesem unterscheiden. Diejenigen der ersteren Art können repräsentiert werden durch die höheren Begriffe. Also kann ein Begriff in die Gattung und die spezifische Differenz zerlegt werden. Diese Einheit ist ein durch die Natur der Beziehung zwischen den Inhalten bedingter Zusammenhang derselben. Die Entwicklung der Begriffsbildung ist darauf gerichtet, zuerst diese Einheit der Merkmale als Wesen zu erkennen, schließlich aber das Gesetz der Abhängigkeit zwischen den Inhalten. Also: Auch der Begriff stellt sich in einer Entwicklungsreihe dar. Die Definition paßt sich den Bedürfnissen des Denkens an; die Formen der Definition sind bedingt durch die Verschiedenheiten der Denkfunktion. Man unterscheidet nominale und reale Definition; die nominale gibt eine Erklärung über den Gebrauch eines Namens; die reale unternimmt, eine Reihe von Dingen durch Merkmale, welche ihnen gemeinsam sind, zu bestimmen. Die formale Logik unterscheidet zweitens die genetische und beschreibende Definition. Erstere bestimmt das Allgemeine, welches den Gegenstand bildet, von dem Grunde aus, der in dem Wesen dieses Gegenstandes wirksam wird; die zweite bestimmt durch die in der Beziehung erscheinenden Merkmale. Alsdann unterscheidet die formale Logik konsekutive und konstitutive Merkmale. Wo es möglich ist, letztere für die Definition heranzuziehen, soll man es tun; sonst muß man sich mit den ersteren begnügen. Endlich unterscheidet sie analytische und synthetische Definition. In der platonisch-aristotelischen Schule hob man hervor: Vollkommen ist eine Definition, welche das Wesen einer Gruppe von Tatsachen erkennt. Diese metaphysische Betrachtungsweise liegt uns fern. Die moderne Wissenschaft erstrebt Definitionen, welche das Bildungsgesetz der Dinge ausdrücken. Es
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liegt also in der Natur der strengen Wissenschaft, daß sie strebt, von denjenigen Definitionen, welche nur beschreiben oder nur konsekutive Merkmale benutzen, zu denjenigen vorzugehen, welche die wesentlichen konstituierenden Merkmale enthalten; und über diese hinaus strebt dann die Wissenschaft zu der genetischen Betrachtungsweise, die die Tatsacheninbegriffe gleichsam erzeugt. Insbesondre zeigen die geometrischen Definitionen die Vollkommenheit dieser genetischen Definitionen. Aber es können doch je nach der Stelle, in der in der Wissenschaft die Definition auftritt, die verschiedenen Formen derselben mehr nützlich sein als andere. In einer philosophischen Schrift wird es immer erforderlich sein, daß, wenn ein terminus eingeführt wird, dieser Wortgebrauch definiert wird. Die Schriften Kants wie die Spinozas zeigen in dieser Beziehung große Vollkommenheit; bei den Nachfolgern Kants, vor allem bei Schelling, sind die Nominaldefinitionen weniger zahlreich, die Folge ist vielfach Dunkelheit.
§ 19. Der Umfang des Begriffs und seine Darstellung in der Einteilung Sie müssen voneinander unterscheiden die Einteilung (divisio) und die Gliederung (partitio). Die Gliederung zerlegt ein Ganzes in die Bestandteile, welche es enthält. Die Einteilung zerlegt eine Reihe von Tatsachen, welche unter einen gemeinsamen Begriff fallen, in eine beschränkte Zahl von Klassen und macht sie für uns übersichtlich. Die Einteilung dient dem menschlichen Bedürfnis, Ubersicht zu schaffen über eine grenzenlose Mannigfaltigkeit von Dingen. - Jede Einteilung vollzieht sich von einem Merkmal aus, dem fundamentum divisionis. Dasselbe faßt eine geschlossene Reihe von Möglichkeiten in sich. Die Einteilung wäre nun eine einfache Operation, wenn ein Begriff durch nur ein Merkmal definiert werden könnte. Ist nun aber die Wahl zwischen mehreren Merkmalen, so wird die Entscheidung über das Prinzip der Einteilung von einem bestimmten Zweck aus getroffen werden müssen. Wo nun von einem solchen Zwecke aus ein einzelnes Merkmal eines Begriffs bevorzugt wird, da ist diese Einteilung praktisch. Wenn Lessing die Formen der Kunst einteilt nach den großen Kategorien des räumlichen Nebeneinander und des zeitlichen Nacheinander, so will er damit nur sagen, daß für eine Regelgebung der Kunst diese Einteilung von Wert ist; nicht als ob sie das Wesen der verschiedenen Künste träfe. Ganz etwas anderes ist es nun, wenn die Einteilung der Aufgabe sich zuwendet, die natürliche Gliederung eines Tatsacheninbegriffs zum Ausdruck zu bringen. Zunächst dienen solche Einteilungen in den Naturwissenschaften einer bloßen Ubersicht. Wir nennen eine solche Einteilung künstlich und wenn sie mehrere Merkmale verwebt, eine Klassifika-
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tion. Sie bereitet die natürliche vor. Diese unternimmt, das Bildungsgesetz eines Gebietes in der Anordnung der Glieder seines Umfanges zur Darstellung zu bringen. Das ist die wissenschaftliche Form von Anordnungen höchsten Grades. Wenn Sie nun die Einteilungen betrachten, so sehen Sie, daß auch diese eine Reihe der Entwicklung bilden. Diejenigen Einteilungen, die einem bestimmten Zwecke dienen, bilden die unterste Stufe; die höchste diejenigen, welche die Struktur der Sache zu erfassen streben. Linnes Einteilung der Pflanzen ist ein Beispiel der niederen Form, Cuviers Einteilung der Tiere ein Beispiel der höchsten. Ich wende mich zum letzten Teil der Darstellung der Denkformen, zum Schluß, und übergehe das, was von den Folgerungen gesagt werden kann.
[III. Der Schluß] § 20. Der Syllogismus Der Syllogismus leitet ein Urteil ab aus Prämissen und benutzt dazu einen Mittelbegriff. Der Sinn des Syllogismus ist: Kann ich zwischen zwei Beziehungen keine unmittelbare Verbindung finden, so finde ich vielleicht eine mittelbare; kann ich die Setzung eines Urteils nicht direkt herstellen zwischen A und B, so vielleicht vermittels eines Mittelbegriffs. - Wenn man streitet über die Unfruchtbarkeit des Syllogismus, so denkt man zuerst an Bacon, der den Schluß für unfruchtbar erklärt. Er geht nämlich davon aus, daß der Schlußsatz nichts Neues bringt, sondern nur eine formale Folgerung. In Wirklichkeit handelt es sich aber darum, die beiden Prämissen aus einer ungeheuren Anzahl von ihnen herauszufinden und in Beziehung zu setzen; und darin liegt die Fruchtbarkeit des Syllogismus. - Die Syllogistik ist in ihrer Form bekanntlich höchst problematisch. Hervorheben möchte ich nur: Die drei Formen, welche bei Aristoteles vorliegen, lassen sich auffassen als Formen, die bestimmten Zwecken dienen. l.Form:
B M
M A.
Die 2. Form:
B A
M M
dient dem Zwecke der kritischen Ausschließung; die Funktion dieses Schlusses liegt darin, daß B von dem A ausgeschlossen wird. Beispiel: Es handelt sich um die Echtheit eines platonischen Dialogs. Finde ich nun ein Merkmal, welches
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allen platonischen Dialogen zukommt und bemerke dann, daß dieses Merkmal dem Parmenides etwa nicht zukommt, so ist mein kritisches Geschäft zu Ende. Beide Teile sind voneinander ausgeschlossen. Ebenso bei der 3. Schlußfigur. Auch M M
B A
hat eine solche Funktion; sie erweist Verträglichkeit oder Unverträglichkeit. Die vollkommenste Figur ist die erste. Aber ich gehe nicht weiter auf die Sache ein.
§21. Der Analogieschluß Der Analogieschluß ist ein unvollkommener und vorbereitender Schluß; es ist gleichsam die unvollkommene Form des Induktionsschlusses. Der Analogieschluß überträgt ein Prädikat aufgrund von Ähnlichkeit von einem Subjekt auf ein anderes. Die Formel für den Induktionsschluß mögen Sie so fassen: M, M 2 M 3 . . . P M | M2 M 3 . . . S S
=
P
Findet eine Umkehrung statt, so kommen wir zu der vollständigen Induktion; diese gibt den vollkommensten Schluß. - Der unvollkommene Induktionsschluß ergibt eine sehr fruchtbare Erkenntnis. Sigwart hat mustergültig das Verhältnis von Induktion zum Syllogismus behandelt. Mill hat hingewiesen auf die Voraussetzung der Gleichförmigkeit des Naturlaufes bei allem Schließen. Das sind die Formen des menschlichen Denkens. Ich wende mich jetzt von ihnen dazu, die Schlüsse aus dem jetzt Entwickelten zu geben232.
