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German Pages 423 Year 2009
LITERATURWISSENSCHAFTLICHES J A H R B U C H N e u e Folge, b e g r ü n d e t v o n H e r m a n n K u n i s c h
IM AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN
VON
PROF. D R . V O L K E R KAPP, PROF. D R . K U R T M Ü L L E R , PROF. D R . K L A U S R I D D E R , PROF. D R . R U P R E C H T
WIMMER
FÜNFZIGSTER B A N D
2009 Das Literaturivissenschaftliche
Jahrbuch wird im Auftrage der Görres-Gesellschaft heraus-
gegeben von Prof. Dr. Klaus Ridder, Deutsches Seminar, Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Wilhelmstr. 50, 72074 Tübingen (Altgermanistik, federführend), Prof. Dr. Volker Kapp, Klausdorfer Str. 77, 24161 Altenholz (Romanistik), Prof. Dr. Kurt Müller, Institut für Anglistik/Amerikanistik, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Ernst-Abbe-Platz 8, 07743 Jena (Anglistik/ Amerikanistik), Prof. Dr. Dr. h.c. Ruprecht Wimmer, Sprach- und Literaturwissenschaftliche Fakultät, Katholische Universität Eichstätt, 85071 Eichstätt (Neugermanistik), Prof. Dr. Jutta Zimmermann, Englisches Seminar, Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel, Olshausenstr. 40,24098 Kiel (Rezensionen). Redaktionsanschrift:
Prof. Dr. Klaus Ridder, Deutsches Seminar, Eberhard-Karls-Univer-
sität Tübingen, Wilhelmstr. 50, 72074 Tübingen. Redaktion Aufsatzteil:
Ulrich Barton. Re-
daktion Rezensionsteil: Prof. Dr. Jutta Zimmermann, Englisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Olshausenstr. 40, 24098 Kiel. Merkblatt
für
die typographische
Gestaltung:
http://www.uni-tuebingen.de/Lehrstuhl-
Ridder/LiWi-Jb.htm Das Literatum-issenschaftliche
Jahrbuch erscheint als Jahresband jeweils im Umfang von
etwa 20 Bogen. Beiträge sind in Dateiform auf Diskette und als Ausdruck an die zuständigen Herausgeber zu senden. Unverlangt eingesandte Beiträge können nur zurückgesandt werden, wenn Rückporto beigelegt ist. Es wird dringend gebeten, die Manuskripte druckfertig, entsprechend den im Merkblatt (s. o.) angeführten typographischen Richtlinien einzureichen. Die Einhaltung der Vorschriften ist notwendig, damit eine einheitliche Ausführung des Bandes gewährleistet ist. Besprechungsexemplare von Neuerscheinungen aus dem gesamten Gebiet der Literaturwissenschaft, einschließlich Werkausgaben, werden an die Adresse der Redaktion (Rezensionsteil) erbeten. Eine Gewähr für die Rezension oder Rücksendung unverlangt eingesandter Besprechungsexemplare kann nicht übernommen werden. Verlag: Duncker & H u m b l o t G m b H , Carl-Heinrich-Becker-Weg 9, 12165 Berlin.
LITERATURWISSENSCHAFTLICHES FÜNFZIGSTER BAND
JAHRBUCH
LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH NEUE FOLGE, BEGRÜNDET V O N H E R M A N N
KUNISCH
I M A U F T R A G E DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN V O L K E R KAPP, K U R T
VON MÜLLER,
KLAUS RIDDER, RUPRECHT
FÜNFZIGSTER
WIMMER
BAND
2009
D U N C K E R
&
H U M B L O T
- B E R L I N
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2009 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0075-997X ISBN 978-3-428-13065-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706©
INHALT AUFSÄTZE Jens Pfeiffer (Berlin), Dunkelheit und Licht. >Obscuritas< als hermeneutisches Problem und poetische Chance
9
Andrea Sieber (Berlin), Ich-Projektionen bei Hans Sachs
43
Laurent Susini (Paris), Métonymie et paradoxe énonciatif: le Télémaque au miroir de son frontispice
65
Franz Obermeier (Kiel), Die französischen Aufklärer und Brasilien
81
Dorothea Scholl (Kiel), D'une topologie des rêves à une typologie des écrits de la Nouvelle-France
115
Dirk Oschmann (Jena), Absolute Darstellung - Zur Metapoetik von Stifters »Nachkommenschaften«
135
Stefan Lange (Idar-Oberstein), Problems of Justice and Their Moral Implications in Anthony Trollope's Orley Farm
151
Christian Krepold (Eichstätt), Thomas Manns Gladius Dei und O t t o Dix* Streichholzhändler I. Intertextualität und Intermedialität bei Siegfried Kracauer
169
Bettina Kaibach (Heidelberg), Welttheater zwischen Orient und Okzident. Das Dalmatien-Bild Franz Theodor Csokors
189
Rainer Drewes (Bramsche), D o n Quichote reitet nach Deutschland - Zur literarischen Rezeption des Cervantes-Romans i m Nationalsozialismus (Kurt Kluge, Rudolf Wulfertange, Ehm Welk, Martin Kessel)
203
Manfred Tietz (Bochum), D o n Quijote: eine literarische Leitfigur von der Aufklärung bis in die Gegenwart
225
Elmar Schenkel (Leipzig), Der Techniker als Ubermensch: Thomas Alva Edison in der Literatur
247
Dirk Vanderbeke (Jena), O f Fathers, Sins, and Holocaust: Milton's Evil and its Relevance for the Debate of the Shoah 265 Alois Hahn (Trier), Soziologie und Romanistik
279
KLEINE BEITRÄGE Uwe Böker (Dresden), Gordon Weaver's Conan Doyle and the Parson's Son. The George Edalji Case and Julian Barnes's Novel Arthur and George
299
6
Inhalt
Jean Ehret (Luxembourg), Der »Lebenseffekt« als allgemeines ästhetisches Kriterium. Globalisierte literarische Ästhetik i m interdisziplinären Kontext
307
BUCHBESPRECHUNGEN Robert D. Fulk, Robert E. Bjork,John mas Honegger)
D. Niles ( Hgg.), Klaeber's Beowulf (von Tho323
Alois Wolf\ minne - aventiure - herzenjamer. Begleitende und ergänzende Beobachtungen und Überlegungen zur Literaturgeschichte des volkssprachlichen Mittelalters (von Jürgen Wolf) 325 Christian Mouchel, Les femmes de douleur. Maladie Contre-Réforme (von Volker Kapp)
et sainteté dans l'Italie
de la 330
Raphael Dammer, Benedikt Jeßing, Der Jedermann im 16. Jahrhundert. Die Hecastus-Dramen von Georgius Macropedius und Hans Sachs (von Cora Dietl)
333
Wolfram Washof Die Bibel auf der Bühne: Exempelfiguren und protestantische Theologie im lateinischen und deutschen Bibeldrama der Reformationszeit (von Glenn Ehrstine)
336
Louis van Delft, Les moralistes. Une apologie (von Annika Krüger)
340
Sebastian Schütze , Kardinal Maffeo Barberini später Papst Urban VIII. stehung des römischen Hochbarock (von Volker Kapp)
und die Ent344
Lorenza Mochi Onori, Sebastian Schütze , Francesco Solinas (Hgg.), I Barberini cultura europea del Seicento (von Volker Kapp)
e la 347
Jocelyn Royé y La figure du pédant de Montaigne ä Molière (von Volker Kapp) Eva Erdmann, Konrad Schoell (Hgg.), Le Comique corporel. Mouvement dans l'espace théâtral du XVIle siècle (von Claude Bourqui)
351
et comique 353
Manfred Tietz, Gero Arnscheidt (Hgg.), Calderón y el pensamiento ideológico y cultural de su época. XIV Coloquio Anglogermano sobre Calderón, Heidelberg, 24 - 28 de julio de 2005 (von A. Robert Lauer) Michel Fournier ; Généalogie du Roman. Emergence d'une formation XVII e siècle en France (von Béatrice Jakobs) Susanne Winter, ; Von illusionärer Wirklichkeit >Fiabe teatrali< (von Gisela Schlüter)
culturelle
355
au 358
und wahrer Illusion. Zu Carlo Gozzis
Jasmin Lemke, Selbstthematisierung im Spiegel des Fremden: mus bei Stendhal (von Christine Zwinger)
362 Nord-Süd-Antagonis-
Astrid Erll, Prämediation - Remediation. Repräsentationen des indischen Aufstands in kolonialen und post-kolonialen Medienkulturen (von 1857 bis zur Gegenwart ) (von Ines Detmers)
366
369
Inhalt
7
Elmar Schenkel, Fahrt ins Geheimnis. Joseph Conrad. Eine Biographie (von T i l l K i n zel) 373 John S. Partington (Hg.), H. G. Wells's Fin-de-Siècle : Twenty-First Century Reflections on the Early H. G. Wells. Selections from the Wellsian (von Richard Nate) . .
377
Anna-Margaretha Horatschek, Susanne Bach, Stefan Glomb, Stefan Horlacher (Hgg.), Literatur und Lebenskunst. Reflexionen zum guten Leben im britischen Roman vom Viktorianismus zur Postmoderne (von Stefan Welz)
380
Till Kinzel, Michael Oakeshott. Philosoph der Politik (von Pit Kapetanovic)
385
Diana von Finck, Oliver Scheiding (Hgg.), Ideas of Order in Contemporary can Poetry (von Wolf gang G. Müller)
Ameri388
Ines Detmers, »Muses of Their Own«: Die britische Lyrikszene und Inszenierungen lyrischer Subjektivität bei Jackie Kay, Eleanor Brown und Lavinia Greenlaw (von Peter Hühn)
392
Gerhard R. Kaiser, Deutsche Berichterstattung zen (von Frank-Rutger Hausmann)
396
aus Paris. Neue Funde und Tenden-
Claude Foucart, Visions françaises de V Allemagne. De Léon Bloy à Pascal Quignard (von Martin Raether) 398 Dieter Burdorf, Stefan Matuschek (Hgg.), Provinz und Metropole. Zum Verhältnis von Regionalismus und Urbanität in der Literatur (von Paul Goetsch) Renate Brosch, Short Story. Textsorte
und Leseerfahrung (von Wolfgang G. Müller)
Dieter Burdorf, Christoph Fasbender ; Burkhard Moennighoff (Hgg.), Metzler kon Literatur. Begriffe und Definitionen (von Adolf Barth)
Namen- und Werkregister (von U l r i c h Barton und Selma Danisman Olmedo)
403 406
Lexi411
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Dunkelheit und Licht. >Obscuritas< als hermeneutisches Problem und poetische Chance Von Jens Pfeiffer
Annäherung Der folgende Beitrag beschäftigt sich, wie sein Titel bereits andeutet, mit >dunklen< Texten. Zwei Aspekte der literarischen oder vielleicht besser textuellen Dunkelheit werden in den Blick kommen: zum einen die Exegese dunkler Texte, zum anderen ihre Produktion. Die Zusammenstellung der beiden großen Themenfelder >Poetik und Hermeneutik< sollte auch einige Jahre nach der Auflösung der gleichnamigen Forschergruppe in den mit Texten befassten Wissenschaften noch einen guten Klang haben, sind doch die mit diesen Begriffen verbundenen Fragestellungen zur Produktion und Rezeption von Texten keineswegs obsolet. I m Gegenteil: darüber, wie denn Geschriebenes recht zu lesen sei, und auf welche Weise man die wenigen >richtigen< Lektüren gegenüber den naturgemäß ungleich zahlreicheren >Fehllektüren< absichern könne, hat niemals Einigkeit bestanden und w i r d w o h l auch kaum jemals bestehen. Sehr wohl verständigen kann man sich aber darüber, dass es keine Hermeneutik gäbe, wenn die Poesie (wie im Übrigen jede andere Form sprachlicher Äußerung auch) selbstverständlich wäre. So lassen sich alle Erzählungen um die mythischen Ursprünge der Hermeneutik in einer knappen Behauptung zusammenfassen: Wenn sich die Götter hätten entschließen können, in einem cartesianischen Paradies direkt und in klaren und distinkten Begriffen zu den Menschen zu sprechen, hätte sich Hermes mit seinen Ämtern als Hadesführer und Gott der Diebe begnügen müssen. Da es aber Göttern jedweder Provenienz gefallen hat, sich bisweilen recht unklar auszudrücken, konnte sich in der Nachfolge des Gründervaters Hermes eine Schar professioneller Deuter etablieren, deren Aufgabe einzig und allein darin besteht, Licht in das Dunkel der Wörter zu bringen. I n vornehmlich mediävistischer Perspektive w i r d der folgende Aufsatz anhand einiger Beispiele aus der christlichen Spätantike und dem Mittelalter die Bemühungen u m Textdeutung nachzeichnen und auf ihre eingestandenen und klandestinen Voraussetzungen hin befragen. Er w i r d versuchen, in der gebotenen Knappheit die verschiedenen Möglichkeiten, die einen Text dunkel erschei-
10
Jens Pfeiffer
nen lassen können, herauszustellen, um schließlich anhand einer kurzen Passage aus dem Marienieich Frauenlobs zu zeigen, wie in Umkehr der hermeneutischen Anstrengungen des Kommentierens eine Poetologie ihrerseits kommentarbedürftiger Texte gewonnen werden kann. 1
Vorspiel mit Ödipus Ich beginne meine Ausführungen zur Dunkelheit mit einer kurzen Passage aus dem altfranzösischen, mit plausiblen, aber nicht zwingenden Gründen auf den Beginn der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts datierten Roman de Thebes. Die in Frage stehende Passage findet sich in der Vorgeschichte des Romans, einer (anders als die sonstige Romanhandlung) nicht aus der Thebais des Statius stammenden, sondern aus einer nicht mehr bekannten Quelle geschöpften Erzählung vom Leben des Ödipus. Was dort von dessen Geschichte i m Einzelnen berichtet wird, kann hier außer acht bleiben. Interessant ist für uns lediglich die Stelle, die schildert, wie Ödipus zum Orakel nach Delphi - i m Text eine Insel i m »Galiläischen Meer« - reist, um Informationen über seinen Vater zu bekommen: I n einer Grotte entbirgt der göttliche Ratgeber A p o l l mit viel Besonnenheit und Bedacht seinen Orakelspruch über Dinge, die i m Ungewissen liegen. Verborgen und eingeschlossen in einer Grotte unter der Erde offenbart und erschließt er jedem genau, was er von i h m erfahren will. Treffend kündet er jedem sein Schicksal, doch ist seine Auskunft sehr dunkel (obscure). So wisst denn fürwahr: um diese Welt zu trügen ist des Teufels Wort allezeit zweideutig und des Truges voll. 2
Ödipus, heißt es weiter, habe sich um den Orakelspruch, der ihm die Ermordung eines Mannes und bei dieser Gelegenheit die Begegnung mit seinem Vater prophezeit hatte, nicht weiter geschert, da er, so verhüllt wie die Prophezeiung von dem Gott verkündet worden sei, von ihr kein Wort verstanden habe. 1 Der vorliegende Aufsatz beruht auf meiner bislang unveröffentlichten Habilitationsschrift: >ObscuritasVela Veritatisder Geist weht, w o er will< Qoh 3, 8), 1 0 war den Schriftauslegern wohlbekannt, und ob ein »transzendentales Signifikat^ 1 , das, wie etwa der damit in einer langen Reihe von Vorläufern und Nachfolgern stehende Anselm von Canterbury schreibt, maior sit quam cogitari possit, 12 auf so simple Weise als verlässlicher Garant für die Einsinnigkeit von Texten instrumentalisierbar sein konnte, sei wenigstens dahingestellt. Unleugbar freilich ist die Intention der christlichen Exegeten, unter den mehr oder weniger dicken Uberlagerungsschichten der Buchstaben den einen spirituellen Sinn zu eruieren, den der göttliche Autor seinen Hörern und Lesern mitzuteilen beabsichtigt hatte. Jenseits dieses erheblich leichter zu postulierenden als praktisch einzulösenden Anspruchs allerdings ist es dann ebenso unzweifelhaft, dass das Bestreben, als kongenialer Interpret des per naturam jede menschliche Verständnismöglichkeit überschreitenden Heiligen Geistes aufzutreten, durchaus die Chance eröffnete, den präsumptiven Einheitssinn u m eine Reihe von »Aktualisierungen zu bereichern. Dadurch ließen sich die Deutungen tagespolitischen Notwendigkeiten anpassen - man denke nur an die Auslegung von L u k 22, 38 (der Zwei-Schwerter-Lehre) während des Investiturstreits. Früher und w o h l noch um einiges gravierender war aber die so folgenreiche, in den neutestamentarischen Schriften bereits angelegte Entscheidung, das Alte Testament typologisch auf das Neue zu beziehen, u m damit zum einen die Kontinuität von Judentum und Christentum im Verhältnis von Implement 9
Emil Staiger, Grundbegriffe
der Poetik (München 4 1978), 179.
10
D . Martin Luther, Die Gantze Heilige Schrifft Deudsch (Wittenberg 1545), letzte zu Lebzeiten Luthers erschienene Ausgabe, hg. Hans Volz unter Mitarbeit von Heinz Blanke, Textredaktion Friedrich Kur, (München o. J.), 2141: »Der Wind bleset wo er will / vnd du hörest sein sausen wol / Aber du weist nicht von wannen er kompt vnd wo hin erferet.« 11 Der Ausdruck stammt bekanntlich von Jacques Derrida, »Die Struktur, das Zeichen und das Spiel i m Diskurs der Wissenschaften vom Menschen«, in: ders., Die Schrift und die Differenz (Frankfurt am M a i n 1976), 422-442, hier 424. 12 Anselm von Canterbury, Proslogion, lat.-dt. Ausgabe von Franciscus Salesius Schmitt (Stuttgart-Bad Cannstatt 1962), 110, Cap. XV.
Dunkelheit und Licht
15
und Erfüllung zu behaupten; 13 zum anderen aber auch, u m gegen die Lehrmeinung etlicher gnostischer Sekten die Einheit von Schöpfer- und ErlöserGott zu wahren. 1 4 Für Hermeneuten, deren Bestreben es ist, Texten einen philologisch nachvollziehbaren Sinn abzugewinnen, bieten Beispiele solcher A r t einer vornehmlich der Usurpation fremden Eigentums dienenden Allegorese Gelegenheit zu mehr oder weniger aufgeregter Empörung. Unabhängig davon aber, was von der philologischen Qualität der Exegesen und der intellektuellen wie moralischen Integrität ihrer jeweiligen Vertreter zu halten ist, scheint jedes mögliche Verdikt durch den geradezu überwältigenden Erfolg der Methode in den Schatten gestellt zu werden. Immerhin hielt jene Hermeneutik ein ungemein flexibles und wirkungsvolles Instrumentarium bereit, das es möglich machte, heterogenes Material zu amalgamieren und dem Text-Corpus der heiligen Mutter Kirche einzuverleiben. Man war, u m mit Nietzsche zu sprechen, allerdings i m Kampfe, aber man hatte sich eine Waffe geschmiedet, mit der dieser Kampf zu bestehen war. 1 5 M i t welcher Verve die Aneignungsbemühungen vorangetrieben wurden, ist schon vor jeder inhaltlichen Betrachtung durch ein rein quantitatives Argument zu illustrieren. Wer sich durch Sammelfleiß beeindrucken lässt, w i r d es genießen, in einer großen Bibliothek an jenen Regalen vorbeizudefilieren, die den Katalogen vorbehalten sind. D o r t finden sich in eindrucksvoller, zunehmend anwachsender Zahl dickleibige Bände, die mit großer Akribie auflisten, was die Patristik, vor allem aber das Mittelalter an Kommentaren und Glossen zu biblischen und paganen, antiken und zeitgenössischen Autoren hervorgebracht
13 Grundlegend ist nach wie vor Leonard Goppelt, Typos. Die typologische des Alten Testaments im Neuen (Gütersloh 1939, Repr. Darmstadt 1981).
Deutung
14 Vgl. zu diesem Themenkomplex Wilhelm Bousset, Hauptprobleme der Gnosis (Göttingen 1907); A d o l f von Harnack, Marcion. Das Evangelium vom fremden Gott (Leipzig 2 1924, Repr. Darmstadt 1985); Hans Jonas, Gnosis und spätantiker Geist (Teil 1 Göttingen 3 1964; Teil 2,1 Göttingen 2 1966); ders. The Gnostic Religion (Boston 1958); Hans Leisegang, Die Gnosis (Leipzig 1924); K u r t Rudolph, Die Gnosis (Göttingen 2 1980); Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit (Frankfurt am Main 1966, erneuerte Ausgabe 1988), 141 ff.; Elaine Pageis, Versuchung durch Erkenntnis. Die gnostischen Evangelien (Frankfurt am Main 1987); gnostische Texte sind leicht zugänglich in: Wolfgang Schulz, Dokumente der Gnosis (Jena 1910, Repr. München 1986); The Nag Hammadi Library in English , hg. James M . Robinson ( L e i d e n / N e w Y o r k / K o p e n h a g e n / K ö l n 1988). 15 Friedrich Nietzsche, Morgenröte, I, 84: »Die Philologie des Christentums«, in: ders., Werke, hg. Karl Schlechta (München 5 1966), Bd. 1, 1009-1279, hier 1067 f.; vgl. Beryl Smalley, The Study of the Bible in the Middle Ages (Repr. der 3. Aufl., Oxford 1984), 9: »Apart from its liturgical function, allegory became a weapon in polemic w i t h the antagonists of Christianity and in controversy among Christians at a time when the church was still persecuted and her dogma fluid.«
16
Jens Pfeiffer
h a t . 1 6 B e i a u c h n u r f l ü c h t i g e r K e n n t n i s n a h m e d r ä n g t sich der E i n d r u c k auf, dass m i t t e l a l t e r l i c h e A u t o r e n i h r e A r b e i t u n d E n e r g i e v o r n e h m l i c h einer gabe g e w i d m e t haben: d e m Bestreben n ä m l i c h , sich v o r d e m
Auf-
Hintergrund
wechselnder theologischer u n d philosophischer Strömungen wieder u n d w i e der des >rechten< Verständnisses i h r e r k a n o n i s c h e n Texte z u versichern u n d d i e se i n s t ä n d i g neuer A n e i g n u n g d e n j e w e i l i g e n i n t e l l e k t u e l l e n u n d , w i e das o b e n en passant gestreifte B e i s p i e l aus d e m I n v e s t i t u r s t r e i t belegen sollte, a u c h p o l i tischen B e d i n g u n g e n anzupassen. Dass a u f g r u n d d e r p e r m a n e n t e n A k t u a l i s i e r u n g e n all diese Texte s c h w e r l i c h » m e h r o d e r w e n i g e r das gleiche sagen«, ist e i n G e d a n k e , der sich - o h n e dass diese d a m i t die ersten w ä r e n 1 7 - s c h o n bei m i t t e l a l t e r l i c h e n A u t o r e n f i n d e t . I n d e n w a h r s c h e i n l i c h w ä h r e n d der d r e i ß i g e r Jahre des 12. J a h r h u n d e r t s verfassten Quaestiones
naturales
18
des A d e l a r d v o n B a t h k a n n m a n e t w a lesen, der B u c h -
stabe sei w i e eine H u r e , die sich b a l d diesem, b a l d j e n e m darbiete. E i n etwas w e n i g e r drastisch f o r m u l i e r t e s , i n d e r Sache j e d o c h v e r w a n d t e s D i k t u m f i n d e t sich w e n i g später, gegen E n d e des J a h r h u n d e r t s , bei A l a n u s v o n L i l l e : die A u t o r i t ä t habe eine wächserne N a s e , die sich i n alle R i c h t u n g e n biegen lasse u n d daher d u r c h V e r n u n f t g r ü n d e s t ü t z t 1 9 o d e r (was A l a n u s n i c h t e r w ä h n t , A d e l a r d j e d o c h d e u t l i c h a u s s p r i c h t 2 0 ) v e r w o r f e n w e r d e n müsse.
