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German Pages 423 [431] Year 1969
LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH IM AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN VON HERMANN KUNISCH
NEUE FOLGE / NEUNTER BAND
1968
DUNCKER & HUMBLOT · BERLIN
LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH IM AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN VON PROF* DR. HERMANN KUNISCH
N E U E FOLGE / N E U N T E R
BAND
1968
Das ,Literaturwissenschaftliche Jahrbuch' w i r d i m Auftrage cler Görresgesellschaft herausgegeben v o n Professor D r . H e r m a n n Kunisch, 8 München 19, NürnbergerStraße 63. Schriftleitung: D r . W o l f g a n g F r ü h w a l d , 89 Augsburg, Nesselwangerstraße 18 und D r . Günter N i g g l , 8 München 19, Löfftzstraße 1. Das im
,Literaturwissenschaftliche Umfang
von
etwa
Jahrbuch*
erscheint
20 Bogen. Manuskripte
sind
als
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an den
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ist notwendig, damit eine einheitliche Ausstattung des ganzen Bandes
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leistet ist. Besprechungsexemplare v o n Neuerscheinungen aus dem gesamten Gebiet der europäischen Literaturwissenschaft,
einschließlich Werkausgaben,
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die Adresse der Schriftleitung erbeten. Eine Gewähr für die Besprechung kann nicht übernommen werden. Verlag: Duncker
&
Humblot,
1 Berlin
41 (Steglitz), Dietrich-Schäfer-Weg
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LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH NEUNTER BAND
Else Lasker-Schüler, 'Persisches Brautpaar'. M i t Buntstift kolorierte und braun aquarellierte Zeichnung, (s. S. 247 f. u. 251).
LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH I M AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN VON HERMANN KUNISCH
NEUE FOLGE / NEUNTER BAND
1968
D U N C K E R
&
H Ü M B L O T
/
B E R L I N
Alle Hechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. © 1969 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1969 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany
INHALT
AUFSÄTZE Walter Falk (Marburg), Wolframs Kyot und die Bedfeutung der »Quelle« im Mittelalter
1
Harald Burger (Zürich), Herzog Heinrich Julius von Braunschweig: 'Vincentius Ladislaus'. Zu einer Kontroverse der Literaturkritik 65 Adolf Haslinger (Salzburg), »Dies Bildnisz ist bezaubernd schön«. Zum Thema >Motiv und epische Struktur< im höfischen Roman des Barock 83 Jürgen Behrens (Frankfurt am Main), Friedrich Leopold Graf zu Stolberg: Bemerkungen zu einigen zeitgenössischen Schriftstellern 141 Detlev W. Schumann (Providence, R. I.), Eichendorffs Verhältnis zu Goethe . . 159 Alfred Doppler (Graz), Orphischer und apokalyptischer Gesang. Zum Stilwandel in der Lyrik Georg Trakls 219 Margarete Kupp er (Würzburg), Der Nachlaß Else Lasker-Schülers in Jerusalem. Ein Bericht 243 Manfred Durzak (Bloomington, Indiana), Hermann Brochs Vergil-Roman und seine Vorstufen 285 Johannes Kleinstück 'Coriolanus*
(Algier), Bertolt Brechts Bearbeitung von Shakespeares 319
Anthony W. Riley (Kingston, Ontario), Das Werk Elisabeth Langgässers: Eine Bibliographie 333
BUCHBESPRECHUNGEN Helmut de Boor y Kleine Schriften. Hrsg. von Roswitha Wisniewski und Herbert Kolb. Band I : Mittelhochdeutsche Literatur. — Band I I : Germanische und deutsche Heldensage, Mittelhochdeutsche Metrik. (Von Hanns Fischerf) 363 Hemic van Veldeken. Eneide. /., Einleitung. Text. Hrsg. von Gabriele Schieb und Theodor Frings. — Eneide. II., Untersuchungen von Gabriele Schieb unter Mitwirkung von Theodor Frings. (Von Günther Schweikle) 364 Briefwechsel zwischen Klopstock und den Grafen Christian und Friedrich Leopold zu Stolberg. Hrsg. von Jürgen Behrens. Mit einem Anhang: Briefwechsel zwischen Klopstock und Herder. Hrsg. von Sabine Jodeleit, und einem Nachwort von Erich Trunz. (Von Henning Boetius) 369
Inhalt
VI
Friedrich Leopold Graf zu Stolberg, Briefe. Henning Boetius)
Hrsg. von Jürgen Behrens. (Von 372
Ludwig Tieck, Werke in vier Bänden. Hrsg. von Marianne Thalmann. Band I : Frühe Erzählungen und Romane. — Band I I : Die Märchen aus dem Phantasus. Dramen. — Band I I I : Novellen. — Band I V : Romane. (Von Günter Niggl) 375 Horst Albert Glaser, Die Restauration (Von Karlheinz Rossbadier) .
des Schönen. Stifters 'Nachsommer*. 392
Konrad Kienesberger, Sebastian Brunners Stellung zu Lessing, Goethe und Schiller. Ein österreichischer Beitrag zur antiliberalen Kritik an der deutschen Klassik im späteren 19. Jahrhundert. (Von Josef Donnenberg) 399 Sprachkunst als Weltgestaltung. Festschrift für Herbert Seidler. Hrsg. von Adolf Haslinger. (Von Walter Methlagl) 403 Namen- und Sachregister
409
NACHWEIS DER ABBILDUNGEN Die in diesem Band veröffentlichten vier Zeichnungen von Else Lasker-Schüler stammen aus ihren letzten Lebensjahren in Jerusalem und befinden sich heute im Else-Lasker-Schüler-Ardiiv, Jerusalem. Für die freundliche Erlaubnis der Publikation sind wir dem Nachlaßverwalter, Herrn Manfred Sturmann, zu Dank verpflichtet. Titelbild: 'Persisches Brautpaar'. Mit Buntstift kolorierte und braun aquarellierte Zeichnung. 24,3 X 18,4 cm. Erstveröffentlichung. Nach S. 248: 'Talpioth bei Jerusalem Zwischen den Bergen von Moab (Arabische Studenten.)'. Mit Buntstift kolorierte Zeichnung. 24,3 X 18 cm. Erstveröffentlichung. Vor S. 249: 'Abschied von den Freunden'. Farbige Tuschzeichnung. 20,3 X 17,2 cm. Verworfener Umschlagentwurf für den Band 'Mein blaues Klavier' (1943). Nach S. 256: 'Casa in Genua'. Braun aquarellierte Zeichnung. Erstveröffentlichung.
WOLFRAMS
KYOT
U N D D I E B E D E U T U N G DER »QUELLE« I M
MITTELALTER
V o n Walter Falk
Vorbemerkung D e r nachstellende Aufsatz wurde i m Jahre 1956 entworfen u n d zwei Jahre später zu seiner jetzigen Form h i n umgearbeitet. B a l d nach seiner Fertigstellung faßte ich den Plan, die darin entwickelten Überlegungen i n eine weiter ausgreifende Untersuchung aufzunehmen. Leider erlaubten es die Umstände dann nicht, das projektierte Buch abzuschließen. Inzwischen ist die Frage nach Wolframs K y o t , die v o r einem Jahrzehnt den meisten Forschern als gelöst erschien, unter verschiedenen Gesichtspunkten wieder aufgenommen worden. Es scheint m i r angebracht, meinen Beitrag zur Diskussion nicht länger zurückzuhalten. M i t der seither erschienenen Literatur setze i d i m i d i i n einem N a c h w o r t auseinander. *
W o l f r a m v o n Eschenbach bezog sich i n seinem T a r z i v a P auf einen Dichter namens K y o t u n d erklärte, i m Gegensatz zu meister Cristjan habe uns dieser diu rehten maere entboten. Diese Angabe, die durch weitere Bezugnahmen auf K y o t bereichert ist, enthält für die Germanistik ein eminentes Problem, v o n dem man vielleicht m i t Bodo Mergell sagen darf, es bilde »seit mehr als hundert Jahren die vielumstrittene Hauptfrage der W o l f r a m forschung« 1 . Anfänglich verstand man die M i t t e i l u n g allgemein dahin, daß W o l f r a m neben der T a r z i v a l ' - D i c h t u n g Chrétiens v o n Troies eine weitere u n d v o n i h m für besser gehaltene Quelle benutzt habe. D a diese nirgends aufzufinden w a r , konnte Wolframs W e r k m i t ihr nicht verglichen werden. I n Anbetracht dessen erschien es sehr schwierig, der persönlichen künstlerischen Leistung unseres Diditers Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Manche Forscher hielten es, wie Eduard H a r t l referierend einmal sagte, für angebracht, »die Gestaltung des Stoffes wie auch die persönlichen Bemerkungen der französischen Quelle zuzuschreiben, deren Stil sich W o l f r a m n a d i u n d nach ange1 Mergell, Bodo, Wolfram von Eschenbadi und seine französischen Quellen. II. Teil: Wolframs Parzival, Münster 1943 ( = Forsch, z. dt. Sprache u. Dichtung Heft 11) S. 166.
1 Literatur-wissenschaftliches Jahrbuch, 9. Bd.
2
Walter Falk
eignet hätte«. I n solcher Sicht konnte W o l f r a m überhaupt nicht mehr für einen Dichter, sondern nur noch für einen »bloßen Übersetzer ohne Erfindungsgabe, ohne das geringste eigene Verdienst« gelten 2 . Eigentümlich mußte freilich der Umstand berühren, daß einzig W o l f r a m auf K y o t hingewiesen, daß kein anderer Zeitgenosse dessen W e r k oder auch nur seinen N a m e n erwähnt hat. Dieser Umstand führte auf die — erstmals v o n K a r l Simrock 3 ausgesprochene — Vermutung, K y o t u n d sein W e r k hätten i n Wirklichkeit nie existiert und seien v o n W o l f r a m nur erfunden worden. I m Weitergang der Forschung wurde es möglich, diese Vermutung durch gewichtige Argumente zu stützen. Heute neigt die Mehrzahl der Forscher zu der Meinung, K y o t sei eine Wolframsche Fiktion. Ganz zufriedenstellend scheint diese Auffassung freilich nicht zu sein. Jedenfalls wurde neuerdings ein Kompromißvorschlag zur Diskussion gestellt, wonach nicht K y o t überhaupt, sondern nur sein N a m e fiktiven Charakter haben soll. Eine allgemein akzeptierte Erklärung konnte bisher nicht gefunden werden. Diese Situation hat mich veranlaßt zu prüfen, welche der drei G r u n d positionen, die v o n der Forschung gegenüber dem K y o t - P r o b l e m eingenommen wurden, dem Gegenstand am meisten adäquat sei. Es ergab sich, daß jede v o n ihnen eine gewisse Berechtigung habe und daß eben darum keine zur eigenen gewählt werden könne. Indem ich mich bemühte, die Bedenken gegen die bisherigen Positionen zu präzisieren, begannen sich die Umrisse einer neuen abzuzeichnen. I m Folgenden möchte ich zunächst versuchen, die drei etablierten Positionen darzustellen. Dabei w i r d es m i r nicht u m die Ausarbeitung eines Forschungsberichtes gehen. Dieser Aufgabe haben sich bereits Theodor van Stockum, Eduard H a r t l u n d R a l p h L o w e t angenommen 4 . D i e Ergebnisse der Forschung sollen nur insoweit berücksichtigt und erörtert werden, als sie zur Konstituierung der drei Grundpositionen beigetragen haben. Ist dargelegt, welche Elemente berechtigt erscheinen u n d welche nicht, so können i n einem zweiten K a p i t e l Wolframs Angaben i m H i n b l i c k auf eine neue Position untersucht werden. H i e r a u f besteht die Möglichkeit, i n einem dritr ten K a p i t e l deren Grundzüge herauszuarbeiten. Die Ausführungen der drei K a p i t e l haben das Ziel, die dem K y o t - P r o b l e m gemäß scheinende Frage so genau w i e möglich i n den Blick zu bringen. A u f den Versuch, eine A n t w o r t
2 Hartl, Eduard, Wolfram von Eschenbach, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Hrsg. von K. Langosch. 4. Bd., Berlin 1953, S. 1075. 8 Simrock, Karl, Parzival (Übersetzung) 3. Aufl. 1857. 4 Stockum, Th. C. van, Wolframs 'Parzival· und das Problem der Quelle, in: Neophilologus 26 (1941), S. 13 ff.; Hartl wie Anm. 2 S. 1058 ff.; Lowet, Ralph, Wolfram von Eschenbachs Parzival im Wandel der Zeiten, München 1955 ( = Schriften des Goethe-Instituts Bd. 3).
Wolframs Kyot und die Bedeutung der »Quelle« im Mittelalter
3
zu gewinnen u n d damit das K y o t - P r o b l e m zu lösen, muß i n der vorliegenden Studie verzichtet werden.
I. D i e
Grundpositionen
der b i s h e r i g e n
Forschung
D i e erste Position wurde v o n jenen Forschern eingenommen, die man gelegentlich als die Kyotisten bezeichnet hat. Es ist diejenige des naiven Lesers, der, wenn er findet, daß W o l f r a m sich auf K y o t beruft, selbstverständlich annimmt, es habe einmal diesen Dichter u n d eine v o n i h m verfaßte Schrift über den G r a l gegeben. Die naive Position wurde eine wissenschaftliche, als man — zumal i n der A b w e h r v o n Zweifeln — Beweise für ihre Gültigkeit vorbrachte. D i e Argumente, deren man sich bediente, waren i n der Hauptsache die folgenden: 1. Das Textargument: I m Text v o n Wolframs T a r z i v a l ' finden sich nicht weniger als sechs Bezugnahmen auf K y o t m i t zum T e i l sehr ins Einzelne gehenden M i t teilungen über diesen Dichter. Die detaillierten Angaben wären sinnlos, wenn es K y o t nicht gegeben hätte. 2. Das Quellenargument: W o l f r a m muß eine Quelle benutzt haben, die m i t der Gralsdichtung Chrétiens v o n Troies wenn nicht identisch ist, so doch i n einem engen Zusammenhang steht. Chrétiens W e r k ist aber viel kürzer als das W o l f ramsche, es fehlen i h m v o r allem Wolframs Eingangs- und Schlußbücher. Folglich muß sich W o l f r a m einer zweiten Quelle bedient haben. D a er m i t K y o t selbst eine solche nennt, ist anzunehmen, daß er diese auch w i r k l i c h verwandt hat. 3. Das moralische Argument: W i r besitzen keine vollständige Kenntnis der i n den Jahren um 1200 vorhanden gewesenen Literatur u n d können darum nicht m i t Sicherheit feststellen, daß ein uns nicht überliefertes W e r k nie existierte. Jenseits jeder Frage steht jedoch die Tatsache, daß W o l f r a m behauptet, ein W e r k K y o t s benutzt zu haben. Bestreitet man die Richtigkeit seiner Angabe, so zieht man die Ehrlichkeit und Ehrenhaftigkeit des Dichters i n Zweifel, ja man stellt i h n dann geradezu als Quellenfälscher dar. D a der A u t o r eines v o n so hoher Sittlichkeit erfüllten Werkes dies nicht gewesen sein kann, muß es die Kyotsche Quellenschrift gegeben haben. D i e wissenschaftlichen Gegner der Kyotisten, die man kurz als die Fiktionisten bezeichnen mag, haben sich bemüht, diese Argumente zu widerlegen. l·
Walter Falk
4 1. Das Textargument:
Wolframs Angaben über K y o t erweisen sich bei näherer Betrachtung als höchst fragwürdig. V o n den sechs Bezugnahmen erfolgen einige bei v ö l l i g unwichtigen Gelegenheiten. D i e restlichen sind i n ihrer Aussage teils phantastisch, teils widersprüchlich. 2. Das Quellenargument: H ä t t e W o l f r a m w i r k l i c h eine zweite, eine Kyotsche Quelle besessen und i h r gegenüber der Chrétienschen den V o r z u g gegeben, so müßte es sich u m ein sehr bedeutendes W e r k gehandelt haben. V o n i h m könnte man sich schlecht vorstellen, daß es spurlos verschwunden wäre. Außerdem müßte es sich aus Wolframs Dichtung bei einem Vergleich m i t der Chrétienschen rekonstruieren lassen. D i e bisher unternommenen Versuche hatten jedoch keinen überzeugenden Erfolg. Überdies läßt sich ein Quellennachweis ganz anderer A r t erbringen: I n zahlreichen Partien, i n denen W o l f r a m v o n Chrétien abweicht, hat er M o t i v e zeitgenössischer Dichter verwendet. D a r a n aber zeigt sich, daß die betreffenden Partien v o n W o l f r a m erfunden wurden. 3. Das moralische Argument: Wenn unsere Kenntnisse nicht ausreichen, u m zu entscheiden, ob W o l f ram die Kyotsche Quelle fingiert hat oder nicht, so waren dazu doch die Zeitgenossen i n der Lage. U n d ein hochgebildeter Zeitgenosse, G o t t fried v o n Straßburg, hat einen sehr heftigen A n g r i f f gegen W o l f r a m gerichtet u n d hat i h n dabei als vindaere wilder maere bezeichnet. Schon G o t t f r i e d erkannte also, daß Wolframs Geschichte wenigstens teilweise nicht aus einer literarischen Quelle, sondern aus freier Erfindung stammte. D i e beiden Positionen stehen sich, recht k l a r voneinander getrennt, i n einiger Schroffheit gegenüber. H ä t t e man sich auf G r u n d der soeben gegebenen Übersicht für die eine oder andere zu entscheiden, so würde man w o h l jener der Fiktionisten den V o r z u g geben. Doch könnte man sich dabei nicht v ö l l i g w o h l fühlen. Ehe man i h r ganz beiträte, müßte auf plausible Weise erklärt sein, aus welchem G r u n d W o l f r a m dazu kommen konnte, eine Quelle zu fingieren oder, schärfer ausgedrückt, zu fälschen. U n d selbst wenn man diesen G r u n d kennte, blieb einem unbehaglich zumute, da man sich W o l f r a m ungerne als einen Quellenfälscher vorstellen würde. Das moralische Argument der Kyotisten wurde ja durch jenes Gegenargument der F i k t i o nisten, das sich auf Gottfried bezog, nicht beseitigt, sondern eher bekräftigt. Allerdings ist v o n Seiten der Fiktionisten ein bedeutsamer Versuch unternommen worden, auch das moralische Argument zu widerlegen, und z w a r schon recht frühzeitig. Während der Nachweis, daß W o l f r a m seine Ein-
Wolframs Kyot und die Bedeutung der »Quelle« im Mittelalter
5
gangsbücher selbst erfand, erst zwei Jahrzehnte alt ist (Friedrich Panzer hat i h n erbracht 5 ), stammt der Versuch zur Widerlegung des moralischen A r g u ments aus dem Jahre 1908; damals nämlich ließ Friedrich W i l h e l m eine m i t diesem Gegenstand sich befassende, vielbeachtete A b h a n d l u n g erscheinen 6 . Wenn die Ergebnisse dieser Abhandlung bei der Gegenüberstellung der A r gumente nicht erwähnt wurden, so w e i l es zweckmäßig schien, die beiden konträren Positionen zunächst i n aller K l a r h e i t sichtbar zu machen. M i t der Studie v o n W i l h e l m sind die Grenzen der Positionen jedoch verwischt w o r den. Dies hatte für den Weitergang der Forschung u m so schwerer wiegende Bedeutung, als Wilhelms Argumente w e i t h i n Anerkennung fanden. Über sie muß genauer berichtet werden. Wilhelms Überlegungen lassen sich unter folgenden Gesichtspunkten zusammenfassen: 1. Mittelalterliche Quellenfälschungen i m allgemeinen: Schon i n der A n t i k e sind Quellenfälschungen nicht selten vorgekommen. I m M i t t e l a l t e r muß man sie sehr häufig konstatieren, und z w a r nicht nur i m Gebiet der Poesie, sondern auch i m Bereich der Heiligenlegende, der theologischen u n d philosophischen Literatur u n d sogar i n der Sphäre des öffentlichen Lehens. Aber Heiligenlegenden und theologische u n d philosophische Schriften, deren Quellen gefälscht waren, wurden »nur dann angegriffen, wenn sie das Ansehen der Kirche und ihrer Lehre zu beeinträchtigen schienen, u n d das ist äußerst selten der F a l l gewesen« 7 . Auch Dokumentenfälschungen wurden nur unter einer ganz bestimmten Bedingung verurteilt. » M a n nannte ein Schriftstück oder eine Angabe eine Fälschung, wenn sie m i t der Absicht verfertigt waren, durch Rechtszwang den Besitz oder die verbrieften Rechte eines anderen zu schädigen. W a r dies nicht der F a l l . . . , dann hat man nie etwas Unmoralisches i n ihnen erblickt« 8 . 2. Mittelalterliche Quellenfälschungen bei Dichtern: D a die Dichter durch falsche Quellenangaben niemandes Rechte verletzten, hat man gegen sie nie einen V o r w u r f erhoben. Es w a r ihnen also durchaus erlaubt, nach Gutdünken fabulistische Quellenangaben zu machen. N i c h t wenige haben es w i r k l i c h getan. Den G r u n d kann man sich leicht denken. »Die H ö r e r verlangten einen bekannten Namen, weil sie etwas Gutes hören wollten, über W e r t und U n w e r t des Vorgetragenen aber nicht urteilen konnten. D i e Verfasser w o l l t e n ihren Werken 5 Panzer, Friedrich, Gahmuret. Quellenstudien zu Wolframs Parzival, Heidelberg 1940 ( = SBH Phil.-hist. Kl. Jg. 1939/40 1. Abh.). • Wilhelm, Friedrich, Uber fabulistische Quellenangaben, in: Beitr. Gesch. dt. Sprache u. Lit. 33 (1908), S. 286—339. 7 Wilhelm wie Anm. 6 S. 338. 8 Wilhelm wie Anm. 6 S. 338. Hervorhebungen vom Verf.
Walter Falk
6
Leser verschaffen, u n d so mußten die damals v o n der K r i t i k u n d der Sage gefeierten Schriftsteller für sie ihren Namen hergeben.« 9 3. Die Quellenfälschung bei W o l f r a m : »Wolframs Angaben über K y o t . . . entsprechen ganz dem Typus der behandelten fabulistischen Quellenangaben u n d sind als solche anzusehen.« 10 »Der E n t w u r f derer, die W o l f r a m eine fabulistische Quellenangabe nicht zutrauen, w e i l sie eine Lüge m i t seinem Charakter für unvereinbar halten, ist n u l l u n d nichtig, denn das Mittelalter hat i n solchen Angaben etwas Anstößiges nicht erblickt.« W o l f r a m hat nicht gedichtet, »um moralisierenden Philologen Stoff für ihre Quellenuntersuchungen zu liefern, sondern um« seine »Mitmenschen durch den reichsprudelnden Quell« seiner »goldenen Phantasie über die Mühe des Alltagslebens zu erheben« 11 . D i e W i r k u n g , die v o n der Wilhelmschen Abhandlung ausging, beschränkte sich nicht auf die Diskussion des Kyot-Problems. Besonders deutlich zeigt sie sich an der berühmten Studie v o n Friedrich Panzer über das mittelalterliche Z i t i e r e n 1 2 u n d an den Bemühungen neuerer Forschung — unter denen v o r allem die Arbeiten Bodo Mergells zu nennen sind — , W o l f r a m v o m Typus des selbtsherrlich schaffenden Dichters aus zu begreifen 1 3 . I n der Diskussion u m K y o t bewirkte Wilhelms Untersuchung, daß die Kyotisten auf das so gewichtige moralische Argument v o n nun an fast allgemein verzichteten 1 4 . Dieselbe Folge hätte sich bei dem auf das moralische Argument bezogenen fiktionistischen Gegenargument ergeben müssen; denn wenn man m i t W i l h e l m annahm, daß das M i t t e l a l t e r i n fabulistischen Quellenangaben »etwas sittlich Anrüchiges . . . nicht erblickt« habe 1 5 , so durfte man nicht länger behaupten, W o l f r a m sei v o n Gottfried des freien Erfindens wegen angegriffen worden — wie man auch überhaupt bezweifeln mag, daß i n einem Zeitalter, i n dem das W o r t trobador ein Ehrenname w a r , das W o r t vindaere notwendig einen negativen Sinn besaß 16 . W i l h e l m selbst w a r sich durchaus 9
Wilhelm wie Anm. 6 S. 335. Wilhelm wie Anm. 6 S. 338/9. 11 Wilhelm wie Anm. 6 S. 339. 12 Panzer, Friedrich, Vom mittelalterlichen Zitieren, Heidelberg 1950 ( = SBH Phil.-hist. Kl. Jg. 1950 2. Abh.). 13 Mergell, wie Anm. 1; ferner ders., Der Graf in Wolframs Parzival, in: Beitr. Gesch. dt. Sprache u. Lit. 73 (1951) u. 74 (1952). 14 Lowet wie Anm. 4 S. 27. 15 Wilhelm wie Anm. 6 S. 338. 16 Diese Auffassung fand jüngst eine sehr nachdrückliche Bestätigung durch Walter Johannes Schröders Aufsatz 'Vindaere wilder maere* (in: Beitr. Gesch. dt. Sprache u. Lit. 80 [1958]). Schröder schreibt: »Das Wort vinden, vunt... ist insbesondere in der Poetik üblich und dort, wie es scheint, nach dem romanischen trovare prov. trobar gebildet... Abwertende Bedeutung habe ich nirgends angetroffen«, S. 276. »Nicht üblich scheint das nom. ag. vindaere gewesen zu sein... Gottfried selbst hat das Wort nur an der einen Stelle; er hat es wohl in Anlehnung an da? frail?, troubadour, trouvère gebildet...«, S. 276. 10
Wolframs Kyot und die Bedeutung der »Quelle« im Mittelalter
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i m klaren, daß Gottfrieds K r i t i k an W o l f r a m anders gedeutet werden müßte als bisher. Keineswegs, meinte er, dürfe man glauben, Gottfried habe »eine Fälschung i m rechtlichen u n d historischen . . . Sinn aufdecken w o l l e n « 1 7 . I n Wahrheit sei seine K r i t i k lediglich v o m »Concurrenzneid« veranlaßt worden und »stelle nicht mehr als eine Bosheit« dar, »wie sie auch heute noch unter Literaten u n d Gelehrten v o r k o m m t « 1 8 . Wilhelms Versuch, Gottfrieds A n g r i f f auf W o l f r a m neu zu erklären, w a r wenig befriedigend. E r unterstellte Gottfried ein M o t i v , das aus dem T e x t nicht abzuleiten ist, und versäumte es gleichzeitig, diesen Text neu zu interpretieren. So n i m m t es nicht wunder, daß Wilhelms Erklärungsversuch sich nicht durchsetzen konnte. Erstaunlicher erscheint ein anderer Umstand: I m Lager der Fiktionisten benutzte man zwar fortan Wilhelms These v o n den fabulistischen Quellenangaben zur Widerlegung des moralischen Arguments der Kyotisten, behielt aber gleichwohl das aus Gottfried geschöpfte A r g u ment bei. So schrieb noch i m Jahre 1955 R a l p h Lowet, der auf Wilhelms Untersuchung großen W e r t legte, daß bei der Erörterung der Kyot-Frage »das U r t e i l Gottfrieds v o n S t r a ß b u r g . . . unbedingt hinzugezogen werden« müsse 19 . D i e Argumentation der Fiktionisten enthält also einen W i d e r spruch. Solange dieser nicht behoben ist, muß ihre Position als angefochten gelten. So wenig es W i l h e l m gelang, Gottfrieds K r i t i k an W o l f r a m einleuchtend zu deuten, so wenig vermochte er einen plausiblen G r u n d für den Umstand anzugeben, daß W o l f r a m eine Quelle fingierte. W i l h e l m erklärte sich die fabulistischen Quellenangaben der mittelalterlichen Dichter aus dem Bedürfnis des Publikums nach »bekannten Namen«. Diese Annahme ist jedoch bei W o l f r a m gerade dann, wenn K y o t eine F i k t i o n des Dichters war, abwegig; denn i n diesem F a l l w a r der N a m e K y o t ja ein v ö l l i g unbekannter. Sie hat denn auch i n der Forschung keine nennenswerte Folge gehabt, wenigstens keine positive. Vielleicht aber hat sie i n solcher Weise weitergewirkt, daß n u n das Fehlen einer gültigen Erklärung desto stärker fühlbar wurde. Dachte man i n dieser Situation über das K y o t - P r o b l e m nach, so konnte man sich sagen, daß ein A u t o r eine Quelle nur dann fingieren w i r d , wenn er das Anführen einer Quelle überhaupt für erforderlich hält. Bei einem Dichter aber ist dergleichen keineswegs selbstverständlich: bei einem neuzeitlichen Dichter wäre es höchst ungewöhnlich. I m M i t t e l a l t e r lagen die Dinge offensichtlich anders, wie aber, das wußte man nicht. Solange man darüber keine K l a r h e i t besaß, w a r die Frage, w a r u m W o l f r a m eine Quelle fingierte, nicht zu beantworten.
17 18 19
Wilhelm wie Anm. 6 S. 338. Wilhelm wie Anm. 6 S. 338. Lowet wie Anm. 4 S. 28.
8
Walter Falk I m Jahre 1922 publizierte K a r l V i ë t o r eine Abhandlung, die für die wei-
tere Diskussion eine ähnlich große Bedeutung erlangte, wie die Wilhelms. V i ë t o r vertrat die folgenden Thesen: 1. Quellenangaben mittelalterlicher Dichter: D i e Angabe v o n Quellen w a r bei mittelalterlichen Dichtern nicht eine Ausnahme, sondern die Regel. Eine Nachprüfung der Angaben ist für uns i n etwa der H ä l f t e der Fälle möglich. Dabei erweist sich, daß die überwiegende Mehrzahl der Angaben den Tatsachen entspricht. 2. Die Beurteilung der Phantasie i m M i t t e l a l t e r : Wie schon i n der Philosophie der A n t i k e u n d dann auch i n den Erörterungen der Patristik, so galt auch i n den Abhandlungen der mittelalterlichen Theologie die schöpferische Phantasie des Dichters als etwas sehr Verdächtiges oder doch Minderwertiges. »Historische Wahrheit allein galt, getreue Wiedergabe eines tatsächlichen Vorganges; dichterische Phantasiegebilde verblaßten daneben als Lüge und Gaukelei.« » I m 12. Jahrhundert schon w a r es dahingekommen, daß selbst der Laie, der ungelehrte höfische Zuhörer, ja das P u b l i k u m der Volksdichtung v o n der Dichtung verlangte, sie solle nicht Phantasiegebilde, sondern w i r k l i c h geschehene Dinge erzählen.« 2 0 3. Der G r u n d der Quellenangaben bei mittelalterlichen Dichtern: »Die dichterische Fiction sollte nicht gestattet sein. Dieser Anschauung fügte sich der Poet u n d stellte an den Eingang seines Werkes als A b wehrschild u n d zugleich als Empfehlungsbrief den N a m e n eines Gewährsmannes, auf den als auf seine Quelle er sich berief.« 2 1 Wenn sich die Dinge so verhielten, wie V i ë t o r annahm, dann w a r damit nicht nur erklärt, w a r u m die mittelalterlichen Dichter sich auf die Quellen bezogen und überdies immer wieder versicherten, ihre Erzählung sei wahr, es w a r damit zugleich auch der v o n W i l h e l m nicht zureichend motivierte Umstand gedeutet, daß ein Dichter sich gedrungen fühlen mochte, eine Quelle zu fingieren: »das despotische Verlangen . . . des mittelalterlichen Publikums nach historischer Wahrheit i n der Dichtung« 2 2 zwang einen Dichter, der seine schöpferische Phantasie walten lassen wollte, die i n diesem F a l l natürlich nicht vorhandene Quelle durch eine F i k t i o n zu ersetzen. Seit Viëtors Untersuchung über die mittelalterliche Kunstanschauung besitzen die Fiktionisten ein schlagendes u n d darum häufig wiederholtes Argument zugunsten ihrer These. Friedrich Panzer hat es einmal folgendermaßen formuliert: » . . . nach meiner Meinung ist der mystische K y o t eine Erfindung W o l f 20 Viëtor , Karl, Die Kunstanschauung der höfischen Epigonen, in: Beitr. Gesch. dt. Sprache u. Lit. 46 (1922), S. 104. 21 Viëtor wie Anm. 20 S. 104. " Viëtor wie Anm. 20 S. 106.
Wolframs Kyot und die Bedeutung der »Quelle« im Mittelalter
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rams . . . Diese Quellenberufungen haben keinen anderen Zwedk als den, den Verfasser gegen A n z w e i f l u n g der Wahrheit seiner Erzählung zu schützen, zu schützen i n einer Zeit, die noch nicht bereit war, eine dichterische Wahrheit neben und über der Wirklichkeit gelten zu lassen.« 23 So wichtig Viëtors A b h a n d l u n g für die Fiktionisten auch war, entstand durch sie doch eine schwierige Situation. Z w a r konnte man nun nicht nur (wie schon Wilhelms Untersuchung es erlaubt hatte) angeben, wieso Quellenfiktionen möglich, sondern auch, w a r u m sie unter Umständen notwendig waren; aber die Gedankengänge, die zu diesen beiden Ergebnissen geführt hatten, standen zueinander i m entschiedensten Widerspruch. W i l h e l m hatte zu zeigen unternommen, daß i m Mittelalter auf die Richtigkeit v o n Quellenangaben gar kein W e r t gelegt wurde, V i ë t o r aber behauptete das Gegenteil. W i e konnte dieser Widerspruch behoben werden? Für V i ë t o r bestand kein Zweifel: man muß te Wilhelms These als ungemäß preisgeben. »Wollte man«, so schrieb er, »die Gewährsmänner der bedeutenden Epiker für fabulose Erfindungen halten . . . , so müßte man logischerweise gleichzeitig annehmen, daß die mittelhochdeutschen Dichter i n ihrer Anschauung v o n historischer Wahrheit außerhalb ihres Zeitgeistes gestanden hätten. Während doch d i e . . . Forderung nach historischer Zuverlässigkeit der Dichtung v o n den Poeten selbst durch Quellenberufung und häufige Beteuerung vollkommen anerkannt wurde. H ä t t e n sie . . . auch nur h i n u n d wieder mala fide gehandelt, so wäre das scheinheilige Heuchelei. Denn sich dem I n h a l t seiner Erzählung nach als zuverlässigen Chronisten aufspielen u n d zuweilen sogar auf die größere Genauigkeit gegenüber einer leichtfertigen Vorlage pochen; gleichzeitig aber nur unzuverlässiger Überlieferung folgen u n d die gute Quelle erfinden, das wäre w o h l nicht nur nach heutiger Anschauung eine starke Täuschung.« 24 Aus Viëtors Überlegungen mußten sich Konsequenzen ergeben. V i ë t o r selbst erkannte dies durchaus. Er räumte ein, daß Poeten v o n laxer M o r a l fabulistische Quellenangaben gemacht haben mochten, betonte aber: »für einen großen Dichter m i t so starkem sittlichem Pathos wie W o l f r a m kann man ein gleiches Verhalten nicht annehmen, ohne die Grundlagen seiner menschlichen Persönlichkeit problematisch zu machen.« 25 Diese Folgerung erscheint i n der T a t unumgänglich. U n d w i l l man Wolframs Integrität nicht i n Zweifel ziehen, so muß man nun m i t V i ë t o r annehmen, »Wolframs K y o t sei, wenn auch verloren, doch eine w i r k l i c h existierende u n d v o m deutschen Dichter gewissenhaft benutzte Quelle gewesen« 26 . D i e Forschung hat sich Viëtor i n diesem P u n k t i m allgemeinen nicht angeschlossen. U n d allerdings konnte man, wie Panzer es getan hat, Vorbe23 24 25
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Panzer wie Anm. 5 S. 72 u. 74. Viëtor wie Anm. 20 S. 110—111. Viëtor wie Anm. 20 S. 111. Viëtor wie Anm. 20 S. 111.
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halte anmelden gegen einen solchen »Versuch, die geschichtliche Existenz v o n Wolframs K i o t spekulativ-ethisch zu begründen nach dem bedenklichen Grundsatz, daß nicht sein kann, was nicht sein darf« 2 7 . Aber nun wäre es ratsam gewesen, sich über die eigene Position Rechenschaft abzulegen. Seinerzeit, bei der Übernahme der Wilhelmschen These, hatte sich ein innerer Widerspruch i n die Argumentation der Fiktionisten eingeschlichen, da man die v o n W i l h e l m als inkonsequent erkannte Bezugnahme auf Gottfrieds W o l f r a m - K r i t i k beibehielt. Wenn die Position der Fiktionisten nicht v ö l l i g ins U n k l a r e gleiten sollte, so mußte man sich bei der Auseinandersetzung m i t V i ë t o r u m Folgerichtigkeit bemühen. Weigerte man sich, m i t i h m ins Lager der Kyotisten überzusiedeln, so gab es nur zwei i n sich konsequente Möglichkeiten: 1. Ablehnung nicht nur v o n Viëtors Schlußfolgerung, sondern seines ganzen Gedankengangs. Eine solche Ablehnung erforderte: a) Widerlegung v o n Viëtors Argumenten; b) Rückkehr z u W i l h e l m (und damit Verzicht auf das berühmte Gottfried-Zitat); c) Einräumung, daß man sich einen möglichen G r u n d für Wolframs Quellenfiktion nicht vorstellen könne. 2. Übernahme der Viëtorschen Thesen m i t Ausnahme der Schlußfolgerung. D a n n wurde nötig: a) Verzicht, machen;
v o n Wilhelms
Argumenten
weiterhin
Gebrauch
zu
b) Einräumung, daß W o l f r a m als Quellenfälscher zu betrachten sei; c) Erklärung, wie diese Eigenschaft m i t den sonstigen Ansichten über W o l f r a m i n E i n k l a n g gebracht werden könne. Erscheinen diese beiden Möglichkeiten als die einzigen, die wissenschaftliche K l a r h e i t verbürgen, so f ä l l t es schwer, i n den Überlegungen zur Posit i o n der Fiktionisten fortzufahren. Gerne würde man vermeiden, i m H i n blick auf hochverdiente Forscher v o n einer verwirrenden Inkonsequenz zu sprechen. Aber die Sachlage ist diese: Viëtors Resultate sind i n die Argumentation der Fiktionisten übergegangen u n d spielen darin eine hervorragende Rolle, da sie erklären können, wieso mittelalterliche Dichter dazu kamen, Quellen zu zitieren u n d — gegebenenfalls auch — zu fingieren. D i e Schlußfolgerung v o n V i ë t o r wurde jedoch abgelehnt, u n d z w a r ohne daß zugleich eingestanden wurde, daß W o l f r a m n u n als Quellenfälscher gelten müsse. I n der A b w e h r des alten moralischen Arguments der Kyotisten berief man sich weiter auf W i l h e l m , 27
Panzer wie Anm. 12 S. 20 Anm. 1.