§ 22. Die Gesetzlichkeit des menschlichen Geistes Es ist eine der entscheidendsten Fragen der Philosophie - und wenn Sie diese Frage noch nicht erörtert haben, so haben Sie bis jetzt von Philosophie noch
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keine Ahnung gehabt - : Die Erfahrung, so sagte Kant, ist das Problem, welches alle Grundlegung der Philosophie ausmacht; die Erfahrung begreiflich machen, darum handelt es sich zunächst in dem philosophischen Geschäfte. Erfahrung, so fährt er fort, ist nun aber ein Zusammengesetztes; in der Erfahrung verbinden sich Bestandteile verschiedener Art, Erfahrung ist eine Synthesis, eine Zusammenfassung im Bewußtsein. Erfahrung ist eine Synthesis im Bewußtsein, die ganz verschiedene Bestandteile in sich faßt, nämlich das Bewußtsein, welches zusammenfaßt, und den Stoff, welcher diesem Bewußtsein gegeben ist. Man hat Anstoß an dieser Unterscheidung genommen; und doch ist sie unvermeidlich; und sie ist auch dann ganz einwandfrei, wenn man sich klar macht, daß dabei nicht es sich um ein Chaos von Eindrücken handelt, welches das Denken zusammenfaßt. Worum denn? Alles Erfahren hat zu seinem Stoff das Einzelne, das Zufällige, die Eindrücke, aber nicht als eine tote Summe, sondern als eine Textur, als in Koexistenz und Aufeinanderfolge in der Reihe unserer Erfahrungen miteinander verknüpft. Das wäre nun ganz unfaßbar, wenn nicht zwei Bedingungen vorlägen, welche uns ermöglichen, daraus etwas zu machen. Die eine Bedingung ist: Unser Bewußtsein, unsere Intelligenz besitzt die Gesetze und die Formen, welche ich Ihnen eben beschrieben habe. Wir haben die Instrumente, deren sich die Gesetzlichkeit der Intelligenz bedient, beschrieben und gleichsam nebeneinander gelegt. Kant unternimmt es, ein Inventar derselben aufzustellen. Es kommen dabei diejenigen Eigenheiten in Betracht, welche wir in der Intelligenz, in dem Zusammenhang des wissenschaftlichen Denkens vorfinden; und die Tatsache, um die es sich handelt, ist die: Diese ganze Gesetzmäßigkeit bildet den Inbegriff von Arten, welchen wir die einzelnen Fälle unterordnen. Der Naturforscher, z. B. Kepler, als er die Entdeckung der elliptischen Bahnen zunächst des Mars gemacht hatte, bedient sich des Begriffs der Ellipse, um die Beobachtungen am Mars ihm unterzuordnen. Wenn wir eine Reihe von Schlüssen bilden über einen Gegenstand der Ästhetik, so bedienen wir uns des Ineinandergreifens der verschiedenen Klassen von Schlüssen, um vermittels dieser Operation uns das Gegebene begreiflich zu machen. Kant bedient sich nun, um diese Gesetzlichkeit festzulegen, des Merkmals: Alle diejenigen Urteile, welche notwendig und allgemein sind, sind der Ausdruck der Gesetzlichkeit des menschlichen Auffassungsvermögens. Wenn wir in diesem Sinne das Apriori auffassen, so unterliegt es keinen Bedenken. Dann bedeutet es den analytischen Befund der Erfahrung, welche das Denken möglich macht. Es handelt sich bei Kant nicht um die Feststellung der Genesis des Bewußtseins, sondern um einen rein analytischen Vorgang, welcher von der Erfahrung zu den Bedingungen der Erfahrung zurückgeht. Diese Bedingungen der Erfahrung - und in ihrer Auffindung liegt Kants Größe - , in ihnen liegt das Problem. Sie sind von zwei A r t e n . . . Daher denn der menschli-
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Späte Vorlesungen zur Systematik der Philosophie
che Geist zwei Seiten hat; er verhält sich rezeptiv in der Sinnlichkeit und schaffend in der Gesetzmäßigkeit des Geistes, welche das sinnlich Gegebene zu gegenständlicher Erkenntnis bringt. Wenn Sie empirisch an die Sache herangehen, so handelt es sich um die U n terordnung des Besonderen unter die Einheit des Bewußtseins nach Gesetzen und Formen, welche in demselben enthalten sind. Das Merkmal für diese Gesetzmäßigkeit sind die notwendigen und allgemeinen Gründe. Es gibt nun eine zweite Bedingung unserer Erfahrung, ich sage lieber: Es gibt ein Ziel, welchem die Erfahrung zustrebt und dessen Erreichbarkeit sie antizipiert. Wenn die Fälle, die Einzelheiten, welche den Stoff unseres Denkens ausmachen, gleichsam in der Zufälligkeit das Letzte hätten, was über sie auszusagen wäre, so wäre eine Begreiflichkeit derselben ausgeschlossen. Diese entsteht erst, wenn dasjenige, was den Eindrücken korrespondiert, als eine Bedingung, eine Ordnung nach Gesetzen angesehen werden darf. Das ist das große Ziel aller Wissenschaft: die Nachweise zu liefern, daß das zufällig Gegebene verstanden werden kann als die Folgeerscheinung einer Ordnung nach Gesetzen, wie diese Ordnung sich projiziert in einem Bewußtsein und seiner Gesetzlichkeit. U m dies und nichts anderes handelt es sich in aller menschlichen Wissenschaft. Sie entsteht, indem ein gesetzmäßiges Bewußtsein den zufälligen Eindrücken durch beständiges probieren eine Ordnung nach Gesetzen einhaucht. Darin liegt ein dreifaches, das wohl unterschieden werden muß: 1) die Gesetzmäßigkeit des Bewußtseins, 2) das empirisch Zufällige, welches ihm gegeben ist, 3) eine Ordnung nach Gesetzen, welche nicht der bloße Ausdruck dieses Bewußtseins ist, sondern darüber hinaus eine objektive Ordnung unserer zufälligen Eindrücke nachweist. Kant unterscheidet diejenige Gesetzmäßigkeit in der Erfahrung, welche nur der Ausdruck der Gesetzmäßigkeit unseres Bewußtseins ist, und die empirische Gesetzmäßigkeit, welche das zufällig Gegebene verknüpft, welche in der Erfahrungswissenschaft besteht. Dies ist wohl zu unterscheiden! Das Gravitationsgesetz könnte nie aus dem menschlichen Denken als solchem abgeleitet werden, sondern es ist eine Ordnung nach Gesetzen, welche sich in der Erfahrung selbst darstellt. - Jetzt aber entsteht eine Frage, an welcher wir nicht vorüber können: Läßt sich nichts darüber aussagen, worin die von der Erfahrung unabhängige Gesetzmäßigkeit besteht? Wir suchen also Bedingungen des Bewußtseins, welche gleichsam genetisch das Prinzip ausdrücken für die Gesetzmäßigkeit des Denkens: Was ist erworben, was primitiv darin? Kant ist nicht ganz an dieser Frage vorbeigekommen; es gibt eine merkwürdige Stelle, wo er ausdrücklich erklärt: Die Raumanschauungen haben zu ihrer Bedingung nur eine allgemeine Form von Rezeptivität, welche in der Wechselwirkung mit der Erfahrung unsern Raum hervorbringt. Hier unterscheidet er den Befund des Apriori von einem Apriori ersten Grades 2 3 3 .
ANMERKUNGEN
A. Frühe Vorlesungen zur Logik und zum System der philosophischen Wissenschaften (Berlin und Basel 1864-1868) Dieser Teil des vorliegenden Bandes dokumentiert die ersten drei Vorlesungen D.s zur Logik und zum System der philosophischen Wissenschaften. Die erste dieser Vorlesungen hielt D. nach seiner Habilitation als Privatdozent an der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität im Wintersemester 1864/65 unter dem Titel Logik, mit besonderer Berücksichtigung der Geschichte und Methode der einzelnen Wissenschaften. Im folgenden Wintersemester 1865/66 wiederholte D. diese Vorlesung und ließ als Vorlesungsabriß, der die Gliederung des Kollegs und die wichtigste Literatur umfaßte, einen Grundriß der Logik und des Systems der philosophischen Wissenschaften drucken. Ende des Jahres 1866 wird D. als o. Professor an die Universität Basel berufen, wo er mit dem Sommersemester 1867 seine Vorlesungstätigkeit beginnt. Dort hält er im Wintersemester 1867/68 die Vorlesung Logik und System der philosophischen Wissenschaften, die inzwischen in der Dilthey-Forschung als „Basler Logik" bekannt ist. Abweichend von den übrigen Teilen unseres Bandes werden in diesem ersten Teil drei verschiedene Textsorten zusammengestellt: eine eigenhändige, fragmentarische Ausarbeitung, ein als Privatdruck veröffentlichtes Vorlesungs-Kompendium und eine Nachschrift. Es schien uns erlaubt, wenn nicht gar geboten, in diesem Fall von dem diesem Band der Ges. Sehr, zugrundeliegenden Editionsprinzip abzuweichen, nur Nachschriften der Vorlesungen D.s zu edieren, da die beiden frühen Dokumente von D.s systematischer Vorlesungstätigkeit neben dem eigenständigen systematischen Gehalt, den diese Texte aufweisen, noch von besonderem historischen Interesse sind und die Anfänge von D.s systematischer Arbeit auch von seinen Vorlesungen her beleuchten können. Die parallel zu diesen frühen Vorlesungen entstandenen Manuskripte D.s sind abgedruckt in Ges. Sehr. XVIII: Über das Studium des Menschen und der Geschichte (XVIII, S. 1-2), Einleitung in das wissenschaftliche Studium des Menschen, der Gesellschaft und Geschichte (XVIII, S. 2-16) und Ges. Sehr. XIX: Untersuchungen über das Studium des Menschen und der Geschichte (XIX, S. 1-8).
"'Absolute und formale Logik. Der Anfang des ersten Logik-Kollegs C97: 172-197, undatiertes Ms. von D.s Hand. Das Hauptmanuskript (C97: 172-191) wurde von D. in ein Breslauer Doktor-Diplom von 1874 eingelegt und mit der Aufschrift Erste Ausarbeitung der Wissenschaftslehre versehen. Wie im Vorbericht ausgeführt, ist in diesem Text das erste Auftreten des jungen Privatdozenten an der Berliner Universität festgehalten. Das Ms. ist fragmentarisch und bricht innerhalb der Darstellung der gegenwärtigen Lage der Logik und ihrer Literatur mit Stichworten zur kantischen Erkenntnistheorie ab. D. hat dieses Ms. später überarbeitet und dabei u. a. den Text mit einigen kurzen Bleistiftzusätzen und Randbemer-
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Anmerkungen zu Seite 1-19
kungen versehen, die zum großen Teil nicht mehr zu entziffern sind. Auf diese unleserlichen arbeitungsspuren wird nicht im einzelnen hingewiesen.
Über-
Vgl. Ovid, Metamorphosen 1, 7. Es folgen neben unleserlichen Notizen einige nachträglich zwischen die Zeilen geschriebene bibliographische Hinweise auf: G.W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, 2 Bände, Nürnberg 1812-1816. - K. Werder, Logik. Als Commentar und Ergänzung zu Hegels Wissenschaft der Logik. Erste Abtheilung, Berlin 1841. -J. E. Erdmann, Grundriß der Logik und Metaphysik. Für Vorlesungen, Leipzig 1841. - K. Fischer, Logik und Metaphysik oder Wissenschaftslehre. Lehrbuch für akademische Vorlesungen, Stuttgart 1852. 3 G.W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, 1. Theil: Die objektive Logik, in: Werke. Vollständige Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewigten, Band III, hrsg. von L. von Henning, Berlin 1833, S. 35f. „Die Logik ist sonach als das System der reinen Vernunft, als das Reich des reinen Gedankens zufassen. Dieses Reich ist die Wahrheit, wie sie ohne Hülle an und für sich selbst ist. Man kann sich deswegen ausdrücken, daß dieser Inhalt die Darstellung Gottes ist, wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist." 4 Hegel, a.a.O., S. 31. 5 Im Text Hinweis auf Hegels Wissenschaft der Logik, 1. Theil, a.a.O., S. 31. 6 Konjektur statt eines nicht zu entziffernden Wortes. 7 Vgl. G. W. F. Hegel, Dissertatio philosophica de orbitisplanetarum,]ena 1801, S. 31 f. 8 Vgl. M.J. Schleiden, Schelling's und Hegel's Verhältnis zur Naturwissenschaft. Als Antwort auf die Angriffe des Herrn Nees von Esenbeck in der Neuen Jenaer Lit-Zeitung, Mai 1843, insbesondere für die Leser dieser Zeitschrift, Leipzig 1844, S. 41 f f . ' A. Trendelenburg, Logische Untersuchungen, 2 Bände, Berlin 1840, 2. ergänzte Aufl. Leipzig 1862. 10 Auf einem Zwischenblatt (C97:192) findet sich der Titel: 1
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Logik Abschnitt I
s2
Die formale Logik und die Theorie des wissenschaftlichen Erkennens. Die von D. offensichtlich später hinzugefügten Bleistiftnotizen sind nicht mehr leserlich. 11 Immanuel Kant's Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen, hrsg. von G. B. Jäsche, Königsberg 1800, in: Gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Band IX, Berlin 1923, S. 1-150. 12 Es folgen einige größtenteils unleserliche Bleistiftnotizen sowie bibliographische Hinweise auf: J. F. Fries, System der Logik. Ein Handbuch für Lehrer und zum Selbstgebrauch, Heidelberg 1811. -J.F. Herbart, Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie, Königsberg 1813. - M. W. Drobisch, Neue Darstellung der Logik nach ihren einfachsten Verhältnissen. Nebst einem logisch-mathematischen Anhange, Leipzig 1836, und A.D. C. Twesten, Die Logik, insbesondere die Analytik, Schleswig 1825. 13 Das Ms. bricht ab mit einigen Stichworten zu Kants Erkenntnistheorie.
Grundriß der Logik und des Systems der philosophischen Wissenschaften Erschienen ohne Verfasserangabe als Privatdruck mit dem Zusatz (Für Vorlesungen) 1865 im Berliner Verlag E. S. Mittler und Sohn (Kochstraße 30). D. ließ diesen Vorlesungsabriß für seine zweite Berliner Logik-Vorlesung im Wintersemester 1865/66 drucken; er umfaßt im Original 16 Seiten. Im Berliner Dilthey-Nachlaß finden sich zwei Exemplare (D135a und D138). Druckvorlage unserer Ausgabe ist das Exemplar (D135 a), das D. handschriftlich als Handexemplar gekennzeichnet hat.
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Einige z. T. sehr schwer zu entziffernde Ergänzungen D.s, in der Regel Zusätze zu den bibliographischen Angaben, wie sie sich in beiden Exemplaren finden, haben wir weggelassen. D.s bibliographische Hinweise wurden von uns stillschweigend ergänzt, vereinheitlicht und ggf. korrigiert.