16 Ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit nenne ich lediglich: Friedrich Stegmüllers mit Nachträgen und Registern auf 11 Bände angewachsenes Repertorium biblicum medii aevi (Matriti 1940 ff.), das ebenfalls von Stegmüller zusammengestellte, mehr als 1400 Schriften verzeichnende Repertorium Commentariorum in Sententias Petri Lombardi (Würzburg 1947), 2 Bde; den 1960 von Paul Oskar Kristeller begonnenen, mittlerweile 10 Bände umfassenden Catalogus translationum et commentariorum. Mediaeval and Renaissance Latin translations and commentaries: annotated lists and guides (Washington 19602003); die zahlreichen in den letzten Jahrzehnten publizierten Verzeichnisse von K o m mentaren zum Corpus aristotelicum etc. 17
Von Anfang an wurde der willkürliche Charakter der Allegorese auch innerhalb des Christentums bemerkt und kritisiert. Die gewichtigste Autorität ist hier Origines. Vgl. Henry Chadwick, »Pagane und christliche Allegorese«, in: ders., Antike Schriftauslegung (Berlin 1998), 1 - 2 3 , v. a. 19-22. 18 »Before 1137 and probably much earlier« lautet die Angabe bei Peter Dronke (Hg.), A History of Twelfth-Century Philosophy (Cambridge 1988), 443. 19 Adelard von Bath, Die >Quaestiones naturales< , hg. und unters. Martin Müller, Beiträge zur Geschichte der Philosophie i m Mittelalter 31,2 (Münster 1934), 12; Neuausgabe: ders., Conversations with his Nephew. On the Same and the Different; Questions on Natural Science and On Birds , hg. und übers. Charles Burnett (Cambridge 1998), 104: Neque tamen id ad vivum reseco, ut auctoritas me iudice spernanda sit. Id autem assero, quod prius ratio inquirenda sit , ea inventa auctoritas , si adiacet, demum subdenda. Ipsa vero sola nec fidem philosopho facere potest , nec ad hoc adducenda est. Unde et logici locum ab auctoritate probabilem , non necessarium esse consenserunt. Quare si quid amplius me audire desideras, rationem refer et recipe. Non enim ego ille sum, quem pellis pictura pascere possit. Omnis quippe litter a meretrix est, nunc ad hoc nunc ad illos affectus exposita;
Dunkelheit und Licht
17
Deutlich enthält die Forderung, die Vernunft als einzig gültigen Maßstab einzusetzen, als ihr negatives Korrelat die Erkenntnis, dass die situativ changierende Berufung auf das lediglich qua Autorität Abgesicherte zu höchst heterogenen, gegenüber den historischen Umständen und persönlichen oder institutionellen Interessen der Interpreten keineswegs neutralen Ergebnissen führen kann. Dies w i r d aus heutiger Sicht kaum überraschen, scheint aber mit der für die christliche Hermeneutik behaupteten »Einheitlichkeit eines monotheistisch verbürgten Sinns« nicht recht übereinstimmen zu wollen. Eher w i r d man davon ausgehen müssen, dass die schon mittelalterlichen Autoren als exegetischer Wildwuchs erscheinende Auslegungs-Prvms gleichsam ein subversives Element ins Spiel bringt, das den Anspruch, die Suche nach Sinn ein für allemal stillzustellen, konterkariert. Auslegungen, von denen jede mit der vorgeblichen A m b i t i o n auftreten mag, Eindeutiges zu präsentieren, in der Vielzahl jedoch verschiedene und widersprüchliche Deutungsmöglichkeiten anbieten, können nicht wirklich überzeugend unter dem Oberbegriff »Einheitlichkeit verbucht werden. Daher scheint es sinnvoll zu sein, sich darüber Gedanken zu machen, wie denn Deutungen de facto abgesichert werden. Dass dies nicht durch die Texte selbst, sondern nur durch eine wie auch immer geartete außertextuelle Autorität geschehen kann, ist zumindest für die, die nicht selbst i m System verwurzelt sind, unmittelbar einleuchtend. So muss sich eine solche Autorität auf eine Macht stützen, etwa auf eine höheres Wissen für sich reklamierende Institution, die mittels »struktureller Gewalt« (Johan Galtung) oder auch unverhohlener Drohung die Grenzen zwischen Orthodoxie und Häresie festzulegen in der Lage ist. Allerdings sind diese Grenzen, wie sowohl die Entstehung des christlichen Dogmas als auch die fortwährenden Auseinandersetzungen der Kirche mit als häretisch deklassierten Positionen zeigen, fließend und keineswegs von vornherein starr festgelegt. Sie werden in einem permanenten agonalen Prozess gegen widerständige Positionen neu bestimmt und an die aktuellen Gegebenheiten angepasst. Kurz: derjenige w i r d die Hoheit über die Deutung von Texten beanspruchen können, der die Macht hat, sie als legitim oder illegitim, orthodox oder ketzerisch zu definieren. 21
Alanus de Insulis, Contra Haereticos libri quatuor,; in: PL 210, col. 305-430, hier col. 333: Sed quia auctoritas cereum habet nasum id est in diversum potest ßecti sensumy rationibus roborandum est. Vgl. dazu Peter von Moos, »Das argumentative Exemplum und die »wächserne Nase< der Autorität i m Mittelalter«, in: Willem J. Aerts und Martin Gosman (Hgg.), Exemplum et Similitudo. Alexander the Great and other heroes as points of reference in medieval literature (Groningen 1988), 5 5 - 8 4 . 20
Adelard von Bath, Quaestiones naturales, 11 [Burnett 102], vgl. dazu das Kapitel »>Quid enim aliud auctoritas dicenda est quam capistrumprekären< Status v o n T e x t e n z u b e t r a c h t e n - e i n e n Status, i n d e m eben n i c h t der i m m e r s c h o n v o n v o r n h e r e i n feststehende S i n n u n t e r s t e l l t w e r d e n darf, s o n d e r n i m G e g e n t e i l die andauernde A r b e i t an seiner A u s l e g u n g als die d a n n keineswegs m e h r feste G r u n d l a g e des Verständnisses angesehen w e r d e n müsste. Texte s i n d m i t h i n keineswegs selbstv e r s t ä n d l i c h - w e n n sie es w ä r e n , hätte a u f d e n i m m e n s e n A u f w ä n d d e r stets erneuerten K o m m e n t a r e v e r z i c h t e t w e r d e n k ö n n e n - , s o n d e r n geben i h r e n S i n n erst i n der u n d d u r c h die p e r m a n e n t e A r b e i t f r e i . 2 2 D e r d e n h e u t i g e n L e s e r n l e i c h t als K o m m e n t i e r u n g s w u t erscheinende U m g a n g m i t - k o r r e l a t i v d a z u als e r k l ä r u n g s b e d ü r f t i g angesehenen Texten, das beständige N a c h f r a g e n
und
die Suche n a c h e i n e m m ö g l i c h e n H i n t e r s i n n scheint m i r eine G r u n d k a t e g o r i e z u m i n d e s t des gelehrten U m g a n g s m i t L i t e r a t u r z u beschreiben, einen als »generative G r a m m a t i k der H a n d l u n g s m u s t e r « ( B o u r d i e u ) b e s t i m m b a r e n > H a b i t u s < 2 3 , d e r die m i t t e l a l t e r l i c h e n L e k t ü r e n l e n k t u n d r e g l e m e n t i e r t . 21 Das ist eine Konsequenz, die sich aus dem Problem des Verhältnisses von richtigen Lektüren und Fehllektüren ableitet. Vgl. Jonathan Culler, Dekonstruktion. Derrida und die Poststrukturalistiscbe Literaturtheorie (Reinbek 1992), 198 f.: »Wie andere Inversionen zerreißt auch die Umkehrung der Beziehung von Verstehen und Missverstehen eine Struktur, auf die Institutionen sich bisher verlassen haben. I n Angriffen gegen Dekonstruktivisten und andere so verschiedene Kritiker wie Bloom, Hartman und Fish w i r d immer wieder betont, dass die von unseren Institutionen vertretenen Begriffe wie Sinn, Wert und Autorität in Gefahr sind, wenn tatsächlich alle Lektüren Fehllektüren sind. Die Lektüre eines jeden Lesers wäre dann genauso richtig und legitim wie jede andere, und weder Lehrer noch Texte könnten ihre gewohnte Autorität aufrechterhalten. I n Wirklichkeit aber führen solche Inversionen zu einer Verschiebung der Fragestellung. Sie regen zum Nachdenken darüber an, w o r i n denn die Prozesse der Legitimierung, Bewertung und Autorisierung bestehen, die zu verschiedenen Lektüren führen und eine Lektüre dazu berechtigen, eine andere als Fehllektüre bloßzustellen. A u f gleiche Weise ermöglicht die Bestimmung des Normalen als Sonderfall des Devianten, die institutionellen Kräfte und Praktiken in Frage zu stellen, die das Normale institutionalisieren, indem sie das Deviante ausschließen.« 22 Ähnlich schon 1927 Erich Seeberg in seinem Beitrag zur Festschrift Erich Sellin: »Viel von dem, was man die Kontinuität des geistigen Lebens nennt, erklärt sich aus der umdeutenden Produktivmachung geistiger Inhalte; und die Einheitlichkeit geistiger Tradition ist oft nichts anderes, als die ganz naive Verwertung von Gedanken, deren eigentlicher Sinn dem Bewusstsein verloren gegangen ist. Das Zäheste in der Geschichte sind die Formen und Formeln, die die in der Verwandlung konservierende Umdeutung von Inhalten ermöglichen. Die christliche Religion hätte den Untergang der Antike kaum überdauert, wenn nicht die Bibel und mit ihr die Möglichkeit zu neuer produktiver Umdeutung und Umgestaltung geblieben wäre«, Erich Seeberg, »Zum Problem der pneumatischen Exegese«, in: William F. Albright (Hg.), Ernst Sellin. Festschrift zum 60. Geburtstag (Leipzig 1927), 127-137, zitiert nach dem Wiederabdruck in: Hans-Georg Gadamer und Gottfried Boehm (Hgg.), Seminar: Die Hermeneutik und die Wissenschaften (Frankfurt am Main 2 1985), 272-282, hier 276 f.
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Antike und christliche Überlegungen zur Dunkelheit Es wäre allerdings kühn zu behaupten, dass man sich bei der Betrachtung >dunkler< Texte auf dem Boden eines durch sichere Grenzen eingefriedeten Geländes bewege. Der Begriff obscuritas ist selbst obskur, oder wenn man der Tautologie ein in diesem Fall vielleicht sogar treffenderes O x y m o r o n vorziehen mag: schillernd. D e m Leser, so der immer noch plausible Katalog des Quintilian, 2 4 werden Texte dunkel erscheinen, die sich ungebräuchlicher oder antiquierter Wörter bedienen; die Homonyme ungeklärt lassen; 25 die (was i m Lateinischen bekanntlich einfach ist) die reguläre Wortstellung innerhalb eines Satzes aufgeben (mixtura verborum). Schwer zu verstehen sind ferner Sätze, deren syntaktische Bezüge nicht eindeutig sind (ambiguitas), aber auch Texte, die durch ihre Geschwätzigkeit allzu weitschweifig und unkonzentriert oder i m Gegenteil durch übergroße Auslassungen allzu knapp sind und so den Leser ratlos lassen. Als lächerliche Figur erscheint jener griechische Lehrer, der seine Schüler zu dunkler Sprechweise anhielt, um die in seinem Sinne Erfolgreichen mit den Worten zu loben: »Bravo! N i c h t einmal ich habe es verstanden.« 26 A m übelsten aber sind für Quintilian jene »Unsinnigkeiten«, die hinter (scheinbar) leicht verständlichen Worten einen geheimen Sinn verbergen. Dieser Stil habe viele Anhänger gefunden, und etlichen erschiene vor allem diejenige Redeweise als gewählt und exquisit, die interpretationsbedürftig sei. So gefalle es den Zuhörern, wenn sie das Gesagte endlich verstanden hätten, sich am eigenen Scharfsinn zu ergötzen, und sie seien so glücklich, als ob sie es nicht nur gehört, sondern selbst erfunden hätten. 2 7 23 Der Begriff wurde von E r w i n Panofsky bereits vor etwa einem halben Jahrhundert in die kunstgeschichtliche Diskussion eingeführt und von Pierre Bourdieu für die Soziologie nutzbar gemacht. Vgl. E r w i n Panofsky, Gothic Architecture and Scholasticism. An Inquiry into the analogy of the arts , philosophy , and religion in the Middle Ages (New York et al. 1976 [zuerst 1951]); Pierre Bourdieu, »Der Habitus als Vermittlung zwischen Struktur und Praxis«, in: ders., Zur Soziologie der symbolischen Formen (Frankfurt am M a i n 2 1983), 125-158; Zitat ebd., 150. 24 Marcus Fabius Quintiiianus, Institutiones Bonnell (Leipzig 1888), Bd. 2, 4 9 - 5 1 .
Oratoriae
V I I I , 2, 1 2 - 2 4 , rec. Eduard
25 Quintilian, Inst. or. V I I I , 2, 13 (ebd., 49). Quintilian nennt als Beispiel, dass man aus dem Wort taurus allein nicht ablesen könne, ob von dem Tier, von dem Berg, dem Sternzeichen, dem Namen eines Menschen oder einer Baumwurzel die Rede sei. 26 Quintilian, Inst. or. V I I I , 2, 18 (ebd., 50): Unde illa egregia laudatio >Tanto melior; ne ego quidem intellexi.< 27 Quintilian, Inst. or. V I I I , 2, 2 0 - 2 1 (ebd., 50 f.): Pessima autem sunt aöiavoriTCX, hoc est, quae verbis aperta occultos sensus habent: ut C u m ductus est caecus secundum viam stare, et, qui suos artus morsu lacerasset, fingitur in scholis supra se cubasse. Ingeniosa haec et fortia et ex ancipiti diserta creduntur.; pervasitque iam multos ista persuasio, ut id iam demum eleganter atque exquisite dictum putent, quod interpretandum sit. Sed auditoribus
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Von all den Möglichkeiten, dunkel zu sprechen oder zu schreiben, dürfte diese letzte Spielart die interessanteste sein, behandelt sie doch, wie Manfred Fuhrmann bemerkt, »eine artistische Verrätselung, die durchaus auf das eingeübte Publikum, auf dessen Fähigkeit, die Lösung zu finden, angewiesen war.« 2 8 Sie entspricht in etwa jenem Grenzfall der Allegorie, den Quintilian an anderer Stelle als aenigma beschreibt, und der eine den Sinn ins Rätselhafte verdunkelnde Sprechweise meint, die unverständlich bleibt, solange sie nicht durch jemanden ausgelegt w i r d . 2 9 Für eine am Ziel der Klarheit (perspicuitas) 30 ausgerichtete Lehre, zu der sich Quintilian ausdrücklich bekennt, zählen die aenigmata naturgemäß zu jenen Kniffen rhetorischer Rabulistik, mit denen eine unkritische, weniger dem Inhalt als der Form zugeneigte Hörer- oder Leserschaft zu beeindrucken ist, vor denen sich jedoch ein um Aufrichtigkeit bemühter und damit billige Wirkungen vermeidender Rhetor unbedingt hüten sollte. Die in den Institutiones angeführten Beispiele dunkler Sprache bilden so vor allem die Negativfolie, die das Ideal eindeutigen, das heißt klaren und präzisen Sprechens um so deutlicher (dilucide) hervortreten lässt. N u n fällt auf, dass die Belege für solche rhetorischen Missgriffe zum großen Teil keineswegs dem engeren Bereich der Redekunst entnommen sind, sondern aus der lateinischen Dichtung stammen. Dass sie der Illustration von Fehlern dienen, zeigt, dass auch die Poesie bei der Verwendung solcher Mittel nicht mit der vorbehaltlosen Zustimmung Quintilians rechnen darf. Man w i r d daher keinesfalls sagen können, dass i m Gegensatz zur Rhetorik nun der Dichtung gleichsam beiläufig die Lizenz, sich dunkler Sprache zu bedienen, erteilt worden wäre. Andererseits ist Quintilian ein viel zu belesener und kunstsinniger Autor, um nicht zu wissen, dass angesichts der unterschiedlichen Möglich-
etiam nonnullis grata sunt haec, quae cum intellexerunt: acumine suo delectantur et gaudent, non quasi audiererint sed quasi invenerint. Vgl. dazu den überaus informativen Aufsatz von Manfred Fuhrmann, »Obscuritas. Das Problem der Dunkelheit in der rhetorischen und literarästhetischen Theorie der Antike«, in: Wolfgang Iser (Hg.), Immanente Ästhetik - Ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne (München 2 1983), 4 7 - 7 2 , v. a. 57-59. 28
Ebd., 59.
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Quintilian, Inst. or. V I I I , 6, 5 2 - 5 3 (Bonnell, 83): Haec allegoria, quae est obscurior; aenigma dicitur; vitium meo quidem iudicio, si quidem dicere dilucide virtus; quo tarnen et poetae utuntur: Die, quibus in terris, et eris mihi magnus Apollo, / Tres pateat coeli spatium non amplius ulnas? [Vergil, Ecl. 3, 104-105], et oratores nonnumquam: ut Caelius quadrantariam Clytaemnestram, et in triclinio coam, in cubiculo nolam. Namque et nunc quidem solvuntur et tum erant notiora, cum dicerentur; aenigmata sunt tarnen, nec ea, nisi quis interpretetur [!], intellegas. 30 Quintilian, Inst. or. V I I I , 2, 22 (ebd., 51): Nobis prima sit virtus perspicuitas, propria verba , rectus or do, non in longum dilata conclusio; nihil neque desit neque superfluat. Ita sermo et doctis probabilis et planus imperitis erit. Haec eloquendi observatio.
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keiten, mit dem Material Sprache umzugehen, manches von dem, was die Rhetorik als Fauxpas zu tadeln hat, für die Poesie (und sei es bisweilen nur u m der M e t r i k 3 1 willen) erlaubt sein muss. Vor allem aber ist er sich des Umstands sehr bewusst, dass die Realität der Poesie die Dunkelheit immer schon als legitimes Stilmittel für sich reklamiert hat. So lässt Quintilians K r i t i k an der obscuritas mittelbar aufscheinen, was w o h l immer schon die ureigene Domäne der Dichtung gewesen ist: durch syntaktische und semantische Besonderheiten jene >Differenzqualität< herzustellen, die poetische von alltäglicher Sprache, aber auch von einer auf definierte Zwecke ausgerichteten Rhetorik abgrenzt. Ohne nun hier überzeitliche, universale Aussagen zum >Wesen von Dichtung< machen zu wollen und auch ohne Quintilian allzu gewaltsam an die Moderne heranzuziehen, scheint mir doch eine Formulierung Wolf-Dieter Stempels anlässlich eines Gedichts Mallarmes zutreffend zu beschreiben, was sich ex negativo auch aus den Institutiones herauslesen lässt: Es besteht nun kein Zweifel mehr, welchem Umstand die mannigfachen sinnlichen und intellektuellen Reize zuzuschreiben sind oder richtiger, welchem Umstand sie überhaupt ihre Wirkung verdanken: nur dadurch, dass syntaktische Beziehungen in der Schwebe bleiben, daß an ihre Stelle Beziehbarkeiten getreten sind, kann der ästhetische Ertrag ungeschmälert zur Geltung kommen. Durch die Verdunklung von syntaktischer Gliederung erschließen sich der lyrischen Erfahrung neue Möglichkeiten, die, wofern sie nur wahrgenommen werden, die Frage der Korrektheit oder Eindeutigkeit der syntaktischen Fügung in den Hintergrund rücken. 3 2
So verstanden wäre Dunkelheit eher ein Zugewinn als ein Mangel; die nur unter mehr oder weniger großen Anstrengungen zu überbrückende Kluft zwischen spiritus und littera , sens und matiere , rede und meine wäre zumindest eines der Konstituentien für den ästhetischen Charakter von Texten. 33 N u n ist Dunkelheit sicherlich nicht das Kriterium, anhand dessen die literarische Qualität literarischer Erzeugnisse allein bemessen werden könnte. Ebenso wenig ist sie ein Phänomen, das ausschließlich in >guter< Poesie oder 31 So Quintilian, Inst. or. V I I I , 6,17. Vgl. auch Inst. or. V I I I , 3, 73. Die Hinweise finden sich bei Fuhrmann, »Obscuritas«, 59, A n m . 49. 32 Wolf-Dieter Stempel, »Syntax in dunkler Lyrik (Zu Mallarmes A la nue accablante )«, in: Wolfgang Iser (Hg.), Immanente Ästhetik - Ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne , Poetik und Hermeneutik 2 (München 2 1983), 3 3 - 4 6 , hier 45. 33 So scheint es auch O t f r i d von Weißenburg zu sehen: Iz ist dl thuruh not so kleino giredinot/ (iz dünkal eigun füntan), zisämane gibüntan; / Sie ouh in thiu gisagetin, thaz then thio büah nirsmdhetin y / ioh uuöl er sih firuuesti , then lesan iz gilüsti (Otfrids Evangelienbuch I, 1, V. 7 - 1 0 ) . Der Text folgt der Ausgabe: Althochdeutsche Literatur ; übers., hg. und komm. Stephan Müller (Stuttgart 2007), 106; vgl. auch den Kommentar zur Stelle, 328.
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>schlechter< Rhetorik beheimatet wäre. Jenseits der von Quintilians Katalog erfassten Uneindeutigkeiten ist es eine eher banale Erkenntnis, dass jeder Text selbst dann dunkel werden kann, wenn sich sein Autor, so weit das überhaupt möglich ist, u m die Vermeidung jeder syntaktischen und semantischen A m b i valenz bemüht haben sollte. Texte entfernen sich, sei es als i m Gedächtnis gespeicherte Erinnerung, sei es als schriftlich fixiertes Dokument, immer weiter von den intellektuellen und sozialen Kontexten ihrer Entstehung. Konrad Ehlich hat dieses Uberlieferungsphänomen, durch das nach seiner Ansicht erst >Texte< in ihrer »sprechsituationsüberdauernden Stabilität« 34 konstituiert werden, mit der (in der Tat glücklich geprägten) Formel der »zerdehnten Sprechsituation« zu fassen versucht. 35 Sie meint eine Form indirekter, nicht von Angesicht zu Angesicht erfolgender Kommunikation, die nötig wird, weil die Beteiligten sich entweder zeitgleich an unterschiedlichen Orten (»Diatopie«) aufhalten oder aber Informationen über einen längeren Zeitraum (»Diachronie«) gespeichert werden müssen, u m jederzeit aktuell abrufbar zu sein. Unabhängig von den Unterschieden, die Diatopie oder Diachronie zeitigen mögen, gilt für beide, dass ein Text aufbewahrt wird, »um in eine zweite Sprech Situation hineintransportiert zu werden.« 3 6 Er »wird von der primären unmittelbaren Sprechsituation abgelöst und dadurch für die weitere Verwendung in anderen Sprechsituationen zur Verfügung gestellt.« 37 Dies gilt für orale Gesellschaften ebenso wie für literale. 38
34 Konrad Ehlich, »Text und sprachliches Handeln. Die Entstehung von Texten aus dem Bedürfnis nach Überlieferung«, in: Aleida und Jan Assmann und Christof Hardmeier (Hgg.), Schrift und Gedächtnis, Archäologie der literarischen Kommunikation I (München 1983), 2 4 - 4 3 , hier 32. >Texte< gibt es daher, anders als der gewöhnliche Sprachgebrauch es nahelegt, nicht nur als Schriftphänomen, sondern auch in oralen Gesellschaften. 35 Ebd. Der Gedanke w i r d aufgegriffen und weiterentwickelt bei Jan Assmann, »Text und Kommentar. Einführung«, in: Jan Assmann und Burkhard Gladigow (Hgg.), Text und Kommentar; Archäologie der literarischen Kommunikation I V (München 1995), 9 - 3 3 , v. a. 9 f., 22 ff.; Peter Stotz, »Beobachtungen zur lateinischen Kommentarliteratur des Mittelalters: Formen und Funktionen«, Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 3 (1998), H . 1: Artes im Medienwandel, 5 5 - 7 2 , hier 67 f. 36
Ehlich, »Text und sprachliches Handeln«, 32 (Herv. K. E.).
37
Ebd.
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Die durchaus leistungsfähigen Verfahren, die orale Gesellschaften für diese Zwecke entwickelt haben, sind wohlbekannt und seien deshalb nur beiläufig erwähnt: der Nachrichtenaustausch von O r t zu O r t ist mit Boten zu bewerkstelligen; in den für das soziale Leben sensibleren, auf dauerhafte Erinnerung angelegten Bereichen wie Recht oder Religion übernimmt eine Kaste von Spezialisten als Richter, Priester, Schamanen o. a. die Rolle des »personalisiertefn] gesellschaftlichefn] Gedächtnisses]« (ebd., 33). Wie zuverlässig aber auch immer die Erinnerung der Überlieferungsträger sein mag: eine solche Form der Tradierung bedarf einer permanenten Weitergabe. Was einmal vergessen ist, bleibt für alle Zeiten verloren.