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dessen Ansichten m i t denen Viëtors doch keinesfalls zu vereinigen sind, u n d außerdem, i n gedoppelter Inkonsequenz, auf Gottfrieds W o l f r a m - K r i t i k . Allerdings scheint Viëtors Abhandlung bei den Fiktionisten doch eine gewisse Unruhe hinterlassen zu haben. Friedrich Panzer u n d Bodo Mergell versuchten, eine E r k l ä r u n g für die K y o t - F i k t i o n aus Wolframs Charakter abzuleiten. Panzer vertrat die Auffassung, W o l f r a m habe die Berufungen auf K y o t m i t »deutlichem Augurenlächeln« ausgesprochen, also etwa i n derjenigen Weise, wie W o l f r a m nach Panzer auch andere erfundene »zungenschnalzende, v o m Lächeln des Märchenerzählers übergoldete Namen« m i t t e i l t e 2 8 . W o l f r a m hätte demnach m i t dem N a m e n K y o t ein ironisches Spiel getrieben, veranlaßt durch das vielleicht für i h n komisch p r i m i t i v e Wahrheitsverlangen seiner Leser, scheinbar darauf eingehend, i n Wirklichkeit aber sich selbst daran ergötzend. Verhielte es sich so, dann dürfte man annehmen, daß — wie neuerdings Friedrich Stapel wieder erklärte 2 9 — K y o t nichts anderes sei, als ein N a m e Wolframs für sich selbst, für sein dichterisches Ich, für seine dichterische Phantasie. D a n n aber hätten die Berufungen auf K y o t keinerlei ernstere Bedeutung, sie wären pure Ironie, m i t deren H i l f e W o l f r a m seine Zeitgenossen ins Bockshorn jagte, seine Zeitgenossen und, seit vielen Jahrzehnten, auch die Germanisten. Für eine solche Auffassung scheint es eine Bestätigung zu geben. W o l f r a m bezog sich nicht nur auf K y o t , sondern, sehr häufig, auch auf das maere oder die aventiure. D i e i m ersten u n d zweiten Buch auftretenden derartigen Berufungen sind v o n Panzer zusammengestellt worden; sie erwecken den Eindruck, ganz spielerisch u n d unverbindlich ausgesprochen worden zu sein 3 0 . Ähnliches empfindet man bei manchen der Berufungen auf K y o t ; denn welchem Wahrheitsanliegen könnte W o l f r a m gedient haben, wenn er sich auf K y o t bezog, um, wie v a n Stockum sich ausdrückte, »den N a m e n Liddamus einzuführen, die Tatsache zu begründen, daß Gawan erst nach dem Frühstück aufbricht, u n d zu bezeugen, die Damen seien bei einer bestimmten Gelegenheit ungeschminkt gewesen, was W o l f r a m offenbar sympathisch findet« 31? Vielleicht sind die v o n van Stockum gemeinten Bezugnahmen auf K y o t tatsächlich so banaler A r t , wie er glaubte annehmen zu müssen. Vielleicht könnte eine nochmalige Überprüfung der v o n Panzer untersuchten Berufungen dessen U r t e i l nur bestätigen. Das würde jedoch keineswegs beweisen, daß alle Bezugnahmen einerseits auf K y o t , andererseits auf maere und aven28
Panzer wie Anm. 5 S. 74. Vgl. Stapel, Friedrich, Wolframs von Eschenbach Parzival, in: Wolfram-Jahrbuch 1955, S. 14. 30 Panzer wie Anm. 5 S. 73. 81 Stockum wie Anm. 4 S. 14. 29
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tiure denselben Charakter hätten. Möglich wäre es durchaus, daß es bei den Bezugnahmen zwei Gruppen gäbe u n d daß nicht nur v o n unwesentlichen, sondern auch v o n wesentlichen Berufungen die Rede sein müßte. Tatsächlich hat W o l f r a m v o n der aventiure nicht immer auf eine bloß beiläufige Weise gesprochen. Z u Beginn des 9. Buches teilt er einen D i a l o g m i t , den er als Dichter m i t der aventiure führt, m i t vrou Aventiure, wie es hier heißt. D a r i n erscheint vrou Aventiure i n einer Bedeutung, welche an die Muse der antiken Dichter denken läßt. Jedenfalls kann diese Bezugnahme weder als beliebig noch als unverbindlich angesehen werden. Bei ihr müßte man ansetzen, wenn das Wesen der Bezugnahmen auf aventiure und maere an den Tag gebracht werden soll. Daß die Berufungen auf K y o t alle ironischer A r t wären, ist bisher nur behauptet, jedoch nicht nachgewiesen worden. Freilich ist der Nachweis v o n ironischem Sprechen niemals ganz leicht, da die bloße A n f ü h r u n g v o n Z i t a ten unzulänglich ist: die Ironie pflegt ja »zwischen den Zeilen« zu liegen, i m nicht direkt ausgesprochenen Zusammenhang. W o l l t e man zeigen, daß Wolframs Kyot-Berufungen ironisch gemeint seien, so gelänge es möglicherweise bei den drei v o n v a n Stockum erwähnten Stellen, bei den übrigen dreien aber dürfte man k a u m Erfolg haben. Diese drei Berufungen haben alle den unmittelbarsten Bezug auf Wolframs Hauptanliegen, die Wiedererlangung des Grals. D i e erste findet sich i m 9. Buch, dem Scheitelpunkt der Dichtung, u n d hat darin die Aufgabe, m i t z u w i r k e n bei der Vorbereitung des Lesers auf das entscheidende erste Gespräch Parzivals m i t dem Einsiedler Trevrizent (453, 1 f f . ) 3 2 . D i e zweite dieser Berufungen w i r d ausgesprochen, als der inzwischen Gralskönig gewordene Parzival sein großes V o r b i l d Sigune neben dem unverwesten Leichnam des Geliebten tot auffindet (805, 1 f.). D i e letzte steht i m Epilog der Dichtung, i n dem W o l f r a m das Erzählte zusammenfaßt. Keine der drei Berufungen hat i n ihrem K o n t e x t für Ironie irgendwelchen Raum. Demgegenüber besagt der Umstand, daß sich W o l f r a m der Ironie recht oft bediente, solange wenig, als nicht anzunehmen ist, Wolframs Charakter sei ausschließlich v o n der Ironie bestimmt und der Parzival besitze i n der Ironie seinen höchsten Sinn. Der heutige Stand der Forschung läßt eine solche Annahme nicht z u 3 3 . 82 Wolfram-Zitate nach der Ausgabe von Karl Lachmann 7. Ausgabe, neu bearbeitet und mit einem Verzeichnis der Eigennamen und Stammtafeln versehen von Eduard Hartl, 1. Bd. Lieder, Parzival und Titurel, Berlin 1952. 83 Max Wehrlt hat es unternommen, 'Wolframs Humor' aufzuzeigen (in: Uberlieferung und Gestaltung. Festgabe für Theophil Spoerri, Zürich 1950, S. 9 ff.). Dabei glaubte er sagen zu dürfen, Wolframs 'Parzival* zeige »Humor wohl nicht nur als gelegentliches Stilmittel unter anderen, sondern weithin als eine strukturbestimmende Grundhaltung, die in enger Beziehung zum geistigen Anliegen und zu seiner geschichtlichen Bedeutung zu stehen scheint«, S. 9. Indessen wies er selbst darauf hin, daß es bei Wolfram Dinge gibt, die »nicht mehr als . . . humoristische aufgefaßt werden« können, etwa das Verhältnis von Schuld und Gnade, S. 22. Gerade um dieses Verhältnis geht es in allen Episoden, die auf das zentrale Thema
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Mergell ging bei seinem Versuch, die K y o t - F i k t i o n aus Wolframs Charakter zu erklären, v o n der Voraussetzung aus, der Dichter sei primär nicht Ironiker, sondern komponierender Künstler gewesen. Nach Mergells A u f fassung w a r es verfehlt, das K y o t - P r o b l e m auf dem »Boden einer — dem M i t t e l a l t e r ganz ungemäßen — Quellenkritik« zu diskutieren. Statt nach einer verlorenen Quelle zu fahnden, sollte man untersuchen, welche Bedeutung der Kyot-Gestalt innerhalb der Komposition des 'ParzivaP zukam. D a n n mußte sich zeigen, daß die » K y o t f i k t i o n — als F i k t i o n — nicht etwa sinnlos, sondern innerhalb der Motivzusammenhänge der Parzivaldichtung notwendig, ja unentbehrlich« sei 3 4 . Mergells Gedanke, daß K y o t einen der Dichtung immanenten Sinn habe, ist ebenso neu wie überzeugend. I m Aufzeigen dieses Sinnes sollte sich in Z u k u n f t jede K y o t - D e u t u n g zu bewähren suchen. Dabei müßte nachgewiesen werden, daß alle sechs Berufungen auf ein u n d dieselbe, besonders strukturierte Gestalt beziehbar sind und außerdem, daß sämtliche jeweils i n einem einleuchtenden textlichen Zusammenhang auftauchen. Mergell selbst ist ein geschlossener Nachweis nicht gelungen. Z w e i Stellen (776, 10 und 805, 10) schied er aus m i t der Begründung, sie enthielten nur »formelhafte Beteuerungen« 35 , und i m H i n b l i c k auf eine dritte erklärte er, die »Berufung auf K y o t für N a m e n u n d Gestalt des Liddamus« bleibe »fragwürdig« 3 *. Eine Lösung des ganzen Kyot-Problems hätte Mergell v o n seinem Ansatz aus ohnehin nicht gewinnen können. Denn so wichtig es ist, K y o t auch als eine Gestalt der Dichtung zu sehen, so wenig geht es an, i h n nur als eine solche Gestalt aufzufassen. Wolframs Angaben wären nicht gerecht behandelt, w o l l t e man leugnen, daß sie K y o t eine das W e r k transzendierende Bedeutung zuschreiben. D i e Frage, was K y o t außerhalb v o n Wolframs Dichtung war, bildet nach wie v o r den K e r n des Kyot-Problems. Selbst wenn Mergells und Panzers Vorschläge dem Text gegenüber zu rechtfertigen wären, würden sie keine entscheidende Verbesserung der fiktionistischen Position bedeuten. D e n n ob W o l f r a m nun aus Ironie oder aus künstlerischer Gestaltungslust seinen K y o t geschaffen hätte — i n jedem Fall hätte er das Wahrheitsbedürfnis seiner Zuhörer gröblich verletzt. Die These der Fiktionisten bleibt unbefriedigend, da es nicht möglich sein dürfte, den W o l f r a m zu unterstellenden ernsten Verstoß gegen die Wahrheit zu erklären. der Dichtung, auf den Gral, Bezug haben. Wehrli behauptete denn auch keineswegs, daß der Humor oder gar die Ironie im 'Parzival* die höchste Instanz sei. »Wo sich der Humor absolut setzt, droht die Gefahr des absoluten Unernstes oder der tödlichen Ironie. — Verglichen mit der späteren Romanliteratur erscheint... der 'Parzival* noch oder schon wieder stark im Epischen gebunden und geborgen«, S. 28. ' 3 4 Mergell wie Anm. 13. Jg. 74 S. 139. 85 Mergell wie Anm. 1 S. 174. 36 Mergell wie Anm. 1 S. 172.
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I m übrigen ist folgendes zu erwägen. M a n k a n n den Standpunkt der Fiktionisten nicht vertreten, ohne einzuräumen, daß W o l f r a m m i t dem Fälschen einer Quelle einen Zweck verfolgte. Seit V i ë t o r sind die Fiktionisten i n der Lage, einen plausiblen Zweck anzugeben: W o l f r a m w o l l t e sich — m i t Panzer gesagt — »gegen die A n z w e i f l u n g der Wahrheit seiner Erzählung schützen«. Bestand diese Absicht bei W o l f r a m tatsächlich, so mußte i h m daran gelegen sein, einen wirksamen Schutz zu erreichen. Dies zu realisieren wäre w o h l nicht sehr schwierig gewesen; denn nach V i ë t o r w a r beim mittelalterlichen P u b l i k u m »ebensogroß wie das Verlangen nach historischer Z u verlässigkeit . . . auch die Gläubigkeit solchen Angaben gegenüber« 37 . Demnach würde es genügt haben, wenn W o l f r a m m i t gehörigem Nachdruck irgendeine fabulose Angabe gemacht hätte; er wäre z w a r nicht fähig gewesen, sie zu belegen, aber es hätte sie auch niemand widerlegen können, u n d so hätte man sich damit zufrieden gegeben. Über einen passenden E i n f a l l verfügte W o l f r a m durchaus; denn er berichtete davon, daß sein Gewährsmann K y o t auch seinerseits einen Gewährsmann gehabt habe, welcher Heide gewesen sei und Flegetanis geheißen «habe, u n d dieser Flegetanis w a r w o h l ein solcher M a n n , den niemand kannte, v o n dem jedoch auch niemand beweisen konnte, daß es i h n nicht gab. Nichts hätte i m Wege gestanden, daß W o l f r a m behauptet hätte, er habe die Schrift des Flegetanis und i n ihr eine bis dahin v ö l l i g unbekannt gewesene, aber zweifellos echte, ja, die eine echte Quelle der Gralsgeschichte entdeckt. K e i n Leser, mochte er noch so boshaft sein, hätte W o l f r a m des Betruges zu überführen vermocht. H a t man dies bedacht, so muß es m e r k w ü r d i g erscheinen, daß W o l f r a m sich nicht direkt auf Flegetanis, sondern primär auf K y o t berief u n d über diesen einige sehr genaue Angaben machte. Er nannte i h n den meister wol bekant (453, 11) u n d erklärte, er sei ein Dichter, den sin kunst des niht erliez, / er ensunge und spraeche so, \ des noch genuoge wer dent vro (416, 22—24). W o l f r a m behauptete, K y o t sei ein allbekannter Sänger. D a m i t forderte er beim P u b l i k u m die Frage heraus, wer außer W o l f r a m diesen K y o t denn kenne. Wenn i h n niemand kannte — u n d einen fiktiven K y o t konnte niemand kennen — , so wurden Wolframs Angaben unglaubwürdig. Ja, nun konnten die Boshaften, u n d nicht nur sie, auch alle, denen es m i t der W a h r heit noch ernst war, sie konnten nun aufstehen und, den T e x t i n der H a n d , geradezu beweisen, daß W o l f r a m nicht die Wahrheit gesagt hatte. Diese Reaktion des Publikums mußte W o l f r a m voraussehen (er hat sich wiederholt — etwa 115/116 u n d 453, 1 ff. — m i t v o n i h m erwarteten M e i nungen des Publikums auseinandergesetzt!), beim ersten V o r t r a g des Werkes mußte sie sich i h m erweisen. M i t Leichtigkeit hätte er die Angaben, die nur eine seinen Zwecken v ö l l i g zuwiderlaufende W i r k u n g ausüben konnten, umzuformulieren u n d seinem Vorhaben dienstbar zu machen vermocht. Doch 37
Viëtor
wie Anm. 20 S. 106.
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behielt er sie bei. Dieser Umstand ist ein authentisches Zeugnis seiner wahren Absicht. Sie k a n n nicht darin bestanden haben, die Zuhörer zu täuschen u n d durch die Täuschung einen Schutz zu gewinnen. D a eine solche Absicht v o n den Fiktionisten vorausgesetzt w i r d , verliert ihre These, die i n sich widersprüchlich genug ist, die letzte H a l t b a r k e i t . O b man jedoch dieserhalb berechtigt ist, die These der Kyotisten wiederaufzunehmen, erscheint zweifelhaft. Zuzugeben ist allerdings, daß die kyotistische Position solidere Fundamente hat, als man vielfach meint. D i e Grundthese der Kyotisten, nämlich daß es K y o t w i r k l i c h gegeben habe, w i r d durch den Umstand, daß W o l f r a m v o n K y o t als v o n einem seinen Zuhörern bekannten Dichter sprach, eindeutig bestätigt. V o n den eingangs angeführten Hauptargumenten hat das Quellenargument z w a r als entkräftet zu gelten; das moralische Argument dagegen konnte sich gegen alle Einwände behaupten und das Textargument ließ sich, wie soeben sichtbar wurde, nicht v ö l l i g beseitigen. Richtig ist allerdings, daß der Text bei den Angaben über K y o t Widersprüche aufweist. Eduard H a r t l schrieb dazu: »Ein Provenzale, der ein Epos (und noch dazu i n französischer Sprache) gedichtet hätte, wäre unerhört: i n der Provence ist die L y r i k zuhause, die H e i m a t des Epos ist Nordfrankreich. Ferner ist K y o t eine nordfranzösische Form, während sie i m provenzalischen >Guizot< heißen müßte.« 3 8 Aus der Unstimmigkeit einer Schilderung kann jedoch nicht ohne weitere Gründe auf die Nichtexistenz des Geschilderten geschlossen werden. Die Widersprüche i n Wolframs Angaben berechtigen lediglich zu der Feststellung, daß der v o n W o l f r a m als w i r k l i c h bezeichnete K y o t i n der Wirklichkeit nicht so beschaffen gewesen sein kann, wie W o l f r a m ihn darstellte. Wenn die Position der Kyotisten bis heute nicht schlechthin aufgelöst erscheint, so k a n n sie doch auch nicht i n ihrer ursprünglich reinen Form erhalten werden. Denn obschon man gezwungen ist, sich K y o t als einen wirklichen Menschen vorzustellen, muß man zugleich einräumen, daß i n seiner Beschreibung ein fiktives Element waltet. Z w a r könnte man zugunsten der Kyotisten das Argument vorbringen, W o l f r a m habe v o n K y o t offenbar nur unzulängliche Kenntnisse besessen. Aber das Argument würde nicht weit tragen. M a n darf nicht annehmen, W o l f r a m habe v o n einem meister wol bekant, dem er den eigenen Mitteilungen nach sehr viel verdankte, nur U n genaues gewußt, u n d dies u m so weniger, als einer bestimmten Stelle (453, 1 ff.) zu entnehmen ist, daß W o l f r a m — worauf Ε . H . Zeydel aufmerksam gemacht h a t 3 9 — m i t K y o t i n persönlichem, wahrscheinlich sogar mündlichem K o n t a k t gestanden hat. I n Anbetracht dessen legt sich die Vermutung nahe, W o l f r a m habe aus irgendeinem G r u n d auf einen dem Publi88 39
S. 12.
Hartl wie Anm. 2 S. 1071. Zeydel, Ε. H.: Noch einmal zu Wolframs Kyot, in: Neophilologus 34 (1950),
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k u m und v o r allem auch i h m selbst wohlbekannten Dichter nicht direkt, sondern m i t H i l f e v o n fiktiven Andeutungen hingewiesen. Diese Vermutung berührt sich m i t der Ansicht zweier Forscher, die gerade i m letzten Jahrzehnt zum K y o t - P r o b l e m Stellung nahmen. I n deren Arbeiten zeichnet sich eine dritte Position ab, deren Grundtendenz es zu sein scheint, aus den beiden anderen eine Synthese zu gewinnen. Es sei erlaubt, auch diesen Forschern ein E t i k e t t anzuhängen u n d sie die Synthesisten zu nennen. D i e Synthesisten haben einen Vorläufer i n Paul Hagen, der schon 1908 die Vermutung äußerte, der N a m e K y o t stehe zwar für eine historische Person, sei aber ein Deckname, hinter dem sich ein Anonymus verberge 4 0 . Hagen machte sich auch Gedanken über die mögliche Identiät des A n o n y mus. Dabei k a m er auf einen zum Gefolge des Richard Löwenherz gehörigen clericus namens P h i l i p p v o n Poitier. Dieser w a r nämlich v o n dem H i s t o r i k e r W i l h e l m v o n N e w b u r g m i t dem Beinamen genere Aquitanus bedacht worden, welchen Beinamen Hagen m i t K y o t s Provenzalentum i n Zusammenhang bringen zu dürfen glaubte. Hagens Mutmaßungen haben erst i n jüngster Zeit ernstere Beachtung gefunden. Anlaß dazu boten die Versuche v o n Friedrich Panzer und W i l l e m Snellemann, einen Bezug der Gahmuret-Gestalt a u f Richard Löwenherz nachzuweisen 41 . Angeregt v o n den Ergebnissen dieser Forscher, stellte J. H . Schölte i m Jahre 1949 abermals die v o n Hagen erörterte Möglichkeit zur Diskussion 4 2 . Während Hagen allerdings noch annahm, P h i l i p p v o n Poitier habe eine T a r z i v a l ' - D i c h t u n g verfaßt, formulierte Schölte, der unter dem Eindruck v o n Panzers und Mergells entschiedener Ablehnung der kyotistischen These stand, seine Überlegung erheblich vorsichtiger: der hinter dem N a m e n K y o t verborgene M a n n sei w o h l Wolframs »Quelle« gewesen: »mündlich, schriftlich, vielleicht beides« 48 . Scholtes Anregung wurde sodann v o n E. H . Zeydel aufgegriffen. Zeydel entfernte sich noch einen Schritt weiter v o n Hagen durch die Annahme, der Anonymus habe W o l f r a m »nur mündlich« als Quelle gedient 4 4 . Zeydel betonte: »Daß . . . K y o t ein Buch über die Gralserzählung geschrieben hätte, behauptet W o l f r a m nirgends, nur daß er gesungen u n d französisch (was W o l f r a m verstand) darüber gesprochen oder berichtet u n d uns die Märe entboten h a b e . . . Das kann« er »alles sehr gut mündlich dem Dichter W o l f ram übermittelt haben. I n der T a t — u n d dies ist von allergrößter Wichtig40 Hagen, Paul, Wolfram und Kiot, in: Z. dt. Philol. 38 (1906), S. 1—38 u. 198—237. 41 Panzer wie Anm. 5; Snellemann, Willem, Das Haus Anjou und der Orient in Wolframs 'Parzival', Nijkerk 1941 ( = Proefschrift Amsterdam). 42 Schölte, J. H., Kyot von Katelange, in: Neophilologus 33 (1949), S. 23—36. 43 Schölte wie Anm. 42 S. 35. 44 Zeydel wie Anm. 39 S. 14.
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keit — W o l f r a m hat m i t K y o t v o n Angesicht zu Angesicht darüber Rücksprache genommen, denn er betont: „mich bat ez helen K y o t . . . α « 4 δ . D i e Position der Synthesisten ist bestimmt durch den Versuch, die Schwächen der fiktionistischen Position zu überwinden, ohne deren gültige Errungenschaft aufzugeben. Folgende Momente scheinen dabei entscheidend zu sein: 1. D i e Person K y o t gilt als historisch (wie bei den Kyotisten). 2. Der N a m e K y o t g i l t als f i k t i v (wie bei den Fiktionisten). 3. D i e Bedeutung einer Quelle w i r d K y o t belassen (wie bei den Kyotisten). 4. D i e Existenz eines schriftlichen Quellenwerks w i r d bezweifelt (wie bei den Fiktionisten). M a n muß gegen die Synthesisten nicht mehr wie gegen die Kyotisten einwenden, K y o t könne als die v o n W o l f r a m geschilderte Person nicht existiert haben, noch auch, ein so hochbedeutendes W e r k wie das bei K y o t anzusetzende habe nicht ganz ohne Spur verschwinden können. M a n braucht ihnen aber auch nicht w i e den Fiktionisten entgegenzuhalten, sie übersähen, daß K y o t bei W o l f r a m als historische Person gilt, u n d sie verschwiegen, daß bei ihnen W o l f r a m eigentlich als Quellenfälscher bezeichnet werden müßte. Insofern wesentliche Schwächen der kyotistischen u n d fiktionistischen Posit i o n bei den Synthesisten nicht wiederkehren, darf man zweifellos einen Fortschritt konstatieren. Freilich muß dieser nicht schon die Lösung aller Probleme bedeuten. Infolge der Positionsveränderung treten alte Fragen, die als beantwortet gelten konnten, neu i n Erscheinung. U n t e r ihnen n i m m t den ersten Rang diese ein: w a r u m W o l f r a m seinen K y o t nicht m i t dem echten Namen, sondern unter einem Pseudonym anführte. Zeydel hat eine Erklärung versucht, indem er auf die Spannungen hinwies, die zwischen Richard Löwenherz (und damit auch seinem clericus P h i l i p p ) u n d dem Kaiser (und damit auch m i t den Reichsfürsten u n d also auch m i t Wolframs Gönner H e r m a n n v o n Thüringen) bestanden 4 6 . A n scheinend fand jedoch Zeydel bei weiterem Nachdenken diese Erklärung selbst nicht ganz befriedigend. Bei späterer Gelegenheit machte er einen Ergänzungsvorschlag. Wolframs Gewährsmann sei vielleicht ein Katharer gewesen, u n d darum hätte W o l f r a m i h n natürlich nicht öffentlich nennen können. I m übrigen komme als Gewährsmann neben P h i l i p p auch G u i o t v o n Provins i n Frage (jener nordfranzösische Dichter, der seit Wackernagel wiederholt, aber, wie man sofort hinzusetzen muß, doch w o h l vergeblich, m i t K y o t zu identifizieren versucht w u r d e 4 7 ) . 45
Zeydel wie Anm. 39 S. 14. Zeydel, E . H . : Auf den Spuren von Wolframs 'Kyot', in: Neophilologus 40 (1952), S. 21—32. 47 Zeydel , Ε. H., Wolframs Parzival, 'Kyot* und die Katharer, in: Neophilologus 42 (1953), S. 25 ff. 4e
2 Llteraturwissenschaftliches Jahrbuch, 9. Bd.
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Bei diesen Überlegungen ist alles hypothetisch geblieben. Die Annahme, Wolframs Gewährsmann (der eine oder der andere oder jeder der beiden) sei Katherer gewesen, wäre nur dann sinnvoll, wenn sich nachweisen ließe, daß Wolframs 'Parzival· selbst i n entscheidenden Zügen katharisch sei. Diese Möglichkeit ist i n der Forschung wiederholt erwogen worden; v o r allem Franz R o l f Schröder hat sich darum bemüht 4 8 . Zeydel w a r nun überzeugt, »daß es verfehlt wäre, sich soweit hinreißen zu lassen, wie F. R. Schröder es . . . t a t « 4 9 , suchte aber zu beweisen, daß »in Wolframs Parzival deutlich erkennbare Spuren der Katharerhäresie zu finden« seien, daß die Katharerhypothese also doch, wenn auch nur i n beschränktem Maße, anerkannt werden könne 5 0 . Inzwischen haben sich unabhängig voneinander Peter Wapnewski und P. B. Wessels m i t Zeydels Argumenten auseinandergesetzt. Beide Autoren gelangten zu klaren Widerlegungen 5 1 . Das K y o t - P r o b l e m läßt sich v o n hier aus nicht lösen. Eine zweite wichtige Frage, welche v o n Synthesisten zu beantworten wäre, hängt m i t dem Charakter der v o n ihnen angesetzten Quelle zusammen. Zeydel scheint erkannt zu haben, daß hier eine besondere Schwierigkeit seiner Argumentation liege. Z u behaupten, daß P h i l i p p schlechtweg K y o t sei, hielt er für unangebracht; P h i l i p p habe K y o t w o h l nur »suggeriert« 52. Nichts, meinte Zeydel, stehe »der Annahme . . . i m Wege, daß er W o l f r a m geholfen haben möge, u n d zwar i n dem Sinne, daß er als Kreuzfahrer . . . i h m u. a. Kenntnisse über den englischen K ö n i g und den Orient vermittelte u n d i h m warme Begeisterung für das schon berühmte Haus A n j o u einflößte« 5 8 . N a t ü r l i c h mußte Zeydel einräumen, daß P h i l i p p dann, wenn er Wolframs Quelle i n diesen Dingen war, »nicht der einzige Gewährsmann« gewesen sein d ü r f t e 5 4 ; denn alles das konnte W o l f r a m auch v o n anderen Zeitgenossen erfahren. I m übrigen haben diese vielleicht v o n P h i l i p p erlangten Kenntnisse v o r allem i n der Gahmuret-Geschichte der zwei ersten Bücher Bedeutung gewonnen. Doch gerade hier hat sich W o l f ram nie auf K y o t berufen. U n d w a r u m sollte er sich solcher Kenntnisse und ihrer Verwendung wegen überhaupt auf K y o t beziehen? W e i l er Chrétiens 'Perceval· vielleicht v o n H e r m a n n v o n Thüringen erhalten, dann aber Chrétiens Dichtung durch den Gebrauch v o n Philipps Kenntnissen »überwunden« hatte u n d nun »die Verantwortung für seine eigenen . . . Abweichungen v o n der Chréstienschen Percevalerzählung« von sich »abzuwälzen« gedachte? 48
Schröder, Franz Rolf: Die Parzivalfrage, München 1928. Zeydel wie Anm. 47 S. 26. Zeydel wie Anm. 47 S. 26. 5 1 Wapnewskiy Peter: Wolframs Parzival, Stuttgart 1955 bes. S. 174—196; Wessels, P. B.: Wolfram zwischen Dogma und Legende, in: Beitr. Gesch. dt. Sprache u. Lit. 77 (Tüb.) (1955), S. 112—135. 52 Zeydel wie Anm. 46 S. 22. 53 Zeydel wie Anm. 46 S. 23. 54 Zeydel wie Anm. 46 S. 23. 49
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N u n , W o l f r a m hat — u n d dies ist ein weiterer E i n w a n d auch gegen die Kathererthese — die Verantwortung nicht v o n sich abgewälzt. I m Schlußw o r t sagte er, wenn Chrétien dem maere v o n Parzival unreht getan habe, so dürfe K y o t i h m w o h l zürnen; dann fügte er hinzu, und zwar als seine eigene Stellungnahme: K y o t sei es gewesen, der uns diu rehten maere enbot (827, 1—4). W o l f r a m versteckte sich nicht hinter K y o t , sondern trat offen an seine Seite. D i e synthesistische Position hat, soweit sie bisher ausgearbeitet wurde, nicht geringere Schwächen als die beiden anderen. Sie bietet weder eine zureichende Erklärung für den Umstand, daß W o l f r a m einen Decknamen gebrauchte, noch auch eine klare Einsicht i n die Bedeutung, die K y o t für W o l f r a m als Quelle hatte. Vielleicht w a r der Versuch, zu einer Synthese zu gelangen, von vornherein verfehlt. Z w a r scheint man berechtigt zu sein, eine dritte Möglichkeit zu erproben. Bemüht man sich aber u m eine Synthese, so bleibt man i m Bann der früheren beiden Positionen, während es vermutlich darauf ankäme, eine gewisse Freiheit v o n ihnen zu gewinnen u n d m i t einer möglichst großen Unbefangenheit Wolframs Angaben über K y o t nochmals zu untersuchen. Dieser Aufgabe soll das nächste K a p i t e l gewidmet sein.
II. D i e
Bedeutung
vonWolframs
Angaben
über
Kyot
Bezeichnet man Wolframs Mitteilungen über K y o t als unstimmig, so hat man sie nur vorläufig u n d ungenau charakterisiert. Bei näherer Betrachtung ordnen sie sich zu zwei jeweils i n sich geschlossenen Gruppen zusammen. I n der ersten Gruppe w i r d K y o t auf die H e i m a t des Minnesangs bezogen u n d als 1. ein Provenzal (416, 25) bezeichnet. D e m entsprechen die weiteren Angaben, er habe 2. scbantiure, Sänger, geheißen (416, 2 1 ) 5 5 und er sei 3. der meister wol bekant (453, 11), dessen Singen und Sagen noch immer viele Menschen erfreue (416, 22—24). H i e r g i l t K y o t als ein berühmter — u n d übrigens zeitgenössischer — L y r i k e r . Der zweiten Gruppe der Angaben nach müßte man K y o t als einen hochangesehenen Epiker auffassen. Z w a r hat W o l f r a m nie, wie man allzu v o r eilig gelegentlich sagte, expressis verbis behauptet, daß er eine T a r z i v a l · Dichtung verfaßt habe. D i e betreffenden Äußerungen können sich, wie Zeydel zeigte, auch auf mündliche Mitteilungen beziehen. Aber bei einer Gelegenheit, die gerade das Moment der Mündlichkeit betont, erklärte W o l f ram, K y o t habe i h n »gebeten«, die Geschichte v o m G r a l erst jetzt und nicht schon früher bekanntzugeben; wer darüber m i t i h m streiten wolle, der würde unpris daran besagen, er würde sich blamieren, und z w a r deshalb, 55 Der Zusammenhang scheint die Möglichkeit, durch Konjektur die Bedeutung »Zauberer« zu gewinnen, auszuschließen, zumal wenn man audi 453,17 berücksichtigt.
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w e i l K y o t selbst W o l f r a m den Ratschlag erteilt habe (453, 1 ff). Bei dieser Stellungnahme geht es u m ein kompositorisches Problem des Epikers. D a sie sich auf K y o t als auf eine A u t o r i t ä t bezieht, setzt sie beim Leser voraus, daß er diesen als Verfasser eines epischen Werkes hochschätze. Diese V o r aussetzung ist natürlich nur dann sinnvoll, wenn K y o t tatsächlich Epiker gewesen ist. D i e Angabe, K y o t sei 4. ein Epiker gewesen, läßt nicht an die Provence, w o es eine epische T r a d i t i o n nicht gab, sondern an Nordfrankreich denken. D a m i t i m E i n k l a n g steht die Behauptung, K y o t habe 5. en franzoys gedichtet (416, 28) w i e auch 6. die Namensform Kyot (oder Kiot), welche nicht provenzalisch, sondern nordfranzösisch ist. D i e beiden Angabengruppen widersprechen sich, zwar nicht logisch, w o h l aber historisch. Innerhalb der beiden Gruppen scheint indessen eine gewisse Konsequenz vorzuliegen. Das ermutigt zu der Frage, ob der Widerspruch nicht irgendeinen Sinn haben könne. Bei dieser Frage ist es nötig, den Charakter des Widerspruchs genau zu beachten. D e r Widerspruch ist, wie festgestellt, historischer A r t . V o l l zur E r scheinung k o m m t er also n u r für das historische Bewußtsein, welches i n Raum und Zeit genaue Grenzen absteckt. Es ist verhältnismäßig jung; i m Bereich des Mythos spielte es keine beherrschende Rolle. Auch i n unserer Zeit ist es für manche Menschen wie nicht existent, für K i n d e r etwa, bisweilen auch für Dichter. I m Mythos, bei Kindern, auch bei modernen Dichtern waltet an Stelle des historischen ein imaginatives Bewußtsein. D a r i n sind viele Dinge, welche das historische Bewußtsein nicht nebeneinander dulden kann, durchaus miteinander verträglich. Wie w a r Wolframs Bewußtsein beschaffen? M a n kann W o l f r a m ein historisches Bewußtsein nicht schlechthin absprechen. I n vieler Hinsicht k a m es i h m — ganz besonders i m 'Willehalm', aber auch schon i m 'Parzival* — auf die Wirklichkeit, auf die leibhaftige Realität des Menschseins an. Dies nachzuweisen wäre grundsätzlich wichtig, doch k a n n hier darauf verzichtet werden. I m gegebenen Zusammenhang interessiert v o r allem, ob, und, wenn ja, i n welcher Weise sein Denken v o m imaginativen Bewußtsein bestimmt war. Wertvolle Aufschlüsse darüber gibt der i m 9. Buch mitgeteilte Bericht v o n K y o t s Bemühungen u m die E n t deckung der Geschichte v o m G r a l . Z u Dolety zu Toledo, sei K y o t , so berichtet W o l f r a m , auf ein Buch gestoßen, das i n heidenischer Schrifte abgefaßt .gewesen sei. U m es lesen zu können, habe er der karakter abc erlernen müssen. Nachdem er i n diesem Buch Kenntnisse über den G r a l erworben hatte, habe er nach einem voie geforscht, das geeignet wäre, daz es des grales pflaege. I n latinschen buochen habe er gesucht, u n d er habe die Landeschroniken v o n Britannien, Frankreich u n d I r l a n d dazu gelesen. Schließlich habe er zu Anschouwe die Geschichte gefunden (453, 11 — 455, 12).