Logik und System der philosophischen Wissenschaften („Basler Logik") C97: 115-125 Rucks.; 131-136 Rucks.; 126-130 Rucks.; 243-251 Rucks.; 240-242 Rucks.; 228-239 Rucks.; 275-286 Rucks.; 263-274 Rücks.; 252-262, Nachschrift von D.s Basler Logik-Vorlesungvon unbekannter Hand. Auf dem Titelblatt (C97: 115) findet sich die Aufschrift: Logik und System der philosophischen Wissenschaften, nach Vorträgen von W. Dilthey, Dr. philos. und o. Prof. Basel. Wintersemester 1867/68. Obwohl sich diese Nachschrift in D.s Besitz befand, findet sich keine Überarbeitungsspur D.s in diesem Ms. Es liegt in dem Fasz. seines Nachlasses, in dem sich neben Resten seiner journalistischen Tätigkeit das Fragment Absolute und formale Logik und größere Bestände seines offensichtlich über Jahre hin benutzten Kolleg-Heftes für die Logik-Vorlesungen finden. Zu diesem Kolleg-Heft vgl. die Angaben im Vorbericht. 14 Piaton, Symposion 204 a-b. Im Ms. ist fälschlich Aristoteles als Urheber des hier frei wiedergegebenen Zitats genannt. 15 Im Text Hinweis auf Aristoteles, Metaphysik XIII4. " Nicht zu ermitteln; wohl kein wörtliches Zitat. 17 Aristoteles, Metaphysik IV3. 18 Aristoteles, Analyticapriora 132, 47 a 8. " Der hier wiedergegebene philosophiegeschichtliche Zusammenhang ist vom Nachschreiber der Vorlesung mißverständlich formuliert. Gemeint ist vermutlich die Vergleichbarkeit von Einsichten hei der Entwicklung des Substanzbegriffs. 20 Verkürzte Darstellung der Hegeischen Schlußlehre; bei Hegel wird der Schluß durch die Elemente Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit konstituiert. 21 Die hier und im folgenden im Text angeführte Psychologie nicht zu identifizieren. 22 Ein Punkt 2. fehlt. 23 Vgl. F. Fischer, Lehrbuch der Logik für academische Vorlesungen und Gymnasialvorträge, Stuttgart 1838, S. 39-42. 24 Vgl. K. L. Reinhold, Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens, Prag und Jena 1789, S. 321 f f . 25 Der Satz bricht ab. 26 Der Satz bricht ab. 27 Vgl. A. Trendelenburg, Logische Untersuchungen, 2. Band, 2. ergänzte Aufl. Leipzig 1862, S. 308ff. und F. Ueberweg, System der Logik und Geschichte der logischen Lehren, 2., neu bearbeitete Aufl. Bonn 1865, S. 258ff. 28 Der Satz bricht ab. 29 Aristoteles, Analytica priora 132, 47 a 40—47 b 5. Die deutsche Ubersetzung wurde aufgrund von Trendelenburgs Übersetzung (Logische Untersuchungen, 2. Band, a.a.O., S. 310) korrigiert. 30 I. Kant, Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral. Zur Beantwortung der Frage, welche die Königl. Akademie der Wissenschaften zu Ber-
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lin auf das Jahr 1763 aufgegeben hat, Berlin 1764, in: Gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Band II, Berlin 1905, S. 273-302, hier: S. 299. 31 ^'g'- /• F- Herbart, Kurze Encyklopädie der Philosophie aus praktischen Gesichtspunkten entworfen, in: Sämmtliche Werke, hrsg. von G. Hartenstein, Band II, Leipzig 1850, S. 323ff. 32 J. Beck, Philosophische Propädeutik. Ein Leitfaden zu Vorträgen an höhern Lehranstalten, I: Grundriß der Empirischen Psychologie und Logik, 7. durchgesehene Aufl. Stuttgart 1864, S. 170ff. 33 Der Satz bricht ab. 34 I. Kant, Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprünge des ganzen Weltgebäudes, nach Newtonischen Grundsätzen abgehandelt, in: Gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Band I, Berlin 1902, S. 215-368. 35 Der Satz bricht ab. 36 Der hier referierte geistesgeschichtliche Zusammenhang ist vom Nachschreiber der Vorlesung mißverständlich wiedergegeben worden. Vgl. Kants Anhang zur Kritik der Urteilskraft: Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft, in: Gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Band V, Berlin 1908, S. 416ff. 37 Geändert aus: stellen. 38 Im Text Hinweis aufTh. Waitz, Anthropologie der Naturvölker, 4 Teile, Leipzig 1859-1864. 39 A. Kuhn, Die Herabkunft des Feuers und des Göttertrankes. Ein Beitrag zur vergleichenden Mythologie der Indogermanen, Berlin 1859.
B. Die Vorlesung zur Einleitung in die Geisteswissenschaften (Berlin 1883) Einleitung in das Studium der Geisteswissenschaften, Rechts- und Staatswissenschaften, Theologie und Geschichte Cll: 203-246, Nachschrift der ersten Vorlesung, die D. nach seiner Berufung auf das Berliner Ordinariat als Nachfolger R. H. Lotzes hielt. Der Name des Nachschreibers ist unbekannt. Die Nachschrift befindet sich, zusammen mit einer Nachschrift eines Psychologie-Kollegs D.s, in einem gebundenen Heft und trägt den Titel: Einleitung in das Studium der Geisteswissenschaften. Prof. Dr. Dilthey. Sie enthält, obwohl sie sich offensichtlich über Jahre in D.s Besitz befand, keinerlei Hinweise auf eine intensivere Durchsicht D.s. D. hielt diese Vorlesung nur ein einziges Mal. Das Vorlesungsverzeichnis der Berliner Universität nennt für das Wintersemester 1883/84 ein - allerdings durch keine Nachschrift belegtes - Kolleg mit dem Titel Ergebnisse der gegenwärtigen Wissenschaft über Gesellschaft, Staat und Geschichte. 40 A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1. Band, in: Sämtliche Werke. Nach der ersten, von J. Frauenstädt besorgten Gesamtausgabe neu bearbeitet und hrsg. von A. Hübseber, Band 2,3. Aufl. Wiesbaden 1972, S. 3 f . 41 Lücke im Text. 42 Nicht zu ermitteln; wohl kein wörtliches Zitat.
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C. Die Berliner Logik-Vorlesungen der achtziger Jahre (1883-1888) Logik und Erkenntnistheorie („Berliner Logik von 1885/86") Der C-Teil des vorliegenden Bandes dokumentiert das große Kolleg über Logik und Erkenntnistheorie, das D. in Berlin jeweils im Wintersemester von 1883/84 bis 1893/94 und abschließend im Sommersemester 1897 gehalten hat. Da uns von diesem Kolleg mehrere Nachschriften aus verschiedenen Jahren (Wintersemester 1883/84, 1884/85, 1885/86, 1886/87 und 1887/88) zur Verfügung standen, mußte eine Nachschrift ausgewählt werden, die die Funktion eines „Basistextes" übernehmen konnte. Aus inhaltlichen wie formalen Gründen bot sich hierfür die Nachschrift aus dem Wintersemester 1885/86 an. Signifikante Varianten der beiden vorhergehenden bzw. der beiden folgenden Jahrgänge wurden in den Anmerkungen dokumentiert. Dabei wandten wir strenge Auswahlkriterien an und druckten nur solche Abweichungen ab, die von nicht unerheblichem Belang waren und ein gewisses systematisches oder historisches Interesse zu befriedigen in der Lage waren. Bloße Umstellungen im Vorlesungstext ohne wirkliche systematische Bedeutung wurden ebensowenig notiert wie abweichende Wortwahl ohne weitere Relevanz. Basistext: C59: 132-143 Rücks.; 146-156 Rucks.; 145-145 Rücks.; 144-144 Rucks.; C96: 544-551 Rucks.; 602 Rücks.; 602; 552-555 Rücks.; 556 Rücks.; 556-561 Rücks.; 222-245 Rücks. Die - unpaginierte - Nachschrift trägt den Titel: Logik und Erkenntnistheorie. Prof. Dilthey. Der Name des Nachschreibers ist nicht bekannt. Obwohl diese Nachschrift undatiert ist, laßt sie sich doch aufgrund bibliographischer Hinweise und durch Vergleich mit den vorhergehenden bzw. folgenden Jahrgängen zweifellos auf das Wintersemester 1885/86 datieren. Die Nachschrift befand sich in D.s Besitz und ist von ihm korrigiert, annotiert und -z.T. sehr intensiv - überarbeitet worden. Eindeutige Textergänzungen von seiner Hand wurden von uns in den Text der Nachschrift integriert und durch Kursivierung kenntlich gemacht. Randnotizen und Bemerkungen D.s wurden von uns in den Anmerkungen dokumentiert. Bei seiner Überarbeitung hat D. offensichtlich die Nachschrift geteilt und in zwei Faszikeln abgelegt. Sinn und Kriterium dieser Aufteilung sind nicht unmittelbar einsichtig; die Trennung erfolgte mitten im § 15. Der Unterschied der inneren und äußeren Wahrnehmung und die allgemeinsten Eigenschaften psychischer Tatsachen. Der erste Teil der Nachschrift liegt nun im Fasz. C59, zusammen mit Manuskripten systematischen Inhalts und einer großen Nachschrift einer SystemVorlesung, die ebenfalls im vorliegenden Band veröffentlicht wird. Der zweite, im Umfang etwas größere Teil liegt im Fasz. C96, in der Nachbarschaft insbesondere systematischer Texte aus späterer Zeit. Er ist eingelegt in einen Umschlag (C96: 543) und trägt eine Aufschrift, offensichtlich von der Hand Paul Menzers: System der Logik. Grundgedanke: Die Wirklichkeit bedingt die Formen und Gesetze des Denkens. Jede Form ist der Ausdruck eines Grundverhältnisses der Wirklichkeit. Jede Form hat eine Entwicklungsseite. Außer dem Basistext standen uns noch die folgenden vollständigen Nachschriften zur Verfügung: 1. Nachschrift von I. Kolloge, Wintersemester 1883/84. Fundort: Dilthey-Nachlaß der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. W. Dilthey, 9,5 (49 Seiten). 2. Nachschrift von Friedrich Freiherr Hiller von Gaertringen, Wintersemester 1884/85. Fundort: Berliner Dilthey-Nachlaß, C 93:3 f f . (125 Seiten). 3. Nachschrift eines unbekannten Verfassers, Wintersemester 1884/85. Fundort: Berliner Dilthey-Nachlaß, C38: 185-185 Rücks.; C26 II: 360; C96: 564-601 (76 Seiten).