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Allerdings weisen niedergeschriebene Texte gegenüber einer nur mündlich tradierten Uberlieferung einige Besonderheiten auf. Z u m einen brauchen sie keine permanente Uberlieferungskette. Sofern nur ihr materielles Substrat genügend dauerhaft ist, kann eine zwischenzeitlich unterbrochene Rezeption jederzeit wieder aufgenommen werden. Der zeitlichen Ausweitung der »zerdehnten Sprechsituation< sind somit prinzipiell keine Grenzen gesetzt. U n abhängig davon aber, ob die Rezeption kontinuierlich oder diskontinuierlich verläuft, bleibt die naturgemäß immer größer werdende Entfernung von der Entstehungszeit eines Textes nicht folgenlos: Wortbedeutungen können sich verändern oder ganz vergessen werden; Informationen über eingeflossene politische Ereignisse oder lebensweltliche Bedingungen werden zunehmend lückenhaft; Kenntnisse über ästhetische Standards gehen verloren etc. Kurz: im selben Maße, wie das in Texte eingewobene implizite Wissen unzugänglich wird, erscheinen sie als zunehmend schwerverständlich und somit erläuterungsbedürftig. Dies ist ein gewöhnlicher Vorgang, dem von altersher in den Anmerkungsapparaten von Klassiker-Ausgaben mit ihren ausgedehnten »Wort- und Sacherläuterungen< Rechnung getragen wurde und trotz all der (nicht immer lichtvollen) Kanon-Debatten immer noch Rechnung getragen wird. N u n sollte es nicht schwer sein, sich darüber zu verständigen, dass »Klassizität keine Texten an sich innewohnende Eigenschaft ist, sondern eine innerhalb ihrer Rezeption virulent werdende Zuschreibung, die sich (seit ihren Anfängen in den frühen Homer-Deutungen) nicht zuletzt den philologischen Bemühungen u m Textsicherung und Textverständnis verdankt. I n einer zirkulären Bewegung verleiht die philologische Arbeit ihren Gegenständen, die ja als solcher Mühe wert befunden werden, ein Gutteil ihrer Dignität, 3 9 wie umgekehrt ihrerseits die Be39
Jan Assmann hat in seiner schon genannten Abhandlung in Anschluss an Karlheinz Stierle den interessanten Gedanken formuliert, dass Text und Kommentar als Korrelatbegriffe aufzufassen seien: »»Zum Text w i r d eine sprachliche Äußerung als Objekt philologischer Arbeit: Textkritik, Herstellung des Textes, Edition, Kommentierung, auch: Ubersetzung. I n der Regel ist eine sprachliche Äußerung, z. B. ein Gedicht, nicht als »Text< gemeint; es w i l l Gegenstand jeglicher A r t von Genuss, Vergnügen, Belehrung und Bewunderung, aber nicht philologischer Arbeit sein. Diese gehört in einen Horizont, der der sprachlichen Äußerung gegenüber sekundär und nachträglich ist. Der Begriff Text hat also i m Primärhorizont sprachlicher Kommunikation zunächst einmal keinerlei natürliche Evidenz. Von Texten spricht man erst i m Sekundärhorizont einer philologischen Auslegungskultur. Dieser entsteht dort, w o man es mit sprachlichen Äußerungen zu tun hat, deren Verständnis auf Grund hohen Alters oder sonstiger interkultureller Fremdheit problematisch geworden ist, also insbesondere i m Umkreis der antiken Texte. Weil aber das antike Werk aufgrund seines problematisch gewordenen »Textes< die philologische Arbeit nicht nur erfordert - wegen der Brüchigkeit der Uberlieferung, der Fülle der eingedrungenen Abschreibefehler, der verschwundenen Wissenshorizonte - , sondern auch und vor allem, weil es sie verdient, w i r d das Wort Text zu einem Adelstitel der Tradition: er kommt nur
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schäftigung mit solchen Texten die Philologen und ihr Geschäft nobilitiert. Das Ziel all dieser Anstrengungen ist, einen aus welchen Gründen auch immer für exzeptionell gehaltenen und den Anspruch überzeitlicher Aktualität erhebenden Text jeweils neuen Lesergenerationen zu übermitteln. I n der ernüchternden Realität praktischer Umsetzung bedeutet dies zunächst, etwaige Schwierigkeiten des Textverständnisses beiseite zu räumen. »Im Scholienkommentar«, schreibt Peter Stotz, »wird von den einzelnen Wörtern und Sätzen ausgegangen, von einzelnen Widerhaken gleichsam, die sich einer glatten Textlektüre entgegenstellen. Er ist fortlaufend gehalten in dem Sinne, daß alle schwierig oder bemerkenswert beurteilten Stellen der Reihe nach erklärt sind.« 4 0 Es verwundert nicht, dass man unter all den Verstehenshemmnissen, die ein guter Kommentator notiert und wenn möglich beiseite räumt, gelegentlich auch den von Quintilian angeführten obscuritates wiederbegegnet, freilich nicht in der Absicht, diese zu kritisieren, sondern einzig, um deren Verständnis zu erleichtern. So ist der in den Institutiones {Inst. or. V I I I , 2, 14) als Beispiel für die mixtura verborum angeführte Vers aus der Aeneis Vergils: Saxa vocant Itali mediis quae in fructibus aras (Aen. I, 109) dem monumentalen, während des ganzen Mittelalters als Standard angesehenen Kommentar des Servius eine ausführliche Anmerkung wert, die der Dunkelheit der Stelle zudem dadurch zu entsprechen sucht, dass sie außer der offensichtlich bevorzugten Lesart einige der von früheren Deutern vorgeschlagenen Alternativen anbietet. 41 Insgesamt ist der Servius-Kommentar höchst sorgfältig gearbeitet und bietet aufgrund seiner gewissermaßen >zeitlosen< Anlage auch einem heutigen Leser neben grammatischen und syntaktischen Erläuterungen zu den bekanntlich nicht immer ganz einfachen Texten Vergils eine Fülle literarischer und kulturhistorischer Informationen. Ohne sich selbst in interpretatorischen Spekulationen zu ergehen, leistet er vor allem die Vorarbeit für jede weitere Form der Textaneignung, indem er das zum Verständnis nötige Material bereitstellt. Z u dem von Servius repräsentierten Typus gehört ein Großteil der Kommentare zu den in
demjenigen Sprach- oder Schriftwerk zu, das i m Überlieferungsprozess zum Gegenstand textpflegerischer Behandlung geworden ist«, Assmann, »Text und Kommentar: Einführung«, 19. 40
Stotz, »Beobachtungen«, 59.
41
Servii Grammatici qui feruntur in Vergilii carmina commentarii, hg. Georg T h i l o und Hermann Hagen (Leipzig 1881, Repr. Hildesheim 1986), Bd. 1, 52 (Editio Havardiana: Servianorum in Vergilii Carmina Commentarii, Vol. I I , ed. E. K . Rand et al. [Lancaster, P e n n s . 1 9 4 6 ] , 73 f.): SAXA VOCANT ITALI MEDIIS QUE IN FluCTI BUS ARAS ordo
est, quae
saxa
in
mediis fluctibus aras vocant. pro quibus hunc ordinem esse ait >tris Notus abreptas mediis ßuctibus in saxa latentia torquet< alii >mediis (quae) fluctibus aras< legunt, ut sit ordo >saxa vocant Itali aras, quae mediis fluctibussuntreineeigentlichen< Sinn eines Textes zu eruieren, der an Gehalt und Bedeutung das durch simple Lektüre zugängliche Verständnis der litterae bei weitem überragt. Während des hier interessierenden Zeitraums der Spätantike und des Mittelalters betrifft diese Deutungsweise vor allem biblische Texte und unter diesen hauptsächlich diejenigen Bücher des Alten Testamentes, denen man eine verborgene, erst den christlichen Lesern zugängliche Bedeutung unterstellte, aber auch christliche Mythendeutungen, bevorzugt in Kommentaren zu Vergil, Statius und Ovid, jedoch auch in einigen mythographischen Handbüchern. Zusätzlich existieren >halb- und außerbiblische Typologien< 43 (Friedrich Ohly), die heidnisches und christliches Gedankengut miteinander verquicken. 42 Vgl. Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (Bern / München 9 1978), 58 ff., 265 ff.; Günter Glauche, Schullektüre im Mittelalter. Entstehung und Wandlungen des Lektürekanons bis 1200 nach den Quellen dargestellt (München 1970). Zudem verweise ich auf meinen Aufsatz: »»Aneignung und Variation^ Z u m Problem der christlichen Rezeption antiker Literatur i m Allgemeinen und zum Statius-Kommentar des >Fulgentius< i m Besonderen«, in: Thomas Rathmann und Nikolaus Wegmann (Hgg.), »Quelle«. Zwischen Ursprung und Konstrukt. Ein Leitbegriff in der Diskussion , Beihefte zur ZfdPh 12 (Berlin 2004), 196-208. 43 Vgl. dazu die einschlägigen Arbeiten von Friedrich Ohly, »Außerbiblisch Typologisches zwischen Cicero, Ambrosius und Aelred von Rievaulx«, in: ders., Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung (Darmstadt 1977), 338-360, sowie ders., »Halbbiblische und außerbiblische Typologie«, ebd., 361 - 4 0 0 .
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Während jedoch bei Werken der heidnischen Antike immerhin die Möglichkeit bestand, i m Rahmen bisweilen gravierender und komplexer Überlegungen darüber zu entscheiden, ob nach Abwägung von Nutzen und Gefahren 44 die Integration in den Kanon statthafter Lektüren wünschenswert sei oder nicht, hatte i m Falle der Bibel als eines heiligen, durch seinen göttlichen A u t o r den Lesern offenbarten Textes sich die Frage nach der Relevanz oder Irrelevanz irgendeiner Passage spätestens seit der Herausbildung des christlichen Kanons erübrigt. 4 5 Die Bibel konstituiert sich, so eine markante Formulierung von Campenhausens, als »Christusbuch. Die >Herrenschriften< bezeugen den Herrn - das Alte Testament prophetisch, das Neue Testament historisch. Christus spricht in beiden Testamenten und ist ihr eigentlicher Inhalt. Dies allein macht sie zur christlichen Bibel, zum Buch der christlichen Kirche.« 4 6 Der Umstand, dass es sich vornehmlich u m Texte handelt, die in der einen oder anderen Weise kanonisch sind, ist von großer Relevanz, führt dies doch zu der geradezu paradoxen Spreizung, dass die Überlieferung einerseits zu strenger Worttreue verpflichtet wird, während auf der anderen Seite zu jedem M o ment ein interpretatorischer Neueinsatz möglich ist, der bei unverändertem Wortlaut zu diametral voneinander abweichenden Lesarten führen kann. »Das besondere Verpflichtungsverhältnis gegenüber Kommentierung und Text«, so eine Formulierung Burkhart Gladigows, w i r d i m Allgemeinen auch durch eine formale Autorisierung des Primärtextes begründet: Er basiert auf Verbalinspiration, ist präexistent, wurde auf wunderbare Weise gefunden oder ist einfach uralt. Daraus resultiert, dass in den Text nicht eingegriffen, er nicht einmal erweitert werden darf, dass er »festgestellt und verbindlich ist. Umso konsequenter greift dafür der Kommentar in die »Zweite Variables das Verhältnis von Text und Leser oder Hörer, ein. 4 7 44 Es ist ein Topos dieser Diskussion, dass antike Texte die Leser vom eigentlich Wesentlichen ablenken. Als frühes und gewichtiges Beispiel sei eine Passage aus den Confessiones Augustins angeführt: I, 13 (Skutella, 15 f.): nam utique meliores, quia certiores, erant primae illae litterae, quibus fiebat in me et factum est et habeo illud, ut et legam y si quid scriptum invenio, et scribam ipse, si quid volo, quam illae, quibus tenere cogebar Aeneae nescio cuius errores oblitus errorum meorum et plorare Didonem mortuam y quia se occidit ab amore y cum interea me ipsum in bis a te morientem y deus y vita meay siccis oculis ferrem miserius. Quid enim miserius misero non miserante se ipsum et flente Didonis mortem y quae fiebat amando Aeneany non flente autem mortem suamy quae fiebat non amando te y deus, lumen cordis mei et panis oris intus animae meae et virtus maritans mentem meam et signum cogitationis meae f 45 Für allgemeinere Informationen vgl. das höchst lesenswerte Buch von Hans Freiherr von Campenhausen, Die Entstehung der christlichen Bibel (Tübingen 2 2003). 46 47
Ebd., 378 [Herv. Campenhausen].
Burkhart Gladigow, »Der Kommentar als Hypothek des Textes. Systematische Erwägungen und historische Analysen«, in: Assmann und Gladigow (Hgg.), Text und Kommentar,; 3 5 - 4 9 , hier 35 f.
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I n weitgehender Missachtung der historischen Entstehungssituation und der Möglichkeiten dessen, was die Hermeneutik später >Horizontverschmelzung< 48 nennen sollte, w i r d - u m noch einmal Ehlichs Terminologie zu bemühen - die sekundäre Sprechsituation auf die primäre rejiziert. Die Texte werden so gelesen, als ob sie für christliche Rezipienten geschrieben wären. M i t diesem >als ob< ist freilich die Distanz einer Meta-Ebene gewahrt, auf der sich die antiken und mittelalterlichen Verfechter allegorischer Deutungen keinesfalls bewegen. Für sie verhält es sich vielmehr so, dass die Texte für sie geschrieben worden sind. Dies kann auf Teile der antiken Literatur zutreffen, muss jedoch für die Bibel gelten, für deren Auslegung es die zentrale Grundvoraussetzung ist, dass es eben der eine Autor des einen Buches gewesen war, der seiner Christengemeinde überzeitlich gültige Glaubenswahrheiten zu offenbaren beabsichtigte - möglicherweise nicht überall ohne weiteres zugänglich, aber doch immerhin so, dass der, der wusste, wonach er zu suchen hatte, fündig werden konnte. »Alles ist für den Hörer und Leser auf immer verloren«, schreibt Hans Blumenberg in seinem Buch Matth äuspassion, wenn er aus den Geschichten nicht mehr die eine Geschichte zusammenbringt, in der er mit dem Einen sich als einen vorkommen lassen kann. Er muss den Gott, der dem Abraham das Sohnesopfer erließ, noch wiedererkennen können in dem, der, u m sein Wort zu halten, nicht aus noch ein und nichts anderes wusste, denn den eigenen Sohn ohne den Widderersatz als Opferlamm sich darbringen zu lassen und, empörend genug, anzunehmen. 49
Die Exegese hatte mithin die Konsistenz eines, wie vor allem die protestantische Bibelkritik zu zeigen nicht müde w i r d , 5 0 aus heterogenen Versatzstücken zusammengesetzten Buches zu sichern, dessen Aussage als Wort Gottes eben nicht heterogen sein durfte. 5 1 48 Vgl. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (Tübingen 4 1975), 286 ff. 49 Hans Blumenberg, »Der eine A u t o r der einen Geschichte«, in: ders., Matthäuspassion (Frankfurt am Main 3 1991), 21 - 2 7 , hier 23. 50 Vgl. z. B. Eve-Marie Becker, »Die synoptischen Evangelien und ihre Quellen. Uberlegungen zur Terminologie und Methodologie der Evangelien-Exegese«, in: Rathmann und Wegmann (Hgg.), Quelle , 129-149. 51 Blumenberg, »Der eine Autor«, 21: »So wenig hat sich auch unter dem subtilen Handwerk der historisch-philologischen Bibelkritik daran geändert, dass w i r - obwohl selbst Erben und Schuldner dieser Zerlegungen weniger Verfasser in viele - den Bibelleser durch zwei Jahrtausende hindurch als den Konsumenten eines einzigen Autors wahrnehmen, der alles verbürgt und erschließt, was da an unübersehbar Heterogenem vor ihm liegt. N o c h den modernen Theologen überrascht man immer wieder bei dem Bibelumgang, der wie der frühe Kirchenvater Zitat an Zitat, Bild an Bild fügt, als sei >das Gotteswort< eben doch das eines einzigen Urhebers, der sich nur aus zweckmäßigen Gründen so vieler Sprecher, so sich vermehrender Quellen, Urquellen und Bearbeitungen bedient
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Das belastet die Lektüre mit der nicht unerheblichen Hypothek, auch dort Hintersinn vermuten zu müssen, w o die offen zutage tretende Bedeutung klar zu sein scheint. Ist für unbedarfte Leser tatsächlich der Generalverdacht von vornherein ausgemacht, dass die »Heilige Schrifft [ . . . ] Geheimnisse in sich [hält], und folglich [ . . . ] ein Ausleger derselben Geheimniß-volle Stellen auszulegen« 52 habe, wie noch 1742 Johann Martin Chladenius schrieb, u m die Bibelexegese von der Auslegung eben jener »vernünfftigen [das heißt: menschlichen] Schrifften« abzugrenzen, die er als ausschließlichen Gegenstand seines Buches gewählt hatte? Dass dies nicht ganz so eindeutig ist, mag eine kurze, von Augustinus im 4. Buch seiner Confessiones erzählte Begebenheit illustrieren. Er berichtet dort, wie er als Rhetoriklehrer in Mailand dem dortigen Bischof Ambrosius begegnet sei, den er bei mehreren Gelegenheiten und offensichtlich fasziniert bei dessen stummer [!] Schrift-Lektüre beobachtet 53 und auch regelmäßig predigen gehört habe. Durch diesen sei er mit der Kunst des rechten Lesens der alttestamentarischen Bücher bekannt gemacht worden, so dass diese nicht mehr wie früher unsinnig (absurda) erschienen seien. Ambrosius habe nämlich in seinen öffentlichen Predigten als Regel stets den Satz aus dem zweiten Korinther-Brief des Paulus ausgegeben, daß der Buchstabe töte, der Geist aber lebendig mache. So sei ihm, Augustinus, deutlich geworden, dass in spiritueller Lesart diejenigen Textstellen, die, wörtlich verstanden, Falsches (perversitatem) zu lehren schienen, nach dem Lüften des mystischen Schleiers (remoto velamento mystico) nichts Anstößiges mehr sagten, obwohl er - zu diesem Zeitpunkt noch nicht zum Christentum bekehrt - die ganze Wahrheit des Gesagten noch nicht habe begreifen können. 5 4 Das hier vorgestellte Geschehen ist bemerkenswert, wenngleich (zumindest für >systemferne< Leser) w o h l nicht ganz frei von Unwahrscheinlichkeiten. hätte - ein Autor, der nur um das Spiel der Geschichte nicht zu verderben sich zurückhielt, indem er sich verstellt, als sei er viele.« 52 Johann Martin Chladenius, Einleitung zur richtigen Auslegung vernünfftiger Reden und Schrifften, Leipzig 1742, als Reprint hg. und eingeh Lutz Geldsetzer (Düsseldorf 1969), Vorrede b4 f. Vgl. dazu Peter Szondi, Einführung in die literarische Hermeneutik. Studienausgabe der Vorlesungen, Bd. 5, hg. Jean Bollack und Helen Stierlin (Frankfurt am Main 1975), 7 - 1 9 1 , zur zitierten Passage 30 f. 53 54
Augustinus, Conf V I , 3, 3 (Skutella, 101).
Augustinus, Conf V I , 4, 6, (ebd., 104): Gaudebam etiam, quod vetera scripta legis et prophetarum iam non illo oculo mihi legenda proponerentur y quo antea videbantur absurda, cum arguebam tamquam ita sentientes sanctos tuos; verum autem non ita sentiebant. tamquam regulam diligentissime commendaret y saepe in popularibus sermonibus suis dicentem Ambrosium laetus audiebam: littera occidit, spiritus autem vivificat [II. Cor. 3, 67, cum ea, quae ad litteram perversitatem docere videbantur; remoto mystico velamento [!] spiritaliter aperiret y non dicens quod me offenderet y quamvis ea diceret y quae utrum vera essent adhuc ignorarem.
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Sollte man wirklich glauben, dass der erst kürzlich den Manichäern abtrünnig gewordene, aber von Bekehrung und Taufe noch ein gutes Stück entfernte Augustinus 5 5 einer spirituellen, das heißt christlichen Deutung des Alten Testaments etwas hätte abgewinnen können? Die Frage ist rhetorisch, denn sicherlich sollte man ihm glauben. Dennoch dürfte sich die >eigentliche< Wahrheit der Passage nicht i m mehr oder weniger getreulichen Bericht des tatsächlich Geschehenen erschöpfen. Ihren Wert bezieht sie nicht zuletzt daraus, in einer etwas luftigen Konstruktion von Präfiguration und Implement auf die i m endgültigen Bekehrungsszenario des 8. Buches exzessiv ausgekostete Schwellensituation des Nicht-mehr-Heide-aber-noch-nicht-Christ-Seins vorauszudeuten: hier die Schwelle, die zum rechten Schriftverständnis überschritten werden muss, dort die dramatische Zuspitzung der Konversion, die in der gleich zweimaligen Aufforderung zur (nunmehr i m rechten Geist möglichen) Lektüre gipfelt: tolle lege , tolle lege! 56 Wenngleich bei den frühen Lesern Augustins nicht unbedingt ein Bewusstsein dafür vorausgesetzt werden kann, dass die Confessiones keineswegs ein (falls es das überhaupt geben sollte) streng an der biographischen Wahrheit ausgerichtetes Lebenszeugnis darstellen, so darf man doch von einem feinen Sensorium für typologische Konstruktionen ausgehen, zumal diese leicht mit den Plänen zu verrechnen waren, die Gott i m Leben seines Heiligen hatte offenbar werden lassen. A u gustinus selbst dürfte bei aller ostentativen Demut schwerlich anderes von sich gedacht haben. N u n sind Spekulationen über die psychische Befindlichkeit von Kirchenvätern ein vergleichsweise unnützes Geschäft, und so sollen hier lediglich die hermeneutischen Implikationen dieser so schlicht daherkommenden Schilderung der für Augustinus offensichtlich wichtigen und für seine weitere BibelLektüre folgenreichen Begegnung mit der christlichen Exegese betrachtet werden, gewähren sie doch einen durchaus instruktiven Einblick in das Funktionieren dieser A r t Textaneignung. Liest man die wenigen Sätze, aus denen der Bericht Augustins besteht, noch einmal, so fallen die beiden wenig schmeichelhaften Prädikationen ins Auge, mit denen er seine früheren Leseeindrücke von den Büchern des Alten Testaments beschreibt: deren Lehren seien ihm absurdae und perversae erschienen. Während das semantische Feld von absurdus sich mit dem des heutigen >absurd< noch weitgehend deckt, hat >pervers< - sicher auch i m Lateinischen ein negativ konnotiertes Wort - durch seine post-freudianischen Assoziationen mit 55 Augustinus wendet sich i m Jahre 383 von den Manichäern ab; 384 w i r d er RhetorikProfessor in Mailand; seine Bekehrung ist auf August 386 zu datieren, die Taufe auf das Frühjahr des folgenden Jahres. 56
Augustinus, Conf. V I I I , 12, 19, (ebd., 177).
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sexuellen Verirrungen 5 7 einen erheblichen Absturz erfahren. Hiervon ist die hier vertretene Wortbedeutung von perversitas, die man mit Falschheit, Schlechtigkeit, Verdrehtheit oder ähnlichem wiedergeben kann, 5 8 ein gutes Stück entfernt. Dennoch sind es starke Ausdrücke, die Augustinus wählt, u m seine Distanz zu den »Schriften des Gesetzes und der Propheten« (vgl. M t . 22, 40) in drastischer Weise kenntlich zu machen. Rhetorisch ist dies geschickt gemacht und durchaus dazu angetan, den Weg zur Konversion, auf dem er zum Zeitpunkt des berichteten Geschehens schon die ersten Schritte gemacht zu haben behauptet, in Start- und Zielpunkt bündig zu umreißen. M i t Sicherheit reflektieren so die i m Stadium ihrer Überwindung geschilderten Schwierigkeiten mit der Bibel die von Augustin bis vor nicht allzulanger Zeit noch geteilten manichäischen Vorbehalte gegenüber dem Alten Testament. Dass ein wörtliches Verständnis dieses, von den Manichäern als Urkunde des weltschaffenden Demiurgen aufgefassten und daher verdammenswerten Textes, direkt in die Häresie führen könne, hatte schon Origines 5 9 behauptet, und auch Augustinus scheint i m Rückblick auf sein eigenes Leben eine solche Auffassung vertreten zu wollen. Wer, so soll man w o h l verstehen, der Gefahr entgehen will, in die Häresie zu geraten, sollte tunlichst Abstand von einer Lesart nehmen, die sich lediglich u m oberflächliche Buchstabentreue kümmert. N u r : was hätte einen unbedarften Leser überhaupt auf die Idee bringen sollen, dass hinter den Buchstaben eines in literaler Lesart möglicherweise abstoßenden, aber keineswegs unverständlichen Textes ein zweiter Sinn verborgen sein könnte, der die Mühe lohnte, durch intensive Grabungsarbeit ans Licht geholt zu werden? Dass die christliche Lesart gegenüber der manichäischen die apriori plausiblere gewesen wäre, w i r d man nicht ohne weiteres behaupten wollen, ersparte diese ihren Adepten doch immerhin die Mühen der Apologie des einen Gottes, der, vertraut man schlichter Evidenz, eine schon in ihrer Anlage verderbte Schöpfung auf den Weg gebracht hatte. Augustinus selbst war bekanntermaßen darum bemüht, dieses Problem dadurch aus dem 57 Vgl. Friedemann Pfäfflin, Art. »Perversion«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7 (Basel/Darmstadt 1989), Sp. 379-382. 58 Wilhelm Thimme schreibt in seiner Übersetzung der Stelle >UngereimtheitenUngereimtheit< (Conf. V I , 5, 7 [Skutella, 106]). 59
Origines, De principiis IV, 2, 2, in: ders., Vier Bücher von den Prinzipien, hg., übers, und mit Anmerkungen vers. Hervig Görgemanns und Heinrich Karpp (Darmstadt 1976), 700: Horum autem omnium falsae intelligentiae causa his quibus supradiximus non alia extitit, nisi quod sancta scriptura ab his non secundum spiritalem sensum, sed secundum litterae sensum intellegitur.
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Weg zu räumen, dass er die Depravation der Welt zur Konsequenz einer infolge der verbotenen Obstmahlzeit exuberanten, durch keine menschliche Handlung mehr zu tilgenden Sündenschuld erklärte, die das erste Paar sich und all seinen Nachfahren aufgeladen hatte und für die der gleichermaßen mächtige wie gute Schöpfer- und (eben auch) Erlöser-Gott keinesfalls die Verantwortung zu tragen haben durfte. Man kann sich, ohne hier eine A n t w o r t geben zu müssen, fragen, wie es u m die Ökonomie einer Schöpfung bestellt ist, in der eine solche Asymmetrie von Ursache und Wirkung als möglich angesehen werden kann. Immerhin scheint eine Ahnung von dem Erklärungsbedarf auf, dem sich die christliche Auslegung i m Versuch, zwischen Sündenfall und Erlösung eine kontinuierliche Linie zu zeichnen, stellen muss. Dass dies nicht nach Kriterien vordergründiger Evidenz, sondern durch die rechte Auslegung »Geheimniß-volle[r] Stellen« (Chladenius) zu geschehen hat, ist seinerseits evident. Ebenso offenkundig dürfte sein, dass das hinter den Geheimnissen Verborgene, da es sich nun einmal nicht von selbst ans Licht drängt, erst einmal gefunden werden will. Dazu gehört aber ein Vorwissen darüber, was erwartbar gefunden werden kann, und so steht wie bei jeder A r t des Suchens auch der Versuch, einen verborgenen Sinn zu entdecken, unter Vorbedingungen, die erfüllt sein müssen, um dieses Entdecken überhaupt möglich zu machen. 60 Ein bemerkenswerter und unter Verfechtern der Hermeneutik wohlbekannter Satz Heideggers besagt, dass es beim Verstehen nicht das Entscheidende sei, »aus dem Zirkel hinaus-, sondern in ihn nach der rechten Weise hineinzukommen.« 6 1 Es scheint, dass Augustinus an dieser Stelle ein solches >nach der rechten Weise in den Zirkel hineinkommen beschreiben will: er sei froh gewesen, dass, als man ihm die Bücher des Alten Testaments zur Lektüre vorgelegt habe, er dies nicht mehr mit jenem Auge ( illo oculo) gelesen habe, dem sie zuvor >absurd< erschienen seien. Sicherlich ist die Szene durch den zurückstrahlenden Glanz der künftigen Bekehrung ein wenig überbelichtet, aber dennoch ist ihre Terminologie bemerkenswert: wenn er nicht mehr mit »jenem Auge« liest, mit welchem Auge liest er dann? U n d was zeichnet dieses andere Auge aus, das, wie der Leser der Confessiones natürlich weiß, in nicht allzu ferner Zukunft in 60 Vgl. dazu Manfred Sommer, Suchen und Finden. Lebensweltliche Formen (Frankfurt am Main 1982), 1. Kapitel: »Voraussetzungen für das Glück am Ende«, 17 ff., v. a. 17: »Wir können nicht suchen, ohne bereits i m voraus und dabei ständig zu wissen, was w i r schließlich finden wollen. W i r müssen fähig sein, uns hier und jetzt auf etwas zu beziehen, was gar nicht da ist: auf Abwesendes. U n d dazu benötigen w i r Anwesendes mit Verweisungscharakter: Stellvertreter, Repräsentanten, Zeichen.« 61 Martin Heidegger, Sein und Zeit (Tübingen 1 4 1977), 153. Vgl. zum Problem des hermeneutischen Zirkels die an Heidegger anschließenden Ausführungen von Gadamer, Wahrheit und Methode , 250 ff.