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Bei a l l diesen Angaben scheint kein A n l a ß vorzuliegen, ihren historischen Charakter i n Zweifel zu ziehen. Aber i n ihrer M i t t e steht die berüchtigte Nachricht über Flegetanis, den Verfasser jenes v o n K y o t zu Toledo gefundenen Buches. M a n hat sie als phantastisch empfunden. Besonders unglaubw ü r d i g erschien die Behauptung, Flegetanis habe seine Kenntnis v o m G r a l aus den Sternen bezogen. Friedrich W i l h e l m schrieb dazu: »Daß Flegetanis seine Geschichte v o n der H e r k u n f t des Grals aus den Sternen habe, w i r d , sollte er je gelebt u n d eine solche Angabe gemacht haben, kein vernünftiger Mensch glauben.« 5 6 M a n muß die betreffende Stelle nur nachlesen, u m sich zu überzeugen, wie phantastisch hier m i t einem Male alles w i r d . W o l f r a m schrieb: »er [Flegetanis] jach, ez hiez ein dine der gral: / dez namen las er sunder twal / imme gestirne , wie der hiez« (454, 21—23). Flegetanis habe i n den Sternen den N a m e n des Grals gelesen! Eine absurde Vorstellung; denn würde man sie als etwas Tatsächliches nehmen, so müßte man zu der Meinung kommen, daß Flegetanis den N a m e n G r a l am H i m m e l gelesen habe etwa i n derjenigen Weise, wie gelegentlich moderne Großstädter den N a m e n eines Waschmittels oder einer Zigarettenmarke am H i m m e l lesen. Doch dergleichen, dieses Absurde, läge v ö l l i g außerhalb v o n Wolframs Denkbereich. W o r a n der Dichter bei der Niederschrift dieser Stelle w i r k l i c h dachte, hat er aber sehr genau ausgesprochen. W o l f r a m sagte zuvor v o n Flegetanis, er sei ein fision gewesen .(453, 25), ein Naturforscher. Daß W o l f r a m dabei nicht einen Gelehrten v o n der A r t eines modernen Physikers meinte, versteht sich v o n selbst. D e r Dichter präzisierte seine M i t t e i l u n g noch und erklärte, Flegetanis habe die Sterne studiert. Wieder ist klar, daß nicht v o n moderner Sternenkunde, nicht von einer mathematisch-mechanischen Astronomie die Rede sein kann. Z w a r legte W o l f r a m dar, Flegetanis habe das A u f - u n d Untergehen der Sterne gekannt u n d habe auch gewußt, wie lang ieslicher umbe get (454, 13); u n d das sind Dinge, die auch die moderne Astronomie lehrt. Aber W o l f r a m setzte hinzu — u n d hier zitierte er nicht Flegetanis, sondern sprach die eigene Meinung aus — : mit der Sternen umbereise vart / ist gepüfel aller mennschlich art (454, 15—16) — der Wandel der Sterne beschreibe alles menschliche Wesen. E r vertrat also die alte Anschauung, daß der menschliche Mikrokosmos eine wesenhafte Entsprechung habe i m Makrokosmos, so daß man nicht nur i n der Menschenwelt, sondern auch draußen i m Makrokosmos Aufschlüsse über das Menschliche gewinnen könne. M a n mag diese Anschauung für p r i m i t i v u n d überholt halten. D a n n ist man W o l f r a m gegenüber i n einem V o r u r t e i l befangen, das einen hindert, seinen Worten ernsthaft zuzuhören. D a r u m sollte man, solange man W o l f r a m liest, auf dies V o r u r t e i l verzichten u n d i h m das Zugeständnis machen, daß er überzeugt sein konnte, die Sterne enthielten w i r k l i c h Menschliches. 56
Wilhelm wie Anm. 6 S. 288.
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Ist man dazu bereit, so anerkennt man — immer i m H i n b l i c k auf W o l f ram gesagt — , daß es außer dem Raum des Irdisch-Menschlichen nodi einen Raum des »Sternisch«-MenschHchen gebe. Der zweite R a u m wäre anders beschaffen als der erste. D i e Dinge, die es dort etwa -gäbe, hätten nicht den Charakter des Handgreiflich-Tatsächlichen, wie die Dinge des irdischmenschlichen, des historischen Raumes. Wer sie nicht als w i r k l i c h anerkännte, würde sie irreal u n d phantastisch nennen. Wer ihnen jedoch Wirklichkeit zutraute, der würde sie als phantasiemäßig, als imaginativ bezeichnen. W o l f r a m glaubte an die Wirklichkeit v o n phantasiemäßigen, imaginativen Dingen57. Nach diesen Überlegungen ist deutlich, daß Wolframs Angaben nicht ohne weiteres am M a ß des historischen Bewußtseins gemessen werden dürfen. D i e Angabe, Flegetanis habe i n den Sternen den N a m e n »Gral« gelesen, mag für das historische Bewußtsein Nonsens sein; für Wolframs Bewußtsein aber, und w o h l auch für das seiner Zeitgenossen, hatte sie Sinn. Diesen Sinn aufzunehmen ist für uns deshalb besonders schwierig, weil das W o r t »lesen« für uns sehr k l a r umgrenzt ist und nicht viel anderes meint als das Entziffern v o n faktisch vorhandenen Buchstaben. Bei W o l f ram mußte das W o r t noch ein weiteres bedeuten können, nämlich eine E n t sprechung i m Bereich des Imaginären. Eine Brücke zum Verständnis dieser Bedeutung k a n n für uns ein Ausdruck wie »Gedanken lesen« bilden. H i e r bei ist »lesen« nicht mehr auf Buchstaben, immerhin aber noch auf Worte oder Wortkomplexe, wenn auch unartikulierte, bezogen. Bei dem »Lesen« des Flegetanis ist ein Lesen i m Kosmos (»im Buch der N a t u r « ) vorzustellen, eine geistige Tätigkeit, die w i r heute eher als »Einsehen« bezeichnen würden. »Flegetanis las den Namen« besagt demnach: er sah ein, was das Wesen sei, das Wesen des Grals. Daß W o l f r a m bei der A n w e n d u n g des Wortes »lesen« i n solcher Bedeutung seinen Zeitgenossen nichts Ungewöhnliches zumutete, w i r d sich später noch erweisen. Jetzt soll nur die gedankliche Richtigkeit der Überlegung erprobt werden. Wenn das W o r t »lesen« zweideutig sein konnte, so mußte auch das W o r t »Name« neben der uns gewohnten Bedeutung eine imaginative haben können. I n die Richtung, i n der diese zu suchen wäre, weist die nicht zufällig bis heute übliche Redensart v o m nomeny das ein omen sei; noch moderne Dichter lassen sich bei der Namengebung nicht ungern v o n der Vorstellung leiten, daß der N a m e mehr und anderes sei als ein bloßes Erkennungszeichen, wie es i n Indices i n aller Vollständigkeit festgehalten werden mag, mehr als eine Namensvokabel. 57 Mergell betonte, daß »das Motiv der Sternen vision . . . zunächst aus der Parzivaldichtung zu deuten« sei, »bevor die genetische Frage gestellt werden« dürfe und erkannte die Aufgabe, »die Bedeutung der Sternenwelt für Wolframs dichterische Phantasie zu verstehen« (wie Anm. 1 S. 177 u. 178); dabei verwies Mergell auch auf Wh. 216,4 ff.
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W o l f r a m hat oft v o n der Möglichkeit Gebrauch gemacht, m i t H i l f e der Namensvokabel das Wesen einer Gestalt zu bezeichnen. So gab er einer Frau, deren Hauptcharakterzug der Stolz ist, den wesensdeutenden N a m e n Orgeluse. Wie wichtig i h m ein solcher N a m e sein konnte, zeigt sich daran, daß er nicht davor zurückscheute, eine Figur, die er anders darstellen wollte als Chrétien, auch umzubenennen; Parzivals G a t t i n heißt bei Chrétien Blancheflor, bei W o l f r a m jedoch, w o ihr Wesen darin besteht, »begleitende Liebe« zu sein, w i r d sie Condwiramurs genannt. Allerdings enthält nicht jede Namensvokabel bei W o l f r a m eine höhere Bedeutung. Eigentümlicherweise ist gerade bei jenem Namen, den Flegetanis i n den Sternen »las«, die Vokabel als solche ohne Sinn, jedenfalls i n W o l f rams Dichtung. Bei seinen Vorgängern mochte der N a m e »Gral« ein gestuftes Gefäß bezeichnen, bei W o l f r a m ist dies nicht mehr möglich, da bei i h m der G r a l nicht mehr eine Schale, sondern ein Stein ist. E i n m a l ließ er sagen, dieser Stein werde ouch genant der gral (469, 28), w o m i t er selbst einen Hinweis darauf gab, daß hier die Namensvokabel ohne wesentliche Bedeutung sei. W o l f r a m tat noch ein übriges und ersetzte die leere Vokabel »Gral« durch die Bezeichnung lap sit exillis (469, 7), eine W o r t b i l d u n g , die des Sinnes v ö l l i g entbehrt. Wenn man diesem Ausdruck künstlich, durch Konjekturen, eine bestimmte Bedeutung zu unterstellen versucht, so k l ä r t man die I n t e n t i o n des Dichters nicht auf, sondern arbeitet i h r gewaltsam entgegen. Der G r a l ist bei W o l f r a m z w a r ein Stein, aber ein Stein, den man m i t dem natürlichen Auge nicht wahrzunehmen vermag — nur Getaufte können i h n sehen! — , ein Stein also, der sich v o n allen anderen Steinen, ja v o n allen irdischen Gegenständen überhaupt seinsmäßig v ö l l i g unterscheidet. U m an diesen ganz ungegenständlichen Stein denken zu können, muß man über alle Gegenstände hinausdenken. D a z u h i l f t eine N a mensvokabel, die jeden Versuch zu einer Festlegung auf einen bestimmten, einzelnen Gegenstand durch ihre Bedeutungsleere abweist. Wenn die Namensvokabeln lapsit exillis und auch gral keine Wesensbeschreibung geben, so heißt das nicht, daß das Wesen des Grals überhaupt unerkennbar und unbezeichenbar sei. W o l f r a m betonte vielmehr, Flegetanis habe es eingesehen u n d habe v o n i h m gesprochen. I m unmittelbaren A n schluß an diese Bemerkung — sie wurde oben bereits angeführt — zitierte W o l f r a m einen Absatz aus dem Buch des Flegetanis, i n welchem H e r k u n f t , O r t u n d H ü t e r des Grals genannt werden (454, 24—30). Dieses Z i t a t enthält die dem Flegetanis auf G r u n d seiner Einsicht möglich gewesene Wesensbeschreibung des Grals. Es hat also die F u n k t i o n einer Ergänzung der an sich selbst leeren Namensvokabel. N i c h t i n ihr, sondern i n dieser Ergänzung liegt die eigentliche Benennung, der wesenhafte Name. Indem sich erweist, daß für W o l f r a m der N a m e eine imaginative Bedeutung haben und als Wesensbeschreibung dienen konnte, bestätigt sich die Auffassung, daß das Lesen bei i h m manchmal als ein imaginativer, das
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Wesen des »Gelesenen« einsichtig machender Vorgang zu deuten sei. Umgekehrt bietet die Erkenntnis, daß für i h n die Möglichkeit eines imaginativen Lesens bestand, eine Erklärung für den Umstand, daß W o l f r a m imaginative N a m e n gebrauchte. Die beiden Erkenntnisse stützen sich gegenseitig. Sie können jedoch auch unmittelbar aus dem T e x t bekräftigt werden. D e m Z i t a t aus Flegetanis gehen zwei Sätze voraus, deren Aussagen k o r respondieren. I n d e m die beiden Sätze auf verschiedene Weise dasselbe sagen, erklären sie sich wechselweise. Diese Sätze lauten folgendermaßen: 1. Satz:
2. Satz:
Flegetanis der beiden s ach, da von er bluwecliche sprach, im gestirn mit sinen ougen verholenbaeriu tougen (454, 17—20)
er jach, ez hieze ein dine der gral: des namen las er sunder twal imme gestirne, wie der hiez (454, 21—23)
Es entsprechen sich: 1. Satz: Flegetanis sah i n den Sternen ein Geheimnis u n d m i t Scheu sprach er davon
2. Satz: = = =
Er las i n den Sternen den Namen u n d sagte er heiße Gral.
I n der T a t ist also das Lesen des Namens G r a l gleichbedeutend m i t dem Sehen, dem Einsehen eines Geheimnisses, u n d meint das Sagen des Namens soviel wie das Sprechen v o m Geheimnis. E i n weniger hehres Geheimnis als der Gral, aber doch auch ein Geheimnis, ist K y o t . Es muß nicht für unmöglich, eher sogar f ü r wahrscheinlich gelten, daß es m i t dem N a m e n K y o t eine ähnliche Bewandtnis hätte, wie m i t dem N a m e n Gral. Auch der N a m e K y o t könnte eine Wesensbeschreibung bieten, eine Wesensbeschreibung, die jedoch nicht i n der Namensvokabel selbst — die auch hier bedeutungslos zu sein scheint — , sondern i n den über K y o t gemachten Angaben zu suchen wäre. D a die vorliegende Studie einen n u r vorbereitenden Charakter hat, k a n n auf den Versuch, das Gesamte einer solchen Wesensbeschreibung zu erfassen, hier verzichtet werden. D i e unmittelbare Aufgabe besteht darin, den W i d e r spruch der beiden Angabengruppen, v o n denen die Rede gewesen ist, zu lösen. Dabei w i r d es u m das Aufzeigen einer Möglichkeit gehen, geographisch-nationale Bezeichnungen, die v o n dem historischen Bewußtsein streng geschieden werden, i n imaginativer Betrachtung zu vereinigen. M a n mag allerdings Bedenken haben, ob der Nachweis, daß W o l f r a m N a m e n i n einem imaginativen Sinn gebrauchte, ohne weiteres zu dem Versuch berechtige, auch geographische u n d nationale Begriffe auf imaginative
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Weise aufzufassen. D a n n wäre zunächst darauf hinzuweisen, daß sogar dem modernen Bewußtsein dergleichen nicht ganz fremd ist. W i r sprechen etwa gelegentlich v o m europäischen Geist u n d sind durchaus bereit, i h n auch bei Nichteuropäern zu konstatieren. Auch scheint es uns nicht unpassend, einen Menschen, der — wie beispielsweise H ö l d e r l i n — niemals i n Griechenland gewesen, geschweige denn dort geboren ist, bisweilen einen Griechen zu nennen, wenn es uns nur wahrscheinlich dünkt, daß der Geist dieses Menschen jenem der Griechen ähnlich sei. Wenn schon w i r uns diese Freiheit nehmen, ist nicht zu erwarten, man sei i m M i t t e l a l t e r gerade i n solcher Hinsicht engherziger gewesen. Bodo Mergell hat denn auch bereits die Vermutung ausgesprochen, daß Wolframs Bezugnahmen auf lateinische Bücher oder auf »die N a m e n v o n >BritaneFrancriche< u n d >Yrlanterfundendie Wildem im Gegensatz zu den Kulturvölkern entsprechend« (wie Anm. 16 S. 278).
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zunächst die öffentliche O r d n u n g des Staates denken, jene Ordnung, v o n der auch w i r noch sagen würden, daß sie den Bereich des »Rechtes« ausmache. Bei Gottfried ist das Kennzeichen -derjenigen Menschen, die sich dem Recht einfügen, die Ehre. Diese spielt, wie Friedrich Maurer gezeigt hat, in Gottfrieds Denken eine H a u p t r o l l e 7 1 . Als Tristan und Isold i n der Minnegrotte leben, w i r d ihnen nach Gottfrieds Darstellung ein paradiesisches Glück zuteil, das sie aller natürlichen Bedürftigkeit enthebt. I n einer H i n sicht ist ihr Zustand jedoch unvollkommen. Sie konnten ihr Liebesglück nur gewinnen, indem sie sich dem R a u m der staatlichen O r d n u n g — den Markes Königshof verkörpert — entzogen. Dadurch aber haben sie die Ehre verloren. Beide wünschen, um der Ehre w i l l e n an den H o f zurückzukehren. Es ist leicht einzusehen, daß zwischen Ehre und Recht ein Wesenszusammenhang besteht. Aber ein solcher müßte — wenn anders das Rechte m i t dem Wahren identisch wäre — auch i m H i n b l i c k auf Ehre u n d Wahrheit angesetzt werden, u n d bei diesen beiden Begriffen leuchtet die Möglichkeit eines Zusammenhangs nicht ohne weiteres ein, wenn man voraussetzt, W a h r heit sei Entdecktheit der Ursache. Für Gottfried muß die Wahrheit anderes bedeutet haben; dennoch ist sie auch bei i h m nicht der Ehre zugeordnet. Unter den Lebensmächten, denen Gottfried sich verpflichtet fühlte, nahm die Ehre einen z w a r hohen, aber nicht den höchsten Rang ein. Der Dichter hat sein Liebespaar, das die O r d n u n g der Ehre durch den Ehebruch verletzte, nicht verurteilt, und er hat i h m bei der Rückkehr an den H o f auch nicht die Bedingung gestellt, auf den ehebrecherischen W i l l e n zu verzichten. E r sanktionierte den Ehebruch, w e i l er glaubte, daß die Minne, i n deren N a m e n er vollzogen wurde, eine höhere Würde besitze als die Ehre. Diese eigentümliche Vorstellung k a n n nur verständlich werden, wenn man sie auf ihren geistesgeschichtlichen H i n t e r g r u n d bezieht. Das wesentlichste geistesgeschichtliche Ereignis des 12. Jahrhunderts w a r der damals anhebende Wandel der herrschenden Gottesauffassung. I m frühen Mittelalter, v o r der Entstehung des Minnesangs und des Minnedienstes, w a r — nach Julius Schwietering — das allgemeine Gottesbild v o m »jüdischen N a t i o n a l g o t t « bestimmt, dem »unbarmherzigen Heidenvernichter«, dem »alttestamentarischen G o t t der Gerechtigkeit« 7 2 . Dieser G o t t thronte wie ein K ö n i g über dem irdischen Dasein als Fülle der M a d i t , leuchtend i n seiner Herrlichkeit wie die Sonne. V o n i h m leitete man jegliche Herrlichkeit (gloria u n d honor) ab. Diese Herrlichkeit nannte man auch »Ehre«. M a n dachte, G o t t habe einen T e i l seiner Herrlichkeit, seiner Ehre ausgespendet an den höchsten irdischen Herren, den Kaiser, u n d von diesem sei die Ehre Gottes i n direkter Linie weitergegangen an die Könige, die 71 Maurer, Friedrich, Leid. Studien zur Bedeutungs- und Problemgeschichte, besonders in den großen Epen der Staufischen Zeit, Bern/München 1951, bes. S. 235 ff. 72 Schwieteringy Julius, Der Wandel des Heldenideals in der epischen Dichtung des 12. Jahrhunderts, in: Z. dt. Altertum dt. Lit. 64 (1927), S. 142.
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Fürsten, -die Ritter. Wenn man R i t t e r wurde u n d «das Schwert empfing, so glaubte man dadurch A n t e i l zu erlangen an der Gottesehre. Ritterdienst w a r z w a r Dienst i n einem irdischen Ordnungsgefüge, zugleich aber — innerhalb derselben O r d n u n g — Dienst an Gott. Solange diese O r d n u n g unbestritten war, besaß sie unbedingte Verbindlichkeit. Doch i m Ubergang aus der — m i t Friedrich Heer gesagt — »altadligen vorgotischen u n d vorbernhardinischen Z e i t « 7 3 i n jene Ä r a , die man »gotisch« nennen mag, gewann mehr und mehr der aus dem Neuen Testament geschöpfte Gedanke Macht, G o t t sei i n seinem Wesen »Liebe«, »Barmherzigkeit«, triuwe (Schwietering) 7 4 . Bernhard v o n C l a i r v a u x erklärte i n einer seiner letzten Predigten: »Da behaupten nun einige, G o t t sei die >EhreWie das geschehen / führt jhn der Hertzog sampt seinem Marschalck mit der Music stadtlich heraus.. .< deutet darauf hin, daß auf der Bühne zwei Innenräume bespielbar sind: der Saal, in dem das gemeinsame Festessen stattfindet, und das Schlafgemadi. Flemming bezeichnet diesen Bühnentyp als vorbarocke »kubische SimultanbühneSalus< ( = W o l f g a n g u s Mozhart) i m Drama 'Sigismundus' des Benediktiners M a r i a n Wimmer auf 3 . Barocke Formen haben sich i n der Theatertätigkeit der Salzburger Benediktiner bis ins 1 Zauberflöte. Eine große Oper in zwey Aufzügen. Von Emmanuel Schikaneder. Die Musik ist von Herrn Wolfgang Amade Mozart, Kapellmeister und wirklichem k. k. Kammer-Compositeur. Wien. 1791, S. 13 (4. Auftritt). 2 »Manches erscheint für den geschichtlichen Ort, an dem die 'Zauberflöte' steht, durchaus aufsdilußreich, denn sie bietet Züge, die ins Barock und Rokoko weisen ebenso wie solche, die Aufklärung und Humanitätsglauben erkennen lassen, so daß das Werk am Schnittpunkt dieser Zeitrichtungen steht.« (Moriz Enzinger, Randbemerkungen zum Textbuch der 'Zauberflöte', in: Sprachkunst als Weltgestaltung. Festschrift für Herbert Seidler. Hrsg. von Adolf Haslinger, Salzburg-München 1966, S. 49). a Vgl. Adolf Haslinger, Die Salzburger Periochen als literarische Quellen. Eine methodische Vorstudie zu einer Darstellung des Benediktinerdramas, in: Festschrift Leonhard C. Franz zum 70. Geburtstag besorgt von Osmund Menghin und Hermann M. ölberg, Innsbruck 1965 (erschienen 1967), S. 157 ( = Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft Band 11).
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Zeitalter der A u f k l ä r u n g u n d i n die Tage Mozarts hinein als lokale T r a d i t i o n erhalten. Diesen Motivbereich, dem die berühmte Bildnis-Arie Mozarts entstammt, wollen w i r i m höfischen Roman des deutschen Barock untersuchen. Die Motivforschung hängt gerade beim zentralen Problem der M o t i v - D e f i n i t i o n noch i m Gestrüpp widersprechender Meinungen 4 . Zudem h i l f t unserer besonderen Problemstellung >Motiv und epische Strukture eine Definition wenig, die das M o t i v gewissermaßen als absolutes Phänomen faßt. W i r betrachten es a) i n seiner epischen Gestaltungsform und b) i n seiner epischen Funktion als »movens« innerhalb der Struktur eines erzählenden Prosawerkes. Dieser Sehweise analog findet sich etwa eine Definition, wie sie W o l f gang Kayser schuf: »Das M o t i v ist eine sich wiederholende, typische und daß heißt also menschlich bedeutungsvolle Situation. I n diesem Charakter als Situation liegt es begründet, daß die M o t i v e auf ein Vorher und Nachher weisen. Die Situation ist entstanden, u n d ihre Spannung verlangt nach einer Lösung. Sie sind somit eine bewegende K r a f t , die letztlich ihre Bezeichnung als M o t i v (Ableitung v o n movere) rechtfertigt.« 5 Z w e i Aspekte daraus scheinen für unsere Fragestellung richtungweisend: a) die sich wiederholende, typische, bedeutungsvolle Situation (ihre Beschreibung führt uns abstrahierend zum M o t i v k e r n und zu den i h n variierenden Gestaltungstypen) und b) die K r a f t des Motivs, Erzählspannung zu erzeugen (diese Funktion des Motivs zwingt uns geradezu, >Motiv und epische Strukture als die Beziehung unseres Themas zu fassen). Diese Funktion eignet nicht jedem M o t i v i n gleichem Maße, sie ist aber bei unserem besonders stark ausgebildet. Beide Aspekte müssen sich bei der Verwendung eines M o t i v s i n einem Sprachkunstwerk durchdringen, ihre Trennung erfolgt nur aus methodischen Gründen. Aus der Abstraktion der wesentlichen Züge dieses Motivbereiches sich folgende Charakterisierung seines Motivkernes:
ergibt
Eine bestimmte Romanperson sieht (oder erhält) absichtlich (oder unabsichtlich) das Porträt einer ihr namentlich bekannten (oder unbekannten) Romanperson des anderen Geschlechtes. Die Betrachtung dieses Bildes läßt augenblicklich und ohne vorherige Begegnung m i t der abgebildeten Person i n dem Betrachter eine i h m bewußte (oder noch unbewußte) Liebe entstehen. Diese bestimmt das weitere Schicksal der betrachtenden Person (meist durch den Wunsch, die abgebildete zu suchen). Sie findet ihre endgültige Erfüllung i n der abschließenden Vermählung v o n betrachtender und abge4 Vgl. dazu: Elisabeth Frenzel, Stoff-, Motiv- und Symbolforschung, 2., durchgesehene und ergänzte Auflage, Stuttgart 1966, S. 27—34 ( = Sammlung Metzler M 28) und Elisabeth Frenzel: Stoff- und Motivgeschichte. Berlin 1966, S. 11—24 ( = Grundlagen der Germanistik 3). 5 Wolfgang Kayser, Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft, 8. Auflage, Bern-München 1962, S. 60.
»Dies Bildnisz ist bzubernd schön bildeter Person. Diesen besonders i m
Barock
beliebten
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wollen w i r einmal als Typus A bezeichnen. Bevor w i r uns nun seiner Untersuchung i m höfischen Barockroman zuwenden, sei kurz auf Wurzeln und Vorformen unseres Motivs verwiesen, die uns helfen, seinen geistigen Traditionsbereich abzustecken 6 . Es findet sich schon i n der Literatur der A n t i k e 7 , und z w a r i m griechischen Liebesroman 8 . Auch die orientalischen Literaturen führen es den europäischen vielfach zu. Sein Auftreten läßt sich — selbstverständlich m i t gewandelter Gestaltungsform und geänderter Funktion — bis ins 20. Jahrhundert hinein belegen. Innerhalb dieses Zeitraumes v o n rund 1 800 Jahren t r i t t das M o t i v gerade i m 17. Jahrhundert i n besonderer Eindringlichkeit und Häufung auf 9 . Weiter 6 Ich danke an dieser Stelle Herrn Prof. Dr. Walter Weiss herzlich für fruchtbare Gespräche und viele Anregungen zum Thema. 7 Fritz Mahlerwein, Die Romane des Herzogs Anton Ulrich von Braunschweig. Diss. Frankfurt 1922 (1925) (Masch.), S. 331: »Unter den im griechischen Roman häufig wiederkehrenden Motiven, für die Anton Ulrich besondere Vorliebe zeigt, steht die Verwendung des Bildes zur Erregung von erster Liebesleidenschaft an erster Stelle.« — Carola Paulsen , 'Die Durchleuchtigste (!) Syrerin (!) Aramena' des Herzogs Anton Ulrich von Braunschweig und 'La Cléopâtre' des Gautier Coste de la Calprenède. Ein Vergleich. Diss. Bonn 1956 (Masch.), S. 47: »Die erste Szene leitet sich aus der antiken Tradition her: die Liebe wird durch ein Bild entflammt.« 8 Vgl. Otto Weinreich y Der griechische Liebesroman, Zürich 1962, S. 17 ( = Lebendige Antike): In dem Roman 'Leukippe und Kleitophon* des Alexandriners Achilleus Tatios ist die Betrachtung eines Gemäldes und ein Gespräch über die Macht des Eros bereits aus der Zeit von ca. 172—194 n.Chr. überliefert. Audi das berühmteste Werk dieses Genres kennt bereits das Bildnis in einem erotischen Zusammenhang, noch dazu funktional verflochten mit der Herkunft der Titelheldin: Chariklea trägt als Tochter des dunkelhäutigen äthiopischen Königspaares Hydaspes und Persinna helle Hautfarbe. Ein Gemälde der weißhäutigen Andromeda gilt als zentrales Beweisstück für die Ebenbildlichkeit zwischen Chariklea und Andromeda: Während der Zeugung blickte nämlich ihre Mutter Persinna auf eben jenes Gemälde, wie sie selbst bekennt. (Vgl. Heliodor: Aithiopika. Die Abenteuer der schönen Chariklea. Ein griechischer Liebesroman. Übertragung von Rudolf Reymer. Mit einem Nachwort von Otto Weinreich. Zürich 1950 ( = Die Bibliothek der Alten Welt. Griechische Reihe), S. 294.) — Lohenstein: Arminius I, S. 471 bringt diesen Zusammenhang als Exempel. 9 Eine Art negatives Beispiel für die Wirksamkeit unseres Motivs stellt es dar, wenn der reformatorische Pastor Gotthard Heidegger in seinem Werk 'Mythoscopia Romantica* (Zürich 1698) gerade die Schädlichkeit der Malerei und die Schilderung ihrer Wirkung als moralisches Gegenargument gegen diese Romane verwendet. Es geht ihm dabei hauptsächlich um eine zentrale Vorstellung unseres Motivs, nämlich das Entstehen einer Liebesregung aufgrund eines Gemäldes. Ein Beispiel aus seiner Argumentationsreihe mag genügen: »Bey dem Propheten sagt Gott der Herr von der Aholiba (da er zugleich ihre geistliche und leibliche Hurerey bestraffte) 'Wo sie gemahlete Männer an der wand sähe / Bildnussen der Chaldeeren / mit Zinober gemacht / die einen gurt um ihre Länden / und Köstlich gefärbte Hüte auf ihren Häubtern hatten / erbrandte sie gegen ihnen / so bald sie nur ihrer äugen ansichtig war / und sendete Botten nach ihnen.« (pag. 2—3) — Der m. W. nadi einzige motivische Zug, der dieser Bildverwendung zur Hurerei entspricht, findet sich in der 'Octavia* des Anton Ulrich von Braunschweig: »...und (Octavia) gestünde mir / wiewol nicht sonder errötung / daß das Bild / so Lucius Silanus sie jenesmal wegschaffen geheißen / fähig gewesen wäre / sie ohne zwang verliebt zu machen. Sie beschwüre midi hierbei durch alle götter / dieses nimmermehr von ihr nachzusagen: weil man ihr daher ein Messalinisches gemüte beimessen möchte.« (O I I 94). Octavias Idealbild von Keuschheit und Tugend wird nur durch das
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ist z u bemerken, daß ein wichtiger Grundzug dieses Motivs die antike Mimesis-Theorie voraussetzt: das A b b i l d w i r d ohne irgendwelche Reflexion als Darstellung eines lebenden Urbildes genommen 10 . Darauf beruht auch die optimistische Einstellung des verliebten Betrachters bei der Suche seines geliebten Urbildes. Diese erinnert wieder an Piatons Gedanken ('Ein Gastm a h r ) von der Teilung des ursprünglich ganzen Menschen i n zwei Hälften, die sich nun m i t dem sehnsüchtigen Ziele ihrer Wiedervereinigung suchen (Eros). Eine weitere Beziehung zu jahrhundertealten Ansichten der Theorie der Poetik läßt sich i n der epischen Verdichtung wesentlicher Romanstrukturen i n Porträtgalerien erkennen (etwa A n t o n Ulrich 'Aramena' ( A I I 1—17); dies mutet wie eine bewußte Veranschaulichung v o n Horazens ut pictura poesis a n 1 1 . Eine andere Form v o n T r a d i t i o n w i r k t noch an unserem B i l d n i s - M o t i v 1 2 m i t ; nämlich die volkstümliche Aberglaubens-Vorstellung des Bildzaubers. Wer das Bildnis einer Person besitzt, hat gewissermaßen magische Macht über sie 1 8 . Höchste Vergnügung i m Besitz eines solchen Bildes erklärt sich ebenso daraus wie übermäßige Mühe, es z u erwerben, oder unermeßliche Trauer beim Verlust desselben. Die Vorstellung des Bildzaubers i n ihren verschiedenen Formen (vor allem Liebeszauber!) reicht weit i n die Geschichte der Menschheit zurück 1 4 . Leben ihrer verrufenen Mutter Messalina verdunkelt. Deshalb unternimmt Anton Ulrich im Sinne seines Romanthemas eine Ehrenrettung in der 'Geschichte der Messalina* (Ό I 231—297.). Als Meister der subtilen Motivierung gelingt es ihm, aus dieser hemmungslosen Kaiserin eine arme verleumdete Frau zu machen, die einen herzensguten Charakter hatte und nur durch die Bosheit einer Dienerin in diesen Ruf geriet. Zum Zeitpunkt der obigen Aussage weiß Octavia dies allerdings noch nicht: sie will also die reine Liebe zum Tyridates-Bild nicht der leisen Spur einer Deutung als wollüstige Neigung aussetzen. 10 Aristoteles verglich im 25. Kapitel seiner 'Poetik* den Maler und den Dichter als Nachahmer der >WirklichkeitBildnis-Motiv< analog zu Elisabeth Frenzeis >Ring-MotivRing-Motiv< im Gyges-Stoff sprechen, ohne daß damit einem belanglosen Gegenstand Motivfunktion zuerkannt wird; gemeint ist vielmehr der dem Eingeweihten bekannte Zauberring und seine movierende Rolle.« (Elisabeth Frenzely Stoff-, Motiv- und Symbolforschung, Stuttgart 1966, S. 29 ( = Sammlung Metzler M 28). 18 Ähnliches klingt noch expressis verbis im Barock an, wenn Amorite ihr Bildnis von Daces zurückhaben möchte (Anton Ulrich: 'Aramena* A I 204). Sie wolle verhindern, daß er »solche gunst... von ihr erlangen solte«. Diese magische Beziehung zwischen Bildbesitz und Wirkung aufs Urbild läßt sich hier spüren! 14 Vgl. dazu: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Hrsg. unter beson-
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Drittens ist die reiche Ausbreitung dieses Motives i n der Volksdichtung zu beachten, die uns durch viele Arbeiten motivisch w o h l am besten erschlossen ist. H i e r w i r d die Form Love through sight of picture 15 durch viele ähnliche Formen variiert: etwa Love from mere mention or description vgl. bei Tieck S. 130 dieser Arbeit, Love through dream vgl. bei Zigler S. 89 dieser Arbeit, Love through sight of statue bei A n t o n Ulrich vgl. S. 108 dieser Arbeit usw. Alle diese Variationen verbinden sich zu einem übergeordneten motivischen Komplex, der etwa so zu fassen ist: Die Liebe w i r d ohne vorherige Begegnung der Liebenden durch irgendeinen bedeutsamen Gegenstand oder Hinweis erregt. I n unserem speziellen Fall verengt sich diese Möglichkeit auf eine bildliche Darstellung der geliebten Person (Porträt, Statue usw.). A n t i k e K u l t u r (Mimesis-Theorie, griechischer Liebesroman), abergläubische Vorzeit (Liebeszauber und verwandte Vorstellungen) und die bis i n orientalische und asiatische Volksdichtung reichende motivische Polygenese 18 bilden den Bereich, dem unser B i l d n i s - M o t i v entstammt und der i n i h m seine Spuren hinterlassen hat. Dessen wollen w i r uns bei seiner Betrachtung stets bewußt bleiben.
I I m ersten Teil dieser Untersuchung soll das Bildnis-Motiv innerhalb des höfischen Barockromans nach Gestalt und Funktion beschrieben werden. D a bei finden sich durchwegs variierende Gestaltungsformen eines Typus ( A ) , den w i r i n unserem M o t i v k e r n (siehe S. 84 f. dieser Arbeit) charakterisiert haben. I h m entspricht folgendes Handlungsschema: Das Bildnis läßt zumindest i n einem Partner die Liebe bereits v o r der ersten Begegnung entstehen. Es gibt weiter den Anstoß zur schicksalbestimmenden Suche des geliebten Urbildes. Die Präfiguration der zentralen Liebesbeziehung verleiht dieser etwas D i v i n a torisches und Vorherbestimmtes; überdies h i l f t sie m i t , die Struktur des Romans zu verbreitern. Dem Bildnis-Motiv k o m m t aber auch die funktionale K r a f t zu, eine bestimmte Erzählspannung zu erzeugen. Diese ist die v o m A u t o r beabsichtigte derer Mitwirkung von E. Hoffmann-Krayer und Mitarbeit zahlreicher Fachgenossen von Hans Bächtold-Stäubliy Band I, Berlin und Leipzig 1927, Sp. 1294 f. ( = Handwörterbücher zur deutschen Volkskunde. Abteilung I: Aberglaube). 15 Vgl. dazu: Motif-Index of Folk-Literature. Revised and enlarged edition by Stith Thompson, 5. Volume 1957, S. 333 (T. 11.2) — A. Aarne und Stith Thompsony The Types of the Folk-Tale, Helsinki 1964 ( = Folklore Fellows Communication 184), besonders: Types 403, 516, 900. — J. Boite and G. Polivka , Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, 5 Bände Leipzig 1913—1931, besonders Band I, S. 45 ff. und S. 443 ff. 16 Den Angaben Stith Thompson's (S. 333, T. 11.2.) ist zu entnehmen, daß dieses Motiv auch in folgenden Literaturen belegbar ist: arabisch, chinesisch, bretonisch, englisch, isländisch, indisch, indonesisch und japanisch.
