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German Pages 432 Year 2017
LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH NEUE FOLGE, BEGRÜNDET VON HERMANN KUNISCH
IM AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN VON SUSANNE FRIEDE, BEATRICE JAKOBS, NORBERT LENNARTZ, KLAUS RIDDER, GERTRUD M. RÖSCH, CHRISTOPH STROSETZKI in Verbindung mit einem wissenschaftlichen Beirat PEER REVIEWED SEIT 2015
ACHTUNDFÜNFZIGSTER BAND
2017
DUNCKER & HUMBLOT · BERLIN
LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH ACHTUNDFÜNFZIGSTER BAND
Literaturwissenschaftliches Jahrbuch Neue Folge, begründet von Hermann Kunisch, im Auftrage der Görres-Gesellschaft
Peer reviewed seit 2015 Herausgeber Prof. Dr. Klaus Ridder, Deutsches Seminar, Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Wilhelmstr. 50, 72074 Tübingen (Altgermanistik, federführend) Prof. Dr. Susanne Friede, Romanisches Seminar, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Universitätsstraße 65–67, A–9020 Klagenfurt (Romanistik) Prof. Dr. Norbert Lennartz, Anglistik, Universität Vechta, Driverstr. 22, 49377 Vechta (Anglistik/Amerikanistik) Prof. Dr. Gertrud Maria Rösch, Institut für Deutsch als Fremdsprachenphilologie, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Plöck 55, 69117 Heidelberg (Neugermanistik) Prof. Dr. Christoph Strosetzki, Romanisches Seminar, Universität Münster, Bispinghof 3, 48143 Münster (Romanistik) PD Dr. Béatrice Jakobs, Romanisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Leibnizstr. 10, 24098 Kiel (Rezensionen)
Wissenschaftlicher Beirat Jürgen Barkhoff (Dublin), Matthias Bauer (Tübingen), Ricarda Bauschke (Düsseldorf), Ute Berns (Hamburg), Dieter Breuer (Aachen), Sebastian Coxon (London), Monika Fick (Aachen), Rüdiger Görner (London), Elke Koch (Berlin), Joachim Leeker (Dresden), Stéphane Macé (Grenoble), Friedhelm Marx (Bamberg), Anja Müller-Wood (Mainz), David Paroissien (Buckingham)
Redaktion Redaktionsanschrift: Prof. Dr. Klaus Ridder, Deutsches Seminar, Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Wilhelmstr. 50, 72074 Tübingen. Redaktion Aufsatzteil: Dr. Ulrich Barton. Redaktion Rezensionsteil: PD Dr. Béatrice Jakobs, Romanisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Leibnizstr. 10, 24098 Kiel. Merkblatt zur Manuskripterstellung und Merkblatt für Abbildungen: http://bit.ly/1B7LIRN Das Literaturwissenschaftliche Jahrbuch erscheint als Jahresband jeweils im Umfang von etwa 20 Bogen. Beiträge sind in Dateiform und als Ausdruck an die jeweils zuständigen Herausgeber zu senden. Unverlangt eingesandte Beiträge können nur zurückgesandt werden, wenn Rückporto beigelegt ist. Es wird dringend gebeten, die Manuskripte druckfertig, entsprechend den im Merkblatt (s. o.) angeführten typographischen Richtlinien einzureichen. Die Einhaltung der Vorschriften ist notwendig, damit eine einheitliche Ausführung des Bandes gewährleistet ist. Besprechungsexemplare von Neuerscheinungen aus dem gesamten Gebiet der Literaturwissenschaft, einschließlich Werkausgaben, werden an die Adresse der Redaktion (Rezensionsteil) erbeten. Eine Gewähr für die Rezension oder Rücksendung unverlangt eingesandter Besprechungsexemplare kann nicht übernommen werden.
Verlag Duncker & Humblot GmbH, Carl-Heinrich-Becker-Weg 9, 12165 Berlin.
LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH NEUE FOLGE, BEGRÜNDET VON HERMANN KUNISCH
IM AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN VON SUSANNE FRIEDE, BEATRICE JAKOBS, NORBERT LENNARTZ, KLAUS RIDDER, GERTRUD M. RÖSCH, CHRISTOPH STROSETZKI in Verbindung mit einem wissenschaftlichen Beirat PEER REVIEWED SEIT 2015
ACHTUNDFÜNFZIGSTER BAND
2017
DUNCKER & HUMBLOT · BERLIN
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2017 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Printed in Germany ISSN 0075-997X ISBN 978-3-428-15231-5 (Print) ISBN 978-3-428-55231-3 (E-Book) ISBN 978-3-428-85231-4 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Vorbemerkung Mit dem vorliegenden Band beendet Norbert Lennartz seine Tätigkeit als Mitherausgeber des Literaturwissenschaftlichen Jahrbuchs. Er war seit 2014 für die Herausgabe der anglistischen und amerikanistischen Beiträge verantwortlich. Die Görres-Gesellschaft sowie die Mitherausgeberinnen und Mitherausgeber danken ihm für die gute und freundschaftliche Zusammenarbeit. Die Nachfolge von Norbert Lennartz wird mit dem nächsten Band Oliver Scheiding antreten. Die Herausgeber / innen im Namen der Görres-Gesellschaft
Inhaltsverzeichnis AUFSÄTZE
Seraina Plotke (Basel), Wer spricht? Verfassername und Erzählinstanz in der mittelalterlichen Buchkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Justin Vollmann (Tübingen), Kosmopoetologie: Koordinaten der Selbstverortung mittelalterlichen Dichtens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Jan Stellmann (Tübingen), wilde / bilde: Semantische Funktionen eines häufigen Reims der mittelhochdeutschen Epik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Monika Unzeitig (Greifswald), Prosaroman und Figurenrede. Zu den Redeszenen in der Mort le Roi Artu und im Tod des König Artus . . . . . . . . . . . . . . . 113 Nicole Eichenberger (Freiburg, CH), Vermitteln und Verstehen in Kürze. Mittelhochdeutsche Kleinepik in rezeptionsästhetischer Perspektive . . . . . . . . . . 137 Christoph Oliver Mayer (Dresden), Clément Marot – »poète de Dieu et Dieu des poètes« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Eva von Contzen (Freiburg i. Br.), Listen im Transferprozess. Zur englischen und deutschen Rabelais-Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Jörn Steigerwald (Paderborn), Gattung und Geschlecht. Guilleragues’ Lettres portugaises zwischen Heldenbrief und Liebesklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Jürgen Meyer (Halle), Minding Criticism. The Cognitive Sciences and 18thCentury Literary Periodicals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Antonie Magen (München), Der »Doppelroman« der Berliner Romantik im Kontext des Briefwechsels zwischen Varnhagen und Fouqué . . . . . . . . . . . . 269 Gloria Colombo (Milano), Vom Imaginären zum Narrativen. Zu zentraleuropäischen und asiatischen Quellen einiger Architekturen in Kafkas Werken 289 Matthias Pape (Aachen), Mohámmed – ein Afrikaner in Wien. Kulturelle Antinomien im Spiegel von Bruno Franks Novelle Die Monduhr (1933) . . . . . 313 Manfred Lossau (Trier), Ein Tempel für Athene. Graecolatinitas in der Figurenkonzeption Thomas Manns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Tatjana Pavlov-West (Tübingen / Pretoria), Philomela X, a (his)story of silenced identities. André Brink’s The Other Side of Silence . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377
8 Inhaltsverzeichnis BUCHBESPRECHUNGEN
Cecile Sandten, Shakespeare’s Globe, Global Shakespeares: Transcultural Adaptations of Shakespeare in Postcolonial Literatures (von Rainer Emig) . . . . 399 Hans-Peter Wagner, A Survey of British Literature – Part I: Renaissance to Romanticism. Coursebook for Students, Vol. 1; Hans-Peter Wagner, A Survey of British Literature – Part I: Renaissance to Romanticism. Lecturers’ Manual (von Christoph Ehland) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 Frank Trende (Hg.), Sie rettete die ganze Stadt! Literarische Verwandlungen einer Nordsee-Sage (von Anna Sawko von Massow) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft. Bd. 65 / 2016 (von Anna Sawko von Massow) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 Klaus-Groth-Gesellschaft, Jahrbuch 2016 (von Anna Sawko von Massow) . . . 407 Heinrich Detering, Das Meer meiner Kindheit. Thomas Manns Lübecker Dämonen (von Friederike Tebben) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 Wolfgang Braungart, Literatur und Religion in der Moderne – Wolfgang Braungart (Hg.), Stefan George und die Religion (von Thomas Pittrof) . . . 410 Sabine Schmidt, Beyond the Veil: Culture, Religion, Language and Identity in Black British Muslimah Literature (von Eva Ulrike Pirker) . . . . . . . . . . . . . . 414 Daniela Carpi, Fairy Tales in the Postmodern World: No Tales for Children (von Thomas Kullmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 Stefan Horlacher (Hg.), Transgender and Intersex: Theoretical, Practical, and Artistic Perspectives (von Philip Jacobi) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 Namen- und Werkregister (von Ulrich Barton) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427
Wer spricht? Verfassername und Erzählinstanz in der mittelalterlichen Buchkultur Von Seraina Plotke Seit den Anfängen narratologischer Theoriebildung bei Henry James und Käte Friedemann steht die Instanz des Erzählers im Fokus des Interesses, weil sich in ihr die Vorstellung der Vermitteltheit von Narration kondensiert.1 Sowohl die aus der Romanforschung hervorgegangenen Entwürfe von Franz K. Stanzel oder Käte Hamburger wie auch die strukturalistisch angelegten Modelle Gérard Genettes und Mieke Bals arbeiten sich wesentlich an der Nachzeichnung und Verortung von Erzähler-Verhalten ab.2 Vor allem in der Auseinandersetzung mit Erzählformen des 19. und 20. Jahrhunderts entwickeln sie analytische Instrumentarien, um die Bedingungen, die strukturellen Merkmale und die Grundoperationen des Erzählens, genauer: erzählender Texte zu erfassen, wobei die Analyse der Erzählerinstanz mit derjenigen des Erzählvorganges und der Erzählperspektive einhergeht, zudem als grundsätzliches Problem das Verhältnis von Autor und Erzähler verhandelt wird, so einschlägig von Wolfgang Kayser oder – anders gewendet – von Wayne C. Booth.3 Die Theoriebildung ist dabei hauptsächlich durch die Untersuchungsgegenstände selbst geprägt. 1 Vgl. Henry James, The art of the novel. Critical prefaces, with an introduction by R. P. Blackmur, and a new foreword by Colm Tóibín, Chicago 2011 (erste Sammelausgabe der Prefaces 1909); Käte Friedemann, Die Rolle des Erzählers in der Epik, Berlin 1910. 2 Vgl. Karl F. Stanzel, Die typischen Erzählsituationen im Roman, dargestellt an ›Tom Jones‹, ›Moby Dick‹, ›The Ambassadors‹, ›Ulysses‹ u. a., Wien / Stuttgart 1955; Käte Hamburger, Die Logik der Dichtung, Stuttgart 1957; Gérard Genette, »Discours du récit«, in: ders., Figures III, Paris 1972, 67–273, dt.: Die Erzählung, mit einem Nachwort hg. Jürgen Vogt, übers. Andreas Knop, München 1994, 9–176; Mieke Bal, De theorie van vertellen en verhallen, Muiderberg 1980, engl.: Narratology. Introduction to the Theory of Narrative, transl. Christine van Boheemen, Toronto 1985. 3 Vgl. Wolfgang Kayser, »Wer erzählt den Roman?«, Neue Rundschau 68 (1957), 444–459; Wayne C. Booth, The rhetoric of fiction, Chicago 1961, dt.: Die Rhetorik der Erzählkunst, übers. Alexander Polzin, 2 Bde., Heidelberg 1974.
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Erzählen ist seinem Ursprung nach eine Kategorie der Mündlichkeit. Die Narratologie als wissenschaftliche Disziplin hat sich jedoch vornehmlich an Texten abgearbeitet, welchen diese Kategorie im Wesentlichen abhanden gekommen ist. Mittelalterliches Erzählen bewegt sich hingegen viel stärker im Spannungsfeld von Oralität und Literalität. Insofern stellt sich die grundlegende Frage: Wie sieht eine historische Narratologie aus, die ihre Begrifflichkeiten und ihre Analysekategorien anhand mittelalterlicher Texte gewinnt?4 Gerade die Erzählinstanz als zentrale operative Größe erweist sich hier als Schlüssel der Herangehensweise. Eine maßgebende Rolle spielt dabei die Berücksichtigung der unterschiedlichen medialen Bedingungen des Mittelalters und der Neuzeit, die sich nicht nur im differenten Stellenwert der Oralität äußern, sondern vor allem auch in einem anders gearteten Buchwesen. Gerade was die systemische Unterscheidung von Autor und Erzähler anbelangt, fokussiert die Narratologie ihre Untersuchungsgegenstände fast ausschließlich in der Präsentationsform des modernen Buches mit seinen konstituellen Parametern (wie den mit der Buchpublikation selbst verbundenen Paratexten, der Literaturkritik, den journalistischen und wissenschaftlichen Diskursen etc.). Sie kategorisiert werkimmanent, ohne die spezifischen produktions- und rezeptionsästhetischen Bedingungen sowie ihre historischen und medialen Variablen zu problematisieren. Dass literarische Kommunikation – gerade bei volksprachigen Erzähltexten – im Hochmittelalter wesentlich anders geregelt war als in der Moderne, wird allein mit Blick auf die damalige Manuskriptkultur deutlich. Insofern liegt die Überlegung nahe, dass die auf der Grundlage der modernen Buchwelt entwickelte erzähltheoretische Begriffsbildung mittelalterlicher Narration gar nicht beizukommen vermag. Aus diesem Grund rückt der folgende Beitrag die Phänomene der Konstituierung von Erzählinstanzen in mittelalterlichen Narrativen in den weiteren Zusammenhang der damaligen Buch- und Bildungskultur. Zur literatursoziologischen Alterität5 des Mittelalters gehört, dass die Rezipienten volkssprachlicher Erzähltexte häufig illiterat waren, so dass sie die betreffenden Werke nicht 4 Vielfältige und aspektreiche Überlegungen präsentieren: Harald Haferland, Matthias Meyer (Hgg.), Historische Narratologie. Mediävistische Perspektiven, Berlin / New York 2010; Armin Schulz, Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive, hg. Manuel Braun, Alexandra Dunkel, Jan-Dirk Müller, Berlin 2012. 5 Der Begriff der ›Alterität des Mittelalters‹ ist in der mediävistischen Forschung so geläufig wie umstritten (siehe jüngst etwa Anja Becker, Jan Mohr [Hgg.], Alterität als Leitkonzept für historisches Interpretieren, Heidelberg 2012; Manuel Braun [Hg.], Wie anders war das Mittelalter? Fragen an das Konzept der Alterität, Göttingen 2014).
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selbst lasen, sondern in der Vortragssituation auditiv aufnahmen. Während mit der erzähltheoretischen Prämisse aller Vermitteltheit von Narration in der Moderne gerade kein Pendant in der Rezeptionssituation korrespondiert, weil sich der Leseakt meist unvermittelt in der persönlichen Lektüre ereignet,6 bedurften volkssprachliche, schriftlich festgehaltene Narrative im Mittelalter für einen nicht unwesentlichen Teil des Publikums zwangsläufig eines Deklamators oder Rezitators, der den Erzähltext zu Gehör brachte und damit den Rezeptionsprozess überhaupt erst ermöglichte. Erzählerische Vermittlung entsprach damit jenseits der reinen Darstellungstechnik einer schlichten kommunikativen Notwendigkeit und erhielt im Darbietungsakt selbst eine performative Dimension, wie sie moderner Erzählliteratur gemeinhin fehlt.7 Hand in Hand mit dieser Differenz der Rezeptionsbedingungen geht der Umstand, dass zur medialen Präsentation des literarischen Artefakts in der neuzeitlichen Buchkultur Paratexte gehören, die Informationen zum Werk liefern und insbesondere strukturelle Metadaten wie Angaben zur Autorschaft kommunizieren, so dass sich das Verhältnis von Autor und Erzähler immer schon vor diesem Hintergrund zeigt. Die mittelalterliche kodikale Werkpräsentation basiert in vielen Fällen nicht auf verbalen Paratexten. Vielmehr (und viel häufiger) mussten basale Parameter des jeweiligen Texttyps und auch die literarischen Instanzen von Autor8 und Erzähler primär textintern aufgebaut und dabei in ihrem funktional differenzierten Zusammenspiel jeweils explizit ausgehandelt oder zumindest thematisiert werden. Statt einer stabilen Hierarchie der Autor / ErzählerDifferenz, wie sie von der Narratologie auf der Grundlage des modernen Buchwesens postuliert wird, präfigurieren mittelalterliche Erzählformen den Akt ihrer Darbietung und Rezeption durch erzählerische Einschaltun6 Die Erzähler als Vermittler lassen sich in diesem Fall mit Roland Barthes als »êtres de papier« bezeichnen (Roland Barthes, »Introduction à l’analyse structurale des récits«, Communications 8 [1966], 1–27, hier 19). 7 Vgl. grundlegend Paul Zumthor, La poesie et la voix dans la civilisation médiévale, Paris 1984; dt.: Die Stimme und die Poesie in der mittelalterlichen Gesellschaft, übers. Klaus Thieme, München 1994. Des Weiteren auch Ursula Schaefer, Vokalität. Altenglische Dichtung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Tübingen 1992. Was jüngste germanistisch-mediävistische Arbeiten zu diesem Themenfeld angeht, sind mit je eigener Perspektivierung der Problematik zu nennen: Sonja Glauch, An der Schwelle zur Literatur. Elemente einer Poetik des höfischen Erzählens, Heidelberg 2009; Matthias Däumer, Stimme im Kopf und Bühne im Raum. Über das performative Potenzial der höfischen Artusromane, Bielefeld 2013. 8 Diesen Problempunkt beleuchtet Monika Unzeitig, Autorname und Autorschaft. Bezeichnung und Konstruktion in der deutschen und französischen Erzählliteratur des 12. und 13. Jahrhunderts, Berlin 2010.
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gen sowohl kompositorischer wie diskursiver Art. Diese Manifestationen von Erzählverhalten haben, wie im Folgenden anhand des Herzog Ernst B sowie des Iwein Hartmanns von Aue gezeigt wird, ihre funktionale Basis darin, einen nicht paratextuell abgestützten Kommunikationsraum des Erzählens durch textinterne Manöver allererst zu erzeugen. Letzten Endes setzen die aus der Romanforschung und dem Strukturalismus erwachsenen terminologischen Modelle eine textimmanente und historisch-kulturellen Differenzen enthobene Herangehensweise an die Gegenstände voraus; diese soll hier aufgebrochen werden, indem die Instrumente narratologischer Strukturanalyse über den Funktionsaspekt der (fehlenden bzw. zu kompensierenden) Paratextualität in Bezug zur Alterität mittelalterlicher Buchkultur gesetzt werden. Die Sprecherposition als Kommunikationsinstanz Nu vernemet alle besunder: ich sage iu michel wunder von einem guoten knehte. daz sult ir merken rehte. ez ist ze hoerenne guot, ez gît vil manigen muot, swâ man von degenheite seit. […] Diz spriche ich allez umbe daz daz ir merket deste baz ditze liet daz ich wil sagen, wan ich iuch niht wil verdagen die nôt und starke arbeit, die der herzoge Ernest leit do er von Beiern wart vertriben. (Herzog Ernst B, v. 1–7, 31–37)9 Nun hört alle zu! Ich werde euch außergewöhnliche Geschichten von einem ehrenwerten Krieger berichten. Dies sollt ihr aufmerksam verfolgen. Es ist gut zu hören und weckt vielerlei Erwartungen, wo immer man von Tapferkeit berichtet. […] Dies alles sage ich deshalb, damit ihr umso besser auf die Dichtung achtet, die ich euch kundtun will. Ich will euch nämlich die Nöte und Mühsale nicht verschweigen, die der Herzog Ernst erduldete, als er aus Bayern vertrieben worden war. 9 Der Text wird hier und im Folgenden zitiert nach der Edition: Herzog Ernst. Ein mittelalterliches Abenteuerbuch, in der mittelhochdeutschen Fassung B nach der Ausgabe von Karl Bartsch mit den Bruchstücken der Fassung A, hg., übers. und mit Anmerkungen vers. Bernhard Sowinski, Stuttgart 2000. Die Übersetzungen stammen von mir, S. P.
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Mit dieser Anrede beginnt eine epische Dichtung, die in zwei Handschriften aus dem 15. und einem Fragment aus dem 14. Jahrhundert überliefert ist.10 Ihre Entstehungszeit wird meist ins frühe 13. Jahrhundert datiert, in Ermangelung an Informationen zum Verfasser wird der Text, der von den wundersamen Abenteuern des bayrischen Herzogs Ernst erzählt, als Herzog Ernst B bezeichnet, zur Unterscheidung von anderen deutschen und lateinischen dichterischen Bearbeitungen und Prosafassungen des Stoffs.11 Die zitierten Eingangsverse des Herzog Ernst B eröffnen eine explizite Kommunikationssituation: Ein Sprecher wendet sich direkt an eine Zuhörerschaft und redet diese in der zweiten Person Plural an. Dass es sich nicht nur um eine Sprech-, sondern spezifisch um eine Erzählsituation handelt, wird mit den ersten Versen deutlich. Über den Imperativ vernemet (v. 1) wird zum Auftakt Aufmerksamkeit für den Sprecher erheischt, der sich als Subjekt der narrativen Konstellation im Folgenden installiert: ich sage iu michel wunder / von einem guoten knehte (v. 2 / 3). Allein schon durch die gehäuft verwendeten Verben des Sagens, die wiederum im hoerenne (v. 5) der Adressaten ihr Komplement finden, ist die Erzählinstanz als eine oral sendende konzipiert, die sich an auditiv Empfangende richtet und dies auch prononciert artikuliert: ich sage iu (v. 2), diz spriche ich (v. 31), daz ich wil sagen (v. 33). Passend zu dieser auf Mündlichkeit abzielenden Narrationssituation kündigt der Sprecher ein liet an, zu des10 Der Herzog Ernst B ist in folgenden Textzeugen tradiert: einer 1441 entstandenen Papierhandschrift, die außerdem Konrads von Würzburg Trojanerkrieg (inkl. Fortsetzung) sowie Rudolfs von Ems Willehalm von Orlens enthält (Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Hs. 998 [olim Hs. 998 + 5383 + 2285]); einer ebenfalls aus dem 15. Jahrhundert stammenden Papierhandschrift, die nur diesen Text präsentiert (Wien, Österr. Nationalbibl., Cod. 3028); sowie einem kurzen Papierfragment aus der Mitte des 14. Jahrhunderts (Wels, Stadtarchiv, Akten, Sch. Nr. 1227). Dazu mehr unten. 11 Der Herzog-Ernst-Stoff hat sowohl in deutscher als auch lateinischer Sprache diverse Bearbeitungen erfahren. Die älteste deutsche Fassung, die lediglich in drei fragmentarischen Handschriften äußerst rudimentär überliefert ist, wird auf die Zeit 1160 / 70 datiert (als Herzog Ernst A bezeichnet). Die Version B, eine stilistische Umarbeitung des A-Textes, ist entweder noch im 12., möglicherweise im frühen 13. Jahrhundert entstanden (vgl. Hans Szklenar, Hans-Joachim Behr, »Herzog Ernst«, in: Kurt Ruh, Burghart Wachinger [Hgg.], Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 14 Bde., 2. Aufl., Berlin / New York 1981, Bd. 3, Sp. 1170–1191, hier Sp. 1178–80; Jens Haustein, »Herzog Ernst zwischen Synchronie und Diachronie«, in: Helmut Tervooren, Horst Wenzel [Hgg.], Philologie als Textwissenschaft. Alte und neue Horizonte, [ZdfPh 116, Sonderheft], Berlin 1997, 115–130, hier 125–127; Joachim Bumke, »Zur Überlieferungsgeschichte des Herzog Ernst und zu einer neuen Ausgabe des Herzog Ernst A«, Zeitschrift für deutsche Philologie 119 / 3 (2000), 410–415).
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sen Inhalt er summarisch vermerkt, von den Nöten und Mühsalen berichten zu wollen, die der Herzog Ernst erlebte, nachdem er aus Bayern vertrieben worden war (v. 33–37). Doch wer spricht hier? Qui parle? – Dies ist die Ausgangsfrage, von der aus der französische Literaturtheoretiker Gérard Genette seine komplexe Bestimmung und Nomenklatur der Erzählinstanzen in narrativen Texten entfaltet: Unter die Klassifikation der »Stimme«, die er hinsichtlich seiner Basisfrage »Wer spricht?« als zentrale Analysekategorie installiert, wobei er die grundlegende Entkoppelung der Erzählinstanz vom Wahrnehmungszentrum vornimmt,12 fasst er alle Problemstellungen, »die die Art und Weise betreffen, wie in der Erzählung oder dem narrativen Diskurs die Narration selber impliziert ist.«13 So definiert er »die Stimme« als »die Produktionsinstanz des narrativen Diskurses«.14 Um die schillernden Facetten dieser Produktionsinstanz im Einzelnen zu durchleuchten, schafft er ein eigenes Vokabular, mit dem sich die diversen Aspekte der »Stimme« systematisch begreifen lassen.15 Wie die meisten Erzähltheoretiker des 20. Jahrhunderts gewinnt auch Genette sein Analyseinstrumentarium in der Auseinandersetzung mit narrativen Texten der Moderne. Die Problematik einer solchen induktiven Narratologie liegt selbstredend darin, dass die gebildeten Theoreme wesentlich durch die untersuchten Gegenstände geprägt sind. Ausschließlich dies, wofür moderne Erzähltexte den Blick frei geben, wird Teil der Analyseraster. Anders gesagt: Nur was sich als Charakteristika der Texte und ihrer Präsentationsweise beobachten lässt, findet Eingang in die Systematiken und zeigt seinen Widerhall in den konstitutiven Ordnungsschemata. Von daher hängt die thematische Spannbreite der narratologischen Theoreme unweigerlich mit den Ausprägungen der Buchkultur des 19. und des 20. Jahrhunderts zusammen. Umgekehrt bedeutet dies, dass hinsichtlich all derjeniger narrativen Erscheinungsformen, die nicht zu den Eigentümlichkeiten des modernen Romans und seiner material-medialen Darbietungsweise gehören, zwangsläufig blinde Flecken bleiben. Erzählung, 132. 19. 14 Ibid., 152. Zur narratologischen Kategorie der Stimme, wie Genette sie stark gemacht hat, siehe weiterführend: Andreas Blödorn, Daniela Langer, Michael Scheffel (Hgg.), Stimme(n) im Text. Narratologische Positionsbestimmungen, Berlin / New York 2006. Eine sehr grundlegende und in verschiedene Wissenschaftsbereiche ausgreifende ›Theorie der Stimme‹ hat Mladen Dolar vorgelegt (vgl. Mladen Dolar, O glasu, Ljubljana 2003; dt.: His Master’s Voice. Eine Theorie der Stimme, übers. aus dem Englischen Michael Adrian, Bettina Engels, Frankfurt a. M. 2007). 15 Genette, Erzählung, 151–188. 12 Genette, 13 Ibid.,
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Gerade was die Frage nach der narrativen Stimme und die Typisierung differenter Erzählinstanzen angeht, betonen jüngere literaturwissenschaftliche Arbeiten – zu nennen sind etwa Studien von Marie-Laure Ryan16 oder Uri Margolin17 –, dass es allein zur Identifikation bestimmter Erzählertypen und erst recht zur Bestimmung ihres Verhältnisses zum Autor des Texts grundsätzlicher Rahmungen bedarf, da sich die Narrationsinstanzen nur in Bezug auf diese kategorisieren lassen. Auch von der Sprechakttheorie18 und der soziologischen Pragmatik ging die Erkenntnis aus, dass für die Analyse verbaler Äußerungen die frames zu berücksichtigen sind, innerhalb derer sie getätigt werden (besonders aufschlussreich sind hier etwa die Überlegungen von Erving Goffman19). Die Rahmungen von Erzähltexten gehören als kommunikative Einbettungsleistungen jedoch weniger zu den Narrativen selbst, sondern vielmehr zum Buchwesen, das sich in unterschiedlichen Epochen je anders zeigt. Anschaulich haben dies etwa für die deutsche Romanliteratur um 1800 Till Dembeck und Uwe Wirth mit ihren umfassenden Analysen zu Werken von Christoph Martin Wieland, Karl Philipp Moritz, E.T.A. Hoffmann oder Jean Paul gezeigt.20 Die Klärung der von Gérard Genette zugespitzt formulierten Frage »Wer spricht?« und damit die Bestimmung und Charakterisierung der Stimme des Erzählens in einem je konkreten Text hängt also grundsätzlich mit der Problematik der Rahmung der narrativen Sprechsituation zusammen. Auch die zitierten Eingangsverse des Herzog Ernst B können nur vor dem Hintergrund der frames, die sie umgeben, analysiert werden. 16 Vgl. Marie-Laure Ryan, Possible worlds, artificial intelligence, and narrative theory, Bloomington 1991; Marie-Laure Ryan, Narrative as virtual reality. Immersion and interactivity in literature and electronic media, Baltimore 2001. 17 Vgl. Uri Margolin, »Collective Perspective, Individual Perspective, and the Speaker in Between: On ›We‹ Literary Narratives«, in: Willie van Peer, Seymour Chatman (Hgg.), New Perspectives on Narrative Perspective, Albany 2001, 241–253. Siehe auch: Remigius Bunia, »Die Stimme der Typographie. Überlegungen zu den Begriffen ›Erzähler‹ und ›Paratext‹, angestoßen durch die Lebens-Ansichten des Katers Murr von E. T. A. Hoffmann«, Poetica 36 (2005), 373–392. 18 Zur Verbindung von Sprechakt- und Erzähltheorie siehe etwa Frank Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft, Berlin 2001. 19 Siehe Erving Goffman, Frame analysis. An essay on the organization of experience, Cambridge, Mass., 1974; dt.: Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, übers. Hermann Vetter, Frankfurt a. M. 1977. 20 Vgl. Till Dembeck, Texte rahmen. Grenzregionen literarischer Werke im 18. Jahrhundert (Gottsched, Wieland, Moritz, Jean Paul), Berlin 2007; Uwe Wirth, Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800: Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E.T.A. Hoffmann, Paderborn 2008.
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Solange sich narratologische Problemstellungen auf schriftliche resp. schriftlich tradierte Texte konzentrieren, lassen sie sich nicht loslösen von Fragen der Buchkultur und den literatur- und bildungssoziologischen Bedingungen ihrer Rezeption, dies ist die Quintessenz, die sich daraus ergibt. Mit dem Phänomen der Rahmung, wie sie im modernen Buchwesen zur Wahrnehmung von Texten gehört, hat sich ebenfalls Gérard Genette einschlägig in seiner Studie Seuils auseinandergesetzt, jedoch ohne unmittelbare Bezugnahme auf seine Erzähltheorie.21 Als Paratext definiert er dort »jenes Beiwerk, durch das ein Text zum Buch wird und als solches vor die Leser und, allgemeiner, vor die Öffentlichkeit tritt.«22 Genette sieht im Paratext – wie schon der Titel seiner Abhandlung offenbart – eine Schwelle, »eine ›unbestimmte Zone‹ zwischen innen und außen, die selbst wieder keine feste Grenze nach innen (zum Text) und nach außen (dem Diskurs der Welt über den Text) aufweist.«23 Was die Klassifizierung der einzelnen paratextuellen Elemente betrifft, lässt sich der Strukturalist auch hier von Grundfragen leiten, mit Hilfe derer die Rahmenbestandteile, die die Zugangsschwelle zu einem Text bilden, unterschieden werden können: Definiert wird ein Paratextelement durch die Bestimmung seiner Stellung (Frage wo?), seiner verbalen oder nicht verbalen Existenzweise (wie?), der Eigenschaften seiner Kommunikationsinstanz, Adressant und Adressat (von wem? an wen?), und der Funktionen, die hinter seiner Botschaft stecken: wozu?24
Um diese Fragen gezielt zu verfolgen, unterteilt Genette sämtliche Paratexte in die zwei Grobkategorien der Peritexte, die sich am Textträger selbst befinden, ja Teil des Buches sind, wie es sich präsentiert, und in die Epitexte, die die Wahrnehmung eines Texts von anderen medialen Trägern her beeinflussen.25 Was die Peritexte angeht, lassen sich in Bezug auf das moderne Buch folgende Bestandteile identifizieren, die in der Regel vom Autor und / oder vom Verleger festgelegt werden: alle Angaben auf dem Umschlag und auf dem Titelblatt wie der Name des Autors, der Titel des Werks, Angaben zur Gattung, zum Verlag oder zur Reihe, Spezifizierungen im Klappentext usw., des Weiteren Widmungen, Vorworte, Inhaltsverzeichnisse, aber auch nonverbale Komponenten wie das Buchformat oder der Schrifttyp, die Kapiteleinteilung oder die Art der Ab21 Gérard Genette, Seuils, Paris 1987; dt.: Paratexte, mit einem Vorwort von Harald Weinrich, übers. Dieter Hornig, Frankfurt a. M. 1989. 22 Ibid., 10. 23 Ibid. 24 Ibid., 12. 25 Ibid., 12 / 13.
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satzgestaltung.26 Zu den Epitexten wiederum gehören: Verlagskataloge, Interviews mit Autoren, Verlegern, Kritikern etc. in diversen Medien, darüber hinaus auch Literaturdebatten und Kolloquien, Selbstkommentare des Autors in Tagebüchern oder Briefen usw.27 All diese paratextuellen Elemente sind charakteristisch für das moderne Buchwesen und tragen, gerade auch bei narrativen Texten, zur Rahmung bei: Sie bilden die frames, die die Kommunikationssituation des Erzählens prägen und von denen her sich die Erzählinstanzen und deren Verhältnis zum Autor des Texts bestimmen lassen. Sie gehören grundlegend zur Form, in der sich Erzähltexte heute ihren Lesern präsentieren, und liefern Metadaten, die die Rezeption maßgeblich steuern.28 Dies geht so weit, dass das Fehlen bestimmter paratextueller Informationen ein hohes Irritationspotential birgt und vor allem die Kategorien Autorname und Werktitel als nahezu unverzichtbar gelten. Gerade der aktuelle Buchmarkt funktioniert ausschließlich dank paratextueller Ordnungsstrukturen. Fragen wir nach der Rahmung der Kommunikationssituation im Herzog Ernst B, vor allem nach dem Peritext, dann ist festzustellen, dass ein solcher bei den Überlieferungsträgern dieses Werks fast gänzlich fehlt. Die beiden spätmittelalterlichen Handschriften, die den Erzähltext als Ganzen tradiert haben, legen uns dessen oben zitierten Anfang quasi schwellenlos vor. In extremer Form gilt dies für den aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts stammenden Wiener Codex 3028, der das Dichtwerk gleichsam nackt in einer gotischen Eilschrift präsentiert.29 Das einspaltig geschriebene Manuskript bietet zwar minimal graphische Elemente, die den Text strukturieren: So sind die Verse abgesetzt geschrieben mit roter Strichelung der Anfangsbuchstaben, zudem sind Absätze durch rote Lombarden markiert. Über diese paraverbal-gliedernden Charakteristika hinaus finden sich an diesem Textträger jedoch keinerlei Informationen, die zur Einordnung des Werks und insbesondere zur Spezifizierung der Kommunikationssituation, wie sie mit den Anfangsversen eröffnet wird, beitragen. Zugespitzt formuliert könnte man also sagen: Die durch die »Abfolge […] 26 Detailliert
ibid., 22–327. ibid., 328–384. 28 Dies gilt selbst für die neuerdings populären Hörbücher, die mit entsprechenden Daten und Informationen auf der Box des Tonträgers versehen sind. 29 Vgl. Hermann Menhardt, Verzeichnis der altdeutschen literarischen Handschriften der Österreichischen Nationalbibliothek, 3 Bde., Berlin 1961, Bd. 2., 820 / 821. Des Weiteren auch: Cornelia Weber, Untersuchung und überlieferungskritische Edition des Herzog Ernst B mit einem Abdruck der Fragmente von Fassung A, Göppingen 1994. 27 Dazu
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bedeutungstragender verbaler Äußerungen«30 konstituierte Sprechsituation besitzt im Wiener Codex 3028 keinen paratextuellen Rahmen, wenn man von nonverbalen Charakteristiken wie der Rubrizierung der Versanfänge, dem Layout der Verse oder dem Blattformat absieht.31 Nicht ganz so markant zeigt sich der Fall bei der wesentlich kunstvoller gestalteten Nürnberger Papierhandschrift (Hs 998) aus dem Jahr 1441, die den Herzog Ernst B als dritten und letzten Erzähltext nach Konrads von Würzburg Trojanerkrieg (inkl. Fortsetzung) und Rudolfs von Ems Willehalm von Orlens unterbreitet.32 Alle drei Texte sind zweispaltig angeordnet mit abgesetzten Versen und roter Strichelung der Zeilenanfänge, wobei der Herzog Ernst B von einer zweiten Hand stammt. Während der Trojanerkrieg und der Willehalm rote, grüne und blaue Fleuronnée-Initialen zur Strukturierung und zahlreiche kolorierte Federzeichnungen zur Illustration des Inhalts aufweisen, zeigt der Herzog Ernst B nur die einfacheren roten Lombarden, um Absätze zu kennzeichnen. Darüber hinaus besitzt er allerdings als einziger der drei in dieser Handschrift versammelten Versromane verbale Paratext-Elemente, indem bereits der Anfang – der außerdem durch eine große Zierinitiale mit Randleisten und Drolerien markiert ist – über einen kurzen, rot geschriebenen Titel verfügt, der ankündigt: Diß ist hertzog Ernst von Beiern.33 Auch der Lauf des Verstexts ist vereinzelt durch rote Kapitelüberschriften durchbrochen, die den Text strukturieren und die Rezeption lenken. Damit beginnt der Herzog Ernst B im Nürnberger Manuskript nicht ohne jede verbale Zutat wie im Wiener Codex. Was Metadaten angeht, die zur Einordnung des Sprechers der Auftaktverse dienlich wären, finden sich jedoch auch hier keinerlei Informationen. Im Befund, dass der Herzog Ernst B in den mittelalterlichen Textträgern kaum paratextuelle Angaben enthält, die über nonverbal-graphische Strukturelemente hinausgehen, stellt dieses Werk innerhalb der damaligen Buchkultur keine Besonderheit dar. Dass volkssprachliche Texte in den Codizes Seuils, 9. Georg Stanitzek, »Buch: Medium und Form – in paratexttheoretischer Perspektive«, in: Ursula Rautenberg (Hg.), Buchwissenschaft in Deutschland. Ein Handbuch, 2 Bde., Berlin 2010, Bd. 1: Theorie und Forschung, 156–200, hier 158– 163; Georg Stanitzek, »Texte, Paratexte, in Medien: Einleitung«, in: Klaus Kreimeier, Georg Stanitzek (Hg.) unter Mitarbeit v. Natalie Binczek, Paratexte in Literatur, Film, Fernsehen, Berlin 2004, 3–19, hier 6. 32 Vgl. Lotte Kurras, Die deutschen mittelalterlichen Handschriften, Erster Teil: Die literarischen und religiösen Handschriften. Anhang: Die Hardenbergschen Fragmente, Wiesbaden 1974, 9 / 10. 33 Vgl. Nürnberg, Hs 998, 267r. 30 Genette, 31 Vgl.
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ohne ›Beiwerk‹ präsentiert sind, zumindest ohne verbal-klassifizierendes, ist ein häufig anzutreffendes Phänomen. Sehr weit verbreitet sind paraverbal-strukturierende Elemente wie farblich hervorgehobene Initialen, die einen Text in Abschnitte gliedern, welche wiederum die Rezeption steuern.34 Auch kurze Zwischenüberschriften, die (dem Vorleser) helfen, sich innerhalb des Manuskripts zurechtzufinden, ja beispielsweise eine bestimmte Stelle in einem Werk (wieder) auszumachen, gehören zu den paratextuellen Charakteristiken mittelalterlicher Handschriftenkultur.35 Systematisierende Metadaten wie Angaben zum Verfasser oder zur Gattungszugehörigkeit, die werkextern bereits den ersten Eindruck prägen, noch bevor in die eigentliche Lektüre des Texts eingetreten wird, finden sich an und in mittelalterlichen Codizes jedoch kaum. Bei lateinischer Literatur, insbesondere bei den Werken der auctores, der Kirchenväter und der sonstigen antiken Referenzautoren, werden Verfasser und Werktitel zwar nicht selten am Textanfang graphisch hervorgehoben genannt, bei volkssprachlicher Literatur ist ein solches Verfahren jedoch nicht geläufig. Bisweilen werden titelartige Informationen zum Inhalt des Texts zu Beginn oder zum Ende gegeben – mitunter über Incipit- oder Exlicit-Formeln –, wie dies auch bei der Herzog Ernst B-Überlieferung sichtbar wird. Eine Ausnahme bilden die großen Lyrikhandschriften, die nach einem verfasserorientierten Prinzip strukturiert sind.36 Gerade für 34 Siehe weiterführend Jürgen Wolf, Buch und Text. Literatur- und kulturhistorische Untersuchungen zur volkssprachigen Schriftlichkeit im 12. und 13. Jahrhundert, Tübingen 2008. 35 Siehe etwa zum Beispiel der Parzival-Überlieferung: Michael Stolz, Gabriel Viehhauser-Mery, »Text und Paratext. Überschriften in der Parzival-Überlieferung als Spuren mittelalterlicher Textkultur«, in: Eckhart Conrad Lutz, Wolfgang Haubrichs, Klaus Ridder (Hgg.), Text und Text in lateinischer und volkssprachiger Überlieferung des Mittelalters (Wolfram Studien 19), Berlin 2006, 317–351. Zu den Besonderheiten spätmittelalterlicher Handschriftenkultur ebenfalls am Beispiel des Parzival: Gabriel Viehhauser-Mery, Die Parzival-Überlieferung am Ausgang des Manuskriptzeitalters. Handschriften der Lauberwerkstatt und der Strassburger Druck, Berlin 2009. 36 Siehe dazu weiterführend etwa Thomas Bein, »Zum ›Autor‹ im mittelalterlichen Literaturbetrieb und im Diskurs der germanistischen Mediävistik«, in: Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez, Simone Winko (Hgg.), Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, Tübingen 1999, 303–320; Michael Stolz, »Die Aura der Autorschaft. Dichterprofile in der Manessischen Liederhandschrift«, in: Michael Stolz, Adrian Mettauer (Hgg.), Buchkultur im Mittelalter. Schrift – Bild – Kommunikation, Berlin / New York 2005, 67–99; Cordula Kropik, »Formen der Anonymität in mittelhochdeutscher Liedüberlieferung«, in: Stephan Pabst (Hg.), Anonymität und Autorschaft. Zur Literatur- und Rechtsgeschichte der Namenlosigkeit, Berlin / New York 2011, 73–87.
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volkssprachige, narrative Texte gilt jedoch, dass peritextuell hervorgehobene Angaben zum Dichter in den Manuskripten selten vorkommen. Die Bucheinbände wiederum weisen zwar Unterschiede in der Ausstattung auf, präsentieren jedoch in aller Regel keine verbalen Informationen zum Inhalt. Wie der Rekurs auf die handschriftlichen Überlieferungsträger des Herzog Ernst B verdeutlicht, tritt diese Dichtung nicht als Buch mit Paratexten vor die Rezipienten, sondern kommt erst mit dem Beginn der Lektüre des Verstexts in den Wahrnehmungsraum des Publikums. Mit dem Eintritt in den Leseakt der Dichtung wird eine Kommunikationssituation inauguriert, in der sich eine Redeinstanz explizit an einen nicht näher bestimmten Adressatenkreis richtet. Offensichtlich handelt es sich bei den oben zitierten Auftaktsversen um einen Prolog, der auf das Dichtwerk als solches aufmerksam macht, in die Geschichte einführt und auch den Zweck der Dichtung nennt.37 Die Sprechstimme, die sich kommunikativ und erzählend in den ersten Versen inszeniert, eröffnet denn auch eine Reihe von Metadaten: So erhält das Publikum in Kürze Angaben zur Gattung, zum Thema und zum Protagonisten des Werks. Der Prolog des Herzog Ernst B zeigt fraglos paratextuelle Züge, scheint eine Art Schwelle zwischen der Welt draußen und der zu erzählenden Geschichte zu bilden. Andererseits ist er aber auch unzweifelhaft Teil der Dichtung selbst: So gehört er allein schon von den epistemischen Voraussetzungen der Rhetorik her zum Werk als solchem, bildet er doch die entscheidende Eröffnung der Sprechsituation der Dichtung. Dies spiegelt sich in der Herzog Ernst B-Überlieferung etwa darin, dass der Prolog in den betreffenden Manuskripten in keiner Weise graphisch abgesetzt ist, weder im Metrum noch im Reimschema von der Fortsetzung des Werks abweicht und, was die Erzählstimme angeht, keinen Bruch zum Folgenden zeigt. Es ist evident, dass der moderne Begriff des Paratexts hier an seine 37 Gemäß den Bestimmungen der antiken Theorieschriften, die in den Klosterund Domschulen die zentrale Grundlage des Rhetorikunterrichts bildeten und in den zeitgenössischen lateinischen Poetiken Widerhall fanden, hatte der Auftakt der Rede – und damit auch des Dichtwerks – das Publikum auf das Folgende einzustimmen, es aufmerksam, wohlwollend und gelehrig zu machen: attentum, benevolum, docilem facere (Rhetorica ad Herrenium, I,4; Cicero, De inventione, I,15). Zum Stellenwert der römischen Rhetorik für die mittelalterliche Epik siehe weiterführend: Alexandru N. Cizek, Imitatio et tractatio. Die literarisch-rhetorischen Grundlagen der Nachahmung in Antike und Mittelalter, Tübingen 1994. Spezifisch zum Prolog: Hennig Brinkmann, »Der Prolog im Mittelalter als literarische Erscheinung. Bau und Aussage«, Wirkendes Wort 14 (1964), 1–21 (wieder in: Hennig Brinkmann, Studien zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, 2 Bde., Düsseldorf 1966, Bd. 2, 79–105).
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Grenzen stößt. Der Begriff des biblionomen Paratexts, insbesondere als Peritext, setzt auf Visualität, vor allem auch auf Lesefähigkeit. Der Herzog Ernst B als schriftlich festgehaltenes Werk tritt nicht als Buch mit Paratexten vor die Öffentlichkeit, sondern präsentiert sich erst mit dem Eintritt in den Lektüreprozess der Dichtung, die autoreflexiv immer wieder als rede bezeichnet wird und eine Kommunikationssituation initiiert, die auf auditive Rezeption setzt. Doch wer bezeichnet die vorliegende Versdichtung als liet und als rede? Zurück also zur eingangs gestellten Frage: Wer spricht hier überhaupt? Die materiale Präsentation des Herzog Ernst B in den Codizes gibt keine Hinweise auf die Rahmung und Einordnung der entsprechenden Kommunikationssituation. Das heißt nun allerdings nicht, dass der Sprechakt dieser Versdichtung grundsätzlich ohne frames zu denken ist, sondern bedeutet zunächst lediglich, dass sich der Rahmen des betreffenden Sprechakts nicht durch das Medium des Buchs konstituiert, sondern sich unter Umständen in anderer Form manifestiert. Da die Textträger des Werks keinerlei extratextuelle Informationen zum Sprecher bzw. zu seinem Verhältnis zum Urheber der Dichtung preisgeben, bleibt zur Beantwortung der Frage nach der Erzählstimme und ihrer Relation zum Verfasser nur die Analyse des Verstexts selbst, ja muss der Schlüssel zur Bestimmung der Redeinstanz notwendigerweise textintern gesucht werden. Während die Auftaktverse Informationen zur Gattungszugehörigkeit, zum Helden und zum Inhalt der Erzählung liefern, gibt der Sprecher weder Hinweise auf sich selbst noch auf einen anderen denkbaren Urheber des Texts. Mit der Nomenklatur der Genetteschen Erzähltheorie ließe sich die Sprechstimme hier als extradiegetischer-heterodiegetischer Erzähler klassifizieren, wäre demnach mit dem Autor des Texts (gegebenenfalls im Sinne einer fiktiven Autorrolle) gleichzusetzen.38 Kundgaben zur Autorschaft zeigen sich jedoch an keiner Stelle des Prologs: Weder wird ein Verfassername genannt, noch verweist der Sprecher auf die Gemachtheit des liets, auf eine mögliche Urheberschaft seinerseits. Etabliert wird von Anfang an eine Sprechinstanz, die auffordert zuzuhören, um die wunderlichen Abenteuer des Herzogs mit seinen Mühsalen zu vernehmen. Eröffnet wird die Erzählsituation par excellence: Die Stimme kündigt das Thema der Geschichte an und bittet die Adressaten entsprechend um Aufmerksamkeit. Dabei spielen Formulierungen, die 38 Siehe dazu Genette, Erzählung, 164; Gérard Genette, Nouveau Discours du récit, Paris 1983; dt.: Die Erzählung, mit einem Nachwort hg. Jürgen Vogt, übers. Andreas Knop, München 1994, 177–295, hier 280.
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den phatischen Aspekt des Erzählens stark machen,39 eine zentrale Rolle, wie bereits die – oben zitierten – Eingangsverse verdeutlichen. Im Verlauf der Erzählung tritt dieses Register der Stimme zwar etwas in den Hintergrund, doch rekurriert der Sprecher mit sporadischer Regelmäßigkeit unmittelbar und explizit auf den Akt des Erzählens, etwa: als ir dâ vor hât vernomen (›wie ihr vorhin schon hörtet‹, v. 259) als Rückverweis auf bereits Erzähltes,40 als ich iu nu sagen wil (›wie ich euch jetzt berichten will‹, v. 3890) im Sinne der Ankündigung von zu Erzählendem41 oder Hie lâzen wir belîben daz: / ich wil iu sagen vürbaz (›Damit wollen wir das Bisherige sein lassen: Ich will euch nun weitererzählen‹, v. 4667 / 68) als den einen Erzählstrang abschließende Geste, die als Überleitung zu anderen Erzählinhalten dient. Indem der Sprecher die Adressaten immer wieder mit Bemerkungen zur Erzählregie direkt apostrophiert, manifestiert sich eine betonte Thematisierung des Erzählakts. Pointiert wird mit derartigen Wendungen des Sagens und der dazugehörigen Deixis das Erzählen in seiner oralen Prozessualität – was in der Vortragssituation mit der performativen Dimension des Erzählakts korrespondiert42 –, textuelles Schöpfertum hingegen kommt hierbei kaum in den Blick. 39 Zur phatischen Funktion siehe: Roman Jakobson, »Linguistik und Poetik«, 1960, in: ders., Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971, hg. Elmar Holenstein, Tarcisius Schelbert, Frankfurt a. M. 1979, 83–121, hier 91. 40 Analoge Verweise auf zu einem früheren Zeitpunkt Berichtetes sind etwa: von dem ich nû gesaget (›von dem ich euch jetzt erzählt habe‹, v. 672); als ich iu ê gesagt hân (›wie ich euch vorher berichtet habe‹, v. 1636); als ich iu dâ sagete ê (›wie ich euch schon zuvor berichtet habe‹, v. 3119); als ich iu ê hân geseit (›wie ich euch vorher erzählt habe‹, v. 3707); als ich iu sagete ê (›wie ich euch schon sagte‹, v. 3911); daz habt ir dicke gehôrt / sagen vür ungelogen (›solches ist euch ja schon oft wahr berichtet worden‹, v. 4122 / 23); als ir ê habt gehôrt (›wie ihr vorher schon gehört habt‹, v. 4273); als ir ê habt vernomen (›wie ihr vorher schon gehört habt‹, v. 4392); als ich iu ê gesaget hân (›wie ich euch vorher berichtet habe‹, v. 5434). 41 Ähnlich auch: ich wil iuch vür baz wizzen lân (›weiter will ich euch wissen lassen‹, v. 57); als ich iu wol sagen kan (›wie ich euch wohl zu berichten vermag‹, v. 198); ich sage iu (›ich sage euch‹, v. 222, v. 4910); als ich iu sagen sol (›wie ich euch berichten kann‹, v. 2386); als ich iu hie bediuten sol (›wie ich euch erklären will‹, v. 4903); ouch wil ich iu sagen mêr (›auch will ich euch noch weiter berichten‹, v. 5757); als ich iu sage (›wie ich es euch erzähle‹, v. 5836). 42 Ursula Schäfer spricht im Anschluss an Paul Zumthor, Die Stimme und die Poesie, von der ›Vokalität‹ mittelalterlicher Texte (siehe Schaefer, Vokalität; auch Ursula Schaefer, »Die Funktion des Erzählers zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit«, in: Wolfgang Haubrichs, Eckart Conrad Lutz, Klaus Ridder [Hgg.], Erzähltechnik und Erzählstrategien in der deutschen Literatur des Mittelalters. Saarbrücker Kolloquium 2002 [Wolfram-Studien 18], 83–97). Zu diesem Problemkomplex auch perspektivenreich: Glauch, An der Schwelle; Däumer, Stimme im Raum.
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Bisweilen steht in den Formulierungen die Versicherung der Glaubhaftigkeit des Präsentierten im Vordergrund: ir sult wol gelouben des (›ihr könnt dies durchaus glauben‹, v. 3898); vür wâr ich iu daz sagen wil (›ich werde euch wahrheitsgemäß berichten‹, v. 4972).43 Auch hierbei spielt der phatische Aspekt eine Rolle, verbunden wird dieser jedoch mit Gesichtspunkten der Zeugenschaft, wie sie durch den Verweis auf Quellen des Erzählens ebenfalls virulent werden. Bereits zum Auftakt seiner Ausführungen im Zuge der Vorstellung des Protagonisten Ernst hält der Sprecher fest: in den buochen stêt geschriben, / daz er der Beier landes wielt (›in Büchern ist festgehalten, dass er das Land der Bayern beherrschte‹, v. 38 / 39). Bezieht sich die Erzählinstanz hier auf schriftliche Vorlagen, die im buchstäblichen Sinn als Textzeugen für das Erzählte aufgerufen werden, so wird gelegentlich auch unverbindlicher allgemeines Hören-Sagen als Quelle des Berichteten in Anspruch genommen: Die burger hâten ouch genomen / schaden, als ich hân vernomen, / an tôten und an wunden (›Auch hatten die Bürger, wie ich hörte, Verluste durch Tote und Verwundete hinnehmen müssen‹, v. 1521–23).44 Dies kann so weit gehen, dass der narrative Diskurs selbst als Referenz für die Erzählung gewählt wird, so beispielsweise: uns tuot die âventiure bekant (›die Geschichte berichtet uns‹, v. 4813);45 aber auch unspezifischer: daz wunder sagt man uns noch / daz den helden dô geschach (›von diesem seltsamen Ereignis erzählt man uns noch heute, das die Helden dort erlebten‹, v. 4432 / 33). Im Kontext eines derartigen Quellenbezugs findet sich ein erster Hinweis auf das Verhältnis der Erzählstimme zum Urheber des liets. So heißt es im Zusammenhang der Entdeckung der wunderbaren Stadt Grippia durch Ernst und seine Gefährten: diu burc stuont gar unervorht: sie vorhte niemannes her. werchûs berfrît brustwer gemâlt und meisterlîch ergraben, 43 Weitere Beispiele sind: des sult ir wol getrûwen (›dies könnt ihr ruhig glauben‹, v. 4512); daz wisset vür ungelogen (›das könnt ihr durchaus für wahr halten‹, v. 4949). 44 Ähnlich: Noch wil ich iu baz betiuten / von den seltsaenen liuten, / als ich von in vernomen hân (›Ich will euch noch mehr von den merkwürdigen Menschen erzählen, was ich weiter über sie vernommen habe‹, v. 2879–81); oder als pluralische Wendung: als wir dâ von vernomen hân (›wie wir darüber vernommen haben‹, v. 4504). 45 Vergleichbar ist auch die Phrase nâch der âventiure sage (›nach Angabe der Erzählung‹, v. 3891), die in vielen mittelhochdeutschen Erzähltexten regelmäßig verwendet wird. Zum semantischen Feld von âventiure siehe die Beiträge von Lebsanft, Mertens, Bleumer, Schnyder und Strohschneider in: Gerd Dicke, Manfred Eikelmann, Burkhard Hasebrink (Hgg.), Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter, Berlin / New York 2006.
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als wirz von den buochen haben dâ ez an geschriben stât. wol im derz uns getihtet hât sô rehte wol ze tiute. Die Stadt stand äußerst unerschrocken da: Sie fürchtete kein Heer. Werkbauten, Türme und Brustwehr waren bemalt und kunstvoll angelegt, wie uns die Bücher bezeugen, in denen es geschrieben steht. Wohl dem, der uns dies in einer Weise gedichtet hat, dass wir es angemessen nachvollziehen können. (Herzog Ernst B, v. 2240–47)
Wieder rekurriert der Sprecher auf Bücher als Quellen der Geschichte, verweist aber gleichzeitig auf die Erzählung als dichterisches Produkt. Über das Verb tihten wird die literarische Verfasserinstanz aufgerufen, der Schöpfer des verspoetischen Werks, der dezidiert nicht identisch ist mit der narrativen Instanz, der Stimme, die durch die Geschichte führt und immer wieder mit Mitteln der Deixis auf die Prozesshaftigkeit des Erzählens aufmerksam macht. Nicht zufällig ist für die Charakterisierung der schöpferisch-poetischen Tätigkeit das Wort tihten gewählt: In epischen Texten des 12. und 13. Jahrhunderts kommt das Verb häufig gerade in Kombination mit der expliziten Nennung eines Verfassernamens vor.46 Augenfällig ist an dieser Stelle, dass die Erzählung als dichterisches Werk durchaus einem individuellen Urheber zugewiesen wird, dieser aber anonym bleibt. Der namenlose Texterzeuger wird vom narrativen Sprecher vor allem als Gewährsmann für die Luzidität des Erzählten in Anspruch genommen. Er ist in einem Atemzug genannt mit den buochen, die ebenfalls als Zeugen für das Berichtete angeführt und – wie sich kaum anders verstehen lässt – als Träger der vom unbekannten Verfasser geschaffenen Dichtung erwähnt sind. Der Konnex zwischen der Sprecherposition einerseits, die immer wieder explizit für den Erzählprozess verantwortlich zeichnet, und dem namenlosen Schöpfer des schriftlich festgehaltenen – weil in Büchern stehenden – Dichtwerks andererseits besteht darin, dass die Erzählinstanz für sich in Anspruch nimmt, eben dieses poetische Artefakt in seiner 46 Zur Wort- und Bedeutungsgeschichte des Verbs siehe Kurt Gärtner, »tihten / dichten. Zur Geschichte einer Wortfamilie im älteren Deutsch«, in: Dicke, Eikelmann, Hasebrink (Hgg.), Im Wortfeld des Textes, 67–81. Zum Status und den Ausdrucksmöglichkeiten der Wörter tihten und tihtaere umfassend Unzeitig, Autorname und Autorschaft, 292–342 u. passim. Des Weiteren etwa Joachim Bumke, »Autor und Werk. Beobachtungen und Überlegungen zur höfischen Epik (ausgehend von der Donaueschinger Parzivalhandschrift Gδ«, in: Helmut Tervooren, Horst Wenzel (Hgg.), Philologie als Textwissenschaft. Alte und neue Horizonte (ZdfPh 116, Sonderheft), Berlin 1997, 87–114, hier 108–111.
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Gemachtheit an eine nicht näher spezifizierte Zuhörerschaft zu vermitteln. Die Erzählinstanz stellt sich dabei selbst öfters auf die Seite des Publikums: Sie inszeniert sich hier buchstäblich als Rezipientin und gemeindet sich in den Kreis der Adressaten des literarischen Werks mit ein. Sie ist damit Mittlerin im wahrsten Wortsinn, nämlich die erzählende Vermittlungsinstanz, zu der die kommunikative Funktion gehört, den Erzählprozess als Gemeinschaft stiftenden, akustischen Mitteilungsvorgang zu gestalten. Es wird an dieser Stelle deutlich, dass man beim Herzog Ernst B mit an neuzeitlichen Erzähltexten und auf der Basis des modernen Buchwesens gewonnenen Theoremen an Grenzen stößt. Der in den Manuskripten rahmenlos dargebotene Text konstituiert eine Kommunikationssituation, die klar differenziert einerseits zwischen einer Sprechinstanz, die für das liet als Darbietung, für die Dichtung als prozessualen Akt und den Kommunikationsvorgang des oral-auditiven Vermittelns verantwortlich zeichnet, und andererseits einem unbekannten Verfasser, der die Dichtung geschaffen hat, so dass sie als poetisches Werk beim Ereignis des Berichterstattens bereits vorliegt.47 Unterschieden wird der Dichter, der als Schöpfer des literarischen Artefakts in Anschlag gebracht wird, vom Sprecher in der Vortragssituation, der das liet zum Besten gibt und im Akt der Darbietung vergegenwärtigt. Dieser Sprecher besitzt kaum subjekthaft-individuelle Züge,48 sondern erscheint als Referenzpunkt der Personaldeixis, als linguistische Markierung der zum Sprechakt gehörigen Redeposition. Wird die Dichtung mündlich vorgetragen,49 wird die Sprecherposition buchstäblich ausgefüllt durch einen materialen Vermittlungskörper, der zum Resonanz47 Mit der Genetteschen Terminologie könnte man die Erzählinstanz dieser Dichtung als extradiegetisch-heterodiegetischen Erzähler kategorisieren, da es sich um einen Erzähler erster Ordnung handelt, der keine Figur der erzählten Welt ist, also nicht mit den Protagonisten der Diegese in irgendeiner Weise interagiert. Der Erzähler wäre damit als Autor einzustufen im Sinne des Urhebers der Erzählung. 48 Vgl. zu diesem Gedanken Glauch, An der Schwelle, 47. 49 Dass der mündliche Vortrag zur Entstehungszeit des Herzog Ernst B die geläufigste Rezeptionsform volkssprachlicher Texte war, lässt sich nicht nur aus dem Umstand schließen, dass selbst hohe Adlige mitunter ihr Leben lang illiterat waren, sondern auch aus eben dieser auf auditive Rezeption hin angelegten Gestaltung der Erzählsituation. Zur Literalität siehe etwa Nathalie Kruppa, »Zur Bildung von Adligen im nord- und mitteldeutschen Raum vom 12. bis zum 14. Jahrhundert. Ein Überblick«, in: Nathalie Kruppa, JürgenWilke (Hgg.), Kloster und Bildung im Mittelalter, Göttingen 2006, 155–176; des Weiteren auch die Beiträge in Werner Paravicini, Jörg Wettlaufer (Hgg.), Erziehung und Bildung bei Hofe. 7. Symposium der ResidenzenKommission der Akademie der Wissenschaften Göttingen, veranstaltet in Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv Celle und dem Deutschen Historischen Institut Paris, Celle, 23. bis 26. Sept. 2000, Stuttgart 2002; Joachim Bumke: »Höfische Kultur. Ver-
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raum der narrativen Stimme wird,50 wobei die kodikal fehlende Rahmung des Sprechakts geradewegs herstellt wird.51 Dies bedeutet nicht, dass der Aspekt rhetorischer Produktionsgewalt mit Blick auf die Redeinstanz im Herzog Ernst B gänzlich fehlt, sondern diese beansprucht für den Rezitationsakt – allerdings nur sehr vereinzelt – auch schöpferische Qualität, etwa wenn formuliert ist: waz er dô sper zerbrach / und wie manigen er nider stach / daz möhte ich iu müelîche sagen (›Was er dort an Speeren zerbrach und wie viele er niederstach, dies könnte ich euch nur mit Mühe berichten‹, v. 5553–55).52 Nicht zufällig steht diese Form der Reflexion über das Erzählen – vermittelt über die Deixis der Sprecherposition – im Zusammenhang mit rhetorischer Hyperbolik, lässt sich damit nur bedingt als Ausdruck individueller Subjekthaftigkeit der Kommunikationsinstanz lesen.53 Was die Differenzierung einer Kommunikations- und einer Verfasserinstanz angeht, finden sich im Herzog Ernst B zwei weitere einschlägige Belegstellen. Die eine steht im Zusammenhang mit dem Bericht des Funsuch einer kritischen Bestandsaufnahme«, Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (PBB) 114 (1992), 413–492, hier 454. 50 Vgl. Zumthor, Die Stimme und die Poesie, 13; Paul Zumthor, Introduction à la poésie orale, Paris 1983; dt.: Einführung in die mündliche Dichtung, übers. Irene Selle, durchges. Jacqueline Grenz, Berlin 1990, 144. 51 In Bezug auf das derartige Phänomen von ›fingierter Mündlichkeit‹ zu sprechen, wie es in der mediävistischen Forschung mitunter geschieht, trifft den ausgestellten Sachverhalt m. E. nicht, da in der Vortragssituation Oralität nicht fingiert, sondern als Kommunikationsform realisiert wird. Bei den oft formelhaften Wendungen handelt es sich um den Einbau klarer medialer Transpositionsvorgaben in den schriftlichen Text, die auf dessen mündliche Realisierung zielen. Die ausdrücklichen Performativa des Sprechens bleiben situativ unterbestimmt, solange der handschriftliche Text stumm gelesen wird. In dem Moment hingegen, in welchem ein Rezitator in die partiturartig bereit stehende Sprecherrolle schlüpft, gehen sie in der Rahmung der realen Vortragssituation auf. Siehe zu diesen Überlegungen auch Däumer, Stimme im Raum, 54. 52 Vergleichbar, jedoch stärker die Beziehung zum Publikum fokussierend: iu künde nieman gesagen / die wünne und der freuden vil (›Die Wonne und der Umfang der Freude vermag euch niemand zu sagen‹, v. 506 / 507). 53 Zumindest Spuren der Individuiertheit werden in denjenigen Quellenberufungen greifbar, in denen sich der Sprecher nicht als Teil des Kollektivs, sondern alleine als Empfänger der betreffenden Information darstellt, wie in den oben schon zitierten Passagen: Die burger hâten ouch genomen / schaden, als ich hân vernomen, / an tôten und an wunden (v. 1521–23); oder: Noch wil ich iu baz betiuten / von den seltsaenen liuten, / als ich von in vernomen hân (V. 2879–81). Doch handelt es sich auch bei derartigen Formulierungen um Wendungen, die dem Sprecher keinerlei persönliches Gepräge geben, sondern ihn lediglich als Medium der Vermittlung fassbar machen.
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des eines besonderen Edelsteins, den der Protagonist während seiner Abenteuerfahrt aus einem Stollen herausgebrochen und später dem deutschen Kaiser geschenkt haben soll. So hält die Erzählstimme in diesem Kontext fest: der stein gap vil liehten glast. den brâhte sît der werde gast ûz der vil starken freise. dâ von er wart der weise durch sîn ellen genant. er ist noch hiute wol bekant. ins rîches krône man in siht. von diu liuget uns daz buoch niht. ist aber hie dehein man der dise rede welle hân vür ein lügenlîchez werc, der kome hin ze Babenberc: dâ vindet ers ein ende ân alle missewende von dem meister derz getihtet hât. ze latîne ez noch geschriben stât: dâ von ez âne valschen list ein vil wârez liet ist. Der Stein gab einen sehr hellen Glanz. Diesen (Stein) brachte der edle Fürst später aus der schrecklichen Gefahr mit. Wegen seiner ungewöhnlichen Kraft wurde er ›der Waise‹ genannt. Er ist noch heute allgemein bekannt, man kann ihn in der Reichskrone erblicken. Das Buch erzählt uns darüber keine Lügen. Sollte aber jemand hier sein, der diese Dichtung für ein Lügenwerk hält, der soll nach Bamberg kommen. Dort wird er ohne jeden Makel von dem Meister, der dies gedichtet hat, widerlegt werden. Es ist auch noch lateinisch aufgeschrieben. Deshalb ist es ohne trügerische Kunst eine wahre Dichtung. (Herzog Ernst B, v. 4459–76)
Unter den Maßgaben moderner Fiktionalität könnte man diese Passage als Metalepse bestimmen, doch ist die vorgenommene Transgression der Ebenen im vorliegenden Kontext eher vor dem Hintergrund des die mittelalterliche narrative Literatur prägenden rhetorischen historia-Begriffs zu lesen, der Augenzeugenschaft als zentrales Kriterium für die Glaubhaftmachung des Erzählten definiert.54 Der Sprecher wendet sich an die Zuhörerschaft – zu der er sich wiederum in gemeinschaftsstiftender Weise mit 54 Dazu weiterführend Joachim Knape, »Historia«, in: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, 12 Bde., Tübingen 1996, Bd. 3, Sp. 1406–1410; Gert Hübner, Erzählform im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im Eneas, im Iwein und im Tristan, Tübingen 2003, 3; Cizek, Imitatio et tractatio, 265–269.
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einrechnet – und spricht die Adressaten als Teile des berichteten Universums an, indem er sie zu Zeugen der Handlung ausruft.55 Der Edelstein wird zum Garanten für die Wahrheit des Erzählten, das auf einen meister derz getihtet hât zurückgeführt wird. Analog zur ersten Belegstelle ist das Verb tihten verwendet, um die schöpferische Tätigkeit der poetischen Textherstellung zu erfassen. Charakterisiert wird der namenlose Autor als meister – hier offensichtlich zu verstehen als magister, der schriftgelehrt und lateinkundig ist. Der Sprecher teilt nämlich im Weiteren mit, dass es von der Geschichte des Herzogs Ernst auch eine lateinische Version gebe, die in schriftlicher Form existiere. Was deren Verhältnis zur deutschsprachigen Fassung anbelangt, werden allerdings keine näheren Angaben gemacht, in gewisser Weise ist suggeriert, dass die volkssprachliche Version auf der lateinischen basiert. Mit Letzterem liefert die Sprecherposition als Kommunikationsinstanz eine Information, die man einerseits als weiteres stilistisches Mittel der Beglaubigung interpretieren kann, die sich andererseits aber auch als werkspezifisches Metadatum lesen lässt, welches in der neuzeitlichen Buchkultur eher über Paratexte vermittelt würde. Die im vorliegenden Zusammenhang nicht weiter ausgeführte Feststellung, die Erzählung der Abenteuer des Herzogs sei auch in lateinischer Sprache zugänglich, stellt eine Art Nobilitierung der Materie dar, will die Bedeutung und die Glaubwürdigkeit des Erzählten erhöhen. Allerdings handelt es sich durchaus um ein Faktum, dass vom Herzog Ernst-Stoff lateinische Bearbeitungen existieren – die ältesten der bis heute überlieferten Versionen datieren allerdings ins frühe 13. Jahrhundert, sind damit vermutlich jünger als der Herzog Ernst B.56 Angesichts der Tatsache, dass es vom Bildungs- und Buchwesen her keinen strukturell etablierten, werkexternen Ort gab, wo derartige metatextuellen Hinweise hätten präsentiert werden können, kann die Bemerkung über eine lateinische Stoffversion auch als werkspezifische Zusatzinformation gedeutet werden. Die dritte markante Passage, die sich mit der Entstehung des Herzog Ernst B befasst, befindet sich unmittelbar vor dem Schluss der Dichtung und hat den Charakter eines Epilogs. Wie dem Prolog lassen sich auch 55 Die Geschichte von Herzog Ernst mutiert gleichsam zu einer aitiologischen Erzählung, die die Herkunft des Waisen in der Reichskrone expliziert (zu dieser Stelle auch Dennis Howard Green, Medieval listening and reading. The primary reception of German literature 800–1300, Cambridge, Mass., 1994, 125). 56 Eine Übersicht über die verschiedenen lateinischen und deutschen Fassungen des Herzog Ernst-Stoffs sowie deren modernen Editionen bietet Bumke, Zur Überlieferungsgeschichte des Herzog Ernst, 410–415.
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dem Epilog grundsätzlich Funktionen zuschreiben, die im neuzeitlichen Buchwesen Paratexten obliegen, da Pro- und Epilog allein aufgrund ihrer Position am Anfang und am Ende des Werks eine entsprechend herausgehobene und rahmende Stellung einnehmen. So heißt es dort: der keiser behielt dô den degen bî im wol bî zwelf tagen daz er im alles muose sagen diu manicvalden wunder und wa er gewan diu kunder, daz er niht dar an vergaz, daz er nie an daz gerihte saz noch ûz sîner kemenâten kam, unz er diu wunder von im vernam. dô liez ers niht belîben, der keiser hiez dô schrîben war umbe und wie er in vertreip und wie lange er in dem lande bleip und wier hin fuor und wider kam. Der Kaiser behielt den Helden dann noch etwa zwölf Tage bei sich, damit er ihm alles von den vielen außergewöhnlichen Erlebnissen erzähle und kundtue, wo er die seltsamen Lebewesen erworben habe; um nichts davon vergessen gehen zu lassen, saß er in dieser Zeit weder zu Gericht, noch kam er aus seinem Gemach, bis er die Wundergeschichten alle von ihm vernommen hatte. Damit ließ er es aber nicht bewenden. Der Kaiser hieß darauf aufschreiben, warum und auf welche Weise er ihn vertrieben hatte und wie lange er in diesem Lande geblieben war und wie er ausgezogen war und zurückkehrte. (Herzog Ernst B, v. 5994–6007)
Diese Zeilen bringen die Geschichte zum Abschluss. Geschildert werden die angeblichen Umstände der Verschriftlichung der Abenteuer des Herzogs. Nicht ausgeführt wird allerdings, ob diese erste Schriftfassung lateinisch oder volkssprachig erfolgte und in welchem Verhältnis sie zur vorliegenden gedichteten Version steht. Weder finden sich weitere Hinweise auf den oben erwähnten anonymen meister noch auf die im dortigen Zusammenhang angezeigte lateinische Bearbeitung des Stoffs. Die Rede ist hier auch nicht von tihten, sondern von schrîben, womit im 12. und 13. Jahrhundert in der Regel nicht die verspoetische Textherstellung bezeichnet wurde, sondern der handwerkliche Vorgang des Aufschreibens.57 Mit den zitierten Versen wird die erzählte Geschichte zum Abschluss noch 57 Wie etwa auch in den Miniaturen des Codex Manesse augenfällig wird, ist der Dichter derjenige, der diktiert – so geht das Verb tihten unmittelbar auf lateinisch dictare zurück –, während der Schreiber das Diktierte aufschreibt, also gerade nicht für die kreative Leistung zuständig ist.
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einmal beglaubigt, da der Herzog – als Zeuge seiner eigenen Abenteuer – mittelbar als Urheber der ersten schriftlichen Textversion installiert wird. Über die Verfasserschaft des dichterischen Werks, wie es als mittelhochdeutsche Versbearbeitung vorliegt, ist damit jedoch nichts ausgesagt. Alles in allem ergibt sich hinsichtlich der Frage nach der Zuordnung der narrativen Stimme im Herzog Ernst B folgender Befund: Im Text werden grundsätzlich zwei verschiedene Instanzen differenziert, auf der einen Seite eine Sprecherposition, die als Kommunikationsinstanz im wahren Wortsinn fungiert und die für den prozessualen Akt der Narration zuständig ist, auf der anderen Seite eine namenlose Verfasserinstanz, der die Dichtung als literarisches Produkt zugeschrieben wird. Die Kommunikationsinstanz ist das Subjekt der narrativen Konstellation, im Sinne des sujet d’énonciation, wie es der Linguist Émile Benveniste gefasst hat und es in dessen Nachfolge auch in die Literaturtheorie eingeführt wurde:58 Da es mit der Erzählung einen Sprechakt des Erzählens gibt, ist zu unterstellen, dass dieser von einem Subjekt verursacht wird. Das immer wieder mit den Verben des Sagens verbundene Personalpronomen der ersten Person Singular ist im Herzog Ernst B offensichtlich kaum mehr als die linguistische Markierung dieser Redeposition, die mit einer bestimmten Deixis des Vor- oder Rückverweisens verbunden ist. So wird der Sprecher hier als Agent des Erzählens installiert, aber gerade nicht mit dem Autor des Erzählten gleichgesetzt.59 Als Erzählinstanz fungiert in diesem Werk die explizit markierte Sprecherposition, die in der Rezeptionssituation vom Vortragenden ausgefüllt und damit buchstäblich verkörperlicht werden konnte. Die Sprecherposition bildet also quasi die Basis für den Transmitter, dessen es zur Entstehungszeit der Dichtung angesichts des vornehmlich illiteraten Publikums zur Textrezeption häufig bedurfte. Mit dem Sprecher tritt zwar scheinbar ein manifester Erzähler auf,60 dieser zeigt im Herzog Ernst B jedoch keine 58 Siehe Émile Benveniste, Problèmes de linguistique générale II, Paris 1973, 82; Gérard Dessons, Émile Benveniste. L’invention du discours, Paris 1993, 97. 59 Dieser Sprecher lässt sich mit dem Rezitator gleichsetzen, wie ihn Däumer, Stimme im Raum, 53 / 54, mit etwas anderem theoretischen Hintergrund wie folgt definiert: » ›Rezitator‹ meint also die Leerstelle, welche eine konkrete Person ausfüllt, die einen Roman vor einem Publikum vortrug (oder auch gegenwärtig vorträgt oder zukünftig noch vortragen wird). Dem modernen Interpreten ist der Rezitator nur als im Text eingebettete und vom Dichter konstruierte Größe zugänglich. Diese wurde von der Forschung bisher meist unter dem Begriff des ›Erzählers‹ subsumiert.« 60 Siehe zu diesem Punkt auch Corinna Laude, » ›Hartmann‹ im Gespräch – oder: Störfall ›Stimme‹. Narratologische Fragen an die Erzählinstanz des mittelalterlichen Artusromans (nebst einigen Überlegungen zur Allegorie im Mittelalter)«, in: Julia
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individuierten Konturen, sondern wirkt als funktionales Redeorgan, das zwischen illiteratem Kollektiv und diskursiver Manuskriptpräsentation vermittelt und das – wie im Wortlaut der Dichtung wiederholt deutlich wird – einen gemeinschaftsbildenden Status hat. Wie oben festgestellt, besitzen die Textträger des Herzog Ernst B keine rahmenden Elemente. Was die Rahmung der textintern konstituierten Erzählsituation angeht, gäbe es für Paratexte im neuzeitlichen Sinn auch keinen diesen entsprechenden Nutzen, da sie in Bezug auf den zu weiten Teilen illiteraten Rezipientenkreis funktionslos wären. Wie der Wortlaut der Dichtung mit der Etablierung der Sprecherposition nahelegt, kommt die Rahmung der narrativen Kommunikationssituation durch außerdiskursive – ja außermateriale – Komponenten zustande, nämlich durch das gemeinschaftliche Zusammensitzen, während der Text vorgetragen wird.61 Was hingegen die Verfasserinstanz angeht, die im Herzog Ernst B namenlos bleibt, bestätigt diese Dichtung in gewisser Weise, was die in der mediävistischen Forschung unter dem Schlagwort ›New Philology‹ kontrovers geführte Theoriedebatte in den 90er-Jahren vor allem mit Blick auf die Überlieferungsvarianten mittelalterlicher Texte propagierte, in den Worten Bernard Cerquiglinis: »L’auteur n’est pas une idée médiévale.«62 Nicht zuletzt unter dem Einfluss der postmodernen Diskussion um den ›Tod des Autors‹63 problematisierte – auch – die Mediävistik in den letzten zwei Jahrzehnten das Konzept Autorschaft, wobei sich hier die ›Rückkehr Abel, Andreas Blödorn, Michael Scheffel (Hgg.), Ambivalenz und Kohärenz. Untersuchungen zur narrativen Sinnbildung, Trier 2009, 71–91, hier 81. 61 Es gibt keine historischen Zeugnisse darüber, wie die Textrezeption der volkssprachigen Epik um 1200 tatsächlich erfolgte. Dass sie sich überwiegend in einer gemeinschaftlichen, oral-auditiven Kommunikationssituation mit einem Deklamator konstituierte, muss Hypothese bleiben; allerdings legen nicht nur die fehlenden handschriftlichen Rahmungen, sondern auch der nachweisliche Analphabetismus in weiten Teilen des Laienadels sowie die textinternen, partiturartigen Transpositionsmarker genau diesen Schluss nahe. 62 Bernard Cerquiglini, Éloge de la variante. Histoire critique de la philologie, Paris 1989, 25. Cerquiglini bezieht sich auf Michel Foucault, »Qu’est-ce qu’un auteur?«, in: Armand Collin (Hg.), Bulletin de la société française de philosophie 22 (Februar 1969), 75–104; dt.: »Was ist ein Autor?«, in: ders., Schriften zur Literatur, übers. Karin Hofer, Anneliese Botont, Frankfurt a. M. 1988, 7–31 (wieder in: Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez, Simone Winko [Hgg.], Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2000, 198–229). 63 Roland Barthes: »The death of the author«, in: Aspen Magazine 5 / 6 (1967), 491–495; frz.: »La mort de l’auteur«, in: Manteia 5 (1968), 12–17; dt.: »Der Tod des Autors«, in: Jannidis, Lauer, Martinez, Winko (Hgg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, 185–193.
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des Autors‹64 in der Einsicht spiegelte, dass in Bezug auf das Mittelalter parallel zueinander unterschiedliche Autorkonzeptionen zu beobachten sind.65 Tatsächlich war die kodikale Textpräsentation, wie ausgeführt, nicht darauf angelegt, die Kategorie des Autors stark zu machen. Dass sich paratextuelle Angaben zur Autorschaft nur bei einer spezifischen Gruppe von Verfassern finden, hängt denn auch damit zusammen, dass bis ins Spätmittelalter nur denjenigen Schriftstellern Autorstatus zukam, die durch die Kanonisierungsprozesse der Spätantike und des Frühmittelalters herausgehoben und sanktioniert worden waren.66 Ihnen allein war der Begriff des auctor vorbehalten, und nur sie erschienen als würdig, zum Gegenstand von philologischen Überlegungen und Kommentaren gemacht zu werden, 64 Zum Schlagwort der ›Rückkehr des Autors‹ siehe Jannidis, Lauer, Martinez, Winko (Hgg.), Rückkehr des Autors. 65 Aus der reichen Fülle an Forschungsbeiträgen zu diesem Thema hier nur einige Hinweise: Jan-Dirk Müller, »Auctor – Actor – Author. Einige Anmerkungen zum Verständnis vom Autor in lateinischen Schriften des frühen und hohen Mittelalters«, in: Felix Philipp Ingold, Werner Wunderlich (Hg.), Der Autor im Dialog. Beiträge zu Autorität und Autorschaft, Sankt Gallen 1995, 17–31; Elizabeth Andersen, Jens Haustein, Anne Simon, Peter Strohschneider (Hgg.), Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meißen 1995, Tübingen 1998; Rüdiger Schnell, » ›Autor‹ und ›Werk‹ im deutschen Mittelalter. Forschungskritik und Forschungsperspektiven«, in: Joachim Heinzle, L. Peter Johnson, Gisela Vollmann-Profe (Hgg.), Neue Wege der Mittelalter-Philologie. Landshuter Kolloquium 1996 (Wolfram-Studien 15), Berlin 1998, 12–73; Silvia Schmitz, »Die ›Autorität‹ des mittelalterlichen Autors im Spannungsfeld von Literatur und Überlieferung«, in: Jürgen Fohrmann, Ingrid Kasten, Eva Neuland (Hgg.), Autorität der / in Sprache, Literatur, Neuen Medien. Vorträge des Bonner Germanistentages 1997, Bielefeld 1999, 465–483; Thomas Bein, »Zum ›Autor‹ im mittelalterlichen Literaturbetrieb und im Diskurs der germanistischen Mediävistik«, in: Jannidis, Lauer, Martinez, Winko (Hgg.), Rückkehr des Autors, 303‑320; Ursula Peters, »Autorbilder in volkssprachigen Handschriften des Mittelalters. Eine Problemskizze«, Zeitschrift für deutsche Philologie 119 (2000), 321–368; Timo Reuvekamp-Felber, »Autorschaft als Textfunktion. Zur Interdependenz von Erzählerstilisierung, Stoff und Gattung in der Epik des 12. und 13. Jahrhunderts«, Zeitschrift für deutsche Philologie 120 (2001), 1–23; Sebastian Coxon, The Representation of Authorship in Medieval German Narrative Literature 1220–1290, Oxford 2001; Dorothea Klein, »Inspiration und Autorschaft. Ein Beitrag zur mediävistischen Autordebatte«, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 80 (2006), 55–96; Gerald Kapfhammer, Wolf-Dietrich Löhr, Barbara Nitsche (Hgg.), Autorbilder. Zur Medialität literarischer Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit, Münster 2007, 63–92; Glauch, An der Schwelle; Unzeitig, Autorname und Autorschaft. 66 Richtungsweisend zur Thematik des mittelalterlichen Autorbegriffs: Alastair Minnis, Medieval theory of authorship. Scholastic literary attitudes in the later Middle Ages, 2. Aufl., with a new preface by the author, Philadelphia 2010.
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indem sie in den im Schulunterricht verwendeten Accessus ad auctores als Urheberpersönlichkeiten betrachtet wurden, die mit einer Vita versehen waren und die man auf die Intentionen ihren Werken gegenüber befragte.67 Nicht nur wurde volkssprachlichen Dichtern in der klerikalen Schriftund Unterrichtskultur kein solcher Status zuerkannt, vom Buchwesen her und aus bildungssoziologischen Gründen blieb ihnen nur das Werk selbst, der Kern-Text, um sich dem Publikum als Dichterpersönlichkeit vorzustellen, ja sich überhaupt als Verfasser bekannt zu geben. Auch für metatextuelle und poetologische Überlegungen aller Art, beispielsweise für Stellungnahmen zu den Werken von Dichterkollegen, gab es in der Volkssprache keinen epitextuellen Ort, waren keine spezifischen Textgefäße und Gattungen etabliert, sondern standen ebenfalls nur die narrativen Versdichtungen selbst zur Verfügung, wie die Dichterkataloge im Tristan Gottfrieds von Straßburg68 oder im Willehalm und im Alexander Rudolfs von Ems69 ihrerseits dokumentieren. 67 Grundlegend zum lateinischen Autorbegriff bzw. zum Autorverständnis, wie es die mittellateinische Literatur spiegelt: Paul Klopsch, »Anonymität und Selbstnennung mittellateinischer Autoren«, Mittellateinisches Jahrbuch 4 (1967), 9–25; Alastair Minnis, Medieval theory of authorship. Weiterführend etwa: Müller, Auctor – Actor – Author; Almut Suerbaum, » ›Accessus ad Auctores‹. Autorkonzeptionen in mittelalterlichen Kommentartexten«, in: Andersen, Haustein, Simon, Strohschneider (Hgg.), Autor und Autorschaft im Mittelalter, 29–37; Benedikt Konrad Vollmann, »Autorrollen in der lateinischen Literatur des 13. Jahrhunderts«, in: Matthias Meyer, Hans-Jochen Schiewer (Hgg.), Literarisches Leben. Rollenentwurfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Festschrift für Volker Mertens zum 65. Geburtstag, Tübingen 2002, 813–827; Christel Meier, »Autorschaft im 12. Jahrhundert. Persönliche Identität und Rollenkonstrukt«, in: Peter von Moos (Hg.), Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft, Köln 2004, 207–266; Felix Heinzer, »Leselenkung als Selbstinszenierung des Autors. Zum autographen Text- und Bildvorspann von Gottfrieds von St. Viktor ›Fons Philosophiae‹ «, in: Eckart Conrad Lutz, Martina Backes, Stefan Matter (Hgg.), Lesevorgänge. Prozesse des Erkennens in mittelalterlichen Texten, Bildern und Handschriften, Zürich 2010, 183–204; Christel Meier, »Autorstile im Hochmittelalter?«, in: Christel Meier, Martina Wagner-Egelhaaf (Hgg.), Autorschaft. Ikonen – Stile – Institutionen, Berlin 2011, 69–91; Hartmut Beyer, »Autorrollen und Legitimationsstrategien in der lateinischen Epistolographie des Mittelalters«, in: ibid., 93–109. 68 Vgl. Gottfried von Straßburg, Tristan, v. 4621–4820 (nach der Edition: Gottfried von Straßburg, Tristan, mhd. / nhd., nach dem Text von Friedrich Ranke neu hg., ins Neuhochdeutsche übers., mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Rüdiger Krohn, Stuttgart 1980). 69 Vgl. Rudolf von Ems, Alexander, v. 3105–3298 (nach der Edition: Rudolf von Ems, Alexander. Ein höfischer Versroman des 13. Jahrhunderts, hg. Victor Junk, Leipzig 1928 [Nachdruck Darmstadt 1979]); Rudolf von Ems, Willehalm von Orlens, v. 2170–2324 (nach der Edition: Rudolf von Ems, Willehalm von Orlens, hg.
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Nicht zuletzt diese Dichterkataloge und Literaturexkurse belegen aber auch, dass die Vorstellung, in Bezug auf das Mittelalter und insbesondere die Volkssprachen hätte es keine Autorschaft gegeben, nicht zutreffend ist. Trotz der gleichsam strukturellen Gewalt der Literaturverhältnisse, die volkssprachlichen Verfassern den Autorstatus nicht zugestanden, zeigten sich im Hochmittelalter selbstbewusste Dichter, die für sich einen solchen Status beanspruchten und auch Mittel und Wege fanden, diesen Status zu inszenieren, indem sie sich buchstäblich Gehör verschafften, wie sich am Beispiel des Iwein Hartmanns von Aue demonstrieren lässt. Wie sich das Verhältnis von Dichterautorität und Erzählinstanz in diesem Text im Detail zeigt, ist jedoch wiederum allein textintern zu eruieren, da sich auch bei den Überlieferungsträgern des Iwein kein anderes Bild der Textpräsentation zeigt als beim Herzog Ernst B. Diskursfunktionen und Formelemente Die ältesten erhaltenen Codizes, die Hartmanns von Aue Iwein tradieren, stammen aus dem zweiten Drittel des 13. Jahrhunderts und halten keine textexternen Informationen bereit. Die für die moderne Edition dieses Artusromans bedeutende Gießener Handschrift (Gießen, Universitätsbibl., Hs. 97) etwa setzt unmittelbar mit dem Prolog ein, der graphisch nahtlos in die Erzählung im engeren Sinn mündet.70 Paratextuelle Angaben, die über die reich verzierte Initiale und das luxuriöse – weil pergamentverschwendende – Layout hinausgehen, sucht man vergebens.71 Nicht aus dem Wasserburger Codex der Fürstlich Fürstenbergischen Hofbibliothek in Donaueschingen von Victor Junk, Berlin 1905 [Nachdruck Dublin / Zürich 1967]). 70 Vgl. Ulrich Seelbach, »Ein mannigfaltiger Schatz. Die mittelalterlichen Handschriften«, in: Irmgard Hort, Peter Reuter (Hgg.), Aus mageren und aus ertragreichen Jahren. Streifzug durch die Universitätsbibliothek Gießen und ihre Bestände, Gießen 2007, 38–81, hier 56, 60–63; Karin Schneider, Gotische Schriften in deutscher Sprache, I. Vom späten 12. Jahrhundert bis um 1300, Text- und Tafelband, Wiesbaden 1987, Textband, 147–149. 71 Was weitere der frühen Überlieferungsträger des Iwein angeht, hat sich der Anfang nicht erhalten. Dies gilt etwa für die wohl älteste Quelle des Werks, die Heidelberger Handschrift Cod. Pal. germ. 397, deren Seite 1r unleserlich geworden ist. Doch scheint auch dieses Manuskript im ursprünglichen Zustand keine Paratexte aufgewiesen zu haben (Karl Bartsch, »Die erste Seite der Iweinhandschrift A«, Germania 31 (1886), 122 / 123). Der um 1300 entstandene und in der Berliner Staatsbibliothek aufbewahrte Codex mgf 1062, auch Riedegger Handschrift genannt, setzt überhaupt erst mit Vers 1331 des Iwein ein. Vgl. zu diesem Manuskript auch Karin Schneider, Gotische Schriften in dt. Sprache, Textband, 226–228; Peter Jörg Becker, Handschriften und Frühdrucke mittelhochdeutscher Epen. Eneide, Tristrant, Tristan,
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von der Hand zu weisen ist der Umstand, dass die (zumindest im ersten Teil der Handschrift) mit großer Sorgfalt geschriebene frühgotische Minuskel selbst ungeübten Lesern die visuelle Rezeption des Texts leicht ermöglichte,72 was durchaus nahelegt, dass der Codex nicht ausschließlich als Quelle für Vorleser konzipiert war. Aufgrund des Fehlens paratextuell gebotener Metadaten war es jedoch auch im Fall einer persönlichen Lektüre nötig, in die Rezeption des Verstexts einzusteigen, um zu erkennen, um welches Werk es sich bei der präsentierten Dichtung überhaupt handelte. Zu Beginn des Prologs des Iwein wird eine Narrationsinstanz inauguriert, die mit einer Exordialsentenz anhebt.73 Nach darauf folgenden kurzen Überlegungen zur Beispielhaftigkeit von König Artus, womit als Erstes der Stoffkreis angekündigt wird, in dem die Geschichte situiert ist, kommt die Erzählstimme auf den Verfasser der Ausführungen zu sprechen, mit den berühmten autoreflexiven Versen:74
Erec, Iwein, Parzival, Willehalm, Jüngerer Titurel, Nibelungenlied und ihre Reproduktion und Rezeption im späteren Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Wiesbaden 1977, 57–61. 72 Nigel Palmer erkennt in dieser Handschrift ein Exemplar, das für persönliche Lektüren gedacht war (Nigel F. Palmer, »Manuscripts for reading: The material evidence for the use of manuscripts containing Middle High German narrative verse«, in: Mark Chinca, Christopher Young [Hgg.], Orality and Literacy in the Middle Ages. Essays on a Conjunction and its Consequences in Honour of D. H. Green, Turnhout 2005, 67–102, hier 100 [Nr. 87]). 73 Sinn und Bedeutung der Eingangsverse in Hartmanns Iwein sind breit diskutiert worden, siehe etwa: Walter Haug, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, 2. Aufl., Darmstadt 1992, 119–123; Karina Kellermann, »Exemplum und historia. Zu poetologischen Traditionen in Hartmanns Iwein«, Germanisch-Romanische Monatsschrift, N.F. 42 / 1 (1992), 1–27; Hedda Ragotzky, »Saelde und êre und der sêle heil. Das Verhältnis von Autor und Publikum anhand der Prologe zu Hartmanns Iwein und zum Armen Heinrich«, in: Gerhard Hahn, Hedda Ragotzky (Hgg.), Grundlagen des Verstehens mittelalterlicher Literatur. Literarische Texte und ihr historischer Erkenntniswert, Stuttgart 1992, 33–54; Wiebke Freytag, »rehte güete als wahrscheinlich gewisse lêre: Topische Argumente für eine Schulmaxime in Hartmanns Iwein«, in: Martin H. Jones, Roy Albert Wisbey (Hgg.), Chrétien de Troyes and the German Middle Ages. Papers from an International Symposium, Cambridge 1993, 165–217; Klaus Ridder, »Fiktionalität und Autorität. Zum Artusroman des 12. Jahrhunderts«, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 75 (2001), 539–560, hier 556–560; Hübner, Erzählform im höfischen Roman, 164 / 165. 74 Ähnlich im Wortlaut, jedoch inhaltlich als Eröffnung der Legende konzipiert sind die Auftaktverse des Armen Heinrich (vgl. Hartmann von Aue: Der arme Heinrich, hg. Hermann Paul, 16., neu bearb. Aufl. von Kurt Gärtner, Tübingen 1996, v. 1–15).
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Ein rîter, der gelêret was unde ez an den buochen las, swenner sîne stunde niht baz bewenden kunde, daz er ouch tihtennes pflac daz man gerne hoeren mac, dâ kêrt er sînen vlîz an: er was genant Hartman und was ein Ouwaere, der tihte diz maere. Ein Ritter, der über Schulbildung verfügte und in Büchern las, sogar dichtete, wenn er seine Zeit nicht besser einsetzen konnte, richtete auf das, was man mit Freude anhören kann, seinen Eifer. Er wurde Hartmann genannt und war von Aue; der hat diese Geschichte gedichtet. (Hartmann von Aue, Iwein, v. 21–30)75
Die Narrationsinstanz, die wenig später explizit mit dem Personalpronomen der ersten Person Singular verbunden wird, stellt den Dichter der anhebenden Erzählung namentlich vor, ohne sich jedoch selbst mit diesem zu identifizieren:76 Er, Hartmann, sei der Verfasser der Geschichte, dies verkündet die Erzählstimme, er habe das Werk gedichtet, damit es in der Vortragssituation beim Zuhören Freude bereite: daz man gerne hoeren mac.77 Wie im Herzog Ernst B ist es das Verb tihten, das – hier gleich zweimal innerhalb weniger Verse – die literarische Verfassertätigkeit an-
75 Text hier und im Folgenden nach der Edition: Hartmann von Aue, Iwein, Text der siebenten Ausgabe von Georg Friedrich Benecke, Karl Lachmann, Ludwig Wolff, übers. und Anmerkungen von Thomas Cramer, 4., überarb. Aufl., Berlin 2001. Die Übersetzungen stammen von mir, S. P. 76 Vgl. zu diesem Gedanken auch Paul Herbert Arndt, Der Erzähler bei Hartmann von Aue. Formen und Funktionen seines Hervortretens und seine Äußerungen, Göppingen 1980, 159; Green, Medieval listening and reading, 187–189; ReuvekampFelber, Autorschaft als Textfunktion; Monika Unzeitig, »Von der Schwierigkeit, zwischen Autor und Erzähler zu unterscheiden. Eine historisch vergleichende Analyse zu Chrétien und Hartmann«, in: Haubrichs, Lutz, Ridder (Hgg.), Erzähltechnik und Erzählstrategien, 59–81, hier 64; Glauch, An der Schwelle, 52; Unzeitig, Autorname und Autorschaft, 229–236; Däumer, Stimme im Raum, 43. 77 Im 13. Jahrhundert finden sich in narrativen Texten zunehmend auch Verweise der Erzählinstanz auf eine lesende Rezeptionssituation, vgl. zu dieser Frage die je unterschiedlich perspektivierten Überlegungen von: Manfred Günter Scholz, Hören und Lesen. Studien zur primären Rezeption der Literatur im 12. und 13. Jahrhundert, Wiesbaden 1980; Green, Medieval listening and reading, 187–189; Michael Curschmann, »Hören – Lesen – Sehen. Buch und Schriftlichkeit im Selbstverständnis der volkssprachlichen literarischen Kultur Deutschlands um 1200«, Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (PBB) 106 (1984), 218–257.
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zeigt.78 Wie dort geht diese Verfassertätigkeit mit Schriftgelehrsamkeit Hand in Hand. Anders als im Herzog Ernst B nennt der Sprecher den Verfasser im Iwein gleich zum Auftakt der Dichtung (zumindest in denjenigen Handschriften, die den Prolog mit tradieren), und zwar in einer Weise, wie dies beispielsweise auch im Alexanderlied des Pfaffen Lamprecht zu beobachten ist:79 Kommunikations- und Verfasserinstanz sind aussagelogisch klar differenziert. Ein Sprecher kündigt dem Publikum den Stoff der Dichtung an und liefert Informationen zum Verfasser, bietet damit zu Beginn der Dichtung substantielle Metadaten zum Text. Zugleich inszeniert sich der Sprecher als Vermittler der Narration in gemeinschaftsstiftender Art und Weise, indem er mit Bezug auf die vergangene Welt des Artushofs festhält: mich jâmert waerlîchen, und hulfez iht, ich woldez clagen, daz nû bî unseren tagen selch freude niemer werden mac der man ze der zîten plac. doch müezen wir ouch nû genesen ichn wolde dô niht sîn gewesen, daz ich nû niht enwaere, dâ uns noch mit ir maere sô rehte wol wesen sol: dâ tâten in diu werc vil wol. Mich bekümmert wahrhaftig sehr, und, wenn es etwas nützte, wollte ich es laut beklagen, dass sich jetzt in unseren Tagen eine solche Festesfreude nicht mehr ereignen kann, wie man sie damals pflegte. Aber wir müssen nun eben heute zurechtkommen. Ich hätte damals nicht leben wollen, weil ich dann heute nicht hier wäre, da uns mit der Erzählung von ihnen wahres Vergnügen bereitet wird, damals freuten sie sich an den Taten selbst. (Hartmann von Aue, Iwein, v. 48–58)
78 Unzeitig,
234.
»Von der Schwierigkeit«, 74; Unzeitig, Autorname und Autorschaft,
79 So lauten die Auftaktverse im Vorauer Alexander: Diz lît, daz wir hî wurchen, / daz sult ir rehte merchen. / sîn gevûge ist vil reht. / iz tihte der phaffe Lambret. – ›Der Dichtung, die wir hier verfertigen, sollt ihr eure Aufmerksamkeit widmen. Sie ist ganz richtig zusammengestellt. Verfasst hat sie der Kleriker Lambrecht.‹ (nach der Edition: Pfaffe Lambrecht, Alexanderroman, mhd. / nhd., hg., übers. u. komm. Elisabeth Lienert, Stuttgart 2007). Siehe dazu Seraina Plotke, »Autorschaft durch Autorisierung. Bearbeitungen des Alexanderstoffs als Modellfall differenter Verfasserkonzeptionen«, Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (PBB) 134 / 3 (2012), 344–364, hier 353–356; Unzeitig, »Von der Schwierigkeit«, 75; Unzeitig, Autorname und Autorschaft, 235.
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Der Sprecher nimmt hier selbst die Perspektive der Rezeption ein und rechnet sich all denen zu, die die Geschichten von König Artus zu vernehmen in der Lage sind und dadurch Vergnügen finden.80 Allerdings wird in den Reflexionen der Erzählstimme über die eigene Gegenwart auch deutlich, dass die Instanz der Narration im vorliegenden Fall offensichtlich nicht allein mit der Sprecherposition als medialer Transmitterfunktion gleichzusetzen ist, sondern sie durchaus figurale Züge trägt. Auf die Frage ›Wer spricht?‹ lässt sich mit Blick auf den Iwein-Prolog antworten: Jemand, der eigene Gefühle und Einstellungen äußert;81 ein Subjekt, das nicht allein auf die Funktion beschränkt bleibt, Agent des Sprechakts zu sein, sondern Merkmale einer konkreten Person zeigt. Auch im Iwein manifestiert sich im Weiteren eine besondere Akzentuierung des Erzählens als Prozess, indem sich die Redeinstanz mit einiger Regelmäßigkeit an die nicht näher bestimmte Zuhörerschaft wendet und den Akt der oralen Narration pointiert, mit phatischen Wendungen wie: ich wil iu von dem hûse sagen (›ich will euch von der Burg berichten‹, v. 1135).82 Dabei fungiert die Erzählstimme mitunter selbst als Garantin für die Richtigkeit des Erzählten: daz ich daz wol sagen mac (›dass ich dies versichern kann‹, v. 5034).83 Passend zur Tatsache, dass weder im Prolog noch an einer anderen Stelle auf die französische Vorlage verwiesen wird, finden sich im Iwein allerdings kaum explizite Quellenberufungen. Vereinzelt rekurriert der Sprecher auf mündliches Hören-Sagen, ohne jedoch einen konkreten Gewährsmann zu nennen: als ich vernomen habe (›wie ich hörte‹, v. 1113); man saget (›man sagt‹, v. 3052, 4861); ist mir gesaget 80 Diese Passage ist aufgrund ihres programmatischen Charakters beliebter Gegenstand der Forschung, siehe etwa: Haug, Literaturtheorie, 119–133; Bernd Schirok, »Ein rîter, der gelêret was. Literaturtheoretische Aspekte in den Artus-Romanen Hartmanns von Aue«, in: Anna Keck, Theodor Nolte (Hgg.), ›Ze hove und an der strâzen‹. Die deutsche Literatur des Mittelalters und ihr ›Sitz im Leben‹. Festschrift für Volker Schupp zum 65. Geburtstag, Stuttgart 1999, 184–211, hier 191–194; Ulrich Hoffmann, Arbeit am Mythos. Zur Mythizität der Artusromane Hartmanns von Aue, Berlin 2012, 333 / 334. 81 Zur emotionalen Beteiligung der Erzählinstanz bei Hartmann siehe Arndt, Der Erzähler, 139. 82 Weitere Beispiele sind: als ich iu sage (›wie ich euch berichte‹, v. 1107); ouch sag ich iu ein maere (›auch erzähle ich euch folgende Geschichte‹, v. 2565); unde ich sage iu war an (›und ich erzähle euch womit‹, v. 2716); durch nôt bescheid ich iu wâ von (›es ist nötig, dass ich euch sage, weshalb‹, v. 3031); als ich iu ê hân verjehen (›wie ich euch schon erzählt habe‹, v. 3928); als ich iu hân gesaget (›wie ich euch erzählt habe‹, v. 5700); ich sage iu waz sî tâten (›ich erzähle euch, was sie taten‹, v. 7125); als ir ê habent vernomen (›wie ihr vorhin gehört habt‹, v. 7728). 83 Ähnlich: ich versihe mich wol zewâre (›ich bin mir sicher‹, v. 6522); ouch sî iu daz vür wâr geseit (›auch sei euch dieses versichert‹, v. 6997).
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(›wie mir berichtet wurde‹, v. 6456).84 Mit derartigen Formulierungen vergleichbar ist auch die Quellenberufung in den Abschlussversen der Dichtung, wo mit Blick auf die Protagonisten der Geschichte von der Sprecherposition aus festgehalten wird: ichn weiz ab waz ode wie in sît geschaehe beiden. ezn wart mir niht bescheiden von dem ich die rede habe: durch daz enkan ouch ich dar abe iu niht gesagen mêre, wan got gebe uns saelde und êre. Ich weiß jedoch nicht, was oder wie den beiden seither geschah. Der, von dem ich diese Erzählung habe, hat es mir nicht berichtet. Deswegen kann ich euch darüber nichts weiter sagen als: Gott schenke uns Gnade und Ansehen in der Welt. (Hartmann von Aue, Iwein, v. 8160–66)
Die Redeinstanz, die zum Ende der Dichtung nochmals den direkten Kontakt zur Zuhörerschaft sucht, bezieht sich auf einen nicht näher bestimmten Gewährsmann als Quelle ihres Erzählens, wobei allein auf den Narrationsakt rekurriert wird, während die im Prolog thematisierten Aspekte der Verfertigung des verspoetischen Artefakts durch einen schriftgelehrten Dichter nicht mehr in den Blick kommen: Der Sprecher inszeniert sich hier als jemand, der mündlich Berichtetes weitergibt. Tatsächlich wird im Iwein die im Prolog installierte klare Unterscheidung einer Sprecherposition einerseits, die als Narrationsinstanz wiederholt den unmittelbaren Bezug zum Publikum sucht und für den Akt des Erzählens als solchen zuständig ist, und andererseits der namentlich genannten Verfasserpersönlichkeit, die für das Werk als verspoetisches Produkt verantwortlich zeichnet, im Verlauf der Dichtung gerade nicht aufrecht erhalten. So finden sich mehrfach Passagen, wo die Redeinstanz als ein gestaltendes Subjekt auftritt, das über das Erzählen als kreativen Akt nachdenkt und sich zum Schöpfer des Wortlauts, wie er gewählt ist, stilisiert. Symptomatisch etwa sind die Ausführungen im Zusammenhang mit dem tödlichen Zweikampf zwischen Iwein und dem Brunnenritter, in denen die Erzählstimme über die Mechanismen literarischer Berichterstattung reflektiert und deren Möglichkeiten und Grenzen thematisiert: Ich machte des strîtes harte vil mit worten, wan daz ich enwil als ich iu bescheide.
84 Siehe
dazu auch Arndt, Der Erzähler, 44–57.
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sî wâren dâ beide, unde ouch nieman bî in mê der mir der rede gestê. spraeche ich, sît ez nieman sach, wie dirre sluoc, wie jener stach: ir einer wart dâ erslagen: dern mohte nicht dâ von gesagen: der aber den sige dâ gewan, der was ein sô hövesch man, er hete ungerne geseit sô vil von sîner manheit dâ von ich wol gemâzen mege die mâze ir stiche und ir slege. wan ein dinc ich iu wol sage, daz ir deweder was ein zage, wan da ergienc wehselslege gnuoc, unz daz der gast dem wirte sluoc durch den helm einen slag zetal unz dâ daz leben lac. Ich könnte jetzt den Kampf mit sehr vielen Worten präsentieren, aber das will ich nicht, wie ich euch erkläre: Sie beide waren da, aber sonst war niemand mehr bei ihnen, der mir die Erzählung garantieren würde. Wie könnte ich berichten – da es doch niemand sonst sah –, wie dieser schlug, wie jener zustach. Der eine von ihnen kam dort um, der konnte nicht mehr davon erzählen; derjenige aber, der damals gewann, war ein Mann von derart höfischem Benehmen, dass er ungern soviel von seiner Tapferkeit erzählt hätte, dass ich dadurch das Ausmaß ihrer Stiche und Schläge ermessen könnte. Aber eine Sache kann ich euch sehr wohl erzählen: dass keiner von beiden ein Feigling war, denn der wechselweisen Schläge erfolgten genug, bis der Fremde dem Burgherrn einen Schlag durch den Helm versetzte hinunter bis zum Ort, wo das Leben saß. (Hartmann von Aue, Iwein, v. 1029–50)
Just an dem Punkt, an welchem die Handlung kurz vor ihrem ersten Höhepunkt steht, schaltet sich die Kommunikationsinstanz als Vermittlerin der Geschichte ein, unterbricht den Spannungsbogen und problematisiert die Darstellungsmittel des Erzählens – mit der Folge, dass die alles Weitere entscheidende Kampfszene nicht mimetisch beschrieben, sondern über Verfremdungstechniken, die das Erzählen als solches ausstellen, inhaltlich eingeholt wird.85 Indem die Erzählstimme Fragen der Zeugen85 Zu dieser Szene, die öfters im Zusammenhang mit Fragen der Fiktionalität gelesen wird, etwa auch Klaus Ridder, »Fiktionalität und Medialität. Der höfische Roman zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit«, Poetica 34 (2002), 29–40, hier 38; Timo Reuvekamp-Felber, Volkssprache zwischen Stift und Hof: Hofgeistliche in Literatur und Gesellschaft des 12. und 13. Jahrhunderts, Köln 2003, 130; Däumer,
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schaft und der parteilichen Perspektivierung diskutiert, überspielt sie gekonnt die Tatsache, dass jede Form von Mimesis ihrem Gegenstand gegenüber immer schon defizitär ist, was bei einer spannungsgeladenen Zweikampfszene natürlich besonders ins Gewicht fiele. Durch die explizite Einmischung der Narrationsinstanz und die damit verbundene Auflösung der erzählerischen Immersion wird zwar die Rezipientenerwartung enttäuscht, zugleich jedoch die Herausforderung der Enargeia, also die Verlebendigung der Handlung mittels erzählender Beschreibung, umgangen und damit den Unzulänglichkeiten narrativer Mimesis ein Schnippchen geschlagen. Da das literarische Ausmalen eines ritterlichen Kampfs das tatsächliche Kampfgeschehen nie angemessen einzuholen vermag, verzichtet der Sprecher an dieser Stelle erzählstrategisch geschickt ganz auf die entsprechende Schilderung, versichert jedoch gleichzeitig das herausragende Verhalten der Protagonisten glaubwürdig, so dass sich die direkt apostrophierten Adressaten (als ich iu bescheide, wan ein dinc ich iu wol sage) das Hauen und Stechen der Helden in ihrer Fantasie umso lebhafter ausmalen können. In der Art und Weise, wie die Erzählstimme hier über Perspektivierungstechniken und Fragen der Wahrheit reflektiert, maßt sie sich autorhafte Kompetenzen an. Indem sie über das Verhältnis von Mimesis und Diegesis nachdenkt, stellt sie einerseits die rhetorische Produktionsgewalt des Vortragsdiskurses deutlich aus, stilisiert sich aber andererseits auch zur künstlerischen Leiterin des Erzählens: Sie ist diejenige, die strategische Entscheidungen darüber fällt, was wie erzählt wird. Insofern ist symptomatisch, dass die Möglichkeit der Quellenberufung gerade ak tiv verworfen wird. Das Personalpronomen der ersten Person Singular steht hier für denjenigen, der die Gestaltungsmacht hat. Wird der Text vorgetragen, spricht der Rezitator stellvertretend für den Autor – im Sinne des Urhebers der Erzählung: Er schlüpft in die Rolle dessen, der bewusst auswählt, weglässt, präzisiert etc. Er spricht als »Maske und Erscheinungsgestalt«86 des Autors, auch wenn es an dieser Stelle keinen ausdrücklichen Hinweis auf den Schöpfer des verspoetischen Produkts gibt. Noch virulenter wird der Sachverhalt im Rahmen zweier weiterer Partien, in denen der im Prolog genannte Verfassername explizit ins Spiel gebracht wird. Die erste firmiert in der mediävistischen Forschung unter Stimme im Raum, 425 / 426; Susanne Koch, Wilde und verweigerte Bilder. Untersuchungen zur literarischen Medialität der Figur um 1200, Göttingen 2014, 159. 86 Stanzel, Die typischen Erzählsituationen, 55.
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dem Stichwort des Herzenstausch-Exkurses.87 Im Kontext des ersten Abschieds von Iwein und Laudine lässt sich die Erzählstimme von Frau Minne direkt mit dem Namen Hartmann ansprechen und in einen Dialog verwickeln: Dô vrâgte mich vrou Minne des ich von mînem sinne niht geantwurten kan. sî sprach ‹sage an, Hartman, gihstû daz der künec Artûs hern Îweinen vuort ze hûs und liez sîn wîp wider varn?› Da fragte mich Frau Minne etwas, was ich mit meinem Verstand nicht beantworten kann. Sie sprach: ›Sage, Hartmann, behauptest du, dass der König Artus Herrn Iwein mit an den Hof nahm und seine Frau zurückreiten ließ?‹ (Hartmann von Aue, Iwein, v. 2971–77)
Im Verlauf des sich aus dieser ersten Frage erhebenden Disputs wirft die allegorische Figur dem mit Hartmann identifizierten Sprecher vor, er würde nicht die Wahrheit erzählen, so dass sich dieser genötigt sieht, seine Argumentation zu präzisieren. Es entwickelt sich ein Gespräch, in dem die beiden über die verschiedenen Bereiche und Bedeutungen des Herzens diskutieren, wobei Hartmann das Herz als lebenspendendes Organ und Sitz des heldischen Muts versteht, während Frau Minne die Liebe als Angelegenheit des Herzens betrachtet und deswegen die Meinung vertritt, die Protagonisten hätten die Herzen getauscht. Da Hartmann dies wiederum in Frage stellt, wirft sie ihm mangelnde Kenntnis in Liebesdingen vor und besteht darauf, dass man sehr wohl aus Liebe sein Herz verlieren und trotzdem bei Kräften bleiben könne (vgl. v. 2978– 3028). Indem sich die Sprechstimme hier mit dem im Prolog genannten Verfassernamen anreden lässt und mit Frau Minne über die richtige Art und Weise, die Geschichte zu erzählen, diskutiert, kommt es insofern zu einer Transgression, als die im Prolog klar vom Verfasser geschiedene Kommunikationsinstanz ausdrücklich mit der Autorperson identifiziert wird.88 87 Siehe zu diesem Exkurs etwa die Interpretationen von Markus Greulich, »Imitatio Arthuri und mære(n) sagen. Zum Verhältnis von Prolog, histoire und discours in Hartmanns Iwein«, in: Monika Costard, Jakob Klingner, Carmen Stange (Hgg.), Mertens lesen. Exemplarische Lektüren für Volker Mertens zum 75. Geburtstag, Göttingen 2012, 107–125; Laude, » ›Hartmann‹ im Gespräch«; Sandra Linden, »Körperkonzepte jenseits der Rationalität. Die Herzenstauschmetaphorik im Iwein Hartmanns von Aue«, in: Friedrich Wolfzettel (Hg.), Körperkonzepte im arthurischen Roman, Tübingen 2007, 247–267.
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Hartmann macht sich an dieser Stelle8 namentlich selbst zum Erzähler und zeigt sich damit als ein Verfasser, der auch in der Kommunikationssituation zum Publikum hin die Regie über seine Geschichte nicht aus der Hand geben will. So wird die Narrationsinstanz zum Autor-Erzähler, der im kreativen Akt der Verfertigung der Erzählung als manifeste Figur auftritt. Vergleichbar zeigt sich die Situation im sogenannten Minne-Hass-Exkurs (vgl. v. 7015–7074), der zweiten Stelle, an der sich die Narrationsinstanz mit dem Autornamen apostrophieren lässt. Mit der Individuierung der Erzählinstanz, wie sie aus der Identifizierung mit dem Verfasser resultiert, konvergiert, dass über das vom Prolog her mit der Sprecherposition verbundene Pronomen der ersten Person Singular im Verlauf der Erzählung immer wieder Wertungen, Gefühlsbekundungen, Randbemerkungen zum Geschehen oder persönliche Einschätzungen abgegeben werden, die Kommunikationsinstanz also die im Prolog schon angedeuteten Züge eines konkreten Subjekts, das als auktorialer Erzähler agiert,89 wiederholt sichtbar werden lässt.90 Bei diesen Kommentaren und Verlautbarungen der Erzählstimme handelt es sich mitunter nur um kurze Einwürfe, streckenweise jedoch um längere, die Verhaltensweisen der Protagonisten bewertende Stellungnahmen, wie beispielsweise im Zusammenhang des Gesprächs, bei dem die Zofe Lunete ihrer Herrin Laudine plausibel macht, zum Schutz der Herrschaft Iwein zu heiraten, nachdem dieser ihren Gatten, den Brunnenritter, getötet hatte: Swie sî ir wârheit ze rehte hete underseit und sî sich des wol verstuont, doch tete sî sam diu wîp tuont: sî widerredent durch ir muot daz sî doch ofte dunket guot. daz sî sô dicke brechent diu dinc diu sî versprechent, dâ schiltet sî vil maneger mite: sô dunketz mich ein guot site. er missetuot, der daz seit, ez mache ir unstaetekheit: ich weiz baz wâ vonz geschiht
88 Siehe dazu auch Unzeitig, »Von der Schwierigkeit«, 76–78; Unzeitig, Autorname und Autorschaft, 236–242. 89 Vgl. Stanzel, Die typischen Erzählsituationen, 23. 90 Vgl. Uwe Pörksen, Der Erzähler im mittelhochdeutschen Epos. Formen seines Hervortretens bei Lamprecht, Konrad, Hartmann, in Wolframs Willehalm und in den ›Spielmannsepen‹, Berlin 1971, 14.
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daz man sî alsô dicke siht in wankelm gemüete: ez kumt von ir güete. man mac sus übel gemüete wol bekêren ze güete unde niht von guote bringen ze übelem muote. diu wandelunge diu ist guot: ir deheiniu ouch anders niht entuot. swer in danne unstaete giht, des volgaere enbin ich niht: ich wil niuwan guotes jehen. allez guot müez in geschehen. Wie sie ihr die tatsächliche Lage klar dargelegt hatte und die Herrin es auch einsah, verhielt sich diese doch so, wie es die Frauen tun. Aus ihrer Laune heraus widersprechen sie dem, was ihnen doch oft gut erscheint. Dass sie so häufig brechen, was sie vorher versprochen haben, dafür tadelt sie so mancher. Mir scheint im Gegenteil, es sei gut. Derjenige tut Unrecht, der sagt, das liege an ihrer Launenhaftigkeit. Ich weiß besser, woher es kommt, dass man sie so oft wankelmütig sieht: Es kommt von ihrer Güte. Man kann falsches Ansinnen wohl zum Guten wenden, hingegen nicht die gute Gesinnung zur schlechten hin. Eine solche Sinnesänderung ist aber nichts Schlechtes, und keine wird anders handeln: Wer sie dann der Launenhaftigkeit bezichtigt, dem will ich nicht zustimmen: Ich will nichts als Gutes von ihnen sagen und wünsche ihnen nur das Beste. (Hartmann von Aue, Iwein, v. 1863–88)
In diesem ausführlichen Kommentar zum Verhalten Laudines diskutiert der Sprecher gesellschaftliche Werturteile,91 positioniert sich mit einer eigenen Meinung und rekurriert zugleich auf sein Erzählen. Das Pronomen der ersten Person Singular markiert hier offensichtlich nicht die grammatikalische Position eines nicht näher bestimmten sujet d’énonciation, sondern steht für einen figurierten Erzähler, der mit auktorialen Zügen ausgestattet ist und die Geschehnisse mit eigenen Deutungen versieht. Auf die Frage ›Wer spricht?‹ kann mit Blick auf diese Passage denn geantwortet werden: Der Autor, der sich Hartmann von Aue nennt, streckenweise mit der Kommunikationsinstanz zur Deckung kommt, mit den Figuren öfters gleichsam mitlebt, sie bewertet, ihre Handlungen beurteilt und einiges über sich selbst und seine Ansichten preisgibt. In welchem Verhältnis diese Einstellungen des explizit genannten Autors Hartmann jedoch zu denjenigen des empirischen Autors stehen,92 darüber lassen sich (wie in Bezug auf die meisten mittelalterlichen Dichter) keine Aussagen machen, Arndt, Der Erzähler, 121 / 122. diesem Gedanken auch Unzeitig, »Von der Schwierigkeit«, 60.
91 Vgl. 92 Zu
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da keinerlei Dokumentationen oder Hinweise bezüglich der Haltungen und Weltanschauungen des realen Iwein-Verfassers erhalten sind.93 Die im Iwein eingangs von der Sprecherposition klar differenzierte Verfasserinstanz verschmilzt im Lauf der Erzählung in markanter Weise mit der Autorperson. Insbesondere da, wo sich Hartmann als formstarker Dichter inszeniert und stiltheoretische Fragen des Erzählens mit zum Thema seiner Geschichte macht, stellt er sich als Autor-Erzähler aus. Zwar gibt es auch im Iwein eine Forcierung der phatischen Dimension der Narrationsinstanz, wird öfters die klare Deixis der Ich-Du-Beziehung (bzw. des Ich-Euch) verwendet, die die konkrete oral-auditive Kommunikationssituation explizit macht. Doch fungiert diese Sprecherposition nicht als konturloser Agent des Erzählens, der als gemeinschaftsbildender Resonanzkörper die Buchmedialität ergänzt, sondern sie wird ausgefüllt durch ein individuelles Subjekt, das sich teils explizit dem Publikum zuwendet und auf den Akt des Erzählens verweist, teilweise spielerisch Fragen der literarischen Darstellung behandelt, häufig persönliche Meinungen und Wertauffassungen artikuliert und sich zum berichteten Geschehen in Beziehung setzt. So wird im Iwein ein emphatisches Konzept von Autorschaft sichtbar,94 das sich in den Reflexionen der Narrationsinstanz zu Fragen der Erzähltechnik äußert. Über unterschiedliche textinterne Zuschreibungsspiele erhält der Sprecher während des Rezeptionsprozesses die Konturen der Autorperson, deren Autorität sich noch dadurch verstärkt, dass keine Quellen des Erzählens genannt sind, neben Hartmann kein Gewährsmann im Werk aufgebaut oder überhaupt nur erwähnt wird.95 Trotzdem lässt sich der Erzähler im Iwein gerade nicht mit dem Autor gleichsetzen, da die im Prolog eröffnete Kommunikationssituation in kein aussagelogisches Verhältnis zu den weiteren textinternen Zuschreibungsspielen gesetzt werden kann. 93 Zum Verhältnis von explizitem und realem (empirischen) Autor siehe Genette, Die Erzählung, 280. 94 Die in der mediävistischen Forschung übliche pragmatische Beschränkung auf den Begriff des Verfassers löst also die epistemischen Probleme der Kategorie Autorschaft in Bezug auf mittelalterliche Dichter nicht, sondern umgeht sie nur. 95 Auch wenn es sich bei Chrétien de Troyes, dem Verfasser der Vorlage Hartmanns, nicht um einen auctor handelt, wäre es durchaus nicht ungewöhnlich gewesen, auf ihn als Quelle zu verweisen. So führt beispielsweise der Pfaffe Lambrecht den französischen Dichter Alberic von Bisinzo als Verfasser seiner Vorlage prominent im Prolog des Alexanderlieds ein: v. 13–16 des Vorauer Alexander lauten: Alberîch von Bisinzo / der brâhte uns diz lît zû. / er hetez in walhisken getihtet / nû sol ich es iuh in dûtisken berihten. – ›Alberic von Bisinzo brachte diese Dichtung zu uns. Er hat sie in romanischer Sprache verfasst, nun werde ich sie euch in die deutsche Sprache übertragen‹ (Alexanderroman, hg. Lienert).
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Fazit Auf der Basis der ausgeführten Analysen lassen sich folgende Schlüsse ziehen: Die gängigen Formen mittelalterlicher Manuskriptgestaltung sowie der illiterate Bildungsstand der meisten Rezipienten machten es unabdingbar, die Übermittlung strukturbildender Metadaten werkintern dem manifesten Auftritt eines Sprechers zu überantworten. Indem sich volkssprachliche Autorschaft damit aber immer nur als Teil eines textinternen Kommunikationsverhältnisses offenbaren kann, kollidiert sie nolens volens mit der Kategorie einer Erzählinstanz. Dieser Befund lässt sich in zwei Richtungen lesen, woraus zwei unterschiedliche Forschungsprogramme abgeleitet werden können. Zum einen kann die werkinterne Thematisierung einer Erzähl- und / oder Verfasserinstanz als Formelement interpretiert werden, als künstlerisches Gestaltungsmittel, das die betreffenden Versdichtungen in besonderer Weise prägt. Zum andern ist die Überlappung von Erzähl- und Verfasserinstanz innerhalb der textinternen Kommunikation literatursoziologisch als Diskursfunktion zu betrachten: Es geht um die gesellschaftliche Positionierung von Literatur in einem System ausbleibender Paratexte, um ein notwendiges Inkorporieren von Metadaten in die Werke selbst aus bildungsgeschichtlichen Gründen, nämlich der fehlenden Lesefähigkeit bestimmter Teile des Rezipientenspektrums. Mit Blick auf die Frage der Differenzierung von Kommunikations- und Verfasserinstanzen in mittelalterlichen Werken erweist sich die methodische Unterscheidung von einerseits gestalterischen Formelementen und andererseits Diskursfunktionen als weiterführender als die in der modernen Literaturtheorie fixierte Differenzierung von ›Autor‹ vs. ›Erzähler‹. Zwar könnte man den ›Erzähler‹ den Formelementen zuordnen und die Diskursfunktion ›Autor‹ nennen, doch träfe dies nicht die spezifische textinterne Überlagerung der Kategorien, wie sie aufgrund des mittelalterlichen Buch- und Literaturwesens in Erscheinung tritt. Das Auftreten eines manifesten Erzählers, wie er in volkssprachlichen Narrativen, gleichsam als Herr der Kommunikationssituation, praktisch immer virulent wird, lässt sich oft in kein aussagelogisches Verhältnis zur Nennung von Verfassernamen bringen. Schon das Beispiel des Iwein dokumentiert, dass innerhalb desselben Werks der Verfassername sowohl im Zusammenhang mit der Installierung des Autors als auch im Spiel der Narrationsinstanzen Verwendung finden kann. Wie der Blick auf den ebenfalls exemplarisch hinzugezogenen Herzog Ernst B verdeutlicht, ist die stabile Größe bei volkssprachigen Dichtungen die Sprechinstanz, die über das Pronomen der ersten Person Singular die Kommunikationssituation der verbalen Äußerung initiiert und meist durch
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das gesamte Werk hindurch begleitet. Variabel und volatil ist das Verhältnis von Kommunikations- und Verfasserinstanz, wobei die Überlieferung in je einzelnen Fällen diese Unfestigkeit zusätzlich prägt: So finden sich schriftlich tradierte Werke, mit denen wohl von Anfang an kein Verfassername verknüpft war, andere, bei denen die Überlieferung diesen teilweise zum Verschwinden brachte, indem einzelne Handschriften etwa den Prolog gekürzt wiedergeben oder ganz weglassen. Wo ein Autor präsentiert wird, geschieht dies in den experimentellen Bahnen unetablierter Literaturstrukturen, wie nicht nur Hartmanns Iwein zeigt, sondern die volkssprachliche mittelalterliche Epik insgesamt.
Kosmopoetologie Koordinaten der Selbstverortung mittelalterlichen Dichtens Von Justin Vollmann Wer im 12. / 13. Jahrhundert als Dichter sein eigenes Schaffen reflektiert, der tut das gern in kosmischen Dimensionen.1 Verständlicher wird dieses aus moderner Sicht zunächst einmal irritierende Miteinander von poetologischer Selbstreferenz und kosmologischer Fremdreferenz2 vor dem Hintergrund der Lehre von den drei werkschaffenden Instanzen Gott, Natur und Mensch.3 Ursprünglich im philosophisch-theologischen Diskurs beheimatet, hat diese Lehre schon in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts ihren Weg in eine mittellateinische Poetik gefunden, nämlich – wie der vorliegende Beitrag zeigen möchte – in den Laborintus Eberhards des Deutschen. Dessen Rahmenhandlung stellt mehr als nur eine witzige Verpackung dar. Wohl dürfte die Geschichte des armen Grammatiklehrers, der sich mit allerlei Personifikationen wie Fortuna, Philosophia und Grammatica, aber auch mit renitenten Schülern, zahlungsunwilligen Eltern und anderen Übeln herumschlägt, maßgeblich zur Beliebtheit des Lehrwerks im deut1 Stichwortartig seien schon hier genannt: Erecs Krönungsmantel bei Chrétien, Enites Satteldecke bei Hartmann, der Gralstempel im Jüngeren Titurel. Das selbstreflexive – narratologische, medien- und repräsentationstheoretische – Potenzial wie auch der kosmologische Anspruch dieser und zahlreicher weiterer Passagen sind deutlich herausgearbeitet bei Haiko Wandhoff, Ekphrasis. Kunstbeschreibungen und virtuelle Räume in der Literatur des Mittelalters (Trends in Medieval Philology 3), Berlin / New York 2003. 2 Zu literarischer Selbstreflexivität als einem Phänomen der Selbstreferenz (im Gegensatz zu Fremd- bzw. Heteroreferenz) vgl. Werner Wolf, »Formen literarischer Selbstreferenz in der Erzählkunst. Versuch einer Typologie und ein Exkurs zur ›mise en cadre‹ und ›mise en reflet / série‹ «, in: Jörg Helbig (Hg.), Erzählen und Erzähltheorie im 20. Jahrhundert. FS Wilhelm Füger, Heidelberg 2001, 49–84, hier 53–56. 3 Vgl. Joachim Hamm, »Meister Umbrîz. Zu Beschreibungskunst und Selbstreflexion in Hartmanns ›Erec‹ «, in: Dorothea Klein (Hg.), Vom Verstehen deutscher Texte des Mittelalters aus der europäischen Kultur. FS Elisabeth Schmid (Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie 35), Würzburg 2011, 191–218, hier 210.
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schen Spätmittelalter beigetragen haben.4 Die Rahmenhandlung dient indessen nicht einfach nur der Unterhaltung, sondern vor allem auch der Kontextualisierung des eigentlichen Gegenstandes, der Dichtkunst. Ich werde mich in meinem Beitrag auf den kosmologischen Kontext und damit auf den Beginn des Textes bis hin zur Geburt des Lehrers beschränken. Auf eine kurze Darstellung der Lehre von den drei werkschaffenden Instanzen (I) folgt der Nachweis ihrer Exposition (II) und poetologischen Durchführung (III) in der betreffenden Passage. Eine kurze Zusammenfassung und ein Ausblick auf die Relevanz der Lehre für die Selbstreflexion volkssprachigen Erzählens schließen den Beitrag ab (IV). I. Erstmals hatte die Lehre von den drei werkschaffenden Instanzen Calcidius in seinem wohl zwischen 296 und 324 verfassten, im Mittelalter äußerst einflussreichen Kommentar zu Platons Timaios formuliert: Omnia enim quae sunt uel dei opera sunt uel naturae uel naturam imitantis hominis artificis.5 [›Denn alle Dinge, die existieren, sind entweder Werke Gottes oder der Natur oder des die Natur nachahmenden Menschen, des Artifex.‹]6 Im zwölften Jahrhundert, dessen neuplatonisch orientierte Denker zunehmend davon abkamen, alles in derselben Weise als von Gott geschaffen zu betrachten, und sich stattdessen für sekundäre Wirkursachen und Kausalzusammenhänge zu interessieren begannen,7 fiel diese Lehre auf fruchtbaren Boden.
4 Zum Erfolg des Laborintus vgl. Franz Josef Worstbrock: Art. »Eberhard der Deutsche (Everardus Alemannus, Teutonicus)«, in: Kurt Ruh (Hg.), Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, zweite, völlig neu bearbeitete Auflage, Bd. 2, Berlin / New York 1980, Sp. 273–276, hier Sp. 275 f. 5 Timaeus. A Calcidio translatus commentarioque instructus, hg. J. H. Waszink (Plato latinus, hg. Raymond Klibansky, Bd. 4), London / Leiden 1962, 73 (Kap. 23). Zu Calcidius und seiner Bedeutung für das Mittelalter vgl. Peter Dronke, The Spell of Calcidius. Platonic Concepts and Images in the Medieval West, Florenz 2008, zur Datierung 6, zur vorliegenden Stelle 32. 6 Ich lasse artifex absichtlich unübersetzt. ›Handwerker‹ wäre zu eng, ›Kunstschaffender‹ oder gar ›Künstler‹ aber erst recht irreführend. 7 Vgl. Marie-Dominique Chenu, Nature, Man, and Society in the Twelfth Century. Essays on new theological perspectives in the latin west, with a Preface by Etienne Gilson, selected, ed., and transl. Jerome Taylor, Lester K. Little, Chicago / London 1968, Nachdr. 1983, 41 f.; Tullio Gregory, »The Platonic Inheritance«, in: Peter Dronke (Hg.), A History of Twelfth-Century Western Philosophy, Cambridge u. a. 1988, 54–80, hier 63 f.
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Anknüpfend an Calcidius führt Wilhelm von Conches in seinen Glossen zum Timaios die Lehre von den drei Werken näher aus. Das Werk Gottes sei die erste Schöpfung, der keine Materie vorausgehe. Das Werk der Natur sei es, Ähnliches aus Ähnlichem – aus dem Samen oder aus dem Keim – hervorzubringen.8 (Thomas von Aquin wird an entsprechender Stelle den Formbegriff ins Spiel bringen: Die Natur erzeuge die natürlichen Dinge der Form nach, setze die Materie aber schon voraus.)9 Das Werk des Menschen indessen, so Wilhelm in einem auffälligen Wechsel zur causa finalis, verdanke sich seiner Bedürftigkeit.10 Während nun aber das Werk Gottes fortwährenden Bestand und das Werk der Natur zumindest in der Nachkommenschaft Bestand habe, vergehe das Werk des Menschen vollständig.11 Kurz und bündig charakterisiert Hugo von St. Viktor die drei Werke in seinem Didascalicon: Das Werk Gottes sei es, zu erschaffen, was vorher nicht existiert habe; das Werk der Natur, das Verborgene in die Aktualität zu überführen; das Werk des Menschen, Getrenntes zu verbinden und Verbundenes zu trennen. Alle drei Werke kann Hugo bereits im Schöpfungsbericht der Genesis nachweisen: »Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde« (Gn 1,1), »das Land lasse junges Grün wachsen« 8 Guillaume de Conches, Glosae super Platonem, Texte critique avec introduction, notes et tables, hg. Édouard Jeauneau, Paris 1965, 104 (In Timaeum 28 A, § 37): Et est opus Creatoris prima creatio sine preiacente materia ut est creatio elementorum et spirituum vel ea que videmus fieri contra consuetum cursum nature ut partus virginis, etc. Opus nature est quod similia nascuntur ex similibus, ex semine vel ex germine. Et est natura vis rebus insita similia de similibus operans. 9 Die deutsche Thomas-Ausgabe, vollständige, ungekürzte deutsch-lateinische Ausgabe der Summa theologica, übers. von Dominikanern und Benediktinern Deutschlands und Österreichs, Bd. 4 (I, 44–64), Salzburg / Leipzig 1936, S. 23 f. (S. th. I, q. 45, a. 2): Quicumque enim facit aliquid ex aliquo, illud ex quo facit praesupponitur actioni ejus, et non producitur per ipsam actionem: sicut artifex operatur ex rebus naturalibus, ut ex ligno et aere, quae per artis actionem non causantur, sed causantur per actionem naturae. Sed et ipsa natura causat res naturales quantum ad formam, sed praesupponit materiam. […] Unde necesse est dicere quod Deus ex nihilo res in esse producit. Vgl. zu dieser Passage Andreas Speer: »Kunst und Schönheit. Kritische Überlegungen zur mittelalterlichen Ästhetik«, in: Ingrid Craemer-Ruegenberg u. a. (Hgg.), Scientia und ars im Hoch- und Spätmittelalter (Miscellanea Mediaevalia 22), 2 Bde, Bd. 2, Berlin / New York 1994, 945–966, hier 953 f. 10 Guillaume de Conches, Glosae, hg. Jeauneau, 104 (In Timaeum 28 A, § 37): Opus artificis est opus hominis quod propter indigentiam operatur ut vestimenta contra frigus, domum contra intemperiem aeris. 11 Ibid., 105: Opus enim Creatoris perpetuum est, carens dissolutione: neque enim mundus neque spiritus dissolvuntur. Opus nature, etsi in se esse desinat, tamen in semine remanet. Opus vero artificis naturam imitantis nec in se remanet nec aliquid ex se gignit. Opus ergo Creatoris contrahit ex suo artifice perpetuo subsistere; opus nature per prolis subsequentiam; opus vero hominis omnino transire.
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(Gn 1,11), »und sie machten sich einen Schurz« (Gn 3,7).12 Im Gegensatz zu Wilhelm betont Hugo ausdrücklich die Bewunderung, die nicht nur das Werk der Natur, sondern auch und gerade das Werk des Menschen verdiene.13 Aber sind nicht auch menschliche Hervorbringungen wie z. B. Käse oder Pantoffeln letztlich Werke Gottes? Diese Frage veranlasst Gilbert von Poitiers zu einer Differenzierung: Gott sei sehr wohl der Urheber (auctor) aller Werke, doch müsse man hinsichtlich des Wirkens zwischen Urherberschaft (auctoritas) und Ausführung (ministerium) unterscheiden. So werde als Werk Gottes dasjenige bezeichnet, zu dessen Ausführung sich dieser keiner fremden Hilfe bedient habe (z. B. Himmel und Erde); dagegen bezeichne man als Werk der Natur, was Gott nach dem Prinzip ›Ähnliches aus Ähnlichem‹ (z. B. Korn aus Korn, Pferd aus Pferd) geschaffen habe, und als Werk des Menschen all dasjenige, zu dessen Ausführung sich Gott – ganz wie ein reicher Mann zum Bau seiner Häuser eines Zimmermanns – des Menschen bedient habe.14 Ähnliche Überlegungen 12 Hugo von Sankt Viktor, Didascalicon. De studio legendi. Studienbuch, hg., übers. u. eingel. Thilo Offergeld, lat. Text der Ausg. Buttimer 1939 (Fontes Christiani 27), Freiburg i. Br. u. a. 1997, 138–140 (1,9): Opus Dei est, quod non erat creare. Unde illud: ›In principio creavit Deus caelum et terram‹. Opus naturae, quod latuit ad actum procedere. Unde illud: ›Producat terra herbam virentem‹ etc. Opus artificis est disgregata coniungere vel coniuncta segregare. Unde illud: ›Consuerunt sibi perizomata.‹ 13 Ibid., 142: Multo enim nunc magis enitet ratio hominis haec eadem inveniendo quam habendo claruisset. […] Hac eadem pingendi, texendi, sculpendi, fundendi, infinita genera exorta sunt, ut iam cum natura ipsum miremur artificem. Vgl. zu der gesamten Passage Elspeth Whitney, Paradise Restored. The Mechanical Arts from Antiquity through the Thirteenth Century (Transactions of the American Philosophical Society 80,1), Philadelphia 1990, 90–93. 14 Note super Iohannem secundum magistrum Gilb[ertum], hg. E. Rathbone, in: Recherches de théologie ancienne et médiévale 18 (1951), 205–210, hier 208, Z. 7–19: De artificialibus queritur utrum a Deo facta sint, sicut caseus et sotulares et huiusmodi que dicuntur esse opera hominis, non Dei. Omnia quidem a Deo facta sunt tanquam ab auctore; quedam tamen eius opera dicuntur, sicut sunt illa que per se operatur, ita scilet quod nec nature similitudine nec alicuius ministerio, ut celum et terram. Alia dicuntur opera nature, que a Deo ita creantur quod ad alterius similitudinem, ut quod grana ex granis et equus ex equo et similia ex similibus; alia que hominis ministerio facit hominum dicuntur. Unus ergo omnium auctor Deus; diverse tamen operandi rationes, et auctoritas et ministerii quorum alterum homo dicitur auctor, alterum vero Deus. Similiter usualiter dici solet de aliquo divite quod multa fecit edificia, que eadem singulariter fecit et carpentarius, sed alter auctoritate sola et iussu, alter ministerio. Vgl. zu dieser Textpassage Chenu, Nature, 39 f. Zur (unsicheren) Zuschreibung des Textes an Gilbert von Poitiers vgl. H. C. van Elswijk, Gilbert Porreta. Sa vie, son oeuvre, sa pensée (Spicilegium sacrum Lovaniense 33), Leuven 1966, 52–54.
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veranlassen Robert von Melun dazu, den dem göttlichen Willen attribuierten Werken der Schöpfung (opus creationis) und der Formung bzw. Gliederung (opus formationis et dispositionis) noch ein Werk der Leitung (opus gubernationis) hinzuzufügen.15 Ein relativ komplexes System entwickelt Hugo von St. Viktor in seinem Prediger-Kommentar. Hier gesteht er dem Menschen die Möglichkeit zu, erstens sowohl mit Gott (gerechte Werke) als auch ohne Gott (ungerechte Werke) und zweitens sowohl mit der Natur als auch ohne die Natur zu wirken.16 Die letztgenannte Alternative veranlasst Hugo sogar dazu, außer dem Werk Gottes nicht nur zwei, sondern drei weitere Werke17 anzusetzen: erstens das Werk der Natur (z. B. »eine Zeit zum Gebären und eine Zeit zum Sterben« [Ec 3,2]), zweitens das Werk des Menschen mit der Natur (z. B. »eine Zeit zum Pflanzen und eine Zeit zum Abernten der Pflanzen« [ebd.]) und drittens das Werk des Menschen ohne die Natur (z. B. »eine Zeit zum Niederreißen und eine Zeit zum Bauen« [Ec 3,3]).18 15 Zusammen mit den Werken der Natur und des Menschen kommt Robert also auf fünf Werke, vgl. Oeuvres de Robert de Melun, hg. Raymond M. Martin, Bd. 3: Sententie, Teilbd. 1, Leuven 1947, 224 (Sententiae 1,1,21): Quinque enim sunt operationum genera, id est, opus creationis, opus formationis et dispositionis, opus nature quod distribuitur in opus propagationis et opus multiplicationis. Est etiam opus gubernationis. Ultimum vero genus est opus artificis naturam immitantis. Zum opus gubernationis, bei dem Robert vor allem die Leitung der Natur durch Gott im Blick hat, vgl. auch ibid., 228: Quartum vero genus operationis est opus gubernationis, quod tantum divine potentie est. 16 PL 175, 216D–217A (In Salomonis Ecclesiasten Homiliae XIX, Nr. 14): Cum Deo operatur quando opera justitiae operatur; quia rectae voluntati, et secundum justitiam ordinatae Deus cooperatur. Sine Deo operatur, quando opera iniquitatis operatur, quoniam peccata a Deo non sunt, nec per ejus cooperationem fieri habet, quod fit contra ejus voluntatem. Cum natura operatur artifex, quando seminibus rerum ac fetibus propagandis, quibus natura fundamentum subjicit, foris industriam et studium apponit. Sine natura operatur, quando praeterea, quae ad propagationem seminum spectant, et nascientium atque eorum quae vegetationis sensusque vim habent, culturam in subjecta materia studium explicat, ut aliquid quodcunque ad effectum promoveat, in quo natura patitur tantum, non operatur, quia materiam operanti praebet, non effectum operandi exercet. 17 Er kommt damit also auf vier Werke, vgl. ibid., 215C: Sane quatuor sunt opera, quibus omnia temporalia et omnia tempore transeuntia explicantur. Primum est opus Dei, secundum est opus naturae; tertium est opus artificis cum natura; quartum est opus solius artificis sine natura. Ausdrücklich beibehalten wird aber die Dreizahl der werkschaffenden Instanzen, vgl. ibid., 216A: Tres itaque opifices sunt in hoc mundo, Deus, natura et artifex imitans naturam. 18 Ibid., 212D (Nr. 13): Tempus nascendi et tempus moriendi. […]; 213D: Tempus plantandi, et tempus evellendi quod plantatum est. Hoc ergo secundum de opere est
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Auch in seinem Wirken ohne die Natur – ja wohl gerade in ihm – erweist sich der Mensch nun freilich als getreuer Nachahmer der Natur. In seinen Glossen zum Timaios bringt Wilhelm von Conches das Beispiel der Kleidung, die der Mensch gemäß der natürlichen Anordnung der Glieder verfertige, sowie des Hauses, das er aufgrund entsprechender Naturbeobachtungen gewölbt baue, damit das Wasser abfließen könne.19 In seinen Glossen zu Boethius’ Consolatio Philosophiae nennt er außer Kleidern auch Bilder, was zeigt, dass er nicht nur an technische Nachahmung der Natur, sondern ebenso an deren Abbildung denkt.20 Letztere spielt auch bei Hugo von St. Viktor eine wichtige Rolle, der in seinem Didascalicon als erstes Beispiel für die Nachahmung der Natur durch den Menschen Statuen anführt, um die Passage später durch Nennung der Tätigkeiten des Malens, Webens, Bildhauerns und Gießens abzuschließen.21 Obwohl sich daraus noch keine mittelalterliche Theorie der schönen Künste ableiten lässt,22 macht gerade die letztgenannte Passage deutlich, artificis, cum natura. Nam primum opus solius naturae erat […]. 217BC (Nr. 14): Postremo opus hominis sine naturae opera adjungitur, cum subinfertur: Tempus occidendi et tempus sanandi; tempus destruendi et tempus aedificandi. Vgl. zu der gesamten Passage Lenka Karfíková, »De esse ad pulchrum esse«. Schönheit in der Theologie Hugos von St. Viktor (Bibliotheca Victorina 8), Turnhout 1998, 407–410. 19 Guillaume de Conches, Glosae, hg. Jeauneau, 104 f. (In Timaeum 28 A, § 37): Sed in omnibus que agit naturam imitatur. Cum enim facit vestem, iuxta naturalem membrorum dispositionem facit eam. In compositione vero domus, considerat quod in planis remanet aqua putrefaciens ligna, ex convallibus vero descendit et mundificat: unde concavam facit domum. 20 J. M. Parent (Hg.), La doctrine de la création dans l’école de Chartres (Publications de l’institut d’études médiévales d’Ottawa 8), Paris 1938, 122–136, hier 128,12– 15: Opus artificis est imitantis naturam vel imaginibus vel vestimentis et similibus in quibus homo imitatur naturam. Juxta enim quod natura format hominem, et homo hominis imaginem vel vestimentum, vel quod est aptum rusticis. Vgl. zu dieser Passage Kurt Flasch, »Ars imitatur naturam. Platonischer Naturbegriff und mittelalterliche Philosophie der Kunst«, in: ders. (Hg.), Parusia. Studien zur Philosophie Platons und zur Problemgeschichte des Platonismus. FS Johannes Hirschberger, Frankfurt a. M. 1965, 265–306, hier S. 276 f. – Außer in den Glossen zum Timaios und zur Consolatio bringt Wilhelm von Conches die Lehre von den drei werkschaffenden Instanzen noch in seinem Dragmaticon I,7 (Gvillelmi de Conchis Dragmaticon Philosophiae, hg I. Ronca, in: Gvillelmi de Conchis opera omnia, hg. E. Jeauneau [Corpus Christianorvm, Continuatio Mediaeualis 152], Bd. 1, 1–273, hier 30 f.). 21 Hugo von St. Viktor, Didascalicon, hg. Offergeld, 140–142 (1,9): Qui statuam fudit, hominem intuitus est. […] Hac eadem pingendi, texendi, sculpendi, fundendi, infinita genera exorta sunt, ut iam cum natura ipsum miremur artificem. Vgl. dazu Christiane Kruse, » ›Wozu Menschen oder Blumen malen?‹. Medienanthropologische Begründungen der Malerei zwischen Hochmittelalter und Frührenaissance«, in: Gottfried Boehm (Hg.), Homo Pictor (Colloquium Rauricum 7), München / Leipzig 2001, 109–142, hier 116–122.
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wie sehr sich die von Anfang2 an mit dem imitatio-Gedanken verbundene Lehre von den drei werkschaffenden Instanzen gerade auch zur Einordnung derjenigen menschlichen Tätigkeiten eignet, die man heute im engeren Sinne als künstlerisch einstufen würde. Dass hiervon auch sprachliche Produkte nicht ausgenommen sind, klingt an, wenn der (Grammatikvergleichen allerdings auch sonst nicht abgeneigte)23 doctor universalis Alanus ab Insulis die Macht Gottes, der Natur und des Menschen mit dem Superlativ, dem Komparativ und dem Positiv vergleicht.24 Klar hat das poetologische Potential der Lehre von den drei werkschaffenden Instanzen jedenfalls auch Eberhard der Deutsche erkannt, dessen Laborintus ich mich im Folgenden zuwende. II. Der kurze Prolog und der sich anschließende Beginn der Rahmenhandlung des Laborintus sind durch Äquivalenzbeziehungen deutlich aufeinander bezogen.25 Ich zitiere die ersten 22 Verse nach der Ausgabe Edmond Farals26 und füge eine deutsche Übersetzung27 bei:
ist der Hauptpunkt bei Speer: »Kunst und Schönheit«. Jan Ziolkowski, Alan of Lille’s Grammar of Sex. The Meaning of Grammar to a Twelfth-Century Intellectual, Cambridge, Mass. 1985. 24 Alanus ab Insulis, De planctu Naturae, in: Literary Works. Alan of Lille, hg. u. übers. Winthrop Wetherbee (Dumbarton Oaks Medieval Library 22), Cambridge, Mass. / London 2013, 21–217, hier 80–83: Et sic in quodam comparationis triclinio, tres potestatis gradus possumus invenire, ut Dei potentia superlativa, Naturae comparativa, hominis positiva dicatur. 25 In der von Wolf, »Formen literarischer Selbstreferenz«, 62–65, vorgeschlagenen Terminologie könnte man hier von einer mise en cadre sprechen: Elemente der übergeordneten Ebene (Prolog) ›spiegeln‹ Elemente der untergeordneten Ebene (Beginn der Rahmenhandlung). 26 Edmond Faral, Les arts poétiques du XIIe et du XIIIe siècle. Recherches et documents sur la technique littéraire du Moyen Âge, Paris 1962 (erstmals erschienen 1924), 336–377. Eine kritische Ausgabe des in mind. 43 Hss. und drei Frühdrucken überlieferten Textes ist nach wie vor ein Desiderat. 27 Eine Übersetzung des gesamten Textes bereite ich vor. Nach wie vor unver öffentlicht und entsprechend schwer zugänglich ist Evelyn Carlson, The Laborintus of Eberhard. Rendered into English with Introduction and Notes, Diss. masch. Ithaca / New York 1930 (nicht mit übersetzt sind hier die Beispielverse des Metrikteils und die Beispielstrophen des Anhangs zur rhythmischen Dichtung). Eine knapp 300 Verse (darunter auch die hier behandelte Passage) umfassende Teilübersetzung ins Spanische bietet Francisco Pejenaute Rubio, »Las tribulaciones de un maestro de escuela medieval vistas desde el Laborintus de Eberardo el Almán«, in: Archivum, 22 Das
23 Vgl.
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Pyerius me traxit amor jussitque Camena Scribere; materiam me dedit illa tibi.28 Viribus ingenii discussis, utpote parvis, Mens opus injunctum depositura fuit. 5 Desidiam mentis Elegia vidit et inquit: »Incipe! Perficies auxiliante Deo. Quid sit onus cathedrae, qua teque tuosque scholares Arte regas, perares impartitate pedum.« Divinae me movit opis promissio: scribo, 10 Mendis lectore compatiente meis. Exhorret Natura parens dum matris in alvo Elimat miseri parvula membra viri. Si sub membrana praesentit membra magistri, Interrumpit opus officiosa suum; 15 Inspirat, dicit: »Operis lex pauset in isto! Exopto mea sit desidiosa manus. Si me non alia regeret lex quam mea, vellem Inceptum limae deseruisse meae. Sed Natura jubet naturans ne manus illic 20 Cesset ubi fuerit materiale bonum; Et quia lege regor regis, quia legor ab Alto, Consummabit opus linea nostra suum. Pierische Liebe zog mich und Camena befahl mir, zu schreiben, als Stoff gab sie dir mich. Als die Kräfte der Begabung, gering wie sie sind, zerschlagen waren, wollte der Geist das aufgetragene Werk niederlegen. (5) Die Untätigkeit des Geistes sah die Elegie und sagte: »Fang an! Du wirst es mit Gottes Hilfe vollenden. Was die Last des Lehramts ist, durch welche Kunst du dich und deine Schüler beherrschst, wirst du mit der Ungleichheit der Füße durchpflügen.« Das Versprechen göttlichen Beistands hat mich motiviert: Ich schreibe, (10) während der Leser Mitleid mit meinen Fehlern haben möge. – Die gebärende Natur erschaudert, wenn sie im Mutterleib die kleinen Glieder eines unglücklichen ManRevista de la Facultad de Filología, Universidad de Oviedo 54 / 55 (2004 / 05), 105– 138. 28 Interpunktion gegenüber Faral geändert. Das Distichon birgt gleich zwei syntaktische Schwierigkeiten. 1) Der Interpunktion Farals folgend, verstehen sowohl Carlson, The Laborintus, als auch Pejenaute Rubio, »Las tribulaciones«, Camena als Vokativ und beziehen entsprechend tibi auf Camena. Dann aber könnte sich illa nur noch auf den Stoff (materia) beziehen, was zumindest merkwürdig wäre, denn inwiefern sollte der Stoff der Gebende sein? Es bietet sich deshalb an, Camena als Subjekt aufzufassen, tibi auf den (dann auch v. 10 zumindest indirekt angesprochenen) Leser und illa auf Camena zu beziehen. 2) Ebenfalls der Interpunktion Farals folgend, stellen beide Übersetzungen materiam als Akkusativobjekt zu scribere. Einleuchtender scheint es mir, von intransitivem scribere auszugehen (vgl. auch v. 9) und materiam als Prädikativum zu me zu stellen. Dass es tatsächlich der Dichter selbst ist, der hier als Stoff fungieren soll, verdeutlichen wenig später die Verse 7 f.