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der Lage sein wird, die zuvor ungereimt und sinnlos erschienenen Texte klar und einleuchtend wahrzunehmen, und das jetzt schon kein Ärgernis mehr darin sehen kann? U n d schließlich: Was hat das velamen mysticum, das bislang den freien Blick verstellt hatte, eigentlich verhüllt? Die A n t w o r t auf alle diese Fragen ist vergleichsweise simpel: nicht die Texte sind dunkel, sondern das Auge dessen, der versucht, sie zu lesen. Es ist seine Blindheit gegenüber dem, was nach dem Verständnis christlicher Exegese das eigentlich Wesentliche ist, die zu jenen von Augustinus beschriebenen Irritationen führt. Endlich in rechter Weise lesen zu können, bedeutet daher nicht weniger, als die Augen gegenüber jenen Glaubenswahrheiten zu öffnen gelernt zu haben, zu deren Erkenntnis sie zuvor nicht in der Lage gewesen waren. Damit ist aber das Problem der Dunkelheit der biblischen Bücher ihrer textuellen Ebene entzogen und in die seelische Verfasstheit des Lesers transponiert. N u r derjenige, der ohnehin schon weiß, dass er die Botschaften des Neuen Testaments, wenngleich in hier und da verklausulierter Form, auch in den Gesetzesund Propheten-Schriften auffinden kann, wird, um noch einmal das als Ausgangspunkt dieser Überlegungen gewählte Heidegger-Zitat aufzugreifen, in rechter Weise in den hermeneutischen Zirkel hineinkommen. 6 2 Dies erklärt, warum bei der Lektüre des Alten Testaments dem als Rhetoriklehrer zweifellos i m Umgang mit Sprache und Schrift für routiniert zu haltenden Augustinus all seine Kompetenz offensichtlich nicht viel nützen konnte, obwohl ihm das Verfahren der Allegorese, mit dessen Hilfe Ambrosius Licht auf dunkle Stellen zu werfen vermochte, als Technik sicherlich vertraut war. Jenseits der Kenntnis exegetischer Verfahren ist jedoch die Wandlung entscheidend, die sich in der Seele des Lesenden vollzieht. Diese kann - so bei Augustinus - durch einen längeren Lernprozess und durch die Anleitung eines Lehrers angeregt werden; sie kann aber auch durch göttliche Inspiration und damit unter Umgehung jedes gelehrten Beiwerks vonstatten gehen. So oder so jedoch bedarf es eines Zusammenspiels zwischen der Entscheidung des Einzelnen, sich den christlichen Grundsätzen zuzuwenden, und des Entgegenkommens Gottes, um diesen zu den Glaubenswahrheiten vordringen zu lassen. Gemäß der ebenfalls in den Confessiones ausgeführten, als eine A r t Leitthema aber das gesamte schriftstellerische Œuvre Augustins durchziehenden neuplatonischen Memorial-Lehre, hat sich Gott in die Seele des Menschen eingeprägt. Das Wis62
Vgl. Sommer, Suchen und Finden, 59: »Die Verweisung jedoch zwischen zwei verschiedenen Dingen, von denen das eine zufällig das andere verdeckt, gewinnt meist nur dann positiven Zeichencharakter, wenn eine besondere Sachbeziehung vorliegt. Derlei Beziehungen müssen w i r immer erst kennenlernen. Deshalb lehrt uns [ . . . ] erst die Erfahrung, mit welcher Wahrscheinlichkeit welches D i n g hinter welchem D i n g steckt. U n d dann auch metaphorisch: welche Absicht hinter welcher Handlung und welcher Sinn hinter welchen Worten.«
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sen darum kann dem Einzelnen verborgen bleiben, wenn er sich durch äußerliche Einflüsse von der Introspektion ablenken lässt; er kann sich dessen aber auch erinnern, wenn er sich zur Hinwendung zu Gott entschließt. N u r der, der sich seines göttlichen Kerns bewusst ist, w i r d streng gemäß dem Prinzip der Erkenntnis des Gleichen durch Gleiches (similia similibus) Gott auch in den Schriften der Bibel entdecken können. Von dieser Grundbedingung ausgehend, gewinnen dann allerdings auch für Augustinus die praktischen Probleme wieder an Gewicht. Maxime itaque investigandum est, schreibt er etwa in seiner der Anleitung zur christlichen Exegese gewidmeten Schrift De doctrina christiana , utrum propria sit an figurata locutiöy quam intellegere conamur. 63 Da, wie es an anderer Stelle heißt, man sich sowohl davor hüten müsse, in übertragenem Sinne zu verstehende Stellen wörtlich zu lesen, wie auch buchstäblich aufzufassende figurativ zu interpretieren, 6 4 sei es unumgänglich, Unterscheidungsmerkmale zu benennen, die mit hinlänglicher Präzision gestatten, eine A n t w o r t auf die Frage zu finden, welcher Bibeltext auf welche Weise zu lesen sei. Es muss an dieser Stelle genügen, gleichsam als Probe eine der zahlreichen Stellen anzuführen, an denen sich die Doctrina christiana diesem flagranten Problem zuwendet. M i t großer Prägnanz w i r d hier in Form eines an Simplizität schwerlich zu überbietenden Merksatzes vorgestellt, was als schlechthin gültiger Inventionsmodus gelten soll: alles, was nicht unmittelbar die Ehrbarkeit der Sitten oder die Glaubenswahrheit anbelange, sei figurativ zu deuten. Die Ehrbarkeit der Sitten beziehe sich auf die Gott und dem Nächsten geschuldete Liebe; die Glaubenswahrheit auf die Erkenntnis Gottes und des Nächsten. Jeder aber habe in seinem Bewusstsein die Hoffnung, sich selbst in der Liebe und Erkenntnis Gottes und des Nächsten fortschreiten zu sehen. 65 Soweit die Theorie. Es dürfte allerdings durch die so apodiktisch und simpel daherkommenden Formeln Augustins hindurchscheinen, welches Maß an Deutungsarbeit dann in der Praxis aufzuwenden sein wird, u m die verschiedenen, heterogenen Texte den Vorgaben entsprechend zuzurichten, dass sie in ihrem >eigentlichen< Sinn lesbar werden. Dem Leser muss es gleich dem u m sein 63
Augustinus, De doctrina christiana I I I , X X I V , 76, 34.
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Ebd., I l l , X , 14, 33: Huic autem observationi, qua cavemus figuratam locutionem, id est translatam quasi propriam sequi, adiungenda etiam illa est, ne propriam quasi figuratam velimus accipere. Demonstrandus est igitur prius modus inveniendae locutionis propriane an figurata sit. 65
Ebd., I l l , X , 14, 33 f.: Et iste modus est, ut quidquid in sermone divino ñeque ad morum honestatem ñeque ad fidei veritatem proprie referri potest, figuratum esse cognoscas. Morum honestas ad diligendum deum et proximum , fidei Veritas ad cognoscendum deum et proximum pertinet. Spes autem sua cuique est in conscientia propria , quem ad modum se sentit ad dilectionem dei etproximi cognitionemque prof icere.
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Augenlicht gebrachten und plötzlich wieder sehenden Saulus »wie Schuppen von den Augen« (Act 9, 18) fallen. Einsicht, so könnte man in Anlehnung an Paul de Mans Buchtitel Blindness and Insight das Augustinische Programm knapp umreißen, kann nur der gewinnen, der zuvor seine Blindheit überwunden und in rechter Weise sehen gelernt hat. Versucht man von dieser Stelle aus ein vorläufiges Resümee zu formulieren, so zeigt sich, dass das Problem der obscuritas, wie es sich der Antike und dem M i t telalter darstellt, keineswegs auf den Punkt zu bringen ist, sondern sich, u m in der Metaphorik von Punkt, Fläche und Raum zu bleiben, auf einem Untersuchungsfeld verorten lässt, dessen Ausdehnung durch zwei sehr unterschiedliche Auffassungsweisen von >Dunkelheit< begrenzt wird. I m einen Fall, der hier durch die Namen Quintilian und Servius vertreten war, ist es der Text selbst, der aus den oben bereits genannten historischen, grammatischen, syntaktischen, semantischen, sicherlich auch durch vom A u t o r intendierte poetologische Gründe dunkel erscheint; sein Ideal-Leser wäre somit derjenige, der sich und gegebenenfalls auch andere durch das Dickicht der Worte und Sätze führt und durch eine so weit als möglich lückenlose und sämtliche Schwierigkeiten beiseite räumende Kommentierung den Weg zu einem korrekten, dem Text adäquaten Verständnis bahnen kann. Zumindest dem Anspruch nach versucht eine solche A r t des Verstehens sich asymptotisch dem Text anzunähern und ihn im Laufe der Zeit (statt sich von ihm zu entfernen) immer besser zu begreifen. Es mag hier außer acht bleiben, ob dieser Anspruch von vornherein illusionär ist oder nicht. A u f der anderen Seite steht die hier durch Augustinus repräsentierte Auffassung, der es weniger darum geht, die literale Aussage eines Textes zu erhellen, sondern vor allem darum, die Buchstaben mit dem sie belebenden Geist in Einklang zu bringen, sei es auch u m den Preis, der Buchstäblichkeit des öfteren ganz und gar verlustig zu gehen. O b der Geist eines Textes aber offenbar werden kann, liegt, wie bereits mehrfach gesagt, nicht am bloßen Wissen oder gar am ästhetischen Verständnis seiner Leser, sondern an deren christlicher Prädisposition, die i m heiligen Text ihre Bestätigung finden muss. Zwischen den eben beschriebenen beiden Polen w i r d sich also meines Erachtens eine Untersuchung der obscuritas zu bewegen haben. Das Hauptaugenmerk muss dabei vor allem darauf liegen, das Moment der >SpontaneitätKommentar< in ihrem Bemühen u m Texte durchaus unterscheidbare Arten mit differierenden Vorgehensweisen und Zielen hervorgebracht hat, könnte man das Verfahren mit allem M u t zur Vergröberung vielleicht als Resultante zweier nicht gleichgerichteter Bewegungsvektoren beschreiben, von denen der erste eine zentripetale Bewegung beschreibt, deren ebenso berechtigtes wie optimistisches Ziel es ist, den >Sinn< eines Textes freizulegen oder zumindest das Material bereitzustellen, das ebendies ermöglicht. Daneben und gleichzeitig existiert jedoch eine zweite, zentrifugale Bewegung, die sich vom Text entfernt, seine intertextuellen Bezüge offenlegt, ihn neu kontextualisiert, auch fragmentiert, einzelne Wörter aus ihrem Zusammenhang reißt, in neue Relationen stellt und so den >Sinn< des Gesamttextes, dessen Eruierung doch das ganze Unternehmen zu dienen vorgibt, zerstreut. 68 Der Primärtext w i r d auf diese Weise vervielfältigt, nicht nur, was die quantitative Präponderanz des auslegenden gegenüber dem auszulegenden Text angeht; er gibt sich vor allem als die (im Wortsinne) Explikation all der Elemente, die i m Primärtext >eingefaltettotalisierender< (und leicht i m Gedächtnis zu behaltender) Aussagen; er kann beim Entlanggehen am Primärtext an jedem gegebenen Moment dieses Texts ansetzen und loslegen (um nicht zu sagen: >explodierenatomisierende< Kommentare oder Abschweifungen auflösen. 69 hinein und sie lässt zugleich die eigene Gedankenwelt durch den gegebenen Buchstaben erweckt werden. Dass dies Verfahren allmählich in Regeln gebracht w i r d und zur Technik wird, ist ein Beweis dafür, dass auch das Seltsamste schließlich gelernt werden kann.« 67 Hans Ulrich Gumbrecht, »Das Schreiben von Kommentaren«, in: ders., Die Macht der Philologie. Über einen verborgenen Impuls im wissenschaftlichen Umgang mit Texten (Frankfurt am Main 2003), 6 9 - 8 7 , hier 82. 68
Die Metaphern, die für den Prozess des Auslegens geprägt wurden, reflektieren diese doppelte Bewegung: zum einen die Metaphorik von Schale und Kern und deren Derivate, die eine auf ein Zentrum gerichtete Interpretationsbewegung beschreiben; zum anderen die zentripetale Metaphorik von Buchstabe und Geist, die eher eine sich vom Text entfernende Deutungsrichtung benennt. Vgl. dazu Hans-Jörg Spitz, Die Metaphorik des geistigen Schriftsinns. Ein Beitrag zur allegorischen Bibelauslegung des ersten christlichen Jahrtausends (München 1972). 69
Gumbrecht, »Das Schreiben«, 83.
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Versuchte man das Verhältnis eines häufig gelesenen Textes zu seinen gleichzeitigen oder aufeinander folgenden Auslegungen in ein Bild zu bringen, so ergäbe sich die Skizze einer proliferierenden Textur, innerhalb derer dem >Primärtext< ein mehr oder minder zentraler O r t zugewiesen ist, an den sich die Kommentare anlagern, sich ausbreiten, verzweigen, fort- und umschreiben, einander bestätigen oder widerlegen, sich in Traditionen einfügen oder - i m Gegenteil neue Traditionen zu begründen suchen. Generell lässt sich sagen, dass K o m mentare nicht nur i m Dialog mit dem >primären< Text stehen, sondern ebenso (und bisweilen sogar mehr) mit anderen Kommentaren. Sie bilden so eine Textsorte, die wie kaum eine andere die Intertextualität als Konstituens jederart Literatur transparent zu machen vermag und zudem in unvergleichlicher Weise die Gelegenheit bietet, die Praxis der mittelalterlichen Philologie gleichsam i m Brennglas zu betrachten. Dunkle Poesie. Einige Bemerkungen zu Frauenlobs Marienieich Das bislang Ausgeführte scheint nun nicht unmittelbar den spezifisch germanistischen Interessen zu dienen, u m die es hier zumindest auch gehen sollte. Ich denke jedoch, dass die permanente Erfahrung von Kommentarbedarf (ich habe oben mit Bourdieu von einem >Habitus< gesprochen) durchaus auch hier ihre Folgen gezeitigt hat. M i t anderen Worten: das hier skizzierte hermeneutische Verfahren lässt sich durchaus zu einem poetischen Prinzip umkehren, zu einer Produktionsästhetik dunkler Texte, die erst durch die Kommentierung der jeweiligen Leser vollendet werden. Dass dies auch volkssprachlichen mittelalterlichen Autoren bewusst war, zeigt Gottfrieds von Straßburg mit großer Wahrscheinlichkeit auf Wolframs von Eschenbach Parzival gemünzte Bemerkung, dessen wilde maere bedürften der tiutaere (V. 4684), 70 u m verstanden zu werden. Es w i r d i m Folgenden allerdings nicht um Wolfram gehen, sondern u m einen Autoren, dessen Œuvre wie geschaffen dafür ist, als Beispiel für den Kommentarbedarf und der damit einhergehenden Dispersion von Sinn zu dienen: Heinrich von Meißen, genannt Frauenlob. 7 1 Ich möchte der hier gebotenen Kürze halber mit einer exemplarischen Interpretation, in diesem Fall vielleicht tatsächlich einmal besser, weil vorsichtiger: 70 Gottfried von Straßburg, Tristan und Isolde, nach dem Text von Friedrich Ranke neu hg., ins N h d . übers., mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Rüdiger K r o h n (Stuttgart 2 1981). 71
I n eine ähnliche Richtung wie die folgenden Überlegungen geht Susanne Köbele, Frauenlobs Lieder. Parameter einer literarhistorischen Standortbestimmung (Tübingen/ Basel 2003); unverzichtbar für die Beschäftigung mit diesem Text ist Burghart Wachingers Ausgabe, Übersetzung und Kommentar in: ders. (Hg.), Lyrik des späten Mittelalters (Frankfurt am M a i n 2006), 364-394; 823-871.
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Explikation weniger Verse aus der Anfangsstrophe des Marienieichs schließen. Die Beschränkung auf einen so kurzen Textausschnitt ist natürlich dennoch nur dadurch gerechtfertigt, dass es an dieser Stelle nicht u m eine ausführliche Behandlung des Marienieichs gehen kann, sondern ausschließlich darum, die Frauenlobsche Poetik als Umkehrung hermeneutischer Verfahren zu beschreiben. Zudem gehört die erste Strophe, wenigstens auf den ersten Blick, zu den einfacheren, dem Verständnis nicht allzu viele Hindernisse entgegensetzenden Teilen des Leichs. Vielleicht erlaubt sie es, desto leichter anhand der Klaue den Löwen zu identifizieren. Zunächst aber der Text, wie er sich in Stackmanns und Bertaus Ausgabe findet: Ei, ich sach in dem trone ein vrouwen, die was swanger. die trug ein wunderkrone vor miner ougen anger Sie wolte wesen enbunden, sust gie die allerbeste, zwelf steine ich zu den stunden kos in der kröne veste. 72
Das erste Wort, Ei, ist eine Interjektion »zum ausdrucke der Verwunderung, freude und klage«, wie Benecke / Müller / Zarnckes Mittelhochdeutsches Wörterbuch 73 belehrt. Welche dieser Bedeutungen ist hier die Nächstliegende? Z u Klage oder Freude besteht w o h l kein Anlass. Verwunderung wäre angesichts einer Frau mit wunderkrone sicher angemessen und passt überhaupt zu dem großen Zeichen, von dem im Folgenden die Rede sein wird. Zusätzlich weckt ein Ausruf zunächst auch unabhängig davon, welches Segment des Gefühlsspektrums damit ausgedrückt werden soll, die Aufmerksamkeit der Leser oder Zuhörer. Sie werden auf etwas eingestimmt, das sich zumindest im ersten Moment den artikulierten Sprachzeichen entzieht. Dennoch wäre eine Interjektion sicherlich keiner so ausführlichen Erwähnung wert, wenn nicht mit diesem kleinen Wort ein >intertextueller< Bezug hergestellt würde. Dies mag bei einer so unbedeutenden Partikel allzu vollmundig klingen, aber tatsächlich scheint es Frauenlob hier auf eine Reminiszenz an 72 Frauenlob (Heinrich von Meißen), Leichs, Sangsprüche , Lieder ; auf Grund der Vorarbeiten von Helmut Thomas hg. Karl Stackmann und Karl Bertau, Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philol.-hist. KL, 3. Folge, Nr. 119, Bd. 1: Einleitungen, Texte (Göttingen 1981), 236. 73 Georg F. Benecke, Wilhelm Müller und Friedrich Zarncke, Mittelhochdeutsches Wörterbuch (Leipzig 1854, Repr. Hildesheim u. a. 1986), Bd. 1, 414. Vgl. zu diesem »Ei« Gerhard M . Schäfer, Untersuchungen zur deutschsprachigen Marienlyrik des 12. und 13. Jahrhunderts, 85, A n m . 3.
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Konrads Goldene Schmiede abgesehen zu haben. Diese beginnt ebenso wie der Marienieich mit der genannten Interjektion: »Ei künde ich w o l enmitten in mines herzen smitten getihte uz golde smelzen, und liehten sin gevelzen von karfunkel schone drin dir, hohe himelkeiserin.« 74
Man hört gleich, dass hier der Ton ein anderer ist. Der an die Interjektion unmittelbar anschließende Konjunktiv verwandelt das Ganze in eine Klage über die eigene Unfähigkeit, dem Stoff gerecht zu werden. Dies ist sicherlich eine andere dichterische Attitüde als bei Frauenlob. Konrad präsentiert sich als >Verseschmiedgoldenen Worte< und den edelsteingleich leuchtenden Sinn hofft, der es sich jedoch nicht erlaubt, den Erfolg seines Tuns angesichts der Größe seines Gegenstandes für sicher zu halten. Dichten ist ein Handwerk, eine noble Kunst und Fähigkeit, bei der man (wie in diesem, besten Fall) Gold schmelzt und die edelsten Steine einsetzt, ohne damit die Zweifel gänzlich beseitigen zu können, trotz all dieser kostbaren Materialien vielleicht doch nichts geschaffen zu haben, das einer himelkeiserin angemessen sein könnte. Hier w i r d trotz all der sicherlich auch topischen, auf rhetorische Wirkung berechneten Bescheidenheit ein Bewusstsein davon präsentiert, dass es Stoffe geben könnte, von denen die Poesie wenn schon nicht überfordert, so doch im höchsten Maße gefordert ist. Adäquate Ausdrucksformen für einen so sublimen Stoff zu finden, wie es die Jungfrauengeburt und die damit verbundene Erlösung durch den Mensch gewordenen Gottessohn nun einmal darstellen, erfordert ein kaum erreichbares Maß dichterischen Ingeniums. Dies w i r d man ohne Gefahr der Überinterpretation in den ersten sechs Versen der Goldenen Schmiede reflektiert finden. Was bleibt davon bei Frauenlob übrig? Jedenfalls ist in den Anfangsversen des Marienieich der skrupulöse Dichter der Goldenen Schmiede verschwunden. Auch Frauenlob sagt: Ich, aber wer spricht hier? Ich zu sagen ist in der mittelhochdeutschen Lyrik nicht ungewöhnlich. Der Minnesang lebt von Anfang an mit und von diesem als >Ich-Rolle< sicherlich wenig glücklich titulierten Spiel von Dichter-, Sänger- und Figuren-Identität. Für die Formel ich sach können auch die Spruchdichter herangezogen werden. Als berühmtestes Beispiel hierfür dürfte w o h l Walthers von der Vogelweide an Philipp von Schwaben gerichteter 2. Spruch im Reichston dienen. 7 5
2
74 Konrad von Würzburg, Die Goldene Schmiede, hg. Edward Schröder (Göttingen 1969),V. 1 - 6 . 75
Die Gedichte Walthers von der Vogelweide, hg. Karl Lachmann, 13., aufgrund der 10. von Carl von Kraus bearbeiteten Ausgabe neu hg. Hugo K u h n (Berlin 1965), 10, L. 8, V. 2 8 - 3 1 : Ich hörte ein wazzer diezen / und sach die vische fliezen / ich sach swaz in der
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Ich freilich ist Legion und nicht so leicht in den Abgrund zu treiben. A u c h das Ich i m Marienieich w i r d wechseln. A b der 9. Strophe verstummt der Sänger, und Maria spricht selbst von sich. Bis dahin jedoch gehört das Ich ihm allein. Das Ich sach, mit dem der Marienieich anhebt, ist, was immer sonst mitschwingen mag, allerdings nicht schwer zu identifizieren: es ist jenes vidi des Johannes von Patmos, der in seiner Apokalypse die visionäre Augenzeugenschaft der letzten Dinge wieder und wieder bestätigt. Dies ist eine >große RolleApokalypse< ist eine Textsorte, die von ihrem Verkünder Gewissheit verlangt und nicht zulassen kann, dass alles möglicherweise auch anders oder sogar besser gesagt werden könnte. Es ist, u m an dieser Stelle eine der ansonsten eher zweifelhaften und nicht sonderlich erhellenden psychologischen Aussagen zu riskieren, eine Rolle, die dem Geschmack und der Selbsteinschätzung Frauenlobs in geradezu idealer Weise entgegengekommen sein dürfte. Die einschlägige Stelle des Johannes-Textes, an der sich der Beginn des Marienleichs orientiert, ist leicht identifizierbar und natürlich auch der Forschung nicht entgangen: 76 et signum magnum paruit in caelo mulier amicta sole et luna sub pedibus eius et in capite eius corona stellarum duodecim et in utero habens et parturiens et cruciatur et pariat. >Und es erschien ein großes Zeichen am Himmel; ein Weib, mit der Sonne bekleidet und der M o n d unter ihren Füßen und auf ihrem Haupt eine Krone mit zwölf Sternen. U n d sie war schwanger und schrie in Kindsnöten und hatte große Qual bei der Geburt< (Apc 12, 1). Man sieht, an welchen Stellen Frauenlob diesen Bibelvers verändert. Möglicherweise geht das signum magnum in die wunderkrone ein, aber das dürfte schwerlich hieb- und stichfest nachzuweisen sein; es spielt i m Übrigen auch keine große Rolle. Schwangerschaft und Geburt werden übernommen; von den Himmelskörpern Mond, Sonne und Sterne, die bei der apokalyptischen Frau Standort (der M o n d unter den Füßen), Kleidung (bekleidet mit der Sonne) 77 und schmückendes Macht-Insigne (Sternenkrone) sind, die sie als Herrscherin über die supralunare Welt ausweisen, bleibt einzig die genannte Krone übrig. Diese ist bei Frauenlob allerdings mit Steinen und nicht mit Sternen besetzt. weite was , / velt walt loup rör unde gras; vgl. dazu Thomas Cramer, »Ich sach swaz in der weite was. Die Ordnung des Kosmos in Walthers 2. Reichsspruch«, ZfdPh 104 (1986), 70-85. 76
L u d w i g Pfannmüller, Frauenlobs Marienieich (Straßburg 1913), 75 f.; GA I I , 614.
77
Das w i r d in der 10. Strophe, V. 10, genannt: der sunnen glesten ist mein kleid.