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Wirksamkeit der epischen Strukturierung des Motivkomplexes auf den (immanenten) Leser. D i e Beschreibung der motivischen Gestaltungsform ist demnach eine methodisch unerläßliche Voraussetzung für die Beurteilung einer solchen Spannungsstruktur. Aus dem Zusammenwirken von Gestaltungsform und Spannungsstruktur erkennt man dann die voluntas autoris. Als Darstellung eines epischen Vorganges kann das B i l d n i s - M o t i v grundsätzlich als Erzählung des >objektiven< Erzählers i n der Haupthandlung (fiktive Gegenwart) oder als Erzählung einer Romanperson i n einer Lebensgeschichte (fiktive Vorzeit) gestaltet sein. Sie kann i n einem zusammenhängenden Abschnitt chronologisch durcherzählt, aber auch v o n der Chronologie abweichend i n Phasen zerlegt, sozusagen dosiert, dem Leser geboten werden. Diese Phasen wieder können sich i n einer oder i n mehreren Lebensgeschichten verstreut finden. A l l e n diesen Gestaltungsmöglichkeiten i n bezug auf die Erzählform wohnen bereits verschiedene Spannungsstrukturen inne. So muß man neben der Erzählform auch die erzählerische Struktur des Motivkomplexes innerhalb der Gesamtanlage des Romans beachten. Dabei läßt sich zeigen, daß die kleinere Einheit der epischen M o t i v s t r u k t u r der gesamten Romanstruktur entspricht. Sie enthält nämlich meist i n nuce die grundsätzlichen Strukturprinzipien des ganzen Werkes. H i e r liegt unsere eigentliche Themenstellung: M o t i v und epische Struktur i n ihrer wechselseitigen Beziehung aufzuzeigen. Die Bildnis-Arie Mozart-Schikaneders führe uns nun als Ausgangspunkt unserer Untersuchung i m Sprung v o m Dramatischen 1 7 ins Epische über eine kleine Bemerkung W o l f gang Pfeiffer-Bellis u m ein Jahrhundert (von 1791 bis 1689) ins Barock zurück. I n seinem Nachwort zur Neuausgabe der 'Asiatischen Banise' schreibt er: »Balacin trägt, übrigens ganz wie 1791 sein hoher Kollege Tamino, einen japanischen JagdrockAchsie ist nur ein Schatten gegen jenem Traume. Denn wie jener alabasterne Stirne durch die lichten Locken um ein großes erhaben ward: also mißfallen mir an dieser nicht wenig die rötlich scheinenden Haare, welche nicht selten einen bösen Sinn verraten 25. Und wie jenes Angesichte durch eine runde Gestalt seine anmutige Vollkommenheit darstellete, als überschreitet dieses durch einige Länge die Grenzen der Schönheit. Ihre Augen sind zwar mehr schwarz als blau, jedoch sind sie nur wie ausgelöschte Kohlen, bei denen sich kein Schwefel der Liebe entzünden kann. Ihre Lippen sind zwar Korallen, doch ohne Magnet, und ihre Wangen ein mit Rosen allzu häufig überstreutes Feld. In summa, es mißfället mir etwas an ihr, 23 Ziglers Hang zur Personenbeschreibung gestaltet aber doch mehrmals — vor allem in der Schicht der sozial Niedrigeren — die antithetischen Möglichkeiten des häßlichen Frauenbildes: teils bei Lorangy (27), besonders augenfällig aber bei Scandors Liebschaft mit Eswara (129), der auch handlungsmäßig eindeutiges Schelmen-Ende zukommt. 24 Daß es sich bei dieser Überreichung von Porträts um eine unter fürstlichen und adeligen Personen übliche faktische Gewohnheit handelte, zeigte Enzinger (a.a.O.) schon auf. Das Bild hatte nämlich eine wichtige Funktion: Viele hohe Heiraten wurden durch diplomatisch-politische Vermittler zustandegebracht und zwar lange, bevor sich die Betroffenen begegneten: das Bild wurde so zur Notwendigkeit. 25 Die Abwertung des roten Haares als äußeres Signum für schlechten Charakter ist ein weitverbreiteter literarischer Topos, dessen Wurzeln wieder über die Volksdichtung in den Bereich des Aberglaubens reichen: Teufel und Hexen erscheinen stereotyp rothaarig. Die Verräter tragen meist rotes Haar (etwa Judas Ischariot in allen Passionsspielen). Die literarische Tradition kennt den Topos auch schon sehr früh. Bereits um 1000 lautet die erste der zwölf Lebensregeln im 'Ruodlieb': »Non tibi rufus umquam specialis amicus etc.« Vgl. dazu: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Band I I I , Sp. 1250—1251. — Aber auch im Barock ist diese Tradition noch voll lebendig, wie etwa Johann Jakob Christoffel von Grimmelshausens Werk 'Bartkrieg, oder Des ohnrecht genannten Roht-Barts Widerbellung* bezeigen mag, das manchen Wissenschaftler zur Frage führte, ob nicht der Dichter selbst als Rothaariger hier gegen ein Vorurteil seiner Zeit kämpfen wollte. Im Bereich, auch des gehobenen Volksstückes, kehrt diese Problematik viel später noch wieder, wenn man an Johann Nestroys 'Talisman* (1840), seinen Helden 'Titus Feuerfuchs* und dessen Schwierigkeiten denkt.
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welches ich selber nicht verstehe noch sagen kann. Ihre Freundlichkeit ist mir zuwider, und ihr Schönstes kommt mir verdrießlich vor, ob ich sie gleich nur kurze Zeit betrachten können. Weswegen ich denn lieber alle Kronen entbehren, ja sterben, ehe ich mir das Heiratsband zu einer Sklavenkette machen will.< (117) Die Ablehnung dieser Balacin zugedachten Prinzessin ist v ö l l i g innerhalb des Tugendkodexes des höfischen Helden gehalten: er muß rein und frei bleiben für sein Traumbild, das höchste Vollkommenheit bedeutet. Auch die sprachliche Form verbleibt i m Bereich der traditionellen T o p i k des Frauenpreises 26 , die hier antithetisch genützt w i r d (alabasterne Stirne / lichte Locken — rötlich scheinende Haare; runde Gestalt / anmutige Vollkommenheit — überschreitet durch einige Länge die Grenzen der Schönheit). D i e Sprachformen der Negation und der Einschränkung helfen abwertend m i t (nur wie ausgelöschte Kohlen, bei denen sich kein Schwefel der Liebe entzünden kann, zwar — doch ohne Magnet). Sogar das maßüberschreitende »allzu häufig« gereicht dem einen B i l d zum Nachteil. So ist hier die traditionelle Form des Vergleiches zwischen Kunst und Wirklichkeit aus den Gesetzen v o n Ziglers künstlerischem Wollen auf den Vergleich zweier rangunterschiedlicher Romanpersonen verschoben. Die zweite Verwendung des Bildnis-Motivs innerhalb der Darstellung des verliebten Hofes zu Pegu ist ebenso m i t der H a n d l u n g u m Balacin-Banise verbunden. Der Prinz lebt als Verbannter unter dem Namen eines Fürsten Pantojy von Tanassy an diesem Königshof. Einmal vermißt er ein Bildnis seiner Schwester Higvanama, das er stets am Halse trug. Eine Kammerjungfrau Banisens findet es zufällig und bringt es ihrer Herrin. Eine W i d m u n g auf der Rückseite dieses Bildes verrät dieser Stand und Namen ihres Geliebten. Eine dritte Stelle (Nherandi schickt sein Porträt an seine Verlobte Higvanama) erschöpft sich motivisch i n dem V o r f a l l und ist für die epische Struktur nicht weiter bedeutsam. Zigler bereitet i n seinem Roman die erste Begegnung des zentralen Liebespaares durch einen Spannungsbogen mithilfe des Bildnis-Motives vor. Diese Teilstruktur erweist sich als Element der gesamten Romanstruktur. Weitere Verwendungen unseres M o t i v s verdichten diesen Bereich zu einem M o t i v gefüge unter dem Thema vielfältiger Liebesbeziehungen. Dieses Beispiel steht innerhalb der Entstehungszeit der höfischen Barockromane ziemlich am Ende. M i t dem Erscheinen der 'Asiatischen Banise' und Daniel Casper v o n Lohensteins 'Arminius und Thußnelda' (Erster Theil) i m Jahre 1689 und beim gleichen Verlag schließt nämlich die Epoche dieser Romane schon wieder ab, die m i t der 'Argenis' des lateinisch schreibenden 26 Zur Metaphorik und Topik des barocken Frauenpreises und seines Gegenteiles vgl. die kürzlich erschienene Arbeit von Manfred Wind fuhr. Die barocke Bildlichkeit und ihre Kritiker. Stilhaltungen des 17. und 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1966, vor allem >Schönheitsbeschreibung< S. 283 ff. und >Häßlichkeitsbeschreibung< S. 290 ff.
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Schotten John Barclay (deutsch 1626 v o n M a r t i n O p i t z ) begann. I n der 'Argenis' findet sich keine Verwendung unseres Bildnis-Motivs, w o h l aber bereits i n den Übersetzungswerken des jungen Zesen. Diese liegen vor den eigentlichen deutschen Originalschöpfungen dieser Gattung. Der Nachweis des M o t i v s i n P h i l i p p v o n Zesens 'Ibrahim's oder des Durchleuchtigen Bassa und der Beständigen Isabellen Wunder-Geschichte' (Amsterdam 1645) führt zu einem weiteren Zusammenhang. Zesens Roman ist eine deutsche Bearbeitung des französischen Werkes ' I b r a h i m ou l'illustre Bassa' (Paris 1641) der Madeleine de Scudéry. So weist Carola Paulsen 27 A n t o n Ulrich i n seiner 'Aramena' u. a. auch die Übernahme einer Szene aus La Calprenèdes 'La Cléopâtre' nach, die unserem M o t i v entspricht (vgl. S. 98 dieser Arbeit). Die Belege mögen bezeugen, daß unser M o t i v i n den französischen Romanen de la longue haleine weit verbreitet war. Andreas Heinrich Buchholtz liefert eine weitere Gestaltung des BildnisM o t i v s i n seinem H a u p t w e r k 'Herkules und Valiska' (Braunschweig 1659). I m Gegensatz zu den Romanen seines Herzogs Ulrich ist auffällig, daß Bucholtz das M o t i v nicht bei den Hauptgestalten seiner Romane verwendet. Aber Herkules und Valiska kennen sich (nach einem anderen M o d e l l der Fürstenliebe) bereits v o n K i n d auf und können nicht mehr durch ein B i l d auf ihre erste Begegnung vorbereitet werden. E i n wichtiger Nebenstrang der Handlung, der sich über seine Bedeutung i n Bucholtzens erstem Roman (Herkules) hinaus als Klammer zum zweiten (Herkuliskus) erweist, w i r d durch dieses M o t i v begonnen: Arbianes, den Sohn des medischen Großfürsten Phraortes, bewegt ein Bildnis der deutschen Großfürstin Klara, der Schwester des Titelhelden, so, daß er sie i n Europa suchen w i l l , um die bereits Geliebte dort zu sehen und u m sie zu werben. Inzwischen ist diese jedoch samt ihren Eltern geraubt worden. Arbianes stürzt sich nun i n eine v o n Abenteuern überreiche Verfolgungsjagd. Der Nebenstrang erwächst aus diesem M o t i v (Liebe durch ein B i l d v o r der ersten Begegnung) und einem M o d e l l f a l l des höfischen Romans (der H e l d sucht seine Geliebte und findet sie nach einer Reihe v o n Abenteuern). Diese Abenteuer werden aber auch hier auf dem Wege zur Vereinigung m i t der sogar noch Unbekannten bestanden. Dabei ist diese Gestaltungsform des Motivs als Struktur relativ geradlinig 2 8 und v o n keiner Besonderheit gezeichnet. Die Nebenhandlung endet motivgemäß m i t der Verlobung der Deutschen m i t dem Meder. K l a r a zieht m i t Arbianes nach Persien, w o sie nach dem Tode ihres Gatten von den Helden des nächsten Romans gesucht w i r d . 27 Carola Paulsen , 'Die Durchleuchtigste (!) Syrerin (!) Aramena' des Herzogs Anton Ulrich von Braunschweig und 'La Cléopâtre' des Gautier de la Calprenède, S. 47 f. 28 Idi meine damit Ähnliches wie Günther Wey dt, wenn er sagt: »Die Handlung hat noch eine später im Barock fast unbekannt gewordene zeitliche Kontinuität bewahrt... noch zeigt die Handlung nicht die für den Barockroman charakteristischen >Sprünge< im Handlungsgefüge, sondern sie bildet einen kontinuierlichen Fluß.« (Aufriß, Band I I , Sp. 1264— vgl. Anmerkung 20).
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Während Daniel Casper v o n Lohenstein das M o t i v i n seinem Riesenroman 'Arminius und Thußnelda' (Leipzig 1689) bei der Liebesgeschichte der Titelhelden nicht verwendet 2 9 , erfahren diese i n den Werken Herzog A n t o n Ulrichs v o n Braunschweig Liebe zu Beginn ausschließlich i n solcher Form. Das häufige Auftreten des Motivs i n den personenreichen Romanen des Herzogs und seine besondere kompositorische Verankerung verleiht i h m große Bedeutung. Als Meister eines beziehungsreichen epischen Stils nimmt A n t o n Ulrich dem M o t i v seine Einseitigkeit, die i h m bei allen bis jetzt genannten Gestaltungsformen eigen war. Er gestaltet das Bildnis-Motiv wechselseitig : Tyridates verliebt sich i n das B i l d einer als G ö t t i n Flora gemalten römischen Dame ( = Octavia), Octavia dagegen i n die Büste eines morgenländischen Prinzen ( = Tyridates). Aber nicht nur die Titelhelden, sondern sogar ihre Eltern werden durch Bildnisse zu Werbungsfahrt und Heirat angeregt: Aramenes v o n Syrien w i r b t wegen eines Porträts u m die Mutter der Titelheldin ( A I 551). Die Wichtigkeit der v o m M o t i v betroffenen Personen sichert ihm besonderes Augenmerk und große Bedeutung, obwohl es A n t o n Ulrich auch bei anderen Personen mit einem erstaunlichen Reichtum an Variationen verwendet. V o r der folgenden Beschreibung ist es unerläßlich, i n einer grundsätzlichen Vorbemerkung den Standpunkt des immanenten Lesers i m Rahmen der epischen Struktur zu veranschaulichen. Es handelt sich dabei nicht um eine Detailfrage, sondern um eine für die spezifische Romanform A n t o n Ulrichs grundsätzliche Erörterung 8 0 . Der Erzählvorgang i n den Werken A n t o n Ulrichs enthüllt i n Einzelschritten die Totalität der v o m Dichter geschaffenen f i k t i v e n R o m a n w i r k lichkeit. A n dieser fortschreitenden E n t h ü l l u n g 3 1 n i m m t der Leser und die 29 Zu Beginn des »Zweiten Theils. Erstes Buch« verwendet Lohenstein dieses Motiv bei der Darstellung der Liebe des othello-artigen Sadal von Thracien. — Ein Beispiel für die intrigante Gestaltung des Bildnis-Motivs gibt Lohenstein bei der Lebensgeschichte des siebenten Herzogs, namens Ingram (siehe Galerie-Motiv S. 115 ff. dieser Arbeit). Ingram bewirbt sich um des Königs Lissudaval Tochter Hermildis. Gemeint sind König Vladislaus von Ungarn und seine Tochter Anna, Erbprinzessin von Ungarn. Im Dacischen Fürsten Decebal ersteht ihm ein Nebenbuhler. Dieser rächt sich einmal bei einem Turnier an seinem aussichtsreicheren Rivalen. Durch Bestechung erfährt er, daß sich Ingram von einem Goldschmied ein herrliches Bildnis der Hermildis auf seinen Schild machen läßt, um sie zu ehren. Er besticht den Goldschmied und erreicht, daß dieser dem ahnungslosen Ingram unter das Bildnis der Hermildis dasjenige einer landläufig bekannten Schönheit schmiedet. Der Besitzer des Schildes erfährt von diesem Betrug nichts. Während des Turniers schlägt Decebal einige Male auf den Schild des Gegners, so daß das obere Bildnis der Hermildis abspringt und das untere zum Vorschein kommt. Hermildis, die sich selbstverständlich unter den Zuschauern befindet, fühlt sich durch Ingram aufs höchste beleidigt. Dieser hat vom wahren Sachverhalt keine Ahnung. Der Vorfall klärt sich aber dann auf: der falsche Rivale wird in Unehren vom Hofe gejagt, und Ingram heiratet Hermildis (I, 137—141). 30 Dieses Problem des »Wirklichkeitsausschnittes« bei Anton Ulrich möchte ich in einer größeren Arbeit zum höfischen Barockroman eingehender behandeln. 31 Ich verwende hier >Enthüllung< mit Absicht statt Clemens Lugowskis mehrfach kritisierten Begriffs der >Enträtselungwahren< Totalität. Sein >Ausschnittnichts< und >alles< eingespannt wie beim Leser, weil die Romanperson bei ihrem ersten Auftreten i m epischen Erzählvorgang bereits einen >Ausschnitt< besitzt. Daraus entwickelt jede Romanperson ihren individuellen Entwicklungsvorgang von struktureller Bedeutsamkeit. Der Leser und jede einzelne Romanperson haben nämlich i n jeder Phase des abrollenden Erzählvorganges einen jeweils anderen, aber genau bestimmbaren >Ausschnitt< der Romanwirklichkeit. Die Strukturierung der einzelnen Erzählphasen hat der Erzähler auf dieses Bündel von Entwicklungen abgestimmt. Der pauschale Eindruck der allmählichen Enthüllung entsteht durch die parallelen Abläufe der wachsenden >Ausschnitte< v o n Leser und Romanperson(en). Dieser >Ausschnitte prägt beim Leser als sein Wissen seinen Erwartungshorizont und bestimmt seine Kombinationen über den weiteren Verlauf der Ereignisse, bei der Romanperson aber ihre Handlungen, ihre Pläne und ihre Deutungen anderer Handlungen und Pläne. Dabei kann aber der Erzähler sowohl den Leser wie die Romanperson täuschen, indem er ganz bestimmte Vorgänge durch — auf den jeweiligen »Ausschnitte bezogene — lückenlose M o t i v a t i o n verbindet. Der wechselnde »Ausschnitte muß nämlich keineswegs schon i n den einzelnen Phasen der Enthüllung der wahren Wirklichkeitstotalität des Romanschlusses entsprechen. Spätere Einsichten bestätigen oft erst Fehlkombinationen (beim Leser) und Fehlhandlungen (bei der Romanperson), die beide wesentlich zur voluntas autoris gehören. Die A k t i v i t ä t der Romanperson(en) ist gleichermaßen auf die Vermählung m i t der Geliebten und auf die beinahe lebensnotwendige Vergrößerung ihres spektralen >Ausschnittese gerichtet. I n diesem Unterfangen erweist sich die U m w e l t meist als bedrohliches Labyrinth, dem die Romanperson v ö l l i g ratlos gegenübersteht. Dieses L a b y r i n t h w i r d aber dem Leser durch seinen größeren »Ausschnitte als Welt des Scheins bewußt. I n solcher Ratlosigkeit gew i n n t das Phänomen der Information lebensändernden W e r t ; sogar das oft klingen könnte. — Vgl. neuerlich dazu: Dieter Kimpel, Der Roman der Aufklärung, Stuttgart 1967 ( = Sammlung Metzler M 68), S. 22. 82 Unter dem verkürzten Terminus »Ausschnitte verstehe ich in dieser Arbeit das genau bestimmbare Wissen des immanenten Lesers von der fiktiven Romanwirklichkeit. Dieses Wissen kann (und wird) sich mit jedem neuen Satz des epischen Erzählvorganges verändern. Diese Veränderungen stellen eine der wichtigsten Phänomene dieser Art des epischen Erzählens dar.
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scheinbar konventionelle Gespräch erhält existentielle Bedeutsamkeit. Die Beurteilung der U m w e l t vollzieht die Romanperson nach stereotypen Verhaltensmodellen aus ihrem >Ausschnitt< heraus. Als Beispiel diene die typische Deutung gestischen Verhaltens: Erröten u n d Seufzen werden modellhaft als Verliebtheit gedeutet. A u f g r u n d des jeweiligen >Ausschnittes< kann diese gestische Äußerung jedoch auf eine falsche Person bezogen werden. Eine solche falsche Prämisse kann nun die gesamte M o t i v a t i o n einer Person verwirren und ihren >Ausschnitt< verzerren. Die Struktur unseres M o t i v s ist ein Teilphänomen v o n A n t o n Ulrichs komplizierter Romanstruktur. Bei seiner Beschreibung müssen diese verschiedenen >Ausschnitte< v o n Leser und Romanperson(en) unbedingt beachtet werden, denn auf ihnen beruht die Erzählspannung. Sie liegt weitgehend i n der Divergenz zwischen den >Ausschnitten< v o n Leser und jeweiliger Romanperson. A u f g r u n d seines größeren >Ausschnittes< kann der Leser die Irrtümer und Täuschungen der Romanperson(en) erkennen, auch wenn er noch nicht die Kenntnis der gesamten Romanwirklichkeit besitzt. Dies führt aber zur U m w e r t u n g mancher oft verurteilter Erzählpartien: Umfangreiche, scheinbar langweilig sich wiederholende Gesprächsstellen, die sich kommentierend, ergänzend oder enthüllend m i t bereits erzählten Vorgängen befassen, können i n ihrer Funktion nur aus diesem Blickpunkt richtig verstanden werden. Der Fortschritt der H a n d l u n g dieser Ereignisromane (!) vollzieht sich nämlich über weite Strecken des Erzählvorganges h i n i m (falschen oder richtigen) Vergrößern der >Ausschnitte< einzelner Romanpersonen. Deutungen der epischen Struktur eines solchen Werkes oder eines Teilphänomens daraus verlangen also geradezu das sorgfältige, bis jetzt aber v ö l l i g unbeachtete Erkennen des >Ausschnittes< v o n Leser und Romanperson, w e i l die epische Struktur und ihre erzählerische W i r k u n g wesentlich auf diesen Erscheinungen beruht. I n der 'Durchleuchtigen Syrerinn Aramena' (Nürnberg 1669—1673) erfährt der Leser erstmals innerhalb der 'Geschichte des Apries und der Amorite' ( A I 176) von einem Bildnis und seiner W i r k u n g auf den jungen Marsius. I n der Chronologie der Erzählzeit steht dieser scheinbar unbedeutende Hinweis genau 686 Seiten v o r der ersten Begegnung zwischen Delbois (Aramena) und Cimber (Marsius). Verglichen m i t dem kurzen Spannungsbogen als Ausdruck der Gesamtstruktur i n der 'Asiatischen Banise' deutet sich hier schon rein äußerlich eine gewaltige epische Konzeption an. Bedenkt man weiter, daß sich die beiden Zentralgestalten erstmals unter falschem Namen begegnen: d. h. Cimber (eigentlich Marsius der Jüngere) begegnet Delbois I I von N i n i v e (eigentlich Aramena v o n Syrien) und weiter, daß sich ihr Wissen um die wahre Person voneinander und dieses wieder v o m >Ausschnitt< des Lesers unterscheidet, so offenbart sich eine eigentümliche Struktur. Das Verschleiern der wahren N a m e n wiegt hier jedoch nicht allzuschwer, w e i l Marsius das Bildnis als jenes der Delbois beschriftet findet. Für
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den v o m B i l d Betroffenen findet demnach trotz der falschen I den t i täts Voraussetzungen auf beiden Seiten doch eine echte erste Begegnung m i t dem U r b i l d seines Porträts statt. Diese Textstelle verdient als Einführung unseres Bildnis-Motivs nähere Beachtung. Der junge Marsius erhält als Turnierpreis ein kostbares Kleinod, das er nach einigem Zögern modellhaft richtig an Amorite weiterschenkt. Erstaunlicherweise ist hier keine Rede v o n einem Bildnis. Die männliche Hauptperson erscheint unter ihrem wahren Namen. Der Turnierpreis weist auf eine ins Mittelalter reichende M o t i v t r a d i t i o n , die A n t o n Ulrich hier m i t dem Bildnis-Motiv verschränkt. K u r z darauf verliert Amorite bei einem U n f a l l eben dieses Kleinod. I n dem T u m u l t bemerkt der echte Cimber, daß aus dem zerbrochenen K l e i n o d ein Bildnis gefallen ist. Als er es dem neugierig 3 3 drängenden Marsius vorenthalten w i l l , verlangt es dieser stürmisch zu sehen: Der junge Marsius erstutzete / das Bildnis einer Dame / so schön / als ihm die tage seines lebens kein weibsbild vor äugen gekommen / und um das gemälde / mit Assyrischen buchstaben / diese worte ersehend / die er laut herlase: Delbois Erbprinzessin von Ninive / Tochter des Königs Belochus von Assyrien. Diese erkentnis seiner heftigsten feindin / machte ihn ihr schönes bild nicht hassen / sondern es erzeugte vielmehr ihr wunderschein in seinem gemüte eine hochhaltung / die mehr als gemein ware. Er fühlete einen verborgenen streit in ihme / was er mit diesem bilde beginnen solte. Er sähe / daß Cimber sich auf alle weise vermerken liese / wie hoch ihme daran gelegen wäre / dasselbe zu haben. So wüste er auch / daß es der Amorite eigentlich zustünde / deren er es / wiewol unwissend / geschenkt hatte. Gleichwol kunte er es beiden nicht wiedergeben / weil es ihm selber so überaus wol gefiele. In wärendem selbstreit / ermunterte sich Amorite wieder... ( A I 187). Einige Gestaltungsmomente müssen besonders beachtet werden: Die Unterschrift enthüllt dem Betrachter Marsius das Porträt als B i l d seiner heftigsten Feindin. Diese M o t i v - K o m p l i k a t i o n (Feindschaft der Eltern — Liebe der K i n der) ist i m Bereich des höfischen Romans neu. Aber i n Wahrheit ist eben Delbois auch nicht die Tochter des bösen Belochus, obwohl sie dies selbst lange glauben muß. D e m modellhaft zu erwartenden politischen Verhalten (Feind — hassen) v ö l l i g konträr verläuft die Reaktion des Betrachters als tiefe Betroffenheit. Die Negation markiert dabei sprachlich den Erwartungshorizont (machte i h n . . . nicht hassen) als die geltende Verhaltensnorm 3 4 . Noch eine zweite Kontrastwirkung h i l f t an der Steigerung seines überraschenden Verhaltens m i t : der innere Selbststreit steht i m Gegensatz zum 33
Die >Neugierde< gehört zu den wesentlichen Eigenschaften von Anton Ulrichs Romanpersonen. Sie erklärt sich aus dem oben aufgezeigten Bestreben, durch Information den eigenen >Ausschnitt< zu vergrößern. Das aber ist eine Existenzfrage, wie sich auch aus dieser Neugierde des Marsius erklärt, die sein weiteres Schicksal bestimmt. θ4 Zum Problem des >Erwartungshorizontes< bei der Negation: Vgl. Walter Weiss, Die Negation in der Rede und im Bannkreis des satzkonstituierenden Verbs, in: Wirkendes Wort 11 (1961), 66 f. 7 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 9. Bd.
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Tugendkodex des höfischen Helden und betont damit die tiefe W i r k u n g des Bildnisses auf Marsius. Eine weitere motivische Eigenheit b e w i r k t A n t o n Ulrichs Gestaltungsprinzip der Fülle (wie ich es nenne): D r e i Besitzer bewerben sich gleichzeitig rechtmäßig u m dieses Bild. I m Gespräch zwischen ihnen enthüllt Cimber, u m diesen Casus zu klären, die Vorgeschichte dieses Bildes ( A I 188): Er hat es v o r Zeiten a m Ninivitischen H o f als Turnierpreis erworben und bald darauf an Räuber verloren. V o n diesen dürfte es ein arabischer Kaufmann erhalten haben, der es wieder an die K ö n i g i n Salamis weiterverkaufte. Als diese es erneut als Turnierpreis aussetzte, erhielt es Marsius, der es dann an A m o r i t e weiterschenkte. Erst durch Z u f a l l haben die drei Beteiligten nun i m K l e i n o d das B i l d der assyrischen Königstochter entdeckt. Somit läßt A n t o n Ulrich den M o t i v k o m p l e x nicht nur i n die Breitendimension wachsen (drei Eigentümer), sondern auch i n die Tiefe, indem er dem Bildnis selbst eine >Vorzeit< zuordnet; i n den bisher betrachteten Fällen w a r das Bildnis stets ein echter Anfang. Diese beiden Szenen (Entdeckung des Bildes i m K l e i n o d — Gespräch der drei Eigentümer) werden eingerahmt v o n den psychischen Reaktionen des Marsius, die innerhalb der T y p i k v o n Gebärde und Verhalten eindeutig Verliebtheit bezeugen. Die zweifache Einführung unseres Bildnis-Motivs scheint dem Dichter aber noch nicht z u genügen: er gestaltet eine dritte Szene i n dieser >GeschichteAusschnittCimber< m i t Marsius. Der Bildbesitz genügt weiter als Nachweis für die Nebenbuhlerschaft. Zudem macht der Erzähler den Leser früh m i t >Cimbers< Neigung für Delbois bekannt, die sich wieder m i t Ahalibamas modellhafter Folgerung (mitbuler zum freund) deckt. I m erzählerischen Zusammenspiel dieser Verweise wächst also des Lesers Vermutung, daß Marsius dieser >Cimber< sei. Sie w i r d aber nicht expressis verbis bewiesen. E i n weiterer Bezug auf das Delbois-Bild würde den Leser i m Rahmen dieses Abschnittes aber zu früh aus der beabsichtigten U n k l a r h e i t i n die Klarheit führen. Deshalb ordnet der Erzähler das Motivgefüge dem Spannungsgesetz der V e r w i r r u n g unter. Eine zweite Szene dient ihrer F u n k t i o n nach sogar ausschließlich diesem Prinzip der Verwirrung. Sie steht i n der Handlungsstruktur, gerade i n bezug auf die Titelheldin, an betonter Stelle. Aramena glaubt das Gerücht v o m Tode Cimbers u n d erfährt, daß der >Prinz von Gerarc Ammonide heiraten w i l l . Der fürstliche T i t e l >Prinz v o n Gerar< w i r d von ihr, eben aus ihrem Ausschnitt heraus, eindeutig auf ihren Geliebten Abimelech bezogen: Bei der Königin von Syrien war nun der fürsatz fast gestellet / nicht mehr an den Abimelech zu gedenken. Und ihre gedanken von ihm desto eher abzuziehen / ließe sie ihr das lädlein mit des Cimbers Schriften langen / das ihr von der Jaelinde war zugestellt worden. Wie sie nun solches durchsuchte / fand sie darin nicht allein verschiedene beschriebene täfelein und zettel / sondern auch mit höchster Verwunderung / ihr eigenes bildnis / welches demjenigen gleich sähe / daß ehmals in Ninive / bei des Ninias angestelltem ritterspiel / ein frömder ritter davon gebracht und gewonnen hatte. Sie gedachte bei sich selbst / ob dieser Fürst wol möchte der ritter gewesen seyn: konte es aber / allen umständen nach 1 ummüglich gläuben . . . (A I V 179) Dieser richtige Schuß durch die ganze Kausalkette der Zusammenhänge w i r d v o n Aramena nicht geglaubt, w o h l aber läßt sie sich durch das Bildnis und die Liebesgedichte v o n der selbstlosen Liebe Cimbers zu ihr überzeugen. Eine weitere Teillösung dieser Kausalbezüge i n dem anschließenden Gespräch m i t T i m n a ( A I V 183—188) stiftet jedoch sofort wieder neue Verwirrung. Hercinde wandelt sich unter Timnas Aussagen v o n der Geliebten des Cimber zu seiner Schwester: »Daß Hercinde des Marsius schwester sey / weiß ich mehr als zu gewiß: und nun würde hieraus folgen / daß Cimber der Marsius selbst müste gewesen seyn.« ( A I V 185). Diese Erkenntnis n i m m t aber die Wahrheit des Romanschlusses zu früh vorweg: sie w i r d durch zwei weitere Bildnisse wieder i n zwischenmenschlichem Bezug ver-
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w i r r t : » N u n ist das räzel gelöset / (sagte die Königin) und Cimber ist sonder zweifei dieser Tuscus Sicanus / den die Hercinde zum bruder angenommen . . . « ( A I V 186). Dieser Trugschluß aufgrund der Evidenz v o n Porträts trägt die V e r w i r r u n g der Romanhandlung bis zu ihrem Abschluß, herrlich überstrahlt von Aramenas Liebesgeständnis zu dem toten Cimber: Nun dieser edle Celte nicht mehr im leben / (antwortete die Königin seufzend) kan ich solchen euren vorsatz euch wol zu gute halten: massen ich mich so geneigt finde / die gedächtnis dieses verschwiegenen liebhabers und unvergleichlichen heldens zu verehren / daß mir dessen standhafte ungemeine liebe . . . zum tröste dient... (A I V 187) Aramenas Bekenntnis und der Trugschluß ihrer Gedanken begründen das Spannungsgesetz dieses Schlußteiles. Der andere Spannungsbogen aus der dreifachen Anfangsstelle unseres Motivs kann aber nicht als gelöst betrachtet werden, solange Marsius m i t seiner Bild-Geliebten Delbois / Aramena nicht vereint w i r d . A n t o n Ulrich mutet dabei seinem Leser zu, diese kausale Struktur über 2200 Erzählseiten h i n i m Gedächtnis zu behalten. I n der 'Geschichte des jungen Marsius' ( A I V 349—374) faßt der Erzähler Cyniras nochmals den Anfang unseres Bildnis-Motivs ( A I V 351) knapp zusammen und baut darauf das >Thema< dieser Geschichte, nämlich die beständige Liebe des Königs v o n Basan zu seiner Zuhörerin Delbois / Aramena, auf. Für den Leser sind i m Gegensatz zur Zuhörerin des Cyniras' Enthüllungen eigentlich bekannte Tatsachen. Aufgrund seines >AusschnittesCimber< und Marsius, die für Delbois selbst hier noch ungelöst bleibt. Sie deutet nämlich alle Bezüge des Erzählers auf >CimberAusschnittes< erkennt der Leser diesen Zusammenhang bereits durch des Cyniras' Erzählung ( A I V 349 ff.), Aramena aber erst gegen Schluß des Romans ( A V 862). Daß es sich bei diesem Beispiel um keinen Einzelfall handelt, soll weiter die Untersuchung des Bildnis-Motivs beim zentralen Liebespaar (Tyridates
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— Octavia / Neronia) von A n t o n Ulrichs zweitem Roman O c t a v i a . Römische Geschichte' (Nürnberg 1677—1707) beweisen. Auch i n diesem riesigen Werk bereitet der Dichter durch das Bildnis-Motiv i n wechselseitiger Gestaltungsform die erste Begegnung der beiden zentralen Liebenden vor. Diese lag bei seinem ersten Roman i n der f i k t i v e n Erzählgegenwart der H a u p t handlung, hier aber liegt sie i n der f i k t i v e n Vorzeit, der als Erzählform vorwiegend die Lebensgeschichte entspricht. A n t o n Ulrich gestaltet unseren M o t i v k o m p l e x i n dieser besonderen Form m i t H i l f e dreier Lebensgeschichten. Daraus ergibt sich eine neue Beziehungsform zwischen M o t i v und epischer Struktur. Der motivgemäße Vorgang von der Bildliebe bis zur ersten Begegnung m i t der abgebildeten Person w i r d dem Leser dreimal innerhalb der Chronologie der jeweiligen Lebensgeschichte als Auswahl wichtiger Szenen berichtet. Den Beweggrund für eine solche Gestaltungsform kann offensichtlich nicht die Ausbildung eines einmaligen Spannungsbogens wie bisher bilden. A u f das Wesentliche führt uns die Tatsache, daß der gleiche Vorgang dreimal von verschiedenem Standpunkt aus erzählt w i r d . Dabei handelt es sich u m einen ursprünglich noch ziemlich rätselhaften Vorgang, weil sich die Identität der erlösten Dame erst allmählich z u enthüllen beginnt. D a m i t erwächst die Spannung primär nicht aus einer hier vernachlässigten chronologischen Struktur, sondern aus dem wachsenden >Ausschnitt< des Lesers. Die oben aufgezeigte Entwicklung des Leserausschnittes i n bezug auf die geheimnisvolle Wirklichkeit des Romans bildet das Spannungsgesetz dieser Darstellungsform. D i e Chronologie der f i k t i v e n Romanwirklichkeit t r i t t dabei hinter der Chronologie des Enthüllungsvorganges etwas zurück. Sie besonders soll i n unserer Darstellung als Grundlage dieser Erzählspannung freigelegt werden. Die "Geschichte des Tyridates' informiert den Leser v o m Standpunkt des Titelhelden bzw. seines Vertrauten aus über den M o t i v v o r g a n g v o n der Bildliebe bis zur ersten Begegnung. Die Begebenheit m i t dem Flora-Bild einer unbekannten Römerin bildet innerhalb dieser Lebensgeschichte den ersten chronologischen Bogen aus. E i n thematischer Kontrast steigert dabei die Liebesregung aufgrund eines Bildnisses 40 zu einem erzählerischen Höhe40 Karin H of ter, Anton Ulrichs 'Octavia'. Diss. Bonn 1954, S. 47 bemerkt dazu: »Tyridates und Octavia verlieben sich ineinander, lange bevor sie sich gesehen haben, und zwar in ihre blossen Porträts. Wir haben uns diese wahrscheinlich als wenig charakteristisch vorzustellen. Eine Ahnung davon geben die Kupfer des Romans, auch die Beschreibung von Tyridates und Octavia bestehen nur in allgemeinen Ausdrücken. Daraus entsteht eine Leidenschaft, die mit gleicher Stärke jahrelang, auch in Zeiten völliger Hoffnungslosigkeit, die beiden gefangenhält, ehe sie sich überhaupt zu Gesicht bekommen oder auch nur Genaues voneinander wissen. Eine solche Neigung muß dem modernen Leser unglaublich erscheinen; es fehlt der psychologisch zureichende Antrieb, und die auslösende Situation steht in keinem Verhältnis zu ihren das ganze Leben bestimmenden Folgen.« — Hof ter entgeht dabei, daß Anton Ulrich mit der Verwendung dieses traditionellen Motivs keinerlei psychologische Absichten verfolgt. Der psychologische Erwartungshorizont ist da-
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punkt. Ähnlich wie bei Balacins Geschichte w i r d vorerst die Kriegstüchtigkeit des Tyridates gepriesen. E r verschenkt großzügig Kronen und beweist damit, daß i h m das Laster der Ehrsucht v ö l l i g fehlt. E i n Zug seines Charakters w i r d aber für diese Kontraststruktur besonders bedeutsam: E r spottet der Liebe (Scherzlied Ο I 110—111). Dieses Verhaltensmodell findet sich bereits beim jungen Marsius, dem Tugend und Liebe unvereinbar scheinen ( A I 172 f.). I n eindringlicher Weise bewahrheitet und erprobt sich des Tyridates Ablehnung der Liebe an einem Beispiel: Die von i h m ungeliebte Zenobia verflucht ihn deshalb i n ihrer Sterbestunde: » . . . daß er nämlich dereinst die gewalt der liebe v ö l l i g entfinden / und daß es i h m darüber ganz widerlich ergehen möchte / damit er erkennte und an sich selbst entfände was er sie leiden gemacht.« ( Ο I 121). Fluch und Prophezeiung sind i n dem Labyrinth geheimnisvollen Geschehens i n A n t o n Ulrichs Romanen Hinweise, die der Leser dankbar als epische Vorausdeutungen erkennen lernt. Dieser Fluch der Zenobia w i r d zudem noch durch einen wichtigen Einschub des Erzählers 4 1 betont. Diesen V o r f a l l gestaltet der Erzähler, um die unvernünftige Liebesverzauberung des Tyridates durch ein lebloses Gemälde kontrastierend zu steigern. Feindliche Kaufleute werden v o n des Tyridates Soldaten geplündert. D a bei werfen sie verständnislos etwa 40 Porträts durcheinander, die fein säuberlich i n Kisten verpackt gewesen sind. E i n römischer Maler hat sie auf Wunsch eines hircanischen Reichen gemalt und ihm nun zugesandt. Z u fällig kommt Tyridates zu dieser Plünderung dazu. Eines der Gemälde sticht i h n i n die Augen: es stellt eine schöne Dame als G ö t t i n Flora dar. Tyridates kauft den Händlern kurz entschlossen die ganze Galerie römischer Damen ab. Eines Nachts findet i h n sein Vertrauter v o r dem Bilde sitzen: die T y p i k des gestischen Verhaltens offenbart i h m des Königs Verliebtheit. Seinen drängendem Fragen gegenüber gesteht der König, i n diese unbekannte Schöne verliebt zu sein ( Ο I 131). A l l e Versuche, ihren Stand und Namen zu erfragen, schlagen fehl. Die getesteten römischen Soldaten verwechseln allerdings auch andere Damen, diese aber kennen sie nicht ( Ο I 133), Tyridates verbleibt also i n der Ungewißheit, ob es sich um das Porträt einer Lebenden oder um das Phantasiegebilde eines Malers handelt 4 2 . durch verfehlt. Auch der Germanist muß als Leser dieser Romane die Tradition beachten. Zur Bedeutung der Tradition bei der Untersuchung von Texten: Vgl. Wolfgang Babilas, Tradition und Interpretation. Gedanken zur philologischen Methode, München 1961 ( = Langue et Parole. Heft 1) und Alfred Behrmann, Einführung in die Analyse von Prosatexten, Stuttgart 1967 ( = Sammlung Metzler M 59). 41 »Der über diesen tod mit-betrübte Tyridates nähme ihm hierbei vor / sich nimmermehr der liebe zu ergeben: um den fluch der Zenobia nicht auf sich zu laden. Wer kan aber seinem Verhängnis entgehen? Tyridates must mit der zeit alles fühlen und erfahren / was ihm von dieser sterbenden war angewünschet worden.« (Ο I 121 f.) 42 Ähnliche Überlegungen gehören dem Motivbereich an bis in seine Gestaltung-
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I m weiteren Verlauf der Kriegshandlung läßt Tyridates die Galerie i n Artaxates zurück. Die Feinde erobern nach seinem Abzug die Stadt und stecken alles i n Brand. Plötzlich taucht das Flora-Bild jedoch wieder v ö l l i g unversehrt bei Pacorus i n Meden auf ( Ο I 137—139). Dieser läßt es i n einem Tempel als Götterbild verehren. E i n Streitgespräch zwischen den beiden Brüdern enthüllt die neue Variante des M o t i v s : zwei Brüder sind zu Nebenbuhlern geworden, ohne das U r b i l d des Porträts je gesehen zu haben oder zu kennen. Der chronologische Bogen schließt sich bald darauf m i t des Tyridates Erkenntnis, daß die v o n i h m auf der Insel Pandataria gerettete geheimnisvolle Dame das U r b i l d seines Porträts sei ( Ο I 142 f.). Diese Erkenntnis steht aber a m Anfang eines Liebesschmerzes, der noch einige tausend Seiten weiterdauern soll. Funktional führt das Bildnis-Motiv die erste Begegnung der beiden Liebenden zur wirksamen Steigerung, ohne das Geheimnis u m die schöne Neronia zu lüften. Die Variante der Verdoppelung zweier Brüder zu Rivalen setzt sich weit i n die Großstruktur des Romans hinein fort. Sie w i r d später als wichtiger Handlungsimpuls wieder aufflackern u n d v o r allem i m fünften Band die Vorgänge sehr beleben: Pacorus liebt und begehrt das U r b i l d der Flora dann immer noch 4 2 a . Dieser Darstellung der aufkeimenden Liebe des Tyridates zu einem B i l d bis z u seiner Rettung des Urbildes auf der Insel Pandataria stehen noch zwei andere zur Seite. Sie führen den anderen Aspekt unseres wechselseitigen Bildnis-Motivs durch. Gemäß der voluntas autoris legen w i r unserer D a r bietung den Erfahrungsablauf des Lesers zugrunde. Schon die Geschichte des Tyridates folgte diesem P r i n z i p ; sie befindet sich nämlich i m ersten Band der O c t a v i a ' . Z u Beginn des zweiten Bandes taucht die andere Seite unseres Motivkomplexes i n der 'Geschichte der Kaiserin Octavia' ( Ο I I 60—199) formen während der Romantik: Beachte z.B. Ludwig Tieck, Franz Sternbalds Wanderungen (S. 130 dieser Arbeit). Natürlich sind sie dort thematisch verwandelt. 42a Erst hier wird dem Leser die Herkunft des wichtigen Flora-Bildes in einem Gespräch zwischen Octavia, Tyridates und Pomponia Gräcina enthüllt (Ο V 179— 181): Die Kaiserin Agrippina bat einstens einen in der Zauberkunst sehr erfahrenen Maler, ihr Porträt zu verfertigen, um Pomponia Gräcinas Sohn, Aulus Plautius, in sich verliebt zu machen. Der Maler konnte nämlich Frauenbildnisse malen, die jeden Betrachter in Liebe zu dem Bilde bzw. dessen Urbild entflammten. Er war aber selbst in die Kaiserin verliebt und malte deshalb Octavias Porträt und übermittelte es seinem Nebenbuhler, um ihn zu Fall zu bringen. Als er das tatsächlich erreicht hatte, gelangte das Bild wieder in seinen Besitz, und er verhandelte es an ausländische Kaufleute, durch welche das Zauberbild in des Tyridates Hände und weiter zu Pacorus gelangte. — »Es ist / wandte Tyridates hierauf ein / die Schönheit der Octavia so beschaffen / daß man zu derer Verehrung durch keine zauberey darf gebracht werden; und hätte des mahlers pinsel in warheit nicht nöthig gehabt / sich dabey solch böser dinge zu bedienen / sintemalen seiner Flora bildnüs ohnedem von aller weit würde verehret worden seyn.« (Ο V 180 f.) — Beim Bildnis der Titelheldin dieses Romans läßt Anton Ulrich plötzlich den alten Motivaspekt des Liebeszaubers wieder aufleben; allerdings betont Tyridates gleichzeitig, daß Octavia al? Inbild höchster Frauenschönheit dieses Zaubers keineswegs bedürfe.