Kosmopoetologie57 nes ausfeilt. Wenn sie unter der Haut die Glieder eines Lehrers erahnt, unterbricht die Dienstbeflissene ihr Werk. (15) Sie seufzt und sagt: »Möge das Gesetz des Werks in ihm zum Stillstand kommen! Ich wünschte, meine Hand wäre müßig. Wenn mich kein anderes Gesetz beherrschte als das meine, wollte ich das Vorhaben meiner Feile aufgegeben haben. Aber die schaffende Natur befiehlt, dass die Hand dort nicht (20) säumt, wo stoffliches Gut existiert hat. Und weil ich vom Gesetz des Herrschers beherrscht, weil ich vom Hohen eingesetzt werde, wird unsere Richtschnur sein Werk vollenden.
Wie im vierten Vers des Prologs der Geist das dem Dichter aufgetragene Werk niederlegen will (Mens opus injunctum depositura fuit), so unterbricht im vierten Vers der eigentlichen Erzählung die gebärende Natur ihr Werk (Interrumpit opus officiosa suum), um vier Distichen später in einem ganz parallel konstruierten Vers zuzubilligen, dass ihre Richtschnur Gottes Werk vollenden werde (Consummabit opus linea nostra suum). Sehr präzise ist mit dem dreimaligen Bezug auf ein opus – dasjenige des Dichters, dasjenige der gebärenden Natur und dasjenige Gottes –, ferner auch mit dem Verweis auf eine operis lex (v. 15), der die gebärende Natur ganz offensichtlich unterworfen ist, die Lehre von den drei Werken aufgerufen. Ins Auge stechen insbesondere die Parallelen zwischen dem Dichter und der gebärenden Natur. Beide arbeiten mit einem schon vorgegebenen Stoff (v. 2: materiam; v. 20: materiale bonum), der überdies in beiden Fällen gewissermaßen »derselbe« ist: Soll doch der Dichter über eben jenen (mit ihm selbst zu identifizierenden) Lehrer schreiben, dessen Glieder die gebärende Natur in der dann einsetzenden Erzählung ausfeilt. Beide, der Dichter wie auch die gebärende Natur, wollen ihr Werk zunächst aufgeben, werden dann aber von einer höheren Instanz – Elegia bzw. der schaffenden Natur – zum Weitermachen angehalten. In beiden Fällen schließlich steht im Fluchtpunkt Gott, dessen Hilfe zur Vollendung des Werks in Aussicht gestellt wird bzw. dessen Werk es allererst zu vollenden gilt. In den beschriebenen Parallelen lässt sich unschwer der schon bei Calcidius formulierte imitatio-Gedanke wiedererkennen: Der Dichter ahmt erstens erzählend, d. h. sprachlich abbildend das Werk der gebärenden Natur nach; zweitens findet das Verhälnis des Dichters zu der ihm übergeordneten Elegia ihr Vorbild im Verhältnis der gebärenden zur schaffenden Natur; wie drittens die gebärende Natur mit ihrem Werk das Werk Gottes vollendet, so darf der Dichter bei der Vollendung seines Werks auf göttliche Hilfe rechnen. Erklärungsbedürftig ist insbesondere der zweite Punkt: Was hat es mit der Unterscheidung zwischen gebärender und schaffender Natur auf sich, der offensichtlich die Unterscheidung zwischen Dichter und Elegia korrespondiert?
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Obwohl die einschlägigen Texte des 12. Jahrhunderts »ein hochdifferenziertes literarisches Repertoire der Naturpersonifikationen«29 zur Verfügung stellen, lässt sich für Eberhards Doppelpersonifikation der Natura kein präzises Vorbild ausfindig machen. Am ehesten wird man sich vielleicht an die zu Beginn des 13. Jahrhunderts aufkommende Unterscheidung zwischen natura naturans und natura naturata erinnert fühlen.30 Doch während dieser – wie übrigens bereits der vierfachen Einteilung der Natur durch Johannes Scotus Eriugena – eine aktiv / passiv-Unterscheidung (schaffend vs. geschaffen) zugrundeliegt, scheint Eberhard eher an verschiedene Grade, Qualitäten oder Aspekte von Aktivität zu denken. Reagiert er damit auf das seltsame Oszillieren zwischen transzendentem Prinzip und immanenter Wirkursache, das Frank Bezner als Charakteristikum der von Bernardus Silvestris in seiner Cosmographia eingesetzten Personifikationen (Noys, Silva, Natura etc.) herausgearbeitet hat?31 Ein genauerer Blick auf Eberhards Text legt eine andere Deutung nahe. Scheint es hier doch weniger um das Verhältnis zwischen Immanenz und Transzendenz als vielmehr um dasjenige zwischen Besonderem und Allgemeinem, zwischen Einzelfall und übergeordnetem System zu gehen. So macht sich die Natura naturans, indem sie die Natura parens zum Weitermachen auffordert, zur Anwältin eben jener operis lex, die die Natura parens im Fall des Lehrers gerne außer Kraft gesetzt sähe. Nun ist operis lex ein deutlich poetologisch aufgeladener Terminus. In einer zentralen, bereits von Galfred von Vinsauf zitierten32 Passage seiner Ars poetica verwendet ihn Horaz im Sinne von ›poetisches Gesetz‹,33 und speziell im Kontext der Satire kann der Terminus dann auch das Gattungsgesetz be29 Christoph Huber, »Die personifizierte Natur. Gestalt und Bedeutung im Umkreis des Alanus ab Insulis und seiner Rezeption«, in: Wolfgang Harms u. Klaus Speckenbach (Hgg.), Bildhafte Rede in Mittelalter und früher Neuzeit. Probleme ihrer Legitimation und ihrer Funktion, Tübingen 1992, 151–172, hier 155. Grundlegend – und unter Berücksichtigung auch der spätantiken Tradition – Ernst Robert Curtius, »Zur Literarästhetik des Mittelalters II«, ZfrPh 58 (1938), 129–232, hier 180–197 (Natura mater generationis). 30 Vgl. dazu John Deely, Four ages of understanding. The first postmodern survey of philosophy from ancient times to the turn of the twenty-first century, Toronto 2001, 137–140. 31 Frank Bezner, Vela veritatis. Hermeneutik, Wissen und Sprache in der intellectual history des 12. Jahrhunderts (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 85), Leiden / Boston 2005, 415–470. 32 Documentum de modo et arte dictandi et versificandi, in: Faral, Les arts poétiques, 263–320, hier 310. Vgl. Rita Copeland, Rhetoric, Hermeneutics, and Translation in the Middle Ages. Academic Traditions and Vernacular Texts (Cambridge studies in medieval literature 11), Cambridge 1991, 169 f.
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zeichnen, dem sich der Einzeltext3 zu fügen hat oder an dem er sich zumindest messen lassen muss.34 Nun hatten wir als Spiegelfigur der Natura naturans bereits die Dame Elegia identifiziert, die in der Tat die Gattung bzw. das Gattungsgesetz verkörpert – besonders deutlich, wenn sie den Dichter dazu auffordert, den vorgegebenen Stoff in der Ungleichheit der Füße, d. h. in elegischen Distichen zu durchpflügen. An dieser Stelle gilt es noch zwei weitere Instanzen in den Blick zu nehmen, die als Spiegelfiguren der Natura naturans fungieren, nämlich Camena und Poesis. Camena gibt den Stoff vor und erteilt den Schreibbefehl, rückt also nahe an die personifizierte Elegia heran. Das etwas redundant erscheinende Gespann Camena-Elegia dürfte sich einem Text verdanken, dem der Laborintus konzeptionell auch sonst sehr stark verpflichtet ist, nämlich dem allegorisch eingekleideten Lehrgedicht De nuptiis Philologiae et Mercurii des Martianus Capella, in welchem Camena und Satura (d. h. die personifizierte Satire) als wechselnde Gesprächspartnerinnen des Dichters so austauschbar erscheinen, dass sie bereits im 9. Jahrhundert miteinander identifiziert worden sind.35 Und wie Martianus in seinem Werk die sieben freien Künste auftreten lässt, die jeweils ihre Lehre vortragen, so legt Eberhard seine eigentliche Dichtungslehre der personifizierten Poesis in den Mund. Poesis fungiert damit gewissermaßen als Vermittlerin der operis lex im Sinne des poetischen Gesetzes, und tatsächlich ist mit Bezug auf die Dichtkunst (und speziell auf die Metrik) dann auch immer wieder von einer solchen lex die Rede: Quam plures alii metri dulcedine quadam / Ducti se legi supposuere meae! [›Wie viele weitere haben sich, durch eine gewisse Süße des Versmaßes angezogen, meinem Gesetz unterworfen!‹], bemerkt z. B. Poesis im Anschluss an einen Katalog von vorbildlichen Dichtern, um hinzuzufügen, auch die Schüler müssten über die Kenntnis ihres Gesetzes verfügen (Debent notitiam legis habere meae).36 Der (angehende) Poet verhält sich, mit 33 Horaz, Ars poetica, v. 135. Vgl. dazu den Kommentar bei C. O. Brink, Horace on Poetry. The ›Ars poetica‹, Cambridge 1971, 211 f. 34 Vgl. Richard Lafleur, »Horace and Onomasti Komodein. The Law of Satire«, in: Hildegard Temporini u. Wolfgang Haase (Hgg.), Aufstieg und Niedergang der römischen Welt. Geschichte und Kultur Roms im Spiegel der neueren Forschung, II: Principat, Bd. 31: Sprache und Literatur, hg. W. H., 3. Teilbd., Berlin / New York 1981, 1790–1826, hier 1813. 35 So durch Remigius von Auxerre, vgl. Remigii Autissiodorensis Commentum in Martianum Capellam, hg. Cora E. Lutz, Bd. 2: Libri III–IX, Leiden 1965, 1; vgl. auch Siegmar Döpp, »Narrative Metalepsen und andere Illusionsdurchbrechungen. Das spätantike Beispiel Martianus Capella«, Millennium-Jahrbuch 6 (2009), 203– 221, hier 213.
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anderen Worten, zur Poesis36 wie die Natura parens zur Natura naturans, beide operieren nach den Regeln eines übergeordneten Systems. III. Nachdem er in den ersten 22 Versen seines Laborintus die Lehre von den drei Werken exponiert hat, steuert Eberhard in den folgenden rund 60 Versen auf sein eigentliches Thema zu, indem er die Zeichenhaftigkeit und Lesbarkeit der betreffenden Werke hervorhebt. Wie schon Faral notiert hat, greift Eberhard hierbei zunächst auf eine Passage aus der Cosmographia des Bernardus Silvestris zurück, wobei die komische Kontrastwirkung – hier die Erschaffung des Kosmos und des Menschen, dort die Geburt eines Grammatiklehrers – durchaus beabsichtigt sein dürfte. Bei Bernardus heißt es: scribit enim caelum stellis, totumque figurat quod de fatali lege venire potest. 35 Praesignat qualique modo qualique tenore Omnia sidereus saecula motus agat. […] In In 45 In In
stellis Codri paupertas, copia Croesi, Incestus Paridis Hippolytique pudor. stellis Priami species, audacia Turni, Sensus Ulixeus, Herculeusque vigor. stellis pugil est Pollux, et navita Tiphys, Et Cicero rhetor, et geometra Thales. stellis lepidum dictat Maro, Milo figurat, Fulgurat in Latia nobilitate Nero;
(Megacosmus 3)37
Denn sie [Noys] beschreibt den Himmel mit Sternen und bildet alles vor, was durch das schicksalhafte Gesetz kommen kann. Sie bezeichnet im Voraus, auf welche Weise und in welchem Fortgang die Bewegung der Gestirne alles Irdische antreibt. […] In den Sternen die Armut des Cordus, der Reichtum des Krösus, die Unzucht des Paris und die Schamhaftigkeit des Hippolytus. In den Sternen die Schönheit des Priamus, der Wagemut des Turnus, der Verstand des Odysseus und die Stärke des Herkules. In den Sternen ist der Faustkämpfer Pollux und der Schiffer Tiphys und der Redner Cicero und der Geometer Thales. In den Sternen dichtet Vergil Anmutiges, formt Myron, blitzt Nero in latinischer Vornehmheit. 36 V. 685 f. u. 690. Vgl. auch v. 255 (lex metri), v. 259 (lex metrorum), v. 775 (lex pentametri) u. den ersten Vers nach Str. 13 des Anhangs zur rhythmischen Dichtung. 37 Zitiert nach: Poetic Works. Bernardus Silvestris, hg. u. übers. Winthrop Wetherbee (Dumbarton Oaks Medieval Library 38), Cambridge, Mass. 2015, 32–34, deutsche Übersetzung von mir.
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Bei Eberhard wird daraus: 25 Nasceris ergo, miser; misero tibi signa figurant Sidereusque vigor officiale malum. Scribitur in stellis paupertas, copia rerum, Vitae commoditas, acre laboris onus; Scribitur in stellis famae discrimen, honoris 30 Culmen, livoris flamma, favoris amor; Scribitur in stellis virtutis laus, vitiorum Dedecus, aetatis longa brevisque mora. Du wirst also geboren, Unglücklicher. Dir Unglücklichem bilden die Zeichen und die Lebenskraft der Gestirne dienstbedingtes Übel. In den Sternen wird geschrieben die Armut, der Reichtum an Dingen, die Bequemlichkeit des Lebens, die harte Last der Arbeit. In den Sternen wird geschrieben die Gefahr der Verleumdung, der Gipfel des Ansehens, die Flamme der Missgunst, die Liebe der Gunst. In den Sternen wird geschrieben das Lob der Tugend, die Schande der Laster, die lange oder kurze Zeit des Lebens.
Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass Eberhard hier auf Bernardus anspielt. Das einleitende scribit und das viermalige anaphorische In stellis der Cosmographia werden zum dreimaligen anaphorischen Scribitur in stellis zusammengezogen, wodurch der Schrift ein noch größeres Gewicht zukommt. Hier wie dort wird der Zeichencharakter der Sterne außerdem durch das Substantiv signum bzw. das Verb praesignare und das – auch rhetorisch einschlägige – Verb figurare zum Ausdruck gebracht. Am deutlichsten tritt Eberhards Bezug auf Bernardus im Vergleich von Laborintus v. 27 mit Megacosmus 3, v. 41 zutage. Hier wie auch im Folgenden verzichtet Eberhard allerdings auf die Nennung konkreter historischer Figuren und zeigt sich stattdessen bestrebt, die irdischen Güter, wie sie etwa schon bei Boethius begegnen, samt ihren Gegenteilen durchzudeklinieren. Schon an dieser Stelle gilt es festzuhalten, dass als Urheberin der Sternenschrift bei Bernardus Silvestris niemand anders als Noys, d. h. die göttliche Vorsehung, fungiert. Und niemand anders als Natura ist es, an die sich Noys in der ersten Partie des Microcosmus mit den Worten wendet: Caelum velim videas multiformi imaginum varietate descriptum, quod quasi librum, porrectis in planum paginis, eruditioribus oculis explicui, secretis futura litteris continentem.38 [›Ich möchte, dass du den mit einer vielgestaltigen Mannigfaltigkeit an Bildern beschriebenen Himmel betrachtest, den ich den gebildeteren Augen ausgefaltet habe wie ein Buch mit ins Deutliche ausgebreiteten Seiten, das in geheimen Buchstaben das Zukünf38 Microcosmus
1,3 (ibid., 78).
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tige enthält.‹] Natura ist, mit anderen Worten, die erste Leserin dieser ebenso offenen wie geheimen Sternenschrift, und sie ist es dann auch, der Noys, als es an die Erschaffung des Menschen geht, die Tafel des Schicksals (tabula fati) aushändigt, enthaltend alles Zukünftige, darunter vel sudatum militiae vel litteris vigilatum, ceteraque operum functione vita fataliter arcitata39 [›für den Krieg Geschwitztes, für die Schrift Durchwachtes sowie das durch Ausübung anderer Beschäftigungen schicksalsgemäß dahingebrachte Leben‹]. Zu diesen anderen Beschäftigungen gehört zweifellos auch das Lehrerdasein, und ich komme damit auf den Laborintus zurück. Auch hier betätigt sich Natura als Leserin der (wie man annehmen darf: göttlichen) Sternenschrift, und das mit niederschmetterndem Ergebnis: Omnem perlegi seriem caeli, nec in illa Inveni sidus quod tibi mite meat. 35 Ecce Dyonaeum tibi flamma non vomit astrum, Nec tibi scintillat Mercuriale decus; Saturni sed curva tuos falx fascinat annos, Et tibi fax Martis insidiosa rubet. Est caeli virtus tibi tota propheta laboris, 40 In quo ditari non tua cura potest. Die gesamte Reihe des Himmels habe ich durchgelesen und in ihr keinen Stern gefunden, der sanft für dich wandelt. (35) Sieh, der dionische Stern speit dir keine Flammen, und es funkelt dir kein merkurischer Glanz. Die gekrümmte Sichel des Saturn indessen verhext deine Jahre, und es rötet sich dir die gefährliche Fackel des Mars. Die Macht des Himmels ist dir ein einziger Prophet der Arbeit, (40) in der deine Sorge zu keinerlei Reichtum gelangen kann.
Nach diesem ernüchternden Blick auf die Planeten (für deren Eigenschaften Eberhard wiederum auf die Cosmographia des Bernardus Silvestris zurückgreifen konnte)40 überträgt Natura das in der Sternenschrift Gelesene in Traumbilder, als deren Leserin die Mutter des noch ungeborenen Lehrers fungiert (und zwar, der mittelalterlichen Ventrikellehre entsprechend, unter Verwendung der vorderen ihrer drei Hirnkammern).41 Inhalt des Traums ist ein weiterer Vorgang des Lesens bzw. Nichtlesens, 39 Microcosmus
11,9 (ibid., 148). 5,5–17 (ibid., 100–110). 41 Vgl. Hans Jürgen Scheuer, »Die Wahrnehmung innerer Bilder im ›Carmen Buranum‹ 62. Überlegungen zur Vermittlung zwischen mediävistischer Medientheorie und mittelalterlicher Poetik«, Das Mittelalter 8 (2003), H. 2, 121–136, hier 129 f. – Die vordere Hirnkammer beherbergt gemäß der besagten Lehre die imaginatio, die mittlere dagegen die ratio und die hintere die memoria, vgl. auch Laborintus, v. 119– 124. 40 Microcosmus
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der mit der Lektüre der Traumbilder bis hin zur grammatischen Ununterscheidbarkeit42 verschwimmt: 41 Dicit et impingit matri simulacra laborum, Quos cella capitis anteriore legit. Nocte libros tractat: non quinque volumina Legis, Pneumate nec quae sunt emodulanda sacro. […] 65 Non matri praesens est comographia Platonis Nomine discipuli praetitulata sui. Primi versiculi sed cernit grammata, primam Quae sibi turba viam discipularis habet. Donatos vertit, lacrimarum fonte fluentes, 70 Qui dantur pueris post elementa novis. Ille tenet parvos lacerata fronte Cathones: Illos discipuli per metra bina legunt. (41) Sagt es und drängt der Mutter die Traumbilder der Strapazen auf, die diese mit der vorderen Kammer ihres Kopfes liest. Nachts studiert er / sie Bücher: nicht die fünf Bücher des Gesetzes und nicht diejenigen, die des Heiligen Geistes wegen zu besingen sind. […] (65) Nicht liegt der Mutter die Kosmographie Platons vor, die mit dem Namen seines Schülers betitelt ist. Wohl aber nimmt er / sie die Buchstaben des ersten Versleins wahr, das sich die Schülerschar als ihren ersten Weg vornimmt. Donate wendet er / sie, die vom Quell der Tränen zerfließen, (70) die den jungen Knaben im Anschluss an die Buchstaben gegeben werden. In der Hand hält er kleine Catos mit zerfetzter Vorderseite: Diese lesen die Schüler in Verspaaren.
Im Anschluss an den Pentateuch und das Neue Testament (v. 43 f.) werden einschlägige Werke des Quadriviums und des Triviums (abzüglich Grammatik), aber auch der Medizin, der Rechtswissenschaft und der Kosmologie bis hin zu Platons Timaios (v. 65 f.) genannt, die der noch Ungeborene alle nicht lesen wird. Übrigens ist es nicht ohne Witz, dass sich unter diesen Büchern auch der Kommentar des Macrobius In Somnium Scipionis findet (v. 61 f.), der nicht nur eine elaborierte Traumtheorie lie42 Das lesende bzw. mit Büchern hantierende Subjekt der Hauptsätze v. 43, 67 u. 69 bleibt vom Geschlecht her unbestimmt. Auch die auf den (träumenden oder geträumten?) Leser bzw. Nichtleser referierenden Dativpronomina der ausgelassenen Passage (v. 45: Nulla videtur ei […] pagina, ähnlich v. 49, 51, 58 f.) lassen keine Aussage über das Geschlecht zu. Intuitiv würde man in all diesen Fällen wohl zunächst den Sohn einsetzen, auf den sich das Pronomen Ille in v. 71 dann ja auch eindeutig bezieht. Irritierend bleibt aber der Dativ matri in v. 65: Wenn es ausdrücklich die Mutter ist, der der Timaios nicht vorliegt, müsste man dann nicht auch die erwähnten Dativpronomina auf die Mutter beziehen und diese auch als Subjekt der erwähnten Hauptsätze v. 43, 67 u. 69 annehmen? Für eine solche Lösung entscheidet sich in der Tat Carlson, The Laborintus, 7 f.
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fert, sondern sich auch mit einem Werk befasst, das dem Träumenden gerade jene (vor allem kosmologischen) Kenntnisse zuteil werden lässt, die dem Grammatiklehrer im Traum der Mutter vorenthalten bleiben. Dessen Lektüre bzw. die Lektüre der von ihm betreuten Schüler beschränkt sich zunächst auf den üblichen Anfängerstoff:43 Verse zum Erlernen des ABC, die Grammatik des Donat (Ars minor) und die Disticha Catonis. Bei letzteren wird dann der bereits erwähnte Katalog der vorbildlichen Dichter ansetzen, der – ganz sicher kein Zufall – mit der Cosmographia des Bernardus Silvestris endet. Das Schicksal des Lehrers, das Natura in der göttlichen Sternenschrift und das die Mutter in den natürlichen Traumbildern liest, wird – so viel steht jetzt schon fest – entscheidend durch gelesene und nicht gelesene Bücher geprägt sein. Und nicht nur den Sternen und den Träumen, auch dem Neugeborenen selbst ist sein künftiges Schicksal bereits eingeschrieben, wie Eberhard betont: Nascitur hic plorans. Licet hoc generale sit omen, Ploratus tamen hic particulare tenet: 75 Iste genas lacrimis oneratas saepe videbit, Nec fiet lacrima prosiliente pius. Masculus ›a‹ profert omnis dum prodit ad auras: Ex radice trahit primi parentis Adae. Hic cum vagitu speciali ructuat ›alpha!‹, 80 Quod rudibus pueris syllabicando legit. Weinend kommt er zur Welt. Mag dies auch ein allgemeines Vorzeichen sein, so enthält dieses Weinen doch ein besonderes: (75) Er wird oftmals mit Tränen überschüttete Wangen sehen und durch die hervorstürzende Träne nicht milde gestimmt werden. Jedes männliche Kind sagt »a«, wenn es das Licht der Welt erblickt, aus der Wurzel des ersten Vaters Adam zieht es dies. Er dagegen, mit einem speziellen Quäken, rülpst: »alpha«, (80) was er den ungebildeten Knaben syllabisierend vorliest.
Sowohl das Weinen als auch der ungewöhnliche Geburtsschrei werden auf den künftigen Lehrerberuf hin lesbar, der seinerseits von Schülertränen, aber auch vom Lesen geprägt sein wird. Auf witzige Art und Weise tritt damit noch einmal die grundsätzliche Zeichenhaftigkeit der Welt zutage, die Eberhard zuvor schon systematisch an den Werken Gottes (Sternenschrift), der Natur (Traumbilder) und des Menschen (Bücher) durchgespielt und so dazu genutzt hat, die Lehre von den drei Werken den spezifischeren Zwecken seiner Dichtungslehre anzupassen. 43 Vgl. Marjorie Curry Woods u. Rita Copeland, »Classroom and Confession«, in: David Wallace (Hg.), The Cambridge History of Medieval English Literature, Cambridge 1999, 376–406, hier 380.
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IV. Qualiter autem opus artificis imitetur naturam, longum est et onorosum prosequi per singula.44 [›Auf welche Weise aber das Werk des Artifex die Natur nachahmt, dies im Einzelnen auszuführen, ist langwierig und mühe voll.‹] Für die betrachteten Passagen des Laborintus sei hier dennoch eine Zusammenfassung versucht. Eine Analyse der Äquivalenzbeziehungen zwischen dem Prolog und dem Beginn der Rahmenhandlung hat gezeigt, dass Nachahmung hier nicht nur in einem mimetischen, sondern vor allem auch in einem operationalen Sinn verstanden wird: Wie die Natura parens muss der Dichter – und zwar im Zweifelsfall gegen seinen eigenen Willen – einer die operis lex vertretenden höheren Instanz gehorchen, über der letztlich Gott aufscheint. Die folgende Passage bis hin zur Geburt des Lehrers führt dem Leser einerseits vor Augen, wie die Zeichenhaftigkeit der Dichtung ihr Vorbild in der Zeichenhaftigkeit des göttlichen, aber auch des natürlichen Werks – bis hin zur Lesbarkeit des Geburtsschreis auf den künftigen Beruf hin – hat. Andererseits erinnert Natura parens, die als Leserin der göttlichen Sternenschrift wie auch als Urheberin der von der Mutter gelesenen Traumbilder fungiert, an den mittelalterlichen Wiedererzähler,45 der, seinerseits an autoritative Prätexte gebunden, gleichwohl über den Vorgang der Retextualisierung46 selbständig auf die imaginatio seiner Rezipientinnen und Rezipienten einwirkt.47 Wenigstens in systematischer Hinsicht darf der Laborintus mit alldem als ein wichtiges Bindeglied zwischen gelehrter Theoriebildung und dichterischer Selbstreflexion im 12. / 13. Jahrhundert gelten. Den Einfluss der ersteren auf die letztere im Einzelnen aufzuzeigen, wäre Gegenstand eines eigenen Beitrags. Dieser hätte etwa den ominösen von St. Viktor, Didascalicon, hg. Offergeld, 140, 1,9. Franz Josef Worstbrock, »Wiedererzählen und Übersetzen«, in: Walter Haug (Hg.), Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze (Fortuna vitrea 16), Tübingen 1999, 128–142. 46 Joachim Bumke u. Ursula Peters (Hgg.), Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur (ZfdPh 124, Sonderheft), Berlin 2005. Daraus besonders interessant im vorliegenden Argumentationszusammenhang Ludger Lieb, »Die Potenz des Stoffes. Eine kleine Metaphysik des ›Wiedererzählens‹ «, ibid., 356–379. 47 Zu Versuchen, die mittelalterliche Literatur vor dem Hintergrund zeitgenössischer Imaginationstheorien zu betrachten, vgl. Haiko Wandhoff, »Zur Bildlichkeit mittelalterlicher Texte. Einführung«, Das Mittelalter 13 (2008), H. 1, 3–18, hier bes. 6–10, sowie Elmar Locher u. Hans Jürgen Scheuer (Hgg.): Archäologie der Phantasie. Vom »Imaginationsraum Südtirol« zur longue durée einer »Kultur der Phantasmen« und ihrer Wiederkehr in der Kunst der Gegenwart, Innsbruck 2012, hier die Einleitung, 5–15. 44 Hugo
45 Grundlegend
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Meister Umbrîz, Hersteller von Enites Sattel, zu berücksichtigen, in dem Deus artifex und Poeta faber ineinandergeblendet erscheinen.48 Er hätte die Kosmosdarstellung auf Enites Satteldecke zu berücksichtigen, auf welcher der Mensch so abgebildet (aber eben doch nur: abgebildet) ist, als wolle er das Gesetz der Abbildhaftigkeit sprengen.49 Und er hätte den Gralstempel des Jüngeren Titurel zu berücksichtigen, dessen Grundriss vom Gral selbst vorgegeben ist und der mit seinem künstlichen Himmelsgewölbe, dem künstlichen Meer und dem mit künstlichen Vögeln besetzten Orgelbaum ein weitgehend automatisiertes Abbild des Kosmos liefert.50 Die genannten Objekte – und weitere wie etwa Gottfrieds Hündchen Petitcreiu51 wären zu ergänzen – haben zumindest dies gemeinsam, dass sie den Rezipienten zu einer poetologisch grundierten Reflexion des Verhältnisses von göttlichem, natürlichem und menschlichem Werk einladen. Auf einen sehr speziellen Fall, der dem Beginn des Laborintus besonders nahe kommt, sei abschließend kurz eingegangen. In seinem wohl in den 1230er Jahren entstandenen Artusroman Die Krone beschreibt Heinrich von dem Türlin über rund 330 Verse (v. 19621–19948) hinweg einen hässlichen, verwahrlosten Ackerknecht sowie dessen von sämtlichen Pferdekrankheiten der Welt geplagten Gaul samt ärmlichem, zerschlissenem Reitzeug (man ist geneigt, an eine Kontrafaktur auf Enites Pferd zu denken).52 Bei aller »Poetik der unmâze«,53 die man Heinrich zu Recht attestiert hat, wird der Erzähler hierbei – ähnlich wie der Dichter zu BeHamm, »Meister Umbrîz«, 207–217. Corinna Laude, »Quelle als Konstrukt. Literatur- und kunsttheoretische Aspekte einiger Quellenberufungen im ›Eneasroman‹ und im ›Erec‹ «, in: Thomas Rathmann u. Nikolaus Wegmann (Hgg.), »Quelle«. Zwischen Ursprung und Kon strukt. Ein Leitbegriff in der Diskussion (Beihefte zur ZfdPh 12), Berlin 2004, 209– 240, hier 223–228. 50 Aus einem dezidiert ästhetischen Blickwinkel behandelt Albrechts Gralstempelbeschreibung Elisabeth Schmid, »Die Überbietung der Natur durch die Kunst. Ein Spaziergang durch den Gralstempel«, in: Martin Baisch, Johannes Keller, Florian Kragl u. Matthias Meyer (Hgg.), Der ›Jüngere Titurel‹ zwischen Didaxe und Verwilderung. Neue Beiträge zu einem schwierigen Werk (Aventiuren 6), Göttingen 2010, 257–272. 51 Vgl. zuletzt Almut Schneider, »Vielfarbige Klänge. Liebesgaben im poetologischen Diskurs der ›Synästhesie‹ «, in: Margreth Egidi, Ludger Lieb, Mireille Schnyder u. Moritz Wedell (Hgg.), Liebesgaben. Kommunikative, performative und poetologische Dimensionen in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (Philologische Studien und Quellen 240), Berlin 2012, 313–327. 52 Der Kontrafaktur-Gedanke bereits bei Lewis Jillings, Diu Crone of Heinrich von dem Türlein. The Attempted Emancipation of Secular Narrative (GAG 258), Göppingen 1980, 80. 48 Vgl. 49 Vgl.
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ginn des Laborintus – als einer in Szene53 gesetzt, der eher unwillig ans Werk geht: sî der nutz gar erslagen, / sît ich ez allez sol sagen (›Fahre der Nutzen komplett dahin, nachdem ich es nun einmal alles erzählen muss‹ [v. 19764 f.]), bemerkt er gegen Ende der Beschreibung des Ackerknechts, und am Ende der Pferdebeschreibung heißt es: die rede ich hie lâze, / wan ich schiuh die unmâze (›Die Rede beende ich hier, denn ich scheue die Unmäßigkeit‹ [v. 19899 f.).54 Von besonderem Interesse ist eine Passage, in der sich die personifizierte Natur – ganz ähnlich wie Eberhards Natura parens von der Erschaffung des Lehrers – von der Erschaffung des Ackerknechts distanziert: Natûre wolt unschuldic sîn / an ime, als sie selbe jach, / dô sie ine von êrst an sach. / ›ich enwirke dich niht‹, sie dicke sprach (›Die Natur wollte unschuldig an ihm sein, wie sie selbst erklärte, als sie ihn zum ersten Mal erblickte: »Ich setze dich nicht ins Werk«, sagte sie wiederholt‹). Im letzten der zitierten Verse konjizieren sämtliche Ausgaben handschriftliches enwircke zu enworht (›»Ich habe dich nicht ins Werk gesetzt«, sagte sie wiederholt‹). Die (wie auch immer zu erklärende) Parallelität zur Eingangspassage des Laborintus könnte ein Argument sein, diese Konjektur zu überdenken.55 Ganz abgesehen von dieser philologischen Detailfrage aber ruft die – sei es nun im Vor- oder im Nachhinein erfolgende – Distanznahme Naturas von ›ihrem‹ Produkt fast zwangsläufig die Frage nach der Zuständigkeit des Dichters auf den Plan, steht also auch hier entschieden im Zeichen dichterischer Selbstreflexion.56
53 Thomas Gutwald, Schwank und Artushof. Komik unter den Bedingungen höfischer Interaktion in der ›Crône‹ des Heinrich von dem Türlin (Mikrokosmos 55), Frankfurt a. M. [u. a.] 2000, 195–197. 54 Mittelhochdeutscher Text zitiert nach: Heinrich von dem Türlin, Diu Crône, kritische mittelhochdeutsche Leseausgabe mit Erläuterungen, hg. Gudrun Felder, Berlin / Boston 2012. 55 Das Verb ane sehen (v. 19785), das wahrscheinlich den Ausschlag für die Konjektur gegeben hat (denn wie sollte Natura etwas erblicken können, das sie nicht bereits ins Werk gesetzt hätte?), würde dann ziemlich genau dem Verb praesentire des Laborintus (v. 13) entsprechen, wäre also in einem abstrakteren Sinn (›im Geist vor sich sehen‹ o. ä.) zu verstehen. 56 Vgl. Rüdiger Schnell, »Ekel und Emotionsdarstellung. Mediävistische Überlegungen zur ›Aisthetik‹ des Häßlichen«, DVjS 79 (2005), 359–432, hier 404 f.
wilde / bilde Semantische Funktionen eines häufigen Reims der mittelhochdeutschen Epik Von Jan Stellmann Im Prolog zu seiner um 1250 / 60 entstandenen Apokalypse entwirft Heinrich von Hesler eine ›Normpoetik‹,1 mit der er angehende Dichter dazu anleiten möchte, ›höfisch‹ zu dichten.2 Ein Schwerpunkt dieser ›Normpoetik‹, auf den ich mich hier konzentriere,3 liegt im korrekten Verbinden von Reimen (mhd. rîm).4 Als Vorbilder fungieren nicht näher bestimmte ›Meister der alten Zeit‹,5 deren Werke noch immer herausra1 Heinrich von Hesler, Die Apokalypse, hg. Karl Helm (Deutsche Texte des Mittelalters 8), Berlin 1907, v. 1319–1482. Vgl. zur Datierung Arno Mentzel-Reuters, »Heinrich von Hesler – von Thüringen nach Preußen. Facetten deutschsprachiger Bibeldichtung 1250–1350«, in: Thomas T. Müller (Hg.), Der deutsche Orden und Thüringen. Aspekte einer 800-jährigen Geschichte (Mühlhauser Museen. Forschungen und Studien 4), Petersberg 2014, 43–74, hier 43 f. 2 Vgl. Ute von Bloh, »Anders gefragt: Vers oder Prosa? Reinolt von Montalban und andere Übersetzungen aus dem Mittelniederländischen im Unkreis des Heidelberger Hofes«, in: Jochim Heinzle, L. Peter Johnson, Gisela Vollmann-Profe (Hgg.), Übersetzen im Mittelalter. Cambridger Kolloquium 1994 (Wolfram-Studien XIV), Berlin 1996, 265–293, hier 272. 3 Der beiden anderen Schwerpunkte sind die Forderungen, zwischen sechs und zehn Silben pro Vers zu setzen und nur reine Reime zu verwenden. Vgl. dazu Karl Helm, »Untersuchungen ueber Heinrich Heslers Evangelium Nicodemi«, Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 24 (1899), 85–187, hier den »Anhang. Zu Heslers und Jeroschins metrischen regeln«, 178–187; Karl Helm, Walther Ziesemer, Die Literatur des Deutschen Ritterordens (Gießener Beiträge zur deutschen Philologie 94), Gießen 1951, 90 f.; Volker Honemann, »Die Apokalypse des Heinrich von Hesler«, in: Rudolf Suntrup u. a. (Hgg.), Volker Honemann. Literaturlandschaften. Schriften zur deutschsprachigen Literatur im Osten des Reiches (Kultureller Wandel vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit 11), Frankfurt a. M. 2008, 47–84, hier 78; Mentzel-Reuters, »Heinrich von Hesler«, 46. 4 Vgl. Heinrich, Apokalypse, v. 1378–1384: Ich rede iz durch die lichten, / Die buch nu wollen machen / Von aller leie sachen / Unde rim zu rime vinden / Und die nicht rechte binden / Unde die nicht wegen gliche; / Daz stet unhobischliche. 5 V. 1385–1388.
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gend seien. Das zentrale Problem bei der Verbindung von Reimen sieht Heinrich in der Relation von Reim und Sinn: Wie lässt sich sicherstellen, dass jeder Reim korrekt ›verleimt‹ und zugleich der Sinn nicht verfälscht wird? Heinrichs Antwort darauf enthält nichts weniger als eine kleine Theorie des Reims: Swer rime wil zu rimen Und wort zu worte limen Unde sin zu sinne setzen, Der muz den sin da zu wetzen Unde nemen dar von bilde, Daz sin rim nicht vorwilde. Den sin den sie vor vazten Unde an getichte sazten, Den muze wir noch halden.6
Um die ›Reime nicht verwildern‹7 zu lassen, soll der Dichter den ›Sinn schleifen‹. Zugleich möge er den sin, den die ›Alten‹ in ihre Texte eingesetzt hätten, beibehalten. Es gilt folglich, an beidem zugleich, am Reim wie am Sinn zu arbeiten, um ›höfisch‹ zu dichten: Do von muz man mit gelegenen Worten die rime suchen, Den sin also beruchen, Daz wir nicht valsches sprechen.8
Ein höfischer Dichter soll den ›Sinn‹ zwar wetzen, aber sich seiner dennoch so weit annehmen (beruchen), dass nichts Falsches dabei herauskommt. Allerdings gibt es davon eine Ausnahme: Doch muz mans wilen brechen, Des endarf sich aber niemant schamen, Iz machet durft der lute namen Die niemant kan bekennen Anders, die muz man nennen Also sie genamet sin, Und muz rime zien dar in Die sich den namen glichen.9
6 V.
1389–1397. von Würzburg bezeichnet dagegen mit dem wilde[n] rim ein unerreichtes Ideal. Vgl. Konrad von Würzburg, Goldene Schmiede, hg. Edward Schröder, Göttingen 1926, v. 88. 8 Heinrich, Apokalypse, v. 1410–1413. 9 V. 1414–1421. 7 Konrad
wilde / bilde71
Zuweilen lässt es sich nicht vermeiden, den Sinn zurückzustellen, die Bedeutung zu brechen: Dann nämlich, wenn Eigennamen Reimwörter erfordern, die sich ihnen zwar auf der klanglichen Ebene ›angleichen‹, auf der semantischen Ebene hingegen nicht passen. Kurz: Reimklang und Bedeutung stimmen im besten, von Heinrich nur implizierten Fall zusammen. Bei einer Dissonanz gilt es daher, entweder die Bedeutung (sin) zurechtzufeilen oder auf ein anderes Reimwort auszuweichen, das gelegen, d. h. (semantisch) ›benachbart‹ bzw. ›passend‹ ist: lieber ein gesuchter Reim als eine falsche Bedeutung. Bei Eigennamen ist es dagegen wichtiger, überhaupt einen Reim zu finden, als vollständige semantische Stimmigkeit zu erreichen. Diese Reimtheorie findet ihren Konzentrationspunkt in einer Variante des Reims wilde / bilde, die nochmals zitiert sei: Swer rime wil zu rimen Und wort zu worte limen Unde sin zu sinne setzen, Der muz den sin da zu wetzen Unde nemen dar von bilde, Daz sin rim nicht vorwilde.10
Die beiden letzten Verse, so kann man zuspitzen, enthalten eine implizite Reflexion sowohl auf den didaktischen Anspruch von Heslers Reimtheorie selbst (der muz […] bilde nemen) als auch auf das Ziel, das sie erreichen möchte (daz sin rim nicht vorwilde). Die konträren Bedeutungen der Reimwörter – bilde steht hier für die gestalt(vor)gebende Seite der Normpoetik (wenn man so will: ars), wilde für den poetischen ›Natur‹Trieb (ingenium) – erfassen zugleich den zentralen Gegensatz zwischen Reim und Sinn, um den Heslers Ausführungen kreisen: Gibt der Dichter beim Dichten der Sinndimension zu großes Gewicht, leidet darunter der Reim (›Verwilderung‹ der dichterischen Form); zielt er dagegen zu sehr auf einen vollendeten Reim ab, droht der buchstäbliche Bedeutungsverlust (›verkünstelte Gestaltung‹ eines belanglosen oder gar falschen Inhalts). Der Reim bilde / vorwilde hat, mit anderen Worten, an dieser Stelle eine selbstreflexive Funktion, weil er als Formelement, das zwei Wörter mit einmal semantischer, einmal formaler Bedeutung verknüpft, die in dem Prologsegment, in das er eingebettet ist, ausgesagte Bedeutung, dass man beim Dichten Form und Bedeutung zugleich beachten solle, spiegelt. Diese reflexive Funktion des Reims ist zudem nicht unabhängig davon, dass er in dem nicht-narrativen Teil des Textes eingesetzt wird, in dem didak-
10 V.
1389–1394.
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tische und poetologische, ja überhaupt theoretisch-begriffliche Erwägungen üblicherweise angestellt werden: im Prolog. Zwei Thesen entnehme ich der Reimpoetik Heinrichs von Hesler: Erstens ist die formale Kategorie Reim auch eine Kategorie der Semantik.11 Und zweitens kann das formal-semantische Textelement Reim bestimmte inhaltliche Aussagen des umgebenden Textteils illustrieren (›beleuchten, verschönern‹) oder reflektieren (›zurückwerfen, spiegeln‹),12 wobei die illustrierende oder reflektierende Funktion des Reims mit dem jeweiligen Textmodus, der Narration, Deskription oder, wie bei Hesler, Didaxe, korrelliert ist. Meine Überlegungen zu Semantik und textmodusspezifischer Funktionalität des Reims möchte ich an dem Reimpaar entfalten, das im Zentrum von Heinrichs Mikrotheorie des Reims steht: am Reimpaar wilde / bilde (bzw. an äquivalenten Formen wie bilde / vorwilde). Mein Ziel ist es im Folgenden, die Zusammenhänge zwischen verschiedenen Semantiken eines Reims und unterschiedlichen Textmodi eines Textes differenziert auszufalten. Dazu ist es angezeigt, ein breites Korpus zugrundezulegen. Um zugleich eine gewisse Homogenität zu gewährleisten, habe ich mich auf einen repräsentativen Querschnitt durch die deutschprachige höfisch-weltliche Epik des 12. und 13. Jahrhunderts beschränkt.13 Insgesamt 24 Texte wur11 Die mediävistische Reimforschung hat sich lange vor allem mit der Entstehung des Endreims beschäftigt; vgl. die Dokumentation bei Ulrich Ernst, Peter-Erich Neuser, Die Genese der europäischen Endreimdichtung (Wege der Forschung 444), Darmstadt 1977. Ganz vergessen wurde der Zusammenhang von Reim und Semantik glücklicherweise nicht: Viele hilfreiche Anregungen in dieser Richtung verdanke ich dem Reim-Kapitel von Timothy R. Jackson, Typus und Poetik. Studien zur Bedeutungsvermittlung in der Literatur des deutschen Mittelalters, Heidelberg 2003, 221–277, der den Reim als Bedeutungsträger untersucht. Hinweisen möchte ich auch auf die anregende Studie von Wolfgang Achnitz, »ein rîm an drîn worten stêt. Überlegungen zu Verbreitung und Funktion von Mehrreimen«, Zeitschrift für deutsches Altertum 117 (2000), 249–274, die auf die sinnstrukturierende Funktion von Mehrreimen aufmerksam macht. Mein Interesse an Reimen verdankt sich den theoretischen Ausführungen eines reimenden Dichters: Peter Rühmkorf, agar agar – zaur zaurim. Zur Naturgeschichte des Reims und der menschlichen Anklangsnerven (Edition Suhrkamp N.F. 307), Frankfurt a. M. 1985. – Grundsätzliche Erwägungen zur verbindenden, Textkohärenz stiftenden Wirkung von Reimen sind Teil meiner Dissertationsschrift, die voraussichtlich 2017 fertiggestellt wird. 12 Illustration und Reflexion seien hier als zwei grundlegende Verfahren verstanden, durch die bestimmte Textelemente wie der Reim auf übergeordnete Textstrukturen – z. B. die Geschichte – Bezug nehmen und so entweder ›schmückendes Beiwerk‹ oder ›problematisierende Rückbezüglichkeit‹ generieren. 13 Heldenepische und religiöse Erzähltexte, narrative Kleinformen sowie die gesamte lyrische Dichtung sind folglich nicht berücksichtigt worden. Eine prinzipiell
wilde / bilde73
den mithilfe der Mittelhochdeutschen Begriffsdatenbank (MHDBDB) nach Belegen für den Reim wilde / bilde und entsprechende Derivate durchsucht.14 Die Ergebnisse der quantitativen Auswertung sind im Anhang dokumentiert. Zu verzeichnen ist an dieser Stelle lediglich, dass der Reim wilde / bilde im 13. Jahrhundert deutlich häufiger verwendet wird als im 12. Jahrhundert – sowohl in absoluten als auch in relativen Zahlen. Durchauch mögliche Vollständigkeit (bezogen auf die mithilfe der MHDBDB durchsuchbaren Texte) ist, wiewohl grundsätzlich wünschenswert, keine notwendige Bedingung, um das Ziel der Untersuchung zu erreichen. 14 Zitiert wird nach den Ausgaben, die der MHDBDB zugrunde liegen: Heinrich von Veldeke, Eneasroman, hg. u. übers. Dieter Kartschoke (Reclams Universal-Bibliothek 8303), Stuttgart 1986; Hartmann von Aue, Erec, hg. Ludwig Wolff (Altdeutsche Textbibliothek 39), Tübingen 1963; Hartmann von Aue, Iwein, hg. Ludwig Wolff, 7. Aufl., Berlin 1968, Bd. 1; Hartmann von Aue, Gregorius, hg. Burghart Wachinger (Altdeutsche Textbibliothek 2), Tübingen 1984; Ulrich von Zatzikhoven, Lanzelet, hg. Karl August Hahn, Frankfurt a. M. 1845 (Nachdruck Berlin 1965); Wolfram von Eschenbach, Parzival, hg. Albert Leitzmann, 7. Aufl., Tübingen 1961; Gottfried von Strassburg, Tristan und Isold, hg. Friedrich Ranke, Berlin 1930 (Nachdruck 1958); Wirnt von Gravenberc, Wigalois der Ritter mit dem Rade, hg. J. M. N. Kapteyn (Rheinische Beiträge und Hülfsbücher zur germanischen Philologie und Volkskunde 9), Bonn 1926; Herbort von Fritslar, Liet von Troye, hg. Karl Frommann (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur von der ältesten bis auf die neuere Zeit 5), Quedlinburg / Leipzig 1837; Konrad Fleck, Flore und Blanscheflur, hg. Emil Sommer (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur von der ältesten bis auf die neuere Zeit 12), Quedlinburg / Leipzig 1846; Heinrich von dem Türlin, Die Krone (Verse 1–12281), hg. Fritz Peter Knapp, Manuela Niesner (Altdeutsche Textbibliothek 112), Tübingen 2000, Bd. 1; Heinrich von dem Türlin, Die Krone (Verse 12282–30042), hg. Alfred Ebenbauer, Florian Kragl (Altdeutsche Textbibliothek 118), Tübingen 2005, Bd. 2; Rudolf von Ems, Der guote Gêrhart, hg. John A. Asher (Altdeutsche Textbibliothek 56), Tübingen 1971; Rudolf von Ems, Alexander, hg. Victor Junk, 2 Bde. (Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart 272), Leipzig 1928–1929; Der Pleier, Garel von dem bluenden Tal, hg. Wolfgang Herles (Wiener Arbeiten zur germanischen Altertumskunde und Philologie 17), Wien 1981; Der Pleier, Tandareis und Flordibel, hg. Ferdinand Khull, Graz 1885; Albrecht von Scharfenberg, Jüngerer Titurel, hg. Werner Wolf, Kurt Nyholm, 3 Bde. in 5 Teilbde. (Deutsche Texte des Mittelalters 45, 55, 61, 73, 77), Berlin 1955– 1992; Konrad von Würzburg, Engelhard, hg. Ingo Reiffenstein (Altdeutsche Textbibliothek 17), 3. Aufl., Tübingen 1982; Konrad von Würzburg, Partonopier und Meliur, hg. Karl Bartsch, Wien 1871 (Nachdruck 1970); Konrad von Würzburg, Der Trojanische Krieg, hg. Adelbert von Keller (Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart 44), Stuttgart 1858; Lohengrin, hg. Thomas Cramer, München 1971; Ulrich von Etzenbach, Alexander, hg. Wendelin Toischer (Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart 183), Tübingen 1888; Ulrich von Etzenbach, Wilhelm von Wenden, hg. Hans-Friedrich Rosenfeld (Deutsche Texte des Mittelalters 49), Berlin 1957; Reinfried von Braunschweig, hg. Karl Bartsch (Bibliothek des litterarischen Vereins Stuttgart 109), Tübingen 1871; Johann von Würzburg, Wilhelm von Österreich, hg. Ernst Regel (Deutsche Texte des Mittelalters 3), Berlin 1906.
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gängig gibt es insbesondere vor 1250 einige Epiker (darunter Heinrich von Veldeke und Gottfried von Straßburg), die den Reim wilde / bilde gar nicht verwenden, während gerade nach 1250 manche Autoren den semantisch markanten Reim sehr oft einsetzen (Konrad von Würzburg und Johann von Würzburg). Dabei fällt zwar auf, dass diejenigen Autoren, die den Reim wilde / bilde besonders häufig verwenden (von Heinrich von dem Türlin über Albrecht, den Verfasser des Jüngeren Titurel, bis zu Konrad von Würzburg), Vertreter des geblümten Stils sind,15 der sich u. a. durch einen bewusst raffinierten Reimgebrauch auszeichnet.16 Allerdings geht die Gleichung in der anderen Richtung nicht auf: Andere ›Blümer‹ wie Rudolf von Ems oder der Verfasser des Lohengrin setzen den Reim wilde / bilde nur selten ein. Insgesamt ist demnach von einer autorspezifischen, besonders bei einigen ›Blümern‹ ausgeprägten und im Zeitverlauf zunehmenden Häufigkeitsverteilung auszugehen. Dieses Ergebnis bildet den heuristischen Ausgangspunkt der folgenden Untersuchung. In fünf Schritten nähere ich mich dem Zusammenhang von Reim, Semantik und Textmodus. Der erste Schritt erörtert theoriegeleitet, wie Reim und Bedeutung aufeinander bezogen sein können (I.). Anschließend skizziere ich kurz, welche Bedeutungen beim Reim wilde / bilde verknüpft werden (II.). Im dritten Schritt werden die drei für mein Korpus relevanten Textmodi skizziert (III.). Anschließend schlage ich eine Typologie der Korrellationen von Reimsemantiken und Textmodi vor (IV.). Während dabei davon ausgegangen wird, dass die je textmodusspezifisch präsentierte Aussage in die illustrierende oder reflektierende Reimsemantik eingefaltet ist, möchte ich im letzten Schritt anhand einzelner Episoden aus zwei großen höfischen Romanen (Konrads von Würzburg Trojanischer Krieg und Johanns von Würzburg Wilhelm von Österreich) die Kehrseite dieser These erproben: Dass sich auch größere narrative Einheiten eines Textes als Ausfaltung der Reimsemantik begreifen lassen (V.).
15 Vgl. Gert Hübner, Lobblumen. Studien zur Genese und Funktion der »Geblümten Rede« (Bibliotheca Germanica 41), Tübingen, Basel 2000. Auch der bei Hübner nicht ausführlich besprochene, hier mit vielen Belegen für den Reim wilde / bilde vertretene Reinfried von Braunschweig, der stilistisch in der Nachfolge Gottfrieds, Rudolfs und Konrads steht, zeichnet sich durch »geblümte[] Rede« aus. Vgl. Alfred Ebenbauer, »Reinfried von Braunschweig«, in: Kurt Ruh, Burghart Wachinger u. a. (Hgg.), Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 14 Bde., 2. Aufl., Berlin u. a. 1978–2008, Bd. 7, 1171–1176, hier 1174. 16 Vgl. Jackson, Typus und Poetik, 251: »Die Anwendung ausgesuchter Reime ist […] ein Hauptanliegen der sogenannten Blümer gewesen […].«
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I. Die These, der als »Gleichklang zwischen Wörtern«17 definierte Reim sei eine Kategorie nicht nur des Klangs bzw. der Form, sondern auch der Semantik, ist nicht neu – wie alt, habe ich einleitend zu zeigen versucht. Dennoch wird der Reim kategorial in der Regel der Form eines Textes zugeschlagen.18 Dagegen betonen vor allem die Strukturalisten, dass der Reim den beiden Ebenen Form und Semantik zugleich angehört. Jurij N. Tynjanov etwa bezeichnet den Reim als »semantische[n] Hebel«,19 Jurij M. Lotman definiert ihn als »klangliche Übereinstimmung von Wörtern oder deren Teilen in einer bezüglich der rhythmischen Einheit starken Position bei Nichtübereinstimmung des Sinnes«20 und für Roman Jakobson gilt: »Reim beinhaltet notwendigerweise eine semantische Beziehung der rei-
17 Rüdiger Zymner, »Reim«, in: Klaus Weimar u. a. (Hgg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, 3 Bde., Berlin / New York 1997–2003, Bd. 3, 253–257, hier 253. Die Metrik definiert den Reim in der Regel noch etwas genauer als »Gleichklang der betonten Vokale und der ihnen folgenden Lautgruppen«, so Otto Paul, Ingeborg Glier, Deutsche Metrik, 4. Aufl., München 1961, 55; vgl. auch Werner Hoffmann, Altdeutsche Metrik (Sammlung Metzler 64), Stuttgart 1967, 14. 18 Vgl. Christiane Schildknecht, »Form«, in: Weimar u. a. (Hgg.), Reallexikon, Bd. 1, 612–615, hier 612: »In der Literaturwissenschaft umfaßt die Analyse der Form vor allem Fragen nach isolierbaren Elementen der Struktur von Texten (Versmaß, Rhythmus, Reim, Strophenform, Rhetorische Figuren, Metaphern etc.) […].« Siehe auch Günther Schweikle, Minnesang (Sammlung Metzler 244), 2. Aufl., Stuttgart / Weimar 1995, hier 159 f., der den Reim im Kapitel »VIII. Form des Minnesangs« behandelt. Auf die Sinndimension des Reims weisen hin: Max Wehrli, Literatur im deutschen Mittelalter. Eine poetologische Einführung (Reclams UniversalBibliothek 8038), Stuttgart 1984, 196: »Während der Stabreim die sinntragenden Wörter heraustreibt, ist der Endreim zunächst einmal ein sinnunabhängiges Lautspiel, das dem dichterischen Text eine zweite Struktur überprägt. Diese kann ihrerseits einfach aus dem Netz der Reimklänge bestehen, ohne Beziehung zur Aussage. Doch können die Reimwörter, die naturgemäß oft grammatisch analog sind, auch in eine Sinnbeziehung treten und damit in und über dem primären Sinn einen Zweitsinn konstituieren.« Siehe ferner Hoffmann, Altdeutsche Metrik, 14: »[…] der Reim stellt ein Bindungs- und Gliederungsprinzip, und zwar sowohl des Klanges wie des Sinnes, dar, das für die metrische Form einer Dichtung von großer Bedeutung ist.« 19 Jurij N. Tynjanov, Das Problem der Verssprache. Zur Semantik des poetischen Textes, übers. Inge Paulmann (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste. Texte und Abhandlungen 25), München 1977, zum Reim bes. 127–135, das Zitat 127. 20 Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, übers. Rol-Dietrich Keil (Uni-Taschenbücher 103), 4. Aufl., München 1993, 183 f.
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menden Einheiten zueinander […].«21 Ich folge Jakobsons Ansatz zur theoretischen Erörterung des Zusammenhangs von Reim und Bedeutung. Nach Jakobson dominiert in der Dichtung die poetische Funktion der Sprache, das heißt: die »Einstellung auf die Botschaft als solche«22. Andere Funktionen wie »Einstellung auf den Referenten, eine Orientierung am Kontext« oder am »Adressaten«23 treten demgegenüber zurück. Zur Bestimmung der poetischen Funktion der Sprache unterscheidet Jakobson die beiden Achsen der Selektion und der Kombination: »Die Selektion findet auf der Grundlage von Äquivalenz, von Similarität und Dissimilarität, Synonymie und Antonymie statt, während die Kombination, die Zusammenfügung zur Sequenz, auf Kontiguität basiert.«24 Dann folgt die bekannte Definition der poetischen Funktion: »Die poetische Funktion bildet das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination ab. Die Äquivalenz wird dabei zum konstitutiven Verfahren für die Sequenz erhoben.«25 Am Reim, der für Jakobson im Anschluss an Gerald Manley Hopkins26 ein »besonderer, verdichteter Fall […] des Parallelismus«27 ist, lässt sich die Abbildung der Äquivalenz auf die Sequenz besonders gut nachvollziehen:28 Die Wortsequenz im Vers wird durch ein Reimwort beschlossen, das klanglich äquivalent – der Definition des Reims (»Gleichklang«) gemäß in der Ausprägung ›Ähnlichkeit‹ – zum entsprechenden Reimwort eines vorangehenden oder nachfolgenden Verses ist. Entscheidend ist nun, dass Jakobson die Äquivalenz der Reimwörter nicht auf den Klang beschränkt wissen will:
21 Roman Jakobson, »Linguistik und Poetik«, in: ders., Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie. Sämtliche Gedichtanalysen. Kommentierte deutsche Ausgabe, hg. Hendrik Birus, 2 Bde., Berlin / New York 2007, Bd. 1, 155–216, hier 186. 22 Ibid., 168. Siehe aber die differenzierende Einschränkung ibid.: »Jeder Versuch, die Sphäre der poetischen Funktion auf Dichtung oder Dichtung auf die poetische Funktion zu reduzieren, wäre eine allzu vereinfachende Augenwischerei.« 23 Jakobson, »Linguistik und Poetik«, 163. Ibid. findet sich auch das grundlegende, hier als bekannt vorausgesetzte Modell der sechs Funktionen der Sprache. 24 Ibid., 170. 25 Ibid. 26 Gerard Manley Hopkins, »Poetic Diction«, in: ders., The Journals and Papers, hg. Humphry House, Graham Storey, London 1959, 84 f. 27 Jakobson, »Linguistik und Poetik«, 188. 28 Vgl. Gerhard Kurz, Macharten. Über Rhythmus, Reim, Stil und Vieldeutigkeit (Kleine Reihe V&R 4013), Göttingen 1999, 51: »Der Reim ist für Jakobson ein Beispiel für das allgemeine Prinzip der Poesie: die Überlagerung der Sequenz der Wörter durch ihre Äquivalenz.«
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Kurz, eine Äquivalenz im Klang, deren Abbildung auf die Sequenz deren konstitutives Prinzip darstellt, schließt unweigerlich auch eine semantische Äquivalenz mit ein, und auf jeder linguistischen Ebene provoziert jede Konstituente einer solchen Sequenz eine der beiden korrelierenden Erfahrungen, die Hopkins ganz einfach als ›Vergleich durch Ähnlichkeit‹ und ›Vergleich durch Unähnlichkeit‹ definiert.29
Der im Reim dominant wahrgenommene ›Gleichklang‹ generiert gleichsam einen Appell, die Reimwörter auf die Äquivalenz ihrer Bedeutungen hin zu befragen. Diese semantische Äquivalenz der Reimwörter hat Jakobson bzw. Hopkins zufolge zwei Ausprägungen: Ähnlichkeit und Unähnlichkeit.30 Obwohl nach Jakobson die Abbildung des Äquivalenzprinzips auf die Sequenz konstitutiv für die ›Poetizität‹ eines Textes ist, bleibt das Prinzip der Kontiguität, das die ›vor-poetische‹ Sequenz dominiert, dennoch weiter wahrnehmbar. Das wichtigste Kontiguitätsprinzip der Sequenz, die Syntax, das in der Dichtung vom Äquivalenzprinzip – etwa der Metrik oder dem Reim – überlagert wird, behält seine strukturierende Wirkung: Poetische Sprache ist auch und gerade in längeren versifizierten Erzählungen nicht unabhängig von syntaktischen Regeln, sondern hat nur die Lizenz dazu, mit diesen Regeln freier umzugehen als z. B. wissenschaftliche Sprache. Die andauernde Wirksamkeit des Kontiguitätsprinzips zeigt sich nicht zuletzt daran, dass es eigene, bereits in der antiken Rhetorik (dort allerdings für Prosa) beschriebene Verfahren zur ›Poetisierung‹ der Syntax gibt (z. B. Inversion, Hyperbaton, Polysyndeton usw.). Dies hat auch Auswirkungen auf die semantische Äquivalenz der Reimwörter, weil deren Bedeutung, die auf »Ähnlichkeit« oder »Unähnlichkeit« zu vergleichen der Reim nahelegt, nicht unabhängig von den anderen Bestandteilen der Sequenz ermittelt werden kann; somit ändert sich die ›isolierte‹ Bedeutung eines jeden Reimworts, wenn es als Teil einer Sequenz z. B. in einem negierten Satz steht oder durch ein Attribut spezifiziert wird. Vor diesem Hintergrund soll der Reim, der den Versschluss markiert, als ein (paradigmatisches) Gliederungsprinzip begriffen werden, das mit dem (syntagmatischen) Gliederungsprinzip der Syntax zwar widerstreiten kann, aber nicht zwangsläufig widerstreiten muss. Kommt es zum Widerstreit, stellt sich die Frage, ob die semantische Äquivalenz noch ›aktiviert‹, ob also noch ein »Vergleich durch Ähnlichkeit« oder ein »Vergleich durch Unähnlichkeit« vorgenommen wird. Die germanistische Mediävistik hat 29 Jakobson,
»Linguistik und Poetik«, 188. aber bei Lotman, für den »Nichtübereinstimmung des Sinnes« ein Definitionskriterium ist (siehe oben). 30 Nicht
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dieses Phänomen des Widerstreits von Reim und Syntax ausführlich diskutiert: als ›Reimbrechung‹, »wenn ein Satzschluß genau in die Mitte des Reimpaars fällt«,31 und als ›Reimbindung‹, wenn Satzende und Reimpaar ende zusammenfallen. Bereits Jacob Grimm hatte für die Reimbrechung einen »Widerstreit der Periode des Metrums und der des Sinns«32 konstatiert und sie folglich ein »Sinn und Reim trennende[s] Princip«33 genannt. Der Sinn stehe also auf der Seite der Syntax, der Reim beim Metrum, und so bestimmt noch Wolfgang Brandt in einer 1975 erschienenen wichtigen Studie zur Reimbrechung diese als den »Widerstreit zwischen der semantisch-syntaktischen Struktur und der Reimpaar-Struktur eines Textes«34. Daraus folgte für die Frage nach der Semantik des Reims, dass bei Reimbrechung grundsätzlich kein semantischer Zusammenhang zwischen den beiden Reimwörtern vorläge, weil diese differenten Sätzen, also je verschiedenen »semantisch-syntaktischen« Einheiten angehören. Diese Einschätzung lässt sich jedoch nicht uneingeschränkt aufrecht erhalten. Es ist zwar zuzugestehen, dass die Reimbrechung in vielen Fällen tatsächlich dazu führt, dass der Vergleich der Bedeutungen der Reimwörter ins Leere läuft. Offenbar ist für den Reim klangliche Äquivalenz (als Ähnlichkeit) notwendig, während semantische Äquivalenz nur eine (wiewohl auch bei Reimbrechung) mögliche Dimension des Reims darstellt. In 31 Christian Wagenknecht, Deutsche Metrik. Eine historische Einführung, 5. Aufl., München 2007, 52. Die ältere Forschung referiert und kritisiert Wolfgang Brandt, »Das Verhältnis zwischen metrischer und syntaktischer Gliederung in mittelhochdeutschen Reimpaardichtungen. Eine instrumentalphonetische Untersuchung zur ›Reimbrechung‹ «, in: Neuere Forschungen in Linguistik und Philologie. Aus dem Kreise seiner Schüler Ludwig Erich Schmitt zum 65. Geburtstag gewidmet (Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik. Beihefte N.F. 13), Wiesbaden 1975, 216– 246, hier 216–221; eine elaboriertere Definition der Reimbrechung findet sich 222 f. Vgl. zuletzt zum Thema (ohne Nennnung des Begriffs ›Reimbrechung‹) Siegfried Grosse, »Versmaß, Reim und Syntax. Überlegungen zur oralen Poesie«, in: Sandra Rühr, Axel Kuhn (Hgg.), Sinn und Unsinn des Lesens. Gegenstände, Darstellungen und Argumente aus Geschichte und Gegenwart, Göttingen 2013, 1–28. Der Begriff der Reimbrechung wurde nach seiner ersten Prägung ex post als mittelalterlich legitimiert mit Verweis auf Wolfram von Eschenbach, Parzival, v. 337,23–26. 32 Jacob Grimm, »Zur altdeutschen Metrik«, in: Brüder Grimm (Hgg.), Altdeutsche Wälder, 3 Bde., Kassel 1813–1816, Bd. 1, 192–194, hier 192. 33 J. Grimm, »Metrik«, 193. 34 Brandt, »Reimbrechung«, 222. Brandt weiß freilich um die Relativität des Widerstreits (241): »Denn das, was sich unter metrischem Aspekt als ›Brechung‹ von zu einem Reimpaar verbundenen Reimzeilen durch einen Satz darstellt, bedeutet unter semantisch-syntaktischem Aspekt in spiegelbildartiger Umkehrung ›Verknüpfung‹ selbständiger Sätze durch den Reim, und ebenso sind Reim-›Bindung‹ und Satz›Trennung‹ nur unterschiedliche Interpretationen desselben Phänomens.«
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manchen Fällen kann die semantische Äquivalenzbeziehung der beiden Reimwörter dennoch die allfälligen Grenzen der syntaktisch-semantischen Einheit ›Satz‹ überwinden. Dies mag das folgende Beispiel veranschaulichen: Konrad von Würzburg lässt Meliur im Partonopier von ihren Zauberkünsten berichten, die sie am Hof ihres Vaters zu dessen Zeitvertreib übt: ich schuof mit zoubers witzen, daz in bedûhte, er sæhe vil manic wunder spæhe von zame und ouch von wilde. mîn goukel manic bilde worhte vor den ougen sîn.35
Der vom Herausgeber gesetzte Punkt ist berechtigt, nach wilde endet ein Satz. Und trotzdem lässt sich die Bedeutung der Reimwörter wilde / bilde nicht isoliert betrachten. Zunächst sind die wunder spæhe / von zame und ouch von wilde dasjenige, was die ›Gaukelbilder‹ scheinhaft vor Augen stellen. Darüber hinaus wäre zu überlegen, ob nicht solche ›Bilder‹, die durch goukel erzeugt werden und dem wilden eine Gestalt geben, auch selbst wilde (›wunderbar, unbegreiflich‹) sind. Zumindest fordert hier der (partielle) Gleichklang des Reims trotz Reimbrechung dazu auf, die beiden Reimwörter auch auf ihre semantische Äquivalenz hin zu vergleichen, ohne dass ein solcher Vergleich ins Leere laufen muss. II. Im Anschluss an diese theoretische Grundlegung der semantischen Äquivalenzbeziehung der Reimwörter ist zunächst auf lexikalischer, d. h. dekontextualisierter Ebene die konkrete Äquivalenz der beiden hier im Zentrum stehenden mhd. Reimwörter wilde und bilde zu explizieren. Grundsätzlich weisen die Lexeme wilde und bilde bzw. die entsprechenden Derivate einen semantischen Kontrast auf. Die Bedeutungen von wilde und bilde sind zwar nicht dichotomisch-oppositionell (wie etwa wilde und zam), aber dennoch in einem weiteren Sinn gegensätzlich. Werden sie im Reim verbunden, führt die klangliche Harmonie von wilde und bilde in semantischer Hinsicht zum »Vergleich durch Unähnlichkeit«.36 Die jeweils zu differenzierende Reimsemantik eignet sich deshalb sehr gut, um auf einer ersten Ebene solche inhaltlichen Textaussagen zu illustrieren, Partonopier und Meliur, v. 8109 f. auch Jackson, »Typus und Poetik«, 274.
35 Konrad, 36 Vgl.
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die in irgendeiner Form die Eigenschaften zweier Elemente der Textwelt gegenüber- oder gegeneinanderstellen, vergleichen oder konfrontieren. Für das mhd. Adjektiv wilde lassen sich fünf Hauptbedeutungen unterscheiden: 1. ›ungezähmt, unkultiviert, unbewohnt‹; 2. ›fremd, unbekannt, ungewohnt‹; 3. ›wunderbar, ungebreiflich, dämonisch‹; 4. ›irre, unstet, untreu‹; 5. ›entfernt, abgewendet von‹.37 Nur einen Aspekt dieses Spektrums vertritt das schwache Verb wilden, das (sich) »entfremden, entfernen« meint.38 Weniger weit ist auch die Bedeutung des Substantivs wilde: 1. »wildnis«; 2. »wildheit, heftigkeit, wildes, irres wesen«; 3. »wunderbares, unbegreifliches wesen«.39 Das Neutrum (das) wilt bezeichnet schließlich »wilde tiere« bzw. allgemein »Wild«,40 das den Namen entweder seinem Lebensraum gibt oder von ihm erhält. Zentral für das hier verhandelte Material sind insbesondere zwei Aspekte aus dem Wort- und Begriffsfeld des ›Wilden‹:41 Erstens die wilde als bedrohlicher, unzivilisierter, insgesamt anti-höfischer (Kontrast-)Raum, in dem höfische Figuren aufwachsen (z. B. Parzival) bzw. sich vorübergehend (Iwein; Artusritter auf Aventiure) oder dauerhaft (Trevrizent) aufhalten können; zweitens der Zustand der 37 Vgl. Georg Friedrich Benecke, Wilhelm Müller, Friedrich Zarncke, Mittelhochdeutsches Wörterbuch, 3 Bde. in 4 Teilbde., Leipzig 1854–1866, Bd. 3, 665 f.: »1. dem zahmen entgegengesetzt. […] 2. mehr ethisch: irre, unstät, untreu. […] 3. fremd, fremdartig; seltsam, wunderbar, unbegreiflich. […] 4. unangebaut, wüste.« Matthias Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, 3 Bde., Leipzig 1872–1878, Bd. 3, 884 f.: 1. »unangebaut, nicht von menschen gepflegt u. veredelt, wild wachsend (pflanzen u. dgl.), unbewohnt, wüst«; 2. »ungezähmt, wild, in der wilde wohnend, dämonisch«; 3. »irre, unstät, untreu, -wahr, sittenlos«; 4. »unbekannt, fremd, ungewohnt, fremdartig, entfremdet, wunderbar, seltsam, unheimlich«; 5. »wunderbar, unerklärlich; entfernt, abgewendet von«. Eine Synthese gibt Larissa Schuler-Lang, Wildes Erzählen – Erzählen vom Wilden. Parzival, Busant und Wolfdietrich D (Literatur – Theorie – Geschichte. Beiträge zu einer kulturwissenschaftlichen Mediävistik 7), Berlin 2014, 13 f.: 1. »dem Zahmen entgegengesetzt, ungezähmt, unangebaut, nicht vom Menschen gepflegt und veredelt, wild wachsend, in der wilde wohnend, unbewohnt, wüst;« 2. »fremd, fremdartig, unbekannt, ungewohnt, entfremdet;« 3. »seltsam, wunderbar, unbegreiflich, unerklärlich, unheimlich, dämonisch;« 4. »irre, unstet, untreu, unwahr, sittenlos.« 38 Lexer, Handwörterbuch, Bd. 3, 886. 39 Ibid., 885. Ebenso BMZ, Wörterbuch, Bd. 4, 667: »1. wildnis. […] 2. wildheit. […] 3. irres, unstätes, untreues wesen. […] 4. wunderbares, unbegreifliches wesen.« 40 Lexer, Handwörterbuch, Bd. 3, 893. Vgl. BMZ, Wörterbuch, Bd. 4, 667. 41 Vgl. Klaus Hufeland, »Das Motiv der Wildheit in mittelhochdeutscher Dichtung«, Zeitschrift für Deutsche Philologie 95 (1976), 1–19; Theodor Nolte, » ›Wilde und zam‹. Wildnis und Wildheit in der deutschen Literatur des Hochmittelalters«, in: Hans-Peter Ecker (Hg.), Methodisch reflektiertes Interpretieren. Festschrift für Hartmut Laufhütte zum 60. Geburtstag Passau 1997, 39–60; Schuler-Lang, Wildes Erzählen, 13–34.
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›Wildheit‹ (vgl. das Adjektiv wilde), insbesondere in seinen Facetten ›ungezähmt, wild‹, ›unbegreifbar, erstaunlich, unfassbar‹ und ›abwesend, entfernt‹. Das mhd. Substantiv (das) bilde zeigt ebenfalls ein weites Bedeutungsspektrum: 1. »Bild, Werk der bildenden Kunst«; 2. »Abbild, Ebenbild, Spiegelbild«; 3. »äußeres Ansehen, Gestalt, Person«; 4. »Gleichnis, Beispiel, Vorbild«; 5. »Vorstellung, Gedanke«.42 Das schwache Verb bilden meint: 1. »etw. mit Bildern, Mustern verzieren«; 2. »etw. / jmdn. bildlich darstellen, gestalten, schaffen, bilden«; 3. »etw. / jmdn. nachahmen, zum Vorbild nehmen, einem Beispiel folgen«; 4. »sich etw. vorstellen, jmdn. / etw. (in sich / etw.) einprägen«; 5. »sich verwandeln in etw., refl.«; 6. »sich bilden, entstehen, refl.«.43 Damit lassen sich bereits in der Lexik des Mittelhochdeutschen die vier verschiedenen Bildbegriffe unterscheiden, die das Historische Wörterbuch der Rhetorik verzeichnet: Als ›Bild‹ werden in Rhetorik und Poetik bezeichnet 1) kunstgeschichtlich und im eigentlichen Sinn: ursprünglich das dreidimensionale ›Gebilde‹ […]; 2) psychologisch: die innere Vorstellung im Sinne einer erinnerten oder erdachten Wahrnehmung; 3) ontologisch-typologisch: eine Person oder Sache, die eine andere Person oder Sache oder etwas Allgemeines als Präfiguration (z. B. Abraham Christus), Abbild (z. B. eine Sache eine Idee), Ebenbild (z. B. der Mensch Gott) oder Inbegriff (z. B. Cato die Tugend) verkörpert, vorprägt, nachahmt oder sonstwie stellvertretend repräsentiert; 4) sprachkünstlerisch: Verfahren (z. B. Metapher), die ein Bild im Sinne von 1, 2 und / oder 3 erzeugen oder enthalten.44
Im Kontext mittelalterlicher Literatur dürfte das bedeutendste sprachkünstlerische Verfahren zur Erzeugung der drei erstgenannten Bildformen (nicht die als Übertragung konzipierte45 Metapher, sonden) die Beschreibung (descriptio, Ekphrasis) sein. Damit ist bereits die zweite Ebene der (poetologischen) Reflexion erreicht. Sie soll hier im Hinblick auf die beiden Konzepte wilde und bilde konkretisiert werden. wilde und bilde besitzen beide eine ausgeprägte Affinität zur Poetik: das semantisch schillernde Adjektiv wilde bzw. das 42 Kurt Gärtner (Hg.), Mittelhochdeutsches Wörterbuch, Stuttgart 2011, Bd. 1, 799 f. Vgl. BMZ, Wörterbuch, Bd. 1, 120; Lexer, Handwörterbuch, Bd. 1, 273 f. 43 Gärtner, Mittelhochdeutsches Wörterbuch, Bd. 1, 802 f. 44 Bernhard Asmuth, »Bild, Bildlichkeit. A. Definition«, in: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, 12 Bde., Tübingen u. a. 1992–2015, Bd. 2, 10. 45 Vgl. Gert Hübner, »Überlegungen zur Historizität von Metapherntheorien«, in: Arthur Groos, Hans-Jochen Schiewer (Hgg.), Kulturen des Manuskriptzeitalters. Ergebnisse der Amerikanisch-Deutschen Arbeitstagung an der Georg-August-Universität Göttingen vom 17. bis 20. Oktober 2002 (Transatlantische Studien zu Mittelalter und Früher Neuzeit 1), Göttingen 2004, 111–153.
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Abstraktum wildekeit aufgrund seines Gebrauchs,46 gilt es doch als zentraler Begriff der (Erzähl-)Poetik von Autoren wie Wolfram von Eschenbach, Gottfried von Straßburg, Rudolf von Ems, Konrad von Würzburg und Johann von Würzburg;47 der Begriff bilde aufgrund der ›sprachkünstlerischen‹ Dimension seiner Bedeutung, die ihn zur Reflexion poetischer Prozesse – angefangen bei der Imagination über die imitatio bis zum Vergleichsbild – prädestiniert. Mithin verweist wilde stärker auf Faszinosa der erzählten Welt (›aventiure wilde‹), bilde eher auf die sprachliche ›Gestaltung‹ (vgl. auch lat. fingere). In beiden Konzepten spiegelt sich eine ganze Bandbreite möglicher poetologischer Reflexionen zwischen Phantasie und Figuration, auf die widerstreitenden Rezeptionsangebote Exem plarizität und Unfasslichkeit (vgl. Horaz’ aut prodesse aut delectare), auf selbstbezogene Ambivalenz hier und didaktische Einsinnigkeit dort, schließlich auf die semantische ›Fluidität‹ und die formale ›Plastizität‹ des literarischen Textes selbst.48 Diesem poetologischen Reflexionspotenzial war man, wie nicht zuletzt Heinrichs von Hesler einleitend zitierte Überlegungen zeigen, bereits im Mittelalter auf der Spur. Angesichts des auch ins Poetologische gesteigerten weiten Bedeutungspotenzials der beiden Wörter wilde und bilde bleibt allerdings umso mehr zu fragen, woran man einen semantisch signifikanten Reim überhaupt erkennt, zumal wenn man davon ausgeht, dass zwar vielleicht in lyrischen Texten jedes Wort wohlüberlegt gesetzt worden ist, aber bei einem epischen Text mit einer Länge von 20000 oder 40000 Versen nicht jedes Reimwort Ergebnis einer mehrstündigen Gedankenarbeit sein muss.49 46 Vgl. Wolfgang Monecke, Studien zur epischen Technik Konrads von Würzburg. Das Erzählprinzip der wildekeit, Stuttgart 1968, 1–33; Hufeland, »Wildheit«, 3 f.; Susanne Köbele, Christian Kiening, »Wilde Minne. Metapher und Erzählwelt in Wolframs Titurel«, Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 120 (1998), 234–265; Schuler-Lang, Wildes Erzählen, 16 f., 43–53. – Vom 18. bis zum 21. September 2016 widmete sich das Kolloquium der Wolfram von Eschenbach-Gesellschaft dem Thema »wildekeit. Spielräume literarischer obscuritas im Mittelalter«. 47 Die beiden letztgenannten verwenden sehr häufig den Reim wilde / bilde, die drei erstgenannten dagegen kaum. Daher lässt sich hier keine Erklärung ableiten: Wer wildekeit als poetologisches Prinzip schätzt (oder auch nur kennt), verwendet nicht notwendigerweise häufig den Reim wilde / bilde. 48 Einen ähnlichen Literaturbegriff hat Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1101), Frankfurt a. M. 1991. 49 Sondern vielmehr aus dem ›Vorratsschrank‹ stammt: Ein Verfahren, das nicht nur beim Pleier, sondern auch bei Konrad zu beobachten ist. Gleichwohl kann die ›Kunst‹ gerade dann darin bestehen, die einmal zurechtgefeilten Reime oder Verse an der richtigen Stelle zum Einsatz zu bringen und zu variieren, ohne dass die ›Lagerspuren‹ allzu sichtbar werden. Darin scheiden sich dann m. E. Konrad und der Pleier.
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Keinesfalls möchte ich behaupten, jeder Reim sei semantisch gleichermaßen signifikant; überhaupt enthält nicht jeder Reim zwangsläufig eine semantische Dimension. Ob ein Reim tatsächlich eine ausgeprägte Semantik entfaltet, kann nur am Einzelfall überprüft werden. Dieser Überprüfung schließt sich die Frage an, ob die erarbeiteten Semantiken des Reims wilde / bilde den Textmodi zugeordnet werden können, die in den Textsegmenten, die den jeweiligen Reim enthalten, dominant sind. Bevor die Ergebnisse dieser doppelten Aufgabe vorgestellt werden, sind die relevanten Textmodi zu skizzieren. III. Die theoretische Überlegung, Reimwörter als Verbindung äquivalenter Bedeutungen wahrzunehmen, bildet den Ausgangspunkt der eigentlichen Untersuchung. Deren Ziel ist die Zuordnung von Reimsemantiken zu unterschiedlichen Textmodi. ›Textmodus‹ meint die dominante Präsentationsweise eines Textes, wobei aus narratologischer Perspektive zwei maßgebliche Textmodi unterschieden werden: Narration und Deskription.50 Bei den hier untersuchten Texten handelt es sich um Erzählungen, d. h. um Texte, die vorrangig narrative Modi verwenden. Die strukturalistische Narratologie im Anschluss an Genette definiert die Narration als Dynamisierung von mindestens zwei, zeitlich unterschiedenen statischen Zuständen: »Die Minimalbedingung der Narrativität ist, dass mindestens eine Veränderung eines Zustands in einem gegebenen zeitlichen Moment dargestellt wird.«51 Unter »Zustand« werden die ›statischen‹ Eigenschaften von Figuren und Elementen der erzählten Welt verstanden.52 Deskription ist das Verfahren, das Zustände, Situationen und das »setting« herstellt.53 50 Den Begriff »Textmodus« verwende ich im Anschluss an Wolf Schmid, Elemente der Narratologie, 3. Aufl., Berlin / Boston 2014, 6, der narrative und deskriptive Textmodi unterscheidet. Zur Dominanz eines Modus als Unterscheidungskriterium von Texttypen siehe ibid.: »Bei den meisten Texten wird man bestenfalls von einer Dominanz eines der beiden Modi sprechen können. Die Zuweisung dieser Dominanz ist natürlich interpretationsabhängig.« Weitere, gerade für das Mittelalter wichtige Textmodi sind z. B. Predigt und Brief. 51 Schmid, Elemente, 3. Damit ist impliziert, dass (etwa kausale oder finale) Motivierung kein notwendiges Merkmal von Erzählungen ist. 52 Ibid.: »Ein Zustand (oder eine Situation) soll verstanden werden als eine Menge von Eigenschaften, die sich auf eine Figur oder die Welt in einer bestimmten Zeit der erzählten Geschichte beziehen.« 53 Ibid., 6: »Deskriptive Texte repräsentieren statische Situationen, beschreiben Zustände, zeichnen Bilder oder Porträts, stellen soziale Milieus dar oder typologisieren natürliche wie soziale Phänomene.«
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Dynamische Zustandsveränderungen und statische Elemente bilden gemeinsam die Geschichte.54 Demnach verwendet die Präsentation einer Geschichte »[…] narrative und deskriptive Textmodi«55 zugleich. Zusätzlich zu narrativen und deskriptiven können Texte auch weitere Modi aufweisen. Als relevant für das zugrundeliegende Korpus erscheinen mir didaktische Textmodi, d. h. belehrende Präsentationsweisen.56 Didaktische Textmodi sind zentral für das »Literaturverständnis«57 des Mittelalters und begegnen in mittelalterlichen literarischen Texten oft in Prologen, Epilogen und Exkursen.58 Ein klassisches Beispiel bietet der Prolog von Hartmanns Iwein: Swer an rehte güete wendet sîn gemüete, dem volget Saelde und êre. des gît gewisse lêre künec Artûs der guote, der mit rîters muote nâch lobe kunde strîten.59
Der Appell, aus der nachfolgenden Erzählung von König Artus etwas zu lernen, wird von Hartmann zwar nur impliziert, ist aber dennoch nicht zu überhören. Mit der vorbildlichen, ›Lehre‹ gebenden Figur des König Artus ist zugleich die neben dem Dialog wohl wichtigste Form des Lernens im Mittelalters, das Lernen durch Nachahmung, angesprochen.60 Neben den drei genannten Textmodi ist noch eine weitere Präsentationsform einzubeziehen, die freilich kein eigenständiger Textmodus ist, sondern eine übergeordnete Realisierungsmöglichkeit aller Textmodi dar54 Ibid. 55 Ibid. 56 Was ich als ›didaktischen Textmodus‹ bezeichne, nennt die Forschung auch ›lehrhaftes Sprechen‹ oder, im Hinblick auf die Textfunktion, ›Belehrung‹. Vgl. zum ersten Begriff Henrike Lähnemann, Sandra Linden, »Was ist lehrhaftes Sprechen? Einleitung«, in: dies. (Hgg.), Dichtung und Didaxe. Lehrhaftes Sprechen in der deutschen Literatur des Mittelalters, Berlin / New York 2009, 1–10; zum zweiten Bernhard F. Scholz, »Belehrung«, in: Weimar u. a. (Hgg.), Reallexikon, Bd. 1, 211–215. 57 Christoph Huber, »Lehrdichtung. B. II. Mittelalter«, in: Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 5, 107–112, 107. 58 Vgl. Lähnemann, Linden, »Lehrhaftes Sprechen«. 59 Hartmann, Iwein, v. 1–7. 60 Vgl. Horst Wenzel, Hören und Sehen. Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995, 25–37.
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stellt: die Metaisierung.61 Damit sind hier Textsegmente gemeint, die reflektierend ›über‹ einen bestimmten Textmodus sprechen. Möglich sind solche ›Metaaussagen‹ immer (bekannt ist vor allem die Metanarration), relevant im Folgenden nur die ›Metadeskription‹. Während der Reim wilde / bilde, wenn er in einem ›metadeskriptiven‹ Textsegment vorkommt, bereits grundsätzlich eine reflexive Funktion erhält, weil er in die den Textmodus reflektierende Metaaussage einbezogen wird, hat er in von den anderen Textmodi dominierten Segmenten in der Regel, aber nicht immer eine illustrierende Funktion. Um noch einmal auf das oben zitierte Beispiel von Meliurs ›wilden Gaukelbildern‹ zurückzukommen: Der semantische Kontrast des Reims wilde / bilde illustriert an dieser Stelle zum einen die ›bannende‹ Darstellung ›wilder‹ Tiere ins ›simulative Bild‹ und reflektiert zum anderen den ›wunderbar-wilden‹ oder ›dämonischen‹ Status von Meliurs Illusionen. IV. Das eingangs genannte Korpus bietet eine Fülle an Belegen für den Reim wilde / bilde, die allerdings, wie gesagt, nicht alle eine semantische Äquivalenz der Reimwörter aufweisen. Solche Fälle, in denen keine erkennbare semantische Äquivalenz zwischen den Reimwörtern besteht,62 werden folglich ausgeschlossen. Außerdem beschränke ich mich bei den Fällen, für die eine semantische Äquivalenz geltend gemacht werden kann, prinzipiell auf den semantischen Kontrast der Reimwörter wilde und bilde. Fälle, in denen semantische Ähnlichkeit dominiert, etwa wenn statt bilde ein unbilde (ein ›Wunder‹, etwas ›Maßloses, Unbegreifliches‹) auf wilde reimt, werden dagegen nicht analysiert. Unter diesen Voraussetzungen werden die Zusammenhänge von Reimsemantik und Textmodus im Folgenden aufgeschlüsselt. Bei narrativen Textmodi steht meist eine Figur im Zentrum, die von einer Zustandsveränderung (z. B. einen Ortswechsel: ›in die Wildnis‹) betroffen ist. Didaktische Textmodi enthalten den Reim mit einem deutlichen 61 Theoretisch grundlegend ist Werner Wolf, »Metaisierung als transgenerisches und transmediales Phänomen. Ein Systematisierungsversuch metareferentieller Formen und Begriffe in Literatur und anderen Medien«, in: Janine Hauthal u. a. (Hgg.), Metaisierung in Literatur und anderen Medien. Theoretische Grundlagen, historische Perspektiven, Metagattungen, Funktionen (spectrum Literaturwissenschaft. Komparatistische Studien 12), Berlin / New York 2007, 25–64. 62 Dies wird in der Regel verursacht durch Reimbrechung oder wenn wilde Bestandteil eines Eigennamens ist.
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Übergewicht auf dem bilde-Bestandteil, der in den meisten Fällen als ›Beispiel‹ oder ›Vorbild‹ zu deuten ist. In Deskriptionen kommt vor allem die auseinanderstrebende Semantik der beiden Reimwörter wilde und bilde zur Geltung; immer wird der bilde-Bestandteil, sei er Figur oder Gegenstand der erzählten Welt, durch wilde näher bestimmt.63 1. Narration: Illustration raum- und figurbezogener Zustandsänderungen Drei Narrative werden häufiger vom Reim wilde / bilde illustriert: die Bewegung einer Figur im Raum, die Verhaltensänderung einer Figur oder das Verborgenwerden einer Figur vor der Wahrnehmung anderer Figuren. Erstens kann der Reim wilde / bilde im narrativen Dienst der räumlichen Ver- oder Entortung einer Figur stehen. Dies ist dort der Fall, wo das Substantiv wilde einen literarischen Raum bezeichnet, in den eine als bilde bezeichnete Figur ein- oder ausgeht.64 Gemäß der Kontrastregel gehört das bilde – meist eine (schöne) menschliche Gestalt – dort nicht hin. Auf einer ersten Ebene illustriert der Reim das handlungsauslösende Motiv eines semantischen Kontrasts von Raum und Figur. Z. B. berichtet der Hirte in Konrads Trojanischem Krieg, nachdem er den nach einem Orakelspruch ausgesetzten Paris gefunden, aufgenommen und großgezogen hat, vom Fund des Kindes ›in der Wildnis‹: nein herre, ich vant in, samir got, in einem walde wilde und hân sîn kürlich bilde von einem cleinen kinde ernert.65
Die wahrgenommene Diskrepanz zwischen der ›erwählten Gestalt‹ (bilde) des Kindes und dem ›bedrohlich-wilden‹ Fundort motiviert den Hirten 63 Zur Zuordnung der Belege zu einzelnen Reimsemantiken und Textmodi: In der Regel wird im Folgenden ein aussagekräftiges Beispiel zitiert und beschrieben, das einen Typus repräsentiert. Weitere Belege für diesen Typus werden in derjenigen Anmerkung, die das Beispiel nachweist, genannt. 64 Bewegung bzw. Dynamik unterscheidet den Raum vom Ort. Vgl. Michel de Certeau, »Praktiken im Raum [Auszug]«, in: Jörg Dünne, Stephan Günzel (Hgg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1800), Frankfurt a. M. 2006, 343–352. 65 Konrad, Trojanischer Krieg, v. 4876–4879. – Konrad, Partonopier, v. 507 f., 10429 f., 10597 f.; Konrad, Trojanischer Krieg, v. 559 f., 13453 f., 13787 f.; Reinfried von Braunschweig, v. 27569 f.; Johann, Wilhelm von Österreich, v. 4703 f., 19069 f.
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dazu, das kleine Kind aus dem Wald zu retten (ernern), und der Reim wilde / bilde illustriert diese Motivierung. Die illustrative Funktion des räumlich semantisierten Reims kann über die Ebene des Einzelmotivs auch hinausgehen und eine zur Geschichte verknüpfte Reihe von Motiven betreffen.66 Die entsprechenden Belege im zugrundeliegenden Korpus schreiben dem Reim nämlich bereits die Richtung der Bewegung ein, in der die Raum-Geschichte der Figur verlaufen wird: Steht wilde vor bilde, enthält das Narrativ regelmäßig eine Verortung (in die ›Wildnis‹),67 im umgekehrten Fall regelmäßig eine Entortung (aus der ›Wildnis‹) der Figur.68 Im Paris-Beispiel ist im Reim bereits die Geschichte des jungen Paris eingefaltet, der von dem Hirten zwar aus dem walde wilde gerettet wird, aber im kaum weniger anti-höfischen Raum der wilde des Hirten aufwächst. Der nächste Teil (V.) wird entsprechend zeigen, dass der Weg des herangewachsenen Paris aus der ›unzivilisierten‹ Hirtenwelt heraus über den Reim bilde / wilde führt. Zweitens kann der Reim wilde / bilde für ein Narrativ der ›Zähmung‹ illustrierend herangezogen werden. ›Zähmung‹ meint eine figurenbezogene narrative Zustandsänderung, genauer die Verhaltensänderung einer Figur. Das Reimwort bilde repräsentiert in solchen Fällen den ›zähmenden‹ Einfluss auf eine als wilde charakterisierte Figur, der in der Regel von einer anderen Figur ausgeübt wird. Eine solche ›bildende Zähmung‹ kann sich über längere Erzählsequenzen erstrecken (siehe V.). Deidamies ›anmutiger Gestalt‹ etwa zähmt nicht nur einmal Konrads Achill: dô si kam êrst gegangen und ir sîn ouge wart gewar, dô blicte er dar und aber dar an ir liutsælic bilde, unz sîn gemüete wilde wart von ir clârheite zam.69
Auch der ›verwilderte‹, von einem ›unhöfischen‹ Hirten aufgezogene Paris erfährt im Trojanischen Krieg eine vergleichbare ›Entwildung‹ durch 66 Vgl. zum narratologischen Begriff der Motivation, die, wie oben Anm. 51 gesagt, keine notwendige Bedingung von Narrativität ist, die (in dieser Hinsicht abweichende) Definition bei Matias Martinez, Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, 7. Aufl., München 1999, 111–119. 67 Konrad, Partonopier, v. 507 f., 10429 f., 10597 f.; Konrad, Trojanischer Krieg, v. 4877 f., 13787 f.; Reinfried von Braunschweig, v. 27569 f.; Johann, Wilhelm von Österreich, v. 4703 f., 19069 f. 68 Konrad, Trojanischer Krieg, v. 559 f., 13453 f. 69 Konrad, Trojanischer Krieg, v. 14666–14671. – Albrecht, Jüngerer Titurel, v. 1789,3 f.; Reinfried von Braunschweig, v. 1155 f., 2129 f.
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Venus.70 Dass dabei jeweils ein ›bildender‹ Einfluss auf die ›wilde‹ Figur ausgeübt wird, die derart ›gebildet‹ wird, lässt sich wiederum auch an der Reihenfolge der Reimwörter ablesen: bilde steht immer vor wilde.71 So illustriert der Reim nicht nur die Geschichte, sondern überträgt seine formgestaltende Wirkung auf die Erzählung selbst. Eine Variante der ›Zähmung‹ besteht darin, dass eine spezifische ›Gestalthaftigkeit‹ (bilde) ein- oder zurückkehrt in eine amorphe oder andersgestaltete ›Wildheit‹ (Subst. wilde), wenn sich z. B. das wunderbare Tier aus dem Wigalois Wirnts von Grafenberg von sîner wilde / in eines mannes bilde verwandelt.72 Beim Gegenteil der ›Zähmung‹, der ›Verwilderung‹, bezeichnet das Reimwort wilde die Veränderung einer als bilde benannten Figur. Diese Variante finde ich nur in Konrads Partonopier. Der Held, durch den Tabubruch von der geliebten Meliur verlassen, zieht sich vor Kummer ein Jahr lang in eine Kammer und damit auch von Familie und Gesellschaft zurück. Er simuliert also Iwein: In alsô grimmer swære der süeze unwandelbære vertreip dô volleclîche ein jâr. den bart, die negel und daz hâr liez er niht abe schrôten. bleich als die gelwen tôten wart sîn durliuhtic bilde. er tete alsam er wilde gienge in eime vorste.73
Die Erzählung davon, wie Partonopier sein Äußeres (bilde) verwildern lässt, kulminiert in der Feststellung, er verhalte sich, ›als ob er zum Waldmenschen würde‹. Der Reim illustriert über die Reimbrechung hinweg die bereits gerafft erzählte Zustandsänderung in nochmals zugespitzter Verkürzung: Partonopiers bilde wird wilde (hier: ›irre, verwildert‹). Trojanischer Krieg, v. 3121 f. neben den genannten Beispielen noch Reinfried von Braunschweig,
70 Konrad, 71 Vgl.
v. 2129 f. 72 Wirnt, Wigalois, v. 4627 f. – Vgl. außerdem Ulrich von Eschenbach, Alexander, v. 15137 f., wo eine gestaltlose Wildnis durch Alexanders Wahrnehmung aller tiere bilde, / als ir got hât erdâht (v. 15138 f.), in eine erkennbare, Gottes Gestaltungsmacht unterworfene Welt transformiert wird. Hier betrifft die Zustandsänderung nicht eine Figur, sondern die erzählte Welt. 73 Konrad, Partonopier, v. 9697–9705. Siehe auch Konrad, Partonopier, v. 15005 f. – Es findet sich auch die invertierte Variante der ›Verwilderung‹, eine Art der ›ÜberGestaltung‹, die jede andere Gestaltung überwildet: Hartmann, Erec, v. 6164 f.; Konrad, Partonopier, v. 12503 f.
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Drittens kann der Reim die Erzählung davon, wie eine Figur (bilde) vor den Augen oder dem Zugriff anderer Figuren ›verborgen‹ (wilde) wird, illustrieren. Dieser narrative Typ lässt sich in drei Unterarten einteilen, je nachdem, ob die Gestalt zum Zeitpunkt des Erzählens verborgen wird / ist, verborgen wurde / war oder verborgen werden / sein wird. Alle drei Formen kommen in Konrads Trojanischem Krieg vor, der deshalb als Beispiel dient. Calcas soll den vor Troja kämpfenden Griechen den versteckten Achill offenbaren: er solte in machen offen sîn tougenlichez bilde, daz seltsæn unde wilde den Kriechen allen wære dô.74
Discordias Zauberring verfügt über die Kraft, eine menschliche Gestalt unsichtbar zu machen: von sîner krefte alsô verdaht wart ir menschlich bilde, daz ir figûre wilde wart in allen ûf dem plân.75
Medea gibt Jason einen Ring, der unsichtbar macht: und als ir wellenz, daz iuch spehen kein mensche künne ûf erden, sô lânz gekêret werden den liehten stein in iuwer hant; wan swenne er ist dar în gewant, sô wirt sô rehte wilde den liuten iuwer bilde, daz iuch kein ouge merket.76
Erneut wirkt die paradigmatische Formel des Reims prägnanter als das zuweilen umständliche Syntagma, das etwa für die Erzählung von Discordias Unsichtbarkeit jeweils zwei synonyme Ausdrücke verwendet (verdaht und wilde für ›verborgen‹ sowie bilde und figûre für ›Gestalt‹); stattdessen könnte man auch sagen: ihr bilde wurde wilde. 74 Konrad, Trojanischer Krieg, v. 27162–27165. – Wolfram, Parzival, v. 238,17 f.; Heinrich von dem Türlin, Die Krone, v. 29923 f.; Konrad, Partonopier, v. 7747 f.; Ulrich von Eschenbach, Alexander, v. 24241 f. 75 Konrad, Trojanischer Krieg, v. 1306–1309. – Albrecht, Jüngerer Titurel, v. 4468,3 f.; Konrad, Partonopier, v. 14949 f. – Nicht von einer Figur, sondern vom Gral ist hier die Rede: Albrecht, Jüngerer Titurel, v. 1789,3 f. 76 Konrad, Trojanischer Krieg, v. 9210–9217. – Konrad, Partonopier, v. 2017 f., Konrad, Trojanischer Krieg, v. 3405 f., 29121 f.
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Man könnte also argumentieren, dass der Reim in solchen Fällen die erzählte Handlung nicht nur pointiert illustriert, sondern dass die Handlung auch in den Reim eingefaltet ist. Mitunter kann der Reim das narrativ Ausgesagte dann konterkarieren, z. B. wenn Dietrich in Konrads Engelhard den Entschluss fasst, zu seinem Freund zu reisen, weil er daran denkt, der eponyme Protagonist lâze erbarmen sich / daz mir gelückes bilde / sô gar ist worden wilde.77 Hier ist dem Reim eine allgemeingültige, grundsätzliche Problemreflexion78 eingelagert, die den Wortlaut des umgebenden Textes, in den der Reim selbst eingebettet ist, relativiert. Diese Reflexion tritt hervor, wenn man die weitere Handlung des Engelhard berücksichtigt: Engelhard wird Dietrich von seinem Unglück, dem Aussatz, befreien. Just in dem Moment, als mit dem Adjektiv wilde die Abwesenheit des Glücks konstatiert wird, beginnt sich die ›Gestalt‹ (bilde) des Glücks selbst zu wandeln. Dem Reim kann also an dieser Stelle, an der Dietrich seines ›abwesenden‹ Glücks gedenkt, zugestanden werden, auch darüber Auskunft zu geben, dass das Glück nicht immer wilde (›abwesend‹) sein kann, weil es immer wilde (›unstet‹) ist.
2. Didaxe: Vorbild, Beispiel Das erste Beispiel dafür, wie die vom bilde in der Bedeutung ›Vorbild‹ oder ›Beispiel‹ dominierte Semantik des Reims wilde / bilde die Aussage eines didaktischen Textsegments reflektiert, ist bereits einleitend besprochen worden. Das bilde spiegelte in Heslers Apokalypse-Prolog den lehrhaften Charakter seiner ›Reimpoetik‹, die gegen eine ›Verwilderung‹ des Reims angetreten war. Eine vergleichbare Reflexion des Exemplarischen, Musterhaften kann auch stattfinden, wenn wilde das positiv verstandene Attribut einer ›unerhörten, unbekannten, neu- oder fremdartigen‹, auf jeden Fall reizvollen Geschichte bildet. Auch hier spiegelt bilde einen im Prolog formulierten lehrhaften Anspruch eines Textes, allerdings nicht als produktionsästhetischen, sondern als wirkungsästhetischen Appell an die Rezipienten. Konrad von Würzburg vertitt diesen Typ, indem er die Anweisung zur exemplarischen Rezeption im bilde nemen und in der ebenfalls autorspezifischen79 aventiure wilde konzentriert, so im Trojanischen Krieg:
Engelhard, v. 5641 f. dazu auch Jackson, »Typus und Poetik«, 256–263. 79 Vgl. Monecke, Wildekeit, 12–21. 77 Konrad, 78 Vgl.
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sô wirt ein wunder hie vernomen von âventiuren wilde, dâ bî man saelic bilde und edel bîschaft nemen sol.80
und im Engelhard: sô wirt im [dem, der etwas von triuwe hören will, J. S.] von mir ûf getân ein âventiure wilde dran er vil sælic bilde ze triuwen schiere funden hât.81
Nicht immer muss die exemplarische Reimsemantik eine von ihrer prominenten Position am Textanfang nahegelegte reflexive Funktion ausüben. Sie kann auch, gerade wenn sie Teil ›didaktischer Zwischenspiele‹ der Geschichte ist, das Exemplarische illustrieren. In der ersten Variante meint bilde dann das Beispiel oder Vorbild, das etwas ›Wildes‹ gibt, wobei die Exemplarizität in der Figurenrede herausgestellt wird, z. B. angesichts des drachenbekämpfenden Löwen aus Hartmanns Iwein: nû gît mir doch des bilde / dirre leu wilde.82 Bei der zweiten Variante zielt die Orientierung an einem (guten oder schlechten) Beispiel bzw. Vorbild darauf ab, sich von untugendhaftem Verhalten ›abzuwenden‹ (wilde zu werden). In Heinrichs von dem Türlin Krone etwa weist Keye während der Becherprobe mithilfe des illustrierenden Reims wilde / bilde auf seinen eigenen Status als nützliches Negativexempel hin: Swer mich so vntivret, Der nem bei mir bilde Vnd werd der schanden wilde Vnd zieh sich nah dem besten lobe.83
Man mag am Erfolg dieser Offenlegung zweifeln, weil sie zugleich die Ausrede mitliefert, um unhöfisches Verhalten wie Spötterei zu rechtfertigen, indem man sich selbst kurzerhand zum schlechten Beispiel erklärt. Mit dem Reim gesprochen: Das exemplarische bilde droht selbst wilde zu werden.
Trojanischer Krieg, v. 282–285. Engelhard, v. 204–207. – Vgl. auch Konrad von Würzburg, Herzmaere, in: ders., Heinrich von Kempten. Der Welt Lohn. Das Herzmaere, hg. u. übers. Heinz Rölleke (Reclams Universal-Bibliothek 2855), 66–99, v. 3 f. 82 Hartmann, Iwein, v. 4001 f. – Rudolf, Alexander, v. 14997 f. 83 Heinrich von dem Türlin, Die Krone, v. 2772–2775. – Albrecht, Jüngerer Titurel, v. 1881,3 f.; Ulrich von Eschenbach, Wilhelm von Wenden, v. 675 f. 80 Konrad, 81 Konrad,
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3. Beschreibende Passagen: Vergleich und Ekphrasis Die Beschreibung ist ein auch in narrativen Texten notwendiges Verfahren, mit dem Figuren oder Elementen der erzählten Welt Zustände zugeschrieben, Situationen etabliert oder ›settings‹ entworfen werden. Weil deskriptive Textmodi wie erwähnt mit dem ›sprachkünstlerischen‹ Bildbegriff korrelliert werden können, eignen sie sich besonders gut dazu, um, abseits der Narration, die ›Sprachkunst‹ selbst zu reflektieren. Dieses hohe reflexive Potenzial kommt in manchen der teils sehr ausführlichen Beschreibungen mittelalterlicher Texte zur Geltung.84 Vor diesem Hintergrund wird auch der Reim wilde / bilde für die Reflexion von ›bildlichem‹ Beschreibungsmodus und ›wildem‹ Beschreibungsobjekt verwendet. Reflexion entsteht dadurch, dass der Reim die semiotische Differenz zwischen signifizierendem Bild (signum) und signifiziertem Gegenstand (res) in den semantischen Kontrast von bilde und wilde übersetzt.85 Diese implizite intermediale Reflexion der Differenz, die bei der Abbildung entsteht, erfährt durch den Reim eine Potenzierung; denn die semantische Äquivalenz der Reimwörter, die die semiotische Äquivalenz von Bild und ›wildem‹ Gegenstand reflektiert, spiegelt sich wiederum in der klanglichen Äquivalenz der Reimwörter. Signifizierende Unähnlichkeit bei signifizierter Ähnlichkeit (Bild / Gegenstand) trifft also in einem medienübergreifenden Chiasmus auf signifizierende Ähnlichkeit bei signifizierter Unähnlichkeit (wilde / bilde). Im vorliegenden Korpus sind dabei solche Fälle maßgeblich, in denen erstens menschliche Figuren (bilde) als ›einem Menschen unähnlich‹ (Adj. 84 Die mediävistische Forschung hat das reflexive Potenzial von Beschreibungen umfassend erforscht. Aus der entsprechend umfangreichen Forschungsliteratur seien erwähnt: Haiko Wandhoff, Ekphrasis. Kunstbeschreibungen und virtuelle Räume in der Literatur des Mittelalters (Trends in Medieval Philology 3), Berlin / New York 2003; Susanne Bürkle, » ›Kunst‹-Reflexion aus dem Geiste der descriptio. Enites Pferd und der Diskurs artistischer Meisterschaft«, in: Manuel Braun, Christopher Young (Hgg.), Das fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters (Trends in Medieval Philology 12), Berlin / New York 2007, 143–170; Joachim Hamm, »Meister Umbrîz. Zu Beschreibungskunst und Selbstreflexion in Hartmanns Erec«, in: Dorothea Klein (Hg.), Vom Verstehen deutscher Texte des Mittelalters aus der europäischen Kultur. Hommage à Elisabeth Schmid (Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie 35), Würzburg 2011, 191–218. 85 Diese Differenz wird in der mittelhochdeutschen Literatur auch auf andere Weise ausgedrückt, z. B. durch die (häufig begegnende) direkte, auf ein ›totes‹ Artefakt oder dessen Abbildung bezogene Aussage alsam er lebete (›als ob er leben würde‹). Vgl. dazu Christoph Fasbender, »reht alsam er lebte. Nachbildung als Überbietung der Natur in der Epik des Mittelalters. Anmerkungen zu Texten und zu interpretatorischen Konsequenzen«, in: Alan Robertshaw, Gerhard Wolf (Hgg.), Natur und Kultur in der deutschen Literatur des Mittelalters. Colloquium Exeter 1997, Tübingen 1999, 53–64.
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wilde) charakterisiert und zweitens nicht-menschliche Bilder ›des Wilden‹ als Elemente der erzählten Welt beschrieben werden. Für die erste Variante kann die beschreibende Figurencharakterisierung auch als rhetorische Vergleichsfigur der imago gefasst werden: »Ein Bild ist die vergleichende Gegenüberstellung einer Gestalt mit einer anderen, wobei eine gewisse Ähnlichkeit gegeben ist.«86 Dann hat der bilde- Bestandteil des Reims eine doppelte Bedeutung, weil er einerseits die menschliche Figur bzw. das Menschliche überhaupt bezeichnet und andererseits den im Reim nach Art einer mise en abyme zur Reflexion gebrachten Vergleich mit etwas ›Wildem‹. Oft ist dieses ›Wilde‹ ein ›ungezähmtes Tier‹, noch öfter ein abstrakt-transzendentes ›Wunder‹, fast immer also ›nicht menschlich‹. In Hartmanns Iwein begegnet Kalogrenant einer derart beschriebenen Figur, dem Waldmenschen: sîn menneschlîch bilde was anders harte wilde: er was einem Môre gelîch, michel unde als eislîch daz ez niemen wol geloubet.87
Dessen zwar ›menschlich‹ genannte Gestalt hat, wie auch der weitere Kontext zeigt, kaum etwas Menschliches an sich. Noch deutlicher sagt es Wolfram im Parzival über den sprechend benannten Malcreatiure: im stuont ouch ietweder zan / als einem eber wilde, / unglîch menschen bilde.88 An die Stelle eines Tieres kann als Vergleichsglied auch das transzendente wunder wilde treten, das oft im Reim die außergewöhnliche Schönheit eines Menschen-bilde betont: sô laege an sîme bilde / von schoene ein wunder wilde.89 Es findet sich auch die Inversion dieser Art der Beschreibung, dass nämlich eine ›wilde‹ Figur mit einem ›Menschenbild‹ verglichen wird, z. B. in Pleiers Garel: Dise frawen wilde / Warn die schoensten pilde.90 Fällt 86 Rhetorica ad Herennium, hg. u. übers. Theodor Nüßlein, Zürich 1994, 300 f. (Imago est formae cum forma cum quadam similitudine conlatio.). 87 Hartmann, Iwein, v. 425–429. 88 Wolfram, Parzival, v. 517,23 f. – Hartmann, Iwein, v. 425 f.; Konrad, Partonopier, v. 17695 f.; Konrad, Trojanischer Krieg, v. 3925 f., 21477 f., 39417 f.; Reinfried von Braunschweig, v. 19850 f. 89 Konrad, Partonopier, v. 17285 f. – Konrad, Partonopier, v. 1091 f.; Konrad, Trojanischer Krieg, v. 869 f., 3741 f., 14337 f., 20701 f., 21131 f., 23075 f., 29507 f., 37671 f.; Reinfried von Braunschweig, v. 13231 f., 21158 f., 21256 f., 21486 f., 21661 f.; Johann, Wilhelm von Österreich, v. 13685 f. – Variante: Konrad, Trojanischer Krieg, v. 40239 f. 90 Pleier, Garel, v. 6762 f. – Konrad, Partonopier, v. 1273 f.; Konrad, Trojanischer Krieg, v. 713 f.
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dagegen der Mensch aus der Gleichung raus, geht zugleich der semantische Kontrast der Reimwörter verloren; der im Reim in konzentrierter Form illustrierte Vergleich zerfällt zur Tautologie.91 Auch die vergleichende Gegenüberstellung der Abstrakta fremdes bilde und figûre wilde (in Konrads Trojanischem Krieg anlässlich der Beschreibung des Kentauren Schyron) bleibt ohne Kontrast semantisch blass.92 Eine zum Abschluss erwähnenswerte, nur in der Krone belegte Abwandlung liefert die Beschreibung der ›Gestalt eines Weges‹, die in der wilde nicht zu finden ist: Gawein reitet in die unwegsame Gegend eines Gebirges, daz was wilde, / dâ niendert weges bilde / an was noch enschein.93 Bei der zweiten Variante ist die mediale Differenz zwischen beschrie benem Abbild und Referenzobjekt selbst wichtiger als die konkrete (im)materielle Beschaffenheit des Bildträgers. Die reflexive Funktion des Reims wilde / bilde begegnet zwar besonders häufig dann, wenn ein materialer Träger beschrieben wird, der Bilder von im Regelfall ›wilden‹ Tieren zeigt. In diesem Fall kommt oft die Formel zam unde wilde zum Einsatz, z. B. beim Pokal aus Konrad Flecks Flore und Blanscheflur: in machete Vulcân, ein smit, mit grôzem flîze, und hâte ân itewîze manic schœne bilde beidiu zam und wilde dar an mit listen erhaben.94
Aber auch bei der Beschreibung immaterieller ›Gaukelbilder‹, die wie beim bereits mehrfach genannten Meliur-Beispiel Abbildungen des ›Wilden‹ sind, kann sich die reflexive Funktion des Reims geltend machen.95 Ebenso immateriell wie selten sind ferner innere (Vorstellungs-)Bilder, 91 Ausgesprochen erscheint diese Bedingung cum grano salis bei Heinrich von dem Türlin, Die Krone, v. 3566 f. – Siehe auch Albrecht, Jüngerer Titurel, v. 2787,3 f.; Konrad, Partonopier, v. 2101 f. 92 Konrad, Trojanischer Krieg, v. 5851 f. 93 Heinrich von dem Türlin, Die Krone, v. 7966 f. – Heinrich von dem Türlin, Die Krone, v. 26219 f. 94 Konrad Fleck, Flore, v. 1580–1585. – Ulrich von Zatzikhoven, Lanzelet, v. 4819 f.; Konrad Fleck, Flore, v. 1967 f.; Heinrich von dem Türlin, Die Krone, v. 29984 f.; Albrecht, Jüngerer Titurel, v. 4028,1 f.; Konrad, Partonopier, v. 5181 f.; Konrad, Trojanischer Krieg, v. 12555 f., 20097 f., 32723 f.; Johann, Wilhelm von Österreich, v. 4939 f., 15549 f. 95 Konrad, Partonopier, v. 8109 f. – Weitere Varianten: Albrecht, Jüngerer Titurel, v. 436,3 f.; Konrad, Trojanischer Krieg, v. 17651 f.; Johann, Wilhelm von Österreich, v. 4305 f.
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deren Differenz zum vorgestellten Gegenstand der Reim wilde / bilde ebenfalls reflektieren kann. Weil der einzige Text, der eine signifikante Zahl an Beispielen für desen Typ bietet, Johanns von Würzburg Wilhelm von Österreich,96 ein ganzes Narrativ aus und um ein inneres Bild entfaltet, verzichte ich hier auf eine Auflistung der Belege, die im nächsten Teil (V.) ausführlich besprochen werden. Die allgemein intermediale Reflexion kann schließlich zur ›poietischen‹ oder materialen Reflexion konkretisiert werden, wenn ein bilde etwa als Resultat eines ›wilden‹ Schaffensprozesses beschrieben oder die ›unerhörte‹ Kostbarkeit der Ausgangsmaterialien betont wird; dann findet sich z. B. von wæher künste wilde / Venus der minne bilde97 oder von rîcher koste wilde / ein meisterlîchez bilde.98 4. Metadeskription: Unsagbarkeit Verweigert die Erzählinstanz eine Beschreibung, rechtfertigt sie sich oft mit dem Unsagbarkeitstopos.99 Einige Belege aus dem vorliegenden Korpus variieren Unsagbarkeit durch die metadeskriptive Behauptung, es sei keine bildhafte Beschreibung zu geben. Die Beschreibungskompetenz selbst wird, im Reim wirksam kontrastiert mit einem von der Erzählin stanz visuell wahrgenommenen oder auch nur gewussten ›Gebilde‹ (bilde), als ›abwesend‹ (wilde) bezeichnet. Daraus folge die Unmöglichkeit, das Gesehene bzw. Gewusste zu beschreiben, sei es auch, wie im folgenden Beispiel aus Albrechts Jüngerem Titurel, mit einer nachgeschobenen Relativierung (hier: Zeitnot): ob ich nu wolde kunden, wie riche was daz bilde, so muest ich gar enzunden alsulche kunst, di mir noch ist vil wilde. ich kan iz allz mit rede nicht ermezzen, wan ich han lebnder bilde zu loben vil. des muoz ich hie vergezzen.100
vgl. jedoch Reinfried von Braunschweig, v. 1155 f. von Braunschweig, v. 17081 f. – Reinfried von Braunschweig, v. 24246 f.; Ulrich von Eschenbach, Alexander, v. 13373 f. 98 Reinfried von Braunschweig, v. 17115 f. – Reinfried von Braunschweig, v. 25054 f. 99 Vgl. Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 5. Aufl., Bern / München 1965, 168–171. 100 Albrecht, Jüngerer Titurel, v. 149,1–4. – Albrecht, Jüngerer Titurel, v. 1732,1 f. – Varianten: Albrecht, Jüngerer Titurel, v. 390,1 f.; 2100,1 f.; Konrad, Trojanischer Krieg, v. 7445 f.; Reinfried von Braunschweig, v. 17055 f. 96 Man
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Albrecht relativiert genaugenommen die Unsagbarkeit des ›toten‹ Bildes durch die in Aussicht gestellte Beschreibung ›lebender‹ Bilder, was er auch im Reim abbildet, indem er den ersten Halbvers der vierten Zeile, der gemäß der Strophenform eine Waise sein sollte, in den Reim bilde / wilde einbezieht und so die Unsagbarkeit durch ein zweites bilde rückgängig macht. Im dergestalt reflexiven Mehrfachreim101 überwindet die Beschreibung die behauptete Unsagbarkeit.
V. Im vorigen Teil ließ sich die Illustration oder Reflexion eines Textsegments durch den Reim als Einfaltung des Textsinns in die Reimsemantik beschreiben. Diese eher konventionelle, ›schwache‹ These soll im Folgenden probeweise umgekehrt und mithin in eine ›starke‹ These verwandelt werden. Leitend ist also der Gedanke, dass sich größere, dominant narrative Textsegmente als Ausfaltung der Reimsemantiken in die Geschichte begreifen lassen. Dies betrifft beim ersten Beispiel, Konrads Trojanischem Krieg, die beiden Geschichten von Paris und Achill, die Teil der übergeordneten Geschichte des trojanischen Kriegs sind, und beim zweiten Beispiel, Johanns Wilhelm von Österreich, die ganze Geschichte des Helden.102 Ein Unheil verkündender Traum seiner Ehefrau Ecuba bewegt den trojanischen König Priamus dazu, seinen jüngsten Sohn Paris zwei Schergen zu übergeben, die das Kind in einen Wald bringen und dort töten sollen. Die designierten Mörder bringen es nicht übers Herz, den kleinen Paris zu töten, lassen das Neugeborene im Wald zurück und bringen dem König als gefälschten Beweis die herausgeschnittene Zunge eines Jagdhundes. Ein Hirte findet das Kind, dessen Schönheit ihn dazu bewegt, es mit nach Hause zu nehmen:
101 Vgl.
dazu grundsätzlich Achnitz, »Mehrreime«. wäre hier anzuknüpfen an den Begriff des paradigmatischen Erzählens. Vgl. Rainer Warning, »Erzählen im Paradigma. Kontingenzbewältigung und Kontingenzexposition«, Romanistisches Jahrbuch 52 (2001), 176–209; Rainer Warning, »Die narrative Lust an der List: Norm und Transgression im Tristan«, in: Gerhard Neumann, ders. (Hgg.), Transgressionen. Literatur als Ethnographie (Rombach Wissenschaften. Reihe Litterae 98), Freiburg i. Br. 2003, 175–212. Auch auf den weniger strukturalistisch und mehr anthropologisch ausgerichteten Vorschlag von Haferland und Schulz ist hinzuweisen: Harald Haferland, Armin Schulz, »Metonymisches Erzählen«, Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 84 (2010), 3–43. 102 Theoretisch
wilde / bilde97
nû was sîn lîp als ûz erkorn und alsô rehte wunneclich, daz der hirte vröute sich dur sîn vil clârez bilde: er truoc ez von der wilde und ûz dem wüesten walde ze sînem hûse balde, dar inne er sîn vil schône pflac.103
Paris’ clârez bilde wird, wiewohl aus der wilde gerettet, in eine andere wilde versetzt: Der Priamussohn wächst als Hirtensohn auf. Zum Jüngling herangewachsen erscheint er entsprechend gekleidet auf dem Hochzeitsfest der Thetis, wo er den Streit zwischen Athene, Iuno und Venus schlichten soll. Nach der Entscheidung für Venus, die ihm Helena versprochen hat, erhält Paris von der ›Minnegöttin‹ ein neues Gewand, das vortrefflich mit seinem wunderschönen Körper harmoniert.104 Sein Auftritt vor der versammelten Hofgesellschaft ruft entsprechendes Staunen über den Kontrast zwischen seiner Schönheit und seinem Stand als Hirten hervor.105 Diese zentrale Differenz der Passage bringen Iuno und Pallas (in feindseliger Absicht) auf den Punkt: wâ nû, gespil, vrô Vênus, wer hât gelêret iuch alsus ûz hirten künige bilden? ir hânt ûz einem wilden gebûre wunder hie gemaht. diz cleit enwær im niht geslaht, ob irs gelouben woltent.106
Das Vorangegangene wie das Weitere sind einerseits im Reim bilden / wilden impliziert: Trotz Reimbrechung müssen das bilden (die ›Gestaltung‹ eines Königs bzw. Königssohns) und der wilde (d. i. der ›unzivilisierte‹ Hirte) aufeinander bezogen werden. Andererseits lässt es sich aus dem Reim ausfalten, worauf die bereits erwähnte Reihenfolge der Reimwörter am Anfang, in der Mitte und am Ende der Paris-Vorgeschichte hinweist. An der zitierten Stelle, als der Hirte Paris’ kürlich bilde in einem wüesten walde findet, tritt das königliche bilde107 in die wilde108 ein Trojanischer Krieg, v. 556–563. v. 2896–3059. 105 Vgl. v. 3060–3098. 106 V. 3119–3125. 107 V. 559. 108 V. 560. 103 Konrad, 104 Vgl.
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(wilde nach bilde); beim Bericht dieses Fundes hat der herangewachsene junge Mann die wilde109 als königliches bilde110 wieder verlassen (wilde vor bilde). Den Übergang stellt die Szene der venerischen ›Bildung‹ des Jünglings dar; der Reim generiert gleichsam diese ›Bildung‹, indem er dem Paris-Attribut wilde nicht das Substantiv bilde, sondern das Verb bilden gegenüberstellt. Damit hat sich die ›erzählerische‹ Wirkung des Reims wilde / bilde allerdings noch nicht erschöpft. Denn als schließlich die beauftragten Mörder Priamus gestehen, dass sie das Kind nicht ermordet haben, weitet sie sich aus auf den König: dâ vor was er gesezzen vrô dur sîn [Paris’, J. S.] erwünschet bilde; nû was im vröude wilde von sîme antlitze wünneclich.111
Das aus der wilde zurückgekehrte bilde des schönen Königssohns gibt jene wilde kontagiös weiter, indem es die Abwesenheit von vröude bewirkt. Die zweite Teilgeschichte, die Konrad noch massiver als Ausfaltung des Reims wilde / bilde gestaltet, hat Achill zum Protagonisten. Noch während der Hochzeitsfeier von Peleus und Thetis prophezeit der wîssage Protheus, (der zu diesem Zeitpunkt noch nicht geborene) Achill werde jung sterben, sollte er vor Troja kämpfen.112 Nach Achills Geburt übergibt ihn Thetis dem Kentauren Schyron, der den Knaben in der Kriegskunst unterrichten soll. Schyron selbst hat ein vremedez bilde und eine figûre wilde;113 zu seiner abgelegenen clûse wilde gelangt man nur, indem man ein gevilde durchquert.114 Achill lernt dort Kampf und höfisches Benehmen, wächst zu einem überaus ›wilden‹, kampfeslüsternen wie -begabten jungen Mann heran. Als Thetis davon erfährt, dass die von Herkules zum ersten Mal zerstörte Stadt Troja durch Priamus, den Sohn des dabei getöteten Laomedon, wieder aufgebaut worden und ein künftiger Krieg zwischen Griechen und Trojanern entsprechend gewiss sei, beschließt sie,
109 V.
4877. 4878. 111 V. 5315–5319. 112 Vgl. v. 4564–4616, 5798–5803. 113 V. 581 f. 114 V. 5915 f. – Um in die wilde zu gelangen, muss man üblicherweise das ›Grenzgebiet‹ gevilde durchqueren. Vgl. Hufeland, »Wildheit«, 7. Das gevilde hat freilich nichts, wie Hufeland ibid. meint, mit »Reimnot« zu tun, sondern ist die Widerspiegelung narrativer Raumsemantik (etwa ›Grenze‹ und ›Überschreitung‹) im Reim. 110 V.
wilde / bilde99
Achill vor den Griechen zu verbergen.115 Dazu will sie ihn aus Schyrons Obhut nehmen, was Konrad als (beabsichtigte) Entortung beschreibt: […] und füere in ûz der wilde. sîn wunneclichez bilde daz wil ich von dem lande steln und allen Kriechen vor verheln, wâ der hôchgeborne sî.116
Man mag implizit mitverstehen: Achills bilde soll, aus der wilde genommen, den Griechen wilde werden. Mit einer eindrücklichen Szene erzählt Konrad dann, wie wilde der junge Achill ist oder, besser, wie wilde er durch die reiminduzierte ›wilde‹ Umgebung und den ›wilden‹ Erzieher geworden ist. In Schyrons Höhle erwartet Thetis ihren Sohn, der schließlich, in das blutige Fell eines getöteten Löwens gehüllt, eintritt. Als sie ihn umarmen will, dô trat er allez hinder sich, al sîn gebâr was ûzerlich und wider si gar wilde. nâch lieber kinde bilde wolte er lützel arten.117
Obwohl Achill später auch mit ›höfischen‹ Fertigkeiten wie Gesang aufwartet, dominiert doch sein ›wildes‹ Wesen, das mit einer ›sanften‹ Kindergestalt nichts gemein hat. Thetis erwägt zunächst, ihren Sohn bzw. sein bilde noch ›tiefer‹ in der wilde (und zwar in der fernen wie unbekannten Tracia) zu verstecken.118 Doch dann entschließt sie sich dazu, Achill lieber als Mädchen zu verkleiden und zu König Lycomedes zu bringen, der auf der Insel Scyros mit seinen Töchtern lebt. Statt Achills bilde in der wilde zu verstecken, will sie seine wilde Art simulativ in einer megde bilde119 verhehlen. Achill gegenüber begründet sie das mit seiner ›Verwilderung‹: dîn lîp und daz gemüete dîn sint worden gar ze wilde, des wil ich frouwen bilde dich lâzen kiesen unde sehen.120
Konrad, Trojanischer Krieg, 13402–13485. 13453–13457. 13713–13717. 13786–13789. 13963. 14210–14213.
115 Vgl. 116 V. 117 V. 118 V. 119 V. 120 V.
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Dass die als Grund überdies nur vorgeschobene ›Zähmung‹121 von Achills ›wilder‹ Art nicht gelingen kann, zeigt sich an der fortan persistierenden Konfrontation des äußeren (Schein-)›Bildes‹ einer jungen Frau mit der inneren ›Wildheit‹ Achills,122 die immer mitgemeint ist, wenn der Reim wilde / bilde im Rahmen der Achill-Vorgeschichte eingesetzt wird, z. B. bei Achills anfänglicher Weigerung, sich als Mädchen zu verkleiden123, der vorübergehenden ›Zähmung‹ seiner ›Wildheit‹ durch Deidamie124 und der folgenden ›Entfremdung‹ von seiner ›alten‹ – hier ›wilden‹ – ›Gestalt‹125 sowie bei Thetis’ Lüge über Achills gleich ›gebildete‹, aber genauso ›wilde‹ Schwester126. Achill gerät dann für einige tausend Verse aus dem Fokus des Erzählers; die Trojaner rauben Helena, die Griechen ziehen vor Troja, der Krieg beginnt. Während des ersten Waffenstillstands zwischen Griechen und Trojanern überlegen erstere, ob sie einen Helden in ihren Reihen wissen, der es mit Hektor aufnehmen könnte. Gleichzeitig denken alle Griechen an Achill127 und erinnern sich an die Prophezeiung des Protheus. Dass jetzt Achill wieder ins Zentrum der narrativen Aufmerksamkeit kommt, markiert auch der Reim wilde / bilde; die Griechen wissen zwar, dass jener seit seiner Kindheit bei Schyron weilte; war aber komen wære der jungelinc von dannen, daz was wîb und mannen ein vremede sache wilde. daz einer megede bilde der helt an im lie schouwen und in behielt bi vrouwen der künic Licomêdes, wer möhte hân getriuwet des?128
Man beauftragt einen wîssagen, Calcas, der den Griechen die ›verbor gene Gestalt‹ Achills, die ihnen ›fremd‹ ist,129 entdeckt. Diomedes und 121 Vgl.
v. 14215. 14959 f. 123 V. 14337 f., 14467 f. 124 V. 14669 f.; vgl. 15513 f., 16151 f., 17101 f. 125 V. 15651 f. 126 V. 15177 f. 127 Vgl. v. 27112–27115: dô wart des heldes dâ gedâht, / der Achilles was genant. / er viel den Kriechen dâ zehant / gelîche und allen in den muot. 128 V. 27143–27152. 129 V. 27163 f. (bilde / wilde). 122 V.
wilde / bilde101
Odysseus übernehmen die ›Botenfahrt‹ zu König Lycomedes, bei der Odysseus eine große Menge Kriegsgeräts mitführt. Damit will er Achills ›wildes‹ Wesen gleichsam katalytisch zum Vorschein bringen, wie er Diomedes erläutert: der krâm, den ich ûz biute, der zeiget mir sîn [Achills, J. S.] bilde, daz seltsæn unde wilde ist allen Kriechen worden.130
Nach der Ankunft an Lycomedes’ Hof bleibt die ›alte‹ Gestalt Achills durch den ›zähmenden‹ Einfluss Deidamies zunächst weiterhin verborgen: wan daz Dêidamîe / im werte sînen wilden site.131 Die noch andauernde Zähmung wird vom Reim wilde / bilde vorgegeben, der den zuvor eingeführten Kontrast von ›wildem‹ Verhalten und züchtig-weiblicher ›Gestalt‹ einmal unterläuft: Achill schämt sich zwar, anders als die ›echten‹ jungen Damen, nicht wegen der unbekannten Gäste; aber dass im Reim ohne semantischen Kontrast ›schamlose Gestalt‹132 und ›wilde Gebärde‹133 zusammengestellt werden, zeigt, dass die Differenz zwischen äußerem bilde und innerer wilde noch nicht vollständig ausgeprägt ist. Zwar äußert Odysseus gegenüber Diomedes, die gebærde des als megede wunnevar verkleideten Achill erscheine ihm wilde, ihr / sein bilde lasse den gesuchten jungen Krieger erkennen.134 Doch um Gewissheit zu erlangen, nimmt Odysseus weitere Proben vor,135 Proben, die cum grano salis durch den verlorenen semantischen Kontrast von wilde und bilde nötig werden. Beim Tanz scheint die Differenz dann teilweise hervor. Während sich alle jungen Damen im Rahmen höfischer zuht bewegen, befreit sich Achill ûz dem stricke / der vröuwenlichen mâze:136 sîn lîp was an gelâze und an gebærde wilde für aller megede bilde, diu mit im phlâgen tanzes.137
130 V.
27624–27627. 27736 f. 132 V. 27727 (unschemic bilde). 133 V. 27728 (sîn gebâr schein wilde). 134 V. 27762 f. 135 In der Zwischenzeit macht Achills tücke wilde Deidamies bilde riuwic unde jâmerhaft (v. 28111–28113). 136 V. 28220 f. 137 V. 28222–28225. 131 V.
102
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Odysseus lässt nun das Kriegsgerät bringen und stachelt so Achills ›Wildheit‹ weiter an. Als Odysseus schließlich ein Kriegshorn erschallen lässt, kann Achill nichts mehr halten: Er zerbricht mit ungebærden wîbes zuht.138 Auch diese Zustandsänderung ist eine Ausfaltung des Reims wilde / bilde, zuerst im ›Löwengleichnis‹: er tet in sîner touben suht alsam ein löuwe freissam, den ûz eime tiere zam sîn schate machet wilde. swenn er sîn selbes bilde in eime spiegel hât ersehen und er die craft beginnet spehen, der wunder ist an in gewant, weizgot, sô brichet er diu bant, dâ mite er ist gebunden, und schrenzet bî den stunden den meister sîn ze stücken.139
Schließlich resümiert der Reim wilde / bilde die Rückverwandlung Achills in einen kriegerischen jungen Mann: von vröuwelicher varwe gescheiden wart sîn bilde. nû sîn gebâr sô wilde was bî der zîte worden, daz er sich ûz dem orden der vrouwen und der wîbe zôch, dô kêrte von im unde flôch der wunneclichen megede schar.140
Wie bei Paris wird die Geschichte nicht zuletzt aus der Reihenfolge der Reimwörter erzählt: Die aufgesetzte Frauengestalt (bilde) ist jetzt endgültig der ungezügelten Gebärde eines Kriegers gewichen (wilde), Achills bilde (wieder) wilde. Während in Konrads Trojanischem Krieg Teilgeschichten aus dem semantischen Kontrast von wilde und bilde entfaltet werden, hat Johann von Würzburg seinen Minne- und Aventiureroman Wilhelm von Österreich durchgängig über die Semantik der wilde und die Suche nach einem bilde organisiert, was auch zur Folge hat, dass der Reim wilde / bilde einen zumindest in der ersten Romanhälfte starken Einfluss auf die Ge138 V.
28485. 28486–28497. 140 V. 28594–28601. 139 V.
wilde / bilde103
schichte ausübt. Venus bzw. die personifizierte Minne entzündet das Begehren des kindlichen Helden, Wilhelms bzw., wie er richtiger heißen muss, Wildehelms von Österreich, indem sie ihm das innere Bild seiner künftigen Geliebten, Agly, eingibt; dieses Bild ist reines (Traum-) Phantasma, eine bloße Vorstellung, die ohne visuelle Wahrnehmung zustandegekommen ist. Wildehelms Reaktion überrascht kaum – sein Herz will ihm wilde (›abwesend, fremd, irre‹) werden: si [Venus, J. S.] gab im sunder laugen des nahtes für diu augen Aglyen bilde; des wolt im werden wilde sin hertze von der angesiht.141
Der Reim wilde / bilde vertritt die kausale Motivierung, das Ausgangsereignis der Hauptgeschichte: Ein Traumbild (bilde) bewirkt eine Zustandsänderung des Protagonisten, dem sein Herz irregeht. Von diesem Ereignis hängt der größte Teil der Romanhandlung ab: Fortan wird Wildehelm die zu seinem inneren Bild passende Dame suchen (und finden und verlieren und wieder suchen bis zum Tod der beiden). So fordert er von seinem Vater die Erlaubnis, auf Aventiurefahrt zu gehen; denn: Wird ihm das bilde nicht zu eigen, muss dem Vater die Freude des Sohns, muss dem Sohn die österreichische Heimat wilde werden.142 Findet aber Wildehelm sein bilde, wird ihm umgekehrt seine sorge ›fremd‹ (wilde).143 Gesagt, getan! Angelangt am Hof des Heidenkönigs Agrant, dessen Tochter Agly die Dame zum bilde ist, gibt sich Wildehelm einen neuen Namen und wird Teil der Hofgesellschaft. Agly berichtet er von der Minne, die sie nicht kennt: sag an, ist si den liuten bi / oder ist si wilde? / wie ist gestalt ir bilde?144 Auch das nächste Motiv, die beiderseitige Minne, induziert demnach der Reim wilde / bilde. Aglys Vater, König Agrant, hat jedoch andere Pläne; seine Tochter soll einen Heidenkönig heiraten. Wildehelm muss den Hof verlassen, begegnet der personifizierten Aventiure und vielen Abenteuern. Dabei steht er immer: im dienst mines bildes, das seinen muot wildet,145 d. h. hier: Agly zu sehen begehren lässt.146 Durchzogen ist die Geschichte so von der Trennung der (Referenten der) beiden Reimwörter Wilhelm von Österreich, v. 675–679. 723 f.; 793 f.; zur Freude vgl. auch v. 823 f. 143 V. 1009 f. 144 V. 1530–1532. 145 V. 3384 f. 146 Ohne erkennbaren semantischen Zusammenhang: v. 3429 f.; 3445 f. 141 Johann, 142 V.
104
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(wilder Wildehelm, Aglyen bilde), die im Reim doch immer verbunden sind. Und auch sonst: Auch wenn Agly während seiner Aventiure abwesend (wilde) ist, kann er doch Zuflucht nehmen zum inneren Bild: ich dich in sel bilde / ze allen ziten, truter zart!147 Auch Agly leidet unter der Abwesenheit ihres Geliebten, was den Erzähler zu einer Invektive gegen Frau Minne veranlasst: vrau Minne, war umme tt ir daz? ich bin iu gehaz daz ir ditz ksche bilde quelet sus nach Wildehelm sinem trute.148
Diese überaus harte Fügung zeigt einmal mehr, wie sich die paradigmatische Reimordnung in den Vordergrund der Geschichte spielt. Dem bilde namens Agly ist der Geliebte Wildehelm wilde (wie es der Name schon sagt), und mehr noch: Der Reim lässt also seinem Helden den Namen entzwei gehen. So hat nicht nur der Erzähler Klage über das gemarterte bilde zu führen, sondern auch der Held über dessen Abwesenheit: wie bistu mir so wilde! / du hymelisches bilde.149 Schließlich soll man Liebende (oder ihre Gestalten, bilde) nicht trennen, nicht wilde machen.150 Weil das aber nun einmal der Handlung generierende Fall ist, geht es Wildehelm wie dem Wild, das bei unerfülltem Begehren an seiner eigenen ›Wildheit‹ zugrunde gehen muss: ach, daz ich ie erkande Aglyen bilde! des geschiht mir als dem wilde, daz durch sin wilthait stirbet swenne ez niht erwirbet daz sin ger gemainet hat.151
Es bleibt die Hoffnung, dass Aglys wiplich bilde derweil ›abgwendet von‹ (wilde) allen anderen Männern sein wird.152 In der zweiten Hälfte des Romans tritt der Reim wilde / bilde dann in den Hintergrund.153 Kurz 147 V.
5067 f. 6525–6529. 149 V. 6715 f. 150 V. 9093 f. 151 V. 9880–9885. 152 V. 10061 f. 153 Vgl. v. 11209 f. und 11425 f., wo kein erkennbarer Zusammenhang zwischen den Reimwörtern besteht. Einmal findet sich – im Rahmen der descriptio eines Helmes – eine Reminiszenz an die erste, oben besprochene Stelle aus dem Wilhelm von 148 V.
wilde / bilde105
vor dem Ende finden Agly und Wildehelm zusammen, um nur wenig später durch den Mord am Helden tödlich und endgültig getrennt zu werden. Der Mord ereignet sich während der Jagd, die in der wilde stattfindet und von Agly, dem wiplich bilde,154 in unbewusster Voraussicht verabscheut wird.155 Der Held kehrt aus der wilde nicht mehr wieder, das bilde bleibt allein zurück und stirbt zuletzt den Liebestod. Durch alle Bedeutungen des Wortes wilde hindurch leitet der Reim wilde / bilde den Rezipienten durch das narrative Dickicht des Romans, das zu einem nicht geringen Maß per Reim von der Suche nach und dem Ringen um das schöne bilde erzählt. Die Untersuchung hat gezeigt, dass der Reim wilde / bilde in erzählenden Texten des Mittelalters nicht nur semantisch variabel, sondern auch in Abhängigkeit von übergeordneten Textmodi eingesetzt werden kann. Diese Zuordnung von Reim und Textmodus dürfte zum Einen der Variation des (zunehmend häufiger) Wiederholten dienen. Zum Anderen wird sie ermöglicht durch die Analogie zwischen Reim und Narration: Wenn »variierende Wiederholung« nicht nur das Grundprinzip beim Einsatz von Reimen, sondern auch des »narrativen Zusammenhalts«156 ist, liegt die wechselseitige Beeinflussung beider nicht fern. Schließlich entwerfen manche Autoren ganze Geschichten als Ausfaltung des semantischen Kontrasts, der den Reim wilde / bilde charakterisiert. Dieses Ergebnis ist gleichwohl dahingehend einzuschränken, dass es erstens nur für einen Teil der Belege im gewählten Textkorpus gültig ist, zweitens an weiteren Reimen und drittens in einem erweiterten Textkorpus überprüft werden müsste. Fraglich ist z. B., ob sich eine ähnliche Zuordnung von Reimsemantik und Textmodus in der Heldenepik reproduzieren lässt und welche gegebenenfalls anderen Zuordnungsstrategien lyrische Texte erkennen lassen. Dennoch dürfte der Schluss möglich sein, dass nicht nur der Reim durch den Modus der Erzählung, sondern auch die Erzählung selbst – und sei es nur punktuell – in semantischer und narrativer Hinsicht durch den Reim bedingt ist.
Österreich: Der Helmschmuck zeigt ain magde bilde / bis uf die brust, das wilde / machte hertzen mit gesiht (v. 13891–13893). 154 V. 18885 f. 155 Vgl. noch v. 19069 f. 156 Armin Schulz, Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive, hg. Manuel Braun, Alexandra Dunkel, Jan-Dirk Müller, Berlin / Boston 2012, 322.
106
Jan Stellmann
Anhang: Tabellarische Darstellung der Häufigkeitsverteilung des Reims wilde / bilde in der mittelhochdeutschen Epik Die folgende Tabelle bietet einen Überblick über die Häufigkeitsverteilung des Reims wilde / bilde und vergleichbarer Reimwörter in 24 weltlichen erzählenden deutschsprachigen Texten des Mittelalters. Die quantitative Erhebung erfolgte mithilfe der Mittelhochdeutschen Begriffsdatenbank.157 Die verwendeten Suchbefehle waren »wildee« (wilde am Versende) und »bildee« (bilde am Versende). Gezählt wurde ein breites Spektrum an Wortformen: alle Formen des Substantivs bilde, des Verbs bilden sowie Derivate (etwa unbilde) einerseits, des Adjektivs wilde, der Substantive wilde und wilt, des Verbs wilden sowie Derivate (etwa entwilden) andererseits. Als Standard wurde die häufigste Kombination aus Substantiv bilde und Adjektiv wilde gesetzt. Davon abweichende Wörter wie Verben oder das recht häufige unbilde werden jeweils in runden Klammern hinter der Versangabe in den Fußnoten ergänzt. Zur Gegenprobe wurde auch ermittelt, wie oft die Wörter wilde und bilde (bzw. die genannten Derivate) auf andere Wörter reimen (z. B. gevilde, milde, schilde usw.).158 Der Reim wilde / bilde begegnete am häufigsten. Außerdem wurde die relative Häufigkeit des Reimes wilde / bilde ermittelt – relativ je 1000 Verse, d. h. die Promillezahl.159 Die Darstellung der Belege erfolgt in einer vierspaltigen Tabelle. Die erste Spalte nennt Autor und Titel eines Textes in ungefährer chronologischer Reihenfolge.160 Die Spalten zwei bis vier (›wilde und nicht-bilde‹ = wilde / x; ›bilde und nichtwilde‹ = bilde / x; ›wilde und bilde als Reimpaar‹ = wilde / bilde) enthalten die absoluten Zahlen der Belege. Die Promillezahl steht in runden Klammern in der letzten Spalte. Eine Kurzzusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse beschließt die Tabelle.
157 http: / / www.mhdbdb.sbg.ac.at
(zuletzt aufgerufen am 25.09.2016). werden die einzelnen Belege in Fußnoten zum jeweiligen Einzeltext. Der Nachweis der Belege erfolgt nach dem Muster: wilde / x: [Belege]. – bilde / x: [Belege]. – wilde / bilde: [Belege]. Auf eine Kennzeichnung der Nachweise als Versangabe (›v.‹) wird verzichtet. 159 Grundlage der Berechnung war die den jeweiligen Ausgaben entnommene Gesamtzahl der Verse. Fast immer habe ich nach der zweiten Nachkommastelle aufoder abgerundet; nur die wenigen Ausnahmen mit einer runden Gesamtverszahl haben entsprechend keine ›ca.‹-Angabe. Bei diskontinuierlicher Verszählung habe ich umgerechnet: Wolframs Parzival hat 827x30 Verse, Albrechts Jüngerer Titurel 6327x7 Verse. 160 Die Jahreszahlen stammen aus: Ruh, Wachinger (Hgg.), Verfasserlexikon. Die jeweiligen Artikel werden nicht einzeln zitiert, um den Anmerkungsapparat nicht zu überfrachten. – Die von der MHDBDB verwendeten Ausgaben sind in Anm. 14 verzeichnet. 158 Nachgewiesen
wilde / bilde107
Autor, Titel
wilde / x bilde / x wilde / bilde
Heinrich von Veldeke, Eneasroman (1170–1190)161
1
–
–
Hartmann von Aue (1180–1200 / 1210), Erec162
2
–
1
6
–
2 (ca. 0,25)
Hartmann von Aue, Gregorius164
2
–
3 (ca. 0,75)
Ulrich von Zatzikhoven, Lanzelet (um 1200)165
8
2
1 (ca. 0,11)
Wolfram von Eschenbach, Parzival (1200–1210)166
–
–
3 (ca. 0,12)
Gottfried von Straßburg, Tristan (um 1210)167
10
–
–
Wirnt von Grafenberg, Wigalois (1210 / 1220)168
5
–
1 (ca. 0,08)
Herbort von Fritzlar, Liet von Troye (um 1220)169
1
3
–
Hartmann von Aue,
Iwein163
(ca. 0,1)
(Fortsetzung nächste Seite) 161 Heinrich von Veldeke, Eneasroman: bilde / x: – wilde / x: 1795 f.; 4593 f.; 7479 f. – wilde / bilde: -. 162 Hartmann von Aue, Erec: wilde / x: 2046 f.; 2054 f.; 5192 f.; 7604 f. – bilde / x: -. – wilde / bilde: 6164 f. 163 Hartmann von Aue, Iwein: wilde / x: 275 f.; 397 f.; 499 f.; 969 f.; 981 f.; 3237 f.; 4695 f. – bilde / x: -. – wilde / bilde: 425 f.; 4001 f. 164 Hartmann von Aue, Gregorius: wilde / x: 2763 f.; 3229 f. – bilde / x: -. – wilde / bilde: 1517 f.; 2985 f.; 3965 f. 165 Ulrich von Zatzikhoven, Lanzelet: wilde / x: 677 f.; 1735 f.; 3991 f. (rôtwilt); 4759 f.; 5317 f.; 7097 f.; 7135 f.; 7315 f. – bilde / x: 1587 f.; 4919 f. – wilde / bilde: 4819 f. 166 Wolfram von Eschenbach, Parzival: wilde / x: -. – bilde / x: -. – wilde / bilde: 238,17 f.; 438,25 f. (unbilde); 517,23 f. 167 Gottfried von Strassburg, Tristan: wilde / x: 2507 f., 2561 f., 8935 f., 12769 f., 16763 f., 17077 f., 17101 f. (wilde / wilde); 17141 f., 17247 f. (wilde / wilde); 17257 f. – bilde / x: -. – wilde / bilde: -. 168 Wirnt von Gravenberc, Wigalois: wilde / x: 2269 f.; 2286 f.; 3298 f.; 5868 f.; 9962 f. – bilde / x: -. – wilde / bilde: 4627 f. 169 Herbort von Fritslar, Liet von Troye: wilde / x: 3047 f. – bilde / x: 4043 f.; 13755 f.; 15858 f. – wilde / bilde: -.
108
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(Fortsetzung Tabelle)1702345 Autor, Titel
wilde / x bilde / x wilde / bilde
Konrad Fleck, Flore und Blanscheflur (um 1220)170
–
–
3 (ca. 0,375)
Heinrich von dem Türlin, Die Krone (um 1220)171
9
4
13 (ca. 0,43)
Rudolf von Ems (1220–1250er), Der guote Gêrhart
–
–
–
Rudolf von Ems, Alexander172
3
–
4 (ca. 0,19)
Der Pleier (1240–1270), Garel173
5
–
2 (ca. 0,09)
Der Pleier, Tandareis und Flordibel174
3
–
1 (ca. 0,05)
Albrecht, Jüngerer Titurel (1260er / 1270er)175
19
2
30 (ca. 0,68)
Konrad von Würzburg (1260er–1287), Engelhard176
–
–
9 (ca. 1,38)
170 Konrad Fleck, Flore: wilde / x: -. – bilde / x: -. – wilde / bilde: 1583 f.; 1967 f.; 7103 f. (unbilde). 171 Heinrich von dem Türlin, Die Krone: wilde / x: 336 f.; 803 f.; 7575 f.; 13200 f.; 20935 f.; 23836 f.; 27197 f.; 28284 f.; 28366 f. – bilde / x: 6376 f.; 8885 f. (unbilde); 8940 f.; 21643 f. – wilde / bilde: 2047 f.; 2773 f.; 3566 f.; 3825 f. (unbilde); 5522 f. (unbilde); 7966 f.; 8337 f.; 19774 f. (unbilde); 24115 f. (unbilde); 26219 f.; 28988 f. (unbilde); 29923 f.; 29984 f. 172 Rudolf von Ems, Alexander: wilde / x: 13791 f.; 14788 f.; 18661 f. – bilde / x: -. – wilde / bilde: 14997 f.; 17231 f. (unbilde). 173 Der Pleier, Garel: wilde / x: 2541 f.; 13675 f.; 13759 f.; 14155 f.; 16985 f. –bilde / x: -. – wilde / bilde: 2559 f.; 6762 f. 174 Der Pleier, Tandareis: wilde / x: 2215 f.; 5563 f.; 8477 f. – bilde / x: -. – wilde / bilde: 9362 f. (unbilde). 175 Albrecht, Jüngerer Titurel: wilde / x: 477,1 f.; 682,3 f.; 874,1 f.; 1315,1 f.; 1344,1 f.; 1626,3 f.; 1664,3 f.; 1987,1 f.; 2682,3 f.; 3088,3 f.; 3430,1 f.; 3764,1 f.; 4188,3 f.; 4980,3 f.; 5474,1 f.; 5477,1 f.; 5596,1 f.; 5620,1 f.; 5761,1 f. (Sonderfälle: 1882,1 f. [wilde bluome riche / wilden boten wildicliche]). – bilde / x: 1765,3 f.; 1866,1 f. – wilde / bilde: 149,1 f.; 300,1 f. (unbilde); 390,3 f.; 436,3 f.; 492,1 f. (gebilde); 774,3 f. (entwildest / unbildest); 836,3 f. (gebildet / verwildet); 1477,3 f.; 1732,1 f.; 1789,3 f.; 1879,1 f.; 1881,3 f.; 2100,1 f.; 2250,1 f.; 2657,1 f.; 2699,3 f.; 2787,3 f.; 2815,1 f.; 3124,1 f. (unbilde); 3335,3 f. (erwildet / gebildet); 3606,1 f.; 3840,3 f.; 4028,1 f.; 4205,1 f.; 4468,3 f. (gebilde); 5829,3 f. (unbilde); 5841,1 f.; 5859,1 f. (gebildet / verwildet); 5879,1 f.; 6174,3 f. (unbilde).
wilde / bilde109
Autor, Titel
wilde / x bilde / x wilde / bilde
Konrad von Würzburg, Partonopier und Meliur177
5
2
24 (ca. 1,1)
Konrad von Würzburg, Der trojanische Krieg178
10
12
77 (ca. 1,9)
Anonym, Lohengrin (vermutl. 1283–1289)179
–
–
2 (ca. 0,26)
Ulrich von Etzenbach (spätes 13. Jh.), Alexander180
9
9
7(0,25)
(Fortsetzung nächste Seite)
176 Konrad von Würzburg, Engelhard: wilde / x: -. – bilde / x: -. – wilde / bilde: 205 f.; 469 f. (entwildet / gebildet); 1073 f.; 1939 f. (gebildet / verwildet); 2535 f.; 4593 f.; 5641 f.; 6265 f. (unbilde). 177 Konrad von Würzburg, Partonopier: wilde / x: 1869 f.; 9859 f.; 10577 f.; 10675 f.; 19465 f. – bilde / x: 6823 f.; 10173 f. – wilde / bilde: 507 f.; 1013 f. (unbilde); 1091 f.; 1273 f.; 2017 f.; 2101 f.; 3161 f.; 5181 f.; 7063 f.; 7571 f. (gebildet / entwildet); 7747 f.; 7915 f.; 8109 f.; 9703 f.; 9807 f. (gebildet / entwildet); 10429 f.; 10597 f.; 12503 f. (gebildet / überwildet); 12595 f.; 12649 f.; 14949 f.; 15005 f.; 17285 f.; 17695 f. 178 Konrad von Würzburg, Trojanischer Krieg: wilde / x: 1101 f.; 5915 f.; 13537 f.; 16213 f.; 24153 f.; 27549 f.; 30783 f.; 33583 f.; 33723 f.; 33851 f. (Sonderfälle: 15209 f. [wildekeit / geleit]; 15235 f. [wildeclich / hiute mich]; 17313 f. [geleit / wildekeit]; 28549 f. [kleit / wildekeit]; Fortsetzung: 49089 f. [daz er sich / wildeclich]). – bilde / x: 6269 f.; 10553 f.; 19871 f.; 23657 f.; 30259 f. (formieren / bildieren); 32927 f. (unbilde); 34555 f.; 36611 f.; 39275 f.; 40129 f.; 47651 f.; 48031 f. – wilde / bilde: 283 f.; 559 f.; 713 f.; 869 f.; 1307 f.; 3121 f. (bilden); 3405 f.; 3741 f.; 3925 f.; 4525 f.; 4877 f.; 5205 f.; 5317 f.; 5851 f.; 6177 f. (unbilde); 6349 f. (unbilde); 7445 f. (unbilde); 8675 f.; 9093 f.; 9125 f.; 9277 f.; 9861 f. (unbilde); 10015 f.; 12555 f.; 13453 f.; 13659 f. (unbilde); 13715 f.; 13787 f.; 14151 f. (unbilde); 14211 f.; 14337 f.; 14467 f.; 14669 f.; 14747 f.; 14959 f.; 15177 f.; 15513 f.; 15651 f.; 16151 f. (gebildet / entwildet); 16321 f. (unbilde); 17101 f.; 17651 f.; 18139 f.; 18587 f. (gebildet / erwildet); 19825 f. (gebildet / überwildet); 20097 f. (gebilden); 20147 f.; 20307 f.; 20701 f.; 21131 f.; 21477 f.; 21581 f.; 22133 f.; 23075 f.; 24677 f.; 24999 f.; 27001 f.; 27147 f.; 27163 f.; 27625 f.; 27727 f.; 27763 f.; 28111 f.; 28223 f.; 28489 f.; 28595 f.; 29121 f.; 29507 f.; 30155 f. (gebildet / unverwildet); 32723 f.; 34371 f. (unbilde); 36361 f. (unbilde); 37671 f.; 38047 f. (gebildet / entwildet); 39417 f.; 39757 f. (unbilde); 40239 f. 179 Lohengrin: wilde / bilde: 497 / 500; 5837 / 5840. 180 Ulrich von Etzenbach, Alexander: wilde / x: 1105 f.; 2465 f.; 8563 f.; 10287 f.; 10691 f.; 21821 f.; 23035 f.; 25213 f.; 25265 f. – bilde / x: 5655 f.; 6159 f.; 7609 f.; 7687 f.; 9776 f.; 16929 f.; 19785 f.; 20395 f.; 26993 f. – wilde / bilde: 13373 f.; 15137 f.; 19361 f.; 24241 f.; 25655 f.; 26793 f. (gebildet / wildet); 27479 f.