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4. Nachschrift von Arthur Drews (in der Transkription durch Wilhelm Flitner, Hinweis von Herman Nohl), Wintersemester 1886/87. Fundort: Dilthey-Nachlaß der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. W. Dilthey, 9,2 (37 Seiten). 5. Nachschrift von Rudolf Goetze, Wintersemester 1887/88. Im Besitz der Dilthey-Forschungsstelle im Institut für Philosophie der Ruhr-Universität Bochum (178 Seiten). Neben diesen vollständigen Nachschriften waren uns noch die folgenden fragmentarischen bzw. Teilnachschriften zugänglich: 1. Nachschrift von Heinrich Rickert, vermutlich Wintersemester 1884/85. Fundort: Rickert-Nachlaß der Ruprecht-Karl-Universität Heidelberg, Heid. Hs. 2700/202 (7 Seiten). 2. Nachschrift eines unbekannten Verfassers, vermutlich Wintersemester 1885/86 (die Nachschrift gibt nur die erste Hälfte des zweiten Teils wieder; von der Einleitung und dem ersten Teil wird nur die Gliederung mitgeteilt). Fundort: Berliner Dilthey-Nachlaß, C37:241-276 (63 Seiten). Die von uns edierte Nachschrift ist die unmittelbare Wiedergabe der von D. in seiner Vorlesung diktierten wichtigsten Lehrbestände. Sprachduktus und Konsistenz der Gedankenführung sowie der Vergleich mit den Nachschriften der unmittelbar vorausgehenden bzw. nachfolgenden Vorlesungen zeigen, daß D.s Diktate ohne eigenen Zusatz mitgeschrieben wurden, wodurch dieser Nachschrift eine besondere Authentizität zukommt. Geändertaus: Formeln. Kolloge fährt fort: Diese Eigenschaften werden durch Zergliederung des Denkens aufgefunden. Logik ist also Analytik der Denktätigkeit. Da die so gefundenen Eigenschaften des Denkens von dem veränderlichen Inhalt als eine konstante Weise der Zusammenordnung, von Gedanken abgeleitet, abstrahiert werden, so ist die Logik Analytik der Form des Denkens (formal) und als solche eine abstrakte Wissenschaft wie die Arithmetik. Da nun an diese bestimmte Form des Denkens überall der richtige Vollzug des Denkens geknüpft ist, so ist diese Form in einem System von Regeln darstellbar. 45 Randnotiz von der Hand D.s über Syllogistik als Subsumtions- und Substitutionslehre. 46 Bei Kolloge lautet der Beginn dieses Paragraphen: Diese Ablösung der Kunstlehre des Denkens von ihren Grundlagen im geistigen Leben, zunächst in der Wahrnehmung, wird sich uns aber als unhaltbar erweisen. Die isolierte Betrachtung der Denktätigkeit gewährt keine Entscheidung, welcher Ausgangspunkt für die Konstruktion der formalen Logik der richtige sei. Die Entscheidung hierüber ist bedingt durch den Zurückgang auf die Grundlage des Denkens im Wahrnehmen. Ferner verkümmert diese formale Logik, denn die Prämissen für wahrhaft fruchtbare logische Einsichten liegen in der Erkenntnistheorie. Dies erläutere ich näher. 47 Kolloge fährt fort: 4. Die Logik muß diese Erkenntnistheorie in sich aufnehmen (erkenntnistheoretische Logik), denn sie muß die Denktätigkeit aus ihrem Zwecke begreifen, der in der Erkenntnis der Wirklichkeit liegt. Sie muß dabei von den Grundlagen der Denktätigkeit ausgehen, die in den Wahrnehmungsvorgängen liegen. Sie schließt also einerseits die formale Logik als einen Bestandteil in sich, ja eine gesicherte formale Logik ist erst auf diesem Standpunkt möglich, andererseits löst sie das umfassende Problem, in welchen Grenzen und in welchem Zusammenhang des Verfahrens entsteht durch richtige Denktätigkeit die Erkenntnis der Wirklichkeit. 48 Bei Gaertringen: in einer Methodik. 49 Kolloge fährt fort: Der Erkenntnisprozeß in dem einzelnen Individuum ist Teil des umfassenden, als dessen Subjekt das Menschengeschlecht betrachtet werden kann. Der Wille der Erkenntnis in demselben wird allmählich verwirklicht, die Teile des Vorgangs, in dem das geschieht, sind die Einzelwissenschaften, die Hilfsmittel desselben sind die Methoden. Dies Ergebnis der Erkenntnistheorie schließt ein, daß die Logik sich erst als Methode oder Wissenschaftslehre vollendet. Die Naturwissenschaften haben ihre Methoden sehr fein entwickelt. Die Logik hat aus ihnen eine Methodenlehre abstrahiert. Gegenwärtig handelt es sich darum, im Gegensatz gegen eine 43 44
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tumultuarische Übertragung dieser Methode auf das Gebiet der Geisteswissenschaften eine Methodenlehre der letztern zu entwickeln, die auf die wirkliche Natur und die bisherigen Leistungen derselben gegründet sei. Die Logik als Methodenlehre zu gestalten ist die gemeinsame Richtung aller tiefern Arbeiten unserer Zeit. 50 Bei Gaertringen: drei deutsche logische Systeme. 51 Kolloge fährt fort: Sie findet, daß „Sein" zwar einerseits die Unabhängigkeit des durch die Aussage Gesetzten „vom Bewußtsein einschließen" heißt, aber andererseits nur als ein „für mich dasein" einen verständlichen Sinn hat. Für mich ist aber etwas nur als Inhalt meines Bewußtseins da. Dieser scheinbare Widerspruch kann erst im folgenden aufgelöst werden. Der Satz wird alsdann bestätigt durch die Aufmerksamkeit auf das Innewerden des Aktes, das die Vorstellung des Objektes, wenn auch in gering merklicher Weise, zumeist begleitet. 52 Bei Gaertringen: des Auffassenden. 53 Kolloge setzt hinzu: und Berkeley, Kant und Fichte entwickelten von hier aus einen subjektiven Idealismus. 54 Gaertringen fährt fort: denn diese Ausdrücke sind nur richtig für von mir unterschiedene Objekte, die noch an und in meinem Bewußtsein bestehen. 55 Bei Drews findet sich die Variante: Diese drei Klassen von Vorgängen bilden letzte Tatsachen unsrer inneren Erfahrung, und auch die erklärende Psychologie vermag nicht, sie auf einander zurückzuführen. % R. H. Lotze, Medicinische Psychologie oder Physiologie der Seele, Leipzig 1852, S. 494. 57 Korrigierter Satz aus sinnentstellender Verkürzung. 58 Im Text Hinweis auf H. Helmholtz, Handbuch der physiologischen Optik, Leipzig 1867, S. 447ff. und Die Thatsachen in der Wahrnehmung, in: Vorträge und Reden, 2. Band, Braunschweig 1884, S. 217ff. 59 Bei Gaertringen: Illusionen. 60 Im Text Hinweis auf Helmholtz' Handbuch der physiologischen Optik, a.a.O., und Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik, Braunschweig 1863. 61 Am Rand von D.s Hand: Bis hierher diktiert. Nun ein § in Sätzen. [...]. 62 Am Rand von D.s Hand: 1. Die mechanischen Erschütterungen, welche in Berührung und Stoß perzipiert werden (Tast-, Druckempfindungen, Organgefühle, aber auch als inadäquate Reize). 2. Die Molekularbewegungen. Regelmäßige = Schwingungen. Durcheilen Gesicht, Gehör etc. 3. Die chemischen Prozesse. Wirken schon auf Organgefühle im chemischen Sinne. 63 Am Rand in D.s Handschrift weitere Beispiele für pathologische Zustände. 64 Am Rand Hinweis D.s auf die Physiologen Claude Bernard und C. E. Hering nebst einem kurzen Verweis auf Bedingungen der spezifischen Erregbarkeit der Nerven. 65 Am Rand von der Hand D.s kurze schematische Darstellung des Phänomens der spezifischen Sinnesenergien. 66 Am Rand von D.s Hand einige Belege aus der physiologischen Forschung. 67 Am Rand ergänzende Notiz D.s über den Raum als Bedingung der Tast- und Gefühlsempfindungen. 68 Im Text Hinweis auf I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Die transzendentale Ästhetik, §3. 69 Bei Gaertringen: empiristische. 70 Geändert aus: Form. 71 Von D. in Klammern gesetzt. 72 Bei Gaertringen: als Formen. 73 Bei Gaertringen: als Formen. 74 Klammerzusatz bei Kolloge: psychologische Tatsachen außer uns sind nur erschlossen, nicht wahrgenommen. 75 Kolloge beginnt den Satz: Indem dieselben Eigenschaften auf psychische Tatsachen außer uns übertragen werden...
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Anmerkungen zu Seite 186-193
Geändert aus: Bedingung. Zusatz D.s: Die Gültigkeit der inneren Wahrnehmung. 78 Im Text Hinweis auf Kant, Kritik der reinen Vernunft, Die transzendentale Ästhetik, § 8. 79 F. A. Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, 2. Buch: Geschichte des Materialismus seit Kant, 3. Aufl. Iserlohn 1877, S. 393. 80 Kolloge fährt fort: Aber das Sehen käme nicht zustande, wäre nicht in letzter Instanz in der Abfolge der vom Reiz ab statfindenden Vorgänge irgendwo ein Tatbestand, weil er da ist, für ein Bewußtsein da, in einem einfachen Innewerden. 81 Am Rand von der Hand D.s Skizze eines ergänzenden Schemas über Aufmerksamkeit und Bewußtseinsinhalt. 82 Kolloge fährt fort: Lotze fügt dem Beweise Kants den aus der Einheit des Bewußtseins hinzu, in welcher die Teile der Zeit aufeinander bezogen werden. 83 Unleserliche Randnotiz D.s. 84 Am Rand von der Hand D.s: Die Analysis des Denkens als logische (im Unterschied von der psychologischen) unterscheidet Gesetze und Formen desselben. 85 Ergänzung D.s: Zu diesen Bestandteilen stehen im Verhältnis die verschiedenen Weisen der Verbindung von Elementen, welche [...]. 86 Am Rand nicht zu entziffernde Bemerkung D.s. 87 Gaertringen fährt fort: Innerhalb dieser allgemeinen Form des Denkens unterscheiden wir die Denkformen im engeren Sinne, d. h. die verschiedenen Arten, in welchen durch Denkakte Verbindungen hergestellt werden. Diese Formen sind: Urteil, Begriff, Schluß, Denkzusammenhang. 88 Am Rand kaum entzifferbare Notiz über den Zusammenhang von Satz und Kategorie als Weisen der Verbindung. 89 Am Rand Notizen D.s zum Denkzusammenhang, in denen er den Inhalt der ersten Abschnitte des folgenden Paragraphen zusammenfaßt. 90 Bei Kolloge findet sich die Variante: Die Gesetze des Denkens sind Bedingungen der bewußten Konstruktion von Erkenntnissen aus der äußern Erfahrung; von dem Ursprung dieser Regeln in uns haben wir keine Erinnerung. 91 Kolloge fährt fort: Sie müßte alle allgemeinen Bedingungen enthalten, nach welchen Urteil, Schluß und Beweis aus dem Inbegriff der Erfahrung im Denkzusammenhang abgeleitet werden können. Sie dürften ferner nicht aufeinander oder auf weiter zurückliegende Formeln zurückführbar sein. 92 Am Rand von D.s Hand: Satz der materialen Wahrheit. Das logische Bedürfnis des Satzes. Die Aufgabe der erkenntnistheoretischen Logik, Anweisung zum vollständigen Erkennen zu geben. Notwendigkeit zu dieser Forderung: Der Erkenntniswert jedes Teiles der Erkenntnis muß durchsichtig sein. Dies fordert aber eine vollständige Analysis, welche so schließlich auch die Regeln des Denkens vermittelt [und] deren Bestandteil innerhalb des Denkzusammenhangs [...] vollständig umfaßt, und zwar nur innerhalb des diskursiven Denkens. Das allgemeinste Verhältnis der Bestandteile zum Denkzusammenhang ist nun im Satz von der materialen Wahrheit ausgedrückt. Formel des Satzes. Jede Aussage muß in den Inbegriff unter Empfindungen und Innenvorgängen (Innenzuständen?) gemäß den Denkgesetzen und in den Formen des Denkens enthalten sein. Beweis e contrario. Man zeige eine Aussage, die keine Erfahrungselemente enthielte, oder eine solche, die nicht Funktionen des Denkzusammenhangs einschlösse. Ist dies schon für das bisherige kritische Denken klar, so wird meine Analysis der Denkformen dies noch überzeugender dartun. Folgerung: In unserer Aussage ist alles nach einer Seite a priori, nach der anderen a posteriori. Der Satz kann im Grunde nur von erkenntnistheoretischen Ignoranten bestritten werden. Selbstverständlichkeit. Man könnte sich ein Denken vorstellen, das mit selbstersonnenen und abstrakten Voraussetzungen [ . . . ] formal richtig zusammenhinge, z. B. wenn man den Menschen als rein vorstellendes Wesen nähme [...]. 93 Geändert aus: Eppens. 94 Unleserliche Randbemerkung D.s. 95 Die Anführungszeichen wurden von den Herausgebern als Verdeutlichung gesetzt. 96 B. Erdmann, Logische Studien. Erster Artikel, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie 6 (1882), S. 28-61, hier: S. 33. 76 77