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Jens Pfeiffer
N u n ist, wie Bertau bereits 1954 in seiner Dissertation über die geistliche Dichtung Frauenlobs anhand zahlreicher Belege zeigen konnte, die Sternenkrone kein seltenes Attribut Mariens; 7 8 wobei das einzige vor den Marienieich zu datierende Zeugnis Konrads Goldener Schmiede entstammt. 7 9 Allerdings kann der Nachweis von Sternenkronen in den einschlägigen Texten angesichts des Umstands, dass die apokalyptische Frau in der Exegese auf Maria bezogen werden kann (daneben findet sich auch der Bezug auf die Kirche), nicht wirklich überraschen und hilft so nicht recht weiter. Auch an edelsteinbesetzten Kronen herrscht selbstverständlich kein Mangel. Krayer hat auf eine Passage aus dem Planctus Naturae des Alanus de Insulis hingewiesen: Regalis autem diadematis Corona rutilans, gemmarum scintillata choreis, in capitis supercilio fulgurabat. 80 >Die Krone des königlichen Kopfschmucks schillert, funkelnd vom Reigen der Edelsteine leuchtet sie vom hohen Haupt.< Später ist bei Alanus von den siderum gemmis, den >Schmucksteinen der Sternes an einer Stelle die Rede, wo tatsächlich die Sterne am H i m m e l gemeint sind. 8 1 Dass Frauenlob Alanus gekannt hat, ist ausnahmsweise einmal leicht nachzuweisen, da er ihn im Minneleich (GA I I I , 5, 1) erwähnt. 8 2 Immerhin liegt die Vertauschung und auch die Vermischung von Sternen und Steinen nicht fern, zumal diese zwölf Steine bei Alanus den Zodiak bedeuten. Sieben weitere, diesmal namentlich genannte Edelsteine, stellen die Planeten dar. 8 3 Welche Edelsteine die Krone Mariens schmücken, lässt uns Frauenlob freilich erst in der letzten Strophe in Rückgriff auf die Edelsteinliste aus Apc. 21, 19 ff. wissen, so dass Anfang und Ende des Leichs miteinander verbunden sind. Die Ersetzung der Sterne in der Krone, die dadurch eben nicht mehr so eindeutig eine Himmelskrone bleibt, sondern zu der von Frauenlob so genannten wunderkrone wird, ist offensichtlich mehrfach determiniert: zum einen, und dies ist sicherlich das Hauptmotiv, wegen des am Schluss aufgelösten Bezugs zum Himmlischen Jerusalem. Z u m anderen aber w i r d durch den Verweis auf 78 Karl Bertau, Untersuchungen zur geistlichen Dichtung Frauenlobs (Typoskript, Göttingen 1954), 103. 79
Konrad, Die goldene Schmiede, V. 1832-1839.
80
Alanus de Insulis, De planctu naturae I I , 4 0 - 4 1 , hg. Nikolaus M . Häring, Studi medievali 19 (1978), 797-879, hier 810; Rudolf Krayer, Frauenlob und die Natur-Allegorese. Motivgeschichtliche Untersuchungen (Heidelberg 1960), 119. 81
Alanus, De planctu naturae V I I , 25-28 (Häring, 832): Que [sc.: Natura] polum stellis variis inauras, / Etheris nostri solium serenans, / Siderum gemmis varioque celum / Milite comples. 82 Vgl. Christoph Huber, Die Aufnahme und Verarbeitung des Alanus ab Insulis in mittelhochdeutschen Dichtungen, Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 89 (München 1988), 136-199, zur Bedeutung der erwähnten Stelle i m Minneleich ebd., 142 ff. 83
Alanus, De planctu naturae I I , 104 ff. (Häring, 812 f.).
Dunkelheit und Licht
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die Krone der Natura des Alanus de Insulis, deren Charakteristika ebenfalls in späteren Strophen eine Rolle spielen werden, eine Spur zur Naturphilosophie und Kosmologie platonistischer Provenienz gelegt, mittels derer die kosmische Dimension der Geburt des Erlösers erfasst werden kann. 8 4 Hic natura silet, logice uis exulaty omnis / Rethorice perit arbitrium racioque uacillat. 85 >Hier schweigt die Natur, jedes Urteil der Rhetorik vergeht und die Vernunft wanktimplizite< Sinn (wenn überhaupt) nur unter großen interpretatorischen Anstrengungen entborgen werden kann. Ein wie schwieriges und als vereinheitlichende Sinn-Suche w o h l auch aussichtsloses Unterfangen das ist, sollten die wenigen Beispiele aus dem Marienieich gezeigt haben. Der Text changiert durch die permanent nötige Verfolgung von Vor- und Rückverweisen, welche ihrerseits wiederum in ein Netz von Vor- und Rückverweisen eingespannt sind, in dem sich Kombinationen neu bilden und wieder auflösen. H i n z u treten Anspielungen und Zitate, die in ein dichtes Geflecht intertextueller Bezüge eintreten und den Text damit gleichsam zur Bibliothek hin öffnen. »Das Zitat«, schreibt Ossip Mandelstam in seinem Gespräch über Dante y »ist keine Abschrift. Zitate sind Zikaden. Sie haben die Eigenheit, nicht mehr verstummen zu können. Klammern sich in die Luft und lassen sie nicht mehr los. Gelehrsamkeit ist bei weitem nicht dasselbe wie die Anspielungsklaviatur, die das eigentliche Wesen der Bildung ausmacht.« 86
84 Ich verweise auf die einschlägigen Untersuchungen Hubers (Anm. 82) und RalfHenning Steinmetz, Liebe als universales Prinzip bei Frauenlob. Ein volkssprachlicher Weltentwurf in der europäischen Dichtung um 1300, Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 106 (Tübingen 1994). 85 Alanus de Insulis, Anticlaudianus, Moyen Âge 1 (Paris 1955), 137, V. 478 f. 86
hg. Robert Bossuat, Textes philosophiques du
Ossip Mandelstam, »Gespräch über Dante«, in: Gesammelte Essays II: 1925-1935, aus dem Russischen übertr. und hg. Ralph D u t l i (Zürich 1991), 113-175, hier 119. Vgl. auch Roland Barthes, Am Nullpunkt der Literatur (Frankfurt am M a i n 1985), 23: »Die
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Jens Pfeiffer
Dies scheint mir eine gute Beschreibung auch der Frauenlob'schen Poesie zu sein. Diese ist polyphon, bisweilen dissonant, sicherlich aber niemals einstimmig. »Jedes Wort«, ich zitiere noch einmal Ossip Mandelstam, »ist ein Strahlenbündel: Der Sinn bricht in verschiedenen Richtungen aus ihm hervor und eilt nicht auf den einen, offiziellen Punkt zu.« 8 7 Wie mittelalterliche Kommentare entgegen der vielfach zu hörenden Behauptung >Sinn< keineswegs bündeln, sondern tatsächlich zerstreuen, so sind auch die auf Kommentierung angelegten Texte Frauenlobs nicht auf den einen Sinn zu fokussieren. Sie gewinnen ihr poetisches Surplus vielmehr gerade durch ihre Vieldeutigkeit, durch ihre virtuose Beherrschung der Anspielungsklaviatur. Dass dies kein singuläres Phänomen ist, sondern i m europäischen Mittelalter etliche volkssprachliche und lateinische Ausformungen kennt, ist durch den über Mandelstam vermittelten Hinweis auf Dante bereits nahegelegt. Z u denken ist aber auch an den trobar clus, zu dem es bereits seit längerer Zeit Untersuchungen gibt, 8 8 an die Selbstkommentare des Kreises u m Dante und Giovanni del Virgilio zu den dort verfassten Eclogen 8 9 sowie an die rätselhaften, in Irland entstandenen lateinischen Hisperica Famina 90. Die kurze Auswahl ist unvollständig und vergleichsweise beliebig. Dennoch zeigt sie, dass sich mit dem Begriff der obscuritas ein durchaus interessantes Forschungsfeld auftut.
möglichen Schreibweisen eines Autors entstehen unter dem Druck der Geschichte und der Tradition. Es gibt eine Geschichte der Schreibweisen, doch diese Geschichte hat eine doppelte Natur: i m gleichen Augenblick, in dem die allgemeine Geschichte eine neue Problematik der literarischen Ausdrucksweise vorschlägt - oder aufzwingt - , bleibt die Schreibweise noch erfüllt von der Erinnerung an früheren Gebrauch, denn die Sprache ist niemals unschuldig, die Worte besitzen ein zweites Gedächtnis und Erinnerungen, die sich inmitten neuer Bedeutungen geheimnisvoll erhalten.« 87 Mandelstam, »Gespräch«, 127; vgl. zu diesem Zitat Renate Lachmann, Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne (Frankfurt am M a i n 1990), 369: »Das sprachliche Zeichen w i r d als offenes semantisches Potential begriffen, das nicht durch (und auf) ein einziges Bezeichnetes festgelegt werden kann. Das Wort vermag unterschiedliche kulturelle Erfahrungen zu speichern und zu schichten. [ . . . ] Die Verneinung der rein denotativen, einstimmigen Funktion des Wortes, die die gesicherte Eins-zu-einsBeziehung zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem durchkreuzt, läßt Syllepse und Anagramm als Bedeutung generierende Verfahren zu, die die doppelte oder mehrfache Kodierung des Textes ermöglichen.« 88 Vgl. z. B. Leo Pollmann, »Trobar Clus«. Bibelexegese und hispano-arabische Literatur (Münster 1965); U l r i c h M ö l k , Trobar clus, trobar leu. Studien zur Dichtungstheorie der Trobadors (München 1968); Erich Köhler, »>Trobar clusc discussione aperta«, Cultura Neolatina 30 (1970), 1 - 1 5 . 89
Philip H . Wicksteed und Edmund G. Gardner, Dante and Giovanni (Westminster 1902, Repr. N e w York 1971).
di Virgilio
90 The Hisperica Famina, hg., übers, und komm. Michael W. Herren, 2 Bde (Toronto 1974 u. 1987).
Ich-Projektionen bei Hans Sachs V o n Andrea
Sieber
Eins mals lag ich im summer, Da mir Schwermut und kummer Mein hertz so streng besaß, letz umb diß, denn umb das. Ich ward so gar entricht, Kend mich gleich selbert nicht. [...] Mein vernunfft, sinn unnd mut, Mein handel, ehr und gut Das daucht mich als verdorben, Gekrencket unnd erstorben. Dergleich w u r d mein gewissen Gemartert unnd gebissen, A l hoffnung wer vergebens, Das mich verdroß des lebens. Inn den schweren gedancken U n d inwendigem zancken Ward all mein freud entzwey. Mein hertz gar eilend schrey U n n d wünscht mir offt den todt Z u endung dieser not. (KG 4,141,1-28) I m epischen R a h m e n seines auf d e n 27. O k t o b e r 1547 d a t i e r t e n Gesprech Philosophia
mit
eynem
melancolischen,
betrübten
jüngling,
1
der
beschreibt H a n s
Sachs eine S i t u a t i o n m e l a n c h o l i s c h e r Selbsterfahrung, i n d e r e n V e r l a u f der I c h E r z ä h l e r einen f ü r die M e l a n c h o l i e t y p i s c h e n A m b i v a l e n z k o n f l i k t
durchlebt
u n d sich als Selbst r a d i k a l i n Frage stellt. W i e die K o n f l i k t s i t u a t i o n i m M e d i u m des Streitgesprächs ü b e r p e r s o n i f i z i e r t e I c h - I n s t a n z e n d r a m a t i s i e r t u n d d u r c h sukzessive R e f l e x i o n e n aufgelöst w i r d , habe i c h an anderer Stelle d i s k u t i e r t . 2 1
Zitate nach der Ausgabe Hans Sachs, Sämtliche Werke, hg. Adelbert von Keller und Edmund Götze, Bibliothek des Litterarischen Vereins Stuttgart (Stuttgart 1870-1908), K G 4,141-146. 2
Vgl. Andrea Sieber, »Zwischen phantasey und vernunfft. Strategien der Selbstthematisierung in Hans Sachs' lyrischen Streitgesprächen«, in: Martin Baisch u. a. (Hgg.), Insze-
44
Andrea Sieber
Der Beobachtung, dass Hans Sachs dabei i m heterokonstitutiven Modus des Dialogs eine Möglichkeit durchspielt, wie ein Ich zu einem Bewusstsein von sich selbst und damit zu einer vormodernen Form von Subjektivität gelangen kann, hat A r m i n Schulz kürzlich widersprochen. 3 Diese K r i t i k möchte ich zum Anlass nehmen für eine Relektüre des Melancholie-Gesprächs unter veränderten theoretischen Prämissen. Nochmals ansetzen werde ich zu diesem Zweck an den Dissoziationen des Erzähler-Ich, das sich in der Traumrealität auf eine Konstellation von Personifikationen projiziert, mit sich selbst in einen Dialog eintritt und zur Selbsterkenntnis gelangt. 4 I n diesem Prozess entsteht ein >Erfahrungs- und Reflexionsraum des Ichnur< selbstreferentielle Sprechen auf kollektive und individuelle Rezeptionsmöglichkeiten ausgerichtet wird. 5 Für meine erneuten Überlegungen zum Melancholie-Gespräch des Hans Sachs soll die Denkfigur der >Projektion< als methodischer Hintergrund dienen. Nach einer einführenden Skizze zu Problemfeldern der Projektion w i r d ein Schema der Ich-Projektion entworfen und für die literarhistorische Analyse produktiv gemacht. 6 Ein Schwerpunkt w i r d dabei zunächst auf Benierungen von Subjektivität 309-323.
in der Literatur
des Mittelalters
(Königstein / Taunus 2005),
3 A r m i n Schulz, Rez. zu Martin Baisch u. a., »Inszenierungen von Subjektivität«, Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 129 (2007), 493-499, hier 497 f. 4 Z u Struktur und Varianz des Traumschemas vgl. Winfried Theiß, Exemplarische Allegorik. Untersuchungen zu einem literarhistorischen Phänomen bei Hans Sachs (München 1968), hier insbesondere den Abschnitt »Die Traumvision«, 98-106; sowie Hans Georg Kemper, »Träume eines melancholischen >bidermans< ( H . Sachs)«, in: Hans Georg Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit , Bd. 1: Epochen- und Gattungsprobleme , Reformationszeit (Tübingen 1987), 246-281, hier 271 ff. 5 »Damit erhebt Hans Sachs das Traumerlebnis zum Exemplum: das Ich erlebt stellvertretend (exemplarisch) für alle Mit-Menschen, Mit-Christen oder Mit-Standespersonen eine Traumvision, deren geoffenbarte Wahrheit dann für alle gültig ist. [ . . . ] das exemplarische Ich [erscheint] als Denkender (Eingangsproblem), als Fragender (Zusammentreffen mit allegorischen Personen) und als Erkennender (im auslegenden Schlusswort)«; Theiß, Exemplarische Allegorik, 105 f.; Hervorhebungen i m Original. 6
Der Projektionsbegriff w i r d in mediävistischen Studien vielfach benutzt, aber eine theoretische Operationalisierung steht weitgehend noch aus. Vgl. exemplarisch Hartmut Bleumer, »Walthers Geschichten? Überlegungen zu narrativen Projektionen zwischen
Ich-Projektionen bei Hans Sachs
45
obachtungen zu Projektionseffekten innerhalb des Textes liegen. Abschließend möchte ich zur Diskussion stellen, inwiefern die binnenfiktionalen M o d i der Selbsterkenntnis rezeptionsästhetisch zu kontextualisieren sind.
I. Problemfelder der Projektion Projektionen stellen eine nahezu unvermeidliche, wenn auch häufig unbewusste Denkbewegung dar. Denn Menschen und soziale Gemeinschaften übertragen eigene Wünsche, Hoffnungen, Sehnsüchte, vor allem aber negative Gefühle, Probleme und Defizienzen auf andere Personen, Objekte oder Vergesellschaftungsformen. Dieser Mechanismus betrifft Alltagserfahrungen ebenso wie ästhetische Praktiken und theoretische Konzepte. Neben einer psychophysiologischen und ideologischen Dimension impliziert der Projektionsbegriff auch physikalisch-optische, technisch-apparative, kartographische und mathematische Faktoren, deren ideengeschichtliches Potenzial erst in Ansätzen erschlossen ist. 7 Das Desiderat einer »Geschichte der Projektion ist in einer Einzelstudie nicht aufzuarbeiten, aber es sollen Ideen entwickelt werden, welches Erkenntnispotenzial der >absolut modernen Kategorie und zugleich >uralten< Denkfigur der Projektion bei der Analyse vormoderner Texte zukommen kann. Dabei w i r d der Blick historisch bewusst rückwärts gerichtet, u m zu verifizieren, ob und wie in einem literarischen Text aus der Mitte des 16. Jahrhunderts bereits vor expliziter Kategorienbildung Grundideen über den Menschen als projizierendes Wesen formuliert und literarästhetisch umgesetzt werden. I m Gegensatz zum Begriff hat die Denkfigur der Projektion eine lange philosophische Tradition. 8 Sie ist mit der grundlegenden Frage nach der Metaphysik des menschlichen Seins und mit dem formal-logischen Problem verknüpft, dass der Mensch einerseits die Welt zum Gegenüber hat, andererseits gleichzeitig selbst Teil dieser Welt ist. Daraus resultierende Dichotomien von Leib und Seele, res cogitans und res externaAußen und Innen, Objekt und Sangspruch und Minnesang«, in: Helmut Birkhan (Hg.), Der achthundert jährige Pelzrock. Walther von der Vogelweide - Wolfger von Erla - Zeiselmauer. Vorträge gehalten am Waith er-Symposion der Österreichischen Akademie der Wissenschaften vom 24. bis 27. September 2003 in Zeiselmauer (Niederösterreich), Osterreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Sitzungsberichte 721 (Wien 2005), 83-102. 7 Z u m Forschungsstand vgl. Jutta Müller-Tamm, Abstraktion als Einfühlung. Zur Denkfigur der Projektion in Psychophysiologie, Kulturtheorie y Ästhetik und Literatur der frühen Moderne, Rombach Wissenschaften, Reihe Litterae 124 (Freiburg i m Breisgau 2005), sowie Francesca Ramas, Zur Theorie der Projektion. Der Projektionsbegriff in der Psychoanalyse und sein Bezug zur Metaphysik, Genealógica 38 (Essen 2007). 8 Für Basisinformationen vgl. Hans-Martin Saß, Art. »Projektion«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 7 (1989), 1458-1462.
46
Andrea Sieber
Subjekt sind für die menschliche Selbsterkenntnis fundamental. 9 Eine epistemologische Überwindung dieser Gegensätze wurde experimentell mit optischen Apparaturen wie der Camera obscura versucht, wobei die Stellung des denkenden Subjekts zur Welt modellhaft exponiert w i r d . 1 0 Das Problem der Innen-Außen-Differenz spiegelt sich zum Beispiel im Aufbau der Apparatur einer raumgroßen, transportablen Camera obscura wieder, wie sie in Athanasius Kirchers Ars magna Iuris et umbrae überliefert ist (vgl. Abbildung l ) . 1 1
Abbildung 1: Camera obscura (1646)
Isoliert und abgegrenzt von der Außenwelt befindet sich der Betrachter im dunklen Raum der Camera obscura und avanciert zum »inneren Beobachter eines durch Projektion vermittelten Bildes der Außenwelt«. 1 2 Die Metaphysik des Interieurs erzwingt dabei eine Form des menschlichen Rückzugs aus der Welt, der eine kausale Verschränkung von physikalischer Wahrnehmungskonstruktion und psychischem Wahrnehmungserleben provoziert. Ge9
Vgl. Hans Blumenberg, »Innen wie außen, außen wie innen«, in: ders., Höhlenausgänge (Frankfurt am M a i n 1989), 665-683. 10 Ein Uberblick zur Geschichte der Camera obscura w i r d gegeben von Thomas Ganz, »Der erste Kasten: Camera obscura. Das A b b i l d der Welt, gefangen und flüchtig«, in: ders., Die Welt im Kasten. Von der Camera obscura zur Audiovision (Zürich 1994), 13-23. 11 Reproduziert nach: Gerhard Kemner und Gelia Eisert, Lebende Bilder. Eine Technikgeschichte des Films , Berliner Beiträge zur Technikgeschichte und Industriekultur 18 (Berlin 2000), 16. 12
Müller-Tamm, Abstraktion
als Einfühlung,
102.
Ich-Projektionen bei Hans Sachs
47
setze der O p t i k konvergieren i m wahrnehmenden Ich. Das zugrunde liegende Prinzip der Projektion w i r d in René Descartes' physiologischen Schriften metaphorisch verdichtet und zur Beschreibung der Entstehung seelischer Vorstellungen nutzbar gemacht. 13 Die von außen nach innen gerichtete Wahrnehmungsdynamik löst sich dabei von den technischen Repräsentationsmöglichkeiten objektiver Realität, w i r d versprachlicht und in das privatisierte Subjekt< hineinverlegt. Die optische Apparatur fungiert somit als »psychische Metap h e r ^ 4 für eine epistemologische Zuspitzung des menschlichen Selbstbezugs. 15 Das sich auf diese Weise herausbildende neue Subjektverständnis w i r d nach Jutta Müller-Tamm in den wahrnehmungstheoretischen Debatten des 18. Jahrhunderts jedoch gegenläufig zugespitzt. 16 Angenommen werden psychische Akte des wahrnehmenden Ich, die als Mechanismen eines Nach-Außen-Projizierens von Empfindungen die Außenwelt subjektiv transformieren. 17 Welt ist zum exzentrischen Spiegel und zum Medium der Selbsterfahrung des Subjektes geworden. M i t der Loslösung vom Camera obscura-Modell korreliert demnach ein fundamentaler epistemischer Wandel, dessen philosophische, ästhetische und kulturtheoretische Konsequenzen hier nicht i m Einzelnen aufgezeigt werden können. 1 8 Frappant erscheint mir jedoch, dass im Melancholie-Gespräch des Hans Sachs die historische Inversion der technischen Außen-Innen- in eine psychologische Innen-Außen-Projektion in umgekehrter Abfolge am Beispiel eines fiktionalen Ich zu beobachten ist. Nach Hans Blumenberg erklärt sich die scheinbare Beliebigkeit, »[o]b der Mensch von innen nach außen die Welt versteht oder von außen nach innen sich selbst und in welcher Fundierungsfolge 13 René Descartes, »La Dioptrique«, in: René Descartes, Œvres , hg. Charles Adam und Paul Tannery, Bd. V I ( N D , Paris 1956), 79-228. 14
Blumenberg, »Innen wie außen«, 675.
15
I m Bereich Projektionsmetaphorik eröffnet sich ein lohnenswertes Terrain für sprachhistorische Analysen. Ansätze finden sich bei Theo Herrmann, »Die psychologische Projektionsmetapher und ihre Probleme«, in: Jürgen Neuser und Reinholde Kriebel (Hgg.), Projektion. Grenzprobleme innerer und äußerer Realität (Göttingen u. a. 1992), 4 9 - 6 7 ; Müller-Tamm, Abstraktion als Einfühlung, 12 f. passim; sowie Ramas, Zur Theorie der Projektion, 9 4 - 9 8 . 16
Vgl. Müller-Tamm, Abstraktion
als Einfühlung,
104 ff.
17
Als optisches Umkehrmodell der Camera obscura fungiert die Laterna Magica: »Der Kasten >Camera obscura< fängt ein Bild der Welt ein, das als Zeichnung Besitz des Menschen wurde - der Kasten >Laterna magica< macht eine gezeichnete, gemalte Phantasiewelt zum realen Erlebnis.« Thomas Ganz, »Der zweite Kasten: Laterna magica. Projizierte Phantasie als >reales< Erlebnis«, in: Ganz (Hg.), Die Welt im Kasten, 2 5 - 4 7 , hier 33. 18 Zur Gesamtentwicklung bis ins 20. Jahrhundert vgl. Müller-Tamm, Abstraktion Einfühlung, 71 - 2 4 8 .
als
Andrea Sieber
48
dies gegebenenfalls einhergeht«, 19 aus der Aporie des Projektionsbegriffs. U m dies als logische Vorläuferkonfiguration des modernen Projektions Verständnisses deutlicher zu konturieren, ist ein Rekurs auf die psychoanalytische Projektionstheorie hilfreich. 2 0
I I . Schema der Ich-Projektion Die Konfrontation der Grundidee psychischer Projektionsaktivitäten mit M o d i der literarischen Selbstthematisierung eines Ich erschließt sich in vormodernen Texten aus einem Moment der Krise, in dem dieses Ich seine Identität von einem negativen emotionalen Kulminationspunkt her in Frage stellt. 2 1 Dabei kollabiert »ein basales, ganz und gar rudimentäres Ich-Gefühl, das jeden Menschen darüber versichert, daß es sein Körper ist, den er fühlt, daß er es selbst ist, ganz gleich, wie dieses >Selbst< dann inhaltlich gefüllt wird, welche Rolle er sich zuschreibt und wie er sein Verhältnis zu den anderen begreift.« 22 Selbstverlust, Einschränkung des Ich-Gefühls und Todessehnsucht, die am Beginn des Melancholie-Gesprächs artikuliert werden, markieren offensichtlich den pathologischen Endpunkt einer solchen krisenhaften Ich-Dissoziation. U m dieses Ereignis nicht nur als »Ohnmacht vor [ein]er Realitätsrepugnanz« 23 zu beschreiben, sondern auch auf mögliche Kausalstrukturen des subjektiven emotionalen Erlebens hin zu beleuchten, soll der Projektionsbegriff operationalisiert werden. I n Anlehnung an Francesca Ramas möchte ich zunächst zwischen dem Modus einer »fundamentalen Projektion< und dem Modus einer sekundären >postintrojektiven Projektion< unterscheiden, 24 die letztere Kategorie aber als >Ich-Projektion< begrifflich von einer überwiegend pathologisch aufgefassten psychischen Dimension entkoppeln und für literarhistorische Analysezwecke zuspitzen. Die >Fundamentalprojektion< betrifft die bereits angesprochene erkenntnisphilosophische Dimension der Innen-Außen-Differenz und erfasst, wie die Konstruktion menschlicher Wirklichkeit durch perzeptive Praktiken eines Subjekts erfolgt, das sich interaktiv zu Objekten seiner U m w e l t in Bezug setzt. 19
Blumenberg, »Innen wie außen«, 680.