110
Jan Stellmann
(Fortsetzung Tabelle)1823 Autor, Titel
wilde / x bilde / x wilde / bilde
Ulrich von Etzenbach, Wilhelm von Wenden181
1
–
1 (ca. 0,12)
Anonym, Reinfried von Braunschweig (nach 1291)182
4
–
24 (ca. 0,87)
Johann von Würzburg, Wilhelm von Österreich (1314)183
7
3
26 (ca. 1,33)
In absoluten Zahlen kommt der Reim wilde / bilde bis 1250 zwischen ein- und viermal pro Text vor; bei einigen Autoren ist er gar nicht belegt; den einzigen Ausreißer ›nach oben‹ bietet für diesen Zeitraum Heinrichs von dem Türlin Krône mit dreizehn Belegen.184 Nach 1250 weisen einige Texte deutlich höhere Belegzahlen auf; an der Spitze stehen Konrads von Würzburg Trojanerkrieg mit 77, Albrechts Jüngerer Titurel mit 30 und Johanns von Würzburg Wilhelm von Österreich mit 26 Belegen für den Reim wilde / bilde. Legt man einen Promillewert von 0,5 (d. h. im Durchschnitt ein Beleg für den Reim wilde / bilde je 2000 Verse185) als Signifikanzniveau186 an, zeigen die relativen Zahlen das gleiche Ergebnis: Vor 181 Ulrich von Etzenbach, Wilhelm von Wenden: wilde / x: 7547 f. (wilden). – bilde / x: -. – wilde / bilde: 675 f. 182 22 Reinfried von Braunschweig: wilde / x: 4135 f.; 18350 f.; 18368 f.; 23724 f. – bilde / x: -. – wilde / bilde: 1155 f. (verwildet / gebildet); 2129 f.; 3827 f.; 4937 f. (unbilde); 10395 f. (unbilde); 13121 f. (unbilde); 13231 f.; 17055 f.; 17081 f.; 17115 f.; 18704 f.; 19678 f.; 19850 f. (wildet / gebildet); 19876 f.; 21158 f.; 21190 f.; 21256 f.; 21448 f.; 21486 f.; 21660 f.; 22412 f. (unbilde); 24246 f.; 25054 f.; 27570 f. 183 23 Johann von Würzburg, Wilhelm von Österreich: wilde / x: 495 f.; 4715 f.; 6799 f.; 7151 f.; 8523 f.; 16319 f. 16911 f. – bilde / x: 4827 f.; 10869 f.; 11783 f. – wilde / bilde: 677 f.; 723 f.; 793 f.; 823 f.; 1009 f.; 1531 f.; 3384 f. (wilden); 3429 f.; 3445 f.; 4305 f.; 4703 f.; 4949 f.; 5067 f.; 6527 f.; 6715 f.; 9093 f.; 9881 f.; 10061 f.; 11209 f.; 11425 f.; 11721 f.; 13685 f.; 13891 f.; 15549 f.; 16447 f.; 18885 f.; 19069 f. 184 Dieses Ergebnis müsste strenggenommen durch einen Vergleich mit den absoluten Zahlen aller anderen Reimpaare aller anderen Texte noch dahingehend validiert werden, dass tatsächlich vier gleiche Reime pro Text ›wenige‹ und dreizehn gleiche Reime pro Text ›viele‹ Belege sind. 185 Der Wert von 0,5 ist induktiv, d. h. mit Blick auf die Ergebnisse gewählt und kann nur eine geringe Aussagekraft beanspruchen. Um einen belastbaren Wert zu erhalten, müsste man (vielleicht empirisch) überprüfen, ab welcher relativen Häufigkeit ein Reim beim Rezipienten als gehäuft auffällt. 186 Der Begriff wird hier ohne Bezug zum Signifikanzbegriff der mathematischen Statistik verwendet.
wilde / bilde111
1250 erreicht nur ein Text (Hartmanns Gregorius) einen Promillewert von mehr als 0,5; nach 1250 tun dies sechs Texte (Albrechts Jüngerer Titurel; Konrads Engelhard, Partonopier und Meliur sowie Trojanerkrieg; der Reinfried von Braunschweig und Johanns Wilhelm von Österreich), wobei der Spitzenreiter, Konrads Trojanerkrieg, fast einen Wert von 2 ‰ aufweist.
Prosaroman und Figurenrede Zu den Redeszenen in der Mort le Roi Artu und im Tod des König Artus Von Monika Unzeitig I. Forschungsstand Eine auf Redeszenen konzentrierte Lektüre der Mort le Roi Artu und seiner deutschen Übersetzung Tod des König Artus belegt die hohe Anzahl der Dialoge und so die durchgehend textualisierte stimmliche Präsenz der Figuren. Dies hat in der germanistischen mediävistischen Forschung zum Prosalancelot bislang wenig und erst seit kurzem Beachtung gefunden.1 Die romanistische Forschung hingegen hat sich durchaus den Aspekten der Dialogizität im altfranzösischen Lancelot en prose, wenn auch nur peripher der Mort le Roi Artu,2 zugewandt. Das romanistische Forschungsinteresse ist literaturhistorisch insbesondere darin begründet, dass mit dem Ende des 12. und zu Beginn des 13. Jahrhunderts Prosa als neue Form der Romanerzählung in der französischen Literatur bestimmend wird3 und der Lancelot-Gral-Zyklus neben dem Tristan en prose zu diesen 1 Siehe Rachel Raumann, »Figurenrede als literarhistorische Provokation im Prosalancelot«, in: Cora Dietl, Christoph Schanze und Friedrich Wolfzettel (Hgg.), Ironie, Polemik und Provokation, Schriften der Internationalen Artusgesellschaft 10, Berlin / Boston 2014, 163–181; Teresa Cordes, Die Redeszenen in Chrétiens ›Chevalier de la Charrete‹, in Ulrichs ›Lanzelet‹ und im ›Prosalancelot‹ (Historische Dialogforschung 4), Berlin 2016. 2 Zum Lancelot en prose siehe z. B. Corinne Denoyelle, »La textualité dialogique dans le Lancelot en prose«, Verbum. Revue de linguistique 28 (2006), 81–107. Zur Mort le Roi Artu siehe die sprachwissenschaftliche Untersuchung von Michèle Perret, »Façons de dire: les verbes de parole et de communication dans La Mort Le Roi Artu«, in: Jean Dufournet (Hg.), La Mort le roi Artu ou le crépuscule de la chevalerie, Paris 1994, 181–195. 3 Zum aktuellen Forschungsstand siehe Jean-Claude Mühletaler, »Vers statt Prosa. Schreiben gegen den Strom im Frankreich des ausgehenden Mittelalters«, in: Catherine Drittenbass und André Schnyder (Hgg.), Eulenspiegel trifft Melusine. Der frühneuhochdeutsche Prosaroman im Licht neuer Forschungen und Methoden. Akten der
114
Monika Unzeitig
ersten Prosawerken gehört. Die Verwendung der Prosa als bevorzugte Romanform findet sich zeitlich versetzt erst über zwei Jahrhunderte später in der mittelhochdeutschen bzw. schon als frühneuhochdeutsch einzuordnenden Literatur im 15. Jahrhundert in Handschrift und Druck und somit gerade in einer von sprachlichem und medialem Wandel geprägten Zeit.4 Während die französische Literatur seit dem ausgehenden 12. Jahrhundert von einer lange fortdauernden und konkurrierenden Auseinandersetzung um Vers und Prosa bis weit ins ausgehende Mittelalter bis hin zur Renaissance geprägt ist,5 setzt für die deutsche Literatur erst zu dieser Zeit »das Erzählen in Prosa als neue und zukunftsweisende Literaturform«6 ein. Die unterschiedlichen Entstehungskontexte der neuen und modernen Prosaform dürften also auch die unterschiedlichen Interessen der germanistischen und romanistischen Forschung erklären. Für die mit dem Wechsel von Vers zu Prosa verbundenen Veränderungen der »modes of performance and reception«7 hat die romanistische Forschung insbesondere die Gestaltung der Figurenrede zum Ausgangspunkt für weiterführende Fragestellungen genommen. Dass sich für die Lausanner Tagung vom 2. bis 4. Oktober 2008 (Chloe 42), Amsterdam u. a. 2010, 163–182. Demnächst zur Entstehung des altfranzösischen Prosaromans im 12. Jahrhundert Susanne Friede, » ›Geburt der Prosa‹ «, in: Christiane Witthöft, Michele C. Ferrari, Klaus Herbers (Hgg.), 4. Laterankonzil [erscheint 2017]. 4 Siehe dazu den ausführlich referierten und aktualisierten Forschungsstand in der Bestandsaufnahme zum deutschen Prosaroman von Christa Bertelsmeier-Kierst, »Erzählen in Prosa. Zur Entwicklung des deutschen Prosaromans bis 1500«, ZfdA 143 (2014), 141–165. 5 Siehe Mühlethaler, »Vers statt Prosa«, 163–182. Mühlethaler beschreibt die Konkurrenz zwischen Vers und Prosa mit den expliziten Argumentationen für die neue Form der Prosa (Sakralität, Wahrheit, Vollständigkeit) und zeigt, wie im Laufe der Jahrhunderte der Vers in seiner archaisierenden Form weiter (besonders im Umfeld des französischen Hofes) bewusste, aber stets zu rechtfertigende nostalgische Anlehnung an literarische Tradition sein kann. Die ästhetische Bewertung von Prosa und Vers ändert sich wiederum mit der Renaissance im 16. Jahrhundert unter dem Einfluss der aristotelischen Poetik zugunsten der Versdichtung, während die Prosaromane als überholt gelten. 6 Bertelsmeier-Kierst, »Erzählen in Prosa«, 141; dort auch zusammenfassend zur Heterogenität der unter dem Begriff ›Prosaroman‹ in der Forschung subsummierten vielfältigen Texte aus unterschiedlichen Erzähltraditionen, Gattungen und Stoffkreisen. 7 Frank Brandsma, »The Presentation of Direct Discourse in Arthurian Romance: Changing Modes of Performance and Reception«, in: Douglas Kelly (Hg.), The Medieval Opus. Imitation, Rewriting, and Transmission in the French Tradition. Pro ceedings of the Symposium held at the Institute for Research in Humanities, October 5–7 1995, the University of Wisconsin-Madison, Amsterdam u. a. 1996, 245–260, hier 255.
Prosaroman und Figurenrede
115
genaue Beschreibung der Prozesse des »dérimage« und der »mise en prose« die Gestaltung und Markierung der ›parole‹ im Text eignet, hat schon 1982 Bernard Cerquiglini8 (anhand der gereimten Gralsdichtung von Robert de Boron und ihren wenig später überlieferten Prosaauflösungen) beschrieben. Für die Produktionsseite lässt sich aus seiner Sicht im Sinne des ›dérimage‹ gegenüber der metrisch geformten und gereimten Figurenrede die Reduzierung redundanter, aber metrisch notwendiger Auffüllung feststellen. Die ›mise en prose‹ bezieht sich darüber hinaus auf die Markierung der direkten Rede in einem statusveränderten Text, der (wie auch die direkte Rede der Figuren) nicht mehr von einem vortragenden Erzähler generiert wird: Es ist die »localisation du discours opérée par le texte lui-même«.9 Cerquiglini differenziert auf der Textebene zwischen ›récit‹ und ›discours‹, zwischen ›Erzählung / Erzählbericht‹ und ›Rede‹. Diese begriffliche Differenzierung wird im Folgenden aufgegriffen, da sie gegenüber den in der Forschung teilweise recht unspezifisch verwendeten Termini10 eine präzise Distinktion formuliert. Der Wechsel vom Vers zur Prosa, vom metrisch gereimten Vortragstext zum (Vor-)Lesetext in Prosa hat unter dem Aspekt der medialen Rezeptionsbedingungen zur Frage geführt, wie für Zuhörer oder Leser der Wechsel zwischen Erzählung und direkter Rede zu erkennen ist, wie er hörbar oder möglicherweise sichtbar »als optische Hilfe für die Rezeption des Textes«11 in Handschriften markiert sein könnte. Diesen Aspekt hat in den letzten Jahren insbesondere Frank Brandsma in vielen seiner, auch komparatistisch angelegten, Untersuchungen12 verfolgt und dabei die grundsätzliche Differenz der Präsentation von direkter Rede in Vers- und Prosaroman herausgearbeitet und diese Differenzen systematisiert (z. B. für die Versfassung des Chevalier de la Charrette im Vergleich zum französischen Lancelot en prose und zur mittelniederländischen Versadaptation). Es fällt auf, dass diese in der romanistischen bzw. in der mediävistisch komparatistischen 8 Bernard
38 f.
9 Ibid.,
Cerquiglini, La parole médiévale. Discours, syntaxe, texte, Paris 1981,
106. z. B. Brandsma, »The Presentation«, 250, wenn er von »normal text« in Differenz zu »spoken words« spricht. 11 Weiterführend und grundlegend dazu Barbara Frank, Die Textgestalt als Zeichen. Lateinische Handschriftentradition und die Verschriftlichung der romanischen Sprachen (ScriptOralia 67), Tübingen 1994, 26. 12 Frank Brandsma, »Knights’ talk: direct discourse in arthurian romance«, Neophilologus 82 (1998), 513–525; ders., »Doing dialogue. The Middle Dutch Lancelot translators and correctors at work«, in: Corinne Denoyelle (Hg.), De l’oral à l’écrit. Le dialogue à travers les genres romanesque et théâtral, Orléans 2013, 69–84. 10 Vgl.
116
Monika Unzeitig
Forschung durchaus intensiv untersuchte Fragestellung zu Vers und Prosa anhand der Figurenrede und ihrer textlichen Markierung wenig Resonanz in der germanistischen Forschung zum Prosaroman gefunden hat.13 II. Fragestellung Innerhalb des Überlieferungsverbundes des Lancelot-Gral-Zyklus von Lancelot propre, Queste und Mort le Roi Artu bildet eine in sich wiederum konsistente und konzeptionelle Einheit der Tod des König Artus;14 sie eignet sich nicht nur durch ihren überschaubaren Textumfang (im Vergleich zum Lancelot-Teil), sondern auch durch die ihr eigene Erzählstruktur und die Finalität im Erzählvorgang für eine Einzeluntersuchung zu den Redeszenen. Im Folgenden werden unter sprach- wie auch literaturwissenschaftlichen Aspekten die Mort le Roi Artu und ihre deutsche(n) Übersetzung(en) in den Blick genommen: Zum einen soll das Übersetzungsverhältnis durch den in den Sprachsystemen bedingten differenten Gebrauch der inquit-Formeln beschrieben werden. Zum anderen soll näher analysiert werden, wie im Prosaroman das Verhältnis von récit und discours angelegt ist und welche spezifische Funktionen die Figurenreden haben. Inwiefern die Konzeption der Figurenreden auch Konsequenzen für eine mögliche Positionsbestimmung des Tod des König Artus zwischen fiktionalem und chronikalem Erzählen hat, wird abschließend im Vergleich mit den für den Schlussteil der Mort le Roi Artu als Prätexte relevanten Chroniken von Geoffrey of Monmouth und Wace diskutiert. III. Mort le Roi Artu – Tod des König Artus: Übersetzungsverhältnis und Gestaltung der inquit-Formeln Dass dem deutschen Prosalancelot der Status einer Übersetzung zukommt und dieser keine eigenständige Bearbeitung bietet, ist seit längerem Forschungskonsens. Die Aufarbeitung der komplexen Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte des deutschen Prosalancelot hat dies auch für die 13 Vgl. dazu exemplarisch den forschungsgeschichtlichen Überblick von Bertelsmeier-Kierst, »Erzählen in Prosa«, in dem dieser Aspekt nicht thematisiert wird, der aber für die geforderte Berücksichtigung des mediengeschichtlichen Wandels (161) sehr wichtig wäre. 14 Siehe Frank Brandsma und Fritz Peter Knapp, »Lancelotromane«, in: René Pérennec und Elisabeth Schmid (Hgg.), Höfischer Roman in Vers und Prosa (Germania Litteraria Mediaevalis Francigenia 5), Berlin / New York 2010, 393–457, hier 404 f. und 412.
Prosaroman und Figurenrede
117
zeitlich zu unterscheidenden Übersetzungsphasen und -prozesse bestätigt.15 Dies gilt ebenso für den letzten Teil, den Tod des König Artus16. In Zusammenhang mit den zu untersuchenden Redeszenen zeigt sich im Vergleich der altfranzösischen und der mittelhochdeutschen bzw. frühneuhochdeutschen Texte allerdings eine in den Sprachsystemen bedingte Differenz, die die inquit-Formeln betrifft. Wie Franz Hundsnurscher grundlegend für Erzählverfahren und ihre sprachliche Umsetzung feststellt, ist die Hervorhebung sprachlicher Handlungen durch inquit-Formeln im Zusammenhang einer Erzählung ein universeller Zug, der zur Grammatik einer Sprache gehört; seine spezifische Funktion besteht darin, die Redekonstellation und die dialogische Abfolge von Redebeiträgen explizit zu machen.17
Die Forschung zu den französischen Prosatexten im Allgemeinen und zum Lancelot en prose im Besonderen hat für die Gestaltung der Redeszenen im Prosatext ein Strukturmuster beschrieben, das regelmäßig Anwendung findet. Die erste Redeeinheit wird mit vorangestellter inquit-Formel eingeleitet, die nachfolgenden Reden kennzeichnet die zwischengestellte (seltener die in Endposition nachgestellte) inquit-Formel.18 Entsprechend der Position der inquit-Formel in Verbindung mit direkter Rede gibt es Verwendungskonventionen in den altfranzösischen Texten, wie auch in der Mort le Roi Artu: Das Verb der einleitenden inquit-Formel ist dire mit 15 Vgl. u. a.: Monika Unzeitig, »Zu Fragen der Wirkungsäquivalenz zwischen der altfranzösischen ›Queste del Saint Graal‹ und den deutschen Fassungen der ›GralQueste‹ des ›Prosa-Lancelot‹ «, Wolfram Studien XIV (1996), 149–170; Thordis Hennings, Altfranzösischer und mittelhochdeutscher Prosa-Lancelot. Übersetzungsund quellenkritische Studien, Heidelberg 2001; Katja Rothstein, Der mittelhochdeutsche Prosa-Lancelot. Eine entstehungs- und überlieferungsgeschichtliche Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der Handschrift Ms. allem. 8017–8020 (Kultur, Wissenschaft, Literatur. Beiträge zur Mittelalterforschung 15), Frankfurt a. M. u. a. 2007; René Pérennec, » ›Lancelot en prose‹ / ›Prosa-Lancelot‹. Übersetzungsanalyse als Mittel des Lexikvergleichs. Einige Bemerkungen«, in: Klaus Ridder und Christoph Huber (Hgg.), Lancelot. Der mittelhochdeutsche Roman im europäischen Kontext, Tübingen 2007, 29–42. 16 Die von Buschinger vertretene Ansicht, dass der Tod des König Artus gegenüber dem französischen Text eine Bearbeitung sei, darf in der Forschung (siehe Anm. 15) als widerlegt gelten: Danielle Buschinger, »Zum Verhältnis des deutschen Prosa-Lancelot zur altfranzösischen Vorlage«, Wolfram Studien IX (1984), 46–89. 17 Franz Hundsnurscher, »Das literarisch-stilistische Potential der inquit-Formel«, in: Nine Miedema und Franz Hundsnurscher (Hgg.), Formen und Funktionen von Redeszenen in der mittelhochdeutschen Großepik (Beiträge zur Dialogforschung 36), Tübingen 2007, 103–115, hier 106. 18 Siehe Christine Ferlampin, »Les Dialogues dans le Tristan en prose« in: Jean Dufournet (Hg.), Nouvelles recherches sur le Tristan en prose, Paris 1990, 79–121, hier 112.
118
Monika Unzeitig
ambiger Tempusform (Präsens oder Perfekt bzw. Passé simple), das der nachfolgenden zwischen- bzw. nachgestellten mit faire stets im Tempus des Präsens.19 Die Markierung des Beginns der direkten Rede mit nach- / zwischengestellter inquit-Formel erfolgt in der Regel durch Anrede des Gesprächspartners (Adressatenverweis) und durch sog. starters20, diese sind häufig Adverbien der Behauptung (assertion, z. B.: afrz. certes) oder auch Interjektionen. Der mittelhochdeutsche Text in der Ausgabe von Hans-Hugo Steinhoff21 zeigt strukturell die gleiche Abfolge bzw. Platzierung der inquit-Formeln wie auch die Verwendung von Markierungsindikatoren, nicht aber den Wechsel der verba dicendi von dire und faire und (potenzieller) Tempusalternanz, sondern setzt für die inquit-Formel die im Mittelhochdeutschen usuelle Verbform von ›sprechen‹ im Präteritum ein: ›sprach‹.22 Mit dieser konsequenten Anpassung an den mittelhochdeutschen Sprachgebrauch bietet der deutsche Text keine analoge Differenzierung der Verbverwendung nach Stellung der inquit-Formel, gleichwohl übernimmt er aber die Vor- und Zwischenstellung des französischen Textes. Zum Vergleich ist die erste längere Redeszene zu Beginn der Mort le Roi Artu und im Tod des König Artus wiedergegeben: Li rois avoit oï consonner que messires Gauvains en avoit ocis pluseurs, si le fist venir par devant lui et li dist: ›Gauvain, je vos requier seur le serement que vos me feïstes quant ge vos fis chevalier que vos me diez ce que ge vos demanderai. – Sire, fet messire Gauvains, vos m’avez tant conjuré que ge ne leroie en nule maniere que ge nel vos deïsse, neïs se c’estoit ma honte, la greigneur qui onques a chevalier de vostre cort avenist. – Or vos demant ge, fet le rois, quanz chevaliers vos cuidiez avoir ocis de vostre mein en ceste queste.‹23 Und der konig hett horen sagen das ir her Gawin manchen het dot geschlagen. Den det er vor sich komen und sprach: ›Gawyn, ich manen uch off den eyde, den ir mir datent da ich uch ritter machte, das ir mir sagent das ich uch fragen sol.‹ ›Herre‹, sprach her Gawin, ›ir hant mich also sere besworen das ich sin nit
19 Perret,
»Façons de dire«, 185. Begriff beschreibt schon seine Funktion; vgl. Brandsma, »Knigths’ talk«, 518 sowie Perret, »Façons de dire«, 185. 21 Textausgabe: Die Suche nach dem Gral. Der Tod des Königs Artus. Prosalancelot V. Nach der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. germ. 147, hg. Reinhold Kluge, übers., komm. u. hg. Hans-Hugo Steinhoff, Frankfurt a. M. 2004. 22 Zur inquit-Formel in mittelhochdeutschen Texten siehe Hundsnurscher, Das literarisch-stilistische Potential der inquit-Formel, 105, Anm. 2: »Das Standard-inquit-Verb im Mittelhochdeutschen ist sprechen.« 23 Textausgabe: La Mort Le Roi Artu. Roman du XIIIe siècle, hg. Jean Frappier, troisième édition, Genève 1996, 3,1–12. 20 Der
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enlaßen in keyner wyse, ich sagen es uch, und were es auch myn groß schand, die größt die ye keyn ritter gedet.‹ ›Nu gebieten ich uch‹, sprach der konig, ›das ir mir sagent wie manchen ritter, des uch dúncket, das ir erschlagen hant in dißer schunge.‹24
Wie schon von Leo Spitzer25 beschrieben, ist afrz. il di(s)t »zweideutig«26 bezüglich seiner Tempusfunktion (Präsens oder Perfekt), hingegen das parenthetisch verwendete afrz. fet il eindeutig als Präsensform markiert. Der Wechsel von dire und faire als verba dicendi erweist sich zudem als ein gattungsspezifischer des höfischen Romans gegenüber den chansons de geste, die überwiegend dire vor- und nachgestellt verwenden. Für einen je spezifischen Ausdruckswert von dire und faire argumentiert Spitzer stilistisch und verweist für die Redeeinleitung mit dire auf einen pathetischen Ton; hingegen impliziere faire aufgrund seiner umgangssprachlichen Herkunft nicht nur eine natürliche, sondern auch affektiv konnotierte Rede.27 Inwiefern die Nivellierung der verbalen Gebrauchsdifferenz im mittelhochdeutschen Text und damit die fehlende Äquivalenz, die zwar nur einen relativ kleinen sprachlichen Aspekt tangiert, doch von Relevanz ist, wäre sowohl für die Gattungszuordnung (Konventionen zum Gebrauch der inquitFormeln) als auch für die strukturelle Anordnung der Figurenrede und damit für die Rezeptionsbedingungen zu überlegen. Diese Fragen zur Wirkungsäquivalenz sollen an dieser Stelle aber nur angedeutet bleiben und mit Blick auf die spätere Überlieferung des französischen Lancelot en prose und deutschen Prosalancelot und die Systemveränderung im Gebrauch der verba dicendi kurz problematisiert werden. Die Verwendung und Gestal24 Die Suche nach dem Gral. Der Tod des Königs Artus, hg. Steinhoff, S. 544, Z. 26–S. 546, Z. 4. Kursivierung in beiden Zitaten zur Hervorhebung von der Verfasserin. In der neuhochdeutschen Übersetzung von Hans-Hugo Steinhoff sind die im mittelhochdeutschen Text sprachlich realisierten Markierungen wie inquit-Formel oder Anrede im Text für die direkte Rede nicht durchgehend wiedergegeben; dies dürfte auch der modernen – visualisierenden – Interpunktion und einem modernen Prosastil geschuldet sein; verändert ist z. T. auch die Syntax. Hier zum Vergleich die nhd. Übersetzung der Ausgabe: »Der König hatte gehört, daß Gawan viele davon getötet habe. Er ließ ihn vor sich kommen und sagte: ›Ich fordere Euch bei dem Eid auf, Gawan, den Ihr mir geschworen habt, als ich Euch zum Ritter gemacht habe, mir auf das zu antworten, wonach ich Euch fragen werde.‹ ›Ihr habt mich so hoch beschworen, daß ich auf keinen Fall unterlassen werde, Euch zu antworten, auch wenn mir das die größte Schande einbringen sollte, mit der sich je ein Ritter bedeckt hat.‹ ›Dann fordere ich Euch auf‹, sagte der König, ›mir zu sagen, wie viele Ritter Ihr auf dieser Suche getötet zu haben meint.‹ « (S. 545, Z. 26–S. 547, Z. 4). 25 Leo Spitzer, »Zur Bewertung des ›Schöpferischen‹ in der Sprache. (Zwei Musterfälle.)«, Archivum Romanicum VIII (1924), 349–385. 26 Ibid., 349 f. 27 Ibid., 360, vgl. so auch Ferlampin, »Les Dialogues«, 112 f.
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tung der inquit-Formel mit Bezug auf die Tradierung des Lancelot en prose und des Prosalancelot ist noch weiter philologisch zu differenzieren und zu beschreiben. Die französischen Druckfassungen des Lancelot en prose (1488, 1494, 1520) bieten nicht mehr eine konsequente Alternanz der verba dicendi von dire und faire, sondern vereinheitlichen durchweg zu dire, wie z. B. der Druck von Antoine Vérard Paris 149428 zeigt: Li roys artus auoit ouy dire que messire Gauua en auoit occis plusieurs si le fist venir deuant luy et luy dist Gauua le vous requier sur le serment que vous me feistes quant ie vous feis cheualier premierement que vous me dictes ce que ie vous demanderay. Sire dist messire gauuain vos mauez tant ciure que ie ne lairoie en nulle maniere que ie ne vous deisse la verite / et feusse ma grant hte fust elle la plus grande q’onques aduenist a chevalier. Or vous demāde ie dist le roy quās cheualiers cuidez vous auoir tues de vostre main.29
Die Handschrift a des deutschen Prosalancelot aus dem 16. Jahrhundert (Bibliothèque Arsenal, Ms. allem. 8017–12), die die jüngste deutsche Rezeption des Lancelot en prose dokumentiert und die Übersetzung einer der frühen französischen Drucke bietet (bislang wurde stets der Druck von 1488 vermutet, es dürfte aber ein späterer Druck sein),30 verwendet im Tod des König Artus für die inquit-Formel überwiegend das im Frühneuhochdeutschen zunehmend verwendete Verb ›sagen‹,31 alternierend mit dem deutlich weniger frequent eingesetzten ›sprechen‹. Das dominierende inquit-Verb ist in der flektierten Form ›er sagt‹ und durch den sog. Präte ritumschwund der schwachen Verben (Apokope des Präteritum-e) bezüglich seiner Tempusfunktion nicht (mehr) eindeutig, kann also Präsens oder Präteritum meinen.32 In der Verteilung lässt sich feststellen, dass die tem28 GW
12622. Druck von 1494 erfolgt die Interpunktion durch Punkte am Satzende, aber nicht zur Markierung der direkten Rede bzw. der Redewechsel. Die Virgel dient der syntaktischen Untergliederung (eventuell auch als Lesezeichen). Der gleiche Befund gilt für den Druck von Philippe Le Noir (Paris 1513). Der Druck von 1488 verwendet hingegen auch Doppelpunkte, in syntaktischer Funktion, wie bei »auoit occis plusieurs: si le«; und wie sich zeigt, fast ›modern‹, nach der inquit-Formel: »et luy dist: Gauuain«. 30 Siehe Anm. 46. 31 Siehe dazu Franz Hundsnurscher, »Sprechen und sagen im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit«, in: Nine Miedema und Rudolf Suntrup (Hgg.), Literatur – Geschichte – Literaturgeschichte. Beiträge zur mediävistischen Literaturwissenschaft. Festschrift Volker Honemann zum 60. Geburtstag, Frankfurt a. M. u. a. 2003, 31–52, insbesondere 39–49. 32 Siehe Hundsnurscher, »Sprechen und sagen«, 44, und vgl. zum Verlust der Tempusdistinktion bei den Formen der schwachen Verben auch Christopher Jon Wells, Deutsch: Eine Sprachgeschichte bis 1945, Tübingen 1990, 186 f., sowie Wilhelm 29 Im
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pusambigen Formen von ›sagen‹ in allen Positionen stehen können, hingegen die wenigen Präteritumformen von ›sprechen‹ bevorzugt in nachgestellter bzw. zwischengestellter Position. In diesem Zusammenhang spielt womöglich auch der Umstand eine Rolle, das sprechen und sagen verschiedenen Verbklassen angehören. Bei dem starken Verb sprechen sind Präteritum- und Präsensform klar voneinander unterscheidbar, so dass die narrative Inquit-Formel (er sprach) die Erzählfunktion klar markiert, so dass sie eindeutig von der zitierenden Inquit-Formel (… der da spricht: ›…‹) und der vergegenwärtigenden Inquit-Formel (›…‹, spricht / sagt er) unterschieden werden kann, während bei sagen durch die Apokope des unbetonten -e und dem damit verbundenen sog. Präteritumschwund besonders im oberdeutschen Sprachgebiet ambige Formen entstehen, so dass auch in eindeutig präterital-narrativ markierten Umgebungen die sagen-Formeln zwischen narrativer und vergegenwärtigender Funktion oszillieren.33
Nimmt man diese Überlegungen von Hundsnurscher auf, dann wäre gerade das im Sprachsystem bedingte Oszillieren im deutschen Text des 16. Jahrhunderts präsent und dieses wäre keineswegs vorlagenbedingt, denn in den französischen Vergleichstexten des 15. und 16. Jahrhunderts erfährt die für das 13. Jahrhundert festzustellende Alternanz die beschriebene Vereinheitlichung in der Verwendung von dire. In der Konsequenz wäre somit für einen Übersetzungsvergleich eine entsprechend genaue Differenzierung der zu analysierenden Texte vorzunehmen. Die Übersetzung der inquit-Formeln hat generell bislang keine Berücksichtigung gefunden. Dies mag im Vergleich von altfranzösischen und mittelhochdeutschen Versromanen nur ein peripherer Aspekt sein, da grundsätzlich die Umarbeitung von Versdichtung eine metrische Umgestaltung notwendig macht. Im Übrigen hat die Tempusalternanz (Präsens und Vergangenheitsformen), die die altfranzösischen literarischen Texte im Gegensatz zu den mittelhochdeutschen auszeichnet, wenig Beachtung gefunden, vielleicht auch da sie sich einer beschreibbaren Systematik34 entzieht. Demgegenüber zeigt sich für die Prosatexte eine andere Vergleichssituation. Weiterführend wäre daher nach einer möglichen Wirkung der Tempusdifferenz zu fragen35 und auch mit einer komparatistischen Per Schmidt, Geschichte der deutschen Sprache. Ein Lehrbuch für das germanistische Studium, 6. Aufl. erarb. unter der Leitung v. Helmut Langner, Stuttgart / Leipzig 1993, 319. 33 Hundsnurscher, »Sprechen und sagen«, 49. 34 Siehe zum Tempus in der altfranzösischen Sprache Harald Weinrich, Tempus. Besprochene und erzählte Welt, 6., neu bearb. Aufl., München 2001, 238–243. 35 Bei Hennings, Altfranzösischer und mittelhochdeutscher Prosa-Lancelot, ist die inquit-Formel und ihr Übersetzungstransfer nicht beachtet.
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spektivierung nach einer stilistischen Zuordnung literarischer Gattungen bzw. einzelner Werke.36 IV. Redeszenen in der mittelalterlichen Literatur und in der Mort le Roi Artu und im Tod des König Artus Systematisierende Beschreibungen von Redeszenen sowie zahlreiche Einzelanalysen ihrer Funktionen haben gezeigt, wie sehr die mittelalterlichen Versromane im 12. und 13. Jahrhundert von Redeszenen geprägt sind, wie bewusst die fingierte Rede der Figuren Teil von Erzählkonzepten ist.37 Der Einsatz von Redeszenen als narrative Strategien, als auf Performanz bezogene Mittel der Theatralisierung und auch als Spiegel einer höfischen Gesprächskultur ist in den altfranzösischen literarischen Texten wesentlich vorgebildet; im Vergleich von altfranzösischen Vorlagen und mittelhochdeutschen Bearbeitungen zeigt sich wiederum ein emanzipierter und reflektierter Umgang mit den vielfältigen Möglichkeiten von Streitund Konfliktgesprächen, von Minnemonologen, von Wechsel zwischen Erzähler- und Figurenstimme. Es ist zudem bezeichnend, dass die mittelalterlichen literarischen Versromane selbst sehr deutlich ihre Existenz im Kontext einer mündlich vermittelten Poesie spiegeln sowie ihre eigene mögliche mediale Vermittlung sprachlich ausgestaltet in den Text inserieren. So erhält die Stimme des Erzählers eine Autorität, die Einfluss nimmt auf die Rezeption durch ein hörendes Publikum. Indem eine face-to-faceKommunikation imaginiert wird, ist dies auch eine unmittelbar durch Nähe geprägte Kommunikation. Im Effekt wirkt diese sorgfältig konzipierte Vortragsinszenierung so spontan, als würde der Vortrag der Erzählung im Hier und Jetzt stattfinden. Gleichzeitig bietet sich in dieser fingierten »Ko-Präsenz eines erzählenden ›Ichs‹ und eines zuhörenden ›Ihr‹ das Mittel, der Reflexion der Autoren auf ihr eigenes Handeln einen Ort zu eröffnen, an dem diese sich artikulieren kann. Dahinter steht das Be36 Dieser Ansatz dürfte mit einer größeren Textbasis in sprach- wie auch literaturwissenschaftlicher Hinsicht ertragreich sein, wie erste Stichproben zeigen: vgl. z. B. Ulrich Füeterers Prosaroman von Lanzelot nach der Donaueschinger Handschrift, hg. Arthur Peter, Tübingen 1885: ›das puech von künig Artus tod‹ (In der Handschrift findet sich überwiegend die Verwendung von ›sprach‹, seltener ›sagt‹ oder ›sagte‹). 37 Siehe z. B. Miedema u. Hundsnurscher (Hgg.), Formen und Funktionen; Monika Unzeitig, Nine Miedema, Franz Hundsnurscher (Hgg.), Redeszenen in der mittelalterlichen Großepik. Komparatistische Perspektiven (Historische Dialogforschung 1), Berlin 2011; Corinne Denoyelle, Poétique du Dialogue médiéval, Rennes 2010.
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wußtsein dieser Autoren über die Bedingungen ihres Tuns«.38 So wie die Suggestion von spontanem Vortrag durch den Erzähler / Autor im Text angelegt ist, so sind auch die auf Figurenebene vertexteten Stimmen nicht nur Funktionsträger für die Handlung, sondern rezipientenorientiert zusätzlich als erzählstrategische Mittel eingesetzt: Der Zuhörer hat stets an der Figurenrede (ob privat oder öffentlich) als Ohrenzeuge teil und so können die nähesprachlichen Effekte fingierter Mündlichkeit die Suggestion von Spontaneität und Simultanität von Rede erzeugen.39 Erzähler- / Autorstimme und Figurenrede im Text generieren eine performativ realisierbare Mehrstimmigkeit, die textintern und textextern die Kommunikation bestimmt. Gegenüber der dem französischen wie auch deutschen Versroman eigenen personalisierten Erzähler- und Autorkonzeption und ihrer Inszenierung mit Bezug auf den dichterischen Vortrag und seiner Interaktion mit dem Publikum zeichnet sich der zu Beginn des 13. Jahrhunderts entstehende französische Prosaroman nicht allein durch eine neue Form, sondern durch eine »radikale Veränderung des Erzählstatus« und einen »neuen Anspruch auf Verbindlichkeit« aus.40 Der Lancelot en prose präsentiert sich anonym sowie erzählerlos und überlässt die Stimme des Ich-Erzählers dem ›conte‹ (»or dit li contes«). Ein erkennbar dialogisch ausgerichteter Modus zwischen ›conte‹ und Rezipienten wird nicht etabliert.41 Aber auch wenn der ›conte‹ weder die Form seiner eigenen Rezeption thematisiert noch diese explizit steuert, ist diese in der Formulierung »or dit li contes« indiziert. Im Lancelot en prose verbindet sich »la voix anonyme et imper38 Maria Selig, »Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Bereich der trobadoresken Lieddichtung«, in: Werner Röcke und Ursula Schaefer (Hgg.), Mündlichkeit – Schriftlichkeit – Weltbildwandel. Literarische Kommunikation und Deutungsschemata von Wirklichkeit in der Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Tübingen 1996, 9–37, hier 29. 39 Siehe Peter Koch und Wulf Oesterreicher, »Sprache der Nähe – Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte«, Romanistisches Jahrbuch 36 (1985), 15–43; Wolf-Dieter Stempel, »Zur Frage der Repräsentation der gesprochenen Sprache in der altfranzösischen Literatur«, in: Andreas Kablitz und Gerhard Neumann (Hgg.), Mimesis und Simulation (Litterae 52), Freiburg i. Br. 1998, 235–254, 253 zur Simulation gesprochener Sprache als »Illusion einer Simulation«. 40 Friedrich Wolfzettel, »Der Lancelot-Roman als Paradigma. Vom geschlossenen symbolischen Stil des Chrétienschen Versromans zur offenen Welterfassung der Prosa«, in: Ridder u. Huber (Hgg.), Lancelot, 13–26, hier 14. 41 Vgl. im Unterschied dazu den Tristan en prose mit Erzählerfigur sowie auch kommentierender und ironischer Erzählweise, siehe Emmanuèle Baumgartner, La Harpe & l’Épée. Tradition et renouvellement dans le ›Tristan‹ en prose, Paris 1990, 48 f. und Ferlampin, »Les Dialogues«.
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sonelle du conte«42 mit den Verben ›dire‹ und ›taire‹ bzw. ›parler‹; die kurzen formelhaften Wendungen des Sprechens und Schweigens schaffen die Vorstellung, die Geschichte erzähle sich – objektiv, ohne Vermittlungsinstanz – selber; der ›conte‹ ist so zugleich extradiegetische und eigene Sprechinstanz (mit hörbarer Stimme). Die feste Verbindung von temporaler Deixis ›or‹ und Präsensform ›dit‹ markiert zudem einerseits die präsentische Erzählposition des ›conte‹ und fungiert andererseits zugleich als Hinweis auf den gegenwärtigen Rezeptionsvorgang. Die deutsche Übersetzung gibt im Tod des König Artus durchgehend ›conte‹ mit ›abentúre‹ wieder: »nu saget uns die abentúre«. Zugleich modifiziert sie die altfranzösische Formulierung, indem sie diese durch eine Rezipientenadressierung mit kollektivem ›uns‹ ergänzt.43 Sowohl die Wortwahl wie auch der eingefügte pluralis societatis dürften in den im deutschen System versifizierter Literatur gängigen Formulierungen des Typs ›als die aventiure uns kündet‹ oder ›als uns das maere / buoch / liet saget‹ begründet sein.44 Die im deutschen Text gesetzte, mit ›uns‹ erweiterte und personalisierte, Erzählgeste zeigt, dass die im afrz. Prosaroman so radikale Veränderung des Erzählstatus zu einer ›narration objective‹ nicht umgesetzt wird bzw. werden kann. Während im Versroman die im Text angelegte Erzähler- / Autorstimme die Autorität über das Werk behauptet und diese auf die performative Ausgestaltung hin konzipiert ist, wird im Lancelot en prose die Autorität des ›conte‹ nicht allein durch die in der gesetzten Formulierung »or dit li contes« behauptete Präsenz begründet, sondern auch zusätzlich durch seine schriftliche Grundlage. Im Übergang von der Queste zur Mort le Roi Artu heißt es, dass König Artus Bohorts Bericht von den Ereignissen 42 Baumgartner, La Harpe & l’Épée, 45. Vgl. z. B.: »Mes atant s’en test ore li contes a parler« 121,14 f.; »Mes li contes ore lesse a parler« 133,10 f. 43 Im Tod des König Artus wird ›conte‹ stets mit ›abentúre‹ übersetzt; zu den weiteren begrifflichen Entsprechungen in der Übersetzung von ›conte‹ im deutschen Prosalancelot siehe Unzeitig, »Zu Fragen der Wirkungsäquivalenz«, 161, und Joachim Knape, ›Historia‹ in Mittelalter und Früher Neuzeit. Begriffs- und gattungsgeschichtliche Untersuchungen im interdisziplinären Kontext (Saecvla Spiritalia 10), Baden-Baden 1984, 213–237 und 467–474. Zur Übersetzung der Formel »Or dist li contes« im ersten Teil des mhd. Prosalancelot und in den mittelniederländischen Versbearbeitungen sowie zu den (wenigen) formelhaften Ich-Erzählerinterventionen siehe Frank Brandsma, »Conte and Avonture. Narration and Communication with the Audience in the French, Dutch, and German ›Lancelot’ texts«, in: Ridder u. Huber (Hgg.), Lancelot, 121–133. Auch Hs a konserviert diese Form des kollektiven ›uns‹, setzt jedoch für ›conte‹ das Buch: »Vnns sagt dießs Buch«. 44 Siehe z. B. Eberhard Nellmann, Wolframs Erzähltechnik. Untersuchungen zur Funktion des Erzählers, Wiesbaden 1973, 47–50.
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aufzeichnen lässt, dass diese Aufzeichnungen in der Abtei von Salebieres aufbewahrt worden seien und dass Gautier Map das Buch aus dem Lateinischen ins Französische für König Heinrich übersetzt habe. Dieser habe, so beginnt die Mort le Roi Artu, Gautier Map weiterhin aufgefordert, die Geschichte bzw. das Buch zu vervollständigen. Dementsprechend setzt an dieser Stelle der letzte Teil mit folgenden Worten ein: »Si commence mestres Gautiers en tel maniere ceste derrienne partie.«45 Die sich an schließende Erzählung beginnt wiederum mit der Ankunft Bohorts in Kamelot, seinem Bericht von Galahots und Parzivals Tod und der Feststellung, dass König Artus alle Aventiuren der Queste aufzeichnen lässt.46 Die konstruierte Werkgenese argumentiert mit der Augenzeugenschaft Bohorts, mit einer doppelten Verschriftlichung durch Artus’ Kleriker und durch Gautier Map, mit der zusätzlichen Übersetzung einer lateinischen Zwischenstufe in die Volkssprache durch Gautier Map im Auftrag von König Heinrich, mit einem sakralen Aufbewahrungsort der Schriften, nämlich im Kloster – aufgerufen wird das gesamte zur Verfügung stehende Repertoire für die Legitimierung des Erzählten47. In der Konsequenz ist die Stimme des ›conte‹ die (durch die Schrift) autorisierte Artikulation der im Medium der Schrift fixierten Aufzeichnungen. Die so imaginierte Werkentstehungsgeschichte bleibt aber nur isolierter gelehrter eingeschobener Verweis, der Anfang und Ende der Queste und der Mort le Roi 45 La
Mort Le Roi Artu, hg. Frappier, 1,14–16. Verweise auf Gautier Map finden sich nicht (mehr) in den französischen Lancelot-Drucken 1494 (Antoine Vérard) und 1513 (Philippe Le Noir) und nicht in der deutschen Übersetzung der Hs a. Nach der erweiterten Sichtung der französischen Lancelot-Drucke (von 1494 und 1513) dürfte die bisherige Zuordnung der Inkunabel (editio princeps) von 1488 (D) als mögliche Vorlage für die deutsche Übersetzung in der Hs a in Frage zu stellen sein. Die festgestellte Differenz zwischen dem Druck 1488 und der Übersetzung in Hs a bezüglich der Streichung von Gautier Map als Verfasser wäre dann nicht mehr eine Bearbeitungsabsicht, sondern lediglich einer anderen Druckvorlage und dem Umstand geschuldet, dass die beiden nachfolgenden Drucke Gautier Map nicht mehr erwähnen. Weitere Autopsien und Vergleiche zur Sicherung dieser Vermutung wären noch zu leisten. Vgl. zum bisherigen Forschungsstand Waltraud Zucha-Glass, Die mittelhochdeutsche Übersetzung der ›Queste del Saint Graal‹, Diss. Wien 1989, darauf aufbauend Unzeitig, »Zu Fragen der Wirkungsäquivalenz« und Rothstein, Der mittelhochdeutsche Prosa-Lancelot. Mit diesem Befund wäre auch die von Rothstein angestoßene Frage nach möglichen deutschsprachigen Vorlagen zur Erklärung der Abweichungen zwischen dem Druck von 1488 und dem Text der Hs a weiter zu verfolgen, siehe Katja Rothstein, »Eine Entstehungsgeschichte der Lancelot-Handschrift Ms. allem. 8017–8020 (a)«, in: Ridder u. Huber (Hgg.), Lancelot, 281–291, hier 283. 47 Vgl. z. B. Max Grosse, Das Buch im Roman. Studien zu Buchverweis und Autoritätszitat in altfranzösischen Texten, München 1994, zu den verwendeten Topoi in den Auffindungs- und Entstehungserzählungen der chansons de geste, 43–45. 46 Die
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Artu rahmt, denn ihre Fort- und Umsetzung findet sich nicht in einer entsprechenden ›personalisierten‹ Perspektivierung der Erzählung der Mort le Roi Artu, in dem Sinne, dass etwa durch Bohort oder Gautier Map erzählt würde. Kennzeichnend ist eine ›Entpersonalisierung des Erzählens‹48 und damit das Fehlen einer subjektbezogenen und subjektivierenden Erzählperspektive und ihrer stimmlichen Präsenz.49 Der Text bietet in seiner Struktur eine – nicht zu hinterfragende – Fokalisierung, die im Wissen über alle Geschehnisse und Reden verankert scheint, ohne intervenierende oder interagierende metadiegetische Ebene.50 Der wiederholende Einsatz der stereotypen Formulierung »or dit li contes« fungiert wesentlich als strukturierendes Verweisen und Markieren von Erzählabschnitten und so als Ausweis des scheinbar objektiven Wissens der sich selbst erzählenden Geschichte. Ohne die stimmliche Präsenz eines erzählenden ›Ichs‹ mit seinen zugleich das Werk konstituierenden und performativen Funktionen kann auch kein Delegieren der Stimme an die Figuren erfolgen. Der Konstruktion alternierender Stimmenmarkierung zwischen Erzähler- und Figurenebene entspricht im Prosaroman der Differenz von récit und discours, Erzählbericht durch den conte, die abentúr, die sagen, und Figuren, die sprechen. Dies bedeutet, dass die im Vortrag des Versromans als zwei Dimensionen der Aussage51 (inter)agierenden Erzähler- und Figurenreden und ihre daraus erwachsende Spannung im Prosatext aufgegeben ist. In der Mort le Roi Artu korreliert die stimmliche Abwesenheit eines personalen Erzählers mit der – auch quantitativen – Aufwertung der stimmlichen Präsenz der Figuren; der versatzstückhaft markierten und (im Vergleich zum Versroman) auf relativ wenige Stellen reduzierten stimmlichen Präsenz der textgenerierenden Instanz des ›conte‹ stehen die in zahlreichen Redeszenen artikulierten Figurenstimmen gegenüber. Sie sind, wie schon beschrieben, für den Redeanfang jeweils durch inquit-Formeln oder durch unmittelbaren Redebeginn, dann meist eröffnet mit Anrede, einge48 Friedrich Wolfzettel, »Der Lancelot-Roman als Paradigma. Vom geschlossenen symbolischen Stil des Chrétienschen Versromans zur offenen Welterfassung der Prosa«, in: Ridder u. Huber (Hgg.), Lancelot, 13–26, hier 14. 49 Es gibt im Tod des König Artus nur eine Stelle mit einer formelhaften Aussage eines Ich-Erzählers, 852,17: »Noch mocht ich me davon sagen«. Vgl. zu den auch nur vereinzelt auftretenden Ich-Erzähler-Nennungen im Lancelot-Teil Brandsma, »Conte and Avonture«, 126–129. 50 Anders als in der Queste sind in der Mort le Roi Artu und seiner aventiurelosen Welt auf der Figurenebene auch keine Deutungsstimmen von Klerikern und Einsiedlern mehr vorhanden, die die Zeichenhaftigkeit und die Wahrheit der ›Bedeutnisaventiuren‹ erklären, siehe Monika Unzeitig, Jungfrauen und Einsiedler. Studien zur Organisation der Aventiurewelt im ›Prosalancelot‹, Heidelberg 1990, 144–148. 51 Siehe Eberhard Lämmert, Bauformen des Erzählens, Stuttgart 1983, 201.
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führt. Typisch für den Redebeginn sind Anredeformen wie afrz. ›sire‹, ›seigneur‹, ›biaus niés‹, ›damoisele‹, ›dame‹; mhd. ›herre‹, ›liebe herren‹, ›lieber neffe‹, ›liebe jungfrauwe‹, ›frauw‹.52 Dass der häufige Gebrauch der Anrede mehr als nur zur Referenzsicherung dient, ist anzunehmen. So wie die Anredeformen als Indizien für Höflichkeit und höfische Redekonventionen verstanden werden können, so sind die ebenfalls häufigen Interjektionsformen zu Redebeginn, wie afrz. ›ha! hé!‹; mhd. ›ach‹, mit nachfolgender Anrede deutlich emotional konnotiert,53 und die mit afrz. ›certes‹, mhd. ›sicher‹ eingeleiteten Anreden mehr als nur höfliche Form, sondern zugleich behauptende oder bestätigende Erwiderung. Das Redeende, besonders längerer Passagen, kann auch mit dem Hinweis beschlossen werden, dass nun das Gespräch zu einem Ende gekommen sei.54 Für die altfranzösische Fassung La Mort le Roi Artu hat Jean Frappier bereits festgestellt, dass der Wortschatz schlicht, teilweise formelhaft, die literarische Sprache gleichförmig (»uniforme«) ist. Die syntaktischen Möglichkeiten werden nur zum Teil ausgeschöpft (Stellung von Subjekt, Prädikat, Objekt).55 Dies kann auch für die deutsche Fassung festgestellt werden: Die deutsche Prosa wirkt sprachlich und stilistisch einfach. Dies gilt grundlegend für die Passagen des Erzählberichts.56 Demgegenüber fällt auf, dass sich die Redeszenen durch rhetorische Qualität und Eloquenz sowie Lebendigkeit und Affekt auszeichnen.57 Insofern ist der Blick auf den Text und seine Rezeption naheliegend: Wie gut eignet sich der Prosaroman zum lauten Vorlesen, ist er im Effekt dem Versroman vergleichbar? 52 Steinhoff lässt in seiner Übersetzung konsequent die Anredeformen weg. Dadurch wirken die Redeeinsätze unmittelbarer. Außerdem vermeidet er die Wiedergabe der häufig verwendeten Reihung durch ›und‹. 53 Die afrz. Interjektionen können ein großes Spektrum an Affekten ausdrücken, wobei die intendierte Konnotation allein durch den Kontext bestimmt scheint, folgt man der Auswertung von Hans Espe, Die Interjektionen im Altfranzösischen. Diss. Königsberg, Berlin 1908, zu Ha 15–17, zu Hé 18–20. 54 »Antant fine li parlemenz« (120,1); »Alda nam die rede ein ende« (S. 826, Z. 16). 55 Jean Frappier, Étude sur la Mort le Roi Artu. Roman du XIIIe siècle. Dernière Partie du LANCELOT en Prose. Troisième édition revue et augmentée, Genève 1972, 372–385. 56 Zum Stil des Prosalancelot vgl. Ulrich Wyss, »Ein neuer hoher Stil?«, in: Ridder u. Huber (Hgg.), Lancelot, 93–104, und Elisabeth Schmid, »Vers und Prosa. Die Erzählmanier in der Karrenritterepisode«, in: ibid., 105–118. 57 So auch Frappier, Étude, 388. Unter Berücksichtigung der Gestaltung der Redeszenen könnten auch die Überlegungen von Wyss, »Ein neuer hoher Stil?« und Schmid, »Vers und Prosa«, zum Stil des Lancelot en prose und des Prosalancelot weitergeführt werden.
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Ist es überhaupt ein Text, der im lauten Lesen seine Wirkung zeigt bzw. setzt der Text auf theatralische und dramatische Effekte? Die Fragen lassen sich bejahen. Auch wenn die redepointierenden Möglichkeiten des Versromans durch Reimbindung und Reimbrechung nicht gegeben sind, nutzt der Prosatext ebenfalls die Figurenrede zu einer gegenüber dem Erzählbericht deutlich hervorgehobenen Dramatisierung. Höhepunkte krisenhafter Situationen sind konzentriert in hörbaren Selbstgesprächen. Diese Monologe58 bzw. monologartigen, langen affektbetonten Reden fordern die Empathie der Rezipienten. Zu nennen wären Ginovers Monolog nach ihrer Erkenntnis des falschen Verdachts der Untreue gegenüber Lancelot,59 Lancelots Abschiedsrede vor seinem Aufbruch nach Logres, die Bohort zufällig mithört,60 die Totenklage Gawans über seinen Bruder,61 die monologische Abschiedsrede Gawans vor seinem Tod,62 Artus’ Klage über den Tod seines Neffen Gaheries63 sowie auch seine Klage über den Tod Gawans.64 Gegenüber den körpersprachlichen Reaktionen auf die Todesnachricht, die stereotyp mit lauter Klage, Haareraufen und Ohnmacht beschrieben werden, sind Verzweiflung und Verlust mit eindringlichen Worten, Ausrufen und Wiederholungen zum Ausdruck gebracht. Mit Blick auf den möglichen theatralischen Effekt ist auch nach Dialogen mit schnellen Redewechseln zu suchen. Sie sind wesentliches Kennzeichen der altfranzösischen und mittelhochdeutschen Versromane, meist als Frage und Antwort und ohne inquit-Formel gestaltet.65 Der mimetische Effekt ist groß, da auf eine zusätzliche Referenzsicherung verzichtet wird und der situative Kontext wie auch die Versgestaltung das Verständnis sichern. Eine solche inquit-lose Form schnellen Redewechsels ist zwar im Prosatext nicht abgebildet, doch ist die schnelle Abfolge von Frage und Antwort durchaus zu finden. Der Redewechsel zwischen Ginover und Bohort, in dem die emotionale Verunsicherung und Anspannung der Kö58 Denoyelle, »La textualité dialogique«, behandelt, wie der Titel auch ankündigt, nur dialogische Redeszenen. 59 S. 694, Z. 22–S. 696, Z. 8; 72,3–26. 60 S. 830, Z. 13–S. 832, Z. 1; 122,12–123,14. 61 S. 764, Z. 3–36; 100, 46–101,4. 62 S. 940, Z. 34–S. 942, Z. 15; 172,10–24. 63 S. 760, Z. 12–33; 99,17–34. 64 S. 944, Z. 1–19; 172,45–55. 65 Siehe zu den schnellen Redewechseln in den mhd. und afrz. Versromanen Nine Miedema, »Stichomythische Dialoge in der mittelhochdeutschen höfischen Epik«, Frühmittelalterliche Studien 20 (2006), 263–281; Nikolaus Henkel, »Dialoggestaltung in deutschen und französischen Romanen des 12. Jahrhunderts«, in: Unzeitig, Miedema u. Hundsnurscher (Hgg.), Redeszenen, 139–164.
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nigin Lancelot betreffend regelrecht explodiert, gehört zu den Höhepunkten schneller Rede im Prosaroman. Ginover glaubt zu wissen, dass Lancelot incognito als roter Ritter am Turnier von Winchester teilgenommen habe, hört aber auch, dass der rote Ritter einen Ärmel an seiner Rüstung befestigt hatte – der jedoch, wie sie weiß, nicht ihrer war. Von Ginover zunächst nachdrücklich befragt, die zunehmend auf dem Verdacht von Lancelots Untreue insistiert, versucht Bohort zu antworten; er muss dabei auch erkennen, dass er selbst unwissentlich Lancelot im Turnier schwer verwundet hat: Da die kóniginne vernam das Lanzcelots mäge komen waren, da det sie Bohort zu ir kmen und sprach sere zörniglichen: ›Bohort, sint ir zu dem torney gewest?‹ ›Frauwe‹, sprach er, ›ja ich.‹ ›Sahent ir Lanczlot uwern nefen nit?‹ ›Frauw, neyn ich, ich wene, er was nit da.‹ ›Off myn trúwe‹, sprach sie, ›er was da!‹ ›Frauwe‹, sprach er, ›mit uwern gnaden, er was nit da, wann es möcht nit syn gewest, er hett zu mir gesprochen und ich hett yn wol erkant.‹ ›Wißent‹, sprach sie, ›sicherlichen das er da was, zu wortzeichen das er wapen trug, die waren zu mal rot, und frt off synem helm ein arm einer frawen oder jungfrawen, und das was der der den torney verwant.‹ ›In gottes namen‹, sprach Bohort, ›ich wolt in keyn wise das es myn herre und myn nefe were gewest, wann der von dem ir mir sagent schiet sere wnt von dem torney, als man mir sagte, den ich wunte.‹ ›Vermaledit sy die stunde das ir yn nit gedöt hant, wann er hatt sich also bößlich mir erzeygt das ich im in keyner wyse getruwet hett das er mirs gethan solt han.‹ ›Frauwe‹, sprach er, ›wie ist dem?‹66
Wenn auch bis auf den zweiten Redewechsel stets die Sprecherzuweisung mit inquit-Formel erfolgt, ist doch durch die konsequente Nachoder Zwischenstellung das Aufeinandertreffen von Redeende und -anfang kennzeichnend, sodass der mimetische Effekt eines sehr schnellen Hin und Her entsteht. Bohorts Anrede mit ›Frauwe‹ sichert die Referenz und wahrt die Höflichkeitsform; demgegenüber spricht Ginover bis auf die Redeeröffnung anredelos, dafür mit emotionalen Startern. Ginovers Fragen zielen auf die Klärung der Anwesenheit Lancelots beim Turnier. Vorgeführt wird – für den Rezipienten – in dem heftigen und zunehmend eskalierenden Redewechsel, wie die Figuren mit ihrem unterschiedlichen und sich im Laufe des Gesprächs verändernden Wissensstand (re)agieren: 66 S. 592, Z. 27–S. 594, Z. 9; die entsprechende Passage in der Mort le Roi Artu, 34,1–23.
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zweimal behauptet Ginover auch schon redeeinleitend gegenüber Bohort, die Wahrheit zu kennen (»Off myn trúwe«; »Wißent«), der nicht die erwartete Antwort zu den von ihr als wahr erachteten Sachverhalten gibt. Bohorts Unkenntnis über die Identität des roten Ritters, sein Erschrecken über die von ihm unwissentlich zugefügte schwere Verwundung Lancelots und Ginovers Zorn über Lancelots vermeintliche Untreue bilden den Höhepunkt in den Redeeröffnungen: Bohorts Anrufung Gottes (»in gottes namen«) erwidert Ginover mit dem Fluch über Lancelot (»vermaledeit«). Im folgenden Gesprächsverlauf wird sie ihren Verdacht weiter begründen und Bohort versuchen, diesen zu widerlegen. Eine endgültige Klärung erfolgt nicht und kann auch an dieser Stelle (noch) nicht erfolgen, da beide die Hintergründe von Lancelots Teilnahme am Turnier nicht kennen. An dieser Redesequenz lässt sich auch exemplarisch demonstrieren, dass in der Mort le Roi Artu auf der Figurenebene zahlreiche Dialoge mit dem Erfragen von Wissen ihren Anfang nehmen. Für die Dialoge lässt sich zudem der Befund von Denoyelle zur nichtzyklischen Fassung des Lancelot bestätigen, dass weniger kurze als vielmehr längere Dialoge kennzeichnend und überwiegend die Dialoge auf Informationsaustausch und Entscheidungsfindung ausgerichtet sind.67 Der Tod des König Artus beginnt schon programmatisch nach Bohorts kurzem Resumée zu den vorausgegangenen Aventüren mit Artus’ Befragung zum Verlust der Ritter während der Gralsuche. Der erste Dialog ist das bereits vorgestellte Gespräch zwischen Artus und Gawan, von dem er genaue Auskunft fordert: »Gawyn, ich manen uch off den eyde, den ir mir datent da ich uch ritter machte, das ir mir sagent das ich uch fragen sol.«68 Über Verlauf und Inhalt dieser ersten Redeszene erschließt sich ihre Funktion: Es geht um Informationen, Austausch von Wissen, Erkenntnis, Wahrheit, wie es auch immer wieder in den Reden betont wird. Der größte Teil der Dialoge kann unter dieser Kategorie subsumiert werden. Auf der Figurenebene sind sie prospektiv handlungssteuernd und / oder retrospektiv handlungserklärend. Die Frage-Antwort-Dialoge generieren die Konfliktszenarien, so wie sie sie – im günstigen Fall – auch wieder durch Gespräche auflösen: Ginovers Unkenntnis über den von Lancelot während des Turniers getragenen Damenärmel führt zu falschen Verdächtigungen, die sich mit der Ankunft des Schiffs mit dem toten Fräulein von Challot und den Gesprächen über sie zu Gunsten Lancelots klären. Zu seinem eigenen Schaden insistiert König Artus auf der Frage nach dem Grund von Agravains Schweigen, denn dem König darf keine Antwort verweigert werden. Rechtzeitig erfragt Lancelot die Nachrichten vom Ar67 Denoyelle, 68 S. 544,
»La textualité dialogique«. Z. 28–30.
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tushof, um Ginover vor dem Todesurteil zu retten. Die Beispiele lassen sich fortsetzen. Während die Figuren nur partiell über Wissen verfügen, neues Wissen erfragen müssen und defizitäres Wissen zu Konflikten führt, entstehen für den Leser durch die Kenntnis aller Figurenreden im Laufe der Textlektüre sich ergänzende und erklärende Wissenszusammenhänge. Auf Rezipientenebene ist der Hörer bzw. Leser unmittelbarer Ohrenzeuge der Rede, an deren Wahrheit damit auch für ihn kein Zweifel besteht. Da er – anders als die Figuren selbst – alle Figurenreden ›mithören kann‹, erschließt sich ihm das Wissen über die Motivation und Handlungen aller Beteiligten. Der Prosaroman präzisiert sehr häufig, ob Gespräche öffentlich69 oder heimlich, leise oder laut, in abgeschlossenen Räumen oder im kleinen Kreis geführt werden.70 Die meisten wiedergegebenen Gespräche sind nicht öffentliche Besprechungen, Beratungen unter vier Augen (zwischen Artus und Gawan, zwischen Artus und Lancelot, zwischen Bohort und Lancelot), Versuche verbaler Konfliktlösung, bei denen sich insbesondere Lancelot durch seine Besonnenheit auszeichnet. Unmittelbar (und wie selbstverständlich) hat der Rezipient stets an den Gesprächen teil und damit Anteil an der Wahrheit. Emmanuèle Baumgartner hat für den französischen Tristan en prose wie auch den Lancelot en prose in der Fülle der Dialoge und Monologe eine deutliche Verstärkung der »effets de ›temps réel‹ et de mimésis des paroles«71 festgestellt. Über die Effekte hinaus ist nach weiteren Erklärungen zu fragen, warum Figuren so häufig sprechen. Gegenüber dem zeitlich raffenden Erzählbericht ist die mimetische Wiedergabe wörtlicher Rede ablaufgetreu und die Sprechdauer zeitlich äquivalent wiedergegeben; für die Narration des eigentlichen Handlungsverlaufes wirkt sie wiederum auffallend retardierend, da sie den raschen Fortgang des Erzählberichts unterbricht. Der bloße Handlungsverlauf wäre relativ schnell erzählt; der Umfang des Tod des König Artus ist wesentlich in der zeitlichen Dehnung durch Redeszenen im Erzählen begründet. Der Text suggeriert in seiner Narration die Einheit von besprochener und gesprochener Zeit. Die gewissermaßen ›protokollierten‹ Gespräche, aber zugleich im Hier und Jetzt des Textes realisierten 69 Die wenigen öffentlichen Reden sind als laute Reden gekennzeichnet (»also lut«; »so hoch«) und finden sich im Kontext der Anklage Madors gegen Ginover (S. 682, Z. 27–S. 684, Z. 9) und Lancelots unerkannt vorgetragener Verteidigungsrede (S. 716, Z. 2–12); Artus’ Anklage gegen Lancelot und Aufforderung zur Rache (S. 768, Z. 19–S. 770, Z. 9). 70 Häufig betont ist das heimliche Sprechen, z. B. »Do sprach er eyns tags heimlich zu hern Gawin« (S. 871, Z. 4 f.) »priveement« (144,6); »in eim heimlichen radt« (S. 880, Z. 28); »a privé conseill« (146,72). 71 Baumgartner, La Harpe & l’Épee, 51.
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Redeszenen erzeugen für den Rezipienten die Suggestion des Momentanen, auch wenn die Geschehnisse in der Vergangenheit liegen. Die im Erzählbericht (auch durch die Autorität der Schrift) konstituierte historische Distanz verbindet sich durch die inserierte mündliche Rede mit dem Effekt der Nähe. Die Figurenreden perspektivieren für den Rezipienten den Erzählbericht, denn die (scheinbar) ungefilterten, unmittelbaren Figurenstimmen fungieren zugleich für den Rezipienten als erklärende Stimmen, die sich wie selbstverständlich, auch durch ihre Frequenz, einfügen. Erklärend sind sie für den Rezipienten in dem Sinne, dass sie Einsicht geben in die Zusammenhänge, indem sie die Gespräche der Figuren, somit ihre Emotionen, Motive, Einstellungen und Argumente offenlegen. Der Prosatext erhält durch erzählte Aktion und Rede bzw. durch Erzählbericht (récit) und Redeszenen (discours) ein durchgehend konstitutives und im Wechsel von narrativem und dramatischem Modus alternierendes Erzählkonzept. V. Tod des König Artus und die (Pseudo-)Chroniken Geoffreys und Waces: Vergleich der Beratungsszene nach der Kampfansage der Römer Der erzählerlose Text erzeugt durch die rezipientenorientierte Funktionalisierung der Redeszenen ein hohes Maß an Authentizität, das die Geschichte umso wahrer ›macht‹. Dieser Effekt stellt sich ein, obwohl – wie im Folgenden gezeigt werden soll – die Redeszenen nicht einem historiographischen Erzählmuster folgen. Jörg Fichte hat in seiner Untersuchung zu Fakt und Fiktion in der Artusgeschichte des 12. Jahrhunderts betont, dass Ansprachen und Beratungsszenen zum »Repertoire der historiographischen Schreibweise« gehören.72 Insofern sind auch spezifische Formen von Redeszenen Mittel chronikalen Erzählens. Vergleicht man die Erzählweise und den Einsatz von Redeszenen der Historia Regum Britanniae von Geoffrey of Monmouth (1136)73 sowie die altfranzösische Fassung von Wace den Roman de Brut (1155)74 mit dem Tod des König Artus, dann lassen sich auf diesem Weg Aspekte für eine nähere Beschreibung des 72 Jörg Fichte, » ›Fakt‹ und Fiktion in der Artusgeschichte des 12. Jahrhunderts«, in: Volker Mertens und Friedrich Wolfzettel (Hgg.), Fiktionalität im Artusroman. Dritte Tagung der Deutschen Sektion der Internationalen Artusgesellschaft, Tübingen 1993, 45–62, hier 52. 73 Textausgabe: Geoffrey of Monmouth. The History of the Kings of Britain. An Edition and Translation of ›De gestis Britonum‹ [Historia Regum Britanniae], ed. Michael D. Reeve, transl. Neil Wright, Woodbridge 2007. 74 Textausgabe: Wace’s Roman de Brut. A History of the British. Text and Translation. Revised edition, ed. Judith Weiss, Exeter 2002.
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Verhältnisses zum chronikalen Erzählen herausarbeiten. Als Vergleichsstelle (und es ist die einzige unmittelbar vergleichbare) bietet sich Artus’ Reaktion auf die Kampfherausforderung durch die Römer an. In den (pseudo-)chronikalen Texten von Geoffrey und Wace ist die Tributforderung und Kampfansage der Römer die entscheidende Gelenkstelle: Artus ist auf dem Höhepunkt seiner Macht; die ausführliche Schilderung des mehrtägigen Krönungsfestes zeigt den König in der von Freigebigkeit bestimmten Ausübung seiner Herrschaft durch Vergabe von Geschenken, Lehen und Ämtern. Der Hof als Ort öffentlicher Herrschaftsinszenierung wird zugleich Schauplatz der Provokation durch Lucius, dessen Forderungen die aus Rom ankommenden Boten verlesen. Die per Brief übermittelte und öffentlich verlesene Forderung des römischen Kaisers Lucius nach Tribut wird in Geoffreys Historia regum britanniae75 in vier großen öffentlichen Ansprachen im Stil des genus deliberativum76 von Cador, Herzog von Cornwall; Artus; Hoelus, König der Armoricanischen Briten und Auguselus, König von Schottland, diskutiert und ausführlich argumentativ widerlegt. Nicht nur die Unrechtmäßigkeit der Forderung ist Gegenstand der letzten beiden Reden, sondern zugleich die Versicherung der Kampfbereitschaft und der Unterstützung durch die Erhebung der Truppen. Einig im Bündnis gegen die Römer wird der Angriff geplant. Der zwar siegreiche Kriegszug gegen die Römer führt jedoch zugleich zum Machtverlust im eigenen Reich, denn in Artus’ Abwesenheit eignet sich Mordret Land und Königin unrechtmäßig an. Die von Geoffrey ganz im Stil historiographischer Schreibweise konzipierte Beratungsszene wird von Wace77 übernommen, in der Versfassung rhetorisch nachdrücklicher formuliert, in Details modifiziert und ergänzt; besonders auffällig ist der eingefügte Einwand Gaweins78 auf Cadors Rede, die die Herausforderung der Römer und die damit verbundene Kampfansage als glückliche göttliche Fügung preist, um den Gefahren des Müßiggangs durch zu lange Friedenszeiten zu entgehen. In seiner Erwiderung setzt Gawein Cadors Kampfbegeisterung ein Lob der Friedenszeiten und eine Vorstellung von chevalerie und ritterlichen Taten »pur amistié e pur amies«79 entgegen.
75 Liber
IX, 404–539. Fichte, » ›Fakt‹ und Fiktion«, 58–60. 77 V. 10621–11040. 78 V. 10765–10772. 79 V. 10771. Anders als Fichte, » ›Fakt‹ und Fiktion«, 59, sehe ich in der kurzen Gegenrede Gaweins nicht nur eine Schilderung der »Freuden des Friedens«, sondern auch die Bezugnahme auf ein in der Literatur sich neu etablierendes Modell von Ritterschaft, das gerade erst in Friedenszeiten entstehen kann. 76 Siehe
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Im Tod des König Artus steht der Kampf gegen die Römer nach einer Reihe von kriegerischen Auseinandersetzungen mit Lancelot. Die Belagerung Lancelots in der Joyeuse Garde wie auch in der Burg von Gaune gehen auf Gawans Initiative und seinen Wunsch nach Rache für seinen Bruder Gaheries zurück. Alle Versuche Lancelots, eine Versöhnung mit Artus zu erreichen, scheitern an Gawans Einsprüchen, der in seiner Ratgeberrolle für Artus allein die Auseinandersetzung sucht. Im Zuge des letzten Zweikampfes mit Lancelot ist Gawan schwer verwundet worden.80 Im Tod des König Artus81 erhält Artus durch einen Knappen die Nachricht, dass die Römer in seinem Land (in Burgund) eingefallen sind (wörtliche Rede); Artus verlangt Stillschweigen des Knappen über die römische Bedrohung, bespricht sich allein mit Gawan darüber, was zu tun ist: ›Des ist uns wol not‹, sprach der konig, ›wann ein knecht hat mir gesagt das die macht von Rome sy in diese konigreich komen und hant alle Burgunden gedilget und das volck erschlagen und verwonden und gefangen. Und sie wollent innwendig diesen acht tagen úber uns komen mit yrem volck und wollent mit uns stryten zu felde. Nn besehent was wir thun mögen.‹82
Gawan rät zum Kampf gegen die sicher unterlegenen Römer: ›Das best das mich dúncket‹, sprach herre Gawin, ›ist das wir entgegen yn ziehen und stryten mit yne zufelde, und ich gleuben das die Römer sint gar von krancken herczen und als von cleyner macht, das sie nit viel an uns gewinnen sollent.‹83
Die große öffentliche Beratungsszene ist auf eine kurze persönliche Unterredung zwischen Artus und Gawan reduziert. Es wird in dieser wie auch in anderen zu entscheidenden Situationen das persönliche, nicht öffentliche Beratungsgespräch als Weg zur Entscheidung gesetzt. Zugleich sprechen die Figuren, in den ihnen eigenen festen Rollen: Artus als um Rat fragender und beeinflussbarer König; Gawan als erster Ratgeber, stets Befürworter von Kampf und Krieg, der Artus’ Entscheidungen lenkt.84 80 Der Angriff der Römer in seiner Funktion als Gelenkstelle ist auch verändert. Wie Artus nach dem erfolgreichen Kampf gegen die Römer erfährt, hat Mordret in der Abwesenheit von Logres, aber schon bedingt durch die Verfolgung Lancelots während der Kämpfe zwischen Lancelot und Gawan in Gaune und nicht allein durch den Kampf gegen die Römer, seine Stellvertreterposition missbraucht, falsche Nachrichten über seinen Tod verbreitet und Ginover zur Heirat mit ihm drängen wollen. 81 Tod des König Artus (S. 912–918); die Kürzung der Stelle im Tod des König Artus begründet Steinhoff im Kommentar (S. 1214) lediglich inhaltlich mit der schon erzählten Verknüpfung des Feldzugs gegen Frollo im eigentlichen Lancelot. 82 S. 914, Z. 4–10; 160,30–34. 83 S. 914, Z. 11–14; 160,34–39.
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Dieser Befund bestätigt nicht nur die Präferenz84 für private Beratungsgespräche im Prosatext, sondern auch die Nicht-Verwendung von Formen der Redeszenen, die dem chronikalen Erzählen eigen sind. Für Gawan ist es die letzte Unterredung mit König Artus. Die sich unmittelbar anschließende Kampfschilderung gegen die Römer konzentriert sich auf Gawan und Artus: Gawan kann den Neffen des römischen Kaisers töten, wird aber im Gegenzug zu heftig angegriffen, sodass er nach der erneuten Verletzung an seiner nicht verheilten Kopfwunde auf dem Rückweg nach Logres sterben wird. Artus tötet wiederum den römischen Kaiser. Das ist alles recht schnell erzählt und im Gegensatz zu den chronikalen Berichten85 Geoffreys und Waces ganz ohne Ansprachen der Heerführer vor dem Kampf, ohne Reiz- und Anfeuerungsreden in den entscheidenden Schlachten. VI. Fazit In der Mort le Roi Artu bzw. im Tod des König Artus ist das Erzählen so gestaltet, als ob es wahre Geschichte sei. Befördert werden die Effekte und die Suggestion der geschichtlichen Präsenz im Erzählen, zum einen durch die Nichtmarkierung einer expliziten subjektiven und personalisierten Erzählinstanz zugunsten der objektivierenden Setzung des ›conte‹ als Sprech- und Erzählinstanz und zum anderen durch die Figurenstimmen in den Redeszenen. Der autorlose und erzählerlose Text muss nicht argumentieren, dass er wahr ist, er muss keinen Wahrheitspakt formulieren und mit dem Rezipienten schließen, er muss keinen zeitlich einzuordnenden Bezugsrahmen konfigurieren, er ist der ›conte‹. Die ›Geschichte‹ wird nicht durch einen Erzähler autorisiert, sondern autorisiert sich selbst. Die vom Text generierten und in den Erzählbericht integrierten zahlreichen Redeszenen schaffen Unmittelbarkeit für die Rezeption (auch ohne explizite Erzähler-Publikum-Kommunikation), und durch das Hörbarmachen der Stimmen wird die Wahrheit bezeugt und erfahrbar. Die stimmliche Innensicht der Figuren ist im narratologischen Sinn fiktional,86 aber nicht 84 In der Figurenkonzeption ganz verändert tritt er nicht mehr wie bei Wace als Vertreter einer Friedenspolitik auf. Artus thematisiert schon an früherer Stelle in einem privaten Gespräch mit Gawan dessen Kriegstreiberei, überlässt ihm aber durchaus die Entscheidung für das weitere Vorgehen, siehe Mort le Roi Artu, 144,1– 22 und Tod des König Artus, S. 870, Z. 1–19. 85 Zum Repertoire der historiographischen Schreibweise gehören nach Fichte, » ›Fakt‹ und Fiktion«, 52, auch »die Ansprachen der Anführer vor einer entscheidenden Schlacht«. 86 Siehe Wolf Schmid, Elemente der Narratologie, Berlin / New York 2008, 34–37.
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markiert durch Signale einer sich als fiktional verstehenden Erzählung, denn dafür fehlt die Erzählinstanz, die dies zu verantworten hätte. Zugleich sind die Figurenreden nicht einem historiographischen Diskurs mit seinen öffentlichen, auf Außensicht und Außenwahrnehmung angelegten Redeszenen nachgebildet. Wie dennoch die Effekte authentischer und wahrer Geschichte evoziert werden können, sollte die versuchte Relektüre der Mort le Roi Artu und des Tod des König Artus zeigen: Die präsentische Stimme des erzählerlosen ›conte‹ in Verbindung mit den Stimmen der Figuren kann Vergangenheit vergegenwärtigen. Und vielleicht ist auch der im französischen Text der Mort le Roi Artu dominierende Präsensgebrauch der inquit-Formel in seinem Effekt ein deutlich vergegenwärtigender.
Vermitteln und Verstehen in Kürze Mittelhochdeutsche Kleinepik in rezeptionsästhetischer Perspektive Von Nicole Eichenberger Die deutsche Kleinepik des Mittelalters fand in der Forschung der letzten Jahre zunehmende Beachtung, gerade auch jenseits gattungstheoretischer Überlegungen.1 So spielt beispielsweise die Überlieferungsgeschichte eine zunehmend bedeutende Rolle,2 indem etwa alle Texte, die in be1 So sind z. B. in den letzten sieben Jahren mehrere Monographien erschienen, die sich hauptsächlich oder teilweise mit kleinepischen Texten befassen: Silvan Wagner, Gottesbilder in höfischen Mären des Hochmittelalters. Höfische Paradoxie und religiöse Kontingenzbewältigung durch die Grammatik des christlichen Glaubens (Bayreuther Beiträge zur Literaturwissenschaft 31), Frankfurt a. M. et al. 2009; Susanne Reichlin, Ökonomien des Begehrens, Ökonomien des Erzählens. Zur poetologischen Dimension des Tauschens in Mären (Historische Semantik 12), Göttingen 2009; Kira Preen, Antijüdische Stereotype und Vorurteile in mittelalterlichen Legenden, Marburg 2013; Satu Heiland, Visualisierung und Rhetorisierung von Geschlecht. Strategien zur Inszenierung weiblicher Sexualität im Märe (Literatur – Theorie – Geschichte 11), Berlin / Boston 2015; Nicole Eichenberger, Geistliches Erzählen. Zur deutschsprachigen religiösen Kleinepik des Mittelalters (Hermaea N.F. 136), Berlin / Boston 2015. Für einen ausführlicheren Forschungsüberblick s. Eichenberger, Geistliches Erzählen, 5–22. Kleinepik und andere literarischen Kurzformen standen und stehen außerdem im Fokus von Tagungen, z. B. des 24. Kolloquiums der Wolfram von Eschenbach-Gesellschaft, das im September 2014 in Rostock stattfand (Franz-Josef Holznagel u. a. [Hgg.], Die Kunst der »brevitas«. Kleine literarische Formen des deutschsprachigen Mittelalters [Wolfram-Studien XXIV], erscheint voraussichtlich 2017) sowie der für Oktober 2016 angekündigten, von Silvan Wagner organisierten Bayreuther Tagung »Mären als Grenzphänomen« (http: / / www.hsoz kult.de / event / id / termine-32233). Zu nennen ist außerdem das an den Universitäten Köln und Tübingen angesiedelte DFG-Projekt »Edition und Kommentierung der deutschen Versnovellistik des 13. und 14. Jahrhunderts« (Leitung: Klaus Ridder und Hans-Joachim Ziegeler, vgl. http: / / www.versnovellistik.uni-koeln.de / 8150.html). 2 So etwa in der Habilitationsschrift von Franz-Josef Holznagel, Handschrift – Texttypologie – Literaturgeschichte. Die kleineren mittelhochdeutschen Reimpaardichtungen des 13. Jahrhunderts und der Wiener Stricker-Codex 2705 (Hermaea N.F. 124) (in Druckvorbereitung).
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stimmten Sammelhandschriften überliefert sind, in eine Untersuchung einbezogen werden. Dieser Ansatz, der grundsätzlich darauf abzielt, klein epische Texte ohne Binnendifferenzierung in den Blick zu nehmen, vermeidet das Problem der uneindeutigen Abgrenzungen einzelner Texttypen und kann sich zudem auf mittelalterliche Rezeptionseinheiten stützen. Solche Auswahlprinzipien eignen sich also besonders, wenn eine Form von Vollständigkeit oder Repräsentativität angestrebt wird. Allerdings ist dabei auch zu beachten, dass es sich bei den mittelalterlichen Sammelhandschriften in der Regel bereits um sekundäre Rezeptionszeugnisse handelt. So war diese Art der Sammlung zwar eine sehr wichtige Überlieferungsform für kleinepische Texte, aber bei weitem nicht die einzige und wohl auch nicht immer die älteste.3 Andere Ansätze der Forschung, besonders thematisch orientierte, beschränken sich in der Regel auf bestimmte Gruppen von kleinepischen Texten, z. B. auf weltliche Erzählungen. Dies ergibt sich einerseits durch das gewählte Thema an sich, liegt aber wohl auch daran, dass bisher noch nicht alle kleinepischen Texttypen in der Forschung gleichermaßen präsent sind.4 Dabei gibt es durchaus Verbindungen zwischen den traditionell separierten Bereichen z. B. geistlicher und weltlicher Erzählungen, gerade auch im Bereich der Thematik und Motivik.5 Eine gesamthafte Betrachtung kleinepischer Texte ist daher ein Desiderat. Wenn sie in der bisherigen Forschung überhaupt erfolgte, wurde sie meist mit einer gattungstheoretischen Fragestellung verknüpft.6 Im vorliegenden Beitrag möchte ich einen Überblick wagen, der nicht – oder jeden3 Vgl.
Eichenberger, Geistliches Erzählen, 195–228.
4 Vgl. Timo Reuvekamp-Felber, »Einleitung«, in: Marc Chinca, Timo Reuvekamp-
Felber u. Christopher Young (Hgg.), Mittelalterliche Novellistik im europäischen Kontext. Kulturwissenschaftliche Perspektiven, X-XXXI, hier XXX; Holznagel, Handschrift, Kap. I.1. 5 Hanns Fischer verwendete thematische Gemeinsamkeiten dagegen zur Binnendifferenzierung von geistlichen bzw. weltlichen Kurzerzählungen, vgl. dens., Studien zur deutschen Märendichtung, 2., durchges. u. erw. Aufl., hg. Johannes Janota, Tübingen 1983, 50–53 (zu den geistlichen Erzählungen), 93–137 (zu den weltlichen Erzählungen). 6 Solche Gesamtbetrachtungen finden sich etwa in Überblicksdarstellungen wie: Fritz Peter Knapp (Hg.), Germania Litteraria Mediaevalis Francigena, Bd. VI: Kleinepik, Tierepik, Allegorie und Wissensliteratur, Berlin / Boston 2013, oder in literaturgeschichtlichen Werken, z. B.: Joachim Heinzle (Hg.), Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit, Tübingen 1984ff., hier Bd. 2.1: L. Peter Johnson, Vom hohen zum späten Mittelalter. Die höfische Literatur der Blütezeit 1160 / 70–1220 / 30, Tübingen 1999, 385–392; Bd. 2.2: Joachim Heinzle, Vom hohen zum späten Mittelalter. Wandlungen und Neuansätze im 13. Jahrhundert 1220 / 30–1280 / 90, Tübingen 1994, 172–181; Bd. 3.1: Johannes Janota, Vom späten
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falls nicht in erster Linie – ein gattungstheoretisches Interesse verfolgt. Aufgrund des Umfangs muss ich mich auf ausgewählte Beispiele beschränken, die nur bedingt Repräsentativität beanspruchen können. Die Auswahl basiert dabei nicht auf überlieferungsgeschichtlichen, sondern auf thematischen Assoziationen. Ich gehe von einer Reihe von zehn Beispieltexten aus, die thematische Gemeinsamkeiten aufweisen, aber nur bedingt in die gleiche forschungsgeschichtliche oder gattungstheoretische ›Schublade‹ fallen. Um die Spezifik der einzelnen Texte herauszuarbeiten, bediene ich mich im Folgenden eines rezeptionsästhetischen Modells, das nach Interpretationsaspekten und Vermittlungsstrategien der Texte fragt. Als Ausgangspunkte dienen mir dabei die Ansätze von André Jolles und Hans Robert Jauß, die ich hier kurz skizziere.7 Jolles geht in seinem bis heute für die Forschung zu literarischen Kleinformen wirkmächtigen Werk Einfache Formen8 davon aus, dass einer sogenannten einfachen literarischen Form eine Geistesgebärde zugrundeliegt, die gewissermaßen das Verhältnis des Rezipienten zum im Text verhandelten Inhalt beschreibt. So steht beispielsweise die Legende unter der Geistesgebärde der imitatio. Der Heilige imitiert Christus, der Rezipient wird durch die Legende dazu aufgefordert, den Heiligen zu imitieren. Unter anderen theoretischen Prämissen, aber mit einem grundsätzlich vergleichbaren Ansatz arbeitet Jauß, der den verschiedenen kleinepischen Gattungen der altfranzösischen Literatur das Bereitstellen einer Antwort auf je eine spezifische Fragestellung zuschrieb.9 Mittelalter zum Beginn der Neuzeit. Orientierung durch volkssprachige Schriftlichkeit 1280 / 90–1380 / 90, Tübingen 2004, 246–269. 7 André Jolles, Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz, Studienausgabe der 5., unveränd. Aufl., Tübingen 1974; Hans Robert Jauß, »Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur«, in: ders., Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. Gesammelte Aufsätze 1956–1976, München 1977, 9–47. 8 Der Entwurf Jolles’ wurde in jüngerer Zeit u. a. in folgenden Arbeiten rezipiert: Susanne Köbele, »Die Illusion der ›einfachen Form‹. Über das ästhetische und religiöse Risiko der Legende«, PBB 134 (2012), 365–404; Maria E. Müller, »Die heilige Margarete, der Teufel und André Jolles«, in: Nine Miedema, Angela Schrott u. Monika Unzeitig (Hgg.), Sprechen mit Gott. Redeszenen in mittelalterlicher Bibeldichtung und Legende (Historische Dialogforschung 2), Berlin 2012, 127–144; Nicole Eichenberger, »Variationen eines Themas. Zur Korrelation von Umfang und literarisch-konzeptioneller Gestaltung bei stoffverwandten geistlichen Verserzählungen«, erscheint voraussichtlich 2017 in: Holznagel u. a. (Hgg.), Die Kunst der »brevitas«. 9 Vgl. Jauß, »Alterität und Modernität«, 40: »So antwortet das Märchen auf die Frage: ›Wie wäre die Welt, in der sich unsere Wünsche erfüllen?‹, die Legende auf die Frage: ›Wie kann Tugend in einem Menschen sichtbar werden?‹, das Exempel auf die Frage: ›Was lehrt mich das Vergangene für das Kommende?‹ und so fort«.
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Abweichend von diesen Ansätzen schlage ich ein Modell vor, bei dem die rezeptionsästhetische Spezifik eines Textes nicht von vornherein an eine gattungstheoretische Differenzierung gekoppelt ist. Ich gehe von je vier Kategorien von Interpretationsaspekten bzw. Vermittlungsstrategien aus, die prinzipiell auf jeden Text anwendbar sind bzw. in jedem Text angelegt sein können. Allerdings wird die Analyse zeigen, dass in den meisten Texten bestimmte Interpretationsaspekte besonders deutlich suggeriert werden und bestimmte Vermittlungsstrategien besonders stark bzw. kaum eingesetzt werden – so ergibt sich wieder eine Gruppierung von Texten in rezeptionsästhetischer Hinsicht, die sich aber durchaus nicht mit einer klassischen gattungstheoretischen Differenzierung decken muss. Die verschiedenen Kategorien von Interpretationsaspekten und Vermittlungsstrategien begreife ich außerdem nicht als klar abgrenzbare Kategorien, sondern im Anschluss an das theoretische Modell, das ich auch in meiner Dissertation bei der texttypologischen Untersuchung der geistlichen Verserzählungen verwendet habe, als »natürliche Kategorien« im Sinn der Kognitionswissenschaft.10 Dabei handelt es sich um sogenannte idealisierte kognitive Modelle (ICMs). Dies sind prototypisch organisierte idealisierte Modelle, die benutzt werden, um einen Sachverhalt kognitiv einzuordnen. Das Modell wird aktiviert, indem die Ähnlichkeit des Gegenstandes mit dem idealisierten Modell festgestellt wird; dann wird das Modell angewandt und der Gegenstand dadurch kognitiv verarbeitet. Diese Modelle können auf ganz unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlichen Anwendungsbereichen angesiedelt sein. Mein hier vorgeschlagenes rezeptionsästhetisches Modell hat zwei Ebenen von kognitiven Modellen. Die Interpretations-ICMs stehen für verschiedene Aspekte, unter denen ein Text gedeutet werden kann, also Interpretationsmodelle, die von außen, vom jeweiligen Rezipienten, an den Text herangetragen werden; natürlich erfolgt die Anwendung eines bestimmten Modells auf einen Text nicht völlig arbiträr, sondern wird auch durch seine Thematik, Struktur oder andere Eigenschaften gesteuert, die die Anwendung dieses Modells suggerieren. Die Vermittlungs-ICMs sind dagegen stärker textintern verankert, denn es handelt sich hier um die Strategien, die im Text angewandt werden, um die intendierte Rezeption zu fördern bzw. zu gewährleisten.
10 Eleanor Rosch, »Natural Categories«, Cognitive Psychology 4 (1973), 328–350; George Lakoff, Women, Fire, and Dangerous Things. What Categories Reveal about the Mind, Chicago / London 1987. Vgl. auch Eichenberger, Geistliches Erzählen, 23–33.
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Ich möchte im Folgenden vier Aspekte der Interpretation vorschlagen:11 I. faktische Interpretation (Was lerne ich?) II. pragmatische Interpretation (Wie soll ich handeln?) III. intellektuelle Interpretation (Welche Zusammenhänge verstehe ich?) IV. theologische Interpretation (Was bedeutet dies für meine Seele?). Die vier Kategorien bauen aufeinander auf, es handelt sich um eine graduelle, immer tiefergehende Durchdringung des im Text verhandelten Inhalts. Eine faktische Interpretation ist dabei die Grundlage aller anderen Interpretationen. Dieser Aspekt ist bei jedem Text zu einem bestimmten Grad vorhanden; er richtet sich primär darauf, die im Text vermittelten Fakten aufzunehmen und zu verarbeiten. Texte, bei denen dieser Interpretationsaspekt zentral ist, können etwa annalistische Aufzeichnungen, wissensvermittelnde Reden, Listen aller Art (z. B. Rechnungen, Preislisten) sein. Eine pragmatische Interpretation zielt darauf ab, aus dem Text konkrete Verhaltensanweisungen herauszulesen. Das kann entweder auf explizite Art und Weise geschehen (etwa in didaktischen Texten wie Tischzuchten) oder auf implizite Weise, indem die pragmatische Dimension des Textes erst mithilfe einer Übertragungsleistung erschlossen werden muss. Das kann beispielsweise der Fall sein, wenn jemand aufgrund von Rechnungen und Preislisten herausfindet, wann und wo er am besten einen bestimmten Gegenstand ein- oder verkauft. Den dritten Interpretationsaspekt nenne ich intellektuell, da hier über die reinen Fakten und eine konkrete Handlungsanweisung hinaus Einsichten in die tieferen Zusammenhänge und Ordnungen, in denen die Inhalte der Texte stehen, erreicht werden sollen, so etwa in didaktischen Traktaten, die nicht nur Anweisungen zum konkreten Handeln geben, sondern diese auch erklären und fundieren, etwa in Bezug auf moralische Grundsätze. Der vierte Aspekt zielt auf die religiöse Bedeutung des Erzählten ab; ich nenne ihn daher theologische Interpretation. Damit kann die religiöse Bedeutung für das Weltleben bzw. das Seelenheil des Einzelnen gemeint sein, es können aber auch religiöse Ordnungen, Dogmata bzw. die heilsgeschichtliche Bedeutung des Erzählten insgesamt sein. Grundsätzlich ist dieser Interpreta tionsaspekt mit dem intellektuellen vergleichbar, es ist hier mit fließenden Übergängen zu rechnen. So könnte man sagen, dass eine tiefe Einsicht in 11 In den Grundzügen lehnen sich diese Kategorien an das Konzept vom vierfachen Schriftsinn an. Zum vierfachen Schriftsinn als Interpretationswerkzeug vgl. auch Nikolaus Staubach, »Quattuor modis intellegi potest Hierusalem. Augustins Civitas Dei und der vierfache Schriftsinn«, in: Wilhelm Blümer, Rainer Henke u. Markus Mülke (Hgg.), Alvarium (FS Christian Gnilka) (Jahrbuch für Antike und Christentum, Ergänzungsband 33), Münster 2002, 345–358, hier bes. 352–356.
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die Natur und Ordnung der Dinge in mittelalterlichen Denkmodellen immer auch eine theologische Einsicht ist; dennoch halte ich es für sinnvoll, die Erkenntnis abstrakter Strukturen und die explizit theologische Interpretation prinzipiell zu unterscheiden. So steht zwar prinzipiell immer Gott hinter der Beschaffenheit einer Ordnung, z. B. einer Rechtsordnung; aber dieser Ursprung bzw. Zielpunkt der Ordnung ist nicht zentral, um die tieferen Strukturen einer bestimmten Art von Rechtsprechung zu durchschauen. Dagegen ist die theologische Interpretation zentral, wenn es z. B. um die Auswirkungen eines bestimmten Verbrechens auf das Seelenheil des Verbrechers geht. In einem Text kann zwar eines der Modelle besonders suggeriert werden; dennoch entscheidet letztlich jeder Rezipient neu, welches Interpretationsmodell er vorrangig auf den Text anwendet. Es ist also auch möglich, dass der gleiche Text einmal stärker unter dem einen, bei einem anderen Rezeptionsvorgang stärker unter einem anderen Aspekt gedeutet wird. Da man oft nur sehr geringe Spuren von tatsächlichen Rezeptionsvorgängen hat,12 werden sich die folgenden Untersuchungen jedoch auf die in den Texten suggerierten Interpretationsmodelle konzentrieren. Die zweite Ebene von kognitiven Modellen bilden die Vermittlungsstrategien, die im Text angewandt werden. Sie sind grundsätzlich unabhängig vom suggerierten Interpretationsaspekt. Dennoch sind manche Vermittlungsstrategien besonders geeignet, eine bestimmte Interpretation zu fördern. Auch hier liegt die Entscheidung, ob die Vermittlung erfolgreich ist oder nicht, letztlich darin, ob der Rezipient sie sich zu eigen macht. Ich unterscheide vier Kategorien von Vermittlungsstrategien: 1. eruditio (Bereitstellung von Wissen) 2. exemplum (Darstellung beispielhaften Verhaltens) 3. affectus (Erregung emotionaler Rührung / Bewunderung / Abscheu) 4. recreatio (ästhetischer Genuss / Komik / Parodie). Die erste Strategie ist die (meist diskursive) Vermittlung von Wissen, wie sie etwa in Reden oft angewandt wird. Bei der zweiten Strategie, dem Exempel, werden die Inhalte anhand eines konkreten (ggf. narrativen) 12 Als indirekte Rezeptionszeugnisse können die handschriftlichen Überlieferungskontexte dienen oder intratextuelle Leseanweisungen; vgl. etwa die Überlegungen von Hans Joachim Ziegeler zur Kleinepiksammlung Heidelberg, UB, Cpg 341: »Der literarhistorische Ort der Mariendichtungen im Heidelberger Cpg 341 und in verwandten Sammelhandschriften«, in: Timothy R. Jackson, Nigel F. Palmer u. Almut Suerbaum (Hgg.), Die Vermittlung geistlicher Inhalte im deutschen Mittelalter. Internationales Symposium Roscrea 1994, Tübingen 1996, 55–77.
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Beispiels vermittelt. Die dritte Strategie besteht in der emotionalen Erschütterung des Rezipienten; dieser sympathisiert beispielsweise mit den Figuren einer Erzählung und wird dadurch empfänglicher für die Botschaft des Textes. Die Erschütterung kann sowohl positiv (Sympathie, Mitleiden, Bewunderung) als auch negativ sein (Distanzierung, Erschrecken, Verurteilung). Die vierte Strategie schließlich ist die Erholung und Unterhaltung. So kann z. B. ein stilistisch und sprachlich schöner Text ästhetisches Vergnügen bereiten und den Rezipienten dadurch aufnahmebereiter machen; ein komischer Text kann den Rezipienten zum Lachen bringen und dadurch sein Wohlwollen gewinnen, während ein parodistischer Text ggf. das Lachen mit einem Gefühl der Abgrenzung von kritisierten Gruppen oder Verhaltensweisen verbindet oder Irritationen auslöst, die zum weiteren Nachdenken führen. Auch hier gilt wieder, dass sich ein Text mehrerer Strategien bedienen kann und sich diese Strategien auch überschneiden können. Die zehn ausgewählten Beispieltexte lassen sich durch Gemeinsamkeiten der Thematik, Motivik oder Figurenkonstellation jeweils in einen assoziativen Bezug zueinander setzen, sodass eine Reihe von aneinander anknüpfenden Analysen entsteht. Ich beginne mit der kurzen Erzählung Der gestohlene Schinken des Elsässer Anonymus.13 Darin wird von einem rechtschaffenen Bauern erzählt, der sein Schwein geschlachtet und den Schinken in seinem Haus aufgehängt hat. Das sieht ein betrügerischer Nachbar, der dem Bauern einredet, es sei gefährlich, den Schinken so gut sichtbar hängen zu lassen, da jemand ihn stehlen könnte; er solle doch selbst ein Loch ins Dach brechen und vorgeben, Diebe hätten den Schinken entwendet, ihn aber verstecken und selbst essen. Der Bauer dankt für den guten Rat, doch in der gleichen Nacht kommt der Nachbar durch das Loch und stiehlt den Schinken. Als der Bauer am nächsten Tag zu ihm geht und ihm sein Leid klagt, bestätigt der Nachbar, dass er seine Geschichte sehr gut erzähle, und tut so, als merke er nicht, dass es dem Bauern ernst ist. Am Ende des Textes bemerkt der Erzähler: Das möcht noch mangem beschechen / Der sich nit wol behütten kann / Vor ainem vngetrüwen man / Dez vngetrüwen zunge / Hat manig wandelunge / Zucker süsz ist das wort / Gallen bitter ist jr ort […] Dez hüttent üch vor
13 Vgl. Ahrend Mihm, »Elsässer Anonymus«, in: Kurt Ruh (Hg.), Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2. Aufl., Bd. 2, Berlin 1980, Sp. 508 f. [im Folgenden: VL]; Ausgabe: Lieder-Saal. Das ist: Sammlung altteutscher Gedichte, hg. Joseph von Laßberg, 3 Bde., o. O. 1820–1825, Bd. 1, S. 285–288 (unter dem Titel Der ungetreue Nachbar).
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den bösen / Nit ker dich an jr kosen […] Daz jn misselinge / An allen dingen ewiglich / Daz bitt ich got vom himelrich (v. 113ff., 127ff., 134ff.).
Zunächst bietet sich eine faktische Interpretation an; es handelt sich hier um einen Bericht über die gelungene Übervorteilung eines allzu vertrauensseligen Bauern. Weiter führt eine Interpretation unter pragmatischem Aspekt, denn in diesem Fall dient die Geschichte dazu, den Rezipienten zur Wachsamkeit gegenüber hinterlistigen Menschen aufzufordern. Diese Interpretation wird auch durch den Epilog nahegelegt (s. o., v. 113 f.). Die letzten Verse geben dem Text außerdem noch einen religiösen Horizont, indem die Verwerflichkeit der Betrüger auch durch einen religiösen Bezug bekräftigt wird (s. o., v. 134ff.). Dieser theologische Interpretationsaspekt ist im Hinblick auf den Gesamttext allerdings marginal gegenüber dem pragmatischen, er klingt nur an. Die vorrangige Vermittlungsstrategie ist eine exemplarische: Aus der erzählten Geschichte kann der Rezipient allgemeine Verhaltensregeln ableiten, und die beiden Protagonisten dienen dabei in verschiedener Hinsicht als Negativbeispiele: Der eine Bauer verhält sich unklug, der andere moralisch verwerflich; von beiden soll sich der Rezipient distanzieren und selbst anders handeln. Neben dieser zentralen Vermittlungsstrategie kann man auch davon ausgehen, dass der Text eine affektive und / oder eine rekreative Wirkung haben kann, indem ein Rezipient etwa Mitleid mit dem überlisteten Bauern hat und sich über den Betrüger empört oder über die Dummheit des Ersteren und die List des Letzteren lachen kann. Die Emotion (Sympathie, Verachtung) bzw. das Lachen können dabei für den pragmatischen Interpretationsaspekt instrumentalisiert werden, indem sie die didaktische Wirkung des Textes verstärken. Es ist aber auch denkbar, dass Emotion und Vergnügen auf einem faktischen Interpretationsaspekt beruhen und somit quasi Selbstzweck sind. Zwar suggeriert der Epilog eher die didaktisch-pragmatische Interpretation, dies muss jedoch nicht heißen, dass alle oder die Mehrzahl der Rezeptionsvorgänge auch dementsprechend verlaufen sind. Stellt man dieser Erzählung einen anderen – ebenfalls sehr kurzen – Text gegenüber, die Gestohlene Monstranz des Schweizer Anonymus,14 so hat man es mit einer ganz anderen rezeptionsästhetischen Aufbereitung zu tun, obwohl sich die Erzählung auch um einen Diebstahl dreht. Allerdings ist der gestohlene Gegenstand nicht ein Schinken, sondern eine Monstranz mit drei Oblaten, die in Brugg bei Baden entwendet wurde. Der Dieb 14 Vgl. Johannes Janota, »Schweizer Anonymus«, in: 2VL, Bd. 8, Sp. 931–942; Ausgabe: Eine Schweizer Kleinepiksammlung des 15. Jahrhunderts, hg. Hanns Fischer (Altdeutsche Textbibliothek 65), Tübingen 1965, 84–86.
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wirft die Oblaten in einen Bach, worauf das Vieh eines vorbeiziehenden Hirten sich weigert weiterzuziehen, stattdessen in die Knie geht und die Oblaten anbetet. Nun bemerkt auch der Hirt die Oblaten, auf denen je drei Blutstropfen sichtbar sind, ruft Kleriker herbei, und die Oblaten werden in einer feierlichen Prozession in die Stadt getragen; später verteilt man die mirakulösen Oblaten auf Brugg, Zürich und Basel. In einem kurzen Epimythion fasst der Erzähler zusammen: Hiebi so weis ich wol, / das daran nieman zwiflen sol, / das sich der allmächtig gott / selber berge in das helig brot, / das die priester niessent allgemein / das fleisch und das bluote rein / und ouch alle cristenheit, / die ir gelouben daran leit. / wer gottes lib hierinne nit gewesen, / ein sölich zeichen wer hie nit geschechen (v. 37ff.).
Der suggerierte Interpretationsaspekt dieser Geschichte ist also ein vorrangig theologischer: Das Ereignis wird als Beweis für die Transsubstantiation dargestellt. Für das Funktionieren der theologischen Interpretation ist aber auch eine faktische Deutung von großer Bedeutung. Das Erzählte muss als tatsächlich geschehenes Ereignis verstanden werden, um seine Wirkung zu entfalten. Hier liegt auch ein wichtiger Unterschied zur Erzählung vom Gestohlenen Schinken: Während die historisch-faktische Dimension bei dieser Erzählung kaum eine Rolle spielt, da die pragmatische Interpretation kaum davon beeinflusst wird, ob, wann und wo der Diebstahl tatsächlich vorgefallen ist, handelt es sich bei der Historizität in der Gestohlenen Monstranz um eine Bedingung für die Wirkung des Textes. Dementsprechend oft werden Ortsnamen genannt, die die Überprüfbarkeit und damit den Wahrheitsgehalt des Erzählten verbürgen sollen. Gemeinsam ist den beiden Erzählungen dagegen die exemplarische Vermittlungsstrategie: Auch bei der Gestohlenen Monstranz kann der Rezipient anhand des konkreten Beispiels die allgemeine Wahrheit der Transsubstantiation erkennen. Daneben weist die Erzählung auch eine deutliche affektive Vermittlungsstrategie auf, indem mehrmals das Wunderbare und Anbetungswürdige des Ereignisses betont wird (v. 8, 22, 24, 46). Auch der Kniefall des Viehs kann eine emotionale Rührung des Rezipienten bewirken und ihm vor Augen führen, wie viel mehr er selbst – als mit Verstand begabter Mensch – die Hostie verehren sollte, wenn schon unvernünftige Tiere ihre Würde erkennen. Allerdings ist es auch denkbar, dass die ungewöhnliche, mit der Alltagserfahrung inkongruente Episode der Anbetung durch das Vieh als unterhaltsam empfunden wurde und der Text somit auch eine rekreative Vermittlungsstrategie aufweist. Wenn ein Rezipient sich über das Bild des betenden Viehs amüsierte, muss das nicht bedeuten, dass er die religiöse Botschaft des Textes nicht ernst nahm oder ablehnte – er konnte lediglich ihre Darbietungsweise in diesem Text für vergnüglich
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oder eventuell auch etwas irritierend halten.15 Natürlich ist nicht auszuschließen, dass manche Rezipienten die Episode des betenden Viehs auch für so lächerlich hielten, dass sie den ganzen Text als Kritik an Wundergläubigkeit auffassten und damit seine explizite theologische Aussage ablehnten. Allerdings handelt es sich dabei um eine Lesart, die den im Text suggerierten Interpretationsaspekten entgegensteht. Das Zusammenspiel von faktisch-historischer und theologischer Interpretation, das für die Gestohlene Monstranz von zentraler Bedeutung ist, findet sich auch in der Erzählung Udo von Magdeburg16 wieder. In deren Zentrum steht Udo, ein unbegabter Schüler, der wegen seiner schlechten Leistungen oft vom Lehrer geschlagen wird und sein Leid vor einem Marienbild klagt. In einer Traumvision erscheint ihm Maria und verspricht, ihn nicht nur mit Intelligenz auszustatten, sondern ihn nach dem Tod des jetzigen Erzbischofs auch zu dessen Nachfolger zu machen. Zunächst führt Udo als Erzbischof ein tugendhaftes Leben, doch dann beginnt er, durch Macht und Reichtum geblendet, sich den Lastern hinzugeben. Er verschwendet die Besitztümer der Kirche und geht zahlreiche Liebschaften ein. Eines Nachts, als er im Bett einer Äbtissin liegt, hört er eine Stimme, die ihn warnt: Hudo, gib ent deinem spil, / du hast gespilt genueges und vil (v. 145 f.). Udo lacht nur darüber und setzt seinen schlechten Lebenswandel fort. In der nächsten und in der übernächsten Nacht hört er die Stimme wieder und erschrickt, ändert jedoch sein Verhalten nicht. 15 Eine ähnliche Strategie lässt sich etwa in Strickers Martinsnacht beobachten. Dort wird von einem Bauern erzählt, der in betrunkenem Zustand auf einen Viehdieb hereinfällt, der sich als heiliger Martin ausgibt. Der Text schildert zwar eine lächerliche Form der »Heiligenerscheinung«, allerdings wird damit nicht der Glaube an Heiligenerscheinungen insgesamt kritisiert, sondern eher die Trunkenheit des Bauern und der damit einhergehende Verlust eines klaren Verstandes. Vgl. Eichenberger, Geistliches Erzählen, 62–65. 16 Vgl. Nigel F. Palmer, »Udo von Magdeburg«, in: 2VL, Bd. 9, Berlin 1995, Sp. 1213–1220; Ausgabe: Helmut de Boor, Die deutsche Literatur. Texte und Zeugnisse, Bd. I.1: Mittelalter, München 1965, 355–366. Weitere Literatur zu diesem Text: Anton Emanuel Schönbach, Studien zur Erzählungsliteratur des Mittelalters, Bd. 3: Die Legende vom Erzbischof Udo von Magdeburg (Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften in Wien, Phil.-hist. Klasse 144), Wien 1901; Edvin Öhgren, Die Udo-Legende. Ihre Quellen u. Verbreitung mit besonderer Berücksichtigung ihrer Übers. ins Russisch-Kirchenslavische (Publications de l’institut slave d’Upsal 8), Uppsala 1954; Fidel Rädle, » ›De Udone quoddam horribile‹. Zur Herkunft eines mittelalterlichen Erzählstoffes«, in: Günter Bernt (Hg.), Tradition und Wertung (Fs. F. Brunhölzl), Sigmaringen 1989, 281–293; Christoph Gerhardt, »Individualgericht und das Ende der Geschichte. Die Exempelerzählung ›Udo von Magdeburg‹ als Abschluss des cgm 5«, in: Heinrich P. Delfosse und Hamid Reza Yousefi (Hgg.), ›Wer ist weise? der gute Lehr von jedem annimmt‹ (Fs. Michael Albrecht), Nordhausen 2005, 347–368.
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Drei Monate später, als ein Magdeburger Chorherr namens Friedrich nachts betet, erlöschen plötzlich alle Lichter, und eine Prozession von Heiligen betritt die Kirche. Der Kirchenpatron Mauritius verlangt, dass über seinen schlechten Erzbischof Udo Gericht gehalten werde. Udo wird herbeigebracht und zur Todesstrafe verurteilt. Vor der Hinrichtung schlägt ihn der Henker mehrmals auf den Nacken, damit er die in Sünde genossenen Hostien wieder ausspuckt, danach wird Udo enthauptet und die Heiligen verschwinden. Der Chorherr Friedrich schließt die Kirche ab und lässt erst bei Anbruch des Tages die anderen Kleriker und die Stadtbevölkerung hinein, damit alle das Wunder sehen können. Udos Blut, das die Steinplatten in der Kirche beschmutzt hat, bleibt als Mahnmal immer sichtbar. Währenddessen befindet sich ein Kaplan Udos mit Namen Bruno auf dem Rückweg von einer Botenreise. Da er müde geworden ist, legt er sich unter einem Baum schlafen. Im Traum sieht er, wie eine Teufelsversammlung zusammenkommt und Udos Seele in feurigen Ketten herbeigebracht wird. Satan gibt der Seele Nattern und Kröten zu essen sowie Schwefel und Pech zu trinken. Die gepeinigte Seele stößt Flüche aus und wird schließlich in ein feuriges Loch geworfen. Bevor die Teufel weggehen, ruft Satan sie dazu auf, auch den Kaplan Bruno, den Helfer Udos, zu fangen. Dieser wacht erschrocken auf und entkommt zu Pferd, wobei er sich einen Arm bricht. In der Stadt Magdeburg angelangt, berichtet er von seiner Vision und erfährt von Udos Tod. Seitdem wird jedem neuen Erzbischof bei seiner Weihe der blutbefleckte Marmorstein in der Kirche zur Warnung gezeigt. Am Ende wird das mirakulöse Geschehen auf das Jahr 950 datiert. Die faktisch-historische Interpretation wird hier – wie bei der Gestohlenen Monstranz – durch die Nennung von Personen- und Ortsnamen sowie durch die Datierung gestützt. Auch die Tatsache, dass große Teile der Geschichte aus der Perspektive von Gewährspersonen erzählt werden, nämlich des Chorherrn Friedrich und des Kaplans Bruno, dient zur Beglaubigung des mirakulösen Ereignisses. Die faktische Interpretation ist auch hier der Ausgangspunkt für die theologische Interpretation, die die Konsequenzen lasterhaften und leichtfertigen Handelns eines Klerikers aufzeigt. Ähnlich wie beim Gestohlenen Schinken dient die Figur Udo als Negativbeispiel; der Text bedient sich also einer exemplarischen Vermittlungsstrategie und suggeriert dadurch auch eine pragmatische Interpretation für eine bestimmte Personengruppe, die im Prolog benannt wird: In dem namen der heiligen driualtichait / wirt ew alhie zestund gesait / ain zaichen vnd ain wunder, / daz auf der werlt besunder / got offenleich erczaiget hat / ze maydwurkch in der werden stat. / da pey so schullen pild nehmen / alleu den daz mag geczaemen, / daz sie prelaet sind genant (v. 1ff.).
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Neben der exemplarischen kommt außerdem eine affektive Vermittlungsstrategie zur Anwendung. So wird die Vorgeschichte in einer Weise erzählt, dass die Rezipienten Sympathie für den armen Schüler Udo empfinden können. Sobald Udo jedoch Bischof geworden ist, ändert sich sein Verhalten: Er begund in rechter fur bestan / ettleich vrist vnd lange nicht, / alz laider manig stund geschicht, / daz dikch gewalt und ere / vercheret den menschen sere. / daz wart an disem tumen schein / wan er der reinen chünigein / rat vnd lere vber gie, / der sel hail vergaz er ye / vnd lebt nach seines willen gelust (v. 104ff.).
Als Udo das Gebot Marias übertritt, wird er wieder zu dem Toren, der er war, bevor Maria ihm Verstand schenkte. Während er aber vorher nur einfältig war, ist er jetzt lasterhaft und kann somit auch nicht mehr auf göttlichen Beistand hoffen. Die sentenzhafte Wendung, mit der diese Veränderung kommentiert wird, ordnet das Geschehen in einen größeren Rahmen ein, kann als Erweiterung zu einem intellektuellen Interpretationsaspekt hin gesehen werden. Nach dieser Interpretation ist Udo kein besonderer Bösewicht, sondern eher ein durchschnittlicher Mensch, dem es ergeht, wie es vielen anderen auch ergangen wäre. Das Besondere an ihm aber ist, dass er durch Marias Gnade aus der Durchschnittlichkeit herausgehoben wurde, dieser Auszeichnung aber nicht gerecht wird, sondern wieder in Durchschnittlichkeit zurückfällt, sobald er zu Macht und Ehre kommt. Im Gegensatz zu Udo ist der Visionär der ersten Vision, Chorherr Friedrich, eine positive Beispielfigur. Sein andächtig gesprochenes Gebet lässt ihn ebenso wie die detaillierte Schilderung seiner Furcht während der Vision als geeignet erscheinen, dem mirakulösen Geschehen ein menschliches Gesicht zu geben. Der Kaplan Bruno dagegen, der die Vision von Udos Höllenfahrt hat, ist zunächst als Handlanger Udos eine zweifelhafte Figur. Aufgrund der Vision wird er jedoch erschüttert – hier greifen exemplarische und affektive Vermittlungsstrategie ineinander. Bei der deutschen Udo-Erzählung kann je nach Rezeptionsvorgang eher der historisch-faktische oder eher der theologische Interpretationsaspekt in den Vordergrund gestellt werden. Dies spiegelt sich auch in den verschiedenen Texten, die möglicherweise als Quellen für die lateinische Erzählung gedient haben, die der deutschen Verserzählung zugrunde liegt, und Motive mit ihr teilen. Sie sind nämlich nicht nur im Bereich der religiösen Exempelliteratur zu finden, sondern auch in der Geschichtsschreibung.17 Klar ist, dass es zu der Zeit, die in der Erzählung genannt wird, 17 Zur Stoffgeschichte vgl. Schönbach, Legende, 17–67, und Öhgren, Udo-Legende, 84–150. Zu den Motiven aus der patristischen Literatur vgl. Rädle, »De Udone«, 288–293.
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noch gar keinen Erzbischof von Magdeburg gab und auch später keiner der Magdeburger Erzbischöfe diesen Namen trug. Dennoch wurde in der Forschung versucht, die Erzählung von Udo mit Berichten über historische Ereignisse in Verbindung zu bringen. Als Quellen dienten dabei vor allem die Magdeburger Schöppenchronik sowie die Gesta archepiscoporum Magdeburgensium.18 Als Vorbildfigur in Erwägung gezogen wurde etwa Bischof Ludwig von Magdeburg, der 1382 bei einem Ball im Rathaus von Calve ums Leben kam. Dieses Ereignis kann allerdings nicht den Ursprung der Udo-Geschichte gebildet haben, da es jünger ist als die ältesten Zeugnisse des Erzählstoffes. Auch die Ermordung des Bischofs Burchard III. von Magdeburg wurde mit der Udo-Erzählung in Verbindung gebracht, denn Burchard, der schon lange im Streit mit der Stadt Magdeburg stand, wurde 1325 im Ratskeller auf Anstiftung des Rates erschlagen. Infrage kommt außerdem ein weiterer Erzbischof von Magdeburg mit Namen Hartwig, der 1102 nach einem Festessen auf seinem Landsitz eines plötzlichen Todes starb. In den Gesta archepiscoporum Magdeburgensium findet sich im Anschluss an die Nachricht von Hartwigs Tod ein Bericht über eine Vision: In der Nacht, als Hartwig starb, soll er einem Ordensbruder in Magdeburg erschienen sein, wie er in der Kirche vor eine Versammlung von Heiligen geführt und verurteilt wurde, weil er das Kirchengut verschwendet hatte. Man nahm ihm die Bischofsgewänder ab und jagte ihn aus der Kirche. Die Brüder schickten daraufhin zu Hartwig, um ihn zu warnen, aber er war bereits verstorben. In der Magdeburger Schöppenchronik findet sich außerdem eine Vision zum Tod des Bischofs Adalbert von Mainz (gest. 1137), in der berichtet wird, wie ein Vikar gesehen haben soll, dass die Seele Adalberts vor den Teufel geführt, mit einem Feuertrank getränkt und in ein Feuerloch geworfen wurde, worauf der Teufel auch den Vikar fangen wollte, dieser aber entkommen konnte. Dieselbe Vision findet sich auch in der Sächsischen Weltchronik (um 1230–50).19 Während die oben geschilderte Vision zum Tod Bischof Hartwigs Gemeinsamkeiten mit der Friedrich-Vision aufweist, steht die Vision zum Tod Bischof Adalberts der Bruno-Vision nahe. Es wird sich wohl nicht mit Gewissheit sagen lassen, ob und inwiefern diese historischen Zusammenhänge tatsächlich die Entstehung der Udo-Geschichte beeinflusst haben, oder ob nicht bereits vorhandene Motive aus der Exempelliteratur diese historischen Berichte (mit-)geformt haben. Durch die verwandten Motive wird aber deutlich, dass ein Austausch zwischen den Sphären der Geschichtsschreibung und der religiösen Exempelliteratur stattgefunden hat. 18 Vgl. 19 Vgl.
Öhgren, Udo-Legende, 94–99, 109–112. ibid., 112 f.
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Die lateinische Fassung der Udo-Erzählung,20 die der deutschen Vers erzählung zugrunde liegt, weist zwar einen starken Lokalbezug auf und suggeriert dadurch die faktische Interpretation; dies verhinderte jedoch nicht, dass die Erzählung überregionale Verbreitung fand. Davon zeugt beispielsweise eine französische Prosa-Übersetzung.21 Sie weist einige Abweichungen gegenüber der deutschen Fassung auf. So geht der französische Bearbeiter etwas freier mit der Vorlage um, indem er etwa den relativ elaborierten Prolog der lateinischen Vorlage, dessen Hauptaussage die Warnung an die Geistlichen ist, ausgelassen hat. Die französische UdoErzählung beginnt mit der Lokalisierung und Datierung des Geschehens22 und geht dann gleich zur Handlung über. Die Schilderung von Udos Leben als Student ist dagegen breiter ausgestaltet. Udo muss hier nämlich nicht nur die Schläge des Lehrers, sondern auch den Spott der Schüler ertragen.23 Bei Udos Gebet zu Maria werden mehrmals sein Eifer und seine Aufrichtigkeit betont, ebenso seine Freude nach der Vision: Et Vdo s’esueilla et s’en ala a l’escolle moult joyeux de sy noble vision et de la promesse et du don que la glorieuse vierge lui auoit promis et donne (289v). Der Student Udo erscheint in der französischen Fassung somit noch stärker als Sympathieträger als in der lateinischen bzw. deutschen Version. Entsprechend wird auch seine Wandlung zum Schlechten sorgfältiger motiviert: En laquelle dignite jcelui Vdo se gouuerna assez bien et saintement au premier. Mais comme il aduiengne souuent que les honneurs muent les meurs, il commencha petit a petit a oublier le conseil de la glorieuse vierge et se habandonna finablement a toutes voluptes et delices (290r). So ist Udo zwar schlecht geworden, aber es ist noch nicht alle Sympathie verloren, noch könnte es sich hier um den Typus einer Sünderfigur handeln, die sich zuletzt wieder zum Guten wendet; die affektive Vermittlungsstrategie bleibt also weiterhin an die Figur Udos geknüpft. So hat Udo in der französischen Fassung auch bereits nach der ersten Warnung Zweifel an seiner Lebensführung: Quant il eult oy celle voix il pensa vng peu et doubta mais assez tost il se rasseura (290v). Nach der dritten Warnung ist ein Ansatz von Reue zu erkennen: Lors il commencha a penser et a soy doubter et repentir vng petit mais non point tant comme mestier lui estoit ains se rasseura et maintint sa folye comme deuant (291r). Schönbach, Legende, 1–9. Öhgren, Udo-Legende, 146. Die französische Fassung ist überliefert in British Library, Ms. Royal 15 D V, 350v-353v, und Paris, BNF, ms. frç. 911, 289r296r (ich zitiere nach dieser Hs.). 22 Paris, BNF, ms. frç. 911, Bl. 289r. 23 Pour laquelle cause son maistre le batoit souuent comme vng asne et ses compaignons se mocquoient de lui comme d’une beste, dont Vdo auoit grant dueil (289r). 20 Vgl. 21 Vgl.
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Auch beim Gericht in der Kirche weist die französische Fassung ein paar Abweichungen auf. So ist die Beschreibung der Heiligenschar kürzer gehalten. Eine noch bedeutendere Kürzung findet sich in der Verurteilungsund Hinrichtungsepisode. Die im lateinischen und deutschen Text hier zu findende Allegorie des kranken Kopfes (Bischof als Haupt der Kirche), der entfernt werden muss, fehlt ebenso wie das Motiv, dass Udo die unwürdig genossenen Hostien ausspucken muss. Dafür entfernen sich Maria und ihre Jungfrauen nach dem Urteilsspruch und vor der Vollstreckung der Hinrichtung; die übrigen Heiligen verschwinden nach der Enthauptung. Der Ansatz zu einer stärker intellektuellen Interpretation (Funktion des Klerus innerhalb der Kirche) wird also vernachlässigt, die affektive Vermittlungsstrategie dagegen gestärkt. Der Epilog der französischen Fassung weicht ebenfalls von der lateinischen und deutschen Fassung ab; er ist viel kürzer gehalten und enthält nur eine knappe Warnung an alle Menschen und besonders an die Priester. Es fehlt auch der Verweis auf den blutigen Stein in der Magdeburger Kirche, der als Warnung speziell für die Magdeburger Bischöfe dienen soll. Dies mag daran liegen, dass dieses Detail eher in den Bereich der Regionalgeschichte gehört und für einen französischsprachigen Rezipienten weniger interessant und auch nicht nachprüfbar war, also als Beglaubigungsmittel ausfiel. So fehlen auch Name und Lokalisierung des Klosters, mit dessen Äbtissin Udo eine Liaison unterhält. Auch hier zeigt sich, dass der historisch-faktische Interpretationsaspekt in dieser Fassung nur noch im Hintergrund steht. Sowohl die Interpretation der deutschen Verserzählung als auch ihre Einbettung in den stoffgeschichtlichen Kontext haben gezeigt, dass hier ein historisch-faktischer und ein theologischer Deutungshorizont nebeneinander und auch in einem gewissen Spannungsverhältnis stehen. Unter theologischem Aspekt interessiert Udo in erster Linie als Exempelfigur, als warnendes und abschreckendes Beispiel für andere Kleriker; ob, wo und wann er tatsächlich gelebt hat, ist sekundär. In historisch-faktischer Perspektive stehen dagegen gerade diese konkreten Lebensumstände im Vordergrund, während die theologische Bedeutung von Udos Schicksal eher eine sekundäre Erweiterung darstellt. Wie die Erzählung von Udo stehen auch die meisten Legendenerzählungen24 in einem Spannungsfeld von historisch-faktischer und theologischer 24 Zur Legendenliteratur gibt es eine breite Forschungstradition; ich nenne hier nur eine kleine Auswahl von Standardwerken und neueren Untersuchungen: Ulrich Wyss, Theorie der mittelhochdeutschen Legendenepik (Erlanger Studien 1), Erlangen 1973; Edith Feistner, Historische Typologie der deutschen Heiligenlegende des Mittelalters von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis zur Reformation (Wissensliteratur im Mittelalter 20), Wiesbaden 1995; Julia Weitbrecht, Aus der Welt. Reise und Heiligung
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Interpretation. Daher stelle ich hier neben die ›Udo‹-Erzählung eine Fassung der Dorothea-Verslegende (Typ I).25 Der Text wird von einem Prolog eröffnet, der den Topos des guten und schlechten Zuhörers ausführt (v. 1–22), wobei diejenigen, die keine deutschen Gedichte mögen und meinen, alles besser zu wissen, aufgefordert werden, die hobische[n] lute (v. 1) und den vromen man (v. 14) in Ruhe den Text hören zu lassen. Der Stil orientiert sich an der höfischen Dichtung, im Prolog wird durch keinen Hinweis deutlich, dass der folgende Text eine Legende sein wird – es könnte sich genauso gut um den Prolog einer höfischen Erzählung handeln. Die Erzählung beginnt dann mit der Schilderung der Christenverfolgung in Rom zu der Zeit, als beide wip und man, / Und ire kind beide gros und cleine / Betten an den tuvel algemeine (v. 28ff.). Der gottesfürchtige Dorotheus verlässt wegen dieser Verfolgung Rom und lässt sich in Cäsarea nieder. Dort fallen seine beiden älteren Töchter vom Christentum ab; das dritte Kind, auf den Namen Dorothea getauft, ist aber Des heiligen geistes […] vol, / vol czucht und tugende / Wart is in siner iugende / Und wart schone eine mait, / Das ni schoner wart betait / In alle dem riche / Noch alzo minichliche (v. 90ff.). So viel Vollkommenheit ruft gezwungenermaßen den Teufel auf den Plan: Das neit czuhant der bose wicht, / Der tuvel, der do lidet nicht, / Das man im tu di vlucht. / Wen si hatte czu gote gute czucht (v. 97ff.). Der Hauptmann der Stadt verliebt sich in Dorothea und bietet ihr die Ehe an. Sie weist dies aber zurück mit dem Verweis darauf, dass Gott ihr Geliebter sei. Die Liebe des Hauptmanns schlägt augenblicklich in grenzenlosen Hass um: Von rechtem czorne her thorte. / Her sprach: »Was sol di rede me! / Man sal dir tun alzo we / Das ni mensche quam in sulche not!« (v. 118ff.). Nun beginnt eine Reihe von Marterversuchen, die Dorothea zunächst mit göttlicher Hilfe überlebt. Zweimal wird sie nach schweren Misshandlungen über Nacht wundersam geheilt, ein Götzenbild, das sie anbeten soll, wird zerstört; Dorothea bekehrt ihre abtrünnigen Schwestern, die daraufhin das Martyrium erleiden. Der faktische Bericht steht hier im Vordergrund. Es wird kaum je eine Innenperspektive der Figuren geboten; Gut und Böse stehen einander von Anfang an klar definiert gegenüber, und die Heilige geht ihren Weg ohne in Legenden und Jenseitsreisen der Spätantike und des Mittelalters (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte), Heidelberg 2011; Stephanie Seidl, Blendendes Erzählen. Narrative Entwürfe von Ritterheiligkeit in deutschsprachigen Georgslegenden des Hoch- und Spätmittelalters (MTU 141), Berlin / Boston 2012; Susanne Köbele, »Die Illusion der ›einfachen Form‹ «. 25 Vgl. Werner Williams-Krapp, »Dorothea«, in: 2VL, Bd. 2, Sp. 211–216; Ausgabe: Lotte Busse, Die Legende der heiligen Dorothea im deutschen Mittelalter, Diss. Greifswald 1930, 15–24.
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Zweifel und Wanken, stets in der Überzeugung, das Richtige zu tun. Als sie schließlich zum letzten Tötungsversuch, der Enthauptung, geführt wird, begegnet ihr Theophilus, der Stadtschreiber, und bittet sie darum, ihm Rosen aus dem Garten ihres Geliebten zu schicken. Vor der Hinrichtung erscheint Dorothea ein wunderschönes Kind mit einem Korb voller Rosen und Äpfel; sie schickt es zu Theophilus; dieser wird durch das Wunder bekehrt und erleidet ebenfalls das Martyrium. Vor ihrem Tod erbittet sich Dorothea noch Gottes Hilfe für diejenigen, die ihren Namen anrufen. Am Ende der Erzählung steht ein kurzer Epilog: Gottes gewalt und sin rich / Das sal nimmer czugan, / Sunder is mus ewiclich stan! / Noch gotes gebort czweihundert iar / Unde siben unde achczig, das ist war, / In dem manden alzus, / Der do heiset Februarius, / Lit den tot di reine mait / Dorothea, von der ich han gesait (v. 368ff.). Die Datierung sowie die genannten Orte und die Bezugnahme auf historische Ereignisse (Christenverfolgung) betonen die Historizität des Erzählten. Da es sich bei der Protagonistin um eine bedeutende Heilige der christlichen Kirche handelt, ist der theologische Interpretationsaspekt ebenfalls stets präsent und mit der Lebensgeschichte Dorotheas eng verknüpft. Auf der Ebene der Vermittlungsstrategien ist zunächst die Wissensvermittlung hervorzuheben; sie ergibt sich durch die historische und theologische Bedeutung des Erzählten sowie durch die knappe und faktenorientierte Erzählweise. Die Lebens- und Leidensgeschichte der Heiligen soll durch den Text bekannt gemacht bzw. in Erinnerung gerufen werden. Als Heilige ist die Protagonistin zwangsläufig auch Vorbildfigur. Der Text bedient sich also auch einer exemplarischen Vermittlungsstrategie. Dorothea ist dabei eine Idealfigur, die – im Sinne Jolles’ – natürlich imitiert werden soll, allerdings auch so herausragend ist, dass ihre Vollkommenheit von keinem gewöhnlichen Menschen erreicht werden kann.26 Um die Rezipienten dennoch zu einer imitatio zu bewegen, eignen sich besonders die Episoden, in denen Dorothea mit ihren Schwestern bzw. mit Theophilus konfrontiert wird und eine exemplarische Wirkung auf diese Figuren ausübt (v. 203–224; 256–267; 306–365). Hier wird auch eine affektive Vermittlungsstrategie sichtbar, denn das Motiv des himmlischen Kindes mit dem Blumenkörbchen ruft bei Theophilus – und damit auch bei einem Rezipienten, der sich mit dieser Figur identifiziert – emotionale Rührung und einen darauf basierenden Sinneswandel hervor (v. 337–352). Eine rekreative Vermittlungsstrategie klingt im Prolog an, wo das Hören deutscher Texte thematisiert wird, das als wunnen spil (v. 2) und vroude (v. 16) für hobische[…] lute (v. 1) bezeichnet wird. Der Text wird also auch als ästhetischer Genuss und guter 26 Vgl.
Jolles, Einfache Formen, 36; Eichenberger, Geistliches Erzählen, 187 f.
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Zeitvertreib für höfische Rezipienten wahrgenommen.27 Dies mag aus der Perspektive der klassischen Aufteilung in geistliche (ernste) und weltliche (unterhaltsame) Texte zunächst bemerkenswert erscheinen. Allerdings ist dabei zu bedenken, dass volkssprachige Verstexte in den meisten Fällen auch eine – mehr oder weniger ausgeprägte – rekreative Funktion haben, die schon allein darin begründet ist, dass sie eine ästhetisch anspruchsvolle Form verwenden. Der Inhalt des Textes spielt in der Argumentation des Prologs keine Rolle, es geht dort nur um das Vergnügen am Hören volkssprachiger Texte. Während die Erzählungen von Udo und Dorothea durch die Gemeinsamkeit des Zusammenspiels von theologischem und faktisch-historischem Interpretationsaspekt verbunden sind, fehlt ein expliziter religiöser oder historischer Bezug im folgenden Text ganz. Dennoch lassen sich in Heinrich Kaufringers Unschuldiger Mörderin28 Ähnlichkeiten in der grundlegenden Figurenkonstellation mit der Dorothea-Legende feststellen. Auch hier wird eine vorbildliche, tugendhafte Frau durch Männer, die sie unrechtmäßig begehren, in eine Notlage gebracht. Allerdings ist die Frau keine Heilige, und es findet kein Eingreifen einer göttlichen Macht statt. Die Erzählung beginnt mit einem Prolog, der Gottes Hilfe für die gerechten Menschen betont. Als Beispiel dafür soll die Geschichte einer Jungfrau erzählt werden, die schuldlos kumers vil (v. 12) erlitten hat und der got mit seiner huld (v. 16) aus aller Not geholfen hat. Allerdings spielen Gott oder andere transzendente Mächte keine aktive Rolle; der Text suggeriert vielmehr, dass die Jungfrau sich aufgrund ihrer Klugheit und Entschlossenheit selbst aus ihrer misslichen Lage befreit. Das Ganze mutet wie eine Versuchsanordnung an, in der Tugend gegen Bosheit gestellt wird. Die Jungfrau bringt alle positiven Qualitäten mit: Sie ist keusch und frumm, vein und zart / und geporn von hoher art (v. 19 f.), sie soll einen König heiraten, der was edel, jung und reich (v. 27). Doch ein böser Diener verleumdet sie als wollüstige Frau, die schon viel Unkeuschheit getrieben habe. Er anerbietet seinem Herrn, einem Ritter, guot aubentür (v. 64), nämlich, dass er ihm die Frau zu Willen machen werde. Es gibt keinen erkennbaren Grund für die Verleumdung durch den Knecht; der Ritter folgt ihm, weil er üppig und bedort (v. 66) ist, nicht, weil er dem König oder der Jungfrau schaden will. Das grundlos Böse steht somit dem tugendhaften Ideal gegenüber. Sobald die Jungfrau in eine heikle Situation kommt – der Ritter gibt Eichenberger, Geistliches Erzählen, 3 f. Paul Sappler, »Heinrich Kaufringer«, in: 2VL, Bd. 4, Sp. 1076–1085; Ausgabe: Heinrich Kaufringer, Werke, Bd. I: Text, hg. Paul Sappler, Tübingen 1972, 154–173. 27 Vgl. 28 Vgl.
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sich nämlich als ihr zukünftiger Gemahl aus und verlangt ein gemeinsames Beilager bereits am Tag vor der Hochzeit – stellt sie Überlegungen an, wie sie sich verhalten soll; in der rationalen Argumentation stehen das Risiko des Ehrverlusts und die Gehorsamspflicht gegenüber dem künftigen Gemahl einander gegenüber. Die Jungfrau versucht den angeblichen König mit vernünftigen Argumenten von seinem Wunsch abzubringen. Da sie allerdings nicht mit einem Betrug rechnet, lässt sie ihn schließlich gewähren. Nach vollzogenem Beilager gibt der Ritter sich aus Versehen zu erkennen, und die Frau erschrickt über das angerichtete Unheil (v. 271), überlegt aber nicht lange, sondern schreitet sogleich zur Tat und enthauptet den Ritter im Schlaf. Dies erinnert an die Geschichte von Judith, jedoch unter völlig umgekehrten Vorzeichen; die Frau hat ja ihre Ehre schon verloren, und da sie zur Beseitigung des Leichnams die Hilfe des Pförtners braucht, dieser aber ebenso unverschämt ist wie der falsche König und als Bedingung für seine Dienste ebenfalls den Beischlaf fordert, verliert sie sie noch ein zweites Mal. Ein Motiv für diese boßhait (v. 337) des Pförtners gibt der Text nicht – ähnlich wie die Bosheit des Ritters und seines Knechtes ist sie einfach vorhanden. Auch bei ihrem zweiten Mord – sie stößt den Pförtner in die Zisterne – verhält sich die Frau vorbildlich: die fraw was cluog und weise / und begraif in bei den füessen sein / und sturzt in in den waug hinein, / den valschen portner, vil schon. / also ward im der minne lon (v. 356ff.). Die Wahl der Adjektive bestätigt das holzschnittartige Muster von Gut und Böse ebenso wie die lapidare Sentenz, mit der der Mord kommentiert wird. Sie sind so schematisch, dass sowohl das Leid der Gräfin als auch der gewaltsame Tod des Pförtners jegliche Realitätsnähe verlieren und kaum ein Einfühlen des Rezipienten hervorrufen können. Nach dem zweiten Mord verbringt die geistesgegenwärtige Frau die Zeit bis zum Morgen damit, die blutigen Laken auszuwaschen. Am nächsten Morgen erhält auch der Diener des Ritters seinen Lohn: Er wird aufgegriffen und als Pferdedieb gehängt. Der Erzähler urteilt ebenso ungerührt wie beim Pförtner: den tod er wol verdient hat, / wann er hätt bösen rat geben, / davon der ritter hat sein leben / verlorn und der portner. / die junkfraw ist in grosse swär / auch von seinem rat komen; / die gröste eer ist ihr genommen, / die ir got ie geben hat. / das kompt von dem valschen rat, / den der bößwicht hat getan. / wir süllen in da hangen lan (v. 408ff.).
Bei dem nun folgenden Hochzeitsfest mit dem König wird der Kontrast zwischen der äußeren Freude und dem inneren, heimlichen Leid der nun zur Königin erhobenen Frau hervorgehoben. Sie klagt ihr Leid zwar Gott (v. 448ff.), aber wiederum muss sie sich selbst aus ihrer misslichen Lage befreien. Sie schiebt in der Hochzeitsnacht eine ihrer Jungfrauen vor – das Motiv kennt man etwa aus dem Tristan; doch auch hier, wie schon beim
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Mord an dem Ritter bzw. dem Pförtner, gerät die Sache zur Burleske. Der Jungfrau gefällt es im Bett des Königs nämlich so gut, dass sie nicht wieder aufstehen will. Wiederum gibt es kein wirkliches Motiv für die Untreue der Jungfrau. Nachdem das gute Zureden nicht geholfen hat, entscheidet sich die Königin, auch die Jungfrau umzubringen, indem sie Feuer legt und die Jungfrau im Schlafgemach einschließt, nachdem sie den König ›gerettet‹ hat. Auch hier kommentiert der Erzähler: in der kamer da verpran / die junkfraw ze pulver schon. / also ward ir der recht lon / umb ir untrew gros gegeben, / das si da verlos ir leben (v. 612ff.). Dies wirkt – zumindest auf einen modernen Rezipienten, der an psychologisch schlüssige Figurenzeichnung gewöhnt ist – irritierend. Es ist schwer zu rekonstruieren, ob diese Erzählweise für mittelalterliche Rezipienten ebenfalls Irritationen auslöste und vielleicht zum Lachen anregte oder einfach als Bestätigung des Schemas akzeptiert wurde. Wahrscheinlich sind beide Lesarten als Möglichkeiten anzunehmen. Nach 32 glücklichen Ehejahren fallen der Königin auf einmal ihre Morde wieder ein, und sie empfindet Reue und beginnt zu weinen (v. 631ff.). Diese plötzliche emotionale Wendung erscheint umso überraschender, als der Erzähler keinen Zweifel an der Rechtmäßigkeit aller Taten der Königin gelassen hat und sie selbst in der größten Verzweiflung stets als rational handelnde Figur aufgetreten ist. Allerdings kann diese späte Reue (wohl nicht als Schuld, sondern eher als Bedauern zu verstehen) die Königin in moralischer Hinsicht noch vollkommener erscheinen lassen. Entsprechend ist der König auch keineswegs zornig auf die Frau, sondern meint, sie habe viel um seinetwillen leiden müssen. Im gleichen Sinn kommentiert auch der Erzähler das Schicksal der Königin in einem langen Epilog (v. 702–763). Er betont noch einmal, dass die Königin ganz unverschuldet in Not geriet und erinnert an die Missetäter und ihre verdiente Strafe, um zu bekräftigen: den ist allen recht geschehen. / Ich wolt das vil gern sehen, / das allen den also geschäch, / von den man sich des versäch / one zweifel und fürwar, / das si lebent mit gevar / und aller untrew sind vol (v. 739ff.). Hier wird der Schematismus der Geschichte bekräftigt, aber gleichzeitig tut sich auch eine Kluft zwischen exemplarischer Geschichte und Lebensrealität auf, denn der Erzähler formuliert es als Wunsch, dass es allen Übeltätern so ergehen möge – das impliziert, dass es in der realen Welt eben nicht so ist. Zum Schluss kommt die Rede noch einmal auf Gott. Wie bereits am Anfang betont der Erzähler, dass Gott der Königin beigestanden habe: darumb das si oun gevär / ist gewesen und auch guot, / so hat si got gehept in huot. / er half ir aus aller not. / si wär oft von sorgen tot, / wär ir got nit beigesten (v. 754ff.). Wie ist dieser starke Bezug auf Gott zu verstehen? In der ganzen Geschichte spielen
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transzendente Mächte keine aktive Rolle, Gott greift nicht ein, er antwortet auch nicht auf die Klagen der Königin – sie ruft ihn zwar an, aber dann handelt sie rational und eigenständig. Vielleicht ist gemeint, dass Gott der Königin den moralischen Rückhalt, die geistige Stärke gibt, so zu handeln: Ohne seinen Beistand wäre sie vor Sorgen oder Kummer gestorben. Die Sentenz, die die Erzählung beschließt, weist in diese Richtung: also tuot got allen den, / die unverschuldt komen in swär (v. 760 f.). Dies allerdings ist so schematisch, dass kaum ein konkreter Bezug zur Lebenswirklichkeit im Sinn einer Handlungsanweisung hergestellt werden kann. Bei dieser Erzählung kommt man mit einem faktisch-historischen Interpretationsaspekt nicht weit. Die Handlung ist zwar in einer der gegenwärtigen Lebenswelt der Rezipienten ähnlichen Umgebung angesiedelt, aber sie suggeriert keinerlei historische Bezüge; die Eindimensionalität der Figuren hebt deren exemplarischen, nicht historischen, Charakter hervor. Die Exemplarizität der Figuren begünstigt eine pragmatische Interpretation des Textes, der aufzeigt, wie man sich in einer schwierigen Situation am besten verhält. Allerdings handelt es sich dabei nur bedingt um konkret umsetzbare Handlungsanweisungen, da die im Text geschilderte Situation aufgrund der eindimensionalen Figuren so idealisiert bzw. typisiert ist, dass sie keiner konkret-lebensweltlichen Situation entsprechen kann. Neben die pragmatische Interpretation tritt somit eine intellektuelle Interpretation, die es erlaubt, in der stilisierten Versuchsanordnung der Erzählung allgemeine Ordnungsschemata zu erkennen, die zwar auch hinter lebensweltlichen Situationen stehen, dort aber aufgrund der Komplexität der nicht-idealisierten Situationen ungleich schwieriger zu erkennen sind. So werden in der Erzählung Tugenden und Laster einander gegenübergestellt und der Sieg des vernünftigen Handelns über das unmotiviert böse Vergehen dargestellt. Eine religiöse Fundierung findet dabei nur in Ansätzen statt, indem die göttliche Ordnung als Ursprung und Grundlage aller Ordnungsschemata zwar stets präsent ist, auf der Ebene der konkreten Handlung aber keine zentrale Rolle spielt. Das intellektuelle Erkennen von Ordnungen und Zusammenhängen anhand einer stilisierten Geschichte wird – wie schon erwähnt – hauptsächlich durch eine exemplarische Vermittlungsstrategie gefördert. Daneben ist auch eine affektive Strategie erkennbar, indem die Königin als Identifikationsfigur Mitleid hervorruft bzw. Abscheu gegenüber den Bösewichten nahegelegt wird; allerdings verhindert die Schematik der Figurenzeichnung eine direkte Identifizierung mit den Figuren, die als prototypische Verkörperungen von Gut und Böse eher zur rationalen als zur emotionalen Aneignung einladen. Aufgrund der ereignisreichen Handlung kann der Unschuldigen Mörderin auch eine rekreative Vermittlungsstrategie im Sinn einer unterhaltsamen
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Geschichte zugeschrieben werden. Dies ist zunächst unabhängig von der Frage, ob die für einen modernen Leser irritierenden Elemente ebenfalls als solche wahrgenommen wurden. Eine ›ernsthafte‹ intellektuelle bzw. theologische Interpretation und das Vergnügen an einer interessanten Geschichte schließen sich keineswegs aus. Allerdings kann man sich auch vorstellen, dass die irritierende Schematik des Textes dazu führen konnte, die Erzählung als Ganzes in Frage zu stellen – indem die Spannung zwischen dem holzschnittartigen Text und der komplexen Lebenswirklichkeit nicht als ideale Typisierung, sondern als Widerspruch wahrgenommen wurde und damit auch die Affirmation des Epilogs, Gott werde allen schuldlos Bedrängten helfen, in Frage stellte. In diesem Fall konnte der ganze Text auch eine satirische Wendung bekommen, indem seine schematische Gerechtigkeit als Spott auf die Ungerechtigkeit in der tatsächlichen Lebenswelt gelesen werden konnte. Die nächste Erzählung hat auf den ersten Blick von der Thematik her wenig mit der Unschuldigen Mörderin zu tun; die Figurenkonstellation weist aber auch hier wieder deutliche Gemeinsamkeiten auf. Im Zentrum der Erzählung Die Frauentreue29 steht die Liebe eines Ritters zu der Ehefrau eines mit ihm befreundeten Stadtbürgers, in die er sich beim Kirchgang verliebt hat, ohne von ihrer Verbindung mit seinem Freund zu wissen. Um seine Liebe unter Beweis zu stellen, ruft er ein Turnier aus, bei dem er ohne Rüstung antreten will. Dabei wird er schwer verwundet und beschließt nun, sich nur von der geliebten Dame die Lanzenspitze aus der Wunde ziehen zu lassen – ansonsten will er sterben. Die Frau weigert sich lange, willigt dann aber auf Anraten ihrer Zofe ein. Als der Ritter wieder genesen ist, dringt er eines Nachts ins Schlafzimmer der Frau und ihres Ehemannes ein. Die Frau versucht ihn dazu zu bringen, wieder zu gehen, doch von Liebe überwältigt umarmt er sie so stürmisch, dass seine alte Wunde aufbricht und er verblutet. Der Frau gelingt es, die Leiche in die Herberge des Ritters zu bringen, ohne dass der Ehemann etwas bemerkt hat. Als der Ritter bestattet wird, opfert die Frau an seiner Bahre alle ihre Kleider, bis sie im Hemd dasteht und ihr vor Scham und Liebe das Herz bricht. Sie wird gemeinsam mit dem Ritter begraben. 29 Vgl. Kurt Ruh, »Frauentreue«, in: 2VL, Bd. 2, Sp. 880–882; Ausgabe: Novellistik des Mittelalters. Märendichtung, hg., übers. u. komm. Klaus Grubmüller (Bibliothek deutscher Klassiker 138 / Bibliothek des Mittelalters 23), Frankfurt a. M. 1996, 470–491. Vgl. auch Udo Friedrich, »Zur Poetik des Liebestodes im Schüler von Paris (B) und in der Frauentreue«, in: Margreth Egidi u. a. (Hgg.), Liebesgaben. Kommunikative, performative und poetologische Dimensionen in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (Philologische Studien und Quellen 240), Berlin 2012, 239–254, bes. 248–252.