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Unleserliche Randnotiz D.s. Am Rand unleserliche Anmerkung D.s. 99 Zusatz D.s: Satz des Widerspruchs. Die Funktion des Satzes vorläufig bestimmt. Durch Definition wird aus dem Denkzusammenhang Widerspruch ausgeschlossen. Es ist eine Grundeigenschaft, daß es in seinem ganzen Zusammenhang diesem Verhältnis nicht erliegt, welches als Widerspruch bezeichnet wird. Das Verhältnis besteht darin, daß an einer Stelle eine Setzung stattfindet, an einer andern Aufhebung. Dies kann auch indirekt sein, so daß ein Widerspruch implizite besteht. Aus der Formel entstehen [?] Teilformeln: 1. Das Prädikat darf nicht dem im Subjekt gesetzten Inhalt widersprechen. Dieser Widerspruch ist sehr gröblich. Er ist daher für Diskussion und Kritik von keinem Belang. 2. Im Denkzusammenhang darf eine Setzung an keiner Stelle negiert werden. 3. Zwei positive Sätze haben dann unverträgliche Prädikate, wenn der in der Erfahrung gegründete Zusammenhang es ausschließt, daß dem Subjekt ein Prädikat zugeschrieben, das andere ihm zuerteilt wird. Dies ist nur der Fall, wenn aus der Anwesenheit des einen Prädikates die Ausschließung des anderen mit Notwendigkeit folgt. [ . . . ] muß schließlich auf ein Verhältnis von Setzung und Verneinung zurückgeführt werden. So löst sich erst die Aufgabe, die Formel brauchbar zu machen. Erst der Nachweis der Unverträglichkeit von zwei positiven Sätzen ist für die Kritik und Diskussion von [ . . . ] Wert. 100 Im Text Hinweis auf Aristoteles, Metaphysik, IV 3. 101 Bemerkung D.s am Kopf der Seite: Beispiel: Feuerbach und Marx! Der gegebene Zustand des wirtschaftlichen Lebens bringt die Formen des Rechts, des [ . . . ] und des Glaubens hervor. Carlyle: Wirkliche Arbeit ist immer auf eine Form des Glaubens begründet. Hauptsatz: Inwiefern nun Tatsachen sich ausschließen, ist nicht davon abhängig, daß sie entgegengesetzt sind. Alle kontradiktorisch entgegengesetzten Prädikate schließen als solche einander aus. Kontradiktorisch entgegengesetzt (contradictione opposita) sind solche, deren Eines die Verneinung des Anderen enthält. Es gibt aber auch Prädikate, die nicht kontradiktorisch entgegengesetzt sind und doch einander ausschließen. 102 Uber die Zeile geschrieben: definiert. 103 Am unteren Rand der Seite Bemerkung D.s: Hierin entscheidet nun der tatsächliche Zusammenhang und die Wirklichkeit, und es kann durch keine logische Analyse festgestellt werden. [ . . . ] Verneinung: ist eine Form des Denkens, welche nicht durch Eigenschaften der Wirklichkeit bedingt ist, sondern nur in der unseres Denkens gegründet. Sie ist nur im Urteil gegeben. Ein non-a hat kein verständliches Selbst für sich. Das a soll nicht vorgestellt werden, und diese Anforderung, ein non-a vorzustellen, wird deutlich gemacht, indem doch nur ein a vorgestellt wird. Dies erinnert an Kant [ . . . ] (ähnlich Sigwart). 104 Unleserliche Randbemerkung D.s. 105 Am Rand Notizen D.s zum logischen Problem der doppelten Verneinung. 106 Am Rand von der Hand D.s: Daraus: Methode der indirekten Beweisführung und das logische Recht derselben. 107 Geändert aus: Piaton. 108 In ausführlichen, hier weggelassenen Randnotizen von D.s Hand wird der Gedankengang des Paragraphen ohne sachliche Erweiterungen variiert. 109 Kolloge fährt fort: im Wechsel seiner Zustände, seines Tuns und Leidens (vergleiche in der moralischen Sphäre die Verbindlichkeit, welche an Willenserklärungen sich gebunden findet und ebenfalls in der Selbigkeit der Person ihre Grundlage hat). 110 Bei Kolloge findet sich eine andere Fassung dieses Abschnittes. 1" Am Rand von D.s Hand Skizze eines neuen Paragraphen: Die formalen Kategorien Die erste Gruppe von Kategorien besteht aus Begriffen, welche nur Formeln für die elementaren Operationen und die in ihnen bestehenden Verbindungsweisen sind. Solche sind [ . . . ] Einheit, Zahl, Gleichheit, Ähnlichkeit, Unterschied, Grad des Ganzen und des Allgemeinen, des Besonderen. Notwendigkeit. Grund, Folge. (Problem: wann in Sprache zuerst Konditionalsatz?). Diese Heraushebung der formalen Kategorien gegenüber dem, was D. später reale Kategorien 97 n
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nannte, läßt darauf schließen, daß diese Umarbeitungsnotiz relativ spät, d. h. Ende der achtziger oder Anfang der neunziger Jahre verfaßt wurde. Jedenfalls läßt sich aus den Vorlesungsnachschriften der Jahre 1886/87 (Drews) und 1887/88 (Goetze) ein eigener Paragraph über formale Kategorien noch nicht feststellen. "2 Von den späteren Fassungen dieser Vorlesung her gesehen, wäre hier zu ergänzen, daß neben die Kategorien der Substanz und Kausalität die der Essentialität zu treten hätte. Vgl. unten S. 206. 113 Geändert aus: Idee. 114 Gaertringen fährt fort: Assoziation, Gewöhnung an diese Verbände hinzutritt... 115 Am Rand Bemerkungen von D.s Hand zur Einheit verschiedener Sinneseindrücke in Raum und Zeit; die Randbemerkung gibt im wesentlichen den nebenstehenden § 30.2 wieder. 116 Am Rand von der Hand D.s: Wirken und Leiden. 1. Der Tatbestand: Dinge oder Personen stehen für uns in dem Verhältnis, daß wir das Erleiden der Veränderung im Zweiten auf ein Wirken in dem Ersten beziehen. Wir nennen das Erste Ursache, das Zweite Wirkung. Und da alle Dinge oder Personen bei anhaltender und vertiefter [?] Beobachtung unablässig Veränderungen zeigen, so setzen wir diese Kausalbeziehung überall. Ihre Formel ist: Jede Veränderung hat ihre Ursache. So treten die einzelnen Vorstellungen in einen unumkehrbaren [?] Kausalzusammenhang. Die Vorstellungen von Kraft, Ursache, Wirken bilden sich aus. Im Zusammen dieser Einheiten nimmt der Mensch infolge der Übertragung vom unabhängigen Willen eine Verbindung von Streben des Willens und regelmäßiger, kausal intendierter Abfolge an. Die Geschichte der Menschheit zeigt uns nun das allmähliche Anwachsen verständiger Berechnung und der auf sie gegründeten Handlungen in der Gesellschaft. Dieses ist aber überall auf Einsicht in die regelmäßige Abfolge von Ursachen und Wirkungen und die Benutzung derselben gegründet. Milliarden von Launen des Zufalls treten aber nunmehr zurück. Der Kreis fester Kausalität dehnt sich nunmehr aus. Das rechnende Denken erweist sich überall siegreich gegenüber der elenden Spekulation auf die Laune des Zufalls und die Macht des Dämonischen. Die regelmäßige Verbindung zwischen einer wirkenden Ursache und einer Veränderung in dem, was durch Zwecke bewirkt wird, tritt nun in Beziehung zu den Begriffen von Grund und Folge und dem Begriff von Verbindung. Nun wird die Bedingtheit des Effekts von der Natur des Wirkenden und Eigentümlichkeit [?] dessen, wodurch gewirkt wird, erkannt, eine Betrachtungsweise, die z. B. in bezug auf die Sinneswahrnehmung durch die Kausalitätsformel „causa aequat effectum" zum Ausdruck kommt (Sigwart [, Logik, Band] II[: Die Methodenlehre, Tübingen 1878, S.] 149). Es folgt eine unleserliche Ergänzung in Blei. 117 Am Rand von D.s Hand Notizen, die im wesentlichen eine Skizze des späteren §32 in den Vorlagen von Drews (1886/87) und Goetze (1887/88) darstellen. Der daraus entwickelte § 32 Essentialität oder das Wesen wurde von den Herausgebern auf der Grundlage der Vorlesungsnachschrift Drews dem Basistext angelagert: Essentialität oder Wesen. Tatbestand: Durch die ganze Metaphysik und Logik geht die Unterscheidung von substantia, attributum, von modus oder accidens. Dagegen Metaphysik arbeitet mit dem Begriff: Wesen, unterschieden von dem: Substanz. Wir verstehen unter Wesen die Eigenschaften, die für den Bestand des Selbst unentbehrlich sind. Ueberweg: Wesen = Inbegriff der wesentlichen Merkmale. Wesentlich sind die Dinge, welche den bleibenden und gemeinsamen Grund einer Mannigfaltigkeit von anderen [?] enthalten und welche b) das Bestehen des Objekts und den Wert und die Bedeutung abheben, die demselben teils als einem Mittel für anderes, teils an sich, als einem Selbstzweck im Stufenreich der Dinge, zukommen. [...] Grund ist die innere Erfahrung davon, daß inmitten unserer Lebensänderungen ein Verhältnis besteht, nach welchem wir die Bedeutung unseres Lebens in gewissen Zügen finden, von dem anderen absehen etc. So entstehen die Begriffe Bedeutung, Wert, Zweck und Wesen. Die Entwicklung des Begriffs macht den Kern des realen Verlaufs aus. [...] Dieser Begriff greift am tiefsten in den Lebenszusammenhang. Er ist in dem Lebensgefühl begründet, welches im Kreis von Eigenschaften oder Verhältnissen durch die Energie eines zusammenfassenden Prozesses sich bildet, das [zugleich] darüber hinausführt oder gleichsam freiläßt. So hängt dieser Begriff auch mit dem von Wunsch [?] und Ideal zusammen.
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Wesen kann durch Zusammenhang nicht festgestellt werden. Aber es ist eine geniale Operation, durch welche das Ganze begriffen [wird] etc. [ . . . ] 118 Drews fährt fort: Grund und Folge ist ein logisches Verhältnis, Ursache und Wirkung ein reales Verhältnis. Ursache geht der Wirkung voraus und doch müssen beide gleichzeitig sein, denn im Effekt muß die Ursache enthalten sein. Die äußere Erfahrung gibt nur eine Aufeinanderfolge, daß die Veränderung eine Ursache in der Zeit habe. Freiheit und Notwendigkeit sind Erfahrungsbefunde unsres Seelenlebens. Dieses bildet einen Zusammenhang, in dem die Vorgänge einander erwirken. Ein Gefühlszustand ruft eine Gebärde hervor. So erfahren wir Kausalitätsverhältnis in doppelter Art. Annahme zweier Prämissen zwingt zum Schluß. Antrieb wird durch das Gefühl erwirkt, den der Willen nicht zurückhalten kann. Nur ob man ihm folgt, ist frei. Andrerseits Antriebe treten auf nach zwei verschiedenen Richtungen, hieraus folgt keine Notwendigkeit. So gehört das Problem der Freiheit in die Psychologie. Freiheit ist nicht Auftreten eines Vorgangs ohne Motive, dies widerspricht dem Kausalgesetz. Freiheit ist wie Notwendigkeit ein Produkt der Überzeugung, sie ist Dogma. 1,9 Aristoteles, Analytica posteriora I11, 77a 5-7. 120 Bei Kolloge findet sich die Formulierung: Will man den von Aristoteles geschaffenen Ausdruck der Kategorie benutzen, so wird man logische und reale trennen müssen. Identität, Unterschied sind logische Kategorien; die beiden realen sind Substanz und Kausalität. 121 Am Rand von D.s Hand Entwurf für einen Zwischenparagraphen: § 34. Dieser logische Operationenkreis und die Kategorien wirken in der Wahrnehmung und sind Grund ihrer Intellektualität und bilden die Grundlage der Formen des diskursiven Denkens. Eine weitere Randnotiz bezieht sich auf die Möglichkeit verschiedener Ordnungsprinzipien in der Lehre vom Urteil. 