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auf, die ihrem vermeintlichen Bruder Drusus v o n ihrer Vertrauten Phythias (Er-Form) erzählt w i r d . Octavia erhält sehr früh v o n dem syrischen Statthalter »ein aus gold gegossenes brustbild eines sehr schönen jünglings« ( Ο I I 66) geschenkt, »welches so holdselig anzusehen w a r / daß es die Prinzessin über alle maßen lieb gewann«. H i e r beginnt die Liebesgeschichte zwischen Octavia und X ( = einem morgenländischen Prinzen). D a Octavia an dieser Stelle dem Leser m i t Neronia noch nicht identisch erscheint, müssen i h m die Zusammenhänge noch nicht k l a r sein. Octavias Verlobter fürchtet, »es möchte m i t den aufkommenden jähren diese Zuneigung also zunehmen / daß sie weiter / als auf das todte b i l d / sich erstreckte . . . « ( Ο I I 6Ó) 43 . Diese eifersüchtige Angst ihres Verlobten ist eine wichtige epische Vorausdeutung. I h m zuliebe muß Octavia dann, w i e w o h l widerstrebend, dieses Porträt »verlassen«. V i e l später taucht das B i l d plötzlich i m Rahmen bedeutsamer Thematik wieder auf. V o r der Hochzeit m i t einem ungeliebten Manne w i r d sich Octavia jäh der Glückseligkeit jener bewußt, die nach »ihrem sinne lieben dörfen«. N u r dieses B i l d wäre fähig gewesen, »sie ohne zwang verliebt zu machen«. ( Ο I I 94). Diese gedankliche Liebeserklärung Octavias an das B i l d ist somit bedeutsam ins epische Geschehen integriert. Für den Leser wandelt sich das B i l d dadurch fast zum personellen Nebenbuhler. Diese thematische Verdichtung (Octavia liebt ein unbekanntes Bildnis) schließt das M o t i v i n dieser Geschichte ab. Die Erzählerin berichtet nämlich von ihrem >Ausschnitt< aus den T o d der Kaiserin auf der Insel Pandataria. I m dritten Band w i r d nun das M o t i v als Linie und Thema erneut aufgenommen: Die Acte war meine bäste vertraute / die / wie sie alles meines leidens sich mitteilhaftig machte / also erführe sie auch alle meine geheimniße: Daher ihr unverborgen bliebe / welcher maßen mich ein lebloses bild bewegen können / demselben meine Zuneigung zuzuwenden. Dieses war mir aus den morgenländern geschenkt worden / und hatte ich es / auf begehren des eifersüchtigen Lucius Silanus / hinweg thun müßen / der es auch in seinem palast bis an seinen tod aufbewahret: Von dar es nachgehends / weil alle seine güter dem Kaiser Claudius heimgefallen / in die Kaiserliche Schatzkammer gekommen war / und daselbst aufbehalten wurde. Die Acte bekam solches einmal / als der ihr gewogene Nero ihr die Schatzkammer zeigte / zu sehen / und es mit leichter mühe von dem Kaiser ausbittend / meinete sie / mir einen grossen gefallen damit zu erweisen / wann sie mir dieses bild wiederschenkte. (O I I I 243 f.) Zusammenfassend erzählt Neronia / Octavia die weitere Geschichte des Bildes, die A n t o n Ulrich vollständig durchmotiviert. Ansdiluß und Fortsetzung an Ο I I 66 bzw. Ο I I 94 w i r d damit kompositorisch hergestellt. Thematisch w i r d auch die Zuneigung Octavias zu diesem B i l d wieder auf43 Der Verlobte entspricht hier der Norm, wenn er grundsätzlich an diese Möglichkeit unseres Motivkomplexes denkt,
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genommen. Durch die A k t i v i t ä t Actes erfährt das M o t i v dann eine weitere Wendung: Ich fände es demnach eines morgens in meinem cabinet auf dem tische stehen/ und nicht wissend / was solches zu sagen hatte / blieb ich darüber so lang betreten / bis Acte herfürkame / und mir kund thäte / wie sie es bekommen. Sie erzehlte mir daneben / wie des Kaisers schatzmeister ihr bedeutet / wen dieses bild fürstellen solte / nämlich den Tyridates aus Parthien: von deme sie mir doch damals nicht sagte / daß er ihr bruder wäre. Ich fühlte mich / durch die abermalige ansichtung dieses schönen bildes / so gerührt / daß ich deshalben über mich selbst unwillig wurde / und es der ehelichen treue entgegen erkennend / die ich dem Nero schuldig war / wüste ich es der Acte keinen dank / daß sie mich dergestalt beunruhigt / sondern gäbe ihr ihr geschenk wieder zurück / welches mein gemüte also aus seiner ruhe bringen könen. Wann ich nun nachgehends / als Acte vom hofe käme / sie zu Zeiten bei dem Seneca besuchet / fände ich diß liebe bild in ihrem cabinet immer wieder. Ich unterstunde mich aber nicht / es recht anzuschauen / da ich in mir fühlte Ì was für eine verborgene kraft es bei sich führte. Weil Acte dieses bild so hoch verehrte / glaubte ich / sie würde sich in dasselbe verliebt haben. Ich ward aber von ihr aus diesem wahn gebracht / als sie mir ihre liebe zu dem Jubilius offenbarte; darinn ich ihr dann um so viel lieber und williger dinete / weil ich nicht gern gewolt hätte / daß Tyridates auf diese art von ihr wäre angesehen worden. (O I I I 244 f.) Die Stelle ist kompositorisch und thematisch gleich bedeutsam. I n ihr laufen viele Informationselemente, aus denen sich nicht unwesentlich die verschlungene Struktur dieses Riesenromans zusammensetzt, ineinander. Acte ist des Tyridates Schwester — wie der Leser schon weiß — und sie h i l f t ihrem Bruder i n seiner Liebe. Die Übermotivierung (wie des Kaisers Schatzmeister ihr bedeutet) erklärt sich daraus, daß Acte ihre wahre A b k u n f t zu diesem Zeitpunkt noch geheimhält. Die Geschichte der Parthenia hat den Leser jedoch längst m i t dem nötigen Wissen versorgt ( Ο I 550—608). Für Octavias >Ausschnitte ist das Resultat von Actes Bestrebung wichtig: sie erfährt hier erstmals Name und Stand des Porträtierten. Auch für den Leser ist dies die erste eindeutige Information, obwohl sich für i h n die Bezüge i n dieser Richtung längst verdichtet haben. Octavias Liebe steigert das B i l d eindeutig zur >PersonPerson< des Tyridates zu befassen: Ich hatte von diesem tapfern König bei" hof so viel reden gehört / daß sein rühm neben seiner gestalt / bei mir in gleicher hochachtung schwebte. Es fielen mir öfters diese fremde gedanken ein / daß ich wol einen solchen erlöser haben mödite / als dieser König wäre. (O I I I 250) Diese wunschhafte Konzentration auf das U r b i l d des Porträts findet eine Erzählseite später bereits ihre reale Entsprechung. Tyridates ist der Erlöser
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und Retter einer geheimnisvollen Dame, die sich für ihn als das U r b i l d seiner Flora entpuppt. Er aber ist das U r b i l d ihres Porträts, v o n dem sie i n ihren Wünschen schon allmählich zur Person abgerückt war. Überblickt man nun die wechselseitige Gestaltung des Bildnis-Motivs bei den beiden zentralen Liebenden dieses Riesenromans, so muß man eine überwältigende Anreicherung des kleinen Traditionsmotivs konstatieren. Die chronologischen Spannungsbogen i n den drei Lebensgeschichten entfalten sich v o m >Ausschnitt< des Lesers her zu einer komplexen Motivstruktur. A l l e drei sind primär auf einen geheimnisvollen Punkt hin konzipiert: den der ersten Begegnung. H i e r a k t i v i e r t der Dichter den Haupthelden als Lebensretter der Titelheldin. Dieser Vorgang w i r d dem Leser jedoch nicht i n einmaliger Erzählung geboten, er k o m m t vielmehr dreimal v o n verschiedenem >Ausschnitte her zur Sprache: Vasaces berichtet des Tyridates Leben ( Ο I 142 ff.), Phythias erzählt den Lebenslauf der unglücklichen Kaiserin Octavia ( Ο I I 195 ff.) und diese berichtet ihre Erlebnisse selbst i n Neronias Geschichte ( O I I I 249 ff.). Dreimal hält also die Erzählung an eben demselben zeitlichen Punkt, indem der Vorgang jeweils v o n einem anderen A u s schnitte her gesehen w i r d . Diese Aspekthaftigkeit v o n A n t o n Ulrichs Erzählen ist ein wesentliches M e r k m a l seiner Breitendimension. Das Medium, auf welches diese erzählerische Form gerichtet w i r d , ist der allmählich anwachsende >Ausschnitt< des Lesers. Während die Haupthandlung langsam durch die erzählerisch erfüllten Tage fortschreitet, verdichtet sich die Vorzeit dieser f i k t i v e n Gegenwart i n ihren Motivationen und Bezügen immer mehr. I n gleichem Maße aber enträtselt sich das Geheimnis um die Identität dieser geretteten Schönen. Das Bildnis-Motiv i n seinem Reichtum ist dabei A b b i l d der Gesamtkomposition und strukturelle H i l f e . Als letztes Beispiel aus A n t o n Ulrichs Romanen sei noch die M o t i v - G e staltung i n der Lebensgeschichte des Dison von Seir ( A I I 18—77) betrachtet. Ihre Funktion übersteigt den Rahmen dieser >Geschichte< und gipfelt nach etwa 800 Erzählseiten i n einem Höhepunkt der Haupthandlung, nämlich i n der Wunderhochzeit zwischen Dison und Aramena. B i l d und Begegnung erscheinen i n neuer Variation, aber das Entscheidende ist der ausgeklügelte Bezug auf den wachsenden >Ausschnitt< des Lesers, von dem aus sich der ganze Komplex erst zum strukturellen Gebilde fügt. Die Darstellung dieser epischen Struktur erzwingt eine Vorfrage: Was weiß der Leser zu Beginn v o n Disons Erzählung? Oder anders: Wie sieht der >Ausschnitt< des Lesers i n bezug auf Dison und Aramena i n dieser Phase des Erzählablaufes aus? W i r versuchen ihn zu beschreiben, indem w i r nach der Chronologie des wachsenden Leserausschnittes die diesbezüglichen Fakten sammeln. Dison v o n Seir ist Ahalibamas Bruder. Er verschwindet nach einem Uberfall räuberischer Araber (Geschichte der Ahalibama A I 82—140). A u f Wunsch ihrer Eltern werden Dison und Aramena füreinander bestimmt ( A I 369). E i n wahrsagender Chaldäer prophezeit Ungereimtes: Der ver-
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kleidete >Dison< ( = Aramena) und eine Hofdame der Delbois namens >Aramena< seien füreinander bestimmt und würden i n etlichen Monaten heiraten ( A I 533—535). Naphtis stellt eine scheinbar v ö l l i g unmotivierte Ähnlichkeit zwischen Aramena und dem verstorbenen Aramenes von Syrien fest ( A I 345) (Geschichte der Aramena). Diese Ähnlichkeit w i r d innerhalb der äußerst wichtigen Besichtigung einer Porträtgalerie erneut aufgegriffen: >Aramena< findet erstaunt eine Gleichheit zwischen Aramenes von Syrien und einem Bilde, das ihr sehr lieb war. Scherzend macht >Dison< diese >Aramena< auf eine weitere Gleichheit zwischen des Aramenes' A n t l i t z und ihrem aufmerksam. Die genannten Fakten und die physiognomischen Übereinstimmungen bestimmen demnach den >Ausschnitt< des Lesers. Als sich >Aramena< kurz vor seiner Geschichte der Ahalibama als ihr verschwundener Bruder Dison entdeckt, ahnt der Leser i n kühner K o m b i n a t o r i k vielleicht schon die wahren Zusammenhänge. Dison eröffnet Ahalibama nun seinen abenteuerlichen Lebensweg, auf dem er i n Arabien einstens einen jungen M a n n belauschte, der ein wunderschönes Dianenbild i n einer H ö h l e verehrte. Auch er verliebt sich i n dieses Bild, ohne Nebenbuhler oder U r b i l d zu kennen. Er schließt sich diesem an und w i r d i n Ä g y p t e n Isispriester 44 . Die W i r k u n g jenes Bildes zwingt i h n dazu, denn es ist eine Unmöglichkeit, »diese Schönheit zu sehen und nicht zu lieben«. A u f einer Reise verliert Dison die Gesellschaft jenes Jünglings »und zugleich das auschauen (!) seines schönen bildes / welches unter allen Schönheiten / die m i r jemals fürgekommen / allein fähig gewesen /mich verliebt zu machen«. ( A I I 58). A u f abenteuerliche Weise gerät er dann als verkleidete >Aramena< ins Frauenzimmer der Delbois von N i n i v e . Bei einem Besuche i m berühmten Dianentempel zu N i n i v e sieht er plötzlich i m Gebäude der Oberpriesterin seiner »schönen ihr bildnis eben also i n marmor gehauen / wie ich sie ehmals i n dem wüsten Arabien angetroffen . . .« ( A I I 67). A n t o n Ulrichs subtile M o t i v a t i o n erweckt i n Dison die irrige Annahme, das U r b i l d seiner Statue sei schon gestorben. Durch den vermeintlichen T o d seiner Bildgeliebten und durch die Entbindung v o m Gelübde des Isispriesters durch seine Bekehrung kann sich Dison i n Delbois verlieben. Jede seiner Liebesregungen w i r d sprachlich zu seiner ursprünglichen Bildliebe i n Beziehung gesetzt: »Ich begunte nach und nach / gegen dieser lebendigen Schönheit / i n meinem gemüte eben solche unruhe zu fülen / als das schöne leblose b i l d ehmals i n m i r verursachet . . . « ( A I I 74) Diese Bildliebe erweist sich hiedurch als die wesenhafte Verdichtung seines Liebesmotivs überhaupt. Zugleich ist dieses B i l d aber auch eine Station der Liebeskurve seines ganzen Lebens, wie die Sprachform dieser Zusammenfassung erweist: »Ich fülete / nach allen diesen umständen / endlich an m i r / daß / was Petasiride m i t allen ihren liebkosungen nicht vermocht / was mein mar44 Ein beliebtes Motiv des höfischen Barockromans! Hier gehört es zur chiastischen Anlage und entspricht Aramenas Dianengelübde.
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mornes b i l d nicht v ö l l i g / (weil ohne leben /) i n m i r gewirket / was mich zu der schönen Aramena nicht bringen können / was mich v o r meiner bekehrung nicht angefochten / nunmehr die schöne Delbois über meine sinne erlanget hatte.« ( A I I 75) Analog dazu bezeichnet das »marmor-bild« auch i n der rhetorisch ähnlichen Schlußzusammenfassung seines Lebens eine Stat i o n seiner Liebesbegebnisse ( A I I 77). Die Einschränkung (»nicht v ö l l i g / (weil ohne leben /) «) weist auf die thematische Funktion des M o t i v s : es bestätigt eine der zentralen Tugenden des höfischen Helden, nämlich die beständige Liebe. Die innere Liebeskurve der beiden ist so gebaut, daß sie die einmal füreinander Bestimmten trotz aller Hindernisse i n abschließender Vermählung vereint. Diesem Zweck dient die besondere Gestaltung des Bildnis-Motivs ebenso wie etwa die chiastische Verkleidung (Dison als >Aramena< — Aramena als >DisonDisonAusschnittc vergrößert den des Lesers. Sein >Ausschnitt< ist i n diesem ganzen Intrigenspiel größer als jener der Initiatoren des ganzen Vorganges und selbstverständlich u m vieles größer als jener des getäuschten Hochzeitspaares. Das Phänomen des verschiedenen >Ausschnittes< möchte ich i n einer größeren Arbeit gerade i n diesem Bereich darstellen, w e i l neben diesen beiden Gruppen viele Romanpersonen fast individuell zu verschiedenen Graden über den wahren Sachverhalt informiert werden. Der Grad der Information hängt nur von ihrem >Ausschnitt< ab, bzw. v o n den i h n bestimmenden (politischen) Interessen. Die Lösung der Spannungsstruktur unseres Bildnis-Motivs liegt aber erst ca. 1010 Erzählseiten später i n der Haupthandlung: Dison gewinnt allmählich Klarheit über die Identität zwischen dem marmornen B i l d seiner Liebe und dessen U r b i l d >Dison< - Aramena. D a m i t w i r d die M o t i v s t r u k t u r und 45 Diese Lösung ist keine echte. Sie wächst als persönliche Vermutung Ahalibamas dem Ausschnitt des Lesers zu, kann aber sprachlich durch keine Aussage des Erzählers belegt werden (bis zu diesem Zeitpunkt!).
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ihre Funktion i n dem wunderbaren Geschehnisgeflecht dieser Scheinhochzeit schlagartig klar. Disons beständige Liebe zum Dianenbild erweist sich als unbewußte Vorstufe seiner Liebe zu Aramena. Das B i l d motiviert i m Rückblick die rational überprüfbare Vorsehungsformel dieser »wahren himmelsschickung«. I m Schema des beständigen Prinzen verschmilzt die Liebe i m Übergang v o m A b b i l d zum U r b i l d , wie es die Sprachform anlegt: »Es ware i h m (Dison) das b i l d der göttin Diana nie schöner fürgekommen / als dißmal ./ da er nicht die einbildung / sondern das wesen selber / v o r sich sähe . . . « ( A I I 350) I n der Vision eines Augenblicks faßt Dison nun alle Begebnisse seines Lebens i n einer Kausalkette zusammen: » . . . dan er / die ehmalige durch seine eitern beschehene Verlobung; die seltsame verliebung i n das Dianen-bild / welches diese Aramena fürgestellet; seinen i n seiner angenommenen weiblichen tracht erwehlten namen Aramena; ingleichen ihren angenommenen namen Dison / und lezlich ihre ietzige verwundersame zusammenfügung / nicht änderst ausdeuten konte / als daß der himmel an ihrer beider verehlichung ein wolgefallen haben müsse.« ( A I I 350—351) I m Rückblick werden zusammenfassend die funktionalen Aufgaben des Bildnis-Motivs k l a r : Die Bildliebe schafft für den Betroffenen unwissentlich die Präfiguration seiner wahren Liebe. Dadurch kann das Schema v o m beständigen Prinzen beide strukturell verklammern. Das B i l d erspart dem Dichter weiter die handlungsmäßig unbrauchbare frühzeitige Begegnung der beiden Liebenden, an der die täuschende vice-versa-Verkleidung auch m i t w i r k t . Die turbulente Steigerung all dieser rational ausgeklügelten Verw i r r u n g wäre ohne das B i l d n i s - M o t i v schwer denkbar. O b w o h l A n t o n Ulrich noch eine Fülle von Variationen dieses Motivs i n seinen Romanen gestaltete, mögen diese drei Beispiele genügen 46 . Ihre verschiedene Gestaltungsform ließ i n der durchdachten Entfaltung des an sich einfachen Motivs zur beziehungsreichen epischen Struktur die subtile >Machweise< dieser Romanschöpfungen aufleuchten. Auch ein Außenseiter des höfischen Romans, Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen, greift dieses M o t i v i n 'Dietwalts und Amelinden anmuthiger Lieb- und Leidsbeschreibung' (Nürnberg 1670) auf. I n Dietwalts Gebetbuch finden sich sonderbare Heiligenbilder, nämlich die »warhaffte Contrafeythen der Königlichen Familia des gantzen Burgundischen Hauses« 47 . 46 Anton Ulrich wertet Gestaltungsformen dieses Motivs auch zu Detail-Motivationen innerhalb größerer kausaler Zusammenhänge ab: Belochus von Assyrien verliebt sich motivgemäß ζ. B. in das Porträt seiner Tochter bzw. dann Nichte Delbois (A I I 595). Durch die Gestik des beständigen Anstarrens dieses Bildes wird seine Neigung erst offenbar. — Ein anderes Beispiel für eine andere Verwendung: Abimelechs Abkunft von Aramenes und Philistina von Syrien wird durch das Bildnis seiner Mutter bewiesen: Diese Funktion eines Bildes als genealogisches Beweisstück ist geradezu zu einem Motiv der Trivial- und Märchenliteratur geworden (vgl. A I V 689). Unser Gestaltungstypus C neigt auch zu dieser Funktion. 47 Grimmelshausen. Dietwalts und Amelinden anmuthige Lieb- und Leidsbeschreibung. Hrsg. von Rolf Tarot, Tübingen 1967, S. 30 ( = Grimmelshausen. Gesammelte Werke in Einzelausgaben). — Idi zitiere nach dieser Ausgabe.
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Als der Erzähler dies erwähnt, sind D i e t w a l t und Amelinde bereits wortlos ineinander verliebt. »Sintemal keines v o n ihren jungen Hertzen erkühnen dörffte / dem andern sein innerlich Anliegen zu eröffnen!« (30) Amelinde und i h r Bruder (Dietrich von Metz) erspähen einmal zufällig die Adelsbilder i m Heiligenhabit und erbitten v o n D i e t w a l t je eines zum Gedächtnis. Dieser stellt ihnen die W a h l frei und ist überglücklich, als Amelinde den Ritter St. Georg ( = D i e t w a l t ) und Dietrich die H l . Jungfrau Catharina ( = Dietwalts Schwester Wissegard) wählt. »Sonderlich da er sähe daß Printz Dieterich das Seinig: und die Prinzessin das I h r i g so andächtig küste; v o r welchen K u ß er nicht aller W e l t Gut genommen hätte / . . . « (31). Diese Variation weicht v o n unserem M o t i v k e r n bereits stark ab. H i e r w i r d nicht die Liebe durch das Bildnis einer dem Betrachter noch unbekannten Person entflammt, sondern eine unausgesprochene Liebe w i r d dem Manne v o n der Dame offen bestätigt. Dies geschieht nicht expressis verbis, sondern auf der Ebene des Gestischen, deren stereotyper Eindeutigkeit gleicher Aussagewert z u k o m m t 4 8 , wie die W i r k u n g des Kusses auf D i e t w a l t zeigt. E i n etwas später auf diesen V o r f a l l bezogener Hinweis, läßt zusätzlich eine Anverwandlung des traditionellen Motivs (Typus A ) erkennen. »Printz Dieterichen von Metz / aber seinem Sohn/ vermählet er K ö n i g Sigismunden Tochter Wissegard / welche er vorlängst nur zu sehen gewünscht: und hiebevor den Liebes-Angel an ihrem Conterfeit geschluckt h ä t t e . . . « (42). Die Kernf u n k t i o n gilt also nicht für das zentrale Liebespaar, sondern für ihre Geschwister. Die Darstellung der Adeligen als Heiligenporträts 4 9 ist hier nicht als Säkularisierung des M o t i v s aufzufassen: sie stimmt z u m legendenhaften Grundton v o n Grimmelshausens Erzählung. Wegen der Einfachheit der Motivanlage möchte ich v o n einer punktuell szenischen Erschöpfung des Motivs sprechen: seine F u n k t i o n betont einen wichtigen Wendepunkt der Struktur. Auch zwischen Bildüberreichung (31) und H e i r a t (42) des zweiten Paares k o m m t es zu keiner Spannungsstruktur, weil die Erwähnung der Bildliebe nur einen unvorbereiteten Rückverweis bildet. Die einfache A n lage der Geschichte spiegelt sich auch i n der entsprechend einfachen Behandlung des Motivs. Eine weitere Gestaltungsform aus dem Bereich des nichthöfischen Romans des Barock sei hier noch angeschlossen: Johann Beer strukturiert damit eine 48 Vgl. dazu Raheis gestisch-szenisches >Spiel< mit dem Bildnis des Königs als Bestätigung ihrer heimlichen Liebe, die ihm dadurch offenbart wird, in Franz Grillparzers Drama 'Die Jüdin von Toledo* (II. Akt). Damit sind die dramatischen Funktionen dieser Motivgestaltung natürlich nicht erschöpft, es handelt sich nur um den Vergleich eines hervorstechenden Gestaltungszuges. 49 Vgl. diesen Gestaltungszug auch in Johann Beers 'Winternächten'. Die Verehrung des Flora-Bildes im Tempel (Anton Ulrichs Octavia') steht damit in Ver-
wandtschaft.
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Episode i n seiner Romandilogie c D i e teutschen Winter?Nächte & Die k u r z weiligen Sommer*Tage' (1682/83). Friedrich, einer jener jungen Adeligen, gesteht dem Ich-Erzähler auf einer Reise seine Liebe z u einer adeligen Jungfrau, der als sein Nebenbuhler der berüchtigte und v o n dieser Dame verabscheute Barthel v o n der Heide nachstellt 5 0 . A u f dem Schlosse des Adeligen W i l h e l m von Abstorff treffen die beiden Freunde gute Gastfreundschaft und gesellige K u r z w e i l i n Gelage und Jagd an. A u f ihren Streifzügen besuchen sie die Schloßkapelle und besichtigen darin ein Bildnis der hl. Barbara. Friedrich »welcher zugleich i m Gesichte ganz entfärbet worden« (489) erkundigt sich nach der H e r k u n f t dieses Gemäldes. Als W i l h e l m die Geschichte seiner H e r k u n f t erzählt, »gab Friderich ganz beflissen auf seine fernere Worte Achtung, denn dieses Conterfey w a r kein anders als die Copie seiner so herzlich geliebten adeligen Dame, v o n welcher er m i r wegen seiner Inclination auf der Reise so viel erzählet und gelobet hatte. Ich wußte es z w a r dazumal noch nicht, und ob m i r w o h l die Verwechslung seiner Farbe ein mehrers Nachdenken verursachen können, ließ ichs doch an seinen O r t bewenden, w e i l er ein sehr schöner und subtiler Mensch war, daher seine zarte Complexion leichthin einer solchen Veränderung ohne zufällige Dinge mochte unterworfen sein.« (490) Beers Bildgestaltung hat sich noch weiter v o n unserem M o t i v k e r n entfernt: der Liebende sieht die schon bekannte Geliebte plötzlich unter geheimnisvollen Umständen als A l t a r b i l d wieder. Der reizvolle Einschub des Erzählers n i m m t die Deutung des Bildes für den Leser voraus und variiert dabei den Topos gestischer Betroffenheit durch eine individualistische Beobachtung. Bis zu einem gewissen Grad erscheint schon hier das traditionelle M o t i v der persönlichen Fabulierlust Beers anverwandelt. Das Spannungsgesetz steht i n Analogie zur Struktur des Erzählablaufes: es bilden sich keine großen Bogen auf einen Höhepunkt h i n aus, sondern die Spannung löst sich m i t jeder neuen Phase i m Fortschreiten des Erzählers. Das Bildnis-Motiv strukturiert w o h l eine Episode i m Gesamtganzen, seine funktionalen Möglichkeiten werden jedoch Schritt für Schritt i n kleinen Dosen verbraucht. Unter seltsamen Umständen treffen Friderich und der Erzähler auf ihrer Weiterreise einen jungen Adeligen. »Ich erschrak, sobald ich diesen unter Augen bekommen, denn seine Gestalt und liebliches Gesichte kam allerdings m i t demjenigen Altarbilde überein, welches uns i n der vorigen Kapelle v o n H e r r n Wilhelmen ist gewiesen und umständlich beschrieben worden.« (505) Wieder ist bei diesem Schritt des Erzählers der Leser sofort i m Bild. Die entsprechende Spannung entsteht aus dem Glauben Amaliens, daß ihre Verkleidung nicht durchschaut w i r d . Sie w i r d als Freund i n die Gesellschaft der Adeligen aufgenommen und auf Wilhelms Schloß geladen. Einer geheimen Absprache gemäß berichtet der so Johann Beer. Die teutschen Winter^Nächte & Die kurzweiligen SommerTage. Hrsg. von Richard Alewyn, Frankfurt 1%3, S. 482. — Die folgenden Zitate beziehen sich auf diese Ausgabe.
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Erzähler von einem herrlichen A l t a r b i l d , das er den andern zeigen möchte. Diese Variation ist neu: das verkleidete U r b i l d soll durch die K o n f r o n t a t i o n m i t seinem A b b i l d identifiziert und überführt werden. Amalie erkennt ihr B i l d i m Augenblick, w i l l aber i h r Inkognito wahren und schweigt. Der Schloßherr fordert jeden der Gesellschaft zur Stellungnahme auf. So muß auch »Amalie selbsten eine solche Copey loben, dessen O r i g i n a l sie i m Wesen selbst war.« (517) 5 1 . A m höchsten w i r d das Bildnis natürlich von Friderich gepriesen. Nachts dringen die Adeligen plötzlich i n die Kammer der schlafenden Amalie ein, und der Schloß Verwalter enthüllt ihren wahren Stand durch den Bildbezug: »Er ( F i d i u s ) . . . ist ebenderjenige i m Original, dero Copia w i r vergangenen Abends i n der Schloßkapelle auf dem A l t a r getroffen.« (522) D a n n w i r b t der Sprecher i m Namen Friderichs um Amaliens H a n d und überläßt sie weiter ihren Überlegungen. Der M o t i v z u g der Werbung charakterisiert auch diese Gestaltungsform. M i t Friderich und dem Erzähler belauscht dann auch der Leser die heimliche Unterredung Amaliens m i t ihrem Vertrauten. »Ich glaube gänzlich, daß meine Person durch mein Conterfey a m Altare sei verraten worden.« (523). Die innere Struktur eines episodenhaften Handlungsabschnittes (481—523) w i r d entscheidend von unserem Bildnis-Motiv geprägt. Dabei hat es sich als V a r i a t i o n ziemlich weit v o m einfachen M o t i v k e r n entfernt: Der Verliebte (Friderich), der sich seiner U m worbenen nur i n Verkleidung (als Bettler) zeigte, findet plötzlich ihr Conterfey als Heiligenbild auf dem Altare einer Schloßkapelle. Der Nebenbuhler (Barthel) hat es Amalien gestohlen und dort aufgestellt 52 . Seinen Nachstellungen muß Amalie i n Verkleidung (Männerkleider) entfliehen. Die Verkleidete w i r d aufgrund ihres Bildes v o m Geliebten erkannt. Z u r Enthüllung w i r d sie ohne Erfolg v o r den A l t a r geführt. Die folgende Nacht macht ihr der Geliebte durch einen Beauftragten einen Heiratsantrag, den sie später annimmt. Fassen w i r an dieser Stelle unserer Untersuchung die Ergebnisse einmal zusammen: Das B i l d n i s - M o t i v w i r d i n fast allen höfischen Barockromanen i n verschiedenen Gestaltungsformen verwendet, die aber grundsätzlich alle dem Typus A des Motivkomplexes entsprechen. Die Vorliebe für eben dieses M o t i v erklärt sich primär aus der Komposition dieser Romane: Die Liebenden erleiden nämlich über Tausende von Seiten hinweg alle nur möglichen Schicksalsschläge und werden erst am Schluß des Werkes i n der Vermählung vereint. Die zeitgenössische Tendenz zur Ausdehnung der Komposition i n räumliche Breite und zeitliche Tiefe läßt aufgrund von M o t i v e n und D a r stellungsprinzipien ein dichtes Geflecht vielfältiger Beziehungen entstehen. 61 Im Hintergrund einer solchen Szene steht die Mimesis-Theorie mit ihrem Aspekt der Verdoppelung. 52 Nachdem er das normale Adeligen-Porträt durch einen Maler mit den Attributen der hl. Çatharina versehen ließ und so aus dem Bildnis seiner Geliebten ein Heiligenbild bekam.