20
Z u m texttheoretischen Potenzial der psychoanalytischen Theorie i m Bereich der Mediävistik vgl. zuletzt Christiane Ackermann, »Mediävistik und psychoanalytische Literaturtheorie (mit einer Annäherung an den Armen Heinrich Hartmanns von Aue)«, Literaturwissenschaftliches Jahrbuch N. F. 48 (2007), 9 - 4 4 . 21 Vgl. Jan-Dirk Müller, »Identitätskrisen i m höfischen Roman um 1200«, in: Peter von Moos (Hg.), Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft, N o r m und Struktur 23 ( K ö l n 2004), 297-323. 22 Müller, »Identitätskrisen«, 297. 23
Rudolf Heinz, Psychoanalyse und Kantianismus (Würzburg 1981), 29.
24
Vgl. die Begriffsbestimmungen bei Ramas, Zur Theorie der Projektion,
12-14.
Ich-Projektionen bei Hans Sachs
49
Dieser Prozess ist als permanente, jedoch unbewusste Aktivität des wahrnehmenden Ich zu charakterisieren, wobei Umweltreize selektiv mit Bedeutungen aufgeladen werden, die auf Einstellungen, Erwartungen, Bedürfnissen oder vorgängigen Erfahrungen des Subjekts basieren. Der Begriff der sekundären >postintrojektiven Projektion< stützt sich dagegen auf das psychoanalytische Konzept des Abwehrmechanismus. Ähnlich wie Verdrängung oder Regression impliziert Projektion meist pathologische Verhaltens- und Erlebenskomponenten, die sich psycho-dynamisch entfalten. I m A k t des Projizierens leistet ein Ich unbewusste Zuschreibungen seiner inneren Konflikte an äußere Instanzen, Objekte oder Interaktionspartner. Was dabei durch Projektion entäußert wird, kann sich das Subjekt nach Bewusstmachung des Projektions Vorganges wieder introjektiv aneignen, daher verwendet Ramas den Zusatz >postintrojektivnormalem< Mechanismus der Sinneswahrnehmung und in Abgrenzung zur Paranoia als pathologischem Abwehrmechanismus, veranschlagt Freud zudem eine A r t kreativen Abwehrmechanismus, der bei der Konstitution von Mythen, Religionen, Träumen oder in der Dichtung wirksam w i r d . 2 7 Unklar bleibt in seiner Projektionstheorie die kausale Strukturierung von Denken und Fühlen, was aber anhand eines Schemas von Rudolf Heinz nachvollzogen werden kann (vgl. Abbildung 2). 2 8 25 Z u m Projektionsbegriff bei Freud vgl. Jean Laplanche und Jean-Bertrand Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, stw 7 (Frankfurt am Main 15 1999), 399-408; sowie Müller-Tamm, Abstraktion als Einfühlung, 193-209. 26 Sigmund Freud, »Totem und Tabu«, in: ders., Gesammelte Werke, am M a i n 1944), 81.
Bd 9 (Frankfurt
27 Zur Auffächerung in drei Projektionsmechanismen vgl. Müller-Tamm, Abstraktion als Einfühlung,, 194 f., hier A n m . 395. 28 Schema mit geringfügigen Abweichungen gestaltet nach Heinz, Psychoanalyse und Kantianismus, 30.
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Andrea Sieber
Projektion (aktuell)
Dauer
Zweck
Veranlassung
zeitlich begrenzt
Selbstentlastung
zwischenmenschliche Notwehr' Situation
Projizieren
Angstab wehr
permanent
Vorgangsmodus
unbewusst Fremdheitstilgung
Wahrnehmung
Abbildung 2: Schema der Ich-Projektion I
I m Hinblick auf das so genannte Projektor-Ich wird ähnlich wie bei Freud und Ramas eine weite philosophische (unten i m Schema) von einer engen pathologischen Dimension (oben im Schema) unterschieden. Je nach Dauer des Projektionsvorgangs [ . . . ] stehen sich temporale Begrenztheit und (wahrnehmungsrelative) Permanenz gegenüber. Auch der Modus der Zweckerfüllung, Angstabwehr, erweist sich different: hier Selbstausnehmung, -entlastung von unwürdigen Affekten [ . . . ] , dort dagegen Fremdheitstilgung, Selbstwiderspiegelung. 29
Als Projektions veranlassung genügt auf der philosophischen Ebene eine >schlichte< Wahrnehmungsintention, im klinischen Fall w i r d dagegen eine N o t wehrsituation angenommen, die bei wiederholter Fehleinschätzung der U m welt zur Entgrenzung führt und in eine pathologische Wirklichkeitsabkehr mündet. Die subjektiv entstandene >Entfremdung< von der »objektiven Realität< kann jedoch häufig durch Reflexion über die Projektionsleistung und eine daraus resultierende Selbsterkenntnis aufgelöst werden. Wirklichkeitsohnmacht weicht konstruktiver Subjektivität. I n diesem emphatischen Sinne bezeichne ich i m Folgenden wahrnehmungspsychologische Vorgänge, bei denen die >innere< Sinnesempfindung eines Ich durch Projizieren in die >äußere< Körperumgebung hinausverlagert w i r d und dieser Vorgang sukzessive zur Selbsterkenntnis führt, als normale oder gelingende >Ich-Projektionevakuiert< die >Vernunft< gleichsam die >Ursache< der Sinnesempfindung in die Außenwelt und konstruiert die temporäre Wirklichkeit des Ich (vgl. Abbildung 3). 3 0 Veranschaulicht man sich die Resultate solcher Ich-Projektionen hinsichtlich ihres potenziellen Realitätsgehaltes, stellen sich die Erfahrungsmöglichkeiten je nach Objektfokus sehr verschieden dar. So basieren auf Gefühle und andere Subjekte gerichtete Projektionen maßgeblich auf subjektiven Fiktionen und sind daher nur vermittelt, etwa durch Transformation in Sprache erfahrbar, 29
Heinz, Psychoanalyse und Kantianismus, 29.
30
Schema von Heinz, Psychoanalyse und Kantianismus, 30, abgewandelt.
Ich-Projektionen bei Hans Sachs
51
während Projektionen, die auf eine äußere Realität abzielen, wesentlich plausibler erscheinen, aber zumindest erkenntnistheoretisch die ungesicherte Referenz von Virtualität implizieren. Erfahrensmodus vermittelt erfahrbar
Projekt
Projektion / (resultativ) \
Fiktion ^ andere Subjekte Projektionsobjekt •
virtuell unmittelbar erfahrbar
^"Außenwelt'
V Abbildung 3: Schema der Ich-Projektion I I
I I I . Projektionseffekte Kehren w i r zum Melancholie-Gespräch des Hans Sachs zurück: Aufgrund von Gefühlen der Furcht, Einsamkeit und des Selbstekels artikuliert das Erzähler-Ich seine Todessehnsucht und steigert sich in einen halluzinatorischen Zustand hinein, bei dem es sich in der Hölle wähnt. 3 1 A n diesem Kulminationspunkt der inneren Zerrüttung angelangt, erscheint dem Ich eine Lichtgestalt: Inn solcher meyner nöt Gleich-samb die morgen-röt Mein kemat ganz durchleucht. Inn dem, als mich bedeucht, Philosophia trat Ein zu meyner pettstat, Ein adeliches weyb, Schön gliedmasiert von leyb, Die muter aller tugend, Die ich lieb het von jugend, [ . . . ] . (KG 4,142,12-21) 31
Dieser trügerischen Sinneserscheinung fehlt die objektive Reizgrundlage außerhalb des Ich. Damit w i r d die Situation pathologisch in die Nähe des morbus melancholicus gerückt. Dazu vgl. Raymond Klibansky, E r w i n Panofsky und Fritz Saxl, Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst, stw. 1010 (Frankfurt am Main 1992), 321, A n m . 5.
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Andrea Sieber
Was sieht oder wem begegnet das Erzähler-Ich? Die textuelle Rahmung nach einem Traumschema und die auffällige Lichtmetaphorik signalisieren, dass es sich bei der Figur der Philosophia lediglich um eine Phantasie und ein Trugbild handeln kann, u m eine Projektion des I c h . 3 2 Das phantasmagorische Sujet des Traums 3 3 fungiert dabei als privilegierter Modus der Ich-Projektion, und das Moment seiner Versprachlichung erscheint als ein eklatanter Konvergenzpunkt zwischen literarischen Strategien - nicht nur der Vormoderne - und den Interpretations- und Narrationstechniken der Psychoanalyse. Konkret auf die bisherigen Ausführungen zur Ich-Projektion und deren schematischer Veranschaulichung bezogen, projiziert sich das Erzähler-Ich hier zur Abwehr seines melancholischen Ambivalenzkonfliktes auf eine äußere Instanz, die in dem Streitgedicht als Personifikation der Philosophia in Erscheinung t r i t t . 3 4 Die Projektion erfolgt als Selbstentlastung und zum Zweck der N o t w e h r gegen Gewissensqualen und Höllenangst. Aufgrund der Traumrealität bleiben die Zuschreibungen unbewusst und temporär (vgl. Abbildung 4).
Projektion (aktuell)
Dauer
Zweck
temporär
emotionale Selbstentlastung
Projizieren
Abwehr eines melancholischen Ambivalenzkonfliktes
Veranlassung
Vorgangsmodus
Notwehr gegen Gewissensqualen und Höllenangst unbewusst
Abbildung 4: Schema der Ich-Projektion zum Melancholie-Gespräch von Hans Sachs 32 »Ein Traum ist also auch eine Projektion, eine Veräußerlichung eines inneren Vorgangs«; Sigmund Freud, »Metapsychologische Ergänzungen zur Traumlehre«, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 10 (Frankfurt am Main 1944), 412-426, hier 414. Hervorhebung i m Original. 33 Dazu aus mediävistischer Perspektive vgl. Christine Pfau, »Drei Arten, von Liebe zu träumen. Zur Traumsemantik in zwei Prosaromanen Jörg Wickrams«, Zeitschrift für Germanistik N. F., 8 (1998), 282-301. Ackermann, »Mediävistik und psychoanalytische Literaturtheorie«, 12, verweist auf die dominant prospektive Funktion von Träumen in mittelalterlicher Literatur. Diese Dimension kann für Hans Sachs jedoch ausgeschlossen werden, da aufgrund der epischen Rahmung durch das Traumschema gerade der aktive Vollzug des Traums durch das Erzähler-Ich evoziert wird. 34
Personifikationen können als spezifisch literarische und bildkünstlerische Projektionen von Gefühlskonstellationen aufgefasst werden. Vgl. Paul Michel, »Emotionen. Erscheinungsformen - Diskursfelder - Beeinflussung. Eine Bestandsaufnahme des Herausgebers«, in: Paul Michel (Hg.), Unmittelbarkeit. Gestaltung und Lesbarkeit von Emotionen,, Schriften zur Symbolforschung 15 (Zürich 2005), 1 - 7 9 , hier 5 0 - 5 3 .
Ich-Projektionen bei Hans Sachs
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A u f f ä l l i g ist, dass b e i H a n s Sachs eine A b s t r a k t i o n v o n d e m s i n n l i c h - k o n k r e ten, n e g a t i v e n G e f ü h l s z u s t a n d der M e l a n c h o l i e auf eine p o s i t i v e , h o f f n u n g s trächtige Instanz e r f o l g t . 3 5 D u r c h unbewusste Projektionstätigkeit
erschafft
sich das I c h i m T r a u m b u c h s t ä b l i c h eine E n t l a s t u n g s f i g u r z u r e r l e b t e n e m o t i o nalen D i s s o z i a t i o n u n d t r i t t m i t i h r i n d e n D i a l o g . 3 6 D i e p r o j e k t i v e D i s t a n z i e r u n g 3 7 ü b e r b r ü c k t dabei die scheinbare A p o r i e u n d d e n W i d e r s i n n z w i s c h e n I n n e n u n d A u ß e n . D e n n i m Z u g e der P e r s o n i f i k a t i o n k a n n das sonst u n v e r f ü g bare I n n e r e sogar angesprochen u n d auf diese Weise die K a u s a l s t r u k t u r des s u b j e k t i v e n e m o t i o n a l e n Erlebens d i a l o g i s c h analysiert w e r d e n . 3 8 I m Z u g e d e r s p r a c h l i c h e n D e u t u n g entsteht eine z w e i t e P e r s o n i f i k a t i o n , die das I c h h i n t e r sich w a h r n i m m t , w o b e i die i l l u s o r i s c h e B l i c k b e w e g u n g des I c h auf sich selbst n u r d u r c h den aktiven V o l l z u g i m T r a u m plausibel erscheint. 39 Inn dem da hört ich hauchen Ein blaß-balg bey mein ohren. Erst ersach ich inn zoren Hindter mir ein alt weyb, D ü r r und ghruntzelt von leib. Ir har, geleich den schlangen, Thet für ihr antlitz hangen, Ir angesicht dürr unnd gelb. Ich sprach: Bist du die selb, Die mir mein gmüt und hertz M i t unruhigem schmertz Hast gmacht mit deym einblasen? Far immer hin dein strassen, 35 Die PMoso/^itf-Darstellung impliziert Allusionen auf Eos / Aurora, G ö t t i n und Personifikation der Morgenröte, mit der spezifische Erwartungen an die Distinktionen von Sichtbarkeit i m Sinne wahrnehmender Vernunft geknüpft sind. Dazu vgl. Olga Lewicka, »Aurora. Utopie und Surreflexion«, in: Stefanie Diekmann und Thomas Khurana (Hgg.), Latenz. 40 Annäherungen an einen Begriff Kaleidogramm 24 (Berlin 2007), 3 5 - 4 0 . 36 Dazu vgl. auch Freud, »Totem und Tabu«, 82, A n m . 1: »Den Projektionsschöpfungen der Primitiven stehen die Personifikationen nahe, durch welche der Dichter die in ihm ringenden entgegengesetzten Triebregungen als gesonderte Individuen aus sich herausstellt.« 37 »Der psychische Mechanismus der Projektion schafft sich außer dem Reflektor auch noch den Raum, der ihn auf Distanz hält. Denn >Distanz< ist der funktionelle Sinn der Projektion«; Hans Blumenberg, »Seelentiefenhöhlen«, in: ders., Höhlenausgänge, 684-699, hier 685. 38
Bei der Personifikation i m Traumkontext handelt es sich nach Blumenberg um »Veräußerlichung eines sonst unentäußerlichen Inneren«; Blumenberg, »Seelentiefenhöhlen«, 685. 39
Die Traumprojektion entfaltet hier einen, der kinematographischen Projektionskunst vergleichbaren Sinn: »das Subjekt sendet das Bild, das unbewußt in ihm steht, nach außen«; Laplanche und Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, 405.
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Andrea Sieber D u ernstliches merwunder! Sie aber stund besunder, Wolt weichen nit von mir, [ . . . ] . ( K G 4, 143,5-20)
Das Ich kann sich gegen die imaginierte Frauengestalt, die auch als hex ( K G 4, S. 143, 26) und gespenst ( K G 4, S. 143, 36) bezeichnet wird, zunächst nicht wehren. Erst eine Drohgebärde der Philosophia vertreibt das Geschöpf und verschafft dem betrübten Jüngling emotionale und körperliche Erleichterung. Anschließend beginnt das Ich, den Realitätscharakter der wahrgenommenen Erscheinung zu hinterfragen. Die Erregungsvorgänge, die vom Ich i m epischen Rahmen bereits als Erfahrungen der Selbstentfremdung und emotionalen Zerrüttung geäußert wurden, können nun durch die stellvertretende Vernunftinstanz der Philosophia als Melancholie identifiziert werden. Bei dieser zweiten Personifikation handelt es sich erneut um eine »exzentrische Projektion< 40 des Ich auf eine weitere äußere Instanz, die als abstoßende Figuration eines alten, hässlichen Weibs in maximalem Kontrast zur Lichtgestalt der Philosophia imaginiert wird. Letztere erläutert dem Ich nun die Charakteristika und Effekte von Melancholie. Dabei bestätigt sie aber nur die Mechanismen der Angsterzeugung, der Betäubung, der Wahrnehmungsstörung, des Verlustes der Denkfähigkeit und die Kulmination des Todestriebs in Selbstmordphantasien, wie sie vom Erzähler-Ich i m epischen Rahmen des Textes eigens durchlebt und artikuliert wurden. I m Zuge der doppelten Versprachlichung des negativen Gefühlszustandes durch das Ich selbst und durch die Personifikation seiner Vernunft w i r d die Projektion nicht nur als Vorgang einer subjektiven Visualisierung vollzogen, sondern außerdem als A k t einer sprachlichen Substitution ausgewiesen. 41 Zwei Aspekte der Ich-Projektion werden dadurch evident: Z u m einen ist das Ich eindeutig als Ausgangspunkt der Projektion zu veranschlagen, da die vom Ich zuvor durchlebten Wechselbäder der Gefühle sukzessive auf eine äußere Instanz >abgebildet< erscheinen. Der Gegenstand der Projektion w i r d de facto als ihre Ursache identifiziert. 4 2 Z u m anderen werden der personifizierten Melancholie Eigenschaften zugeschrieben, die nicht vollständig mit zeitgenössischen Melancholie-Vorstellungen 43 zur Deckung gelangen und da40 41
Dazu Ramas, Zur Theorie der Projektion , 52 ff.
Zur »Sprachförmigkeit der Projektion« vgl. Müller-Tamm, Abstraktion lung, 198 ff.
als Einfüh-
42 »Freud beschreibt die Projektion oft als Deformierung eines normalen Vorgangs, der uns die Ursache unserer Affekte in der Außenwelt suchen lasse«; Laplanche und Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse , 404, Hervorhebung i m Original. 43 Trotz der grundsätzlich ambivalenten Codierung und Konzeptualisierung von Melancholie stellt die Beschreibung von Hans Sachs - soweit ich das überblicke - ein N o v u m dar.
Ich-Projektionen bei Hans Sachs
55
her eine subjektive Verzerrung der Wirklichkeit implizieren. I n diesen Bereich der negativ-arbiträren Zusätze gehören zum Beispiel die Allusionen auf die Schlangenhaare der Medusa oder Bezüge zur Ikonographie der invidia (vgl. Abbildung 5). 4 4 Als Bewusstseinsinhalt des Traums entsteht die Personifikation der Melancholie ohne objektive Reizquelle in der äußeren Realität. Außerdem erweisen sich durch die ungewöhnliche Visualisierung und Versprachlichung des Gefühlszustandes die Referenzen auf ein geläufiges kulturelles Wissen über Melancholie als gestört. Die Gestalt, die das Erzähler-Ich >siehtnormalen< Projizierens weist Schnittflächen zum Phänomen der Identifizierung auf. 4 7 Die Rezipienten sind beim Lesen eines Textes wie des Melancholie-Gesprächs herausgefordert, ihre Fähigkeiten und Gefühle in die fiktionalen Figuren hineinzuprojizieren und sich auf diese Weise mit ihnen zu identifizieren. »Sowohl die Identifizierung als auch die Projektion kommen auf dem Wege der >Verschiebung< zustande, erstere durch Verschiebung vom Objekt auf das Ich, letztere 44 Reproduziert nach: Die Welt des Hans Sachs. 400 Holzschnitte des 16. Jahrhunderts, hg. Stadt Nürnberg, Stadtgeschichtlichen Museen, Ausstellungskatalog 10 (Nürnberg 1976), Kat. 139. Bezüge zur Ikonographie des Neids werden hergestellt von Helene Henze, Die Allegorie bei Hans Sachs mit besonderer Berücksichtigung ihrer Beziehungen zur graphischen Kunst, Hermaea 11 (Halle 1912), 84. 45 Eventuell erschließt sich die spezifische Verbindung zwischen Melancholie und N e i d über Saturn, den Hans Sachs als neydisch gott ( K G 7, 269, 20) bezeichnet. Vgl. Henze, Die Allegorie bei Hans Sachs, 85. 46
Dazu insgesamt Martin Andree, Archäologie der Medienwirkung. Faszinationstypen von der Antike bis heute (Simulation, Spannung, Fiktionalität, Authentizität, Unmittelbarkeit, Geheimnis, Ursprung) (München 2005). 47
Vgl. Hans Robert Jauß, »Ästhetische Identifikation - Versuch über den literarischen Helden«, in: ders., Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, stw 955 (Frankfurt am M a i n 1991), 244-291.
Andrea Sieber
Abbildung 5: Georg Pencz, Titelholzschnitt zu Hans Sachs, Das feindtselig laster der neyd mit sein zwölff aygenschafften (Wolfgang Resch, Nürnberg, 1534)
Ich-Projektionen bei Hans Sachs
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durch Verschiebung vom Ich auf das Objekt.« 4 8 Diese wechselseitige Dynamik zwischen den fiktionalen Figuren und den Rezipienten w i r d bei Hans Sachs i m Moment der Schließung des epischen Rahmens evident. Die Philosophia stellt dem Ich kurz vor dem Erwachen i m Endeffekt noch einmal die moralische Essenz des Dialogs vor Augen und fordert es explizit zur Weitervermittlung der i m Traum vollzogenen Erkenntnisse auf. U n n d thu dich Gott ergeben! Denck an das ewig leben, Da du wirst gar entbunden Aller trübsal hie unden, Die auff dich mag gefallen! Schaw, jung man! mit dem allen Kanst du frey überwinden. Die lehr bhalt deynen kinden! (KG 4,145,24-31)
Die Botschaft ist so simpel wie eindeutig und zielt auf den protestantischen Glauben: Ein gottgefälliges Leben auf Erden stimuliert nicht nur den Jenseitsoptimismus, sondern vertreibt auch die negativen Gefühlskonstellationen von N e i d und Melancholie. 4 9 Durch Überblendung von Erzähler-Ich und AutorIch sowie die sukzessive Selbstidentifizierung des melancolischen, betrübten jünglings mit Hans Sachs w i r d diese didaktischen Absicht bekräftigt und das Ich in seiner moralischen Vermittlerfunktion zwischen Alltagswirklichkeit und fiktionaler Realität gestärkt. 50 Die qua Projektion vollzogenen Erkenntnisse des Ich fordern die Rezipienten demnach nachträglich zur Identifizierung, zu eigenverantwortlichem Handeln und Glaubensvernunft heraus. 51
48
Ramas, Zur Theorie der Projektion,
76.
49
Neben der Einforderung unerschütterlichen Gottvertrauens werden auch ganz praktische Verhaltensanweisungen gegeben, wodurch melancholische Grenzerfahrungen vermeid- oder therapierbar sind: »Auch must die tragheyt fliehen, / Z u ehrling gschefft dich ziehen! / Darzu du suchen must / Manch ehrlichen wollust. / Tröstliche bücher lesen. / Vertrauten gsellen wesen / U n n d guter freund gesprech / Bhalt bey dir inn der nech! / Fleuch die eynsamkeyt öd, / Wann sie macht dich sunst blöd!« ( K G 4, 145,14-23). 50 Z u m Ich als Vermittlungsinstanz vgl. Theiß, Exemplarische Allegorik, 4 7 - 5 3 . I m Anschluss an Kemper, »Träume eines melancholischen >bidermansacedialernteingeblasenIntrojektion< 54 aufgelöst werden kann. Das Erzähler-Ich muss die Entäußerung seiner Gefühle als Ich-Leistung erkennen und durch Introjektion wieder in sich aufnehmen. Das i m Nachhinein thematisierte ein-blassen ( K G 4, 143, 2 passim.) von melancholischen Phantasien in das träumende Subjekt könnte als eine solche Form der Rückaneignung gedeutet werden, bei der das Projizierte an den O r t zurückgeholt wird, von dem aus es projiziert wurde, das Gehirn. 5 5 Die wechselseitige Dynamik von Projektion und Introjektion, die Bewegung von innen nach außen und umgekehrt, w i r d von den personifizierten Ich-Instanzen der Melancholie und der Philosophia stellvertretend ausagiert, indem sie gleichsam >gegen< einander arbeiten. Dieses Zusammenspiel kann als Erkenntnis fördernde Aktivität von phantasey ( K G 4, 144, 8 passim.) und vernunfft ( K G 4, 141, 15 passim.) historisiert werden. Gemäß aristotelischen Vorstellungen w i r d die Einbildungskraft (griech. (pavxaoia, phantasia y lat. imaginatio) als >Organ der Vernunft< betrachtet, das i m Zentrum der anima sensitiva in der mittleren Gehirnkammer als Vermittlungsinstanz zwischen den Sinnesreizen und Erkenntnisakten w i r k t . 5 6 Diese Auffassung von der Imagination als Medium der Reflexion bleibt bis in die frühe Neuzeit präsent und w i r d in der Literatur des 16. Jahrhundert allegorisch als Differenzierung zwischen sinnlicher und höherer Vernunft konfiguriert. Allegorie und Imagination bearbeiten Konkretes, Anschauliches, Sinnliches, Kontingentes nur, indem und insofern sie simultan Abstraktes, Unanschauliches, Intellektu54 Introjektion hat Sandor Ferenczi als Symmetrie-Begriff zur Projektion durchgesetzt. Vgl. Laplanche und Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, 235-237, sowie Ramas, Zur Theorie der Projektion , besonders 123 ff. A u f die Wurzeln des Begriffs in Richard Avenarius' Empiriokritizismus verweist Müller-Tamm, Abstraktion als Einfühlung , 145, 172 ff. 55 »Die >Introjektion< holt allererst herein, was die >Projektion< herausbringt«; Blumenberg, »Seelentiefenhöhlen«, 684. 56
Vgl. zu Aristoteles i m Detail Hubertus Busche, »Die Aufgaben der phantasia nach Aristoteles«, in: Thomas Deweder und Thomas Welt (Hgg.), Imagination - Fiktion - Kreation. Das kulturschaffende Vermögen der Phantasie (München / Leipzig 2003), 2 3 - 4 3 .