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Eine Verbindung zur Unschuldigen Mörderin besteht zunächst in der Ausgangssituation: Eine als tugendhaft und vorbildlich beschriebene Frau gerät in eine schwierige Situation und in Konflikt mit ihrer ehelichen Bindung durch das Begehren eines fremden Mannes. Im Gegensatz zur Unschuldigen Mörderin ist das zentrale Bezugssystem hier aber nicht ein Tugend-Laster-Schema, keine Gegenüberstellung von Gut und Böse, sondern das Konzept der höfischen Minne. Dies ist im Rahmen der Erzählung grundsätzlich positiv besetzt und wird teilweise mit Tugenden – wie der triuwe – in Verbindung gebracht, ist aber durchaus auch ambivalent. Während in der Unschuldigen Mörderin anhand einer stark stilisierten, vereinfachten Geschichte grundsätzliche Ordnungen beleuchtet werden, stehen im Kern der Frauentreue eine ambivalente Bezugsgröße und komplexer aufgebaute Figuren, deren Handeln für den Rezipienten nicht unmittelbar nachvollziehbar ist, sondern erst beim Nachdenken über das Bezugskonzept der höfischen Minne verständlich werden. So steht zwar in beiden Texten ein intellektueller Interpretationsaspekt im Vordergrund, aber die Umsetzung im Text ist ganz unterschiedlich gestaltet. Dies lässt sich beispielsweise an einer Szene zeigen, deren Kernmotiv in beiden Texten vorkommt: Eine Frau befindet sich in der Notlage, den Leichnam eines Mannes zum Verschwinden bringen zu müssen, der eine Gefahr für ihre Ehre darstellte. Während der Ritter in der Frauentreue den Tod richtiggehend sucht, ist die Frau in dieser Szene zunächst nur darüber besorgt, dass ihr Mann etwas merken könnte: vor leide diu vrouwe daz hâr ûz rouft, / ein sîdîn hemde si an slouft, / mit im von dem bette / si gienc, daz si in hette / mit listen gerne brâht von dan (v. 283ff.). Nach dem Tod des Ritters empfindet die Frau zwar grenzenloses Leid, aber das scheint sich vor allem auf ihre missliche Lage zu beziehen: ir herze vor jâmer leid getwanc. / si het manger hande gedanc, / wie si in von danne möht getragen. / si entorst dem manne niht gesagen, / wan als uns sagent die wîsen, / daz noch nôt bricht îsen: / ein bret si zu dem venster stalt, / den ritter nam si mit gewalt / und truoc in an sin bette wider. / zu irem manne gienc si sider / und leite sich mit sinne, / daz er siu nie wart inne (v. 303ff.).
Erst dann, als die akute Gefahr vorüber ist, beginnt die Frau über die große Liebe nachzudenken, die der Ritter ihr gewidmet hatte (v. 315–318). Auch das erinnert entfernt an die Unschuldige Mörderin, die auch zunächst quasi als Getriebene immer auf die akute Situation reagiert und erst nach vielen Jahren, als jegliche Gefahr gebannt ist, über ihre Taten nachzudenken beginnt. Dieses Nachdenken über das, was einem widerfahren ist bzw. was man getan hat, spiegelt auf intradiegetischer Ebene den Rezeptionsvorgang unter intellektuellem Deutungsaspekt; die Figuren analysieren und deuten die größeren, abstrakteren Zusammenhänge, in denen
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ihre Handlungen stehen. Bei der Unschuldigen Mörderin ist es der moralische und theologische Zusammenhang, in dem sie eine (Teil-)Verantwortung für ihre Taten trägt und Reue über die gewaltsam beendeten Leben empfindet. Im Fall der Frauentreue ist dieser Zusammenhang das Konzept der höfischen Liebe. Die Frau erkennt nun, wie grenzenlos die Liebe des Mannes war, und erkennt ihre daraus erwachsende Verpflichtung zu einer Belohnung. Durch die Reflexion ändert sich ihre innere Haltung, denn die äußere Pflicht wird auch zu einer emotionalen Verpflichtung: ir herze was verschrôten (v. 343). Um die Bedeutung der höfischen Liebe hervorzuheben, wird sie sogar mit einer religiösen Aura umgeben, wenn es von der Dame heißt: die himelische krône / got durch ir triuwe muoste geben / und êwiclîchen mit im leben (v. 338ff.). Die Erfüllung der Liebespflicht ist also so verdienstvoll, dass sie sogar im Jenseits belohnt werden soll. Während der im Text suggerierte Deutungshorizont ein intellektueller, ja quasi theologischer ist, ist die wichtigste Vermittlungsstrategie die affektive. Dennoch gibt es auch in diesem Text rekreative Momente. Dabei ist zunächst der ästhetische Genuss zu nennen, den die Versform, die Stilistik und das Wiedererkennen bekannter Versatzstücke aus der höfischen Minneliteratur bereiten können. Es gibt in dem Text aber durchaus auch Motive und Episoden, die mit dem Bezugskonzept der höfischen Liebe inkongruent erscheinen und dadurch irritierend oder eben auch komisch wirken können, so etwa die Frauenschau vor der Kirche, bei der der Ritter seine Minnedame bewusst aussucht; der Zufall, dass es sich bei seiner Erwählten ausgerechnet um die Ehefrau seines befreundeten Bürgers handelt, erhöht die Komik dieser Situation. Auch die Beseitigung des Leichnams birgt komisch-burleske Züge. Hier stellt sich wiederum die Frage, ob diese Motive auch von zeitgenössischen Rezipienten als komisch empfunden wurden, und wenn ja, wie sie sich auf die Interpretation des gesamten Textes auswirkten. Denkbar ist sowohl eine Wirkung als Auflockerung der insgesamt ernsten Geschichte als auch eine ans Satirische grenzende Infragestellung der höfischen Minne an sich. Möglich ist aber auch, dass diese irritierenden Momente die intellektuelle Durchdringung des Gegenstandes zusätzlich förderten, indem sie zum Nachdenken anstießen und eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Erzählten, etwa in einem Gespräch unter den Rezipienten, hervorriefen. Die beiden nächsten Texte verhandeln ebenfalls ehebrecherische Liebesverhältnisse. Im Ritter mit den Nüssen30 geht es um eine verheiratete Frau, 30 Vgl. Karl-Heinz Schirmer, »Der Ritter mit den Nüssen«, in: 2VL, Bd. 8, Sp. 102 f.; Ausgabe: Gesammtabenteuer. Hundert altdeutsche Erzählungen, hg. Friedrich Heinrich von der Hagen, 3 Bde., Stuttgart / Tübingen 1850 (Nachdruck Darmstadt 1961), hier Bd. II, 273–282.
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die mit einem Ritter in einem Liebesverhältnis steht. Was allerdings in der Frauentreue als schon fast religiös anmutende, ideale, von Tugenden gelenkte innere Haltung propagiert wird, erscheint hier als listig betriebenes, verwerfliches Laster. Die faktische Situation ist nicht kategorial verschieden in den beiden Texten, aber ihre Einordnung in größere Zusammenhänge – also der intellektuelle Interpretationsaspekt – ist eine ganz andere. Im Ritter mit den Nüssen wird das Erzählte auf die List der Frauen hin gedeutet. Der Text wird von einer sprichwortartigen Aussage eröffnet: Man sol vrouwen reden guot, / er ist saelig, wer daz tuot, / Wen die vrouwen [die] künnen vil (v. 1ff.). Diese zunächst positiv klingende Aufforderung entpuppt sich in den nächsten drei Versen jedoch als Ironie: dâ von merket ein bî spil, / Wie ein ritter wart betrogen, / daz wil ich sagen unerlogen (v. 4ff.). Hier wird einerseits auf eine Vermittlungsstrategie des Textes verwiesen, indem die Geschichte als exemplarisch für die Frauenlist im Allgemeinen angesprochen wird, und andererseits ein faktischer Deutungsaspekt aufgezeigt durch die Wahrheitsbeteuerung; allerdings muss dahingestellt bleiben, inwiefern diese behauptete Faktizität ernstzunehmen ist angesichts der ironischen Eingangsverse. Auch in der Folge spielt Komik eine wichtige Rolle in der Erzählung; so wird etwa über die ehebrecherische Frau und ihren Liebhaber gesagt: dô giengen si an die bette stât, / Diu zwei heimlîchen holden, / und teten, waz si wolden. / Aber waz si tâten / daz möht’ ein münch râten (v. 18ff.). Hier wird eine rekreative Vermittlungsstrategie deutlich. Der Rezipient soll auf lustige, unterhaltsame Weise ein Beispiel für die Frauenlist vorgeführt bekommen; er soll also das verstehen, was der männliche Protagonist der Erzählung, der betrogene Ehemann, trotz expliziter Erklärungen nicht versteht. Denn die List der Frau besteht gerade darin, dem frühzeitig heimgekehrten Mann die Wahrheit ins Gesicht zu sagen und ihn aufzufordern, im Bett nachzuschauen, denn dort sei ihr Liebhaber versteckt. Der Ehemann weist dies zunächst mit der Begründung zurück, niemand würde das Risiko eingehen, von ihm dort entdeckt zu werden. Er interpretiert die Aussagen der Frau dahingehend, sie habe den Verstand verloren und sei vom tiuvel […] Leste(r)link (v. 119) besessen. Die Frau wiederholt jedoch ihre Aussage und weist den Mann sogar explizit darauf hin, dass er die Situation falsch einschätze: Dû bist an dir selb’ betrogen (v. 133). Doch auch dies führt keinen Erkenntnisprozess des Mannes herbei; er wendet lediglich ein anderes falsches Deutungsmuster an, indem er glaubt, die Frau wolle sich über ihn lustig machen und ihn verspotten, wenn er zum Bett gehe, um nachzusehen. Als die Frau schließlich ganz sicher ist, dass der Ehemann nicht nachsehen wird, erklärt sie ihm sogar noch, wie sie es schaffen würde, den Liebhaber ungesehen aus dem Haus zu bringen, und begleitet diese Erklärung mit einer Praxisdemonstration, während derer der Lieb-
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haber tatsächlich entweichen kann. Die Erzählung wird mit den Versen beschlossen: Vor [boesen] wîben man sich huete, / Die alsô künnen mûsen. / man sol narren mit kolben lûsen (v. 194ff.). Es erfolgt im ganzen Text keine tiefergreifende Kommentierung oder diskursive Einordnung des Geschehens in größere Zusammenhänge; aber durch die exemplarische Vermittlungsstrategie wird doch eine intellektuelle Deutungsperspektive nahegelegt. Daneben spielt die rekreative Vermittlungsstrategie eine zentrale Rolle. Die Unfähigkeit des Ritters, seine Frau zu verstehen, und der Wissensvorsprung des Rezipienten erzeugen komische Momente. Der Rezipient kann dabei entweder mit der List der Ehebrecherin solidarisieren und über den Ritter lachen, oder aber die Erzählung als Satire auf die verderbte Welt sehen, die zum Nachdenken über die List der Frau und die Torheit des Mannes anregt. Von der Figurenkonstellation her ebenfalls verwandt ist Heinrichs von Pforzen Erzählung Der Pfaffe in der Reuse.31 Hier wird von einem Fischer erzählt, dessen Frau ein Verhältnis mit dem Pfarrer hat. Der Fischer merkt aber – ähnlich wie der Ritter aus der vorherigen Erzählung – nichts davon. Allerdings schöpft der Burgherr, für den der Fischer arbeitet, Verdacht, denn der Pfarrer begeht nicht nur Ehebruch mit der Fischersfrau, sondern verspeist mit ihr zusammen auch die besten Fische, die folglich auf dem Tisch des Burgherrn fehlen. Der Herr setzt nun einen ausgeklügelten Plan ins Werk, um den Pfaffen zu überführen und zu demütigen. Er befiehlt dem Fischer, drei Netze an ungewöhnlichen Orten aufzuhängen, nämlich am Ufer des Baches, im Wald und über seinem eigenen Herd. Der Fischer wundert sich zwar über die Anweisung des Herrn, die er nicht versteht, aber er tut trotzdem fleißig alles, was ihm aufgetragen wurde. Als er früher als gewohnt heimkommt, versteckt sich der überraschte Pfarrer auf Anraten der Frau nackt im Netz, das über dem Herd hängt. Dort wird er vom Fischer entdeckt und zum Burgherrn gebracht. Die Burgherrin erbarmt sich über ihn und lässt ihm die Kleider zurückgeben, bevor er aus dem Land gejagt wird. Auch wenn es Parallelen zum Ritter mit den Nüssen gibt – die Ehebruchskonstellation, das Motiv des versteckten Liebhabers, die ›Blindheit‹ des betrogenen Ehemannes – so suggeriert der Text doch eine andere Deutungsperspektive und arbeitet mit anderen Vermittlungsstrategien. Hier ist ein pragmatischer Deutungsaspekt mit einer hauptsächlich exemplarischen Vermittlungsstrategie gekoppelt. 31 Vgl. Johannes Janota, »Heinrich von Pforzen«, in: 2VL, Bd. 3, Sp. 862–864; Ausgabe: Neues Gesamtabenteuer. Das ist Fr. H. von der Hagens Gesamtabenteuer in neuer Auswahl. Die Sammlung der mittelhochdeutschen Mären und Schwänke des 13. und 14. Jahrhunderts, hg. Heinrich Niewöhner, Bd. 1, 2. Aufl. hg. Werner Simon, mit den Lesarten bes. Max Boeters und Kurt Schacks, Dublin / Zürich 1967, 208–222.
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Im Prolog wird festgehalten, dass die Vergnügungen der Welt aus unzuht unde gitikeit (v. 3) bestünden und swaz man singet oder seit (v. 4) nur vür ein torenspil (v. 5) gehalten werde. Trotz dieser angeprangerten Missachtung der Literatur versucht sich der Verfasser an einem didaktischen Text: aller werlt ze stiure / wil ich sagen ein aventiure / von einem werden vischer guot / der ie vor schanden was behuot (v. 7ff.). Der Protagonist wird also positiv bewertet und seine Geschichte soll als beispielgebend verstanden werden. Die Abgrenzung von schlechter kurzewil (v. 2) suggeriert auch eine rekreative Vermittlungsstrategie, denn es handelt sich hier ja um gute Kurzweil. Das Unterhaltsame und Komische der Geschichte wird dabei deutlich in eine didaktische Perspektive gestellt. Neben dem Fischer gibt es noch zwei weitere exemplarische Figuren: den Pfarrer als schlechte Beispielfigur, die der Gula und der Luxuria verfallen ist, und den Burgherrn, der richtiges und kluges Verhalten verkörpert. Der Fischer ist zwar einfältig, führt aber die Befehle seines Herrn widerspruchslos aus, auch wenn sie ihm seltsam erscheinen: ich wæn ez si mins herren spot, / doch leist ich gerne sin gebot, / ez si mir schade oder guot (v. 137ff.). Diese Aussage erinnert an die Vermutung des Ritters im Ritter mit den Nüssen, die Frau wolle sich über ihn lustig machen (v. 135–143). Im Gegensatz zum Ritter, der aufgrund der Furcht vor Spott aber gerade falsch handelt, nimmt der Fischer den Spott bewusst in Kauf, da er seine Pflichterfüllung als übergeordnet ansieht. Diese Haltung wird am Ende auch belohnt, der Fischer entdeckt die Verfehlung seiner Frau und jagt sie aus dem Haus, statt als betrogener Ehemann tatsächlich zum Spott zu werden – der Spott wird stattdessen dem überführten Ehebrecher zuteil, der vor der ganzen Burgfamilie bloßgestellt wird. Am Ende der Erzählung bekräftigt der Epilog die genannten Lehren noch einmal in verallgemeinernder, vom Exempel abstrahierender Form: swer dem andern sine ere næme, / daz man den also vienge / und im lasterlich ergienge / als dem pfaffen, daz wær wol! / bosheit mit laster lonen sol; / daz ist ir reht und hœrt si an. / beidiu vrouwen unde man: / midet sünd und missetat / durch got den guoten, ist min rat! (v. 380ff.). Hier wird nun neben dem pragmatischen Deutungsaspekt (man soll dem Herrn gehorsam sein; man soll klug handeln, um zum Ziel zu kommen) auch ein intellektueller und am Rande ein theologischer Aspekt angesprochen. Es gehört sich, dass Bosheit bestraft wird; deswegen sollte man sich vor ihr hüten. Natürlich hat boshaftes Handeln, das ja in dieser Erzählung deutlich mit den Hauptsünden Gula und Luxuria verbunden wird, immer auch eine theologische Dimension, ist eine Gefährdung des Seelenheils und verstößt gegen Gottes Willen. Dies klingt im Schlussvers an. Die Verspottung des nackten Pfaffen kann als komisches (rekreatives) Element gelesen werden, ist zugleich aber auch warnendes Negativbeispiel.
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Zum Schluss möchte ich noch zwei Texte behandeln, die keine typischen Erzählungen sind, sondern zwischen Narration und Diskurs stehen. Bei beiden Texten spielt die rekreative Vermittlungsstrategie eine wichtige Rolle. Das bisher unedierte Dialoggedicht Der Krieg von Wein, Met und Bier32 schildert einen Wettstreit dieser Getränke und beginnt folgendermaßen: Ir edlen, jr súllt still dagen! / Ein abentewer wolt ich ew sagen, / wýe der wein, met vnd pir / heten ainen chrieg, das gelaubt mir, / ysliches besunder nach seiner art, / darnach, alß es geedelt wart (v. 1ff.). Bei dieser Ausgangskonstellation handelt es sich nicht um eine Erfindung des deutschsprachigen Verfassers; aus der mittellateinischen Literatur sind durchaus Streitgedichte zwischen verschiedenen Getränken bekannt, die auf amüsante Weise ausgetragen werden.33 So beteuert etwa Petrus von Blois in einem Gedicht die Superiorität des Weins gegenüber dem Bier: Felix ille locus quem vitis amoenat amoena […] Sed domus infelix ubi cervisiatur avena (V,1; V,4). In der Hedringer Vagantenliedsammlung werden ebenfalls die Qualitäten von Wein und Bier gegeneinander abgewogen: Viele loben das Bier, das weit verbreitet ist, besonders im deutschsprachigen Raum, und von Menschen aller Stände, Geschlechter, Altersstufen getrunken wird. Aber der Wein bewirkt wahre Wunder: Er lässt doppelt sehen, macht Alte jung, lässt Geld verschwinden, gibt Fröhlichkeit und beflügelt zu wissenschaftlichen Höchstleistungen. Nach dieser Aufzählung zieht der Sprecher das Fazit, dass er lieber über das Meer fahren wolle, als im stinkenden Bierkeller zu sitzen. Einen ähnlich scherzhaften Ton schlägt ein weiteres Gedicht aus dem Bereich der Vagantenlyrik an,34 das einen Streit zwischen Wein und Wasser schildert. Als Wein und Wasser im Becher vermischt werden, beklagt sich der Wein bitterlich: Quis te mecum / ausus es conjungere? / Exi foras, vade cito: / moras non eodem loco / mecum debes facere (Str. 3,2–6). In der Folge beschimpft der Wein das Wasser als unedles Getränk, für das kein Tisch geschmückt werde, das keine Freude bringe und die Leute, die es trinken, nur krank mache. Dagegen wehrt sich das Wasser, indem es behauptet, der Wein stifte die Leute zur Sünde an. Der Wein hingegen meint, er schenke den Gelehrten Verstand und bewirke Wunder. Das Was32 Das
Dialoggedicht ist überliefert in Berlin, SBB-PK, mgq 361, S. 241–244. Beispiele seien hier genannt: Petrus von Blois, Versus de commendatione vini / Responsio ad quedam, contra cervisiam (Ausgabe: PL 207, Sp. 1155–1157); Débat de l’eau et du vin (mlat., Ausgabe: Poésies inédites du moyen âge, hg. Édélestand du Méril, Paris 1854, 303–309); Hedringer Vagantenliedersammlung, Nr. 9: Altercatio vini et cerevisiae (Ausgabe: Aloys Bömer, »Eine Vagantenliedersammlung des 14. Jahrhunderts«, ZfdA 49 [1907], 161–238, hier 199–202). 34 Débat de l’eau et du vin, hg. du Méril. 33 Als
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ser betont daraufhin, dass ohne es nichts gedeihen könne, dass es allein die Erde fruchtbar mache. Der Wein dagegen hält das Wasser für schmutzig, weil es die Fäkalien aus den Latrinen aufnehme. Am Ende dieses Schlagabtausches siegt der Wein, und das Mischen von Wein und Wasser wird als Vergehen bezeichnet, das die ewige Verdammnis nach sich ziehe. Im deutschen Text nimmt die Argumentation der Getränke allerdings eine ganz andere Wendung. Der Wein ergreift zuerst das Wort und bezeichnet sich als edelstes Getränk, das Dinge vollbringen könne, die nach Bierkonsum nicht möglich seien, betont, dass Gesunde und Kranke den Wein allen anderen Getränken vorzögen. Doch erst danach kommen die wirklich entscheidenden Aussagen: Des wil ich ew peschaiden paß: / Man geußt mich jn das edlist vaß, / wann da got selber jnne leit, / alß man mich dem priester geyt / vnd er mich gesegent mit der hende, / so wirt ich an alle missewende / mit got veraint vnd er mit mir (v. 25ff.). Es ist also die Rolle des Weines bei der Eucharistie, seine Verwandlung in das Blut Gottes (v. 35ff.), die sein eigentlicher Vorzug ist. Es scheint, dass Bier und Met hier leer ausgehen müssen. Der zweite Redner, das Bier, beginnt damit, die üblicherweise gegen ihn erhobenen Vorwürfe zurückzuweisen: »Nu duncket ir ew das pest sein«, / so spricht das pir zw dem wein, / »Des enist nicht, das gelaubet mir! / An mir lert er vnd allew zir. […] / Wýe das man mich mit wasser mischet / vnd auß dem halm auff den tennen drischet, / so zir ich wol den reichen tag, / do von mein nýempt geraten mag, / wýe das ich pin zetrincken vnwert (v. 47ff.)
Das Bier räumt also ein, dass es nicht so begehrt und kostbar wie der Wein sei, betont aber auch, dass es ein verbreitetes Getränk sei, ohne das niemand auskomme – das erinnert an die Argumente, die auch in den lateinischen Gedichten dem Bier zugutegehalten wurden. Das Bier hat hier aber noch einen zusätzlichen Kunstgriff zu bieten: Dannoch wár es vngemessen, / hiet er [der Wirt] zw dem tisch des prots nicht, / so wár all sein chost enwicht, / der man zw speiß nu leben sol (v. 66ff.). Hier wird eine zunächst seltsam anmutende Übertragung vorgenommen: Bier wird mit Brot gleichgesetzt. Ein ähnliche Übertragung findet sich ebenfalls bereits bei Petrus von Blois, wo es heißt, das Bier sei gar kein Getränk, sondern eine Speise: Cognata urinae, faecis germana videtur, / Non hominis potus sed cibus esse suis (VI,25 f.). Nun ist der Schritt zur geistlichen Rolle des Bieres auch nicht mehr weit: Ir edlen weýsen, nu mercket mer: / Auß waýtzen korn wirt gut mel, / darnach wirt zw brot schnel / gepachen vnd gefirmet zart. / Jn mich pirgt sich der hochst hort, / der aller ding gewaltig ist: / Got vater, sun, der reich Crist, / der pirgt sich jn das rain oblat (v. 72ff.).
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Nun tritt der dritte Konkurrent auf: der Met. Er nimmt ebenfalls Bezug auf seinen Entstehungsprozess: Mein vater ist ein vogel chlain [gemeint ist die Biene], / núczt zeveld manig frucht so rain, / dýe der maý mit saffte zirt. / Von der frucht honigwax auch wirt; / auß dem honig so wirt der met. / Darnach wirt manig rains gepet / vor mir gesprochen, alß ich prinne (v. 97ff.). Die Brücke zur geistlichen Bedeutung wird hier also – ähnlich wie beim Bier – durch Rückgriff auf die Grundzutaten und mit einigen Verrenkungen geschlagen. Da Met aus Honig besteht und Bienen nicht nur Honig, sondern auch Bienenwachs produzieren, das wiederum für die Kerzen verwendet wird, die in der Kirche beim Gebet angezündet werden, entsteht die Gleichsetzung Met – Kerze. Ohne Kerze aber kann keine Messe gelesen, keine Eucharistie gefeiert werden. Der Met schließt mit den Worten: Mit mir wirt dir manch dinst getan, / Maria, muter, das sich an! / Lasß mich das dritt trincken sein, / das man núcz ze dem chinde dein (v. 135ff.). Nun gesellt sich noch ein vierter, unerwarteter Konkurrent zu den drei bereits erwähnten Getränken dazu: »Darúber seý mir nýempt dest gehasser, / ich rum mich auch«, so spricht das wasser. / »Ewer dreýer geiden wár enwicht«, / sprach das wasser, »vnd wár ich nicht.« (v. 139ff.). Das Wasser, vor dem sich der Wein im lateinischen Vagantengedicht so ekelte, tritt hier also selbstbewusst als Rivale von Wein, Met und Bier auf. Es erklärt, dass keines der anderen Getränke auf es verzichten könne: Die Weinrebe braucht das Wasser zum Wachsen, beim Bierbrauen und Brotbacken gibt man Wasser zum Weizen, bei der Herstellung von Met mischt man Honig mit Wasser, und auch bei der Herstellung von Kerzenwachs wird Wasser benötigt. Daraus folgt, dass ohne das Wasser keine Messe und keine Eucharistie stattfinden können. Doch das Wasser hat darüber hinaus noch mit einer weiteren geistlichen Funktion aufzuwarten: Ich gab got, des er selb nicht hat, / das er dý tauff von mir enpfie; / got mir ein reiche lecz da lie: / das man chainen cristen zirt, / vntz er in mir getauffet wirt (v. 178ff.). Es steht am Ursprung des Christenlebens, wie es am Ursprung aller anderen Getränke steht. Das Wasser beschließt seine Rede – und damit das ganze Gedicht – im Gegenteil zu Bier und Met nicht in einem bescheiden-versöhnlichen Ton, sondern mit einem Verdikt, das vor dem Hintergrund der lateinischen Wein-Wasser-Gespräche erstaunt: Des pin ich wol an allen wanck / in aller werlt das pest getranck (v. 183 f.). Auch wenn das mhd. Gedicht mit dieser Schlussfolgerung allein dasteht, zeigt ein weiterer Blick auf die lateinische Literaturtradition, dass die Verwendung geistlicher Argumente im Rahmen von Reden über die Qualität von Getränken nicht unüblich ist. Das bereits zitierte Gedicht Petrus’ von Blois bedient sich ebenfalls geistlicher Argumente. So habe das Bier keinen Anteil an der Wandlung in das Blut Christi. Des Weiteren wird mit einer
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Anspielung auf das erste Wunder Jesu, die Verwandlung von Wasser in Wein bei der Hochzeit in Kana, gesagt: In vinum convertit aquas prece matris aquarum / Conditor, at nunquam cervisiavit eas (VI,9 f.). Gegen mögliche geistlich motivierte Vorwürfe gegen den Wein wie etwa seine Schuld an Loths Inzest mit seinen Töchtern, wird entgegnet, nicht der Wein an sich sei schuld, sondern die Maßlosigkeit des Trinkers (non ibi vini / Culpa, sed in vino non habuisse modum. / Peccavit potor, non potus, VI,17–19). Ein weiteres Gedicht, das wohl fälschlicherweise Walter Map zugeschrieben wurde, behandelt einen Streitfall zwischen Wein und Wasser.35 Auch hier geht am Ende der Wein als Sieger hervor. In diesem Gedicht sind die meisten der vorgebrachten Argumente geistlicher Natur. Dies mag mit der Eingangssituation des Gedichtes zusammenhängen, in der der Sprecher berichtet, er sei im Traum in den dritten Himmel entrückt und dort Zeuge eines Streites zwischen Wasser und Wein vor dem Thron Gottes geworden. Ich führe hier einige der Argumente auf, um einen Vergleich mit dem mhd. Gedicht zu ermöglichen. Der Wein bringt das übliche, nicht-geistliche Argument, er sei edler (v. 49ff.) und sei für eine edle Tafel unverzichtbar (v. 56ff.), worauf das Wasser antwortet, es sei zum Gedeihen aller Pflanzen notwendig – dies entspricht der Argumentation im mhd. Gedicht. Weiter verweist das Wasser auf seine geistliche Qualität: Primam partem fidei ego reseravi, / quando Dei filium in Jordane lavi; / et figuras veteris legis consummavi, / cum de suo latere foras emanavi (v. 61ff.). Hier erscheint das Argument der Taufe im Wasser, das im mhd. Gedicht den Streit beschließt. Das zweite Argument bezieht sich auf das Wasser, das nach dem Evangelienbericht nach dem Lanzenstich des Longinus aus Christi Seite quillt und in typologischen Werken oft als Stiftung der Kirche (analog zur Schaffung Evas aus der Seite Adams) interpretiert wird. Während sich die anderen Getränke im mhd. Gedicht angesichts des TaufArgumentes geschlagen geben, antwortet im lateinischen Gedicht der Wein, die Taufe sei ja nur die Vorstufe einer noch größeren Gnade, nämlich der Eucharistie: Ad baptismi gratiam venit per me reus; per me multos homines jungit sibi Deus; nec fuit, ut legitur, aqua, sed lyaeus, de quo dixit Dominus: Hic est sanguis meus (v. 65ff.). In dieser Art geht es weiter, der Wein führt die Hochzeit zu Kana an, das Wasser wirft dem Wein die Trunkenheit Noahs und die Sünde Loths vor; das Wasser zitiert das Wort Jesu, das er zur Samariterin vom lebendigen Wasser spricht (Io 4,10ff.), der Wein bringt Stellen aus dem Hohenlied. 35 Walter Map, Goliae Dialogus inter aquam et vinum (Ausgabe: The Latin Poems commonly attributed to Walter Mapes, hg. Thomas Wright, London 1841, 87–92).
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Diese Kombination von burlesk-komischer Konstellation und theologischem Deutungshorizont mag modernen Rezipienten seltsam erscheinen, ist aber – wie auch der Vergleich mit der lateinischen Tradition zeigt – gar nicht ungewöhnlich. Eine rekreative Strategie muss die Ernsthaftigkeit der theologischen Interpretation nicht unbedingt beeinträchtigen, sie kann gegebenenfalls das Aufnehmen der religiösen Inhalte auch unterstützen. Bei den lateinischen Gedichten handelt es sich dabei um mehr oder weniger gelehrte Inhalte (Bibelzitate etc.), beim volkssprachigen Text um eine einprägsame Erklärung der Hauptbestandteile der Eucharistie. Von der Anlage her vergleichbar mit dem Krieg von Wein, Met und Bier ist der Streit zwischen Herbst und Mai.36 Dieser Text beginnt mit einer Spaziergangseinleitung eines Ich-Erzählers, der auf einer Heide auf die Personifizierung des Mai trifft, einen Ritter mit Blumenrüstung, der zum Turnier gerufen hat durch frouen und durch hübescheit (v. 13). Davon hört der Herbst, nimmt die Herausforderung an und reitet, mit Speck und Wurst gerüstet, auf einem Mostfass zum Turnierplatz. Nach dem ersten Lanzenstich ertrinkt der Mai im ausströmenden Most des Herbstes. Der Knappe des Mai, ein minnerlin (v. 174), steht daraufhin traurig mit seinen Blumen da, während der Knappe des Herbstes, ein luoderer (v. 44), die Rüstung seines Herrn verzehrt. Das minnerlin erkennt nun die Vorzüge des Herbstes und läuft zu diesem Herrn über. Hier wird der Streit zwischen den zwei Jahreszeiten nicht als Gespräch, sondern durch eine Kampfhandlung ausgetragen; statt einer Anbindung an theologische Konzepte erfolgt eine In-Bezug-Setzung zu verschiedenen Lebensformen, nämlich der höfischen Minne (Mai) und dem maßlosen kulinarischen Genuss (Herbst).37 Der größte Teil des Textes wird für die Beschreibung der beiden Rüstungen, die aus Blumen und Vogelgesang bzw. aus Lebensmitteln bestehen, verwendet. Die Vermittlungsstrategie des Textes ist eine rekreative, Komik und Parodie des höfischen Minneideals stehen im Zentrum. Eine ernsthafte intellektuelle Durchdringung des Textes scheint nur bedingt vorgesehen zu sein, die rekreative Strategie stellt sich kaum in den Dienst eines zu vermittelnden Inhaltes, sondern ist quasi Selbstzweck. Denkt man an Prolog-Topoi, wie sie z. B. im Pfaffen in der Reuse verwendet werden, in denen der didaktische Nutzen des Textes betont wird, mag
36 Vgl. Rolf Max Kully, Der Herbst und der Mai, in: 2VL, Bd. 3, Sp. 1031 f.; Ausgabe: Die deutsche Märendichtung des 15. Jahrhunderts, hg. Hanns Fischer (MTU 12), München 1966, 462–470. 37 Die Parodierung der Minnesang-Requisiten durch ihre allzu konkrete Ausdeutung findet sich auch in Strickers Rede Die Minnesänger, vgl. Eichenberger, Geistliches Erzählen, 179 f.
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Recreatio als Selbstzweck vielleicht als unzulänglich erscheinen; allerdings muss dieser Topos auch im Zusammenhang der Aufwertung des Textes, in dessen Prolog er steht, und möglicherweise im Kontext der Rechtfertigung des Erzählens in der Volkssprache gegenüber der lateinischen Literaturtradition gesehen werden – letzteres wird etwa im Prolog der DorotheaVerslegende deutlich. Bei Texten ohne didaktischen Anspruch, deren Ziel die Recreatio der Rezipienten ist, besteht prinzipiell kein Unterschied zwischen Texten mit religiösen und Texten mit weltlichen Themen. Ein Text wie Herbst und Mai kann auf die gleiche Weise rekreativ sein wie der Krieg von Wein, Met und Bier, denn es ist durchaus anzunehmen, dass auch jemand den Krieg genießen konnte, der nichts dabei lernte, sondern sich über den Wettstreit der Getränke amüsierte. Zwar findet im Krieg keine Parodie des religiösen Themas statt, während in Herbst und Mai die höfische Minne und die herbstliche Völlerei parodiert werden. Dies kann allerdings nicht verallgemeinert werden, denn es gibt auch Texte, in denen auch religiöse Inhalte parodistisch behandelt werden.38 Mit der Analyse der zehn Texte hoffe ich einen Eindruck von der Vielfalt der Kleinepik vermittelt zu haben. Die Untersuchung im Hinblick auf die rezeptionsästhetische Dimension der Texte hat dabei gezeigt, dass die Texte mit sehr unterschiedlichen Wirkungsintentionen ausgestattet sind. Selbst Texte, die üblicherweise in die gleichen Kategorien eingeordnet werden, suggerieren durchaus verschiedene Interpretationsaspekte und bedienen sich unterschiedlicher Vermittlungsstrategien. So stehen etwa beim Pfaffen in der Reuse ein pragmatischer Interpretationsaspekt und eine exemplarische Vermittlungsstrategie im Vordergrund, während bei dem üblicherweise in die gleiche Kategorie der Schwankerzählung eingeordneten Ritter mit den Nüssen ein intellektueller Interpretationsaspekt und eine rekreative Vermittlungsstrategie zentral sind. Dagegen können Texte, die nach gängigen Kriterien in ganz unterschiedliche Kategorien eingeteilt werden, sehr ähnlich funktionieren. So steht bei Herbst und Mai sowie dem Krieg von Wein, Met und Bier die Recreatio des Rezipienten durch unterhaltsame bzw. komische Präsentation des jeweiligen Gegenstandes im Vordergrund, während kaum ein Anspruch auf Didaxe oder Wissensvermittlung besteht. Dies zeigt, dass es lohnend ist, Texte zunächst ungeachtet gattungstypologischer und thematischer Kriterien zu analysieren. Das hier vorgeschlagene rezeptionsästhetische Modell ist ein Schritt in diese Richtung. 38 Vgl. etwa Fröschels von Leidnitz Prozess im Himmel oder den Müller im Himmel. Zu diesen Texten und zum parodistischen Umgang mit religiösen Inhalten im Allgemeinen s. Eichenberger, Geistliches Erzählen, 54–67.
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Das soll jedoch nicht heißen, dass eine Binnendifferenzierung kleinepischer Texte nicht auch möglich und sinnvoll sein kann. Mit dem hier angewandten Modell wäre es etwa denkbar, Texte, die einen theologischen Interpretationsaspekt suggerieren, als eigene Gruppe zu betrachten, ungeachtet dessen, in welchem Maß sie Religiöses direkt thematisieren. Eine andere Möglichkeit wäre, Texte mit rekreativer Vermittlungsstrategie zusammenzustellen, ohne dabei von vornherein nach ästhetischem Genuss und parodistischer Absicht zu unterscheiden, und sie dann im Hinblick auf die suggerierten Interpretationsaspekte zu befragen. Mit einem solchen Vorgehen ließen sich etwa die traditionell als problematische Grenzfälle wahrgenommenen Texte besser verstehen, beispielsweise komische Texte eindeutig religiöser Thematik, bei denen man sich fragen könnte, ob die rekreative Strategie im Dienst der Vermittlung dieses religiösen Inhalts steht oder ob sie Selbstzweck ist und durch den religiösen Inhalt ggf. noch gesteigert wird. Die Untersuchung einzelner Texte gewinnt außerdem durch die Gegenüberstellung mit thematisch vergleichbaren Texten, die üblicherweise anderen Texttypen zugeordnet werden, indem etwa die Ehebruchskonstellation in Schwankerzählungen wie dem Ritter mit den Nüssen mit derjenigen in der Frauentreue oder in der Unschuldigen Mörderin in Bezug gesetzt und auf ihre funktionale Einbindung hin befragt wird. Während die Konstellation im Ritter mit den Nüssen trotz ausgesprochener Wahrheit nicht zum Erkennen des Mannes führt, ruft sie in der Frauentreue das Erkennen der höfischen Liebe (und ihrer Aporien) trotz – oder gerade wegen – ihrer nicht stattgefundenen Erfüllung hervor; in der Unschuldigen Mörderin wiederum ist die Konstellation Grundlage und Movens der Handlung, in der sich die Auseinandersetzung von Gut und Böse entfalten kann. Diese Querverbindungen zwischen Textgruppen, die in der Forschung traditionell separat behandelt werden, sind für ein besseres Verständnis der Kleinepik als Ganzes von großer Bedeutung. In einem kurzen Resumee möchte ich nun noch nach der Stellung der Kleinepik innerhalb der Literatur als Ganzes fragen. Zunächst einmal zeichnet sich die Kleinepik ja durch ihre Kürze gegenüber Großformen aus.39 Aufgrund des begrenzten Umfangs werden die Inhalte in kleinepischen Texten entweder in reduzierter, konziser, pointierter Form wiedergegeben oder sind von vornherein weniger komplex als in literarischen Großformen. Daraus ergeben sich spezifische Eigenschaften und Funktionen, die die Kleinepik kennzeichnen und innerhalb des literarischen Systems auszeichnen. 39 Zum Problem der Abgrenzung von Klein- und Großepik s. Eichenberger, Geistliches Erzählen, 84–87.
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Eine Möglichkeit, komplexe Inhalte auf kleinem Raum zu verhandeln, ist es, durch eine konkrete Episode oder ein einzelnes Ereignis eine allgemeine Wahrheit oder einen komplexen Sachverhalt zu illustrieren. Beispiele dafür sind etwa die Erzählungen von der Gestohlenen Monstranz und vom Gestohlenen Schinken, aber auch die beiden Schwankerzählungen. Bei der Gestohlenen Monstranz konkretisiert sich die religiöse Wahrheit in diesem einen wundersamen Ereignis – der komplexe abstrakte Sachverhalt der Transsubstantiation wird hier sichtbar. Das eine Ereignis ist auf kleinem Raum erzählt, aber es steht stellvertretend für alle anderen Fälle, in denen die Transsubstantiation vollzogen wird, kann und soll also weit über das einzelne Ereignis hinaus wirken. Beim Gestohlenen Schinken und den Schwankerzählungen handelt es sich um anscheinend beliebige, aber doch besonders prägnante Beispiele, die allgemeine Wahrheiten oder Sachverhalte illustrieren, nämlich die List von Dieben, von untreuen Ehefrauen und die Belohnung eines treuen Dienstes. Diesen Texten ist gemeinsam, dass es sich um Ereignisse handelt, die entweder als historisch dargestellt werden (Gestohlene Monstranz) oder so in der lebensweltlichen Erfahrung verankert erscheinen, dass sie quasi jederzeit und überall geschehen könnten. Durch ihre Beliebigkeit und Alltäglichkeit werden sie illustrativ. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, komplexe Inhalte in kompakter Form wiederzugeben bzw. um Details oder Ausschmückungen zu kürzen. Ein Beispiel dafür ist die Versfassung I der Dorothea-Legende. Hier wird in 376 Versen abgehandelt, was in anderen Fassungen dieser Legende 549 (Versfassung II) oder gar 2000–3000 Verse (geschätzter Umfang der Versfassung III, von der ein Fragment von 1116 Versen überliefert ist) in Anspruch nimmt. Der Verfasser wählt also nur diejenigen Motive und Erzählelemente aus, die ihm wichtig erscheinen, oder verzichtet auf das Auserzählen der einzelnen Szenen. Zwischen der ersten und der zweiten Möglichkeit steht die Erzählung von Udo von Magdeburg. Einerseits handelt es sich hier um einen relativ langen Text (808 Verse), andererseits könnte aber hier noch breiter auserzählt werden; zudem ist Udo eine als historisch dargestellte Figur, die aber zugleich exemplarisch für andere, ähnlich handelnde Personen verstanden werden soll, also eine bestimmte Handlungsweise repräsentiert. In anderen Fällen, wie etwa in der Unschuldigen Mörderin oder der Frauentreue, wird eine andere Form der Komplexitätsreduktion und Zuspitzung angewandt, indem komplexe Sachverhalte thesenhaft verkürzt werden. Sie können idealisiert bzw. eindimensional gestaltet und dadurch vereindeutigt werden oder in extremer, schematischer Form dargeboten werden. So wird in der Unschuldigen Mörderin klar in Gut und Böse aufgeteilt, die Figuren werden nicht zu komplexen Charakteren ausgestal-
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tet; in der Frauentreue wird das Konzept der höfischen Liebe schematisch durchgespielt, aber die Gefühlslagen der Figuren nicht, wie etwa in einem höfischen Roman, beschreibend ausgestaltet.40 Kleinepische Texte haben durch ihre Kürze aber stets auch einen gewissen ephemeren Charakter; sie können in kurzer Zeit rezipiert werden, sie verlangen keine andauernde Aufmerksamkeit wie etwa die Lektüre eines Epos; in der Überlieferung nehmen sie nie ein ganzes Buch ein, erst als Sammlung bekommen sie Gewicht. Sie eignen sich daher auch besonders als rekreative Lektüre und brauchen weniger didaktische Rechtfertigung als etwa höfische Romane. Das soll nicht heißen, dass nicht viele klein epische Texte sich als didaktisch inszenieren und es auch sind; es gibt aber daneben auch Schwankerzählungen, wie etwa den Streit von Herbst und Mai, die kaum einen ernsthaften Anspruch haben und sich auf eine rekreative Funktion beschränken oder dies gerade zum Programm machen. Mit diesen Überlegungen nähert man sich der These Walter Haugs an,41 der das Erzählen im sinnfreien Raum als typisches Merkmal der Kleinepik postulierte. Im Spiegel der hier behandelten Beispiele präsentiert sich die Kleinepik als sehr komplexe und durch ihre Vielfalt ausgezeichnete Gruppe von Texten, deren Erforschung gerade durch übergreifende, die traditionellen Separierungen hinter sich lassende Fragestellungen großen Erkenntnisgewinn verspricht.
40 So ließen sich etwa die Frauentreue oder auch Konrads von Würzburg Herzmaere in Bezug zu Gottfrieds von Straßburg Tristan, in dem ähnliche Problematiken in viel ausdifferenzierterer Weise verhandelt werden. 41 Vgl. Walter Haug, »Entwurf zu einer Theorie der mittelalterlichen Kurzerzählung«, in: ders. u. Burghart Wachinger (Hgg.), Kleinere Erzählformen des 15. und 16. Jahrhunderts (Fortuna vitrea 8), Tübingen 1993; ders., »Das Böse und die Moral. Erzählen unter dem Aspekt einer narrativen Ethik«, in: Adrian Holderegger u. JeanPierre Wils (Hgg.), Interdisziplinäre Ethik. Grundlagen, Methoden, Bereiche (FS Dietmar Mieth) (Studien zur theologischen Ethik 89), Freiburg, Schweiz / Freiburg i. Br. 2001, 243–268.
Clément Marot – »poète de Dieu et Dieu des poètes« Von Christoph Oliver Mayer Mit seiner Studie zu den Psalmenübertragungen Clément Marots startete 2010 der belgische Theologe Dick Wursten1 den Versuch, das Forschungsinteresse nicht nur an den wohl langlebigsten Texten des französischen Renaissancelyrikers zu erneuern. Auch die Debatte um den Evangelismus des Dichters, die durch die detaillierten Studien von Michael Screech, Claude A. Mayer und Gérard Defaux weitestgehend (wenn auch ohne Ergebnis) ausdiskutiert schien, sollte aufs Neue aufgenommen werden. Dass er als Außenseiter im literarischen Kanon schon in den Anfängen der Literaturgeschichtsschreibung mal (bei Du Bellay) ignoriert, mal (bei Boileau) zum grazilen Schreiberling (»élégant badinage«2) reduziert worden war, erschwert eine intensivere (inhaltliche) Auseinandersetzung mit dem Werk von Clément Marot, zumal in der deutschsprachigen Romanistik. Dabei stellt sich vor dem Hintergrund präziser Detailstudien und neuerer Forschungsimpulse umso dringlicher die Frage nach der Selbstpositionierung Marots im literarischen Feld der Renaissance.3 Dort nämlich, wo er sich zum Dichter Gottes berufen fühlt, fordert Clément Marot selbstsicher die dominante Rolle im literarischen Feld seiner Epoche ein, die ihm aufgrund der Zeitumstände, der Bürgerkriege und der eigenen Unfähigkeit zum Op1 Siehe Dick Wursten, Clément Marot and Religion. A Reassessment in the Light of his Psalms Paraphrases, Leiden 2010. Vgl. ebenfalls Dick Wursten, »Did Clément Marot really offer his Trente Pseaulmes to the Emperor Charles V in January 1540?«, Renaissance Studies 22 (2008), 240–250. 2 Vgl. Nicolas Boileau-Despréaux, Art poétique, I, v. 96. Seine spätere Geringschätzung zeigt sich z. B. bei Jean-Antoine Du Cerceau, Apologie d’un Auteur, Paris 1828, oder Karl Förster, Abriß der allgemeinen Literaturgeschichte, Dresden 1829, die jedoch wiederum auf Werkausgaben u. a. von Lacroix und Camperon reagierten. 3 Einen wichtigen Impuls setzt hierbei die Studie von Catherine Reuben, Traduction des Psaumes de David par Clément Marot: aspects poétiques et théologiques, Paris 2000. Neuerdings hierzu François Rouget, »Le champ de la poésie en France au XVIe siècle: constantes et mutations«, Australian Journal of French Studies 52 (2015), 243–260.
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portunismus zu Lebzeiten und auch in der Nachwelt nicht überall beschieden war. Diesen Status der Konsekration gilt es also vor dem Hintergrund bisheriger Interpretationslinien und einer Bewertung des Gesamtwerks anhand der Psalmenübertragungen zu überprüfen. I. Marot-Interpretationen Während Michael Screech4 Clément Marot als einen Dichter deutet, der sukzessive und mit immer größeren theologischem Sachverstand für sich selbst das Evangelium entdeckt, erscheint er trotz der unterschiedlichen Betrachtungsweisen und der gegenseitigen Polemik sowohl bei Claude A. Mayer5 als auch bei Gérard Defaux6 letztlich als das zu bescheidene und oft unterschätzte Mäuschen, das in einem seiner berühmtesten Werke, der Epître à son ami Lyon, als sein Doppelgänger auftritt. Allen drei hier genannten Interpreten verdankt Marot aber die Wertschätzung als bedeutender humanistischer Dichter, dessen besondere poetische Qualitäten ihn als Innovator und Wegbereiter der französischen Literatur ausweisen. Dick Wursten setzt hingegen in seiner Deutung der Psalmenübersetzungen Marots mehr noch als die auf Claude A. Mayer fußende Studie von Catherine Reuben auf dessen theologischen Wissens- und Sachverstand.7 Beeinflusst von der Idee der hebraica veritas, zeigt sich, so Wursten, in den biblischen Texten ein Clément Marot, der für seine Inhalte nachhaltig von dem Hebräisch-Lektorat (v. a. auch von der Person Vatable) profitieren kann, das ›sein‹ König, François Ier, auch gegen und wegen Bedenken von Seiten der Sorbonne, nach Paris geholt und finanziert hatte. Somit verbindet sich in dieser Perspektive die Idee eines religiös inspirierten und theologisch gebildeten Dichters, der als Überzeugungstäter zum ›Evangelischen‹ wird, mit dem Gebaren eines mitten im Zentrum der politischen Macht aufgewachsenen Künstlers, der die gesellschaftlichen Strukturen 4 Michael A. Screech, Marot évangélique, Genf 1967, bzw. Michael A. Screech, Clément Marot. A Renaissance Poet Discovers the Gospel, Leiden 1994. 5 Claude A. Mayer, Clément Marot, Paris 1972, sowie Claude A. Mayer, La Religion de Marot, Genf 1960. 6 Gérard Defaux, Marot, Rabelais, Montaigne: l’écriture comme présence, Paris 1987, und Gérard Defaux, »Rhétorique, Silence et Liberté dans l’œuvre de Marot«, BHR 46 (1984), 299–332. 7 Damit folgt er der Deutung, die Bernard Roussel, »Les Psaumes: Le texte massorétique, les vers de Clément Marot«, in: Gérard Defaux, Michel Simonin (Hgg.), Clément Marot. »Prince des poëtes françois« 1496–1996. Actes du colloque interna tional de Cahors en Quercy 21–25 mai 1996, Paris 1997, 435–453, vorschlägt. Die Summe der Marot-Forschung um die Jahrtausendwende findet sich bei Reuben, Traduction des Psaumes.
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nur zu gut kennt und genau weiß, welche Konsequenzen sein Verhalten bzw. sein dichterisches Schaffen nach sich zieht. Sollte man also von literaturwissenschaftlicher Seite Clément Marot folglich als einen Dichter verstehen, der sich ganz bewusst außerhalb des literarischen Kanons gestellt und auf Provokation gesetzt hat?8 Oder führt die konzise Lektüre der Psalmen uns nicht wieder zurück zu einem Dichter, der, ganz dem Analogiedenken der Zeit verhaftet, loyal dem König dient und vom Anfang seiner Schaffensphase an dazu tendiert, autoreferentiell die eigene Dichtung und die französische Literatur im Allgemeinen in den Mittelpunkt zu rücken?9 Die Anfänge des dichterischen Schaffens datieren bekanntlich bei Clément Marot aus seiner Zeit als valet de chambre du Roi. Dabei wird nicht bloß die Distanznahme zu den anderen Höflingen und Hofdichtern sichtbar, sondern Marot thematisiert bei jeder Gelegenheit die eigene literarische Biographie, wobei religiöse Fragen und Themen stets eine wichtige Rolle spielen. Sowohl in der Adolescence clémentine als auch in La Suite finden sich diesbezüglich einschlägige Balladen und Chants royaux wie z. B. Du Jour de Noël, De Caresme, De la passion nostre seigneur Jesuchrist oder Chant Royal de la Conception Nostre Dame.10 Die vermeintliche Bescheidenheit zeigt sich dabei als die Kehrseite der Medaille eines durchaus großen Selbstbewusstseins. Marot ist ja äußerst innovativ, wenn er das petrarkische Sonett in die französische Dichtung einführt, zeigt aber andererseits, wie er die noch tonangebende Mode der Seconde Rhétorique beherrscht und schart Anhänger (›les Marotiques‹) um sich, für die er schon sehr früh die Rolle eines ›Dieu des poètes et poète de Dieu‹ einnimmt. Dass gerade die Dichter der Pléiade ihn zunächst erfolgreich aus dem literarischen Feld des katholischen Frankreichs ausweisen können, beruht auch darauf, dass sie in Marot sehr wohl einen ernsthaften Konkurrenten erkennen.11 Seine unorthodoxe konfessionelle Positionierung ist 8 Siehe hierzu Christoph Oliver Mayer, »Zur Aktualität von Clément Marot oder der Dichter als Feldforscher«, in: Lidia Becker (Hg.), Die Aktualität des Mittelalters und der Renaissance in der Romanistik (MIRA 1), München 2009, 263–284. 9 Hierzu siehe auch die Impulse bei Michael Bernsen, »Die Kunst des Streitens. Clément Marots Bittbriefe an François Ier«, in: Marc Laureys, Roswitha Simons (Hgg.), Die Kunst des Streitens, Bonn 2010, 245–256. 10 Dennoch lassen sich diese Texte nur schwerlich als »évidemment évangéliques« im Sinne eines konfessionellen Bekenntnisses verstehen, vgl. Francis Goyet, »Sur l’ordre de l’Adolescence clémentine«, in: Defaux, Simonin (Hgg.), Clément Marot, 593–613, bes. 601. 11 Christoph Oliver Mayer, Pierre de Ronsard und die Herausbildung des »premier champ littéraire«, Herne 2001. Siehe auch Olivier Millet, »Genève, capitale littéraire de la Réforme au XVIe siècle«, in: Paris et le phénomène des capitales littéraires.
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ein Grund für die katholische Literaturkritik, ihn nach 1685 wieder zu ignorieren, aber Clément Marot eckte zu Lebzeiten zudem als Konkurrent um die monarchischen Pfründen und auf dem sich entwickelnden Buchmarkt an. Dass er dieses Risiko relativ bewusst einging, zeigt ihn als Prototyp eines Intellektuellen, der den eigenen Habitus für eine Veränderung des literarischen Feldes einsetzt. Mit potentiell häretischen Positionsnahmen und delikaten individualistischen Überzeugungen fällt er ebenso auf wie mit formalen Innovationen.12 Als Dichter, der programmatisch am Beginn der Epître à son ami Lyon mit seinem berühmten »je ne veux pas« auf alle klassischen Sujets der Dichtung verzichtet, setzt er auf (neue) Inhalte. A posteriori gilt die Psalmenübertragung Marots als Auftragswerk der reformierten Kirche von Genf, eben weil sie von Calvin und seiner Kirche als solche für den Gottesdienst kanonisiert worden war und bis heute im französischen Protestantismus genutzt wird.13 Marots Version ist allerdings in ihrer ursprünglichen Erstveröffentlichung nicht für die (damals noch nicht fest etablierte) calvinistische Kirche gedacht bzw. nicht für den exklusiven konfessionellen Gebrauch vorgesehen gewesen. Davon zeugen vor allem die Paratexte, die gerade durch den Buchdruck immer mehr zu wesentlichen Fingerzeigen für die Autorintention werden, da sie sich zunehmend gleichermaßen an Dichterkollegen wie Mäzene und Granden wenden.14 Wenn Marot sich tatsächlich durchgehend mit den Mächtigen arrangiert, dann dort, wo er seine Psalmen dem französischen König widCarrefour ou dialogue des cultures, 2 vol., Paris 1986, vol. II, 911–923, der die Psalmen Marots als Gedichte liest, die »offrent un parallèle sacré à la grande poésie des odes chères à la Pléiade« (916). 12 So etwa in der Ballade D’ung qu’on appelloit Frère Lubin, dem Epigramm Du curé oder der Épître Marot à Monseigneur Bouchart Docteur en theologie. Ein anderes Beispiel hierfür ist das Gedicht Les Adieux de Marot à la ville de Lyon (1536), analysiert in Christoph Oliver Mayer, »Poèmes à leur ami Lyon: de Clément Marot à Joachim Du Bellay«, in: Jean-Louis Gaulin, Susanne Rau (Hgg.), Lyon vu / e d’ailleurs (1245–1800). Échanges, compétitions et perceptions, Lyon 2009, 55–70. 13 Vgl. Olivier Millet, »Marot et Calvin: Chanter les Psaumes«, in: Défaux, Simonin (Hgg.), Clément Marot, 463–476. Millet weist darauf hin, dass Calvin allerdings die Psalmenübersetzungen nicht als literarisches Werk eines spezifischen Autors gelten lassen wollte (470). 14 Vgl. Florian Preisig, Clément Marot et les métamorphoses de l’auteur à l’aube de la Renaissance, Genf 2004. Preisig argumentiert augenfällig genauso wie Mayer, Pierre de Ronsard, vgl. die Rezension von Christine M. Scollen-Jimack, »Clément Marot et les métamorphoses de l’auteur à l’aube de la Renaissance. By Florian Preisig (Cahiers d’Humanisme et Renaissance 71), Genève: Droz, 2004«, MLR 101 (2006), 243–244, die wiederum einen Bezug herstellt zu den Thesen von C. A. Mayer bezüglich der Eglogue au Roy soubz les noms de Pan et Robin.
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met.15 Von vornherein wird hier die Analogie zum Himmelskönig unterstrichen: Die Psalmen, die von der Allmacht Gottes singen, werden zu einem Meisterwerk der französischen Dichtung und reihen sich selbst damit sowohl in das theologische wie in das literarische Feld ein. Der Lobgesang Gottes wird zum Anlass, poetologisch über Dichtung nachzudenken. Marots Werk zeigt Größe und Eleganz, ist aber weit entfernt von bloßem ›badinage‹. Alles andere als exklusiv für das calvinistische Feld entstanden, scheinen die Psalmentexte, den Begleittexten folgend, aus einem Verständnis der christlichen Orthodoxie erwachsen zu sein. Zumindest aber sind dem Dichter konfessionelle Kategorien fremd und er bettet selbst sein Werk ein in das eine Feld der französischen Literatur. Als Dichter, der mit dem Primat des Inhaltes nicht einen Verlust an dichterischer Schöpfungskraft einhergehen lässt, gelingt es Marot das höchste Lob Gottes zugleich zu einem Selbstlob der Literatur werden zu lassen. Das Gattungsverständnis der Psalmendichtung und der Autor selbst, der sich nicht damit zufriedengibt, Übersetzer zu sein, bezeugen dies. Somit wäre Marot sogar noch über das hinausgegangen, was Ronsard als selbsternannter ›Roi des poètes‹ für sich veranschlagt, und er wäre so zum Dichter Gottes geworden, der sich auch als Gott auf Erden unter den Dichtern zeigt.16 Soll heißen, sein Dichtersein geht nicht völlig bzw. nicht allein im Dienst an Gott auf und die literarische Schöpfung behält ihren poetischen Eigenwert bei. Das soll im Weiteren durch einen exemplarischen Blick auf Texte Marots, die um das Jahr 1540 entstanden sind, darunter die Paratexte der Psalmenpublikationen, gezeigt werden soll. II. Marots Dichtung als autoreferentielles Werk In der Eglogue au Roi soubz les noms de Pan et Robin (1539)17 kommen Marots Einsichten in die Mechanismen des literarischen Marktes deutlich zum Ausdruck. Sich dem Ideal eines autonomen Dichters verschreibend, kommt er nicht umhin, das stets dienende Leben am Hofe zu beklagen. 15 Siehe Ehsan Ahmed, Clément Marot: The Mirror of the Prince, Charlottesville 2005. 16 Schon Defaux benutzt diesen Titel in der Überschrift von Kapitel V der Werkausgabe: »Le retour en grâce: Marot prince des poètes et poète de Dieu«. Kapitel V stellt die Lebensjahre des Dichters von 1536 bis 1542 dar, siehe Clément Marot, Œuvres complètes, hg. Gérard Defaux, 2 Bde., Paris 1990. 17 Clément Marot, »Eglogue au Roy soubz les noms de Pan et Robin«, in: Œuvres complètes, 34–41. Die Datierung auf 1539 ist nicht unumstritten.
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Selbstverständlich ist für ihn dabei das Bekenntnis zur religiösen Orthodoxie genauso wie das zur Monarchie und zu den anerkannten Dichterkollegen. Die prekäre ökonomische Situation bedingt es, dass Marot seine politische und religiöse Haltung nachhaltig unterstreicht. Der kleine Hirte Robin, der für und über Pan, seinen Gott und König, singt, den sein Talent als Dichter ausweist und ihn damit jenseits der Schäferwelt positioniert, kann seine Jugendzeit ohne Schwierigkeiten überstehen, muss aber, erwachsen geworden, um sein Auskommen bangen. Daher, so die Sprechsituation, wendet sich der dichtende Hirte und damit auch der Autor Marot an seinen König, vor dem er seinen eigenen Lebensweg darlegt.18 Sich gehorsam den gesellschaftlichen Strukturen aussetzend, scheinen Robin und Marot zu einer Person zu werden und mit einer Stimme zu sprechen: »Plus me plaisoit aux Champestres sejours Avoir faict chose (ô Pan) qui t’aggreast.« (v. 190–191). Der Dialog zwischen Robin und Pan ist von Beginn an somit als ein intimes Gespräch zwischen dem Hofdichter Marot und seinem König François Ier angelegt. Wenn uns der Ich-Sprecher seine dilemmatische Situation dergestalt schildert, dass er analog zur Grille in der berühmten Fabel auf die Hilfe der Ameise angewiesen sei, weil er zu viel Zeit der Dichtung und zu wenig der eigenen Subsistenz gewidmet habe, so kleidet er dies noch in die Bildlichkeiten der Schäferwelt: »Il me suffit, que mon troupeau preserve […] Et moy du froid, car l’yver, qui s’appreste« (v. 235–237). Die Arbeitswelt des Literaten in der Renaissance funktioniert eben noch nicht nach den autonomen Regeln der Kunst, wie sie Baxandall und Viala in der Nachfolge Bourdieus beschrieben haben.19 Jedoch fällt auf, wie hellsichtig Robin genau diese Situation skizziert, in der der literarische Markt erst in Ansätzen spürbar ist.20 In die Geschichte des kleinen Hirten gekleidet, legt Clément Marot sein eigenes Leben als Dichter dar: Das Schicksal habe ihn zum Dichter erkoren, was auch alle unangenehmen Seiten dieses Metiers einschließt. Während er binnenfiktional als Sprecher-Ich die Darlegung des eigenen Werdegangs und die Demonstration des dichterischen Vermögens verbindet mit der Dringlichkeit der eigenen finanziellen Unterstützung, Vgl. Mayer, »Zur Aktualität«. Dort finden sich auch umfassendere Textbelege. Siehe Michael Baxandall, L’œil du quattrocento. L’usage de la peinture dans l’Italie de la Renaissance, übers. Yvette Delsaut, Paris 1985; Alain Viala, Naissance de l’écrivain. Sociologie de la littérature à l’âge classique, Paris 1992, der hiermit die Ansätze von Pierre Bourdieu weiterdenkt. 20 Nachzulesen in mehreren Studien bei Denis Bjaï, François Rouget (Hgg.), Les poètes français de la Renaissance et leurs »libraires«. Actes du Colloque international de l’Université d’Orléans (5–7 juin 2013) (Cahiers d’Humanisme et Renaissance Vol. 122), Genf 2015. 18 19
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verlangt er eine permanente Förderung und möglichst weitreichende Freiheit für die Literatur. Wer wie Marot die traditionellen Strukturen und die erzwungenen Kompromisse direkt an- und ausspricht und zugleich noch durch die Realisierung einer Ekloge formale Meisterschaft beweist, spricht aus Erfahrung. Marots Text ist somit stark autoreferentiell und in diesem (und vielleicht auch wirklich nur in diesem) Sinne auch autobiographisch geprägt. Er knüpft an die Selbststilisierung in seinen Werksammlungen Adolescence clémentine und La Suite an. Wohingegen er dort als kleines Mäuschen, kleines Hündchen oder als die personifizierte Kleinheit, Unbedeutsamkeit oder Bescheidenheit erscheint,21 präsentiert er sich nun als kleiner Hirte. Dieser Kleinheit steht jedoch die Größe der Dichtung entgegen, die gehaltvoll und selbstbewusst vorgetragen wird. Er spricht gleichsam für seine Dichterkollegen und benennt noch vor den PléiadeDichtern die Schwierigkeiten des literarischen Feldes.22 Clément Marot wird schließlich Frankreich verlassen und dadurch während der Zeit der Bürgerkriege als dichterische Referenz relativ epigonal bleiben. Erst die Stabilisierung der Gesellschaft und der konfessionelle Kompromiss des Édit de Nantes erlauben seine (temporäre bzw. prekäre) Reintegration in den literarischen Kanon, wovon Boileau zeugt. Seine Wiederentdeckung als innovativer Reformer, der das Sonett einführt, Villon ediert und sich evtl. sogar für den Rosenroman engagiert hat, geschieht im 19. und 20. Jahrhundert allerdings zunächst unter Ausblendung der Selbststilisierung als verfolgter Außenseiter. Der Werdegang des transgressiven Normverletzers und des ständigen Mahners, der von einer Besserung der Verhältnisse für das dichterische Leben beseelt ist, wird leichthin vernachlässigt, auch wenn gerade Texte wie die Briefe aus dem Exil in Ferrara davon zeugen.23 III. Die Psalmenübersetzungen ›Übersetzungen‹ ist sicherlich nicht der angemessene Begriff für die französischen Psalmen Marots. Mit diesem Ausdruck rücken die an dieser 21 Als Beispiel hierfür genannt sei die Épître XX, Adieux de Marot à la ville de Lyon, in der er sich als »petit chien« bezeichnet (v. 43). 22 Siehe auch die Épître Au Roy pour avoir esté desrobé und die Deutung von Cynthia Skenazi, »L’Economie du don et le mécénat: les formes de l’Échange dans une épître de Clément Marot«, French Studies 57 (2003), 463–474. 23 Vgl. jedoch Michael Bernsen, »Das Konzept politischer Herrschaft in der Dichtung Clément Marots«, in: Marc Föcking, Bernhard Huss (Hgg.), Varietas und ordo, Wiesbaden 2003, 153–166.
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Stelle nicht weiter verfolgten Fragen nach seinem Zugang zu den biblischen Urtexten, seiner Sprach- und Kulturkompetenz und nach dem Verhältnis zum Original in den Mittelpunkt. Uns interessiert aber vielmehr, wie sehr poetologische und autoreferentielle Momente in den Psalmenübertragungen, insbesondere in den entsprechenden Paratexten, die oben skizzierte Selbstdarstellung des Dichters weiterführen. Marot, so wäre anzunehmen, setzt selbstbewusst seine besondere persönliche Beziehung zum Monarchen fort und nutzt seine Psalmenübertragungen genauso wie die Ekloge an den König, um für sich und andere Literaten Positionen abzustecken. Er realisiert das höchstmögliche Lob selbstverständlich in Demut und ohne Blasphemie, aber ihm wird die dichterische Aufgabe nicht zum Anlass für Unterordnung und Subordination, sondern für eine ästhetische Inszenierung von Schöpfungskraft.24 Auch und gerade weil Thematik wie Pragmatik der Psalmen dies suggerieren, handeln sie vor allem über die Monarchie und werden dargeboten als Gesänge eines Königs, David.25 Marot, der (als Erster) mindestens 30, vermutlich jedoch bis zu 50 Psalmen in französischer Volkssprache publiziert hat, bindet diese formal an die Poesie der Chansons und reiht sie damit in die französische Literaturtradition ein. Inhaltliche Anknüpfungen bestehen an den selbst geführten Dialog des Dichters mit dem Monarchen, wie er in der französischen Lyrik bis dato wenig präsent war.26 Die Texte werden damit direkt an das politische Machtzentrum des Landes gebunden, das zugleich gemäß dem gallikanischen Kirchensystem die religiöse Macht verkörperte. Wer sich wie Marot als Erster einer solchen Übertragungsaufgabe in die Volkssprache annahm, konnte sich einer Pioniertat rühmen, was er in der ihm gemäßen Art und Weise ex negativo realisierte. Indem er sich klein machte, indem er ironisch und satirisch argumentierte, reklamierte er Größe und kanonische Beachtung. Und dabei kommt ihm in den Psalmen die Sprechsituation zugute, die den Vergleich des irdischen Königs mit dem Herrn im Himmel anregt und gemäß diesem Näheverhältnis den Dichter selbst adelt.27 24 Vgl. Ehsan Ahmed, »A reading of the 1543 pseaumes«, The Journal of Medieval and Renaissance Studies 20 (1990), 137–155. 25 Im Weiteren soll auch nicht auf die Dichtungsversuche des Königs selbst bzw. die diesbezüglichen Aussagen von Sainte-Beuve in dessen Portraits littéraires, Bd. III, eingegangen werden 26 Vgl. Stephen Bamforth, »Clément Marot, François Ier et les muses«, in: Defaux, Simonin (Hgg.), Clément Marot, 225–235, hier: 233. 27 An dieser Stelle sei nur darauf hingewiesen, dass Marot natürlich vor dem Konfessionellen Zeitalter lebt. Zu diesem Epochenbegriff siehe Wolfgang Reinhard,
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Während viele Interpreten der Psalmen die Frage nach den evangelischen und humanistischen Positionen des Dichters privilegiert haben, ist das Interesse für die Paratexte ein eher sekundäres geblieben, vermutlich, da deren chronologische Einordnung schwierig ist. Der Widmungsbrief (Épître dédicatoire), der die Veröffentlichung der Psalmen begleitet, setzt das Selbstbild des Dichters fort, wie es sich in der Adolescence clémentine zeigt.28 Offensichtlich arbeitete Marot, dessen humanistischer Sachverstand mittlerweile in der Forschung nicht mehr in Frage gestellt wird und der womöglich dezidiertes Expertenwissen dank der Griechisch- und Hebräisch-Lektoren in Paris sammeln konnte,29 nach dem lateinischen Text der Olivétan-Bibel. Die Ideen aus dem monarchischen Umfeld und die Interpretation des Originaltextes, der auf ähnliche Weise im Umkreis des Monarchen bzw. von Humanisten wie Martin Bucer oder François Vatable gelesen wurde, verweisen auf ein dezidiertes Bemühen des Dichters um präzise philologische Textarbeit auf der Basis einschlägiger Kommentare und Veröffentlichungen. Bemüht um ein detailliertes Textverständnis und um saubere theologische Fundierung, traut sich Marot allerdings auf seinem ureigenen Terrain weitaus mehr zu: Seine Übertragungen experimentieren mit Vers und Metrik, mit Dichtungsformen und -gattungen, sodass letztlich sogar aus den Bibeltexten typisch Marot’sche Gedichte werden.30 Die präzise Chronologie der Psalmenübertragungen ist derzeit nicht rekonstruierbar. Marot mag 1534 mit der Arbeit begonnen haben, was bedeuten würde, dass er sie explizit für das katholische Frankreich verfassen wollte. Das gilt auch noch für die Zeit, als 1541 die Psalmen von Roffet in Paris veröffentlicht werden, begleitet von dem schon angesprochenen Widmungsbrief an den französischen König. Als sie 1543 dann in Genf gedruckt werden, sind sie sozusagen bereits in das calvinistische Feld gewandert, waren aber kurz davor nochmals mit königlicher Druckerlaubnis (privilège royal) erschienen. Die Genfer Fassung von 1543 enthält 50 Heinz Schilling (Hgg.), Die katholische Konfessionalisierung. Wissenschaftliches Symposium der Gesellschaft zur Herausgabe des Corpus Catholicorum und des Vereins für Reformationsgeschichte, Münster 1995. 28 Siehe u. a. Lance K. Donaldson-Evans, »Marot and the Religious Poetry of the Late-Sixteenth Century in France«, Australian Journal of French Studies 35 (1998), 129–140. 29 Vgl. Wursten, Clément Marot and Religion. 30 Während diese Mischung aus theologischem Sachverstand und Dichtung bei Wursten, Clément Marot and Religion, suggeriert und für die religiöse Seite auch unterfüttert wird, scheitert die Studie an ihrer Unkenntnis der französischen Dichtungslandschaft und fällt weit zurück hinter den Sachstand von Reuben, Traduction des Psaumes.
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(bzw. eigentlich 49 Psalmen + 1 Widmungsgedicht) Psalmen aus der Feder Marots. Dessen Bekanntheit als Dichter und seine engen Beziehungen zu Reformationskreisen um Renée de France in Ferrara und Marguerite de Navarre waren gleichsam Garanten für die große Popularität, die das Werk tatsächlich erfuhr. Ein Zeichen dafür waren überdies die zahlreich zirkulierenden nicht autorisierten Versionen, etwa eine Fassung aus dem Jahr 1543 mit einer weiteren Épitre an den Monarchen. Bezeichnend ist hierbei weiterhin, dass selbst diese vermutlich aus calvinistischem Umfeld stammenden Textkompilationen stets den Bezug zum realweltlichen Monarchen beibehielten, sei es als Demonstration von Loyalität, sei es aber auch, um diesen gleichsam für die eigene Sache zu vereinnahmen. Hinsichtlich der theologischen Argumentation erscheint das im Kontext der hebraica veritas nur konsequent für ein humanistisches Bibelverständnis, das dem Monarchen auf Erden den Platz Gottes im Himmel einräumte. Die Psalmen Marots transportieren so etwas wie den Charakter eines Fürstenspiegels. An die Stelle des in Genf allmächtigen Jean Calvin tritt folgerichtig weiterhin der französische Herrscher, dem der Dichter wohl bereits im Dezember 1542, kurz nach seiner Ankunft im Genf, die komplette Psalmenübersetzung gewidmet hatte.31 Das Werk ist somit Gott geweiht und dem König zugedacht, was das Epigramm zeigt, das in der offiziellen Edition von 1543 als Paratext fungiert: »Puis que voulez que je poursuye, ô Sire«32. Bereits dort scheint die Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Kritikern auf: »Qu’en vous plaisant me plaist de leur desplaire«, womit der Paratext klar seinen poetologischen Charakter behält und nicht aus göttlicher Ehrfurcht und Ehrerbietung die literarischen Metakommentare hintanstellt. Von dieser Warte aus erscheint die permanente Referenz auf den Monarchen als eine Antwort auf die Attacken subalterner Gegner. Die Psalmen werden somit als literarische Texte ausgewiesen und gehören ob ihres Inhalts nicht allein dem konfessionellen Feld der Religion an, zumal die Literarizität ihrer Produktion gegenüber dem Originaltext deutlich gestärkt wird. Pragmatisch lässt sich ein Dichter festmachen, der in einer spezifischen historischen Situation seinem König 31 Claude A. Mayer, »Prolégomènes à l’édition critique des psaumes de Clément Marot«, BHR 35 (1973), 55–71 spricht von einem »événement capital dans l’histoire de la poésie française« (55), vor allem aufgrund des großen Erfolgs auf dem Buchmarkt. Die hier genannte Chronologie folgt den Daten von C. A. Mayer, 58, bzw. C. A. Mayer, »Le texte des psaumes de Marot«, Studi Francesi 43 (1971), 1–28, da spätere Studien keine überzeugendere Datierung vornehmen konnten. 32 Clément Marot, Cinquante Pseaumes en françois, Genf 1543. Die Pariser Version von 1543 ist publiziert als Trente deux pseaulmes de David… Plus vingt aultres, Paris 1543.
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diese Texte widmet und diese dann entsprechend der Tradition der französischen Poesie ausgestaltet. Was Wursten in seiner Studie mit dem Begriff der dé-théologisation belegt, ist somit auch ein Ergebnis einer dezidierten Ablehnung des aufkommenden Konfessionalisierungsprozesses, den Marot insofern als Dichter nicht goutieren kann, als er Selbstbeschränkung impliziert. Die Psalmen werden durch ihre Übersetzung historisiert und literarisiert, sie werden ihrer konfessionellen Sprengkraft entkleidet bzw. als akonfessionelle oder überkonfessionelle Texte verstanden. Sie werden literarisiert und zu Marot’schen Texten.33 IV. Die Literarisierung der Psalmen Nirgendwo erscheint die philologische Distanz zu Martin Luther so groß wie in den Psalmenübersetzungen. Undenkbar, dass sich die deutschen Psalmen auf einen Monarchen bzw. die Figur eines irdischen Königs bezogen hätten und sich gleichsam um diesen drehen würden, was natürlich mit dem anderen Verständnis der gallikanischen Nationalkirche zu tun hat.34 Auch der lyrische Charme, mit dem die Übersetzung ausgestattet ist, kann als originelle Handschrift des Dichters begriffen werden. Konzipiert nicht einfach nur als Gebete, sind sie als Chansons Gedichte einer etablierten literarischen Gattung und bilden keine eigene, durch den theologischen Inhalt definierte Gattung für sich. Schon in der Epître au Roi35 erscheint David als inspirierter Dichter, womit ein frequentes Selbstbild des humanistischen, vom furor poeticus erfassten Literaten aufgerufen wird: als Werkzeug bzw. Sprachrohr des Heiligen Geistes, als Orpheus redivivus. Die biblische Geschichte und die theologische Deutung treten somit neben mythologische Reminiszenzen und die Eigengeschichte der Künste, insbesondere der Musik und der mit ihr immer noch eng verbundenen Dichtkunst. In diesem Kontext spricht 33 Ein Zeichen dafür wäre auch die moderne Prosodie Marots, die George Joseph, Clément Marot, Boston 1985, 119 herausarbeitet. 34 Es ist hier nicht der Ort, um die überzeugende Argumentation von Ahmed, Clément Marot, zur Typologie des Monarchen im Werk von Marot wiederzugeben. Vgl. auch Dominique Vinay, »Clément Marot, Martin Luther et Pierre Caroli: Aux sources des Trente premiers psalmes«, in: Defaux, Simonin (Hgg.), Clément Marot, 417–429. Zum gallikanischen Bild des Monarchen siehe Skenazi, L’Economie du don, 471: »François Ier devient un dieu qui prodigue ses bienfaits sans pensée de retour. Depuis les Anciens, la libéralité est la vertu royale par excellence et le poème contribue ainsi à élaborer le portrait d’un souverain généreux, père des arts et des lettres, guerrier invincible, monarque absolu de droit divin.« 35 Clément Marot, »Épître au Roi«, in: Œuvres complètes, 557–561.
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Gott in den Texten zu uns über den Dichter, der somit zum Dichter Gottes und zum privilegiertesten aller Dichter wird. In typisch humanistischer Manier verbindet Marot die Behandlung religiöser und damit höchst bedeutsamer Themen mit der Behauptung von Interesse und Relevanz.36 Der Monarch, so kann der Dichter verstanden werden, bringt den Texten aufgrund ihres Gehalts Aufmerksamkeit entgegen, er nimmt sie nicht nur wahr, er schätzt sie und fördert sie. Die Bibel wird zur Inspirationsquelle doppelter Natur: Inhaltlich gibt sie die Thematik vor; poetisch bietet sie einen zu übertragenden Text, der sich durchaus auch einreihen lässt in die Gepflogenheiten von imitatio und aemulatio. Letzteres wird besonders augenfällig, wenn man die Widmung bedenkt, die der Sammlung der 50 Psalmen in der Edition von Roffet vorangestellt wird: Marot präsentiert sie den »dames de France«, so wie er ihnen bereits in der Vergangenheit Liebesdichtung oder elegante Plaudereien zugedacht hatte.37 Die Orientierung an Frankreich kommt auch zu Beginn der Edition von 1541 zum Ausdruck, in der den 49 übersetzten Psalmen vorangestellten einführenden Épître, wo Marot Paris als seine Referenz bzw. seine Hauptstadt festschreibt. Nirgends findet sich ein Bezug zu Genf oder Calvin, die also keinen privilegierten Platz in seiner Vorstellung einer idealen Gesellschaftshierarchie zugewiesen bekommen.38 Marots Texte werden somit zu einer akonfessionellen réécriture. Dort wo sie sich im religiösen Feld verorten, gehorchen sie fraglos der katholischen Tradition. Im literarischen Feld hingegen sind sie innovativ. Erst mit den Ergänzungen und Überarbeitungen von Théodore de Bèze gelangen die Übersetzungen Marots in den hugenottischen Psalter und werden somit in das calvinistische Feld integriert bzw. dort kanonisiert.39 1562 wird die Referenz auf die ›französischen Damen‹ genauso wie die auf den französischen Monarchen gelöscht, zu einer Zeit, als der Bürgerkrieg tobte und Genf zu 36 Wursten, Clément Marot and Religion, spricht von »worthy contribution to the humanist project of presenting the public with the ancient texts.« 37 Vgl. neben Ahmed, A reading of the 1543 pseaumes, 138–139, v. a. Marie-Madelaine Fontaine, »Débats à la cour de France autour du Canzoniere et de ses imitateurs dans les années 1533–1548. Mellin de Saint-Gelais«, in: Jean Balsamo (Hg.), Les poètes français à la Renaissance et Pétrarque, Genf, 2004, 111–130, hier 124. Die Pariser Edition von 1543 meint Clément Marot, Trente deux pseaulmes de David … Plus vingt aultres, Paris 1543. 38 Zur Tradition der Psalmen bei den Hugenotten siehe Robert Weeda, Itinéraires du Psautier huguenot à la Renaissance, Turnhout 2009, der die klassische Studie von O. E. Douen, Clément Marot et le Psautier Huguenot, 2 Bde., Paris 1878–79 fortschreibt. 39 Als moderne Textausgabe ist Clément Marot et Théodore de Bèze: Les Psaumes en vers français, hg. Pierre Pidoux, Genève 1986, heranzuziehen.
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einem Zufluchtsort der Hugenotten geworden war. Bèze exportiert sozusagen die Texte aus dem literarischen Feld Frankreichs. Der Paratext zu den Psalmenübersetzungen, der in der offiziell auf 1543 datierten Ausgabe Trente pseaulmes de David mis en françoys par Clement Marot, valet de chambre du Roy,40 bei Roffet erschien, inspiriert sich am Psalm 104 und stellt eine direkte Hinwendung an François Ier dar.41 Somit knüpft Marot zum einen eine Verbindung zwischen dem ihm selbst persönlich zugetanen Monarchen und dem christlichen Gott, zum anderen schreibt er sich selbst in ein Dreiecksgefüge mit irdischem und himmlischen König ein. Die Widmung mit dem Titel »Au treschrestien Roy de France, Françoys premier de ce nom, Clément Marot, Salut« beginnt mit den Worten »Jà n’est besoing, Roi, qui n’as ton pareil, Me soucier, ne demander conseil, A qui je doibs dedier cest ouvrage«, und stellt die Außergewöhnlichkeit des Monarchen zunächst in topischer Manier her. Zugleich klingen aber weitere Subtexte an: die besondere Förderung des Monarchen, die ein Gegengewicht zu den Kritikern aus den Reihen der orthodoxen Sorbonne darstellt und den Monarchen in Glaubensfragen tatsächlich als besonders und in diesem Fall sozusagen liberal ausweist. Aber auch die Unterstreichung der Selbstverständlichkeit der Widmung eines jeden Meisterwerkes an den Monarchen, weil es guter Brauch ist, Marot andere Mäzene fehlen und der Bezug zwischen Inhalt und Widmungsträger dies gleichsam kanonisch vorgibt. Insbesondere die Wahl des Verbs »doibs« lässt den Leser stutzen. Geht es um die Betonung der Dringlichkeit und des systemischen Sachzwangs oder mischt sich in diese Logik ein Unterton des Missfallens? Steigert Marot damit die Außergewöhnlichkeit seines Werkes und rekurriert auf die für ihn durchaus ungewöhnliche Verortung im konfessionellen Feld? Der Widmungsbrief trifft in der Tonalität genau die das Werk der Psalmen durchziehende Mischung von Demut und Selbsterhöhung. Wo die Übersetzung von Psalmen in die Volkssprache noch ein durchaus zu rechtfer40 An dieser Stelle soll auch nicht die Frage diskutiert werden, ob diese Ausgabe bereits 1541, wie von den allermeisten Interpreten angenommen, erschienen ist, oder ob das Jahr 1543 korrekt ist, mit dem die Roffet-Ausgabe in den Bibliothekskatalogen verzeichnet ist, was dann allerdings mit dem Jahr der Genfer-Edition zusammenfallen würde. 41 Insofern als auch das lateinische Vorwort von Calvins Institution chrétienne aus dem Jahr 1535 an den Monarchen François Ier adressiert ist, gilt es hier auf die vor 1550 noch selbstverständliche Widmungspraxis an den französischen König auch im calvinistischen Lager zu verweisen. Hierzu siehe auch Christine Scollen-Jimack, »Clément Marot. Protestant humaniste or court jester?«, Renaissance Studies 3 (1989), 134–146.
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tigender Schritt ist und sich führende Vertreter der gallikanischen Kirche dagegen aussprechen, handelt es sich nicht nur um ein heikles Unterfangen, sondern auch um eine Provokation und einen bewussten Bruch mit den Polen der Orthodoxie.42 Nichts davon ist allerdings in den Texten spürbar, die bereits durch den Widmungsbrief als katholisch-traditionell ausgewiesen sind. Der Paratext bietet aber zugleich eine andere Lesart an, die die folgenden Psalmen zu einem Dialog zwischen Dichter und Monarch werden lassen, der eigentlich nur ein Monolog ist, in dem der Dichter sich an den König wendet und dessen Zuhören suggeriert. Somit wird der Leser zum stillen Beobachter dieses privilegierten Sprechens, das humanistische Interpretationen biblischer Texte transportiert, ohne dabei in theologische Diskussionen zu verfallen. An die Seite theologischer Debatten treten literarische Themen. Dies wird insbesondere dort sichtbar, wo der spirituelle Text, dessen einzige Ausrichtung Gott selbst sein kann, Anlass bietet, von den besonderen Vorzügen und Tugenden des Dichters zu künden. Selbstbewusster kann man im Grunde nicht auftreten, und dieses Selbstbewusstsein äußert sich genauso in der Unabhängigkeit gegenüber calvinistischen Positionen. Am offensichtlichsten ist das am Gebrauch der Mythologie zu zeigen, die das Arsenal und die Figurenwelt für die Darstellung liefert: Gott wird zum Apoll Davids. Könnte man noch eine gewisse Akzeptanz in beiden Konfessionen erwarten, wenn die Mytheme im Sinne der traditionellen Präfiguration gleichsam typologisch eingeführt würden, so geschieht das bei Marot gerade nicht. Vielmehr vollzieht der Dichter eine Metamorphose der Religion in Mythologie, womit der biblische Text zu einem vordergründig literarischen Text verwandelt wird und seine Wirkmächtigkeit für die Geltung der Literatur vereinnahmt wird. Marot erklärt sich das Konzept des Dichtens mythologisch und nicht theologisch: Dichtergott ist Apoll, und Gott wird nur zu dessen Wiedergänger. Die im Werk Marots leitmotivisch zu eruierende Tendenz zur Selbstthematisierung und zur Metapoetik wird in den Psalmenübertragungen fortgeschrieben.43 Selbst Bezüge zu eigenen Gedichten fließen in die biblischen Psalmen ein. Dafür dient David als Referenz, der als biblischer Dichter 42 Vgl. Frank Lestringant, »Calvin et Marot, ou de l’universalité des psaumes«, in: Olivier Millet (Hg.), Calvin et ses contemporains. Actes du colloque de Paris 1995, Genf 1998, 247–260, bzw. Frank Lestringant, Clément Marot. De l’Adolescence à L’Enfer, Padua 1998, hier 101 ff. 43 François Rigolot, »Clément Marot et l’émergence de la conscience littéraire à la Renaissance«, in: Gérard Defaux (Hg.), La génération Marot. Poètes français et néolatins (1515–1550). Actes du colloque international de Baltimore 5–7 décembre 1996, Paris 1997, 21–34. Rigolot spricht von »l’émergence de la subjectivité d’auteur« (23).
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der Psalmen Schöpferfigur und Monarch zugleich ist. Insbesondere Psalm 104 entfaltet die dichterische Mission Davids, der in der Übersetzung Marots folgendermaßen spricht: »Je chanterai l’Éternel tant que je vivrai, Je célébrerai mon Dieu tant que j’existerai.« (Ps 104, 33) Dass es in diesem Psalm um das Lob des Schöpfers geht, unterstreicht der Titel »Sus sus mon âme«. Prunkvolle Gewänder, Himmel und Erde, die Elemente, Wind, Wolken, Feuer und Wasser werden thematisiert. Gott erscheint als ein innovativer Schöpfer der Erde, des Gebirges, der Täler, der Ozeane. Der direkt angesprochene Monarch François Ier dient wiederum dazu, das Gedicht auf die Ebene des realweltlichen Dichters zurückzuholen. Das Lob Gottes und des Monarchen wird somit zu einem Selbstlob, namentlich am Ende des Psalms 104: Quant est à moy, tant que vivant seray, Au Seigneur Dieu chanter ne cesseray: A mon vray Dieu plein de magnificence Psalmes feray, tant que j’auray essence. Si le supply; qu’en propos, et en son, Luy soit plaisante, et doulce ma chanson: S’ainsi advient, retirez vous tristesse, Car en Dieu seul m’esjouiray sans cesse.44
Damit führt Marot Argumentationslinien fort, die wir bereits aus der oben angesprochenen Eglogue au Roy soubz les noms de Pan et Robin kennen. Zur Parallelisierung von Marot mit dem Hirten Robin kommt ein Vergleich mit David hinzu, der hier ebenfalls zum Doppelgänger des Dichters aufgebaut wird. Da dieser aber zugleich eine Schöpferfigur ist, die den anderen Schöpfer, Gott, besingt, der zugleich Monarch ist und damit mit dem königlichen Widmungsträger auf einer Stufe steht, knüpft Marot eine bedeutsame Verbindung, die ihn wiederum selbst adelt. Dominique Vinay hat das folgendermaßen formuliert: David pour Marot n’est pas roi avant d’être poète: au contraire, c’est parce qu’il est poète que le psalmiste est roi. La noblesse qui immortalise véritablement le roi David provient d’abord de sa plume, de sa poésie, qui témoigne des richesses de son âme et de son principe inspirateur.45
44 45
Clément Marot, »Psaume 104«, in: Œuvres complètes. Vinay, »Clément Marot«, 428.
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V. Die Épître de Marot au Roi Folgt man der hinsichtlich seiner Echtheit äußerst fragwürdigen Lettre de Villemadon,46 so hätte Marot seine Psalmen nicht nur dem französischen König widmen wollen, sondern auch dem Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, Karl V.47 Zumindest als Rezeptionsbefund kann dieser Brief herhalten, der die Psalmen als ein göttliches Geschenk an den französischen König versteht (»treschrestien le nom«; v. 7) und damit die den Psalmen vorangestellte Épître als eine Weiterführung der Widmungspraxis, wie sie schon in der Suite de l’Adolescence clémentine aufscheint. Die Widmung steht außer Frage (»Ja n’est besoing […] A qui je doibs dedier cest ouvrage«; v. 1–3): Nach der eingehenden captatio benevolentiae, die bereits in der allerersten Zeile das Näheverhältnis zwischen Monarch und Dichter durch das Duzen unterstreicht (»qui n’as ton pareil«; v. 1 bzw. »qu’en toy gist«; v. 4), geht der Dichter dazu über, immer mehr von sich selbst zu sprechen und expliziert sogar die Parallele zwischen François Ier und David als den eigentlichen Anlass seiner Dichtung. Was David für die Hebräer gewesen sei, das stelle François für die Franzosen dar: »Car il fut Roy de prudence vestu; Et tu es Roy tout orné de vertu.« (v. 15–16)48 Vom jeweiligen Volk verehrt (»des siens fort honnoré«; v. 19), sei beiden das Glück bei ihren Taten hold (v. 21), seien sie beide fromm und hätten Interesse an den Wissenschaften (v. 23), alles in allem Eigenschaften, die die beiden Könige gemäß einem humanistischen Ideal modellieren, wie es schon Guillaume Michel 1518 skizziert hatte. Marot nennt in seinem Fürstenspiegel François einen Friedensfürsten, einen Mäzen und einen Freund der Musen (v. 34), aber er bezeichnet ihn auch als Schriftsteller. Die Parallelen zwischen dem Dichter und David verschmelzen somit mit den Analogien zwischen dem Monarchen und dem Schriftsteller bzw. zwischen François und David (»vous estes les deux Roys«; v. 29). Während die monarchische Komponente in den Hintergrund rückt, wird der dichterische Kontext fokussiert. Der Dichter wird zum Sujet der Dichtung:
46 Der Brief ist auf den 26. August 1559 datiert, vgl. V.-L. Saulnier, »Marguerite de Navarre, Catherine de Médicis et les Psaumes de Marot. Autour de la lettre dite de Villemadon«, BHR 37 (1975), 349–375. 47 Dick Wursten, »Did Clément Marot really offer his Trente Pseaulmes to the Emperor Charles V in January 1550?«, Renaissance Studies 22 (2008), 240–250. 48 Vgl. Michèle Clément, »Marot politique dans L’Adolescence clémentine et dans La Suite«, in: Defaux (Hg.), La génération Marot, 155–167. Clément spricht von einer »image du prince chrétien« (162).
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O doncq’Roy, prends l’Œuvre de David, Œuvre plus tost de Dieu, qui le ravit, D’aultant que Dieu son Apollo estoit, Qui luy en train, & sa harpe mectoit. (v. 39–42)
Während die Verwendung von Mythemen (Calliope, Parnasis, Caballin) durch Marot alles andere als außergewöhnlich ist, auch nicht im Kontext einer Épître au Roi, und deren Einsatz für biblische Figuren nicht erstaunt, so ist die konkrete Einkleidung von David und Marot doch ungewohnt. Beide werden zu Wiedergängern Apolls, in denen der lyrische furor wirkt. Mit einer solchen Präfigurationsidee blieb der Dichter jedoch angewiesen auf das literarische Feld der französischen Katholiken, die aus dichterischer Tradition heraus eine solche Darstellung problemlos akzeptieren konnten, wohingegen diese im calvinistischen Feld undenkbar schien und wohl als blasphemisch sanktioniert worden wäre. Was der christliche Humanismus goutierte, wurde im Vergleich von David mit dem Dichtergott der griechischen Antike zu einem Wagnis.49 Ein gefährliches Spiel, das überdies nur durch einen ähnlich gelagerten Verstoß gegen calvinistische Sittenzucht überschrieben wurde: das Selbstlob des Dichters und das Lob seiner Dichtung. Die Dichtkunst als etwas Außergewöhnliches und gar von Gott an einen Dichter Gegebenes zu preisen, ihre gebetsgleiche Wirkkraft herauszustellen und die göttliche Größe in einem Atemzug zu loben, war zumindest unter den konfessionell aufgeheizten Bedingungen riskant. Marot versucht dies nicht wirklich aufzufangen, wenn er den Heiligen Geist zu seiner Muse erklärt, da er sich damit ganz im Gegenteil eine Sonderstellung anmaßt, die wiederum zugleich im religiösen wie im literarischen Bereich gilt, wo der poetische furor sogar noch von dieser Erwählung übertroffen werden kann: »Ses vers divins, ses chansons mesurées Plaisent (sans plus) aux âmes bien heurées« (v. 59 / 60). Marot wird noch konkreter, steckt das Sujet ab und informiert seine Leser über Autor und Inhalt. David wird dergestalt zum singenden Hirten (v. 82), jedoch zu einem Hirten, der zum König aufsteigt. Als solcher setzt er seinen Lobgesang für und auf Gott fort, was natürlich die Parallele mit Marot wiederaufnimmt, auf den die Beschreibung viel besser zu passen scheint: Icy David le grand Prophete Hebrieu Nous chante, & dict, quel est ce puissant Dieu, Qui de Bergier en grand Roy l’erigea, Et sa houlette en sceptre luy changea. (v. 67–70)
49 Zur Thematik siehe Hans Blumenberg, Präfiguration. Arbeit am politischen Mythos, Frankfurt a. M. 2014.
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Mit der Thematisierung von Dichtung leitet der Dichter die Überführung in die Metaliteratur ein, deren höchster Text natürlich die Bibel bleibt. Wo David als Sprachrohr Gottes explizit für lyrische Qualitäten geschätzt wird, wird der Diskurs (»aux ungs aussi doulx, & traictables, Qu’aux aultres est terrible & redoutable«; v. 77–78) poetologisch lesbar: angenehm und positiv für die eigenen Leser, angsteinflößend und gefährlich für Kritiker und Gegner, Konkurrenten und Neider.50 Hierfür stellt der Autor klar, dass »Dieu parle dedans David«, dass der Dichter eben für Gott spricht, wobei er hier sehr deutlich und explizit die Figuration benennt: »CHRIST y voyrrez (par David) figuré, Et ce qu’il a pour noz maulx enduré« (v. 83–84). In diesem Kontext gelingt es dem Autor allerdings, insbesondere die eigenen Vorzüge herauszustellen. Wenn David mit zeitgenössischen Malern wie Janet und Michelangelo verglichen wird, so wirkt dieser Vergleich eher unangemessen. Der biblische David dürfte sich nicht mit irdischen Malern messen lassen müssen bzw. Letztere wären damit in einer überaus besonderen Weise gepriesen. Dass die beiden Genannten biblischen Motive malten (v. 88), parallelisiert sie vielmehr mit dem Dichter Marot. Überdies führt es den rinascimentalen Wettstreit der Künste (paragone) fort. Die Lektüre der Psalmen wird dergestalt zu einer Art Therapie, zumindest zeugt sie von didaktischem Potential. Die Psalmen werden als Essenz der Bibel präsentiert, die dank der Künste entstand, dank der Lexik und Semantik, die diese ideale Schrift realisieren konnten. Diese Künste künden vom Ruhm Gottes, sie lehren zu loben und sie versprechen Trost: »C’est ung jardin plein d’herbes, & racines, Où de touts maulx se trouvent medecines.« (v. 113–114). Aber sie sind noch stärker im literarischen Feld beheimatet, was auch der Vergleich mit Homer beweist. Die eigenen Psalmen erhalten den Status der Werke von Homer (»Homere Grec ne l’a mieulx observé«; v. 116); Marot schneidet damit die Fragen des literarischen Stils, der Rhetorik und vor allem der Wirkungsabsicht der Dichtung an. Präziser könnte er sich nicht in das literarische Feld begeben. Nicht allein der Glanz Gottes und des Monarchen steht im Mittelpunkt, wenn die Literatur zum Urgrund der Dichtung wird. Marot spricht von »Descriptions« (v. 117) und »figures« (v. 122), nutzt also literarisches Fachvokabular; er evoziert eine »couronne« (v. 119), die an den Lorbeer Petrarcas anschließt, dessen Name in dem Gedicht er50 Damit wäre das Gegenteil dessen aufgerufen, was Jacques Roubaud, Impressions de France. Incursions dans la littérature du premier XVIe siècle 1500–1550, Paris 1991, 90 ff., als »poésie simple, lumineuse, toujours directement compréhensible au plus grand nombre de gens« (hier: 91) interpretiert.
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wähnt wird (v. 149). Und schließlich kommt er auf die Bedeutung des Autors für die Konsekration des Buches zu sprechen. Der Schriftsteller selbst wird in einer Selbstcharakterisierung zum außergewöhnlichen Künstler, der sogar Homer übertrifft. Dass dies zum einen daran liegt, dass David Homer zeitlich (angeblich) vorausging und der Nachfolgende weniger bedeutend erscheint, skizziert überzeitliche Wahrheiten der Kanonbildung:51 Tu trouveras le sens en estre tel, Qu’il rend là hault son David immortel, Et immortel çà bas son livre, pource Que l’Eternel en est premiere source; Et voluntiers toutes choses retiennent Le naturel du lieu, dont elles viennent. Pas ne fault donc’, qu’aupres de luy Homère Se mecte en jeu, s’il ne veult perdre grâce: Car par sus luy volle nostre Poëte, Comme feroit l’Aigle sus l’Alouëte, Soit à escripre en beaulx Lyricques vers, Soit à toucher la Lyre en son divers. (v. 123–134)
Marot verknüpft damit das biblische Sujet, die Wendung an den Monarchen und die Selbstthematisierung der eigenen Dichtung. Die unter den gegebenen Umständen heikle und prekäre Beziehung zum Monarchen wird in Erinnerung gerufen und gleichsam positiviert. Die biblischen Reminiszenzen sind omnipräsent (»Saül«, v. 139), dominieren aber nicht gegenüber den mythologischen (»Orpheus«, v. 141; »Phebus«, v. 145). Der Dichter erklärt seine eigene Größe, indem er seine Stellung in der Gesellschaft und im literarischen Feld skizziert.52 Er wählt eine Thematik, die in Vergessenheit geraten war, und findet darin seine Inspiration für eine innovative imitatio. Dank dem Monarchen und dessen Kulturförderung konnte er womöglich ganz konkret die Deutung der Bibelstellen schärfen: Bien il est vray (comme encore se voit) Que la rigueur du long temps les avoit Rendus obscurs, & durs d’intelligence. Mais tout ainsi, qu’avec diligence Sont esclaircis par bons esprits rusés Les escripteaulx des vielz fragments usés: Ainsi (ô Roy) par les divins esprits, 51 Zu den Abgrenzungen zwischen alt und neu in der Kanonbildung siehe u. a. Andreas Poltermann (Hg.), Literaturkanon, Medienereignis, kultureller Text, Berlin 1995. 52 Hier wäre an die Traditionslinie Villon-Marot zu erinnern.
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Qui ont soubs toy Hebrieu langaige appris, Nous sont jectés les Psalmes en lumiere, Clers, & au sens de la forme premiere (v. 155–164)
Anscheinend wünscht Marot hier, mit den Psalmen das Werk der Spezialisten des Hebräischen und damit auch der Theologie fortzuführen (»Dont apres eulx (si peu, que faire sçay) T’en ay traduict par maniere d’essay Trente sans plus, en ton noble langaige«; v. 165–167). Er stellt noch weitere Übersetzungen in Aussicht, die auf der besonderen Beziehung zwischen Mäzen und Poet beruhen. Falls der König, so die Argumentation, die schließlich endgültig die Psalmen in poésie de circonstance verwandelt, ihn weiter finanziere (»les recevoir pour gaige«; v. 168), könne er weiterarbeiten. Marot als zweiter David und zweiter Orpheus stützt somit die Bemühungen der Hebraisten und wird zugleich zum ›poète de Dieu et Dieu des poètes‹. Letztlich hatte er bis 1543 vermutlich 49 Psalmen übersetzt, die dann durch Théodore de Bèze 1551 publiziert werden sollten und die Basis für den 1562 komplettierten und bis heute in der französischen protestantischen Kirche genutzten Psalter bilden. Der Paratext erzielt damit die Wirkung eines »rewriting of Marot’s lyrical identity«53 und macht den Dichter bekannt als französischen David. Welche potentielle Gefahr mit einer solchen Stilisierung verbunden war, zeigt Ahmed: Marot’s difficulties arose when he attempted to alter the relationship between his national and religious identities and wished to remain a French poet and a evangelist. There was indeed something fundamentally contradictory in addressing a Huguenot psalter to the Catholic king of France […] For Marot, David exemplified the integration of his religious and national selves.
Marot wollte demzufolge das literarische Feld Frankreichs gar nicht verlassen. Allerdings konnte sein Werk nur im calvinistischen Kosmos bestehen und wurde den Zeitumständen entsprechend reinterpretiert. Nach dem Konfessionellen Zeitalter konnte er wieder in den französischen Kanon integriert werden, da seine literarischen Fähigkeiten durchaus Anerkennung fanden. Vinay bringt dies auf den Punkt: »Si David était roi grâce à son inspiration, Marot, semble-t-il, bénéficie du même privilège divin.«54 Ohne blasphemischen Beigeschmack gelang dem Dichter eine stetige Thematisierung des Dichter-Seins.
53 54
Ahmed, »A reading of the 1543 pseaumes«, 141. Vinay, »Clément Marot«, 429.
Listen im Transferprozess Zur englischen und deutschen Rabelais-Übersetzung Von Eva von Contzen Wer literarische Listen zu schätzen weiß, dem ist François Rabelais als Listen-Schreiber par excellence wohlbekannt. Die absurden und derben Aufzählungen, die Gargantua und Pantagruel maßgeblich strukturieren und identifizieren, sind parodistische Meisterleistungen. Aber auch die gegenteilige Reaktion ist nicht selten: Jenseits all ihrer Komik kann die Rabelais’sche Massierung von Aufzählungen frustrierend sein und dazu führen, dass die Listen erst gar nicht gelesen werden. Besondere Relevanz erhalten Rabelais’ Listen in der Rezeption seines Werks. Im Folgenden sollen uns zwei Übersetzer von Rabelais näher beschäftigen, unter besonderer Berücksichtigung der Listen und Aufzählungen in ihren Übersetzungen: zum einen Johann Fischart, der Rabelais 1575 ins Deutsche übersetzte, und zum anderen der Schotte Thomas Urquhart, der 1653 die erste englische Übersetzung anfertigte. Ich beginne mit einer Definition und drei Thesen zur Funktionsweise von Listen, die meine Analyse leiten werden. Daran schließe ich nach einer kurzen Einführung der beiden Autoren eine vergleichende Interpretation ausgewählter Passagen an. Eine Sonderstellung in der englischen bzw. schottischen Literatur nimmt dabei ein weiterer Text ein: The Complaynt of Scotland (1549 / 50). Dieser politische Traktat weist einen Rabelais- und Fischart-affinen Exkurs auf und ist zeitlich deutlich näher an Rabelais’ Veröffentlichungen von Gargantua als die erste englische Übersetzung des Werks. Zum Abschluss möchte ich mich der Frage widmen, inwieweit eine Studie der Listen und Aufzählungen in der Rabelais-Rezeption besonders fruchtbringend sein kann und zeigen, dass die Faszination, die von Rabelais ausgeht, in der Potenzierung des Enumerativen in den Übersetzungen jenseits von enzyklopädischen Impulsen oder karnevalesker Gesellschaftstheorie im Sinne Bachtins eine Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Grenzen von Erzählen in der frühen Neuzeit markiert.
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I. Drei Thesen und eine Definition Mit ›Liste‹ meine ich eine Aufzählung von mindestens drei distinkten Elementen, die in minimaler syntaktischer Verbindung stehen und nicht oder nicht primär narrativ operieren. Listen können, müssen aber nicht typographisch als solche abgesetzt sein. In ihrer prototypischen Form ist eine Liste landläufig eine Reihe von untereinander geschriebenen Elementen (z. B. Einkaufsliste oder To-do-Liste). Meine Definition schließt aber auch solche Listen ein, deren Elemente durch Kommata getrennt aufgezählt werden. Hier ist weniger die distinkte Form des Untereinanderschreibens ausschlaggebend als vielmehr die fehlende bzw. geringe Konnexion der einzelnen Elemente und die Praxis des Auflistens, das sich typographisch und formal unterschiedlich manifestieren kann. Auch die Größe der einzelnen Elemente kann variieren, von einzelnen Substantiven, Adjektiven oder Verbformen bis hin zu parallel gebauten Paragraphen, die durchaus auch aus mehreren Sätzen bestehen können. Letzteres entspricht der Sonderform des (epischen) Katalogs, der typischerweise aus größeren syntaktisch zusammenhängenden Paragraphen in enumerativer Reihung besteht.1 Für die verschiedenen formalen Konfigurationen von Listen bietet Rabelais eine reiche Quelle. In der Mehrheit sind seine Aufzählungen in den Fließtext inkorporiert; es handelt sich folglich um Enumerationen oder Akkumulationen im rhetorischen Sinne. Gleich der Prolog Rabelais’ ist ein gutes Beispiel für diese Art der kürzeren inkorporierten Listen: Beuveurs tresillustres, et vous Verolez tresprecieux (car à vous non à aultres sont dediez mes escriptz) Alcibiades ou dialoge de Platon intitulé, Le bancquet, lou ant son precepteur Socrates, sans controverse prince des philosophes : entre aultres parolles le dict estre semblable es Silenes. Silenes estoient jadis petites boites telles que voyons de present es bouticques des apothecaires pinctes au dessus de figures joyeuses et frivoles, comme de Harpies, Satyres, oysons bridez, lievres cornuz, canes bastées, boucqs volans, cerfz limonniers, et aultres telles pinctures contrefaictes à plaisir pour exciter le monde à rire. Quel fut Silene maistre du bon Bacchus : mais au dedans l’on reservoit les fines drogues, comme Baulme, Ambre gris, Amomon, Musc, zivette, pierreries : et aultres choses precieuses. Tel disoit estre Socrates : par ce que le voyans au dehors, et l’estimans par l’exteriore apparence, n’en eussiez donné un coupeau d’oignon : tant laid il estoit de corps et ridicule en son maintien, le nez pointu, le reguard d’un tau-
1 Siehe zu Listen und ihrer Definition zentral Robert Belknap, »The Literary List: A Survey of its Uses and Deployments«, Literary Imagination 2.1 (2000), 35–54, sowie Sabine Mainberger, Die Kunst des Aufzählens. Elemente einer Poetik des Enumerativen, Berlin 2003.
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reau : le visaige d’un fol : simple en meurs, rustiq en vestimens, pauvre de fortune, infortuné en femmes, inepte à tous offices de la republique, tousjours riant, tousjours beuvant d’autant à un chascun, tousjours se guabelant, tousjours dissimulant son divin sçavoir. Mais ouvrans ceste boyte : eussiez au dedans trouvé une celeste et impreciable drogue, entendement plus que humain, vertus merveilleuse, couraige invincible, sobresse non pareille, contentement certain, asseurance parfaicte, deprisement incroyable de tout ce pourquoy les humains tant veiglent, courent, travaillent, navigent et bataillent.2
Es gibt jedoch auch zahlreiche Fälle, in denen Rabelais die typographisch distinkte Listenform verwendet. Dabei handelt es sich zumeist um spezifische Arten von Listen, z. B. um das Verzeichnis der Bücher in der Bibliothek von St. Viktor, Wortlisten wie die vorgeblich ehrvollen Adjektive, die Pantagruel und Panurg dem Narren Triboulet geben oder die Opfergaben kulinarischer Art, welche die Gastrolater ihrem Gott Manducus darbringen.3 Auch die Sammlung von Sentenzen zum Thema der Prophetie durch Lektüre ist als Liste sogleich zu erkennen. Pantagruel 2 Rabelais, »Prologe de l’auteur«, in: Gargantua. Übers.: »Erlauchte Zecher und ihr, teure Syphilitiker – denn euch und sonst niemand sonst sind meine Schriften gewidmet –, in Platons Dialog Das Gastmahl sagt Alkibiades zum Lobe seines Lehrmeisters Sokrates, der unbestritten aller Weisen Oberhaupt ist, unter anderem, daß dieser den Silenen gleiche. Silene nannte man einst kleine Dosen, wie wir sie heutzutage in den Läden der Apotheker finden: von außen bemalt mit allerhand lustigen und reizenden Figuren, als da sind: Harpyien, Satyrn, gezäumte Gänschen, Hasen mit Hörnern, gesattelte Enten, fliegende Böcke, Hirsche, die in der Deichsel gehen, und manch andere aus der Phantasie gemachte Darstellungen, die die Leute zum Lachen bringen sollen, so wie Silen es tat, des guten Bacchus Erzieher. Aber in ihrem Inneren bewahrte man feine Spezereien auf wie Balsam, grauen Ambra, Amomum, Moschus, Zibet, Edelsteine und andere kostbare Dinge. So, sagt Alkibiades, sei Sokrates gewesen, denn, hättet ihr ihn gesehen und ihn nach seiner äußeren Erscheinung beurteilt, so hättet ihr keinen Pfifferling für ihn gegeben: so häßlich war er von Gestalt und so lächerlich sein Auftreten. Seine Nase war spitz, stierartig sein Blick, sein Gesicht war das eines Narren; sein Benehmen war einfältig, bäurisch seine Kleidung, Vermögen hatte er so gut wie keins, war ohne Glück bei den Frauen, untauglich für jedes Amt im Staate, immerzu lachend und immerfort bereit, einem jeden zuzutrinken, immerzu spottend und immer sein göttliches Wissen verbergend. Aber hättet ihr diese Dose geöffnet, so hättet ihr darinnen eine himmlische und unschätzbare Spezerei gefunden: übermenschlichen Verstand, wunderbare Tugend, unüberwindlichen Mut, eine Nüchternheit ohnegleichen, unumstößliche Zufriedenheit, unerschütterliche Zuversicht und eine unglaubliche Nichtachtung all der Dinge, nach denen Menschen sich nächtelang verzehren, um derentwillen sie laufen, arbeiten, zur See fahren und kämpfen.« (François Rabelais, Gargantua, übers. u. komm. Wolf Steinsieck, Stuttgart 2003). 3 Siehe Rabelais, Pantagruel, Kap. 7; Tiers Livre, Kap. 38; Quart Livre, Kap. 59. Alle Zitate aus Rabelais beziehen sich auf die kritische Edition von Mireille Huchon: Rabelais, Œuvres Complètes, édition établie, présentée et annotée par Mireille Huchon, avec la collaboration de François Moreau, Paris 1994.
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erklärt Panurg, dass es äußerst schwierig sei, guten Gewissens zum Thema Heiraten Rat zu erteilen, und schlägt vor, die antiken Autoritäten Vergil und Homer zu befragen, indem wahllos eine Seite aufgeschlagen und das Zitat auf die gegenwärtige Situation bezogen werde.4 Bevor wir uns den verschiedenen Arten von Aufzählungen bei Rabelais und seinen Übersetzern Fischart und Urquhart zuwenden, sei ein Wort zur generellen Funktionsweise von Listen vorangestellt. Was die Funktionen betrifft, gehe ich von drei eng miteinander verbundenen Thesen aus, die für alle Listen, unabhängig von ihren tatsächlichen Kontexten, gelten. Diese lauten: (1) Listen sind anthropologische Konstanten. Die Aufzählung als Form ist ahistorisch und deshalb transhistorisch konstant. (2) Listen drücken Ordnungsprinzipien aus. Sie liefern einen bestimmten Blick auf die Welt; sie sind Ausdruck von Weltwahrnehmung und immer perspektivisch bzw. ideologisch aufgeladen. Es gibt keine ›neutrale‹ Liste. (3) Listen sind spatial in ihrer narrativen Funktion und stehen damit der Sequenzialität von Erzählen entgegen. Sie eröffnen Text-Räume, die nach Belieben des Autors / Erzählers gefüllt werden können. Damit markieren Listen ein Spannungsfeld zwischen der Dynamik des Erzählens und der Statik des bloßen Aufzählens und bedeuten eine Herausforderung für den Rezeptionsprozess. Insbesondere die Thesen (2) und (3) werden im Folgenden konkretisiert und im Detail diskutiert. Zur ersten These sei an dieser Stelle darauf verwiesen, dass Aufzählungen seit den frühen Hochkulturen in menschlichen Schriftzeugnissen Verwendung gefunden haben. Dies gilt zunächst für Listen mit einem unmittelbar praktischen Bezug (Aufzählungen von Besitztümern, Archive und Inventare, Listen von Königen und hohen Beamten etc.) und schließlich für literarische Listen bzw. für Listen, die mittelbar praktisch sind, weil ihnen beispielsweise Memorialfunktionen zukommen (Genealogien, biblische Listen von Besitztümern, Listen von Personen, nicht zuletzt epische Kataloge).5 Es scheint keine Epoche zu geben, in denen Menschen sich nicht der Liste als Form bedient haben. Aufgrund ihrer Einfachheit und Funktionalität eröffnet die Liste die Möglichkeit der Ordnungsabbildung. Sie lädt dazu ein, zeitgenössisches Weltwissen und aktuelle Weltwahrnehmung abzubilden bzw. sich kreativ mit diesen auseiRabelais, Tiers Livre, Kap. 10. Siehe Jack Goody, »What’s in a List?«, in: ders., The Domestication of a Savage Mind, Cambridge 1977, 74–111, und Niek Veldhuis, History of the Cuneiform Lexical Tradition, Münster 2014. 4 5
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nanderzusetzen, sei es in ironischer Brechung, parodistischer Manier, Überzeichnung oder spielerischer Ästhetik. Bei Rabelais sind Listen die definierende und dominierende Form. Dies hat vor allem eine signifikante Konsequenz für das Werk insgesamt: Das Erzählen selbst wird in Frage gestellt, es tritt in Konkurrenz zum Aufzählen. Gargantua und Pantragruel ist vielleicht das erste Beispiel, zumindest in seiner Massierung, für eine Geschichte, deren Erzählen systematisch untergraben wird. Ich lese die Listen in Rabelais und seiner Rezeption – unbenommen des enzyklopädischen Erzählens oder karnevalesker Impulse – als metapoetisches Statement über das Erzählen und dessen Grenzen. Jenseits von den derben und witzig-absurden Inhalten, die zweifelsohne ebenfalls zentral sind, positioniert sich das Werk in seinen Formstrukturen als Anti-Erzählung: Es markiert damit die Grenzen eines mittelalterlich inspirierten enzyklopädischen Erzählen-als-Aufzählens und wirft den Blick nach vorn auf eine neue Weltordnung, in der Wissens- und Ordnungsmuster zur Disposition stehen und nach neuen Prinzipien verlangen, um ihnen Halt und Festigkeit zu geben. Rabelais’ Erzählen ist damit ein Meta-Erzählen, das die Fragen aufwirft: Wie wird in welchen Formen erzählt bzw. nicht-erzählt, und wie lassen sich diese Formen literatur- und kulturhistorisch verankern? Rabelais erprobt die Grenzen des Erzählens und der Erzählbarkeit und stellt zugleich in Frage, welche Rolle dem Erzählen in einer Zeit des Umbruchs – sei es auf dem Gebiet der Wissenschaft und Bildung, der Religion oder der Politik – zukommen kann und sollte. Gerade hier ist ein Vergleich mit Übersetzungen ins Deutsche und Englische höchst relevant.
II. Rabelais in Translation: Johann Fischart und Thomas Urquhart Die Übersetzung von Johann Fischart (1546 / 47–1590) erschien erstmals im Jahre 1575, also etwa zehn Jahre nach der Veröffentlichung des fünften und letzten Rabelais-Buches (1564). Fischart stammte aus Straßburg, wo er das Gymnasium besuchte; er studierte unter anderem in Tübingen, Basel, Paris und bereiste Europa (Flandern, Frankreich, Italien, England). In Basel wurde er zum Dr. iur. promoviert. Als Jurist war er in Speyer tätig, später als Amtmann in Forbach. In den konfessionellen Auseinandersetzungen seiner Zeit bezog er Position und wurde vom Lutheraner zum Calvinisten. Fischart übersetzte nicht die gesamten fünf Bücher des Franzosen, sondern lediglich eines: die Geschichte von Pantagruels Vater Gargantua, also Rabelais’ zweites Buch, das chronologisch innerhalb der
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Geschichte das erste ist. Das Werk erschien in der ersten Ausgabe unter dem Titel Geschichtsschrift, in den Ausgaben von 1582 und 1590 als Geschichtklitterung. Der Begriff ›Übersetzung‹ ist dabei im weitesten Sinne zu verstehen. Fischart übersetzt nicht wortgetreu, sondern überträgt, adaptiert und erweitert die französische Vorlage. Wie so oft gerade in Bezug auf die Adaption und Rezeption von kontinentalen Bewegungen, sind die Entwicklungen auf den britischen Inseln mit einiger Verzögerung anzutreffen. Die erste Rabelais-Übersetzung im Englischen, verfasst von Sir Thomas Urquhart (1611–1660), wurde 1653 veröffentlicht. Wie bei Fischart ist auch Urquharts Übersetzung keine vollständige; das vierte und fünfte Buch hat er nicht übertragen. Die Übersetzung des dritten Buches, an der Urquhart vermutlich arbeitete, möglicherweise sogar beendete, ist nicht überliefert. 1693–1694 erschien der Text aller drei Bücher, allerdings in der Version von Pierre Antoine Motteux, der Urquharts Übersetzung überarbeitete und kommentierte und das fehlende Buch nachlieferte. Urquhart, Sohn einer einflussreichen Rittersfamilie aus Cromarty (eine der wenigen Familien, die episkopale Ansichten vertraten), verfasste Epigramme, Abhandlungen über universales Wissen, schottische Geschichte und eine Universalsprache. 1639 ging Urquhart nach England, wo er 1641 von Charles I zum Ritter geschlagen wurde. Im Bürgerkrieg schlug er sich auf die Seite der Royalisten und verbüßte nach der Restitution der Monarchie eine Gefängnisstrafe. Die Rabelais-Übersetzung ist sein letztes Werk, die auf Rabelais’ Edition von 1542 basiert.6 Obgleich Urquharts Übersetzung fast ein Jahrhundert nach Rabelais’ Werk erscheint, bedeutet dies freilich nicht, dass Rabelais im englischen Sprachraum bis dato unbekannt war. Ganz im Gegenteil: Rabelais wurde bereits auch vor der englischen Übersetzung gelesen und rezipiert, so unter anderem über die Figur des Panurg und dessen ›Qualitäten‹ einer amoralischen Lebenshaltung, schnellen Zunge, ungezügelten Neugierde und sexuellen Unsicherheit. So spielt beispielsweise John Donne in den 1590ern auf Panurg an.7 Auch im Drama, hier prominent bei Shakespeare, finden sich Reminiszenzen an Panurg, so in All’s Well That Ends Well.8 6 R. D. S. Jack, »Urquhart, Sir Thomas, of Cromarty (1611–1660)«, in: Oxford Dictionary of National Biography, Oxford 2004, online: http: / / www.oxforddnb. com / view / article / 28019, letzter Zugriff: 10. Sept. 2016, sieht Urquhart als würdigen Nachfolger von Gavin Douglas und Vorreiter in der Tradition der prose romance, wie sie Walter Scott später verfasst. 7 Anne Lake Prescott, Imagining Rabelais in Renaissance England, New Haven / London 1998, 95–99. 8 Siehe z. B. die Kommentare des Clowns in I.3.37–45 im Vergleich mit Frère Jean in Rabelais, Tiers Livre, Kap. 28.
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Eine andere Quelle sind Marginalien, die eine Rabelais-Lektüre bezeugen. Eine besondere Faszination scheint dabei die Dinglichkeit und Käuflichkeit der Rabelais’schen Welt ausgeübt zu haben, ebenso die Bibliothek von St. Viktor. Insgesamt macht eine Vielzahl von Anspielungen und Verweisen deutlich, dass Rabelais in Gelehrtenkreisen im englischsprachigen Raum auch vor Urquhart breit rezipiert wurde. Zu den Lesern zählten Ben Jonson, Philip Sidney, John Dunbar, Michael Drayton, Gabriel Harvey, John Healey (Discovery of a New World, ca. 1609), Joseph Hall (Mundus alter et idem, 1605), John Donne (The Courtier’s Library, vermutlich bereits 1611 vollendet, gedruckt 1650), Francis Bacon (Advancement of Learning, 1605) und John Selden (in den Annotationen zu Draytons Poly-Olbion, 1612).9 III. Rabelais’sche Listen im Vergleich Die besondere Bedeutung, die Listen und Aufzählungen bei Rabelais zukommen, wird in den Übersetzungen von Fischart und Urquhart nicht nur freudig rezipiert, sondern potenziert. Die Schwerpunkte sind dabei unterschiedlich gesetzt, wie auch die Übersetzungs- bzw. Adaptionsstrategien variieren. Auf linguistischer Ebene spielen Lexika und Wort- bzw. Synonymlisten sowohl für Fischart wie auch für Urquhart eine wichtige Rolle. Fischart, Autor des zweibändigen Onomastica (1574), einer gemeinsam mit Michael Toxites verfassten Paracelsus-Übertragung, hatte sich bereits als Wortschöpfer und -sammler profiliert. Vor diesem Hintergrund mag es kaum verwundern, dass Fischart zahllose Neologismen erfindet, um Rabelais’ Sprachreichtum zu übertragen. Urquhart ist ebenso kreativ, wenn es darum geht, Wörter aus morphologischen Versatzstücken verschiedener Sprachen zu bauen. Als wichtiges Hilfsmittel diente ihm dabei Randle Cotgraves Dictionarie of the French and English Tongues (1611), das Rabelais’ Wörter enthält. Urquharts Übersetzungstechnik, auch in ihrem Hang zur Amplifikation, ist zum Teil seiner Verwendung dieses Dictionarie geschuldet.10 Cotgrave nennt zumeist eine Reihe von möglichen Übersetzungen für eine Rabelais-Vokabel, so dass Urquhart aus einem reichen Fundus schöpfen konnte. Ein Beispiel aus der Bibliothek von 9 Prescott, Imagining Rabelais, liefert einen hervorragenden Überblick. Siehe auch die Verweise bei Huntington Brown, Rabelais in English Literature, Cambridge, MA 1933. 10 Siehe zu Urquhart und seiner Verwendung des Dictionarie auch F. C. Roe, Sir Thomas Urquhart and Rabelais (The Taylorian Lecture), Oxford 1957; Richard Boston (Hg.), The Admirable Urquhart. Selected Writings, London 1975, 58–61.
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St. Viktor möge dies illustrieren.11 Dort nennt Rabelais das Werk de pelendis mascarendisque cardinalium mulis, welches Urquhart übersetzt als De peelandis aut unskinnandis blurrandisque Cardinalium mulis.12 In Cotgraves Lexikon finden sich für die Rabelais’schen Verben peler und mascarer die folgenden Einträge: PELER: To bauld, or pull the haire off; also to pill, pare, barke, unrinde, unskinne. MASCARER: To blot, soyle, blurre, sullie, disfigure13
Zum Teil inkorporiert Urquhart sogar Cotgraves Erläuterungen in seinen Text, wie das folgende Beispiel aus der Pantagruel-Übersetzung demonstriert: Panurge gave Pantagruel to eate some devillish drugs, compounded of Lithotripton (which is a stone-dissolving ingredient,) nephrocatarticon, (that purgeth the reines) the marmalade of Quinces, (called Codiniac) a confection of Cantharides, (which are green flies breeding on the tops of olive-trees) and other kindes of diuretick or pisse-procuring simples.14 LITHORTIPON, for LITHONTRIPTON; stone dissolving, or stone-breaking: Rab. NEPHROCARTATICON. Physicke that purgeth the reines; Rab. CANTHARIDE. The venomous green flye Cantharides; (which breeds in the tops of the Ash, and Olive, trees). CODIGNAT, Codiniacke, or Marmalade of Quinces. DIURETIQUE. Which hath the power, or properties to make one pisse.15
Urquharts Übersetzung ist offenkundig stark von Cotgrave beeinflusst, dessen Synonyme bzw. Begriffsspannen in der Übersetzung einzelner Worte Urquharts Tendenz zur Proliferation zugutekamen. Dass diese Praxis auch anfällig für Fehler und Ungenauigkeiten war, versteht sich von selbst. Rabelais, Pantagruel, Kap. 7, 238. Book 2, Kap. 7, 39. Alle Zitate aus Urquhart sind der folgenden Ausgabe entnommen: Sir Thomas Urquhart, The first [second] book of the works of Mr. Francis Rabelais, Doctor in Physick, containing five books of the lives, heroick deeds, and sayings of Gargantua, and his sonne Pantagruel, London 1653 (British Library, Reel position: Thomason / 183:E.1429[1]). 13 Einen umfassenderen Vergleich liefert R. J. Craik, Sir Thomas Urquhart of Cromarty (1611–1660), Adventurer, Polymath, and Translator of Rabelais, Lewiston / Lampeter 1993, 139. 14 Urquhart, Book 2, Kap. 28, 182. Die Passage bei Rabelais lautet: Panurge donna à manger à Pantagruel quelque diable de drogues composées de lithontripon, nephrocatarticon, coudinac cantharidisé, et aultres especes diuretiques (Pantagruel, Kap. 28, 314). 15 Zitiert in: Craik, Sir Thomas Urquhart of Cromarty, 170. 11 12
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Eine Liste, die sowohl Fischart als auch Urquhart deutlich erweitern, ist die Aufzählung der Spiele, die Rabelais im 22. Gargantua-Kapitel anführt. In den ersten Drucken stellten die Spiele kein eigenes Kapitel und waren auch nicht typographisch abgesetzt; dies wurde erst im Druck von 1542 veranlasst, zusammen mit der Kapitelüberschrift. Rabelais beginnt sie wie folgt: Au flux À la prime À la vole À la pille À la triumphe À la picardie Au cent À l’espinay À la malheureuse Au fourby À passe dix À trente et ung. À paire et sequence À troys cens Au malheureux À la condemnade À la charte virade Au maucontent Au lansquenet Au cocu […]16
Bei Fischart beginnt die Liste mit diesen Spielen: Der Flüssen: Rümpffen: Des Premiere: Trumpffen Den Picarder: Rum und stich. Ticke tack: Auß und ein machen die Schachmatt: Meydlin gern. Lurtsch: Fickmül: Des Schultheissen: Hupff auff, dupff auff, Des Reißers. Wintertrost. Des Legens. Dummel dich gut Birche, Der 31. Plinden mäuß. Marsch Eselin beschlagen17 16 Rabelais, Gargantua, Kap. 22. Siehe auch die Anmerkungen in: Rabelais, Œuvres Complètes, hg. Huchon, 1115–1124. 17 Fischart, Kap. 25, 239 (Seitenangabe). Alle Zitate aus Fischart sind der folgenden Ausgabe entnommen: Johann Fischart, Geschichtklitterung (Gargantua). Text
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Urquhart wiederum lässt seine Listen mit diesen Spielen beginnen: At Flusse. At the prick and spare At Primero. not. At the beast. At the hundred. At the rifle. At the peenie. At trump. At the unfortunate woman. At the fib. At the chesse. At the passe ten. At Reynold the fox. At one and thirtie. At the squares. At post and paire, or At the cowes. even and sequence. At the lottery. At three hundred. At the chance or mumchance.18
Urquhart erweitert Rabelais’ Liste von dort 108 Spielen auf exorbitante 238. Während einige der Spiele offenkundig wörtliche Übersetzungen sind (au flux – Der Flüssen – At Flusse; à la prime – Des Premiere – At Primero), sind andere sprach- bzw. kulturabhängig. Wie Jean-Michel Mehl gezeigt hat, sind die ersten 35 Einträge, zumindest bei Rabelais, Kartenspiele; eine lose Ordnung lässt sich auch für die anderen Spiele ausmachen (Brettspiele, Wortspiele; auch Glücksspiele, Flüche, Ansagen aus Spielen), jedoch scheint es insgesamt keine eindeutigen Ordnungsprinzipien zu geben.19 Aufzählungen wie diese laden geradezu ein, sie zu erweitern und vor dem Hintergrund der eigenen Kulturpraxis anzupassen. An anderen Stellen divergieren die Amplifikationen bei Fischart und Urquhart. Beispielsweise nimmt Fischart eine relativ kurze Enumeration der Artillerie bei Rabelais zum Anlass, eine ausufernde Liste von Geschossen und Waffen anzubringen. Die Episode folgt auf die Auseinandersetzung der Fladenbäcker mit den Hirten, woraufhin König Pikrocholos Krieg erklärt; dazu später mehr. Bei Rabelais findet sich an dieser Stelle die folgende kurze Aufzählung: À l’artillerie fut commis le grand escuyer Toucquedillon, en laquelle feurent contées neuf cens quatorze grosses pieces de bronze, en canons, doubles canons, baselicz, serpentines, couleuvrines, bombardes, faulcons, passevolans, spiroles, et aultres pieces.20 der Ausgabe letzter Hand von 1590, mit einem Glossar hg. Ute Nyssen, 2 Bde., Düsseldorf 1963. 18 Urquhart, Kap. 22, 93–94. 19 Siehe zu Fischarts Spielen Heinrich A. Rausch, Das Spielverzeichnis im 25. Kapitel von Fischarts »Geschichtklitterung« (Gargantua), Diss. Straßburg 1908. 20 Rabelais, Gargantua, Kap. 26. Übers.: »Der Großstallmeister Toucquedillon erhielt den Oberbefehl über die Artillerie; hierzu zählten neunhundertvierzehn gro-
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Urquhart übersetzt die Passage sehr wörtlich und fügt der Liste nichts hinzu. Fischart dagegen demonstriert sein Wissen an Kriegs- bzw. Waffenvokabular. Noch bevor die Artillerie, die bei Rabelais erwähnt wird, genannt ist, lässt Fischart seinen König Picrocholi Vorkehrungen treffen: und zwischen der weil dz man den Imbiß zubereitet, dz Feld geschütz uff der Achß herfür zihen, seinen Haubt und Blutfanen und Oriflant fliegen, dz Zeughauß, wie dz Römisch Capitoli zum unfriden auffthun, Harnisch, Halßkrägen, Ringkrägen, Kraut und Lot, Schröt, Zündstrick, Pulverfleschen, Faustkolben, kurzt und lang wehren, Schlachtschwerter, Partesanen, Schürtzer, Lemeisen, Handrohr, Handgeschütz, Hacken, Büchssen, Toppelhacken auff Böcken, Zielrohr, Schlencken, Werffzeug, Hagelgeschütz, Ladstecken, Stürmkrug außtheilen […]21
Es folgt eine Liste von Ämtern, ebenfalls ohne Vorlage bei Rabelais, die im Krieg eingesetzt werden. Daran schließt sich die sehr freie Übersetzung der Rabelais-Passage an, von der ich hier nur den Anfang zitiere: Zur Artilleri ward bestallt der groß Schilttrager Truckedillon, darunter neun hundert vierzehen grosse Feldstuck unnd Maurbrecher waren, Scharffmetzen, Basiliscen, Nachtgallen, Singerin, Virteilbüchs, Passevolanten, Spirolen, Cartaunen, Notschlangen, Schlauckenschlangen, halb Schlangen, Falckenetlin, on die Mörthier, Böler, Narren, Orgeln, Nachbüchssen, das Geschreigeschütz, Kammerbüchssen, Scharffentinlin, die zwölff Botten. Welche samptlich mit aller darzu gehöriger Munitionzeug wol versehen waren, als mit Zünd und Werckpulver, Ansetzkolben, Zündruten, Raumern, Wischern, Ladschauffeln, Feurkulgen, Bechringen, […]22
Tobias Bulang hat als Quelle u. a. Leonhard Fronspergers Von Geschützt und Kriegsrüstung, das vierte Buch seines Kriegsbuchs von 1565, identifiziert und konstatiert: »Das Inventar tendiert bei Fischart zum Selbstzweck einer umfassenden Präsentation deutscher Namen für Kriegsgerät«.23 Jenseits dieses zweifelsohne wichtigen identitätsstiftenden poetologischen Anspruchs (der Reichtum der deutschen Sprache, Fischarts Kenntnis des Vokabulars) wirft die Passage – ebenso wie die anderen ausufernden Listen – die Frage nach den Grenzen des Erzählbaren auf. Auf diesen, wie mir scheint, zentralen Punkt werde ich später zurückkommen. ße bronzene Geschütze, Kanonen und Doppelkanonen, Basilisken, Serpentinen, Culverinen, Bombarden, Falkaunen, Passevolanten, Spirolen und andere mehr.« 21 Fischart, Kap. 29, 293–294. 22 Fischart, Kap. 29, 294–295. 23 Tobias Bulang, Enzyklopädische Dichtungen. Fallstudien zu Wissen und Literatur in Spätmittelalter und früher Neuzeit, Berlin 2011, 350. Siehe auch ders., »Zur poetischen Funktionalisierung hermetischen Wissens in Fischarts Geschichtklitterung«, in: Beate Kellner, Jan-Dirk Müller und Peter Strohschneider (Hgg.), Erzählen und Episteme. Literatur im 16. Jahrhundert, Berlin 2011, 41–68.
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Ein weiteres Kapitel, das Fischart erweitert, betrifft die Haushaltung und Bevorratung von Grandgousier. Diese haben keine Vorlage in Rabelais, der nur kurz Grandgousiers Vorliebe für Schinken und Würsten erwähnt: Grandgousier estoit bon raillard en son temps, aymant à boyre net autant que homme qui pour lors fust au monde, et mangeoit voluntiers salé. À ceste fin avoit ordinairement bonne munition de jambons de Magence et de Baionne, force langues de beuf fumées, abondance de andouilles en la saison et beuf sallé à la moustarde. Renfort de boutargues, provision de saulcisses, non de Bouloigne (car il craignoit ly boucon de Lombard) mais de Bigorre, de Lonquaulnay, de la Brene, et de Rouargue.24
Fischart zählt ein wahres Schlaraffenland an Speisen auf, die Grandgousier hortet, von Gebratenem über Fleischspeisen bis hin zu Weinvorräten. Neu hinzu kommt dabei die Liste der Käsesorten: Folgends hett er ein Schlachtordnung von weissen, plauen, gelben, grünen, aussetzigen, Zöhstinckenden, faulen, mürben, würmwüblenden und fallensichtigen Käsen, von Küen, Zigen, Geysen, Schafen, Reinigern, ja auch Eseln, Aber nicht von Bauren noch Beurinen: Dann er wußt, das Caseus und coepe, die kommen ad prandia soepe: Unnd Caseus und Panis, sind köstliche Fercula Sanis. Stunden derwegen da vielkrautige, Kütreckige, Graßgrüne Schabziger, sampt den Holeisen und hobeln auß Schweitzerland […] Parmasaner auß Walen […] Schwartzwälder auß Chaldea, Mönsterkäß auß dem Weinsas, Ziger von Glaris, Kreutzkäß von Werd […]25
Auch hier sind die Quellen, derer sich Fischart für die Namen der diversen Spezialitäten bedient hat, bekannt, darunter, wie Bulang gezeigt hat, Hieronymus Bocks Teütsche Speiszkammer (1555).26 Urquhart bleibt in seiner Übersetzung nah an Rabelais und erweitert dessen Enumerationen nicht signifikant. Ein ähnlicher Fall ist das Gargantua-Kapitel 24: Bei Urquhart liegt eine quellennahe Übersetzung vor, bei Fischart eine enzyklopädische Erweiterung. Das Kapitel beschreibt, wie Gargantua im Zuge seiner Ausbildung an Regentagen spazieren geht und allerlei Handwerks24 Rabelais, Gargantua, Kap. 3. Übers.: »Grandgousier war zu seiner Zeit ein kreuzfideler Bursche, der für sein Leben gern zechte und mit Vorliebe Gesalzenes aß. Deshalb verfügte er gewöhnlich über einen ordentlichen Vorrat an Mainzer und Bayonner Schinken, über eine Menge an geräucherten Ochsenzungen und, wenn es die Jahreszeit hierfür war, über Kaldaunenwürste, gepökeltes Ochsenfleisch mit Senf, Kaviar von Seebarben, über einen Vorrat an Bratwürsten, nicht etwa aus Bologna, denn er fürchtete die lombardischen Giftbrocken, sondern aus der Bigorre, aus Longaulnay, aus der Brenne und aus der Rouergue.« 25 Die Liste setzt sich fort; siehe Fischart, Kap. 4, 76–77. 26 Bulang, Enzyklopädische Dichtungen, 349.
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betriebe besucht (Münzpräger, Juweliere, Alchimisten etc.). Fischart potenziert die einzelnen Handwerksberufe, reichert sie mit Sprichwörtern an sowie mit den Aktionen der Handwerker (als Verblisten), die Gargantua dann mit ihnen durchführt.27 Urquhart wiederum erweitert ein Kapitel später (Kap. 25) eine Liste, die weder bei Rabelais noch bei Fischart solche Ausmaße erreicht. Im Zuge der Auseinandersetzung zwischen den Hirten und den Fladenbäckern aus Lerné beleidigen letztere die Hirten. Bei Rabelais finden sich 24 Beleidigungen, bei Urquhart dagegen 41.28 Auch die Verteidigung des Klosters in Kapitel 27 wird, in den Worten von Bernhard Jansen, in ihrem Detailreichtum zu einem wahren »Schlachtengemälde«.29 Gargantuas Glied hat bei Urquhart statt der dreizehn Synonyme, die Rabelais anführt, 38, und in der Bibliothek von St. Viktor sind ebenfalls neue Werke hinzugekommen.30 Als ein letztes Beispiel sei die Inschrift der Abtei von Thélème angeführt.31 Die sich über dem Eingangstor befindende Inschrift wendet sich an mögliche Gäste der Abtei, die explizit nicht willkommen sind, darunter Hypokriten, Schleimer, Parasiten, solche, die Zwietracht stiften, Rechtsverdreher, Pfennigfuchser und Halunken. Im zweiten Teil werden diejenigen angesprochen, die willkommen sind: edle Ritter mit großem Vermögen, Verteidiger des Wahren Glaubens und schöne Damen. Fischarts Übertragung der Passage ist recht wörtlich; zwar verändert er kreativ zahlreiche der beleidigenden und perjorativen Bezeichnungen (z. B. Arsfeigwartzius, Der Ablas grosse Ballenbinderhudler, Gottsraubschmucker); die Änderungen sind jedoch linguistisch und nicht additiv oder prolongierend.32 Urquhart geht freier mit seiner Vorlage um und entscheidet sich dafür, die Syntax zu verändern, indem er mehrfach die erklärenden Nebensätze Rabelais’ durch weitere Aufzählungen ersetzt, sowohl durch Nomina als auch Adjektive: Siehe Fischart, Kap. 27, 270–283. Eine weitere Liste, die bei Fischart viel länger als bei Rabelais ist: die Farb- und Kleidersymbolik Gargantuas (Rabelais, Kap. 9; Fischart, Kap. 12). Extensive Listen, die Rabelais übertrumpfen, finden sich bei Urquhart in Kap. 6, 13, 22, 25, 27 und 54 (Gargantua). Bemerkenswert ist auch die Aufzählung der Tierlaute aus Tiers Livre, Kap. 13. Rabelais’ kurze, neun Einträge umfassende Liste erweitert Urquhart zu über 70 Einträgen. 29 Bernhard Jansen, ›The English Rabelais.‹ Untersuchungen zu Sir Thomas Urquharts Übersetzung des Gargantua aus dem Jahr 1653, Diss. Aachen 1989, 255. 30 Siehe Rabelais, Kap. 11, und Urquhart, Buch 2, Kap. 7. 31 Rabelais, Kap. 54. 32 Fischart, Kap. 55. 27 28
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Here enter not, fond makers of demurres, In love-adventures, peevish, jealous curres, Sad pensive dotards, raisers of garboyles, Hags, goblins, guhosts, firebrands of houshold broyls. Nor drunkards, liars, cowards, cheaters, clowns, Theeves, cannibals, faces o’recast with frowns. Nor lazie slugs, envious, covetous: Nor blockish, cruel, nor too credulous. Here mangie, pockie folks shall have no place, No ugly lusks, nor persons of disgrace. […] Here enter you all Ladies of high birth, Delicious, stately, charming, full of mirth, Ingenious, lovely, miniard, proper, faire, Magnetiek, graceful, splendid, pleasant, rare, Obliging, sprightly, vertuous, young, solacious, Kinde, neat, quick, feat, bright, compt, ripe, choise, dear, precious, Alluring, courtly, comely, fine, compleat, Wise, personable, ravishing and sweet. Come joyes enjoy, the Lord celestial Hath giv’n enough, wherewith to please us all.33
Gerade in den Listen und Aufzählungen manifestieren sich also die Sprachgewalt und das dichterische Können der beiden Rabelais-Übersetzer. Zugleich wird deutlich, dass die Listen gleichsam als poetologische Kristallisationspunkte des Rabelais’schen Werkes fungieren, deren Transfer ins Deutsche und Englische ebenso poetologisch relevant wird. Warum üben die Enumerationen einen solchen Reiz aus, dass sie extensiviert und prolongiert werden? Dieser kopiöse Impetus ist zum einen der humanistischen Manier geschuldet, sich poetologisch zu übertrumpfen; literarisches Schaffen ist kompetitiv und ludisch – man denke etwa an Thomas Morus und Erasmus von Rotterdam. Der Eindruck des Enzyklopädischen wird potenziert, zugleich aber auch die ohnehin schon zögerlich und stakkatohaft voranschreitende Handlung weiter geschwächt. Dies mag ein unbewusster und sekundärer Effekt der sprachlichen Übertrumpfung sein, scheint mir jedoch zentral und in der bisherigen Forschung wenig untersucht: Durch die sprachliche Fülle bei Fischart und Urquhart treten das Erzählen und die Handlung soweit in den Hintergrund, dass sie kaum noch eine Rolle spielen. In den Übersetzungen ist die bei Rabelais durchaus signifikante Handlung weiter marginalisiert, so dass die Werke einen, wie ich meine, eigenständigen Status als nicht primär erzählende Texte
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Urquhart, Kap. 54, 238 und 239 / 246 [sic.].
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erlangen. Sie sind Anti-Erzählungen, die das Enzyklopädische und die Sprachspielerei zum Primat des Textes erheben.
IV. Zwischenspiel: The Complaynt of Scotland und The Monologue Recreative (1549 / 50) Dass Rabelais schon lange vor Urquharts Übersetzung in England und Schottland rezipiert wurde, haben wir bereits gesehen. Einen wenig bekannten Text, der zwar nicht direkt Bezug nimmt auf Rabelais, aber in seiner Tradition steht und auffällige Parallelen zur Rabelais’schen Proliferation aufweist, möchte ich nun kurz vorstellen – zumal sich auch Fischart als intertextuelle Folie anbietet. Das Werk mit dem Titel The Complaynt of Scotland wurde 1549 / 50 verfasst; die Identität des Autors ist unbekannt. Die Titelseite ist nicht erhalten und auch innerhalb des Werks gibt der Autor seine Identität nicht preis. Gedruckt wurde das Complaynt ca. 1550 in Paris; überliefert sind nach heutigem Stand zwei Kopien in der National Library of Scotland in Edinburgh und zwei weitere in der British Library.34 Einen Anspruch, den das Complaynt mit Fischarts und Urquharts Übersetzungen teilt, ist die Erprobung der Volkssprache; in der Vorrede an den Leser expliziert der Verfasser diese Intention: i hef vsit domestic scottis langage, maist intelligibil for the vlgare pepil.35 Der Hauptteil des Complaynt ist eine politische Invektive gegen den Status quo in Schottland, der uns hier nicht weiter interessieren soll. Die Gesellschaftskritik wird durch einen Einschub des Erzählers in zwei Hälften geteilt. Dieser Einschub, der den Titel Monologue recreative trägt – ein
34 Das Werk wurde dem Autor und Politiker Robert Wedderburn (ca. 1510 – ca. 1552), zugeschrieben, jedoch ist diese Zuschreibung fraglich. Der Herausgeber des Textes argumentiert, dass die fehlenden Hinweise auf den Autor innerhalb des Werks sowie der finale Satz, ein Zitat Ciceros aus De finibus, stark darauf hindeuten, dass der Autor die anonyme Herausgabe seines Werks ausdrücklich gewünscht habe: nihil est turpius, quam sapientis vitam, ex insipientium sermone pendere; siehe A. M. Stewart (Hg.), The Complaynt of Scotland, c. 1550 (Scottish Text Society 4th ser. 11), Edinburgh 1979. Etwa fünfzehn Seiten des Werks sind eine direkte Übersetzung von Alain Chartiers Le Quadrilogue invectif (1422); zudem sind einige Passagen an Chartiers Le Traité de l’Esperance (1428; unvollendet) angelehnt. Siehe Margaret S. Blayney und Glenn H. Blayney, »Alain Chartier and The Complaynt of Scotlande«, The Review of English Studies 9.33 (1958), 8–17. Die zahlreichen weiteren Anspielungen und Entlehnungen sind u. a. Plinius’ Naturgeschichte, Cicero sowie Aristoteles’ Politeia. 35 Fol. 14r. Alle Zitate aus dem Complaynt sind der Ausgabe von Stewart, The Complaynt of Scotland, entnommen.
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Monolog zur Erholung –, wendet sich gänzlich von der politischen Agenda ab und liefert ein Feuerwerk an lose miteinander verbundenen Aufzählungen. Die Überleitung zu dem Exkurs evoziert bewusst die Tradition der dream visions (Traumvisionen): Der Erzähler beschreibt, wie er sich in eine pastorale Landschaft zurückzieht, die einem locus amoenus nachempfunden ist (Felder und Wiesen mit duftenden Blumen, ein klarer Bach, ein Wald mit Vögeln).36 Die Anspielung ist wohl kaum zufällig: Zentrale dream visions der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Literatur sind ebenfalls der Form der Katalogisierung verpflichtet, wie z. B. der Roman de la Rose; Geoffrey Chaucers dream visions (The Parliament of Fowls; The House of Fame; The Book of the Duchess) oder im Mittelschottischen The Kingis Quair (James I zugeschrieben; ca. 1424); sowie Gavin Douglas’ Palis of Honour (ca. 1500), William Dunbars The Goldyn Targe (ca. 1500) und David Lyndsays The Dreme (ca. 1526). Besagter Monolog enthält die folgenden fünfzehn Listen, die zugleich die Handlung strukturieren: (1) Tiere und Tiergeräusche; (2) Kommandos von Matrosen auf einer Kriegsgaleere; (3) Kriegsvorbereitungen: Schussund Kanonenarten; (4) Frühstück der Hirten (Milchprodukte); (5) Hirten und ihre Wertschätzung in der Geschichte durch berühmte Persönlichkeiten; (6) Kosmologie: die Sphären und ihre Bewegung (Rede des Hirten); (7) Die Sterne und Sternbahnen, inkl. der Tierkreiszeichen; (8) Die sieben Planeten; (9) Die acht Winde; (10) Geschichten und Erzählungen; (11) Lieder; (12) Acht musizierende Hirten; (13) Ex negativo: kein Sänger sang so schön wie die Hirten; (14) Tänze; (15) Heilkräuter. So divers wie die Inhalte der Listen ist auch ihre formale Gestaltung: Die fünfzehn Listen weisen individuelle Reihungsprinzipien auf, die zusätzlich für variatio und Abwechslung sorgen. Die Elemente der ersten Liste, Tiere und ihre Laute, sind in aufsteigender und unmittelbar aufeinander bezogener Folge gereiht: 36 Die Einleitung lautet wie folgt: i thocht it necessair, til excerse me vitht sum actyue recreatione, to hald my spretis valkand fra dulnes. than to exsecute this purpose, i past to the greene hoilsum feildis, situat maist comodiusly, fra distemprit ayr ande corruppit infectione, to resaue the sueit fragrant smel, of tendir gyrssis, ande of hoilsum balmy flouris maist odore-ferant. besyde the fut of ane litil montane, there ran ane fresche reueir as cleir as berial quhar i beheld the pretty fische vantounly stertland vitht there rede vermeil fynnis, ande there skalis lyik the brycht siluyr. on the tothir syde of that reueir there vas ane grene banc ful of rammel grene treis, quhar there vas mony smal birdis hoppand fra busk to tuist […] (Chap. VI, fol. 29v–30r). Siehe auch Luuk Houwen, »Cacophonous Catalogues: The Complaynt of Scotland and the ›Monologue Recreative‹ «, Journal of the Northern Renaissance 4 (2012), online: http: / / www.northernrenaissance.org / cacophonous-catalogues-the-complaynt-ofscotland-and-the-monologue-recreative / (letzter Zugriff: 10. Sept. 2016).
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baytht horse & meyris did fast nee, & the folis nechyr, the bullis began to bullir quhen the scheip began to blait, be cause the calfis began tyl mo, quhen the doggis berkit. than the suyne began to quhryne quhen thai herd the asse tair, quhilk gart the hennis kekkyl quhen the cokis creu, the chekyns began to peu, quhen the gled quhissillit the fox follouit the fed geise & gart them cry claik.37
Diese »als–dann«-Struktur suggeriert eine überwältigende Dynamik, die durch den Fokus auf die Laute ein kakophones (Tier-)Stimmengewirr erzeugt.38 Die Struktur der gesamten Passage wird nur minimal variiert (quhen–than wird z. B. ersetzt durch einen Hauptsatz in Verbindung mit einem mit as eingeleiteten Nebensatz). Die alliterierenden und lautmalerischen Wortfolgen erhöhen zusätzlich den akustischen Effekt dieser Liste. Die zweite Liste ist ebenfalls in einem solch hohen Maße von Lautmalerei und Alliteration gekennzeichnet, dass sie in ihrer Gänze sowohl exzessiv als auch sinnwidrig erscheint. Der Erzähler beobachtet aus der Ferne eine Galeere am Ufer des Meeres, die sich für einen Einsatz rüstet. Er hört die Matrosen zwar sprechen bzw. schreien, kann aber ihre Worte nicht verstehen: i herd mony vordis amang the marynalis bot i vist nocht quhat thai menit. it i sal reherse and report ther crying and ther cals.39 Das Ergebnis sind Reihungen wie die folgenden: caupon caupona, caupon caupona. caupun hola, caupun hola caupon holt, caupon holt. sarrabossa, sarrabossa. than thai maid fast the schank of the ankyr. […] hou, hou. pulpela, pulpela. boulena, boulena. darta, darta. hard out steif, hard out steif. afoir the vynd, afoir the vynd, god send, god send. fayr vedthir, fayr vedthir. mony pricis, mony pricis. god foir lend. stou, stou. mak fast & belay.40
Oftmals wird der anscheinend gleiche Ausdruck mehrfach entweder in identischer Weise oder in leichter Variation wiederholt, zumeist zweifach, manchmal auch dreifach. Die einzelnen Rufe oder Kommandos sind kurzsilbig und erwecken äußerst effektiv den Anschein von Zurufen unter Matrosen. Innerhalb der Passage über das Schiff ist sogar eine weitere Liste eingefügt, gleichsam eine Liste-in-der-Liste, welche die Vorbereitungen der Kanonen und anderer Waffen für den Kampf beschreibt.41 Die Fols. 31r–31v. Siehe auch Houwen, »Cacophonous Catalogues«. 39 Fol. 32r. 40 Fol. 32v. 41 Siehe fol. 33v: mak reddy our cannons, culuerene moyens, culuerene bastardis, falcons, saikyrs, half saikyrs, and half falcons, slangis, & half slangis, quartar slangis, hede stikkis, murdresaris, pasuolans, bersis, doggis, doubil bersis, hagbutis of croche, half haggis, culuerenis ande hail schot. ande e soldartis & conpangons of veyr, mak reddy our corsbollis, hand bollis, fyir speyris, hail schot, lancis, pikkis, halbardis, ron37 38
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Lautmalerei erreicht einen Höhepunkt in der Beschreibung der Kanonen, die abgefeuert werden: than quhar i sat i hard the cannons and gunnis mak mony hiddeus crak duf, duf, duf, duf, duf, duf, the barsis and falcons cryit tirduf, tirduf, tirduf, tirduf, tirduf, tirduf, than the smal artaile cryit, tik tak tik tak tik tak tik tak.42 Weil ihm die Rauchentwicklung die Sicht raubt, zieht sich der Erzähler schließlich wieder ins Landesinnere zurück. Dort stößt er auf eine Gruppe Hirten, die gerade ihr Frühstück zu sich nehmen. Es folgt eine Aufzählung der Milchprodukte, welche die Diversität der Milchverarbeitung und zugleich die Einfachheit der Mahlzeit demonstriert: […] quhar thai maid grit cheir of euyrie sort of mylk baytht of ky mylk & oue mylk, sueit mylk and sour mylk curdis and quhaye, sourkittis, fresche buttir ande salt buttir, reyme, flot quhaye, grene cheis kyrn mylk […]43 Hier ist das Prinzip der Liste ebenfalls eine parataktische Reihung, die – im Gegensatz zu den Aufzählungen auf dem Schiff – den Konnektor ›und‹ favorisiert. Zum Ende der relativ kurzen Liste scheint dieses Prinzip jedoch aufgehoben zu sein; die letzten Elemente sind unmittelbar aneinander gereiht. Die Rede des Ich-Erzählers, der auf seiner Suche nach Ruhe und Erholung zunächst den Tieren, dann den Matrosen auf dem Schiff und schließlich den Hirten begegnet, wird nun abgelöst durch die eines der Hirten, der in seinem langen Exkurs zunächst über die Bedeutung des Landlebens spricht, dann – in enzyklopädischer bzw. naturphilosophischer Manier – den Kosmos (die Sterne, Planeten und ihre Bahnen; Einfluss auf das Wetter usw.) beschreibt und erklärt. Dessen erste Liste über berühmte Hirten (König David, Apollo) bzw. ihrer Wertschätzung durch historische Berühmtheiten der römischen Geschichte und Mythologie (Cato, Romulus, Numa Pompilius, Paris, Hannibal u. a.) liefert stets eine kurze Referenz zu der jeweiligen Persönlichkeit und ihrem spezifischen Beitrag, so dass die Struktur insgesamt episodisch ist und an einen epischen Katalog erinnert: Siklyik kyng dauid hed mair affectione to play on his harpe amang his flokkis of scheip, nor he hed to be gouuernour of the pepil of Israel. ande appollo that the poietis callis the god of sapiens he vas scheiphird to keip kyng admetus scheip […] Siklyik romulus the fyrst kyng of rome set his hail felicite on the dellis, tua handit sourdis and tairgis. Abhängig von dem einleitenden Befehl mak reddy sind nur durch Kommata abgetrennte Substantive (z. T. mit Genetiv-Erweiterung), so dass zwei elaborierte Parataxen die syntaktische Grundlage für die gesamte Liste darstellen. 42 Fol. 34r. Houwen, »Cacophonous Catalogues«, verweist auf David Lyndsays Dreme; das Werk endet damit, dass der Träumer erwacht, als in der Nähe ein Schiff seine Kanonen abfeuert und die Matrosen schreien. 43 Fol. 34v.