122 Drews fährt fort: Das primäre Urteil drückt die Tatsächlichkeit aus, das Einfache, Unzerlegte: z . B . es regnet. Indem wir nun alles Äußere in Form der Substanz, der Eigenschaften Tun, Leiden, Leben zukommt, ansehn, entsteht der Satz: Der Stein ist warm. Eine Zerlegung, in der die Substanz von ihren Akzidenzien abgesondert wird. Das Urteil entspringt aus dem Zusammenhang des Seelenlebens. Immer bezieht es sich auf Wirklichkeit. 123 Bei Gaertringen: Unterschiede. 12< Bei Gaertringen: Ferner unterscheidet er Urteile, die ein wirkliches, ein mögliches oder ein notwendiges Sein aussagen. 125 Chr. Sigwart, Logik, Band I: Die Lehre vom Urtheil, vom Begriff und vom Schluß, Tübingen 1873, S. 210. 126 I. Kant, Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren, in: Gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Band II, Berlin 1905, S. 49. 127 Kolloge fährt fort: Jedes der großen Gebiete des geistigen Lebens kann als in dem Willen begründet und demnach von dem Zweck geleitet nicht in eine einfache Klassifikation aufgefaßt werden, sondern nur durch den Begriff der Entwicklung verstanden. Dies die Wahrheit des von Hegel aufgestellten Prinzips. Er irrte aber, indem er die großen Gebiete des geistigen Lebens, Religion, Kunst, Wissenschaft, ebenfalls als Stufen einer Entwicklung auffassen wollte. Sie treten vielmehr in einem Differenzierungsprozeß aus der Totalität des geistigen Lebens und entwickeln sich nebeneinander. So auch die Wissenschaft neben der Kunst, der Religion, der Sittlichkeit. 128 Die nachträgliche Uberschrift Die formale Seite der Urteile ist durchgestrichen und von D. ersetzt durch Genetische Betrachtung der Formen des Urteils. 129 Bei Gaertringen: zweigliedriger Satz. 130 Am Rand ergänzende Notizen D.s über die Struktur allgemeiner und notwendiger Urteile. 131 Am Rand von der Hand D.s: Da es disjunktiv-hypothetische Urteile gibt, kann man auch von hieraus Bedenken zu der Dreiteilung haben. Dann entstünden I prädikative Urteile 1. kategorische, 2. disjunktive [und] II konsekutive Urteile 1. kategorische, 2. disjunktive. 132 Am Rand unleserliche Bleistiftnotizen D.s über das disjunktive Urteil. 133 Bei Gaertringen: Differenz. 134 Eine weitere Einfügung D.s nicht zu entziffern. 135 Am Rand nicht einzubringende Gliederungsnotiz D.s: II. Analytische Betrachtung der For-
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men des Urteils. 1. Formen des Urteils nach seinem Inhalt angesehen. 2. Formen des Urteils nach seinem Umfang angesehen. 136 Am Rand zusätzliche Notizen D.s Uber die Behandlung des Begriffs in der formalen Logik. 137 Es folgt eine nicht zu entziffernde Bleistiftnotiz D.s. 138 Am Rand von der Hand D.s: (Cf. Sigwartf, Logik, Band I, a.a.O., S.] 390 ff.) §43 a. Jede Ableitung setzt unmittelbar gegebene Urteile voraus. Die erste Klasse unserer Urteile über Seiendes sind die, welche das unmittelbare Bewußtsein unseres eigenen Tuns aussprechen. Die Voraussetzungen, die in ihnen enthalten [sind], sind in der voraufgehenden erkenntnistheoretischen Analyse begründet. So die Einheit des Tätigen und seiner Tätigkeit, die Einordnung der psychischen Vorgänge in einen objektiven Verlauf. Die zweite Klasse von unmittelbar auftretenden Urteilen über Seiendes sind die Wahrnehmungsurteile. Ihre schon analysierten und erwiesenen Voraussetzungen liegen in dem Rechte, die im Bewußtsein auftretenden Ausdrücke auch unabhängig von einem bestehenden Objekte zu betrachten und die Eigenschaften, die in der Wahrnehmung gegeben sind, als Zeichen einer von uns unabhängigen Mannigfaltigkeit von Ursachen zu benutzen. Eine weitere Klasse von unmittelbaren Wahrheiten ist in den Axiomen und Postulaten enthalten. Endlich können nach dem Satz des Widerspruchs die in festgestellten Begriffen gelegenen, selbstverständlichen Verhältnisse in Urteilen entwickelt werden. Nachträgliche Einfügung: Hierher 43 b §44. Die erste Form der Ableitung eines Urteils aus dem Gegebenen ist die unmittelbare Folgerung, d. h. die Ableitung eines Urteils aus Einem Gegebenen. Diese kann natürlich nur Umformung, Transformation eines Urteils sein. Bei Gaertringen: Begriffswissenschaft. I. Kant, Logik, in: Gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Band IX, Berlin 1923 S. 120. 141 Zwischen den Schlußfiguren mehrere unleserliche Notizen von D.s Hand. 142 Einige Ergänzungen D.s zur Schlußlehre hier weggelassen. 143 Geändert aus: Bedingten. 144 Vgl. F. Ueberweg, System der Logik und Geschichte der logischen Lehren, verbesserte, vermehrte Aufl., hrsg. von J. B. Meyer, Bonn 1882, S. 399ff. 145 Randnotizen D.s nicht zu entziffern. 146 Geändert aus: Cheaveur. 147 Am Rand einige Stichworte D.s zu einzufügenden Paragraphen über Induktion und Determination. 148 Wie beide Nachschriften belegen, hat D. im Kolleg 1884/85 den §51 nicht mehr diktiert. Gaertringen hat diese Stunde frei nachgeschrieben. Da dieser Text Überlegungen enthält, die in der späteren Fassung der Vorlesung nicht mehr begegnen, drucken wir dieses Schlußstück der Nachschrift Gaertringen hier ab. 139
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§51. Ergänzung der formalen Betrachtungsweise des Schlusses durch die erkenntnistheoretische Betrachtung und Übergang der Logik in die Methodenlehre der einzelnen Wissenschaften Die rein formale Behandlungsweise des Schlusses ist unhaltbar. Anzuerkennen ist die Berechtigung der drei ersten Figuren. Aber schon die vierte ist eine Drahtpuppe. Hypothetische und dis-
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junktive Schlüsse sind unmöglich durch die bloße Betrachtung von Umfangsverhältnissen aufzuklären. Die Behandlung der Induktion, vollends nach Gesichtspunkten der formalen Logik, ist unfähig, die Tatsachen selber aufzuklären; denn sie trennt die vollkommene und unvollkommene [Induktion]. Nach Aristoteles ist die Induktion ihrer Form nach verlaufend im folgenden Schema: a, b, c sind p. A, b, c sind s; also: s ist p. Dies Schlußverfahren ist nur möglich, wenn ich den Untersatz konvertieren kann. Alsdann wandle ich die Form der Induktion in die Form eines Schlusses der ersten Figur um. S ist a, b, c; a, b, c ist p; folglich s ist p. Diese Unterordnung der Tatsachen der Induktion unter die Form des Syllogismus ist geknüpft an die Bedingung der vollzähligen Aufzählung der Fälle, die im s enthalten sind. (Aristoteles: Die Tiere ohne Galle sind alle auch langlebig, denn die Reihe der gallenlosen Tiere, die wir kennen, ist zugleich langlebig. Dieser Schluß ist solange nicht streng bewiesen, als man die ganze Reihe aller Tiere, die ohne Galle sind, durchlaufen hat.) Aber solch Schluß ist in solchem Falle vollkommen wertlos; nur Veränderung der Form, aber nicht Erweiterung des Inhalts. Der wertvolle Induktionsschluß ist der unvollständige, den Aristoteles in die Ecke schob, weil er ihn dem Syllogismus nicht unterzuordnen schien. Gerade diese unvollkommenen Induktionen machen die Grundlage der gesamten modernen Naturwissenschaft aus. John Stuart Mill nahm eine Gleichförmigkeit im Naturzusammenhang an: eine bestimmte Gleichheit von Fällen reiche aus, um auf alle zu schließen. Solche Voraussetzung ist erst durch Erfahrung, d. h. Induktion, zu erweisen. Wir befinden uns so in einem Zirkel. A u s einer Reihe von Fällen auf alle zu schließen, ist ein Trugschluß (wie wenn einer, der sein ganzes Leben unter Weißen zugebracht hat, daraus schließt, daß es nur weiße Menschen gäbe). Die formale Logik war außerstande, den Grund zu entdecken, auf dem die Stringenz des induktiven Schlusses beruht, der die Grundlage aller Erfahrungswissenschaft ist. Die Berechtigung des Schlusses der Analogie hat die formale Logik gar nicht deutlich zu machen gesucht. Dieser Schluß vom Besonderen zum Besonderen fällt heraus aus dem Schema von Begriffsvergleichungen der formalen Logik. Sie vermag das Recht zu diesem Schlüsse überhaupt nicht zu geben. So versagt überhaupt die formale Logik. Die Voraussetzung aller ihrer Schlüsse ist die Existenz der Begriffe, aus denen sie wie in einem Schachspiel zusammengesetzt werden. Aber woher stammen diese Begriffe, deren Zusammensetzung die formale Logik ergab? Die formale Logik betrachtet sie wie strukturlose Elemente des logischen Prozesses, in Wirklichkeit aber sind diese Begriffe Ergebnisse eines höchst komplizierten Denkprozesses, in dem sie entstanden sind. Zirkel der formalen Logik: Sie geht aus von jenem Ideal des Schlusses, dem Schluß barbara. Daß aber in diesem Schlüsse ein allgemeines Verhältnis zugrunde gelegt sei, welches selbst seinen Gründen nach nicht aufgeklärt ist, verschweigt sie. In dem Schluß barbara schließe ich aus der Einordnung eines Begriffs in den andern, der Einschachtelung von drei Begriffssphären ineinander. Ursprung dieser Einschachtelung: der Sokrates, dem Sterblichkeit zugeschrieben, steckt schon in dem Gesamtbegriff Mensch enthalten. Er wird nur herausgezogen; der Schluß der ersten Figur hat die Induktion erst zur Voraussetzung, durch die der allgemeine Satz erst entstehen kann. Der allgemeine Satz muß in seiner Entstehung aufgeklärt werden, und er kann es in der formalen Logik überhaupt nicht. Denn dies ist ihre andere Schwäche, daß sie außerstande ist, die Induktion erklärbar zu machen, die die Basis aller ihrer Schlüsse ist. Auf Induktion beruhen jene Termini, die allgemeinen Sätze, deren sie sich bedient. Die Induktion aber ist im Zusammenhang der formalen Logik gänzlich rätselhaft, denn sie kennt nichts als Begriffsvergleichung, und aus dieser entsteht niemals das Recht, aus einer Anzahl von Fällen auf andre zu schließen; Fortgang zu machen auf ein kausales Verhältnis, ein Verhältnis der Abhängigkeit. N u r Prozedur. Die Treppe herauf und wieder herunterzukommen. Wir stellen dieser ganzen Betrachtungsweise diejenige gegenüber, deren wir uns im ganzen Verlaufe der Darstellung der Logik bedienten und die sich hoffentlich auch am Schlüsse derselben bewährt. Die ganze logische Untersuchung unternahm es zu zeigen, die logische Operation bestehe in der Herstellung von Beziehungen zwischen Elementen: diese Elemente sind Empfindung und innere Wahrnehmung. [Die Beziehungen,] die zwischen ihnen bestehen, sind ebenfalls Erfahrung. Erfahrung also ist es, welche immer das einzelne Element vermittelt und die in der Auffassung einer jeden Beziehung vorliegt. Es ist ein Vorgang von Erfahrung, indem ich vergleichend eine Empfindung an die andre halte, die Erfahrung ist es, welche identifiziert oder unterscheidet oder Grade heraushebt; es war Erfahrung, vermöge deren ich das Aufeinanderfolgen oder das Si-