Ich-Projektionen bei Hans Sachs
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elles [ . . . ] ins Spiel bringen, herausarbeiten, konturieren. [ . . . ] Die Imagination ist in einem solchen Rahmen zu bestimmen als ein passiver Intellekt, in den sich der höhere Intellekt hineinprojiziert, sich vergegenständlicht, u m aus dieser Anschauung seiner selbst >belehrt< und gesteigert zu sich zurückzukehren. 5 7
Auch bei Hans Sachs sind der Einbildungskraft Transformationsenergien inhärent, welche die Grenzen von Innen und Außen verflüssigen, die Ich-Empfindungen qua Projektion allegorisieren und durch diese Verräumlichung und Dynamisierung die subjektkonstitutive Funktion von Gefühlen intelligibel machen. Bemerkenswert ist, dass Hans Sachs in diesem Zusammenhang sogar den negativen, melancholischen Phantasien ein Erkenntnis förderndes Potenzial zuschreibt, denn die Vorstellung des ein-blassen partizipiert an einer geläufigen Inspirationsmetaphorik 58 und zielt auf eine positiv konnotierte Stimulierung des Denkens ab. Auszugehen ist demnach von einer produktiven Verschränkung von Projektion und Introjektion, die es dem Erzähler-Ich ermöglicht, eine ursprünglich negative Gefühlskonstellation i m A k t des Projizierens zu veräußerlichen, diese reflexiv zu transformieren und die objektivierten Emotionen unter veränderten Vorzeichen wieder introjektiv in das Ich einzubeziehen. Dieser Wandel der Ich-Perspektive w i r d i m Melancholie-Gespräch als gestufter Prozess vollzogen: zunächst erfolgt die Austreibung melancholischer Phantasien als gewaltsame Selbstzensur. Die wurtzel thu abschneyden, Auß-reutten unnd vermeyden, Darvon dir kam das ubel, U n n d i m nit mehr nach-grübel! Schlag auß inwendigs zancken M i t frölichen gedancken, M i t gutem starcken hoffen. (KG 4,144,29-35)
57
Eckhard Lobsien, Imaginationswelten. Modellierung der Imagination und Textualisierung der Welt in der englischen Literatur 1580-1750 (Heidelberg 2003), 25. 58 Wenn Hans Sachs Inspiration thematisiert, geschieht dies nicht selten aus strategischen Gründen zur Motivierung seiner Vielschreiberei und zur Absicherung seines moralischen Sendungsbewusstseins. Besonders programmatisch dramatisiert er seine Position als A u t o r in der gereimten Vorrede zum zweiten Band der Nürnberger Folioausgabe, w o er ostentativ behauptet, aus Altersgründen und wegen mangelnder Anerkennung mit dem Dichten aufhören zu wollen, dann aber vom Gott Genio ( K G 6, 21, 38) i m Traum zur Königin Weißheit gebracht und von dieser überzeugt wird, weiterzudichten. Vgl. insgesamt Vorred oder eingang in diß buch, das ander theil meiner gedieht ( K G 6, 2 0 - 2 6 ) . Z u m Inspirationsmodell in Die neun gab Muse oder kunstgöttin betreffend ( K G 7, 202 210); vgl. Dorothea Klein, »Inspiration und Autorschaft. Ein Beitrag zur mediävistischen Autordebatte«, DVjs 80 (2006), 5 5 - 9 6 , hier 8 8 - 9 1 .
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Andrea Sieber
Thematisiert wird die Notwendigkeit einer Distanz setzenden Vernunft, die hier nicht nur eine Distanzierung des Ich von der Umwelt, sondern vor allem eine Selbstdistanzierung des Ich meint. Nach dieser ersten Phase der Selbsterkenntnis folgt dann mit der Schließung des epischen Rahmens die Rückversetzung des Erzähler-Ich aus der Traumrealität in die erzählte Wirklichkeit. Dieser Prozess ist fundamental für die Selbsterkenntnis des Ich und w i r d von Hans Sachs als bewusste Auflösung der projizierten Vorstellungen dargestellt. Inn dem ich aufferwacht. M i t fleiß hertzlich bedacht, Wie offt melancoley M i t ihrer phantasey Manch mensch so hart thut plagen, Martren, fresen unnd nagen Offt mit kindischen Sachen, Das er hernach muß lachen, Wenn er sich hindter-dencket, Wie er sich selb hab krencket U m b sunst mit viel ungmachs, Spricht zu Nürnberg Hans Sachs. ( K G 4, 145,35-146, 7)
A m Schluss des Melancholie-Gesprächs hat das Erzähler-Ich, veranlasst durch den Traum, der als Medium der Selbstreflexion fungiert, eine metareflexive Position erreicht. Das Ich hat sich dabei transformiert, ohne dass sich in der Welt etwas verändert hätte. Die projektive Entäußerung in den Personifikationen der Melancholie und der Philosophia und deren Wiederaneignung im Modus der Introjektion hat bei dem Erzähler-Ich ein Selbstbewusstsein konstituiert, das erst in der Nachträglichkeit bestimmbar ist. Das Erzähler-Ich gelangt zu seinem >neuen Bewusstseins weil es den Projektionsvorgang als irrationale Verzerrung der Realität, als sinnlos quälende kindische Phantasie durchschaut hat. Bleibt die Frage, ob die zunächst projektiv fixierten >Scheinprobleme< allein durch die sukzessive Erkenntnis, dass projiziert wurde, >wirklich< aufgelöst werden können? I n dem Versuch die Ich-Erkenntnis qua Moraldidaxe zu generalisieren, ist dieses Problem enthalten. Denn die Selbstreflexion des Ich mündet in ein Lachen, das zwischen Katharsis und Hilflosigkeit oszilliert und dadurch die angestrebte Identifizierung der Rezipienten mit den Einsichten des Ich fragwürdig erscheinen lässt. Das Lachen markiert demnach eine mimetische Unsicherheit, ob sich die Leistungen der Ich-Projektion mit den M o d i der Fundamentalprojektion vermitteln lassen (vgl. Abbildung 7). Bei der Entfaltung des Schemas zur Ich-Projektion zeigt sich, dass die temporäre Selbsterkenntnis eines konkreten Ich grundsätzlich in einem Spannungsverhältnis zur kollektiven Wahrnehmungssituation steht. Die »ideale U n w i r k -
Ich-Projektionen bei Hans Sachs
63
lichkeit« 5 9 des Traums kollidiert mit der Brüchigkeit der Rezipientenrealität, in der eine ökonomische und religiöse vanitas mundi dominiert. 6 0 Aus der Perspektive des Autor-Ich soll die vom Erzähler-Ich generalisierend artikulierte Didaxe auf beide Realitäten vermittelnd einwirken. O b w o h l die eindeutigen Intentionen von Hans Sachs außer Frage stehen, tilgen diese nicht das Risiko, dass es Spielräume des Misslingens geben könnte, wie die Rezipienten auf seinen moralischen Imperativ reagieren. Denkt man diesen Aspekt zu Ende, ergibt sich ein verblüffender Synergieeffekt zwischen Fundamental- und Ich-Projektion (vgl. Abbildung 8).
Projektion (aktuell)
Dauer
Zweck
temporär
emotionale Selbstentlastung
/
Veranlassung
Vorgangsmodus
Notwehr gegen Gewissensqualen und Höllenangst
Projizieren Abwehr eines melancholischen Ambivalenz-"*""-^ konfliktes Katharsis oder Hilflosigkeit permanent
unbewusst
Didaxe Generalisierung Abbildung 7: Ich-Projektion und Rezeption I
f
Melancholie
Art
Erfahrensmodus
Gewissensqualen und Höllenangst
Vereinzelung
Traumrealität
Kulturelles Wissen Projektion (resultativ)
< Projektionsobjekt
V
Subjektivität
Fiktion ^ konkrete Personifikationen -Texte Kunstwerke
Rezeption
Bedeutungsoffenheit
Abbildung 8: Ich-Projektion und Rezeption I I 59
Theiß, Exemplarische Allegorik,
60
Dazu vgl. insgesamt Müller, Der Poet der Moralität,
105. 85 - 1 7 4 .
64
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Wenn es in dem Melancholie-Gespräch ungewiss bleibt, ob die Erkenntnis des Erzähler-Ich >tatsächlich< zu einer admirativen Identifizierung seitens der Rezipienten führt, heißt das nichts anderes, als dass die Rezipienten unter einem permanenten >Rück-Projektionsdruck< stehen. Sie sind immer wieder herausgefordert, sich in die Fiktion einzufühlen, um das Spannungsverhältnis zwischen Fundamental- und Ich-Projektion bzw. von Vereinzelung und Bedeutungsoffenheit zu überbrücken. Unter diesem Reflexionsdruck avanciert Literatur aus Autor- wie Rezipientenperspektive zum Medium vormoderner Sub j ektkonstitution.
Métonymie et paradoxe énonciatif: le Télémaque au miroir de son frontispice Par Laurent Susini
Sur le frontispice, gravé en taille-douce, de »la première édition conforme au manuscrit original« des Aventures de Télémaque, fils d'Ulysse, parue en 1717 à Paris chez Jacques Étienne 1 , le vieillard du deuxième plan porte des ailes blanches (ill.l). De sa main droite, il brandit une large faux, tendant un pont menaçant vers le premier plan de l'image; et de sa main gauche, il soulève le voile passablement sombre qui nous dissimulait la vue de ce dernier. Pour rapide que soit la description, on aura reconnu ici un dispositif iconographique topique entre tous, celui de Saturne, c'est-à-dire le Temps, dévoilant la Vérité: dispositif bien établi depuis la Renaissance, mais dont les racines allégoriques plongent plus loin dans l'Histoire, aussi bien dans les œuvres de Pindare (donnant le Temps pour »témoin unique de l'authentique vérité« 2 ) ou celles des tragiques grecs (le Temps, chez Sophocle, »voit et entend tout, déploie tout« et »en dévoilant toutes choses, les porte à la lumière« 3 ), que dans la pensée d'un Thalès, pour lequel, comme on sait, le temps découvre tout. En 1717, l'utilisation du motif iconographique de Saturne levant le voile n'avait rien d'original: les X V I e et X V I I e siècles en avaient déjà proposé d'innombrables illustrations, des plus platement déférentes (Charles Dauphin) aux plus génialement subversives (Bronzino, et sa fameuse Luxure dévoilée par le temps). Ainsi, pour le lecteur de l'image, la question de l'interprétation allégorique d'un motif aussi répété, et désormais aussi transparent, ne se posait plus depuis longtemps, mais pour le créateur, en revanche, une question gardait en1 L'exemplaire que nous avons consulté mentionne: »Florentin Delaulne, rue SaintJacques, à l'Empereur«, mais il s'agit en réalité de la même édition: voir Recherches bibliographiques sur Le Télémaque, les Oraisons Funèbres de Bossuet et le Discours sur l'Histoire universelle par M, *** Directeur au séminaire de Saint-Sulpice (seconde édition, Paris / Lyon 1840), 18. 2 3
Olympiques, X , v. 54.
Voir Jacqueline de Romilly, Le Temps dans la tragédie grecque. Eschyle, Sophocle, Euripide [1968] (Paris/Vrin 1995), 49.
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core toute sa pertinence: comment, dans ce genre de dispositif, représenter sans ambiguïté possible la Vérité découverte par l'homme à la faux? I l n'est sans doute pas indifférent que, vers la fin du siècle, l'auteure d'un autre roman d'éducation alors aussi fameux que le Télémaque, Adèle et Théodore, se soit fait, elle aussi, l'écho du problème. Comme l'écrit en effet Madame de Genlis dans ses Veillées du Château : Le Temps dévoilant la vérité est une vieille allégorie, mais qui plaira toujours parce qu'elle est juste. Cependant, elle a un défaut, c'est qu'une des figures (la Vérité) n'a pas des attributs assez marqués pour qu'on puisse ne pas hésiter à la reconnaître. Les uns disent qu'il faut la représenter sous la figure d'une femme majestueuse, habillée simplement; les autres prétendent qu'elle doit être nue, et on n'est pas d'accord sur ce point; ainsi, cette Vertu personnifiée dans un tableau ne saurait être frappante. 4
Indice de soi-même, la vérité n'aurait pas d'attributs et se prêterait donc malaisément à la représentation allégorique. Voire. À ce problème iconographique, Bernin proposa une solution spectaculaire bien dans le ton de son génie: dans Le Temps découvrant la Vérité qu'il dédia à Christine de Suède, l'artiste italien révéla derrière le voile de Saturne la présence d' »un miroir au fond duquel chacun peut [se] voir« 5 . Ce faisant, il prenait à la lettre l'image immémoriale d'Euripide (»Le moment venu, le temps dévoile les vices des hommes, en leur tendant un miroir comme à une jeune fille« 6 ), mais se distinguait par ailleurs des artistes de son temps, qui, dans leur écrasante majorité, se contentaient de suivre le canon défini par Cesare Ripa et ses émules : la Vérité doit être »peinte nue, pour montrer que sa naïveté lui est naturelle, et qu'elle n'a pas besoin d'explication pour se faire entendre« 7 . Q u ' o n revienne cependant au frontispice du Télémaque de 1717 composé par l'artiste graveur Claude Duflos. Ici, au premier plan, sous le voile levé par Saturne, à la place traditionnellement allouée à la Vérité, nulle femme nue, certes, porteuse ou non d'un soleil dans sa main droite et d'un livre ouvert dans sa main gauche, et, naturellement, gravure oblige, pas davantage de dispositif spéculaire: mais en fait de miroir (du prince, bien sûr), au centre de l'image, un grand portrait de Fénelon d'après Bailleul, tenu à bout de bras et couronné de lauriers par des allégories des Lettres et des Arts assises sur des marches. 4 Les Veillées du Château , ou Cours de Morale par l'auteur d'Adèle et Théodore , tome I I I (Lausanne [J. P. Heubach & Comp.] 1784), 274. 5
Jean-Louis Jacquet, Christine de Suède (Perrin 1971), 285.
6
Hippolyte , v. 430.
7
Iconologie où les Principales Choses qui peuvent tomber dans la pensée touchant les Vices et les Vertus sont représentées sous diverses figures gravées en cuivre par Jacques de Bie et moralement expliquées par J. Baudouin (Paris 1643), 195.
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Frontispice (Aventures de Télémaque, fils d'Ulysse, Paris 1717)
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Étudiant les frontispices des éditions de texte théâtral en France, aux PaysBas et dans les Provinces-Unies de 1660 à 1715, Mariette Naud a mis en évidence l'évolution, au fil de la période, vers un usage essentiellement narratif des frontispices: les portraits d'auteurs, médaillons ornementaux et allégories ne représentant à eux trois que moins de 10% des cas étudiés, ils constituent de facto une exception remarquable 8 . Ce caractère exceptionnel engage à prendre d'autant plus au sérieux le frontispice du Télémaque, et à interroger avec d'autant plus d'attention le choix d'une mise en scène si puissamment dramatique de la gloire de son auteur. Le dispositif iconographique choisi par le graveur autorise en effet deux lectures possibles de l'image, suivant qu'on décide de prendre à la lettre ou non la substitution du visage de Fénelon au visage du Vrai. Prise à la lettre, cette substitution appelle une interprétation nettement polémique du frontispice: quel qu'ait pu être le parfum de scandale suscité par les premières éditions du Télémaque, et quelque désaveu qu'ait par ailleurs subi de son vivant Fénelon, héraut du quiétisme et théoricien du pur amour, le Temps finira par rendre justice à la voix de la vérité et par consacrer son triomphe sur celles de l'erreur - étant naturellement entendu, au vu de l'agencement des différents éléments de l'image, que Fénelon est le Vrai, et n'a cessé de dire le Vrai. Ainsi, la mise en scène du frontispice nous renverrait à cette posture d'Homme-Vérité qu'entretenaient à des fins apologétiques les amis de Fénelon, et dont, selon le témoignage de Ledieu, s'agaçait tant Bossuet à la lecture du Télémaque : M . de Meaux trouva [ . . . ] que les derniers livres de ce roman étaient une censure couverte du gouvernement présent, du roi même et des ministres. C'est ce que tout le monde y a vu, et le roi comme les autres. Pourquoi donc publier un écrit de cette nature, et à quoi bon pour M . de Cambrai? »C'est encore apparemment, disait M . de Meaux, un dessein de ses amis pour lui mériter dans le public, avec la réputation du meilleur écrivain, l'honneur d'avoir seul le courage de dire la vérité«?
Pour séduisante qu'elle soit, une telle lecture du frontispice souffre pourtant de quelques difficultés: était-il à ce point important de faire valoir en 1717 que Fénelon avait eu raison de dire, sous couvert de fiction, la vérité sur le gouvernement royal des années 1690? Cela ne revenait-il pas, d'ailleurs, à perpétuer le contresens de ces lectures à clé du Télémaque dont Fénelon avait eu tant à se plaindre 1 0 ? Enfin, à supposer que le frontispice ait moins visé l'audacieux com8 Mariette Naud, Imprimer et illustrer le théâtre sous Louis XIV. Étude sur les frontispices des Éditions de France, des Pays-Bas et des Provinces-Unies (Paris 2008). Thèse soutenue en 2008. 9
François Ledieu, Les dernières années de Bossuet, éd. Charles Urbain et Eugène Levesque (Paris [Desclée de Brouwer] 1928), vol. 2 , 1 4 - 1 5 (nous soulignons).
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mentateur politique du Télémaque que l'homme Fénelon lui-même, martyre de la Vérité promis à une glorieuse réhabilitation dans des temps futurs, une telle interprétation apologétique et militante de la gravure rendrait alors assez difficile d'expliquer la fonction précise occupée par divers autres de ses éléments tels ce livre, par exemple, ou cette boule et ce triangle représentés sous le portrait de Fénelon, et faisant clairement écho tous les trois, en tant que symboles transparents de la Science et de la Connaissance, non pas à la gloire ou à l'héroïsme de l'auteur-ayant-dit-le-vrai, mais beaucoup plus modestement, à la vocation pédagogique de son ouvrage, soucieux de délivrer des connaissances solides à son lecteur et les divers moyens d'atteindre au vrai: car, en bonne iconographie, la Boule démontre, que la science ne souffre point de contrariété d'opinions, comme le Globe n'en reçoit aucune de mouvement; et le Triangle, qu'en toute proposition i l y a trois termes qui produisent les démonstrations et la science des choses, de même que les trois angles sont une seule figure. 1 1
Aussi le frontispice dans son ensemble prend-il un sens bien plus satisfaisant si on accepte d'y reconnaître une intention non plus polémique, mais programmatique, définissant - et célébrant dans le même temps - l'horizon pédagogique de l'ouvrage auquel il sert de seuil. Mais dans cette hypothèse, bien sûr, il devient alors impossible de prendre plus longtemps à la lettre la substitution du portrait de Fénelon à celui de la Vérité toute nue: car, contre toute apparence, ce que révélerait ici Saturne, ce ne serait plus tant l'auteur du Télémaque y que le Télémaque lui-même et la vérité de ses enseignements. O r à supposer que le portrait de Fénelon joue dans ce frontispice une fonction essentiellement métonymique (la cause pour l'effet), et qu'il faille donc comprendre que la Vérité découverte par le Temps a ici moins le visage de Fénelon que celui de son livre, un tel glissement dans la façon de lire le portrait central implique par là même de revoir de fond en comble l'interprétation du motif de Saturne levant le voile: car il ne s'agit alors plus de comprendre que le passage du Temps finit toujours par découvrir le Vrai et par as10
Voir par exemple sa Lettre au P. Le Tellier de 1710, dans Œuvres Complètes de Fénelon, archevêque de Cambrai (Paris [Leroux et Jouby - Gaume Frères] 1850), tome 7, 665: »Je l'ai fait [le Télémaque] dans un temps où j'étais charmé des marques de bonté et de confiance dont le Roi me comblait. I l aurait fallu que j'eusse été non seulement l'homme le plus ingrat, mais encore le plus insensé pour y vouloir faire des portraits satiriques et insolents. J'ai horreur de la seule pensée d'un tel dessein. I l est vrai que j'ai mis dans ces aventures toutes les vérités nécessaires pour le gouvernement, et tous les défauts qu'on peut avoir dans la puissance souveraine: mais je n'en ai marqué aucun avec une affectation qui tende à aucun portrait ni caractère. Plus on lira cet ouvrage, plus on verra que j'ai voulu dire tout, sans peindre personne de suite.« 11
Iconologie , 179.
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seoir son triomphe sur l'Erreur, mais bel et bien que la considération du Temps passé, réel ou mythique, peut s'affirmer hautement ferment de vérité - et de celle-là même dont prétend justement instruire le Télémaque, en conviant à l'étude d'exempla antiques. O n sait que Fénelon avait fait de l'Histoire une des pierres d'angle de sa prédication, en infusant sa voix d'historien dans sa voix du prêtre 1 2 et en pensant par ailleurs l'existence d'une analogie remarquable entre les deux types de discours 13 . Dans le Télémaque, la même logique se montre à l'œuvre: les exemples du passé y valent enseignement pour le temps présent, et la lumière jaillie de l'Histoire y prétend éclairer la véritable route à suivre. D u reste, le détour par l'Antiquité - fût-elle de pure convention - présentait encore deux avantages : d'une part, il autorisait le Télémaque à »jouer sur la dialectique de l'altérité et de l'identité de façon à exalter la grandeur des rois tout en autorisant l'évocation des défauts du prince« 1 4 ; d'autre part, il lui permettait de prêter un caractère historique à sa fiction, et de présenter ainsi ses utopies politiques et sociales comme effectivement actualisées dans le passé, c'est-à-dire, comme effectivement réactualisables dans l'avenir 1 5 . Ce qu'illustrerait le frontispice, en définitive, ce serait ainsi moins la gloire de Fénelon, sans doute, que les grands fondements de son programme éducatif (visant à la transmission d'une vérité inaltérable) et tout particulièrement, la pertinence du dispositif de ces miroirs du prince dans la continuité desquels s'inscrit son ouvrage 16 : pour un temps présent toujours recommencé, la vérité est à rechercher dans le Temps, dans l'examen des modèles et des contre-modèles qu'il propose. C'est dire qu'au centre de la gravure, le lecteur de l'image est certes bien obligé de reconnaître un portrait de Fénelon, mais que pour donner un sens pleinement satisfaisant aux différents éléments iconographiques entourant ce portrait, il est également contraint dans le même temps de ne pas lire ce portrait en tant que tel, comme portrait de Fénelon en gloire, mais bel et bien comme figure de l'ouvrage dont Fénelon est l'auteur. A u centre du frontispice, comme au 12
Voir Marguerite Haillant, Fénelon et la prédication (Paris 1969), 7 6 - 8 0 .
13
Voir Jean-Philippe Grosperrin, Le Glaive et le voile. Economie de l'éloquence dans Vœuvre de Fénelon , thèse de doctorat dactylographiée (Université Paris-IV 1998), tome I, 214. 14 Fabrice Preyat, Le Petit Concile de Bossuet et la christianisation pratiques littéraires sous Louis XIV (Münster 2007), 459.
des mœurs et des
15 Voir Volker Kapp, »Éloge et instruction dans le Télémaque «, Littératures Classiques 23 (1995), 8 6 - 8 7 . 16 Voir Volker Kapp, Télémaque de Fénelon. La Signification d'une œuvre littéraire fin du siècle classique (Paris / Tübingen 1982), 35 et 55 et suivantes.
a la
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centre de l'interprétation qu'il actualise, repose donc un trope iconographique caractérisé, un dispositif métonymique associant Fénelon au Télémaque, et engageant certes à comprendre: »le Télémaque« (sens dérivé recevant »le statut de contenu de dénotation«), mais donnant néanmoins à voir: »Fénelon« (»sens littéral dégradé en contenu de connotation« 1 7 ). A u vu de sa place dans le frontispice et des enjeux interprétatifs qu'il engage, un tel dispositif ne saurait naturellement être tenu pour indifférent. O n posera l'hypothèse qu'il revêt à lui seul une dimension programmatique, en donnant à voir »en image le dispositif producteur du récit« 1 8 . De fait, comment ne pas reconnaître dans cette métonymie centrale superposant l'œuvre et l'auteur, la simple traduction iconographique de l'impression de lecture la plus communément ressentie, à chaque page du Télémaque ? Impression que, sur la toile ondoyante de la fiction antique, dont Fénelon prétend s'être effacé, ne cessent pourtant de se sur-imprimer les traits de son visage; impression que tout chapitre, tout paragraphe, toute ligne du Télémaque ne cessent de trahir la présence discursive de leur auteur, alors même que ce dernier n'y apparaît jamais instancié, dans la trame énonciative d'un récit à la troisième personne. Impression constante d'une présence-absence, en un mot, ou d'une (trop) visible invisibilité. Comme l'a écrit Jacques Le Brun, »[l]a tentative fénelonienne d'élaborer un art qui se laisse oublier et laisse oublier l'auteur, qui réalise dans le champ esthétique une désappropriation semblable à celle que la spiritualité du pur amour tentait de promouvoir, était peut-être une illusion, illusion d'anéantir le moi au moment même où il s'exprime dans l'oeuvre, illusion de le perdre dans les tableaux qui lui sont tendus« 19 . Mais ce que semble encore faire valoir le frontispice de l'édition de 1717, c'est que cette illusion réside au coeur de l'oeuvre elle-même, et qu'elle en informe en effet la dynamique et la structure énonciatives, en leur caractère éminemment paradoxal. Dans ce glissement métonymique de Fénelon au Télémaque y ou, ce qui revient au même, dans l'incapacité de cette oeuvre à renvoyer à elle-même sans donner à voir son auteur, se dit ainsi, pour reprendre les termes de Louis Marin commentant le frontispice des Histoires ou Contes du temps passé de Perrault, »la mise en représentation de la narration de ces histoires, celle de leur énonciation.« 20 Et refuserait-on d'ailleurs de voir en ce frontispice autre chose qu'une simple allégorie du Temps dévoilant Fénelon 17
Catherine Kerbrat-Orecchioni, »Argumentation et mauvaise foi«, dans VArgumentation (Lyon 1981), 60. 18
Louis Marin, Lectures traversières
19
Jacques Le Brun, »Préface« aux Aventures de Télémaque , éd. J. Le Brun (Paris 1995),
24. 20
Marin, Lectures traversières
y
19.