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manuring of the feildis. […] Siklyik numa pompilius that deuot kyng of rome statut that the senaturis of rome suld keip there scheip, as is rehersit in ane verse that i hef red of ane senatur pascebatque suas ipse senator oues. Siklyik paris the thrid soune of kyng Priam of troy vas ane scheiphird and kepit bestialite on montht ydea.44
Hier sind die einzelnen Episoden, auf die jeweils nur kurz angespielt wird, durch syklyik (similarly; the same way = ›ebenso, außerdem, auf dieselbe Weise‹) miteinander verbunden. In der Massierung der Beispiele entsteht der Eindruck, dass in der Antike den Hirten in der Tat eine große Bedeutung beigemessen wurde. Durch den stetigen Bezug zu Herrschaft und Macht ist sogar implizit, dass Hirten nicht nur großes Ansehen besitzen, sondern dass ihnen auch eine Vormachtstellung zukommt. Ganz ähnlich gereiht sind die nächsten beiden Listen aus dem Themenfeld Kosmologie. Die Beschreibung der Sphären und ihrer Bewegung, der Sterne sowie der sieben Planeten sind explikativ in ihrer Funktion: in the fyrst, the regione elementair is inclosit vitht in the spere of the mune and nyxt it is the spere of mercurius, and syne the spere of venus and nyxt it is the spere of the sone, and abufe and about it is the spere of mars. and syne the spere of Iupiter and than the spere of Saturnus.45
Bei dem gesamten Exkurs in die Kosmologie, insbesondere aber in der Aufzählung der Winde, evoziert das Complaynt of Scotland enzyklopädische Traditionen (Plinius, Isidor). Paradoxerweise wird die scheinbar am wenigsten gelehrte und am weitesten von den Wissenstraditionen entfernte Figur des Werks, der namenlose Hirte, zum mächtigsten Sprachrohr der Gelehrsamkeit. Seine Listen erheben Anspruch auf Vollständigkeit und wissenschaftliche Genauigkeit, zwei Parameter, die nicht auf die Aufzählungen des Ich-Erzählers zutreffen. Diese sind experimenteller, zum Teil – wie bei den Matrosen-Zurufen – sogar explizit ungenau, und beanspruchen in der Regel nicht, das jeweilige Thema erschöpfend oder systematisch zu erfassen. Im Gegenteil, auch bei den letzten sechs Listen des Exkurses aus dem Munde des Ich-Erzählers sind die Gestaltungsprinzipien lose und der individuellen Wahrnehmung und Erinnerung des Erzählers untergeordnet. Der Erzähler berichtet, dass sich die Frau des Hirten über dessen tideus melancolic orison beschwert und zur Entspannung das Erzählen von Geschichten vorschlägt.46 Es folgt eine ungeordnete Aufzählung von beinahe Fols. 35r–36r. Fols. 38r–38v. 46 Fol. 50r. 44 45
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fünfzig Geschichten, die sowohl die Mythen der Antike umfassen (Herkules, Orpheus, Daedalus, Pyramus und Thisbe) als auch mittelalterliche Romane, Ereignisse aus der Artus-Sage, die Canterbury Tales und die Legende von Robin Hood.47 Ebenso ungeordnet und ohne Anspruch auf Vollständigkeit ist die Liste der Lieder, welche die Hirten im Anschluss anstimmen: Nou i vil reherse sum of the sueit sangis that i herd amang them as eftir follouis, in the fyrst, pastance vitht gude companye, the breir byndis me soir, Stil vndir the leyuis grene, Cou thou me the raschis grene, allace i vyit our tua fayr ene, gode ou gude day vil boy, lady help our presoneir, kyng villamis note, the lang nounenou, the cheapel valk, faytht is there none, skald abellis nou. The abirdenis nou brume brume on hil, allone i veip in grit distress, trolee lolee lemmen dou, bille vil thou cum by a lute and belt the in Sanct Francis cord, The frog cam to the myl dur, the sang of gilquhiskar, rycht soirly musing in my mynde, god sen the duc hed byddin in France and delaubaute hed neuyr cum hame, al musing of
meruellis amys hef i gone, Mastres fayr e vil forfayr, o lusty maye vitht flora quene. O myne hart hay this is my sang, the battel of the hayrlau, the hunttis of cheuet, Sal i go vitht ou to rumbelo fayr, Greuit is my sorrou, turne the sueit ville to me, My lufe is lyand seik send hym ioy, send hym ioy, fayr luf lent thou me thy mantil ioy, The perssee & the mongumrye met that day that day that gentil day, my luf is laid apon ane knycht, allace that samyn sueit face, in ane myrthtful morou, my hart is leiuit on the land […]48
Die letzte Liste des Monologs schließlich, die der Heilkräuter und ihrer Wirkungen, ist ein weiteres Mal explizit der individuellen Wahrnehmung des Erzählers unterworfen. Als er sich von den Hirten entfernt und über eine Wiese geht, nimmt er die verschiedenen Kräuter wahr, die er in der Folge nennt. Daher ist die parallele Struktur in dieser Passage die anaphorische Phrase I sau, an die sich jeweils die Pflanze und die Erläuterung ihrer Heilkraft anschließt: i sau mony giene seggis that ar gude to prouoke the flouris of vemen. i sau the vattir lille quhilk is ane remeid contrar gomoria, i sau tansay that is gude to purge the neiris and ennet seidis that consumis the ventositeis of the stomac, i sau muguart that is gude for the suffocatione of ane vomans bayrnis hed, i sau veyton, the decoctione of it is remeid for ane sair hede, i sau betis that is gude contrar constipatione, i sau borage that is gude to confort the hart, i sau cammauyne quhilk is gude for ane scabbit moutht, i sau hemp that coagulis the flux of the sparme, i sau madyn hayr of the quhilk ane sirop maid of it is remeid contrar the infectione of the melt, i sau celidone that is gude to help the sycht of the ene […] (fol. 53v)
47 48
Fols. 50v–51r. Fols. 51v–52r.
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Keine der Listen im Complaynt of Scotland erfüllt eine unmittelbar praktische Funktion für eine Figur innerhalb der Erzählung. Sie sind jedoch im metaphorischen Sinne ›praktisch‹ für den Erzähler, der sich als inhaltlich und formal anspruchsvoller Autor, der auf den verschiedensten Wissensgebieten bewandert ist, stilisiert. Dass die Wissensgebiete sowohl die Studienfächer Medizin und Astronomie als auch profane und populäre Bereiche (Geschichten, Tänze) umfassen, lässt sich mit der politischen Aussage des gesamten Werkes verbinden: Ein zentraler Aspekt des Complaynt ist die Kritik an dem strikten Ständesystem des zeitgenössischen Schottlands, das überwunden werden muss, um gesellschaftliche Probleme wie Armut oder die wachsende Macht und damit Willkür und Gier des Adels dauerhaft zu vermeiden. In der Begegnung mit den maßvoll, im Einklang mit der Natur lebenden Hirten zeigt der Erzähler, dass eine größere Durchlässigkeit der Stände keineswegs unmöglich ist. Wissen ist ebenso wie die Gesellschaft ein vielschichtiges Phänomen, das auf verschiedenen Ebenen, anspruchsvollen und weniger anspruchsvollen, angesiedelt ist und daher zumindest in der Theorie niemandem verschlossen bleiben muss. Darüber hinaus zeugt der Monolog von der monistischen Weltanschauung des Autors, in der alles mit allem verbunden und sinnlich, d. h. materiell, erfahrbar ist. Geräusche, Töne und Musik (Tierstimmen, Kommandos / menschliche Sprache, Lieder) spielen eine ebenso wichtige Rolle wie das geschmacklich und haptisch Erfahrbare (Frühstück, Tänze, Musizieren, Heilkräuter) und das Visuelle (die gesamte Episode basiert auf der Beschreibung des Erzählers, der die Ereignisse nicht nur hört, sondern auch sieht). Diese sinnlich ganzheitliche Erfahrung spiegelt die Verbundenheit des politischen Gemeinwesens wider, die der Erzähler als Vision für Schottland formuliert. Die Klangeffekte sind besonders markant: Die Listen des Complaynt spielen mit Assonanzen, Reim und Alliterationen und rhythmisieren so den Textfluss.49 Der kurze Überblick über die Listen im Complaynt of Scotland sollte bereits deutlich gemacht haben, dass sich zahlreiche Anknüpfungspunkte an Rabelais, aber auch bei Fischart finden lassen. Die Liste der Milchprodukte erinnert an Fischarts Liste der Vorräte von Grandgousier (eine solche Aufzählung findet sich bei Rabelais nicht) und die Liste der Lieder evoziert Fischarts »Der Trunkenen Litanei« bzw. Rabelais’ und Urquharts sprichwortreiche Auflistung von Trinksprüchen. Ein weiteres bemerkenswertes Kapitel in diesem Kontext ist das 24., in dem beschrieben wird, wie
49
Siehe dazu Houwen, »Cacophonous Catalogues«.
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Gargantua im Zuge seiner Ausbildung Regentage verbringt und dabei allerlei Handwerkskünste kennenlernt und, in einer zweiten Episode, wie Ponokrates seinem Schützling einmal pro Monat einen Tag der Entspannung gönnt, den die beiden auf dem Land verbringen: Raillans : gaudissans : beuvans d’aultant : jouans : chantans : dansans : se voytrans : en quelque beau pré : deniceans des passeraulx, prenans des cailles : peschans aux grenoilles : et escrevisses. Mais encores que icelle journée feust passée sans livres et lectures : poinct elle n’estoit passée sans proffit. Car en beau pré ilz recoloient par cueur quelques plaisans vers : de l’agriculture de Virgile : de Hesiode : du Rusticque de Politian : descripvoient quelques plaisans epigrammes en latin : puis les mettoient par rondeaux et ballades en langue Françoyse.50
Hier spielen Hirten eine zentrale Rolle – zunächst als Vertreter eines pastoralen, mußebezogenen Lebens, gleich der Ruhe und Entspannung, die der Erzähler im Complaynt sucht. Daran anschließend folgt allerdings ein Kapitel, in dem Hirten eine deutlich negativere Rolle spielen. Als die Hirten, die zur Weinlese als Bewacher der Reben eingesetzt sind, von vorbeiziehenden Fladenbäckern aus Lerné Brot kaufen wollen, kommt es zum Konflikt und zu einer handfesten Schlägerei (Kap. 25). Kriegsähnliche Zustände brechen aus, denn die geschundenen Fladenbäcker klagen bei ihrem König Pikrocholos an und sinnen auf Rache; Pikrocholos verliert keine Zeit, lässt Waffen herbeitragen und zieht in den Krieg, eine Spur der Verwüstung auf dem Land hinterlassend. In diesem Kontext gibt es auch eine kürzere Liste von Tieren bzw. Vieh, das die Soldaten plündern.51 Ob der anonyme Verfasser des Complaynt nun Rabelais rezipiert hat oder nicht, er partizipiert in jedem Fall in demselben Diskurs der Enumeration und des enzyklopädischen Anspruchs. Dies mag uns daran erinnern, dass Rabelais, bei all seiner Bedeutsamkeit für das sechzehnte Jahrhundert, auch bzw. auch nur ein Kind seiner Zeit ist.52 Zugleich verschiebt der schottische Text die Perspektive hinsichtlich der narrativen Funktionen der Auflistungen. Als Teil des Monologue Recreative sind sie dem poli50 Rabelais, Gargantua, Kap. 24. Übers.: »[…] sie nahmen sich gegenseitig auf den Arm, lachten sich schief, tranken auf Teufel komm raus, spielten, sangen, tanzten, wälzten sich auf irgendeiner schöner Wiese, hoben Spatzennester aus, jagten Wachteln und fingen Fische und Krebse. Obwohl nun ein solcher Tag ohne Bücher und ohne Lektüre verging, so war er doch nicht ohne Nutzen, denn auf einer schönen Wiese sagten sie auswendig einige nette Verse aus Vergils Georgica auf, aus Hesiod, aus dem Rusticus von Poliziano, sie ließen sich selber einige lustige Epigramme in lateinischer Sprache einfallen, die sie dann in französischer Sprache in Ringelgedichten und Balladen wiedergaben.« 51 Rabelais, Gargantua, Kap. 26. 52 Siehe auch Prescott, Imagining Rabelais, 56–57.
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tisch-argumentativen Hauptteil zur Seite gestellt, aber nicht Teil einer Handlung; erst im Monolog wird überhaupt im engeren Sinne erzählt – die Erlebnisse des Autor-Erzählers bei den Hirten –, wobei zugleich die Listen den erzählerischen Impuls konterkarieren. Überdies gewinnt die akustische Dimension an Schärfe, die sich, wenn auch weniger massiv, für Rabelais, Fischart und Urquhart konstatieren lässt. Listen sind über ihre Textualität hinaus auch auditiv signifikant. Entspannung entsteht durch das Anhalten des Erzählflusses, seine Öffnung hin zu Klängen und Bedeutungssammlungen; durch die Anschauung bzw. Anhörung in der Akkumulation. Statt der Sequenzialität der Handlung wird ein Erzähl-Raum eröffnet, der nicht temporal fassbar ist, jedenfalls nicht auf der Ebene der Erzählung. Dies bringt mich zu meinem letzten Punkt: einigen abschließenden Betrachtungen zum enzyklopädischen Erzählen als Anti-Erzählen. V. Enzyklopädisches Erzählen als Anti-Erzählen In Aristoteles’ Poetik wird die ideale Handlung als eine beschrieben, die weder zu groß noch zu klein ist, sondern sich gut ins Gedächtnis rufen lässt: Ferner ist das Schöne bei einem Lebewesen und bei jedem Gegenstand, der aus etwas zusammengesetzt ist, nicht nur dadurch bedingt, daß die Teile in bestimmter Weise angeordnet sind; es muß vielmehr auch eine bestimmte Größe haben. Das Schöne beruht nämlich auf der Größe und der Anordnung. Deshalb kann weder ein ganz kleines Lebewesen schön sein (die Anschauung verwirrt sich nämlich, wenn ihr Gegenstand einer nicht mehr wahrnehmbaren Größe nahekommt) noch ein ganz großes (die Anschauung kommt nämlich nicht auf einmal zustande, vielmehr entweicht den Anschauenden die Einheit und die Ganzheit aus der Anschauung, wie wenn ein Lebewesen eine Größe von zehntausend Stadien hätte). Demzufolge müssen, wie bei Gegenständen und Lebewesen eine bestimmte Größe erforderlich ist und diese übersichtlich sein soll, so auch die Handlungen eine bestimmte Ausdehnung haben, und zwar eine Ausdehnung, die sich dem Gedächtnis leicht einprägt.53
Kataloge – Aristoteles verweist in einer späteren Passage auf den Schiffskatalog – erfüllen dieses Kriterium klar nicht; sie sind ein Element der Ausschmückung, eine Auslagerung, die nicht zur Handlung beitragen. Auf Rabelais’ Listen übertragen bedeutet dies eine klare Abkehr von der aristotelischen Poetik. Doch trotz der Tatsache, dass Listen ein zentrales Element des Werkes darstellen, gleichsam »Kristallisationskerne Rabelais’ schen Erzählens« sind, haben sie in der Rabelais-Forschung überraschend 53 1450b34–1451a6. Übersetzung aus: Aristoteles, Poetik, hg. u. übers. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1994.
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wenig Aufmerksamkeit erhalten.54 Dies gilt insbesondere für die Form der Liste als übergeordnetes Strukturmerkmal. Listen als Listen sind notorisch schwierig zu greifen. Für sich betrachtet ist jede einzelne Auflistung insofern interessant, als sie Fragen nach der unmittelbaren Funktion und / oder den Quellen aufwirft und ihre jeweiligen Sprachspiele nachvollzogen werden können.55 Einen anderen Blick bietet die Interpretation der Listen aus der Distanz. Gerade der handlungsaufbrechende Charakter der Rabelais’schen Listen hat kaum Beachtung gefunden. Rabelais’ opulente Enumerationen sind vor allem im Kontext der frühneuzeitlichen copia verborum in der Tradition der De copia des Erasmus gelesen worden.56 Auch Michail Bachtin betont, dass Rabelais’ Aufzählungen den Konventionen des sechzehnten Jahrhunderts entsprächen.57 Bachtin verortet den akkumulierenden Stil im Grotesken, das der Transgression sowohl auf inhaltlicher wie auf stilistischer Ebene frönt. Rabelais bediene sich den sprachlichen Äußerungen des öffentlichen Marktplatzes, der Marktschreie im Besonderen, die alle Grenzen übertreten, akkumulierend und enumerativ verfahren würden, und zugleich Gelächter induzierten.58 Der karnevaleske Impuls hinter den Aufzählungen, die ihren Ursprung in der oralauralen Derbheit des Marktes haben, steht in einer Schieflage zu Bachtins Argument, dass Rabelais die Enzyklopädie einer neuen Welt entwerfe, die – linguistisch wie materiell – sowohl nach Ganzheit als auch nach 54 Rainer Warning, »Konterdiskursivität bei Rabelais«, in: Erzählen und Episteme, 21–39, hier 25. 55 Siehe die Übersicht gängiger Interpretationen der Listen in Frederic Amory, »Rabelais’ ›Hurricane Word-Formations‹ and ›Chaotic Enumerations‹: Lexis and Syntax«, Études Rabelaisiennes XVII (1983), 61–74, sowie die Beiträge von Raphaël Cappellen (»Rabelais et la bibliothèque imaginaire. Liste énigmatique et création générique«), Marc Bonhomme (»Liste et énonciation parodique chez Rabelais«) und Louise Millon (»La liste d’animaux venimeux du Quart livre de Rabelais: une antinomination«) im Sammelband: Sophie Milcent-Lawson, Michelle Lecolle und Raymond Michel (Hgg.), Liste et effet liste en littérature, Paris 2013, 163–174, 195–208, 209–220. 56 Siehe z. B. Terence Cave, The Cornucopian Text. Problems of Writing in the French Renaissance, Oxford 1979. Auch Mainberger, Die Kunst des Aufzählens, analysiert verschiedene Beispiele von Listen in Rabelais, darunter die Aufgliederung des Tagesablaufs und die dialogisch aufgebaute Liste in Kap. 38 des Tiers Livre. Letztlich sieht sie ebenfalls das Prinzip der copia rerum ac verborum als entscheidend (205). 57 »The lengthy strings of names and military terms and the accumulation of epithets, which sometimes covered several pages, were common in the fifteenth and sixteenth centuries. We find a great number of them in Rabelais.« (Mikhail M. Bakhtin, Rabelais and His World, übers. Hélène Iswolsky, Bloomington, IN 1984, 177; siehe auch 184 und 444). 58 Ibid., 167–185.
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variatio strebe.59 In beiden Fällen tritt der erzählerische Anspruch Rabelais’ in den Hintergrund; es bleibt offen, welche Funktionen die Listen für das Werkganze übernehmen. Fischarts Kataloge sind vor allem im Kontext von enzyklopädischem Erzählen betrachtet worden. Dieter Seitz spricht von der »Vitalität« der Kataloge Fischarts, die sich durch »Turbulenz« auszeichnen und letztlich im Kontext von seiner »Sprachmanipulation« gesehen werden müssten.60 In Abgrenzung zu barocken Katalogen konstatiert Seitz: »Nicht die Variation eines Gedankens in vielen Brechungen ist sein Prinzip, sondern Bewältigung einer Realitätsfülle«.61 Bulang argumentiert, dass die Kataloge Wissen zu parodieren suchen. In den Aufzählungen und ihren linguistischen Finessen und Absurditäten manifestiere sich ein »chaotisches Sprachgeschehen, welches die Restriktionen und Ordnungsansprüche der enzyklopädischen Literatur hinter sich lässt«.62 Schilling geht einen Schritt weiter, wenn er die Parodie als Ausdruck von Fischarts Skepsis gegenüber tradierten Wissensformen versteht; Fischart, so Schilling, dekonstruiere die Wirklichkeit in der Verzerrung von Wissensbeständen.63 Zugleich, so Bulang, habe Fischarts Praxis »eine patriotische Implikation«, indem er traditionell lateinisch verankertes Wissen rekodiere und für die deutsche Sprache verfügbar mache.64 Ein Aspekt, der jedoch nur marginal Beachtung findet, ist die offensichtliche Inhibition des Erzählflusses, den die Listen bei Rabelais wie bei seinen Übersetzern induzieren. Bulang verweist zwar auf das »von Auflage zu Auflage sich verschärfende […] Unkenntlichwerden des Syntagmas der Erzählung« bei Fischart, kommt aber zu dem meines Erachtens etwas schwachen Schluss, dass es sich nicht mehr »um Erzählungen, sondern um Witze von einem gewissen Raffinement, für das der Name Rabelais steht«, handele.65 Interessanterweise spricht Bulang zunächst von ›der‹ Erzählung, dann von ›Erzählungen‹, offenkundig changierend zwischen der episodenhaften Natur des Werks und dem Gesamtwerk als einer Erzählung. Die Geschichtklitterung sei eine »enzyIbid., 455–456. Michael Schilling, »Skeptizistische Amplifikation des Erzählens. Fischarts Antwort auf die epistemische Expansion der Frühen Neuzeit«, in: Erzählen und Episteme, 68–89, hier 93 und 94. 61 Dieter Seitz, Johann Fischarts Geschichtklitterung. Untersuchungen zu Prosastruktur und zum grobianischen Motivkomplex, Frankfurt a. M. 1974. 62 Tobias Bulang, »Die andere Enzyklopädie – Johann Fischarts Geschichtklitterung«, Arcadia 48.2 (2013), 262–281, hier 266. 63 Schilling, »Skeptizistische Amplifikation«. 64 Bulang, »Die andere Enzyklopädie«, 269. 65 Bulang, Enzyklopädische Dichtungen, 371. 59 60
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klopädische Transgression«.66 Florence Weinberg kommt zu einem ähnlichen Schluss. Fischart sei nicht an Erzählung interessiert (oder an detailreicher Beschreibung), sondern am Digressiven und an Neologismen.67 Fischart »has little to tell or teach us«, er verschreibe sich ganz dem Prinzip des Formlosen (»formlessness«).68 Dieter Seitz wiederum betont den ästhetischen Anspruch der Listen, die dekodiert werden wollen und durch ihre ästhetische Fremdheit reizen.69 Listen und Aufzählungen sind in ihrer Dichte in Rabelais und seiner Rezeption für mich der Schlüssel zur Lektüre, gerade weil sie paradigmatisch operieren und so dem Erzählen entgegenstehen. Neben zahllosen kürzeren Listen, welche die Handlung relativ wenig stören, gibt es eine Vielzahl von Aufzählungen, die nicht handlungstragend sind und entweder als Exkurs oder Digressionen fungieren oder ein Detail oder einen Sachverhalt scheinbar unnötig exzessiv erweitern. Dazu gehören die Genealogie gleich zu Beginn des Werks, die Bibliothek in St. Viktor, die Charakterisierung von Panurg, die seine Gewohnheiten und typischen Verhaltensweisen einschließt, Rabelais’ Variante eines Schiffskatalogs, Einkäufe und Listen von Dingen, die extensive Beschreibung des Fastennarrs und seiner kulinarischen Präferenzen, aber auch der stakkatohafte Minimaldialog zwischen Bruder Mumm und Panurg.70 Inhaltlich sind sie zweifelsohne Ausdruck einer parodistischen, vielleicht sogar skeptischen Abkehr von den kumulativen und akkumulierenden Enzyklopädien des Mittelalters. Als Elemente des Textes, der gelesen werden will, spielen sie mit der Geduld des Lesers. Die Aufzählungen bringen die Handlung nicht voran, sie stoppen sie vielmehr, dehnen die Erzählzeit scheinbar unnötig aus, während die erzählte Zeit stagniert. In der Erzähltheorie gibt es eine Reihe von Konzepten, die alternative Formen des Erzählens bzw. des Nicht-Erzählens beschreiben; für Rabelais, Fischart und Urquhart ist der Begriff der anti-narration passend: eine Erzählung, die systematisch narrative Logik und Konventionen in Frage stellt.71 Für das Anti-Erzählen bei Rabelais, Fischart und Urquhart gilt Ibid., 343. Florence M. Weinberg, Gargantua in a Convex Mirror. Fischart’s View of Rabelais, New York 1968, 186–190. 68 Weinberg, Gargantua in a Convex Mirror, 190 und 191. 69 Seitz, Johann Fischarts Geschichtklitterung, 21. 70 Siehe Quart Livre, Kap. 1 (Schiffskatalog); Quart Livre, Kap. 30–32 (Fastennarr); Cinquiesme Livre, Kap. 27 (Dialog). 71 Gerald Prince, A Dictionary of Narratology, Lincoln / London 2003, 6. Disnarration bezeichnet das Wieder-Aufheben von bereits Erzähltem, sozusagen die Rück66 67
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dabei, dass nicht das Erzählen selbst in seinen Inhalten manipuliert wird. Vielmehr greifen die Autoren die Leseerfahrung als Dimension des Erzählens an: Die Temporalität der fortschreitenden Handlung wird konterkariert durch die metaphorische Spatialität der gerade nicht sequentiell operierenden Listen. Damit einher geht eine Verschiebung des Lektüreanlasses. Als Strategie der Ent-narrativierung wird der Wissensanspruch auch durch die Erzählung selbst unterminiert. Eine zentrale Passage scheint mir die folgende aus Rabelais zu sein, welche dieses Prinzip in nuce illustriert: Le fondement luy [Gargamelle] escappoit une apresdinée le III. jour de febvrier, par trop avoir mangé de gaudebillaux. Gaudebillaux : sont grasses tripes de coiraux. Coiraux: sont beufz engressez à la creche et prez guimaulx. Prez guimaulx : sont qui portent herbe deux fois l’an.72
Hier werden Erzählen und Aufzählen assoziativ miteinander verbunden. Nicht das ›Und dann?‹ der Handlung steht im Mittelpunkt, sondern das ›Was noch?‹ des Aufgezählten, das oftmals durch seine Derbheit auf der Inhaltsebene einen besonderen Reiz ausübt. Mainberger bemerkt äußerst passend, dass Listen in Rabelais gerade nicht Zeit ökonomisieren, sondern ausdehnen und missachten; eine »lustvolle, bedeutsame Fülle der Zeit« wird inszeniert als vielleicht den »unwahrscheinlichsten, außerordentlichsten gegenwärtigen Reichtum«.73 Das Spielerische an diesem poetologischen Prinzip ist dabei immer greifbar, spielt das Enumerative doch stets mit den Affekten des Lesers (Frustration; Strapazieren der Geduld; Entdecken und Entlarven von Anspielungen etc.). In diesem Sinne ist die Liste der Spiele Gargantuas nicht nur paradigmatisch, sondern meta-referentiell auf die Funktion des Werkganzen und seiner erzählerischen Praxis bezogen. Dem Leser kommt dabei eine zentrale Rolle zu: Letztlich liegt es in seiner Hand, ob er sich auf die Lektüre einer Liste überhaupt einlässt. Listen eignen sich aufgrund ihrer distinkten Form hervorragend dazu, bewusst nicht gelesen, überlesen zu werden. Rabelais und seine Übersetzer fordern ihr Publikum geradezu heraus, die Grenzen des Rezipierbaren auszuloten. nahme bereits erzählter Handlungen (»Sie öffnete den Kühlschrank. Oder nicht. Sie ließ ihn zu.«). Non-narration bezieht sich auf Lücken im Text, also auf die Dinge, die nicht erzählt und bewusst oder unbewusst ausgelassen werden. 72 Gargantua, Kap. 4; Übers.: »Am Nachmittag des dritten Februar bekam sie [Gargamelle] Durchfall, weil sie zu viele Kutteln gegessen hatte. Kutteln sind fette Eingeweide von Mastochsen. Mastochsen sind Ochsen, die am Futtertrog und auf Grummetwiesen gemästet werden. Grummetwiesen sind Wiesen, die zweimal im Jahr Gras tragen.« 73 Mainberger, Die Kunst des Aufzählens, 205.
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Trotz der zahlreichen Gemeinsamkeiten der Aufzählungen bei Rabelais und seinen Übersetzern gibt es doch Unterschiede. Zwar sind alle drei Texte anti-narrativ, aber in unterschiedlichem Maße. Fischart sticht heraus als der listen-reichste der drei Autoren; bei ihm tritt die Erzählung in der Tat fast gänzlich hinter dem Prinzip des Auflistens zurück. Er ist somit der radikalste Autor und zugleich derjenige mit der stärksten Botschaft: Sein Text lehnt sich am offensivsten gegen die Machtansprüche geltender Ordnungen auf und schreibt Literatur neu, auf mehreren Ebenen: linguistisch, als Versuch der Aneignung eines neuen, poetischen Deutsch, das dennoch – hier tritt der zweite, epistemologische Anspruch zutage – Wissen akkumulieren kann. Inventarisierung und Archivierung werden zum Prinzip der ästhetischen Alterität als kreative Neuschöpfung. Urquhart ist konservativer, was die Abkehr von bzw. das Übertrumpfen Rabelais’ betrifft. Seine Listen sind weniger enzyklopädisch als vielmehr beinahe ausschließlich poetologisch zu verstehen. Urquharts Leistung, auf dem Höhepunkt seines literarischen Schaffens, ist der Transfer: Rabelais wird zwar potenziert, letztlich aber nicht verfälscht oder grundlegend neu perspektiviert. Mit dem hundertjährigen Abstand zu Rabelais war Urquhart möglicherweise in der Lage vorauszuahnen, dass ihm seine Übersetzung ein langes Nachleben bescheren werde; in der Mitte des 17. Jahrhunderts ist Rabelais ein Garant für literarischen Ruhm. Fischart positioniert sich zum Wissen und Wissensbegriff seiner Zeit, während bei Urquhart das Aufzählen als Selbstzweck, zur Steigerung der Autorität als Autor und Übersetzer, fungiert. Im 17. Jahrhundert sind Rabelais’ Listen ästhetisiert – ohne dass sie dabei ihre Faszination als anti-narrative Mittel verloren hätten. Die Listen bei Rabelais und seinen Übersetzern als Anti-Narration zu lesen, bedeutet, sie aus der Ferne, als poetologische Strategie, zu interpretieren, unabhängig von ihren jeweiligen Inhalten. Letztlich gehen Inhalt und Form natürlich Hand in Hand; der Reiz liegt gerade in der Entdeckung der sprachlichen Raffinessen, im Versuch des Dekodierens der Ordnungsprinzipien, im Erschließen der enumerativen Muster, wenn man sich als Leser auf die Digressivität einer Liste einlässt. Das Anhalten der Erzählung, ihr Zurücktreten hinter vermeintlichem Wissen und Wissensansprüchen, mag als Symptom der frühen Neuzeit gelten: Es ist gleichsam ein Innehalten, ein Raum zur Konsolidierung an der Schwelle zu einer neuen Epoche. Wie der Erzähler im Monologue Recreative innehält, um sich von den Strapazen des politischen Diskurses zu erholen, so schaffen Rabelais, Fischart und Urquhart in ihren Listen einen Ort der Reflektion über Zeit und Zeitlichkeit. Listen werden so zum Rhythmus der frühen Neuzeit, ein Hin- und Her-Changieren zwischen enzyklopädischem Wissen und dem kritischen Hinterfragen von Hierarchien und Ordnungen.
Gattung und Geschlecht Guilleragues’ Lettres portugaises zwischen Heldenbrief und Liebesklage Von Jörn Steigerwald Die im Jahr 1669 anonym in Paris bei Claude Barbin publizierten Lettres portugaises stellen seit ihrer Veröffentlichung einen der wohl bemerkenswertesten Probiersteine zunächst der Literaturkritik und dann der Literaturwissenschaft dar, da sowohl die Frage nach der Autorschaft als auch die nach der Authentizität der Briefe bis weit ins 20. Jahrhundert hinein Anlass zu höchst kontroversen Diskussionen boten.1 Denn einerseits sah man in ihnen über lange Zeit die authentische Liebesklage einer portugiesischen Nonne, die von ihrem Geliebten, einem französischen Offizier, entgegen dessen Versprechen verlassen wurde und nun diesem von ihrem Verlust und seinem Betrug in ihren Briefen klagt.2 Andererseits wird seit den 1920er Jahren und dann vor allem seit den zahlreichen Studien von Frédéric Deloffre in den 1960er Jahren darauf insistiert, dass diese Briefe eine Fiktion seien, die von dem Autor Gabriele de Guil1 Zitiert wird im Folgenden nach der Ausgabe Guilleragues, Lettres portugaises. Présentation, notes, dossier, chronologie, bibliographie par Alain Brunn, Paris 2009. 2 Die heute wohl noch bekannteste historische Parteinahme für die Authentizität der Briefe ist Rilkes Übertragung der Lettres portugaises unter dem Titel: Portugiesische Briefe: Die Briefe der Marianna Alcoforado, 15. Aufl., Frankfurt a. M. 1995. Siehe hierzu auch Charlotte Frei, Übersetzung als Fiktion. Die Rezeption der ›Lettres Portugaises‹ durch Rainer Maria Rilke, Bern u. a. 2004. Bemerkenswerterweise insistieren bis heute vorzugsweise Schriftsteller und Schriftstellerinnen auf der Faktizität der Briefe, siehe Myriam Cyr, Letters of a Portuguese Nun: Uncovering the Mystery Behind a 17th Century Forbidden Love, New York 2006, und Guilleragues & Philippe Sollers, Lettres d’amour de la religieuse portugaise, Bordeaux 2009. Eine gewisse Ironie der Geschichte stellen die Wikipedia-Artikel zu Mariana Alcoforado dar, die weiterhin von der Autorschaft der Nonne ausgehen und – zumindest im französischen Artikel – gegen jede andere Zuweisung polemisieren, was darin mündet, dass die Attribuierung von Guilleragues als Autor als eine Fälschung bezeichnet wird. Siehe https: / / de.wikipedia.org / wiki / Soror_Mariana_Alcoforado (abgerufen am 3.11.2016).
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leragues erschaffen wurde, wodurch den Lettres portugaises der Status des ersten modernen Briefromans zugesprochen wurde, der sich durch die Psychologisierung der Protagonistin auszeichne.3 Dementsprechend bilde dieser Briefroman zusammen mit der 1678 von Mme de La Fayette publizierten Princesse de Clèves den Beginn des modernen, psychologischen Romans, in dessen Zentrum die Ausfaltung insbesondere weiblicher Subjektivität stehe. Diese prospektive Ausrichtung auf die Geschichte des (Brief-)Romans nach den Lettres portugaises wurde im Zuge der Forschungen zur Galanterie in den letzten 30 Jahren dahingehend erweitert, dass nach der historischen Einbettung der Lettres portugaises in diese gefragt wurde.4 Hierbei wurden drei Fragen dominant behandelt, nämlich erstens die nach deren spezifischem Status zwischen Fiktion und Realität und zweitens die nach der dezidiert weiblichen Schreibweise der Briefe bzw. des Briefromans, die ihrerseits von Madeleine de Scudéry in der Konversation De la manière d’écrire des lettres ihres Romans Clélie, histoire romaine begründet wurde. Hinzu kommt drittens die Frage nach der spezifischen Redesituation, die durch die weibliche Liebesklage vorgegeben wird, die zwar auf einer langen, aus der Antike stammenden Tradition aufbauen kann, jedoch gerade im späten 17. Jahrhundert in hohem Maße virulent wurde, wie etwa die Briefe der Mme de Sévigné an ihre Tochter belegen.5 Bemerkenswerterweise kommen die beiden skizzierten Perspektiven auf die Lettres portugaises darin überein, dass sie einerseits eine intrinsische Verbindung von Gattung und Geschlecht voraussetzen, die sie andererseits 3 Die Diskussion der Autorschaft wurde initiiert von F. C. Green, »Who was the author of the Lettres portugaises?«, Modern Language Review 21 (1926), 159–167. Ab den 1960er Jahren wurde sie dann intensiv diskutiert, wobei die Studien von Frédéric Deloffre hervorzuheben sind; siehe Frédéric Deloffre, »Le Problème des Lettres Portugaises et l’analyse stylistique«, in: Langue et littérature: Actes du VIIIe Congrès de la Fédération Internationale des Langues et Littératures Modernes, Liège 1962, 282–283; ders., »L’Énigme des Lettres portugaises: Preuves et documents nouveaux«, Bulletin des Études Portugaises et Brésiliennes 27 (1966), 11–27, sowie zusammenfassend ders., Lettres portugaises suivies de Guilleragues par lui-même, Paris 1990. 4 Siehe hierzu exemplarisch Jean-Michel Pelous, »La Figure de l’amant dans les Lettres portugaises: Vers une nouvelle définition des valeurs amoureuses«, Travaux de Linguistique et de Littérature 20 / 2 (1982), 79–85; Alain Niderst, Essai d’histoire littéraire: Guilleragues, Subligny et Challe: des Lettres portugaises aux Illustres françaises, Saint-Genouph 1999. 5 Einen sehr guten Überblick über den aktuellen Stand der Forschung gibt Alain Brunn in der »Présentation« sowie im Dossier der von ihm besorgten Ausgabe; siehe Alain Brunn, »Présentation« und »Dossier«, in: Guilleragues, Lettres portugaises, 9–45 und 91–132.
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aber auf konträre Weise deuten. Denn im ersten Fall wird dem Geschlecht der Schreiberin der Primat zugeordnet, so dass deren Briefe als Ausdruck einer spezifisch weiblichen Liebesklage begriffen werden. Im zweiten Fall wird hingegen der Fokus auf die Briefe als Gattung gelegt, die als dezidiert weibliche Schreibweise gefasst werden, die sich in den Briefen der fiktiven portugiesischen Nonne konkretisieren. Dergestalt produzieren beide Lektüren jedoch zwei zentrale Probleme, die zum einen die Geschlechterkonstruktion der Lettres portugaises und zum anderen die Gattungszugehörigkeit ebendieser Briefe betrifft. Denn die Konzentration auf die Nonne als Briefschreiberin führt dazu, dass die männliche Autorschaft der Lettres von Guilleragues konsequenterweise hintangestellt wird, während umgekehrt der Fokus auf die Gattung des Briefromans bewirkt, dass gerade jene Gattung, in der traditionell die weibliche Liebesklage im Brief verortet wird, außer Acht gelassen wird, nämlich diejenige der Heldenbriefe, die von Ovids Heroides begründet wurden. Diese Vernachlässigung der Tradition der Heldenbriefe ist umso bemerkenswerter, als diese seit der Antike exakt jene Konstellation prägen, die durch die männliche Autorschaft einer weiblichen Liebesklage im Brief gebildet wird, die auch noch bzw. gerade für die Lettres portugaises fundamental ist.6 Bezieht man indes diese von Ovid kommende und von Giovanni Boccaccio in der Elegia di madonna Fiammetta für die Frühe Neuzeit maßgeblich reaktualisierte Form der weiblichen Liebesklage mit ein, dann erkennt man, so die leitende Überlegung, dass das problematische Verhältnis von Fiktion und Realität der Briefe genauso gattungskonstitutiv ist wie die männliche Autorschaft weiblicher Liebesklage.7 Die weibliche Liebesklage 6 Sowohl Ovids Heroides als auch Boccaccios Elegia di madonna Fiammetta sind in der Frühen Neuzeit ausgesprochen prominent und dementsprechend bekannt, wie die zahlreichen Auflagen belegen. Diese Bekanntheit resultiert nicht zuletzt daraus, dass Ovids Heldenbriefe sozusagen zum Kanon der ›Schullektüre‹ gehören, wobei sie interessanterweise auch dazu verwendet wurden, wahlweise neue Heldenbriefe zu verfassen oder die bekannten Heldenbriefe neu zu schreiben. Siehe hierzu exemplarisch Heinrich Dörrie, Der heroische Brief: Bestandsaufnahme, Geschichte, Kritik einer humanistisch-barocken Literaturgattung, Berlin 1968; Paul White, Renaissance Postscripts: Responding to Ovid’s Heroides in Sixteenth-Century France, Ohio 2009, und Susan Wiseman (Hg.), The Rhetoric of Complaint: Ovid’s Heroides in the Renaissance and Restoration, Oxford u. a. 2008. 7 Sowohl Ovids Heroides als auch Boccaccios Elegia di madonna Fiammetta wurden wiederholt als Quellen für die Lettres portugaises namhaft gemacht, doch geschah dies vorzugsweise unter motivgeschichtlichen Gesichtspunkten, um eine Reihe ihre Liebe klagender Frauen aufzustellen, in die sich die Nonne Marianne einreiht. Siehe beispielsweise Denise Gras, »La Fiammetta et les Lettres Portugaises«, Revue de Littérature Comparée 39 (1965), 546–574, oder das 4. Kapitel (»Lettres de femmes abandonnées«) des Dossiers von Alain Brunn, in: Guilleragues, Lettres portugaises,
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wird seit Ovid zwar immer wieder als besondere psychologische Leistung männlicher Autoren angesehen, die es überzeugend verstünden, die weibliche Psyche zu durchdringen, doch führen gerade die Lettres portugaises vor Augen, dass hier drei Formen des doing gender unterschieden werden müssen, die in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen. Zu unterscheiden sind erstens die schreibende Nonne, zweitens der Erzähler bzw. Herausgeber der Briefe und drittens der Autor. Zudem muss der differente Realitätsbezug bedacht werden, da der Autor in der historischen Realität zu verorten ist, während der Herausgeber und die Nonne fiktionale Figuren sind, die Realität behaupten, aber in der Nachfolge von Boccaccios Elegia ›nur‹ realistische Figuren sind,8 so dass genauerhin eine Form des doing gender (Autor) und zwei Formen des playing gender (Herausgeber und Nonne) anzusetzen sind.9 Die Einbindung der Gattung des Heldenbriefes für die Analyse der Lettres portugaises erlaubt folglich, mehrere Probleme zu lösen, die immer wieder angeführt wurden, indes bis dato vorzugsweise benannt, aber eben nicht geklärt wurden, nämlich erstens die latent unmögliche Schreibsituation der Nonne, zweitens die Einbindung der Briefe in das kulturelle System der Galanterie und drittens das Spannungsverhältnis von Fiktion und (historischer) Realität. Vor diesem Hintergrund möchte ich im Weiteren die These diskutieren, dass Guilleragues die Lettres portugaises einerseits in die Tradition der Heldenbriefe einbindet, diese andererseits indes an ein Ende führt, indem er die bereits von Boccaccio umgesetzte realistische Wende nochmals durch das Anonymat der Autorschaft radikalisiert und so ein Werk erschafft, das in der immanenten Auseinandersetzung mit der galanten Ästhetik die literarische Modellierung weiblicher Natur und Natürlichkeit im Brief(roman) in statu nascendi problematisiert, gerade weil diese Form der weiblichen Natürlichkeit allererst in den Lettres portugaises emergiert.10 114–121. Eine systematische Analyse, die sich aus der Einbindung der Lettres portugaises in die Gattungstradition der Heldenbriefe ergibt, steht indes bis dato aus. 8 Verwiesen sei in diesem Kontext auf die durchaus widersprüchlich zu nennenden Forschungen zur Elegia, die sich insbesondere mit deren genanntem RealismusProblem auseinandersetzen. Siehe Robert Hollander, Boccaccio’s two Venuses, New York 1977, und Janet Levarie Smarr, Boccaccio and Fiammetta: The Narrator as Lover, Urbana, Chicago 1986. 9 Zur Differenz zwischen doing gender und playing gender siehe Verf., »Familientragödie: Die Begründung des modernen Dramas in der Frühen Neuzeit (am Beispiel von Pierre Corneilles Médée)«, erscheint in: Comparatio, 9 / 2 (2017). 10 Siehe Jean-Michel Pelous, »Une Héroïne romanesque entre le naturel et la rhétorique: Le Langage des passions dans les Lettres portugaises«, Revue d’Histoire Littéraire de la France 77 (1977), 555–563. Für das Konzept der Emergenz sei verwiesen
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Um diese These zu plausibilisieren, möchte ich vier Ebenen der Lettres portugaises systematisch unterscheiden, nämlich erstens die Ebene der Handlung, zweitens die der Erzählung, drittens die der Struktur und viertens die der Konzeption, um zu verdeutlichen, wie Guilleragues auf die von Ovid und Boccaccio initiierten Traditionen der Heldenbriefe aufbaut, um die Fiktion einer authentischen, liebenden Frau auszufabulieren. Die genannten Ebenen der Briefe werden im Rahmen der literarischen Inszenierung durch Kipp-Phänomene miteinander verbunden, insofern jeweils mindestens ein problematisches Element darauf hinweist, dass die vermeintlich authentische Liebesklage ein rein fiktionales Sprechen über Liebe ist, das auf eine männliche Konzeptionalisierung weiblicher Rede hinausläuft.11 Auf dieser Grundlage werde ich in einem ersten Schritt die unmögliche Liebesgeschichte nach der Trennung der Liebenden rekonstruieren, um dann in einem zweiten Schritt die Wahl einer Nonne als ihre Liebe klagende Briefschreiberin zu analysieren. In einem dritten Schritt werde ich die Struktur der Rede untersuchen, die nicht nur zwischen Liebe und Klage oszilliert, sondern auch zwischen elegischer Klage und christlicher Erbauung steht, um dann in einem abschließenden vierten Schritt die Konzeption der Lettres portugaises herauszuarbeiten, die in der Problematisierung der galanten Konstruktion weiblicher Natürlichkeit durch die elegische Liebesklage besteht. I. Die Handlung der Lettres portugaises Liest man die fünf Briefe der portugiesischen Nonne an ihren französischen Geliebten, dann erhält man vorderhand den Eindruck, dass die Liebesklage ihren Ausgang von der Trennung durch den Geliebten nimmt, dann übergeht zu einer Psychologisierung des Liebesempfindens und vor allem des erlittenen und erlebten Leids, bevor es abschließend zu einer Verabschiedung des Geliebten kommt, die damit einhergeht, dass die Nonne anstelle des ehemaligen Geliebten nun ihre Liebe (zu diesem) liebt, da sie erst durch diesen gelernt habe zu lieben.
auf Wolfgang Iser, Das Fiktive und Imaginäre: Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt a. M. 1993, besonders Kapitel »VI. Epilog, 1. Mimesis und Performanz«, 481–504. 11 Siehe Wolfgang Iser, Das Fiktive und Imaginäre, besonders Kapitel »I. Akte des Fingierens«, 18–51, und Kapitel »V. Textspiele«, 426–480. Verwiesen sei in diesem Kontext auch auf die Überlegungen von Dominique Maingueneau, Le discours littéraire: paratopie et scènes d’énonciation, Paris 2004, der die hier interessierende ›scène d’énonciation‹ konzeptionell herausarbeitet.
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Der erste Brief schildert dementsprechend das Liebesleid der Nonne, das aus dem Abschied des französischen Offiziers resultiert, und stellt zugleich die Hoffnung auf ein Wiedersehen ins Zentrum, auch wenn die aus dem Weggang erwachsenen psychologischen Probleme bereits deutlich werden. Der zweite Brief konzentriert sich demgegenüber auf die Analyse der eigenen Gefühle, die Marianne durchlebte und immer noch empfindet, so dass Vergangenes und Gegenwärtiges zunächst verbunden werden. Allerdings werden die zuvor zum Ausdruck gebrachten widersprüchlichen Emotionen der Nonne zwischen Verzweiflung und Hoffnung zum Ende des Briefes nochmals verstärkt, da einerseits der Friedensschluss in Frankreich eine baldige Rückkehr des Offiziers nach Portugal möglich machen könnte, Marianne aber andererseits von einem baldigen, definitiven Ende der Beziehung ausgeht. Der dritte Brief stellt eine Art Höhe- und Wendepunkt dar, weshalb die Lettres portugaises wiederholt in die Nähe eines klassischen Dramas gerückt wurden.12 Denn Marianne wirft dem Offizier eingangs vor, auf ihre Briefe nicht zu antworten, um dann ihre Einsamkeit zu reflektieren, die sich immer intensiver in ihren Gedanken, vor allem aber in ihrem Herzen niederschlägt. Hervorzuheben sind hierbei insbesondere Betrachtungen über ihren möglichen Tod, die indes von zahlreichen, höchst pathetischen Beschwörungen ihrer Liebe überlagert werden. Der vierte Brief, der zugleich der längste ist, beschreibt anfangs die Gefühle der Nonne, als sie von dem Offizier verführt wurde, wobei deutlich wird, dass sie erst durch dieses Erlebnis die Liebe kennen lernte. Daraufhin legt sie ausführlich ihre eigene, aktuelle Situation sowie die Reaktion der anderen Nonnen auf diese dar. Dabei beschwört sie nochmals ihre Liebe zum Offizier, wodurch indes das Paradoxon sichtbar wird, dass sie stärker ihre Liebe zum Offizier liebt als diesen. Dies wird insbesondere dann erkennbar, wenn sie ihre Eifersucht thematisiert, die aus einer möglichen Rivalität mit einer Konkurrentin um die Liebe des Offiziers resultiert. Dementsprechend endet der Brief damit, dass sie latent das Eingeständnis eines Treuebruchs vom Geliebten einfordert, auch wenn sie dieses Ansinnen zugleich wieder relativiert. Der fünfte Brief schließlich beginnt in Umkehrung der Eingangssituation des ersten Briefes damit, dass die Nonne sich postalisch von ihrem Geliebten verabschiedet und dabei sowohl die vergangene Liebesgeschichte als auch ihre aktuelle Situation reflektiert: Sie stellt heraus, dass sie zwar aufgrund des Verhaltens des Offiziers viel gelitten habe, aber 12 Siehe exemplarisch Leo Spitzer, »Les Lettres portugaises«, Romanische Forschungen 65 (1953), 94–135, und Roxanne Decker Lalande, »Sister Act: Dramatic Improvisation in the Lettres portugaises«, in: David Wetsel, Frédéric Canovas, Gabrielle Verdier, Elisabeth Goldsmith, Jacques Grès-Gayer (Hgg.), La Spiritualité / L’Épistolaire / Le Merveilleux au Grand Siècle, Tübingen 2003, 147–157.
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ohne das Zusammentreffen und die daraus entstandenen Gefühle niemals erfahren hätte, was es heißt zu lieben. Das bildet die Voraussetzung dafür, dass sie von ihrem Wunsch auf eine Beziehung mit dem Offizier Abstand nimmt, da sie erkannt hat, dass sie nicht diesen, sondern ihre Liebe liebt, so dass der Offizier nur noch Medium, nicht jedoch Objekt ihrer Liebe ist. Diese scheinbar kohärente Zusammenfassung der Briefe wird indes bereits dann brüchig, wenn man die handelnden Personen sowie die Schreibsituation und die Rede betrachtet. Eine ihre Liebe klagende Nonne ist eine höchst ungewöhnliche Figur, was noch dadurch gesteigert wird, dass sie ihre Liebe ihrem Geliebten klagt und dies zudem mit Wissen und Billigung der anderen Nonnen und der Äbtissin geschieht, wodurch diese Liebe in mehrfacher Weise publik wird.13 Betrachtet man die Situation im Ganzen, dann erkennt man leicht, dass hier faktisch eine unmögliche Schreibsituation vorliegt, da die Nonne zwar zu Beginn ihres Schreibens hoffen mag, dass sie aufgrund der Liebe des Offiziers aus dem Kloster entlassen wird, dies jedoch stets außerhalb des Möglichen liegt, was noch durch die wiederholten Verweise auf die Schande, die sie ihrer Familie bereitet, gesteigert wird. Ihr Status als Nonne, d. h. zum einen als Ordensschwester in einem Kloster und zum anderen als Tochter, die von ihren Eltern in ebendieses Kloster gegeben wurde, verhindert, dass ihre Liebe zum Offizier jemals eine konkrete, lebensweltliche Realisierung erfährt, da diese nur durch einen mehrfachen Verstoß gegen die Regeln des Klosters sowie der Gebote der Familie geschehen könnte.14 Dementsprechend ist die Transformation der Liebe zum Offizier in eine Liebe zur Liebe einerseits konsequent, da sie wahlweise als bewusster Verzicht oder als Sublimierung begriffen werden kann, sie ist andererseits aber auch das logische, um nicht zu sagen: tradierte Ende der dezidiert literarischen Liebesklage, die aus der Unmöglichkeit der Liebesklage entsteht. 13 Zu dieser Mehrfachbedeutung von Publikation siehe den Sammelband: Christian Jouhaud, Alain Viala (Hgg.), De la publication: Entre Renaissance et Lumières, Paris 2002. 14 Verwiesen sei in diesem Kontext nur auf die Ausführungen Mariannes im dritten Brief: »Je ne sais pourquoi je vous écris, je vois bien que vous aurez seulement pitié de moi, et je ne veux point de votre pitié ; j’ai bien du dépit contre moi-même, quand je fais réflexion sur tout ce que je vous ai sacrifié: j’ai perdu ma réputation, je me suis exposée à la fureur de mes parents, à la sévérité des lois de ce Pays contre les Religieuses, et à votre ingratitude, qui me paraît le plus grand de tous les malheurs: cependant je sens bien que mes remords ne sont pas véritables, que je voudrais du meilleur de mon cœur, avoir couru pour l’amour de vous de plus grands dangers, et que j’ai un plaisir funeste d’avoir hasardé ma vie et mon honneur ; tout ce que j’ai de plus précieux, ne devait-il pas être en votre disposition?« (Guilleragues, Lettres portugaises, III, 65–66).
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Denn diese Unmöglichkeit der Liebesklage ist eine der Gattungskonstituenten der Heldenbriefe, die bereits die Ovidschen Heroides prägen, wobei verschiedene Formen der Unmöglichkeit vorliegen können.15 Im Falle der Lettres portugaises sind zwei Varianten von zentraler Bedeutung, insofern zum einen aufgrund der schreibenden Nonne eine Figur gegeben ist, die zwar darauf hofft, dass die Trennung vom Geliebten bald ein Ende findet, der Leser jedoch bereits von Anfang an ahnt, wenn nicht weiß, dass dies nie geschehen wird, wie dies insbesondere in den Epistulae I–IV der Heroides vorliegt. Zum anderen werden die Briefe bereits ab dem zweiten Brief ganz explizit zum Ort der Verzweiflung und Resignation, so dass die Liebesklage mit der psychologischen Innenschau zusammenfällt, was sich nicht zuletzt an der Thematisierung der Todesbilder im dritten Brief konkret erkennen lässt. Damit wird eine Form unmöglicher Liebesklage aufgegriffen, die in den Epistulae V–X der Heroides vorherrscht, aber auch für Boccaccios Elegia di madonna Fiammetta zentral ist. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt, der den vierten Brief auf geradezu irritierende Weise prägt, denn gemäß der Nonne wartet ein Untergebener ihres Geliebten auf den Brief, während sie schreibt. Geht man nur von der Länge des Briefes aus, der mit Abstand der längste ist, dann müsste jener Lieutenant wahrscheinlich mehrere Stunden auf den Brief gewartet haben, bis er ihn mitnehmen konnte. Dies würde jedoch bedeuten, dass er für mehrere Stunden offiziell im Kloster weilt, um auf den Liebesbrief einer Nonne an ihren Geliebten zu warten, was nur wenig wahrscheinlich ist, da auf diese Weise die Nonne, der Lieutenant, aber auch die Äbtissin und alle anderen Nonnen gegen jedes Gebot von Sitte und Keuschheit verstoßen würden, die für ein Kloster fundamental sind. Doch handelt es sich auch bei diesem Paradoxon unmöglichen Schreibens um ein gattungskonstitutives Element der Heldenbriefe, das sich eindrücklich in der Elegia di madonna Fiammetta vorgeprägt findet: Im ersten Buch verliebte sich die bereits verheiratete Fiammetta in Panfilo, der mithilfe einer Kammerfrau die Möglichkeit erhielt, die Geliebte wiederholt nachts in deren Haus aufzusuchen. Im fünften Buch, nach der Trennung der Liebenden, schlägt der Ehemann der sichtlich unter Melancholie leidenden Fiammetta vor, einen Lustort, Baie, aufzusuchen, um sich 15 Siehe hierzu besonders Detlev Hoffmann, »Nachwort«, in: Publius Ovidius Naso, Heroides. Briefe der Heroinen, lateinisch / deutsch, übers. u. hg. Detlev Hoffmann, Christoph Schliebitz u. Hermann Stocker, Stuttgart 2015, besonders die Abschnitte »Die Heroides als Elegien« und »Die Heroides als Briefe«, 400–405 und 406–409, sowie Efrossini Spentzou, Readers and Writers in Ovid’s Heroides. Transgressions of Genre and Gender, Oxford 2003, und Hélène Casanova-Robin (Hg.), Amor scribendi: Lectures des Héroïdes d’Ovide, Grenoble 2007.
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dort zu erholen. Diese Kur verstärkt indes nur das Leiden Fiammettas, da sie dort mit Panfilo wundervolle Tage verbracht hatte, an die sie nun wieder erinnert wird, was ihr Leiden nochmals steigert und den Aufenthalt zu einem raschen Ende führt.16 Geht man von der Hausordnung einer italienischen ›Casa‹ im Trecento aus, dann ist bereits der regelmäßige nächtliche Besuch des Geliebten im Hause des Gatten nur wenig wahrscheinlich. Die gemeinsame Lustreise von Fiammetta und Panfilo nach Baie ist indes vollkommen ausgeschlossen, so dass bereits auf der Ebene der Handlung die Unmöglichkeit der Liebe sowie der Liebesklage explizit ausgestellt wird.17 Analog dazu ist bereits der wiederholte Besuch des Offiziers im Kloster und die damit einhergehende Verführung der Nonne intra muros, also quasi unter den Augen der anderen Nonnen, nur wenig wahrscheinlich. Der offiziell gebilligte Besuch eines weiteren Offiziers, der als Liebesbote zwischen beiden dient und deswegen über mehrere Stunden hinweg im Kloster auf den entsprechenden Brief wartet, ist hingegen gänzlich unmöglich. Doch verdeutlicht ebendiese Unmöglichkeit der Liebesklage auf der Ebene der Handlung die Zugehörigkeit der Lettres portugaises zur Tradition der Heldenbriefe, insofern diese gattungskonstitutiv für jene ist und eben keinen möglichen Widerspruch gegen die Plausibilität der Handlung darstellt. Allerdings bedarf es keineswegs einer Lektüre aller fünf Briefe, um diesen Bezug auf die Heldenbrieftradition zu erkennen, da bereits der erste Absatz die Inszenierung der unmöglichen Schreibsituation ausstellt: Considère, mon amour, jusqu’à quel excès tu as manqué de prévoyance. Ah malheureux! tu as été trahi, et tu m’as trahie par des espérances trompeuses. Une passion sur laquelle tu avais fait tant de projets de plaisirs, ne te cause présentement qu’un mortel désespoir, qui ne peut être comparé qu’à la cruauté de l’absence, qui le cause.18
16 »E ciò non solamente dalle predette cagioni procedeva, ma il ricordarmi quivi molte volte essere stata da Panfilo accompagnata, amore e dolore, vedendomivi senza esso, senza dubbio nessuno mi cresceva. Io non vedea né monte né valle alcuna, che io da molti e da lui accompagnata, quando le reti portando, e quando i cani menando ponendo insidie alle selvatiche bestie, e pigliandone, non conoscessi per testimonio e delle mie e delle sue allegrezze essere stata.« (Giovanni Boccaccio, Elegia di madonna Fiammetta, a cura di Maria Pia Mussini Sacchi, Mailand 1987, Capitolo V, 128–129). 17 Aus der zahlreichen Literatur zur ›Casa‹ sei nur verwiesen auf Daniela Frigo, Il Padre di famiglia: Governo della casa e governo civile nella tradizione dell’ »economica« tra Cinque e Seicento, Rom 1985, und Raffaelle Sarti, Vita di casa: abitare, mangiare, vestire nell’europa moderna, Bari 2008. 18 Guilleragues, Lettres portugaises, I, 51.
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Es stellt sich die schlichte, aber fundamentale Frage, wer mit »mon amour« angesprochen wird. Denn nur in dem Fall, dass der geliebte französische Offizier und nicht die eigene Liebe apostrophiert wird, kann von der Klage einer liebenden Frau über den von ihr getrennten Geliebten resp. von einer an diesen gerichteten Klage gesprochen werden, wodurch die Liebesklage zugleich eine Liebesgeschichte bilden würde. Betrachtet man vor diesem Hintergrund den ersten Satz, dann irritieren indes sowohl der namhaft gemachte Exzess als auch die fehlende Vorhersicht, da beide nur bedingt mit dem Geliebten verrechenbar sind. Dass er nicht voraussehen konnte, was geschah, sprich, dass er nach Frankreich abberufen wurde, mag als Erklärung des zweiten Teils des Syntagmas dienen, doch stellt sich dann umso dringlicher die Frage, welche Funktion hier der angeführte Exzess hat. Bezieht man den zweiten Satz in die Analyse mit ein, dann wird die Widersprüchlichkeit der Rede noch deutlicher, insofern es zwar möglich ist, den zweiten Hauptsatz als Anklage des Geliebten zu lesen, der sie mit irreführenden Hoffnungen betrog, doch bleibt dann vollkommen unklar, von wem der Geliebte betrogen wurde, was im ersten Hauptsatz explizit gesagt wird. Denn ein Betrug der schreibenden Nonne kann zu diesem Zeitpunkt genauso ausgeschlossen werden wie der Betrug von einer möglichen Rivalin oder gar der französischen Armee. Geht man hingegen davon aus, wie dies seit längerer Zeit die vorherrschende Lektüre ist, dass mit »mon amour« die Liebe der Nonne selbst gemeint ist, sie mithin bereits zu Beginn der Briefe ihre Liebe als eigentlich Angesprochene apostrophiert, dann wird auf der Ebene der Handlung indes jedes zuvor genannte Problem gelöst. Denn die Liebe wurde genauso betrogen, nämlich durch den Geliebten, wie die Liebe die Nonne mit irreführenden Hoffnungen betrogen hatte, nämlich auf ein realisierbares Liebesglück mit dem geliebten Offizier.19 Gleichermaßen werden auch die fehlende Vorhersicht der Liebe verständlich sowie deren Exzess, doch wird dergestalt ein zeitliches Paradoxon mit dem allerersten Satz eingeführt, da die Nonne nicht erst abschließend zur Liebe der Liebe findet, sondern dies bereits zu Beginn gegeben ist.20 Damit wird die Unmöglichkeit der Liebesklage indes auf eine ganz andere Weise lesbar, da sie die 19 Siehe Wolfgang Leiner, »Vers une nouvelle interprétation des Lettes portugaises: Marianne entre son amour et son amant«, Romanische Forschungen 77 (1965), 64–74; ders., »De Nouvelles Considérations sur l’apostrophe initiale des Lettres portugaises«, Romanische Forschungen 78 (1966), 548–566; Jean-Michel Pelous, »À propos des Lettres portugaises: Comment interpréter l’apostrophe initiale ›Considère, mon amour …‹?«, Revue d’Histoire Littéraire de la France 72 (1972), 202–208, und Philippe Hourcade, »Du Plaisir et l’apostrophe initiale de la première Lettre portugaise«, Revue d’histoire littéraire de la France 6 (1973), 1043–1045.
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Funktionslosigkeit der Liebesrede von Anfang20 an ausstellt, wie dies in den Heroides, insbesondere in der Epistula IX, auf strukturell analoge Weise vorgeprägt ist.21 Doch führt die Aufhebung des kommunikativen Zweckes der Briefe auch dazu, dass anstelle der Ebene der Handlung die Ebene der Erzählung in den Fokus gerät, da diese die schreibende Nonne deutlicher in ihrer Bedeutung und Funktion hervortreten lässt. II. Die Erzählung der Lettres portugaises Betrachtet man die Erzählsituation der Lettres portugaises und vergleicht sie mit denjenigen der Heroides, dann fällt eine grundlegende Differenz ins Auge, da in Ovids Heldenbriefen mythologische Figuren Liebesklagen schreiben, so dass beim Leser ein Wissen vorauszusetzen ist, das die jeweilige Redesituation kontextualisieren und dementsprechend die unmögliche Schreibsituation von Anfang an benennen kann. In Guilleragues’ Lettres portugaises fungiert hingegen eine portugiesische Nonne als Schreiberin von Liebesklagen, wodurch eine doppelte Differenz gegenüber Ovids Vorlage eingeführt wird, da sowohl eine zeitliche als auch – zumindest relative – räumliche Nähe die Grundlage bildet für die Inszenierung eines realistischen, aber eben nicht realen Briefwechsels. Dieser Rahmenwechsel vom mythologischen zum realistischen Raum wird indes bereits von Boccaccio in der Elegia di madonna Fiammetta als eine spezifische Schreibweise in die Gattungstradition eingeführt. Genauso wie später Guilleragues situiert Boccaccio seine Protagonistin in einem relativ präzise bestimmbaren geographischen und sozialen Raum, insofern Fiammetta dem Adel Neapels angehört, während Marianne als Nonne in einem Kloster in der Nähe des Örtchens Mertola lebt.22 Wichtiger für den vorliegenden Kontext ist jedoch der Übergang vom singulären Brief der Heroides zur Brief- bzw. Kapitelfolge, die sowohl die 20 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang ein Widerspruch, der sich aus der expliziten Nennung des Exzesses im ersten Satz ergibt, insofern Marianne im fünften Brief darauf abhebt, dass sie nun erst den Exzess ihrer Liebe erkannt habe, was jedoch im Gegensatz zum einleitenden Satz des ersten Briefes steht: »Je n’ai bien connu l’excès de mon amour que depuis que j’ai voulu faire tous mes efforts pour m’en guérir ; et je crains que je n’eusse osé l’entreprendre, si j’eusse pu prévoir tant de difficultés et tant de violences.« (Guilleragues, Lettres portugaises, V, 80). 21 Siehe hierzu Friedrich Spoth, Ovids Heroides als Elegien, München 1992, insbesondere Abschnitt »C. Briefform und Kommunikationsproblem«, 85–106, speziell zum neunten Brief, 94–96. 22 Giorgio Padoan, »Mondo aristocratico e comunale nel Boccaccio«, Studi sul Boccaccio 2 (1964), 81–216.
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Elegia als auch die Lettres kennzeichnet. Denn die damit einhergehende Ausdehnung der Liebesklage führt zu einer stärkeren Reflexion und vor allem Psychologisierung der Liebe, die durch die Beschreibung der differenten Konstellationen und Situationen gegeben wird. Hierzu zählen insbesondere die umfänglichen Gedanken der Protagonistinnen über eine mögliche Rivalin und die daraus resultierende Frage, welche Bedeutung eine Heirat des Geliebten für die eigene Liebesbeziehung habe, genauso wie die umfänglichen Klagen über die eigene Einsamkeit und die daraus entstehenden Gedanken über einen möglichen Tod bzw. im Falle Fiammettas sogar über einen Selbstmord. Zwei Punkte sind in diesem Zusammenhang von zentraler Bedeutung für die Lektüre der Lettres portugaises, die deren vorderhand prekären Status zwischen Realität und Fiktion weiter präzisieren helfen, nämlich erstens die Selbststilisierung der Schreiberin und zweitens die Intertextualität der Liebesklage. Prägnant kommen beide im fünften Brief zusammen, wenn Marianne ihre Position als Nonne und Geliebte ausführlich reflektiert: Je cherche dans ce moment à vous excuser, et je comprends bien qu’une Religieuse n’est guère aimable d’ordinaire: cependant il semble que si on était capable de raisons, dans les choix qu’on fait, on devrait plutôt s’attacher à elles qu’aux autres femmes; rien ne les empêche de penser incessamment à leur passion, elles ne sont point détournées par mille choses qui dissipent et qui occupent dans le monde; il me semble qu’il n’est pas fort agréable de voir celles qu’on aime, toujours distraites par mille bagatelles, et il faut avoir bien peu de délicatesse, pour souffrir (sans en être au désespoir) qu’elles ne parlent que d’assemblées, d’ajustements et de promenades; on est sans cesse exposé à de nouvelles jalousies; elles sont obligées à des égards, à des complaisances, à des conversations: qui peut s’assurer qu’elles n’ont aucun plaisir dans toutes ces occasions, et qu’elles souffrent toujours leurs maris avec un extrême dégoût, et sans aucun consentement; ah! qu’elles doivent se défier d’un amant qui ne leur fait pas rendre un compte bien exact là-dessus, qui croit aisément et sans inquiétude ce qu’elles lui disent, et qui les voit avec beaucoup de confiance et de tranquillité sujettes à tous ces devoirs: mais je ne prétends pas vous prouver par de bonnes raisons, que vous deviez m’aimer; ce sont de très méchants moyens, et j’en ai employé de beaucoup meilleurs qui ne m’ont pas réussi; je connais trop bien mon destin pour tâcher à le surmonter; je serai malheureuse toute ma vie; ne l’étais-je pas en vous voyant tous les jours, je mourais de frayeur que vous ne me fussiez pas fidèle, je voulais vous voir à tous moments, et cela n’était pas possible, j’étais troublée par le péril que vous couriez en entrant dans ce couvent; je ne vivais pas lorsque vous étiez à l’armée, j’étais au désespoir de n’être pas plus belle et plus digne de vous, je murmurais contre la médiocrité de ma condition, je croyais souvent que l’attachement que vous paraissiez avoir pour moi vous pourrait faire quelque tort; […].23
23 Guilleragues,
Lettres portugaises, V, 83–84.
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Geht man vom Ende der Textpassage aus, dann überrascht die Selbstbeschreibung der Nonne, die in deutlichem Gegensatz zu derjenigen Fiammettas steht: Wird letztere von ihrer Umgebung als über die Maßen schön und liebenswürdig angesehen, zweifelt erstere, ob sie den Ansprüchen des Geliebten genügen könne, da sie nicht schön und damit auch (liebens)würdig genug für ihn sei. Auch die Mittelmäßigkeit ihrer Situation steht in deutlichem Gegensatz zu derjenigen Fiammettas, da diese dem Adel Neapels angehört, von zahlreichen Verehrern hofiert wird und ein Leben in großem Wohlstand und voller Annehmlichkeiten führt. Im ersten Teil der Rede, der bis zum den Satz beendenden Ausrufezeichen geht, sowie im verbindenden Mittelteil wird hingegen auf eine gänzlich andere Qualität der Nonne abgehoben, die sie als ideale Geliebte vor Augen stellt: Es mag zwar schönere und attraktivere Frauen geben, doch gibt es sicherlich keine, die, wie sie, ausschließlich für ihre Liebesleidenschaft, die »passion« lebt. Denn eine Nonne im Allgemeinen sowie sie im Speziellen kennt keine der Ablenkungen, die den Alltag der Frauen in der Gesellschaft prägen, so dass sie sich zum einen ganz der Liebe hingeben kann und zum anderen dem sie liebenden Mann keine Mühen und Sorgen bereitet. Denn weder ihre Aktivitäten geben ihm Anlass dazu, einen potenziellen Liebhaber zu befürchten, noch verlangt sie von ihm Rechenschaft über seine Handlungen. Allein, in Mariannes Fall wurde diese eigentlich ideale Liebeskonstellation aufgekündigt, doch ging diese Veränderung vom Geliebten aus, so dass ihre im ersten Teil genannte »passion«, die die Grundlage für ihr Liebesglück bilden sollte, im Mittelteil als Charakteristikum für ihr lebenslanges Unglück angesehen wird. Zwar deutet die Nonne dies explizit als Schicksal, als »destin«, das dieses Unglück bewirkte, doch transformiert es faktisch nur die Liebesleidenschaft in eine leidenschaftliche Liebesklage, wobei die Basis, die Leidenschaft, bedeutender ist als die Ergänzung, sei diese Liebe, Klage oder Liebesklage. Wenn die in der Klage oder der Liebe gebundene Leidenschaft indes das eigentliche Fundament der Rede ist, dann stellt sich erneut die Frage, wer hier eigentlich wen anspricht. Geht man vom Einleitungssatz des ersten Briefes aus, dann erkennt man hier unschwer eine Fortführung der Redeweise, da Marianne zwar offiziell den Offizier anredet, wie auch Fiammetta gemäß der Fiktion ihre Liebesklage niederschreibt, um anderen Frauen davon Kunde zu geben, doch verdeutlichen beide Reden, dass die Schreibenden eigentlich nur eine Adressatin kennen, nämlich sich bzw. ihre Liebe. Integraler Bestandteil dieser faktisch funktionslosen Kommunikation ist die Selbststilisierung der Liebenden als Liebende, die den Geliebten, nur als Medium benötigt, um sich als ideale Liebende und heroisch Leidende zu präsentieren.
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Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang noch ein weiteres gattungskonstituierendes Merkmal der Heroides, das in diesem Zitat in reaktualisierter Form zu finden ist. Die Ovidschen Heldenbriefe setzen die Existenz eines elegischen Dichtungssystems voraus, um es auf spezifische Weise zu konterkarieren. In der elegischen Dichtung wird die durchgängig vorhandene Situation der Liebesklage gebunden an die Hoffnung des liebenden Mannes, von der geliebten Frau aufgrund der Klage erhört zu werden, wohingegen in den Heroides die Liebesklagen der liebenden Frauen verknüpft werden mit der Unmöglichkeit des Liebesglücks. Die Handlungsarmut ist dementsprechend konsequente Folge der Konzentration auf das unerfüllbare Wunschdenken der liebenden Frauen: Denn allein auf diese Weise kann die psychologische Ausfaltung des Liebesleides die Voraussetzung bilden für die Selbststilisierung als heroisch Liebende, gerade weil die Liebe nur als unerfüllte Liebe erschrieben werden kann. Dieses Wechselspiel von elegischem Dichtungssystem und heroischem Liebesbrief führt zu zahlreichen intertextuellen Verweisen, die bereits bei Ovid prägend sind und bei Boccaccio nochmals verstärkt werden. Hierbei ist zum einen die Gattungstradition auf der diachronen Ebene zu nennen und zum anderen eine ironisch gebrochene Bezugnahme auf zeitgenössische Literatursysteme, die im Falle von Guilleragues’ Lettres portugaises insbesondere durch das literarische Referenzsystem der Galanterie vorgegeben sind. Besonders auffällig ist dies in der oben zitierten Passage, insofern die Beschreibung der Nonne als ideale Geliebte jene Modellierungen fort- und umschreibt, die sich in Molières Komödien von dieser Figur finden lassen, was indes meines Wissensstandes nach bis dato nicht beachtet wurde. Doch ist gerade diese Form der Intertextualität ein weiterer Beleg für die Zugehörigkeit der Lettres portugaises zu den Heldenbriefen, da dies charakteristisch für jene ist, wie sie auch die Fiktionalität der Briefe erneut herausstellt. Zu nennen sind als intertextuelle Referenzen zum einen die École des femmes und hier besonders Arnolphes Charakterisierung der Damen der ›monde‹ in der ersten Szene des ersten Aktes, die für ihn das Kontrastbild dessen darstellen, was er unter einer idealen Ehefrau versteht. Noch augenfälliger wird die kontrastierende Bezugnahme auf Molière, wenn man Dorimènes Rede an Sganarelle am Ende der zweiten Szene des Einakters Le mariage forcé betrachtet: Comme vous êtes un fort galant homme, et que vous savez comme il faut vivre; je crois que nous ferons le meilleur ménage du monde ensemble, et que vous ne serez point de ces maris incommodes, qui veulent que leurs femmes vivent comme des loups-garous. Je vous avoue que je ne m’accommoderais pas de cela, et que la solitude me désespère. J’aime le jeu; les visites; les assemblées; les cadeaux,
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et les promenades; en un mot, toutes les choses de plaisir; et vous devez être ravi, d’avoir une femme de mon humeur. Nous n’aurons jamais aucun démêlé ensemble; et je ne vous contraindrai point dans vos actions; comme j’espère que de votre côté vous ne me contraindrez point dans les miennes: car pour moi, je tiens qu’il faut avoir une complaisance mutuelle; et qu’on ne se doit point marier, pour se faire enrager l’un l’autre. Enfin nous vivrons, étant mariés, comme deux personnes qui savent leur monde.24
Die Gegenüberstellung der beiden Zitate verdeutlicht augenfällig, dass beide Frauenfiguren über denselben Habitus sprechen, nämlich den der ›galante dame‹, ihn jedoch höchst konträr beurteilen bezüglich dessen resp. ihrer Voraussetzungen für eine Liebesbeziehung. Demnach kenn zeichnet die ›galante dame‹ zum einen ihre Teilhabe an der distinguierten heterosexuellen Interaktion in den entsprechenden sozialen und konkreten Räumen, wie den »assemblées« oder »promenades« und zum anderen ihre gelebte Liebesethik, die auf gegenseitiger Zuneigung und Wertschätzung aufbaut, die »complaissance mutuelle«, und dergestalt Freundschaft und Liebe in der Ehe zusammenführt. Plädiert Dorimène hier exemplarisch für zahlreiche Figuren der Molièreschen Komödien oder der Scudéryschen Romane und Novellen für ein solches Liebesverständnis und die damit einhergehende Modellierung der vorbildlich liebenden Frau als ›galante dame‹, argumentiert Marianne genau gegen diesen Habitus, um ihre Position als leidenschaftlich Liebende umso stärker zu positionieren.25 Mehrere Punkte sind hierbei auffällig: Die Nonne argumentiert aufbauend auf der Praxeologie der französischen Galanterie, auch wenn sie diese komplett umwertet. Dementsprechend wird jedoch die geographische und kulturelle Differenz zwischen Frankreich und Portugal genauso aufgehoben wie die soziale Differenz zwischen einer ›galante dame‹ und einer Nonne. Genauer heißt das, dass Marianne argumentiert, als sei sie vor ihrem Leben als Nonne wie eine ›galante dame‹ sozialisiert worden, was indes nicht gegeben ist. Systematisch gesprochen folgt daraus, dass sich hier zwei unterschiedliche Referenzsysteme in der Rede Mariannes überlagern, da sie sowohl auf das literarische als auch das kulturelle System der Galanterie rekurriert, um deren Ideale in ihrem Brief so umzu24 Molière, »Le Mariage forcé«, in: ders., Œuvres complètes. Édition dirigée par Georges Forestier, avec Claude Bourqui, Paris 2010, Band 1, 935–959, hier Scène II, 944. 25 Verwiesen sei in diesem Kontext auf Verf., Galanterie: Die Fabrikation einer natürlichen Ethik der höfischen Gesellschaft (1650–1710) (Neues Forum für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft 41), Heidelberg 2011, und ders., »Diskrepante Väterfiguren: Haus, Familie und Liebe in Molières École des femmes«, Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 1 (2012), 27–47.
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wandeln, dass sie sich als ideale Geliebte stilisieren kann. Dergestalt folgt ihre Schreibweise präzise der Tradition der Heldenbriefe, die aus der Transformation jeweils eines zeitgenössischen literarischen und / oder kulturellen Referenzsystems besteht, das in Ovids Heroides in der Auseinandersetzung mit dem elegischen Dichtungssystem vorgeprägt ist und das dann in Boccaccios Elegia di madonna Fiammetta durch die Bezugnahme auf die höfische Liebe Capellanusscher Prägung reaktualisiert wird. Die schreibende Nonne stilisiert sich folglich auf der Ebene der Erzählung als heroisch Liebende und erschreibt sich auf der Ebene der Intradiegese durch die Erzählung ihres Liebesleides eine exzentrische Position im literarischen und kulturellen System der französischen Galanterie. Auf der Ebene der Extradiegese erlaubt ihr dies zugleich, anhand ihrer Figur die Struktur der galanten Redeweise und deren Geschlechterordnung zu hinterfragen. III. Die Struktur der Lettres portugaises Versteht man die Figur der Marianne als gattungstypische Redefigur, dann lassen sich drei Ebenen unterscheiden, die zusammen die Persona konfigurieren, gerade weil sie differenten Bezugssystemen angehören. Denn Marianne ist erstens eine Nonne, zweitens eine Liebende und drittens eine Briefschreiberin, so dass insofern eine paradoxale Figur entsteht, als eine liebende Briefschreiberin gemäß der galanten Praxeologie durchaus als idealtypisch angesehen wird, diese jedoch keine Nonne sein kann, sondern eine Frau, die dem ›monde‹ angehört, mithin eine ›galante dame‹ ist. Es stellt sich folglich die Frage, welchen Mehrwert die Wahl einer Nonne gegenüber einer ›galante dame‹ als liebende Briefschreiberin bietet und wie sich ebendiese Wertigkeit strukturell bemerkbar macht. Man könnte zunächst argumentieren, dass mit der Wahl der Figur einer Nonne lediglich die zweite Möglichkeit einer alphabetisierten Frau im 17. Jahrhundert ergriffen wurde, doch würde diese Erklärung zu kurz greifen. Denn die Einführung einer schreibenden Nonne erlaubt die Unterscheidung von gattungsspezifischer Schreib- und habitusspezifischer Redeweise, was mit der systematischen Differenz zwischen literarischem, kulturellem und sozialem Referenzsystem einhergeht. Denn die Selbststilisierung der Nonne als ideale Geliebte wird durch ihre Redeweise auf gleich zweifache Weise unterlaufen, da sie ihre ›passion‹ in einer höchst pathetischen Redeweise zum Ausdruck bringt, die indes durch die christliche Erbauung vorgeprägt ist. Der adressierte geliebte Offizier muss bei der Lektüre der Briefe folglich notwendigerweise feststellen, dass ihre Liebe entgegen ihrer Aussage ihm gerade nicht gelten kann, sondern, wie sie bereits im ersten
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Satz des ersten Briefes insinuiert, allein ihrer Liebe. Augenfällig wird dies im direkten Anschluss an den zuvor zitierten Abschnitt: […] il me semblait que je ne vous aimais pas assez, j’appréhendais pour vous la colère de mes parents, et j’étais enfin dans un état aussi pitoyable qu’est celui où je suis présentement ; si vous m’eussiez donné quelques témoignages de votre passion depuis que vous n’êtes plus au Portugal, j’aurais fait tous mes efforts pour en sortir, je me fusse déguisée pour vous aller trouver; hélas! qu’est-ce que je fusse devenue, si vous ne vous fussiez plus soucié de moi, après que j’eusse été en France? quel désordre? quel égarement? quel comble de honte pour ma famille, qui m’est fort chère depuis que je ne vous aime plus. Vous voyez bien que je connais de sens froid qu’il était possible que je fusse encore plus à plaindre que je ne suis; et je vous parle, au moins, raisonnablement une fois en ma vie; que ma modération vous plaira, et que vous serez content de moi; je ne veux point le savoir, je vous ai déjà prié de ne m’écrire plus, et je vous en conjure encore.26
Geht man vom Ende des Zitats aus, dann überrascht der Begriff der »modération«, der Mäßigung, mit dem Marianne ihre Redeweise charakterisiert, von der sie zugleich hofft, dass sie dem Geliebten gefalle. Die Irritation wird noch größer, wenn man bedenkt, dass der erste Satz weitere neun Zeilen umfasst, mithin insgesamt 16 Zeilen, so dass sich die Frage stellt, worin die behauptete Maßhaltung der Rede besteht. Doch ist es weniger die Länge der Sätze als deren Syntax und vor allem deren Rhetorik, die von Bedeutung sind. Auffällig ist die dominante Parataxe, bei der die einzelnen Syntagmen wahlweise durch Kommata oder Semikola voneinander getrennt werden, durch die zahlreiche Anaphora hingegen verbunden werden, wobei insbesondere das einleitende »je« der Syntagmen, wie im letzten Satzteil nach dem Semikolon, heraussticht. Die dergestalt gebildeten asyndetischen Reihen produzieren zum einen das Pathos der Rede und unterstreichen zugleich, dass die Sprecherin ganz von ihrer Rede befangen ist, wenn sie nicht in ihr gefangen ist, so dass sie den (ehemals) geliebten Offizier eher zum Zuhörer ihrer Rede macht und weniger als Adressaten anspricht. Bemerkenswert ist hierbei, dass die Rede der Nonne noch nicht von jener Rhetorik der Nicht-Rhetorik charakterisiert wird, die späterhin die Rede- und Schreibweise der empfindsamen Briefkultur kennzeichnen wird.27 Zwar finden sich auch hier kurze rhetorische Fragen – »quel désLettres portugaises, V, 85. exemplarisch Rudolf Behrens, »Schrift und Stimme: Illusionen der Gegenwart und ihre Zerstörung im französischen Briefroman des 18. Jahrhunderts«, in: Caroline Welsh, Christina Dongowski, Susanna Lulé (Hgg.), Sinne und Verstand: Ästhetische Modellierungen der Wahrnehmung um 1800, Würzburg 2001, 189–206. 26 Guilleragues, 27 Siehe
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ordre? quel égarement?« –, doch fehlen sowohl Interjektionen als auch Exklamationen oder die Auslassungszeichen, die etwa für die Briefe eines Saint-Preux oder einer Julie typisch sind. Demgegenüber zeichnet sich die Redeweise durch ein Pathos aus, das traditionell der Rede über die göttliche Liebe, d. h. über den amor sacro, zugeordnet wird, auch wenn es nicht ausschließlich diese Redeweise kennzeichnet. Die Figur des Eremiten in Bembos Asolani spricht auf ebendiese Weise wie auch die von der göttlichen Liebe inspirierte Figur Bembo in Castigliones Cortegiano, um nur die bekanntesten literarischen Beispiele des Cinquecento zu nennen28, doch lassen sich problemlos weitere literarische Rede-Figuren für das 17. Jahrhundert nennen, wie etwa Polyeucte oder Néarque in Corneilles Drama Polyeucte. Allerdings ist zu bedenken, dass alle genannten Redner männliche Liebende sind, während es sich bei der Nonne um eine weibliche Rednerin handelt.29 Diese Geschlechterordnung der Liebesrede wird im Rahmen der Erbauungsliteratur des 17. Jahrhunderts intensiv diskutiert und findet ihren sichtbarsten Niederschlag in der Gegenüberstellung von ignatianischer und salesianischer Erbauung: Einerseits setzt Ignatius von Loyola in den Geistlichen Exerzitien dezidiert einen männlichen Gläubigen voraus, der von einem ausgebildeten Priester angeleitet wird, sich den Versuchungen auszusetzen, um sie zu überwinden, so dass er vollständig seelisch gereinigt wird. Andererseits fokussiert François de Sales in der Introduction à la vie dévote einen frommen Laien, der zwar nicht notwendigerweise weiblich ist, jedoch aufgrund der gegebenen Beispiele als bevorzugt weiblich gefasst werden kann, und stellt ihm einen Seelsorger zur Seite, der ihn anleitet und kontrolliert.30 Diese Ausrichtung der Erbauung auf zwei unterschiedliche Adressatenkreise zeitigt wiederum Auswirkungen auf die Redeweise der Erbauungsschriften und damit verbunden auf die dergestalt 28 Siehe hierzu die entsprechenden Kapitel zu den Dialogen Bembos und Castigliones in Verf., Amors Renaissance: Modellierungen himmlischer und irdischer Liebe in der Literatur des Cinquecento, Wiesbaden 2014. 29 Verwiesen sei in diesem Kontext auf Volker Schröder, »Les Méditations de Mariane: la Matrice mystique des Lettres portugaises«, in: Richard G. Hodgson (Hg.), La Femme au xviie siècle, Tübingen 2002, 283–299. Allerdings ist zwischen Mystik und Erbauung zu unterscheiden, wobei keine besonderen Hinweise auf eine mystische Erfahrung oder Praxis bei der schreibenden Nonne in den Briefen gegeben werden, während die christliche Erbauung integraler Bestandteil ihrer Erziehung ist und dementsprechend vorausgesetzt werden kann. 30 Siehe hierzu ausführlich Verf., »Formation und Rezeption einer édification féminine: François de Sales, Mme. de Lafayette, mit einem Ausblick auf Christian Thomasius«, in: Andreas Solbach (Hg.), Aedificatio: Erbauung im interkulturellen Kontext in der Frühen Neuzeit, Tübingen 2005, 377–395.
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erbauten Subjekte: Die ignatianische Rede ist durch eine starke Pathetisierung gekennzeichnet, die zudem hochgradig imaginativ aufgeladen ist, was bereits durch die jedes Exerzitium einleitende Einrichtung der Schauplätze vor Augen gestellt wird, während die salesianische Rede stärker auf das Ethos abhebt, was dominant in der immer wiederholten suavitas, der ›Süße‹, zum Ausdruck, die Effekt und Ziel dieser Erbauung ist. Im deutlichen Kontrast zu einer solchen ›Süße‹ der Rede steht insbesondere die Meditation der Nonne über den Tod, die sich im dritten Brief finden lässt: Et ne dois-je pas être bien aise de l’avoir employé comme j’ai fait: il me semble même que je ne suis guère contente ni de mes douleurs, ni de l’excès de mon amour, quoique je ne puisse, hélas! me flatter assez pour être contente de vous; je vis, infidèle que je suis, et je fais autant de choses pour conserver ma vie, que pour la perdre, ah! j’en meurs de honte: mon désespoir n’est donc que dans mes Lettres? Si je vous aimais autant que je vous l’ai dit mille fois, ne serais-je pas morte, il y a longtemps? Je vous ai trompé, c’est à vous à vous plaindre de moi: hélas! pourquoi ne vous en plaignez-vous pas? Je vous ai vu partir, je ne puis espérer de vous voir jamais de retour, et je respire cependant: je vous ai trahi, je vous en demande pardon: mais ne me l’accordez pas? Traitez-moi sévèrement? Ne trouvez point que mes sentiments soient assez violents? Soyez plus difficile à contenter? Mandez-moi que vous voulez que je meure d’amour pour vous? Et je vous conjure de me donner ce secours, afin que je surmonte la faiblesse de mon sexe, et que je finisse toutes mes irrésolutions par un véritable désespoir; une fin tragique vous obligerait sans doute à penser souvent à moi, ma mémoire vous serait chère, et vous seriez, peut-être, sensiblement touché d’une mort extraordinaire, ne vaut-elle pas mieux que l’état où vous m’avez réduite? Adieu, je voudrais bien ne vous avoir jamais vu.31
Wie zuvor die behauptete »modération« irritierte, insofern sie im Gegensatz zum Pathos der Rede steht, so überrascht in diesem Zitat die angeführte »faiblesse de mon sexe«, die es gemäß der Nonne erst noch mithilfe des Geliebten zu überwinden gelte, während die Rede selbst so gar keine geschlechtsspezifischen Schwächen erkennen lässt. Viermal spricht Marianne explizit vom Tod oder vom Sterben, was noch arrondiert wird vom »fin tragique« oder dem »véritable désespoir«, die alle vom Pathos der Liebe künden wie von der existenziellen Bedrohung der Nonne durch die Liebe. Hinzu kommen zahlreiche starke Gefühle, die dem Geliebten vor Augen gestellt werden – von den »douleurs« über den »excès« bis hin zur »honte« –, um ihm ein Bild ihres Liebesleides vor Augen zu stellen. Strukturell liegt hier indes ein Verfahren vor, dass ziemlich genau jener imaginativen Einrichtung des Schauplatzes entspricht, das die ignatiani31 Guilleragues,
Lettres portugaises, III, 66.
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schen Exerzitien kennzeichnet und das auf die starke Affizierung der Emotionen abhebt, auch wenn diese Subjekttechnologie den Nonnen per se vorenthalten wird.32 Denn diese meditatio mortis erfordert einen starken Charakter des Meditierenden, der Frauen von kirchlicher Seite gerade nicht zugesprochen wird, auch wenn es sich hierbei um Nonnen handelt.33 Dergestalt wird die Selbststilisierung der liebenden Nonne auf der Ebene der Erzählung überführt in die Stilisierung der Nonne als pathetische Redefigur auf der Ebene der Struktur. Die Rückbindung an das soziale Referenzsystem der Erbauung stellt indes heraus, dass die Nonne eine dezidiert männliche Redeweise pflegt, die durch die ignatianischen Exerzitien vorgegeben wird und die dergestalt gerade nicht für eine vermeintliche oder reale Psychologisierung einer liebenden Frau über deren Redeweise einstehen kann. Vielmehr ist es als Kennzeichen jener ›starken Frauen‹ anzusehen, denen in den Heldenbriefen von männlichen Autoren das Wort verliehen wird.34 Auch wenn die Nonne wiederholt auf ihre Position als Frau rekurriert, verdeutlichen sowohl ihre Schreib- als auch ihre Redeweise, dass es sich hierbei um eine männlich autorisierte weibliche Rede handelt oder abstrakter formuliert, dass dem weiblichen doing gender ein männliches doing gender vorausgeht. Aufgrund der männlichen Autorschaft und der Fiktionalität der weiblichen Rede kann dieses indes genauer als playing gender gefasst werden kann, d. h. als männliche Inszenierung weiblichen Schreibens in der Fiktion. Dieses vorderhand paradoxale playing gender baut auf den Gattungstraditionen des Heldenbriefes genauso auf wie es die kulturellen und sozialen Referenzsysteme der Galanterie und Erbauung aufruft, um sie fundamental aufzulösen, wenn nicht auszuhebeln. Es bleibt folglich die Frage offen, warum Guilleragues eine solche latent widersprüchliche, faktisch aber ausgesprochen überzeugende, ihr Liebesleid klagende, Briefe schreibende Nonne erfindet oder vorsichtiger formuliert: welchen Effekt eine solche literarische Erfindung bewirkt. 32 Verwiesen sei hierfür besonders auf Karlheinz Ruhstorfer, Das Prinzip ignatianischen Denkens. Zum geschichtlichen Ort der ›Geistlichen Übungen‹ des Ignatius von Loyola (Freiburger theologische Studien 161), Freiburg 1998. 33 Siehe hierzu weiterführend Stephanie Wodianka, Betrachtungen des Todes: Formen und Funktionen der meditatio mortis in der europäischen Literatur des 17. Jahrhunderts, Tübingen 2004. 34 Siehe hierzu exemplarisch Frauke Berndt, »Amazonen und Tugendheldinnen: zur Ikonographie der femme forte im 17. Jahrhundert«, Frühneuzeit-Info 7 / 2 (1996), 276–281; Bettina Baumgärtel (Hg.), Die Galerie der starken Frauen: Die Heldin in der französischen und italienischen Kunst des 17. Jahrhunderts, Ausst.-Kat. Düsseldorf u. a. 1995.
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IV. Die Konzeption der Lettres portugaises Wie bereits eingangs gesagt, werden die Lettres portugaises seit einigen Jahrzehnten als Beginn des modernen Briefromans angesehen, der dann im 18. Jahrhundert mit Rousseaus Nouvelle Héloïse seinen Höhepunkt findet. Diese diachrone Lektüre wird in den letzten Jahren ergänzt um eine synchrone, die sich stärker auf die Einbindung der Lettres portugaises in die französische Galanterie konzentriert, wobei die Konfiguration aus Liebe, Brief und Frau im Mittelpunkt des Interesses steht, insofern, Madeleine de Scudérys Romanfiguren folgend, diese als eine Art ›natürliche‹ Verbindung angesehen wird. Dergestalt wird indes – willkürlich, aber unbewusst – zum einen eine spezifische Natur der Frau als gegeben gesetzt, obwohl diese in den Briefen allererst erschrieben wird, und zum anderen eine Verknüpfung von Medium, dem Brief, und Geschlecht der Frau, behauptet, die weder dem Medium gerecht wird noch die Einbindung des Mediums in Gattungstraditionen der Heldenbriefe bedenkt. Bereits die durchaus sinnvolle Anbindung der Lettres portugaises an das kulturelle Referenzsystem der französischen Galanterie verdeutlicht, dass hier ein Modell für die Lektüre dominant gesetzt wird, das faktisch nur eine von mehreren Möglichkeiten ist. Denn bereits 1650, d. h. vier Jahre vor der Publikation des erstens Bandes der Clélie, histoire romaine, werden die Briefe von Vincent Voiture im ersten Band von dessen Werken veröffentlicht, die zugleich als erste Modellierung des Habitus des ›galant homme‹ in diesen resp. durch diese Briefe angesehen werden.35 Der Brief ist dementsprechend im Rahmen der Galanterie keineswegs als dezidiert oder auch nur bevorzugt ›weiblich‹ anzusehen, vielmehr ist er ein zentrales Medium der Selbstdarstellung der Galanterie, das beiden Geschlechtern, wenn auch auf je eigene Weise, zur Verfügung steht. Hinzu kommt, dass bereits vor 1660 von Segrais eine Diskussion um den Roman initiiert wird, die auch für die Konzeption der Lettres portugaises von Bedeutung ist.36 Ausgehend von Scudérys Romanen fordert er eine mehrfache Abkehr von diesem Romantypus, insofern er sowohl eine 35 Siehe hierzu die erhellenden Ausführungen von Sophie Rollin, »Introduction«, in: Vincent Voiture, Lettres (1625–1648), hg. u. komm. Sophie Rollin, Paris 2013, 13–62, besonders den Abschnitt »Quel est le statut des lettres de Voiture?«, 47–62. 36 Siehe hierzu ausführlich: Poétiques du roman : Scudéry, Huet, Du Plaisir et autres textes théoriques et critiques du XVIIe siècle sur le genre Romanesque, hg. u. komm. Camille Esmein, Paris 2004, und dies., L’essor du roman : discours théorique et constitution d’un genre littéraire au XVIIe siècle, Paris 2008, sowie jüngst Verf., »Roman, petit roman und nouvelle galante: Theorie und Praxis romanesken Schreibens bei Du Plaisir«, in: ders., Daniel Fulda (Hgg.), Um 1700: Die Formierung der
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zeitliche als auch räumliche Nähe der Handlungen zur eigenen, d. h. französischen Gegenwart verlangt, mithin einen größeren Realismus der Romanhandlungen, die er durch das Auftreten von ›französischen Römern‹ in den Scudéryschen Romanen gerade nicht vorhanden ansieht. Guilleragues folgt diesen Vorgaben und verortet die Briefe in der eigenen Gegenwart, wobei es ihm sogar gelingt, über das Medium des Briefes die Distanz zwischen der portugiesischen Nonne und dem französischen Publikum zu überwinden, so dass Raum und Zeit der Handlung faktisch auf das zeitgenössische Paris verweisen, auch wenn die Handlungen offiziell in Portugal verortet sind. Allerdings folgt Guilleragues nicht nur den Ergebnissen der poetologischen Diskussionen seiner Zeit, er leistet vielmehr dreierlei, indem er die Argumente dieser Debatten aufgreift und sie zugleich gegen deren Verfechter führt: 1. Madeleine de Scudéry modelliert in ihren Romanen und Novellen den Habitus einer ›galante dame‹, der zentral auf den moralischen Qualitäten der ›tendresse‹ aufbaut und diese als Grundlage für eine galante Praxeologie nutzt, deren bekanntestes und vor allem wirkmächtigstes Monument die ›Carte de Tendre‹ ist. Die ›galante dame‹ zeichnet sich durch ihre ›modération‹ genauso aus wie durch ihr ›naturel‹, wobei diese Natürlichkeit genauer Resultat und Effekt der ständischen Verortung und damit moralischen Nobilitierung der Betreffenden ist. Guilleragues’ Nonne greift auf diese Modellierung zurück, um deren vermeintlich objektiv gegebene, faktisch nur behauptete Natürlichkeit zu hinterfragen, indem sie dieselbe Begrifflichkeit auf ihre eigene Weise verwendet: Vous m’avez consommée par vos assiduités, vous m’avez enflammée par vos transports, vous m’avez charmée par vos complaisances, vous m’avez assurée par vos serments, mon inclination violente m’a séduite, et les suites de ces commencements si agréables, et si heureux ne sont que des larmes, que des soupirs, et qu’une mort funeste, sans que je puisse y porter aucun remède.37
Die verwendete Begrifflichkeit, insbesondere die »complaissances« und die »assiduités« verweisen vorderhand auf den Weg nach ›Tendre sur Reconnaissance‹, auf dem sich die beiden Liebenden befänden, bewegten sie sich gemäß der ›Carte de Tendre‹ im sozialen Raum. Allerdings stehen die verwendeten Adjektive oftmals im Widerspruch zu der von der Galanterie anvisierten Liebesethik, was augenfällig in der Aussage »mon inclination violente m’a séduite« hervortritt. Denn gemäß der galanten Liebesethik wäre hier gerade nicht von einer Verführung zu sprechen, sondern von europäischen Aufklärung: zwischen Öffnung und neuerlicher Schließung, Berlin / New York 2016, 201–223. 37 Guilleragues, Lettres portugaises, IV, 70.
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einer gegenseitigen Wertschätzung, wie es auch irritiert, dass die Nonne von dieser, d. h. ihrer Zuneigung verführt wurde. Die Nonne charakterisiert indes sich als Verführte und Verführerin, da es ihre Zuneigung war, die sie verführte. Dieses Paradoxon wird nochmals dadurch auf die Spitze getrieben, dass Marianne von ihrer »inclination violente« spricht, wodurch die von der galanten Liebesethik geforderte Maßhaltung, insbesondere diejenige der Frau, explizit negiert wird. Diese stets wiederholte Aufnahme und Aufhebung von zentralen Qualitäten der galanten Liebesethik entfalten ihre konzeptionelle Bedeutung indes erst dann, wenn man bedenkt, dass damit keineswegs ein vermeintlich spielerischer Umgang mit einem kulturellen Referenzsystem gepflegt wird, sondern viel grundlegender die vermeintlich objektive Geschlechterordnung ebendieses sozialen Systems hinterfragt wird, das starke Frauen nur in Gestalt von Preziösen wie der Figur der Plotine in Scudérys Clelie, histoire romaine kennt, aber nicht (mehr) in Gestalt von heroisch liebenden Frauen. 2. Die von den galanten Autoren geforderte Gegenwärtigkeit der Literatur produziert einen Rückkopplungseffekt, den Guilleragues mustergültig vorführt. Denn die Konzentration auf die eigene Kultur führt tendenziell dazu, dass man des Wissens um Traditionen verlustig geht, was insbesondere diejenigen Gattungen betrifft, die der scheinbar objektiven Geschlechterordnung nicht (mehr) entsprechen, wie dies im Falle der Heldenbriefe gegeben ist. Konkret heißt dies, dass man nur dann in den Lettres portugaises den Beginn des modernen Briefromans sehen kann, wenn man die Tradition der Heldenbriefe ausblendet, auch wenn diese auf einer Gattungstradition sowie auf einer Schreibweise aufbauen, die es erlauben, die vermeintlichen Widersprüche der Konzeption, wie das Oszillieren zwischen Realität und Fiktion, aufzulösen, da sie als Gattungscharakteristikum zu verstehen sind. Gleiches betrifft die eigentlich unmögliche Schreibsituation der liebenden Nonne oder deren pathetische Redeweise.38 38 Bekanntlich ist Guilleragues weder der einzige noch der letzte Autor von Heldenbriefen, wie Christian Hoffmann von Hoffmanswaldaus 1673 publizierte Kuriose Helden-Briefe deutlich machen, doch stehen beide Reaktualisierungen dieser Briefe meist außerhalb unseres literaturgeschichtlichen Blickes, da sie nicht der modernen Ausrichtung der Epik auf den Roman entsprechen. Guilleragues’ Lettres portugaises, so könnte man im Umkehrschluss sagen, werden folglich heutzutage (nur) noch deswegen gelesen, weil wir sie als Briefroman verstehen und damit eine ihrer eigentlichen Konzeption nicht entsprechende Lektüre anlegen. Denn unsere Lektüren folgen – bewusst oder nicht – immer auch Gattungstraditionen, auch wenn wir die damit einhergehenden Dynamiken und Transformation möglicherweise gelegentlich ausblenden oder vorsichtiger formuliert: Unsere Lektüren sind häufig Resultat unseres tendenziell retrospektiven Blicks, der in diesem Fall von Rousseaus Nouvelle Héloïse zurück auf Guilleragues’ Lettres portugaises gerichtet ist.
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3. Die Lettres portugaises und vor allem deren Rezeption stellen indes noch ein viel grundlegenderes Problem heraus, das sich im Anschluss an Pierre Bourdieu als Aufgabe fassen lässt, die Objektivierung weiblicher Konstitution und weiblichen Handelns selbst zu objektivieren, mithin diese Objektivierung einer kritischen Analyse zu unterziehen, um deren Mechanismen und Wirkmächtigkeit herauszuarbeiten.39 Es stellt sich einfacher gesagt die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass über sehr lange Zeit vehement behauptet wurde, dass diese Briefe von einer Frau geschrieben sein müssten, was bekanntlich noch in den 1960er Jahren zu einem Gerichtsverfahren führte, als Guilleragues’ Autorschaft der Briefe bewiesen wurde.40 Die Situation ist dadurch so bemerkenswert, dass männliche Forscher eine von einem Mann erschaffene literarische Erfindung, nämlich eine Briefe schreibende Nonne, nicht als Fiktion erkannten, sondern deren Authentizität als unhintergehbar ansahen, mithin die fiktional geschaffene weibliche Natur naturalisierten, um sie als Beweis für deren Realität ins Feld zu führen. Das derart geschaffene Problem besteht zum einen darin, dass stets eine spezifische Natur der Frau vorausgesetzt wird, die notwendigerweise bewirkt, dass diese leidenschaftlich und zugleich höchst empfindsam liebt, weil allein diese Liebe ihrer Natur entspreche. Diese Tautologie der Natur weiblicher Liebe setzt weiterhin voraus, dass quasi jede Frau in jedem Medium ihrer Natur gemäß ihre Liebe ausdrückt, wodurch indes jedes Gattungsdenken und d. h. im vorliegenden Fall: jede gattungsspezifische Modellierung weiblicher Liebe im Speziellen und weiblichen Handelns im Allgemeinen hintangestellt wird, obwohl diese Geschlechtermodellierung in der und durch die literarische Praxis seit Aristoteles’ Poetik das Gattungsdenken bestimmt. Wenn man die Variabilität und Diversität der Geschlechtermodellierung in der literarischen Praxis mit bedenkt, kann man die Tautologie der Natur weiblichen Handelns und Wandelns hingegen leicht auflösen und produktiv für die Lektüre nutzen. Es gibt indes noch ein weiteres Problem, das aus der traditionell männlichen Autorschaft weiblicher Liebesklage in den Heldenbriefen resultiert. Es stellt sich nämlich die Frage, ob nicht über Jahrhunderte hinweg bzw. 39 Siehe Pierre Bourdieu, La domination masculine : suivi de Quelques questions sur le mouvement gay et lesbien, édition augmentée d’une préface, Paris 2002. 40 Es handelt sich hierbei um den Streit zwischen Frédéric Deloffre und Jacques Rougeot auf der einen und Claude Aveline auf der anderen Seite um die Authentizität der Briefe als Briefe einer portugiesischen Nonne, der zwischen 1964 und 1968 die beiden Parteien vor Gericht brachte. Siehe hierzu auch Alain Brunn, »Vie de Mariane: Chronologie d’une fiction d’auteur«, in: Guilleragues, Lettres portugaises, 139–142.
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genauer: von der Antike bis zur Frühen Neuzeit die weibliche Konstitution ein Produkt männlicher Konstruktionen ist, das wahlweise diskursiv oder vordiskursiv geschaffen wurde. Gerade die für die Heldenbriefe namhaft gemachte psychologische Meisterleistung von deren Autoren, denen es gelingt, die weibliche Psyche zu verstehen, wirft die Frage auf, ob nicht eher umgekehrt von einer dezidiert männlichen Konstruktion einer spezifisch weiblichen Psyche gesprochen werden könnte. Diese überzeugt vorzugsweise männliche Leser, weil sie exakt das finden, was sie suchen, da sie der Objektivierung der ›weiblichen Natur‹ blind folgen, ohne sie kritisch zu objektivieren. Guilleragues würde demgegenüber die Machtstrukturen der männlichen Herrschaft offenlegen, indem er die Fiktion einer realen Nonne schafft, die so authentisch von ihrer Liebe schreibt, wie sich Männer dies vorstellen, auch wenn er ›nur‹ exemplarisch vor Augen führt, wie aus dem Zusammenspiel von Gattung und Geschlecht eine Geschlechtermodellierung der künstlerischen Praxis entsteht.
Minding Criticism The Cognitive Sciences and 18th-Century Literary Periodicals By Jürgen Meyer
I. Cognitive Literary Studies and Literary History [Y]f I tell you a tale of my good frende your mayster / the ymagynacyon [tha] t I haue of hym in my mynde / is not your mayster hym selfe but an ymage representyng that representeth hym. And when I name you hym [i. e. when I mention him to you] / his name is neyther hym selfe / nor yet [th]e fygure of hym / whiche fygure is in myn ymagynacyon / but onely an ymage representynge to you the ymagynycyon of my mynde.1 nosce teipsum, read thyself. […] [The passions of men] are so easy to be kept from our knowledge, that the characters of man’s heart, blotted and confounded as they are with dissembling, lying, counterfeiting, and erroneous doctrines, are legible only to him that searcheth hearts.2 the scene of ideas that makes one man’s thoughts, cannot be laid open to the immediate view of another, nor laid up any where but in the memory, a no very sure repository; therefore to communicate our thoughts to one another, as well as record them for our own use, signs of our ideas are also necessary.3
Quoting a few of the most representative thinkers’ voices spanning the long period ranging from English humanism to the late seventeenth century, the above statements collect a range of early modern ideas about the possibility to understand, anticipate and govern people’s ideas and actions. Specifically, they are indicative of an interest in the faculties and limitations of the thinking individual. People will always reflect, and judge, upon their own mental activities as well as upon those of others. Rep1 Thomas More, Dialogue Concerning Heresies (1529), ed. Thomas M.C. Lawler, Germain Marc’hadour, and Richard C. Marius, 2 vols. New Haven 1980, vol. I, 46. 2 Thomas Hobbes, Leviathan, ed. Sir William Molesworth, repr. London 1994 of the 1839 edition, xi–xii. 3 John Locke, Essay Concerning Human Understanding, repr. London 1997 of the 1794 edition, 297.
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resentations of such mental, cognitive and affective strategies have become an extremely productive object in the narratological as well as receptionist branches of current literary theory and their respective critical practises, labelled more or less fittingly as ›cognitive literary studies‹ (hereafter capitalized as ›CLS‹), claiming to counter and replace earlier speculative approaches: By drawing on understandings of the ›cognitive‹ and its focus on the brain / mind as a knowledge mediator, CLS explores how brain activity / mental functioning condition the writing, reading and interpretation of texts. The cognitive turn in literary studies represents, in short, an attempt to put literary analysis on a more empirical, scientific, physicalist footing, by adapting the tools and approaches of mind-embodiment science.4
In the exemplary sample of quotes above, writers represent themselves as particularly anxious to generalize on the position of somewhat involved, active observers, who constantly access and assess persons’ minds as well as their actions, and evaluate situations as texts as much as in texts. Whether in the shape of the humanist Nosce teipsum appeal or of its counterpart, the late modern ›Theory of Mind‹ concept (hereafter ToM), the almost instinctive habit of appropriating others’ and, in the instance of critics, authors’ minds implies both the sense of approaching and of colonizing them, defining a cognitive capacity or set of cognitive capacities that allows human beings to conceive of other people’s mental states, including states of knowledge, belief, desire, and intention. Because another person’s knowledge, beliefs, desires, and intentions are not directly available to perception, such mental states must be inferred from the person’s behavior and from the social conventions that inform and contextualize such behavior.5
Though much of the ToM framework in CLS has largely ignored contextual historical differences in matter, media and concepts exerting a significant influence on people’s perception and cognition,6 Alan Richardson argues that »current cognitive models and theories« can still permit 4 Paul Sheehan, »Continental Drift: The Clash between Literary Theory and Cognitive Literary Studies«, in: Chris Danta, Helen Groth (eds.), Mindful Aesthetics: Literature and the Science of the Mind, New York 2014, 47–58, here 48. 5 Mark J. Bruhn, »Shelley’s Theory of Mind: From Radical Empiricism to Cognitive Romanticism«, Poetics Today 30.3 (2009), 373–422, here 373. 6 Further studies aligning ToM with the history of ideas have been offered, for example, by Desmond M. Clarke, Descartes’s Theory of Mind, Oxford 2003; Michael Losonsky, »Language, Meaning, and Mind in Locke’s Essay«, in: Lex Newman (ed.), The Cambridge Companion to Locke’s »Essay Concerning Human Understanding«, Cambridge 2007, 286–312. – Earlier attempts include such individual studies as Glo-
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new readings of an earlier era’s literary, philosophical, and scientific discourses on mind and language, not because earlier notions somehow »anticipate« current ones, but because new interests, concepts, terms, and methods bring with them new perspectives on historical records.7
A synthesis of historicized ToM with the tenets of book history and the history of science, forming together the basis of Cognitive Materialism / Historicism envisioned by Richardson does not imply that present ToM is in any way unjustified or even irrelevant. Instead, it has helped shape new analytical categories: Those studying the ›prehistory‹ of cognitive science in literary, philosophical, and scientific representations of mind and brain have brought a related (new) historicist attention to ideology and discursive exchange to bear on a subject area made newly visible by the recent surge of interest in embodied, brain-based, and materialist theories of subjectivity.8
This article aims at historicizing, in Part I, present cognitivist approaches to literary and cultural studies, before moving on to demonstrating its practical potential for reading eighteenth-century periodical literature. This significant subset of the literary tradition may be considered a still hidden treasure trove of statements focusing on the representation of mental processes in the reading activity, cognitive as well as emotive. The present study collects paradigmatic gleanings from such diverse critical works as by John Dennis, Samuel Johnson, Richard Steele and Joseph Addison, all of whom stand for different critical stratagems each, and yet share in their critical practice a number of fundamental characteristics, implicitly or explicitly reflecting on a range of mental operations that occur in the reading act. To set the stage for these analyses, it is first necessary to glance at those theories of mental operations circulating in the natural philosophic discourse, especially its medical as well as philosophical formations which, at this point in the history of knowledge, had not yet separated from one another as they have done in later ages (nowadays, we must distinguish between clinical practice and critical writing, between ethical considerations and technological possibilities). Therefore, Part II offers a historical approach to eighteenth-century ›theoretical‹ litria Sybil Gross, This Invisible Riot of the Mind: Samuel Johnson’s Psychological Theory, Philadelphia 1992, with an analysis of Dr. Johnson’s œuvre, or more theoretical approaches with a particular semiotic twist, such as Juri Lotman, Universe of the Mind: A Semiotic Theory of Culture, Bloomington 1991. 7 Alan Richardson, »Studies in Literature and Cognition: A Field Map«, in: Alan Richardson and Ellen Spolsky (eds.), The Work of Fiction: Cognition, Culture, and Complexity, London 2004, 1–30, here 23. 8 Ibid., 25.
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erature circulating models and theories of the mind among anatomists and natural philosophers as specialists, and among the emerging profession of literary critics as lay people. This part forms a first basis for historicizing the representation of cognition and is followed, in Part III, by a textually centred case study tracking various mental modes of reading strategies in a range of quotes from critical literature. The conclusion, in Part IV, presents further perspectives in the domain of eighteenth-century literary and cultural criticism, which should be at the core, rather than the margins, of historical CLS, since it discloses both rational and affective ways of how readers used to ›make sense‹ of the literature they consumed. II. Historicizing Cognitivist Reception Theory A historically earthed analysis of the underlying mind-models in eighteenth-century texts may not close the deep historical, methodical and empirical gulf separating enlightened readers from their post-enlightened, late modern successors, but it may still help us late moderns understand the ways these critics’ chose in their project to ›make sense‹ of their readings. In 1995 James Buickerood, in an early attempt at mapping CLS research on enlightenment cognitive theory, argued that it is necessary not only to refer to the still best known theories, such as John Locke’s Cartesian brain physiology, or Bishop George Berkeley’s antirealistic cognition theory: In order to differentiate the different historical currents and directions in brain anatomy and its interpretation, a consideration of less prominent sources is equally feasible. Most importantly, he warns of a simplistic projection of present-day, late 20th or early 21st-century insights onto the attempts and achievements in the 18th century: »A great number of […] eighteenth-century kinds of inquiries into mind had cognitive or explanatory ambitions and motivations that were, on the whole, very different from those of whatever twentieth-century counterparts they may be seen to have«.9 In like fashion, reading historian Adrian Johns invokes still earlier contributors to the dispute about the human mind as material or spiritual force, ranking Thomas Willis’s chapters on The Anatomy of the Brain and The Description of the Nerves in the col-
9 James G. Buickerood, »Pursuing the Science of Man: Some Difficulties in Understanding Eighteenth-Century Maps of the Mind«, Eighteenth-Century Life 19.2 (1995), 1–17, here 12. – In his argument, Buickerood mentions as non-standard theories Samuel Farr’s vitalist brain physiology together with David Hartley’s hybridization of Cartesian mechanism and Newtonian gravitation theory in his theory of neural vibrations.
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lection of Remaining Medical Works (1681) as »the most important work on neurology to be produced before the nineteenth century [and] of prime importance to representations of reading«.10 The many approaches and opinions circulating in eighteenth-century medical discourse are neatly summed up in Roy Porter’s coinage about the state of the art as an »amalgam of medicine, science and philosophy«.11 The general failure to retract the crucial moment in the transition from body to mind made many eighteenth-century writers give up their speculations, and to rely instead on the wisdom of God as the »author of nature«. In absence of any means to examine an active brain (as in the various modern brain scanning technologies), anatomists were forced to speculate on the underlying processes in such analogies and metaphors as in the following examples quoted from the works different authorities in the latter half of the eighteenth century. How the known zones of the brain (»what part of the body«) interact and aggregate to such faculties as the »Memory, for example, or Reason, or Imagination«, states James Beattie in his Dissertations, Moral and Critical, »we know not«, continuing: »neither can we explain these faculties, by experiments made upon matter; or in any other way, than by attending to what passes in our minds«.12 Of course, there had been speculations about the localization of these faculties in the ventricles of the brain, but new insights required more complex maps of the brain and its functions, culminating towards the end of the 18th century in Franz Joseph Gall’s and Carl Spurzheim’s phrenology.13 And yet, much in line with Beattie, Thomas Reid, in his Enquiry into the Human Mind (1783), had confessed: »we know nothing of the seat of the soul: and we are so far from perceiving immediately what is transacted in the brain, that of all parts of the human body we know least about it.«14 Before any operation involving judgement and evaluation (aesthetic or otherwise), in the act of reading the 10 Adrian Johns, The Nature of the Book: Print and Knowledge in the Making, Chicago 1998, 393. 11 Roy Porter, The Greatest Benefit to Mankind: A Medical History to Humanity, New York 1997, 243. 12 James Beattie, Dissertations, Moral and Critical, ed. Bernhard Fabian, Hildesheim / New York 1974, repr. Of the 1783 edition, 2–3. 13 Cf. here the contextualization of Gall’s achievements in the historical perspective of modern brain imaging techniques by Jennifer Mundale, »Brain Mapping«, in: William Bechtel, George Graham (eds.), A Companion to Cognitive Science, Oxford 1998, 129–140. 14 Thomas Reid, An Enquiry into the Human Mind: On the Principles of the Common Sense. A Critical Edition, ed. Derek R. Brookes, Edinburgh 1997, 120.
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visual impression must be understood, leaving contemporaries confounded, facing the transformation of perception into cognitive processes. Reid describes this passage from optical stimulus to mental image thus: The pictures on the retina are formed by the rays of light; and whether we suppose, with some, that their impulse upon the retina causes some vibration of the fibres of the optic nerves; or, with others, that it gives motion to some subtle fluid contained in the nerve; neither that vibration, nor this motion, can resemble the visible object which is presented to the mind. […] No man ever saw the pictures in his own eye, nor indeed the pictures of the eye of another, until it was taken out of the head, and duly prepared.15
In this quotes, Reid refers to two different models of the mind, one activated by vibrating nerves in accordance with David Hartley’s theory popularized, among others, by Joseph Priestley; the other, referring to the »subtle fluid[s]« rooted in the much older Galenic humor theory, which had remained a forceful explanatory tool in contemporary psychophysics throughout the seventeenth and eighteenth centuries. Key reference consulted by many writers interested in the human brain and mind were still Willis’s late seventeenth-century anatomical treatises, readily available in the vernacular and thus, at least potentially, even to the medical layman. According to Willis, the »animal Spirits« originated in the blood and were set free in the »Cortical substance of the brain« by a distillation process separating the »subtil liquors from the blood, and imbuing it with a volatile Salt« that spiritualizes the cortex.16 More generally, he supposed that the oblong marrow, together with the nervous parts, is moistned with a double humour, viz. one spirituous and highly active, which flows altogether from the Brain and Cerebel, […] and the other humor softer and more oily and sulphureous, which being supplied from the blood, and affused immediately on every part, is the Author of their Heat and Vegetation.17
The faculties of imagination and memory feature as contrary motions within this system: [T]he Imagination is a certain undulation or wavering of the animal Spirits, begun more inwardly in the middle of the Brain, and expanded or stretched out from thence on every side towards its circumference: on the contrary, the act of Memory consists in the regurgitation or flowing back of the Spirits from the exterior compass of the Brain towards its middle.18
15 Ibid.,
120–121. Willis, »The Anatomy of the Brain«, in: Five Treatises, London 1681 (ESTC No. R38947), 92. 17 Ibid., 89. 18 Ibid., 91. 16 Thomas
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On the cognitive processes proper, Willis has not much to say in specifically anatomical terminology, except for images which represent processes in the cortex as animal spirits ›travelling‹ along a metaphorical passage until they meet eventually in »a publick Emporium or Mar[ke]t«.19 The employment of such metaphors and analogies, which themselves are based upon complex mental activities in the thinking subject, lead us further away from the object of strictly descriptive anatomical discourse to the use of a surrogate discourse, rooted in poetic imagery and rhetoric. Whilst, for instance, Locke’s conceptual metaphor for the mind, »impression«, is modelled on advanced print technology, analogies from the animal kingdom are equally popular: In Walter Charleton’s Natural History of the Passions, the »Rational soul« is portrayed as sitting in the brain somewhere near the original of the nerves belonging to the Senses (as a Spider sits watching in the centre of her net) and feeling all strokes made upon them by the Species of sensible objects, distinguish[ing] and judg[ing] of their several qualities and proprieties, by the different modes of their impressions.20
Charleton sketches this vibration theory image in quite a negative way (with the spider-figure as conventional stereotype of the critic), and he objects to its validity, without being able to provide a better one: »I hold it extremely difficult, not to talk some Nonsense, when we adventure to speak of the Spirits, whereof we understand so little«.21 Accordingly, Robert Boyle’s far less detailed anatomical observation follows the optic nerve from its origin in the eyeball until this and all the other nerves of perception »lose themselves in the brain«.22 Summarizing the medical as well as philosophical efforts, discursive struggles and shrugs in Rambler No. 155 (10 Sept 1751), Samuel Johnson circumscribes the »blind spot« on the retina as a relatively recent discovery in the anatomy of the eye, as well as its analogical concept representing the inaccessibility of mental processes: It seems generally believed, that, as the eye cannot see itself, the mind has no faculties by which it can contemplate its own state, and that therefore we have not means of becoming acquainted with our real characters; an opinion which […] an enquirer finds himself inclined to admit upon very little evidence, because it affords a ready solution of many difficulties.23
19 Ibid.,
93. Charleton, Natural History of the Passions, London 1701 (ESTC No. T173471), 65–66. 21 Ibid., 67. 22 The Works of Robert Boyle, ed. Thomas Birch, Hildesheim 1966 repr. of the London 1772 edition, vol. VI, 741 (my emphasis). 20 Walter
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Possibly one of the most advanced23 speculation, with a somewhat »ready solution of many difficulties« in the act of cognition seems to be one that was stated by Emmanuel Swedenborg in a treatise on Of the Common Sense, its Influence on the Soul, and its Reaction (MS 1744), which was cribes a never published during his lifetimes.24 Swedenborg actually des mental activity: that of intentionally paying attention to a visible object, and its processing as visual information. He puts particular emphasis on representing the passage of vibrations that cause the mind’s turning attention towards an object (with corresponding eye-movements), and the subsequent passage of sensations back into the brain: He follows the nerves from their origin at the »ventricle« through the »infundibulum« (a term for the structures near the hypothalamus) to the »orbit« (the eyeball proper), with the retina as the innermost of the three »tunics« around it (the other two figurative ›coats‹ being the fibrous tunic and the vascular tunic).25 The flux in the tunics is separated from one another by two layers of nerve fascicles: Every animation of the brain scatters the spirit about through the fibres, and takes place by the spirit itself thus more interiorly, but every sensation thus takes place through the fibers and tunics thus more exteriorly; wherefore the tunics of the fibers are exposed to the modifications, upon which the rays [of light] impinge. The one comes from the prior thus to posterior things downward, the other from the posterior thus to prior things upward; thence there is a circle from sensation to perception and understanding, from the understanding to the will and thus determination, or from outmosts to inmosts, from inmosts to outmosts.26
In fact, Swedenborg’s rather warped description is outstanding because it introduces, compared to other theories in which perception is the impulse of cognition, a bi-directional way of information: beginning with an idea of an object (literally at the very back of the head, in the cortical structure now termed ›occipital lobes‹), stimulating an immaterial wish to see the same object, which finds its fulfilment in a material sensation recorded by the eye. The subsequent description in this account of the gradual transformation of material impression (sight) back into mental information (vision), 23 Samuel Johnson, The Rambler, eds. W.J. Bate and Albrecht B. Strauss, 3 vols. (The Yale Edition of the Works of Samuel Johnson, vols. III–V), New Haven 1969, vol. V, 60. – A note on referencing Johnson’s works: Volume number anteceding page numbers accord with the sequence of the Complete Works edition. 24 Swedenborg’s tract De Sensu Communis, ejusque influxi in Animam, et Hujus Reactione was first published in 1848, and translated into English in 1913. Quoted edition: Emanuel Swedenborg, The Five Senses, transl. Enoch S. Price, Philadelphia 2006 [1914]. 25 Cf. ibid., 173. 26 Ibid., 173–74, my emphases.
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and of the subsequent cognitive acts (such as judgement) following the sensational projection of images onto the retina (perception) with their mental replication in the cortex realigns with the traditional sequence leading from simple sensation to complex volition. In this account of a reciprocal way of nervous (in modern terms: neural) information, Swedenborg gives an explanation not only of the general act of ›seeing‹, but indeed its more intentional correlative act of ›looking at‹ something. III. Tracking Cognition in Eighteenth-Century Literary Criticism Literary reception begins either with a visual impression taken in from a printed page (in the more modern silent, individual reading mode) or with the ear in an aural, usually social environment. Similar to present reception techniques in either digital or analogue formats,, and their spread into aural reception since the 1990s (e. g., in audio books, podcasts), the eighteenth century nurtured both the aural (loud, social) and the visual (silent, individual) modes of transmission and reception: in Spectator No. 279, 19 Jan 1712, on reading John Milton’s Paradise Lost, Joseph Addison imagines his readers to have »the Poem now before us«27 and envisions them to be following the written text line by line (and at least ›looking at‹ them). However, just a week later, in No. 285, on 26 Jan, he also evokes ›style‹ as an imaginary melody, potentially »shock[ing to] the Ear of the most delicate Modern Reader«.28 Modern neurologists have captured the processes involved in silent reading as a sequence of different successive as well as parallel cognitive acts: these comprise of an orthographic analysis stimulating, first, the visual lexicon and, second, translating a letter into virtual, i. e. imaginary, sound. This nonlinear phase – not every letter needs decoding in order to ›make‹ a word – is followed, third, by a semantic analysis which derives meaning from letters, words, phrases, sentences and ultimately the text. The emotional evaluation, as well as the cognitive patterning and re-patterning that we usually refer to as ›learning‹, is the most complex stage in this sequence.29 Additionally, time and again critics are engaged in similar mind-reading strategies that modern cognitivists also ascribe to fictional figures by what 27 Joseph Addison, Richard Steele, The Spectator, ed. Donald F. Bond, 5 vols., Oxford 1987, vol. II, 585. 28 Ibid., vol. III, 11. 29 Cf. Marc Wittmann, Ernst Pöppel, »Neurobiologie des Lesens«, in: Bodo Franzmann et al. (eds.), Handbuch Lesen, Munich 1999, 224–239, here 231.
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comes as part of the theory of mind parcel in the guise of cognitive meta-representation: such reconstructive, interpretive techniques make visible those openly reflected, or implicitly betrayed mental operations employed during the poet’s creative process. In the first place, this underlying representation of criticism-in-action allowed critics to keep track, in an essentially speculative mode, with operations of, and in the mind, by framing them with a particular source-tag, along the lines of ›Samuel Johnson thinks that he knows how John Milton imagined what Satan thought‹. This makes the reader shift perspectives from Johnson as critic to Milton the poet to Satan the fictional character in Paradise Lost. Likewise, ›common readers‹ can thus learn to change their own point of view and immerse with the fiction, putting themselves into the proverbial shoes of another. Meta-representation is therefore a key strategy in the mind-modelling process that allows for empathy with fictional characters, or positioning oneself against them.30 Speculative as it, the cognitive technique of source-tagging stands side by side with another important, almost universal device in any poetic diction; a complex of operations summarily referred to as conceptual blending.31 Here, two different concepts are put into a manifold correspondence which, according to Paul Thagard, features in such stylistic devices as metaphor or, to a greater extent, analogy and allegory: »Psychological evidence and computer models suggest that our minds handle this complexity thanks to three constraints that help to direct analogical mapping: similarity, structure, and purpose.«32 A third cognitive operation found in the following examples is the activation of an individual’s »semantic memory« by refer30 Cf. Lisa Zunshine, Why We Read Fiction: Theory of Mind and the Novel, Columbus, OH, 2006, 48–54. 31 Cf. Coulson, »Constructing Meaning«, 245–266. 32 Paul Thagard, »The Brain is Wider than the Sky: Analogy, Emotion, and Allegory«, Metaphor and Symbol 26 (2011), 131–142, here 132. – Cf. also the taxonomic classification of different types of analogy and their underlying mental operation in Robert R. Hoffman and Tom Eskridge, »A Naturalistic Exploration of Forms and Functions of Analogizing«, Metaphor and Symbol 24 (2009), 125–154, esp. 131. – The ancient problem of understanding, and representing, the ›cognitivity‹ in the concept fictional and non-fictional metaphor has continued to be a ticklish topic: An example of how scientific representation is blatantly contorted in scholarly discourse may be quoted from Zoltán Kövecses et al., Language, Mind, and Culture: A Practical Introduction, Oxford 2006, 120: »conceptual metaphors are ensembles of neurons in different parts of the brain connected by neural circuitry. The ensembles of neurons located in different parts of the brain are the source and target domains, and the physical neural circuitry that connects them is the mapping«. Of course, metaphors are no such neuron clusters proper, but they are products of the neuronal activity which also generates the ›mapping‹ process that, in itself, is another figurative description representing this activity.
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ence to world knowledge (either relative to a character, or to the reader). Still another, yet equally important category is the interrelation between the imagination and the »episodic memory« which allows both a location of ideas in the historical, empirical reality and in the imagination (i. e., in actual or possible worlds), as well as a »mental time travelling« activated by operations involving temporal relations connecting ideas and concepts in the past, present, or future.33 1. The Minds of Criticks and Poets Where eighteenth-century anatomy failed to yield any discursive explanation except figurative images representing these mysterious processes, philosophical ›Criticks‹ felt free to generate ideas of their own, especially of critical cognition and ToM. A practical illustration for such a strategy in a critical text, in shape of an externalization of the reading act, is provided by John Dennis’s third dialogue in his treatise on The Impartial Critick (1693). Though occasioned as a reply to Thomas Rymer’s Short View of Tragedy published earlier the same year, it establishes an indirect, ergo imaginary representation of reading in the shape of a series of Socratic dialogues, in one of which a critical mouthpiece called Freeman and his counterpart Beaumont discuss Edmund Waller’s patriotic poem To the King on his Navy. By following the dialogue, the readers witness, and re-enact in their reading process, a serial exercise of basic reading operations, such as speculating upon the poet’s thought in one paraphrase (mind-reading of others), and assessing the work in another. In the first case, Dennis has Freeman imagine a possible alternative to what the manifest text of Waller’s patriotic poem actually says: »if Mr Waller had been to say that in Prose [i. e., two lines from the poem, previously quoted in the argument], he would have expressed him otherwise: he would have said thus: Where e’re thy Fleet goes, she carries Peace to all, and causes all to pay or do Homage to thee«.34 This 33 Neurologists have shown that cognitive operations activating the memory or the imagination are closely connected and produced by similar areas of neural activity. For details, see Daniel L. Schacter, Donna Rose Addis, Randy L. Buckner, »Remembering the Past to Imagine the Future: The Prospective Brain«, Nature Reviews: Neuroscience 8 (September 2007), 657–61. See also Thomas Suddendorf, Michael C. Corballis, »The Evolution of Foresight: What Is Mental Time Travel, and Is It Unique to Humans?«, Behavioral and Brain Sciences 30.3 (2007), 299–351. 34 John Dennis, »The Impartial Critick (1693)«, in: The Critical Works of John Dennis, ed. Edward Niles Hooker, Baltimore, MD, 1967, 11–41, here 24. – Italics in
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paraphrase contains two elements: a rhetorical device which involves not only the generation of a possible world paradigm by annexing the poet’s expression of his imagination (»he would have said thus«), but also the change of formal genres (implying a transformation, or metaphrase, of metrical language into prose, serving a re-naturalization of expression) and thus pragmatic functions. By comparing the two versions, Waller’s lines and Freeman’s paraphrase, the critic judges the former as deficient according to the linguistic norms: »For where e’re she goes she brings Homage; would not be good English in Prose«.35 The argument proceeds and eventually the two interlocutors arrive at a point where Freeman takes issue with morphological and prosodic aspects of Waller’s diction, claiming that, in one line »winged should have been wing’d in order to make it sound pleasant«. Apart from offering yet another alternative, Dennis here refers to Freeman’s and Beaumont’s shared linguistic knowledge (›semantic memory‹) and has them remember, and thus implicitly reminding the hypothetical reader, that »all our Participles that end in -ed [can] be contracted«, »except wounded, confounded, boasted, wasted, and the like, because we cannot express two d’s, or td, without a Vowel between them«.36 Dennis’s text continues to circle around Freeman’s criticism of Waller’s usage of terms: »the word Fray is altogether unworthy of the Greatness of the Thought [transported in the line it is employed], and the Dignity of Heroick Verses«.37 Here, Freeman’s stylistic criticism is based on the affirmative invocation of the social convention of taste and decorum (semantic memory). In order to drive his point home, he adds an analogy which puts »Bullies« and »Trojan Heroes« into an ironic analogical relation, revealing the inadequacy of the term in its place: »Fray is fitter to express a Quarrel betwixt drunken Bullies, than between the Grecian and the Trojan Heroes«.38 According to the taxonomy established by Hoffman / Eskridge, the implied rebuttal of Waller’s use of the verb »fray« may technically count as a »contra-hoc analogy«, foregrounding the underlying mental operation of comparing and structuring rather than any stylistic purpose of intensifying the claim; at the same time it serves »show by exaggeration that the opponent’s argument is stupid and not just ridiculous«.39 Finally, Freeman uncovers the logical absurdity in a geometrical this and the following quotes from Dennis are my addition in order to distinguish the author’s object language from his metalanguage. 35 Ibid. 36 Ibid., 26 (orig. emphasis). 37 Ibid., 24. 38 Ibid.
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image of Waller’s poem, presenting a number39 of mutually exclusive metacognitive associations, or Hobbesian »trains of thought« about the author’s intentions: what does Mr Waller mean, by spreading the Liquid Main o’re the Center? The Centre is either taken for an imaginary Point, which is Mathematically in the midst of the Globe, and so to spread any thing over the Center cannot be good Sense; or the Centre is taken for the whole Globe, consisting of Land and Sea, and then to spread the Main over the Center, is to spread the Center over itself.40
Again, Dennis introduces two paraphrases of the same poetic image, and their underlying logic violates the norms of common sense, and runs into a feedback operation in the mind that mechanically but inevitably produces logical nonsense. What Dennis has staged as a brief Socratic dialogue in his Impartial Critic involving two individuals – discussing and assessing one poet and a limited number of his writings –, Richard Steele presents as a brief taxonomy of actors’ minds, which he orders as »rational, others sensitive and vegetative […], and others wholly inanimate«.41 Samuel Johnson, finally, in his account of the narrative, historiographical project Lives of the Poets (1779–81), commissioned by the London booksellers, he focuses on 52 poets from the recent past, and sketches a field-map of these English poets’ mind-sets.42 In it, he reveals a quasi-Aristotelian hierarchy of minds, ranging from the disingenuous who failed due to their lack of vitality (such as William Collins who devised a grand historiographical treatise but never wrote it), over the mad who failed to communicate their poetic ideas to others as much as they failed in their social environment (for instance, Swift), to the ›insular talents‹ who succeeded at least partly in creating new literary phenomena but were comparable, if unique, in their respective literary tradition (including the metaphysical poets for their wit, or Addison for his innovation of the character-genre). At the top of the hierarchy were such modern geniuses as Shakespeare and Milton as writers and Dryden as critics, who had an encompassing individual frame of
39 Hoffman and Eskridge, »A Naturalistic Exploration of Forms and Functions of Analogizing«, 139. 40 Dennis, »The Impartial Critick«, 27. 41 Addison, Steele, The Spectator, vol. I, 92. 42 For details on the following statements, cf. my argument in »Dr Johnson’s Lives of the Poets: Criticism between Character-Writing and Historiography«, in: Jana Gohrisch, Rainer Emig (eds.), Anglistentag 2014 Hannover: Proceedings, Trier 2015, 213–225.
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mind that allowed them to produce ethically highly resonant works comparable to earlier ones, and thus to be criticized in terms of a literary tradition. Still, none of these modern geniuses was formally flawless; in Johnson’s quasi-absolutist system, the only two authorities to be estimated as ingenious singularities were two ancients – Aristotle as critic, and Homer as poet. 2. The Writer’s Mind in Action The following considerations can feature only a limited scope of the whole potential of discursive facets of cognitive and emotional descriptions embedded into their essays and letters by the authorial masks, leaving aside a number of striking phenomena such as the conscious use of stream of consciousness-techniques, or reflections upon associations evoked by observation, and the like. The present argument gives preference to sometimes less obvious cases which, however, are significant as representations of underlying mental conceptions, easily aligning with CLS categories such as the ones mentioned above at the end of the introductory paragraph to this part. The conventional metaphors of ›trains of thought‹ leaving ›traces‹ in the mind had been seen in the context of a twofold operation, distinguishing the immaterial idea proper (»consciousness«) from its material »representativeness« in an action, a gesture or the written word, as Thomas Burnet had labelled these two aggregates of thought in his Sacred Theory of the Earth (1691).43 In their nature as »representativeness« words are always already belated, relative to the preceding unknowable act of cognition. The first example from literary criticism displays Richard Steele’s Tatler no. 98 in a moment of theorizing on the creative, poetic imagination: »The most active Principle in our Mind is the Imagination: To it a good Poet makes his Court perpetually, and by this Faculty takes Care to gain it first. Our Passions and Inclinations come over next; and our Reason surrenders it self [sic] with Pleasure in the End«.44 In this passage, the persona juxtaposes imagination, emotions, attitudes (passions and inclinations) and reason; the interrelation of these forces is one based on the principle of power: reason being inferior compared to the imaginative and the affective faculties of the mind. The Tatler dresses this, towards the end, into the metaphor of military »sur43 Thomas Burnet, Sacred Theory of the Earth, London 1691 (ESTC Cit.No. R10963), 213. 44 Richard Steele, The Tatler, ed. Donald F. Bond, 3 vols., Oxford 1987, vol. II, 106.
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render«, whereas at the beginning of the passage, the »power of love« had still served as predominant conceptual donator: Essentially, the poet will have to court his imagination. There is no metaphysical muse that kisses the poet, nor divine inspiration that strikes him – the poetic struggle for inventive images is limited to the (inner) sphere of the human skull, in a similar sense as Philip Sidney’s much earlier Defence of Poesie (1595) capturing the poet’s intellect as the »Zodiack of his owne wit«.45 This figurative coinage neatly parallels Samuel Johnson comments in his Idler No. 44 (17 Feb 1759) on the Use of Memory, in which he points out that memory and the imagination are closely linked by experience: »We do not even form conjectures of distant, or anticipations of future events, but by concluding what is possible from what is past.«46 However, whilst Sidney’s was a spatial image, Johnson’s clearly outlines a causal-temporal sequence; as it were, a mental ›event horizon‹ that includes factual as well as fictional, possible dimensions. Taking this attitude towards episodic memory as a fictio cum fundamentum in re one step further, the Spectator even launches a thought experiment which may well be labelled »mental time travel«, borrowing a term from present-day neuroscientific (metaphorical) discourse: In issue No. 101, Addison conceives an imaginary historian living around the year 2000, who looks back on reign of Queen Anne. He thus creates a temporal, ›pre-posterous‹ feedback loop, anticipating the imaginary individual who may come easier to terms with the political past than the contemporaries in the year 1711: »In such a Tract of Time it is possible that the Heat of the present Age may be extinguished, and our several Classes of great Men represented under their proper Characters.«47 A second category of representing a meta-cognitive process may be formed on the basis of self-assessments which refer to the spread of information as it is presented in a piece of writing: which is a mental operation of selecting, arranging, and mapping the argument of a text or, in this case, a text series. In the first issue of the Spectator, dated 1 March 1711, the persona reflects on the particular selection criteria which he applies for the description of his own character in order to reduce the possible information to a quantity manageable by the reader’s intellectual, i. e. information processing, capabilities: »I have given the Reader just so much of my Sidney, Defence of Poesie, London 1595 (ESTC S119205), sig. C. Johnson, The Idler and The Adventurer, ed. Walter J. Bate, John M. Bullitt, L.F. Powell (The Yale Edition of the Works of Samuel Johnson), New Ha ven, vol. II, 137. 47 Addison, Steele, The Spectator, vol. I, 424. 45 Philip
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History and Character, as to let him see I am not altogether unqualified for the Business I have undertaken. As for other Particulars in my Life and Adventures, I shall insert them in the following Papers, as I shall see occasion«.48 Elsewhere, he reasons upon the way he should outline the »History of false Wit« (issues Nos. 58 and 59 from 7 / 8 May 1711) and reasons upon his method and objectives: […] distinguish[ing] the several Kinds of it [i. e., the ›History of false Wit‹] as they have prevailed in different Ages of the World. This I think the more necessary at present, because I observed there were Attempts […] to revive some of the antiquated Modes of Wit that have been long exploded out of the Common-wealth of Letters. […] I shall therefore describe at length those many Arts of false Wit, in which a Writer does not shew himself a Man of a beautiful Genius, but of great Industry.49
Prior to the ›present‹ judgment-opinion, there was his ›observation‹ that ›showed‹ him the necessity of his ›future‹ elaborations on the quality of Wit – the ›future‹ being here the critic’s perspective in the act of composing his article, as well as the reader’s temporal mind-set in the reception process. In a similar, technically self-reflexive way, the persona of the short-lived weekly The Critick comments on his own writing situation, in issue No. 10, observing his own strategic choices in the act of composing and arranging the topic: I should here add some Thoughts of my own upon this Subject, but that too much Room is already fill’d by the Extracts I have made. ’Tis probable therefore I may resume it in one other Paper; and will now content Myself in putting a Conclusion to this (according to a Custom which I am a little fond of) with a very remarkable Passage.50
This rather rational line of argument is interwoven with affective phrases, especially surfacing in the parenthesis in which the persona states his own preference for a climatic closure in his essays. On the one hand, he is in complete control of his own text, remembering earlier passages in the text as well as material aspects such as the limitations in terms of the length of the text. On the other hand, he also refers to the moment of writing, which does not allow for any further arguments, and considers the future by announcing to fill the textual gap in a later issue. Thus, in both these examples, all temporal levels over which the imagination is in command are represented in these phrases, including their 48 Ibid.,
5. 245–6. 50 The Criticks [sic], Being Papers Upon the Times, London 1719 (ESTC P2225), 102. 49 Ibid.,
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location in the historical reality as well as in the grammatical potentiality. The affective dimension of the passage aligns authorial voice with his readers, the one ›liking‹ an element of suspense, the other indeed expecting it – and both sides are given satisfaction by the concluding passage announced, in advance, by means of the persona’s critical judgment as ›remarkable‹: Again, temporal levels in this parenthesis are mixed up, because the persona writes on the basis of his own past reading experience, but uses his speculative foreknowledge in order to stimulate, and calibrate, the hypothetical reader’s future reception. Ultimately, critic and reader stand in a similar relation to each other, as Burnet had described it in his treatise on the mind: the critic being the standardizing consciousness, actively and authoritatively prescribing suggestions and directions while the reader, in the role of the belated representativeness, forms his / her own judgement on the basis of the former: in short, the reader’s mind is in-formed by the critic’s criteria. 3. Critics Entering Others’ Minds The previous example allows advancing smoothly towards the next phenomenon – the human desire to speculate on the emotional state of an Other by interpreting, ›reading‹ her (para-) linguistic signals such as mimics, gestures, and actions. The earlier example from Dennis’s dialogue presented critic Freeman entering poet Waller’s strategic poetic considerations and decisions during the composition process, weighing one phrase against others and ›making up his mind‹ due to particular aesthetic and linguistic conventions. In issue no. 26 (30 March 1711), the Spectator even enters a discussion of various particularly bleak reading strategies, when he first presents himself as »amusing [himself] with the Tomb-stones and Inscription« in a graveyard, stating: Most of them recorded nothing else of the buried Person, but that he was born upon one Day and died upon another […]. I could not but look upon these Registers of Existence, whether of Brass or Marble, as a kind of Satyr upon the departed Persons; who had left no other Memorial of them, but that they were born and that they died.51
Apart from ›inspiring‹ the persona to fantasize about the departed as though they were marginal, often foolish figures in a heroic epic (and thus wholly imaginary), the Spectator later continues to »survey[-] this great Magazine of Mortality«, in particular the epitaphs and »Accounts which 51 Addison,
Steele, The Spectator, vol. I, 109.
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[he] found on several of the Monuments«.52 Upon these specimen, he reasons that the person commemorated would »blush at the Praises which his Friends have bestow’d upon him«,53 whilst others, eulogized in Greek or Hebrew, could not even be understood by anyone reading, or staring at, them. The example shows that the observant critic’s disposition is to intrude upon other people’s minds absolutely anywhere, even after their actual life-times; and if their mind is no longer active, the critic takes the written traces left of them as starting point for hypothesizing about their lives and character. The only limit for such speculations seems not to be an ontological frontier, but a linguistic one – and only to those who are not educated in the classical languages. Another such strikingly performative representation of reading others’ minds features prominently in a passage from Johnson’s Idler No. 67, dated 28 July 1759, known as Scholar’s Journal. It introduces a fictitious correspondent who has sent the journal of a scholarly idler to the author-persona. The same correspondent reasons on what he expects his editor to think about the thoughts and responses of the readers as recorded in the journal: »I […] resolved to send it [i. e., the journal] to you, imagining, that if you think it worthy of appearing in your paper, some of your readers may receive entertainment by recognizing a resemblance between my friend’s conduct and their own«.54 The argumentation is complex, embedding the correspondent’s view on the probability that the author persona will consider the material sent to him also to be relevant (useful) to an anonymous reader community sharing the journal’s editor’s experience of constant delay, distraction and procrastination that also allows for self-recognition achieved by identification with another. Accordingly, a wide range of primary cognitive operations (perception, recognition, judgement) are successively shown on different temporal levels and modes. In an advanced case of source-tagging, we recognize in this process of ›mind reading‹ the hierarchy of three levels of cognitive agents below the busily thinking Idler persona: It includes the fictitious correspondent, his thoughts on the hypothetic readers and their possible responses to the exposition of what may be (and – in the moment of reception – has been) printed. Thus, this and other embedded correspondents introduce not only alternative views (adding to the dialogic quality of the essays) but also represent different modes of reality.
52 Ibid.,
110.
53 Ibid. 54 Johnson,
Complete Works, vol. II, 211.
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4. Cognition and / as Emotion One final example must suffice to refer to the vicinity of reason and feeling, of thought as pleasure or pain. 1 Sept 1759 saw the appearance of Idler No. 72 (known as The Regulation of Memory), in which the persona reasons about the mental capacity of filtering memory: It would add much to human happiness, if an art could be taught of forgetting all of which the remembrance is at once useless and afflictive, if that pain which never can end in pleasure could be driven totally away, that the mind might perform its function without incumbrance, and the past might no longer encroach upon the present.55
Here, the persona draws the positive image of a phenomenon negatively evaluated in the system of Freud’s interpretation of dreams, i. e. the subconscious strategies of condensation (Verdichtung) and deferral (Verschiebung) of an individual’s traumatic, i. e. »afflictive«, experience. This oblivious »art«, however, has been understood not as a means to generate a mental state of unconditional »happiness« (as Johnson envisions it), but produces a contrary effect which may ultimately lead to neuroses and even neuropathological (›dissociative‹) disorders on motoric as well as sensual levels. Although so very distant from modernist psychology and psychoanaly sis, Johnson distinguishes clearly between genuine and dishonest ›good vibrations‹, between heartfelt »happiness« and forced »pleasure«. Especially the theatre, the location of lie and illusion, is a place where predominantly the latter is encountered, both on and off the stage: According to another imaginary correspondent embedded in Idler No. 18 (12 Aug 1758) the theatre provides no place for authenticity but only allows for a common »fiction of happiness«: »one face reflects the smile of another, till each believes the rest delighted, and endeavours to catch and transmit the circulating rapture. In time, all are deceived by the cheat to which all contribute«.56 Escapist pleasure is essentially criticized as mere auto-suggestion of the beholder, which had to be critically eyed by reason, and which dissolves by a juxtaposition of mere fantasy and reality. In direct contradiction targeted at Addison’s serialized essay on The Pleasures of the Imagination in Spectator Nos 411–421, Idler No. 58 (26 May 1759) warns both of a »Pleasure« conjured up by mere imagination: »He that has pictured a prospect upon his fancy, will receive little pleasure from his
55 Ibid., 56 Ibid.,
vol. II, 226. 58.
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eyes«.57 Generally, the Idler-correspondent writes as a rather scathing realist who denies the value of the imagination much at the expense of memory.58 His critical attitude towards the theatre and superficial entertainment, however, does align with the Spectator’s much earlier pessimism pouring from his critical observation of the Theatres from No. 22 (26 March 1711), in which he deplores a social agreement in the willing suspense of disbelief and the subsequent individual self-delusion: The Understanding is dismissed from our Entertainments. Our Mirth is the Laughter of Fools, and our Admiration the Wonder of Idiots; else such improbable, monstrous, and incoherent Dreams [i. e., dramatic fictions] could not go off as they do, not only without the utmost Scorn and Contempt, but even with the loudest Applause and Approbation.59
IV. Conclusion Ellen Spolsky has insisted that paying attention both to speculative theories and to documents providing what was considered empirical evidence of physical, physiological and cognitive details in texts may, even across the historical divide of two or more centuries, help »advance the project of understanding cultures – both the ones we live in now, and the ones distant from us in time and space – by investigating simultaneously the biology of human bodies, including, of course, the embodiment of the mind-brain, and the biologically grounded necessity of constructing cul-
57 Ibid., 182. – In Spectator No. 417 (28 June 1712), Addison had conjured up the dynamic process of the imagination as a static Prospect of a Garden. He paraphrases the Cartesian speculative model in an attempt at describing how an outer perception, for example of an imaginary »Prospect or a Garden«, generates a »Sett of Ideas« leaving »Traces« in the brain, which then initiate a whole chain reaction: For they »dispatch[-] a flow of Animal Spirit« and thus »awaken other Ideas of the same Sett, which immediately determine a new Dispatch of Spirits, that in the same manner open other Neighbouring Traces, till at last the whole Sett of them is blown up, and the whole Prospect or Garden flourishes in the Imagination« (Addison, Steele, The Spectator, vol. III, 563). 58 In spite of himself, Johnson also creates a different, softer and more modern impression, when another of his masks presents a constructivist view on empathy that opens Rambler No. 60 (13 Oct 1750): »All joy or sorrow for the happiness or calamities of others is produced by an act of the imagination, that realises the event however fictitious, or approximates it however remote, by placing us, for a time, in the condition of him whose fortune we contemplate; so that we feel, while the deception lasts, whatever motions would be excited by the same good or evil happening to ourselves« (Johnson, Complete Works, vol. III, 318). 59 Addison, Steele, The Spectator, vol. I, 92.