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multanauftreten von Elementen aussage, vermittelst deren ich räumliche Beziehungen feststellte, vermittelst deren ich jene inneren Bezüge feststelle, welche komplexerer Art sind und auf der Substanz und Kausalität beruhen. Hier jedoch müßte eine Unterscheidung gemacht werden. Die inneren Beziehungen, vermöge derer ich Substanz und Eigenschaft unterscheide, alsdann voneinander Ursache und Wirkung trenne, diese Art von inneren Beziehungen hatten zu ihrem Ursprung die innere Erfahrung. Sie sind daher vollständig berechtigt, als objektive Eindrücke eines wirklichen Tatbestandes in der Anwendung auf die innere Erfahrung. Sie sind dagegen in Rücksicht auf die Auffassung unserer Erfahrungstatsachen nur Zeichen einer regelmäßigen Verknüpfung und einer uns rätselhaften Zusammengehörigkeit. Wenn ich irgendein Ding als ein Ganzes auffasse, an welchem Eigenschaften erscheinen, so führe ich in das Aggregat der Empfindungen, das in der Wahrnehmung gegeben ist, die Annahme eines inneren Zusammenhanges ein, welcher jenseits der Wahrnehmung liegt und aus der inneren Erfahrung als lebendiger Mittelpunkt diesen Dingen eingepflanzt wird. Wenn ich bei der regelmäßigen Aufeinanderfolge das a als Ursache und das b als Wirkung bezeichne, so führe ich auch hier eine innere Beziehung [ein], welche ich als solche nicht imstande bin, in der äußeren Erfahrung aufzuzeichnen, welche aus meiner inneren Erfahrung folgt. Diese belebten gleichsam diese innere Erfahrung, indem ich die Art der Regelmäßigkeit der inneren Aufeinanderfolge und inneren Zusammengehörigkeit als Verhältnis von Ursache und Wirkung auffasse. Ganz ebenso haben andere Beziehungen, Substanz und Akzidens usw., in den Gebieten der äußeren Erfahrung nur den Wert von Zeichen für eine Zusammengehörigkeit, deren wahre Natur innerhalb der Außenwelt mir unbekannt bleibt. Dagegen innerhalb der inneren Erfahrung haben diese inneren Beziehungen, Substanz und Akzidens etc., vollständige Realität und Gültigkeit. Ich bin als Person ein solcher innerer Mittelpunkt, der [ . . . ] das Mannigfaltige zu einer Einheit verknüpft. Mein Wille ist eine Kausalität; dies sind innere Erfahrungen, deren ich mich jederzeit vergewissere und mit denen ich den Zusammenhang des Geisteswissens objektive herzustellen imstande bin. So ergibt sich als Grundverhältnis, wenn wir vergleichen Natur- und Geisteswissenschaften. Innerhalb der Naturwissenschaften sind die Elemente dieselben, die Empfindung Zeichen von etwas, dessen objektive Tatsächlichkeit zwar in Existenz gewiß, aber in den Eigenschaften uns unbekannt ist. Die Art der Beziehung, welche wir zwischen Empfindungsaggregaten herstellen, Vorstellung eines Dinges in Eigenschaften, Verknüpfung nach Ursache und Wirkung, haben in den Naturwissenschaften nur den Wert von Zeichen. Die gesamte Naturwissenschaft ist nichts anderes als ein Zeichensystem für einen Zusammenhang von Anschauungen, deren objektive Tatsächlichkeit uns unbekannt ist und unbekannt bleiben muß. Es liegt in der Natur der Sache, daß wir uns nicht eine Vorstellung bilden können werden, welche die Eigenschaften des von uns Unabhängigen seien, daß nur in Wechselwirkung in unserem Bewußtsein Mannigfaltigkeit der Empfindungen, Beziehungen des Denkens gegeben sind. Anders in den Geisteswissenschaften. Gefühle, Willensakte sind uns so gegeben, wie in Wirklichkeit; kein Unterschied ist zwischen dem, was ist, und dem, was uns gegeben ist auf dem weiten Gebiete der Seelenerscheinungen. So wie uns diese Tatsachen gegeben sind, sind sie objektiv, existieren sie; das Im-Bewußtsein-Gegebensein, Für-uns-Gegebensein, Sein ist in dieser Sphäre alles dasselbe. Auch die Weisen, wie wir solche Beziehungen herstellen, sind objektive Wahrheiten. Wir sind berechtigt dazu, die Einheit der Person in aufeinanderfolgenden Zuständen als Realität zu fassen und Wechselwirkung der Personen als Tatsache aufzunehmen. Es eröffnet sich das Reich der Wechselwirkung von individuellen Persönlichkeiten in der geschichtlichen und gesellschaftlichen Welt. Es gibt eine objektive Erkenntnis dieses Zusammenhangs des Reiches der Personen. Hieraus ergibt sich die verschiedene Benutzbarkeit der Beziehungen, welche die Logik zu erörtern die Aufgabe hat. Innerhalb der Naturwissenschaften besteht die Tendenz, die Mannigfaltigkeit der Beziehungen, welche das populäre Denken entwickelt, alle zu ersetzen durch eine gleichsam formale Repräsentation, durch eine einzige rein formale Beziehung, die der Abhängigkeit. Das Auftreten einer Tatsache ist entweder simultan mit anderen oder nacheinander abhängig jede von dem Auftreten der ersten Tatsache. Dies die Form, in welcher die Naturwissenschaft die Beziehung der Elemente aufzufassen die Neigung hat. Wenn das populäre Denken die Dinge, die uns umgeben, im Verhältnis des Tuns und Leidens sieht, fallen sie kritisch in das Gebiet von Zeichen und Ausscheidung (?). Wenn wir innere Beziehungen vertreten lassen durch die allgemeinen Formen von Abhängigkeit eines Elementes
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von dem anderen, so entsteht jenes Grundschema der Naturwissenschaft. Abhängigkeit zusammen auftretender Erscheinungen voneinander ist es, was an die Stelle des Denkbegriffs tritt. Abhängigkeit von aufeinanderfolgenden Erscheinungen an die Stelle des Obersatz-Begriffs. Begriff der Funktion entwickelt Abschluß: Mathematik. So bildet sich die Naturwissenschaft zu einer immer reineren und strengeren Form aus, indem sie das Abhängigkeitsverhältnis in die Mitte setzt. Was aber heißt Abhängigkeit eines Elementes a von einem anderen b? Regelmäßigkeit der Aufeinanderfolge und Voraussetzung der Existenz eines inneren Zusammenhangs. Da das a jedesmal das b nach sich zieht, schließen wir, daß das a mit dem b in einem inneren und notwendigen Zusammenhange stehe. Wohl betrachtet das populäre Denken diese Art von Zusammenhang bald als die von Zweck und Mittel, bald als von Ursache und Wirkung, von Substanz und Akzidens. Doch sind das nicht Betrachtungsweisen, die dem strengeren Denken genugtun können, es setzt nur den symbolischen Ausdruck für eine innere Beziehung an die Stelle dieser inneren Beziehung selbst. Anders auf dem Gebiete der Geisteswissenschaften. Es wäre für diese eine nutzlose naturwissenschaftliche Koketterie, wollten sie die in ihr gegebenen Beziehungen ersetzen durch das Abhängigkeitsverhältnis und so auch ihren Denkzusammenhang in dieselben abstrakten Formen umwandeln. Wenden wir das jetzt Entwickelte nunmehr an auf die Tatsachen des Schlußverfahrens. Auch in dem Schluß handelt es sich um die Herstellung von inneren Beziehungen. Jeder Schluß ist nichts anderes als die Ableitung einer Beziehung, die noch nicht für das Bewußtsein vorhanden ist, aus gegebenen Elementen und gegebenen Beziehungen. Jeder Schluß folgerecht ist nichts anderes als eine Kombination von Urteilen, welche solche Beziehungen in sich schließen. Alle die Einsichten, welche w i r über den Wert und die Entstehung dieser Beziehungsweisen bisher gewonnen haben, haben auch ihre Anwendung auf die Schlüsse. Nun kann ich aber Beziehungen, welche zwischen Elementen stattfinden, immer erschließen, indem ich die Regelmäßigkeit des Zusammentretens dabei zum Ausgangspunkt nehme. Das einzige Hilfsmittel, welches das logische Denken hat, um eine innere und notwendige Beziehung zwischen gegebenen Elementen zu erweisen, liegt in der Regelmäßigkeit des Zusammenseins oder der Aufeinanderfolge; und hier enthüllt sich Ihnen am Schlüsse der Logik das wahre innere Verhältnis, welches entsteht zwischen den Begriffen des Allgemeinen und Notwendigen. Das Notwendige, d. h. das Vorhandensein einer zwingenden Beziehung von a zu b, ist für uns immer nur gegeben in der Erscheinungsweise des Allgemeinen. Das Allgemeine, daß nämlich in dem ganzen Umfange aller uns erreichbaren Fälle des a jederzeit das b nach sich zog, ist die Art, wie uns das Notwendige, namentlich die innere Beziehung, gegeben ist. In diesem Punkt löst sich nun das gesamte Verhältnis zwischen der erkenntnistheoretischen und formalen Logik in letzter Instanz auf. Betrachtet die formale Logik alle Verhältnisse nach den Relationen von Allgemeinheit, so sind diese der notwendige Ausdruck der Abhängigkeits- oder Beziehungsverhältnisse. Daher läßt sich in der Tat die ganze Logik, welche Beziehungen von Elementen zueinander zum Gegenstand hat, ebenso auch darstellen als Beziehung von Umfangsverhältnissen von Begriffen zueinander. Denn die Allgemeinheit ist das Zeichen der Notwendigkeit, die Art, wie für uns Notwendigkeit da ist. Wir sind nicht imstande, die notwendige Beziehung eines a und b per se und unmittelbar zu erfassen; nur zu erschließen aus regelmäßiger Wiederkehr. Von hier aus können wir uns die Stellung der einzelnen Schlüsse sehr einfach erklären. Gegeben ist uns die große Mannigfaltigkeit von Sukzession und Koexistenz innerhalb der Außenwelt. Innerhalb derselben treten Gegenstände auf, verschwinden für uns, ändern sich, wechseln. Es wäre für uns nicht möglich, aus diesem Bestände eine Zusammengehörigkeit von Elementen abzuleiten, falls wir nicht als erste Operation diese Objekte zerschlügen: Zerlegung der uns gegebenen Einzelobjekte in Elemente. Indem wir diese Zerlegung vornehmen, können wir Regelmäßigkeit der Aufeinanderfolge zwischen den Elementen aufzeichnen. Wir können jetzt zeigen, daß, sooft das a auftritt, das b folgt. Haben wir eine Gruppe a, b, c, d, e und eine zweite Gruppe f, g, h, i, k und sehen wir, daß das erste Empfindungsaggregat zur Folge hat das Auftreten des zweiten unter anderen Umständen wie das Auftreten eines anderen, so können wir zunächst hiermit keine wissenschaftliche Operation vornehmen. Zerlegend können wir zeigen, daß, sooft das a auftritt, das b usw. Die Analysis sonach ist die erste und ursprünglichste unter allen Produktionen, deren sich das logische Denken bedient. Alsdann: Schluß der Analogie. Wir schließen von einem gegebenen Tatbestand
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auf einen anderen gegebenen Tatbestand, wir schließen von dem Besonderen auf das Besondere. Dieser Schluß hat sein Recht nur darin, daß innerhalb seiner eine Zusammengehörigkeit uns sichtbar wird zwischen den Elementen a und b in dem Tatbestand A und den Elementen c und d in dem Tatbestand B. Wir schließen: Das a ist begleitet von dem b, das c ist dem a ähnlich, folglich wird es von etwas begleitet sein, was dem b ähnlich ist. Bisher ist die Voraussetzung die Zusammengehörigkeit zwischen a und b, welcher ganz entspricht eine Zusammengehörigkeit zwischen c und d. Wenn dieser Schluß ganz aufgeklärt würde, würde er zum Schlüsse der Induktion: es würde das Zusammengehörige herausgehoben, könnte in einem allgemeinen Satze formuliert werden. Umwandlung: 1. In einem Schluß vom Einzelnen zum Allgemeinen und weiter rückwärts, 2. von dem Allgemeinen zu einem jenem ersten Einzelnen verwandten Einzelnen. - Der Schluß der Induktion zeigt zwei Seiten. 