8 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 9. Bd.
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Eines davon ist das Bildnis-Motiv, das die Liebe der (zentralen) Paare lange v o r der ersten Begegnung entstehen lassen kann. Das M o t i v w i r d dabei in besonderem Maße funktional i n die epische Struktur dieser Werke integriert. Vielfach spiegelt das Teilphänomen der M o t i v s t r u k t u r die gesamte >Machart< der Romane wieder. Dies bestätigt unsere eigentliche Fragestellung nach M o t i v und epischer Struktur. Ziglers Motivgestaltung erweist das Phänomen des kurzen Spannungsbogens als eines seiner epischen Strukturelemente und den Darstellungsmodus gewisser theatralischer Effekte. Bucholtz gestaltet — entsprechend der Bauform seiner Romane — das M o t i v als epische Erscheinungsform geradliniger Handlungsführung. Lohenstein wieder verwendet es seiner inkommensurablen Fülle v o n Gebotenem gemäß als Detail unter vielen. A n t o n Ulrich widmet ihm erzähltechnisch w o h l die größte Sorgfalt. Die Motivstruktur spiegelt i n ihrer rationalen Form die subtile Gesamtkomposition. Dabei verwertet er mehrfach die Beziehung zwischen den beiden Erzählformen der Haupthandlung und der Lebensgeschichte. Beim zentralen Liebespaar der 'Aramena' dient das M o t i v dem Herzog als Medium seiner Verwirrungstechn i k ebenso wie als Ausdrucksform für die unüberbietbare Beständigkeit des Haupthelden. Bei Tyridates-Octavia enthüllt uns das M o t i v A n t o n Ulrichs Kunst der epischen Breitendimension i n der Aspekthaftigkeit seines Erzählens. Der M o t i v v o r g a n g (Bildliebe — erste Begegnung) kehrt zyklusartig dreimal v o m >Ausschnitt< verschiedener Romanpersonen her gesehen wieder. Diese erzählerische Entwicklung ist dabei wesentlich auf den anwachsenden >Ausschnitt< des Lesers gerichtet und zwar als Teilphänomen der Enthüllung der gesamten Romanwirklichkeit. Die ausschließliche Verwendung i n der Erzählform der >Lebensgeschichte< entspricht dieser Enthüllungsabsicht. I n der 'Geschichte des Dison von Seir' rückt der Dichter die ursprüngliche Bildbetrachtung wieder i n die >VorzeitVorzeit< u n d >Gegenwart< stellt das B i l d n i s - M o t i v einen wesentlichen Baustein i m großen Spannungskomplex der Haupthandlung dar, i n dessen H ö h e p u n k t sich für Dison endlich die Frage nach dem U r b i l d seiner Dianenstatue löst. Grimmelshausens Motivgestaltung i n seinem pseudohöfischen Roman k o m m t keine strukturelle Bedeutsamkeit zu: das M o t i v erschöpft sich i n der erzählerischen Betonung einer Szene. Johann Beer entfaltet das BildnisM o t i v zu einer Episodenstruktur innerhalb seines geradlinigen Erzählablaufes 53 . Den Schritten des erzählerischen Rhythmus analog bilden sich dabei kurze Spannungsbogen aus.
53 Neuerlich weist folgende Arbeit unter >Handlungsstrang< auf diese erzählerische Form hin: Jörg-Jochen Müller, Studien zu den Willenhag-Romanen Johann Beers, Marburg 1965, besonders S. 42 ff. ( = Marburger Beiträge zur Germanistik Band 9).
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II Uber die engere Gestaltung dieses Motivs weisen einige Variationsformen, besonders bei A n t o n Ulrich, auf ein ähnliches hin, das i m literarischen Bereich unserer Untersuchung auch sehr beliebt war. Seine Auswirkungen auf die epische Struktur fügen es berechtigt unserem Thema ein. Seine Variationen sind wieder äußerst reichhaltig. Tyridates findet so sein Flora-Bild innerhalb einer, w o h l durch die Umstände sehr i n Unordnung geratenen Sammlung von Porträts, die als Galerie gedacht sind ( Ο I 127). Auch Thumelicus erfährt das M o t i v auf eine Weise, die uns sozusagen v o m Bildnis-Motiv zum Galerie-Motiv führt. I n seiner 'Geschichte* ( O I I I 403—461) findet er i n des Jubilius Haus »in einem cabinett verschiedene Römische gemälde«, »unter denen sich eines m i r zeigte, das ganz und gar meiner Claudia ähnlich wäre.« ( O I I I 412) Thumelicus sieht das B i l d seiner Geliebten i n einer A r t v o n Galerie neben anderen Porträts. A n t o n Ulrich verdichtet i n dieser Szene modellhaft das ganze Problem dieser 'Geschichte':Thumelicus sieht i n dem Bilde Claudia, Jubilius aber Kaiser N e r o und ein Fremder eine pontische Schönheit (Pontischer Nero). Das Rätsel v o n Thumelicus' Leben läßt sich nämlich nur lösen, wenn man i n seinen vielen Begegnungen m i t >Claudia< den Partner abwechselnd als eine dieser drei Personen erkennt. Thumelicus glaubt stets Claudia zu treffen und deshalb v e r w i r r t ihn die Widersprüchlichkeit >ihrer< Forderungen an ihn. Eine V a r i a t i o n unseres Bildnis-Motivs verdichtet also i n einem Punkt des Erzählvorganges die Thematik seines Lebens. W i r erkennen sie als wichtige Gestaltungsform i m Übergang v o m Bildnis- zum Galerie-Motiv, dessen M o t i v - K e r n sich etwa so fassen ließe: E i n Liebhaber sammelt Porträts meist unter einem thematischen Aspekt. Dieser kann erotisch (Esaù), genealogisch (Mamellus) oder rein ästhetisch (hircanischer K a u f mann i n der 'Octavia') sein. Diese Porträt-Galerie w i r d v o n einer Romanperson oder einer bestimmten Gruppe i n einem oder mehrern dafür bestimmten Räumen betrachtet. Dabei ergeben sich über die Betrachtung hinaus meist Hinweise für den Leser über Handlungszusammenhänge oder heimliche Personenkonstellationen, besonders Liebesbeziehungen oder Abstammungslinien). H ä u f i g w i r d die Galerie audi nur äußerlicher Anlaß für das Erzählen der Lebensläufe dieser dargestellten Personen, die f i k t i v e Romanpersonen oder historische Persönlichkeiten sein können. W i r wollen einige Variationen dieses Motivs bei Lohenstein ('Arminius'), A n t o n Ulrich ('Aramena' und 'Octavia'), Beer ('Amandus') und Zesen ('Adriatische Rosemund') untersuchen. Gegensätzliche Strukturen erschließt die Darstellung des Galerie-Motivs bei Lohenstein und A n t o n Ulrich. I n Lohensteins enzyklopädischem Romanwerk bildet des »Ersten Theiles. Anderes Buch« auf rund hundert zweispaltigen Oktavseiten die erzählerische Fülle eines einzigen Tages 54 . Dieser glie84 Da ich im Augenblick die Originalausgabe des Jahres 1689 nicht bekommen kann, benütze ich eine spätere, auf die sich auch die Zitate beziehen: Daniel Caspers von Lohenstein Großmüthiger Feld=Herr Arminius oder Hermann . . . in Vier Theilen vor gestellet. Leipzig 1731.
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dert sich i n Morgen, Jagd am V o r m i t t a g und Mittagsmahl (77—96), die Besichtigung des Jagdhauses (96—165) und die abendliche Rückkehr zu Pferd (165—178). Die Erzählstruktur (103—178) beruht auf dem Galerie-Motiv: Die Jagdgesellschaft (Zeno, Malovend, Marcomir usw.) besichtigt nach dem M a h l einen Saal dieses Jagdhauses. »Umb den Saal herumb waren i n LebensGrösse z w ö l f f Helden gemahlet, derer Waffen genugsam andeuteten, daß es Deutsche waren.« (96) Natürlich sind diese z w ö l f Helden die Vorfahren der männlichen Titelfigur. Malovend k o m m t der Neugier der Betrachter entgegen und erzählt die Lebensgeschichten der Porträtierten i n K u r z f o r m , denn alle ihre Verdienste zu berichten, würde der Erzähler » z w ö l f f Monate« bedürffen (102). Die Gemäldegalerie gibt demnach den Anstoß zur weiteren epischen Gestaltung des erzählten Tages. Die Reihe der Porträts stellt dabei die Struktur der Erzählablaufs dar, d. h. rein additiv werden die Lebensgeschichten prominenter Habsburger i n ihren wesentlichen Zügen erzählt. A n ganz bestimmten Stellen aktiviert der Dichter die f i k t i v e n Zuhörer dazu, einen besonderen V o r f a l l rhetorisch ins Allgemeine zu erheben oder den konkreten Fall durch Beispielhäufungen als Normerfüllung zu deuten 5 5 . Zudem unterstützen diese Unterbrechungen die erzählerische Illusion. Die Ordnung der Galerie w i r d zur episch blassen Struktur der additiven Lebensabfolgen historischer A r t . Wie auch die sprachliche Form des Bezugs auf die Galerie-' Situation erweist 5 6 , dienen die Gemälde nur als A r t verschleiertes Inhaltsverzeichnis. U m die Illusion des Tagesablaufes, wenigstens als schwaches Gerüst zu wahren, unterbricht der Erzähler (164) das Gespräch der Jagdgesell-
55 »Rück-Sicht ist in unserem Text gewiß da, aber sie erfaßt nicht die Geschichte eines Menschen, sondern einzelne Fälle der Normerfüllung.« (Wolfgang Kayser, Entstehung und Krise des modernen Romans. Vierte Auflage, Stuttgart 1963, S. 11). 56 »Aus den Cheruscischen Hertzogen ist Hermion der erste, der zu dieser Würde kam, und auch hier in den Gemählden.« (103) — » . . . und Hertzog Mars, andere in diesen Gemählden, von fünf der wehlenden Fürsten zu solcher Würde erhoben.« (105) — »Denn es ward Hertzog Vandal oberster Feldherr, der dritte allhier in der Reihe.« (106) — »Diesem folgte in solcher Würde, fuhr Malovend fort, der hier in der vierten Stelle stehende Hertzog Ulsing...« (107) — »Daher schlug der fünfte Hertzog Alemann seinem Vater nicht nach.« (111). — »Es ist so wenig ohne Ursache geschehen, als dieser sechste Feldherr der große Marcomir gemahlet ist, daß er mit iedem Fusse auf einer Welt-Kugel stehet, und in ieder Hand eine Sonne trägt.« (124) — »Rhemetacles fragte hierauf: Ob sein Sohn Hippo der siebende unter den Gemählden, und folgender Feldherr gewest wäre?« (134) — »Dieser Klodomir, der adite in den Gemählden, ward erzogen in dem Hofe und Lager des grossen Marcomir.« (146) — Die Beispiele erweisen, daß der Bildbezug schon von der Sprachform her nur als Signal für die fortschreitende additive Reihung aufgefaßt wird (Ordnungszahlen). Die schlechte Einteilung Malovends — eigentlich ein Strukturprinzip Lohensteins — belegt das Uberwuchern der Haupthandlung durch die 'historisierenden* Lebensgeschichten der Habsburger. — »Als sie nun auf dem Rückwege begriffen waren, fuhr Malovend fort:...« (165—178) — Selbst der Ritt nach Deutschburg muß noch zwei Lebensgeschichten aufnehmen, zwei bleiben wegen ihrer Länge und Wichtigkeit für später aufgespart, (vgl. 165: »Ich habe meine versprochene Erzehlung übel eingeteilt, und idi bleibe noch die Geschichte dieser vier letzteren Feldherren schuldig. Zu der letzteren zweyen, nehmlich Aembrichs und Segimers, ungemeinen Zufällen bedinge ich mir einen besonderen Tag aus...«
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schaft i m Saal. E r sei durch die schlechte Einteilung seines Berichtes gezwungen, das Leben der beiden letzten Herrscher auf dem Rückritt z u erzählen, während er die beiden vorletzten wegen ihres Umfanges auf später verschieben müsse. Die Funktion unseres Motivs spiegelt sich i n Günther Müllers Charakterisierung dieses Werkes, das nach i h m »nicht eigentlich ein Roman i s t « 5 7 : » U n d die >Geschichte< des Arminius stellt eine A r t Rahmen dar für eine auf den ersten Blick verwirrende Fülle anderer, i n der Historie des M o r gen· und Abendlandes etwa gleichzeitig spielender >Geschichten< und für das Durchdisputieren des unerhört ausgebreiteten Wissens um die Weltwirklichkeit.« (21 f.) Wie die Galerie also nur als >Aufhängen für die Geschichten dient, so bildet das ablaufende Tagesschema nur den >Rahmen< für Lohensteins Fülle des Wissenswerten. Wenn man dieses Werk v o m Standpunkt epischer Konzentration auch oft abwertet, darf die »Disputation« als »Grundform des Aufbaus« (21) nicht unbeachtet bleiben. Die Strukturgesetze dieses Romans sind eben i n einem anderen Sinne barock als etwa diejenigen der Romane A n t o n Ulrichs. Dieser Dichter gestaltet das Galerie-Motiv i n seinem Roman 'Aramena' zu Beginn des zweiten Bandes. Der auffälligste Unterschied i m Vergleich zur Lohensteinschen Darstellung ist aber der äußere Umfang. Lohenstein verwendet es als beiläufiges Additionsschema für fast 80 Großoktavseiten, während es A n t o n Ulrich i n acht Duodezseiten verdichtet. Dem Schema v o n 12 Helden bei Lohenstein steht bei A n t o n Ulrich eine Ballung v o n über 100 Porträts gegenüber, die allerdings auch hier nur genannt, nicht eigentlich beschrieben werden. Lohensteins Porträts sind Bilder historischer Persönlichkeiten: sie dienen i n und außerhalb des Werkes dem Herrscherlob der Habsburger. A n t o n Ulrichs Porträts dagegen sind die Bildnisse fiktiver Romanpersonen. Er gestaltet i n seiner Gemäldegalerie das genealogische Schema der verwirrenden Personen- und damit Handlungskonstellation des ganzen Romans 5 8 . Dieses steht nicht zufällig als Ruhepunkt am Beginn des zweiten Bandes: es kommt hier als erzählerisch integrierter Überblick dem ratlosen Leser zu H i l f e ; 660 Erzählseiten rätselhafter Vorgänge und geheimnisvoller Beziehungen haben i h n schon verwirrt. M a n könnte diese spezielle Gestaltung des Motivs v o n ihrer Position i m Romanganzen her als umfassenden Abschluß der Exposition sehen: der Dichter offeriert dem Leser einen knappen Katalog der Personenfülle seines Werkes. Ähnlich Lohenstein unterbricht auch A n t o n Ulrich die Gemäldeschau durch bestimmte Gespräche bestimmter Betrachter über bestimmte Porträts. Dem Leser erscheinen diese Gespräche funktional richtig als epische Vorausdeutungen. Diese Beobachtungen lassen uns bereits eine wiederkehrende Teilstruktur als Aufbauelement von A n t o n Ulrichs Gestaltungsform dieses Motivs erkennen: a) Beschreibung eines ge57 Günther Müller, Barockromane und Barockroman, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 4. Band (1929), S. 23. 58 Die Stelle wirkt wie eine Veranschaulichung von Horazens ut pictura poesis!
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nealogischen Ausschnittes aus einem stammbaumartigen System; b) A k t i v i e rung einiger Betrachter zu einem Gespräch oder z u Gedanken über ein bestimmtes Porträt. Dieses w i r d hiebei meist unter dem Aspekt der >gleichheit< zu einer f i k t i v e n Romanperson i n Beziehung gesetzt. Eine Textstelle soll ein solches Aufbauelement als Beispiel veranschaulichen: Zur rechten hand / stunden die verwandten des Mamellus: unter denen der erste vorbildete / den alten Assyrischen König Baleus Xerxes / als den großvater des Mamellus. Diesem folgeten seine kinder / als erstlich / sein ältester söhn Armatrides / König von Assyrien / dessen gemalin Jetura aus Meden / und dann ihre vier kinder / als der Prinz Xerxes / der ietzige König von Assyrien Belochus / als vatter der schönen Königin von Ninive / die Königin Atis / des Beors gemalin/ und die Königin Delbois von Tyro. Nach diesem stunde der zweite söhn des Königs Baleus Xerxes / der Arius König von Ninive / mit seiner gemalin / der schönen Sambethis aus Armenien / und ihren beiden töditern / der Naphtis / frau Mutter der Königin von Ninive / und der wunderschönen Philominde / der unglücklichen Königin von Syrien. Jederman konte eine grosse gleichheit finden/ zwischen dieser schönen Philominde und der Königin von Ninive / massen sie ihr viel ähnlicher war / als ihrer eigenen frau Mutter: dannenhero die ganze gesellsdiaft bei diesem bild länger als bei allen den andern sich aufhielte / und konten sie sich nicht genug an diesem wunderbild ergetzen. (A I I 1—2) Das stammbaumartig Katalogisierende der Personen-Nennung unterstreicht die Sprachform: Name, verwandtschaftliche Beziehung ( A b k u n f t und Heirat) fürstlicher T i t e l und eine — meist attributive Wertung des Erzählers (wunderschöne Philominde — der unglücklichen K ö n i g i n v o n Syrien) bilden dieses Stilphänomen. Die A k t i v i e r u n g der Betrachter unterbricht immer wieder diesen Adelskatalog u n d erweckt i m Leser die Illusion der epischen Situation, nämlich der Wanderung bestimmter Personen durch die Gemäldegalerie eines Schlosses. Den gedanklichen Bezug auf ein Porträt bietet uns obiges Z i t a t , und zwar m i t Betonung der Hierarchie: Delbois ist die Titelheldin. D i e auffallende Ähnlichkeit m i t ihrer Tante Philominde scheint aus dem K o n t e x t eine beiläufige Bemerkung des Erzählers zu sein. V o m Romanschluß her aber erweist sie sich als zentrale Vorausdeutung: Philominde ist i n Wahrheit die M u t t e r der Delbois und diese damit die syrische Erbprinzessin. Das weiß hier weder der Leser noch die persönlich Betroffene, denn diese Gedanken und Vermutungen widersprechen den jeweiligen >Ausschnittenc i n dieser Phase 50 . Sie verdichten sich jedoch i n ganz bestimmter Richtung, wenn weiter Aramenes v o n Syrien hervorgehoben w i r d , den Belochus v o n Assyrien überwand und tötete. Delbois (unwissend seine Tochter) bedauert (als die Tochter seines Feindes Belochus) seinen Untergang durch ihr Haus. Dieses Porträt w i r d zudem durch ein äußerst wichtiges Gespräch zwischen >Dison< und >Aramena< aufgewertet: 59 Auch des Mamellus Ordnungsprinzip dieses genealogischen Systems entspricht seinem und dem »Ausschnitte des Leser zu diesem Zeitpunkt des Erzählablaufes, nicht aber der Wirklichkeitstotalität des Romanschlusses.
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Bei ihm stunde Ziparis seine gemalin / des Königs Baleus Xerxes von Assyrien tochter / und dann ihr unglückhafter söhn / Aramenes / der andere und lezte König in Syrien. Dieser zöge von neuem aller äugen auf sich / und kunte die Königin nicht umhin / zu seufzen / wann sie dieses Königs geschicke bedachte: worbei sie gleichsam eine schäm blicken Hesse / daß ihr haus den Untergang dieses edlen Königs verursachen müssen. Aramena / die dem Dison zur seiten gienge / sagte zu ihm / indem sie diesen König sämtlich betrachteten: Ich finde solche gleichheit zwischen diesem König Aramenes / und einem bilde / das mir mehr als lieb gewesen / daß ich daher ihn nicht gnug ansehen und betrachten kan. Findet dann meine Aramena (fragte der schöne Dison /) keine gleichheit zwischen diesem König und mir? In der warheit / (antwortete Aramena / sich etwas bestürzet zeigend) ich muß es gestehen / werde auch daher / nach unsers Chaldeers profezeiung / meiner gebieterin so viel fleissiger aufwarten / darzu mich diese erkente gleichheit mehrers antreibet. Ich aber / (sagte Dison hinwieder) muß mich billig beschweren / daß mein aufwärter bis ietzo meine gestalt so wenig in acht genommen / daß ich es ihme selber erstlich sagen müssen. Wie nun Aramena sich entschuldiget / giengen sie in dergleichen scherzreden fürter / zu des Nahors / viertem söhn / dem Chesed . . . (A I I 3—4). Die beiden Gesprächspartner sind uns bereits aus der Untersuchung des Bildnis-Motivs bekannt (vgl. S. 107 ff. dieser Arbeit), die uns auch schon die chiastische Verkleidung der beiden enthüllte: >Dison< ist Aramena, >Aramena< ist Dison. Die zweite Gleichung erfährt der Leser jedoch erst später ( A I I 16). D i e Gleichheit erweist sich erneut als epische Vorausdeutung: Aramena ist der Delbois Schwester und die jüngste Tochter des Aramenes von Syrien und der Philominde. Sie ist zudem noch das U r b i l d von >Aramenas< Dianenstatue: der verkleidete Dison spricht also m i t dem U r b i l d seines Liebesporträts. Auch für den Leser handelt es sich dabei um offenbar unsinnige und rätselhafte Anspielungen, die sich i n der Folge des weiteren Erzählablaufes aber als ernstzunehmende epische Vorverweise ergeben. So integriert A n t o n Ulrich das Galerie-Motiv wirksam ins epische Gefüge seines Romans: die das Stammbaum-Schema unterbrechenden Gedanken und Gespräche nehmen als scheinbar spielerische Andeutungen wichtige Bezüge der Romanwirklichkeit des Schlusses vorweg. D a m i t w i r k t so eine Stelle wie eine kompositorische Gegenbewegung zu den weit i n die fiktive Vorzeit ausholenden Lebensgeschichten; außerdem steht sie als statisches Element den strukturell dynamischen der Ereignisphasen gegenüber. Der bildhaften Genealogie der Vorgeneration (von den i n der f i k t i v e n Gegenwart handelnden Personen aus gesehen) folgt i n einem Nebenraum noch eine Gruppe v o n z w ö l f Bildnissen, deren mindere künstlerische Qualität i n Analogie zu ihrer minderen Bedeutsamkeit i m Handlungsgefüge steht. I n einem letzten Raum finden sich dann die wichtigsten Personen der eigentlichen Romangeneration. V o n des Mamellus Sicht aus ( = Vorgeneration) handelt es sich dabei um Kinderbilder, die wieder seinem >Ausschnitt< gemäß teils genealogisch falsch geordnet sind. Viele der Dargestellten sind unter den Besuchern, was für den Erzähler die Möglichkeit v o n Anspielung
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und Scherz (etwa i m Falle Ahalibamas) variierend erweitert. Besonders die Beziehung zwischen Delbois und Abimelech und beider verschleierte H e r k u n f t w i r d hier wahrhaft vorgegeben: Folgende Stellen verdichten sich i n dieser Aussage, und zwar weit über die gefühlsmäßigen Mitleidsbezeigungen der Delbois für Aramenes hinaus: » . . . alsdenn die K ö n i g i n Philistina / des Aramenes erste gemahlin / die v o n der K ö n i g i n m i t sonderbarer aufmerkung betrachtet wurde / weil sie dieselbe einer person ähnlich fände / welche sie sehr liebete.« ( A I I 7) » u n d . . . das folgende Aramenes / Prinz v o n Syrien: welches die K ö n i g i n so holdselig befunde / daß sie sich selbiges zu küssen nicht entbrechen kunte.« ( A I I 8) Delbois liebt Abimelech, den vermeintlichen Königssohn der Philister. I n Wahrheit ist er jedoch Sohn des Aramenes v o n Syrien und der Philistina. So spricht das wichtige Moment der Ähnlichkeit bei Delbois' Geliebtem für (seine wahre Mutter) Philistina. Der spontane K u ß aufs K i n d e r b i l d der gleichen Person (hier jedoch w i r k l i c h A b b i l d v o n Aramenes dem Jüngeren = Abimelech) bestätigt das bedeutsame Moment der Gleichheit. A l l e diese Anspielungen und Andeutungen sind primär für den Leser gedacht: Als Delbois ihre Freundin Ahalibama nach dem Verbleib der chaldäischen Aramena fragt, steht diese als verkleideter >Dison< daneben: was dem Leser v ö l l i g bekannt ist. So ein Hinweis muß aber seine Aufmerksamkeit und seine Kombinierlust erregen. D a m i t w i r d er wachsam für alle Formen v o n Anspielung und scheinbar rätselhafter Beobachtung. Die ungeheure Konzentration dieses Motivs auf knappstem Raum und die scheinbar harmlose Auflockerung durch Gedanke und Gespräch der Betrachter erweist einmal A n t o n Ulrichs epische K r a f t und strukturelle A n v e r w a n d l u n g eines traditionellen Motivs. Abschließend faßt die Frage der K ö n i g i n das GalerieM o t i v zusammen: » U n d wie w a r es immer möglich / die vergangene Welt also i n eine Kammer zusammen zu bringen?« ( A I I 9) Die »vergangene weit« ist die Vorzeit des Romangeschehens und i n ihren menschlichen Beziehungen der ursächliche Boden für die jetzige Haupthandlung. Die Genealogie faßt als gewissermaßen gewaltiger Rückverweis dies alles zusammen, während die Gespräche die wahren Zustände des Romanschlusses scheinbar spielerisch und unglaubhaft als Vorausdeutung aufblitzen lassen. Sie vermitteln dem Leser Richtlinien ins kommende Gewirr der epischen Welt und dienen dem Enthüllungsprozeß als wesentlicher Absicht dieses Erzählens. Neben solch grundsätzlichen Gestaltungsformen bei Lohenstein und A n t o n Ulrich seien aus den Romanen des letzteren noch einige interessante Spielformen des Galerie-Motivs kurz erörtert. W i r beginnen m i t einer Variation i n 'Esaus Geschichte' aus der 'Aramena' ( A I 638—641): Er bauete hierauf in Edom / die Stadt Bazra / und zierete sein schloß mit einer sonderlichen erfindung: indem er die bildnissen aller der jenigen / die er jemals geliebet / mit großer mühe zusammen brachte / und einen grossen saal damit be-
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hängte. Ich muß aber dieses etwas umständlicher beschreiben: weil dadurch nachgehende viel ungelegenheit / und dieser jetziger krieg / guten teils verursachet worden. (A I 638) Fürst Esaù von Edom hat sich eine private Galerie m i t Bildnissen aller seiner Geliebten angeschafft, i n der sich modellhaft die »Buhlerei« als Thema seiner Geschichte verdichtet. Die Gemälde sind eher Szenen, als eigentlich Porträts u n d veranschaulichen a) entweder den Augenblick des Liebesbeginns zu einer von Esaus Frauen (Ada, Judith, Mahalaath) oder das Ende seiner Liebe (bei allen anderen). E i n Zweizeiler unter jedem B i l d deutet die Situat i o n i n geschliffener R h e t o r i k 6 0 . Die statische Funktion dieser Galerie besteht i n einem gewissen Erinnerungsmoment für den Leser, das i h m die Stationen und Wechselfälle dieser turbulenten Geschichte nochmals zusammenfaßt: Bildsituation und Zweizeiler wiederholen szenisch und deuten epigrammatisch. Die zweite Funktion ist eine dynamische, die als Impuls i n die Handlungsstruktur weist. Die Fürsten von Seir geraten aus Versehen eines Dieners i n Esaus Galerie. D a m i t t r i t t sie aus dem Bereich privater Lebensgestaltung i n den öffentlicher Bedeutsamkeit. Z u r größten Überraschung findet so A n a von Seir das B i l d seiner Frau Poliphide hier hängen, und A r a n empört sich als ehemaliger Bräutigam der Mahalaath über deren Darstell u n g 6 1 . Sie rauben Poliphides Bildnis und ändern die Zweizeiler unter dem der Timna und Mahalaath. Als Esaù sein Eigentum wieder haben w i l l , k o m m t es zum Krieg. I n dessen Verlaufe ist Esaù gezwungen, bei Delbois um m i l i tärische H i l f e zu bitten: D a m i t gerät er i n die Haupthandlung. Das Galer i e - M o t i v bildet also den Anstoß zu einer Verfugung v o n Lebensgeschichte und Haupthandlung. I n t i m i t ä t der Liebesgalerie und charakterisierende Zweizeiler prägen diese Variation unseres Motivs. Zudem stellen die zum B i l d gewordenen Szenen Überschneidungspunkte m i t anderen Lebensgeschichten dar: so kommt dem M o t i v strukturelle Bedeutsamkeit weit über den Rahmen der eigentlichen >Geschichte< hinaus zu. Eine andere Form einer szenischen Galerie, die sich aus bestimmten Situations-Gemälden zu einer Lebensfolge zusammenfügt 6 2 , findet sich i n A n 60 Als Beispiele möchte ich einige dieser Zweizeiler zitieren: »Eglone: Du gäbest / daß du nämst / was mir nicht mehr gebürt. / So ward ich / von der lieb / zur lieben hingefürt.«(A I 640). Eglone entzog sich Esaus Werbung, indem sie Abimelech den Älteren heiratete. Sie führte ihm seine Frau Judith zu. — »Timna: Meiner ersten liebe frucht / macht unfruchtbar mein beginnen. Was dem vatter war vermeint / liessest du den söhn gewinnen.« Eliphas, der Sohn Esaus, entführt Timna und entzieht sie damit der Werbung seines Vaters. 61 Anton Ulrich motiviert natürlich alle diese Vorgänge bis ins kleinste durch: ihre Darstellung muß nur der Kürze halber hier wegfallen. Zum Beispiel konnte Poliphide von diesem Vorfall im Bade ihrem Manne Ana nichts berichten, weil sie durch einen Eid gebunden war. — Bei diesem >Belauschen im Bade< handelt es sich um eine weitere Variation dieses >Liebeserregungs-Motivs< wie folgende Konstellation in Stith Thompsons 'Motif-Index' beweist: »Man falls in love with woman he sees bathing« (Volume V, S. 335, T. 16). 62 In diesem Zusammenhang möchte ich auf die antike Tradition der Bilderzyklen verweisen: »In der griechischen Kunst haben Bilderzyklen erzählenden
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ton Ulrichs Octavia* als Darstellung von Kaiser Neros Lebenslauf i n sechs markanten Bildern ( Ο I V a 575—579). A u f der Überfahrt nach Albingaun u m erzählt Dorpaneus Anses der ganzen Reisegesellschaft das böse Exempel des »Domitianus« ( Ο I V a 537—570), das mehrmals v o m Erzähler m i t Neros Leben verglichen w i r d . K u r z darauf findet diese Gesellschaft auf einem Landgut sechs Fresco-Bilder, die als mythologische Darstellungen durch Gedichtunterschriften auf Nero bezogen werden. Die allegorische Deutung verwendet A n t o n Ulrich i n seinen Romanen selten, am ehesten n o d i i n lyrischen oder dramatischen Einschiiben. Dadurch t r i t t diese Gestaltungsform des M o t i v s auch etwas aus der sonst üblichen starken epischen Integration aller Teile. Seine F u n k t i o n sehe ich i n der Zusammenfassung des Nero-Themas der Grausamkeit und i m Ausbilden eines Ruhepunktes v o r dem plötzlichen Mordüberfall ( Ο I V a 579 ff.). Die Variation von der U n kenntlichkeit des fünften Bildes aufgrund v o n Witterungseinflüssen widerstrebt einer weiteren Interpretation. Kompositorische Funktion über dasGesagte hinaus scheint dieser Gestaltungsform unseres Galerie-Motivs nicht zu eignen. Der Lebenslauf der Prinzessin Engilmundis i n z w ö l f Bildern ( Ο I V b 337 bis 340) ist dagegen wieder intensiv i n das epische Strukturgefüge des Romans eingebunden. Octavia (!) entdeckt i m Kabinett eines Landhauses diese Galerie und die zufällig (!) dazukommende Orgalla erklärt die szenischen Stationen eines Lebenslaufes. Die Höhepunkte dieser Lebenskurve zweier Liebender (Engilmundis und Lysomorus) entsprechen den Bildern unter dem thematischen Aspekt tragischen Verzichts und ewiger Treue. Nach traditionellem Schema rettet Lysomorus seiner Geliebten zweimal das Leben: B i l d 2 (vor den Klauen eines wütenden Tigers) und B i l d 11 (bei Neros Brand von Rom). Beide Male w i r d er schwerstens verwundet: das erste M a l verliert er seine Männlichkeit und damit jegliche H o f f n u n g auf die Ehe m i t der Geliebten, das zweite M a l erliegt er seinen Brandwunden. Das weitere Schicksal der beiden Liebenden nach der ersten Lebensrettung w i r d v o m Nebenbuhler beeinflußt, der Engilmundis' Flucht nach R o m bewirkt. Lysomorus folgt i h r und verzichtet aus Liebe auf eine Krone. Zusammenfassend lassen sich die turbulenten Szenen etwa thematisch so als Handlungsmodell begreifen: Der Liebesdienst verhindert tragischerweise die Liebeserfüllung und bew i r k t als Wiederholung später den T o d des Geliebten. Seiner Impotenz entspricht ihr Gelübde der Jungfräulichkeit als Ceres-Priesterin: die treue Liebe
Charakter oder verbinden die Bilder nach poetisch-mythologischen Analogien, in der Römerzeit dienen sie, ähnlich den Gegenstücken, ideellen Programmen.« (Lexikon der Alten Welt. Zürich und Stuttgart 1965, Sp. 466). — Auf diese Tradition bezogen erscheint >Neros Lebenslauf in Bildern< sowohl dem erzählenden Charakter als auch der mythologischen Analogie gleichzeitig zuzugehören, während der >Lebenslauf der Engilmundis< rein erzählenden Charakter hat. Kommt ihm vielleicht darüberhinaus auch die Tendenz zu, ein ideelles Programm zu verkünden: Beständige Treue reiner Liebe unter dem Verzicht auf Liebesgenuß?
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ist damit v ö l l i g entsinnlicht und w i r d über die Liebeserfüllung hinaus idealisiert. Freundschaft, Liebeshilfe, Flucht und Untergang v o n Engilmundis' Bruder kontrapunktieren die erregende Liebeskurve der beiden Zentralgestalten. Diese modellhafte Struktur der Lebensgeschichte i n Bildern erleichtert dem Erzähler auch ihre thematisch-kompositorische Einbindung ins Gesamtgefüge, was schon durch die Person bzw. die Bildinterpretin Orgalla unterstützt w i r d . Orgalla w a r nämlich vorher die Erzählerin der Geschichte des 'Galgacus und der Vestalin Rubria' ( Ο I V a 26—120). Lysomorus und Engilmundis spielen darin bereits eine wichtige Rolle. Engilmundis, die sich wie Rubria i m Tempel befindet, ist des Galgacus Base. Uber die genealogische Beziehung hinaus stellt die Liebe des Prinzen Lysomorus zur CeresPriesterin Engilmundis eine deutliche Parallle zur Liebe des Prinzen Galgacus zur Vestalin Rubria dar. Das erste Paar w i r d i n der Geschichte des zweiten funktional als Vermittler aktiviert und integriert (vgl. dazu vor allem Ο I V a 88—92, 108—112). Das Ende dieser Geschichte deutet bereits auf die Geschicke des zweiten Paares voraus, die i m Ablauf der Erzählung allerdings erst 988 Seiten später folgen. Dieser Verweis ist nicht als Spannungsbogen zu werten. Die Geschichte v o n Lysomorus und Engilmundis w i r k t durch die z w ö l f Bilder intensiv geballt, wodurch w o h l die Details vollständig fehlen und damit natürlich auch die Möglichkeit, andere Personen z u aktivieren und Querverbindungen zu schaffen. Die Hauptgestalten hat der Dichter bereits früher eingeführt: hier geht es i h m offensichtlich nur u m die modellhafte Verdichtung dieser tragischen Liebe, die v o n der Gestaltungsform unseres Galerie-Motivs i n pointierter Form geleistet w i r d . Auch P h i l i p p v o n Zesen gestaltet das Galerie-Motiv i n seinem Roman Adriatische Rosemund' (Amsterdam 1645), dem aufgrund individualistischer Tendenz innerhalb des höfischen Romans eine Sonderstellung zuzubilligen ist. Zesen hat dabei das M o t i v i n eine Interieurbeschreibung umgewandelt. Durch seine Übersetzertätigkeit steht er der französischen Romantradition nahe 6 3 , wie besonders die Gemäldebeschreibung als vordringliches Gestaltungsphänomen unseres Motivs erweist. Körnchen 6 4 wies schon sehr früh f
®3 Zesen begegnete dem Galerie-Motiv bereits bei seiner Übertragung von Madeleine de Scudérys 'Ibrahim ou l'illustre Bassa' (Amsterdam 1945) unter dem Titel 'Ibrahim's oder des Durchleuchtigen Bassa und der Beständigen Isabellen Wunder = Geschichte, durch Fil. Zaesien von Fuerstenau'. In diesem Roman hängen in einem Zimmer von Justinians Schloß in Konstantinopel die Bilder der türkischen Großherren von Ottoman I. bis Soliman. Seinem Freund Doria erzählt Justinian anhand dieser Herrschergemälde in Kurzfassung die Geschichte der Sultane. — Die Ähnlichkeit dieses Motivs mit Lohensteins habsburgischen Vorfahren seines Titelhelden Herrmann und mit Neros bildhaftem Lebenslauf in der 'Octavia', der m. E. allerdings wesentlich anders ist (siehe S. 121 f. dieser Arbeit), erkannte schon Leo CholeviuSy Die bedeutendsten deutschen Romane des 17. Jahrhunderts, Leipzig 1866, Reprograf. Nachdruck Darmstadt 1965, S. 41 f. 84 Hans Körnchen, Zesens Romane. Ein Beitrag zur Geschichte des Romans im 17. Jahrhundert, Berlin 1912, S. 89 ( = Palaestra 115): »Beschreibungen von Schlössern, Bildern usw. sind geradezu ein Erbteil des sophistischen Romans, . .