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tures.«60 Generally, the insight about the inaccessibility of the human mind was an anatomical commonplace in eighteenth-century literature, and many writers were aware of the fact that cognition was, at best, accessible through mediation, i. e. discourse and communication. Based on Berkeley’s antirealism, Reid argued that sensual experience evoked by impulses from the external world may be conceptualized as mere »signs of the tangible«,61 correlative to the printed word. This builds a stark contrast to a recent scientific view denying any such stability in neurological activity, sketched by Paul Thagard: »A neural representation is not a static object like a word on paper or a street sign, but is rather a dynamic process involving ongoing change in many neurons and their interconnections. A population of neurons represents something by its pattern of firing«.62 Despite the deep gulf with its shifting views and travelling concepts, there are numerous questions linking historical explanation models and modern empirical research. Gregory Hickok’s list of unsolved conundrums in today’s neurosciences reads much like the problems faced by many eighteenth-century brain anatomists and natural philosophers who considered the various steps from perception via sensation to animation and, ultimately, cognition: How does the brain take a variable stream of air pressure waves (what hits your ear when you listen to speech) and convert it into recognizable sounds, words, sentences and ideas? How do we learn to articulate the sounds of our language? […] Where does our ›inner voice’ come from? – the sense that we can hear our voice when we talk ›in our heads’ – and what purpose does it serve?63
Far from claiming any comprehensiveness, and covering no more than a minute fraction of mental states described in texts, the preceding argument has displayed the copious potential of gaining far-reaching insights into the competing historical cognitive theories and their popular manifestations in eighteenth century critical literature. Their systematic erudition is still one of the most pressing lacunae in English studies, and certainly is not limited to it. It is true, long-eighteenth century literary and cultural criticism, including the realm of non-fictional literature of sentiment and inwardness, will never give access to any immediacy of reading proper, nor will it even help simulate the way enlightened readers might have
60 Ellen Spolsky, »Preface«, in: Richardson, Spolsky (eds.), The Work of Fiction, vii–xiii, here viii. 61 Reid, Enquiry into the Human Mind, 116. 62 Thagard, »The Brain is Wider than the Sky«, 133. 63 Gregory Hickok, The Myth of Mirror Neurons: The Real Neuroscience of Communication and Cognition, New York / London 2014, 12.
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read, i. e., processed their texts. However, these writings turn inside out, by an often implicit theory of cognition governing the respective writer’s metacognitive self-reflection, the concurrent models and views of the human mind in action, and its capacity to think critically. The above analysis has shown that the emerging profession of eighteenth-century literary critics did not shun from cogitating upon such questions that kept natural philosophers, experimental and speculative, as well as anatomists and surgeons busy. They all attempted to offer different, often incongruous answers in their respective inquiries to the riddles of what actually happens when a literary mind is at work, being in a ›critical‹ state.
Der »Doppelroman« der Berliner Romantik im Kontext des Briefwechsels zwischen Varnhagen und Fouqué Von Antonie Magen In den Serapions–Brüdern entspinnt sich an zentraler Stelle ein Gespräch zwischen Cyprian und Theodor, dessen Gegenstand die literarische Arbeit ist, genauer gesagt: die kollektive literarische Arbeit. Cyprian ist skeptisch, ob eine künstlerische Gemeinschaftsproduktion überhaupt möglich ist, und führt zur Bestätigung seiner Meinung das Beispiel von vier Freunden an, die beschlossen haben, »einen Roman zu schreiben zu dem jeder nach der Reihe die einzelnen Kapitel liefen sollte«. Einer von ihnen legt den Beginn der Handlung fest und gibt damit das »Samenkorn, aus dem alles hervorschießen und hervorblühen sollte […]. Ein weiterer Plan wurde nicht verabredet«.1 Da nun aber jeder Autor bestrebt ist, die Handlungsfäden der anderen möglichst bald abzuschneiden und durch eigene Entwicklung des Geschehens zu ersetzen, kommt die Geschichte bereits nach kurzer Zeit zum Erliegen. Der Plan, gemeinsam einen Roman zu schreiben, ist gescheitert. Theodor ergänzt Cyprians Erläuterung, indem er ein weiteres Beispiel für ein gemeinsam geschriebenes Werk anführt, dieses Mal mit realhistorischem Vorbild:2 1 E. T. A. Hoffmann, Die Serapions–Brüder, nach dem Text der Erstausgabe 1819–21 unter Hinzuziehung der Ausgaben von Carl Georg von Maassen und Georg Ellinger, mit einem Nachwort von Gerhard Neumann, Wulf Segebrechts Anmerkungen, rev. u. erg. Ethel Matala de Mazza, 5. Aufl., Zürich / Düsseldorf 1995, 103. 2 Einschränkend ist zu bemerken, dass auch das Beispiel, das Cyprian anführt, in der Literaturwissenschaft einem historischen Vorbild zugeordnet wurde: Rogge nimmt als solches den zweiten Teil der Versuche und Hindernisse Karls an, der unter dem Titel »Roman des Freiherrn von Vieren« geplant war (Helmuth Rogge, »Geschichte und Bedeutung des Doppelromans der Berliner Romantik«, in: ders. [Hg.], Der Doppelroman der Berliner Romantik, 2. Bd., Leipzig 1926, 249–341, hier 329– 331). Da dieser Teil aber nicht über das Planungsstadium herauskam und nie erschien, ist sein historischer Gehalt vergleichsweise eingeschränkt. 2016 wurde der
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Ich kenne […] ein Buch, das auch von mehreren Freunden unternommen aber nicht vollendet wurde. Es ist mit Unrecht nicht viel in die Welt gekommen, vielleicht weil der Titel nichts versprach oder weil nötige Empfehlung mangelte. Ich meine Carls Versuche und Hindernisse. Der erste Teil, welcher nur ans Licht getreten, ist eins der witzigsten geistreichsten und lebendigsten Bücher die mir jemals vorgekommen. Merkwürdig ist es, daß darin nicht allein mehrere bekannte Schriftsteller, wie z. B. Johannes Müller, Jean Paul u. a., sondern auch von Dichtern geschaffene Personen, wie z. B. Wilhelm Meister nebst seinem Söhnlein u. a. in ihrer eigentümlichsten Eigentümlichkeit auftreten […].3
Mit dem Hinweis auf die Versuche und Hindernisse Karls spielt Theodor auf einen heute weitgehend vergessenen Roman an, der 1808 in Berlin anonym erschienen war.4 Seine Autoren waren, neben dem Hauptinitiator Roman des Freiherrn von Vieren gemeinsam mit den Doppelgängernovellen Das Bildnis der Mutter von Karl Wilhelm Salice–Contessa und Die Doppeltgänger von E. T. A. Hoffmann erneut publiziert und damit seine Bedeutung für das romantische Doppelgängermotiv abermals hervorgehoben: Adelbert von Chamisso, E. T. A. Hoffmann, Friedrich de la Motte Fouqué, Karla Wilhelm Salice–Contessa, Der Roman des Freiherrn von Vieren, Das Bildnis der Mutter, Die Doppeltgänger, mit Anmerkungen und einem Nachwort hg. Markus Bernauer, Berlin 2016. Zum Motiv und der Bedeutung des Doppelgängers vgl. auch Anm. 36. 3 Hoffmann, Die Serapions–Brüder, 103–104. Diese Passage ist bereits in der von Helmuth Rogge zusammengestellten Quellensammlung zum »Doppelroman« enthalten: Rogge (Hg.), Doppelroman, 168. 4 [Karl August Varnhagen, Wilhelm Neumann, Friedrich de la Motte-Fouqué, August Ferdinand Bernhardi,] Die Versuche und Hindernisse Karls. Eine deutsche Geschichte aus neuerer Zeit. Erster Theil, Berlin / Leipzig 1808. Wahrscheinlich wurde der Roman in relativ geringer Auflage gedruckt, die schnell vergriffen war. Die Erstausgabe ist heute selten und lässt sich in Deutschlands wissenschaftlichen Bibliotheken nur in wenigen Exemplaren nachweisen; das Exemplar, auf das sich der vorliegende Aufsatz bezieht, gehört zu den Bibliotheksbeständen der LMU (Signatur: 8° Maassen 1490). Im Jahr 1926 erschien eine von Helmuth Rogge besorgte Faksimile-Ausgabe, die inzwischen ebenfalls zur Rarität geworden ist: Rogge (Hg.), Doppelroman. Der Olms-Verlag publizierte 1999 hiervon einen Nachdruck nach dem Exemplar der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen (Hildesheim / Zürich / New York 1999). Zur Überlieferungssituation vgl. auch: Rogge, »Geschichte und Bedeutung«, 250. Dementsprechend überschaubar ist auch die Beschäftigung der Forschung mit den Versuchen und Hindernissen Karls: Die bis heute profundeste Bearbeitung findet sich in Rogges Faksimile-Ausgabe, deren zweiter Band nicht nur eine Vielzahl von Quellen und Rezeptionszeugen bietet, sondern vor allem auch den gründlichsten und erschöpfendsten literaturwissenschaftlichen Beitrag zum »Doppelroman«, den bereits oben genannten Aufsatz: »Geschichte und Bedeutung«. Sein Schwerpunkt liegt auf der Kontextualisierung des Romans in den literarhistorischen Zusammenhang des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jh.s, mithin in die Berliner Romantik (zu dieser vgl. auch Anm. 10). Die Beschäftigung der neueren Forschung beschränkt sich, von kurzen literarhistorischen Würdigungen Wolfgang Baumgarts und Gerhard Schulzes abgesehen
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Karl August Varnhagen5, Wilhelm Neumann, Friedrich de la Motte-Fouqué und August Ferdinand Bernhardi. Seit 1807 hatten sie gemeinsam an dem sogenannten »Doppelroman« gearbeitet6 und sich dabei ziemlich genau an das in den Serapions-Brüdern beschriebene Prinzip gehalten: Die Kapitel wurden abwechselnd von den einzelnen Beiträgern verfasst. Zunächst waren es Varnhagen und Neumann, später kamen Fouqué und Bernhardi hinzu. Es wurde »[k]ein Plan […] verabredet, als der, die neueste Zeit und deutsche Verhältnisse zu behandeln, die äußere Gleichmäßigkeit zu beachten und mögliche Einheit zu suchen, im Übrigen aber nach Kräften einander entgegenzuarbeiten«.7 Das Vorbild hatte Jean Paul in den (Wolfgang Baumgart, »Die Zeit des alten Goethe 1805–1832«, in: Heinz Otto Burger [Hg.], Annalen der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Eine Gemeinschaftsarbeit zahlreicher Fachgelehrter, Stuttgart 1952, 551–619, hier 560–561; Schulz, Die deutsche Literatur zwischen französischer Revolution und Restauration, 2. Teil: Das Zeitalter der napoleonischen Kriege und der Restauration 1806–1830, München 1989, 524–525, hier wird auf die »Verwirklichung romantischer Ironie« durch den Doppelroman hingewiesen), im Wesentlichen auf zwei Aufsätze, die 1974 und 1986 erschienen: Elisabeth Lenk, »Die Versuche und Hindernisse Karls. Oder: über kollektive Schreibweise in der deutschen Frühromantik«, in: dies., Kritische Phantasie. Gesammelte Essays, München 1986, 101–114 [erstmals erschienen 1974]; Hans-Christian Oeser, » ›Die Versuche und Hindernisse Karls‹ und die Ambivalenz des bürgerlichen Patriotismus in Preußen«, Weimarer Beiträge 32 (1986), 767–782. Erster Beitrag, ursprünglich 1974 als Vorlesung gehalten, zeigt den Zusammenhang des Romans mit (früh)romantischen Kunstkonzepten (im Detail vgl. hierzu Anm. 25), letzterer Beitrag ist historisch ausgerichtet und nimmt den politischen Rahmen des Romans (v. a. des Romanschlusses) unter die Lupe, indem er den zeitgenössischen Hintergrund der Befreiungskriege ausleuchtet und einen mentalitäts- bzw. ideengeschichtlichen Abriss über das Konzept ›Patriotismus‹ bietet. 5 Zu dieser Stellung Varnhagens s. Günter de Bruyn, »Versuche und Hindernisse«, in: ders., Die Zeit der schweren Not. Schicksale aus dem Kulturleben Berlins 1807 bis 1815, Frankfurt a. M. 2010, 75–82, hier 80. 6 Über die Entstehungsgeschichte geben v. a. die Briefe Auskunft, die Varnhagen mit seinen Mitautoren gewechselt hat, sowie weitere Briefe aus dem Berliner Freundeskreis. Rogge stellt die relevanten Dokumente in Ausschnitten im Kommentarband seiner Ausgabe unter der Überschrift »Briefe, Urteile und Rezensionen« zusammen: Rogge (Hg.), Doppelroman, Bd. 2, 111–180, v. a. 111–146. Mit Ausnahme der Korrespondenz Varnhagen / Fouqué (zu dieser vgl. Anm. 9) ist bisher keiner der für die Entstehungsgeschichte relevanten Briefwechsel vollständig erschienen. Zur Entstehungsgeschichte s. auch unten. 7 So erinnert sich Varnhagen später in den Denkwürdigkeiten an den Gemeinschaftsroman. Karl August Varnhagen von Ense, Denkwürdigkeiten des eigenen Lebens, hg. Konrad Feilchenfeld, Bd. 1 (Karl August Varnhagen von Ense, Werke in 5 Bänden, Bd. 1), Frankfurt a. M. 1987, 424. Fouqué gedenkt in seiner Autobiographie des gemeinsamen Romanprojekts auf ähnliche Weise: »Neumann und Varnhagen hatten einen Doppelroman begonnen, nach der Weise, wie es früher Bernhardi und Fouqué im Sinne getragen hatten […]. Fouqué schrieb, eingeladen, einige Kapitel
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Flegeljahren geliefert, in denen die Zwillingsbrüder Walt und Vult beschließen, gemeinsam einen Roman zu schreiben, den sie – quasi als Gattungsbezeichnung – »Doppel-Roman« nennen und der den Titel »Hoppelpoppel oder das Herz« erhalten soll.8 Schon alleine diese beiden Referenztexte, die 1804 / 05 erschienenen Flegeljahre einerseits und die 1819–1821 publizierten Serapions-Brüder andererseits, verorten Die Versuche und Hindernisse Karls nicht nur in der Romantik, sondern verweisen bereits durch ihre eigene autoreflexive Ausrichtung außerdem auf eine genuin poetologische Komponente des »Quadrupelroman[s]«9 des Berliner Autorenkollektivs.10 Dementsprechend dafür. Durch die Ueberkeckheit eines Mitarbeiters gerieth leider das Werk in’s Stocken. Nur der erste Theil ist unter dem Titel: ›Karls Versuche und Hindernisse‹ im Druck erschienen« (Friedrich de la Motte-Fouqué, Lebensgeschichte des Baron Friedrich de la Motte Fouqué, Halle 1840, 284). 8 Jean Paul, Flegeljahre, hg. Eduard Berend (Jean Pauls Sämtliche Werke, historisch kritische Ausgabe I / 10), Weimar 1934, 84 und 86. Jean Pauls Vorbild wird in den Lebenserinnerungen Varnhagens und Fouqués genannt. Fouqué, Lebensgeschichte, 284; Varnhagen, Denkwürdigkeiten I, 423. 9 So bezeichnet Varnhagen den Roman am 16. August 1807 in einem Brief an Fouqué, nachdem die Zahl der beteiligten Autoren auf vier angewachsen war: Karl August Varnhagen von Ense – Friedrich de la Motte-Fouqué, Briefwechsel 1806– 1834, hg. Erich Fuchs u. Antonie Magen, Heidelberg 2015, 49. 10 Mit Ausnahme von Fouqué, der seinen Lebensmittelpunkt in dieser Zeit auf dem im Brandenburgischen gelegenen Rittergut Nennhausen hatte, waren nach der Übersiedlung Varnhagens und Neumanns von Halle, wo die erste Idee zu der gemeinsamen Arbeit geboren wurde, alle Autoren in Berlin ansässig. Zur Bedeutung von Nennhausen für den Berliner Romantikerkreis vgl. auch Theodore Ziolkowski, »Nennhausen. Anregungsort romantischer Erzählkunst«, Jahrbuch für internationale Germanistik 43 (2011), H. 1, 201–215. Ziolkowski reflektiert hier auch die Entstehungsbedingungen des »Doppelromans«; vgl. hierfür insbesondere 205–208. In diesem Zusammenhang lohnt auch ein kurzer Seitenblick auf die Berliner Salonkultur, insbesondere auf den literarischen Salon, der insofern als konstituierendes Moment der Berliner Romantik angesehen werden kann, als sich hier zum einen maßgebliche romantische Autoren trafen, zum anderen eine praktische Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen Aspekt des theoretischen Kunstkonzepts der Frühromantik stattfand, mithin das Konzept ›Salon‹ in engem Zusammenhang mit der Idee eines Autorenkollektivs steht. Von Bedeutung ist in diesem Kontext v. a. auch der Salon von Varnhagens späterer Frau Rahel Levin, der zwischen 1790 und 1806 die Jägerstraße zu einem Zentrum des literarischen Lebens machte; vgl. hierzu Sabina Becker, » ›Mein Leben soll zu Briefen werden‹. Salongeselligkeit und Briefkultur. Zum Lebensprojekt Rahel Varnhagens«, Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 26,2 (2001), 98–120, hier 109. Da die Publikationen zum literarischen Salon in Berlin im Allgemeinen ebenso vielfältig sind wie diejenigen zu Rahels Salon im Besonderen, sei an dieser Stelle nur auf die neuere Forschung hingewiesen, deren Schwerpunkt auf den literatur- und sozialhistorischen Zusammenhängen liegt und v. a. mit dem Namen Hannah Lotte Lunds verbunden ist, die
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werden in den Versuchen und Hindernissen auch literaturtheoretische Reflexionen angestellt, zumeist mit aktuellem Bezug: Gleich anfangs findet sich eine literarische Satire auf den Stil des Geschichtsschreibers Johannes von Müller.11 Daneben werden verschiedene und ausführliche Gespräche über Literatur geführt, z. B. über Goethes Werther und die in seiner Folge entstandenen »Wertheriaden«12 oder über das Drama.13 Schließlich wird mit dem 13. Kapitel, dem einzigen, das aus Bernhardis Feder stammt, ein ganzer Abschnitt eingefügt, der keinerlei handlungstragende Funktion hat, sondern allein dem Zweck dient, die Kunstform Anekdote nicht nur zu diskutieren, sondern regelrecht zu inszenieren.14 Bemerkenswerterweise findet sich ausgerechnet in diesem Kapitel ein Verweis auf Fichtes Philosophie des Absoluten,15 die vor allem im Jenaer Romantikerkreis rezipiert wurde und als gedankliche Grundlage des (früh)romantischen Kunstpromehrere Aufsätze und 2012 eine einschlägige Dissertation vorlegte: Hannah Lotte Lund, Der Berliner ›Jüdische Salon‹ um 1800. Emanzipation in der Debatte (Europäisch-jüdische Studien Beiträge, Bd. 1), Berlin u. a. 2012. Hier wird der Salon unter sozialhistorischen Aspekten untersucht und als Ort der Judenemanzipation vorgestellt. Zudem wird auch die mediale Komponente berücksichtigt und der Kommunikationszusammenhang von Brief, Gespräch und Salon beleuchtet (333–337; zu diesem vgl. auch Anm. 85), der sich in dieser Arbeit ebenfalls methodisch spiegelt, indem die Autorin die Briefe von Gustav von Brinkmann an die beiden Salonièren Luise von Voss und Rahel Varnhagen ergänzend zu ihrer Salonrekonstruktion liest (435–530). Zur Forschungsdiskussion vgl. v. a. 12–16. Der neueste Beitrag von Lund zum Thema wurde im vergangenen Jahr veröffentlicht: Hannah Lotte Lund, »Manches mehr als Musen … – Preußens ›jüdische Salonièren‹ «, in: Elke-Vera Kotowski (Hg.), Salondamen und Frauenzimmer. Selbstemanzipation deutsch-jüdischer Frauen in zwei Jahrhunderten (Europäisch-jüdische Studien Beiträge, Bd. 5), Berlin 2016, 11–27. Verwiesen sei auch auf Caroline von Fouqués literarischen Kreis, der in Nennhausen zusammenkam und in dem die Forschung ebenfalls Züge des Salons erkannt hat; dazu Barbara Gribnitz, »Beim Eintritt in das gesellige Leben. Caroline de la Motte Fouqués Geselligkeitsentwürfe«, in: Reinhard Blänker und Wolfgang de Bruyn (Hgg.), Salons und Musenhöfe. Neustädtische Geselligkeit in Berlin und in der Mark Brandenburg um 1800, Hannover 2009, 121–143. 11 Die Versuche und Hindernisse, 14. Im Roman tritt Müller unter dem Namen Hans Striezelmeier auf. Zur Entschlüsselung dieser Figur vgl. Anm. 62. 12 Die Versuche und Hindernisse, 19. 13 Ebd., 45. 14 Ebd., 148–164. In diesem Zusammenhang bemerkenswert ist der Umstand, dass die Anekdote hier als Gesellschaftsspiel inszeniert wird. Damit erfüllt Bernhardi eine der zentralen kunsttheoretischen Forderungen von Friedrich Schlegel, der sich im 116. Athenäumsfragment sowohl für die Verschmelzung von Poesie, Philosophie und Rhetorik als auch für die Durchdringung von Leben und Gesellschaft durch Poesie aussprach (Friedrich Schlegel, »Athenäums-Fragmente«, in: ders.: Charakteristiken und Kritiken I [1796–1801], hg. u. eingel. Hans Eichner [Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, I. Abteilung, 2. Bd.], München u. a. 1967, 165–283, hier 182).
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gramms15 gelten kann.16 An anderer Stelle wird auf Friedrich Schlegel verwiesen und bemerkt, dass er und sein Bruder August Wilhelm »den größten Antheil an der früheren Blüthe [des geselligen Lebens in Berlin hatten], die mit dem Weggehn von jenen auch wieder sank«.17 Das sind deutliche Hinweise auf eine romantische Poetologie innerhalb des Textes. Dass es dem Roman nicht an entsprechenden Elementen mangelt, zeigt allein schon sein Figurenrepertoire, das nahezu alle Typen aus den zeitgleichen Erzähltexten der Romantiker aufbietet und das in seiner Standardisierung entweder als trivial und ästhetischer Mangel oder als bewusste Reflexion romantischer Poesie interpretiert werden kann: ein Einsiedler18 tritt auf, ein Köhler, der in einer einsamen Hütte im Wald haust,19 ein Geisteskranker, der in Ketten vorgeführt wird,20 eine Somnabule21 und schließlich eine geheimnisvolle Figur mit unklarer Geschlechtsidentiät, die als Mohrenkönigin bzw. Mohrenkönig aus dem Morgenland22 eingeführt wird. Romantisch ist auch der Aufbau des Romans. Nach Vorbild von Goethes Wilhelm Meister, der sogar als Figur im Roman auftaucht, wird die Romanhandlung zugunsten von allerlei Einschüben aufgebrochen; lyrische Einlagen, Episoden und Erzählungen werden integriert.23 15 Die Versuche und Hindernisse, 149, 154 u. ö. An anderer Stelle des Romans wird auf Kant angespielt, der als Vordenker und Grundlage für Fichtes Ideengebäude gelten kann (ebd., 72). Zum Beiträger Bernhardi und seiner Beziehung zu Fichte vgl. auch de Bruyn, »Versuche und Hindernisse«, 80, sowie Schulz, Die deutsche Literatur, 525. 16 Vgl. hierzu die grundlegende Arbeit von Bärbel Frischmann, Vom transzendentalen zum frühromantischen Idealismus. J. G. Fichte und Fr. Schlegel, Paderborn 2005, sowie den Tagungsband Wolfgang H. Schrader (Hg.), Fichte und die Romantik. Hölderlin, Schelling, Hegel und die späte Wissenschaftslehre. 200 Jahre Wissenschaftslehre. Die Philosophie Johann Gottlieb Fichtes. Tagung der Internationalen J. G.-Fichte-Gesellschaft 26. September – 1. Oktober 1994 in Jena (Fichte-Studien 12), Amsterdam 1997, hier insbesondere die Aufsätze von Helmut Schanze, »Das ›kleine Buch‹ und das ›laute‹ Weltereignis. Fichtes Wissenschaftslehre als Paradigma und Problem der ›Romantik‹ « (169–179) und Ives Radrizzani, »Zur Geschichte der romantischen Ästhetik. Von Fichtes Transzendentalphilosophie zu Schlegels Transzendentalpoesie« (181–202). 17 Die Versuche und Hindernisse, 234. 18 Ebd., 25. 19 Ebd., 133. 20 Ebd., 340. 21 Ebd., 231. 22 Ebd., 38. Zum Geschlechtswechsel dieser Figur vgl. auch: Varnhagen / Fouqué, Briefwechsel, 43. 23 So erzählen sich Friedrich und seine Begleiter beispielsweise auf ihrem nächtlichen Ritt allerlei Schwänke, die nach dem Vorbild der Dekameron-Erzählungen ge-
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Schwerer als diese kompositorischen Formalien wiegt aber, dass hier offensichtlich der Versuch unternommen wird, das von Friedrich Schlegel im Athenäumsfragment 125 geforderte theoretische Konzept der »Sympoesie«24 praktisch umzusetzen.25 Bemerkenswert ist dieses Experiment vor allem deswegen, weil ein sympoetisches Kunstwerk in der Zeit um 1800 zwar schnell zu einem literarischen Modeprodukt geworden war – die Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders26 von Tieck und Wackenroder oder Schillers Totenfeier27 von Bernhardi und Fouqué sind längst als einschlägige Beispiele romantischer Koproduktion in die Literaturgeschichtsschreibung eingegangen. Allerdings, und das unterscheidet sie maßgeblich von der Fiktion in den Flegeljahren und den Serapions-Brüdern, handelt es sich dabei in beiden Fällen um keinen Roman, der als Gattung in der romantischen Kunstphilosophie eine Sonderstellung einnimmt. Friedrich Schlegel bezeichnete ihn als »romantisches Buch«28 schlechthin, da er diejenige Kunstform sei, die die romantische Forderung nach der Vereinigung aller »getrennte[n] Gattungen der Poesie«29 erfüllen könne. Anders gesagt: Romane, die im Sinne der »Sympoesie« von mehreren Verfassern geschrieben werden, sind ein literarischer Topos – man denke neben den Flegeljahren an die heute ebenfalls fast vergessenen Schattenspiele eines anonymen Autors. In ihrem vierten Teil30 wird, einer gerade abgelebten Mode entsprechend, in geselliger Runde der Plan gefasst, gestaltet sind; Die Versuche und Hindernisse, 102–121. An späterer Stelle wird die allegorische Erzählung Der Einsiedler und der Pilger von Fouqué, die diesem später als Grundlage für sein Drama Waldemar der Pilger diente, eingeflochten; 263–273. Vgl. auch Rogge, »Geschichte und Bedeutung«, 277–278. 24 Schlegel, »Athenäums-Fragmente«, 185. 25 Vgl. hierzu Lenk, »Die Versuche und Hindernisse Karls«, hier v. a. 103–104. Rogge geht in seinem Essay »Geschichte und Bedeutung«, 261–264, auf artverwandte Projekte ein, wobei alle Romane, die er nennt, in die Zeit nach den Versuchen und Hindernissen Karls fallen, zudem nur einer von ihnen fertiggestellt wurde. Damit ist dem Roman von Varnhagen und seinen Koautoren tatsächlich eine gewisse Originalität zuzuschreiben. 26 Ludwig Tieck, Wilhelm H. Wackenroder, Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders, Berlin 1797. Vgl. hierzu auch: Rogge, »Geschichte und Bedeutung«, 265. 27 Schillers Todtenfeier. Ein Prolog von Bernhardi und Pellegrin, o. O. 1806. Vgl. hierzu auch: Rogge, »Geschichte und Bedeutung«, 266. 28 Friedrich Schlegel, »Brief über den Roman«, in: ders., Charakteristiken und Kritiken I, hg. Eichner, 329–339, hier 335. 29 Schlegel, »Athenäums-Fragment« 116, in: ebd., 166–272, hier 182. 30 Dieser Teil ist überschrieben mit: »Das Götterstündchen am Camin. Ein Familiengemälde«, in: Schattenspiele No. III. IV. und V., Berlin 1798, 83–264.
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meinsam einen Robinson-Roman zu schreiben.31 In der Realität findet das Konzept hingegen kaum Anwendung, im Gegenteil: Für seine praktische Umsetzung lassen sich nur wenige Beispiele finden. Ein entsprechender Plan Tiecks, der gemeinsam mit seiner Schwester Sophie und seinem Schwager Bernhardi einen Roman schreiben wollte,32 wurde bezeichnenderweise nie verwirklicht. Die Originalität der Versuche und Hindernisse Karls liegt somit, bei allen ästhetischen Mängeln, die dem Roman auch vorgeworfen wurden,33 gerade darin, dass es sich hierbei um eine der seltenen praktischen Umsetzungen einer zentralen theoretischen Forderung des romantischen Kunstprogramms handelt. Nicht zuletzt aus diesem Grund ist er tatsächlich eines der »witzigsten geistreichsten und lebendigsten Bücher[ ]«,34 als das ihn Hoffmann in den Serapions-Brüdern bezeichnet. In diesem Zusammenhang spielt der Aspekt der Doppelung eine wichtige Rolle.35 Doppelung verweist dabei nicht nur auf Arbeitstitel und Schreibtechnik des Romans. Vielmehr wird damit abermals ein genuin romantisches Motiv36 aufgegriffen, das wesentlich bereits durch die Flegel31 Ebd., 101–104. Auch Rogge führt bereits diesen Text als Beispiel an. Zu weiteren Vergleichstexten vgl.: Rogge, »Geschichte und Bedeutung«, 264–265. Ebenfalls Erwähnung findet der Text bei Lenk, »Die Versuche und Hindernisse Karls«, 104. 32 Rogge, »Geschichte und Bedeutung«, 265. 33 Vgl. hierzu beispielsweise Oeser, » ›Die Versuche und Hindernisse Karls‹ «, 766, oder Heinrich Spiero, Geschichte des deutschen Romans, Berlin 1950, 69. Diese Kritik wurde an den Versuchen und Hindernissen nicht zuletzt auch gerade deswegen geübt, weil er eine Gemeinschaftsproduktion war, die aufgrund der unterschiedlich schnell gelieferten Kapitel auch logische Brüche in Kauf nehmen musste. Ein solcher Bruch findet sich beispielsweise im Übergang des 6. zum 7. Kapitel: Obwohl sich Karl erst einen Tag und eine Nacht im Haus der dem Obristen befreundeten Familie befindet, geht Kapitel 7 davon aus, dass er bereits mehrere Tage dort verweilt. 34 Hoffmann, Die Serapions-Brüder, 104. 35 Dieser Aspekt wird auch von Rogge, »Geschichte und Bedeutung«, 263–269, bedacht, allerdings mehr unter einem literarhistorischen Gesichtspunkt und weniger als zentrales Gestaltungsmittel des Romans. 36 Vgl. hierzu beispielsweise Hoffmanns Erzählung Doppeltgänger (Rogge, »Geschichte und Bedeutung«, 316). Zum Doppelgängermotiv vgl. v. a. folgende neuere Forschungsliteratur: Dennis F. Mahoney, »Double into Doppelgänger. The Genesis of the Doppelgänger-Motif in the novels of Jean Paul and E. T. A. Hoffmann«, in: Wolfgang Mieder (Hg.), From Goethe to Novalis. Studies in Classicism and Romanticism. Festschrift für Dennis F. Mahoney, New York u. a. 2015, 215–224; Daniel Müller Nielaba, »Gibt es ihn, gibt es ihn nicht: (Hoffmanns) Doppelgänger«, in: Daniel Müller Nielaba, Yves Schmacher und Christoph Steier (Hgg.), Figur. Figura. Figuration: E. T. A. Hoffmann, Würzburg 2011, 163–172; Tina Lachenmaier, E. T. A Hoffmanns Figuren. Imaginative Spielräume der Ich-Identität. Die Erscheinungsfor-
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jahre vorgegeben ist. Mit den Zwillingsbrüdern Walt und Vult schafft Jean Paul eine »Doppelnatur«37, deren Identität auf zwei Personen verteilt ist. Ausgerechnet die Figur Jean Paul wird auch im »Doppelroman« zweifach repräsentiert, indem ihr folgende humoristische Selbstcharakterisierung – und zugleich eine poetologische Aussage – in den Mund gelegt wird: Es ruht nehmlich das entsezliche Unglück auf mir, daß ich oft, nehmlich immer wenn ich schreibe, mir selbst entlaufe, und meine besten Sachen z. B. Vernunft, Wiz, Humor u. dgl. wie ein Dieb, der aber doch wenigstens nur fremdes Eigenthum entwendet, mit weg nehme […].38
Eine Doppelung betrifft v. a. die Hauptfigur Karl, bezeichnenderweise eine kranke, nach Heilung ringende Gestalt, die in verschiedenen Identitätsvarianten auftritt. Besonders aussagekräftig ist in diesem Zusammenhang das von Fouqué verfasste elfte Kapitel: Hier wird Karl für Adolf gehalten, so dass dieser zweifach erscheint,39 was den bestürzten Ausruf zur Folge hat: Herr Jesus! schrien alle Damen zu gleicher Zeit auf; er ists! Er ists doppelt! Der Kutscher blickte auf das ängstliche Rufen zurück, und als er den, welcher noch vor einer halben Stunde in den Wagen stieg, auch zu gleicher Zeit beiher reiten sah, ergriff ihn das gleiche Entsetzen […].40
Als Folge resultiert aus dem durch die vermeintliche Doppelung hervorgerufenen Grauen des Kutschers ein schwerer Verkehrsunfall. Dementsprechend schlüpft Karl in die verschiedensten Rollen:41 Auf dem Schloss der Gräfin wird er als Italiener ausgegeben, der den Namen men des dissoziierten Ich. Doppelgängertum, Wahnsinn und Außenseitertum, Göttingen 2007; vgl. hier v. a. die Übersicht über die Forschungsergebnisse zum Doppelgängermotiv 43–53. 37 Zu diesem Ausdruck vgl. Rogge, »Geschichte und Bedeutung«, 272. Zum Vorgehen Jean Pauls, »zwei Seelenteile« in »verschiedene[n] Körpern« zu beschreiben, das sich in seinem Werk an verschiedenen Stellen findet, vgl. auch Maximilian Bergengruen, »Pol und Gegenpol eines Magneten. Zwei Studien zu Jean Pauls Konzept der Doppelautorschaft in Siebenkäs, Flegeljahren und Komet«, Jahrbuch der JeanPaul-Gesellschaft 45 (2010), 45–79, hier 53, sowie Hanns-Josef Ortheil, »Jean Paul, Walt und Vult. Wie Jean Paul seine Figuren erfindet: Walt und Vult, die genialischen Brüder«, in: Hans-Herbert Wintgens und Gerard Oppermann (Hgg.), Literarische Figuren: Spiegelungen des Lebens (Hildesheimer Universitätsschriften, Bd. 19), Hildesheim 2007, 235–254. 38 Die Versuche und Hindernisse, 196. Andererseits wird Jean Paul als derjenige charakterisiert, der zumindest in seinen Reden alles Getrennte wieder zusammenbringt (vgl. Ortheil, »Jean Paul, Walt und Vult«, 236), was ebenfalls ganz im Sinne der romantischen Kunstauffassung zu verstehen ist. 39 Die Versuche und Hindernisse, 123. 40 Ebd., 130.
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Carlo41 erhält,42 wobei die geliehene Identität heilsam auf ihn wirkt, so dass er »sich in der Täuschung ein andrer zu sein, die auch auf ihn überging, in einem leidlichern Zustand [fand] als vorher«.43 Eng mit der Identitätsproblematik hängt ein weiterer Aspekt der Doppelung und zugleich das zentrale Thema des Romans zusammen. Es ist die Reflexion des Verhältnissens von Wirklichkeit / Leben einerseits und Fiktion / Literatur andererseits, das auf verschiedenen Ebenen gespiegelt und in Relation zueinander gesetzt wird. Ja, man geht nicht zu weit, wenn man formuliert, dass, um beide Pole ineinander zu verschränken, im »Doppelroman« sowohl Wirklichkeit als auch Fiktion quasi gedoppelt werden. Wie das geschieht, geht im Wesentlichen ebenfalls aus der eingangs zitierten Charakterisierung von Hoffmann hervor: Zum einen spielen realhistorische und (auto)biographische Wirklichkeitselemente eine Rolle, die in die Romanfiktion eingefügt werden. Zum anderen werden Figuren aus der Literatur verwendet, die im Kontext des Romans Wirklichkeit werden und handelnd auftreten. Mit anderen Worten: Varnhagen, Fouqué, Bernhardi und Neumann präsentieren in ihrem Roman eine Mischung aus Faktizität und Fiktionalität, in der beide Ebenen so eng verwoben sind, dass sie sich wechselseitig beleuchten, die Fakten fiktionalisieren und den Fiktionen Tatsächlichkeit verschaffen. Im »Doppelroman« wird sowohl der Einbruch der Realität in die Fiktion bewerkstelligt, als auch die Aufnahme der Fiktion in die Realität beschrieben. *** Um die Wirklichkeitsebene der Versuche und Hindernisse zu schärfen (und somit zugleich eine Aussage über den Einbruch der Realität in die Fiktion zu treffen), lohnt ein Blick in die historisch-biographische Realität ihrer Urheber, wie sie sich anhand des Briefwechsels zwischen Varnhagen und Fouqué darstellt.44 Legitimiert wird dieses Verfahren durch 41 Ebd.,
126. 199–200. 43 Ebd., 199. 44 Als beste Quellen für die biographisch-historischen Hintergründe sind alle Korrespondenzen anzusehen, die zwischen den Autoren und ihren Freunden während der Entstehungszeit des Romans gewechselt wurden. Die weitaus meisten haben sich in der Sammlung Varnhagen erhalten, die heute in der Biblioteka Jagiello´nska in Krakau aufbewahrt und verwaltet wird. Zum Großteil sind die Briefe nicht ediert und nur in den Auszügen zugänglich, die Helmut Rogge im Rahmen seiner Dokumentsammlung (vgl. hierzu Anm. 6) bereitstellt. Eine Ausnahme bildet der Briefwechsel zwischen Varnhagen und Fouqué, der vollständig in einer historisch-kritischen Ausgabe vorliegt (vgl. hierzu Anm. 9). Da es sich hierbei um den 42 Ebd.,
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den engen Zusammenhang zwischen beiden Zeugnissen, der sich nicht nur durch verschiedene Bezugnahmen auf den Roman im Briefwechsel manifestiert, sondern auch in der Übernahme von Korrespondenzteilen in den Roman.45 Der schriftliche Austausch zwischen den beiden »Doppelroman«-Autoren beginnt im Jahr 1806 und damit in der Zeit, in der Varnhagen und Neumann ihr Romanprojekt initiieren: Erwähnt wird es erstmals im neunten Brief des Schriftwechsels, den Varnhagen Anfang Mai 1807 aus Berlin an Fouqué sendet und in dem er ihn bittet, den Doppelroman »baldmöglichst bereichert zurück[zuschicken]«46. Von da an häufen sich zum einen technische Hinweise, die sich auf den Herstellungsprozess beziehen: Distributionswege werden genannt, auf denen das Manuskript zwischen den vier Beiträgern hin- und hergeht,47 Klagen über säumige Kollegen werden laut,48 Ermunterungen zur Weiterarbeit ausgesprochen,49 die Frage des Titels ebenso erörtert50 wie Verlagsprobleme.51 Schließlich kann Varnhagen am 20. September 1808 melden, dass »der erste Bogen gedruckt«52 sei. Zum anderen werden inhaltliche Details besprochen, die thematischen Übergänge zwischen den Autoren ebenso53 wie die Verteilung der Geschichte auf verschiedene Kapitel.54 Fouqué gibt Qualitätseinschätzungen Austausch der beiden wichtigsten Autoren des »Doppelromans« handelt, zudem für die weitere Argumentation gerade die Kapitel, die von Varnhagen und Fouqué stammen, aussagekräftig sind, stützen sich die folgenden Überlegungen im Wesentlichen auf diese Korrespondenz. 45 Der Abschiedsbrief von Franz an Adolf ist in Teilen einem Brief von Fouqué, den er am 20. August 1807 an Varnhagen richtete, entnommen; Die Versuche und Hindernisse, 257; Varnhagen / Fouqué, Briefwechsel, 50. Das ist vielleicht das deutlichste, wenngleich oberflächlichste Beispiel für den Einbruch von Realität in die Fiktion. Vgl. hierzu auch Rogge, »Geschichte und Bedeutung«, 285. 46 Varnhagen / Fouqué, Briefwechsel, 42. 47 Ebd., 108–109. 48 So z. B. am 16. August 1807. An diesem Tag schreibt Varnhagen an Fouqué: »Mit dem Doppelroman […] stehts schlecht, erst Bernhardi faul, jezt Neumann?« (Varnhagen / Fouqué, Briefwechsel, 49). Oder am 9. Februar 1808: »Der Doppelroman liegt bei Neumann, und regt kein Glied […]« (ebd., 69). 49 Ebd., 65. 50 Ebd., 127. 51 Ebd., 115. 52 Ebd., 120. 53 Ebd., 108, S. 110. 54 Ebd., 95, S. 111.
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ab,55 beurteilt vor allem Varnhagens Arbeit56 und charakterisiert die Romanfiguren über das hinausgehend, was in den Versuchen und Hindernissen selbst über sie zu erfahren ist.57 Zum dritten aber, und das ist der eigentliche Mehrwert, den der Austausch zwischen Varnhagen und Fouqué für das Verständnis des »Doppelromans« bietet, eröffnet die Korrespondenz jenseits der konkreten Belegstellen, die sich auf den Roman und seine Entstehungsgeschichte beziehen, ein biographisches Panorama sowohl der äußeren Situation als der inneren Konstitution beider Briefpartner und Koautoren. Das gilt zunächst ganz oberflächlich für die Lebensumstände, wie beispielsweise für die Darstellung des Nennhausener Kreises, im Briefwechsel als »Schloßgesellschaft« bezeichnet:58 Im »Doppelroman« werden sowohl einzelne seiner Mitglieder beschrieben59 als auch eine Vorstellung von dessen geselligem Zusammenleben gegeben. Insbesondere Varnhagens Leben, der mit dem Titelhelden des »Doppelromans« denselben Vornamen teilt, ist aufschlussreich für eine grundlegende Interpretation des Romans.60 Nicht zuletzt deswegen, weil es explizit 55 So z. B. am 6. August 1808. Die Teile des Doppelromans, die ihm an diesem Tag vorliegen, scheinen ihm so gelungen zu sein, dass er sich »innig bewegt« fühlt (ebd., 110). Vgl. auch ebd., 113. 56 Ebd., 110, 117. Hier heißt es: »Als ich Dein letztes Capitel am Doppelroman ausgelesen hatte, trieb mich die Freude daran die die Abendluft hinaus«. 57 Ebd., 43, 51, 109. 58 Ebd., 77. Vgl. hierzu auch Rogge, »Geschichte und Bedeutung«, 285. Ziolkowski macht insbesondere auch auf die Bedeutung des Schlossparks aufmerksam, dessen Beschreibung sich sowohl im Roman als auch in Varnhagens Lebensbeschreibung findet, vgl. Ziolkowski, »Nennhausen«, v. a. 206–207; zur Beschreibung des Parks bei Varnhagen vgl. Varnhagen, Denkwürdigkeiten I, 440. Zur Beschreibung des Parks im Roman durch Fouqué vgl. Die Versuche und Hindernisse, 213–214. Vgl. auch de Bruyn, »Versuche und Hindernisse«, 80. 59 Das gilt vor allem für die Darstellung der Gräfin durch Neumann (Die Versuche und Hindernisse, 188–189 sowie 352–353) und durch Fouqué (382), der Caroline von Fouqué manche Züge geliehen hat. 60 Wegen seiner (auto)biographischen Komponente ist der »Doppelroman« in der Vergangenheit immer wieder entsprechend gedeutet worden. Schon Rogge, der eine Vielzahl der Figuren erstmals entschlüsselt, machte auf den (auto)biographischen Aspekt des Romans aufmerksam (Rogge, »Geschichte und Bedeutung«, im Wesentlichen 280–300, v. a. 300, wo es heißt: »Wir haben den Doppelroman der Versuche und Hindernisse Karls enthüllt als ein autobiographisches Dokument und Bekenntnis seiner Verfasser und ihrer Freunde […]«). Er wies eine Vielzahl von Figuren historischen Vorbildern zu, was zur Folge hatte, dass Die Versuche und Hindernisse Karls einen Eintrag in Georg Schneiders Handbuch Die Schlüsselliteratur erhielten: Georg Schneider, Die Schlüsselliteratur, Bd. II, Entschlüsselung deutscher Romane
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in den Roman eingearbeitet wird. So heißt es von Warner, der im Sinne der Doppelung als zweiter Teil von Karls Persönlichkeit verstanden werden muss,61 dass er »der Sohn eines Arztes [ist], der lange Zeit in Düsseldorf gelebt, darauf beim Ausbruche der französischen Revoluzion nach Straßburg gegangen, und endlich […] in Hamburg gestorben war«.62 Das alles aber sind Details aus der Biographie Varnhagens, der nicht von ungefähr wie die Romanfigur auch selbst Medizin studiert.63 Biographisches aber ist gleichsam programmatisch für die Versuche und Hindernisse. Nicht zufällig heißt es schon am Anfang des Textes (ohne dass eine rein biographische Lesart eingeleitet werden soll): »Das Leben eines jungen Mannes muß der reichhaltigste Stoff zu einem interessanten Roman sein […]«.64 Dagegen spricht die deutlich ausgeprägte poetologische Ausrichtung des Romans, die eingangs erörtert wurde, wie auch – damit argumentativ aufs Engste verknüpft – der organische Zusammenhang von Faktizität und Fiktionalität, der, ganz im Sinne romantischer Kunstauffassung, eine wechselseitige Relativierung zur Folge hat. Sie allein macht es bereits unmöglich, ein Element zugunsten des anderen aufzuwerten: Karl ist schon deswegen keine rein autobiographische Figur, da auch sie gedoppelt ist und erst im Zusammenhang mit Warner eine Identitätseinheit bildet. Ein einfaches Eins-zu-Eins-Verhältnis zwischen literarischer Figur und historischem Vorbild besteht an keinem Punkt des Romans. Gleichwohl spielt gerade Varnhagens Biographie, vor allem seine innere Verfassung, für das Verständnis des »Doppelromans« eine zentrale Rolle. Wie seine Gemütslage in den Entstehungsjahren der Versuche und Hindernisse aussieht, zeigt wiederum ein Blick zurück in den Briefwechsel mit Fouqué: Die äußeren Umstände seines Lebens sind in dieser Zeit am Vorbild des väterlichen Brotberufs orientiert. Bis zur Schließung der Uniund Dramen, Stuttgart 1952, 181–183. Sowohl bei Rogge als auch bei Schneider werden von den Nebenfiguren v. a. Striezelmeier und Focks untersucht und als ihre Urbilder Johannes von Müller bzw. Heinrich Voß benannt (Rogge, »Geschichte und Bedeutung«, 290 und 293; Schneider, Die Schlüsselliteratur, 183), wobei zu bemerken ist, dass dieser Zusammenhang im Roman selbst dadurch ironisch gebrochen wird, dass Focks über sein Pendant in der Wirklichkeit spricht und auch Werke von Voß liest (Die Versuche und Hindernisse, 321 und 329). 61 Hierfür spricht nicht zuletzt die enge Freundschaft, die sich zwischen Warner und Karl entwickelt; vgl. Die Versuche und Hindernisse, 73. 62 Ebd., 71. 63 Genauer gesagt fällt Varnhagens Medizinstudium in die Zeit, in der er am Doppelroman arbeitet. Auch darüber gibt der Briefwechsel Auskunft (z. B. Varnhagen / Fouqué, Briefwechsel, 54 u. ö.). 64 Die Versuche und Hindernisse, 19.
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versität Halle absolviert er dort – wenngleich nur mit mäßigem Interesse – ein Medizinstudium, das er später nach Berlin verlegt. Nur zu gerne verlasse er die Ärzte, schreibt er Fouqué am 3. März 1808,65 um mit seinem Korrespondenzpartner literarische Neuerscheinungen zu diskutieren. Der Gründung einer Universität in Berlin steht er, gerade der vermeintlichen Vorteile wegen, die dieser Standort für die medizinische Ausbildung zu haben scheint, mit Skepsis gegenüber.66 Identitätsstiftendes Element ist zu dieser Zeit die Literatur, die er in dieser Zeit als Berufung und Lebensinhalt erwägt und mit der er in verschiedener Weise experimentiert. Immer wieder ist in den Briefen an Fouqué von literarischen Projekten die Rede,67 immer wieder finden sich dort auch Überlegungen, welcher Berufung er folgen soll: der medizinischen oder der dichterischen, der bürgerlichen oder der künstlerischen. So heißt es beispielsweise am 1. September 1807 an Fouqué grundsätzlich: Mein Trost ist, daß ich 22 Jahr erst alt bin, und der Arzt dem Dichter noch frühe genug kann die Bahn aufthun helfen; glaubst du nicht auch, daß der welcher zehn Anlagen zu potenziren hat später zwar aber doch eben so schön zur Ausbildung gelangt, als der welcher zwei oder drei, bald die Reihe herum ist? ich aber muß Arzt, Gatte, Vater, Dichter, Grammatiker und noch vieles andere sein, wenn mein Leben nicht an manchen Gliedern gelähmt werden soll, was wenigstens durch meine Schuld nie geschehn wird. Du siehst, es wird aus mir etwas recht Tüchtiges, oder nichts; das leztere jedoch nur wenn eine höhere Macht mich schlägt, nicht weil die eigene Schwäche mich zweifeln ließ […].68 Briefwechsel, 77. 1. September 1807 schreibt er an Fouqué: »Die Leute reden viel davon, hier in Berlin eine Universität aufzubauen, und prahlen sehr mit den Vortheilen, die dies bringen würde, wo sie denn Bibliothek, Anatomie, Charité, mancherlei Kabinette und schon bestehende Vorlesungen zu rühmen beflissen sind; ich fürchte aber sehr daß der Geist fern bleiben und das Institut in einen breiten, vernünftig geleiteten Nuzen ausfließen wird; der Student darf nicht ein ordentliches Leben führen müssen, gut freilich, wenn er es von selbst thut, indeß wird nicht leicht einer gleich Anfangs den Gegensaz vernichten, in welchem Student und Filister stehn, ein Gegensaz, der tief in die Literatur durchgedrungen ist, und die Studenten recht in und zu einander treibt, daß sie in rascher Wechselwirkung thätig sind« (Varnhagen / Fouqué, Briefwechsel, 54–55). 67 Stellvertretend für die Vielzahl von Literaturprojekten, die in den Briefen genannt werden, sei hier auf Varnhagens Arbeit als Mitherausgeber des Musenalmanachs (Varnhagen / Fouqué, Briefwechsel, 35) sowie auf seine Novellenproduktion verwiesen, von denen die meisten freilich nicht veröffentlicht oder sogar nicht einmal fertiggestellt wurden (54, 65, 69, 161). Auch dramatische Versuche unternahm Varnhagen in dieser Zeit, wie das »dramatische Spiel« Benigna (36) sowie ein nicht veröffentlichtes Trauerspiel (220) und ein Drama, das sich dem Heinrich IV.-Stoff widmet (115 u. ö.). 68 Ebd., 54. 65 Varnhagen / Fouqué, 66 Am
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Fragen dieser Art sind überhaupt der Grund, aus dem Varnhagen den Briefwechsel mit Fouqué initiiert. Bewusst wendet er sich in ihm an einen Autor, der bereits auf dem Buchmarkt etabliert ist und mit seinen romantischen Mittelalterdichtungen einen Nerv der Zeit getroffen hat. So kann es nicht verwundern, dass Literatur im Allgemeinen und die prominente zeitgenössische Literaturströmung der Romantik im Besonderen immer wieder Themen in der Korrespondenz sind. Für letztere Ausprägung sind die Versuche und Hindernisse, in denen ähnliche Gegenstände wie in den Briefen angeschnitten werden, nur ein Beispiel, wenn auch eines, dem eine gewisse Sonderstellung zukommt. Denn zum einen hat gerade dieser Roman eine gewisse Tiefendimension durch seine romantische Poetologie. Zum anderen ist er, das drückt allein schon sein Titel programmatisch aus, von Varnhagen als Experimentierfeld für seine literarische Suche angelegt. Vor diesem Hintergrund bekommt der Umstand, dass der »Doppelroman« explizit das Verhältnis von Leben / Wirklichkeit einerseits und Literatur / Fiktion andererseits thematisiert, noch einmal eine andere Dimension. Es ist Varnhagen, der zur Entstehungszeit des Romans vor der Frage steht, welche Rolle in seinem Leben künftig die Literatur spielen soll und sich darüber klar werden will, was Literatur vermag, wie sich das Verhältnis von Literatur und Leben gestaltet. Um eine Antwort auf diese Frage zu erhalten, wird im »Doppelroman« nicht nur der Einbruch von Realität in die Fiktion thematisiert, sondern auch das Eindringen von Fiktion in die Wirklichkeit. *** Gemäß dem Prinzip der Doppelung gestaltet sich die Existenz von Fiktion in der Realität der Versuche und Hindernisse komplex. Bewerkstelligt wird sie in erster Linie durch die Integration literarischer Gestalten in die Handlungsebene. Allen voran ist es die Figur Wilhelm Meister, die am ausführlichsten in einer Begegnung mit Karl auftritt (woraus sich erneut Bedeutung Varnhagens im Kontext des »Doppelromans« erkennen lässt). Auf seiner Flucht steigt Karl in eine Kutsche, in der sowohl Wilhelm Meister als auch der Marquese sitzen.69 Beide sind von Anfang an als Romanfiguren gekennzeichnet und werden von Karl auch als solche erkannt.70 Somit wird Goethes literarische Welt plötzlich real und bricht in die Wirklichkeit des »Doppelromans« ein. Wilhelm Meister ist sogar fähig, den Roman zu reflektieren, dem er entstiegen ist, so dass im Gespräch zwischen ihm und Karl logische Brüche aus den Meister-Romanen 69 Die
Versuche und Hindernisse, 169.
70 Ebd.
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thematisiert werden können. Karl richtet beispielsweise an Wilhelm Meister folgende Frage: […] helfen Sie mir doch aus dem Zweifel, und sagen mir wie alt ist Ihr Felix? Aus dem was Göthe über Sie geschrieben, werde ich durchaus nicht klug, denn da sagt er einmal im Anfange des zweiten Buchs, er überspringe einige Jahre, und wie Felix späterhin vorkommt, ist er auch einige Jahre alt. Damit stimmt nun schlecht überein, was bei Melinas Ankunft in dem Landstädtchen gesagt wird […].71
Zum anderen entwickeln die beiden Figuren ein in mehrfacher Hinsicht kritisches Verhältnis zu ihrem Erfinder. Wilhelm Meister selbst äußert Zweifel an der Autorität seines Autors und setzt dafür seine eigene ein,72 muss aber an anderer Stelle auch zugeben, dass er erst durch Goethe berühmt und zu einer verehrten Person in Deutschland wurde.73 Am deutlichsten geht die Beziehung zwischen Autor und Figur aber aus einer Bemerkung des Marquese hervor, der über seinen Schöpfer spricht: Ich freue mich unendlich, sagte der Markese, diesen wunderbaren Mann [Goethe] endlich kennen zu lernen, und ihn zu fragen, aus welchem Munde er meine Geschichte erfahren hat, für deren Niederschreibung ich ihm gar nicht so übel will wie mein Freund Meister, der gar nicht lassen kann, bei aller Bewunderung, die er dem Dichter zollt, eine kleine Bitterkeit gegen ihn zu bewahren. Und das mit Recht! fiel Wilhelm ein […]. Wahrhaftig, wäre nicht der göttliche Schiller dort, den ich an mein Herz drücken will, ich ließe Sie allein nach Weimar reisen […].74
Sieht man genau hin, wird in dieser Äußerung sogar der Roman-Charakter der beiden Meister-Bücher nivelliert: Was Goethe über die Figuren niedergeschrieben hat, sind – zumindest aus deren Sicht – keine Romane, sondern Tatsachenberichte aus den Biographien tatsächlich lebender Personen. Gleichwohl veranlasst Karl ausgerechnet diese Äußerung zum Nachdenken, wie sein eigenes »Leben sich zu einem gehörigen Romane gestalten könne«.75 Dadurch aber wird spätestens an dieser Stelle die durch Wilhelm Meisters Lehrjahre repräsentierte Gattung Bildungsroman argumentativ relevant, auf die der Roman von Anfang an, noch vor dem persönlichen Erscheinen der Figur Wilhelm Meister, referenziert: Die Ausgangssituation des Protagonisten Karl wird parallel zu derjenigen von 71 Ebd.,
170. 171. 73 Ebd., 350. 74 Ebd., 334–335. 75 Ebd., 172. 72 Ebd.,
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Goethes Helden gestaltet. Beide treten im Auftrag der Väter eine Geschäftsreise an, die nur auf wenige Tage terminiert ist,76 von der es aber, wie sich im Nachhinein herausstellt, keine Rückkehr gibt. Ferner werden explizit wesentlich Themen des Bildungsromans angeschnitten, etwa der »Drang nach Wirksamkeit«,77 den im »Doppelroman« sowohl die Hauptfigur als auch weitere Charaktere verfolgen und schließlich durch eine Entscheidung für den Kriegsdienst erfüllen.78 Zusammenfassend lässt sich über den »Doppelroman« sagen, dass durch ihn Literatur als Lebensmodell gestaltet wird und der Roman gleichsam zu einer Form des wirklichen Lebens wird. Umgekehrt soll das Leben literarisiert werden. Dass die Verbindung zwischen Literatur und Leben gerade für Varnhagen zur Entstehungszeit des Romans eine existentiell wichtige war, zeigt wiederum die Korrespondenz mit Fouqué, die in ihren Hauptteilen parallel zum »Doppelroman« entstand: Sie zeigt sein Ringen um eine eigene literarische Ausdrucksform, die, wie bereits die Versuche und Hindernisse, eine Balance zwischen Literatur und Wirklichkeit bilden sollte. Dass Varnhagen schließlich zu einer solchen Kunstform gefunden hat, zeigt ebenfalls die Korrespondenz mit Fouqué. In einem Brief vom 24. Dezember 1810, und damit knapp zwei Jahre nach Erscheinen des »Doppelromans«, kommt Varnhagen erstmals auf dieses Konzept zu sprechen: […] über meinen Aufenthalt in Paris liegen beinahe hundert Seiten aufgeschrieben, und werden noch fast eben so viele folgen. Diese Denkwürdigkeiten schreib’ ich für Euch geliebte Freunde, und will nichts weiter damit, als Euch mittheilen was mir das Leben gegeben hat […].79
Hier fällt erstmals der Begriff der »Denkwürdigkeiten«, der später als Titel von Varnhagens autobiographischem Erinnerungsbuch nicht nur programmatischen Charakter erhält und ihn berühmt machte, sondern auch die literarische Moderne, insbesondere das Junge Deutschland prägte.80 Am 19. Dezember 1811 dann beschreibt Varnhagen Fouqué die von ihm favorisierte Kunstform folgendermaßen: 76 Ebd., 8. Goethes Werke, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, 21. Bd., Weimar 1898, 58–59. 77 Die Versuche und Hindernisse, 20. 78 Ebd., 48. Zu den historischen Hintergründen, vor denen diese Entscheidung zu sehen ist, vgl. Oeser, » ›Die Versuche und Hindernisse Karls‹ «. 79 Varnhagen / Fouqué, Briefwechsel, 193–194. 80 Zum Begriff und zur Innovationskraft der Dichtungsart vgl. Werner Fuld, »Einleitung. Diplomat und Revolutionär«, in: K. A. Varnhagen von Ense. Schriften und Briefe, Stuttgart 1991, 5–63, hier 44: »Was mit den kleinen Büchern über Tetten-
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Unsere Zeit scheint mir durchaus keine Geschichtschreibung in den hergebrachten Formen zu vertragen, Lebensbeschreibungen, Denkwürdigkeiten, Briefe werden als geschichtergänzende Aktenstücke einst der kommenden Zeit den wahren Inhalt der unsrigen offenbaren, der ein ganz andrer ist, als der aufdringlich Erscheinende […].81
Nimmt man beide Äußerungen zusammen, ergibt sich eine Definition des Konzepts »Denkwürdigkeiten«. Dahinter verbirgt sich eine literarische Art von biographischer Geschichtsschreibung, die Varnhagen schließlich als für sich geeignete Ausdrucks- und Darstellungsform übernimmt und vervollkommnet. Zudem wird klar, dass die von Varnhagen gewählt Kunstform einen realistischen Anteil hat (»Geschichtsschreibung«), der aber nicht in der herkömmlichen Form dargebracht werden soll. Ihr gegenübergestellt werden stärker literarische Formen, die geeignet sind, den »wahren Inhalt« zu transportieren. Insbesondere die Briefe werden hier eine zentrale Stellung einnehmen. Dass die Briefe für den »Doppelroman« als Realitätseinlagen wichtig waren, ist bereits gezeigt worden.82 Auf ähnliche Weise verwendet Varnhagen sie auch für die Denkwürdigkeiten, in die er ganze Teile der Korrespondenz mit Fouqué übernahm.83 Den umfangreichsten Beleg hierfür bietet wahrscheinlich die Beschreibung von Varnhagens Tübinger Studienaufenthalt, die er später in die Denkwürdigkeiten einfügte.84 born begonnen hatte, entwickelte sich nun zur eigentlichen Domäne des Schriftstellers Varnhagen: die Kunst der biographischen Geschichtsschreibung, in der er mit den Jahren eine stilistische und psychologische Meisterschaft entfaltete, die ihm den größten Ruhm eintrug. Er hatte sich damit eine literarische Form neu erfunden […].« Zu Varnhagens Vorbildcharakter für das Junge Deutschland vgl. ebd., 47. Zu den neuen literarischen Formen der Jungdeutschen vgl. außerdem Helmut Koopmann, Das Junge Deutschland. Analyse seines Selbstverständnisses, Stuttgart 1970, 62–66; zur Stellung Varnhagens v. a. 65–66. 81 Varnhagen / Fouqué, Briefwechsel, 222–223. In der Einleitung zur Edition fälschlicherweise versehentlich als Brief vom 19. Februar 1811 bezeichnet. 82 Vgl. Anm. 47. Am Rande sei hier mit einem Querverweis auf den letzten Absatz von Anm. 10 auch darauf hingewiesen, dass Rahel Varnhagen nicht nur als Salonnière, sondern auch als Briefeschreiberin in die Literaturgeschichte eingegangen ist. Dass sie mit beiden Medien ebenfalls künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten suchte, in der die Grenzen von Leben und Literatur aufgehoben werden konnten, hat Becker, » ›Mein Leben soll zu Briefen werden‹ «, v. a. 100, 106 und 108 dargelegt. 83 So findet sich beispielsweise der Anfang eines Briefes, den Fouqué Anfang Januar 1811 an Varnhagen richtete (Varnhagen / Fouqué, Briefwechsel, 196), wörtlich und mit Quellenverweis in den Denkwürdigkeiten. Karl August Varnhagen von Ense, Denkwürdigkeiten des eigenen Lebens, hg. Konrad Feilchenfeldt (Karl August Varnhagen von Ense. Werke in 5 Bänden, Bd. 2), Bd. 2, Frankfurt a. M. 1987, 179– 180.
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Damit wird klar, dass sich die Kunstform84 »Denkwürdigkeiten« zwischen Geschichtsschreibung und Literatur bewegt. Sie ist dialogisch und gewinnt, trotz ihres dokumentarischen Charakters, gerade durch die Flüchtigkeit ihrer situationsbezogenen, persönlichen Entstehungsbedingungen die Fähigkeit, die »wahren Inhalten«85 zu vermitteln.86 Alle diese Eigenschaften teilt sie mit dem »Doppelroman«, der damit in gewisser Weise ein Vorläufer der Kunstform »Denkwürdigkeiten« ist und ein wesentlicher experimenteller Meilenstein auf dem Weg zu ihr.
84 Zum Tübinger Tagebuch vgl. Varnhagen / Fouqué, Briefwechsel, 168. Zu dessen Eingang in die Denkwürdigkeiten vgl. Varnhagen, Denkwürdigkeiten I, 568–594. 85 Ebd., 223. 86 Vgl. hierzu auch ebd., 17.
Vom Imaginären zum Narrativen Zu zentraleuropäischen und asiatischen Quellen einiger Architekturen in Kafkas Werken Von Gloria Colombo Zahlreich sind die Architekturen, die in Kafkas Werk vorkommen. Beschrieben werden profane Architekturen, wie etwa Wohnungen im Urteil und im Proceß, Häuser wie das Landhaus Pollunders und das Hotel Occidental im Verschollenen. Es gibt sogar einen Schiffsbauch im Heizer, vom trivialen unterirdischen Bau in Der Bau ganz zu schweigen. Die Liste aller Architekturen dieser Art wäre lang. Ebenso erscheinen kolossale Architekturen, denen ein geheimnisvoller, beinahe sakraler Charakter anhaftet; sie können als vollständige oder als unvollständige bestehen. Den einen liegt das geheime Muster der Verbotenen Stadt in Peking und des Prager Hradschin, den anderen das offene Muster der Chinesischen Mauer und des Turmes zu Babel zugrunde. Als verschiedene Elemente einer kohärenten Reihe wurden diese Bauanlagen noch nicht systematisch von der Forschung analysiert worden. Ihr beinahe obsessives Wiederkehren in Kafkas Werk rechtfertigt aber, sie zum Gegenstand einer eingehenderen Betrachtung zu machen.1 Vorrangig auf 1 Eine solche Betrachtung ist prinzipiell möglich. Zwar gehört es zu Kafkas Verwirrungsstrategie, dass manche Bilder, die er zunächst konstruiert, im Laufe der Erzählung dekonstruiert werden. Darüber hinaus werden Gegenstände bis zur Auflösung von verschiedenen Perspektiven aus betrachtet. Beide Verfahren sind der Verfasserin bei der Übersetzung des Romans Das Schloß mehrfach aufgefallen (Franz Kafka, Il Castello [Nuovi classici], Siena 2008). Dennoch bleiben einige Grundbilder konstant: Vom Anfang bis zum Ende vom Schloß bleibt die Beschreibung des Schlosses (eigentlich einer Burg), so wie sie anfänglich von K. gemacht wird, bestehen und behält ihre volle Gültigkeit; nicht das Geringste wird daran geändert. Diese Beschreibung ist das wesentliche Element zur Bestimmung des vorhandenen Bau typus. Das Gleiche gilt auch beispielsweise für das Gebäude des Gesetzes, das im Laufe der Erzählung unverändert bleibt. Allerdings münden oft – vor allem bei der Beschreibung der Chinesischen Mauer – die nicht enden wollende Länge und die fast manische Genauigkeit der Schilderung nach und nach in eine abstrakte, surreale Dimension. Kafka entwickelt eine Art
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dem Weg der Quellenforschung soll das Ziel sein, die Bauvorlagen zu eruieren bzw. näher zu bestimmen, die einigen dieser literarischen Architekturen als Vorbild dienten.
I. Die vollständigen Bauwerke 1. Der chinesische Kaiserpalast Der chinesische Kaiserpalast kommt in der Legende Vor dem Gesetz (1914) und in den Parabeln Eine kaiserliche Botschaft (1917) und Ein altes Blatt (1917) vor.2 Was den ersten Text betrifft – Vor dem Gesetz –, ist es der bisherigen Forschung noch entgangen, dass das Gebäude, unter dessen Aspekt Kafka das Gesetz symbolisch darstellt, durch Züge gekennzeichnet ist, die direkt dem chinesischen Kaiserpalast entnommen sind. Der Eingang zum Gesetz wird nämlich – genauso wie der Eingang zum chinesischen Kaiserpalast – von einem tatarischen Wächter beschützt: Kafka schreibt, der Türhüter habe einen »langen dünnen schwarzen tatarischen Bart«.3 Zu Kafkas Zeiten war allgemein bekannt, dass der chinesische Kaiser – damals die chinesische Kaiserin – von einer tatarischen Garde bewacht war, ja sogar dass eine ganze »tatarische Stadt« sich um den Palast – die sogenannte »Verbotene Stadt« – erstreckte und ihn von der »chinesischen Stadt« trennte. Bekannt war außerdem, dass die Tore zum Kaiserpalast – türlose Rundbögen – offen waren: Pläne und Illustrationen, wie die im vorliegenden Artikel reproduzierten Bilder aus dem großen, damals in ganz Europa verbreiteten Larousse universel, bezeugten und veranschaulichten diese scheinbaren Realismus, der, den Vorstellungen der Träume ähnlich, in diesem Anschein von Realität die irrsinnigsten Formen und Wesen verbirgt. 2 Es gibt keinen Konsens darüber, welche Texte Kafkas zur Gattung ›Parabel‹ gezählt werden können. Immerhin lässt sich ein Korpus von vierzehn Texten ausmachen, zu dem die Schriften Eine kaiserliche Botschaft, Ein altes Blatt und Vor dem Gesetz gehören. Vgl. Rüdiger Zymner, »Kleine Formen: Denkbilder, Parabeln, Aphorismen«, in: Manfred Engel, Bernd Auerochs (Hgg.), Kafka-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart / Weimar 2010, 449–466, hier 456. Die Ungenauigkeit der Grenzen dieses Korpus wird durch eine Äußerung Kafkas selbst bewiesen: Der Autor bezeichnete den Text Vor dem Gesetz als eine »Legende«. Vgl. Franz Kafka, Tagebücher, hg. Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley (Schriften Tagebücher. Kritische Ausgabe), Frankfurt a. M. 2002, 707. 3 Franz Kafka, Der Proceß, hg. Malcolm Pasley (Schriften Tagebücher. Kritische Ausgabe), Frankfurt a. M. 2002, 293. Pietro Citati erkennt zwar eine Verbindung zwischen dem tatarischen Wächter in Vor dem Gesetz und China, aber nur im allgemeinen Sinn: Er macht keinen Hinweis auf die Figur der tatarischen Garde vor dem chinesischen Kaiserpalast (Pietro Citati, Kafka, Milano 2007, 181).
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Eigenarten der Anlage. Auch Kafkas imaginärer Bau besitzt Tore, die immer offen bleiben, und besteht, wie der chinesische Kaiserpalast, aus einer unendlichen Reihe von ineinander geschachtelten Höfen: Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, daß er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. »Es ist möglich«, sagt der Türhüter, »jetzt aber nicht«. Da das Tor zum Gesetz offensteht wie immer und der Türhüter beiseite tritt, bückt sich der Mann, um durch das Tor in das Innere zu sehn. Als der Türhüter das merkt, lacht er und sagt: »Wenn es Dich so lockt, versuche es doch, trotz meines Verbotes hineinzugehen. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter, einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal ich mehr ertragen«.4
Die riesige Dimension des chinesischen Kaiserpalastes wird auch in der Schrift Eine kaiserliche Botschaft betont, jedoch aus der entgegengesetzten Perspektive, d. h. aus dem Blickpunkt der höchsten Autorität. Der Kaiser möchte einem seiner Untertanen eine Botschaft bringen lassen, aber seinem Boten gelingt es nicht, die Gemächer und Höfe des Palastes zu überwinden: […] Wie nutzlos müht er sich ab; immer noch zwängt er [= der Bote] sich durch die Gemächer des innersten Palastes; niemals wird er sie überwinden; und gelänge ihm dies, nichts wäre gewonnen; die Treppen hinab müßte er sich kämpfen; und gelänge ihm dies, nichts wäre gewonnen; die Höfe wären zu durchmessen; und nach den Höfen der zweite umschließende Palast; und wieder Treppen und Höfe; und wieder ein Palast; und so weiter durch Jahrtausende; und stürzte er endlich aus dem äußersten Tor – aber niemals, niemals kann es geschehen – liegt erst die Residenzstadt vor ihm, die Mitte der Welt, hochgeschüttet voll ihres Bodensatzes.5
Der Ausdruck »die Mitte der Welt« bezieht sich auf das chinesische Kaiserreich, von den Chinesen als »das Reich der Mitte« bezeichnet. Das wird dadurch bestätigt, dass Kafka ursprünglich diese Parabel in die Erzählung Beim Bau der Chinesischen Mauer einfügte6. Überdies evoziert Kafka, Der Proceß, 292–293. Franz Kafka, Eine kaiserliche Botschaft, in: ders., Drucke zu Lebzeiten, hg. Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch und Gerhard Neumann (Schriften Tagebücher. Kritische Ausgabe), Frankfurt a. M. 2002, 280–282, hier 281–282. 6 Franz Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, in: ders., Nachgelassene Schriften und Fragmente I, hg. Malcolm Pasley (Schriften Tagebücher. Kritische Ausgabe), Frankfurt a. M. 2002, 337–357, hier 351–352. Erst später wurde Eine kaiserliche Botschaft herausgelöst und im Landarzt-Sammelband veröffentlicht (Manfred Engel, 4 5
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das hier beschriebene System von ineinander eingefassten Gebäuden die Struktur des chinesischen Kaiserpalastes. Beim Voranschreiten der Erzählung dehnt sich die Architektur des Palastes dermaßen aus, dass allmählich der Eindruck einer unüberwindbaren Distanz zwischen der Autorität und dem Einzelnen entsteht. Dennoch endet der Text mit einem relativ positiven Bild: Am Abend rekonstruiert der Adressat im Traum die Botschaft, die er nie erhalten wird.7 Der Hinweis auf den Abend entspricht der Anspielung auf das hohe Alter des Protagonisten in der Legende Vor dem Gesetz: Je schwächer seine Sicht und sein Gehör werden, desto deutlicher sieht der Mann vom Lande das Licht, das aus dem Inneren des Palastes hervordringt. Beide Elemente – der Abend und das Alter – lassen den Menschen die Verbindung zu der begehrten Instanz deutlicher wahrnehmen. Auch die Handlungen in der Parabel Ein altes Blatt (ursprünglich betitelt Ein altes Blatt aus China8) finden in der chinesischen Welt statt, aber nicht mehr zur Zeit der tatarischen Wächter am Anfang des 20. Jahrhunderts, sondern zur Zeit der mongolischen Invasionen vor dem Bau der Chinesischen Mauer. Der Kaiser wird durch die Invasion der Nomaden aus dem Norden dazu gebracht, den in der Mitte des chinesischen Kaiserpalastes liegenden Garten zu verlassen und sich seinem Volke zu nähern, indem er sich in die äußeren Gemächer des Palastes begibt.9 Aber es gelingt ihm nicht, die Einrichtung zu verlassen und die Grenze, die ihn vom Volk trennt, zu überschreiten: Gerade damals glaubte ich den Kaiser selbst in einem Fenster des Palastes gesehen zu haben; niemals sonst kommt er in diese äußeren Gemächer, immer nur lebt er in dem innersten Garten; diesmal aber stand er, so schien es mir wenigstens, an einem der Fenster und blickte mit gesenktem Kopf auf das Treiben vor seinem Schloß.10
Das erzählerische Ich ist ein Schuster, der seiner Sicht nicht völlig vertrauen kann. Nichts ist vollkommen klar und eindeutig in dieser Parabel – genauso wie in Vor dem Gesetz, wo der Mann vom Lande nur den Glanz »Kafka und die moderne Welt«, in: Engel, Auerochs [Hgg.], Kafka-Handbuch, 498– 515, hier 505). 7 Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, 352. 8 Franz Kafka, Drucke zu Lebzeiten. Apparatband, hg. Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch und Gerhard Neumann (Schriften Tagebücher. Kritische Ausgabe), Frankfurt a. M. 2002, 323. 9 Es sei bemerkt, dass ein Viertel des kaiserlichen Palastes in Peking aus einem Garten besteht. 10 Franz Kafka, Ein altes Blatt, in: ders., Drucke zu Lebzeiten, hg. Kittler, Koch, Neumann, 263–267, hier 266.
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des Lichtes erkennen kann, oder in Eine kaiserliche Botschaft, wo der Einzelne sich die kaiserliche Botschaft nur erträumen kann. Die genauen Quellen von Kafkas Evokation des chinesischen Kaiserpalastes sind heute noch unbekannt.11 In den Texten über die chinesische Kultur, die der Autor besaß oder gelegentlich zitierte, finden sich keine detaillierten Beschreibungen davon.12 In der Forschung wird aber üblicherweise vorausgesetzt, dass Kafka das Buch Im neuen China13 von Julius Dittmar gelesen hatte, da er die Reihe Grüne Bändchen (Schaffstein Verlag), in welcher Dittmars Text veröffentlicht worden war, nachweislich begeistert las.14 Im neuen China bietet eine eingehende Beschreibung der Verbotenen Stadt, in deren Mitte der unerreichbare Kaiser wohnt, und der Tatarenstadt, die die Chinesische Stadt von der Verbotenen Stadt trennt: Nehmen Sie hier den Stadtplan von Peking; es ist geradezu ein mathematischer Genuß, ihn zu betrachten. Zuerst haben Sie das nahezu ebenmäßige Quadrat der Tatarenstadt, in der sich die mandschurischen Eroberer angesiedelt haben, als sie 1644 das chinesische Reich eroberten. Mitten in ihr liegt als ein zweites, wiederum fast quadratisches Rechteck die Kaiserstadt, in der die Beamten und die Dienerschaft des Hofes wohnen. Und inmitten dieser Stadt endlich liegt hinter einem dritten schönen Mauerrahmen das Quadrat der verbotenen Stadt, in der der Sohn des Himmels mit den Seinigen wohnt. Im Rücken dieses Quadrats erhebt sich die einzige Anhöhe, die Peking kennt, der sog. Kohlenhügel, und 11 Für die Quellen von Kafkas China-Wissen vgl. Manfred Engel, »Entwürfe symbolischer Weltordnungen: China und China revisited. Zum China-Complex in Kafkas Werk 1917–1920«, in: Manfred Engel, Ritchie Robertson (Hgg.), Kafka und die kleine Prosa der Moderne / and Short Modernist Prose, Würzburg 2010, 221–236; Rolf J. Goebel, Constructing China. Kafka’s Orientalist Discourse, Columbia 1997; Weyan Meng, Kafka und China, München 1986. 12 Vgl. beispielsweise Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, übers., eingel. und mit Anmerkungen vers. Hans Heilmann, München 1905 (zitiert in: Jürgen Born, Kafkas Bibliothek. Ein beschreibendes Verzeichnis. Mit einem Index aller in Kafkas Schriften erwähnten Bücher, Zeitschriften und Zeitschriftenbeiträge, zusammengestellt unter Mitarbeit von Michael Antreter, Waltraud John und Joe Shepherd, Frankfurt a. M. 2011, 202); Martin Buber (Hg.), Chinesische Geister- und Liebesgeschichten, Frankfurt a. M. 1911 (zitiert in: Born, Kafkas Bibliothek, 156, 161, 190); Chinesische Volksmärchen, übers. u. eingel. Richard Wilhelm, mit 23 Wiedergaben chinesischer Holzschnitte, Jena 1914 (zitiert in: Born, Kafkas Bibliothek, 70, 73–74); Die chinesische Flöte. Nachdichtungen chinesischer Lyrik, Geleitwort und Anmerkungen von Hans Bethge, 9. Aufl., Leipzig 1918 (zitiert in: Born, Kafkas Bibliothek, 54); Otto Fischer, Chinesische Landschaftsmalerei. Mit 63 Bildwiedergaben, München 1923 (zitiert in: Born, Kafkas Bibliothek, 173, 195). 13 Julius Dittmar, Im neuen China, Reiseeindrücke. Mit photographischen Aufnahmen, Köln 1912 (Grüne Bändchen 24), 39–40. 14 Hartmut Binder, Kafka-Kommentar zu sämtlichen Erzählungen, München 1975, 218–219.
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wenn der Kaiser ihn ersteigt, so steht er genau im Mittelpunkte seiner gewaltigen Hauptstadt. Die Chinesen selber durften sich früher in der Tatarenstadt nicht ansiedeln, sondern mußten mit dem Lande vor der Stadtmauer vorlieb nehmen. Aber auch hier lagerte man sich nicht regellos zu den Füßen der Mauer, man zog vielmehr noch ein Rechteck als eine Art Vorplatz vor die Stadt, so daß sich die Chinesenstadt vollkommen symmetrisch an die Tatarenstadt anfügte. Nun beachten Sie noch, wie genau die ganze Stadt nach den vier Himmelsgegenden angelegt ist; kein europäischer Landmesser könnte diese meilenlangen Mauern fehlerloser von Norden nach Süden wie von Osten nach Westen ziehen. Mich berührt jedesmal die Empfindung einer edlen Harmonie, wenn ich meinen Fuß auf den Boden Pekings setze, ich fühle die wohlberechneten Maße, die harmonischen Abstände, die mich rings umgeben, und mir wird feierlich zu Mute, fast als träte ich in die hohen Hallen eines gotischen Doms.15
Nicht auszuschließen ist, dass Kafka seine Kenntnisse vom chinesischen Kaiserpalast auch durch das diffuse kulturelle Wissen seiner Zeit erwerben konnte. Von den Opiumkriegen (1839–1842, 1856–1860) bis zum Boxeraufstand (1899–1901) hatten sich in Europa zahlreiche Schriften über China angesammelt. Die Enzyklopädie Nouveau Larousse Illustré – die zwischen 1897 und 1904 in sieben Bänden veröffentlicht wurde – gibt die damals vorhandenen Informationen über die Stadt Peking besonders deutlich wieder: Ein Stadtplan zeigt die genaue Lage der Verbotenen Stadt in Bezug auf die Tataren- und die Chinesische Stadt (Abbildung 1), während eine Abbildung des Tors des kaiserlichen Palastes einen dreifachen Bogen zeigt, der, einem Triumphbogen ähnlich, immer offen steht – wie der Eingang zum Gesetz in Vor dem Gesetz (Abbildung 2).16 2. Die böhmische Schlossanlage und die westliche kaiserliche Burg Der chinesische Kaiserpalast hat ein westliches Äquivalent in der Prager Burg, die in den Romanen Das Schloß (1922) und Der Proceß (1914–17) evoziert wird. Kafka beschreibt das Schloss folgendermaßen: Es war weder eine alte Ritterburg, noch ein neuer Prunkbau, sondern eine ausgedehnte Anlage, die aus wenigen zweistöckigen, aber aus vielen eng aneinanderstehenden niedrigen Bauten bestand; hätte man nicht gewußt, daß es ein Schloß ist, hätte man es für ein Städtchen halten können.17
Dittmar, Im neuen China, 39. Vgl. Roland Béhar, » ›Être Kafka‹: Borges et le rêve d’un autre lui-même«, in: Roland Béhar, Annick Louis (Hgg.), Lire Borges aujourd’hui. Autour de »Ficciones« et »El Hacedor« (Actes de la recherche à l’ENS, 14), Paris 2016, 119–152, hier 141. 17 Franz Kafka, Das Schloß, hg. Malcolm Pasley (Schriften Tagebücher. Kritische Ausgabe), Frankfurt a. M. 2002, 17. 15 16
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Abbildung 1: Stadtplan von Peking, Nouveau Larousse Illustré (1897–1904), Bd. 6, 756b (Der Plan zeigt eindeutig, wie die »ville tartare« die »ville impériale« umzingelt und von der »ville chinoise« trennt.)
Der Baukomplex wird von einem Turm beherrscht, der den Mittelpunkt des Romans darstellt. Am Anfang ist nicht klar, ob der Turm zu einem Wohngebäude oder zu einer Kirche gehört. K., der Protagonist des Romans, unterstreicht die übermenschliche Natur dieses Turmes, indem er ihn dem Kirchturm seines Heimatstädtchens – einem »irdischen Gebäude«18 – entgegensetzt, und präzisiert:
18
Ebd., 18.
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Abbildung 2: Peking, Tor des kaiserlichen Palastes, Nouveau Larousse Illustré (1897–1904), Bd. 6, 756b
Der Turm hier oben – es war der einzige sichtbare –, der Turm eines Wohnhauses, wie sich jetzt zeigte, vielleicht des Hauptschlosses, war ein einförmiger Rundbau, zum Teil gnädig von Epheu verdeckt, mit kleinen Fenstern, die jetzt in der Sonne aufstrahlten – etwas Irrsinniges hatte das – und einem söllerartigen Abschluß, dessen Mauerzinnen unsicher, unregelmäßig, brüchig wie von ängstlicher oder nachlässiger Kinderhand gezeichnet sich in den blauen Himmel zackten. Es war wie wenn irgendein trübseliger Hausbewohner, der gerechterweise im entlegensten Zimmer des Hauses sich hätte eingesperrt halten sollen, das Dach durchbrochen und sich erhoben hätte, um sich der Welt zu zeigen.19
Der Hinweis auf das irrsinnige Gefühl, das die in der Sonne strahlenden Fenster auslösen, leitet den Leser bereits in eine Dimension des Traumes; noch surrealer wird die Atmosphäre durch die Worte, mit denen Kafka den Schlossbewohner beschreibt. Dieser lebt im entlegensten Zimmer des höchsten Turmes des innersten Schlosses und ist damit genauso unerreichbar wie das Gesetz und der chinesische Kaiser. Sein genauer Wohnsitz wird durch den oberen Teil des Turmes verraten, denn dieser scheint aus einer Wundertat hervorgegangen zu sein: Es ist, als ob der Schlossbewohner mit der bloßen Kraft seiner Hände das Dach durchbrochen hätte (was eine übermenschliche Stärke voraussetzt) mit dem einzigen Ziel, sich der 19
Ebd.
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Welt zu zeigen. Die Darstellung dieser Gestalt rückt in die Nähe einer religiösen Offenbarung.20 Auch in diesem Fall haben wir es mit einem System von ineinander eingefassten Gebäuden zu tun: Das Hauptschloss ist in ein architektonisches System eingefügt, das als »Schloß« bezeichnet wird, aber der Anlage nach eher einer Stadt als einer herkömmlichen Burg gleicht. Diese Anlage könnte durch mehrere böhmische Schlösser inspiriert worden sein, deren Eigenart es ist, im ganzen zentraleuropäischen Raum eine solche Gestalt aufzuweisen. Man denke beispielsweise an das Schloss Friedland, das Kafka im Januar / Februar 1911 während einer Reise besuchte, die er im Dienste der Arbeiter-Unfallversicherung unternommen hatte. Im Tagebuch des Autors wird dieses Gebäude als »das überraschend übereinander gebaute Schloß« bezeichnet.21 Schloss Friedland gehörte zu Lebzeiten Kafkas den Grafen Clam-Gallas; auch der Besitzer von Kafkas Schloss wird als »der Graf« bezeichnet.22 Eine andere Inspirationsquelle ist möglicherweise das Schloss, das im Herkunftsort seines Vaters liegt: Schloß Wossek.23 Das unvollendete Aussehen der durch die Gerüste abgedeckten Türme könnte Kafkas Beschreibung der unregelmäßigen, brüchigen Mauerzinnen des Schlossturms beeinflusst haben. Noch relevanter in diesem Kontext ist Schloss Hauenstein, das in der Forschung bisher nicht genannt wurde (Abbildung 3). Dieses liegt in der Nähe des Kurorts Karlsbad, in dem sich Kafka 1914 allein und 1915 mit Felice Bauer aufhielt. Von allen Burgen ist Hauenstein die einzige, deren mit kleinen Fenstern versehener runder Bergfried nicht mit einem Dach 20 Die theologische Interpretation dieser Stelle wird u. a. dadurch bestätigt, dass Kafkas Schloß mit Teresa von Avilas Seelenburg in Verbindung gebracht worden ist, vgl. dazu Antonio Maria Sicari, Nel »Castello interiore« di Santa Teresa d’Avila. Introdotto da »L’inaccessibile Castillo« da Franz Kafka a Santa Teresa, Milano 2006, 13–30. Teresa von Avila schreibt, dass sich Gott im Grunde der letzten Burg der menschlichen Seele verbirgt; dazu Teresa d’Avila, Castillo interior, in: ders., Tutte le opere. Testo spagnolo a fronte, hg. Massimo Bettetini, Milano 2011, 1090–1502, v. a. 1468, VII, 3.9. Es muss Vermutung bleiben, ob dem belesenen Kafka die Schriften von Teresa von Avila bekannt waren. Es könnte sich um einen bloßen Zufall handeln. Wichtig ist auf jeden Fall, dass Teresa aus einer jüdischen Familie stammte, in der sie eines der wichtigsten Sinnbilder des Sohar – und zwar das Bild des Palastes, das aus Gottes Entfaltung hervorkommt – erfahren konnte. 21 Kafka, Tagebücher, 935. 22 Kafka, Das Schloß, 8. 23 Carsten Schlingmann, Literaturwissen, Franz Kafka, Stuttgart 1995, 59; Anthony Northey, »Die Kafkas: Juden? Christen? Tschechen? Deutsche?«, in Kurt Krolop, Hans Dieter Zimmermann (Hgg.), Kafka und Prag. Colloquium im GoetheInstitut Prag 24.-27. November 1992, Berlin / New York 1994, 11–32, hier 11–15.
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Abbildung 3: Schönwald, Schloss Hauenstein, Zeichnung der Verf. nach einer zeitgenössischen Ansicht
bekrönt ist, sondern sich in einer von Zinnen umgebenen Terrasse öffnet – und somit dem Turm von Kafkas Schlossbeschreibung am genauesten entspricht (»Der Turm […] war ein einförmiger Rundbau, […] mit kleinen Fenstern, […] und einem söllerartigen Abschluß, dessen Mauerzinnen […] sich in den blauen Himmel zackten«.24) Darüber hinaus gehörte Schloss Hauenstein bis 1945 den Grafen Buquoy, so dass sich daraus die Bezeichnung »der Graf« für den Besitzer von Kafkas Schloss herleiten könnte.25 Von allen Schossanlagen Böhmens war aber der Hradschin zweifellos Kafka am vertrautesten. Dieser ist, genauso wie Kafkas Schloss, eine Art Akropolis, eine Stadt in der Stadt, genauer gesagt über der Stadt: Er besteht aus einem Labyrinth von Gassen, Gebäuden, Kapellen, Schenken, Kaufläden und kleinen Wirtshäusern. Eine besondere Eigenart dieser Schlossanlage ist, dass der Dom der Stadt, der Veitsdom, sich in ihrer Mitte erhebt (Abbildungen 4, 5). Dabei muss man sich an Kafkas Beschreibung des Hauptturms des Schlosses erinnern, von dem der Besucher ursprünglich nicht erkennen kann, ob es sich um einen weltlichen oder 24 25
Kafka, Das Schloß, 18. Ebd., 8.
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Abbildung 4: Grundriss des Hradschin, Zeichnung der Verf. nach einer zeitgenössischen Ansicht.
Abbildung 5: Der Hradschin im Jahre 1887 (Bau der westlichen Fassade), Zeichnung der Verf. nach einer zeitgenössischen Ansicht.
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einen sakralen Bau handelt. 1583 erhob Rudolf II. den Hradschin zur kaiserlichen Residenz und in den letzten Jahrzehnten seines Lebens sperrte er sich im Gebäude ein, ohne sich jemals in der Öffentlichkeit zu zeigen.26 Nach dem Tod des einsamen Kaisers (1612) wurde die Hauptstadt des Heiligen Römischen Reiches wieder nach Wien verlegt, und der Hradschin blieb bis zum 19. Jahrhundert wenig beachtet. Kafka musste diese Welt sehr gut gekannt haben: Vom Dezember 1916 bis April 1917 nutzte er die von seiner Schwester Ottilia gemietete Wohnung in der Alchimistenstraße im Hradschin als Werkstatt für seine literarischen Aufzeichnungen.27 Der Autor sah mit eigenen Augen die Vervollständigungsarbeiten der Kathedrale, die zwischen 1861 und 1929 zum Bau der westlichen Fassade und der neogotischen Türme führten. Zu dieser Zeit öffnete sich der entstehende Bau, wie aufgerissen, nach oben. Richtet man nun seine Aufmerksamkeit auf Kafkas Roman Der Proceß, so scheinen hier zunächst keine architektonischen Elemente vorhanden zu sein. Eine aufmerksame Lektüre zeigt jedoch, dass die Struktur dieses Werkes dem Aufbau der oben erwähnten Bauten sehr ähnlich ist: Auch in diesem Fall beschreibt Kafka das mühevolle Voranschreiten der Hauptfigur als das Umherirren in einem endlosen Labyrinth, in welchem man immer wieder am Ausgangspunkt anlangt.28 Dieses Umherirren findet im neunten und vorletzten Kapitel des Romans eine Erklärung: Im Dom der Stadt erfährt Josef K. durch die Erzählung eines Geistlichen von der Legende Vor dem Gesetz. Im Rahmen des Romans lässt die Darstellung des Gesetzes ihre tiefste Bedeutung durchscheinen.29 Der Palast, der aus mehreren leuchtenden Sälen besteht, ruft eine Stelle aus der kabbalistischen Schrift Sepher ha-Sohar (Das Buch des Glanzes) in Erinnerung, die für die
26 Über diese rätselhafte Figur, die Grillparzer in Ein Bruderzwist in Habsburg großartig geschildert und Kafkas Zeitgenossen in Erinnerung gerufen hatte, vgl. Robert Weston Evans, Rudolf II and his World: A Study in Intellectual History, 1576– 1612, Oxford 1973. 27 Benno Wagner, »Beim Bau der Chinesischen Mauer«, in: Engel, Auerochs, Kafka-Handbuch, 250–260, hier 250; Angelo Maria Ripellino, Praga Magica, Torino 1973, 114. 28 Vgl. Kafka, Der Proceß, vor allem 92–107, 222–224. 29 Ingeborg Henel bezeichnet die Parabel Vor dem Gesetz als den »Schlüssel« des Romans (Ingeborg Henel, »Die Türhüterlegende und ihre Bedeutung für Kafkas ›Prozeß‹ «, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 37 [1963], 50–70, hier 50); Heinz Politzers Meinung nach stellt sie dessen »innere[n] Fahrplan« dar (Heinz Politzer, »Eine Parabel Franz Kafkas. Versuch einer Interpretation«, Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 4 [1960], 463–483, hier 463).
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Deutung ein wichtiges Element beisteuert.30 Im ersten Teil des Sohar liest man, dass die Welt aus der Emanation eines Urpunktes, eines inneren Lichtes, hervorgegangen sei: Der Urpunkt ist ein innerliches Licht, dessen Reinheit, Feinheit und Klarheit mit keinem endlichen Maß erkennbar ist, bis eine Entfaltung aus ihm hervorging. Die Entfaltung dieses Urpunkts aber wurde zu einem Palast, indem jener Punkt sich mit einem Licht umkleidete, das der Größe seiner Klarheit wegen [noch immer] unerkennbar ist. Der Palast, der ein Kleid für jenen verborgenen Punkt ist, ist also unendliches Licht, und dennoch ist es nicht ebenso klar und fein wie jener verborgene und entrückte Urpunkt. Aus jenem »Palast« entfaltete sich dann weiterhin das »Urlicht« [des ersten Tages], und diese weitere Entfaltung ist ein Kleid für jenen »Palast«, der noch feiner, klarer und innerlicher ist. Von dieser Stufe an entfaltet sich immer weiter eine aus der anderen und bekleidet sich eine mit der anderen, bis schließlich jede Kleid für eine andere, die eine Kern, die andere Schale, wird. Und auch wenn eine Kleid und Schale ist, wird sie doch zum Kern für die nächste Stufe. Auch hier unten [in der irdischen Welt] ist alles auf diese Weise gemacht, bis auch der irdische Mensch nach diesem Bilde [eingerichtet] ist: Als Kern und Schale, Seele und Leib. Und all dies [zusammen erst] bildet die richtige Ordnung und Gestaltung der Welt.31
Aus der Entfaltung des Urpunktes entstand ein Palast aus Licht. Aus diesem Palast hat sich dann das Urlicht weiter entfaltet, so dass aus dieser neuen Entfaltung ein neuer Palast hervorging, der zum Kleid des ersten Palastes wurde. Dieses Verfahren in unzähliger Wiederholung führte schließlich bis zur Ordnung und Gestaltung der Welt. Das Gesetz, das im Titel der Legende erscheint, könnte also das göttliche Gesetz, das Fundament der jüdischen Religion, darstellen.32 Diese 30 In seiner Studie Kafka und die Kabbala hat Karl Erich Grötzinger zwar den Sohar erwähnt, aber ohne die Relevanz der hier zitierten Stelle für Kafkas Poetik in Betracht zu ziehen (Karl Erich Grötzinger, Kafka und die Kabbala. Das Jüdische in Werk und Denken von Franz Kafka, 5., aktual. u. erw. Aufl., Frankfurt a. M. / New York 2014, 17, 29, 33–34, 55–56, 70, 77, 85, 94, 98, 101, 109, 111–112, 127, 131, 136, 148–149, 194, 246). Die Relevanz dieser Stelle ist erst 2016 vom Hispanisten Roland Béhar hervorgehoben worden (Béhar, » ›Être Kafka‹ «, 137–138). Im allgemein ist zu bemerken, dass Grötzinger Kafkas Denken überwiegend in Beziehung zum Ostjudentum bringt; dabei ignoriert er weitgehend seine Beziehungen zur Kabbala, so wie sie sich im Spanien des 13. Jahrhunderts und insbesondere im Sohar entfaltete. 31 Übersetzung von Gershom Scholem, in: Gershom Scholem, Die Geheimnisse der Schöpfung, Ein Kapitel aus dem kabbalistischen Buche Sohar (Insel-Bücherei 949), Frankfurt a. M. 1971, 87. 32 Diese Lichtarchitektur der Ordnung der Welt ist imstande, die theoretische Architektur des Gesetzes symbolisch darzustellen: Gott steht in der Mitte der Schöpfung wie in der Mitte der Thora. Beide, Schöpfung und Thora, sind aus ihm hervor-
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Annahme stützt sich auch auf die Person des Türhüters, der über der Zeit steht: Im Gegensatz zum Mann vom Lande wird er nicht älter.33 Von Saal zu Saal stehen immer mächtigere Türhüter: Dieses Bild erinnert an die kabbalistische Tradition der Engel vor den immer höheren Stufen, die zu Gott führen.34 Die oben erwähnte Stelle aus dem Sohar hebt einen Grundbegriff der Kabbala hervor, und zwar den Glauben an die Einheit des Seins.35 Die gegangen, und Gott ist in beiden Fällen das Ziel, wonach die menschliche Seele strebt, sei es durch die Himmelssphären, sei es durch die Gebote des Gesetzes. 33 Ritchie Robertson hebt das Wortspiel zwischen hebräisch maschoach, d. h. Landvermesser, und hebräisch maschiach, d. h. Messias, hervor (Ritchie Robertson, Kafka: Judentum, Politik, Literatur, Stuttgart 1988, 297). Heinz Politzer sieht hingegen im Mann vom Lande den jüdischen Am ha-Arez, d. h. einen Menschen, der die Torah nicht kennt und der im Talmud mit dem Ausdruck »Mann vom Lande« bezeichnet wird (Heinz Politzer, Franz Kafka, der Künstler, Frankfurt a. M. 1962, 258–259). Laut Giuliano Baioni evoziert der Türhüter mit seinem schwarzen, langen, dünnen tatarischen Bart und seinem Pelzmantel mit Flöhen die Gestalt eines Ostjuden, genauer gesagt eines Zaddiks (Giuliano Baioni, Kafka: romanzo e parabola, Milano 1962, 223). Dabei ist es sehr schwer, den vollen Bart eines frommen Ostjuden als »spitz«, geschweige denn als »tatarisch« zu bezeichnen. 34 Die Kabbala hat die Lehre der Wächter vor den göttlichen Türen nicht zuletzt aus den Haggadischen Midraschim (Auslegungen religiöser Texte im rabbinischen Judentum, die gegen das 9. Jh. für die Feiertage verfasst wurden) entnommen. Besonders relevant innerhalb der Haggadischen Midraschim ist die Homilie Pesiqta Rabbati 20:3. Hier wird Moses Aufstieg zum Berg Sinai beschrieben: Der Prophet schreitet eine nach der anderen die heiligen Türe Gottes, die von immer imponierenderen Engeln beschützt werden (für die Relevanz dieser Homilie in der Interpreta tion von Kafkas Roman Der Proceß vgl. Béhar, » ›Être Kafka‹ «, 139). 35 In seinen Briefen drückte Kafka sein Interesse für die Kabbala ganz deutlich aus. Anfang Februar 1921 schrieb er beispielsweise an Max Brod: »Solltest Du kommen, könntest Du nicht eines der kabbalistischen Werke, ich nehme an, daß es hebräisch ist, mitbringen?« (Max Brod, Franz Kafka, Eine Freundschaft. Briefwechsel, hg. Malcolm Pasley, Frankfurt a. M. 1989, 316. Vgl. auch Kafkas Brief an Max Brod vom Januar 1921). Kafka konnte die klassischen kabbalistischen Texte auf Hebräisch oder Aramäisch zwar nicht studieren, aber er fand kommentierte Zusammenfassungen davon in einigen Studien über das Judentum (vgl. insbesondere Vom Judentum. Ein Sammelbuch, hg. Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag, 2. Aufl., Leipzig 1913, v. a. 274–284 [zitiert in: Born, Kafkas Bibliothek, 114]; Paul Fiebig, Das Judentum von Jesus bis zur Gegenwart, Tübingen 1916, 3–4, 15 [zitiert in: Born, Kafkas Bibliothek, 104–105]). Darüber hinaus konnte er kabbalistische Begriffe sowohl in den Gesprächen mit Freunden und Verwandten als auch durch die Beobachtung der in Prag stattfindenden jüdischen Sitten erfahren. Karl Erich Grötzingers Meinung nach habe Kafka »eine popularisierte Form der Kabbala« entwickelt, die vor allem in Predigten, Gebeten, traditionellen jüdischen Volkserzählungen und im religiösen Alltagsleben Ausdruck fand (Grötzinger, Kafka und die Kabbala, 28). Besonders wichtig sind Kafkas Freundschaft mit dem jüdisch-polnischen Schauspieler
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sichtbare Welt ist aus der Emanation Gottes und aus der darauffolgenden Zerstörung der Ureinheit entstanden. Das menschliche Leben befindet sich in einer Art Trennungszustand. Damit die Ureinheit wiederhergestellt werden kann, muss der Mensch eine himmlische Reise, das heißt eine Reise in die Torah oder in das Gesetz, unternehmen. Diese Reise besteht aus mehreren Etappen, bei denen sich der Mensch dem Urteil immer höherer göttlicher Gerichte beugt. Kafka war die Idee der mystischen Himmelsreise der Seele und der damit verbundenen Idee der Wächter vor den göttlichen Gerichten gut bekannt. Karl Erich Grötzinger hat hervorgehoben, dass beide Begriffe im Freundeskreis des Autors spätestens im Jahre 1915 durch den jüdischen Schrifsteller Georg Mordechai Langer verbreitet worden waren.36 Überdies habe Kafka schon am 29. Oktober 1911 von Yitzchak Löwy eine der bekanntesten talmudischen Erzählungen über die mystische Himmelswanderung und ihre Türhütertradition gehört.37 Es ist also nicht von der Hand zu weisen, die berühmteste kabbalistische Schrift, den Sohar, ebenso als mögliche Inspirationsquelle des Autors in Betracht zu ziehen, weil gerade dieses Werk einen wesentlichen Teil der Lehre des Aufstiegs in den Himmel überliefert. Seit den Tagen des Sohar im 13. Jahrhundert war der Vergleich der Schöpfung mit einem Palast um Gott herum eine im ganzen Judentum verbreitete Vorstellung. Sie war sogar von den Christen übernommen worden, beispielsweise durch Teresa von Avila – zwar eine Autorin jüdischer Herkunft, aber heilig gesprochen – in ihrem Werk El Castillo interior, in dem Gott, zu dem die Seele sich stufenweise erheben soll, im Innersten der letzten Burg der menschlichen Seele wohnt.38 Jedem Einzelnen, der mit der jüdischen Mystik so vertraut war wie Kafka, war der Sohar, und insbesondere die Seiten über das darin dargestellte Prinzip der Emanation und Ordnung der Welt, bekannt. Diese Schlussfolgerung liegt umso näher, als die im Proceß vorkommenden Architekturen der oben zitierten Stelle aus dem Sohar eine konkrete Form verleihen. Wie Gershom Scholem behauptet hat: Kafkas Jizchak Löwy in den Jahren 1911–1912 und seine Bekanntschaft mit dem jüdischen Schriftsteller Georg Mordechai Langer in den Jahren 1915–1916. Letzterer schrieb u. a. Werke über die Kabbala und besuchte mit Kafka den Belzer Zaddik in Marienbad (Baioni, Kafka: romanzo e parabola, 222). Überdies las Kafka im Winter 1917– 1918 einige Texte Martin Bubers, der höchsten Autorität über den osteuropäischen Chassidismus, und lernte mit großem Fleiß Hebräisch. 36 Langer hatte diese Lehre 1913, beim Lesen von Eliyahu de Vidas Reschit Chochma (Beginn der Weisheit, 16. Jh.) erfahren (Grötzinger, Kafka und die Kabbala, 43). 37 Kafka, Tagebücher, 162–163. Vgl. auch Grötzinger, Kafka und die Kabbala, 45. 38 Vgl. Anm. 20.
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Schriften sind durch eine »säkularisierte Darstellung des […] kabbalistischen Weltgefühls« gekennzeichnet.39 Dies gesagt habend, wird diese Parallele zwischen der Ordnung der Welt nach dem Sohar und der Struktur des chinesischen Palastes, in dessen Mitte sich der Kaiser unerreichbar aufhält, offensichtlich. Zu fragen wäre nun, wie weit diese kabbalistischen Grundbilder sich als der Anstoß und die Inspiration für konkrete literarische Architekturen erweisen lassen. Im gegebenen Fall, so die These der nachfolgenden Argumentation, haben diese Grundbilder Kafka veranlasst, das Gesetz als ein Gebäude darzustellen, das Züge des chinesischen kaiserlichen Palastes aufweist. Kafka begann die Niederschrift des Romans Der Proceß Anfang August 1914 und setzte sie unter dem Eindruck der »Tage der Ehrfurcht« fort, die am 23. August anfingen und am 30. September endeten. Der 23. August war Rosch Chodesch Elul, d. h. der erste Tag des Monats Elul40. An diesem Tag begann die Zeit der Buße und Vorbereitung auf Rosch ha-Schana (21. und 22. September) und Jom Kippur (30. September).41 Vom Schabbath vor dem Neumond im Elul bis Jom Kippur (40 Tage) wurde jeden Morgen bei der Andacht in der Synagoge der Schofar geblasen, was daran erinnern sollte, dass der Versöhnungstag immer näher rückte. Die Liturgie des Jom Kippur besteht größtenteils aus dem Ruf nach Öffnung der himmlischen Tore, damit der Mensch vor dem himmlischen Gericht Gnade finden kann42. Dieser Annäherungsversuch an den göttlichen 39 Gershom Scholem, Judaica 3, Frankfurt a. M. 1973, 271. In seinem Buch über Walter Benjamin behauptete er: »Ich hätte nämlich gesagt […], um Kabbala zu verstehen, müsse man heutzutage vorher die Schriften Franz Kafkas lesen, besonders den Proceß« (Gershom Scholem, Walter Benjamin – die Geschichte einer Freundschaft, Frankfurt a. M. 1975, 158). Scholem bezieht sich hier insbesondere auf die Idee des göttlichen Gerichts über den Menschen, die er als Hauptthema der gesamten Kafkaschen Produktion bezeichnet (ebd., S. 212–213). Diese Meinung wird u. a. von Grötzinger geteilt, der behauptet: »Der Proceß […] ist nicht nur in seinen grundlegenden Gedanken, sondern darüber hinaus in seinem Aufbau und in seiner Konzeption von der kabbalistisch bestimmten jüdischen Moralliteratur geprägt, und zwar in einem so weitgehenden Maße, dass es nicht verwegen erscheint, Kafkas Proceß ganz von da her zu verstehen« (Grötzinger, Kafka und die Kabbala, 29). 40 Im hebräischen Mondkalender fällt der erste Tag jedes Monats immer mit der ersten Sichtbarkeit der Mondsichel nach dem Neumond zusammen. 41 Rosch ha-Schana (Neujahr) wird zwei Tage lang gefeiert, nämlich am ersten und am zweiten Tag des Monats Tischri, während Jom Kippur (der Versöhnungstag) auf den zehnten Tag des Tischri fällt und von Sonnenuntergang bis zum Sonnenuntergang des folgenden Tages mit Fasten und Beten begangen wird. 42 Das menschliche Leben entwickelt sich aufgrund jährlicher Bilanzen, vom Neujahr zum Neujahr. Das könnte erklären, warum die Handlung im Proceß ausge-
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Bereich wird im Roman durch den Aufstieg von K. in die Gerichtsräume gezeigt, die in den Dachböden mehrstöckiger Häuser liegen. Der Himmel der Kabbalisten wird in ein europäisches Vorstadtmilieu herabgezogen und dessen Einstieg folglich von der vertikalen in die horizontale Richtung versetzt. Nur einmal hebt Kafka die Transzendenz des kabbalistischen Himmels hervor, und zwar durch die Legende, die im Dom erzählt wird.43 Der Geistliche offenbart Josef K. eine Lehre, die nur für ihn bestimmt ist, wie der Eingang zum Gesetz nur für den Mann vom Lande bestimmt ist: »Es war aber nicht die Gemeinde, die der Geistliche anrief, es war ganz eindeutig und es gab keine Ausflüchte, er rief ›Josef K.!‹ «44 Die widersprüchlichen Interpretationen, die der Geistliche wiedergibt, zeigen aber, dass der menschliche Verstand noch nicht bereit ist, diese Lehre zu entziffern. Hier, im Raum der Assimilation, kann nur die äußerliche Form des Aufstiegs in die himmlischen Säle wahrgenommen werden. K.s Umherirren in den Dachböden ist dazu verdammt, sich bis ins Unendliche fortzusetzen. Der Hinweis auf den Dom ist in diesem Kontext von besonderer Wichtigkeit, wenn man bedenkt, dass der Prager Dom mitten im Prager Schloss steht und dass der Primas von Böhmen seinen Sitz im Veitsdom hatte, das heißt in der Mitte des Hradschin, wo Kafka während der Verfassung des Proceß für mehrere Monate wohnte. Mit dem Proceß schließt sich also der Kreis: Im Herzen der Prager Burg wird die Legende erzählt, in der das Gesetz nach der Gestalt des chinesischen Kaiserpalastes konzipiert wird. Außerdem besteht der böhmische Palast, in dessen Mitte der von Kafka tagtäglich erblickte Dom steht, aus ineinander geschachtelten Höfen, so wie der chinesische Kaiserpalast. Beide sind tief verwandte Bauten, was erklärt, warum so verschiedene Muster sich in Kafkas Geist miteinander vermischen können. Die enge Verbindung zwischen dem Hradschin und der Verbotenen Stadt könnte durch Dittmars Buch Im neuen China inspiriert worden sein: Dittmar assoziiert »die wohlberechneten Maße« und »die harmonischen Abstände« der Pekinger Architekturen mit den »hohen Hallen eines gotischen Doms«.45 Es sei daran erinnert, dass der Veitsdom im Prager Hradschin im Stil der Gotik erbaut wurde. Auch Dittmars Hinweis auf rechnet ein Jahr lang dauert, vom Geburtstag zum Geburtstag. Kafka könnte den jüdischen Zyklus in einen Zyklus verwandelt haben, der der europäischen Kultur näher ist (Grötzinger, Kafka und die Kabbala, 56–57). 43 Ebd., 100. 44 Kafka, Der Proceß, 286. 45 Dittmar, Im neuen China, 39.
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die Gestalt eines europäischen Landmessers, der nicht im Stande ist, »die meilenlangen Mauern der Stadt Peking fehlerloser von Norden nach Süden wie von Osten nach Westen [zu] ziehen«,46 ist in diesem Kontext bemerkenswert: Der Protagonist von Kafkas Roman Das Schloß ist nichts anderes als ein Landvermesser.47 II. Die unvollständigen Bauwerke 1. Die Chinesische Mauer In den Erzählungen Beim Bau der Chinesischen Mauer (1917) und Das Stadtwappen (1920) beschreibt Kafka zwei unvollständige Architekturen, Ebd. Diese Verbindung zwischen böhmischem und chinesischem Palast wird noch durch Max Brods Zeugnis betont. Es ist zwar bekannt, dass Max Brod einseitige allegorische Deutungen von Kafkas Werken gegeben hat. Dennoch kann sein Zeugnis nicht ignoriert werden, das behauptete, es gab nach Kafka einen Zusammenhang zwischen erwähnter Legende und einer Szene aus dem Roman Das Schloß. In seinem Versuch, dem unvollendeten Werk eine kohärente, abgeschlossene Form zu verleihen, beendete Max Brod Das Schloß mit dem 22. Kapitel: Nach vielen erfolglosen Versuchen, das Schloss zu erreichen, befindet sich K. in einem Gang des Herrenhofes. Hier sieht er eine kleine Tür, die zu einem hellen und warmen Raum zu führen scheint. Der Eintritt wird ihm aber verwehrt, und die Tür geht vor ihm zu. Der Text lautet: » ›Sie kommen also wirklich nicht, Herr Landvermesser?‹ fragte Jeremias, wurde nun aber von Frieda, die sich gar nicht mehr nach K. umdrehte, endgildig fortgezogen. Man sah unten eine kleine Tür, noch niedriger als die Türen hier im Gang, nicht nur Jeremias auch Frieda mußte sich beim Hineingehen bücken, innen schien es hell und warm zu sein, man hörte noch ein wenig Flüstern, wahrscheinlich liebreiches Überreden um Jeremias ins Bett zu bringen, dann wurde die Tür geschlossen« (Kafka, Das Schloß, 401). Hinter der Entscheidung, den Roman mit diesen Zeilen zu beenden, verbirgt sich Brods Überzeugung, das Schicksal von K. sei identisch mit dem Schicksal des Mannes vom Land: Beiden bliebe der Eintritt in das Licht versagt. Brods Meinung nach habe Kafka vorausgesehen, dass K. sterben würde, ohne das Schloss betreten zu dürfen (obwohl ein Organ des Schlosses schließlich guten Willen zeige, ihm zu helfen. Vgl. Max Brod, »Nachwort«, in: Franz Kafka, Das Schloß. Roman, hg. Max Brod, Frankfurt a. M. 1951, 481, 491–492). Genauso wie in der Parabel Vor dem Gesetz scheint hier der Tod die notwendige Voraussetzung für die menschliche Zulassung zum Licht zu sein. In seinem Nachwort zur ersten Ausgabe von 1926 bezog Brod das Schloß ganz explizit auf den Proceß: Beide Romane stellen eine Erscheinungsform der Gottheit im Sinne der Kabbala dar, beziehungsweise die Gnade und das Gericht (ebd., 484). Es sei bemerkt, dass die Parabel Vor dem Gesetz, genauso wie die Parabel Eine kaiserliche Botschaft, in einem jüdischen Kontext veröffentlich wurde, und zwar 1915 in der zionistischen Wochenschrift Selbstwehr (Gerhard Lauer, Judentum / Zionismus, in: Engel, Auerochs [Hgg.], Kafka-Handbuch, 50–58, hier 54). 46 47
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und zwar die Chinesische Mauer und den Turm zu Babel. Beide sind nicht nur unvollendet, sondern auch unvollendbar: Ihre Länge erstreckt sich allmählich ins Surreale und verliert sich im Unendlichen. Die Mauer erfüllt dieselbe Funktion wie der Kaiserpalast, allerdings in Bezug auf die Totalität des Kaisertums: Sie soll die Heimat (das Reich der Mitte, d. i. die Mitte der Welt) und den in ihrer Mitte stehenden Kaiserpalast beschützen. Die Menschen, die am Bau der Mauer arbeiten, haben den Kaiser nie gesehen und werden ihn auch nie sehen. Der unermessliche Abstand des Kaisers zu seinem Volk wird durch die Einrückung der Parabel Eine kaiserliche Botschaft zusätzlich unterstrichen. Die Erzählung, die im März 1917 entstand, enthält eine indirekte Anspielung auf die Habsburger Monarchie, in der die Völker vom Kaiser entfernt und in verschiedene sprachliche Gruppen unterteilt waren.48 Am 21. November 1916 war Kaiser Franz Joseph I. gestorben und durch einen neuen Kaiser ersetzt worden, der dem Volk noch unbekannt war. Kafka schreibt: »So groß ist unser Land, kein Märchen reicht an seine Größe, kaum der Himmel umspannt es. Und Peking ist nur ein Punkt, und das kaiserliche Schloß nur ein Pünktchen«49. Ein Fragment zur Erzählung fügt hinzu: »Der Dialekt der Nachbarprovinz ist von dem unsern wesentlich verschieden und dies drückt sich auch in gewissen Formen der Schriftsprache aus, die für uns einen etwas altertümlichen Charakter haben«.50 Der Bezug zu der Habsburger Monarchie wird auch dadurch hervorgehoben, dass Kafka hier nicht das Wort »Kaiserreich« (die offizielle deutsche Wagner, »Beim Bau der Chinesischen Mauer«, 250. Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, 350. 50 Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente I. Apparatband, hg. Malcolm Pasley (Schriften Tagebücher. Kritische Ausgabe), Frankfurt a. M. 2002, 298. Vgl. auch: »[…] auf Grund alles dessen darf ich vielleicht sagen, daß die Auffassung die hinsichtlich des Kaisers herrscht, immer wieder und überall einen gewissen gemeinsamen Grundzug mit der Auffassung in meiner Heimat zeigt. Diese Auffassung will ich nun durchaus nicht als eine Tugend gelten lassen, im Gegenteil. Zwar ist sie in der Hauptsache von der Regierung verschuldet, die im ältesten Reich der Erde bis heute nicht imstande war oder dies über anderem vernachlässigte, die Institution des Kaisertums zu solcher Klarheit auszubilden, daß sie bis an die fernsten Grenzen des Reiches unmittelbar und unablässig wirkte. Anderersits aber liegt doch auch darin eine Schwäche der Vorstellungs- oder Glaubenskraft beim Volke, welches nicht dazu gelangt, das Kaisertum aus der Pekinger Versunkenheit in aller Lebendigkeit und Gegenwärtigkeit an unsere Untertatenbrust zu ziehn, die doch nichts besseres will, als einmal diese Berührung zu fühlen und an ihr zu vergehen. Eine Tugend ist also diese Auffassung nicht. Umso auffälliger ist es, daß gerade diese Schwäche eines der wichtigsten Einigungsmittel unseres Volkes zu sein scheint, ja wenn man sich im Ausdruck soweit vorwagen darf, geradezu der Boden auf dem wir leben« (Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, 355–356). 48 49
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Bezeichnung lautete »Chinesisches Kaiserreich«), sondern den Ausdruck »Kaisertum« benutzt, der von 1804 an verwendet wurde, um das Österreichische Kaisertum zu benennen. Das erzählerische Ich legt nahe, dass sich der Kaiser direkt an sein Volk wenden solle, um sein Reich (d. i. die Österreichisch-Ungarische Monarchie) retten zu können.51 Die notwendige Beteiligung des Volkes wird in der Parabel Eine kaiserliche Botschaft durch die direkte Anrede an ein »Du« noch stärker betont: »Der Kaiser – so heißt es – hat Dir, dem einzelnen, dem jämmerlichen Untertanen, […] gerade Dir hat der Kaiser von seinem Sterbebett aus eine Botschaft gesendet«52. Woraus diese Botschaft besteht, bleibt leider unbekannt. Aus der Entwicklung der Erzählung lässt sich aber vorausahnen, dass es sich um eine metaphysische Lehre handelt.53 Der fiktive Chronist zitiert ein Buch, in dem die Chinesische Mauer mit dem Turm zu Babel verglichen wird. Nach der Meinung des Buchverfassers sei der Turmbau an der Schwäche des Fundamentes gescheitert. Erst die Chinesische Mauer könne ein sicheres Fundament für einen neuen Turm schaffen. Wie könne aber eine Mauer, die nur einen Viertel- oder Halbkreis bilde, als Fundament eines Turmes dienen? Der Gelehrte erklärt, das scheinbar willkürliche Verhältnis zwischen den zwei Bauarten sei im geistigen Sinn zu verstehen.54 Beide Architekturen stellen den menschlichen Annäherungsversuch an eine überirdische Dimension dar. Dies werde dadurch bestätigt, dass der Beschluss des Mauerbaus nicht aus der Invasionsdrohung der Nordvölker hervorgegangen sei, sondern seit jeher bestehe. Letzten Endes sei China so groß, dass die Nordvölker den südlichen Teil des Landes ohnehin niemals erreichen könnten, weil sie sich 51 »Gerade über das Kaisertum sollte man meiner Meinung nach zuerst das Volk befragen, da doch das Kaisertum seine letzten Stützen dort hat. Hier kann ich allerdings wieder nur von meiner Heimat sprechen. Außer den Feldgottheiten und ihrem das ganze Jahr so abwechslungsreich und schön erfüllenden Dienst galt unser aller Denken nur dem Kaiser. Aber nicht dem gegenwärtigen oder vielmehr es hätte auch dem gegenwärtigen gegolten, wenn wir ihn gekannt oder Bestimmtes von ihm gewußt hätten. Wir waren freilich auch – die einzige Neugierde die uns erfüllte – immer bestrebt, irgendetwas von der Art zu erfahren« (ebd., 349). 52 Kafka, Eine kaiserliche Botschaft, 280–281. 53 Übrigens könnte auch das bisher beschriebene Verhältnis zwischen der Autorität und dem Einzelnen im metaphysischen Sinn verstanden werden, und zwar als unmittelbares Verhältnis zwischen Gott und dem Menschen. 54 »Die Mauer, die doch nicht einmal einen Kreis, sondern nur eine Art Vierteloder Halbkreis bildete, sollte das Fundament eines Turmes abgeben? Das konnte doch nur in geistiger Hinsicht gemeint sein« (Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, 344).
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auf dem Weg dahin verlieren würden. In einem Fragment zu der Erzählung liest man: Unschuldige Nordvölker, die glaubten ihn verursacht zu haben, verehrungswürdiger, [aber doch] unschuldiger Kaiser der glaubte [ihn] angeordnet [zu haben]. Wir vom Mauerbau wissen es anders und schweigen.55
Nur die Führerschaft kennt den wahren Grund des Mauerbaus. Ähnlicherweise kennt nur sie den wahren Grund des Teilbaus: Beim Zeichnen der Baupläne fiel auf ihre Hände »der Abglanz der göttlichen Welten«56. Nach Manfred Engel ist in dieser Erzählung alles »nur in geistiger Hinsicht gemeint«.57 Die Mauer hat keine pragmatische Funktion,58 die oberste Führerschaft kann weder zeitlich noch räumlich genau verortet werden,59 und das Kaisertum ist unsterblich, weil es eine abstrakte Idee ist, im Gegensatz zu den einzelnen Kaisern, die immer wieder fallen und abstürzen.60 Der Ich-Erzähler berichtet, die Chinesen besäßen einige Einrichtungen, die einzigartig klar seien, und andere, die einzigartig unklar seien. Zu den allerundeutlichsten gehöre das Kaisertum: Die Klarheit, die in Peking und sogar in dessen Hochgesellschaft bestehe, sei mehr scheinbar als real.61 Dieser Behauptung folgt die Wiedergabe der Sage Eine kaiserliche Botschaft. Die darin dargestellte unüberbrückbare Distanz zwischen dem Kaiser und dem Volk ist also im übertragenen Sinn zu verstehen: Der Kaiser, der im Mittelpunkt eines Systems von ineinander eingefassten Gebäuden wohnt, versinnbildlicht eine metaphysische Autorität. 2. Der Turm zu Babel Das Vertikaläquivalent der Chinesischen Mauer – der Turm zu Babel – kommt auch in der Parabel Das Stadtwappen vor. Ausnahmsweise ist in dieser Erzählung das unerreichbare Heiligtum nicht im Herzen des erwähnten Bauwerkes enthalten: Es ist der Himmel selbst, den sich die Menschen dank des Riesenturmes zu erreichen vergeblich vornehmen.62 Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente I. Apparatband, 293. Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, 345. 57 Ebd., 344; Engel, Entwürfe symbolischer Weltordnungen, 74. 58 Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, 346–347. 59 Ebd., 348. 60 Ebd., 350. Vgl. auch Engel, »Kafka und die moderne Welt«, 506. 61 Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, 348–349. 62 »Das Wesentliche des ganzen Unternehmens ist der Gedanke, einen bis in den Himmel reichenden Turm zu bauen«; vgl. Franz Kafka, Nachgelassene Schriften und 55 56
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Dieses Unterfangen ist jedoch von Anfang an zum Scheitern verurteilt, denn der Mensch verfügt nur über irdische Mittel, um ein überirdisches Ziel zu erreichen. Um alle materiellen Hindernisse überwinden zu können, sollte er die Materie selbst überwinden, was ex definitione unmöglich ist, weil der Mensch ein materielles Wesen ist. Im Gegensatz zu den bisher erwähnten Schriften bleibt die räumliche Logik in dieser Parabel implizit. Kafka entwickelt eher eine zeitliche Logik. Der Turmbau wird auf eine unbestimmte Zukunft verschoben: In dieser Hinsicht […] muß man wegen der Zukunft keine Sorgen haben, im Gegenteil, das Wissen der Menschheit steigert sich, die Baukunst hat Fortschritte gemacht und wird weitere Fortschritte machen, eine Arbeit, zu der wir ein Jahr brauchen, wird in hundert Jahren vielleicht in einem halben Jahr geleistet werden und überdies besser, haltbarer. Warum also schon heute sich an die Grenze der Kräfte abmühn?63
Da die technischen Kenntnisse des Menschen ständig besser werden, vertraut jede Generation der darauffolgenden den Turmbau an. Diese Denkweise lähmt die Kräfte und führt zu derselben Bewegung ins Unendliche, die in der Parabel Eine kaiserliche Botschaft dargestellt wird, diesmal aber nicht mehr in Bezug auf den Raum, sondern auf die Zeit. Die Parabel endet mit einem kurzen Hinweis auf das Wappen der Stadt, in welcher der Turm zu Babel entstehen sollte. Jede Generation kümmert sich mehr um den Bau der Arbeiterstadt, als um den Bau des Turmes selbst. Gegenüber der vertikalen Richtung wird daher noch einmal die horizontale bevorzugt.64 Als menschliche Einrichtung ist die Arbeiterstadt vergänglich und zur Zerstörung verdammt: Früher oder später wird sie von einer Riesenfaust – Symbol einer übernatürlichen Kraft – zerstört werden. Aus diesem Grund hat die Stadt eine Faust in ihrem Wappen. Letzteres erinnert an das Prager Wappen, auf dem eine Faust um den Griff eines Schwertes zu sehen ist. Das Wappenbild, zusammen mit dem Turmbild, spielt daher implizit auf den Hradschin an.65
Fragmente II, hg. Jost Schillemeit (Schriften Tagebücher. Kritische Ausgabe), Frankfurt a. M. 2002, 318–319, hier 318. 63 Ebd., 319. 64 Engel, »Kafka und die moderne Welt«, 508. 65 Den Turm zu Babel als eine Anspielung auf die Situation der Juden im Exil zu deuten, wäre eine sehr gewagte Theorie. Der Diaspora zum Trotz haben die Juden im Exil ein Gefühl der Zusammengehörigkeit nie verloren. Dagegen ist im biblischen Text der Turmbau die Ursache der Zersplitterung der ganzen Menschheit, deren Völker untereinander verfeindet sind.
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III. Schlussbemerkungen Die untersuchten Erzähltexte Kafkas sind durch sich gegenseitig erhellende Anspielungen gekennzeichnet. Der Roman Der Proceß enthält beispielsweise die Legende Vor dem Gesetz, während die Kurzgeschichte Beim Bau der Chinesischen Mauer die Parabel Eine kaiserliche Botschaft einschließt und sowohl auf die Parabel Das Stadtwappen als auch auf die Parabel Ein altes Blatt hinweist.66 Diese wechselseitigen Anspielungen werden durch die Gestaltung der behandelten Architekturen noch stärker hervorgehoben. Der chinesische Kaiserpalast kommt beispielsweise in den Parabeln Eine kaiserliche Botschaft und Ein altes Blatt explizit vor, während der Turm zu Babel sowohl in der Kurzgeschichte Beim Bau der Chinesischen Mauer als auch in der Parabel Das Stadtwappen dargestellt wird. Um die extreme Komplexität der wechselseitigen Hinweise der betrachteten Bauarten in ihrer Fülle verstehen zu können, muss man Kafkas Inspirationsquellen in Betracht ziehen. Das Ziel dieses Beitrags bestand eben darin, durch eine vergleichende Lektüre die Grundbilder hervorzuheben, die Kafka inspiriert haben könnten. Das Augenmerk lag dabei auf bisher nicht beachteten Quellen, die zu den Kenntnissen der jeweiligen Architekturen beigetragen haben könnten. Diese erhalten damit eine unverkennbar historische Verankerung und können nicht mehr nur allegorisch gedeutet werden. Besonders bemerkenswert ist der Roman Der Proceß und die darin enthaltene Szene im Dom. Diese spielt sich im imaginären Raum auf dem Hradschin ab, dem zentraleuropäischen Kaiserpalast, der mit seinen zahlreichen verwickelten Höfen an den chinesischen Kaiserpalast erinnert. Außerdem enthält diese Szene eine Geschichte, deren Narrative eben vom chinesischen Kaiserpalast beeinflusst ist. Auch das Gebäude Vor dem Gesetz wird von Kafka wie ein chinesischer Palast aufgefasst. In ähnlicher Weise ist in Kafkas Schloß das Muster des Prager Hradschin (der mit seinen ineinander eingefassten Höfen an den chinesischen Kaiserpalast erinnert) mit dem Muster des Schlosses Hauenstein vermengt. Die vier Architekturen, die in den hier untersuchten Werken auftauchen – die Verbotene Stadt in Peking, der Prager Hradschin, die Chinesi66 Ein Fragment zum Bau der Chinesischen Mauer endet nämlich mit einer Anspielung auf die Völker aus dem Norden, die sich in Ein altes Blatt vor dem chinesischen Kaiserpalast niedergesetzt haben: »Ein fremder Schiffer – ich kenne alle, die gewöhnlich hier vorüberfahren, dieser war aber fremd – hat mir eben erzählt, dass eine grosse Mauer gebaut werden soll um den Kaiser zu schützen. Es […] versammeln sich nämlich oft vor dem kaiserlichen Palast die ungläubigen Völker, [und] unter ihnen auch Dämonen, und schiessen [ihre schwarzen] Pfeile gegen den Kaiser« (Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente I. Apparatband, 302–303).
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sche Mauer und der Turm zu Babel – enthalten oder weisen auf einen heiligen Raum hin, der unerreichbar ist. Das Vorhandensein dieses heiligen Raumes in der Mitte eines Palastes mit ineinander geschachtelten Höfen (wie beispielsweise im Hradschin oder im chinesischen Kaiserpalast) erinnert an die kabbalistische Vorstellung des Palastes um Gott herum, die ab dem 13. Jahrhundert durch das Sohar im ganzen Judentum bekannt wurde. Im ersten Teil des Sohar befindet sich eine eingehende Darstellung des Palastes, der aus Gottes Entfaltung entsteht und aus mehreren leuchtenden Sälen besteht. Die Relevanz dieser Stelle aus dem Sohar zeigt, dass Kafkas Kenntnisse der jüdischen Mystik erheblich größer waren als bisher angenommen.
Mohámmed – ein Afrikaner in Wien Kulturelle Antinomien im Spiegel von Bruno Franks Novelle Die Monduhr (1933) Von Matthias Pape In memoriam Siglinde Wolter (1929–2016)
I. Entstehung – Thematik – Veröffentlichung Bruno Frank (1887–1945), in der Weimarer Republik prominenter Rowohlt-Autor und erfolgreicher Schriftsteller von Bühnenstücken, sah seine eigentliche Berufung im Schreiben von erzählender Literatur. Am Herzen lagen ihm »Novellen, Novellen! Nur das ist schön«.1 Er gehörte der Generation von Dichtern an, die sich der Novellendichtung erneut zuwandte, nachdem Paul Heyse die Novellengattung um 1870 normiert2 und der Naturalismus zur Gattung kaum etwas beigetragen hatte3. Frank lebte in der erzählenden europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Die Monduhr gehört zur partiell politisierten Novellendichtung der zwanziger Jahre (Arnold Zweig, Heinrich Mann, Robert Walser).4 Die Novellenforschung hat Franks Werk nicht im Blick.
1 An Stefan Zweig 1927, zit. n. Sascha Kirchner, Der Bürger als Künstler. Bruno Frank (1887–1945). Leben und Werk, Düsseldorf 2009 (phil. Diss. Düsseldorf), 154. 2 Vgl. Karl Konrad Polheim (Hg.), Theorie und Kritik der deutschen Novelle von Wieland bis Musil (Deutsche Texte 13), Tübingen 1970, 141–157. 3 Frank fand Aufnahme in die Sammlung von Hanns Martin Elster (Hg.), Die deutsche Novelle der Gegenwart, Berlin 1927, die vom Wesen des »deutschen Menschen« künden wollte (darin Franks Der Goldene). 4 Vgl. Erwin Rotermund, »Die deutsche Erzählung in den zwanziger und dreißiger Jahren«, in: Karl Konrad Polheim (Hg.), Handbuch der deutschen Erzählung, Düsseldorf 1981, 461–482 (468 knapp zu Bruno Franks Politischer Novelle). – Ulrich Müller, Schreiben gegen Hitler. Vom historischen zum politischen Roman. Untersuchungen zum Prosawerk Bruno Franks, phil. Diss. Mainz 1994, geht auf die Monduhr nicht ein (auf 1935 datiert).
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Die Entstehungsgeschichte der Monduhr reicht in den Winter 1930 / 31 zurück5. Sie verarbeitet Eindrücke einer dreimonatigen Reise Bruno Franks mit seiner Frau in einem Mietwagen durch Nordafrika (Tunesien, Algerien, Marokko). In Rabat hatte Frank den Sultan von Marokko beim Fest der jährlichen Tributerstattung der Stämme im prachtvollen Zug der Schwarzen Garde gesehen; er hatte auch Marrakech und Fès besichtigt. Dort hatte ihn ein Scheich zum Gespräch eingeladen, dessen Vater noch mit der Bastonnade zu Tode geprügelt worden war. Frank hatte dem Scheich als Gastgeschenk eine Prachtausgabe von Goethes Faust überreicht. Über die Begegnung hat Frank im Münchner Rotary-Club einen Vortrag gehalten. Eindrücke und Elemente der Reise einschließlich der Motive der Bastonnade und der Schenkung eines Werkes von hohem nationalliterarischem Rang an den Repräsentanten eines anderen Kulturkreises sind in die Erzählung eingeflossen. Bruno Frank ist heute ein weithin unterschätzter politischer Schriftsteller. Er spielt in drei seiner Novellen um 1930 unterschiedliche Formen der Begegnung europäischer mit afro-amerikanischer Kultur (Politische Novelle6), nordafrikanischer Kultur (Die Monduhr) und US-amerikanischer Südstaatenkultur (Der Magier) mit jeweils anderem Ausgang durch.7 Frank gehört zu den wenigen Autoren, die in einem in die Krise geratenen und seiner selbst unsicher gewordenen Europa nach dem Ersten Weltkrieg den Konflikt aufeinanderstoßender Kulturen thematisierten. In den jeweiligen Handlungskonstellationen zeigt er denkbare Möglichkeiten des sozialintegrativen Gelingens oder Mißlingens. Thema der Monduhr ist auf den ersten Blick ein Ereignis in Rabat und seine Folgewirkung in Wien (histoire), näher besehen die motivische Verknüpfung zwischen den Handlungsorten und Hauptpersonen sowie die Perspektivierung der Begegnung von europäischer und nordafrikanischer Folgende nach Kirchner, Der Bürger als Künstler, 220. mehrere Sprachen übersetzt. Vgl. Burckhard Dücker, Art. »Frank, Bruno: Politische Novelle«, in: Gertrud Maria Rösch (Hg.), Fakten und Fiktionen. Werklexikon der deutschsprachigen Schlüsselliteratur 1900–2010, Erster Halbbd.: Andres bis Loest, Stuttgart 2011, 158–162. – Verf. bereitet eine Interpretation der Politischen Novelle und eine Dokumentation der zahlreichen Rezensionen und kontroversen Stellungnahmen prominenter Schriftsteller und Politiker vor. 7 Bruno Frank hat in seiner Ausgabe der gesammelten Erzählungen im Jahr 1937 (Aus vielen Jahren) nacheinander die Politische Novelle, Der Magier und Die Monduhr zum Abdruck gebracht. Dieser Anordnung folgt auch die Neuausgabe Bruno Frank, Ausgewählte Werke. Prosa, Gedichte, Schauspiele. Mit Gedenkworten von Thomas Mann, Hamburg 1957; Zitate aus der Novelle werden im fortlaufenden Text durch Seitenangaben in Klammern belegt und beziehen sich auf diese Ausgabe. 5 Das 6 In
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Kultur und Mentalität um 1930 (discours)8 – als Spätfolge des europäischen Forscherdrangs, Länder, Völker und Kulturen der vormodernen Welt zu erkunden, dorthin kolonial zu expandieren und in der Oberschicht (in der Novelle Sultan von Marokko) europäische Traditionen und Kultur zu implementieren. Den Novellenkern bildet das humanitär geleitete Verhalten eines Wiener Professors und mithin Repräsentanten der europäischen Oberschicht gegenüber einem Gardesoldaten und damit einem Angehörigen der marrokanischen Unterschicht. Die mentalitätsgeschichtliche Folie war dem Leser durch Reiseberichte, Landesbeschreibungen und Erzählungen vertraut, die den Blick auf das Geheimnisvolle des Orients und Persiens,9 seit dem frühen 20. Jahrhundert auch auf das nördliche Afrika gerichtet hatte. Die Natur, Landschaft und Kultur von Tunis wurde zum Ziel expressionistischer Maler, wie Paul Klee, August Macke und Louis Moillet; sie gelangten 1914 bis nach Kairuan und seiner uralten Obkamoschee, die »den Muselmännern als eine der vier Pforten zum Paradies« galt,10 wobei die Malerfreunde Licht und Farbe als Gestaltungsmittel entdeckten.11 Max Slevogt reiste 1914 nach Ägypten, Rainer Maria Rilke auf dem Nil nach Helouan am Ostufer des Stroms südlich von Kairo,12 Hugo von Hofmannsthal nach Marokko. Dieser suchte die Begegnung mit einer andersartigen Kultur, so in Fès, der »heilige[n] Stadt« und »Mekka des westlichen Islam«, wo »der Europäer das sehr Fremde« ist und nur eines kurzen Blicks gewürdigt wird.13 Hof8 Den größeren Hintergrund bildete damals die von dem belgischen Historiker Henri Pirenne ausgelöste internationale Kontroverse über die Expansion der Araber bzw. die Rolle des Islam beim Untergang der antiken Welt und ihrer Kultur in den Ländern des Mittelmeerbeckens; dies habe den Merowingern die ökonomische Basis genommen und den Aufstieg der Karolinger ermöglicht. Mohammed war danach ein Wegbereiter für Karl den Großen. Henri Pirenne, »Mahomet et Charlemagne« (Aufsatz 1922), Neudruck mit Spezialarbeiten anderer Forscher bei Paul Egon Hübinger (Hg.), Bedeutung und Rolle des Islam beim Übergang vom Altertum zum Mittelalter (Wege der Forschung 102), Darmstadt 1968. 9 Als frühe Publikation sei genannt Eugène Flandin, Voyage en Perse (1851), dt. Auswahlübers. Die Persische Reise, [Ost-]Berlin 1991. 10 So zeitgenössisch Wilhelm Hausenstein, Kairuan oder eine Geschichte vom Maler Klee und von der Kunst dieses Zeitalters, München 1921, 83. 11 Ebd., 87. – Vgl. aus der reichhaltigen Literatur den Ausstellungskatalog des Westfälischen Landesmuseums Münster: Ernst-Gerhard Güse (Hg.), Die Tunisreise. Klee, Macke, Moilliet, Stuttgart 1982. 12 Vgl. Ingeborg Schnack, Rainer Maria Rilke. Chronik seines Lebens und seines Werkes, 1, Frankfurt a. M. 1975, 259, 365. 13 Hugo von Hofmannsthal, »Reise im nördlichen Afrika. Fez. Das Gespräch in Saleh«, Neue Freie Presse [Wien], 12.4., 31.5.1925, als Buchausgabe erstmals in: ders., Die Berührung der Sphären, Berlin 1931, 330–349, Neudruck in: ders., Erzählungen.
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mannsthal bestimmte das Gefühl, daß der Kultur von Fès, in der sich »Griechenland und Rom und das arabische Märchen und die Bibel« mischten, »etwas leise Drohendes beigemengt« ist, »das wahre Geheimnis der Fremdheit« samt der »leise[n] Ahnung des Verbotenen«.14 Unter dem Eindruck zweier Reisen nach Fès, deren erste mit dem Erscheinen von Franks Novelle zusammenfiel, fragte Titus Burckhardt, aus der Basler Gelehrtenfamilie stammend, wo es »einen Ausgleich zwischen der ererbten Lebensform, die bei all ihren Mängeln den Schatz eines ewigen Sinnes in sich birgt, und der modernen europäischen Welt« gäbe, die, »ganz eine diesseitige, auf Besitz und Genuß gerichtete, alles Heilige verachtende Macht darstellt«.15 Den weiteren Hintergrund der Novelle bildete das Forschungsinteresse, etwa der Deutschen Inner-Afrikanischen Forschungs-Expedition unter Leo Frobenius,16 dann auch die Afrikamode der zwanziger Jahre in Musik, Unterhaltungsliteratur und Varietés mit »Negerbars« und »Neger«- bzw. Jazzkapellen. Die Thematik der Novelle war auch Gegenstand der wissenschaftlichen Diskussion in der Zeit des Hochimperialismus. Die Auffassung, der Islam habe in Afrika »eine ganz erhebliche Kulturarbeit« geleistet, »Millionen von Wilden zu Menschen gemacht« und vom »ethnischen Kollektivismus zum Individualismus« geführt,17 hatte der führende deutsche Orientalist und Kulturpolitiker Carl Heinrich Becker (1876–1933) vertreten.18 Becker war Protagonist der historisch-kritischen Islamkunde bzw. Verfechter der geschichtlichen Bedingtheit des Koran und seiner Normen.19 Seine EinErfundene Gespräche und Briefe. Reisen (Hofmannsthal, Gesammelte Werke), Frankfurt a. M. 1979, 641–654, hier 678 f. 14 Ebd., 643, 646. 15 Nach der zweiten Reise im Jahr 1956 veröffentlicht u. d. T. Fes. Stadt des Islam, Olten / Lausanne / Freiburg i. Br. 1960, Neudruck mit einem Nachwort von Navid Kermani, München 2015, 15. 16 Frobenius gab bei Eugen Diederichs die Buchreihe Atlantis – Volksmärchen und Volksdichtungen Afrikas heraus (12 Titel, 1921–1928, Reprint 1970). Vgl. Ulf Diederichs, Eugen Diederichs und sein Verlag. Bibliographie und Buchgeschichte 1896 bis 1931, Göttingen 2014, 317. 17 Carl Heinrich Becker, »Staat und Mission in der Islampolitik«, in: Verhandlungen des Deutschen Kolonialkongresses 1910 zu Berlin am 6., 7. und 8. Oktober 1910, Berlin 1910, 638–651. 18 Professor in Heidelberg, Hamburg (Kolonial-Institut), Bonn und Berlin; in der Weimarer Republik Staatssekretär und preußischer Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung (1919–1930), der Deutschen Demokratischen Partei nahe stehend. 19 Zu seiner Methode Cornelia Essner, Gerd Winkelhane, »Carl Heinrich Becker (1876–1933), Orientalist und Kulturpolitiker«, Die Welt des Islams 28 (1988) 154– 177, hier 159–165.
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schätzung gründete auf der Kolonialpolitik in den deutsch-afrikanischen Kolonien und deren Hinterland und stand im Gegensatz zum Selbstverständnis christlicher Missionare, die die nichtislamischen heidnischen Volksstämme für das Christentum gewinnen und damit in den europäischen Kulturkreis einbeziehen wollten.20 Für Becker war ausschlaggebend, daß der Islam als eine politische Theorie zugleich eine recht einheitliche Zivilisation hervorgebracht hatte und beide zwar nicht von Anfang an, aber im Entwicklungsprozeß »nur durch ihre religiöse Begründung Geltung haben«.21 Becker ignorierte nicht den »schweren Konflikt des Islam mit der modernen Welt«, führte jedoch gegen seine Kritiker die veränderte Stellung des Islam zum Geist des gegenwärtigen Europa ins Feld. Der Islam versuche, »mit europäischen Gedanken die alten Worte und Begriffe umzuwandeln«, so durch Übernahme der europäischen Staatsbürgeridee, die unabhängig von der Konfession bestehe. Es werde »auch im Islam nicht an Leuten fehlen, die sich von der religiösen Basis ihrer Vergangenheit vollkommen loslösen« analog zum Judentum (wobei Becker die Wirkung des Zionismus überging).22 Das entsprach dem damals zeittypischen eurozentrischen Weltbild; es gleicht aber auch Diskussionsansätzen der Gegenwart angesichts einer starken und zunehmenden muslimischen Migration nach Mittel- und Westeuropa. In seiner Überzeugung dürften Carl Heinrich Becker einzelne »moham medanische«23 Gelehrte und Verfechter eines reformorientierten Islam aus dem 19. und beginnenden 20. Jahrhundert bestärkt haben.24 Statt des Hebels der Christianisierung setzte Becker auf die »Europäisierung des Islam«25 – ein Begriff, der in der jüngeren Integrationsdebatte als Lösungs-
20 Vgl. Horst Gründer, Christliche Mission und deutscher Imperialismus. Eine politische Geschichte ihrer Beziehung während der deutschen Kolonialzeit (1884–1914) unter besonderer Berücksichtigung Afrikas und Chinas, Paderborn 1982. – Ders., »Kolonialismus und Mission«, Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., 6, 1997, 200. 21 Carl Heinrich Becker, »Der Islam als Problem«, Der Islam 1 (1910) 1–21, Neudruck in: ders., Islamstudien. Vom Werden und Wesen der islamischen Welt 1, Leipzig 1924, 1–23, Zitat 2. – Zu Beckers Pionierrolle bei der Einführung soziologischer Theorien in die Islamwissenschaft vgl. Georg Stauth, Islam und westlicher Rationalismus. Der Beitrag des Orientalismus zur Entstehung der Soziologie, Frankfurt a. M. / New York 1993, 171–184. 22 Becker, »Der Islam als Weltanschauung« (1918), Neudruck in: ders., Islamstudien 1, 40–53, hier 49–51. 23 Der heute übliche Begriff lautet muslimisch. 24 Vgl. die Hinweise bei Hans Küng, Josef van Ess, Christentum und Weltreligionen. Islam, München, Zürich 62003, 92 f.
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ansatz wieder25 eine gewisse Rolle spielt.26 Becker wollte den Islam nach europäischem Vorbild in der sozialen Form einer Religion erhalten, diese jedoch vom Politischen ablösen und zur Grundlage für die Herausbildung einer neuen Elite aus der afrikanischen Mittelschicht machen. Diese Erwartung entsprach dem Fortschrittsoptimismus der Zeit, der den Einfluß der naturwissenschaftlich-technischen und wirtschaftlich-politischen Entwicklung auf die vorindustriellen Gesellschaften und Kulturen jenseits der westlichen Hemisphäre für unaufhaltbar hielt und auch durch den Weltkrieg an seinem Menschheitsziel nicht irre geworden war. Dagegen urteilten christliche Missionare, daß sich der Islam, der in allen von ihm geprägten Ländern Staatsreligion war, mit dem Status einer Religion neben anderen nicht abfinden, vielmehr das Vordringen westlicher Kultur aufhalten werde und insofern eine Loyalität der Muslime gegenüber dem säkularen Staat nicht zu erwarten sei. Die Frage des Kulturwerts des Islam wird im zweiten Teil der Novelle angedeutet. Frank hat den ersten Schauplatz wohl bewußt gewählt, denn Marokko, der westliche Endpunkt der orientalisch-islamischen Welt, und die Marokkaner waren den Deutschen durch den ersten Weltkrieg zum Begriff und zur anschaulichen Vorstellung geworden. Marokko hatte neben den afrikanischen Kolonien Frankreichs an der Seite der Protektoratsmacht gekämpft. Marokkaner hatten 1918 / 20 einen Teil der 20.000 afrikanischen Besatzungssoldaten im Rheinland gebildet.27 Dadurch war es erstmals zu einer unmittelbaren Berührung von Afrikanern, ihrer Kultur, Religion und Lebenswelt (Matriachat bei Berbern, Patriachat bei Arabern), und deutscher Zivilbevölkerung in Deutschland selbst gekommen. Dies hatte hier einen Kulturschock ausgelöst und war als tiefe Demütigung durch die »niedere« schwarze Rasse empfunden worden. Die französische Provokation war von Presse und Film (Die Schwarze Schmach, 1921) und von Regierungspolitikern bis hin zum Reichspräsidenten verurteilt worden;28 sie hatte zur Gründung der Rheinischen Frauenliga Rettet die Eh25 Becker, »Staat und Mission in der Islampolitik«, 650. Vgl. Essner, Winkelhane, Carl Heinrich Becker, 173 f. 26 Vgl. Bassam Tibi, Euro-Islam. Die Lösung eines Zivilisationskonfliktes, Darmstadt 2009. Der syrische Nahost- und Islamexperte Tibi, Professor für Internationale Beziehungen in Göttingen, hält sein Integrationskonzept inzwischen für gescheitert. 27 Vgl. Landrey Charrier, »Die ›Force Noire‹ in den deutsch-französischen Beziehungen«, in: Dieter Breuer, Gertrude Cepl-Kaufmann (Hgg.), »Deutscher Rhein – fremder Rosse Tränke?«. Symbolische Kämpfe um das Rheinland nach dem Ersten Weltkrieg (Düsseldorfer Schriften zur Neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens 70), Essen 2005, 57–64.
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re gegen Übergriffe28 von »Negern« und zur Stigmatisierung der Mädchen und Frauen geführt, die sich auf die ›Kuriosität‹ dunkelhäutiger Menschen einschließlich der attraktiv-zierlichen Marokkaner mit feinen Gesichtszügen eingelassen hatten.29 Die Erfahrung des Aufeinanderprallens einander fremder Kulturen wirkte über die zeitlich begrenzte Stationierungsphase hinaus30. Frank deutete es in der Monduhr jedoch nur an.31 Die Thematik war aber dem zeitgenössischen Leser bestens vertraut, ist Gegenstand der jüngeren historischen Forschung, liegt indes bisher kaum im Blick der Literaturwissenschaft.32 In der Monduhr klingt, teils direkt im Verweis auf Paul Valéry, teils indirekt in der Leserassoziation an Hugo von Hofmannsthal, das politischkulturelle Krisenbewußtsein der Zwischenkriegszeit an33 – und trifft beim heutigen Leser auf einen ähnlichen Krisenhorizont angesichts einer ungesteuerten und anhaltenden Migration aus Nordafrika auf den europäischen Kontinent.
28 Reichspräsident Ebert rief »anklagend in die Welt hinaus«, »daß die Verwendung farbiger Truppen niederster Kultur als Aufseher über eine Bevölkerung von der hohen geistigen und wirtschaftlichen Bedeutung der Rheinländer eine herausfordernde Verletzung der Gesetze europäischer Zivilisation« sei. Rede in Darmstadt, 13.2.1923, in: Friedrich Ebert, Schriften, Aufzeichnungen, Reden, 2, Dresden 1926, 289–292, hier 290 (irrtümlich auf 1926 datiert). – Vgl. auch Iris Wigger, Die »Schwarze Schmach am Rhein«. Rassistische Diskriminierung zwischen Geschlecht, Klasse, Nation und Rasse, Münster 2007. 29 Vgl. etwa Farbige Franzosen am Rhein. Ein Notschrei deutscher Frauen, 4. veränd. u. erw. Ausg., Berlin 1923. – E[dmund] D[ene] Morel, Der Schrecken am Rhein. Autorisierte Übersetzung auf Veranlassung der Arbeitsgemeinschaft für Politik des Rechts (Heidelberger Vereinigung) v. Hermann Lutz, Berlin 31922 (im besetzten Gebiet verboten). 30 Bruno Frank hat diese Thematik in der Politischen Novelle (1928) verarbeitet. 31 Am stärksten bei der ersten Begegnung der jungen Kärntnerin Tini Kreittner mit einem Schwarzafrikaner im zweiten Novellenteil; dies wirkt auf sie wie ein Kulturschock; vgl. u. 339. 32 Nicht bei Reinhold Grimm, »Schwarze und Juden in der deutschen Literatur. Zur Imagologie des ›Gegentyps‹ «, Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 12 (1986) 56–71, zu Frank 63–68; dems., »Drei bis vier politische Novellen: Notizen zu Bruno und Leonhard Frank, Johannes Weidenheim, Thomas Mann und Gottfried Benn«, in: ders., Versuche zur europäischen Literatur (New York University Ottendorfer Series NF 43), Bern [u. a.] 1994, 93–134; dazu auch nicht Kirchner, Der Bürger als Künstler. 33 Vgl. Detlef J. Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne. (Neue Historische Bibliothek), Frankfurt a. M. 1987. – Zum größeren Kontext Karl Dietrich Bracher, Die Krise Europas 1917–1975 (Propyläen Geschichte Europas 6), Frankfurt a. M. 1975.