1. Aufsuchen einer inneren Beziehung zwischen Elementen, 2. Aufsuchung einer Gleichförmigkeit im Zusammensein oder der Aufeinanderfolge der beiden Elemente. Dies Verhältnis ist im ganzen bisher Entwickelten dargelegt. Das Recht zum Schlüsse der Induktion ist nicht im formalen Begriffsverhältnis zu suchen, auch nicht in der Voraussetzung der Gleichförmigkeit des Naturzusammenhanges, sondern in unserem Bewußtsein von der Existenz innerer Beziehungen zwischen den Elementen in der Welt; noch näher: in der Voraussetzung eines Kausalzusammenhangs in der Welt. Denn unter Kausalzusammenhang können wir die reale Abhängigkeit einer Tatsache von der anderen verstehen. Dies Bewußtsein, nachdem das Auftreten eines Elementes an das andere gebunden ist, ist nicht unter der Induktion allein möglich. Demgemäß ist die Betrachtung der einzelnen Fälle in der Induktion nur ein Hilfsmittel, dessen sich dieselbe bedient, um gewiß zu werden des Bestandes eines inneren Zusammenhangs. Die Verfahrungsweise der Induktion ist: Erstens sie sammelt alle diejenigen Fälle, in welchen ein a zusammen ist mit einem b oder ein b zur Folge hatte. Das zeigt, wie, gleichviel ob das a mit einem r oder z zusammen war oder mit einem p, jedesmal, wenn das a da war, das b mit dem a verbunden, simultan oder danach auftritt. Die Induktion sucht diese Weise zu vereinigen mit den beiden anderen: Sooft das a fehlt, ist auch das b nicht vorhanden; und endlich: Das Wechseln im gradweisen Auftreten des a hat eine Verschiedenheit der Grade in dem b zur Folge. Diese drei Weisen sucht die Induktion zu vereinigen. Hierbei bedient sie sich am meisten des Experimentes zur Erleichterung. Sie schließt aus positiver, negativer Instanz und Betrachtung der Grade, immer aber auf eine innere Zusammengehörigkeit des a mit b. An die Induktion schließen sich also die syllogistischen Verfahrungsweisen; dieselben haben zu ihrem Gegenstande Beziehungen, die direkt nicht nachgewiesen werden können und durch die Einführung eines Mittelglieds zu erweisen sind. Ich bin damit an den Abschluß dieser meiner Vorlesung gelangt. Gern würde ich die Betrachtungen, zu denen ich erst am Schlüsse gelangt bin, etwas weitergeführt und die Verfahrungsweisen der Naturwissenschaft eben der Geisteswissenschaft nähergelegt haben. Wenn ich nun zurückblicke, so hoffe ich, daß Sie aus dieser Vorlesung mitbringen eine fundamentale Uberzeugung, welche das Gesamtresultat dieser langen Erörterung ist: Die gegenwärtige Philosophie neigt dazu, in einem öden Phänomenalismus unterzugehen. Sie geht davon aus: Gegeben sind uns nur Anschauungen, und Anschauungen haben ihren Ort nur in unserem Bewußtsein. Die Annahme, daß es etwas unabhängig davon gäbe, ist eine unbeweisbare Voraussetzung. Und die Annahme des Dinges an sich oder des Affizierenden ist der letzte Rest des Dogmatismus in dem System von Kant; die Folgerung, daß es nichts gäbe als Zusammenhang der Erscheinungen in unserem Bewußtsein, erscheint als das letzte Resultat. Dies wird in der gegenwärtigen Philosophie verknüpft mit der Uberzeugung, daß wir in den positiven Wissenschaften den Zusammenhang der Erscheinungen besäßen und uns dadurch orientieren könnten im Zusammenhang der Objekte. - Aber unberücksichtigt bleibt: Im Grunde denken wir doch nur, um zu handeln. Es handelt sich um Feststellung einer Richtung des persönlichen Lebens. Hier entsteht das Hilfsgeschrei, das sich einesteils an die Metaphysik richtet, die nicht mehr bestehen kann, andererseits an die Religion. Umsonst: Wenn nichts da ist, als Phänomene, sind die inneren Beziehungen, die die Religion zwischen den religiösen Bewußtseinstatsachen setzt, nur Phänomene in einem zeitlosen Bewußtsein. Es schwindet die Grundlage für eine mögliche Religiosität, wie für Metaphysik. Das ist eine Spiegelfechterei, einen Zusammenhang herzustellen zwischen dem reinen Phänomenalismus und der Religiosität, deren Voraussetzungen unhaltbar sind. Im Gegensatz gegen diese ganze Basis der
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meisten gegenwärtig herrschenden Systeme unternahmen wir, die Wirklichkeit zur Grundlage zu machen, Wirklichkeit der inneren Erfahrungswelt festzustellen, Wirklichkeit der Existenz einer Außenwelt zu erweisen, uns zu ermöglichen, uns in derselben als in einem System von Zeichen zu orientieren als Grundlage für ein reinwissenschaftliches Verhalten dem Problem des Selbst gegenüber. Späterer, schwer zu entziffernder Zusatz D.s am Rand behandelt den Strukturzusammenhang des Seelenlebens und den damit gegebenen Zusammenhang zwischen Eindrücken und zweckmäßigen Bewegungen, wie dies D. an anderen Stellen seiner psychologischen Schriften weiter ausgeführt hat. Die Terminologie deutet auf eine Abfassungszeit der Randnotizen nach 1887. 150 Am Rand von der Hand D.s: Unter Methode verstehen wir das Verfahren, durch welches innerhalb dieses Zusammenhangs eine Aufgabe der Erkenntnis aufgelöst wird, die für sich abgegrenzt und behandelt werden kann. 151 Eine Zwischennotiz von D.s Hand läßt erkennen, daß für das unter Punkt 3 Ausgeführte ein eigener Paragraph, etwa mit dem Titel Die drei Methoden der Induktion und der Erklärung, treten sollte. Ebenso sollte für Punkt 4 ein eigener Paragraph mit dem Titel Der Rechtsgrund der Induktion eintreten.
D. Die späten Vorlesungen zur Systematik der Philosophie (Berlin 1899-1903) In diesem letzten Teil des Bandes sind Nachschriften von D.s letzter großer systematischer Vorlesung über System der Philosophie in Grundzügen abgedruckt. Von diesem Kolleg war bislang nur das „letzte Manuskript der Einleitung" bekannt, das B. Groethuysen in dem von ihm herausgegebenen Band VIII der Ges. Sehr., zusammen mit zwei Manuskripten, die nicht zum Kontext der Vorlesung gehören, mitgeteilt hat (vgl. Ges. Sehr. VIII, S. 190-205; das Ms. der Einleitung zur System-Vorlesung: Ges. Sehr. VIII, S. 190-199). In seiner editorischen Notiz zu diesem Ms. teilt Groethuysen mit, D. habe diese Vorlesung ab 1898 mehrmals gehalten (vgl. Ges. Sehr. VIII, S. 267). Die gedruckten Vorlesungsverzeichnisse der Berliner Universität zeigen allerdings demgegenüber, daß D. diese Vorlesung erstmals für das Sommersemester 1899 ankündigte; er las dieses Kolleg seit 1899 jeweils im Sommersemester, zum letzten Mal im Sommersemester 1906. Von dieser Vorlesung standen uns fünf, jeweils undatierte Nachschriften zur Verfügung: 1. Nachschrift von Willy Kabitz. Fundort: Dilthey-Nachlaß der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. W. Dilthey, 9,4 (fO Seiten; die Seiten 33 und 34 sind unbeschrieben). 2. Nachschrift von Georg Misch (1). Fundort: Dilthey-Nachlaß der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. W. Dilthey, 9,8 (182 Seiten; die Seiten 3 bis 14 fehlen). 3. Nachschrift von Herman Nohl (1). Fundort: Dilthey-Nachlaß der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. W. Dilthey, 9,3 (94 Seiten; die Seiten 80 und 92 sind unbeschrieben). 4. Nachschrift von Herman Nohl (2). Fundort: Dilthey-Nachlaß der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. W. Dilthey, 9,1 (29 Seiten). Dieser Nachschrift liegt ein handschriftlicher, undatierter Hinweis von Georg Misch bei: „Dies ist, wie der beiliegende Brief von Prof. Herrn. Nohl (Göttingen) zeigt, eine von ihm 1934 hergestellte Schreibmaschinen-Schrift der von ihm auf Diltheys Wunsch hergestellten Nachschrift seines letzten Kollegs über Das System der Philosophie (Philosoph. Grundlegung). Georg Misch"
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Anmerkungen zu Seite 235
Der Brief Herman Nobls an Misch lautet: Göttingen 7/8 34 Lieber, ich schicke Dir hier das Dilthey-Kolleg. Es war das letzte, das er gehalten hat. Für den Schlußteil hatte er mich gebeten, es genau mitzuschreiben. Er bekam einen Abdruck. Daher die andere Schrift. Den Anfang habe ich dann in Jena mal nachdiktiert oder diktieren lassen aus meinem Kollegheft. Ich habe es eben noch mal gründlich gelesen und fände es druckenswert; außer bei Bischoff als „Anhang". Das ist unverbindlich und gäbe dem Heft zugleich einen Wert. [ . . . ] Herman 5. Nachschrift eines unbekannten Verfassers. Fundort: Berliner Dilthey-Nachlaß, C59: 44-49 Rucks.; 51-60; 63-64 Rucks.; 66-73 Rucks.; 103-106 Rucks.; 108-110; 172-172 Rucks.; 174-204 Rucks. (127 Seiten). Der Bestand von diesen weitgehend geschlossenen Nachschriften wird ergänzt durch zwei fragmentarische Nachschriften: 1. Nachschrift von Georg Misch (2). Fundort: Dilthey-Nachlaß der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. W. Dilthey, 9,9 (32 Seiten). 2. Nachschrift von Dr. phil. Gg. Huber. Fundort: Berliner Dilthey-Nachlaß, C6:10-59 (56 Seiten; die Seiten 1 bis 9 fehlen). Diese beiden unvollständigen Nachschriften stimmen hinsichtlich der Disposition - soweit erkennbar - weitgehend überein. Die Nachschriften der System-Vorlesung machten zunächst deutlich, daß D. seine in acht Semestern gehaltene Vorlesung offenbar - im Unterschied zur Vorlesung über Logik und Erkenntnistheorie - mehrfach gravierend umgearbeitet hat. So konnten bei den uns bekannten fünf relativ vollständigen Nachschriften drei hinsichtlich der Disposition und des Inhalts des Kollegs stark differierende Konzepte unterschieden werden: Die Nachschriften Rabitz und Misch (1) entstammen ebenso zweifellos einem Semester wie die Nachschriften Nohl (2) und die Nachschrift von unbekannter Hand aus Fasz. C 59. Die Nachschrift Nohl (1) repräsentiert wiederum eine andere Phase der Vorlesung. Dieser Phase lassen sich wohl auch - soweit feststellbar - die beiden fragmentarischen Nachschriften Misch (2) und Huber zuordnen. Die Nachschriften Rabitz und Misch (1) stellen zweifellos die früheste Fassung der Vorlesung dar, was sich u. a. durch die Randbemerkung in der Nachschrift Misch (1) „14.6. 99" belegen läßt. Eine zweite Fassung des Rollegs liegt in der Nachschrift Nohl (1) vor. Sie weist die größte Nähe zu der von Groethuysen in Band VIII der Ges. Sehr, edierten Einleitung und der in den Anmerkungen mitgeteilten Disposition der Vorlesung (vgl. Ges. Sehr. VIII, S. 267) auf. In den Nachschriften Nohl (2) und der Nachschrift C59 begegnet eine dritte Fassung. Obwohl diese Vorlesung von Nohl als die letzte von D. gehaltene System-Vorlesung bezeichnet wird, also auf das Sommersemester 1906 zu datieren wäre, kann nach Vergleich der verschiedenen Fassungen (vgl. den Vorbericht, Anm. 4) ah sicher angenommen werden, daß diese Nachschrift Nohl (2) nicht D.s letztes Rolleg dokumentiert, sondern als Mitschrift der Vorlesung aus dem Sommersemester 1903 anzusehen ist. Es konnte nun hei der Dokumentation dieses Rollegs nicht darum gehen, alle drei Fassungen der System-Vorlesung abzudrucken. Zwar stellten sie einerseits deutlich voneinander unterschiedene Phasen der Ronzeption dar; andererseits ist aber die durch die Nachschrift Nohl (1) repräsentierte Phase inhaltlich nicht so sehr von den beiden anderen Fassungen verschieden, als daß es gerechtfertigt gewesen wäre, auch diese Nachschrift im Druck zugänglich zu machen. Um übergroße Redundanzen zu vermeiden, beschränken wir uns darauf, nur die erste und letzte Gestalt der Vorlesung, d. h. die Fassungen von 1899 (= „System I") und 1903 (= „System II") zu publizieren.
Anmerkungen zu Seite 235-264
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System der Philosophie in Grundzügen („System I") Als „Basistext" dieser Fassung der System-Vorlesung diente die Nachschrift Misch (1), die wesentlich umfangreicher und detaillierter ist als die parallele Nachschrift Rabitz. Einige in Misch (1) fehlende Seiten wurden aus Kabitz ergänzt; wichtigere Abweichungen dieser Nachschrift vom Leittext werden in den Anmerkungen mitgeteilt. Die von Misch gekennzeichneten Zusammenfassungen, die D. regelmäßig von den vorausgegangenen Vorlesungen gab, sind in Petit gesetzt. Weggelassen wurden die von Misch in einer heute nicht mehr gebräuchlichen Kurzschrift an einigen Stellen in den Text gesetzten kurzen Notizen. Unvollständige Sätze, die vom Nachschreiher oder den Hrsg. durch ... gekennzeichnet sind, wurden darüber hinaus nicht jeweils eigens durch Anmerkungen gekennzeichnet. 152 In den späteren Ausarbeitungen der Weltanschauungs-Typologie setzt D. an Stelle des „Positivismus" den „Naturalismus". 153 Beginn eines Einschubs aus der Nachschrift Misch. 154 Ende des Einschubs. 155 Beginn des Leittextes. 15