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darauf hin, daß sie auch bei Madeleine de Scudéry häufig vorkommt. D o r t finden sich auch schon charakteristische Unterschriften wie bei A n t o n Ulrich. Die für unser Thema interessante Stelle findet sich i n Zesens Roman innerhalb der von M a r k h o l d selbst erzählten Vorgeschichte seiner Liebe zur Titelheldin. I m Hause des reichen Venetianers Sünnebald beschreibt er dabei den Raum von Rosemundens Freundin Adelmunde. Das ist aber kein beliebiger Raum, sondern eben jener, i n dem Markholds und Rosemunds erste Begegnung und Verliebung stattfand. Der sprachliche Bezug auf diesen Vorgang rahmt die Beschreibung durch die Wiederholung der Kernwörter: »wal-stat« (46) und »die wal-stat unserer niderlage« (51). Diesem sehr persönlichen Raum w i r d nun durch eine Fülle meist allegorisch-mythologischer Bilder eine edit barocke Bedeutsamkeit verliehen. E i n riesiges Deckengemälde v o n Heldreich (Mars), Liebinne (Venus) und Gluhtfang (Vulcanus) zeigt die beiden Liebenden i m Netze des eifersüchtigen Ehemannes. Dabei w i r d der eigentlichen Gemäldebeschreibung bei Zesen besonderes Augenmerk geschenkt. D i e Beurteilung des begeisterten Betrachters w i r d vielfach erwähnt. D a n n folgen zwei Sinnbilder m i t einem holländischen Gedicht, einem Epigramm und einem sentenzartigen Spruch. Weiter: ein großes N e p t u n - B i l d m i t einem Spruch, die »Umgestaltung des Weidmannes beim Bade der Jagd-jungfrauen« m i t einem Epigramm und die Geburt der Lustinne m i t einem lateinischen und einem deutschen Gedicht usw. Jedes einzelne B i l d w i r d i n genauer Beschreibung gewürdigt, die charakterisierenden Sprüche, Epigramme und Gedichte werden i n vollem W o r t l a u t wiedergegeben. Als Schmuck der »Walstat ihrer Liebesniederlage« genommen ordnet sich auch diese Gestaltungsform, v o r allem wenn man noch Zesens Vorliebe für Interieurschilderung dazunimmt, seinem künstlerischen Wollen zwanglos ein. Diese gleichzeitig subjektive und doch traditionelle Ausgestaltung des Raums der ersten Begegnung gehört Zesens H a n g zum Preziösen i n seinem Stilwollen zu: Sie stellt eine raffinierte Überhöhung der subjektiven Liebesbegegnung ins A l l gemeine dar. Als entsprechenden Ausdruck dieses Allgemeinen w ä h l t Zesen i m Sinne seiner Zeit die mythologische Allegorisierung durch Gemälde 8 5 . E i n letztes Beispiel aus dem Bereich des nichthöfischen Romans scheint dem E n t w u r f Lohensteins nahezustehen, der >historische< Herrscher-Viten gestaltete. Johann Beer integriert i n des 'Jucundi Jucundissimi Lébensbeschreibung' (1680) zwei »Größen des Geistesc i n offensichtlicher Aktualisierung. Der Ich-Erzähler reist i m Gefolge seiner Edelfrau auf ein benachbartes Schloß zu einer Festlichkeit. D o r t bittet er einen Diener, i h m doch die Räumlichkeiten dieses Bauwerkes zu zeigen. Diese Besichtigung steigert sich i n ihrem weiteren Verlauf z u einer burlesken Beer-Szene: die beiden über65 Inwieweit hier die antike Tradition der >Gegenstücke< literarische Gestalt gewonnen hat, läßt sich schwer sagen. In gewisser Art erinnert diese Beschreibung jedoch an diese Form der Gegenüberstellung mythologisdier Szenen als Sinnbilder, die in der römischen Kunst dann einem gedanklichen Programm untergeordnet wurden. (Vgl. dazu: Lexikon der Alten Welt, Zürich und Stuttgart 1965, Sp. 1032).
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raschen und erschrecken die Tochter des Schloßbesitzers i m Bett, können aber durch rasche Flucht unerkannt bleiben. Bei der Führung gelangen die beiden durch mehrere Prunkräume und eine Galerie, die erzählerisch nicht weiter verwertet w i r d . I n einem Raum finden sie plötzlich zwei Porträts, die nicht f i k t i v e Romanpersonen, sondern historische Persönlichkeiten darstellen. » . . . dieses ist das Bildnis des sehr gelehrten und gepriesenen Caramuel«. »Dieses aber ist die Contrafactur eines gleichfalls gelehrten Mannes, und zwar des Jesuiten Arriagae« (89) β β . Die beiden Bilder veranlassen den Erzähler nun, Anekdotisches aus dem Leben dieser beiden Theologen zu erzählen. I n einer kurzen Szene läßt er sie gegeneinander disputieren, zum großen Schaden des Jesuiten. Das Galerie-Motiv erweist sich hier als A u f hänger für Beers Lust zur fabulierenden Episode, die v o n einem W i d e r w i l l e n des protestantischen Dichters gegen die Jesuiten aktuellen Anstoß empfangen haben mag. Eine Einbindung i n das lockere Strukturgefüge dieses K u r z romans erfolgt nicht: die Funktion ist die satirische Absicht! Das GalerieM o t i v als H ä u f u n g v o n Bildnissen steht i n engem Zusammenhang m i t unserem Bildnis-Motiv. Seine speziellen Gestaltungsformen bei Lohenstein, A n ton Ulrich, Zesen und Beer wiesen jeweils i n die entsprechende Romanstruktur. Bei A n t o n Ulrich überrascht — wie beim Bildnis-Motiv — der variierende Reichtum der epischen A n Verwandlung: stammbaumartige Gemäldegalerie der f i k t i v e n Romanpersonen und verknappte Lebensgeschichte i n erzählenden Bildern stellen die besonderen Gestaltungsformen dar. Daß gerade i h m besonderer Rang bei der epischen Integration eines traditionellen M o t i v s zukommt, mag ein letztes Beispiel erweisen; es findet sich i n der 'Geschichte des Julius Sabinus und der Epponilla' ( O I I I 39—117) i n der 'Octavia*. Julius Sabinus liebt die Gugerner Prinzessin Epponilla, der jedoch v o n ihrem Vater Prinz Antenor zugedacht ist, den sie nicht liebt. Als sich Julius Sabinus am Hofe des Gugerner Königs nicht mehr aufhalten darf, reist er verkleidet dorthin, u m seine Geliebte zu sprechen. N u n beginnt A n t o n Ulrichs Gestaltung des Bildnis-Motivs: Mein vorsatz ware nun / sie zu sprechen: worzu ich durch erwehnten mahler gelangte / der von dem Aneus Seneca aus Rom abgeschicket war / die Bildniße von allen Schönheiten in Gallien und Teutschland zusammen zu bringen / und ihme zuzuschicken / die er / als ein liebhaber seltener Sachen / in seinem Cabinet aufbewahren wolte 67 . Dieserwegen muste auch Epponilla sich abmahlen lassen: und 60 Die Zitate beziehen sich auf folgende Ausgabe: Johann Beer, Das Narrenspital sowie Jucundi Jucundissimi Wunderliche Lebens-Beschreibung. Mit einem Essay 'Zum Verständnis der Werke' und einer Bibliographie neu herausgegeben von Richard Alewyn, Hamburg 1957 ( = Rowohlts Klassiker der Literatur und Wissenschaft 9). 67 Integration des Galerie-Motivs in ähnlicher Form wie bei des Tyridates Flora-Bild. Auch diese Galerie ist der Auftrag eines Liebhabers an einen Maler, ihm alle Schönheiten eines gewissen geographischen Bereiches in Porträts zu sammeln.
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dienete ich dem mahler für einen gesellen / ihm die färben zuzurichten / und sein gerähte in der Prinzessin kammer auf- und abzutragen. Nun hatte sie einsmals meines herrvattern / wie audi meines verstorbenen bruders / bildniße aus ihrer fraumutter gemach in die mahlerstube bringen lassen / und stunde bei demselben / als ich etwas zeitiger als mein meister ankame / die färben zuzurichten. . . . Sie fragte mich gleidi / ob ich auch mahlen könte? Als ich solches bejahet / sagte sie ferner: Ey wolan / so verfertigt mir doch ein bildnis / das diesen beiden änlich sehe / und zwar / daß es die Augen des einen / die nase und den mund aber von dem andern überkommen mögen. Verfertigt es in eurem hause / und sagt niemand davon / wer es bei euch bestellt / oder was es sonst zu bedeuten habe 6 8 ... Beides erfreute mich herzlich / meiner liebe wegen. Dann aus der Prinzessin ihrem begehren konte ich anders nichts schließen / als daß sie mein bildnis auf die art zu bekommen trachtete: maßen die gleichheit der äugen / die ich mit meinem vatter habe / und die nase und mund / mit denen ich meinem bruder ähnlich bin / mir solches kund thäten. Sie hatte auch / in voriger zeit / da ich mit ihr verlobt gewesen / wegen ermangelung eines mahlers / mein bildnis nicht bekommen können / worüber sie sich oftmals gegen mir beschweret69 (O I I I 78—80). Der römische M a l e r 7 0 hat einen Gesellen, der auch durch diese Verkleidung seine Identität verbirgt. Julius Sabinus und der Leser ahnen i n i h m nicht den Nebenbuhler Julius Vindex, der unbedingt Epponilla seine Liebe gestehen möchte. Als Julius Sabinus sich m i t seinem A u f t r a g nun i h m anver68 Reizvolle Variation des Bildnis-Motivs. Die Geliebte gibt in Ermangelung des Urbildes den Auftrag, das Bildnis des Geliebten aus Verwandten-Porträts nach dem Prinzip der >gleichheit< zusammenzukomponieren: Konstruktion aus Teilen! 69 Dieser eigentlich negative Bezug auf unser Bildnis-Motiv erweist Anton Ulrichs subtile Motivation. Auch das Fehlen des Bildes als längst fälliges Eigentum der Geliebten wird erklärt. Daraus erkennen wir das Faktum des Bildnisses zwischen Verliebten (vor allem in der Einstellung des zeitgenössischen Lesers!) als übliche aristokratische Gewohnheit. Daß sich im Jahrhundert der Repräsentation dahinter mehr verbarg als die heutige Funktion von Photos zweier Liebender, dürfte folgender Beleg aus Anton Ulrichs direktem Lebensbereich in besonderer Weise illustrieren (es handelt sich bei Elisabeth immerhin um des Herzogs Enkelin!): »Am 18. August stellt König Karl zu Barcelona, in Gegenwart des Hofstaates, das Bildniß Elisabeths in seinem >Retirada-Zimmer< auf. Er erklärt sie damit öffentlich zu seiner Braut, feiert den Tag durch Festlichkeiten und Gnadenerteilungen, und sendet den Kammerherrn Grafen von Galves, als außerordentlichen Abgeordneten nach Wien, daß er im Namen seines Königs nochmals um Elisabeth werbe, und ihr des Königs Portrait überrreiche. Das letzte geschah am 16. Oktober (1707)«. (Wilhelm Hoeck: Anton Ulrich und Elisabeth Christine von Braunschweig-LüneburgWolfenbüttel. Eine durch archivalische Dokumente begründete Darstellung ihres Übertritts zur römischen Kirche. Wolfenbüttel 1845, S. 203 f.) — Innerhalb dieses diplomatischen Unternehmens spielten die Porträts der zu Vermählenden eine hervorragende Rolle; das Bild kann sogar bei einer Verlobung die Stelle der abwesenden Verlobten offiziell vertreten. 70 Das Auftreten solcher nichtadeliger Personen im höfischen Roman bahnt sich wohl unter französischem Einfluß schon bei Andreas Heinrich Budioltz an, wie Walter Ernst Schäfer kürzlich aufzeigen konnte: »Wie Camus so stellt auch Budioltz neben das vorwiegend fürstlich-adlige Personal seiner beiden Romane Personen mittleren und niederen Standes, zum Beispiel Räte, Ärzte, Kaufleute, aber auch Wirte, Schneider und gelegentlich einen Kunstmaler.« (Walter Ernst Schäfer, Hinweg nun Amadis und deinesgleichen Grillen! Die Polemik gegen den Roman im 17. Jahrhundert, in: GRM N. F. 15 (1956), S. 373. — Der eigentliche Kunstmaler bleibt hier zwar neben dem als solchen verkleideten Adeligen völlig im Hintergrund.
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traut, w i n k t diesem eine Gelegenheit. D a m i t w i r d das B i l d n i s - M o t i v einfallsreich zur Intrigenhandlung verwandelt. Epponilla w i l l sich das B i l d ihres Geliebten aus Porträts seiner Blutsverwandten zusammenmalen lassen (ähnliche Teile als Vorbilder für das zu schaffende Porträt!). Den über diesen A u f t r a g (als Liebesbeweis) überglücklichen Geliebten hintergeht der malende Nebenbuhler, indem er Epponilla sein Selbstporträt (als Liebesantrag) durch den als Postillon d'amour mißbrauchten Nebenbuhler zuschickt. Dabei läßt es A n t o n Ulrich aber noch nicht bewenden. Antenor, der Epponilla v o n ihrem Vater bestimmt ist, liebt eine andere, m i t der i h n bereits eine heimliche Vermählung gegen den W i l l e n seiner Eltern verbindet. N u n häufen sich Parallelen und Kontraste: Antenor läßt gleichlaufend (und doch wechselseitig!) m i t Epponillas Wunsch v o n seinem verkleideten Nebenbuhler Julius Sabinus auch ein Damenbildnis kopieren. Weiter haben Antenors E l tern ihrem Sohne drei Frauen zur Ehe vorgeschlagen, die auch des Julius Sabinus Eltern für ihren Sohn ins Auge faßten. Gleich darauf überreicht Antenor Julius Sabinus noch zwei Damenbildnisse, m i t der Bitte, diese etwas häßlicher abzumalen, was dem Empfänger lächerlich erscheint. Der Wunsch Antenors k l ä r t sich dann so auf, daß er das Porträt seiner heimlichen Frau schöner, die beiden anderen Bewerberinnen jedoch häßlicher haben möchte, u m seine Eltern v o n der Richtigkeit seiner i m geheimen bereits vollzogenen W a h l z u überzeugen. I n einer Aussprache zwischen Epponilla und Julius Sabinus löst sich nun wenigstens eine Seite der Intrige: beide erkennen i n dem Maler des Julius Sabinus den Nebenbuhler Julius Vindex. Die ganze Liebesintrige m i t den drei Bewerbern um Epponilla (Julius Sabinus, Julius Vindex, Antenor) lebt v o m Bildnis- und v o m Galerie-Motiv. Die verschiedenen Zwecksetzungen 71 , ein Bildnis zu bekommen, sind dabei als differierende Motivationen bedeutsam. I m Grunde laufen sie dodi alle auf die Vereinigung m i t der Geliebten hinaus. Der Reiz dieses intriganten Bild-Spieles i m Maler-Kostüm w i r d dadurch erhöht, daß auch der Leser bis zur überraschenden Lösung der verwirrenden Zusammenhänge i m unklaren bleibt. Das B i l d n i s - M o t i v (auch das i h m verwandte Galerie-Motiv) t r i t t i m höfischen Barockroman häufig und i n vielen Gestaltungsformen und Funktionen auf. Sie alle lassen sich aber doch auf den gleichen Typus A abstrahieren, den bereits unser M o t i v k e r n (siehe S. 84 f. dieser Arbeit) umriß. Der speziellen epischen Bauweise der einzelnen Romane gemäß w i r d dieser M o t i v - T y p u s als Gestaltungsform verschieden integriert. Den größten Formenreichtum weisen dabei die Romane A n t o n Ulrichs auf. Das Porträt bleibt der Zeit entsprechend aber auch hier i m Grunde Requisit, also >Bildchen< und dient noch nirgends der späteren Möglichkeit psychologischer Charakterisierung. I m 17. Jahrhundert zeigt das M o t i v starke Auswirkung auf die epische Struktur der
71 Zur Zwecksetzung bei den verschiedenen Romanpersonen in der Octavia* vgl.: Karin Hof ter, Anton Ulrichs Octavia', Diss. Bonn 1954.
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Werke, es entwickelt sich aber noch nicht zu einem Darstellungsphänomen wie i m folgenden 18. Jahrhundert 7 2 . III Das behandelte M o t i v erschöpft sich aber nicht i m untersuchten Zeitraum. Einige Streubelege, die i n diesem Rahmen typologisch und gestaltungsmäßig nur andeutungsweise ausgewertet werden können, mögen dies weisen. Zuerst verfolgen w i r den barocken Typus A bis i n die Literatur des 19. Jahrhunderts, um seinen Gestalt- und Funktions-Wandel aufzeigen zu können. D a n n wollen w i r die anderen Beispiele unter Ausarbeitung einiger Typen übersichtlich i n Gruppen fassen. Das K r i t e r i u m der Auswahl bleibt dabei immer das Zusammenspiel zwischen Motivgestaltung und epischer Struktur. Christoph M a r t i n Wieland verwendet das B i l d n i s - M o t i v (als V a r i a t i o n v o n Typus A ) i n seinem Roman 'Der Sieg der N a t u r über die Schwärmerei oder die Abenteuer des D o n Sylvio v o n Rosai va' (1764). Die ironisierende Darstellung i n diesem Werk steht bekanntlich i n der Cervantes-Nachfolge. Parallel dazu ist eine gewisse Rückorientierung der M o t i v e i n die T r a d i t i o n nicht zu übersehen. So überrascht auch die Verwendung des i m Barock so häufigen Bildnis-Motivs kaum, das i n der Wielandschen Form unserem ursprünglichen M o t i v k e r n weitgehend entspricht. Der von Feenmärchen entzückte und »verrückte« D o n Sylvio findet auf der Jagd nach einem Schmetterling das i n ein K l e i n o d gefaßte Bildnis einer schönen Unbekannten. Die traditionelle Reaktion auf diesen Fund besteht auch hier i n plötzlich aufflammender Liebe und dem Wunsch, diese >Prinzessin< zu suchen 73 . Die äußere Gleichheit täuscht aber bereits über einen auffallenden Wandel hinweg: Der Aspekt des Erzählers rückt diese Reaktion v o m barocken Wert der Normentsprechung i n den U n w e r t der Verrücktheit. Die Ironie des Erzählers führt dem B i l d auch gleich das Gegenbild der häßlichen Donna Mergelina zu, die i h m seine Tante als Gemahlin zugedacht hat ( I , 65). I m Vergleich zur Feenschwärmerei des Helden k o m m t diesem eindeutig kontrastierende Wirklichkeit zu. Bei einer Schlägerei m i t Bauernburschen a la D o n Quijote w i r d i h m das Bildnis v o n einem Bauernmädchen entwendet (I, 244). So kann er es nicht zum Vergleich heranziehen, als er i n der jungen W i t w e Felicia plötzlich das U r b i l d seines geliebten Schattenbildes zu erkennen glaubt 7 4 . Aber nicht die erste Begegnung zwischen den 72 Vgl. dazu August Langen, Anschauungsformen in der deutschen Dichtung des 18. Jahrhunderts. Rahmenschau und Rationalismus, Jena 1934. Reprograf. Nachdruck Darmstadt 1965. 73 Christoph Martin Wielands sämmtliche Werke. 36 Bände, Leipzig 1855 ff. (besonders Band 1 und 2 = 1 und II), I, 24. — Die folgenden Zitate beziehen sich auf diese Ausgabe. 74 Dieses Problem bezeichnet schon die ironisierende Kapitelüberschrift 'Erscheinung der Fee. Wie gefährlich es ist, ein Frauenzimmer anzutreffen, welches unserer Geliebten gar zu. ähnlich sieht* (II, 26—30).
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beiden löst die Motivstruktur, sondern erst die abschließende Aussprache zwischen ihnen i m bewußten Pavillon, w o ihn Felicia nicht »länger i n Verw i r r u n g 7 5 lassen« möchte ( I I , 236). Die antithetische Grundstruktur v o n Schwärmerei und N a t u r überträgt sich ins Motivische als Spannung z w i schen Porträt und U r b i l d , also Prinzessin und W i t w e . Felicia, die dieses Porträt verloren hat, führt D o n Sylvio i n ein Kabinett m i t zwei Frauenbildnissen an der Wand, die man kaum unterscheiden kann. Das eine stellt Felicias Großmutter i m A l t e r v o n sechzehn Jahren dar, das andere die Enkelin. Dem Liebesgeständnis D o n Sylvios begegnet das Gegengeständnis Felicias i m Rahmen unseres M o t i v s : Als sie i h n i m Walde schlafend fand, trug er ihr B i l d am Halse, was ihre Neigung bewirkte ( I I , 239). Trotz des vorhandenen Motivkerns nach Typus A hat Wieland das M o t i v dem Thema und der epischen Struktur anverwandelt. Die Mimesis-Möglichkeit macht er dem thematischen Gegensatz v o n Schwärmerei und N a t u r dienstbar. Als strukturelle Neuheit bildet das M o t i v eine K l a m m e r zwischen Anfang und Schluß des ganzen Werkes. Der Impuls zur Suche der Geliebten aufgrund eines Bildes und die Identitätsenthüllung der abgebildeten Unbekannten steilen dabei die Endpunkte dieser Klammer dar. Der Ironie des Erzählers entspricht die Gestaltungsform, wie besonders der Schluß zeigt: »Dieß ist die Entwicklung des Knotens, und nun (setzte sie lächelnd hinzu) überlasse ich Ihnen, da die Großmutter und die Enkelin gleich viel Recht an Ihre Neigung hat, für welche v o n beiden Sie sich erklären wollen.« ( I I , 237). V e r w i r r u n g und Lösung des Knotens und die Enthüllung der Abenteuer sind aber nicht wie i m Barock auf den Leserausschnitt bezogen, sondern auf die innere Entwicklung des Helden v o n der Schwärmerei zur N a t u r . Dem durchgehenden H a n g zur Psychologisierung entspricht auch die Deutung der motivischen Bildliebe als Präfiguration 7 6 der echten Liebe. D i e Psychologisierung des M o t i v s setzt sich i n L u d w i g Tiecks Gestaltungsform noch weiter fort: Es bildet i n seinem Roman 'Franz Sternbalds Wanderungen' (1797) als Kernstück v o n I , 5 eine abgeschlossene Erzählung 7 7 . Der äußere Rahmen dieser Geschichte w i r k t — wenn man v o n der Episodentechnik der Barockromane herkommt — sehr traditionell. A u f einer Schiffsreise nach Rotterdam erzählt R u d o l p h Florestan zum Zeitvertreib die Geschichte eines Ritters namens Ferdinand (794—806). Der Ritter findet zufällig ein schönes Frauenbildnis, das ein unbekannter Reiter verloren hat. M i t der Liebesregung zugleich entsteht i n i h m die A b 75 »Verwirrung« ist bereits eines der Kernwörter Anton Ulrichs und des Barock überhaupt: Es gilt als Ausdruck für das ständige Unverständnis barocker Romanpersonen für ihre wohl häufig kaum durchschaubaren Lebenssituationen. 76 Don Sylvio spricht von einer »geheimen Divination oder Vorwissenschaft der Seele« (II, 238), die ihm das Bildnis vermittelt habe. 77 Die Zitate beziehen sich alle auf: Ludwig Tieck, Frühe Erzählungen und Romane. Hrsg. von Marianne 7haimann, Darmstadt 1963.
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sieht, diese Unbekannte zu suchen. Das Neue an Tiecks Gestaltungsform ist, daß diese naive Reaktion (Bild r->- Liebe Aufbruch) intensiv reflektiert w i r d . I m Barock entsprach sie der N o r m , und es gab für dieses Verhaltensmodell nicht einmal eine Alternative. H i e r w i r d sie aber durch das Diskutieren des Falles zum Gegenpol vernünftigen Handelns, der v o n Ferdinands Freund Leopold vertreten w i r d : Leopold stand lange staunend und betrachtete seinen Freund, endlich rief er aus: »Unglücklicher! Wohin hast du dich verirrt? An diesen Schmerzen hat sich vielleicht bisher noch keiner der Sterblichen verblutet. Was soll ich dir sagen? Wie soll ich dir raten? Der Wahnsinn hat sich deiner schon bemeistert und alle Hülfe kömmt zu spät. Wenn nun das Original dieses Bildes auf der ganzen Erde nicht zu finden ist! und wie leicht kann es bloß die Imagination eines Malers sein, die dieses zierliche Köpfchen hervorgebracht hat! Oder sie kann auch gelebt haben, und ist nun schon gestorben, oder sie ist die Gattin eines andern, und Mutter vieler Kinder und Enkel, so daß du sie, vom Alter entstellt, nicht einmal kennst, wenn du sie auch wirklich finden solltest. Glaubst du, daß sich dir zu Gefallen das Wunder des Pygmalion78 erneuern werde: Ist es nicht ebenso gut, als wenn du die Helena von Griechenland, oder die ägyptische Kleopatra lieben wolltest? Bedenke dein Wohl, und laß dich nicht von einer Leidenschaft unterjochen, die offenbar aberwitzig ist. Deine Empfindung ist so widersinnig, daß hier oder nirgend deine Vernunft auftreten und dich aus dem Labyrinthe erretten muß, und mich wundert nur, wie du sie schon hast unterdrücken können, daß es so weit mit dir gekommen ist.< Ferdinands Verhalten w i r d v o n Leopold als widersinnig und unvernünftig abgewertet, während die Geschichte i h m wundersam recht gibt. Die barocke N o r m wandelt Tieck i n eine Form romantischer Sehnsucht u n d romantischen Verhaltens. Das Wunderbar-Irrationale w i r d gerade durch den entscheidenden Gestaltungszug der Reflexion betont. Seine bedrohliche Kehrseite zeigt Leopold i m Schicksal des Sängers Rudell auf, der i n den A r m e n seines gefundenen Urbildes stirbt. Rudells Schicksal entspricht dabei Stith Thompsons M o t i v t y p u s Love from mere mention or description ( T 11. 1.). Der Schluß der Geschichte v o m Ritter Ferdinand verdichtet i n einer Sentenz den Z u sammenhang m i t der thematisch tragenden Reflexion: 78 Die in Ovids Metamorphosen erzählte Geschichte von dem Bildhauer Pygmalion, der sich in eine von ihm selbst geschaffene weibliche Elfenbeinstatue verliebt hat, gehört auch in den motivischen Strahlbereich unseres Themas, wie eine Stelle aus Anton Ulrichs 'Octavia* belegt: Tyridates ruft nach der Begegnung mit dem Flora-Bild im Gespräch mit seinem Vertrauten Vasaces aus: »'Bin ich nicht der andere Pygmalion / der sich auch auf solche weise überwinden lassen? wiewol er in seinem glücke mir ganz ungleich ist / da idi das von den göttern nicht zu hoffen habe / was diesem wiederfunre / deme sie sein bild lebendig gemacht / daß er seiner liebe genießen kunte. Tyridates ist kein Pygmalion / (gäbe ich zur antwort) und da mein König über alle andere menschen erhoben ist / muß er diesem sich keineswegs vergleichen / noch müde werden zu siegen / da ihn der sieg bis hieher in allen seinen thaten begleitet...« (Ο I 132). — Zu den verschiedenen Gestaltungsformen des Pygmalion-Stoffes, die allmählich immer weiter von unserem Motiv abweichen, vgl. Elisabeth Frenzel, Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte, Stuttgart 1962, S. 529—531 ( = Kröners Taschenausgabe Band 300).
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>Aber, liebster Freund, danke dem Himmel, denn du hast ja bei weitem mehr Glück als Verstand gehabt.c — >Das begegnet jedem Sterblichem, erwiderte Ferdinand, >und wie elend müßte der Mensch sein, wenn es irgendeinmal einen solchen geben sollte, der mehr Verstand als Glück hätte?< (806) Tieck entnimmt den M o t i v k e r n für sein »romantisches Lehrstücke der Trad i t i o n ; er schafft i h n aber besonders durch den Gestaltungszug der reflektierenden Diskussion zwischen den Freunden als romantisches Verhalten neu. Eine weitere Gesaltungsform i n W i l h e l m Hauffs Novelle 'Die Bettlerin v o m Pont des Arts' (1826) ist aufgrund ihrer Veränderungen als neuer Typus Β anzusprechen. Dem B i l d der Geliebten k o m m t v o n der Betrachtung her eine doppelte Deutungsmöglichkeit z u 7 9 . D i e Reaktion des jugendlichen Betrachters bildet nicht die beginnende Liebe zu einer Unbekannten, sondern die heftige Erinnerung an die geheimnisvoll verlorene Geliebte. Das M o t i vierende i n bezug auf die epische Struktur richtet sich demnach i n die Vergangenheit und erbringt die dem Leser unbekannte Vorgeschichte. Die Funkt i o n der strukturellen K l a m m e r führt auch hier zur abschließenden Vermählung. Den Anstoßpunkt bildet aber das Porträt: i n i h m erkennt der Betrachter das geliebte U r b i l d wieder, dem er vor Zeiten begegnet ist. Jean Paul gestaltet i n seinem >Kardinalroman< 'Titan* (1800—1802) einen weiteren Typus ( C ) : Das Bildnis der Geliebten w i r d hier zum Porträt einer weiblichen Verwandten des Helden (Schwester, Mutter). Diese Struktur löst sich meist thematisch v o n seiner Liebeslinie. Es w i r d aber gerne m i t dem M o t i v seiner unbekannten H e r k u n f t verschränkt und weist i n die Richtung dieser genealogischen Enthüllung. Dabei umklammert das M o t i v i n seiner epischen Struktur meist Anfang und Ende des ganzen Werkes. I n Jean Pauls V a r i a t i o n erhöht die skurrile Verschlüsselung i n einen mechanistisch-technischen Vorgang noch den Reiz des bedeutsam Geheimnisvollen. V o n seinem vermeintlichen Vater Gaspard de Cesara erhält der H e l d Albano zwei Medaillons: das Jugendbildnis seiner M u t t e r und das Porträt seiner gealterten Schwester. D e m ersten ist die Inschrift >Wir sehen uns nie, mein Sohne, dem zweiten >Wir sehen uns einst, mein Bruderc 80 beigefügt. M i t H i l f e eines seltsamen »Taschenperspektives« soll Albano die beiden Bilder einst richtig betrachten können: das B i l d der M u t t e r als Porträt einer älteren Dame, das B i l d der Schwester als Mädchenporträt 8 1 . Diese Medaillons entwickeln einen 79 Der reiche Spanier Don Pedro sieht darin seine Jugendgeliebte Gräfin Laura, Eduard von Froeben dagegen eine Bettlerin aus Paris. Die beiden Urbilder sind Mutter und Tochter. 80 Natürlich stehen die beiden antithetischen Inschriften in der Tradition. Ihnen kommt allerdings funktional ein stärkerer Spannungswert zu als etwa nur Namensnennungen unter einem Bilde. — Die Zitate beziehen sich alle auf folgende Ausgabe: Jean Paul, Werke. Hrsg. v. Norbert Miller, 6 Bände, München 1959 bis 1963 (3. Band). 81 Perspektiv und Fernrohr mit übernatürlicher Kraft sind beliebte Instrumente, allerdings nicht nur der Romantik; Linsen, Spiegel usw. stehen in bedeutsamer Verwandtschaft damit. Einer der Berührungspunkte unseres Bildnis-Motivs mit Ansätzen zum Spiegel-Motiv, die sich vielfach notwendigerweise ergeben müssen.