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Ebenso bemerkenswert sind Ort und Datum des Erscheinens der Novelle im Unterhaltungsblatt der Vossischen Zeitung, des angesehenen demokratisch-fortschrittlichen Berliner Blatts, vom 21. bis 26. Juni 1933.34 Zwischen der Entstehung im Winter 1930 / 31 und dem Erscheinen lag nicht nur der politische Umbruch in Deutschland und Österreich von 1933. Zum besonderen Rezeptionshintergrund gehörte auch das tagespolitischen Geschehen. Blattaufmacher der Vossischen dieser Tage waren, um hier den tagespolitischen Hintergrund anzudeuten, Berichte über die Polizeiaktion im gesamten Deutschen Reich zur Auflösung der Kampfstaffeln der Deutschnationalen Front (der DNVP), obgleich diese Hitlers Koalitionspartner in der Reichsregierung war; über das Vorgehen der Politischen Polizei gegen die Bayerische Volkspartei, obgleich diese dem »Ermächtigungsgesetz« zugestimmt hatte (21. Juni); und über die Auflösung der SPD wegen »hoch- und landesverräterischer Unternehmungen« (23. Juni). Zu dieser Zeit hatte Bruno Frank mit seiner Frau München verlassen. Beide hatten sich am Tag nach dem Reichstagsbrand Ende Februar im Tessin in Sicherheit gebracht, wo sie während des Sommers ein Haus mieteten. Anlaufpunkt war zunächst das Landhaus von Franks Schwiegermutter Fritzi Massary in Bissone am Luganer See gewesen.35 Nach Lugano chauffierte Frank Ende März auch die Münchner Freunde und Nachbarn Katja und Thomas Mann,36 der nach einer Vortragsreise zum Richard Wagner-Gedenkjahr in der Schweiz geblieben war – nach den Angriffen der Münchner Presse und der Vertreter des nationalistischen Richard Wagner-Kultes gegen ihn und seinen Münchner Wagner-Vortrag.37 Zuweilen hob sich Manns gedrückte Stimmung »unter dem Einfluß des Verkehrs mit dem etwas banal-lebemännischen Frank«.38 Wenig später wurde Frank 34 Am 21., 22., 23., 24.6. (jeweils Abendausgabe), 25.6. (Morgenausgabe), 26.6. (Abendausgabe) (online greifbar). 35 Vgl. Thomas Mann, Tagebücher 2, 1933–1934, hg. Peter de Mendelssohn, Frankfurt a. M. 1977 (23.3.1933), 19 f. – Peter de Mendelssohn, Der Zauberer. Das Leben des deutschen Schriftstellers Thomas Mann. Jahre der Schwebe: 1919 und 1933, Frankfurt a. M. 1992, 119. – Carola Stern, Die Sache, die man Liebe nennt. Das Leben der Fritzi Massary, Berlin 1998, 263–270. 36 Vgl. Kirchner, Der Bürger als Künstler, 221. 37 Leiden und Größe Richard Wagners (zum 50. Todestag Wagners zuerst in der Universität München am 10.2.1933 gehalten). 38 Th. Mann, Tagebücher 2 (27.3.1933), 22. Die Bemerkung wirft Licht auf die unschönen Züge Thomas Manns. – Vgl. dagegen das Charakterbild Ludwig Marcuses, »Bruno Frank: Gegenspieler aller fetten Prediger der Magerkeit«, in: ders., Essays, Porträts, Polemiken, hg. u. eingel. Harold von Hofe, Zürich 1979 (1988) 235– 238 (zuerst als Nachruf in: Aufbau, New York, 11. Jg. 1945, Nr. 26). – Auch Golo
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als Jude aus dem Münchner Rotary-Club, dessen Gründungsmitglied er war, ausgeschlossen, kurz darauf auch Thomas Mann.39 Franks Gesamtwerk geriet zwar erst 1938 mit seiner Ausbürgerung auf die »Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums«,40 aber seit 1933 wurde keines seiner erfolgreichen Bühnenstücken mehr aufgeführt. Der soeben abgeschlossene vorteilhafte Vertrag mit Ullstein41 endete mit dem Abdruck der Monduhr in der Vossischen Zeitung. Die Bayerische Politische Polizei schnitt Frank im Lauf des Jahres 1933 von seinen Einkünften ab. Das elterliche Privatbankhaus Gebrüder Rosenfeld in Stuttgart mußte den Betrieb im Mai einstellen und wurde Anfang 1934 aufgelöst. Franks jüngerer Bruder Lothar wurde als Teilhaber wegen Vergehens gegen das Depotgesetz 1933 vorübergehend inhaftiert.42 Bruno Frank war bewußt, daß er in ein dauerndes Exil verwiesen war, und versuchte Thomas Mann von seiner Meinung abzubringen, daß »der Spuk ja nicht lange dauern« werde.43 Frank hatte sich, anders als sein streitbarer Freund, publizistisch wenig hervorgetan; als in sich ruhender Schwabe, »wohlerzogen und zurückhaltend«, blieb er dabei.44 Ins Bild Mann, »Zum 20. Todestag Bruno Franks«, Neue Rundschau 1965, 533–535. – Als zu Ostern, Mitte April, in der Münchner Presse der »Protest der Richard-Wagner-Stadt München« gegen Thomas Mann erschien – mitunterzeichnet von Hans Pfitzner, dem »Rädelsführer« Hans Knappertsbusch, dieser in Manns Augen immer schon »ein Esel«, und Richard Strauss –, beriet sich Thomas Mann mit seinem Initimus Bruno Frank über die Zuspitzung der Lage und die Erwiderung. Vgl. Th. Mann, Tagebücher 2 (19.4.1933), 52. – Mendelssohn, Der Zauberer, 137–139, 188, 194, Abdruck des Protestes 137. – Paul Egon Hübinger, Thomas Mann, die Universität Bonn und die Zeitgeschichte. Drei Kapitel deutscher Vergangenheit aus dem Leben des Dichters 1905–1955, München 1974, 127–134, 144, Unterzeichnerliste des Protestaufrufs 381–383. 39 Vgl. Th. Mann, Tagebücher 2 (6.4., 8.4.1933), 39, 41. – Thomas und Katja Mann blieben bis Ende April in Lugano und im engen Verkehr mit den Ehepaaren Frank und Massary-Pallenberg und setzten sich dann mit den Franks nach Südfrankreich (Sanary-sur-Mer) ab. Im Sommer entstand der Plan eines Zusammenlebens beider Ehepaare in einem Haus in Nizza (vgl. Th. Mann, Tagebücher 2 [25.7.1933], 137). Im September zogen die Manns nach Küsnacht am Zürichsee um, die Franks im Herbst 1934 von Sanary nach London. 40 Vgl. Kirchner, Der Bürger als Künstler, 217. 41 Vgl. ebd., 219. – Mendelssohn, Der Zauberer, 105. 42 Vgl. Handbuch der baden-württembergischen Geschichte 5: Wirtschafts- und Sozialgeschichte seit 1918, Stuttgart 2007, 187. Weitere Auskünfte verdankt Verf. dem Staatsarchiv Ludwigsburg. 43 Vgl. Mendelssohn, Der Zauberer, 125. 44 Zu Franks Typus und Charakter aus gemeinsamem Erleben der Emigration in Kalifornien Albrecht Joseph, Porträts I: Carl Zuckmayer – Bruno Frank, hg. u. übers. Rüdiger Völkers, Aachen 1993, 247–304, Zitat 284; zu Albert Joseph, später
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gehört, daß sich Thomas Mann einige Jahre zuvor in einer großen, viele Zeitungen und Zeitschriften einbeziehenden Auseinandersetzung um Franks Politische Novelle schützend und vehement, auch wegen der literarischen Verarbeitung der deutsch-französischen Annäherung durch Gustav Stresemann und Aristide Briand, vor seinen Freund gestellt hatte.45 Einen neuen Verlag fand Frank in der deutschen Abteilung des angesehenen Amsterdamer Verlags von Emanuel Querido, Sozialdemokrat portugiesisch-jüdischer Herkunft, der zahlreiche deutsche Schriftsteller-Emigranten an sein Haus band.46 Dort erschien 1937 ein Band mit Franks Erzählungen und Gedichten, darin erstmals in Buchform – in der Textgestalt leicht revidiert und orthographisch modernisiert – Die Monduhr47. Der Novellenaspekt ethnisch-kultureller Differenz hatte bei Erscheinen der Novelle vor dem Hintergrund einer über Nacht geltenden Rassenideologie eine Aktualität gewonnen, wie sie Frank kaum hatte voraussehen können. Dem Chef des Unterhaltungsblatts der Vossischen, Monty Jacobs – er mußte als Jude die Feuilletonleitung im Herbst 1933 abgeben,48 die Vossische im März 1934 ihr Erscheinen einstellen –, dürfte dies wohl bewußt gewesen sein.49 Immerhin ist die eine Hauptfigur ein »Neger« (der Gardesoldat Mohámmed), dem die Empathie des Erzählers gehört, und die andere ein Europäer, der sich anders verhält, als es die seit 1933 herrschende Ideologie vorschrieb. Daß Österreich – im Schnittfeld von deutscher, romanischer und slawischer Kultur – in der Novelle für alteuropäische Werte steht, gewann zum Zeitpunkt des Zeitungsabdrucks eine ebenso wenig von Frank voraussehbare Aktualität: Hitler sperrte im Mai 1933 die Ein- oder Durchreise von Deutschland in das Nachbarland mit einer »Visumsgebühr« von tausend Reichsmark,50 um es vom Tourismus abzuschneiden, und der Christlich soziale Bundeskanzler Engelbert Dollfuß war dabei, sein Land, das durch mit Anna Mahler verheiratet, 307–313; v. a. Peter Stephan Jungk, Franz Werfel. Eine Lebensgeschichte, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 2006, 107 f., 245 f., 291 f., 300–303 u. ö. 45 Thomas Mann, »Politische Novelle«, Das Tagebuch (Berlin) 9 (1928), 21.7., 1209–1220; Neudruck in: ders., Die Forderung des Tages. Reden und Aufsätze aus den Jahren 1925–1929 (Thomas Mann, Gesammelte Werke), Berlin 1930, 225–242. Weitere Abdrucke in den Werkausgaben Th. Manns. 46 Vgl. Mendelssohn, Der Zauberer, 174–179. 47 Frank, Aus vielen Jahren, 321–359; Neudruck in: ders., Ausgewählte Werke, 175–200. 48 Vgl. Rolf Badenhausen, Art. »Monty Jacobs«, Neue Deutsche Biographie 10 (1974), 245 f. 49 Die Vossische druckte im März 1933 einen Auszug aus Thomas Manns verfemtem Richard Wagner-Vortrag ab. Vgl. Th. Mann, Tagebücher 2 (28.3.1933), 25.
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die Parlamentskrise50 im März 1933 innenpolitisch gelähmt war, gegenüber dem Nationalsozialismus weltanschaulich abzugrenzen.51 Wien war Frank als Heimat seiner Frau Elisabeth (gen. Liesl) und deren Eltern, den Bühnenstars Fritzi Massary und Max Pallenberg,52 vertraut. Als Franks Schwiegervater, der als Jude Deutschland verlassen hatte und nach Wien zurückgekehrt war, im August 1933 bei den Salzburger Festspielen den Mephisto in Max Reinhardts Inszenierung von Goethes Faust I spielte (an der Seite von Ewald Balser in der Rolle des Faust und Paula Wessely in der des Gretchen), fehlten die sonst zahlreichen deutschen Gäste.53 Die Monduhr deutet, wie alle Erzählungen Franks, den zeitgeschichtlichen Hintergrund nur knapp, oft nur stichwortartig an und setzt den verständigen Leser voraus. Das fundamentale Thema aufeinander stoßender Weltbilder wird durch die Verhaltenskonstellation von nur wenigen Figuren und gelegentlich durch Erzählerkommentare unterstützt. Der Gegensatz von durch die Aufklärung hindurchgegangener europäischer und traditionaler orientalischer Kultur wird, auch dies gewagt, innerhalb der Poetologie der realistischen Novelle zwar an der Oberfläche als Konflikt behauptet, aber zugleich durch Motivbezüge wieder relativiert und zurückgenommen. Und schließlich: Die dargebotenen Erklärungen für das Geschehen bleiben auf der individualpsychologischen Ebene. Dieser Erzählstil kam der gebotenen öffentlichen Zurückhaltung bzw. publizistischen Vorsicht und Umsicht in der veränderten politischen Lage des Jahres 1933 entgegen. Die Monduhr besteht aus zwei Teilen. Der erste spielt in der alten Königsstadt Rabat, seit 1912 Sitz des französischen Generalresidenten und politisches Zentrum Marokkos, der zweite in Wien. Drei andere marokkanische Städte kommen umrißhaft in den Blick: Fès, die religiös-kulturelle Hauptstadt mit der ältesten Moschee und Universität des Landes; 50 Gesetz über die Beschränkung der Reisen nach der Republik Österreich, 29.5.1933 (dazu Durchführungsverordnungen vom 29.5. u. 1.6.), Reichsgesetzblatt 1933 I, 311 f., 321; die Geldstrafe bei Zuwiderhandlung lag nicht unter 5000 Reichsmark. 51 Vgl. Ernst Hanisch, Österreichische Geschichte 1880–1990. Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert (Österreichische Geschichte [9]), Wien 1994, 303–309. 52 Vgl. Werner Bollert, Art. »Fritzi Massary«, Neue Deutsche Biographie 16 (1990), 357. – Ingeborg Liane Schack, Art. »Max Pallenberg«, Neue Deutsche Biographie 20 (2001), 17 f. – Zum familiären Hintergrund, auch zu Bruno und Liesl Frank, Stern, Die Sache, die man Liebe nennt (auf reichem, aber vage belegtem dokumentarischen Material). 53 Vgl. ebd.,, 272–275. – Kirchner, Der Bürger als Künstler, 224 f.
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Marrakech, die von der Berberkultur geprägte Königsstadt des Südens; und die Hafenstadt Casablanca am Atlantik, das Handels- und Wirtschaftszentrum und Tor nach Europa. Die erzählte Zeit bezieht sich auf die Protektoratsphase Marokkos (1912 / 56) bzw. auf die Erste Republik in Österreich. Die beiden Hauptpersonen sind ein Wiener Professor der Arabistik und ein an Leib und Leben bedrohter marokkanischer Gardesoldat. Beide sind in den Novellenteilen jeweils um landestypische Personen ergänzt, die der Milieuschilderung und der histoire dienen. Ins Bild gesetzt sind die Bevölkerungsgruppen der Berber, Araber, Schwarzafrikaner und weißen Kolonialherren. In der Novelle stoßen – eine für die Zwischenkriegszeit singuläre Thematik – einerseits arabisches und schwarzafrikanisches Weltbild (in Rabat), andererseits alteuropäisches und nordafrikanisch-islamisches Weltbild (in Wien), ferner eine aus Überzeugung gelebte (Scheich in Fès) und nur äußerlich-ritualhaft vollzogene Religiosität (Sultan von Marokko) sowie innereuropäische Mentalitätsunterschiede (Wiener Professor, französischer Generalresident) aufeinander. Ebenso bemerkenswert ist die Einbeziehung österreichischer Kultur und Mentalität durch einen deutschen Dichter. Die thematische Verarbeitung gelingt im Sinne des poetischen Realismus in hohem Maße, ja fast schulbuchartig, indem Rabat und Wien, ihre Kultur und Repräsentanten symbolisch-motivisch höchst kunstvoll aufeinander bezogen sind, sei es durch Übereinstimmung oder Gegensätzlichkeit. Die Novelle kennzeichnet die Mischung von Elementen aus Fiktion und Wirklichkeit wie die beiden anderen ›politischen‹ Novellen Franks, Politische Novelle und Der Magier. Bei der Leserrezeption sind drei zeitliche Ebenen im Auge zu behalten: die der Entstehungszeit 1931, die der Drucklegung 1933 und schließlich die heutige. Die Erzählperspektive changiert zwischen einem auktorialen, mitunter stark wertenden bzw. kommentierenden Erzählen und einer personalen Perspektive, in der die Handlung aus der Sicht der Figuren dargeboten wird. Wie für die Novellengattung typisch, spielt der überraschende, Spannung erzeugende Zufall mehrfach eine große Rolle, der auch im ›großen Weltgeschehen‹, das den Hintergrund der Monduhr bildet, mehr Gewicht hat als es eine theoriegeleitete Geschichtsbetrachtung wahrhaben will.54
54 Vgl. Reinhart Koselleck, Der Zufall als Motivationsrest in der Geschichtsschreibung (1968), Neudruck in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979, 158–175.
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II. Erster Novellenteil: Das Ereignis in Rabat Die Zufälle häufen sich geradezu im ersten Teil der Novelle. Ort der histoire ist Rabat (175). Im Mittelpunkt steht der Wiener Professor der Arabistik Purgstaller. Die erzählte Zeit fällt historisch in die erste österreichische Republik und jahreszeitlich in das Ende des Monats März (175), fünf Tage vor Beginn des Sommersemesters (176), der Grund für Purg stallers Abreise. Die histoire des ersten Teils erstreckt sich über zwei Tage, von Freitag bis Samstag, wobei die Stunden rekonstruierbar sind. Die auf Purgstaller einströmenden Ereignisse und darunter die bezeichnenden Zufälle sind: am Freitag (178) 7.30 Aufwachen im Hotel, Frühstück im Café, Fahrt zum Sultanspalast; 12.00 Prunkzug des Sultans »in der Mittagsglut« (180); 12.30 Abführung des Mitglieds der Schwarzen Garde Mohámmed; 14.30 Purgstallers Vordringen zum Kommandeur der Schwarzen Garde; 16.30 Gespräch mit dem französischen Generalresidenten; am Samstag (183) 12.00–12.30 Audienz beim Sultan; 13.00 Rückkehr ins Hotel (184); 15.00 Abreise zusammen mit Mohámmed von Casablanca nach Marseille. Das Geschehen wird extrem zügig erzählt und entwirft ein Bild des effizienten gebildeten Europäers Purgstaller. Den ersten Teil der Novelle bestimmt eine doppelte Personenkonstellation: zum einen Purgstaller und Mohámmed, zum anderen Purgstaller und die Obrigkeit von Marokko (französischer Generalresident, Sultan). Die Namensgebung der ersten Hauptperson weckt weitreichende Assoziationen. Dr. Ferdinand Purgstaller (175) ist 38 Jahre alt (176) und Professor für arabische Sprache und Literatur in Wien. Purgstaller zeigt neben der Namensähnlichkeit Züge des Wiener Orientalisten und Historikers Joseph von Hammer-Purgstall (1774–1856)55. Die geistig-künstleri55 Dieser hatte die von Maria Theresia gegründete Orientalische Akademie durchlaufen. Als junger Dolmetscher an der österreichischen Gesandtschaft in Konstantinopel trieb er in Ägypten eine Handschrift der arabischen Tausendundeine Nacht auf und gab sie in französischer Übersetzung heraus. Am bedeutendsten ist Hammers quellengesättigtes, zehnbändiges Werk zur Geschichte des osmanischen Reiches. Er verfaßte auch Lebenserinnerungen, die Frank indes nicht bekannt gewesen sein dürften, da sie erst 1940 in einem Teildruck erschienen. Dem gebildeten Publikum war Hammer durch Goethes Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans ein Begriff. Goethe hat darin Joseph von Hammer einen eigenen Abschnitt gewidmet, dessen Übersetzung des Divan des persischen Dichters Hafis (um 1327–1390) ihn zu den Gedichten des West-östlichen Divan angeregt hat. Frank selbst zitierte gerne aus dem West-östlichen Divan. So in seiner Stellungnahme in der Rundfrage »Warum werden Ihre Bücher viel gelesen? Das Rätsel des Publikumserfolges«, Die literarische Welt (Berlin), Nr. 21 / 22, 25. Mai 1928, 4. – Vgl. »Hammer-Purgstall«, in: Österreichisches Biographisches Lexikon 2, Wien 1959,
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sche Auseinandersetzung mit dem Orient reichte freilich in Wien noch weiter zurück; sie war Folge der Kriege gewesen, die die Habsburger im Bündnis mit anderen europäischen Mächten gegen das expandierende Osmanische Reich und die Belagerungen Wiens seit dem 16. Jahrhundert geführt hatten.56 Nach der endgültigen Bezwingung der Türkengefahr in der Schlacht vor Wien im Jahr 1683 war es – mit dem Verblassen der Furcht im Abstand von zwei Generationen – seit dem 18. Jahrhundert zur Mode geworden, exotisch wirkende Elemente osmanischer Kultur in die deutsche Hochkultur, in ungezählte Theaterstücke, Opernlibretti und Musikstücke »Alla turca« (samt Janitscharenmusik mit Schlaginstrumenten), einzuschmelzen.57 Darauf spielt die Novelle mit dem Motiv der Bastonnade an. In der Monduhr bestehen indes nur wenige motivische Bezüge zwischen Purgstaller und Hammer-Purgstall. Purgstaller ist kein Zeitgenosse seines möglichen Vorbildes wie die literarischen Figuren der erwähnten Politischen Novelle und der Novelle Der Magier. Zum wenigsten lädt Purgstaller als Figur zur Identifikation ein, da er sich als schwach und orientierungslos erweist, als die Folgen seiner humanitär motivierten ›Rettungstat‹ an Mohámmed kulminieren. Purgstaller ist unverheiratet und pflegt in Währing (178), im typischen Professorenmilieu in Nähe der Universität, in einem Haus mit fünf Zimmern (186) einen gehobenen Lebensstil mit Köchin und Diener (185). Purgstaller ist, kennzeichnend für die österreichische Geistesgeschichte, »kein Mann der Abstraktion, sondern ein fröhlicher Augenmensch« (176). Er hängt an seiner Heimat (178) und ist der Habsburgermonarchie aus Familientradition heraus innerlich verbunden geblieben, denn sein Großvater war Generalpostmeister von Istrien gewesen, das 1919 an Italien gefallen war. So ist Österreich für Purgstaller – es wird genau in der Mitte der Novelle im inneren Monolog thematisiert – »ein Dogma«, auch wenn Österreich »sehr klein und arm geworden, gewaltsam zurückgeführt [ist] auf die Urzelle seiner einstigen Größe« (188). Geradezu generationstypisch ist ihm der Schmerz einer ganzen Generation über die »Willkür der Sieger« des 165–168. – Werner Welzig, »Hammer-Purgstall«, Neue Deutsche Biographie 7 (1966), 593 f. – Katharina Mommsen, Goethe und 1001 Nacht, Frankfurt a. M. 1981. 56 Vgl. Hans Wagner, »Österreich und die Türken« (1972), Neudruck in: ders., Salzburg und Österreich. Aufsätze und Vorträge (Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde, Ergänzungsbd. 8), Salzburg 1982, 155–170. 57 Vgl. die Hinweise (ohne Einbeziehung der Musik) im Art. »Orientalismus« (eine jüngere Begriffsprägung zur Wahrnehmung des Orients), in: Enzyklopädie der Neuzeit, 9, Stuttgart, Weimar 2009, 494–508, hier 504 f.
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Weltkriegs,58 über den Verlust des Großreichs und die internationale Isolierung des Landes eingeschrieben.59 Im besonderen denkt Purgstaller dabei an Wien, »die große Stadt, an deren deutschem Grundbestand ein italienisches Jahrhundert, ein spanisches und ein französisches geformt hatten, bis diese weltbunte Einheit dastand« – dies der nach 1918 gepflegte Topos von der Mittlerrolle des Landes in Europa. Um die Metropole herum sind vor Purgstallers geistigem Auge »die herrlichen Länder«, die alten Kron- bzw. nach 1918 Bundesländer gruppiert, »der Wundergarten Europas« (189). Zusammengedrängt personifiziert Purgstaller das starke Bekenntnis zu Österreich bzw. zum habsburgischen Mitteleuropa, wie es zwei Repräsentanten des österreichischen Deutschtums explizit ausformuliert haben. Zum einen war dies Anton Wildgans bzw. seine Rede über Österreich zum Staatsfeiertag der ersten Republik im Jahr 1929. Die Rede entwirft ein wirkungsmächtiges Bild des besonderen österreichischen Deutschtums und seiner Sendung.60 Darin erinnert Wildgans an die Mission der Deutschösterreicher für die zivilisatorische Entwicklung der übrigen Völker der Monarchie, »fernhinwirkend bis an die Tore des Orients«, und an die gewaltige Sammlung »allgemeingeschichtliche[r] und kulturhistorische[r] Dokumente des Okzidents und Orients« in Wien, der »deutschen Weltstadt katexochen in Europa«. Eine Art Hommage an die »Werte einer ehrwürdigen Kultur« (Wildgans) ist die Erzählerbemerkung, Purgstaller sei »ein gutgewachsener, gutgekleideter Mann, im geprägten Antlitz die Legitimation alten Bluts« (182). Dies erinnert an den »Typus« des »österreichischen Menschen«, wie ihn Wildgans und – noch einprägsamer – Hugo von Hofmannsthal in den Figuren seiner Lustspiele als »Ergebnis« von Österreichs »besondere[r] Geschichte, Kultur und seiner natürlichen Anlagen« (Wildgans) vorgestellt haben.61 58 Erich Zöllner, Geschichte Österreichs. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, 8. Aufl. Wien, München 1990, 493. 59 Vgl. Matthias Pape, »Der Ausschluß der deutschen und österreichischen Wissenschaftler aus den internationalen Forschungsorganisationen nach dem Ersten Weltkrieg«, in: Gerald Kohl, Christian Neschwara, Thomas Simon (Hgg.), Festschrift für Wilhelm Brauneder zum 65. Geburtstag. Rechtsgeschichte mit internationaler Perspektive, Wien 2008, 457–475. 60 Österreich sei – so im Eingang der Rede – »nur mehr ein kleiner Teil jenes großen Reiches«, »das noch vor etwas mehr als einem Jahrzehnte die geographische Mitte unseres Weltteiles bildete«. Anton Wildgans, Rede über Österreich, Wien, Leipzig 1930 (viele Auflagen), auch in: ders., Gesammelte Werke 5, Musik der Kindheit, Austriaca, Leipzig 1930, 187–208. 61 Auf dem ›arteigenen‹ »österreichischen Menschentum« baute die Österreich idee des Christlichen Ständestaats (1934–1938) und nach 1945 die Idee der eigenständigen »österreichischen Nation« auf. Das dürfte den Lektürereiz der Novelle im
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Das Österreichbild des Schwaben Frank war neben der familiären Tradition, der Wiener Theaterkultur, Herkunft und Lebensart seiner Schwiegereltern zum anderen unübersehbar von Hofmannsthal inspiriert. Dieser hatte die »österreichische Idee« im Ausgleich Alteuropas mit dem slawischen Osten gesehen und dem alten Österreich in Europa die Aufgabe zugeschrieben, den »polymorphen Osten zu fassen«. Zugleich hatte Hofmannsthal noch im Weltkrieg die geschichtliche Krise, ja den Zusammenbruch Europas reflektiert, das am Ende seiner »materiellen und ideellen Kräfte« stehe und von Asien62 herausgefordert werde. Hofmannsthal hatte Wien wegen des von Hammer-Purgstall in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts angeregten Interesses am Orient, so bei Goethe, Byron und Victor Hugo, als »porta Orientis« bezeichnet.63 Auf dieser Linie hatte sich Österreich anläßlich der Wiener Weltausstellung im Jahr 1873 mit orientalischem Viertel, stiltypischen Gebäuden und Dekorationsfomen als »die Brücke zwischen Abend- und Morgenland«64 präsentiert. Hier war auch Marokko neben anderen nordafrikanischen Staaten erstmals auf einer Weltausstellung vertreten gewesen65 und die Orientmode »auf ihren Höhepunkt«66 gelangt. Hofmannsthals Essays waren, zusammen mit anderen der Weltkriegsjahre, im Jahr 1931, im unmittelbaren zeitlichen Umfeld der Entstehung von Franks Novelle, posthum bei S. Fischer erstmals in Buchform erschienen.67 Darin finden sich auch Hofmannsthals Feuilletons über seine MaBuchdruck von 1937 erhöht haben. Vgl. Fritz Fellner, »Was heißt ›Österreich‹? Zu Genesis und Ausprägung des Österreich-Bewußtseins« (1998), Neudruck in: ders., Geschichtsschreibung und nationale Identität. Probleme und Leistungen der österreichischen Geschichtswissenschaft, Wien, Köln, Graz 2002, 210–221. 62 Dieses Motiv hatte Frank zuvor in der Politischen Novelle verarbeitet; es findet sich auch in Franks Gedicht Stolze Zeit – 1914. 63 Hugo von Hofmannsthal, »Bemerkungen« (1921), Erstdruck in: ders., Prosa 4, 1955; Neudruck in: ders., Reden und Aufsätze II (1914–1924), Frankfurt a. M. 1979 (Hofmannsthal, Gesammelte Werke), 473–477, zu Hammer-Purgstall 474 (530). – Hammer-Purgstall bleibt unerwähnt im Artikel »Orientalismus«. 64 So der Bericht »Von der wiener Weltausstellung«, Illustrirte Zeitung (Leipzig), 24.5.1873, 390. 65 Vgl. Jutta Pemsel, Die Wiener Weltausstellung von 1873. Das gründerzeitliche Wien am Wendepunkt, Wien, Köln 1983, 46, 48 f., 62, 66. 66 Ebd., 66, Abb. 35, 36. Während der Ausstellung wurde das »Comité für Orient und Ostasien« zur Pflege der wirtschaftlichen und kulturellen Kontakte mit dem Orient und ein Jahr später in Wien das Orientalische Museum mit Sammlungen und Bibliothek gegründet, das die Österreichische Monatsschrift für den Orient herausgab; ebd., 89 f. 67 Hugo von Hofmannsthal, »Die österreichische Idee«, Neue Zürcher Zeitung, 2.12.1917, wieder in: ders., Die Berührung der Sphären, 233–238; zur Editionsgeschichte 448; Neudruck in: ders., Reden und Aufsätze II, 454–458 (529 f.). – Ders.,
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rokkoreise. Frank dürfte kaum entgangen sein, daß Hofmannsthal wenige Jahre zuvor in München der Idee der Nation als »unzerreißbares Gewebe des Sprachlich-Geistigen« Ausdruck verliehen hatte. Mit Blick auf den Kontinuitätsbruch von 1918 hatte er die Bewahrung der »geistigen Tradition« angemahnt und deren Geflecht subtil dargelegt.68 In dieser spezifisch österreichischen Tradition steht Franks Figur Purgstaller bei aller Weltläufigkeit in besonderer Weise. Zu den Eigenheiten dieser als Typ angelegten Figur Purgstaller gehören sein Hocharabisch (179) und die Forschungsreisen durch das »Länderband des Islams«, zuletzt nach Marokko (177) und hier nach Marrakech (drei Wochen) und Fès (einen Monat). Purgstaller macht dort die wissenschaftliche Ausbeute seiner Reise im Austausch mit Scheich69 K’thani (er ist »Studiengenosse« [S. 177] im Hinblick auf das gemeinsame Forschungsinteresse). Von ihm erhält er als Zeichen der Hochschätzung ein besonderes Geschenk: eine Handschrift oder einen Teil davon aus der Geschichte der Berber (der von den Arabern unterworfenen weißafrikanischen Nomadenstämme im Norden Marokkos) des Ibn Kaldun.70 Der großzügige Schenkungsakt des Scheich verweist auf den erwähnten Ort in Franks Biographie.71 Der Akt überzeugt allerdings nicht restlos angesichts der Eifersucht, mit der der Scheich seine Manuskriptsammlung hütet und wie einen Goldschatz scharf bewachen läßt und angesichts der Leichtigkeit, mit der »Die Idee Europa. Notizen zu einer Rede in Bern am 31. März 1917«, Europäische Revue 6, 1930, Neudruck in: Die Berührung der Sphären, 238–251; wieder in: ders., Reden und Aufsätze II, 43–54 (517 f.). 68 Hofmannsthal hatte die »Bildung einer wahren Nation« durch »politische Erfassung des Geistigen und der geistigen durch das Politische« gefordert, der in den Prozeß einer »konservativen Revolution« einmünden müsse. Hugo von Hofmannsthal, »Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation« (Rede in der Universität München am 10.1.1927), Neudruck in: ders., Reden und Aufsätze III (1925–1929), (Hofmannsthal, Gesammelte Werke), Frankfurt a. M. 1980, 24–41. 69 Titel für führende Persönlichkeiten im arabischen Kulturraum, ursprünglich für das Stammesoberhaupt bei den arabischen Beduinen. 70 Ibn Kaldun (Ibn Khaldoun) (1332–1406) hat im Dienst der Meriniden-Herrscher von Fès gestanden. Vgl. Hans-Rudolf Singer, »Der Maghreb und die Pyrenäenhalbinsel bis zum Ausgang des Mittelalters«, in: Ulrich Haarmann (Hg.): Geschichte der arabischen Welt, München 1987, 265–322, hier 306 f., 316. – Die Geschichte der Berber war eine Soziologie der islamischen Welt und wurde seit der Mitte des 19. Jahrhunderts stark beachtet. Ibn Kalduns Schriften gehören zu den bedeutendsten Quellen für die Geschichte des Islam in Nordafrika; sie sind fortlaufend zitiert bei T. Burckhardt, Fes. 71 Franks Gastgeschenk einer Prachtausagbe von Goethes Faust an einen Scheich in Fès ist transformiert in die Schenkung eines Manuskripts von vergleichbarer nationaler Bedeutung an den europäischen Gelehrten Purgstaller.
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Purgstaller später die Handschrift für Mohámmeds Auslösung hergibt, als ob ihm diese nichts wert wäre. Purgstaller erscheint ironisch gebrochen, sowohl durch seine Handlungen – er ist als typischer Wiener vom Wert hoher Trinkgelder innig überzeugt (182) – als auch durch Erzählerironie. Als er beim Sultan in Audienzkleidung erscheint, die er sich kurzfristig ausleihen muß, kommt er sich mit dem »etwas zu kleinen Zylinder« und den »engen Lackschuhen« wie ein Aushilfskellner vor (183) und streckt sich selbst vor dem Spiegel die Zunge heraus. Bei der Abfahrt aus Marokko schenkt er einem »eingeborenen Piccolo« seinen Frack samt Utensilien mit der Bemerkung, er solle ihn gut aufbewahren und einmotten; wenn er achtzehn Jahre alt sei, sitze ihm »der Staat wie angegossen« (185). Die spätere auf Purgstaller bezogene Bemerkung über »sein[en] Hofstaat in Währing« (185) ist eine ironische Replik auf die Unterstellung der anderen Hauptfigur, Mohámmed, Purgstaller sei ein mächtiger Mann mit eigenem Hof – ein Parallelmotiv zum Hofstaat des Sultans. Die gewisse Selbstgefälligkeit Purgstallers wird unterstrichen durch seinen Sinn für Eleganz, die er mit »alle[n] österreichischen Herren« teilt (183). Hauptsymbol und titelgebend ist die Monduhr (176), ein Erbstück Purgstallers aus dem 18. Jahrhundert. Die Uhr ist aus Gold, in der Form oval und zeigt in der oberen Hälfte über dem Ziffernblatt den Lauf des Mondes in feinem Goldkreis auf matt-blauem Hintergrund; sie ist, so vermutet der Erzähler, eine venezianische Goldschmiedearbeit, da auf der Rückseite der Markus-Löwe eingraviert ist. Die Uhr zeigt mit der Indikation der Mondphase die aktuelle Stellung des Mondes am Himmel.72 Die Uhr muß alle 28 Tage bei Neumond aufgezogen werden, also etwas früher als zeitlich geboten (29,5 Tage), wohl, damit sie, wie bei vielen Uhren technisch nötig, nicht zum Stillstand kommt.73 Die Geschichte des Erbstücks relativiert die Grenzziehung zwischen arabischer Kultur und österreichischer Geschichte 72 Monduhren sind eine süddeutsche Besonderheit. Sie enthalten eine separate Anzeige für die Mondphasen. Ein Anzeigenmechanismus benutzt eine Kugel, die zur Hälfte aus einer Wand herausragt und sich um ihre mit der Wand bündigen Achse dreht. Sie ist zur Hälfte hell (Vollmond), zur anderen Hälfte dunkel (Neumond) gefärbt. Bei einem anderen Mechanismus dreht sich eine Scheibe unter einer Öffnung im Ziffernblatt. Auf ihr befinden sich zwei über den Durchmesser aufgebrachte helle Kreisflächen, der Rest ist dunkel. Hochwertige Monduhren werden heute in Armbandausführung hergestellt. 73 Die islamische Welt kennt nach arabischem Vorbild ein reines Mondjahr mit Monaten von 29 und 30 Tagen, während der Julianische Kalender das reine Sonnenjahr benutzt, dem eine Durchschnittslänge des Jahres von 365 Tagen und sechs Stunden zugrunde liegt und der den sechsstündigen Überhang alle vier Jahre durch einen zusätzlichen Tag ausgleicht.
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ebenso wie die Störche auf den Zinnen der Festung in Rabat, die das Bild des Landes prägen und deren Federkleid Purgstaller an die Störche auf den Dorfkirchtürmen in der Wachau oder in Kärnten erinnern (176). Die zweite Hauptfigur ist Mohámmed ben Mohámmed el Mehenni (181) (M., Sohn des M. aus M.), der »das A des heiligen Namens«, den er trägt, scharf betont74 (181). Er ist ein Sussi, also Schwarzafrikaner aus dem Hauptvolksstamm der Gegend von Tarudant (179), d. h. der marokkanischen Provinz Tarroudannt75 und demnach Abkömmling importierter Sklaven. Wir müssen ihn uns von hohem Wuchs, schlank, mit wolligem Haar, dicken Lippen und platter Nase vorstellen.76 Der Sussi ist Mitglied der Schwarzen Garde des Sultans (die seit altersher aus Schwarzen, nicht Arabern rekrutiert ist) und spricht ein gutturales Idiom mit sanfter Stimme. Er ist fasziniert von Purgstallers Monduhr, weiß aber nicht zwischen der Wirklichkeit und ihrer fiktiven Abbildung zu unterscheiden. Er hält den Mond der Uhr bzw. deren Mechanik für die Sache an sich, also für den Lauf der Gestirne, und meint, der Besitzer der Uhr könne »die Zeit stillstehen lassen« (179). Wie der Erzähler wertend kommentiert, sind »Werke der Mechanik« »für den natürlichen Menschen zugleich Zauberei und köstliches Spielzeug« (179). Mohámmed versteht das Kunstwerk der Monduhr nicht als künstliche Schöpfung, sondern als magischen Gegenstand, der an Kraft die natürliche Realität übertrifft. Frank führt am Beispiel Mohámmeds eine erste Facette der schwarzafrikanischen Welt vor, deren Naturreligionen (Stammes- oder Ahnenreligionen77) und Sternanbetung bzw. »Zauberglaube« der Islam oft nur an der Oberfläche überdeckt hat.78 Diese Zivilisation hat Technik, moderne Naturwissenschaften und über den Tagesbedarf hinausgehendes Wirtschaften in ihr Weltbild nicht integriert, ist hinter dem ›Fortschritt‹ des arabisch geprägten Nordafrika zurückgeblieben und vom Rationalismus der west74 In
der Buchausgabe trägt das »a« des Namens den accent’égu. Südwesten Marokkos mit der gleichnamigen Hauptstadt, der größten Stadt am Souss-Fluß, als petite Soeur von Marrakech bezeichnet (Hafenstadt der Provinz ist Agadir), seit 1912 französisches Protektoratsgebiet. 76 So die Beschreibung im Art. »Mandingo« (»eines der verbreitetsten Negervölker Westafrikas«), deren Stammverwandte die Susu sind, Brockhaus Enzyklopädie, 13. Aufl., 11 (1885), 403. 77 Vgl. Ferdinand Herrmann, Symbolik in den Religionen der Naturvölker (Symbolik der Religionen 9), Stuttgart 1961, zur Ahnenverehrung als Mittelpunkt der Religion 109–111. 78 Vgl. John S. Mbiti, Afrikanische Religion und Weltanschauung, Berlin / New York 1974, 315, 323–327; zu den europäischen Mißverständnissen afrikanischer Magie, Hexerei und Zauberei 246–259. 75 Im
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lichen Welt am weitesten entfernt. Mohámmed wird, wie der Leser ahnt, an der Realität eines Uhrwerks irre werden, das den Gesetzen der vom Menschen geschaffenen Mechanik folgt.79 In der Figur des Sussi ist also die Ausgangsspannung der Novelle – magisches gegen wissenschaftlich abstrahierendes Bewußtsein – verkörpert. Die für die Novellengattung typische überraschende und für Franks Novelle notwendige, da konflikttreibende Wende vollzieht sich auf mehreren Ebenen. Dabei werden unterschiedliche Einblicke in die Lebenswelten Marokkos eröffnet. Purgstaller beobachtet den Prunkzug des Sultans vom Palast zum Freitagsgebet in der Moschee. Der Sultan sitzt, in weiße Seide gekleidet, auf einem »weißen Pferd« (180),80 ist von Dienern umgeben und wird von der Schwarzen Garde eskortiert. Die erste von mehreren überraschenden Begebenheiten liegt darin, daß Mohámmed die Garde verläßt und zu Purgstaller eilt, als er dessen Taschenuhr sieht, weil »das Wunderspielzeug« »stärker gewesen [war] als alles«; »das zaubergläubige, erwachsene Kind« – wiederum Hinweis auf schwarzafrikanische und nicht arabische Mentalität – hatte »Ort und Zwang der Zeremonie« vergessen (180). Das entspricht der Kulturanthropologie der 1920er Jahre, der gemäß der »primitive Mensch« »dem richtigen Zauber, der magischen Überwindung von Imperondabilien eine so große Wichtigkeit« beimißt, »daß die richtigen Handlungen immer als etwas Sekundäres betrachtet werden«.81 Nach dem islamischen Recht der Sharía war Mohámmeds Verhalten »Disziplinbruch bei repräsentativer Gelegenheit« (182) und damit ein Verstoß gegen den vom koranischen Gesetz geforderten Gehorsam gegenüber der Autorität im Staat, die in der Nachfolge des Propheten Mohammed und im Dienst Gottes steht.82 Dafür wird Mohámmed ins Gefängnis abgeführt; ihm droht die dreimalige Bastonnade,83 das »Zerprügeln der Fußsohlen«84 mittels 79 Kirchner, Der Bürger als Künstler, 222, schreibt etwas schlicht, daß sich hier das vormoderne Denken der Schwarzen zeige. 80 So in etwa bis heute: Der zwischen Tradition und Moderne vermittelnde König Mohammed VI. (Sohn Hassans II.) fährt mit dem Kutschentyp »Viktoria« (für die britische Königin Victoria erbaut) zur Freitagsmoschee und reitet auf einem Schimmel zum Palast zurück. 81 Konrad Theodor Preuss, Die geistige Kultur der Naturvölker, Leipzig 1923, 27. 82 Vgl. Adel-Th[eodor] Khoury, Einführung in die Grundlagen des Islams (Islam und westliche Welt 3), Graz / Wien / Köln 1978, 260–263. 83 Zur Züchtigung bzw. Geißelung im islamischen Strafrecht vgl. Th[eodor] Willem Juynboll, Handbuch des Islamischen Gesetzes nach der Lehre der Schafi’tischen Schule nebst einer allgemeinen Einleitung, Leiden / Leipzig 1910, 291, 308 f. 84 Diese hat Purgstaller angesichts der Abführung des Sussi vor Augen; im Abdruck der Vossischen Zeitung sieht er »einen stumpfen Feldscher an seinen [Mohámmeds] zerstörten Füßen beschäftigt …«; in der Buchausgabe sieht er den Feldscher
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Knotenstricken oder Lederriemen, die nach Auskunft des Kommandeurs der Garde vom Fuß nichts übrig lasse »als ein[en] Klumpen von brandigem Fleisch und zerschmetterten Knochen« (182). Diese Strafe (sonst auch Prügel auf den Rücken) war im Orient bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts üblich und in Europa Symbol für osmanische Barbarei.85 Mit dem Motiv arbeitet Frank ein weiteres Element seiner Marokkoreise ein. Frank führt mit dieser Strafe den anstößigen Mangel des islamischen Rechts, insbesondere des Strafrechts (Prügelstrafe, Verstümmelung, öffentliche Hinrichtung) vor, zu dem das religiöse, auf den relevanten Vorschriften des Korans beruhende Recht der Sharía gehört, auch wenn diese nicht ausdrücklich genannt wird. Das religiöse Recht schließt die Pflichtenlehre ein (wie Reinheit, Gebet, Fasten während des Ramadan), die alle Bereiche des öffentlichen Lebens durchdringt. Das stand bei Erscheinen der Novelle bereits im Kontrast zur Politik der Jungtürken (seit 1926) und anderer islamischer Länder, die die Sharía und die religiösen Gerichte aufgegeben hatten.86 Folglich kontrastiert in der Novelle das traditionelle politischgesellschaftliche System Marokkos hart mit der Zivilisation der französischen Siedler und Verwaltung, die das Französische zur Bildungs- und Handelssprache gemacht haben und in Gestalt des französischen Generalresidenten gegenwärtig sind. Frank zeichnet mit wenigen markanten Strichen den Gegensatz zwischen westlich-säkularer Kultur, wie sie Purgstaller und der Generalresident verkörpern, und orientalisch-islamischer Kultur. Diese erscheint in einer durch das französische Kolonialsystem gemilderten Form,87 denn der Kommandeur der Schwarzen Garde ist »an ihm [Mohámmed] beschäftigt, der ihm die blutigen Fußklumpen absägte über dem Knöchel« (182). 85 In dieser Bedeutung wird die Bastonnade in Mozarts Oper Die Entführung aus dem Serail, die in dem damals beliebten Orientkolorit spielt, im Part des fremdenfeindlichen, mit drakonischen Strafen drohenden Haremswärters Osmin (»Marsch, geht zum Teufel! Ihr kriegt, ich schwöre, sonst ohne Gnade die Bastonade«) erwähnt. Osmin singt bezeichnenderweise im Duett mit einem Europäer, dem Spanier Belmonte. In Mozarts Zauberflöte droht der despotisch-joviale Herrscher Sarastro dem plump-geilen Mohren Monostatos, der es auf die schöne Pamina abgesehen hat, die Folter mit 77 Schlägen auf die nackten Fußsohlen an. Vgl. Joachim Kaiser, Mein Name ist Sarastro. Die Gestalten in Mozarts Meisteropern von Alfonso bis Zerlina, München / Zürich 1984, 187–192. – Volkmar Braunbehrens, Mozart in Wien, München / Zürich 1986, 86–96. 86 Dagegen hatte die Masse des ungebildeten Volkes in der Türkei gerufen »Die Scheria ist in Gefahr«; zit. bei Becker, »Staat und Mission in der Islampolitik«, 641. 87 Dazu Hofmannsthal, »Reise im nördlichen Afrika. Fez«, 643: »Das französische Protektorat, mit einer großen Zurückhaltung ausgeübt, umgibt den einzelnen mit dem Gefühl völliger Sicherheit; aber es sind nicht mehr als zwölf Jahre, daß hier
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»kein Neger, sondern ein europäisierter Araber von gefälligen [Umgangs-] Formen« (181). Dies gilt in noch ausgeprägterer Form für den Sultan und seine Lebenseinstellung, in dessen Begegnung mit Purgstaller der erste Novellenteil auf seinen Höhepunkt zutreibt. Es ist die Humanitätsidee,88 die Purgstallers hartnäckige Versuche motiviert, um Mohámmed vor dem vorgegebenen grausamen Schicksal zu bewahren, ohne daß Purgstallers Motivation vom Erzähler erläutert wird. Der gewagte, Mohámmeds Schicksal wenden wollende Einsatz Purgstallers wird so zur humanitären Mission, die einen Mechanismus auslöst, durch den sich die Schwierigkeiten lawinenartig häufen. Purgstaller wird dreifach tätig: beim Kommandeur der Schwarzen Garde, beim französischen Generalresidenten, der Purgstaller den Weg zur Audienz beim Sultan ebnet, und beim Sultan von Marokko. Daß es einem Ausländer gelingt, innerhalb eines Tages bei den beiden mächtigsten Männern des Landes vorgelassen zu werden, erscheint auf der Handlungsebene wenig plausibel und dient der weiteren Handlungsstruktur, die sich nun rasant auf den zentralen Konflikt zubewegt. Der französische Generalresident wohnt in einem eleganten Palais – »hier wohnte die Macht« (178) –, das wir uns in der von den Franzosen seit 1912 im europäischen Stil erbauten Ville Nouvelle vorzustellen haben. Frank verwendet ein politisches Motiv, das den Leser an die Hochphase des Imperialismus erinnerte. Denn die Marokkofrage hatte Europa vor 1914 an den Rand des Krieges geführt. In deren Folge wurde der Sultan zu einem Schutzvertrag mit Frankreich gezwungen und war seitdem faktisch machtlos.89 an einem Tage sämtliche ›Nazaräer‹ den Tod fanden; und ein Nachzittern davon ist in vielen Blicken, die uns streifen.« 88 Ihr hat Frank im Nachwort zu Väter und Söhne schönsten Ausdruck verliehen. Vgl. Iwan Turgenjew, Väter und Söhne, deutsch von Werner Bergengruen mit einem Nachwort von Bruno Frank (Epikon. Eine Sammlung klassischer Romane), Leipzig [o. J.], 278–288. 89 Die erste Marokkokrise von 1905, ausgelöst durch die Landung Kaiser Wilhelms II. beim Sultan in Tanger, hatte einen schweren Konflikt zwischen Deutschland, das Handelsinteressen in dem Land verfolgte, und Frankreich heraufbeschworen. Frankreich hatte Marokko zur Abrundung seines Kolonialgebiets in West- und Nordafrika im Jahr 1898 besetzt. Die zweite Marokkokrise im Jahr 1911 nach Ausbruch von Unruhen in Fès (und dem deutschen »Panther-Sprung nach Agadir«) hatte schließlich zu einem deutsch-französischen Ausgleich, zur Abrundung des deutschen Kolonialgebiets durch »Neukamerun« geführt (einen Teil des französischen Kongo aus Tropengebiet). Als Ausgleich wurde Zentralmarokko im Jahr 1912 französisches Protektoratsgebiet und militärisch besetzt (Hauptstadt wurde Rabat), während Spanien den Norden des Landes und die gesamte Mittelmeerküste erhielt. – Hier nur der Hinweis auf Theodor Schieder, Staatensystem als Vormacht der Welt
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In der Novelle ist der Generalresident ein »gutgewachsener, gutgekleideter« alter Herr aus nobler Familie, »weißhaarig, fein und gebrechlich« (182); in unmittelbarer Reichweite steht in seinem Dienstzimmer eine Tasse Kamillentee, also ein Kräutertee aus einer Heilpflanze, während Purgstaller – ein Parallelmotiv – morgens im Café Minzetee, den traditionellen marokkanischen Tee mit süßem, kühlenden Geschmack getrunken hat (176). Der Genuß von beruhigend wirkendem Kamillentee entspricht dem Bild des älteren, gebrechlichen Beamten, der trotz hohen Alters eine große Verantwortung trägt und souverän agiert. Er weiß sich »fein«, d. h. diplomatisch auszudrücken; dem entspricht seine Lektüre von Paul Valéry (182), des Lyrikers, der die geistige Krise seiner Zeit, ähnlich wie der Österreicher Hofmannsthal90 einzufangen wußte91 und dessen Sensibilität und Krisenbewußtsein dem Residenten offensichtlich entgegenkommt.92 Für den innereuropäischen Diskurs in der Fremde ist bezeichnend, daß Purgstaller aus einem Land kommt, das in der Phase des Imperialismus keine Kolonien erworben hat. Vermutlich wirkt die alte österreichische Vorliebe für die französische Sprache und Kultur, das Erbe der Ära Kaunitz bzw. der von diesem eingefädelten österreichisch-französischen Allianz, in der Affinität beider gebildeter Männer nach.93 Gleich eingangs bezeichnet der Resident Purgstallers Sache als »unangenehme[n] Fall, delikat und schwierig«. Offensichtlich gehört es zu den ungeschriebenen Gesetzen, daß sich die Schutzmacht bzw. der Resident aus den Angelegenheiten des Sultanats heraushält.94 Purgstaller und der Resident finden trotz 1848–1918 (Propyläen Geschichte Europas 5), Frankfurt a. M. / Berlin / Wien 1975, 288. – Peter von Sievers, »Nordafrika in der Neuzeit«, in: Geschichte der arabischen Welt, 502–590, hier 541. 90 Dazu v. a. Hofmannsthals Vortrag von 1917 Die Idee Europa. 91 Paul Valérys (1871–1945) Ruhm begründete La jeune Parque (1917); seine reifste Lyrik Charmes (1922) enthielt Le Cimetière marin (dt. Der Friedhof am Meer), das Symbolgedicht einer geistigen Krise, dt. Übers. u. a. von Ernst Robert Curtius, Französischer Geist im neuen Europa, Stuttgart 1925, 357–363; hier auch zwei Valéry der deutschen Leserschaft vorstellende Essays, 147–183. 92 Den Realismus der Novelle kennzeichnet, daß als zweiter Generalresident in Marokko in den Jahren 1925–1929 Théodore Steeg (1868–1950) amtierte, Gymnasiallehrer für Philosophie, seit 1904 Abgeordneter und Senator, zwischen 1911 und 1930 mehrfach Minister, zuletzt, nach André Tardieu und vor Pierre Laval, an der Jahreswende 1930 / 31 Ministerpräsident und zugleich Kolonialminister. 93 Vgl. Hans Wagner, »Der Höhepunkt des französischen Kultureinflusses in Österreich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts«, Österreich in Geschichte und Literatur 5 (1961) 507–517; Neudruck in: ders., Salzburg und Österreich, 283–296. 94 Dies liegt auf der Linie der moderierenden französischen Kolonialherrschaft, die sich dem Erhalt der gewachsenen Kultur, der Medina (Altstadt) in Fès, Rabat
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der Frage des hohen Beamten, was die Sache Purgstaller überhaupt betreffe, eine gute Gesprächsgrundlage, stehen sich doch beide an Kultiviertheit in nichts nach. Als aber Purgstaller die Zusicherung des Residenten erhalten hat, sich der Sache anzunehmen, und Purgstaller, wohl wissend um den selten effektiv arbeitenden Staatsapparat, fragend insistiert (»[…] sind Sie auch sicher?«), zeigt sich der Franzose dem Österreicher in der Verhandlungsführung überlegen; er erteilt Purgstaller einen diplomatisch verschlüsselten Verweis, indem er ihn lächelnd verabschiedet (»[…] ja: ich werde telephonieren. Es war mir ein Vergnügen, mein Herr!«). Der Erzählerkommentar, »so lächelt die Macht« (183), stellt die Verhältnisse klar, ungeachtet der kultiviert-sensiblen Zurückhaltung des Mächtigen. Seinen Höhepunkt erreicht der erste Teil der Novelle mit Purgstallers Audienz beim Sultan.95 Er trägt in der Novelle den Kaisertitel (178, 183), während der historische Sultan erst mit Erlangung der Unabhängigkeit des Landes und seiner Krönung – der ersten überhaupt – im Jahr 1957 den Königstitel angenommen hat.96 Sein Palast ist trist und häßlich (faktisch ist die aus Andalusien eingeführte maurische Baukunst, auch beim Palast in Rabat, diskret-unscheinbar nach außen und raffiniert nach innen); unter den 300 Frauen des Harems sind dem Emir tiefdunkle Schönheiten am liebsten; ebenso besteht die Schwarze Garde aus ausgesucht schönen Männern (178). Das deutet auf den Schönheitssinn des Herrschers hin, der später zum Thema seiner Konversation mit Purgstaller wird. Der Sultan ist ein junger Herr und darin mit Sultan Mohammed V. von Marokko vergleichbar, der im Jahr 1927 mit achtzehn Jahren den Thron bestieg, bis 1961 regierte und den Regimewechel zur Unabhängigkeit hin gestaltete.97 In diesen Details liegt ein Anhaltspunkt für die Datierung des Novellenstoffs in die und andernorts, in den 1920er und 1930er Jahren dem Bau neuer Stadtteile außerhalb der alten Königsstädte mit Art déco-Fassaden unter Beimischung neomaurischer Einflüsse und der Ausgrabung und Sicherung der Gräber der Saadierdynastie in Marrakech verpflichtet wußte. Dem ersten Generalresidenten Marschall Hubert Lyautey (1912–1925, 1916 / 17 französischer Kriegsminister) und behutsamen Modernisierer des Landes haben die Marokkaner nach Erlangung der Unabhängigkeit in Casablanca ein Reiterstandbild errichtet. 95 Den Sultanstitel haben die Herrscher der osmanischen Türkei um 1400 angenommen und bis zu deren Untergang im Jahr 1922, in Nordafrika auch die Häuptlinge kleinerer Stämme getragen, häufig auch islamische Herrscher, wie der marokkanische. Der Sultan bzw. König von Marokko führt bis heute, wie in der Novelle, den Herrschertitel Emir el Mumenin (amir almouminin) (»Beherrscher der Gläubigen«), an sich der Ehrentitel der islamischen Kalifen. Der Sultan hat die geistliche Oberherrschaft inne. 96 Diese historische Unstimmgkeit irritiert angesichts der sonst sorgfältigen Einordnung des Stoffs in historische Zusammenhänge.
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späten zwanziger Jahre. Der Sultan97 hat ein schmales, elfenbeinfarbenes Gesicht und einen dunkellockigen Kinnbart, er spricht Französisch. Bei der Audienz präsentiert Purgstaller sein Geschenk, die Handschrift des Ibn Kaldun (183) – die Wiederaufnahme des Schenkungsmotivs, nun unter umgekehrtem Vorzeichen mit Purgstaller als Schenkendem –, worauf der Kaiser mit zeremoniöser Langsamkeit antwortet. Es kommt rasch zum mechanischen Ritual von Geschenk und Gegengeschenk, das in der Form eines »kleinen Akts« der »Gnade« besteht: im Straferlaß für Mohámmed. Durch die Einhaltung der Spielregeln98 ist herrscherliche Milde bzw. Begnadigung zu erhalten, die über Leben und Tod entscheiden kann, vergleichbar dem Begnadigungsrecht europäischer Monarchen im Mittelalter, bevor dem die Rechtskodifikationen im Zeitalter des Rationalismus zunehmend den Boden entzogen. Daran wird die Differenz zwischen der kulturellen bzw. rechtlichen Entwicklung Europas und des Orients nochmals anschaulich. Diese Differenz überspielt Purgstaller, um sich das Wohlwollen des Sultans zu sichern, mit der Bemerkung zu der bis nach Nordeuropa ausstrahlenden Bedeutung Ibn Kalduns, ohne den weder das Werk von Gibbon, noch Taine noch Ranke denkbar sei (183). Purgstaller greift zu diesem Notargument, um den Wert seines Geschenks an den Sultan zu steigern. Die Übertreibung läßt indes den Abstand zwischen mittelalterlich-arabischer und moderner europäischer Historiographie um so größer erscheinen. Die ironische Antiklimax der rituell ausgetauschten Reden liegt darin, daß der »Kaiser« leichtfüßig, ohne die zeremoniöse Langsamkeit seiner Rede, auf Purgstaller zugeht und mit ihm ein Gespräch im Plauderton über die Pariser Herrenausstatter führt, wofür ihm Purgstallers »unmöglicher Frack« den Anlaß bietet (184) – ein Hinweis darauf, daß Marokko räumlich und politisch näher bei Paris als bei Mekka liegt. Der Erzähler kommentiert den Ablauf der Audienz ironisch – »Alles klappte wie im Theater nach dreißig Proben« (184) – und demaskiert das orientalische Ritual als leer und hohl, zumal es ein an europäischer Zivilisation und westlichem Konsum orientierter Sultan zur Farce macht. Dagegen verkörpert Scheich K’thani in Fès, dem »Zentrum des Glaubens« (177), der sich 97 Ihm und seinen beiden Söhnen (König Hassan II. und Prinz Moulay Abdallah) ist in Rabat eines der prächtigsten Mausoleen orientalischer Herrscher errichtet worden. 98 Zu diesem jüngeren Forschungsfeld der Vormoderne Gerd Althoff, Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter, Darmstadt 2003. – Barbara Stollberg-Rilinger [u. a.] (Hg.), Spektakel der Macht. Rituale im alten Europa 800– 1800, Darmstadt 22009.
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als Abkömmling des Propheten sieht und Ältester einer Familie ist, die mit dem Sultanshaus »lange und scharf« rivalisiert hat, das arabisch-muslimische Erbe authentisch und glaubwürdig. Frank stellt in dieser Episode verschiedene Ausformungen des Islam bzw. Orients gegeneinander – zu einem Zeitpunkt, als das jahrhundertealte Osmanische Reich und mit ihm die Idee eines multinationalen und multireligiösen Großreichs zusammengebrochen,99 durch die Jungtürken in Form der modernen Türkei säkularisiert, von den Grundsätzen der koranischen Gesetzgebung gelöst und die arabische Sprache (des Korans) abgeschafft worden war. Der erste Weltkrieg hatte nicht nur die Heimat Purgstallers politisch völlig verändert, sondern auch den Vorderen Orient. Die Steigerung der Novellenthematik liegt in der zweiten MohámmedEpisode (185 f.), in der sich die Reihe der zwingenden Begebenheiten fortsetzt, die nun Purgstaller gegen seinen Willen weitertreiben. Nachdem Mohámmed die Freiheit wiedererlangt hat, wirft er sich Purgstaller zu Füßen und erkennt die Monduhr, »sein Heiligtum«, wieder (186). Purg staller gibt dem Drängen des Sussi nach, ihn als Diener bzw. Sklaven mit nach Hause zu nehmen. Hier nimmt nun Purgstallers Verhalten bedrohliche Ausmaße an, weil er die Folgen seines Tuns nicht überschaut. Mohámmed dagegen sieht sich am Ziel seiner Wünsche und blickt triumphierend über die Menge hinweg, während der »sehr feine« arabische Chauffeur, der »vier Monate lang den englischen Konsul gefahren hat«, beim Einsteigen »angeekelt« von dem Sussi wegrückt. Durch das Figurenverhalten anstelle des Erzählerkommentars zeigt dieser spannungsvolle Moment den Hochmut des Arabers, dessen Selbstwertgefühl durch Kontakt mit der höheren sozialen Schicht gesteigert ist und der die Assimilation durch Aufstieg sucht. Der Chauffeur sieht auf den Schwarzafrikaner voller Verachtung herab, womit schlaglichtartig die Segregation innerhalb der Ethnien und Kulturen Marokkos thematisiert wird. Zugleich spiegelt das Verhalten des Arabers – noch wichtiger – das Zweifelhafte am Verhalten des Europäers, der sich über die ungeschriebenen Normen einer anderen Kultur hinwegsetzt. Die Folge ist eine Eskalationskette, die den Inhalt des zweiten Novellenteils bildet und zeigt, daß humanitär geleitetes Tun nur unter bestimmten Bedingungen von Zeit und Umwelt eine tragfähige Grundlage finden kann.
99 Vgl. Alexander Schölch, »Der arabische Osten im neunzehnten Jahrhundert«, in: Geschichte der arabischen Welt, 365–431, hier 425.
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III. Zweiter Novellenteil: die Ereignisse in Wien Im zweiten Teil ist die histoire nach Wien verlegt. Hier wird die Komplementärfigur zu Purgstaller in Gestalt seiner Köchin Tini Kreittner eingeführt. Sie ist Anlaß und Antriebselement für Mohámmeds Verhalten. Die Zeit der histoire reicht von Purgstallers Rückkehr über Marseille – im Rückblick werden die eskalierenden Hindernisse beim Grenzübertritt erwähnt (189) – vom Beginn des Sommersemesters bis Ende Juli. Thematisch kreist dieser Teil um Mohámmeds Begegnung mit der fremden europäischen Kultur, sei es auch die gehobene eines Professorenhaushalts. Die Erzählhaltung ist teils auktorial aus der Sicht des Erzählers, teils personal aus dem Blickwinkel der Figuren, doch sagt der allwissende Erzähler nichts über Mohámmeds Denken und Fühlen. Das setzt der Interpretation gewisse Grenzen. Erst am Ende der Erzählung, als Mohámmed die Monduhr wie sein Schicksal fest in der Hand hält, wird als dominierende Perspektive die europäische und nicht die afrikanische sichtbar. Der Schwarze Mohámmed, von Purgstaller in einen blauen Livréeanzug mit Schirmmütze eingekleidet und in der Dienerrolle bei sich zu Hause eingeführt (auch hier streift die Handlung die Grenze der Glaubwürdigkeit), wirkt auf Tini Kreittner beim ersten Anblick »unheimlich, groß und fremdartig« und wie ein Kulturschock, so daß sie einen Schrei ausstößt (187). Durchweg charakterisiert der Erzähler »die« Tini Kreittner mit dem dialektalen Pronomen und der betonten Einfältigkeit eher respektlos und weist auf die kreatürlichen Eigenschaften – »hocherfreulich anzusehen« (186) und »ein verlockendes Stück Leben« (187) – der sechsundzwanzigjährigen Kärntner Bauerntochter hin, die ihrem Herrn ergeben dient. Die Nachstellungen des kürzlich entlassenen Dieners Franz bestärken sie in dem Glauben an die »Aufgeblasenheit der Mannsbilder« (187). Sie redet zwar mundartlich gefärbt, hat sich aber in der Großstadt von ihrer ›urösterreichischen‹ Kärntner Heimat ein Stück weit gelöst, so undeutlich dies auch bleibt. Das Unverständnis für die Manuskripte Purgstallers, dessen Wissenschaft ihr wie »Geister- und Zauberwerk« vorkommt, belegt ihr in einer Tiefenschicht »heidnisches« Gemüt (187), so daß es ihr leicht fällt, sich aus Sympathie für Mohámmed von den abergläubischen »Christenweibern« ihrer Heimat zu distanzieren (193). So findet Mohámmeds Verankerung im Geister- und Zauberglauben Afrikas eine Parallele in der Kärntner Volksverbundenheit und antirationalen Prägung Tinis. Die Entfremdung Tinis von ihrer Heimat durch die Großstadtkultur und das Leben fast ohne Freunde und Bekannte (193) korreliert mit Mohámmeds Heimatverlust. Der Exilant Mohámmed fügt sich unerwartet rasch in die Wiener Welt ein, ohne daß dies plausibel gemacht wird. Indem Purgstaller die Sorge um
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seinen neuen Diener der Köchin überläßt, gelingt dessen Orientierung in der neuen Lebenswelt nur rein äußerlich (189) und trägt zur Motivierung der Katastrophe bei. Mohámmed nimmt die neue Umwelt nach dem Muster seiner begrenzten Erfahrung wahr und fügt sich fatalistisch, wie es für seinen Volksstamm typisch ist, in die Verhältnisse ein. Er erhält ein Zimmer im Oberstock, übt seine »einfache Religion«, die weder »Priester noch Gotteshaus« verlangt, mit Gebet und ritueller Waschung aus, trägt aber keinen Turban oder Fez. Damit ist der firnisartige Überzug des Islam über die Naturreligionen Afrikas und der Zivilisation Europas über Mohámmed angedeutet. Der Erzähler erklärt Mohámmeds Bewußtsein als das eines Sklaven (189) und damit der Lebenswelt seiner Heimat weiterhin verbunden100. Tini behandelt Mohámmed intuitiv richtig als großes Kind, als hilfsbedürftigen Menschen (188), kann aber seinen seelischen Zustand nicht erfassen (190). Vage hofft sie auf Purgstaller, der den neuen Diener versteht und »ihm seine Torheiten vielleicht aus dem Kopf reden« kann (192). Sie behandelt Mohámmed aus ihrer despektierlich-bäuerlichen Haltung wie »einen braven großen Hund« (191). Es ist der Erzähler, der wiederholt Mohámmeds Bewußtsein erklärt, darunter auch die Rolle Tinis als die weiße Frau schlechthin, der er selbstverständlich dient, die jedoch der Rangordnung nach weit unter dem weißen Mann, Purgstaller, steht. Dagegen waren, so bemerkt der Erzähler, die Frauen Marokkos nicht mehr als für die Ehe käufliche Haustiere (190). In Mohámmeds Weltbild ist die europäische Wirklichkeit »auf den Kopf gestellt«: Purgstaller ist für ihn Herr von ganz Wien und dessen Haus Mittelpunkt der Stadt, in der alles nach Purgstallers Willen geregelt ist. Aber »Sinnbild und Zentrum aller Macht«, des »Gangs des Gestirns und der menschlichen Existenz« (190) ist die Monduhr, die Purgstaller unterhalb des Herzens trägt und aus Sicht Mohámmeds dessen unmittelbare Befehle erhält. In der weiteren Handlung erweist sich Mohámmeds Verhalten bestimmt von den Sozial- und Lebensverhältnissen Afrikas, ohne daß er die Elemente einer anderen Kultur und das Erfahrungswissen der Europäer in das Weltbild seiner Ahnen, dem jede Zukunftsorientierung fremd ist,101 einfügen oder altgewohnte Bedeutungen auf neue Kulturelemente übertragen 100 Die französischen Kolonialherren haben die Sklaverei erst in den 1930er Jahren gegen den Widerstand großer Teile der marokkanischen Bevölkerung abgeschafft. 101 Zum afrikanischen Zeitbegriff Mbiti, Afrikanische Religion und Weltanschauung, 21–23, 28 f.
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kann. Auf der Ebene des afrikanischen Mythos ist mit ihm nicht rational zu argumentieren. Jede Integrationshilfe muß scheitern, wenn die magische Bindung stärker ist als Vernunft und Einsicht. Dafür müßte er das statische Weltbild aufgeben – das kann er nicht ohne sich selbst aufzugeben. So lauert in ihm die Angst vor dem Untergang:102 »Uralte Ängste stiegen da auf in ihm« (192). Das unterscheidet ihn von dem arabischen ›Dienstleister‹ in Rabat in Gestalt des Chauffeurs im ersten Teil der Erzählung. Mohámmeds Verbringung nach Wien besitzt außertextuelle Referenz und verweist auf die historische Gestalt des Angelo Soliman, des »ersten nichteuropäischen Zuwanderer[s] in Wien«,103 der in der Kaiserstadt sonderbare Berühmtheit erlangt hatte.104 Solimans Lebensgeschichte war 1922, also ein Jahrzehnt vor Erscheinen der Novelle, von dem Mitherausgeber der Briefe Mozarts erstmals aus den Akten heraus dargestellt worden.105 Der junge Angelo Soliman, mit dem angeblichen Geburtsnamen Mmadi Make um 1721 südlich der Sahara geboren, war auf der Sklavenroute nach Messina gelangt, dort von General Fürst Lobkowitz nach Wien mitgenommen, in mehreren Sprachen ausgebildet106 und Fürst Joseph Wenzel Liechtenstein vererbt worden. Diesem diente der »hochfürstliche Mohr« als Kammerdiener, im orientalischen Kostüm prächtig herausgeputzt, und war ein wirkungsvolles Dekorationsstück der Hofhaltung – so wie es auch Mohámmed im kleinen Währinger »Hofstaat« Purgstallers (185) ist. Mohámmed bedient zwar die Gäste zu deren »Entzücken« (189), wird aber nicht wie Soliman in europäische Sprache und Kultur eingeführt. Kirchner, Der Bürger als Künstler, 223. die Presseinformation zur Ausstellung des Wien Museum Angelo Soliman. Ein Afrikaner in Wien 2011 / 12. Vgl. Philipp Blom, Wolfgang Kos (Hg.), Angelo Soliman. Ein Afrikaner in Wien, Wien 2011 (Katalog). 104 Das erste Lebensbild verfaßte Caroline Pichler, »Der Neger Angelo Soliman«, Morgenblatt für gebildete Stände, 1. Sept. 1808, Nr. 210, 837 f.; 2. Sept., Nr. 211, 842 f.; leicht revidierter Neudruck in: dies., Sämmtliche Werke, 24 (Prosaische Aufsätze, Erster Teil), Wien 1829, 80–95. – Kritische Einordnung der Soliman-Biographik bei Philipp Blom, »Von Mmadi Make zu Angelo Soliman – eine Spurensuche«, in: Angelo Soliman, 67–79. 105 Vgl. Wilhelm A. Bauer, Angelo Soliman der hochfürstliche Mohr. Ein exotisches Kapitel Alt-Wien, Wien 1922, Faksimilenachdruck, hg. Monika Firla-Forkl, Berlin 1993 (mit Korrekturen an Bauers Wortwahl und Buchuntertitel von der derzeitigen politisch-korrekten Sprache her und der These, Soliman sei kein Opfer von Rassismus, vielmehr ein Beispiel geglückter Assimilation). – Robert Musil wurde offensichtlich davon angeregt, im Mann ohne Eigenschaften (Berlin 1930) den Mohren Soliman auftreten zu lassen (870 f.). 106 Zum Folgenden Braunbehrens, Mozart in Wien, 97–99. 102 Vgl. 103 So
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Solimann erfreute sich der Zuneigung Kaiser Josephs II., der mit ihm öffentlich spazierenging.107 Auf der Ebene der histoire kommt es zu einer allmählichen Veränderung des Verhältnisses von Mohámmed und Tini, die sich »für den schwarzen Trabanten verantwortlich« fühlt (193). Dieser ordnet sich der Köchin nicht nur unter, er vertraut ihr sein Erspartes (gleichsam als Hochzeitsgabe) an und liebt sie, so der Erzählerkommentar, »wie ein Mann die Frau« (193), während Tini für den Schwarzen mehr ungewollt mütterliche Gefühle entwickelt (194). Sie fühlt sich für Mohámmed verantwortlich, läßt ihn nicht gerne längere Zeit allein und geht mit ihm sogar im Prater spazieren – eine Paralle zu den Spaziergängen Josephs II. mit Solimann. Tinis öffentliche Spaziergänge mit einem »Neger« sind jedoch wirklichkeitsfremd108 angesichts des zeitgenössischen Wiener Rassismus109 und vom Autor auf die Katastrophe hin konzipiert. Die Zuspitzung der Handlung erfolgt in vier raschen Schritten, die den Leser wiederum die Glaubwürdigkeit der Figuren und ihres Handelns in Frage stellen lassen: 1. Am letzten Sonntag im Mai (191) geht Tini mit ihrer Freundin Netty aus und findet bei der Rückkehr Mohámmed bekümmert im Schlafzimmer des Professors auf die Uhr weisend, die Neumond anzeigt. Der Mondkreis der Uhr spiegelt für Mohámmed sein Verhältnis zu Tini: Mohámmed ist das Dunkle, Tini das Helle im Mondkreis der Uhr (192). Das begreift schließlich auch Tini (191). Im Gespräch mit Purgstaller gelangt Mohámmed zu der ungewöhnlichen Reflexion, »[e]in mächtiger Herr wie sein Herr könne unmöglich wissen, wie es einem niedrigen und verlassenen Geschöpf wie seinem Diener Mohámmed da zumute sei« (192). Das läßt Purgstaller ahnen, wie Mohámmed seine persönliche Exi107 Ihn traf schließlich – eine weitere Parallele zu Mohámmed – ein schlimmes Ende. Er wurde nach seinem Tod (1796) auf Wunsch Kaiser Franz II. konserviert und in einem Glasschrank im Gebäude der Hofbibliothek ausgestellt. – Der »kleine Neger« als Diener in dekorativer Funktion begegnet im größeren entstehungsgeschichtlichen Umfeld von Franks Novelle in der Schlußszene von Hofmannsthals Rosenkavalier im theresianischen Wien des Jahres 1740. In der ›heilen‹ Welt von Komödie und Oper funktioniert die Einbindung des Mohren-Dieners in die europäische Kultur – in Franks Novelle scheitert sie. 108 Auch wenn 1929 im Kaisergarten des Prater im Rahmen der beliebten »Völkerschauen« zuletzt »Ein Negerdorf in Wien« mit der Schlagzeile gezeigt worden war: »Die Schwarzen sind empört über die Sitten der Europäer«. Vgl. Katalog Angelo Soliman, 238. 109 Dieser brach sich in der Nacht des 11. März 1938 vor dem erwarteten deutschen Einmarsch in fürchterlicher Weise Bahn. Vgl. Carl Zuckmayer, Als wär’s ein Stück von mir. Horen der Freundschaft, [Frankfurt a. M.] 1966, 71 f. (Zuckmayer spricht vom Hexensabatt des Pöbels, der in die jüdischen Wohnungen eindrang).
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stenz mit der Mechanik der Uhr verbindet: »[S]eine Person und sein Schicksal liefen mit ihrem [der Uhr] silbrig tickenden Gang« (192). Der Erzähler kommentiert, daß »uralte Ängste« aus der Zeit seiner »an einem Strom im Innern Afrikas« beheimateten Ahnen in Mohámmed aufsteigen: die Ungewißheit, ob nach dem Dunkeln das Helle des Tages wiederkehrt. Trotz Purgstallers ängstlicher Ahnung (»Purgstaller war bekümmert.« – »Wenn’s nur gut hinausgeht, Tini« – Purgstaller wurde »eng bei dem Gedanken, daß er dies [Mohámmeds] Leben so ganz an das seine gebunden hatte«, 193) bleibt es bei einer hilflos andeutenden Konversation mit Tini. 2. Die Liebesgeschichte wird genregerecht sonntags in einer Heurigenlokalszene eingeleitet. Tini hört hier erstmals abwertende Bemerkungen, und zwar von ihrer Freundin Netty, über ihre Gesellschaft bzw. Begleitung des »sechs Schuh lange[n] Mohren« (194), und Netty nennt Tini eine »Negerbraut« (195, nun »Neger« statt »Mohr«). Mohámmed trinkt zwar nicht zum ersten Mal Wein, denn er hat sich schon längst von den Vorschriften des Korans gelöst (195), ist jedoch bald benommen. Handlungstreibend ist das Auftreten eines Zahlmeisters des Bundesheeres in Uniform, eines Mannes Mitte der Dreißig, der Tini gefällt und dessen Aufforderung zum Tanz sie annimmt, nachdem Mohámmed alkoholisiert eingeschlafen ist und der fesche Zahlmeister die Gunst der Stunde zu nutzen weiß. Nun ist die klassische Dreieckskonstellation erreicht, die Spannung erzeugt und die Handlung vorantreibt. 3. Die Liebesgeschichte wird im Gewalttempo fortgeführt, denn schon zur Wochenmitte kündigt ein Brief des Zahlmeisters Tini seinen Besuch für den Donnerstag an. Während Tini dafür nicht mehr als die weiße Schürze anzieht und in ihrer Alltagswelt äußerlich verbleibt, erscheint der Zahlmeister in der Pose des Liebhabers in Paradeuniform mit einem Strauß rosa Nelken. Beide nehmen im Garten unter der Blutbuche Platz, und rasch folgt ein »gebieterischer Kuß« des Mannes, der beiden als Verlobung gilt (197). Die Besitzergreifung der Frau hat zusammen mit dem Symbol der »Blutbuche« etwas Gewaltsames an sich und deutet auf das gewaltsame Ende von Mohámmed voraus. 4. Dem folgt Mohámmeds Suizid in der Nacht zum Sonntag in Tinis Schlafzimmer. Die Monduhr liegt an der Brust des Toten und zeigt den Halbmond an. Erst in der Rückblende erfährt Purgstaller durch Tinis Bericht von Mohámmeds vorausgeganger Liebeserklärung, wonach beider Leben durch »Zauber« aneinandergebunden sei, und von Mohámmeds Hinweis auf das Ziffernblatt der Monduhr, auf der beide Hälften, die helle und dunkle, Symbol für Mohámmed und Tini, ganz gleich seien (199): Der Zauber wirke nur bei Halbmond. Das Eifersuchtsmotiv ist in-
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des nicht näher entfaltet, auch nicht die Assoziation der Verlobung, die unter lebenspraktischen Überlegungen zustande kommt und mit Mohámmeds absoluter Gebundenheit an Tini und seiner Ergebenheit ihr gegenüber hart kontrastiert. Symbolisch zu deuten ist Mohámmeds Tod durch ein billiges Messer, das er, wie der Erzähler berichtet, in den Sukhs von Rabat gekauft hat, das aber in Europa als Massenartikel fabriziert worden ist: Die europäische Zivilisation ist mit ihrer modernen Technik, ob Monduhr oder Messer, der alten Kultur Afrikas zwar nicht restlos überlegen, aber mit ihr unvereinbar und wirkt am Ende tödlich.110 Die zitternden Hände Purgstallers angesichts des Toten (200) machen das Scheitern seines humanitären Handelns physisch offensichtlich. Die Tat des Suizid ist die radikale Antwort Mohámmeds auf die in ihren Folgen unbedachte humanitäre Tat Purgstallers im ersten Novellenteil. Die Bindungskraft der Heimat, die dem Österreicher Purgstaller mehr bedeutet als alle Forschungsreisen (188), gilt auch für den Marokkaner Mohámmed. Das Begräbnis des Sussi am Rand des Wiener Zentralfriedhofs, also in nicht geweihter Erde, nimmt das Motiv des Novellenanfangs auf, wo Purgstallers Blick in Rabat auf einen mohammedanischen Friedhof fällt (175). Doch den Schluß der Novelle bildet nicht das Begräbnis, sondern das erst nach neunzehn Tagen, bei Neumond, zum Stillstand kommende Laufwerk der Monduhr, die Mohámmed auf der Brust mit ins Grab gelegt worden ist. Figur und Dingsymbol der »Monduhr« fallen schließlich zusammen. Auf der Handlungsebene hat der gelehrte Purgstaller alles verloren: seinen Diener, seine Köchin, seine kostbare Taschenuhr und damit ein Stück Familiengeschichte. Er bleibt mit seiner Humanitätsidee allein zurück. Ebenso erfährt der Leser einen Moment tiefer Ernüchterung, wenn die anfangs so sympathische Tat auf alle Beteiligten zurückschlägt.
IV. Zeitgeschichtliche Einordnung der Thematik Bruno Frank hielt Die Monduhr für »besonders geglückt«. Nach Sascha Kirchner gehört sie zu den beeindruckendsten Zeugnissen von Franks Erzählkunst: geschickt aufgebaut und formstreng an der Oberfläche, im Inhaltlichen von Melancholie durchzogen, wie sie für Frank typisch sei.111 110 Das Motiv findet sich unter umgekehrtem Vorzeichen in Franks Politischer Novelle. Hier fällt der deutsche Politiker Carmer einem Raubmord in Marseille zum Opfer und wird mit einem »schönen Messer« aus dem Urwald getötet, Symbol für die nach Europa hineinreichende Bedrohung aus Afrika. 111 Vgl. Kirchner, Der Bürger als Künstler, 218, 224.
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Thomas Mann, der damals den zweiten Teil seines Josephsromans herausbrachte, der, wie die Monduhr, in die orientalische, aber alttestamentliche Sphäre wies, scheint in seiner von Alltagssorgen und -nöten bestimmten Exilexistenz der kunstvolle Aufbau und untergründige Aktualitätsbezug112 von Franks Erzählung nicht aufgegangen zu sein. Er las die »etwas sentimentale Novelle« in Sanary-sur-Mer im Zeitungsabdruck und notierte im Tagebuch: »Zu glatt, zu weich, zu gefällig«.113 Hugo von Hofmannsthal hat in dem einleitend erwähnten Bericht über seine Marokkoreise zum Besuch von Fès angemerkt, daß dem Geheimnis des Orients »etwas leise Drohendes beigemengt« sei. Im Gespräch in Saleh114 berichtet Hofmannsthal über seine Begegnung mit einem jungen Orientalen aus dem Zivilkabinett des Marschalls, einem Kolonialsoldaten, dem die Begegnung mit der Hochkultur Europas im Weltkrieg zu einem beeindruckenden Erlebnis geworden ist. Frank führt – bringt man die Novellenkonflikte auf den Punkt – zwei Facetten der Begegnung zwischen Orient und Okzident vor. Die islamische Obrigkeit begegnet Purgstaller zwar ›leise drohend‹, doch kann sich der gebildete Europäer mit dem Sultan auf der westlich-kulturellen Ebene in einer europäischen Sprache über europäische Alltagskultur (Pariser Herrenmode) verständigen und über den »Fall Mohámmed« einigen. Die andere Brücke der Verständigung bildet Purgstallers gelehrter Austausch mit einem Scheich. Dem gebildeten Mitteleuropäer wird jedoch am Ende der Handlungskette die Grenze seines Tuns verdeutlicht. Er muß einsehen, daß sich sein von der abendländischen Humanitätsidee geprägtes Wertesystem auf eine andere Gesellschaftsordnung nicht übertragen läßt. Purgstallers Fehlverhalten liegt darin, den Sussi zum einen seiner rechtmäßigen, für diesen voraussehbaren Strafe, der Bastonnade, entzogen und ihn zum anderen in eine zweckrational organisierte Zivilisation eingeführt zu haben, in die er nicht integrierbar ist. Der idealistischen Haltung stellt Frank jene des erfahrenen und realistisch denkenden Europäers in Gestalt des 112 Ins Bild gehört, daß die Türkenkriege das österreichische Selbstverständnis als »Vormauer der Christenheit« bzw. »Bastion des Abendlandes« gegen »den Einbruch des asiatischen Chaos« (Anton Wildgans) bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein geprägt haben. Bundeskanzler Engelbert Dollfuß erinnerte an die Türkenbelagerung im 250. Gedenkjahr in einer programmatischen Rede am 11.9.1933 zum ersten Generalappell der Vaterländischen Front, der neuen Einheitspartei. Die Rede beschwor das christliche Erbe Österreichs und richtete sich indirekt gegen die nationalsozialistische Ideologie, in: Klaus Berchtold (Hg.), Österreichische Parteiprogramme 1868–1966, München 1967, 427–433. 113 Th. Mann, Tagebücher 2 (22.7.1933), 134. 114 Vgl. Hofmannsthal, »Reise im nördlichen Afrika. Fez. Das Gespräch in Saleh«.
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französischen Generalresidenten gegenüber. Dieser respektiert die gewachsene und intakte Synthese von Staat und Religion mit ihrem Werte- und darauf beruhenden Strafsystem der Sharía, das einem Purgstaller inhuman erscheint, und läßt sich darum nur zögernd auf die Intervention des Österreichers zugunsten des Sussi ein. Hier werden innereuropäische Differenzen im Umgang mit orientalischer Kultur sichtbar gemacht. Das Risiko seines Unterfangens wird Purgstaller nach der Rückkehr in Wien bald bewußt, er reagiert darauf aber mit typischer Wiener Indolenz nicht und bereitet damit der Katastrophe die Bahn, obwohl er es hätte besser wissen können. Denn der gebildete Europäer vermag die tragenden Elemente der nordafrikanischen Zivilisation zu durchschauen, wenn auch nicht umgekehrt der Schwarzafrikaner (Mohámmed) – im Gegensatz zum Araber (Chauffeur) – mit seinem atavistischen Weltbild samt Zauberglaube die Komplexität der europäischen Zivilisation. Die Thematik von Franks Novelle lag auf der Linie des zeitgenössischen Leserinteresses. Es galt u. a. der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung der Staaten nach dem Weltkrieg und ihrem krisenhaften, von Regimebrüchen und Bürgerkriegen geprägten Wandel teils zu Demokratien, teils zu autoritären Staaten, teils zu Diktaturen.115 Die historische Trivialliteratur erfreute sich damals großer Beliebtheit116 und rief die harsche Kritik ›reichsdeutscher‹ und ›deutsch-österreichischer‹ Fachhistoriker hervor.117 Diesem enormen Publikumsinteresse entsprach Bruno Frank mit seinem ersten Erfolgsbuch, Tage des Königs (1924), drei Novellen um den vereinsamten alten Friedrich von Preußen, die auf intensivem Quellenstudium beruhten.118 In Österreich gestaltete Franz Werfel in Die vierzig Tage des Musa Dagh die Gewaltpolitik der Jungtürken unter Enver Pascha gegenüber den 115 Vgl. die Länderbeiträge bei Hans Mommsen (Hg.), Der Erste Weltkrieg und die europäische Nachkriegsordnung. Sozialer Wamdel und Formveränderung der P olitik, Köln / Weimar / Wien 2000. – Karl Dietrich Bracher, »Nationalsozialismus, Faschismus und autoritäre Regime«, in: Gerald Stourzh, Birgitta Zaar (Hgg.), Österreich, Deutschland und die Mächte. Internationale und österreichische Aspekte des »Anschlusses« vom März 1938 (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Veröffentlichungen der Kommission für die Geschichte Österreichs 16), Wien 1990, 1–27. 116 Vgl. Christoph Gradmann, Historische Belletristik. Populäre historische Biographien in der Weimarer Republik (Historische Studien 10), Frankfurt a. M. / New York 1993. 117 Vgl. Eberhard Kolb, » ›Die Historiker sind ernstlich böse‹. Der Streit um die ›Historische Belletristik‹ in Weimar-Deutschland«, in: ders., Umbrüche deutscher Geschichte 1866 / 71, 1918 / 19, 1929 / 33, Ausgewählte Aufsätze, München 1993, 311–329. 118 Von Rowohlt mit Vignetten Adolf von Menzels geschmückt. Neudrucke Köln 1952 und Reinbek 1956.
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christlichen Armeniern mit 1,5 Millionen Toten im Weltkrieg119 literarisch und zugleich quellengestützt. Der Roman erschien im selben Jahr wie Franks Monduhr. Beide Erzählungen werfen ein Schlaglicht auf Konflikte, die sich aus dem Aufeinandertreffen einander fremder Weltbilder ergaben. Werfel entwarf wenig später im Medium der Novelle und kunstvoll verschlüsselt ein Sittengemälde des von Dollfuß errichteten »Christlichen Ständestaats«, der 1938 unterging,120 was den Dichter ebenso heimatlos machte wie Franks Schwiegereltern. Der Leser der Monduhr der 1930er Jahre hatte die zeitweilige Berührung mit marokkanischen Besatzungssoldaten am Rhein und deren fremder Kultur 1918 / 20 und die Rasseideologie des Dritten Reichs vor Augen. Dem heutigen Leser steht die Segregation der Gesellschaften Europas bzw. die Entstehung von Parallelgesellschaften durch den Zuzug von Armutsflüchtlingen aus Afrika (Frankreich, Italien) und von Kriegsflüchtlingen aus dem Orient (Deutschland, Österreich, Schweden) vor Augen.121 Carl Heinrich Becker gab aus wissenschaftlicher Perspektive um 1910 / 20 einem europäisierten Islam Zukunftschancen. Die Säkularisierung der westlichen Welt wird indes ein Jahrhundert später in den allermeisten islamischen Staaten und in den Augen ihrer nach Europa emigrierten oder geflüchteten Bürger als Ausdruck von Gottlosigkeit und damit Sittenlosigkeit oder als Antwort auf nur noch schwach religiös, d. h. kaum noch christlich geprägte Gesellschaften wahrgenommen.122 In Europa hat sich in diesem Aufeinandertreffen von europäischer und außereuropäischer Kultur eine Situation verfestigt, die in der Monduhr bereits angedeutet ist und auf die Franks Novelle einen pessimistischen Ausblick gibt.
119 Vgl. Wolfgang Gust (Hg.). Der Völkermord an den Armeniern. Dokumente aus dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amts, Springe 2005. – Dazu produzierte der Norddeutsche Rundfunk im Jahr 2010 die Dokumentation Ageth. Ein Völkermord. Der Deutsche Bundestag verabschiedete zum Völkermord an den Arme niern – ein Jahrhundert nach dem Ereignis – 2016 eine Resolution. 120 Vgl. Matthias Pape, » ›Depression über Österreich‹. Franz Werfels Novelle ›Eine blaßblaue Frauenschrift‹ im kulturellen Gedächtnis Österreichs«, Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, N.F. 45 (2004) 141–178. – Verb. Neudruck in: Franz Werfel: Eine blaßblaue Frauenschrift. Novelle (1941). Mit Kommentaren von Mat thias Pape und Wilhelm Brauneder (Juristische Zeitgeschichte, Abt. 6: Recht in der Kunst – Kunst im Recht 38), Berlin / Boston 2012, 81–124. 121 Dazu in größerer historischer Perspektive Klaus J. Bade, Pieter C. Emmer, Leo Lucaßen, Jochen Oltmer (Hgg.), Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn / München 2007. 122 Vgl. Lukas Wick, Islam und Verfassungsstaat. Theologische Versöhnung mit der politischen Moderne? Würzburg 2009.
Ein Tempel für Athene Graecolatinitas in der Figurenkonzeption Thomas Manns Von Manfred Lossau Οἷον ὁ τὠπόλλωνος ἐσείσατο δάφνιος ὅρπηξ, οἷα δ’ ὅλον τὸ μέλαθρον. ἑκὰς ἑκὰς ὅστις ἀλιτρός,
war einem edlen Beryll »in feinsten […] Lettern« eingraviert gewesen. Dem Erzähler Zeitblom sei es nicht schwergefallen, diese beiden Hexameter als den Eingang des Kallimachischen Apollonhymnos zu identifizieren, bekennt er sich doch als Altphilologen. So lässt der Autor, dessen Biograph mitteilt, daß der Griechisch nicht gelernt habe,1 seinen Serenus Zeitblom die Verse »auf deutsch ungefähr wie folgt wiedergeben« – unter Benutzung, versteht sich, einer zu jener Zeit Kennern zugänglichen Publikation: Welch ein Beben durchfuhr den Lorbeerbusch des Apollon! Beben das ganze Gebälk! Unheilige, fliehet! Entweichet! (521)2 Zitiert wird nach der Ausgabe Thomas Mann, Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Frankfurt a. M. 1960, 1974. Zitate aus den Primärtexten werden durch Seitenangaben im fortlaufenden Text belegt und beziehen sich, wenn nicht anders angegeben, auf die jeweiligen Bände dieser Ausgabe. – Die Erzählungen, sofern in Thomas Mann, Große Kommentierte Frankfurter Ausgabe 2,1; 2: Frühe Erzählungen 1893–1912, schon erfaßt, werden nach dieser Ausgabe zitiert. 1 H. Kurzke, Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk, München 1999, 38. 2 Thomas Mann profitiert hier, wie sich rekonstruieren läßt, von einem glücklichen Umstand. Die Übersetzung findet sich erstmals bei E. Howald, Der Dichter Kallimachos von Kyrene, Erlenbach-Zürich 1943, 87, der den Übersetzungstext von E. Staiger übernimmt. Thomas Mann seinerseits zitiert den Staigerschen Text aus dem Artikel von K. Kerényi, »Apollon-Epiphanien«, Eranos-Jahrbuch XIII (1945), 11–48 – hier benutzt in K. K., Apollon und Niobe, hg. M. Kerényi, München 1980, 358–385). Der Text samt Übersetzung jetzt leichter zugänglich in dem erst nach dem Doktor Faustus erschienenen Artemis-Bande Die Dichtungen des Kallimachos, griechisch / deutsch, übertr., eingel. u. erkl. E. Howald u. E. Staiger, Zürich 1955, 59. – Auf den umfangreichen Faustus-Kommentar von R. Wimmer, Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Band 10.2, Frankfurt a. M. 2007, 756–758, sei zum Vergleich gebührend hingewiesen.
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Ungeachtet einiger Ungereimtheiten in diesem Text,3 darf Serenus Zeitblom sich als veritabler Altphilologe präsentieren. Nicht ohne Stolz, der immer von der Ironie der Erzählperspektive überschattet ist, bekennt er, von Jugend auf Jünger der Humaniora, der klassischen, der bonae litterae, ja, »ein Gelehrter, conjuratus des ›lateinischen Heeres‹ « zu sein und dazu, noch vor Antritt seiner Lehrämter, ein geradezu mystisches Eintauchen ins Griechische erlebt zu haben,4 er mußte von den Beryll-Gravuren inspiriert worden sein – zu allerdings staunenswerten Assoziationen: Das unterhalb der beiden Hexameter »eingeschnittene vignettenartige Wahrzeichen,« ein »geflügelt-schlangenhaftes Ungeheuer […], dessen hervorschießende Zunge die […] Gestalt eines Pfeiles hatte«, läßt den erzählenden Altphilologen zuerst, ein wenig eigenwillig, an die »Schuß- oder Bißwunde des Chryseischen Philoktet« denken.5 Womöglich noch anspruchsvoller, wiewohl auch nicht zweifelsfrei, ist der Gedanke an »den Namen, den Äschylos einmal dem Pfeile gibt: ›Zischende, geflügelte Schlange‹.«6 Und drittens denkt der Erzähler, mythensicher, »an die Beziehung, die zwischen den Geschossen des Phöbus und dem Sonnenstrahle besteht.«7 Dieses Kallimachoszitat samt seiner Kommentierung ist der eindrucksvollste Beweis für den Anspruch auf das Klassische in der Konzeption der 3 Die Änderung am Ende des zweiten Hexameters hat der Autor zu verantworten. E. Staiger nämlich wie auch der zitierende Kerényi, »Apollon-Epiphanien«, schrieben »entweicht, Unheilige, weichet«, was sowohl der Kallimachischen Wortwahl gerechter wird, wie es auch, anders als die mit drei Konsonanten viel zu schwerfällige Kürze »Entw-«, metrisch einwandfrei ist. 4 Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde, Frankfurt a. M. 1960, 1974, hier 10; 16–18 (Gesammelte Werke in 13 Bänden, Bd. 6). – Seitenangaben im fortlaufenden Text beziehen sich auf diese Ausgabe. 5 Ob die faulende Schlangenbißwunde, die dieser thessalische Trojakämpfer en passant auf der – nicht mehr trojafernen – Insel Chryse erlitten haben soll, das kennzeichnende Attribut »chryseisch« hier rechtfertigen darf, sei dahingestellt. 6 Gemeint ist der Vers 181 der Eumeniden. Dort allerdings benutzt Aischylos das Attribut ἀργηστής, etwa: ›hellglänzend‹, was von Kerényi, »Apollon-Epiphanien«, 378, natürlich übernommen wird. Wenn dagegen der Altphilolog Zeitblom dieses mit »zischend« wiedergibt, kann er es nicht dem aischyleischen Text entnommen haben, sondern, was ihm als Gelehrtem, der er ja sein will, niemand zumuten möchte, der berühmten Übersetzung des Johann Gustav Droysen (1832), der, vielleicht um im Schlangenbilde zu bleiben, eigenmächtig »zischend« schrieb. So hat Thomas Mann seinen Erzähler gewissermaßen desavouiert. 7 Der Bogenschütze Apollon wird tatsächlich seit dem fünften Jahrhundert mit Helios, dem Sonnengott, identifiziert, vgl. W. F. Otto, Die Götter Griechenlands, Frankfurt a. M. 1934, 101 f.; M. P. Nilsson, Geschichte der griechischen Religion (HdA V, 2), 3. Aufl., München 1967, I, 529; W. Burkert, Griechische Religion, Stuttgart u. a., 1977, 233.
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Figuren. Im belletristischen Œuvre Manns handelt es sich mit diesen Rückgriffen auf das Bildungswissen der höheren Humaniora um eine immer wiederkehrende Erzählstrategie des Autors, die strikt situationsbezogen ist und dementsprechend der Charakterisierung der betreffenden Figuren dient.8 Wie stark die Rückgriffe auf Klassizität der Kennzeichnung des Milieus dienen, erweist sich e contrario an Werken, die in ihrer Figuren- und Handlungsanlage dieser Klassizität passender Weise gänzlich entraten, etwa an der Erzählung Wie Jappe und Do Escobar sich prügelten (1911), oder mit geringfügigen, übrigens nicht immer plausiblen, Ausnahmen am Josephsroman. Dieser Rückgriff gerade auf das Griechische und Lateinische ist nicht frei von gelegentlichen Ungereimtheiten, die entweder dem fiktionalen Kosmos, mithin der Figurenstilisierung, oder, hier und da, schlichtem Irrtum des Autors zuzuweisen sind. Ironisches Altphilologentum: Doktor Faustus Serenus Zeitblom seinerseits fügt denn auch zu seinen Kalimachos-Erwägungen weitere Anspielungen in weniger anspruchsvoller Form hinzu. Im Gedenken an die Mutter Adrians spricht er sinnvoller Weise von dem »Ikarusflug des Heldensohnes« (671), damit auf den Teufelspakt anspielend; das Gift, das die unglückliche Clarissa Rodde nimmt, nennt er, wenngleich nicht strikt dem Eide des großen Arztes gemäß, das »hippokratische Heilmittel« (508); Frau von Tolna, die edle Gönnerin und großmütige Schenkerin jenes gravurveredelten Berylls, ist sogleich, als »Schutzgöttin«, eine »Egeria« (521). Er seinerseits, im Vergleich mit dem genialen Freunde Adrian, leugnet in aller Selbstbescheidung und doch mit höherem Anflug, »je mit divinis influxibus ex alto begnadet gewesen zu sein« (11). Als Klassizist9 in einer Auseinandersetzung mit Adrian über das Ästhetische befangen,10 charakterisiert er die »stolze Vereinsamung« in der Manier griechischer Wissenschaft: sie sei »deutsch […] kat exochen.«11 Und, be8 Nichtklassische Graecolatinismen werden dabei occasionell angeführt, fachterminologische Begriffe der Musik, Theologie Medizin jedoch grundsätzlich nicht berücksichtigt. 9 Ihm hilft gegen alles vom Menschlichen Abwegige nicht die Religion, sondern »allein […] die humanistische Wissenschaft, das Ideal des freien und schönen Menschen« (54). 10 Zeitblom greift zur Selbstcharakterisierung hier zurück auf die Kernaussage aus Heinrich von Kleists Schrift Über das Marionettentheater (1810). Darin dient Kleist die Statue des Dornausziehers als Beweis für seine These der unbewussten als der wahren Grazie. 11 Besser: kat’ (411)!
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kannt gemacht mit der als abartig erscheinenden Kompositionsmanier eines gewissen Johann Conrad Beißel aus dem pfälzischen Eberbach, nun in Ephrata, Pennsylvania, kommt der Altphilolog mit dem Freunde überein, daß solche »Musik-Reform stark an die Stelle bei Terenz erinnere, wo es heißt: ›Mit Vernunft albern zu handeln‹.« (93)12 Angesichts der Höhe seines Wissens kann der Studienrat gegenüber minderen Kollegen gönnerhaft werden: Adrians Elementar-Privatlehrer namens Michelsen »sprach […] von ›ingenium‹, teilweise gewiß, um mit dem Worte zu prunken«, denn »er konnte etwas Latein« (48 f.). Sein altphilologisches Wissen dient dem Erzähler Zeitblom auch dazu, eine Figur hintergründig zu desavouieren, indem er diese unzensiert Abwegiges zitieren lässt. Der Hallenser Privatdozent der Theologie, Eberhard Schleppfuß, der in seiner »intrigierenden Zweideutigkeit« (133) ausersehen ist, Adrian zu seinem fatalen »Schlupfbuden«-Erlebnis mit dem Weibe zu führen (189), er soll sich eine etymologisierende Anspielung auf das Wort femina erlaubt haben, das »teils von fides, teils von minus, von minderem Glauben« komme (142). Dieser bare Unsinn widerspricht dem gleichzeitigen Hinweis, daß Zeitblom dem Privatdozenten der Theologie »immer viel philologische Schätzung entgegengebracht« (149) haben will. Es gehört zu Zeitbloms Eigenschaft als höchst selbstbewusster Erzähler, dass er seine beachtliche Belesenheit nützt, um Nichthistorisches unver sehens einzuflechten. Abgesichert durch den immerhin Seriosität verheißenden Verweis auf die »Franckeschen Stiftungen«13 und die »Canstein’sche Bibelanstalt«14 im Halle des 17. / 18. Jahrhunderts, könnte auch ein »hervorragender Latinist, Heinrich Osiander«, (115 f.) dortselbst gelebt haben. Der ist indes ingeniös erfunden, da der Name in der Wissenschaftsgeschichte annäherungsweise ausgewiesen ist.15 »Zu jener Zeit« nämlich soll Osiander gelehrt haben, als es Serenus Zeitblom, der mit Adrian als Student nach Halle wechseln wird, »zu dessen Füßen zu sitzen […] sehr verlangte!« (117). Eine vergleichbare Klitterung aus Historie und Erfindungslust gelingt Serenus in der Beschreibung seiner Vaterstadt Kaisersaschern: Gewiß wurde Publius Cornelius Scipio nach seinem Sieg über Hannibal mit dem Cognomen Africanus tituliert. Wenn aber Otto III., jener hoffnungsvolle stupor mundi, sich nach diesem Vorbilde Saxonicus genannt haben soll, »weil er die Sachsen besiegt hatte«, und wenn er gar Es ist der Vers 63 des Eunuchus: ut cum ratione insanias. Vgl. dazu Lexikon für Theologie und Kirche IV, Freiburg 1960, 250 f. 14 Vgl. darüber ibid., II,1958, 920. 15 Vgl. F. A. Eckstein, Nomenclator Philologorum, Leipzig 1871, 415; F. Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts I, Leipzig 1919, 244. 12 13
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im Dom zu Kaisersaschern – »etwas südlich von Halle […] gelegen« – beigesetzt sei (50 f.), so ist das fröhliches Fabulieren, das dem Leser dank der beigezogenen historischen Parallele entgehen soll. Im Doktor Faustus gehört nicht allein die Figur des professionellen Altphilologen Serenus Zeitblom in diese klassisch-antike Denkwelt, auch die anderen Figuren nehmen daran teil, sofern sie durch ihren Stand dazu plausibel legitimiert sind: Der Privatgelehrte Dr. Chaim Breisacher spricht vom Aristotelischen Assimilanten Maimonides (375); Kolonat Nonnenmacher liest unter Benutzung des Aristoteles über die Vorsokratiker und spricht von dem in der pythagoreischen Schultradition redensartig gewordenen »Autòs épha« (216);16 der Violinist Schwerdtfeger darf sich selber, was ihm sogar bestätigt wird, eine platonische Natur nennen (466 f., 565). Professor Ehrenfried Kumpf nennt den Teufel unter anderen Bezeichnungen den Herrn Dicis-et-non-facis, verweist ihn sogar griechisch des Raumes: »Apage!« (131). Der Verleger Saul Fitelberg lockt, die Künstler in Paris bezeichnend, Adrian mit der Anrede »Ihre Brüder in Apoll« (536); und ein »sacrificium intellectus« (487) wird im Kreis um den Graphiker Kridwiß mit dem Hinweis auf Georges Sorel diskutiert. So staunenswert der Erzähler Serenus Zeitblom, trotz mancher kalkulierten Ungereimtheiten, sein Wissen präsentiert, bleibt er doch der Ironie ausgesetzt. Dies erweist schon seine aufs Schulmeisterliche hinführende Bürgerlichkeit, das selbst eingestandene Fehlen jedes göttlich-genialen influxus, und die phantasielos-unbedarfte Ungewitztheit, die den Studienrat als Brautwerber für den Freund Adrian disqualifiziert (581 f.), obwohl er selbst, gerade »das Phänomen der Liebe« erwägend, »eine spezifische Gewitztheit durch [sein] Altphilologentum« meint beanspruchen zu dürfen (551). Diese Ironie trifft jedoch nur die Figuren, also die Sprecher und Repräsentanten, nicht die von ihnen vertretenen Gegenstände. Dies wird insbesondere deutlich an Adrian und dem Teufel als den beiden Figuren, deren gegenseitige Beziehung den Roman konstituiert. Adrian, in dessen nichtakademischem Elternhause der Vater doch vorwissenschaftlichen Ehrgeiz beweist, ist dank seinen genialen Begabungen bald auf der Höhe der Klassizität angelangt, was er immer wieder auszudrücken weiß: Seinem kongenialen Kompositionslehrer Kretzschmar schreibt er über gymnasiale Erfahrungen, »Dreiviertel Stunden Anabasis, das war zuviel von 16 Daß Pythagoras dieses oder jenes »selbst gesagt« habe, galt als unverbrüchlicher Beweis der Gültigkeit. Vgl. Clemens Alexandrinus, Stromateis II,5, 24,3, und die Pythagorasbiographie des Diogenes Laertios, VIII,46.
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einem und demselben für meine Geduld« (175); die Kompositionsvorgaben, die er zu veredeln verspricht, nennt er, nun standesgemäß, »prima materia« (177); an Freund Serenus schreibt er, seinerseits mit gönnerhaftem Anflug und artig die lateinische Syntax beachtend, von jemandem, »den du die artem metrificandi lehrst« (191). Manieriert-ironisch schreibt er an denselben über die Teufelserscheinung, er »schweige alles nieder«, während der Kumpan »in eremo« entfernt ist (297); und als es mit ihm ans Ende gekommen ist, resümiert er vor konsternierter Hörerschaft, er habe sich nur und allein noch abgegeben »mit figuris, characteribus, formis coniurationum« (661 f.). Angesichts des Teufels, der ja nur ihm gegenüber und einmal auftritt, hält er sich gerade zurück, während auf den 37 Seiten, die der Begegnung gewidmet sind, sich der fatale Versucher geradezu genüßlich im Griechischen und Lateinischen ergeht. Für sich selber zitiert er die Bezeichnungen aus dem Munde Professor Klumps und nennt sich – diesmal ohne Bindestriche – den Herrn Dicis et non facis (301), zählt einige der Namen seiner Residenz her, als Carcer, Exitium, Confutatio, Pernicies, Condemnatio (302 f.), und bekennt, auch seinerseits die Syntax wahrend, er habe von früh an ein Auge auf Adrian gehabt, sein »trefflich ingenium und memoriam« (330). Die zugehörige Kopfregion benennt er mit »Meningen« und »dura mater« (311), das dort fällig werdende venerische Unheil als die »bleiche Venus, die spirochaeta pallida« (309), die Wendung »salva venia« gefällt ihm so gut, daß er sie gleich zweimal hintereinander benutzt (305, 325). In den römischen Sprichwörter-Thesaurus greifend, empfiehlt er, nicht zu früh »ans Ende zu denken, wo es heißen könnte ›respice finem‹ «. (306)17 Sich selbst übertrifft er aber, nahezu kryptisch, mit seiner Literaturkenntnis: »Der Philosoph, De anima: ›Die Handlungen der Handelnden geschehen an den vorher disponierten Leidenden‹.« (311)18
17 Der komplette Hexameter, verschiedentlich überliefert, lautet bekanntlich: Quidquid agis prudenter agas et respice finem. Wimmer, Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, wertet Büchmann und Google aus; der Spruch ist tatsächlich nicht ›echt‹ lateinisch. 18 »Der Philosoph«, gleich ὁ φιλόσοφος, an sich Appellativum, bedeutete in der Antike das nomen proprium Aristoteles seit Plutarch, Moralia X. 115 b 4. Die hier gemeinte Stelle ist Περὶ ψυχῆς II, 2. 414. a 11 f., vgl. III,2. 426 a 4 f. Der Kommentator Wimmer, Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, verweist auf den Hexenhammer als »direkte Quelle«, wo allerdings, I,89, in Übereinstimmung mit Aristoteles der Singular »dem […] Leidenden« steht; Thomas Mann ändert also gegen die »direkte Quelle« wie gegen Aristoteles.
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Altphilologie im Bannkreis Goethes: Lotte in Weimar Der Faustus ist an Griechischem wie Lateinischem relativ reich, übertroffen darin nur noch von Lotte in Weimar, was dem Bannkreis Goethes geschuldet ist. Denn ob Adele Schopenhauer oder der gelehrte Riemer, ob der durchaus unverächtliche August, Lotte selbst und Kellner Mager im Elephanten, »ein gebildeter Mann« – diese kultivierte Versammlung ist auch in ihrem Bildungsanspruch unübertrefflich. Wieder erscheint ein Altphilolog – diesmal Akteur, nicht Erzähler: Doktor Friedrich Wilhelm Riemer, der zweite der vier Besucher, die der »Marqueur«, Kellner Mager, mit erschöpfender Beharrlichkeit dem Gast des Elephanten, Werthers Lotte, aufzunötigen gewußt hatte. Riemer ist bemüht, sich seines Standes würdig zu zeigen. Schüler des »verehrten Lehrers, des berühmten classischen Philologen Wolf in Halle«, der gewesen zu sein er so stolz ist,19 und fachlich engagiert, wie er sich selbst darstellt, hätte er allerdings auch im wirklichen Leben einschlägig mehr produzieren dürfen als sein »großes Griechisches Wörterbuch« (420), dessen er sich schmeichelt.20 Allemal aber ist er, derart ausgewiesen, bestens qualifiziert, zumindest den jungen August von Goethe im Griechischen und Lateinischen zu unterrichten (421). Einer gewissenhaften schulmeisterlichen Pedanterie kann er sich freilich nicht entschlagen, wo er von der »Einerleiheit des Alls mit dem Nichts« spricht und diesem mit dem versichernden Zusatz »dem nihil« eine Art Bestätigung meint geben zu sollen (439). »An Morpheus’ Busen zu verharren« (410), ist denn auch keine übermäßig originelle Wendung, und das redensartliche homerische Gelächter (436) darf natürlich nicht fehlen. Immerhin aber wagt er, den odysseischen Meergott Proteus, den Wandelbaren, als Inbild des Skeptizismus – »der Skepticism des Proteus« (445) – zu beanspruchen. Kaum minder gewagt klingt die Hyperbel von den »Herculestaten« seines Meisters, des »Großen«, wie der sogleich schlicht tituliert wird, von denen dereinst die Rede sein werde (409). Diese leichthändige, etwas obenhin getroffene Auswahl der klassischen Perlen, die dem braven Riemer an die Hand gegeben werden, breiten ge19 Zitiert wird aus: Lotte in Weimar, Frankfurt a. M. 1960, 1974, 365–765, hier 413 (Gesammelte Werke in 13 Bänden, Bd. 2). – Seitenangaben im fortlaufenden Text beziehen sich auf diese Ausgabe. – Friedrich August Wolf ist durch seine Prolegomena ad Homerum, Halle 1795, einer der Begründer der modernen kritischen Homeranalyse und dadurch wahrhaft »berühmt«. 20 Es handelt sich um eine Bearbeitung von J. G. Schneiders Kritischem Griechisch-Deutschem Handwörterbuch, dessen erste Auflage 1804, dessen vierte 1825 herausgekommen ist.
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fällige Ironie über den sich angestrengt bedeutsam gebenden Altphilologen. Sein Schüler August von Goethe, letzter Besucher der geplagten Lotte, bezeugt gleichsam Riemers verdienstvollen Unterricht. Er kennt seine Literatur gut genug, um, auf Napoleon gemünzt, den Vers »von der siegreichen Sache, die den Göttern – und der besiegten, die dem Cato gefallen hat« (603), nicht nur zu zitieren,21 sondern zu versichern, ihm »seit langem die gefühlteste Sympathie« entgegengebracht zu haben. Seine Vertrautheit mit den Classica recht beiläufig bekundend, erlaubt er sich, den berühmten Johann Heinrich Voß, Übersetzer von Ilias und Odyssee, einen Homeriden zu nennen (606). Zwischen Riemer und August erscheint, um einerseits die Geschlechterfolge der Besucher zu mischen und andererseits auf Augusts Erscheinen vorzubereiten, Adele Schopenhauer, von bester und zugleich natürlich wirkender, weiblicher Allgemeinbildung, die damals insonderheit die klassische bedeutete.22 Zudem gehörten zum geselligen Verkehr ernsthafte Zunftvertreter, wie Franz Passow,23 der Terenzübersetzer Friedrich Hildebrand Freiherr von Einsiedel, Karl Ludwig von Knebel als Properz- und Lucrezübersetzer und eben Friedrich Wilhelm Riemer, den Adele sogar Onkel nannte (483),– so daß sie nicht nur ein »schöngeistiges Frauenzimmer« war, sondern, ohne dabei Gemeinplätze wie de mortuis nil nisi bene oder lupus in fabula (484, 560) zu verschmähen, durchaus tiefere Einblicke ins Griechische und Lateinische hatte. Da wirkt es wie selbstverständlich, daß sie den unehelich geborenen August Goethe propter natales mit dem herzöglichen Legitimationsdekret versehen sein läßt (506), wenn sie die »zierlich leichte und liebliche« Ottilie eine »nichts weniger als junonische« Gestalt nennt (502). Der Satz »Weimars Fama ist eine leichtgeschürzte Göttin« (561) wird ihr in Anlehnung an Vergil in den Mund gelegt.24 In einer Vergilreminiszenz ist auch der Einsatz des Herrn und Meisters selbst gestaltet. Nach zwei Dritteln des Textes debütiert, lang erwartet, Goethe, aus dem Schlaf emportauchend und im inneren Monolog das Ende seines Traums beklagend. Entsprechend aus dem Tosen des See21 Es ist der Vers aus Lucan, Bellum civile 1, 128: victrix causa deis placuit, sed victa Catoni. 22 Man hatte denn auch einen »Musenverein« gegründet, nannte sich Museline statt Line (Comtesse von Egloffstein) oder Tillemuse statt Ottilie (von Pogwisch) oder eben Adelmuse statt Adele. 23 Verfasser des berühmten, heute noch geschätzten Handwörterbuchs der Griechischen Sprache, Leipzig 1824, 5. Aufl. 1857. 24 In der Aeneis, IV,174, ist Fama zwar keine Göttin, sondern ein malum, doch ihre Leichtgeschürztheit in Adeles Beschreibung findet eine Entsprechung in der velocitas und mobilitas bei Vergil.
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sturms empor tauchte vor der libyschen Küste auf bedrohtem Flaggschiff Aeneas – seinerseits in der Weltliteratur mit einer Klage debütierend und also vorbildhaft.25 Freilich ist inhaltlich der Unterschied gewaltig. Goethe nämlich erfreut sich seines Traumes mannesstolz ob dessen Wirkung, denn natürlich war ihm – »munterer Greis!« – Venus mit Adonis erschienen in der Darstellung des Alessandro Turchi, die er lustvoll-genau beschreibt (617); dabei lässt der Erzähler – oder muss man den ahnungslosen Autor dafür verantwortlich machen? – seine Figur an dieser Stelle in bedeutungsvoller Unwissenheit und verschweigt, dass, wen die Göttin da karessiert, der vom Eber gerissene geliebte Tote ist.26 Das »Tagesgeschäft« (620), die Arbeit am zweiten Teil des Faust, verlangt die vielfältige Verbindung mit dem Griechischen für das Mysterium der Heraufholung Helenas. Die »Begründung und Motivierung des Erscheinens sinnlich höchster Menschenschönheit« sei eine »neptunischthaletische« (680), monologisiert Goethe stumm.27 Damit vergegenwärtigt ist das Wasser des Oberen Peneios, doch dieses fließt in der Richtung dorthin, wo Helena sich befindet und gelöst werden soll. Deren Erscheinen, hier: Heraufholung, kann durchaus unter jenem »Heil« mitverstanden werden kann, denn ein Heil darf dieses Erscheinen für Faust sein, der doch versichert, »ich lebe nicht, kann ich sie nicht erlangen.«28 So mag das neptunisch-thaletisch begründete Erscheinen höchster Menschenschönheit, von dem der Goethe des Romans spricht, der ja seinerseits ein »Heil dem Wasser ausbringt«,29 gleichermaßen auf die Griechenkönigin hindeuten. Und der Goethe im Weimarer Bette schöpft des weiteren aus seinem unerschöpflichen klassischen Fundus – in beiläufiger Selbtverständlichkeit. »Ist ein Lukian im Hause?« (679), fragt er wie zum Scheine, um alsbald genau zu wissen, wo die Ausgabe »nebenan« steht. In der lustig geschürzten menippeischen Satire findet er stilistische Anregung für die Walpurgisnacht, natürlich die classische.30 Und die »Erläuterung der Menschwerdung« (679) soll eine ovidische sein, wobei sie offenbar in die kurze (in Aeneis I,94: O terque quaterque beati etc. Die kunsthistorische Aufklärung erfolgte später und ist nachzulesen im Kommentar von W. Frizen, in: Thomas Mann, Große kommentierte Frankfurter Ausgabe 9.2 (2003), 493 f. 27 Dank Thomas Mann erinnert er sich eines eigenen Satzes aus Winckelmann (Weimarer Ausgabe I. 46, 28): »Das letzte Product der sich immer steigernden Natur ist der schöne Mensch.« 28 V. 7445. 7412: Sie ist mein einziges Begehren. 29 Hier 639, wo allerdings auch, gemäß Klassischer Walpurgisnacht, V. 8482, »Heil dem Feuer« und den anderen beiden Elementen. 30 Hier 679. In derselben darf die Zeit aufgehoben sein, vgl. Faust V. 7433 f. 25 26
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nur dreizehn Versen) eigentliche Menschwerdung31 und die ganze Folgezeit mit den vier Zeitaltern, dem Neuanfang bei den aus der Sintflut geretteten Deukalion und Pyrrha und allen nach diesen halbgöttlich Entsprossenen großzügig einbezogen wird, so daß, da die Verbindung von Göttern, Halbgöttern und Menschen nicht mehr endet, wahrhaftig alle fünfzehn Bücher Ovids reklamiert sind. Folglich darf er sich, Schillers stumm-beifälliges Lächeln im Sinne, rühmen: »wie ichs fertig gebracht, jedes Wort mit antikischem Geist zu durchtränken« (622). Mythologisches gerät aber auch unversehens zur Parodie, wenn er über die Nackengüsse aus dem Badeschwamm spricht als einem »Geschenk […] antäischer Berührung mit Element und Natur« (641), unbesorgt darum, daß des Antaios kraftgebendes Element die feste Erde ist. Die Kirschen des hellenistischen Malers Apelles, deren Naturgetreuheit die Spatzen zum Picken verführt haben sollen (741), waren aus der Antike unbekannt geblieben und gehören somit zur Konzeption des Mannschen Goethe, der sich freilich auf Myrons berühmte Kuh hätte berufen haben können, die von so manchem Stier besprungen worden ist.32 Auch zu Derberem animiert Antikes. Gar »mit Harpyendreck« habe der arme Bedienstete John ihm »das Mahl geschändet«, will sagen: mit seiner bloßen Anwesenheit, seinen Gesprächsbeiträgen.33 Gegenüber diesem häßlich-gehässigen Bilde der speisenverdreckenden vogelgestaltigen Harpyien erscheinen die »Professoren« – doch wohl der Altphilologie –, die seine Iphigenie mit Euripides zu vergleichen gewagt und damit »beschissen haben, was ihre Bäuche hergaben« (624), geradezu erfrischend. Ungeachtet solches Selbstbehauptungswillens mangelt es ihm nicht an Selbstkritik. »Reifer und mit der Sprache einiger als je im ›Reineke‹ « solle sein Hexameter werden.34 Und vielleicht schien er sich selber zu weit gegangen, als er seinen Faust, eingedenk schon des fünften Aktes des zweiten Teils, das fünfte Wort des Johannesevangeliums, Logos, mit Tat übersetzen ließ (623). Innig ist Goethe in diesem Roman mit seinen ›Alten‹ vertraut, dass sie im fiktionalen Kosmos unterschiedslos zu einem Teil seiner Lebenswelt und des Werkes werden. Und Charlotte, der, gemeinsam mit deren Verlobtem, er »aus seinem geliebten Homer« vorgelesen, dem sie sogar einen »Taschen-Homer« (392, 31 32
734.
Hier Metamorphosen, I, 76–88. Demetrios von Bithynien und Dioskorides in: Anthologia Graeca IX, 730 und
Hier 677, gemäß Vergil, Aeneis III, 227 f. u. a. Möglich, daß er unter anderem an den Eingangsvers des Reineke dachte, in dem er sich die bei den Alten verpönte Zäsur nach dem vierten Trochaios erlaubte. 33 34
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394) zugesandt hatte? Sie bezeichnet sich gern als »eine einfache Frau« (376, 436) und wird mit einem »Schulmädel« (388, 392, 564) assoziiert – ihr Repertoire an Klassischem ist nach vierundvierzig Jahren entsprechend bescheiden. Immerhin weiß sie den Kellner Mager im Elephanten einen »Ganymedes mit Backenbart« (383) zu bezeichnen, ihm in anderer Situation »die Miene eines Cerberus« (406) abzusprechen; der Name der kinderreichen Niobe ist ihr allerdings nicht mehr nach Wunsch geläufig (448). Zuletzt ist da noch ein beflissener Kunstprofessor, der die mit dem Frauenplan unvertrauten Empfangsgäste auf das Erscheinen des Meisters vorbereiten möchte und sich zierlich angepaßt ums Latein bemüht: in der Hoffnung, Er möge dieses Tags »nicht taciturn und marode« (704) sein. »Aber er heißt« – wenn es erlaubt ist, Thomas Mann mit eigenen Worten abzuwandeln – Meyer »und ist überhaupt nicht der Rede wert.«35 Geisteskampf im Zeichen der Antike: Der Zauberberg Wenn der Zauberberg unter den belletristischen Werken die meisten Beziehungen zur klassischen Antike aufweist, so ist das nicht nur dem Umfang des Romans geschuldet, sondern vor allem dem Geisteskampf der unversöhnlichen Kontrahenten Leo Naphta und Lodovico Settembrini, beide in ihren Persönlichkeiten auf ihre Gegnerschaft hin wohlkomponiert. Dieser, in Hellas gebürtig, dabei Sohn eines Vaters, der »ein lateinischer Stilist wie sonst keiner mehr«36 gewesen sei, profitiert von beiden Seiten her von Voraussetzungen für ein Leben, dessen Summe er in dem Satz formulieren kann, »ich bin Humanist, ein homo humanus« (541, 136, 86). Jener, kurz nach der Hälfte des Romans erst auftretend, ist zwar seinerseits ein hervorragender Latinist, sogar am örtlichen Gymnasium »Professor der alten Sprachen« (521), allerdings nicht der Antike, sondern dem Mittelalter zugewandt und wegen seiner Distanziertheit gegenüber allem Klassischen von Settembrini wohl des Titels »Princeps scholasticorum« (518) gewürdigt, aber auch des Orientalentums (522) geziehen.37 Wenn einer im belletristischen Werk Thomas Manns als princeps classicorum gelten kann, dann nicht die professionellen Philolo35 So spricht der Erzähler am Ende des ersten Kapitels der Erzählung Tristan (1903) über Doktor Müller, den zweiten Arzt des Sanatoriums Einfried, der neben dem Chefarzt und Träger des wohlklingenden Namens Leander verblassen muß. 36 Zitiert wird aus: Der Zauberberg, Frankfurt a. M. 1960, 1974, hier 136 (Gesammelte Werke in 13 Bänden, Bd. 3). – Seitenangaben im fortlaufenden Text beziehen sich auf diese Ausgabe. 37 Vgl. 518–522; 566.
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gen Serenus Zeitblom und Friedrich Wilhelm Riemer, sondern der Schriftsteller Settembrini, wohlausgewiesen in beiden Fächern. Als humanistisch geprägter Italiener stellt er »seinen Virgil […] über Homer« (718), nimmt er Horazens carpe diem38 als Zeichen für die Kostbarkeit der Zeit im modernen Leben (340). Der Fußweg zum Sanatorium, auf dem er den beiden Miteinliegenden Ziemßen und Castorp lateinische Verse deklamiert, strebt angemessen »zu Dis, des Gewaltigen, Mauern« hinan, mit dem hier Pluton als der Gott der Toten gemeint ist (89 f.). Doch zuvor schon und dann immer wieder erhält, als Herr über Leben und Tod, der Sanatoriumsleiter Hofrat Behrens zum römischen Titel hinzu den des griechischen Totenrichters Rhadamanthys (88–90).39 Überhaupt vereint sich im Denken des Italieners das Griechische mit dem Römischen, insbesondere, wo es gilt, das aus dieser Vereinigung erwachsene Hesperische gegen das Orientalische zu bewahren. Dieses wird im Reich des Rhadamanth vertreten durch die russische Patientenschaft, die ihrer Zahl wegen im Speisesaal auf einen so genannten guten und einen schlechten Russentisch verteilt werden muß, insgesamt aber, antikisierend und wenig favorabel, als Parther, Skythen, wohl auch Tataren, DschingisKhan-Nachfahren und »Typen aus der moskowitischen Mongolei« (312, 337, 339) bezeichnet sind. Gegen dieses Asiatentum solle der Pallas Athene in der Vorhalle des Hauses ein apotropäischer Altar errichtet werden, »im Sinne der Abwehr«, verlangt Settembrini (337). Indigniert konstatiert er, daß ein Mediziner unter ihnen »sich des Lateinischen vollkommen unkundig erwiesen« habe (319), und einen anderen ›Asiaten‹ weiß er gegenüber einem Dortmunder Staatsanwalt eher ungünstig abzuheben: Dieser, Jurist, sei »zwar ein Esel, aber er versteht wenigstens Latein!« (337). In diese Distanzierung gegenüber dem Barbarischen fällt auch der Erzähler ein – zugunsten Settembrinis, der »die vornehme Hilflosigkeit seiner Latinität an dem wilden Lautgestrüpp heiter zu erproben« sucht, indem er »die krause Konsonantenfolge« (589) eines tschechischen Familiennamens vergeblich zu bewältigen sich bemüht.40 Allerdings gelingt dem erklärten Humanisten im Griechischen nicht alles nach Wunsch. Als er vom Ankömmling Castorp erfährt, dieser beabsichtige, nur auf ein paar Wochen als Gast zu bleiben, ist er irritiert: »Sie hospitieren hier nur, wie Odysseus im Schattenreich?«, ohne zu bedenken, daß dergleichen zwar Aeneas getan, während der heimstrebende Trojakämpfer vor dem EinZurückgehend auf Carmina I. 11,8. Einmal, 83, begleitet ihn Dr. Krokowski gleichsam als Minos. 40 Der beklagenswerte Tscheche mußte sich in der Patientengesellschaft leicht degradiert fühlen; man nannte ihn, allerdings unter Zusatz des Titels Herr, schlicht Wenzel, »da niemand seinen Familiennamen auszusprechen verstand.« 38 39
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gang zum Hades hatte verweilen müssen.41 Angesichts einer spiritistischen Séance aber zeigt er sich auf philosophischer Höhe und begründet die Pflicht zur Unterscheidung von Wahrheit und Gaukelei mit Protagoras’ Homo-Mensura-Satz (926 f.).42 Denselben Satz beansprucht indes Settembrinis Gegenspieler, der Jesuitenzögling Naphta, allerdings utilitaristisch-eudämonistisch mit der strikten Beschränkung auf das Erkennen und Erwirken menschlichen Heils. (551)43 Stets berücksichtigt der Jesuit das Antike sehr selektiv: Die christlichen Jahrhunderte hätten die platonische Philosophie jeder anderen vorgezogen, weil diese sich nicht mit Naturerkenntnis, sondern mit Gotteserkenntnis abgegeben habe (551 f.). Dies freilich bleibt in zweierlei Hinsicht fragwürdig. Einerseits ist nach eigenem Bekenntnis Platons Denken auf den Menschen konzentriert;44 die Idee des Guten im sechsten Buche der Politeia kann zwar Gott gleichgesetzt werden, und der Demiurgos des Timaios ist zwar Weltschöpfer – im Blick auf die Ideen! –, doch beide Vorstellungen sind schwerlich Dokumente des Bemühens um die Erkenntnis Gottes. Im übrigen ist Lactanzens zitierte provokante Verachtung der antiken Naturerkenntnis,45 da eng zeitbedingt, natürlich kein ausreichendes Kriterium. – Überraschend ist es dem klugen Naphta entgangen, daß der von ihm soeben favorisierte Platon selber nicht nur den Satz aufgestellt, recht eigentlich sei der Gott das Maß aller Dinge, sondern sogar noch den von ihm selber soeben beanspruchten Homo-MensuraSatz für nichtig erklärt hat.46 Andererseits ist den »christlichen Jahrhunderten« wohl nicht minder die Zeit des Thomas von Aquin zuzurechnen, in der die Philosophie des Aristoteles längst herrschte. Doch zumindest der Dialektiker Aristoteles hat es dem princeps scholasticorum angetan: Odyssee XI,23 ff. Vgl. Die Fragmente der Vorsokratiker, hg. H. Diels, W. Kranz, II, 6. Aufl., Berlin 1952, 262 f. 43 Geschaffen ist »alle Natur nur für ihn« (den Menschen). »Er ist das Maß der Dinge und sein Heil das Kriterium der Wahrheit.« 44 Phaidros 230 d 3–5. 45 Ebenso 551 f., in der Frage, »welche Seligkeit« ein Mensch gewinnen werde, »wenn er wisse, wo der Nil entspringt, oder was die Physiker vom Himmel faseln.« Thomas Manns Wiedergabe entspricht dem Text des Lactanz, Divinae institutiones III. 8,29; nur der hier hergestellte Bezug zum Prinzen, dem Sohne Constantins, dessen Erzieher der Kirchenvater gegen Ende seines Lebens tatsächlich wurde, ist in diesem Falle dichterische Erfindung. 46 Nomoi IV. 716 c 4–6. Der Hinblick ist wieder der auf das Gute, hier: die Tugend der Besonnenheit, die mittels der Verähnlichung mit Gott, ὁμοίωσις θεῷ, erreicht wird. 41 42
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»Solet Aristoteles quaerere pugnam« (520), hält er Settembrinis vermeintlichem Monismus entgegen.47 Gegenüber dem Kontrahenten Settembrini aber bleibt der Jesuit dem Antiken, und das ist für den Verfechter des christlichen Mittelalters geradezu ein Kardinalindiz, strikt abhold. Abfällig nennt er, im Gegensatz zur christlichen Lehre, die Antike kapitalistisch (566) und bestreitet ihr die generelle Klassizität (520). Staatsfrömmigkeit, ergänzt durch »Vaterlandsliebe und grenzenlose Ruhmesbegier« (556) weiß er ihr – dabei zitierend aus Vergil – als weltlichen Irrweg anzulasten. Und sein Verdikt gipfelt in der Konsequenz, daß er das klassische Bildungsideal, den klassischen Unterricht als »Instrument bourgeoiser Klassendiktatur«, ja, als Manifestation des »morschen Bürgerreichs« (720) ausgibt – er, der doch am örtlichen Gymnasium »Professor der alten Sprachen« (521) ist! Wenn die Hauptperson Hans Castorp, um dessen Geistes- und Seelenheil die beiden Kontrahenten Settembrini und Naphta kämpfen, bei sich sagt, »praeterit figura hujus mundi«, und dies »in einem Latein, das nicht humanistischen Geistes« sei (660), so ist das der Situation geschuldet: Er befindet sich, da ihm dieses vergänglichkeitsbewußte, natürlich von Naphta überkommene Vulgatawort (stammend aus 1 Kor 7,31) als »Redensart« (660) in den Sinn kommt, im »dunstigen Nichts« (660) einer schneegesättigten Gebirgseinsamkeit, scheinbar ausweglos und verloren. Doch er bewahrt einen nüchternen hanseatischen Sinn und findet am Ende hinaus. Es ist nicht unpassend, daß Hans Castorp, existentiell gefordert und über Leben und Tod sinnend, einer Naphta-Reminiszenz nachgeht, da der Jesuit, wie der Abschnitt Operationes spirituales im sechsten Kapitel bekundet, eine mystische Geneigtheit zu Krankheit und Tod offenbart. So sind ihm Redewendungen geläufig wie requiescat in pace, sit tibi terra levis, requiem aeternam dona eis; seinen Vetter belehrt er, »die Totensprache ist kein Bildungslatein […] ist Sakrallatein, […] Mittelalter« (409) – die Domäne Naphtas also. Aufs Ganze gesehen jedoch befleißigt sich der Ingenieur der Denk- und Sprechweise des diesseitszugewandten Settembrini und eben des humanistischen Geistes, dessen Sprache das »Bildungslatein« ist. Freilich bleibt es nur bei rührenden Versuchen. In beherzter Fastnachtsoffensive bekennt er dem – plötzlich geduzten! – Italiener die Dankbarkeit eines jungen »Mulus«, dem ganz »sine pecunia« (458), wie sich Hofrat Behrens häufig ausdrückt (69, 88), die »literarischen Anstrengungen« seines Praeceptors 47 Möglich, daß er an den von Cicero bezeugten Aristotelius mos in utramque partem disputare dachte, De oratore 3,80.
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zugute gekommen seien. »Sapienti sat«, weiß er sich dann selbst zu sagen, rebellio carnis, was allerdings nach des Hofrats Diktion schmeckt, tröstend zu Ziemßen (690, 699). Et cetera. Unvermeidlich trifft der gute Schiffsmaschinenbauer gelegentlich ein wenig daneben und setzt sich der Ironie des Erzählers aus, wenn er, zu Gast bei Behrens »eine griechische Venus« (364) erwähnt, oder ein wenig zu hoch greifend, die technischen Raffinessen der Konstruktion als etwas bezeichnet, »was die Alten Hybris genannt hätten«, was ihm den Verweis des Erzählers und Schöpfers einträgt: »Sogar die Alten zitierte er aus Gefallsucht!« (495). Es fügt sich zu seiner besonders gearteten Beflissenheit um die alten Sprachen, wenn Hans Castorp zwar dieselben »der formalen Bildung halber« rühmt, aber gleichwohl, da er »ja bloß Realist, Techniker« sei, ihnen allenfalls »so etwas Nobles und Überflüssiges« zubilligen will (362 f.). Und selbst Settembrini, der veritable Repräsentant des Klassischen, entgeht seinem Verdikt am Ende nicht; mit Naphta ihn zusammennehmend, befindet er, ganz Ingenieur: »Sie sind beide Schwätzer.« (685) Von anderem Kaliber ist Hofrat Behrens. Nicht daß er ›klassische‹ oder vermeintlich klassische Banalitäten, wie das abgegriffene praeter-propter ganz verschmähte, oder das gar nicht klassische, wie jenes a priori – dies freilich sogleich mit dem distanzierenden Zusatz »wie der Denker sagt« (253). Launig bedient sich diese Figur aus dem vom Erzähler zugewiesenen klassischen Fundus. Seine moribundi in finalem Zustande schickt er ad penates (118 f.), ungeachtet dessen übrigens, daß er Hans Castorp zu seinen »Laren und Penaten« (255), will sagen: harmlos ›nach Hause‹ schicken würde, wenn der nichts Ärgeres als einige Narben an seinem »Äolusschlauch«, will sagen: Lungenlappen, vorzuweisen hätte – womit er den braven Maschinenbauer, der von dem Windsack des Aiolos48 schwerlich etwas weiß, wohlwollend überfordert. Mit der jovialen Anrede »unsere Dioskuren« erhebt er die beiden Vettern Ziemßen und Castorp zu jenem mythischen Brüderpaar, zu dem Kalauer angeregt durch die Ähnlichkeit des einen Namens mit Kastor, dem einen der beiden Zeussöhne (301). Womöglich noch anspruchsvoller ist die Titulierung »dieser Myrmidon«, mit welcher der zu seinem Dienst zurückstrebende Offiziersanwärter Ziemßen bedacht wird (69); wenn damit nicht der größte aller überlieferten Helden selbst gemeint ist, so zumindest ein Prominenter aus dessen Trojakampftruppe, die Homer in der Ilias beschreibt.49 Eine Lücke im Namensgedächtnis kompensiert er großzügig: »Phidias oder der andere mit der mosaischen Namensendung« – etwa Praxiteles? –, sagt er kurzer48 49
Odyssee X,19 f., dem Odysseus – folgenschwer – übergeben. Ilias II,682–694.
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hand in einem Vergleich von Malerei und Plastik (364). An Behrens erweist sich, wie klassisches Wissen in einer anderen Ausdrucksform der Souveränität eingesetzt werden kann. Der Erzähler selbst greift umfassend auf Antikes zurück. »Peripatetischer Waffengang« wird etymologiebewußt das atemberaubende Wandelgang-Duell (817) zwischen Settembrini und Naphta genannt. »Zeit, sagt man, ist Lethe« (12), heißt es in einer Reflexion auf Zeit und Raum aus Anlaß der Reise Castorps, wobei es ungewiß bleibt, ob hier eine antike Vorstellung gemeint ist.50 Über dem todgeweihten Ziemßen vergißt er nicht »das Wort des witzigen Weisen […], daß, solange wir sind, der Tod nicht ist, und daß, wenn der Tod ist, wir nicht sind.«51 Der schon bekannte »Schlechte Russentisch« wird nach gültigen Kriterien bestätigt: »Die daran speisenden Völkerschaften waren ehrenwerte Mitglieder der Menschheit, wenn sie auch kein Latein verstanden« (982). Mit klassizistischem Übermaß bedenkt der Erzähler den unverhofft febrilen Hans Castorp: »Er war nicht länger ein Intervall und Hiatus, er war Patient.« (267). Die im Zauberberg residierenden Personen erfahren durchweg ihre Rangordnung und ihre Wertschätzung durch den allwissend schaltenden Erzähler je nach dem Maße, in dem sie die klassischen Sprachen beherrschen. Insofern ist der Zauberberg eine, wie Lodovico Settembrini sagen könnte, durch und durch humanistische Errungenschaft. Abneigung gegen die Klassik: Buddenbrooks In den Buddenbrooks wird der – hier fast ausschließlich römischen – Klassik nicht nur geringer Raum gegeben, sondern dies zudem in zwiespältiger Weise. Die Wertschätzung erstreckt sich von berufsnotorischer Hinneigung bis zu heftiger Abneigung – vielleicht weil der ›Norden‹ beim Autor nur bedingt klassisch denkt.52 50 Immerhin lautet ein Fragment des Sophokles: χρόνος δ’ἀμαυροῖ πάντα κἀς λήθην ἄγει, Nr. 954 in: Tragicorum Graecorum Fragmenta, vol. 4, Sophocles, coll. S. Radt, Göttingen 1977. 51 Aus Epikurs Brief an Menoikeus; Epicurus, Epistulae tres et ratae sententiae, ed. P. v. d. Mühll, Leipzig 1922, 45 f.; vgl. Kyriai Doxai II, ibid., 51, und Gnomologium Vaticanun Epicureum 2, ibid., 60. 52 Womöglich trifft sich die vermeintliche Ansicht des Autors mit einem Wort, das den Norden dem Schöngeistigen insgesamt abhold sein zu lassen scheint, mit dem ebenso hartnäckig wie fälschlich Tacitus unterschobenen, allerdings niemandem zuweisbaren Satze Frisia non cantat. – Zitiert wird aus: Buddenbrooks, Frankfurt a. M. 1960, 1974 (Gesammelte Werke in 13 Bänden, Bd. 1). – Seitenangaben im fortlaufenden Text beziehen sich auf diese Ausgabe.
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Gleich die ersten beiden einschlägigen Stellen im Roman verheißen zwar allgemeine Affinität zum Latein, das aber eingeengt und gleichsam neutralisiert ist durch religiöses Kolorit: »Vivant hoch«, toastet makkaronisch der Pastor Wunderlich auf einem Buddenbrookschen Gastmahl. Überm Eingang zum Hause Buddenbrook steht, »in altertümlichen Lettern gemeißelt«, der Spruch »Dominus providebit.« Da derselbe auf den Genesistext der Vulgata, 22,8 Deus providebit, zurückgeht, dort allerdings, in Vorbereitung des Isaak-Opfers, die Fortsetzung findet, sibi victimam holocausti, ist dem Haus unverhofft, ohne dass Leser und Figuren es erführen, ein unheilkündendes Omen eingemeißelt. Dem fügt sich ein weiteres Beispiel an, insofern es dokumentarischen Charakters, nämlich schriftlich überliefert ist. Die unglückliche Tony liest dem vermeintlich glücklichen Brautpaar Thomas und Gerda aus alten Familienpapieren ein altes Festgedicht, in dem »Venus Anadyomene / Und Vulcani fleiß’ge Hand« aufscheinen (296). Der einzige Makler Gosch mischt, im selben Zusammenhang übrigens, das Griechische mit dem Lateinischen nicht, lobt die Braut als »Here (!) und Aphrodite« in einer Person (295). Die Verhältnisse innerhalb der Familie betreffend, werden die Fronten gegen das Klassische geklärt durch Konsul Johann Buddenbrook, der in Anbetracht des Lebensernstes massive Einwände hat »gegen diese fortwährende Beschäftigung der jungen Köpfe mit dem Griechischen und Lateinischen.« (98) Allerdings weiß der Erzähler, daß Senator Thomas Buddenbrook, der des Vaters seinerzeitige Rede gegen den klassischen Unterricht mitgehört hatte, seinen unglücklichen Sohn Hanno, so praktisch wie wohltätig denkend, »der unnötigen Mühen mit dem Griechischen überhob« – einen zweiten Sohn freilich, hätte er einen gehabt, sehr wohl aufs Gymnasium geschickt haben würde (620). Damit nimmt er familiär eine nicht untypische Kompromißhaltung ein, denn der Konsul Johann hatte seine Ablehnung des Klassischen ausdrücklich »im Gegensatze« zu seinem »seligen Vater« kundgetan. Die Hauptpersonen des Romans lassen den alten Sprachen wenig Respekt angedeihen. In anstößiger Weise – und dadurch schon vernichtend vom Erzähler charakterisiert – bedient sich speziell des Lateins der um Tony freiende Bendix Grünlich. »Quousque tandem, Catilina« rezitiert er den Anfang der ersten Catilinaria, um dem Vater der Erwählten, dessen Cicerolektüre er bemerkt, zu imponieren, und er versichert nicht ohne Selbstgefälligkeit obendrein: »ja, ich habe mein Latein gleichfalls noch nicht völlig vergessen!« (98) Alsbald wird die Figur dadurch desavouiert, dass diese den echten Text, quousque tandem abutere, Catilina, lückenhaft zitiert. Das zweite dem Freier zugewiesene Zitat, »procul negotiis«, womit dieser die Lage der soeben erworbenen Villa vor den Toren Hamburgs
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charakterisiert, quittiert der Erzähler mit der ironischen Wiederholung: »nein, er hatte sein Latein gleichfalls noch nicht völlig vergessen!« (164)53 Während der anrüchige Freier seine Lateinrudimente renommierbedürftig einsetzt, wird der allerjüngste Buddenbrook, der beklagenswerte Hanno, der altehrwürdigen Sprache nur mit Furcht und Schrecken begegnen. Schon sein Onkel Christian, allerdings ein Lebemann, konnte der zweiten Catilinaria nur Mißmut entgegenbringen (93). Aber Hanno, bereits zu Nepos-Präparationen gezwungen, verzweifelt vollends über der aurea aetas des Ovid, über dem Metron, und nennt die Ovidstunde »widerlich.« (649; 703–734)54 Der Ordinarius Doktor Mantelsack, ein Mann mit krausem Jupiterbart, hat denn auch für Hannos Leistung nicht mehr übrig als das alltägliche »si tacuisses!« (730). Ganz im Alltag und im Medium des Kalauers angekommen sind Reden wie die des Lotsen Schwarzkopf an Morten, der sich in die heftig umfreite Tony ganz unstandesgemäß vergafft hat: »Sage mal, mein Sohn filius« (136) ; nicht minder die »Genußregeln«, gekalauert von einem Lateinlehrer, der auch noch Pastor Hirte heißt (68). Samt dem catonisch ernsthaft erinnernden Wort des Thomas, »nun bin ich wieder bei dem ceterum censeo meines seligen Vaters angelangt« (361), sind die Buddenbrooks mit ihrem Latein bald schon am Ende. Die maßgebenden Figuren lassen eine Wissenstradition erkennen, ohne an deren Gebrauch irgend ein Interesse an den Tag zu legen. Die übrigen Mitglieder der Familie haben, wenn überhaupt, ein wenig bis gar nicht favorables Verhältnis zur klassischen Sprache. Antike als Brücke: Joseph und seine Brüder Weniger noch als im hohen Norden ist Klassisches im tiefen Süden zu erwarten, jedoch dient es im Josephsroman als eine vermittelnde Brücke: »Sprechen wir vom ›Altertum‹ so meinen wir meistens die griechisch-römische Lebenswelt und damit eine solche von vergleichsweise blitzblanker Neuzeitlichkeit.« (25)55 Damit wird dem Leser nicht nur das Verständnis der sonst befremdlichen Städtenamen nähergebracht, insofern auf das phonetische Erfassen der erkundenden und überliefernden Griechen verwiesen werden kann;56 auch für zeitliche Vorstellungen scheint Griechisches, Die lateinischen Worte stammen aus: Horaz, Epoden 2,1. Konkret geht es um Ovid, Metamorphosen I,89 ff. 55 Zitiert wird aus: Joseph und seine Brüder, Frankfurt a. M. 1960, 1974 (Gesammelte Werke in 13 Bänden, Bd. 4 und 5 in fortlaufender Seitenzählung). – Seitenangaben im fortlaufenden Text beziehen sich auf diese Ausgabe. 56 So im Falle des oberägyptischen Thebai – vulgo Theben –, im Roman 775. 53 54
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nämlich die griechische Chronologie, hilfreich, da Solon (ca. 640–560) im Rahmen einer chaldäischen Berechnung den Bezugspunkt für die Datierung des Atlantis-Untergangs abgibt (31). Eine Sonderstellung behauptet Herodot, den der Autor als Gewährsmann benutzt für eine Berechnung des zeitlichen Ablaufs, den Ägypten erfahren habe. Herodot nämlich berichtet 2,142,3, Priester hätten ihm versichert, die Geschichte des Landes erstrecke sich nach den Chroniken über elftausenddreihundertvierzig Jahre. Unter Rücksicht auf die Lebenszeit Herodots, die in die ersten Jahre des Peloponnesischen Krieges hineinreicht, lassen sich tatsächlich jene »ungefähr vierzehntausend Jahre« (22) errechnen, die Thomas Mann präsentiert57 – die natürlich rein fabulös sind. Der großzügige Einbezug der griechischen in die ägyptischen chronologischen Berechnungen setzt sich fort. Es habe »ein Mann, der Alexander, den Mazedonier, nach Babylon begleitete, dem Aristoteles astronomische Aufzeichnungen der Chaldäer« übersandt (26). Ursprung dieser Aussage ist offenbar das literarische Umfeld eines Aristotelesfragments, Nr. 246 in der Sammlung von Valentin Rose.58 Dasselbe begründet freilich erhebliche Zweifel. Die Wendung »Alexander den Mazedonier« entspricht zwar dem griechischen τὸν Ἀλέξανδρον τὸν Μακεδόνα genau; doch dieser Mann ist im Fragment Objekt – Aristoteles habe ihn als einen Rechercheur geschickt – während er im Roman einen Rechercheur als Begleiter hat. Diese Konstellation hat unzutreffend Alexander den Großen, in dessen Stab tatsächlich Gelehrte sich befanden, ins Spiel bringen lassen, eine Verlockung, der Aristoteliker gelegentlich zu folgen bereit sind.59 In Thomas Manns Falle bestünden weitere Schwierigkeiten darin, daß die im Fragment berichtete Expedition nach Ägypten abgegangen war, der Autor also schlicht eine Übertragung ins Babylonische vorgenommen hätte. Der stärkste Einwand gegen irgendwelche Beteiligung des Aristoteles besteht jedoch darin, daß jenes Fragment in die Pseudepigraphen gehört.60 Die wenigen griechisch-lateinischen Anleihen, die auf den immerhin 1818 Seiten des Romans noch zu verzeichnen sind, mögen, da sie in dem vorgegebenen Milieu deplaziert scheinen, aus Verlegenheit oder gar nur versehentlich eingefügt sein: Der Hofzwerg Dudu fragt die ismaelitischen 57 Allerdings unter der Voraussetzung, daß die circa zweihundertfünfzig Jahre, die der Autor in seiner Berechnung, »11340 Jahre vor seine (Herodots) Ära zurück«, übersieht, hinzugerechnet werden, damit die Gesamtzahl »ungefähr 14000 Jahre« resultiere; ca. 250 Jahre nämlich beträgt der Abstand zwischen dem referierten Ende der Chronikaufzeichnungen und seiner, Herodots Ära. 58 Aristoteles, Fragmenta, coll. V. Rose, 3. Aufl., Leipzig 1886. 59 So H. Flashar, Aristoteles, Lehrer des Abendlandes, München 2013, 48 f. 60 Vgl. V. Rose in Aristoteles, Fragmenta, coll. Rose, 188.
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Händler nach allerlei Schmuckstücken, nach Gold, guten Steinen wie Bergkristall, darunter nach Elektron (791) – welches der griechische Name für Bernstein ist,61 während das textgerechte deutsche Wort durchaus gleichfalls Verwendung findet (894, als Adjektiv 1513). Die liebeswütende Mut erscheint gleich einer Mainade des dionysischen Thiasos als »wild bekränzte, keuchend jauchzende Thyrsusschwingerin« (1206). Auch das Lateinische kommt zu Ehren, wenn der Erzähler feststellt, Vieh »ist sogar in ganz vorzüglichem Sinne Geld, wie noch aus dem hochmodernen Ausdruck ›pekuniär‹ hervorgeht«, wobei anscheinend die hier fremdsprachliche Etymologie unter der Bewertung »hochmodern« plausibel gemacht werden soll. Ähnlich verhält es sich mit einem Wort des Potiphar an den Denunzianten, den Zwerg Dudu: »Was du da für mich eruiert (›eruiert‹ war ein babylonisches Fremdwort)« (1191), fügt der Erzähler erklärend an! Und derselbe Potiphar leitet das Ende seiner Strafpredigt mit keinem ägyptischen oder deutschen Worte ein, sondern mit item und beschließt mit »ich habe gesprochen«, wohinter nichts anderes steht als das beschließende römische dixi (1271). Die Bezeichnung »Dioskuren« endlich, die schon der Hofrat Behrens im Zauberberg auf das Vetternpaar Ziemßen / Castorp angewandt hatte, betrifft hier das – als »störrig« bezeichnete – Brüderpaar Schimeon und Levi (380). Ausflüge in die Antike Rudimentärer noch als im hansischen Norden oder im ägyptischen Süden behandelt Thomas Mann die klassische Antike an einem preußischen Hofe. Dies, obwohl doch Friedrich II. ein hoher Verehrer Ciceros war,62 obwohl Wilhelm von Humboldt ein in der Welt als vorbildlich anerkanntes Studium der klassischen Antike organisierte und obwohl selbst Wilhelm II., dessen Behinderung das Vorbild für Klaus Heinrich gewesen ist, noch 1936 nach etlichen voraufgegangenen Studien ein beachtetes Buch über die Gorgo verfassen wird.63 Wie in den Buddenbrooks ist an einem Gebäudeteil – hier über dem Hauptportal – ein lateinischer Spruch vergleichbar religiösen Charakters eingemeißelt: »Turris fortissima nomen Domini.« Und abermals gleich den Buddenbrooks beschränkt sich diese, wie die einzige andere altsprachliche Auf S. 1382 besteht der Wagen des Pharao aus eben dem Elektron. Vgl. W. Hegemann, Fridericus oder das Königsopfer, Hellerau 1926, 87 f. 63 Zitiert wird aus: Königliche Hoheit, Frankfurt a. M. 1960, 1974 (Gesammelte Werke in 13 Bänden, Bd. 2). – Seitenangaben im fortlaufenden Text beziehen sich auf diese Ausgabe. 61 62
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Reminiszenz, aufs Lateinische – und auch das nur halbherzig, denn in der Entscheidung zwischen dem kleinen Glück und der großen Pflichterfüllung läßt der Mentor Doktor Überbein dem Zögling gegenüber Strenge walten, »und sogar auf lateinisch« (303), ohne dass der Erzähler diese Figurenrede – sie hieße: non datur – im Original mitteilte: »wird nicht gegeben, sagte Doktor Überbein auf lateinisch.« (275) Als der Dichter Axel Martini mit Klaus Heinrich zusammentrifft, so wird vermerkt, er habe die »von Sachverständigen viel gerühmten Poesiebücher« verfaßt, zwei an der Zahl, deren eines den Titel »Evoë« trage – worin sich nichts Anderes verbirgt als der bakchische Jubelruf εὐοῖ. Die Spoelmanns hingegen, wenngleich ausgestattet mit zahllosen kostbaren Antiquitäten Europas, sind durch die völlige Abwesenheit klassischer Rede charakterisiert. Im Hochstaplerroman erscheint das Griechische nur occasionell und quasi malgré Krull, allerdings zweimal und sogar in bevorzugter Weise. Der Titelheld, der hervorragend das Französische beherrscht und zu seinem Vorteil allenthalben anzuwenden weiß, hält sich selbst auf diese Fähigkeit einiges zugute. Das animiert ihn zu einem Vergleich mit der einzig vergleichbaren, der Sprache der Hellenen, die, wie die Franzosen ihre, »ihr Idiom für die einzig mögliche Ausdrucksweise, alles andere aber für ein barbarisches Gebelfer und Gequäk mögen gehalten haben, – eine Meinung, der die übrige Welt […] sich anschloß«64 Ein eindrucksvoller Wissensbeweis bleibt hingegen dem Paten Felix Krulls vorbehalten, dem Maler Schimmelpreester, der neben dem gebräuchlichen, aber lateinischen Namen Phidias den griechischen Pheidias kennt (283). Daß Krull den Namen Felix trägt, prädestiniert ihn für seinen glücksbegünstigten Weg; daß seine Schwester Olympia qua Olympias heißt, hat ihn hingegen dem Griechischen nicht nähergebracht. Er weiß nicht einmal, wie er im Bettgespräch seiner Liebhaberin Diane Philibert gestehen muß, wer Hermes sei, obwohl er vor geraumer Zeit durch Schmuckdiebstahl an eben dieser Dame ahnungslos ein Schutzbefohlener eben jenes Gottes wurde: ein Dieb (444, 448). Dem gegenüber wirkt es zwar anspruchsvoll, aber nicht stimmig im Sinne der Figurenlogik, dass der brave Hermesignorant Terenz zitieren kann: »mit jenem Lateiner sagen, daß ich nichts Menschliches mir fremd erachte.« (374)65 Glaubwürdiger scheint da der portugiesische König, dem Felix auf seinen phantastischen Wegen auch noch zugeführt wird, und der, ob seiner Maler-Kunstfertigkeit gelobt, anspruchsvoll abwehrt: 64 Zitiert wird aus: Der Erwählte. Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, Frankfurt a. M. 1960, 1974 (Gesammelte Werke in 13 Bänden, Bd. 7), hier 388. – Seitenangaben im fortlaufenden Text beziehen sich auf diese Ausgabe. 65 Geht zurück auf Terenz, Heauton timoroumenos 77: homo sum, humani nil a me alienum puto.
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Einem König glaube man nur Dilettantismus, es stelle sich »immer gleich der Gedanke an Nero und seine Qualis artifex-Ambitionen ein.« (609) Ganz gemäß der Verfaßtheit der Titelfigur erscheinen auch Banalitäten wie »Jünger des Äskulap« (302) oder »Morpheus’ Arme« (549). Im Erwählten beanspruchen die klassischen Sprachen eine themenbedingte Sonderstellung. Das Lateinische ist ohnegleichen. Der junge Grigorß, Kind der Sünde und gleichwohl zum Oberhaupt der römischen Kirche ausersehen, ist im Lateinischen, wie natürlich, schon mit elf Jahren ein »firmer grammaticus« (88). Das Griechische fällt dagegen völlig ab, wie schon der Abt Gregor, dem der Knabe sein Wissen verdankt, erkennen läßt: Die Sprache der Hellenen ist ihm der Inbegriff des Unverständlichen (111).66 Das kommt der Verabschiedung aus dem Roman gleich, kaum daß es benannt worden ist. Doch selbst das Lateinische bleibt nicht ohne Makel. Der irische Benediktiner Clemens, der Erzähler, ist zwar »der wohlgeprüften Ansicht, daß die Religion Jesu und die Pflege antiker Studien Hand in Hand gehen müssen in Bekämpfung der Roheit.« Doch er weiß auch, daß selbst der römische Klerus »von der Weisheit des Altertums oft allzuwenig berührt ist, und unter dessen Mitgliedern bisweilen ein wahrhaft beklagenswertes Latein geschrieben wird« (11). Dessen Qualität werde allerdings durch das unbeholfene Geschreibe deutscher Mönche noch unterboten, wofür ein Beispiel des bekannten Musters habeo tibi aliquid dicere angeführt wird – das sich, wie zur standesgemäßen Distanzierung vermerkt wird, »allerdings ein Augustiner« (11) geleistet habe. Ungeachtet der gelobten kultivierenden Kraft antiker Studien, rühmt freilich der Benediktinermönch Clemens seinen Meister samt dessen Schwester Scholastica dafür, daß sie »den letzten Tempel des leiernden Apoll zerstörten« (47)– der doch der Gott der sinnvollen Ordnung, der Besonnenheit, des Maßes, der Einsicht, der Reinheit ist.67 Neben den Manchi, die zu erkennen natürlich dem überlegenen Geist des Benediktiners zukommt, gibt es Dokumente antikischer Bildung. Die hohe römische Delegation, die den Ausgesetzten von seinem Felsen einzuholen hat, ist auf sprachlicher Höhe. »Kepha«, murmelt der KardinalPresbyter Liberius auf Aramäisch, um gleich darauf hinzuzufügen: »Petra« (222), in welchem Falle es zwar unklar bliebe, ob das lateinische oder das griechische Wort gemeint sei, wäre dies nicht zwei Seiten zuvor in der 66 Zu den von seinem Zögling begeistert beschriebenen Reiterkünsten kann der überforderte Klostermann nur bekennen, »ebensogut könnte ich Griechisch vernehmen.« 67 Vgl. W. F. Otto, Die Götter Griechenlands, 8. Aufl., Frankfurt a. M. 1987, 78– 115.
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deklinierten Form »ad petram« (220) klar gemacht worden. Um die wundersame Lebensrettung des felsgebundenen Gregor zu erklären, weiß der benediktinische Erzähler die magna parens der »Alten« anzuführen. Was sollte er da im Sinn haben, wenn nicht die Apostrophe Vergils in den Georgica, 2,173 f.: salve magna parens frugum, Saturnia tellus, magna virum! Die magna parens ist eben eine alma parens, bringt also aus sich, hier: aus dem Felsen, den Sud hervor, der den Verdammten siebzehn Jahre lang am Leben erhält – wozu denn auch die gleich darauf dargebotene Etymologie paßt: homo, humanus: humus als nährender Muttergrund (191 f.).68 Der Begleiter des Liberius, Sextus Amicius Probus, ist ein Spätberufener und dabei hochdekorierter Sproß einer alten römischen Adelsfamilie, der den Palast der Väter allmählich verfallen läßt, weil er in »Verfall, Zerrüttung und Hinsinken« die Gottgewolltheit des Niedergangs »des sehr Großen unter der Wucht seiner eigenen Größe« (198) erkennt – ganz so wie es die Schlußgnome der vierten horazischen Römerode, v. 65 f., vis consilii expers mole ruit sua, gültig formuliert. Es kann nicht ausbleiben, daß ein hoher geistlicher Herr und ein hoher römischer Adliger, gleich dem erzählenden Benediktiner Clemens und dem Abt Gregorius, gelegentlich lateinische Worte oder Sätze einflechten, wie fugamus; amice; anima mea laudabit te (227, 220). Gleich wie klerikale Begriffe, etwa sella gestatoria (12),69 sind dies nicht Dokumente klassischen Lateins. Jedoch mögen sie erweisen, daß den repräsentativen Vertretern der hier dominanten Religion sowohl im Urteil über die Sprache wie auch für die Kenntnis der Literatur des klassischen Lateins respektable Leistungen zugeschrieben werden. Die Welt des Griechentums: Der Tod in Venedig Hinsichtlich des Klassischen waren – milieu- oder regionalbedingt – Buddenbrooks, Königliche Hoheit, Der Zauberberg, Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull und Der Erwählte fast ausschließlich aufs Lateinische beschränkt. Der Tod in Venedig (1912) steht dazu in genauem Gegensatz, insofern da ausschließlich griechische Sprache und Literatur, griechische Mythologie, griechische Kunst vorgeführt wird. Die einzige Ausnahme bestätigt diesen Befund, wenn auch in einer etwas fragwürdigen Weise: Nach Cicero, so wird gleich in der zehnten Zeile behauptet, Dazu vgl. Seneca, Phoenissae 222: alma parens. Diese Junktur, hier Bezeichnung des päpstlichen Tragsessels, begegnet schon im kaiserzeitlichen Latein, vgl. Sueton, Nero 26,5. 68 69
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bestehe das Wesen der Beredsamkeit in einem »motus animi continuus«. Wie beruhigend klassisch Gustav von Aschenbach mit solchem Zitat das »Fortschwingen des produzierenden Triebwerkes in seinem Innern« auch bestätigt gefunden haben mag – die Junktur ist nicht ciceronisch, in einem Zusamenhang wie dem zitierten wohl nicht einmal genuin lateinisch.70 Nach dieser etwas mißratenen Annäherung ans Klassische versenkt sich der Dichter aus München ganz in die Welt des Griechentums, deren Aufscheinen allerdings bis zur direkten Überfahrt zum Lido, dem Ziel aller Erwartung, hinausgeschoben wird. Der Mythos befördert eine fatale, bedeutunsgvolle Vorstellung: Der Gondolier, dem er mißtraut, könnte ihn »mit einem Ruderschlage ins Haus des Aides« (526) schicken.71 Glücklich angelangt, bemerkt er, da er in familiärer Gesellschaft des Knaben Tadzio ansichtig wird, daß dieser »vollkommen schön war« und »an griechische Bildwerke aus edelster Zeit«, wie den »Dornauszieher« erinnerte (530). Wissend, daß von den Phäaken, die bei Homer »sehr geliebt von den Göttern« sind,72 die Jungen sich durch Schönheit aus zeichnen,73 nennt Aschenbach in der Gedankenrede den Knaben »kleiner Phäake« – was ihm alsbald die einschlägige Homerreminiszenz eingibt: »Oft veränderten Schmuck und warme Bäder und Ruhe.« (534)74 Von da bedarf es nur noch eines geringen Aufschwungs, um »in unvergleichlichem Liebreiz […] das Haupt des Eros« selbst zu sehen (534 f.). Als ein Gespiele, auch Pole, den Schönen küßt, denkt der eifersüchtige Beobachter, in Versuchung zu drohen: »Dir aber rat’ ich Kritobulus […], geh ein Jahr auf Reisen! Denn soviel brauchst du mindestens Zeit zur Genesung.« (539) Seine eigene Genesungszeit bemesssend, nutzt er da seinen Bildungsfundus und zitiert Xenophons Memorabilien, wo Sokrates dem Kritobulos, Sohn des Kriton, der den schönen Sohn des Alkibiades geküßt hatte, eben diesen Rat 70 Es kann daher nicht überraschen, daß die Junktur, wie die Kommentatoren T. J. Reed und M. Herwig versichern, bei Cicero »vergebens« gesucht worden ist, vgl. Thomas Mann, Frühe Erzählungen 1893–1912 (Große kommentierte Ausgabe 2,2), Frankfurt a. M. 2004, 395 f. – Zitate werden im fortlaufenden Text belegt und stammen aus dieser Ausgabe. 71 Daß die Schreibung Aides aus E. Rohde stamme, wie T. J. Reed vermutet, ist wenig wahrscheinlich, denn in Psyche I, 204 ist das i trematisiert, was aufs Epos wiese. Näher läge hier die Anpassung an attische Graphie, in der ein Schwanken zwischen sub- und adscribiertem Iota in Frage käme. 72 So die Übersetzung von Odyssee 6,203 des vom Autor bevorzugten J. H. Voß. 73 Odyssee 8,116 f. 74 Odyssee 8,249. Die Beschneidung des Zusammenhangs läßt in diesem Voß’schen Verse die Syntax leiden; »veränderten« ist participium perfecti passivi im Akkusativ, was die Vorlieben der Phäaken hier komplettiert.
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gibt.75 Tiefer noch greifen platonische Reminiszenzen. Als er den schönen Knaben in einer reizenden Haltung am Strande sieht, glaubt er, während seine Augen die edle Gestalt umfangen, »mit diesem Blick das Schöne selbst zu begreifen.« (553 f.). Dieser Gedanke dürfte dem platonischen Symposion entstammen, wo Diotima lehrt, daß von der Schau der schönen Knaben-Einzelgestalten aufsteigend, der Schauende gelange zur Schau des Schönen selbst an sich und für sich und einartig ewig seiend.76 Enthusiasmiert, versetzt er unbekümmert in die Eingangsszenerie des Phaidros (230 b 2-c 5) den »zärtlichsten, spöttischsten Gedanken vielleicht, den Sokrates ausgesprochen hat« – im Symposion, »daß der Liebende göttlicher sei als der Geliebte, weil in jenem der Gott sei, nicht aber im anderen.« (555)77 Nun erhebt sich inmitten der Erzählung ein Tag, der »im ganzen seltsam gehoben und mythisch verwandelt« war (557). Es ist der Tag nach Aschenbachs »Abenteuer«, das in der engen, fast streifenden Begegnung mit dem geliebten Knaben und dem kühnen, doch vergeblich bleibenden Versuch besteht, diesem die Hand aufzulegen und ein freundliches Wort zu sagen (392). Diese »Niederlage« im Abenteuer wirkt nach, denn sie nimmt ihm die kontrollierende Übersicht über vergangene und künftige Tage am Lido. »Ums erste Morgengrauen« weckt ihn die Erinnerung an jene enge, mutlos beendete Begegnung. Und der Tag erblüht ihm zu griechenmythischer Pracht. Eos erhebt sich – »jenes erste, süße Erröten« –, sie, die den Kleitos,78 den Kephalos, den Orion ob deren Schönheit raubte, als Göttin vermögend, woran es ihm, dem zagenden Dichter, leidvoll gebrach – wie ergänzt werden darf. Und da steigen des Helios, »des Bruders heilige Renner über den Erdkreis empor.« (559) Der prächtigen Mythisierung dürfte die nicht minder kunstvolle Hexametrierung der dreizehn Zeilen, vom Erheben der Eos an, gerecht werden. Da scheint’s, »die Rosse Poseidons liefen […] daher, Stiere auch wohl, dem Bläulichgelockten79 gehörig.«
75 Xenophon, Apomnemoneumata I, 3, 13. T. J. Reed zitiert im Kommentar die Memorabilien »des Sokrates« von Xenophon, die es natürlich so nicht gibt. 76 Symposion 211 b 1 f.: das Schöne αὐτὸ καθ’αὑτὸ μεθ’ αὑτοῦ μονοειδὲς ἀεὶ ὄν. 77 »Das vorliegende Zitat« (438) nennt es der Kommentator ohne weitere Angabe. Es ist Symposion 180 b 3 f.: θεότερον γὰρ ἐραστὴς παιδικῶν. ἔνθεος γάρ. Die Übersetzung ist die gängige, zum Beispiel die Otto Apelts; die letzten vier Worte sind Zutat Thomas Manns. 78 Im Unterschied zu den jungen Kephalos und Orion, die zur notorischen EosTradition gehören, erscheint Kleitos nur Odyssee 15,249 f. 79 Bei Homer ist Poseidon der κυανοχαίτης, eigentlich der Dunkelmähnige: Interessanter Weise übersetzt J. H. Voß das Wort Ilias 20,144 mit »der Finstergelockte«,
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Und »eine heilig entstellte Welt voll panischen Lebens schloß den Berückten ein.« Hyakinthos gar wähnt der Dichter im ballspielenden Tadzio zu erkennen, ihn, »der sterben mußte, weil zwei Götter ihn liebten«, Apollon und Zephyros – worin der Autor der verbreiteten Version des frühhellenistischen pseudonymen Schriftstellers Palaiphatos80 folgt; will Aschenbach sich Apollon annähern, will er den Knaben in seinen erwarteten Tod mitnehmen? Die Ereignisse dieses Tages erfüllen die Bedingungen einer Peripetie: Sie folgen dem Tage, an dem Aschenbachs erschütterndes »Abenteuer« sich vollzieht, das eine Art Anagnorisis bewirkt hat. Den Auswirkungen des Tages wiederum folgt das fünfte Kapitel, in dem die Cholera-Katastrophe ausbricht. Auch in der Struktur ist so die Erzählung einem griechischen Muster, der Tragödie, angenähert. Wie um seinem allerersten griechisch empfundenen Gedanken des Stückes, dem an das Haus des Aides, genau zu entsprechen, widmet Aschenbach dem Hermes seinen letzten: »Ihm war […], als ob der bleiche und liebliche Psychagog dort draußen ihm lächle, ihm winke.« (592). Innerhalb der Werke Thomas Manns findet das Klassische, hier ausschließlichlich in Gestalt des Griechischen, seine konsequenteste Präsentation im Tod von Venedig wohl deshalb, weil Gustav von Aschenbach im gesamten belletristischen Werk des Autors würdigster Kollege ist. Die restlichen Erzählungen bieten Beispiele, ohne daß diese dem im chef d’oeuvre erreichten Niveau gleichkämen. Beachtenswert ist immerhin Professor Muthesius’ Selbstermunterung zur hoffnungslosen Bauchöffnung an der Krebspatientin Rosalie in der Betrogenen: »Also los, ut aliquid fieri videatur«, was auf frivol-beziehungsreiche Weise auf das pausengelangweilte römische Arenapublikum zurückgehen dürfte, aus dem bei Seneca zu hören ist: Interim iugulentur homines, ne nihil agatur.81 Der Ton im Hause dieser späten Erzählung ist freilich weniger favorabel, denn Rosaliens Sohn, »für die humanistischen Studien wenig veranlagt« (883), kann »dem langweiligen Humanismus« (894) nichts abgewinnen. Der Erzähler im Idyll Herr und Hund (1919) erinnert sich an den obligaten »langen Lethetrunk[e] der Nacht« (531); Lethe will Professor Odyssee 9,536 dagegen, weniger treffend, »der Bläulichgelockte«, für welche Ver sion – wer weiß, weshalb! – der Autor sich entschied. 80 In: Mythographi Graeci III. 2, ed. N. Festa, Leipzig 1902, 67 f. 81 Seneca, Epistulae morales 7,5. – Zitiert wird aus: Erzählungen, Frankfurt a. M. 1960, 1974, hier 949 (Gesammelte Werke in 13 Bänden, Bd. 8). – Seitenangaben im fortlaufenden Text beziehen sich auf diese Ausgabe.
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Cornelius auch in die kleine Seele des Töchterchens strömen sehen (657). Origineller ist es da schon, wenn in der Studie Ein Glück (1903) im Offiziersjargon des Casinos zur Charakterisierung des betreffenden Ortes von »Abdera und Krähwinkel« gesprochen wird.82 Um den weiten Bogen der Graecolatinismen im belletristischen Werk des Autors zu beschreiben und den Unterschied zum Klassischen augenfällig zu illustrieren, sei gegen das Kallimachoszitat im Eingang abschließend ein renaissancelateinisches Wort gestellt: »Gladius Dei super terram […] cito et velociter«, flüstert in einer Galerie der Münchner Theatinerstraße Hieronymus, ein Savonarola des 20. Jahrhunderts, angesichts unzüchtig scheinender Mariendarstellung.83 Fazit: Graecolatinitas als Instrument der Ironie In Summa darf betont werden, daß der antik-klassische Fundus im Werk des Autors signifikant zur Geltung kommt, dabei indes in überaus differenzierter Weise. Grundsätzlich ist dieser Fundus bedingt durch das gehobene Milieu der Figuren beziehungsweise durch berufliche oder persönliche Ausrichtung und Charakterisierung insbesondere der Protagonisten. Die Graecolatinitas ist also durchaus milieugerecht verteilt. Joseph und seine Brüder zwar bleibt, da israelitisch-ägyptischen Inhalts, am Rande, benötigt aber immer noch den Bezug zu Klassisch-Antikem – ob versehentlich oder aus Verlegenheit, sei dahingestellt. Sogar eine regionale Abstufung ist unverkennbar. In den norddeutsch geprägten Stoffen ist die Ausstellung des Griechischen und Lateinischen wohldosiert-zurückhaltend: Im Senatorenmilieu der Buddenbrooks wird der Besitz des aufs Lateinische reduzierten Klassischen, als selbstverständlich vorhanden, gelegentlich nobel dissimuliert, in der Königlichen Hoheit weitgehend hintangehalten, weil die rettenden amerikanischen Millionäre, Vater und Tocher, nicht als zuständig gelten können und der arme Klaus Heinrich mannigfach überfordert ist. In den anderen Werken entfaltet sich das Klassische zu voller Gültigkeit. In sorgfältiger Differenzierung sind die Figuren gezeichnet, so die von Aschenbach, die Zeitgenossen um den Weimarer Geheimrat, Settem82 Frühe Erzählungen, 383. Abdera figuriert neben dem thrakischen Maroneia als Beispiel für öde Provinzialität in der siebzehnten demosthenischen Rede, deren Echtheit umstritten ist. Weiteres in J. T. Reeds Kommentar. 83 Frühe Erzählungen, 242. F. Cordero, Savonarola. I Voce calamitosa 1452- 1494, Roma-Bari 1986, 145, zitiert Savonarolas Text: Ecce, gladius Domini super terram cito et velociter. Zu Dei statt Domini vgl. J. T. Reed.
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brini, Hofrat Behrens, Leverkühn, Zeitblom, der Teufel wohl auch, der Allwissende, und der brave cocu Kuckuck. Das Personal, das deren Niveau nicht gewachsen ist oder sich, wie Naphta, verweigert, hat folglich an der elitären Lust zu den Humaniora nicht teil. Dergestalt ist die Graecolatinitas sowohl in ihrer Ausfaltung wie in ihrer jeweiligen Abwesenheit ein mitkonstitutives Element, da sie der Abrundung der einzelnen Charaktere und Milieus dient. Auf dem humanistischen Gipfel aber thront, wie anders, der Autor selber. Er komponiert den Tod in Venedig nach den von Aristoteles erkannten Gesetzen der griechischen Tragödie, strukturiert den Text gemäß Anagnorisis und Peripetie und übersteigt damit die reine Figurencharakterisierung durch die strukturelle Analogie.
Philomela X, a (his)story of silenced identities André Brink’s The Other Side of Silence By Tatjana Pavlov-West In Andé Brink’s 2002 novel The Other Side of Silence, the narrator informs the reader that although Hanna X, the main protagonist, has no tongue, she nonetheless has an »unbearable urge to speak«, because »[…] someone must know; it may change the future for others«.1 This urge to speak refers in the first instance to Hanna’s desire to bear witness to the atrocities done to the Nama people who have helped her to survive her own traumatic experiences. However, this brief quotation has much wider implications than its immediate historical or narrative context. Rather, it can be plausibly read as a synecdoche for one of the major topics of postcolonial literary studies, that of voice and voicelessness, and the re-claiming of voice via a proxy narrator to those who have been silenced. The topic is not merely important within the political agenda of postcolonial studies,2 but has been central in linguistics,3 art,4 and post-Holocaust studies.5 The prominence that Brink gives to a character who has lost her tongue and searches for other means to speak not only for herself but Brink, The Other Side of Silence, London 2003, 87–88. Bill Ashcroft, Gareth Griffiths and Helen Tiffin (eds.), The Empire writes back: Theory and Practice in Post-Colonial Literatures, London / New York 1989; Gayatri Chakravorty Spivak, A Critique of Postcolonial Reason. Toward a History of the Vanishing Present, Cambridge, Mass., 2003; Sue Kossew, Pen and Power. A Post-Colonial Reading of J. M. Coetzee and Andre Brink, Amsterdam 1996; Patsy J. Daniels, The Voice of the Oppressed in the Language of the Oppressor: A Discussion of Selected Postcolonial Literature from Ireland, Africa, and America, New York 2001. 3 Adam Jaworski, The Power of Silence. Social and Pragmatic Perspective, Newbury Park 1993. 4 Norma Broude and Mary D. Garrard, Reclaiming Female Agency. Feminist Art History after Postmodernism, Berkley / Los Angeles / London 2005; Astrid Guderian-Driesen, Die Stimme in der Kunst, Ebringen 1989. 5 E.g. George Steiner, Language and Silence, Harmondsworth 1969; Shoshana Felman and Dori Laub, Testimony: Crises of Witnessing in Literature, Psychoanaly1 André 2 E.g.
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also on behalf of others, makes voice, voicelessness and the regaining of voice salient elements of his artistic project too. In this article I will focus on a number of aspects which are implied by the issues of voice, voicelessness, and revoicing via the character of Hanna and the mutilation that she undergoes.6 These aspects involve intertextuality, trauma, language and the renewed attainment of voice, or, more problematically, its proxy assumption by another (the vexed issue of ›speaking-for‹, as in Spivak’s famous discussion of the subaltern’s voice)7, and finally that of revenge. My argument in this article is that Brink makes use of intertextuality as a medium to recuperate the silenced voice of the Other. In particular, the intertextual reference to Ovid’s Philomela myth enables Brink to articulate a whole range of preoccupations with voice, its absence and re-appropriation. In a manner that resembles the fate of Philomela, Hanna X’s loss of tongue stands symptomatically for the suffering and silencing caused by patriarchal, and in case of the historical context in Brink’s novel, colonial systems. The replacement of Hanna’s surname with the anonymous X reinforces the fact that (her)story is one of many in a (his)story of silenced voices. In what follows I will look first at the function of intertextuality, in particular at the reference to Ovid’s Philomela myth, out of which I will then go on to develop my argument regarding the potential and perils inherent in literary texts for the recuperation of subaltern voices. I. Intertextuality It is perhaps possible that intertextuality as a concept has been linked from the outset to voice, voicelessness and revoicing. At the moment the term of intertextuality was coined by Julia Kristeva, it emerged out of a theorization of the way oral communication was transferred into written communication. In her early work, Kristeva implements the concept of intertextuality to show how the cries of market sellers, heralds or town criers sis, and History, New York 1992; Geoffrey Hartman, The Longest Shadow: In the Aftermath of the Holocaust, Bloomington 1996. 6 Hanna is multiply vaginally and orally raped, and after she seeks to defend herself, her tongue is cut out. 7 Gayatri Chakravorty Spivak, »Can the Subaltern Speak?«, in: Bill Ashcroft, Gareth Griffiths and Helen Tiffin (eds.), The Post-Colonial Studies Reader, London / New York 2006 [1999], 28–37.
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are taken up in a French medieval novel, La Sales’ Le Petit Jehan de Saintré.8 Intertextuality then, from the moment of its emergence as a critical concept, is interested in recuperating voices from the past as they inform the text’s present. This is precisely the case in Brink’s The Other Side of Silence. The narrator speaks as a historian working with lacunary archival resources on the history of German South-West Africa, out of which he seeks to create individual destinies: »documentary history still has to be reconstructed, reimagined for a grasp of the indentities caught up in it«9. Beyond these imagined archival intertexts on the early masculine colonizers, the specific intertextual references taken up in Brink’s novel focus on women who refuse to accept the passive role of silenced victims. Instead these female protagonists decide to fight against masculine oppression and by the same token seek to regain a voice within history. Thus, the use of intertextuality is crucially effective in recuperating a long history of silenced and regained voices by making connections between the past and the present. Previous readings of The Other Side of Silence have stressed Brink’s intertextual references to Jeanne d’Arc. Sue Kossew,10 for instance, points out that Hanna’s endurance and determination reminds one of Jeanne d’Arc, who has already been an essential inspiration for Brink in previous novels such as On The Contrary11. There she appears as an inner voice to encourage the main protagonist, Estienne Barbier, in his actions. Jeanne d’Arc also clearly presents an important inspiration for Hanna in The Other Side of Silence. As Fräulein Braunschweig, Hanna’s teacher at the orphanage, tells her, Jeanne d’Arc »did what no one had thought possible«12 thus signalling her role as a model of feminine agency. More significantly the narrator in The Other Side of Silence emphasizes the strong link between Hanna and Jeanne by pointing out explicitly that Jeanne’s story is the »book that will mark Hanna for the rest of her life«.13 Jeanne d’Arc is thus mentioned in the novel as an explicit intertextual reference. 8 Julia Kristeva, »The Bounded Text«, in: Desire in Language: A Semiotic Approach to Literature and Art, ed. Leon S. Roudiez, transl. Thomas Gora, Alice Jardine and Leon S. Roudiez, New York 1980, 54–54. 9 André Brink, The Other Side of Silence, London 2003, 153. 10 Sue Kossew, »Giving Voice: Narrating Silence, History and Memory« in Andre Brink’s The Other Side of Silence and Before I Forget«, Tydskrif Vir Letterkunde 42:1 (2005), 135. 11 André Brink, On the Contrary, London 1993. 12 Brink, The Other Side of Silence, 66. 13 Ibid., 64.
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However, whereas Jeanne d’Arc is explicitly mentioned in the text, Hanna’s other more shadowy intertextual alter ego, Ovid’s Philomela, may be in fact more closely related to Brink’s tongueless protagonist. The lost tongue plays a crucial part in Brink’s novel in terms of voice, voicelessness, and revoicing. For this reason, I claim that a much stronger, albeit hidden, intertextual reference for the creation of Hanna’s character can be found in the Philomela figure in Ovid’s Metamorphoses.14 Brink’s deployment of intertextual »non-marking«15, that is, invisible or implicit intertextuality, in his recourse to the Philomela myth, is a deliberate strategy that performatively embodies the absence of the tongue at the heart of the Philomela narrative. The »non-marking« of the intertextual reference to Ovid is linked to Brink’s desire to create a form of writing that expresses »the tension between the spoken and unspoken, the sayable and the unsayable«.16 Even more significantly, the »non-marking« of the reference to the tongueless Philomela highlights the impossibility of directly articulating trauma. Instead, the text depicts another form of communication, that of the woven tapestry, which proliferates around the loss of speech. This alternative form of communication cannot ultimately eradicate the void at the core – the unrepresentable trauma remains unrepresentable – but Ovid’s tale suggests that the absence at its heart can be delineated in different ways. A brief look at the Philomela myth illustrates that the issues of voice, voicelessness, and the regaining of voice are closely linked to the main elements of the narrative: rape, the cut-out tongue, alternative forms of communication, and revenge. In the Philomela-myth Ovid recounts how Procne, after a few years of married life with Tereus, asks her husband to fetch her sister Philomela from Athens. Tereus obtains the king’s permission to escort Philomela to Thrace, but on the way home he takes her to a forest, rapes her and, in order to prevent her from denouncing him, cuts out her tongue. Philomela refuses to accept the role of a silenced victim. Instead she weaves her experience into a tapestry, thus demonstrating a possibility of protest or articulation via a traditionally feminine form of art, which somehow seems Metamorphoses, transl. Mary M. Innes, Harmondworth 1955, 401–674. Helbig, Intertextualität und Markierung: Untersuchungen zur Systematik und Funktion der Signalisierung von Intertextualität, Heidelberg 1996, 87–91, 155– 161. 16 André Brink, »Interrogating Silence: New Possibilities faced by South African Literature«, in: Derek Attridge and Rosemary Jolly (eds.), Writing South Africa: Literature, Apartheid, and Democracy, 1970 – 1995, Cambridge 1998, 14. 14 Ovid, 15 Jörg
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to elude masculine discourse.17 However, once Procne receives her sister’s message, the two of them plan to avenge the atrocities by using the masculine mode of physical violence. The short summary of the myth makes clear that the main elements of the story – rape, the cut-out tongue, alternative forms of communication and the desire for revenge – are »revoiced« in Brink’s novel without explicitly mentioning the reference to Ovid’s Philomela. In what follows, I shall address these issues which circle around Brink’s intention to express in literature »the tension between the sayable and unsayable«.18
II. Rape and the loss of voice According to Elissa Marder the Philomela-myth »[i]nvites a feminist reading not only because it recounts the story of a woman’s rape, but also because it establishes a relationship between the experience of violation and access to language«.19 In particular the traumatic experience of rape and the excision of the tongue, which not only metaphorically but also literally cuts off access to language, is closely connected to the major issues around the topic of voice, voicelessness and revoicing. Both in Ovid’s myth and in Brink’s novel, rape can be regarded as a double phenomenon. Philomela and Hanna have not only been silenced in a metaphorical way but also literally by having their tongues cut out as a punishment for not quietly accepting the passive role of a victim. A double trauma has been experienced: Philomela and Hanna have been raped in two ways. First, literally and then, metonymically, in the subsequent act of cutting out their tongues, signalling the rape of speech. Furthermore, the excision of the tongue can be regarded as a symptom of a generalized language structure, namely of the silencing of women, whereby it becomes the literal expression of a metaphorical elision. In her analysis of the Philomela-myth, Marder emphasizes this very complex link between the sexual rape and the »rape of speech« that is evinced with the amputation of the tongue:
17 Rozsika Parker, The Subversive Stitch: Embroidery and the Making of the Feminine, London 1984, 11. 18 Brink, »Interrogating Silence«, 14. 19 Elissa Marder, »Disarticulated Voices: Feminism and Philomela«, Hypatia 7:2 (Spring 1992), 157.
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The severed tongue does not merely function as a narrative consequence of the rape, but rather becomes a figurative representation of it. The act of cutting off the tongue reads that rape and gives it a figurative meaning. The rape itself does not become either fully figured or fully meaningful until it is repeated by the mutilation that ostensibly functions to cover it up. […] The text appears to stage two »rapes«: one »literal« and the other »symbolic«.20
Whereas the first, »literal« rape that Marder mentions takes place in the form of the intrusion into the female genitalia, the »symbolic« rape repeats the first one in the form of a brutal intrusion into the mouth. If the tongue itself, in this case, might possibly be regarded as a metonymy of the phallus in the Lacanian sense then the act of cutting it out implies the confiscation of the access to masculine discourse. To that extent, this dramatization or portrayal of rape may tell us something about the effect rape itself has upon language and the possibility of narrating the rape. In The Body in Pain Elaine Scarry talks about the invisible quality of pain that cannot be expressed through language since it is a one-sided experience. The traumatic experience destroys language because it »bring[s] about an immediate reversion to a state anterior to language, to the sounds and cries a human being makes before language is learned«.21 The multiple levels of rape as repetition which somehow retroactively gesture towards this prior loss of language can be exemplified in Hanna’s dilemma, when she is given shelter by the Nama people after the rape and the bodily mutilations by the German officers. The Namas first try to communicate with her in the few scraps of German that they have learnt from the colonizers but Hanna realizes that this form of language is not adequate to articulate what she wants to say: »How can she converse with them? It is not just the loss of her tongue which forces her into silence, but knowing that there is nothing in the language she has brought with her which could conceivably say what she would so urgently wish to articulate«.22 The inaccessibility of one’s traumatic past and particularly the failure and inaptness of language to reconstruct history, in this case Hanna’s story, is ostended and concretized by the image of the cut-out tongue. This instantiation of the unrepresentability of trauma is an even more acute version of the same dilemma.
20 Ibid.,
158. Scarry, The Body in Pain: The Making and Unmaking of the World, New York 1985, 4. 22 Brink, The Other Side of Silence, 56. 21 Elaine
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III. Trauma and the failure of language The insufficiency of language to represent trauma is already visible in the Philomela narrative. Ovid does not describe the rape of Philomela explicitly. Instead, he imagines the rape as a hunting scene: »[Philomela] was quivering with fear, like some timid lamb which has been mauled and cast aside by a grey wolf, and cannot yet believe in its safety: or like a dove, its feathers matted with its own blood, still trembling and afraid of the greedy talons which held it fast«.23 Ovid makes use of euphemistic similes to gesture towards the rape of Philomela without mentioning any thing concrete. The accumulation of similes in the temporal structure of the sentence mirrors the successive displacements of the traumatic event. Far from expressing the event, each simile renders it more opaque by removing it even further from the zone of immediate knowledge. As Cathy Caruth explains »[t]rauma is experienced too unexpectedly to be fully known«24 at the moment of its occurrence. The traumatic event causes a rupture in the victim’s »experience of time, self, and world«25, which leads to a »belatedness«26 of the memories of the event, which is made evident in Ovid’s text. This »belatedness« of trauma emphasizes the fact that traumatic events do not fit into the structure of time. In the Philomela myth this »belatedness« is further marked by a gap in the text, a frozen moment, which then, at some later point, is released into consciousness in the form of a shattered flashback, »as an interruption—as something with a disrupting force or impact«.27 This frozen moment appears in Ovid’s text immediately after the rape scene. The text reads: »When [Philomela] came to herself again, she tore her disordered hair, clawed at her arms and beat them against her breast«.28 The use of »when« signals a gap within the narrative. The regaining of consciousness points back to a prior unconsciousness which cannot be said, but whose border is marked by the »when«, only after which some sort of gestural language seems to come back into play. The description of Philomela’s bodily language makes clear that the horrific experience of trauma has shattered the ability to express the event verbally. Later in the myth, when Philomela’s sister Procne receives her sister’s traumatic ›story‹ in form of a tapestry she is also renMetamorphoses, transl. Mary M. Innes, Harmondsworth 1955, 148. Caruth, Unclaimed Experience: Trauma, Narrative, and History, Baltimore 1996, 4. 25 Ibid. 26 Ibid., 92. 27 Ibid., 115. 28 Ovid, Metamorphoses, 149. 23 Ovid,
24 Cathy
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dered speechless: »She uttered not a word: it was incredible how she restrained herself, but her grief was too great for speech, and she sought for words, she could find none […]«.29 Although Procne does not experience the trauma depicted on the tapestry first hand, she becomes a witness of the unspeakable atrocity done to her sister by her own husband which traumatizes her in turn and destroys her capacity to express her experience verbally. In their contribution to Caruth’s essay collection on Trauma: Explorations in Memory Bessel van der Kolk and Onno van der Hart explain that »[w]hen people are exposed to trauma […] they experience ›speechless terror‹. The experience cannot be organized on a linguistic level«.30 This is exactly what happens to both Philomela and Procne when they experience trauma: the experience is too overwhelming at the moment of its occurrence and cannot be organized linguistically – they are left speechless. In The Other Side of Silence the narrator describes Hanna’s lost and shattered memory of the overwhelming traumatic incident on the train to Frauenstein as »a black hole in her mind which she doesn’t care to visit«.31 Again, it is made clear that at the moment trauma occurs, the experience can neither be recognized nor verbalised as such: it leaves a »black hole«, »a gap«, in the victim’s mind. This anticipates the physical wounds left by the subsequent excision of Hanna’s tongue and genitalia by the German soldiers, the latter bodily organ described as »now gaping and absent«.32 Only afterwards will this already fragmented and altered memory of the incident re-emerge in form of sudden flashbacks or nightmares: »[…] she knows nightmares. She knows screaming. One does not need a tongue for that«.33 The fragmented and uncertain memories of the traumatic events are reflected in both Ovid’s and Brink’s texts in form of narrative and linguistic disorientations and ruptures. The first part of Brink’s novel in particular is configured in a fragmented form which mirrors the delayed shattered memory of the traumatic events which cannot be articulated in a coherent linear narrative. Instead, the text alternates between the past and the present and between South West Africa and Germany without any clear indication of the changes in time or place. 29 Ibid.,
150. A Van der Kolk and Onno Van der Hart, »The Intrusive Past: The Flexibility of Memory and the Engraving of Trauma«, in: Cathy Caruth (ed.), Trauma: Explorations in Memory, Baltimore 1995, 172. 31 Brink, The Other Side of Silence, 43. 32 Ibid., 149. 33 Ibid., 21. 30 Bessel
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The necessity of encompassing trauma within language, despite the patent impossibility of doing so, is emphatically stressed in both Ovid and Brink. Philomela regains her voice and confronts her perpetrator directly: »If I have the chance, I shall come forward before your people, and tell my story. […]«.34 Similarly, Hanna has an »unbearable urge to speak«, because »[…] someone must know; it may change the future for others«.35 As mentioned above, Hanna, in this context, wants to »speak« on behalf of the Nama people. She does not intend to »speak« about her own traumatic experience: »The train journey – no, not that; that must be excluded from memory«.36 The impossibility of speech or depiction persists however in both texts alongside the moral imperative to witness. At first glance it might seem that Ovid’s stress on verbal testimony is to be regarded as a metaphor of agency. However, the »if« at the beginning of the sentence already questions the possibility of articulating the preceding trauma. In Brink’s novel the inadequacy of language to represent trauma comes to the foreground in Hanna’s several unsuccessful attempts to bear witness to her experiences. As a child in Bremen, for instance, when Hanna still possesses a tongue, she tries to speak up against the injustices done to her. Similarly to Philomela she confronts her perpetrator, Pastor Ulrich, directly about the sexual abuse: » ›I won’t be touched today,‹ she says«37 but the refusal does not change her situation. She, then, tries to receive help from Frau Agathe, »Pastor Ulrich does sinful things to me when we are alone«,38 but instead of gaining the desired support Hanna is not taken seriously and is even punished for speaking up. Later, as a young woman at Frauenstein in South West Africa, after the mutilation of her tongue, Hanna learns that the German soldiers killed the Namas who saved her life. »Driven by the need to tell her story«39 Hanna wants Frau Knesebeck, the housekeeper of Frauenstein, to bear witness to the injustice done to the Namas »but there is no way she can communicate in grunts and moans and wails […]«.40 Consequently, she decides to write down her testimony: »She has to tell Frau Knesebeck about her stay with the Namas. The ghastly mistake by the soldiers cannot go uncorrected«41 but Hanna soon 34 Ovid,
Metamorphoses, 149. The Other Side of Silence, 87–88. 87. 69. 72. 88. 87.
35 Brink, 36 Ibid., 37 Ibid., 38 Ibid., 39 Ibid., 40 Ibid., 41 Ibid.
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has to realize that her words will neither be heard nor read. Similarly to Frau Agathe, Frau Knesebeck is not willing to listen to what Hanna has to say. As a result, Hanna gives up using a language that cannot be trusted. »The truth cannot be told«42, as the narrator tells us, because it seems that any truth contrary to the requirements of the dominant narrative is a truth condemned to silence. The dominant masculine discourse appears to be inadequate to articulate trauma. In the historical context of Brink’s novel, which is set soon after the turn of the last century and deals with the German colonization of South West Africa (today’s Namibia), the German language, in particular, has become an instrument of terror and control and is incapable of articulating trauma. In Language and Silence George Steiner points out that the German language in post-Holocaust writing seems to be »saturated with lies or atrocity«.43 He expresses his concerns about the nature and power of language in Western culture and society. Looking at the complex and vulnerable structure of language he comes to the following conclusion: »Where [language] is damaged it is not easy to repair«.44 This idea is articulated in The Other Side of Silence when the narrator mentions that »words have their own past and their own dark geography with them«.45 The insufficiency of language to articulate trauma is highlighted in both Ovid’s and Brink’s text. Furthermore, both narratives insist on their characters’ »urge to bear witness« even without a tongue. However, if there is no tongue to speak, and both verbal and written language fail to bear witness to the traumatic experience of the Namas and Hanna’s own traumatic experiences, what then are the alternative forms of communication offered in the texts to articulate the experience of having been silenced? And who is willing to and capable of reading these alternative forms of communication? Brink offers two possible responses to these questions which are again mirrored in the intertextual reference to Ovid’s Philomela myth. The first one is what Dominick LaCapra calls »acting out«46, the repetitive compulsion of violence, expressed here in the desire for revenge. The other one is a positive response which involves the attempt to »work through«47 42 Ibid.,
90. Steiner, Language and Silence, Harmondsworth 1969, 146. 44 Ibid., 12. 45 Brink, The Other Side of Silence, 56. 46 Dominick LaCapra, Writing History, Writing Trauma, Baltimore 2001, 21. 47 Ibid, 148. 43 George
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trauma via alternative forms of communication. This could either be in the form of a visual language that seems to exceed the restraints of masculine discourse or in the form of the proxy assumption of another voice which tries to speak for the subaltern within that masculine discourse. IV. Regaining a voice – »acting out« and »working through« trauma As we have seen, Philomela and Hanna’s first attempts to regain a voice fail: when Philomela threatens to tell her story she loses her tongue and Hanna, with and without a tongue, cannot find anyone who is willing to listen or read what she wishes to say. Thus, alternative forms of communication are necessary in order to at least gesture towards the unspeakable content of the traumatic experiences. There are several different ways in which both Ovid and Brink try to regain a voice for their silenced protagonists. These different ways – revenge, visual language and the proxy assumption of another voice – can be linked to LaCapra’s trauma theory. Drawing upon Freud’s psychoanalytic concepts of »acting out« and »working through«, LaCapra explains that »working through« is a process in which the subject attempts to gain a critical distance towards the past event. »Working through« implies an attempt to move from the state of melancholia, often manifest as a compulsive repetition (»acting out«), to a form of mourning, which in contrast involves finding a way to live with the experiences by »transforming the understanding of them«48 (»working through«). »Working through« is never complete but nonetheless enables the victim to distinguish between the traumatic experience that overwhelmed him / her in the past and his / her life in the present. These two concepts, »working through« and »acting out«, should not be considered independently from each other. »Acting out« is always a necessary part of the »working through« process. In what follows, I will explain how the concept of »acting out« is reflected in the desire for revenge in both Ovid and Brink’s texts and how the »working through« process is displayed, on the one hand, by the attempt to find other visual means of communication that appear to go beyond masculine discourse, and on the other hand, by the problematic attempt to give voice to the silenced victims via a proxy male narrator.
48 Ibid.
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1. »Acting out« – vengeance When Procne receives her sister’s tapestry »[t]here was no time for tears. Instead, she concentrated on schemes for revenge«.49 Instead of »working through« their traumas, the two sisters »act them out« by taking revenge. Procne kills her own son and Philomela helps her sister to mutilate the little boy and to turn him into a dish for his father. When Tereus learns the truth he wants to kill both Procne and Philomela but for the first time in the narrative, supernatural intervention prevents them from dying and all three of them are turned into birds: Drawing his sword, he was rushing in pursuit of Pandion’s daughters, when it almost seemed that the girls’ bodies were hovering in the air, raised up on wings: in fact, they were hovering on wings. One of them flew off to the woods, the other flew under the eaves of the roof: traces of the murder were still visible on her breast, her feathers were crimson with blood. The king […] was also turned into a bird. He had a crest of feathers on his head and, in place of his long sword, wore a huge jutting beak.50
In this translation it is not explicitly clear whether it is Philomela or Procne whose feathers are marked with the stains of murder. Although Procne killed her son, Philomela joined in the bloody massacre so that both of them are stained with blood that symbolizes their guilt. Both of them will be haunted by their traumatic memories for the rest of their lives. The bloodstains on the feathers are now the only indicators of a truth that cannot be told otherwise. Tereus’ transformation into a bird is quite striking, too. His sword, a metonymy of the penis, is turned into yet another metonymy of the penis – »a huge jutting beak«. However, this jutting beak cannot speak either – it only points metaphorically to the previous story about the power AND disempowerment of masculine discourse. In her essay on Alice Walker’s reworking of the Philomela myth in The Color Purple, Martha J. Cutter wonders whether the choice of vengeance means that »if women find other methods of communicating, these alternatives lead only to more violence and even deeper silence«.51 This is certainly the case if the alternative method is revenge. The metamorphoses into birds illustrate how vengeance leads them into »even deeper silence« and instead of »working through« their traumas, they seem to be caught in the »acting out« phase. Metamorphoses, 150. 152–153. 51 Martha Cutter, »Philomela Speaks: Alice Walker’s Revisioning of Rape Archetypes in The Color Purple«, MELUS 25:3 / 4 (Autumn-Winter, 2000), 162. 49 Ovid, 50 Ibid.,
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In The Other Side of Silence, after Hanna’s unsuccessful attempts to bear witness to the traumatic incidents in verbal and written form, she continues to »act out« and remains in the phase of repetitive compulsion. Following the example of her mythological counterpart, Hanna also decides to take revenge. This decision is made after killing the officer who has tried to rape her friend Katja. For the very first time, Hanna then dares to look at her naked mutilated body in a mirror, confronting herself with »[h]er face. Her body. The whole of her physical truth, everything that has been inscribed on her«.52 This »self-reflection« is couched in linguistic terms that express here the disarticulated non-narrative typical of trauma. The initial verbless, part-sentences are followed directly by a deceptive notation of wholeness (her body is patently marked by lack), only to be immediately somatized. This syntax embodies, literally, a belated quasi-memory of the traumatic experience, which eventually triggers a compulsive desire (in the sense of repetition compulsion) for more retribution. At first sight, the act of vengeance might seem cathartic, to the extent that it gives vent to the feelings of frustration and outrage commonly shared with regard to the violator. Hanna does not only avenge the atrocities done to her but she also attempts to avenge all the tortures and humiliations inflicted on other women and on the indigenous people: »There has been too much suffering already. There comes a time when one has got to say No. Someone has to stop it. And the world must know about it, they must learn what has been done to us, they must know our names«.53 More than just a personal revenge, her desire for revenge appears to be a necessary revolt against masculine brutality in general. However, the act of vengeance is extremely problematic in the sense that it may be seen as part of a masculine discourse itself. During her compaign for vengeance Hanna even forms an »army«54 (another association with masculine discourse) consisting of a few indigenous people and a couple of German women, who all want to avenge the atrocities done to them. Miraculously, they manage to kill a large number of German soldiers. However, the act of vengeance does not bring any relief, change or the desired acknowledgment. It merely represents yet another horrifying experience added to the already existing one. As Judith Herman emphasizes: The Other Side of Silence, 148. 200. 54 Ibid., 269. 52 Brink, 53 Ibid.,
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Though the traumatized person imagines that revenge will bring relief, repetitive revenge fantasies actually increase her torment. […] revenge can never change or compensate for the harm that was done. People who actually commit acts of revenge […] do not succeed in getting rid of their post-traumatic symptoms; rather, they seem to suffer the most severe and intractable disturbances.55
Most of Hanna’s ›army members‹ are indeed disturbed by the ongoing violence which is not only inflicted on them by others, but now, also »acted out« by themselves. The description given by the narrator portrays, in somatic form, these »intractable disturbances«: [Hanna’s] army, her sad menagerie. Katja, the gazelle girl, her early sprightliness beginning to fade. Gisela, a pale beaked stork, withdrawing more and more into herself. The toothless Kamma, a shrivelled little baboon, mumbling over her herbs […]. Koo, the owl-woman, whose eyes are ever on the distance where she imagines the bones of her lost son. Kahapa the lonely elephant bull. Himba the wounded buffalo. And herself, the morose marabou.56
The comparison with animals reminds one once again of Ovid’s Metamorphoses where the rape scene is described in form of a euphemistic hunting scene and where Philomela, Procne and Tereus are transformed into helpless birds after the sisters’ brutal revenge. It becomes evident that vengeance does not facilitate the working-through of traumatic experiences. The trauma victims merely continue to act out and further traumatic symptoms are added to the already existing ones. As in the Philomela myth, revenge in The Other Side of Silence is thus also wreaked but then, in contrast to Ovid, significantly, questioned and eventually revoked. Hanna’s friend Katja constantly questions the act of vengeance as a method for coming to terms with one’s traumatic past: »You want to take revenge on the man who did that to you, I know. I understand. I understand that. […] Once you’ve taken your revenge, what then? Will it be over? Will you have made peace with yourself?«.57 Katja obviously wonders whether vengeance will only lead to a vicious circle of continuing violence. She becomes increasingly desperate about the atrocities committed, asking, » ›How can we go on like this?‹ […] a hint of despair in her voice«.58 It is at this point that the narrator also expresses Hanna’s own doubts about the choice of vengeance: It is not the violence as such that intimidates her, nor the pain it inflicts. It is rather the denial inherent to it: the threat it poses to whatever strange, secret Lewis Herman, Trauma and Recovery, New York 1992, 189. The Other Side of Silence, 269. 57 Ibid., 199. 58 Ibid., 269. 55 Judith
56 Brink,
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thing may be she would like to think of as ›human‹. The horror perpetrated by that man – those men – on the train: yes, of course it cries out to be avenged. In the name of being human. But if she sets out to avenge that, is there anything in herself which is not placed in jeopardy? Is it possible to destroy another without destroying at least something in oneself? Can blood be redeemed by blood alone?59
This is an important question. The last remark refers to the eye-for-aneye concept found in the Bible. The narrator has Hanna realize that this concept is indeed a vicious circle that threatens her own sense of humanity. The act of vengeance contradicts the attempt to speak in a language that goes beyond masculine discourse. Furthermore, it works against the »working-through« process of traumatic experiences and does not help to bear witness to the atrocities done to them. Brink’s solution to this paradox is to have Hanna eventually give up the desire for revenge: »No. No, she will not kill him. It is no longer necessary. It is not worth it. Killing him cannot undo the world that has made him possible. […] All she needs is to make sure the world will take note«.60 It is no coincidence that in this second part of the novel, with the exception of a few isolated flashbacks, the narrative fabric is more coherent and the sequence linear: in the wake of the gradual shift towards »working through«, via a transit through »acting out«, a diegetic structure susceptible of enabling »the world [to] take note« is at least partially restored. The question is, How will the world take note? Neither verbal nor written language are adequate to communicate her story and the act of vengeance is obviously yet another expression of masculine violence, incapable of bearing witness. What alternative means of communication does the text envisage? 2. »Working through« – the visual language of the body »[Philomela] was closely guarded to prevent her escape […], her dumb lips could not reveal what had happened«.61 However, Philomela finds a means of communicating her story to her sister and starts weaving a tapestry. This visual form of communication, which has been traditionally regarded as a feminine craft,62 seems to exceed the restraints of masculine discourse and enables the sisters to create a common language that reinforces their empowerment. 59 Ibid.,
196. 306. 61 Ovid, Metamorphoses, 150. 62 Parker, The Subversive Stitch, 11. 60 Ibid.,
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Mieke Bal notes that the traumatic experience of rape cannot be expressed in verbal language because »rape is by definition imagined; it can exist only as experience and as memory, as image translated into signs, never adequately ›objectifiable‹ «.63 In a similar manner, Elaine Scarry stresses that »the communication of pain lies in the imagination«.64 This is exactly how Philomela expresses her traumatic memory in the myth: she communicates her pain – her traumatic experience – by weaving signs on a tapestry: »Cunningly, she set up her threads on a barbarian loom, and wove a scarlet design on a white ground, which pictured the wrong she had suffered«.65 Ovid’s Latin text states that Philomela weaves purple signs in threads on a white background: Purpureasque notas filis intexuit albis.66 The Latin word notas has been translated in the English rendition above as »a scarlet design«. In Latin though, notas can mean both signs and words which makes it difficult to know what exactly has been depicted on the tapestry. However, although these woven signs are not »adequately objectifiable«, Philomela’s sister Procne is capable of reading them. Hanna does not choose weaving as an alternative form of communication. She nonetheless uses a visual language to communicate with others. With the young German girl Katja whom Hanna meets at Frauenstein, she communicates via her bodily expressions and the Deaf Sign Language she once learned during a job back in Bremen. What is essential in this context is that the two of them soon start to transform this Deaf Sign Language into a more personal bodily language that also appears to go to a certain extent beyond the rules of the Symbolic. The narrator describes their communication as follows: »Sometimes […] they talk with their hands, a language that becomes more nuanced by the day. If they need to talk at all: for long periods they simply sit together, looking at each other or not, allowing their thoughts to come and go in a silent osmosis«.67 The body appears to be Hanna’s major medium for communicating in »a language made beyond the seas […] merging with it, body to body«.68 This is a language that builds positively upon the way that trauma itself writes on the body, for instance in the fact that Hanna’s rescuers, the 63 Bal quoted in: Sabine Sielke, Reading Rape: The Rhetoric of Sexual Violence in American Literature and Culture, 1790–1990. Princeton 2002, 4. 64 Ibid. 65 Ovid, Metamorphoses, 155. 66 Ovid, Les Métamorphoses / Metamorphoseon, ed. / transl. Georges Lafaye (Collection universités de France), Paris 1967, vol. 1 (Books 1–4), Liber VI, 21, 577. 67 Brink, The Other Side of Silence, 163. 68 Ibid.
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Namas, »have been marked too. Their bodies carry the imprint of their histories«.69 Out of this marking or imprinting a new positive language emerges. »Trauma,« as Caruth asserts, »seems to be much more than a pathology or the simple illness of a wounded psyche: it is always the story of a wound that cries out, that addresses us in the attempt to tell us of a reality or truth that is not otherwise available«.70 As Scarry suggests, »[b]y stripping away the invisibility of pain«,71 the wound »cries out«, in Caruth’s eloquent formulation, quietly but no less effectively, so that the victims of torture may be able to share their stories. Moreover, the wound may also address, and even affect an audience that has not shared such an experience in an attempt to gesture towards a »truth that is not otherwise available« and can only be imagined because »[…] someone must know; it may change the future for others«.72 When Hanna eventually finds her perpetrator she once again strips away »the invisibility of pain« and lets her naked wounded body speak mutely for itself. However, before exposing her own body to Hauptmann Böhlke, she forces him to take off his clothes. Then she »gazes openly at his penis, a mangled, blackened little stub of a thing. It looks, she thinks, like the remains of her tongue«.73 What is on view here is the residue of a causal sequence of violence: Hanna has bitten the penis that has been forced into her mouth, and has consequently been punished by having her tongue cut out. Significantly, the description of the penis repeats verbatim an earlier passage from the text: »There is no tongue. Only a small black stub«.74 This reiteration of the same turn of phrase, referring to different organs at different moments within the sequence of violence, can be understood as sketching a rudimentary narrative progression that corresponds approximately to LaCapra’s transition from »acting out« to »working through«. Hanna wonders: »Can this be all? Is this miserable little appendix all it has been about?«75 Physically and psychologically, this little »black stub« is responsible for some of Hanna’s most serious wounds, both physical and psychological. Yet, seeing her perpetrator now in such a disempowered position enables Hanna to regain some strength and finally move from the stage of »acting out« to that of »working through«. 69 Ibid.,
45. Unclaimed Experience, 4. 71 Scarry, The Body in Pain, 162. 72 Brink, The Other Side of Silence, 88. 73 Ibid., 303. 74 Ibid., 9. 75 Ibid., 303. 70 Caruth,
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According to LaCapra »working through« involves articulating an experience which, strictly speaking, cannot be articulated.76 Hanna does so by taking off her clothes so that the wounded body speaks mutely: »He must see it all. The ravages he has wrought, the horror he has visited on her«.77 Displaying her »physical truth«78 to her perpetrator is predicated upon her realization of the concomitant »physical truth« of her perpetrator, the recognition of the insignificance of the »little stub«.79 This articulation of one organ upon another, in something that resembles a syntactic sequence, provides the basis of her project of »mak[ing] sure the world will take note«,80 that is, articulating her trauma to a broader audience. This undertaking is carried out in the selfsame language of bodily exposure: Hanna forces Hauptmann Böhlke to expose his bare body to the public, and she follows him, now dressed but her wounded face revealed. The question is whether the »world will take note« of her traumatic experience by exposing Hauptmann Böhlke’s »powerless« naked body and her mutilated face? The final lines of the novel give neither an answer to this question nor information as to what will happen to Hanna after this scene. The text merely states: »And if she smiles, if what she shows can be interpreted as a smile, it is because, at last, Hanna X has reached the other side«.81 The end of (her)story is left open and remains opaque, as implied by the double if-clause. In the absence of closure, it depends now on the »imagination« (Scarry’s formulation) of the reader to bear witness to the traumatic wounds done to the characters in the novel who symptomatically stand for the silencing and suffering of patriarchal and colonial systems. Trauma cannot be articulated – it can only be imagined. Furthermore, one might wonder whether the exposed »little stub« of Hauptmann Böhlke may also stand for the male narrator’s pen(is), thus pointing to his failure to articulate the trauma of others. As I have suggested above, the visual language of the body can at least gesture towards an unspeakable truth that cannot be expressed otherwise. However, this alternative visual language is constantly mediated via a male narrator. This is an essential and very problematic issue in the novel which raises the question of whether it is at all possible to regain a voice for a silenced victim via a proxy male narrator. LaCapra, Writing History, 21. The Other Side of Silence, 305. 78 Ibid., 148. 79 Ibid., 303. 80 Ibid., 306. 81 Ibid., 307. 76 See
77 Brink,
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3. Regaining a voice via the proxy narrator? Both Philomela’s and Hanna’s traumas, the experience of their bodies, remain inaccessible, especially for the male narrators who, paradoxically, can only imagine what has happened, by assimilating the unassimilable into their narrative discourse. What looks at first glance like the appropriative gesture of presumptuous masculine discourse may transpire to be indicative of the very nature of trauma itself. The same paradox lies within the problematic representation of trauma, as expressed by Vincent Crapanzano: The experience of the body is that which cannot doubt. The body, that bodily experience signified by the »body«, becomes the symbol of the […] incontestable, that which, paradoxically, is outside the symbolic, outside language, because it resists splitting into symbol and symbolized …Yet, we can speak of the body, its experience, its divisions, its history, and, in speaking of the body, bodily experience is alienated from itself. It becomes an object of discourse: the spoken body.82
This is exactly what Philomela and Hanna experience: their bodies become the symbol of their »incontestable«, unspeakable traumatic experience. Their rape and bodily mutilation is an un-mediated experience and cannot be expressed in verbal language because it is »outside the symbolic«. Yet, the narrator tries to mediate the experience of the body via language so that the body becomes the object of discourse. When Hanna looks at her wounded body in the mirror the narrator describes the scene as such: »Here, in front of the mirror, it is time for her at last to look. Nothing can be avoided any longer. Her face. Her body. The whole of her physical truth, everything that has been inscribed on her to tell her where she has been, who she is«.83 The confrontation with »her physical truth« triggers the flashback to her traumatic memory, »everything that has been inscribed on her«.84 The passive form neatly deflects the question of who or what exactly has inscribed her body, and whose inscribing language it is. On the one hand, the »inscriptions« on her body, for instance »the scars where her nipples used to be«85, certainly refer to the abuses that Hanna experienced in the past by her male perpetrators. On the other hand, these inscriptions may also relate to the narrator’s own discourse, which appears to somehow be able to identify, if not access, that other 82 Vincent Crapanzano, Imaginative Horizons: An Essay in Literary-Philosophical Anthropology, Chicago 2004, 73. 83 Brink, The Other Side of Silence, 148. 84 Ibid. 85 Ibid., 149.
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brutal inscription it reports. To this end, the text uses Free Indirect Discourse »whose purposes«, as Fludernik points out, »prominently include automatic gear shifting between narration and character’s minds, usually in the interests of empathy and narratorial inconspicuousness«.86 Whether »empathy« is the right word to describe this masculine intrusion into the trauma of another is a moot point. Is not »narratorial inconspicuousness« another form of insidious penetration of a feminine subjectivity? Hanna’s experiences, as we have seen, are all mediated via the assumptions of a male narrator and this seems to be the major problem of the novel. A fundamental dilemma recognized by the narrator-cum-historian is the paucity of »documented accounts« which demand to be »reconstructed, reimagined«87. However, Brink’s narrator expresses his awareness of a further dilemma when he starts wondering why men – including himself – have this urge »to leave [their] mark on a woman’s body […] to scar and leave [their] mark. And only her body available for their inscription«.88 On the one hand, this quote could be associated with the »little stub«,89 Hauptmann Böhlke’s (pen)is that violates and »inscribes« the female body. On the other hand, the »stub« in this context is a metonymy of the narrator’s pen as it persistently, but unsuccessfully, tries to write about a woman’s bodily experience. The male author’s attempt to write about a woman’s traumatic experience of rape may, in turn, be regarded as a discursive rape. Kossew remarks that »in drawing attention to his own narrational practices, he [the narrator] attempts to escape the accusation that his retelling of Hanna X’s story could be just another ›master narrative‹ «.90 Showing his awareness of this problem and his intention »to release untold stories as part of a healing process«91 makes Brink appear morally noble but may, nonetheless, not be entirely sufficient to release him from this accusation. These thorny issues notwithstanding, the ethical imperative to bear witness in order to »change the future for others«,92 nonetheless persists and insists upon being addressed. According to LaCapra trauma must be given some kind of voice, and this can only be done if the memory of that 86 Monika Fludernik, The Fictions of Language and the Language of Fiction, London / New York 1993, 73. 87 Brink, The Other Side of Silence, 153. 88 Ibid., 148–149. 89 Ibid., 303. 90 Kossew, »Giving Voice«, 139. 91 Ibid., 139. 92 Brink, The Other Side of Silence, 88.
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experience is shared with an empathetic audience.93 But who is the right witness to do that proxy sharing? Whether or not it is legitimate for a male narrator to mediate this experience, to speak on behalf of the female or the colonized Other in order to reach such an audience is at the core of an ongoing debate among trauma theorists. Spivak, for instance, points out that the attempt to retrieve lost voices from historical archives and restoring them to history is a complicated issue. The mute Other always runs the risk of being spoken for. »In the context of colonial production«, she says, »the subaltern has no history and cannot speak, the subaltern as female is even more deeply in shadow«.94 Brink cannot speak for the Other without running the risk of replicating the patriarchal and colonial structures against which he seeks to bear witness. However, his novel manages to thematize the failure of the proxy narrator in the attempt to represent trauma, and the intrusive and possibly abusive narrative strategies which result from this – and this is the only thing of which »the world can take note«.95 Thus, what Brink manages to express in his novel is the idea that »[l]iterature becomes a witness, and perhaps the only witness, to the crisis within history which precisely cannot be articulated«.96 V. Conclusion The failure of language is thematized and problematized throughout the novel and, in particular, the cut-out tongue is used as an appropriate image to stress the insufficiency of language to express trauma. In recalling the Philomela myth Brink draws the reader’s attention to the wounded body as it appears to the other characters in the text. The wounded body plays with the imagination of the witness (outside and inside the novel) in the way that it supplements the fragmented, muted accounts of oppression by suggesting a bodily index of the truth. Brink challenges the absences and silences within the representation of trauma by the »non-marking« of the reference to Ovid’s Philomela myth and by placing the wounded body, and especially the wounded tongue-less mouth, at the centre of the text. Ovid’s mythic narrative about a woman’s traumatic experience of extreme LaCapra, Writing History, 47; 215. Chakravorty Spivak, »Can the Subaltern Speak?«, in: Ashcroft, Griffiths, Tiffin (eds.), The Post-Colonial Studies Reader, London / New York 2006 [1999], 32. 95 Brink, The Other Side of Silence, 306. 96 Shoshana Felman and Dori Laub, Testimony: Crises of Witnessing in Literature, Psychoanalysis, and History, New York 1992, xviii. 93 See
94 Gayatri
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violation and her ultimate decision to speak about this atrocity even without a tongue offers Brink a starting point to explore the oppression of silenced people in patriarchal and colonial systems and to investigate, no matter how problematic this might be in the context of masculine narration, how one might subvert these traditional power systems by using other means of communication that seem to go, to a certain extent, beyond masculine discourse.
BUCHBESPRECHUNGEN Cecile Sandten, Shakespeare’s Globe, Global Shakespeares: Transcultural Adaptations of Shakespeare in Postcolonial Literatures, Trier: WVT, 2015. 184 S. Es scheint fast, als hätte Shakespeare mit dem Namen einer seiner ersten Spielstätten, des zwischenzeitlich wieder aufgebauten Globe Theatre am Südufer der Themse, seine Bedeutung vorwegnehmen wollen. Diese, die sich tatsächlich erst seit seiner Neubewertung durch die Romantiker im frühen 19. Jahrhundert ergeben hat, wird in der traditionellen Kritik meist durch liberal-humanistische Wertungen wie der der vermeintlichen Universalität von Shakespeares Themen oder gar seinem persönlichen Genie erklärt. Für die Bewertung des Einflusses von Shakespeares Werken auf die Literaturen und Kulturen der englischsprachigen Welt außerhalb Großbritanniens und Nordamerikas erzeugt dies natürlich die Probleme des Kolonialismus’ und Kulturimperialismus’. Ausnahmsweise einmal nicht am deutschen Wesen, sondern an dem von Shakespeare soll hier also die Welt genesen. Sandtens Sammelband ist natürlich nicht der erste kritische Text, der sich der Herausforderung stellt, diese Sichtweise zu revidieren. Sie selbst nennt u. a. Daniel Fischlins Projekt zu kanadischen Shakespeare-Adaptionen, Chantal Zabus’ Arbeiten zu internationalen Versionen von Shakespeares Der Sturm und Craig Dionnes und Parmita Kapadias Aufsatzsammlung zu transkulturellen Shakespeare-Dramenadaptionen als Vorläufer ihrer eigenen Studie (1). Tatsächlich müht sich ein beachtlicher Teil der sogenannten postkolonialen Studien gerade mit der Emanzipation von den Modellen und Texten der kolonialen Zentren ab, die im Falle Großbritanniens tatsächlich in London und im Bereich seiner Literatur bei Klassikern wie Shakespeare zu suchen sind. Dabei ergibt sich leicht ein neues Paradox: wenn Texte sich von »Meistertexten« und ihren Autoren abzusetzen versuchen, generieren sie natürlich den machtvollen Status letzterer mit – anstatt ihn zu untergraben. Sandtens weit gefächerter Band umgeht dieses Problem nicht, sondern versucht es, ganz im Sinne der im Titel bereits genannten Transkulturalität proaktiv aufzunehmen. Bereits ihre Einleitung betont, dass es ihr nicht
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einfach um Fälle des postkolonialen »writing back« (nämlich gerade zum Zentrum) geht (1), sondern um transkulturelle Adaptionen. Der Begriff der Transkulturalität hat in den letzten Jahren den älteren der Interkulturalität ersetzt, der zu stark binäre Verhältnisse implizierte und eine vermeintliche Stabilität von Kulturen voraussetzte, zwischen denen sich dann etwas abspielte. Transkulturalität behauptet nun, im Kontrast hierzu, dass Kulturen sich immer bereits in diesem Dazwischen befinden, das in der Tat für sie konstitutiv ist. Sandtens Band erweitert diese Perspektiven, wie auch die der benannten exemplarischen Vorläuferstudien, indem sie sich weder auf Adaptionen innerhalb eines nationalen oder kulturellen Kontexts beschränkt noch auf ein spezifisches Werk Shakespeares und auch nicht auf eine bestimmte Gattung. Tatsächlich fungiert Gattung aber als Hauptstrukturprinzip ihrer Studie, wenn sie zuerst (und noch am traditionellsten) Prosaadaptionen von Shakespearedramen, ihren Motiven und Figuren betrachtet. Im Anschluss daran folgen Kapitel zu Adaptionen in der Dichtung und zum Schluss solche, die Dramen in neue und andere Dramen überführen. Dies ermöglicht es Sandtens Studie weitgreifend zu verfahren, ohne Form und Kohärenz zu verlieren. Auch kann sie so sehr bekannten Autoren und Texte (etwa die George Lammings, Romesh Gunesekeras, Robertson Davies’, Salman Rushdies, Margaret Atwoods, Edward Kamau Brathwaites, David Dabydeens und Sujata Bhatts) mit (noch) weniger bekannten (Shanta Acharya, Ann-Marie MacDonald, Djanet Sears und Dev Virahsawmy) mischen, um ein buntes, aber auch methodisch-theoretisch herausforderndes Bild zu erhalten. An diesem fällt natürlich auf, dass es so unterschiedliche koloniale Positionen wie die des indischen Subkontinents und der Karibik mit denen Kanadas, aber auch des Sudans und Mauritius’, kontrastiert. Auch der Geschlechterperspektive fällt nicht nur durch die starke Präsenz von Autorinnen eine dominante Rolle zu. Vier der elf Kapitel tragen Feminismus bereits in ihren Titeln. Aber auch Gattungsfragen (die es etwa Rushdie erlauben, in »Yorick« aus Shakespeares Hamlet eine »Cock-and-Bull Story«, also ein Lügenmärchen zu machen) und selbst solche der Sprache (wie in Virahsawmys Der Sturm-Adaption in mauritischem Kreolisch oder bereits bei Brathwaites Gedichten) werden behandelt. Dabei nimmt Sandtens Analysesammlung nicht für sich in Anspruch, die einzig korrekte oder auch nur aktuellste Position zu den behandelten Adaptionen im Kontext der postkolonialen und transkulturellen Studien einzunehmen. Auch etablierte Strategien wie die des bereits genannten ›writing back‹ werden verwendet (hier in der Analyse von Lammings Roman Water with Berries) oder ganz traditionelle der Identitätsfindung (etwa im Kapitel zu Gunesekeras Reef, das »Finding One’s Own Voice«
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im Untertitel trägt). Manchmal führt dies dazu, dass Analysen etwas zu brav den etablierten Konzepten der postkolonialen Studien folgen, und die behandelten Texte dann einfach Paradigmen wie Dekolonisierung und Hybridität abzuarbeiten scheinen – wie in den Analysen von Salihs sudanesischem Othello oder Gunesekeras postkolonialem Bildungsroman Reef. Ähnliches gilt für die feministischen Neufassungen von Shakespeares Werken und Figuren, etwa in Atwoods Kurzgeschichte »Gertrude Talks Back«, in der sich Hamlets Mutter anachronistisch als emanzipierte moderne Frau äußern darf. Ein ganz ähnliches »talking back« (111) geschieht auch in Bhatts Gedicht »Ophelia in Defence of the Queen«. Interessant wird es besonders dann, wenn intersektionale Problemstellungen in den analysierten Texten zur Darstellung gelangen, etwa schwarze Identitäten im kanadischen Kontext in Sears’ Harlem Duet. Hier traut sich die Analyse erneut wieder etwas zu wenig zu und reduziert Komplexität, wenn sie zum Beispiel postuliert »Billie [eine zentrale Figur im Stück] is not able to liberate herself from her black racial memory« (151). Positiv gewendet heißt dieses eher vorsichtige Vorgehen aber auch, dass Studierende und Forschende an den Themen Shakespeare, Adaption, Postkoloniale Studien und Transkulturalität in Sandtens Studie immer wieder vertraute Theorien und Methoden begegnen, an die bei Bedarf durchaus kritisch angeknüpft werden kann. Mit Hilfe dieser systematisiert Sandten vier Hauptzugänge zu Shakespeares Werk, die sie »reverence or affirmation rewrite, the writing-back rewrite, the individual rewrite and the mutilation rewrite« (168) nennt. Das Nachvollziehen solcher Systematisierungen erleichtert auch die durchweg systematische Analyse innerhalb der Einzelkapitel und der sehr zugängliche und immer lesbare Stil. Lobend sei auch der für eine nützliche und stimulierende akademische Publikation günstige Preis des Bandes erwähnt. Rainer Emig, Mainz Hans-Peter Wagner, A Survey of British Literature – Part I: Renaissance to Romanticism. Coursebook for Students, Vol. 1, Trier: WVT, 2016. 128 S. Hans-Peter Wagner, A Survey of British Literature – Part I: Renaissance to Romanticism. Lecturers’ Manual, Vol. 1, Trier: WVT, 2016. 94 S. Wie der Verfasser des vorliegenden zweibändigen Survey-Kurses in seinem Vorwort festhält, hat die Umstellung der überwiegenden Zahl der Studiengänge an deutschen Universitäten auf Bachelor- und Masterab-
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schlüsse zu einschneidenden Veränderungen in den Studienprogrammen der Anglistik geführt. Insbesondere in den Lehramtsstudiengängen sind vielerorts fachwissenschaftliche Inhalte zugunsten fachdidaktischer und erziehungswissenschaftlicher Gegenstände preisgegeben worden und selbst in den Fachstudiengängen führt die zunehmende Ausdifferenzierung der anglistischen Erkenntnisfelder zu Problemen der Priorisierung von Inhalten und deren angemessenen Darstellung im Studienverlauf. Insgesamt sieht sich der Lehrende wie Lernende einer Situation gegenüber, in der die strukturellen wie auch inhaltlichen Veränderungen in den anglistischen Studiengängen das Fach mehr als je zuvor fordern, sich seiner Grundlagen und seiner Vermittlungsaufgabe fortwährend neu zu vergewissern. Insbesondere die Literaturwissenschaft muss sich im Spannungsfeld zwischen verknappten Zeitressourcen in den Studiengängen und den sich ständig weiter ausdifferenzierenden Erkenntnisgegenständen fragen, was sie tatsächlich vermitteln kann und will. Nicht wenige Englische Seminare reagieren auf die neue Situation mit dem Angebot von Überblicksvorlesungen oder -seminaren zur englischen Literatur. Sie leisten damit die notwendige Komprimierung des Stoffes und bedienen das Bedürfnis nach Kontexten und Zusammenhängen, das immer wieder von Studierenden geäußert wird. Die jetzt vorgelegte, zweibändige Publikation A Survey of British Literature beschäftigt sich mit der englischen Literatur von ungefähr 1500 bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. In Form eines Coursebooks for Students und einem Lecturers’ Manual bietet sich ein Korsett für einen solchen Survey-Kurs, wobei die beiden Bücher vielfältiges Material für Vorlesungsoder Seminarsituationen bereithalten. Vor dem Hintergrund der knappen fachwissenschaftlichen Zeitfenster im Bachelorstudium ist der hier skizzierte Rahmen von mindestens zwei Vorlesungsreihen – bislang liegt nur der erste Teil vor – sicherlich ambitioniert. Nichtsdestotrotz muss der Anspruch und der Verve dieses Surveys beeindrucken. Schaut man auf die lange Liste der Autoren, die hier Berücksichtigung finden, wird schnell deutlich, dass nicht nur die üblichen Verdächtigen Eingang finden sollten, sondern gerade auch solche Autoren, die mittlerweile nur noch selten Erwähnung finden. Ist das Autorenspektrum schon eindrucksvoll, erweist sich das vorgelegte Survey auch als gründlich: Jedes Jahrhundert wird entlang der drei Hauptgattungen diskutiert. So kommen nicht nur die wichtigsten Texte einer Periode zur Sprache, sondern es gelingt dem Verfasser, ein Bild zu zeichnen, das unterschiedliche Facetten des literarischen Schaffens einer Epoche darstellt. Neben das Drama der Shakespeare-Zeit stellt er beispielsweise die Prosaliteratur von Philip Sidney und John Lyly. Diese dürfte in
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den frühen Semestern des Anglistikstudiums mittlerweile sonst wohl recht selten geworden sein. Ohnehin gelingt es dem Autor, umfassend zu sein, ohne seine Leser zu ermüden. Jede skizzierte Sitzung beginnt im Coursebook for Students mit einer knappen Einleitung in die literarische Periode, bevor exemplarisch Autoren herausgegriffen werden und ihr Schaffen im allgemeinen Zeitkontext eingeordnet wird. Auf diese Weise wird der Überblickscharakter betont, wobei wichtige Fachtermini beiläufig eingeführt werden und sich in das literaturhistorische Narrativ einfügen. Die Probleme der vorliegenden Bände sind dann schon von eher grundsätzlicher Natur: Bei der Lektüre des Coursebook for Students fällt schnell auf, dass dieses zu der Textgattung gehört, die für Studierende im Lehrbetrieb zuweilen entsteht, sich aber traditionell in publizierter Form kritikanfällig ausnimmt. Tatsächlich gehören Einführungsbücher wie Literaturgeschichten zu der Sorte Text, mit der man es der Zunft wohl nie gänzlich recht machen kann. Auswahl, Fokus und Gliederung erregen fast zwangsläufig Kritik. Ganz abgesehen davon ist auch schon der Darstellungsmodus eine nicht unwesentliche Herausforderung. Im konkreten Fall ist zu beobachten, dass der Verfasser in seinen Ausführungen zwischen Einführendem und Anspruchsvollem oft unvermittelte Registerwechsel vollzieht. Bleiben die biographisch-literarischen Vorstellungen der verschiedenen Autoren meist eher kursorisch, sind literaturwissenschaftliche Einordnungen zuweilen ohne Rückgriff auf weitere erklärende Sekundärliteratur für Studierende kaum zu bewältigen bzw. informativ. Kaum einem Studierenden dürfte im frühen Studiensemester damit geholfen sein, dass er darüber informiert wird, dass Samuel Butler »Hudibrasticverse« schrieb (siehe 28) und als einzige Erklärung wird ihm an die Hand gegeben, dass es sich dabei um »i. e. doggerel« handele. An dieser Stelle wird deutlich, dass sich in dieser Publikation der literaturwissenschaftliche Anspruch und die Berücksichtigung der Vermittlungssituation im steten Widerstreit miteinander befinden. Schaut man auf das in den Bänden enthaltene Material, staunt man einerseits über die Fülle der Erwähnungen, andererseits ist man doch geneigt etwas verwundert den Kopf zu schütteln, dass hier drei Jahrhunderte englische Literatur vor einem liegen und lediglich zwei Autorinnen, Ann Radcliff und Lady Mary Montagu, explizit im Coursebook for Students Erwähnung findet. Selbst wenn das Manual gelegentlich das Spektrum für Autorinnen öffnet (bspw. enthält es eine Handreichung zu Autorinnen des 18. Jahrhunderts), ist gerade vor dem Hintergrund, dass der Autor wiederholt dazu auffordert, die Texte aus einer feministischen Perspektive zu diskutieren, diese Auslassung im Teil für die Studierenden bemerkenswert.
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Mit Blick auf das Lecturers’ Manual stellt sich dann noch eine ganz andere Frage. Ohne Zweifel bietet das knappe Buch einen beachtenswerten Ideenreichtum und regt an, die Diskussion der Texte aus alternierenden Perspektiven vorzunehmen. Darüber hinaus wiederholt das Buch aber auch, was für jeden Anglisten Allgemeinplätze sind. Es wäre schon verheerend anzunehmen, dass an einer universitären Institution Personen Überblicksvorlesungen oder -seminare zur englischen Literatur halten dürfen, die daran erinnert werden müssen, dass John Donne ein »outstanding writer of the so-called Metaphysical School« (21) war. Ohnehin mag die stark autorengetriebene Struktur der beiden Bände nicht jedem eingängig sein. Obwohl der Verfasser sichtbar bemüht ist, den Eindruck einer verstaubten und vor allem ums Bewahren bemühten Philologie zu vermeiden, sind nicht alle vermeintlich zeitgemäßen Handreichungen wirklich nützlich: Wenn der Lehrende beispielsweise den Hinweis bekommt, bei der Diskussion von Shakespeares Sonetten 18 und 130 auch das Geschlechterverhältnis zu diskutieren, ist dies im besten Falle prosaisch. Dass dann aber auch noch darauf hingewiesen wird, dass ein möglicher Ansatz »From a Feminist or Queer (= schwul) angle« (10) wäre, dann ist dies nicht nur in seiner unwillkürlichen Betulichkeit fast komisch, sondern fachlich in seiner Einengung von ›Queer‹ auf ›schwul‹ nicht auf der Höhe der wissenschaftlichen Diskussion. Wo das Coursebook for Students noch ein relativ gangbares Gerüst für die Durchführung eines literaturgeschichtlichen Überblickskurses bietet, bleibt die Funktion des Lecturers’ Manual unklar. Hier sind Vorlesungsund Seminarnotizen zu einer Publikation verdichtet worden. Überblickswissen ist sicherlich per se nichts Schlechtes und ist öfter zur Orientierung notwendig, als mancher Universitätslehrende gerne offen zugeben mag. Allerdings fragt man sich, wie derart kondensierte Information, wie sie dieser Band liefert, tatsächlich hinreichend sein soll. Was leistet das vorliegende Buch im Vergleich zu einem Blick in eine der besseren Literaturgeschichten von Andrew Sanders, Pat Rogers oder Hans Ulrich Seeber? Es mag dem unerfahrenen Lehrenden Ideen und Ansätze mit auf den Weg geben. Aber man fragt sich, ob derart Unerfahrene, die diese Tipps brauchen, wirklich mit einer solchen Veranstaltung betraut werden sollten und wenn, ob es dann nicht gerade einer umfänglicheren Einarbeitung bedürfte, die weit über die skizzenhaften Darstellungen des vorliegenden Büchleins hinausgehen muss. Dem Begleitband in seiner vorliegenden Form mangelt es somit eigentlich vor allem an einem Adressaten. So bleibt ein zwiespältiges Bild zurück. Vielleicht ist der wichtigste Erkenntnisbeitrag der Lektüre, dass das Fach vor der Herausforderung steht, sich seiner selbst und seiner Gegenstände gewiss zu werden. Insbe-
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sondere bedarf es der Diskussion, wie literaturgeschichtliches Kontextwissen noch in den verknappten Strukturen von Bologna im Studium der Anglistik Eingang finden kann. Christoph Ehland, Paderborn Frank Trende (Hg.), Sie rettete die ganze Stadt! Literarische Verwandlungen einer Nordsee-Sage. Heide: Boyens, 2016, 240 S. Alt, gebrechlich und einsam ist die hagere Frau, die ihr Haus anzündet, um die am Meeresstrand feiernden Bürger vor der Springflut zu warnen und so als eine Heldin des Alltags und Retterin der ganzen Stadt in die Welt der norddeutschen Sagen einging. Der Herausgeber Frank Trende sammelte die unterschiedlichen Bearbeitungen der Überlieferung vom »braven Mütterchen« und bietet eine Reihe von Gedichten an (von Franz Alfred Muth, August Kopisch, Julius Sturm, Heinrich Seidel, Katharina Diez) und sogar einen Neuruppiner Bilderbogen (1894), der ausführlich dokumentiert wird und mit den weiteren Abbildungen die seltenen Texte ergänzt; im Nachwort wird ein Hörspiel von Oda Schäfer, »Das flandrische Eisfest« (1936) genannt. Auch wenn die genauen Ursprünge der Geschichte weiterhin ungeklärt bleiben, wurde zuerst Storms Freund, der spätere Kieler Germanist Karl Viktor Müllenhoff (1818–1884), auf den Stoff aufmerksam und nahm den Text in seine Sammlung Sagen, Märchen und Lieder der Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg (1845) auf. Seine recht kurze, pointierte Fassung eröffnet auch den Band und präsentiert die Quintessenz der Handlung, die nach ihm Ludwig Bechstein (1853), Hans-Christian Andersen (1858) und Gustav Frenssen (1935) erweiterten. Frenssen, Schüler der Husumer Gelehrtenschule und berühmt durch seinen Roman Jörn Uhl (1901), lieferte mit Die Witwe von Husum die umfangreichste Bearbeitung, die die Geschichte in den gesellschaftlichen und historischen Gegebenheiten der Zeit verankert. Wie kein anderer zeigt er die Motive und die Folgen, die mit der Heldentat der Witwe zusammenhängen. Eindrucksvoll stellt er sein schriftstellerisches Können damit unter Beweis, bevor er sich der nationalsozialistischen Propaganda verschrieb (vgl. 231). Frank Trendes Anthologie zeigt einmal mehr, dass die Westküste von der Elbe bis zur dänischen Grenze fruchtbares literarisches Terrain und aus der deutschen Kulturlandschaft nicht wegzudenken ist. Zumal die Leser von Lutz Seilers Roman Kruso (2014) könnten in dem Band erfahren, um welche Vorlage es sich handelt, wenn im Kapitel »Auferstehung« ein Fest gefeiert wird. Anna Sawko von Massow, Heidelberg
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Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft. Bd. 65 / 2016. Im Auftrag von Theodor-Storm-Gesellschaft herausgegeben von Malte Denkert, Dieter Lohmeier und Philipp Theisohn. Heide: Boyens, 125 S. Die internationale Storm Gemeinde findet in den seit 1952 erscheinenden Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft ein Publikationsorgan, in dem die aktuellen Forschungsergebnisse und Publikationen zu Theodor Storm der interessierten Öffentlichkeit präsentiert werden. Gerd Eversberg (Münster) befasst sich mit der Edition, der Entstehung und den Quellen zu Storms unvollendeter Sylter Novelle. Durch sorgfältige Recherchen zu dem zehntägigen Aufenthalt Storms auf der Insel im August 1887 ergeben sich sowohl neue Aspekte zum Schreibprozess und zur Topographie des düsteren Textes wie auch neue Quellen, darunter C. P. Hansens Der Badeort Westerland auf Sylt und dessen Bewohner oder K. L. Biernatzkis Sagen von Seeräubern u. a., die Storm inspiriert haben könnten und als Motive und Schauplätze in seinem Fragment auftauchten. In deutlicherem Licht erscheint auch Storms Kollege und Freund Christoph von Tiedemann, dem der Dichter Stoff und Anregung verdankt. – Mit der Novellenform und der Struktur der Gattung beschäftigt sich Erk F. Hansen (Überlingen) am Beispiel von Storms Ein Fest auf Haderslevhuus und belegt, dass Storm sich mit diesem Text von der bisher geltenden Novellendefinition entfernt hatte und sie mit der Struktur einer Tragödie zu versehen versuchte, was möglicherweise der Grund dafür ist, warum dieser Text bis heute weniger Beachtung findet. – Der Hans-MomsenPreisträger, Karl Ernst Laage (Husum), beleuchtet Storms ungewöhnliche Vorgehensweise, das Vorbild für seine Figur Hauke Haien im Schimmelreiter, Hans Momsen, namentlich zu nennen. Auf Hans Momsen stieß Storm 1843 in einem Artikel im Schleswig-Holsteinischen Gnomon und benutzte diese Vorlage für seinen Text, was handschriftliche Notizen zu der Novelle belegen. – Dieter Lohmeier (Kiel) analysiert die Auswahl der Gedichte, Szenen und epischen Texte im Almanach Eidora (1823)-1826), den der Zollverwalter Hans Gerdthausen (1776–1845) herausgab. Neben hochdeutschen kamen auch dänische Texte zum Abdruck und zeigen zunächst eine Welt ohne erkennbare politische Spannungen; erst ab 1840, so führt Lohmeier seine literarhistorische Untersuchung weiter, kamen mit den Texten Storms und Groths die politischen Töne, die ihren Beitrag zur Identitätsfindung von Nordfriesland und Schleswig-Holstein leisteten. – Storms Novelle Ein Doppelgänger analysiert Leif Weatherby (New York) und zeigt den Zusammenhang von handelndem Individuum und gesellschaftlichen Druck. Als Modell dienen dazu der soziologische Gesellschaftsentwurf von Storms Freund Ferdinand Tönnies und die kinetische
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Theorie des Physikers James Clerk Maxwell. Dabei erweist sich Storms Text als literarisches Produkt seiner Zeit an der Schwelle zwischen Realismus und Imagination, in dem sich die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse widerspiegeln. – Ein Nachruf erinnert an Clifford Albrecht Bernd (University of California, Davis), der, selbst Enkel einer Auswandererfamilie von Pellworm, von 1967 bis 1974 die dreibändige Briefausgabe Storms erarbeitet hatte und lebenslang den Dialekt seiner Herkunft perfekt beherrschte. Besprechungen und eine Bibliographie der neuesten Publikationen zu Theodor Storm beschließen den Band. Anna Sawko von Massow, Heidelberg
Klaus-Groth-Gesellschaft, Jahrbuch 2016. Herausgegeben im Auftrag der Klaus-Groth Gesellschaft von Heiner Egge und Reinhard Goltz in Verbindung mit Bernd Rachuth. Bd. 58. Heide: Boyens, 175 S. Das seit 1948 erscheinende Jahrbuch ist inzwischen zum angesehenen Forum für platt- bzw. niederdeutsche Literatur und Sprache geworden, nicht nur durch die wissenschaftlichen Beiträge, sondern auch durch lyrische und epische Textbeispiele im Anhang und den Klaus-Groth-Preis, den 2015 Rainer Prüss erhielt – Laudatio und Dankesrede – selbstredend auf Platt! – sind abgedruckt. Die Reihe der Beiträge eröffnet Klaus Schlie (Kiel), der Präsident des Schleswig-Holsteinischen Landtags, und würdigt Groths fortschrittliches, kritisches Denken, indem er seine Hinwendung zu Preußen als den einzig möglichen Weg beschreibt, Schleswig-Holstein auf den Weg der Reformen zu bringen. Der Erfolg der Gedichtsammlung Quickborn (1852 / 1853), so der Kieler Germanist Dieter Lohmeier, verdanke sich der Rezeption beim Scheitern der schleswig-holsteinischen Erhebung, als in Schleswig-Holstein, das vom Deutschen Bund verlassen und von Preußen verraten schien, diese Bekundung des Deutschtums die politische Stimmung sehr genau traf, wiewohl die Texte weniger politisch daher kamen als Groths Dütsche Ehr und dütsche Eer von 1864. Quickborn, in dem das Volksleben vom verklärten Licht des poetischen Realismus geprägt ist, bot Rückzug aus der unruhigen Zeit an. – Auf die Freundschaft Groths mit dem weitaus erfolgreicheren Emanuel Geibel gehen Robert Langhanke und Christian Volkmann (Flensburg) ein. Groth bewunderte Geibels formvollendete Gedichte, aber nicht zuletzt erhoffte er sich von der Freundschaft auch finanziellen Profit, da Geibel als gut vernetzt galt und Zugang zu adeligen Kreisen genoss. Dass Geibel eine wichtige Vorbildfunktion für den niederdeutschen Dichter hatte, bleibt so unbestritten wie die Beobachtung, dass
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die beiden andere Leser bedienten – Geibel das Bürgertum und die Adligen, Groth das heimatverbundene, plattdeutsche Bürgertum, indem seine Gedichte das Authentische und das Regionale hervorheben. – Dem widersprechen auch nicht die zahlreichen verehrenden Widmungsgedichte an Mitglieder verschiedener Fürstenhäuser, so an Friedrich VIII. von Schleswig-Holstein, Kaiser Wilhelm I., Kronprinz und Kronprinzessin Friedrich Wilhelm, die Prinzen Heinrich und Wilhelm (der spätere Kaiser Wilhelm II.), die Klaus Alberts (Kiel) in seinem Beitrag bespricht. Die Texte und ihre begleitenden Zeugnisse lassen die politisch und wirtschaftlich unsichere Situation Groths erkennen und sind ein Mosaikstein des damaligen literarisch-politischen Lebens. – Übersetzungen fördert der Beitrag von Henning Glotz (Oldenburg) zutage, der die italienische Übertragung des Quickborn von 1863 in seinem Beitrag »Niccola Groth – Italienische Übersetzungen« untersucht. An der University of Michigan tauchte ein Programmheft zu einem Konzert des Kölner-Männer-Gesang-Vereins im Jahre 1889 auf, in dem auch eine italienische Version von Groths Keine Sorg’ um den Weg abgedruckt war und die damals überaus lebendige deutschsprachige Kultur in Nordamerika bezeugt. Wie sich politische und private Brüche im Epochenjahr 1866 in Groths Biographie ablösen, schildert Robert Langhanke (Flensburg): Die Verleihung des Professorentitels an den Privatdozenten Dr. Klaus Groth, der Umzug in das Haus am Schwanenweg gehören dazu wie der Tod des fünfjährigen Sohns Detmar und die Geburt des jüngsten Sohnes August. – Nur indirekt geht Barbara Scheuermann (Göttingen) auf Klaus Groth ein, indem sie seine kritischen Äußerungen gegenüber der – sowohl im Hochdeutschen wie im Dithmarscher Platt schreibenden – Lyrikerin Sophie Dethleffs (1809–1864) erwähnt. Aus dem Nachlass des Literaturhistorikers Klaus Goedeke sind die rund 700 Fragebögen erhalten, darunter auch der von Dethleffs, und geben ein originelles Bild davon, wie damals Autorinnen und Autoren sich einschätzten. – Dem plattdeutschen Romanautor Friedrich Ernst Peters ist der narratologische Beitrag von Helge Albrecht (Dannewerk) gewidmet, der sich mit der bis jetzt nicht klar beantworteten Frage der Erzählinstanz in der Baasdörper Krönk befasst. Durch die sorgfältige Analyse des Textes wird eine Erzählinstanz sichtbar, die als strukturierendes Moment (vgl. 114) dient und nach eigener Logik und Ordnung erzählt (vgl. ebd.). Das unzuverlässige Erzählen ist in dem Fall ein textkonstruierendes Element; weil diese Erzählinstanz kontinuierlich beibehalten wird, ist es keine zufällige, sondern beabsichtigte Vorgehensweise, um die Komplexität der Handlung (des Dorflebens) zu verdeutlichen. – Dem 2015 verstorbenen Autor des Plattdeutschen, Wolfgang Sieg (geb. 1936), der vor allem als Satiriker und Hörspielautor bekannt ist, widmet sich in seinem Aufsatz
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Jochen Schütt (Bremen), ehe ein Autorenporträt des Rundfunkredakteurs und Erzählers Gerd Spiekermann und weitere Mitteilungen der Gesellschaft den Band beschließen. Anna Sawko von Massow, Heidelberg Heinrich Detering, Das Meer meiner Kindheit. Thomas Manns Lübecker Dämonen. Heide: Boyens 2016, 252 Seiten [+ Anhang] Mit dem jungen Thomas Mann und dessen kompliziertem und vielschichtigen Verhältnis zu seiner Heimatstadt Lübeck beschäftigt sich Heinrich Detering (Universität Göttingen) in seinem neuesten Werk Das Meer meiner Kindheit. Die Hansestadt bildet ein Leitmotiv im gesamten Œuvre – von den frühen Erzählungen über Essays und Reden bis hin zum 1947 erschienenen Doktor Faustus. Das Verhältnis zwischen Schriftsteller und Vaterstadt bleibt dabei stets ambivalent und ist auf beiden Seiten von »Spannungen zwischen Verklärung und Dämonisierung« (13) geprägt. Viel Kritik aus Lübeck erntete Thomas Mann bereits 1905 für seine 1901 veröffentlichte Darstellung einer leicht als Lübecker Kaufmannsfamilie zu identifizierenden Buddenbrooks: was der Schriftsteller als universellen Gesellschaftsroman und Denkmal zu Ehren der Stadt interpretierte, sahen die Lübecker als »böswilligen Schlüsselroman« (11) an, was den Schriftsteller dazu veranlasste, im Essay »Bilse und ich« grundsätzliche Überlegung zum Verhältnis von Fakten und Fiktion anzustellen. Es folgt ein jahrzehntelanger Ablösungsprozess, der im Exil 1942 seinen Höhepunkt findet, als er die Luftangriffe der Royal Air Force gegen Lübeck und das »Hitlerland« in einer Ansprache an die Deutschen Hörer verteidigt (9). 1955 wird Thomas Mann schließlich Ehrenbürger der Stadt – doch die ›Lübecker Dämonen‹ werden ihn bis zum Lebensende verfolgen. In sieben Kapiteln geht Detering der literarischen Rezeption dieser Dämonen nach, wobei die unterschiedliche Lesart in den Überschriften vorgegeben wird: »Spuk«, »Kampf«, »Geheimnis und Sprechverbot«, »Revolte«, »Skandal«, »Ausbruch und Heimweh«, »Versöhnung«. Flankiert werden die differierenden Sicht- und Wirkweisen Lübecks von anderen Einflüssen: Thomas Manns Begeisterung über Poes Schauergeschichten, seine Lektüre Ibsens, der Gedichte Liliencrons oder seine Anlehnungen an Theodor Storm – detailliert beschreibt Detering den Werdegang des Schriftstellers und dessen – weitreichende – Lübecker Wurzeln. Dabei wird Lübecks Bedeutung für das Gesamtwerk ebenso bedacht wie die Bedeutung für die Film geschichte, beispielsweise für Friedrich Wilhelm Murnaus Nosferatu von 1922 (vgl. 22f.), und für andere AutorInnen, beispielsweise Franziska Gräfin zu Reventlow. Die junge Adelige gehörte dem geheimen Lübecker
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»Ibsenclub« an, zu dessen Mitgliedern die Söhne und Töchter der ersten Familien zählten (vgl. 152ff.). Das Buch versammelt neue und alte Darstellungen Deterings (vgl. 259), die, so wird im Vorwort betont, »eingreifend umgearbeitet und erweitert wurden«; eine am Leitfaden des Lebens und Werkes entwickelte prinzipiell wünschenswerte »thematische Vollständigkeit« (14) sei nicht angestrebt worden. Das klingt nach einer captatio benevolentiae gegenüber detailfreudigen Lesern, denen die eine oder andere Nuance fehlen mag, und in Anbetracht der Fülle von Deterings Forschungsergebnissen nahezu bescheiden. Die Diktion der Aufsätze ist durchgängig wissenschaftlicher Natur und trägt, ergänzt durch zahlreiche Zitate und über 40 Abbildungen, zu einem informativen Leseerlebnis bei. Im Anhang finden sich, neben einem Abbildungsverzeichnis, ein nützliches Personen-und Werkregister sowie ein Siglen- und Literaturverzeichnis. Friederike Tebben, Heidelberg
Wolfgang Braungart, Literatur und Religion in der Moderne. Stu dien. Paderborn: Wilhelm Fink, 2016. 555 S. Wolfgang Braungart (Hg.): Stefan George und die Religion. [Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 147], Berlin / Boston: de Gruyter 2015. XI + 255 S. Das ist (ich beginne mit Braungarts Monographie), seines Umfangs ungeachtet, ein menschenfreundliches Buch; dem Gegenstand und Gestus nach und bis in seine Kategorien hinein. Von Brechts »menschenfreundliche[r] Anthropologie« (158) ist einmal die Rede als einer »Dimension im Werk Brechts, die man vielleicht zu wenig zur Kenntnis nimmt: das Leichte, auch das Gesellige, das dem Leben Zugewandte« (159), und wer, ob er nun wie Braungart Literatur als »Humanwissenschaft« (24) begreift oder nicht, wollte sich davon ausgeschlossen sehen? Braungart entfaltet sein Thema in einer Folge von Einzelstudien von Lessing bis Uwe Kolbe historisch und systematisch: historisch mit der These, dass Säkularisierung keine Nachfolge- oder Ablösegestalt von Religion, sondern in ihrem literarischen Vollzug seit dem 18. Jahrhundert deren »wirkliche Humanisierung« (388) und insofern, als »wirkliches Weltlich-Werden Gottes« (144) im Medium der Literatur, »Realisierung« im emphatischen Sinn D. Sölles sei; systematisch darin, dass sowohl die Berührungsflächen und Konvergenzpunkte zwischen Religion und Literatur, zwischen ästhetischer und religiöser Erfahrung, zwischen der Erfahrung großer Kunst und religiöser Transzendenz, als auch deren Differenzen offengehalten und vermessen
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werden. Denn erst dann, wenn Religion und Literatur in ihrer Alterität als ein füreinander wechselseitiges Anderssein begriffen werden, können auch die Weisen ihres aufeinander Bezogen- oder Verwiesen-Seins beschrieben und das, was vom einen im andern auffindbar oder spiegelbildlich vorhanden ist (– das Sinnliche in der Religion, das Transzendente in der Kunst –), sichtbar gemacht werden. Wenn es nicht täuscht, treten jedoch bei Braungart die Konvergenzen stärker hervor als die Divergenzen, und zwar darum, weil gerade ein ›starker‹ Subjektbegriff – der eines reflexiv und kommunikativ befähigten Subjekts – und ein ›starker‹ Begriff von autonomer Kunst, beide freigelegt in der Entdeckung der Selbstzweckstruktur des Menschen und der Kunst bei K. Ph. Moritz und Kant, Braungart zufolge einer seit Lessing auf den Weg der Humanisierung gebrachten Religion so entgegenarbeiten, wie diese es jenen tut. (Wie können sie das? Dadurch, dass Braungart als einen gemeinsamen Erfahrungsraum von Kunst und Religion den der ›Transzendenz‹ in Anspruch nimmt, der Begegnung mit einem den Menschen Übersteigenden, Entzogenen und doch ihm Zugewandten. Ob das in beiden Fällen dasselbe, das ›ganz Andere‹ der Kunst auch das ganz Andere der Religion ist, wird, soweit ich sehe, nicht gefragt; womit einem starken Subjekt- und Kunstbegriff ein unbestimmter – äquivoker? – Transzendenzbegriff korrespondiert. Ob das Ganze nur darum so funktioniert, wie es hier dargestellt wird? Zumindest gewinnt das Buch einen nicht unerheblichen Teil seiner Überzeugungskraft aus dieser Unbestimmtheitsstelle namens ›Transzendenz‹.) Wenn also, historisch gesprochen, der Rang von ›Aufklärung‹ sich auch daran bemisst, wie sie sich den Erfahrungsgehalten und Sinngestalten von Religion (und Kunst) stellt und sie auszuhalten vermag, sie Religion also zu einem Prüfstein ihrer selbst macht, statt sie als lästiges Relikt aus dem Weg zu räumen, und umgekehrt ein dynamischer Wahrheitskern von Religion in dem liegen mag, was in ihr vielleicht nicht von Anfang an schon ›Humanisierung‹ ist, aber dann als ›Menschwerdung‹ einen ganz eigenen, unerhörten Sinn entfaltet, so erweist auch das ›starke Subjekt‹ als Figuration des »ganzen Menschen« (23) seine Stärke darin, wie es sich zu dem verhält, worauf es keine letzten Antworten gibt, von dem es sich aber gleichwohl angesprochen und betroffen weiß. Dessen exemplarische Gestalt ist aber im Grunde der Interpret literarischer Texte, der Poesiekundige, der mit seinen »Herzensbegabungen« (302) liest, sich mit Kunst und Religion »nach beiden Richtungen hin offen« hält, »hin zum Menschen und hin zur Idee der Transzendenz« (17), und ›lebensweltlich‹ denkt. ›Lebenswelt‹ ist ein gar nicht so versteckter Schlüsselbegriff dieser Studien und ja nicht zu verwechseln mit ›Milieu‹, wie Braungart in einer scharfen Abrechnung mit der katholischen Milieu-Ästhetik (467ff.) verdeutlicht. ›Lebenswelt‹ be-
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zeichnet in dieser Sicht alle Weisen der gemeinschaftlichen Verschwisterung von Menschen mit ihrer Umwelt in Sprache, Praktiken, Ritualen, Vollzügen; ›Milieu‹ hingegen nicht deren schicht- oder gruppenspezifische und zeitbedingte Konkretion, sondern eher eine Praxis der Abspaltung und Isolierung vom ›Lebensweltlichen‹; weshalb die Rede des Psalmisten vom Weiden auf grüner Au lebensweltlich verbürgt und damit ästhetisch legitimiert, die Bastelei von Pappschäfchen als Applikation dieser biblischen Bildhaftigkeit zur Vorbereitung von Kommunionkindern in seiner gutgelaunten Gedankenlosigkeit hingegen trauriges ›Milieu‹ ist (Braungarts Beispiel auf 467ff.). Phänomenal leuchtet diese Grenzziehung ein, begrifflich vielleicht nicht so ganz, denn man könnte sich fragen, ob im ›Milieu‹ nicht die ›Lebenswelt‹ wiederkehrt, die man so nicht haben möchte. (Ist ›Milieu‹ für die in ihm Lebenden denn nicht auch Lebenswelt?) Indes, die ›lebensweltliche‹ Orientierung der Interpretationen Braungarts erklärt, warum in ihnen das Performative, Kommunikative, Appellative, Applikative (– das Applikative nicht ›angewandter‹, sondern gerade großer, autonomer Kunst) als kategorialer Ausdrucks- und Äußerungsformen jener der Literatur (und ihrer Wissenschaft als Humanwissenschaft) eingeborenen oder zugesprochenen ›Menschenfreundlichkeit‹ eine so große Rolle spielt. Dichtung wird »Wirkendes Wort«; fast scheint es manchmal, als hätten gleich drei (oder vier) Autoren an diesem Buch mitgeschrieben: der geschulte Philologe und sensible Hermeneut, der Kulturtheoretiker, und der begeisterte Kunstpädagoge, der nicht nur hellhörig ist (so z. B. 457!), sondern auch hellhörig machen möchte; die Deixis des Pädagogen weist auf die Verknüpfungs- und Vermittlungsleistung der Texte, die jedoch nicht funktional begriffen werden kann (– »Nathan ist eben kein Gottschedianer«, 433 –), vielmehr als Entbergung ihrer semantischen, ästhetischen und kommunikativen Potentiale auch am leicht zu übersehenden Detail vollzogen werden muss. Braungarts Hermeneutik ist daher die einer Ethik des Verstehens, die – etwa an Rilke (vgl. 263ff., besonders 297ff.) oder Trakl (vgl. S. 361ff.) – zeigt, was es heißt, mit einem Text nicht ›fertig‹ zu werden, mit ihm zu Rande und an ein Ende kommen zu wollen, sondern ihn als ›unendliche Aufgabe‹ anzunehmen, und ihr korrespondiert zusammen mit einer Tugendlehre, die solche Haltungen wie ›Aufmerksamkeit‹, ›Geduld‹ und höchste ›Konzentration‹ (vgl. 324–330) einfordert, auch tatsächlich die Fähigkeit, gerade in der Ausdeutung ihrer signalhaft gefassten Bild- und Symbolsprache literarischen Texten immer wieder Einsichten und Perspektiven zuweilen grundsätzlicher Natur abzugewinnen. So an Lessings Ringparabel: Wenn Nathan den Sultan als Antwort auf dessen Frage nach Nathans Verhältnis zu dem jeweils exklusiven Wahrheitsanspruch der drei monotheistischen Religionen mit einem »Ge-
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schichtchen« »abspeist« (– Braungart dazu: »Aber das immerhin: er wird ›gespeist‹. Das Erzählen von Geschichten ist etwas Nahrhaftes, Elementares«, 432), einem »Märchen« gar, wenngleich »gut«, ja »herrlich« erzählt (434), und darin ein Ring mit einem Stein geschildert wird, der in »hundert schönen Farben spielt«, weshalb er, so Braungart, nur darum, »nur als ein schöner Ring«, seine »geheime Kraft entfalten« kann (435), dann legt Braungart damit nahe, dass, wie hier von Lessing vorgeführt werde, die Verwiesenheit von Religion – oder des Diskurses über sie – ineins auf Kunst und kommunikative Geselligkeit, auf eine »prozessuale Hermeneutik, eine Hermeneutik als Vollzug, die nicht, nie durch eine handliche ›Wahrheit‹ wird stillgestellt werden können.« (437) Das aber ist wohl auch der Wahrheitsbegriff des Interpreten (und Geschichtenerzählers) Braungart, weshalb sowohl der Nathan als auch die auf ihn gerichteten Lektüren Braungarts zentrale Referenztexte des Buches bilden, ohne freilich maßstäblich für alles (historisch) Nachfolgende zu sein. Denn die Positionen und Modi der ästhetischen und religiösen Erfahrungen der Moderne sind, wie Braungart zeigt, nicht einfach beliebige Variationen in einer durch Lessing und seine Nachfolger auf unabsehbare Dauer gestellten Prozesshaftigkeit von Kunst und Religion, sondern stellen eigenständige Gestaltbildungen dar bis hin zur ›Augenblicksstruktur‹ religiöser und ästhetischer Erfahrung in den Epiphanien eines Eisvogels bei Uwe Kolbe (vgl. 487ff.). Gleichwohl: Wenn, frei nach Lessing, zu wählen wäre zwischen diesem opus magnum Braungarts (der sich damit keineswegs schon aller Pfeile entledigt hat, vgl. 465: »Das Buch schließt noch einmal mit Thesen, mit denen ich zugleich andeuten möchte, wie ich mir eine Fortführung vorstellen könnte«) und dem von ihm herausgegebenen Sammelband Stefan George und die Religion – der Rezensent wüsste nicht bestimmt, in welchen Arm er fallen würde. Das liegt nicht an den von Braungart auf Seite 18 seines Buches eingestandenen Beschränkungen, wenngleich sämtliche Positionen auf dieser Mängelliste korrekt verbucht sind und man sich manches tatsächlich überschneidungsfreier gewünscht hätte. Es liegt eher daran, dass für den Sammelband nicht mehr die Bindungen eingegangen werden müssen, die andererseits den Gedankenreichtum der Monographie freisetzen; jene Bindung an das Religionsproblem, die Braungart in die Frage kleidet: »Kann ich mich selbst verstehen, ohne die Vorstellung sinnvoller, mich wirklich übersteigender, letztlich unbegreiflicher Alterität, an der ich mich auch in meiner Begrenztheit begreife?« (34, kursiv im Original). Das »Religionsproblem«, so zeigt nun der Sammelband (dort der Terminus im Vorwort von Braungart, VII), kann und darf man als Literaturwissenschaftler auch behandeln, ohne sich über diese Frage den Kopf zerbrechen zu müssen, kühler, knapper, bindungsloser, weniger bekennt-
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nishaft und doch nicht weniger reflektiert, ertragreich, ja glänzend (so, aber nicht nur, in dem abschließenden, temperamentvollen und hier auch durchaus bekenntnisfreudigen Beitrag von Martin Mosebach). Es dominieren die Perspektiven der Religionshistoriker, Religions-, Kultur- und Wissenssoziologen auf die Umbrüche und Umbesetzungen im »religiösen Feld« (Auffarth, 158) um 1900, auf Neomystik, Neopaganismus, Theosophie, politische Religiosität usw., in deren Einflusszonen – und gegen sie abgesetzt – George kontextualisiert wird; ein »Stefan George im Kontext« (Auffarth,157), den Georg Dörr einmal mit den Worten zitiert: Weiß der Teufel, woher das kommt, dass ich vom Christentum außer in seiner heidnischen Form so gar nichts verstehe. Ich bin doch, möcht me spreche [sic], aus einer guten alten katholischen Familie. Wenn ich Plutarch lese, das versteht man doch so ziemlich, da fühlt man sich zu Haus. (53)
Also nicht nur der George eines »ästhetischen Katholizismus«! Gleichviel und gerade darum: Einmal mehr hat Braungart und haben die Autor Innen dieses Bandes nicht allein der George-Forschung wichtige Beiträge auf gleichmäßig hohem Niveau zugeliefert; über die Germanistik hinaus ist er unverzichtbar für alle, die sich mit der Religionsgeschichte des Kaiserreichs und der Weimarer Republik befassen, und in Komposition wie Expertise ein wirklicher Gewinn. Insofern weiß sich der Rezensent dann doch glücklich, beide Bände als »Beweis des Geistes und der Kraft« zu haben: den einen wie den anderen. Thomas Pittrof, Eichstätt Sabine Schmidt, Beyond the Veil: Culture, Religion, Language and Identity in Black British Muslimah Literature [MUSE Mainz University Studies in English 22]. Trier: WVT, 2016, 224 S. Sabine Schmidt endeavours to bring together a multitude of complex discourses in her study. This is not only evident from its title, but also from the chapter headings and the introduction, which prepares us for insights into »Muslim-British history«, »black British literature«, »the Bildungsroman«, the »interrelation between the concepts language, culture, religion and identity«, migration, »intra-, inter- and transcultural understanding and cultural transfer in postcolonial and multicultural societies« and promises an »in-depth analysis« of five literary texts: Monica Ali’s novel Brick Lane, Leila Aboulela’s Minaret and The Translator, Shelina Zahra Janmohamed’s Love in a Headscarf, as well as the Australian novelist Randa Abdel-Fattah’s Does my Head Look Big in This? and Atiha Sen Gupta’s play What Fatima Did (9–10). The first three chapters
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are devoted to the diverse horizons of relevance outlined above: after an introduction, chapter 2 tackles Britain, Islam, literature and postcolonial / global cultural studies, whereas chapter three focuses on identity, language, religion and culture. Chapter 4 contains Schmidt’s readings of the literary texts, and the chapters »Résumé« (chapter 5) and »Outlook« (chapter 6) suggest an essentially synthesizing approach towards what is a rather limited, and yet disparate range of texts – disparate in terms of genre and relevance for the British context investigated. Schmidt justifies the inclusion of an Australian perspective and a play – not very convincingly – as being the logical consequence of »the world […] growing smaller and smaller thanks to technology« and of the replacement of »the idea of the ›Muslims in Britain‹ […] by […] a new ideoscape of being »westernised Muslims« after the advent of Web 2.0« (70). An appendix provides excerpts from the 2011 Census Overview on religion and ethnicity in England, Scotland, Northern Ireland and Wales, but unlike the chapter devoted to literary texts does not include data for Australia. When asked to review Schmidt’s book, I was in the midst of preparing a workshop on gendered projections of migrant identities and interested in the new perspective a study on »Black British Muslimah Literature« might offer, expecting a critical assessment of literary representations of a complex mix of identity-determining social parameters: religion / culture, gender and race. Although initially unsure about the distinctions between culture, language and identity, I was immediately sympathetic to Schmidt’s opening claim that Islam in Britain is »a hybrid Islam« and the »Muslim protagonists described in the texts are part of [that] hybrid Islam« (1). How would representations by black, female Muslim writers fare, where would they situate themselves or be situated in the suggested range of a hybrid Islam and in British literary culture? How would Schmidt outline her – or her authors’ – understanding of »Blackness« and »Britishness«, terms that fare so prominently in the title of her book? Reading on was a disappointing experience in several respects. In the course of the study it does not transpire why it was necessary to label the authors and their works as »Black« – a contested term marked by shifting significations, as debates in British cultural studies have time and again reminded us (e. g. Hall’s ›classic‹ text New Ethnicities).1 The question of how Muslim women writers hailing from England, Sudan or Pakistan position themselves in or towards these debates is not answered. Instead, the book throws up a number of puzzling questions: Why is »Black Brit1 Stuart Hall, »New Ethnicities«, in: Baker, Houston et al. (ed), Black British Cultural Studies: A Reader. Chicago 1996 [1987], 163–172.
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ish Muslimah Literature« a »genre« or »subgenre«, as Schmidt repeatedly suggests (e. g. 32)? Why are »gender and religion more stable factors« than race (33)? What is a »female bildungsroman«, if it has to be distinguished from its »male« counterpart (49)? And why should the labels »Bildungsroman« and »teenage fiction« exclude one another (157)? Just as the use of such terms as »Black« and notions of »genre« remain unclear, the initial claims of a hybrid Islam and that of British national identity as a » ›political invention, [which] allows diversity‹ « (67, Schmidt misquotes Jeremy Paxman here) are undermined by the frequently undifferentiated use of such expressions as »the natives« (e. g. 66), »the British« (e. g. 76) and the »Other« (e. g. 65, 119). That literary characters are said to engage in a »mimicry of the British« or to not have »become purely British« (Razia in Brick Lane, 74), and that they are repeatedly measured in terms of their success regarding the »integration process«(e. g. 58, 101) suggests that Schmidt, after all, presupposes the de facto existence of a rather monodimensional, if not clichéd, white, secular, yet heritage-ridden concept of Britishness. That Shakespeare or Austen’s texts fare prominently as intertexts in the literary texts discussed is mainly read as a sign of proximity to »English / British culture«. The readings of the literary texts are not without merit, and one would have wished that they had been given more space than that of a subchapter respectively. In fact, focusing on the literary texts and providing explorations that include formal aspects such as narration and focalisation (crucial for any investigation of identity discourses) and thus reducing both the largely descriptive passages as well as the generally confusing and often contradictory argument in the remaining chapters would have been highly beneficial for this study. In light of the fact that Schmidt’s book is based on her doctoral thesis, one cannot help but wonder about the supervision process. Schmidt thanks one supervisor for urging her to be pragmatic – perhaps that advise should not have been heeded so literally. In her »Literature Review«, for instance, Schmidt holds that in »literary studies, Muslim British authors are put into the category of ›black British authors‹ « (4), but fails to name examples of such a placement. This entire section (4–5) – normally designed to outline the state of the art in some detail – names but few books, which seem to have been randomly picked because they are somehow about migration and which are tangential for the subject under investigation at best. Such observations as »Nasta’s study Home Truth: Fictions of the South Asian Diaspora in Britain looks at black Asian writing and the concept of home« (5) indeed raise doubts about whether Schmidt has actually had the time to open some of the books she lists.
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In a world which is once more marked by hard divisions and dichotomic thinking, any critical contribution that helps render literature by and about marginalised groups visible is a laudable enterprise and in itself part of what Spivak (whose works would have provided a sound basis for this study, but who, like many others, is only quoted second-hand) calls the work of cultural translation.2 It is, however, also an enterprise that requires a particular degree of precision, differentiation and space – all of which this study sadly lacks. Eva Ulrike Pirker, Düsseldorf Daniela Carpi, Fairy Tales in the Postmodern World: No Tales for Children, Heidelberg: Winter, 2016. 188 S. Thema des vorliegenden Bandes sind zeitgenössische Erzähltexte britischer, amerikanischer und australischer Autorinnen und Autoren, die auf die klassischen Märchen Perraults und der Brüder Grimm (z. B. »Blaubart«, »Schneewittchen«, »Dornröschen«, »Rotkäppchen«, »Hänsel und Gretel«) Bezug nehmen und diese auf ›postmoderne‹ Weise verarbeiten bzw. umdichten. Einzelne Kapitel sind Erzählungen Angela Carters und A. S. Byatts gewidmet; ein anderer Abschnitt handelt von James Finn Garners und David Fishers ›politisch korrekten‹ Märchen-Versionen; weitere Kapitel behandeln auf Märchen und Märchenmotive rekurrierende Romane: Tanith Lee, White as Snow; Sheri Tepper, Beauty, und Kate Morton, The Forgotten Garden. Ein Abschnitt ist dem Motiv der Rechtsprechung in J. K. Rowlings Harry-Potter-Bänden gewidmet, einer der Verwendung von Märchenmotiven in der Werbung. Der Schlussabschnitt schließlich geht kurz auf weitere Texte sowie auf einige signifikante Verfilmungen ein. Wie der Untertitel des Bandes hervorhebt, handelt es sich bei den besprochenen Texten in der Regel nicht um Erzählungen für Kinder. Angesprochen sind vielmehr erwachsene Leserinnen und Leser, die versteckte Bedeutungsschichten zu entschlüsseln vermögen und die Anspielungen auf zeitgenössische Theoriediskurse verstehen. Sie gehören damit sicher zu einer »elitist audience« (15, vgl. 20). Carpi erläutert zahlreiche Beziehungen zwischen den von ihr untersuchten Texten und dem Feminismus (vgl. 14, 19), mittelalterlicher Symbolik (vgl. 81) und antiker Mythologie (vgl. 83), der Ökologie (vgl. 91), Shakespeare (vgl. 104f.), dem altgermanischen
2 Gayatri Chacravorty Spivak, »Translator’s Preface«, in: Donna Landry and Gerald MacLean (eds.), The Spivak Reader, New York 1996 [1995], 267–286.
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Rechtswesen (vgl. 140) und psychoanalytischen Überlegungen zum kollektiven Unbewussten (vgl. 162, 180). Ein besonderes Gewicht erhalten indessen die zahlreichen metafiktionalen Elemente der untersuchten Texte, die durchweg in der einen oder anderen Weise auf die Gattung Märchen, den Erzählvorgang und den Konstruktcharakter der Erzählungen reflektieren. Hierin liegt sicher ein wesentliches »feature of postmodernism« (16). Die den untersuchten Texten gewidmeten Interpretationen sind durchweg bedenkenswert, wenn auch nicht gleichermaßen überzeugend. Das Geschehen in Angela Carters Erzählung »The Bloody Chamber« interpretiert Carpi als »extensive metaphor of creativity and of its constant shift between Eros and Thanatos« (31). Carpi zufolge lässt sich in dieser Erzählung »sexuality« mit »textuality« gleichsetzen; »the girl’s deflowering« wird verstanden als »metaphor for the creative act that is necessarily reminiscent of an ancestral literary past« (39). Dass eine dermaßen selbstbezügliche Erzählung kaum mehr in feministischem Sinn aufklärerisch wirken kann, wird nicht bedacht. Vielmehr macht sich Carpi die Deutung einer anderen Interpretin zu eigen, derzufolge die Erzählerin ›Rache nimmt‹: »Money, freedom, better sex, she will grab everything« (33). Dieser Deutung steht der Text von Carters Erzählung entgegen: Die Erzählerin teilt uns mit, dass sie das ererbte Vermögen an »various charities« verteilt, und vom Sex mit dem blind piano-tuner, der ihr Lebensgefährte wird, erfahren wir nichts. Ein Problem von Carpis Interpretation liegt sicher darin, dass sie die Dimension des Lesers außer acht lässt: Im Spiel mit literarischen Motiven und Konventionen kann der Leser, zumal der männliche Leser, seine eigenen Erwartungen und Phantasien wiedererkennen und überdenken. Auch die Märchen in A. S. Byatts Sammlung The Djinn in the Nightingale’s Eye sind Carpi zufolge »a sort of poetic manifesto on the concept of the artistic act and of its relationship to previous traditions« (43). Die sehr konkreten Bezüge zur Lebenswirklichkeit, zumal der intellektueller Frauen, bleiben dabei unbeachtet. So ist fraglich, ob die »spiritual wounds« der Protagonistin der Titelerzählung, einer alleinstehenden und alternden, wiewohl akademisch erfolgreichen Literaturtheoretikerin, durch »narration« und »her being a narratologist« (53) geheilt werden können. Das Märchenmotiv des Djinns, der drei Wünsche erfüllt, ermöglicht es lediglich, die bislang unterdrückten, unerfüllten Bedürfnisse der Protagonistin sichtbar zu machen. Nicht überzeugen können auch die Interpretationen der parodistischen Übersetzungen von Märchen in einen ›politisch korrekten‹ Diskurs durch
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James Finn Garner und David Fisher. Carpi zufolge verspotten Garners Märchentexte »sexism and the patriarchal and repressive approach towards women« (60). Obwohl Carpi die parodistische Tendenz der Texte erkennt (61), wird ihr nicht bewusst, dass Garners Parodie der politischen Korrektheit einen Widerspruch zu der Tendenz impliziert, in alten Märchen nur Beispiele von »sexism« und »patriarchy« und anderen schrecklichen, überholten Weltanschauungen zu sehen. Gut gelungen erscheinen demgegenüber die Interpretationen der Romane von Tanith Lee, Sheri Tepper und Kate Morton. Wie Carpi zeigt, reichert Lees Version von »Schneewittchen«, White as Snow, das Grimmsche Märchen mit zahlreichen mythologischen Motiven sowie Anspielungen auf Shakespeare und Marlowe an, behält jedoch die von Vladimir Propp beschriebene Grundstruktur von folktales bei (vgl. 76–78). Am Ende steht eine konventionelle Moral: »[…] White as Snow is a story of guilt and redemption, of Edenic fall because of selfish acts, and of recov ery of a lost happiness through an act of self-humiliation and repentance« (88). Im Hinblick auf die Form kann Carpi feststellen: »Tanith Lee does not want to subvert and eliminate the structure of the genre; instead she wishes to renew it through a wide interdisciplinary approach, by problematizing the intermingling of structural elements« (78). Sheri Tepper verbindet in Beauty Motive aus »Dornröschen«, »Schneewittchen« und »Aschenputtel«; erzählt wird die Geschichte von »Aunt Carabosse«, die den Platz der bösen Fee aus »Dornröschen« einnimmt, deren Fluch aber ›in Wirklichkeit‹ dazu diente, das Mädchen Beauty vor einem »Dark Lord« (96) zu beschützen. Beauty, die märchentypischen Nachstellungen ausgesetzt ist, wird hier zu einer Personifikation der Einbildungskraft und der Schönheit der Natur, die von »new technologies and scientific progress« (108) bedroht wird. Kate Mortons The Forgotten Garden ist ein Familienroman, der in der realen Welt spielt, dessen Ablauf jedoch zahlreiche märchenhafte Elemente aufweist, und in der eine junge Frau ihre psychische Situation durch die Abfassung von Märchen zum Ausdruck bringt, die Teil des Romans sind. Durch die Lektüre der Märchen lernen später die Tochter und Enkelin ihre Mutter bzw. Großmutter kennen und verstehen. Der Roman lässt sich somit, wie Carpi detailliert herausarbeitet, als metafiktionaler Kommentar zur Funktion von Märchen verstehen: »[…] fairy tale characters can be adapted to everybody’s life: it will always be this way because they contain the archetypes of our past, but also our future« (134). Im Zusammenhang mit Harry Potter greift Carpi ein Motiv aus Harry Potter and the Order of the Phoenix heraus, den »Wizengamot« benannten
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Gerichtshof, der sprachlich auf den germanischen witenagamot zurückgeht. Carpi benennt eine Reihe von Bezügen zum altgermanischen Rechtswesen, die allerdings kaum zu überzeugen vermögen. Vor allem bleibt unklar, in welchem Zusammenhang diese Erörterung mit der Untersuchung der Märchenmotivik in den anderen untersuchten Texten steht. Der Abschnitt über »Fairy Tales in the Media« dient wohl vor allem dem Nachweis, dass das postmoderne Spiel mit Märchenmotiven nicht auf eine intellektuelle Elite beschränkt ist, sondern auch ein breiteres Publikum anzusprechen vermag. Widersprechen möchte der Rezensent jedoch den Einschätzungen, dass Märchen nun ›endlich‹ auch von Erwachsenen rezipiert werden, dass dieser Gattung somit der ›Wert‹ zugemessen werde, den sie verdient, und sie nicht mehr mit dem Label ›für Kinder‹ stigmatisiert bzw. abqualifiziert werde (vgl. 165, 171). Zum einen gab es erzählerische ›postmoderne‹ Umdichtungen von Märchen bereits im 19. Jahrhundert (z. B. von Ruskin, Thackeray, Macdonald, Lang, Wilde); diese Umdichtungen waren auch vorwiegend für eine erwachsene Leserschaft bestimmt. Zum anderen galt das Label ›für Kinder‹ im neunzehnten Jahrhundert keineswegs als Stigma. Während Leser des vorliegenden Bandes den einzelnen Abschnitten sicher wichtige Impulse und Anregungen für weitere Arbeit entnehmen können, wirkt das Buch als Ganzes merkwürdig unstrukturiert und inkohärent. Die in der Einleitung mitgeteilten theoretischen Überlegungen erscheinen unausgegoren und in sich widersprüchlich. Als Ausgangspunkt für die ›Postmoderne‹ benennt Carpi die Erschöpfung der literarischen Tradition, innerhalb derer nichts Neues mehr entstehen kann, und das Schwinden von »legitimizing metanarratives« (8), jene Phänomene, die John Barth (nicht »John Barthes« in seinem Essay »The Literature of Exhaustion« (1967) beschreibt. Carpi versäumt es allerdings, darauf hinzuweisen, dass Barth diesem Essay einen weiteren, »The Literature of Re plenishment« (1980), folgen ließ, der sich weit eher als Manifest der Postmoderne verstehen lässt und der auch besser zu den Untersuchungen dieses Bandes gepasst hätte. Der Hinweis auf das vermeintliche Schwinden der metanarratives irritiert insofern, als Carpi im Anschluss ausführlich auf weiter bestehende metanarratives eingeht: Feminismus, Ökologie, Psychoanalyse und schließlich, bei Lee, Tepper und Morton, außerordentlich konventionelle Moralvorstellungen. Die These, dass die Ursprünge des Märchens »in the historical and social reality of the past« liegen und dass das Märchen »the product of a certain historically determined mentality« sei (23), wird im weiteren Verlauf des Bandes dementiert, wenn dem Märchen »immortal feelings that can be found in any place, at any time« (134) zugeschrieben werden. Märchen sind demnach zeitlos, weil sie
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»archetypes of our psyche« (134) enthalten. Im Hinblick auf diese psychoanalytische Konzeption irritiert dann wieder, dass das ›kollektive Unbewusste‹ ein Produkt der jeweiligen Zeit sei: Carpi spricht vom »decline of the concept of the hero in the collective unconscious« (44). Unabhängig von der Frage, ob diese Historizität dem Konzept des kollektiven Unbewussten gerecht wird, ist diese These unzutreffend. Heldentum ist in der Literatur nicht im Schwinden begriffen, wie nicht zuletzt die in diesem Band versammelten Texte zeigen. Warum Carpi bei den Märchen Perraults und der Brüder Grimm von einer »restricted readership« (20) spricht, ist dem Rezensenten nicht verständlich; auch der These, dass Science Fiction allmählich »fantasy« ersetze (106), möchte er widersprechen, ebenso wie der Behauptung, dass Science Fiction eine größere »verisimilitude« eigen sei (89). Zu bedauern ist schließlich eine Serie von Schludrigkeiten: »Dornröschen« wird meist mit dem Titel »Sleeping Beauty« (z. B. 26, 43, 92, 173) wiedergegeben, gelegentlich aber auch als »Briar Rose« (122) zitiert. Im Harry-Potter-Abschnitt schimmert die italienische Übersetzung durch (»Gryffindoro«, »Albus Silente«); das Märchen »Jorinde und Joringel«, dem offensichtlich die Verwandlung eines Mädchens in einen Vogel und dessen Rückwandlung in Mortons The Forgotten Garden entnommen sind (vgl. 121–122), scheint Carpi nicht bekannt zu sein. Auch ein Index fehlt, der es dem Leser des Bandes ermöglicht hätte, jene Querbeziehungen herzustellen, die der Band selbst nicht vornimmt. Schade. Thomas Kullmann, Osnabrück Stefan Horlacher (Hg.), Transgender and Intersex: Theoretical, Practical, and Artistic Perspectives. New York, NY: Palgrave Macmillan, 2016, 306 S. The Women’s March of early 2017, which primarily targeted the 45th US administration for its conservative, populist and nationalist tactics and condemned them as anti-women and anti-feminist, is arguably the most prominent recent example of explicitly gendered social protest. Rallies under the same moniker all over the (Western) world, while not immediately impacted by US legislation, expanded the initial focus with topics such as immigration, religious freedom, racial equality and LGBT+ rights in the spirit of intersectional feminism. As such, these marches conflate a variety of contested civil rights as expressions of what we more or less generally accept as contemporary identity politics: the outcomes of feminist activism have enabled us to see how in Western societies our positions as gendered beings within society need to be negotiated and won. And indeed, one may chalk up Laverne Cox as the first transwoman on the
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cover of Time as a win, whereas we may count trans* high school student Gavin Grimm’s battle with the US legislative’s backtracking concerning gender identity under Title IX of the United States Education Amendments, colloquially known as ›bathroom bills‹, as a loss. Yet at the same time, it is easy to forget that these identity negotiations and politics are not automatically inclusive in the widest sense: in an interview for Channel 4, celebrated Nigerian feminist and writer Chimamanda Ngozi Adichie propagated a message of feminist inclusion while at the same time overtly othering transwomen: »When people talk about, ›Are transwomen women?‹ my feeling is transwomen are transwomen. […] It is difficult for me to accept that then we can equate their experience with the experience of a woman who has lived from the beginning […] as a woman.« What she proposes is this: being male at birth fundamentally sets transwomen’s experiences apart from those of ciswomen. »What we’re seeing is,« she concludes, »gender is not biology, gender is sociology.«1 At this point, one might present Chimamanda Ngozi Adichie with a plethora of theoretical works on this particular conundrum, in particular Judith Butler’s Bodies That Matter: On the Discursive Limits of ›Sex‹ (1993). Butler, as one of the seminal contemporary feminist critics, posits that the social construction of the natural presupposes the cancellation of the natural by the social. Insofar as it relies on this construal, the sex / gender distinction founders […] if gender is the social significance that sex assumes within a given culture […] then what, if anything, is left of ›sex‹ once it has assumed its social character as gender?2
Adichie’s form of transmisogyny is indicative of the very nature of the problems, which envelop gendered trans* and intersex identity politics today and which Transgender and Intersex: Theoretical, Practical, and Artistic Perspectives aims to address. Right from the beginning, the anthology proclaims a clear political goal: societies, which presuppose a biological and cultural sex / gender binary and entertain the idea of an undisputed and essentially indisputable identity in between the subjective experience of gender and the uncontradictable ›fact‹ of biological sex »must be questioned«. (2) In order to facilitate 1 »Chimamanda Ngozi Adichie on Feminism« Channel 4. Channel Four Television Corporation, 10 / 03 / 2017. Web. 11 / 03 / 2017: https: / / www.channel4.com / news / chimamanda-ngozi-adichie-on-feminism. Also: HiWachThis. » ›Transwomen are Transwomen … Gender is not biology, gender is sociology‹ – Chimananda Ngozi Adichie« 10 / 03 / 2017. 5:33 PM. Tweet: https: / / twitter.com / HiWatchThis / status / 840375100436336642. 2 Janet Price, Margrit Shildrick (eds.), Feminist Theory and the Body, New York: Routledge, 1999, 238.
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this questioning, editor Stefan Horlacher’s introduction takes on the challenge of firstly mapping out a highly complex and intersectional area of research; moreover, it intends to align disparate approaches within it. The introduction goes to great lengths to lay theoretical frameworks for readers unfamiliar with the specifics of either intersex or transgender identity politics; additionally, it emphasises the importance of »the interdependency and interaction between art, the individual, and society« found at the heart of the collection’s approach. As the anthology’s title suggests, however, there is another binary at work, which the book aims to problematize above all: even though transgender and intersex studies have been treated individually or as subsets of queer studies, rarely have they been treated together, cognizant of one another and from a variety of interdisciplinary academic positions. Indeed, the ten contributions presented in the volume attempt to cast a very wide net and discuss legal, biological and medical, social, theoretical and aesthetic dimensions of both intersex and transgender. Initially, Stephen Whittle and Lewis Turneras well as David McArdle provide legal points of view: Whittle and Turner trace the juridical history of LGBT+ people in the European Union, its origins in both continental Roman law and British Common Law, and its practices of gender / sex determination as grounds for prosecution and punishment. McArdle’s contribution continues the legal aspect of the anthology by explicating section 19 of the Gender Recognition Act of 2004 and the role of »the transgressive female athletic body« (72) at the intersection of human rights sports legislation. Cary Gabriel Costello’s analysis centres on the lived experience of intersex and trans* people against the backdrop of a heteronormative gender binary in online communities; their contribution is an enriching addition to Horlacher’s introduction by providing outlines of trans* definitions, antenatal medical sex assignment procedure, clinical classification, and a discussion of intracommunity tensions caused by identity framing, which override shared experience. Sebastian Jansen then considers the implications of an a priori gender categorisation and the consequences arising out of non-categorisation »to find new ways of formulating activism« (116): according to his argument, the mere act of engaging with transgender and intersex studies outside a purely medical or biological context constitutes a form activism in itself – a notion that echoes Horlacher’s introductory remarks. Nadyne Stritzke and Elisa Scaramuzza consider »how reproduction is culturally organized« (142) if sex is no longer generally assigned at birth along the gender binary and aim to fill an academic lacuna: a combined consideration of inter- and trans* pregnancies within a matrix that frames pregnancy as hetero-normative.
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Heterosexual reproduction not necessarily and inherently needs to naturalise the gender binary: the »denaturalization, de- / re-naturalization and, [the] increase in complexity« (147) of language and terminology linked to reproduction, intersex and trans* pregnancies may make them, firstly, visible and, secondly, may bridge the divide between them as innately ›female‹ or ›male‹. Jack Halberstam provides a global view of transgender identification: his contribution offsets the predominantly ›Western‹ approach of the anthology. Judith Butler’s gender theory, so Halberstam’s initial assumption, has ignited »transgender suspicion« (166) of her work within US / European academic and / or activist (transgender) communities, perhaps most vocally in the disappearance of the body itself behind the abstract theorisation thereof. Butler’s body of work, so the argument, cannot produce a singular narrative about gender, let alone a definite stance on transgenderism, intersexuality, or transsexuality despite its proliferation and monolithic status within the academy. The chapter then shifts to an investigation of, for lack of a better word, colonising LGBT+ framing practices outside the US / Euro-centric focus and concludes with three filmic examples of global transgender discourses. »INTER*me: An Inter-Locution on the Body in Photography« by Del LaGrace Volcano, Jay Prosser, and Eliza Steinbock positions itself decidedly against »yet another academic reading« (191) of Del LaGrace Volcano’s oeuvre – whose photographic piece Mo B Dick Half n Half (1998) graces the cover of the collection – and anecdotally explores the visuality of the hermaphroditic body and its potential for subversion. In the following chapter Michael Groneberg then situates the hermaphroditic body within the tryptich of science, law, and the arts, tracing a pattern of resistance along a normative »formal pattern« (244) of the either / or binary associated with the gendered body. With the last two contributions, Mirjam M. Frotscher and John Phillips round off the collection by looking at fictionalisations of trans* and intersex characters in recent British and American novels as well as French and American cinema: Frotscher focuses on intelligibility as a way of »bringing trans* and intersex protagonists to life«, (256) while introducing an ethical question regarding authors’ roles in the construction of trans* and intersex characters. Phillips’ chapter concludes the collection with a comparison of Céline Sciamma’s Tomboy (2011) and Kimberley Peirce’s Boys Don’t Cry (1999): although both films portray trans* experiences as »plea[s] for understanding and acceptance« (277), they do eventually return to focus on the role of biological sex and shy away from portraying transgender in a fully positive light. Transgender and Intersex: Theoretical, Practical, and Artistic Perspectives’s key strength lies in the great variety of topics, perspectives and
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approaches contained within: seven of the ten chapters examine artistic and aesthetic expressions of transgender and intersex beyond a primarily theoretical approach, contributors themselves reflect a variety of gender identities, and many chapters provide a substantial illustration of key concepts. Nonetheless, one is hard pressed to fully subscribe to Horlacher’s initial promise »to appeal to a wider audience, that is not only researchers but also to readers familiar with gender studies and feminism« (3): this is both an understatement and an overstatement. For some readers, several chapters may prove to be too meaty, too reliant on a profound understanding of the theoretical groundwork, which underpins many of the more abstract considerations of intersex and transgender identity politics. For others, a portion of the contributions may be too anecdotal and too subjective to wholly reach the yardstick of the academy. To the collection’s merit, however, this ambiguity reflects the very indivisibility of theorisation, artistic expression and activism of intersex and transgender politics as an ongoing process of negotiations. Ultimately, Transgender and Intersex: Theoretical, Practical, and Artistic Perspectives is, at the end of the day, a notable asset to gender identity activism in a period, in which we struggle to accept how we, to paraphrase what could be seen on many a sign at Women’s Marches around the globe, ›still have to protest this shit in 2017‹. Philip Jacobi, Universität Passau
Namen- und Werkregister Von Ulrich Barton (Die Zahlen verweisen auf die Seiten, kursive Zahlen auf die Hauptstellen. Das Register wählt aus.) Abdel-Fattah, Randa 414 Aboulela, Leila 414 Addison, Joseph 249, 255, 259, 261, 265 Adichie, Chimamanda Ngozi 422 Alanus ab Insulis 55 Albrecht von Scharfenberg 74 – Jüngerer Titurel 66, 95–96, 108, 110–111 Ali, Monica 414 Aristoteles 260, 353, 361–362, 367, 376 – Poetik 215, 244 Atwood, Margaret 400–401 Austen, Jane 416 Beattie, James 251 Bembo, Pietro – Gli Asolani 238 Berkeley, George 250, 267 Bernardus Silvestris 58, 60–62, 64 Bernhardi, August Ferdinand 271, 273, 275–276, 278 Bhatt, Sujata 400–401 Boccaccio, Giovanni – Elegia di madonna Fiammetta 223–225, 228–229, 231–232, 234, 236 Boethius 54 Brecht, Bertolt 410 Brink, André – The Other Side of Silence 377–398 Butler, Judith 422, 424
Byatt, A. S. 417–418 Byron, George Gordon Lord 328 Calcidius 50–51 Calvin, Jean 182 Carter, Angela 417–418 Castiglione, Baldassare – Il Libro del Cortegiano 238 Charleton, Walter 253 Chaucer, Geoffrey 208 – Canterbury Tales 212 Chrétien de Troyes – Chevalier de la Charrette 115 Cicero 365, 368, 371 The Complaynt of Scotland 193, 207–215 Corneille, Pierre – Polyeucte 238 Débat de l’eau et du vin 164–165 Del LaGrace Volcano 424 Dennis, John 249, 257–259, 263 Donne, John 199, 404 Dorothea-Verslegende 152–154, 169, 171 Eberhard der Deutsche – Laborintus 49–50, 55–67 Erasmus von Rotterdam 216 Eriugena, Johannes Scotus 58 Euripides 358
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Namen- und Werkregister
Fichte, Johann Gottlieb 273 Fischart, Johann 193, 197–199, 201–207, 213, 217–218, 220 Fleck, Konrad – Flore und Blanscheflur 94, 108 Fouqué, Friedrich de la Motte 271, 275, 277–283, 285–286 Frank, Bruno – Die Monduhr 313–347 Die Frauentreue 158–160, 170–172 Frenssen, Gustav 405 Freud, Sigmund 265 Galfred von Vinsauf 58 Geoffrey von Monmouth – Historia Regum Britanniae 132– 133, 135 George, Stefan 413–414 Die gestohlene Monstranz 144–147, 171 Der gestohlene Schinken 143–145, 146, 171 Gilbert von Poitiers 52 Goethe, Johann Wolfgang 328, 355–358 – Faust 314, 323, 357–358 – Iphigenie auf Tauris 358 – Die Leiden des jungen Werthers 273 – Wilhelm Meisters Lehrjahre/ Wanderjahre 274, 283–285 Gottfried von Straßburg 74, 82 – Tristan 33, 66, 107, 155 Grimm, Brüder – Kinder- und Hausmärchen 417, 419, 421 Groth, Klaus 407–408 Guilleragues, Gabriele de – Lettres portugaises 221–245 Gunesekera, Romesh 400–401 – Reef 401 Gupta, Atiha Sen 414 Hartley, David 252
Hartmann von Aue – Erec 107 – Gregorius 107, 111 – Iwein 12, 34–47, 80, 84, 88, 91, 93, 107 Hedringer Vagantenliedsammlung 164 Heinrich von dem Türlin 74 – Die Krone 66–67, 91, 94, 108, 110 Heinrich von Hesler – Apokalypse 69–72, 82, 90 Heinrich von Pforzen – Der Pfaffe in der Reuse 162–163, 168–169 Heinrich von Veldeke 74 – Eneasroman 107 Herbort von Fritzlar – Liet von Troye 107 Der Herbst und der Mai 168–169, 172 Herodot 367 Herzog Ernst B 12–15, 17–31, 34, 36–37, 46 Heyse, Paul 313 Hobbes, Thomas 247, 259 Hoffmann, E. T. A. – Die Serapions-Brüder 269–272, 275–276 Hofmannsthal, Hugo von 315–316, 319, 327–329, 335, 345 Homer 190–191, 196, 260, 358, 360, 372 – Ilias 356, 363 – Odyssee 356, 363 Horaz 58, 82, 360, 371 Hugo von St. Viktor 51–54 Hugo, Victor 328 Humboldt, Wilhelm von 368 Ignatius von Loyola 238–239 Janmohamed, Shelina Zahra 414 Jean Paul – Flegeljahre 271, 275–277 Johann von Würzburg 74, 82
Namen- und Werkregister
– Wilhelm von Österreich 74, 95–96, 102–105, 110–111 Johnson, Samuel 249, 253, 256, 259–261, 264–266 Kafka, Franz – Ein altes Blatt 290, 292, 311 – Beim Bau der Chinesischen Mauer 291–292, 306–309, 311 – Eine kaiserliche Botschaft 290–291, 293, 307–311 – Der Proceß 289, 294, 300, 303–305, 311 – Das Schloß 294–298, 306, 311 – Das Stadtwappen 306, 309–311 – Vor dem Gesetz 290–292, 294, 300–302, 311 Kallimachos 349–351, 375 Kaufringer, Heinrich – Die unschuldige Mörderin 154–160, 170–171 Kolbe, Uwe 410, 413 Konrad von Würzburg 74, 82 – Engelhard 90–91, 108, 111 – Partonopier und Meliur 79, 88, 109, 111 – Trojanerkrieg 18, 74, 86–91, 94, 96–102, 109–111 Der Krieg von Wein, Met und Bier 164–166, 169 Lactanz 361 La Fayette, Marie-Madeleine de – La Princesse de Clèves 222 Lamprecht, Pfaffe – Alexanderlied 37 Lancelot en prose / Prosa-Lancelot 113–136 Langer, Georg Mordechai 303 La Sales, Antoine de 379 Lee, Tanith 417, 419–420 Lessing, Gotthold Ephraim 410–413 Locke, John 247, 250, 253
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Lohengrin 74, 109 Luther, Martin 183 Lyly, John 402 Macrobius 63 Mann, Heinrich 313 Mann, Thomas 320–322, 349–376, 409–410 – Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull 369–371 – Buddenbrooks 364–366, 368, 371, 375, 409 – Doktor Faustus 349–355, 409 – Der Erwählte 370–371 – Herr und Hund 374–375 – Joseph und seine Brüder 345, 351, 366–368, 375 – Königliche Hoheit 368–369, 371, 375 – Lotte in Weimar 355–359 – Der Tod in Venedig 371–374, 376 – Wie Jappe und Do Escobar sich prügelten 351 – Der Zauberberg 359–364, 368, 371 Map, Walter (?) – Goliae Dialogus inter aquam et vinum 167 Marot, Clément 173–192 – Eglogue au Roi soubz les noms de Pan et Robin 177–179, 187 – Épître de Marot au Roi 183–184, 188–192 – Psalmenübersetzungen 179–187 Martianus Capella 59 Michelangelo Buonarroti 190 Milton, John 259 – Paradise Lost 255–256 Molière – École des femmes 234 – Le mariage forcé 234–235 More, Thomas 247 Morton, Kate 417, 419–421
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Namen- und Werkregister
Neumann, Wilhelm 271, 278–279 Ovid 357–358, 366 – Heroides 223–225, 228, 231, 234, 236 – Metamorphosen 358, 378, 380–381, 383–388, 390–392, 395, 397 Palaiphatos 374 Peirce, Kimberley – Boys Don’t Cry 424 Perrault, Charles 417, 421 Petrarca, Francesco 190 Petrus von Blois 164, 166–167 Platon – Phaidros 373 – Politeia 361 – Symposion 373 – Timaios 50–51, 54, 63, 361 der Pleier – Garel von dem blühenden Tal 93, 108 – Tandareis und Flordibel 108 Priestley, Joseph 252 Rabelais, François – Gargantua et Pantagruel 193–220 Reid, Thomas 251–252, 267 Reinfried von Braunschweig 110–111 Rilke, Rainer Maria 315, 412 Der Ritter mit den Nüssen 160–162, 169–170 Robert von Melun 53 Roman de la Rose 208 Rousseau, Jean-Jacques – La Nouvelle Héloïse 241 Rowling, J. K. – Harry Potter 417, 419–421 Rudolf von Ems 74, 82 – Alexander 33, 108 – Der guote Gêrhart 108 – Willehalm von Orlens 18, 33 Rushdie, Salman 400–401 Rymer, Thomas 257
Sächsische Weltchronik 149 Sales, François de 238–239 Schattenspiele 275–276 Schlegel, August Wilhelm 274 Schlegel, Friedrich 274–275 Sciamma, Céline – Tomboy 424 Scudéry, Madeleine de 235, 241–242 – Clélie, histoire romaine 222, 241, 243 Sears, Djanet 400–401 Seneca 374 Sepher ha-Sohar 300–304, 312 Shakespeare, William 259, 399–401, 402, 404, 416–417, 419 – All’s Well That Ends Well 198 – Hamlet 400 – Othello 401 – The Tempest 399–400 Sidney, Philip 261, 402 Steele, Richard 249, 259–261 Storm, Theodor 406–407 Swedenborg, Emmanuel 254–255 Swift, Jonathan 259 Tepper, Sheri 417, 419–420 Terenz 369 Teresa von Avila 303 Thomas von Aquin 361 Tieck, Ludwig 275–276 Udo-Legende 150–151 Udo von Magdeburg 146–152, 171 Ulrich von Etzenbach – Alexander 109 – Wilhelm von Wenden 110 Ulrich von Zatzikhoven – Lanzelet 107 Urquhart, Thomas 193, 198–207, 213, 218, 220 Valéry, Paul 319, 335 Varnhagen, Karl August 271, 278–281, 285–286 Vergil 196, 356, 360, 362, 371
Namen- und Werkregister
Wace – Roman de Brut 132–133, 135 Wackenroder, Wilhelm Heinrich 275 Walker, Alice 388 Waller, Edmund 257–259, 263 Walser, Robert 313 Werfel, Franz – Die vierzig Tage des Musa Dagh 346–347
Wildgans, Anton 327 Wilhelm von Conches 51, 54 Wirnt von Grafenberg – Wigalois 88, 107 Wolfram von Eschenbach 82 – Parzival 80, 93, 107 Xenophon 372 Zweig, Arnold 313
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