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Spannungsbogen bis zur erzählerisch vorausgedeuteten Enträtselung durch das »testamentarische Getriebe und Gebläse« (41), das Albano den »Kern« enthüllen soll, »aus dem der Christbaum seines Lebens wachsen« (40) w i r d . Diese abschließende Enträtselung findet sich nach ca. 750 Seiten Erzählzeit i m letzten K a p i t e l des Romans, das dem Helden und dem Leser den Brief der Fürstin Eleonore mitteilt, die Albanos wahre M u t t e r ist (807—811). K u r z vorher hat Albano das B i l d seiner Schwester als jenes v o n Julienne, das B i l d seiner M u t t e r als jenes der Fürstin Eleonore mithilfe des i h m übermittelten Perspektives erkannt. Dieser Typus des Bildnis-Motivs stellt hier sow o h l Requisit wie auch Schlüssel zur Erhellung der Gesamtstruktur dar: es enthüllt dem Leser den geheimnisvollen Plan der fürstlichen Eltern Albanos, die ihren Sohn durch diese bizarre Machination (Kindesvertauschung) v o r der gefährlichen Intrige ihrer politischen Gegner schützen w o l l e n 8 2 . Dieses M o t i v umfaßt i n seinem Spannungsbogen die Gesamtstruktur des Werkes, nicht aber dessen symbolische Aussage über den Bildungsgang des fürstlichen Albano. Das B i l d der Geliebten w i r d entsprechend der thematischen Anlage (unbekannte H e r k u n f t ) zum verschlüsselten Porträt zweier weiblicher Verwandter. Das Erkennen der Urbilder erst löst das Problem der H e r k u n f t des Helden. Einige Novellen von Theodor Storm und Ernst August Hagen bilden einen weiteren Typus (D) aus, der eine gewisse Nähe z u Typus Β i m Phänomen der >Rückerinnerung< als Auswirkung auf die epische Struktur zeigt. Das Bildnis einer Person (Geliebte, toter Knabe usw.) taucht nicht nur zu Beginn des Erzählens auf, sondern bildet den Anstoß zur Rückerinnerung und damit zum Erzählen der Geschichte. Diese enthüllt meist die Beziehung des Erzählers z u m U r b i l d des Porträts, und zwar häufig als das schicksalhafte Begebnis seines ganzen Lebens. I m Gattungsbereich der Novelle v o l l zieht sich diese Begegnung m i t dem B i l d meist i m Rahmen 8 3 . Neben Theodor Storms Novelle >Immensee< (1850) 8 4 gestaltet er i n 'Aquis submersus' (1876) eine besondere Form dieser Rückerinnerung m i t H i l f e 82 Diesem Typus gehört zum Beispiel auch das >politische< Pastellbild in Karl Gutzkows Roman in neun Büchern 'Die Ritter vom Geiste* (1850—1851) zu, das die Mutter des Prinzen Hohenberg zeigt. — Auch die intrigante Verwendung von Porträt und Aktbild der Titelheldin in Gottfried Kellers Novelle 'Regine' (in: 'Das Sinngedicht,) wäre als >politisdiZweckbild< zu nennen. Hier geht es allerdings um keinen genealogischen Aufschluß oder um das Aufdecken eines politischen Planes wie oben. 83 Als Form des Anstoßes mit innerer Rahmenfunktion wäre auch jener Vorgang in Wilhelm Schäfers 'Der Gottesfreund* (1948) zu nennen: Jakob Imgrund kommt in übermütiger Laune an einer Marienstatue vorbei, umarmt und küßt sie. Gegen Ende des Werkes findet er die Erfüllung seines Lebens in einem stillen aktiven Samariterleben, eben als >Gottesfreundrückerinnernd< i n diese Geschichte, deren abschließender Höhepunkt das Rätsel dieser Bilder löst. Es handelt sich um die alten Aufzeichnungen eines Malers namens Johannes, der nach einigen Jahren seine Geliebte Katharina als die Frau eines Predigers wiederfindet. Dieser hatte sie v o r öffentlicher Schande bewahrt und erzog ihren unehelichen Sohn Johannes m i t Liebe. Während der Erkennungsszene der beiden Liebenden ertrinkt ihr K i n d neben ihnen i m Moor. Dem Prediger ist schlagartig alles klar geworden. Er befiehlt Johannes, das B i l d seines toten Sohnes als V o t i v b i l d für die Kirche zu malen. Dieses Porträt bildete den Anstoß für den Erzähler: die Lösung der Inschrift (culpa patris aquis submersus) schließt den Bogen und löst die Spannung 8 5 . Auch i n Ernst August Hagens ' N o r i k a ' (Nürnbergische Novellen aus alter Zeit) (1829) bildet Dürers A l t a r b i l d von der Himmelfahrt Mariae für den Erzähler Jacob Heller den Anstoß, sich seiner verstorbenen Frau Maria zu erinnern. Die Entwicklungsphasen dieser erinnerten Liebesgeschichte werden nicht unwesentlich mitgeformt v o n Anklägen an unser B i l d n i s - M o t i v 8 6 . Bild in schlichtem schwarzem Rahmen. >ElisabethBilddiens< losgelösten Typus F bildet v o r allen! Novalis i n seinem dichterischen Werke mehrfach aus. H i e r nähert sich das M o t i v auf dem Wege symbolischer Bedeutsamkeit dem lyrischen Bilde. Diesem >Bilde< eignet die Möglichkeit, unser M o t i v bis zum bildlichen Zusammenfall v o n Geliebter und kosmischer N a t u r zu erweitern. Eine Gestaltungsform auf dem Wege dieser Entwicklung ist i n der Geschichte des Dichters und der Königstochter i n Novalis' Roman 'Heinrich von Ofterdingen' (1800) zu finden. Statt des Bildes als Porträt trägt die Königstochter einen kostbaren Stein als Talisman am Halse. Der Stein sichert ihr die »Freiheit ihrer Person«, »indem sie damit nie i n fremde Gewalt ohne ihren W i l l e n geraten konnte« ( I , 219) 8 9 . Äußere Anklänge an unser M o t i v wie Kleinod, Verlust desselben, Fund durch den späteren Geliebten, Rückerstattungsszene als Liebesoffenbarung, Gedicht des Finders als V a r i a t i o n der Bildinschrift usw. verwachsen m i t Novalis' symbolischer Motivgestaltung. Liebesbeginn und Liebesbegegnung prägen den Erzählvorgang motivgemäß. Der Bezug Stein = B i l d w i r d deutend durch des Dichters Verse vollzogen: »Er [der Stein] ist m i t einem Herzen zu vergleichen, / I n dem das Bild der Unbekannten ruht« ( I , 219). Der Willensverlust der Königstochter unter der Gewalt der Liebe w i r d durch den Verlust des magischen Steins (für den Finder >Bildminor novelists< neben Dickens und Thackeray gestaltet mit Hilfe des Bildnis-Motivs den für die kriminalistische Struktur seines Romans 'Armadale* (1866) wesentlichen Liebesbetrug. 96 Uber diese spezielle Gestaltung (Narciß-Gray gibt seine Seele dafür hin, daß sein Porträt statt seiner altere) tritt der griechische Mythos vom schönen Jüngling Narciß (Selbstliebe durch Anschauung des eigenen Porträts) mit unserem BildnisMotiv in Verbindung. Der Narciß-Stoff war besonders in der Romantik, der Epoche der Décadence, des Ästhetizismus und der Neuromantik beliebt. (Vgl. dazu Heinz Mitlacher: Die Entwicklung des Narzißbegriffs, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 21 (1933), S. 373—383, und Robert Mühlher, Narciß und der phantastische Realismus, in: R. M., Dichtung der Krise. Wien 1951,
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Eine der wichtigsten Formen des Wieder-Auflebens unseres Bildnis-Motivs findet sich i n der »neuen W e l t des Nouveau R o m a n « 9 7 der Franzosen. Z w e i Motive, nämlich Bildnis- und Spiegel-Motiv, verdichten sich hier i n einer »Ästhetik der Verdoppelung«, die auf Andre Gide zurückgeht. Das Phänomen der Spiegelung ist eine Grundstruktur dieser Romane, die i n der Spiegelung die vertraute W e l t als plötzlich fremde erleben lassen. Innerhalb dieses künstlerischen Prinzips verengen sich die Darstellungsformen oft auf Typen unseres Bildnis-Motivs. I n Nathalie Sarrautes 'Le Potrait d'un I n connu' (Paris 1947/56 — deutsch: Bildnis eines Unbekannten, K ö l n 1962) entwickelt sich die Geschichte aus des Erzählers Gedanken beim Betrachten eines Porträts. I n Claude Simons 'La Route des Flandres' (Paris 1960 — deutsch: Die Straße i n Flandern, München 1961) spiegeln sich die gegenwärtigen Geschicke einer Familie i m Gemälde einer häuslichen Szene oder i m Porträt eines ihrer Ahnen. Die Wechselwirkung zwischen beiden bildet ein wesentliches Strukturprinzip dieses Romans. Ähnlich besteht i n Michel Butors ' L ' E m p l o i du Temps' (Paris 1956 — deutsch: Der Zeitplan, München 1960) eine Sinnbeziehung zwischen der zentralen Figur Jaques Revel und einem Kirchenfenster m i t dem Thema >Kain und Abele; auch ein Wandteppich v o n des Theseus labyrinthischen Fahrten illustriert die Irrwege des >HeldenReproduktionen< ( = Postkarten und Photographien) i n 'Les Gommes' (Paris 1953 — deutsch: E i n Tag zuviel, H a m b u r g 1954) oder an das thematisch bedeutsame W a n d b i l d i n seinem Roman 'Dans le Labyrinthe' (Paris 1959 — deutsch: D i e Niederlage v o n Reichenfels, München 1960) erinnert. Eine solche Verdichtung bestimmter M o t i v e i n einem literarischen Bereich gleichgestimmter Künstler läßt auf innere gestalterische Prinzipien schließen. Das markanteste davon ist das Strukturgesetz der Spiegelung: Vorgänge werden i n erhellender Wechselwirkung aufeinander bezogen. A n die Stelle solcher Vorgänge kann dabei ein Porträt oder Situationsbild treten. M i t einem Beleg aus der deutschen Literatur unserer Tage möchte ich diese Galerie der Streubelege unseres M o t i v s abschließen: Der Fernsehdirektor des Westdeutschen Rundfunks Hans Joachim Lang veröffentlichte v o r kurzem einen Roman m i t dem T i t e l 'Die Bilder des alten K a t z ' (1966). Eine — w o h l starke — V a r i a t i o n unseres Galerie-Motivs verleiht diesem Prosawerk die eigentliche Struktur, wenn man das moderne Familienalbum als spätes Analogon zur fürstlichen Ahnengalerie gelten lassen w i l l . Das A l b u m m i t seiner Bilderfolge bestimmt die epische Struktur dieses Romans. I n dieser Arbeit untersuchten w i r Gestaltungsformen des Bildnis-Motivs (Teil I ) und des Galerie-Motivs (Teil I I ) i m höfischen Roman des deutschen Barock und verfolgten den M o t i v k o m p l e x i n ähnlichen Gestaltungstypen 9 8 bis i n die Literatur des 20. Jahrhunderts (Teil I I I ) . 07 Ludovic Janvier, Literatur als Herausforderung. Die neue Welt des Nouveau Roman, München 1967 ( = Beck'sche Schwarze Reihe. Band 50).
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Die thematische Fragestellung nach der Beziehung zwischen M o t i v und epischer Struktur bestätigen die aufgezeigten literarischen Erscheinungsformen. Gestaltungsform und Funktion eines Motivs sind stets aufeinander bezogen. Die M o t i v s t r u k t u r und die Romanstruktur greifen ständig ineinander. Mehrmals w i r d sogar die Struktur des Motivkomplexes zum A b b i l d der Gesamtanlage des Romans oder wenigstens eines seiner wichtigsten erzählerischen Bauelemente. Innerhalb der Barockzeit findet v o r allem der Typus A unseres BildnisMotivs Verwendung. Das B i l d läßt die Liebe lange v o r der ersten Begegnung der beiden Liebenden entstehen. Erstaunlich ist dabei die Variabilität und vielseitige erzählerische Verwendbarkeit dieses Typus. D a r i n spiegelt sich allerdings eines der künstlerischen Grundgesetze des Barock: die Originalität besteht i n der sinnreichen V a r i a t i o n eines traditionellen Schemas aus Hem literarischen Reservoir der Antike. Diese Variation des Bekannten entzückte den Leser des 17. Jahrhunderts i n besonderem Maße. A n t o n Ulrich entfaltet i n seinen Romanen die größte Fülle an Gestaltungsformen und Variationen. Ihre Darstellung gilt auch als grundsätzlicher Hinweis auf die subtile Machart dieser Werke. Den barocken Typus A haben w i r bis ins Zeitalter der R o m a n t i k verfolgt: seine Gestaltungsform und seine Funktion sind durch die Psychologisierung grundsätzlich verändert worden. Andere Gestaltungstypen des Bildnis-Motivs entstehen durch stärkere V a riation und Funktionsänderung: Die gewonnenen Typen dienen vorwiegend dazu, Ähnliches einander zuzuordnen und Verschiedenes augenfälliger zu differenzieren; sie sind auf keinen Fall absolut zu verstehen. Sie machen die Morphologie des Motivischen i n den gesammelten Streubelegen überschaubarer und sind natürlich jederzeit zu vermehren. Der untersuchte M o t i v k o m p l e x entfaltet sich i m Reichtum seiner Gestaltungsformen w e i t über die deutsche Literatur hinaus und leitet sich i n lebhafter T r a d i t i o n aus dem Kulturbereich der A n t i k e her. Das mußte i n diesem Rahmen bedingen, daß, trotz relativer Fülle v o n Belegen, Vollständigkeit weder erstrebt, nodi erreicht werden konnte. Die Untersuchung einer dichterischen Gattung des 17. Jahrhunderts aber erwies die strukturelle Relevanz dieses Motivs. D a m i t dient die Arbeit einer der wichtigsten Fragestellungen der Literaturwissenschaft, nämlich dem Erforschen der Wechselwirkung v o n traditionell Vorgegebenem und seiner jeweiligen schöpferischen Neugestaltung unter den geistigen Bedingungen einer Zeit.
08 Besonders aufgezeigt an Werken von Wieland, Tieck, Hauff, Jean Paul, E. T. A. Hoffmann, Storm, Karl Wilhelm Contessa, Friedrich von Hardenberg, Goethe, Stifter u. a. Die Reihe der hier zu behandelnden Dichter und Werke ließe sich über diese Streubelege hinaus noch erheblich fortsetzen, wie nur ein Blick auf Mörike ('Maler Nohen'), Brentano ('Godwi'), Eichendorff ('Ahnung und Gegenwart'), Dorothea Schlegel ('Florentin'), Doderer ('Merowinger') zeigt.
F R I E D R I C H L E O P O L D GRAF Z U STOLBERG: BEMERKUNGEN Z U E I N I G E N ZEITGENÖSSISCHEN SCHRIFTSTELLERN Mitgeteilt und erläutert von Jürgen Behrens Einleitung 1. Die i n der Handschrift als »Rezensionen« bezeichneten Bemerkungen zu deutschen Schriftstellern des 18. und des beginnenden 19. Jahrhunderts sind keine eigenhändige Niederschrift Stolbergs 1 . Es scheint auch fraglich, ob es sich um eine Abschrift handelt; die — selbst für die Zeit u m 1800 — auffallend wahllose Orthographie und I n t e r p u n k t i o n 2 deuten eher darauf hin, daß es sich um eine Niederschrift nach D i k t a t handelt. D a f ü r sprechen auch die meist unkontrollierten, spontanen Formulierungen, die teilweise stenogrammartigen Charakter haben. Formulierungen wie »Geliert kennen Sie« ( N r . 11) könnten allerdings auch einem Brief entstammen. Doch i n welcher Form immer das Manuskript entstanden ist: es ist nicht geformt, sondern improvisiert, es beruht nicht auf einer durchdachten Konzeption, sondern ist ein impromptu. Die Datierung dieser Äußerungen Stolbergs ist relativ einfach: die K o n version v o m Juni 1800 ist bereits geschehen, darauf deutet etwa das H e r v o r heben antikatholischer Tendenzen i m Werk J. A . Cramers ( N r . 7) und Sollings ( N r . 51), die distanzierte H a l t u n g zu Friedrich Heinrich Jacobi ( N r . 21), m i t dem es über die Konversion zum Bruch der Freundschaft gekommen 1 Die Handschrift fand ich vor mehreren Jahren in Freckenhorst in Westfalen im Besitz der inzwischen verstorbenen Gräfin Merveldt; ihrer Tochter, Gräfin Westerholt, danke ich für die freundliche Erlaubnis, die jetzt in ihrem Besitz befindliche Handschrift veröffentlichen zu dürfen und für liebenswürdig gewährte Gastfreundschaft. 2 Es wurde deshalb darauf verzichtet, die Handschrift diplomatisch wiederzugeben. Rechtschreibung und Zeichensetzung wurden vorsichtig normalisiert und die intendierte alphabetische Reihenfolge, die nicht konsequent eingehalten ist, hergestellt. Im Original stehen die 'Rezensionen' in der Reihenfolge: 2 3 4 5 6 7 8 9 13 10 15 16 17 18 19 20 23 25 24 26 28 27 29 30 31 33 32 37 36 38 39 41 43 44 45 47 48 34 53 46 50 49 54 57 55 56 58 21 22 59 1 11 14 12 40 35 42 52 51; die Differenz von 59 zu 61 »Rezensionen«, die in der Überschrift genannt werden, ergibt sich dadurch, daß die Brüder Schlegel und Spalding und Zolikofer unter einer Nummer behandelt sind. Ergänzungen des Herausgebers stehen, sofern sie nicht nur einzelne Buchstaben betreffen, in Winkelklammern.
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war, und die K r i t i k an den protestantischen Rationalisten wie Jerusalem ( N r . 23) und Spalding ( N r . 50), deren W i r k u n g auf die protestantische Kirche einer der Gründe für Stolbergs Ü b e r t r i t t zum Katholizismus w a r 3 . Einen terminus ante quem gibt die noch v ö l l i g negative Beurteilung Friedrich Schlegels ( N r . 45). Schlegel konvertierte 1808 i n K ö l n , aber bereits am 29. Januar 1806 bedankt sich Stolberg i n seinem ersten Brief an i h n 4 für die Sendung des 'Poetischen Taschenbuchs für das Jahr 1806 v o n Friedrich Schlegel', das er m i t ungeteiltem L o b bedenkt. Unsere Aufzeichnungen sind also zwischen 1800 u n d 1806 entstanden. I h r Zweck ist unschwer zu erraten: es sind Richtlinien für die Lektüre junger Leute 5 . Es ist denkbar, daß Stolberg diese Bemerkungen für den Abbé Pierrard gedacht hat, der 1798 durch V e r m i t t l u n g der Fürstin G a l l i t z i n als Hauslehrer zu den Stolbergs k a m und bis zu seinem Tode 1808 blieb. Ebenso kann Stolberg aber auch v o n dritter Seite zu einer Meinungsäußerung bewogen worden sein.
2. Wer Stolbergs Urteile verstehen w i l l und m i t denen der heutigen Literaturgeschichtsschreibung vergleicht, w i r d gut daran tun, sich des klugen Urteils der Madame de Staël zu erinnern, das sie sich auf ihrer Reise durch Deutschland i m Jahre 1804 gebildet hatte, also etwa zur gleichen Zeit, als Stolberg seine 'Rezensionen' verfaßte. Le lien politique et social des peuples , un même gouvernement , un même culte , les mêmes lois , les mêmes intérêts , une littérature classique , une opinion dominante , rien de tout cela n'existe chez les Allemands Das B i l d einer die deutsche Literatur gleichsam überwölbenden Klassik, eines Gipfels, auf den h i n sich die Literatur entwickelt und an dem gemessen die Literatur des früheren 18. Jahrhunderts i m wesentlichen nur den Charakter des Vorläufigen, Vorbereitenden hat, dieses — historisch falsche — B i l d existiert noch nicht. Die Bewertung ist, je nachdem, woher der Beurteiler kommt, eine durchaus divergente. Für den schleswig-holsteinisch-dänischen Kreis, den sogenannten »Emkendorfer Kreis« bleibt K l o p stock der absolute Gipfel der deutschen Literatur, so sehr i m Übrigen die Urteile auch i n diesem Kreise unterschiedlich sind. Diesem primär religiös — 3 In diesem Zusammenhang ist es sicher kein Zufall, daß Stolberg den zu seiner Zeit berühmten Gerhard Anton von Halem ausgelassen hat. Stolberg war in den 1780er Jahren eng mit ihm befreundet, vgl. F. L. Graf zu Stolberg, Briefe, hrsg. v. J. Behrens, Kieler Studien zur deutschen Literaturgeschichte Bd. 5, Neumünster 1966 (im Folgenden zitiert als: Stolberg-B riefet, passim. Uber den Fortgang der französischen Revolution kam es zur Entfremdung und schließlich 1800 — aber vor der Konversion — zum Bruch, vgl. Stolberg-Briefe, S. 361 f. 4 Stolberg-Briefe S. 397. 5 Vgl. in Nr. 27 die Formulierung: »Wohl dem Jünglinge, wohl der Jungfrau ...«, in Nr. 16 »für die Jugend ...«. 6 Mme de Staël, De l'Allemagne, Tom. I, 2Paris 1814, p. 28.
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später, d. h. nach 1789 auch politisch — bestimmten Kreis ist Klopstock der »heilige Dichter«, neben dem kein anderer bestehen kann 7 . Für Friedrich Leop o l d Stolbergs U r t e i l muß man zudem berücksichtigen, daß er Klopstock v o n frühester K i n d h e i t an kannte, daß er i n i h m — ohne i m Dichten seinem V o r b i l d allzulange zu folgen — doch zeitlebens den unerreichten und unerreichbaren Meister sah, das Ideal des v o n G o t t begeisterten Dichters schlechthin 8 . Unmittelbar v o r dem oben zitierten Satz der Madame de Staël steht der folgende, für die Beurteilung der Stolbergschen Meinungen nicht minder wichtige: la religion catholique elle-même , qui, par sa nature, exerce une discipline uniforme et sévère, est interprêtée cependant pair chacun à sa manière Der Katholizismus des Münsterschen Kreises, i n den Stolberg m i t seiner Konversion und Ubersiedlung nach Münster eintrat, w a r v o n größter Liberalität und ganz und gar unmilitant. Für Stolbergs H a l t u n g gilt das ebenfalls: er ändert weder seine Meinung über den Protestanten Klopstock, noch über irgend einen andern Schriftsteller, w e i l dieser Protestant ist. Noch 1816 widmet er dem Tode des v o n i h m lebenslang verehrten Claudius eines seiner schönsten Gedichte 10 . Außer m i t Voß und — vorübergehend — Jacobi, bewahrte Stolberg alle seine Freundschaften m i t Protestanten 1 1 . Der G r u n d dafür liegt zweifellos audi i n seiner generösen, persönlich liebenswürdigen und dem K o n f l i k t wenn möglich ausweichenden N a t u r , aber entscheidend ist etwas anderes: Z w a r w a r das Stolbergsche Elternhaus pietistisch, die M u t t e r sogar m i t einiger Neigung zu exzentrischem Konventikelwesen, aber die Jahre, i n denen Stolberg aufwächst und nicht zuletzt seine Universitätslehrer sind bestimmt oder zumindest mitbestimmt v o n den Ideen der A u f k l ä r u n g — und Stolberg w a r und blieb i m Guten wie i m weniger Guten ein K i n d des 18. Jahrhunderts. Wie stark die Ideen der A u f k l ä r u n g auf i h n gewirkt haben, kann man v o r allem an seinem politischen Denken verfolgen. I n der Zeit größter Begeisterung für Rousseau schreibt er 1777, dieser sei »der erste Franzose sine secundo — u: doch einer vielleicht ist noch mehr, der Weltbürger Montesquieu« 1 2 . Montesquieus These von der 7 Interessant ist hierfür ein Brief C. F. Cramers an Gerstenberg aus Kiel vom 2. Dezember 1784, aus einer Zeit also, als Klopstocks Ruhm im übrigen Deutschland schon verblaßte. » Auch lese ich jezt ein Collegium über den Messias, das mir Freude macht. Ich habe zuweilen an die 70 Zuhörer, da ich zum Homer kaum 7 finden konnte.« Hs im Freien Deutschen Hochstift, Frankfurt. 8 Über Stolbergs Verhältnis zu Klopstock vgl. die Einleitung zu: Briefwechsel zwischen Klopstock und den Grafen Christian und Friedrich Leopold zu Stolberg, hrsg. v. J. Behrens, Kieler Studien zur deutschen Literaturgeschichte Bd. 3, Neumünster 1964 (im Folgenden zitiert als: Klopstock-Stolberg-BriefWechsel). 9 Wie Anmerkung 6. 10 'Andenken des Wandsbecker Boten.' Gesammelte Werke der Brüder Christian und Friedrich Leopold Grafen zu Stolberg, 20 Bde., Hamburg 1820—1825 (im Folgenden zitiert als: G. W.), Bd. 2, S. 326 f. 11 Vgl. Friedrich Leopold Grafen zu Stolberg kurze Abfertigung der langen Schmähschrift des Herrn Hofraths Voß wider ihn. ...Hamburg 1820, S. 23—27. 12 Stolberg-Briefe S. 96.
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Trennung der drei Gewalten als Grundlage eines Rechtsstaates bleibt für i h n Grundmaxime des politischen Denkens. Das Aufgeben dieses Prinzips i n Frankreich bald nach der Revolution w i r d der entscheidende G r u n d für ihn, sich gegen die französische Revolution zu wenden 1 3 . So wenig Stolberg ein »Aufklärer« w a r , ja bestimmte Formen der A u f k l ä r u n g bekämpft hat, so stark ist doch — i h m selbst oft unbewußt — das Erbe eines rationalistischen Jahrhunderts, i n dem er aufwuchs. So wenig er aus der Vernunft eine W e l t anschauung macht, so u n w i l l i g reagiert er auf alles Unvernünftige. Alles w u n derähnliche ist i h m »fatal« 1 4 , noch 1787 erinnert er Wieland an ein w o h l 1784 i n Weimar mündlich gegebenes Versprechen, ein Gedicht wie 'Oberon', nur ohne »Feerey« zu schreiben 15 . 1786 schreibt er über K a n t , nachdem er m i t Moses Mendelssohn i n Berlin und H a m a n n i n Königsberg über i h n gesprochen hat: »Ich glaube das K a n t eine eiserne Keule gegen die Demonstran t e n erhebt u: wer wollte i h m da nicht zujauchzen! Zufrieden m i t dem siegenden Gefühl v o n der Existenz Gottes u: v o n der Schönheit der Tugend welches i n unser Seyn verwebt ist, leugnet er, glaube ich, nur, daß diese Grundwahrheiten sich demonstriren lassen. U n d sind nicht alle C/rsachen indemonstrabel: Bios über die Erscheinungen läßt sich demonstrieren.« 16 Das ist gar nicht so falsch, aber schon ein Jahr später heißt es: »Die Aufsätze i m M e r k u r (sc. v o n Reinhold über K a n t ) habe ich nicht gelesen, da ich K a n t selber nicht gelesen habe. Ich fürchte die Lectur der modernen Philosophen. So harte Schalen! so zweideutiger K e r n ! « 1 7 und bald nach 1800 ist K a n t kurzweg ein »Sophist« ( N r . 25). Das Temperament ging Stolberg bei seinen Urteilen häufig durch und sein Vorurteil gegen die zeitgenössische Philosophie läßt ihn nicht selten zu ganz unsinnigen Äußerungen kommen.
3. Bedenkt man den Zeitpunkt der Entstehung der 'Rezensionen', so ist die Z a h l der Schriftsteller aus der ersten H ä l f t e des 18. Jahrhunderts, die er nennt und die zu jener Zeit teilweise schon fast vergessen waren, erstaunlich groß. Bei manchen mag das daran liegen, daß er sie persönlich gekannt hat, wie Cramer, Ebert, Jerusalem, Resewitz oder Spalding, aber für Schriftsteller wie Thomas A b b t , Cronegk, Giseke, E w a l d v o n Kleist oder Elias Schlegel t r i f f t das nicht zu. Sie alle und andere hier Beurteilte repräsentieren die Literatur, m i t der Stolberg aufwuchs — und man mag sich an 'Dichtung und Wahrheit' erinnern: auch der alte Goethe läßt noch einmal m i t großer 13
V d . Stolberg-Briefe S. 271. Klopstock-Stolberg-Briefwechsel S. 99, vgl. Stolbergs Abneigung gegen die Magnetisierungsversuche der Zeit, Stolberg-Briefe S. 203. 15 J. Behrens, Wieland und die Brüder Christian und Friedrich Leopold Grafen zu Stolberg, Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins N . F. Bd. 65 (1961), S. 63. 16 Stolberg-Briefe S. 196. 17 a.a.O., S. 216. 14
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Ausführlichkeit die Poeten der i h m vorangehenden Generation Revue passieren. D i e Beurteilung dieser Schriftsteller bei Stolberg ist durchweg freundlich, manchmal gleichgültig, fast immer distanziert. Ambivalenter ist sein Verhältnis zu den Weimeranern. Es kann nicht A u f gabe dieser Einleitung sein, dies Verhältnis i n extenso darzustellen, ich habe das an anderer Stelle versucht 18 . Während das Verhältnis zu Goethe v o n jugendlich-stürmischer Freundschaft sich — ohne eigentliche Trübung — zu distanzierter Höflichkeit w a n d e l t 1 9 , steht er Schiller, den er persönlich nicht gekannt zu haben scheint, v o n vornherein skeptisch gegenüber; 1785 beurteilt er dessen 'Fiesko* vollkommen negativ 2 0 . D r e i Jahre später k o m m t es zur offenen Auseinandersetzung über die 'Götter Griechenlands', gegen die Stolberg eine Polemik veröffentlicht, i n der sich ein Satz findet, der für seine Auffassung von der Aufgabe der Dichtung entscheidend ist und i h n v o n der Weimaer Klassik grundsätzlich trennt: »ich sehe w o h l das poetische Verdienst dieses Gedichtes ein, aber der wahren Poesie letzter Zweck ist nicht sie selbst.« 21 Vorher heißt es: »Auch die Poesie kommt von G o t t ! dürfen w i r k ü h n sagen; aber nur ihr wahrer Gebrauch heiliget sie. Ihre Bestimmung ist Wahrheit zu zeigen.« 22 Diese Polemik ist der Beginn des Streites um das B i l d der A n t i k e , der weit ins 19. Jahrhundert hineinreicht 2 3 . Herder hatte Stolberg 1784 i n Weimar kennengelernt und auch gelegentlich m i t i h m korrespondiert 2 4 , obgleich er sich ein Jahr später über einen Brief Herders, der i h m »Vergnügen gemacht«, zugleich auch »geärgert h a t « 2 5 . Wieland kannte er ebenfalls persönlich, aber zu einer engeren Beziehung kam es auch m i t i h m nicht 2 6 . »Die Herren i n Weimar könnten m i t eigenen Augen sehen, u : sehen alle durch eine Brille, die v o n sehr hellem Glase, aber schief geschliffen ist. Doch glauben sie alle m i t KinderEinfalt i n den blauen H i m m e l hineinzusehen. Wer sollte dencken daß man sich sogar über Einfalt täuschen kann«, heißt es i n dem bereits erwähnten B r i e f 2 7 . 18
Klopstock-Stolberg-Briefwechsel S. 99—109. Vgl. D. W. Schumann> Goethe and the Stoibergs: A Friendship of the Storm and Dress, Journal of English and Germanic Philology, Bd. 48 (1949), S. 483 bis 504 und (mit verändertem Titel) Bd. 50 (1951), S. 22—59. 80 Stolberg-Briefe S. 186. 11 G. W. Bd. 10, S. 431. 22 a.a.O., S. 426. 83 Vgl. W. Rehm, Götterstille und Göttertrauer. Ein Beitrag zur Geschichte der klassisch-romantischen Antikedeutung, Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1931, S. 208—297. 24 Vgl. D. Lohmeier, Herder und der Emkendorfer Kreis, Teil 1 (Darstellung), Nordelbingen Bd. 35 (1966), S. 103—132, Teil 2 (Briefe, darunter drei von F. L. Stolberg an Herder), a.a.O., Bd. 36, S. 39—62. 25 Stolberg-Briefe S. 178. Nachdem Lohmeier die in der vorigen Anmerkung genannten Briefe Stoibergs gefunden und veröffentlicht hat, ist meine Anmerkung 4 zu dem hier zitierten Brief, a.a.O., S. 520, entsprechend zu korrigieren. 2e Vgl. die in Anmerkung 15 verzeichnete Arbeit. • 7 Wie Anmerkung 25. le
10 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 9. Bd.
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Ist Stolbergs Verhältnis zur Weimarer Klassik ambivalent, so ist seine Beziehung zur Romantik eindeutig: er hat sie fast ohne Ausnahme nicht zur Kenntnis genommen. Weder Tieck, noch A r n i m , weder Wackenroder, noch Brentano hat er zu jener Zeit oder später gekannt. Brentano hat i h n 1818 besucht 28 , zu einer kurzen Korrespondenz k a m es aber nur m i t dessen jüngerem Bruder Christian, und diese Korrespondenz betraf ausschließlich religiöse Fragen 2®. A m erstaunlichsten ist, daß Stolberg Novalis offenbar nicht gekannt hat, obwohl er m i t dessen Brüdern A n t o n und K a r l korrespondierte 3 0 , und der letztere 1812 sein Schwiegersohn wurde. Auch Heinrich von Kleist blieb i h m unbekannt. K u r z : m i t verschwindenden Ausnahmen, wie etwa Friedrich Schlegel, A d a m M ü l l e r und Fouqué hat Stolberg die literarische Romantik überhaupt nicht zur Kenntnis genommen 31 . Brachin hat m i t Recht darauf hingewiesen, daß sich zwischen Stolbergs Konversion u n d den sich auf i h n berufenden romantischen Konversionen der Schlegel, Overbeck u. a. keine Parallele ziehen l ä ß t 3 2 : die Gründe für Stolbergs K o n version waren ausschließlich theologischer A r t . U n d theologisch ist auch der Ansatzpunkt seiner literarischen Urteile. Das W o r t »rein«, das immer wieder auftaucht, ist z w a r auch ein moralisches Urteil, viel mehr aber noch wertet es, ob ein Werk neben der Verkündung oder Darstellung christlicher Wahrheit oder eines Lebens, das unter dem Gesetz dieser Wahrheit steht, Tendenzen verfolgt, die dem widersprechen, die nur weltlich, nur menschlich sind. Dabei ist nicht die einzelne Handlung, der einzelne Gedanke entscheidend, sondern die Grundidee des Werkes. D e r 'Werther* ist nicht deshalb »gefährlich« ( N r . 16), w e i l er zum Selbstmord verführen könnte, sondern wegen des
28 Clemens Brentano, Briefe, hrsg. v. F. Seebaß, Bd. 2, Nürnberg 1951, S. 209 bis 211. 29 Stolberg-Briefe S. 454 f. und 456—458. Die von T. Janssen, Friedrich Leopold Graf zu Stolberg seit seiner Rückkehr zur katholischen Kirche, Freiburg 1877, S. 467 auf Clemens Brentano bezogene Äußerung Stoibergs meint dessen Bruder Christian, Stolberg-Briefe S. 454. 30 Vgl. Briefe aus dem Stolberg- und Novalis-Kreis... hrsg. v. H . Jansen, Westfälische Briefwechsel Bd. 2, Münster 1932 und Stolberg-B riefe passim. Paul Kluckhohn bezieht Novalis' Äußerung in seinem Brief an den Bruder Erasmus vom 20. Oktober 1795: »Stolbergen hab ich in Stolberg gesehn...« irrtümlich auf Friedrich Leopold: Novalis Schriften . . . hrsg. v. Paul Kluckhohn, Bd. 4, Leipzig (1929), S. 106. Es muß sich bei dem Genannten um ein Mitglied des StolbergStolbergsdien Zweiges der Familie handeln, Friedrich Leopold war zu der Zeit ohne Unterbrechnung in Eutin. 31 Sehr bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, daß Stolberg der mittelalterlichen Literatur sehr skeptisch, wenn nicht gar ablehnend gegenüberstand. Als Halem ihm 1787 Hartman von Aue empfiehlt, schreibt Stolberg: »zum tète & tète mit diesen altdeutschen werde ich wohl nie kommen. Für einen der dem Dante zu vergleichen seyn soll, möchten doch viele seyn die nichts als den Rost des Alterthums zur Empfehlung darbieten könnten.« Stolberg-Briefe S. 219. Das Nibelungenlied scheint ihm »ein roher Marmor«, Klopstock-Stolberg-Briefwechsel S. 87, und noch 1812 findet er »das Ding weder poetisch, noch moralisch, noch vaterländisch«. Stolberg-Briefe S. 427. 32 P. Brachin, F. L. v. Stolberg und die deutsche Romantik, Literaturwissenschaftliches Jahrbuch N. F. Bd. 1 (1960), S. 117—131.
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»zwar verderblichen, doch sehr einschmeichelnden Hauptgedanken, man müsse sein Herzchen halten, wie ein krankes Kind«. 99 D i e Kunst folgt also letzlich nicht eigenen Gesetzen, sondern ist den göttlichen Gesetzen unterworfen, denn die Kunst ist Folge der »Begeisterung«, ein metaphysischer Rausch, der dem Dichter »gegeben« w i r d , »ihm (aber) niemals zu Gebot steht« 3 4 . I n der Konsequenz heißt das, daß es gar keine Kunst gibt, sondern nur göttliche Offenbarung durch menschliche Werkzeuge.
4. I n den hier veröffentlichten Bemerkungen behandelt Stolberg — m i t Ausnahme v o n Hemsterhuis — nur deutschsprachige Autoren. Es ist deshalb zum Schluß noch ein W o r t über seine allgemeinen literarischen Kenntnisse und Interessen notwendig. Stolberg verfügte über eine immense Sprachbegabung: als er 1770, zwanzigjährig, die Universität H a l l e bezog, sprach und las er fließend Französisch, Lateinisch u n d natürlich Dänisch. I n H a l l e lernte er Englisch und beherrschte es i n kurzer Zeit vollkommen; n o d i nach 1800 übersetzte er den Ossian 8 5 . Z w e i Jahre später begann er i n Göttingen Griechisch zu lernen, und erlangte i m Laufe der Jahre eine intime Kenntnis dieser Sprache, wie sie wenige seiner Zeitgenossen gehabt haben dürften; 1778 erschien seine Ilias-Ubersetzung, die erste deutsche Homer-Ubersetzung i n Hexametern. I n den 1780er Jahren beginnt er seine Aeschylos-Ubersetzung, die 1802 erscheint und selbst Schiller großen Respekt abnötigt 8 6 . Zugleich beginnt er Italienisch zu lernen u n d liest Tasso und Dante i m Original. 1783 heißt es i n einem Brief an seine Schwägerin: »Obgleich m i r meine Arbeit am Aischülos die meiste Zeit nimt, lese ich doch täglich i n 6 Sprachen i z t . « 8 7 Dieser Sprachbegabung entsprach eine stupende Belesenheit. 1783 berichtet er seiner Schwester: » U m sieben steh' ich auf und lese i n meinem schönen Plutarch, bis w i r zum Frühstück gehn. D a n n lese ich wieder für mich; und m i t Agnes i m Fielding, u n d m i t Luise die sehr w e i t ist, i m H o r a z oder Cicero. Nach Tisch lese ich nachdem ich eine Stunde m i t Agnes oder allein i m Garten spaziert habe, m i t Luise den Tasso; dann m i t A g n e s . . . den Messias. . . . Unterdessen daß Agnes sich auszieht, lese ich für mich die Me88 Brief an Jacobi vom 19. Februar 1794, Stolberg-Briefe S. 307; vgl. dazu D. W. Schumann, Some notes on Werther, Journal of English and Germanic Philology, Bd. 55 (1956), S. 533—549. 84 G. W. Bd. 10, S. 399; vgl. die Darstellung der Poetik Stolbergs in KlopstockStolberg-Briefwechsel S. 62—67. 85 Stolbergs Ossian-Übersetzung erschien in 3 Bden 1806. Übrigens schrieb er gelegentlich auch englische Gedichte, vgl. Stolberg-Briefe S. 102 f. 86 Schillers Briefwechsel mit Körner, hrsg. v. K. Goedeke, «Leipzig 1878, Bd. 2, S. 424 und 432. 87 Stolberg-Briefe S. 148.
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Jürgen Behrens
m o i r e n des K a r d i n a l de R e t z ; welche mich sehr interessiren.« 38 Stolberg hat sein Leben lang viel gelesen, v o r allem die antiken Klassiker 3 9 , die er bis ins hohe Alter, später oft m i t seinen Söhnen, beinahe täglich las und i n großen Partien offensichtlich auswendig kannte. M a n w i r d aber auch i n den anderen europäischen Literaturen schwerlich ein wichtiges W e r k — m i t Ausnahme der mittelalterlichen Literatur — finden, das er nicht kannte. D a z u kommt, was sich ja auch i n den hier veröffentlichten Bemerkungen andeutet, eine ausgebreitete Lektüre historischer und politischer Literatur; so hat er offenbar den Streit um die amerikanische Unabhängigkeitserklärung genau verfolgt 4 0 . Auch findet man immer wieder Hinweise, daß er die wichtigen Journale der Zeit regelmäßig las. K u r z : Stolberg w a r durchaus ein homme de lettres und was hier bekannt gemacht w i r d , gibt nur einen kleinen Ausschnitt seiner literarischen Welt. Text Rezensionen des Grafen zu Stolberg über einige Schriftsteller als an der Z a h l 61.