(Paris 1992), 19.
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à l'immortalité glorieuse, la difficulté resterait entière: car il faudrait alors toujours rendre compte du paradoxe insistant constitué par la présence de ce portrait de Fénelon au seuil d'un livre dont il avait toutes les raisons d'être absent. Revenant en 1710 sur l'épisode Télémaque, Fénelon définissait son ouvrage comme »une narration fabuleuse en forme de poème héroïque comme ceux d'Homère et de Virgile« 2 1 . C'était assez dénoncer, d'une part, la tension mimétique de son œuvre et, d'autre part, son corollaire nécessaire, la volonté d'effacement de son auteur. De fait, la mention des deux modèles invoqués par Fénelon parlait d'elle-même: à la manière d'Homère et de Virgile, il n'importait ainsi, pour l'auteur du Télémaque, que de songer à »peindre fidèlement la nature« 2 2 , »vivement ses personnages«, et de veiller, pour ce faire, »à ne pas se montrer« 2 3 . O n se rappelle en effet le passage, si souvent commenté, des Dialogues sur l'éloquence concernant le désespoir de D i d o n : N'est-il pas vrai que, quand [Virgile] ramasse toutes les circonstances de ce désespoir, qu'il vous montre D i d o n furieuse, avec un visage où la mort est déjà peinte, qu'il la fait parler à la vue de ce portrait et de cette épée, votre imagination vous transporte à Carthage: vous croyez voir la flotte des troyens qui fuit le rivage, et la reine que rien n'est capable de consoler: vous entrez dans tous les sentiments qu'eurent alors les véritables spectateurs. Ce n'est plus Virgile que vous écoutez; vous êtes trop attentif aux dernières paroles de la malheureuse D i d o n pour penser à lui. Le poète disparaît; on n'entend plus que ce qu'il fait voir.; on n'entend plus que ceux qu'il fait parler. Voilà la force de l'imitation et de la peinture. De là vient qu'un peintre et un poète ont tant de rapport; l'un peint pour les yeux, l'autre pour les oreilles; l'un et l'autre doivent porter les objets dans l'imagination des hommes. 2 4
De ce fameux éloge de Virgile, que déduire a priori concernant le Télémaque? Essentiellement ceci: à supposer que Fénelon se soit effectivement appliqué à imiter Y Enéide, et non seulement Y Enéide mais encore ce qu'il en dit dans ses Dialogues sur l'éloquence, alors son Télémaque devrait logiquement s'inscrire lui aussi, non pas dans le régime communicationnel et nécessairement transitif 21
Fénelon, Lettre au P Tellier, jésuite, dans Œuvres Complètes [ . . . ] , tome 7, 665.
22
Fénelon, Dialogues sur l'éloquence en général et sur celle de la chaire en particulier; dans Œuvres, éd. J. Le Brun (Paris 1983), vol. 1, 19. 23 Charles Dédéyan, Télémaque ou la liberté de l'esprit (Paris 1991), 51. Voir, sur le même point, Albert Chérel, »L'idée du naturel et le sentiment de la nature chez Fénelon«, dans Alain Lanavère (éd.), Je ne sais quoi de pur et de sublime ... Télémaque (Orléans 1994), 7 8 - 8 0 : »on n'atteindra au »naturel« que si l'on est désintéressé. [ . . . ] les vrais modèles sont Démosthène, l'orateur qui »s'oublie«, chez qui »rien ne brille«, et non pas Cicéron, dont l'art infini et »la magnifique éloquence« laissent remarquer quelque coquetterie; enfin, Virgile et Homère, qui nous font aimer leur héros, en s'oubliant pour eux. Tout devient touchant dans leurs vers, parce que jamais la vanité littéraire ne vient les distraire de l'étude de la nature.« 24
Fénelon, Dialogues sur l'éloquence, dans Œuvres, vol. 1, 35
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du symbole écrit ou vocalisé, mais dans le régime représentationnel, et d'une certaine manière intransitif, de l'icône peinte se suffisant à elle-même, et d'autant mieux peinte et d'autant plus auto-suffisante que jamais la main du peintre ne s'y trahit. Ainsi, a priori encore, l'imitation de Virgile devait logiquement conduire le Télémaque à défendre et à illustrer, à la suite de Y Enéide telle que la lit Fénelon, une conception tout aristotélicienne de la littérature, engageant l'aptitude de l'auteur à créer un monde imitant le monde réel et se proposant à l'hallucination du lecteur 2 5 . Et conséquence ultime, l'appropriation par Fénelon d'une telle définition de la littérature, devait dès lors appeler le Télémaque à produire un plaisir désintéressé, ce même type de plaisir qui porte, comme le rappelle Gérard Genette à la suite de Kant, »la marque du jugement esthétique« 26 . O r qu'en est-il dans les faits? Certes, l'auteur du Télémaque ne dit jamais: »je« dans son poème épique, jamais il n'y prend la parole en son nom propre en instaurant un rapport de communication ouverte avec son narrataire, et certes, il paraît ainsi respecter l'injonction aristotélienne: »Le poète doit [ . . . ] parler le moins possible en son nom personnel, puisque, lorsqu'il le fait, il n'imite pas« 27 . Certes, pour finir, on a encore pu repérer dans le Télémaque la mise en œuvre d'une poétique du cliché 2 8 , visant à étouffer d'autant plus les aspirations d'un éventuel narrateur extradiégétique à faire entendre une voix personnelle. Mais le moins que l'on puisse dire est que Fénelon ne s'y tient pas pour autant à un régime fictionnel de pure représentation. À l'évidence, la visée communicationnelle de l'auteur ne cesse de déborder, par tous les moyens, du cadre énonciatif de la fiction narrative à la troisième personne réglant mimétiquement le cours du Télémaque. Longues analepses en
25
Voir Gérard Genette, Fiction et Diction précédé de Introduction à Varchitexte [1979 et 1991] (Paris 2004), 97: »Le poète, dit [Aristote], doit plutôt être artisan d'histoires que de vers, puisque c'est par la fiction qu'il est poète, et que ce qu'il feint, ce sont des actions [Poétique y 1451 b]. Autrement dit: ce qui fait le poète, ce n'est pas la diction, c'est la fiction«. 26
Ibid., 99.
27
Aristote, Poétique, éd. et trad. Michel Magnien (Paris 1990), 1460a, 125. Voir, sur ce point, le commentaire de Kàte Hamburger, Logique des genres littéraires [1957] (Paris 1986), 32. 28 Voir, sur ce point, la caractérisation sottement meurtrière du style du Télemaque par Antoine Albalat dans son Travail du style enseigné par les corrections manuscrites des grands écrivains (Paris 1927), 118-120: »Style correct et inexpressif, incarnant les qualités artificielles de l'art d'écrire; élégance sans éclat, nettement sans relief, style irréprochable et sans vie, phrases clichées, expressions toutes faites, épithètes prévues et banales, sans pittoresque et sans surprises, triomphe de la périphrase poétique, rhétorique glaciale, froideur descriptive et phraséologie légendaire.« Cité dans Anne-Marie Perrin-Naffakh, Le Cliché de style dans le français moderne. Nature linguistique et rhétorique, fonction littéraire (Bordeaux 1985), 347.
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forme de narrations homodiégétiques enchâssées et présentées sous forme de dialogues, invasion et hégémonie du discours direct 2 9 , haute fréquence de tirades sentencieuses hérissées d'impératifs comminatoires, tout dans le »poème héroïque« trahit paradoxalement la tension vers une parole adressée - et, comme l'écrit du reste Alain Viala, il apparaît même très clairement que »le destinataire, tel que la figure en est inscrite dans ce texte, détermine les figures de la fiction«: »la rhétorique du récepteur de Télémaque précède et oriente la rhétorique fictionnelle« 3 0 . Ainsi, premier paradoxe, la parfaite absence de toute voix narratoriale extradiégétique clairement incarnée et le réglage scrupuleusement mimétique du récit n'excluent pas, dans le Télémaque, l'instauration d'un régime de communication auteur-lecteur, médiatisé de manière transparente par les modalités de la communication entre les différents personnages du roman. Deuxième paradoxe : s'attendait-on à ce que l'admirateur et imitateur de Virgile et d'Homère, tous deux mimetès par excellence, se recommandât de la pensée d'Aristote en matière de fiction mimétique? Comme en témoignent les Dialogues sur l'éloquence, c'est, contre toute attente, de la figure platonicienne que Fénelon vient à se réclamer dès qu'il s'agit d'aborder cette question: N e trouvez-vous pas que Virgile et Homère sont des auteurs assez agréables? [ . . . ] . Vous n'y trouverez pas un seul mot qui paraisse mis pour faire honneur au bel esprit du poète. I l met toute sa gloire à ne point paraître, pour vous occuper des choses qu'il peint, comme un peintre songe à vous mettre devant les yeux les forêts, les montagnes, les rivières, les lointains, les bâtiments, les hommes, leurs aventures, leurs actions, leurs passions différentes, sans que vous puissiez remarquer les coups de pinceau; l'art est grossier et méprisable dès qu'il paraît. Platon, qui avait examiné tout cela beaucoup mieux que la plupart des orateurs, assure qu'en écrivant on doit toujours se cacher, se faire oublier, et ne produire que les choses et les personnes qu'on veut mettre devant les yeux du lecteur. Voyez combien ces anciens-là avaient des idées plus hautes et plus solides que nous. 3 1
De prime abord, sans doute, cette revendication de l'héritage platonicien, mise au service d'un éloge de la mimesis, ne laisse pas de surprendre. De Platon, en effet, notre modernité n'a guère retenu, en fait de mimesis, que la virulence d'une critique donnant l'imitation comme illusion et comme ferment de perversion morale. C'est pourtant oublier que, subordonnée à une éthique, la mimésis se trouvait néanmoins valorisée par la République pour ses vertus pédagogiques: ce que l'imitation menaçait constamment de détruire (la vertu, la morale), elle pouvait aussi bien aider à le construire, en soutenant de la sorte »les intentions de l'État et de l'éducation« 3 2 . De l'aveu même de Socrate: 29
En volume, les discours directs occupent 69,3% du roman.
30
Alain Viala, »Introduction«, dans Lanavère (éd.),/e ne sais, 12.
31
Fénelon, Dialogues sur Véloquence
32
Gunter Gebauer et Christoph Wulf, Mimésis (Paris 2005), 65.
y
dans Œuvres, vol. 1, 37 (nous soulignons).
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si des exemples de fermeté à toute épreuve nous sont donnés, en paroles ou en actes, par des hommes illustres, nous devons les admirer et les écouter; tels ces vers: »Se frappant la poitrine, il gourmanda son cœur: Supporte, mon cœur! c'est chiennerie bien pire qu'un jour tu supportas.« 33
C'est que, »faculté de transformation« et d'émulation 3 4 , la mimésis selon Platon n'est pas que mensonge corrupteur: définie comme »imitation d'hommes exemplaires« 35 , elle peut jouer un rôle éducatif de premier plan, et justifier ainsi que le poète s'applique à »se conformer soi-même à un autre« et à »calque[r] autant que possible, sa façon de s'exprimer sur celle de chacun de ceux à qui [ . . . ] il va donner la parole« 3 6 . I l n'est naturellement pas indifférent que, confronté à la question de la mimesis, Fénelon se soit spontanément rallié à la doctrine platonicienne plutôt qu'aux écrits d'Aristote 3 7 : on y verra l'indice exemplaire que, dans sa conception du »récit épique«, l'auteur du Télémaque est loin de voir l'imitation comme une fin en soi. I l y aurait en effet quelque contresens à lire ses éloges de Virgile comme une simple exaltation des délices hallucinatoires du récit fictionnel. Pour le précepteur du dauphin, l'invitation à s'effacer de son récit pour assurer la perfection de la représentation ne vaut certes pas aspiration à produire une imitation intransitive du réel, c'est-à-dire, en dernier ressort, à susciter un plaisir désintéressé. Si Fénelon revendique l'héritage de La République concernant la mimesis, c'est bien au contraire parce que, pour lui comme pour Platon, l'imitation ne vaut qu'en tant que moyen, et qu'en tant qu'instrument pédagogique asservi à la poursuite d'une fin morale. Rien de moins désintéressé, donc, et rien de moins aristotélicien, que le plaisir, par ailleurs réel, visé par le mimetés fénelonien: entre les mains de l'éducateur, le »poème héroïque« se veut moins un appel au rêve qu'à l'imitation - et la poétique de Fénelon s'avère en cela parfaitement cohérente avec ses vues pédagogiques. Q u ' o n compare en effet tels passages du traité De l'éducation des filles: Nous avons remarqué que le cerveau des enfants est tout ensemble chaud et humide, ce qui leur cause un mouvement continuel. Cette mollesse de cerveau fait que toutes choses s'y impriment facilement [ . . . ] . Mais il faut bien choisir les images qu'on y doit graver. [ . . . ] Peignez au naturel les combats de Saiil et de David; montrez celui-ci dès sa jeunesse, sans armes et avec son habit de berger, vainqueur du fier géant Goliath. 33
Platon, La République , trad. et éd. par Georges Leroux (Paris 2004), 390d, 171.
34
Gebauer et Wulf, Mimésis , 64.
35
Ibid., 61.
36
Platon, La République , 393c, 175-176.
37 Voir Monika Simon, Fénelon platonicien? Etude historique , philosophique et littéraire (Münster 2005), 280.
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N'oubliez pas la gloire et la sagesse de Salomon; faites-le décider entre les deux femmes qui se disputent un enfant; mais montrez-le tombant du haut de cette sagesse, et se déshonorant par la mollesse, suite presque inévitable d'une trop grande prospérité. 38
à tel autre des Dialogues sur l'éloquence: l'éloquence consiste non seulement dans la preuve, mais encore dans l'art d'exciter les passions. Pour les exciter, il faut les peindre [ . . . ] Si on n'a ce génie de peindre, jamais on n'imprime les choses dans l'âme de l'auditeur. 3 9
Dans les deux cas, un même principe se fait jour: ce que l'auteur s'efforce de peindre, ce n'est que pour le proposer, à son tour, à l'imitation ou à l'édification du lecteur. La parfaite peinture selon Fénelon n'a pas vocation à libérer l'imaginaire, mais au sens strict, à Y impressionner. Aussi ne s'agit-il pas d'égarer son destinataire dans la contemplation d'une image, mais de le faire répondre à l'appel d'un reflet - la perfection de l'imitation sollicitée avouant ainsi son entière dépendance envers la perfection de l'activité mimétique accomplie par l'auteur: et de fait, l'œuvre ne peut jouer son rôle de miroir sensible et é-mouvoir efficacement son lecteur, qu'à partir du moment où rien ne vient altérer l'illusion mimétique qu'elle s'efforce d'entretenir. Comme l'écrit Fénelon, U n récit simple ne peut émouvoir: il faut non seulement instruire les auditeurs des faits, mais les leur rendre sensibles, et frapper leurs sens par une représentation parfaite de la manière touchante dont ils sont arrivés. 40
Ainsi, parce qu'il convient d'imiter parfaitement ce qu'on destine à l'imitation, mais qu'on ne peut imiter parfaitement sans s'effacer du cadre de la représentation, l'auteur fénelonien ne se veut mimetés transparent qu'afin de se donner toutes les chances de lancer son lecteur sur les voies qu'il lui assigne. Sa disparition apparente d'un récit feignant de se raconter de lui-même et privilégiant constamment une esthétique du tableau parfait, c'est-à-dire, parfaitement persuasif, n'est jamais tendue que vers la réussite de ses plans, le triomphe de ses vues, et l'instauration d'une forme de communication tout inégalitaire avec son lecteur, se réglant sur le rapport enseignant-enseigné. D ' o ù le paradoxe énonciatif structurant tout le Télémaque: si son auteur y apparaît si présent alors même qu'il n'a de cesse d'éviter d'y paraître, c'est avant tout parce qu'il n'évite d'y paraître que pour imprimer plus fortement son dessein dans l'esprit du lecteur 4 1 . 38 39
Fénelon, De Véducation des filles, dans Œuvres, vol. 1, 103 et 121 - 1 2 3 . Fénelon, Dialogues sur l'éloquence, dans Œuvres, vol. 1, 34 et 36. Ibid.,35
41
Cf. i b i d , 37: »B. Vous nous avez assez parlé de la peinture, dites-nous quelque chose des mouvements, à quoi servent-ils?/A. À en imprimer dans l'esprit de l'auditeur qui soient conformes au dessein de celui quiparle«\ et De l'éducation des filles, ibid., 102: »Cette
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Deux tensions énonciatives contraires s'affrontent dans le Télémaque : une tension communicationnelle, visant à l'instauration d'un rapport pédagogique entre l'auteur et le lecteur; une tension non-communicationnelle, impliquant au contraire la disparition de l'auteur au bénéfice de l'illusion mimétique requise par la fiction. Le pari du Télémaque , c'est de jouer la seconde pour la première, à la place et au bénéfice de la première, et de dissimuler son ambition discursive sous son ambition narrative en fondant la réussite de celle-là sur la réussite de celle-ci, ou, pour le dire autrement, en garantissant la prégnance de la voix de son auteur par la qualité de son effacement énonciatif et par la perfection mimétique d'un récit à la troisième personne, où »tout se passe comme s'il n'y avait personne derrière la narration, comme si l'on n'était plus dans un schéma communicationnel, comme si le récit se racontait lui-même sans qu'il y ait à concevoir une instance supérieure au texte et qui en garantirait le sens« 42 . De ce paradoxe énonciatif, Fénelon lui-même était naturellement tout à fait conscient - et sa façon de définir son ouvrage à la fois comme un »roman héroïque« et comme une »narration fabuleuse«, c'est-à-dire, a la fois comme une fiction mimétique et comme une instruction déguisée, en est l'indice exemplaire. Comme le rappelle Christine Noille-Clauzade: La narration fabuleuse est [ . . . ] le concept par lequel Macrobe [Commentaire du Songe de Scipion, livre I, ch. 8] dédouane un certain genre de poésie philosophique (ou un certain usage philosophique, allégorique, de la poésie) à la fois du soupçon de gratuité et du soupçon de fausseté. Or, dans le contexte réfutatoire de la Lettre au Père Le Tellier, Fénelon semble rester fidèle, non seulement à la lettre de l'expression, mais bien au sens qu'elle acquiert dans le contexte néo-platonicien 4 3 .
Entre la transitivité de la »narration fabuleuse«, impliquant une intention discursive, et l'intransitivité du »poème héroïque« à la manière d'Homère ou Virgile, avec tout ce que cela suppose de désengagement énonciatif de la part de l'auteur, tel était donc le Télémaque aux yeux de Fénelon lui-même, écartelé pente à imiter qui est dans les enfants, produit des maux infinis quand on les livre à des gens sans vertu qui ne se contraignent guère devant eux. Mais Dieu a mis par cette pente dans les enfants de quoi se plier facilement à tout ce qu'on leur montre pour le bien. Souvent, sans leur parler, on n'aurait qu'à leur faire voir en autrui ce qu'on voudrait qu'ils fassent« (nous soulignons). 42
Gilles Philippe, »Centre énonciatif et centre interprétatif: l'analyse linguistique et le texte romanesque«, dans Dialogue franco-ukrénien sur le roman, dir. Agnès Spiquel (Paris 2000), 38. 43 Christine Noille-Clauzade, »Les mythes platoniciens: un modèle pour le Télémaque«, dans François-Xavier Cuche et Jacques Le Brun (éds.), Fénelon. Mystique et poétique (î699-1999). Actes du colloque international de Strasbourg pour le troisième centenaire de la publication du Télémaque et de la condamnation des Maximes des Saints (Paris 2004), 381.
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entre deux directions contraires, en quête d ' u n équilibre impossible à trouver, et ainsi lancé dans une bataille perdue d'avance: parce que l'effacement énonciatif de toute instance narrative surplombante derrière une esthétique du tableau parfait ne tendait jamais qu'à assurer le caractère persuasif de ces tableaux et, en dernière instance, la perfection de la communication auteurlecteur, i l ne pouvait finalement rendre que d'autant plus visible la main et l'intention du peintre. C'est ainsi que »[t]axé de didactisme, Fénelon s'est souvent vu priver du titre de romancier« 4 4 . La réception du Télémaque, on le sait, n'a guère été tendre: la logique du sermon avait pris le pas sur celle du récit, la visée didactique était trop transparente, on voyait trop l'auteur qui avait prétendu disparaître. C o m me l'écrit sèchement Boileau: »Je souhaiterais que [ . . . ] la morale fût répandue dans son ouvrage [celui de Fénelon] un peu plus imperceptiblement et avec plus d'art. Homère est plus instructif que lui; mais ses instructions ne paraissent point préceptes et résultent de l'action du roman plutôt que des discours qu'on y étale. Ulysse par ce q u ' i l fait nous enseigne mieux ce q u ' i l faut faire que par tout ce que lui ni Minerve disent.« 4 5 Le jugement était sans appel. I l fut entériné par l'Histoire, et Fénelon lui-même finit sans doute par se convaincre de sa pertinence, au point q u ' i l est difficile d'interpréter les Propos d'un traité sur l'histoire contenus dans sa Lettre à l'Académie
de 1714 - »[l'historien] doit inspirer
par une pure narration la plus solide morale sans moraliser« et »faire raisonner [son lecteur] sans lui faire aucun raisonnement« 4 6 - autrement que comme l'expression diffuse d ' u n regret, l'aveu voilé et discrètement mélancolique d ' u n ratage, et de la distance séparant le Télémaque tel qu'il l'avait écrit du Télémaque tel q u ' i l aurait dû l'écrire. Cette distance, pour autant, en laquelle Fénelon et ses contemporains voyaient la marque d ' u n échec, ne fait-elle pas beaucoup pour la grandeur et l'éclat de l'ouvrage que nous lisons aujourd'hui? Si le Télémaque est d'une lecture aussi bouleversante, n'est-ce pas précisément en raison de cette communication transparente, toujours pudique mais toujours refoulée, cherchant à s'établir à tout instant entre son auteur et son jeune destinataire? Si le Télémaque est u n ouvrage si profond, surtout, n'est-ce pas du fait des résonances théologiques du paradoxe énonciatif qui le fonde - paradoxe figuré par le dispositif métonymique placé au centre de son frontispice, et figurant lui-même le »paradoxe du médiateur humain«, dont, comme l'a bien vu Jean-Philippe Grosperrin, 1' »as44
Suzanne Guellouz, »Les Phéniciens dans le Télémaquedans
ibid., 342.
45
Boileau, Lettre du 10 novembre 1699 à Brossette, dans Œuvres complètes (Paris 1966), 638-639. 46
1180.
Lettre à VAcadémie, dans Œuvres , éd. Jacques Le Brun (Paris 1997), vol. 2, 1179-
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sujettissement à Dieu« et la »transparence à la Parole sacrée exaltent« en définitive »la nécessaire présence [du] discours et de [la] voix« 4 7 ? Le trait est constant chez Fénelon, et trouve dans le Télémaque sa plus intense traduction narratologique: »au moment même où le rien de la créature est proclamé«, s'affirme »la nécessité« d'une »voix humaine [ . . . ] incarnfant] l'oxymore d'une médiation transparente« 48 . Et telle est, d'ailleurs, peut-être, l'ultime leçon du frontispice: pour le chrétien adorateur d'un Dieu caché, le visage de la Vérité ne saurait se distinguer de celui de son médiateur.
47
Jean-Philippe Grosperrin, Le Glaive et le voile , 133.
48
Ibid., 197.
Die französischen Aufklärer und Brasilien Von Franz Obermeier
Brasilien in Raynals Histoire philosophique des deux Indes I n der Zeit der Aufklärung hat Brasilien in der europäischen Öffentlichkeit sicher nicht die Rolle gespielt, die ihm etwa i m 16. Jahrhundert durch die Brasilienreiseberichte von André Thevet, Les singularités de la France antarctique (Paris 1557/58) und Jean de Léry, Histoire d'un voyage ([Genf] 1578) oder i m folgenden Jahrhundert durch Claude d'Abbevilles Histoire de la mission [... ] en Visle de Maragnan (Paris 1614) oder die Werke der Holländer über N o r d brasilien (etwa Johannes de Laets Naturgeschichte) zukam. Andere, i m 18. Jahrhundert neu entdeckte Gegenden wie die Südsee rückten durch Cooks Reisen ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Freizügigkeit der Südseeindianer wurde literarisch gestaltet in Diderots berühmten Supplément au voyage de Bougainville (erschienen erstmals in der Correspondance littéraire 1773 / 74) als Beleg für die Relativität der Moralvorstellungen. Es erschienen mit Ausnahme von La Condamines Amazonasbericht auch keine französischen Reiseberichte oder sonstige Bücher über Brasilien, die große Aufmerksamkeit erregten. Dennoch hat das Thema Brasilien in Gesamtdarstellungen über Südamerika eine gewisse Rolle spielt. Als Untersuchungsbasis sei hier ein zentraler Text der Zeit gewählt, dessen Bedeutung immer noch unterschätzt wird, Raynals Histoire philosophique des deux Indes (erstmals 1770).
Raynals Histoire philosophique Guillaume Thomas Raynal (1711-1796) war nach einer Erziehung bei den Jesuiten selbst für kurze Zeit Jesuit, dann Weltgeistlicher, bis er schließlich mit 35 Jahren aus dem geistlichen Stand ausschied, den Titel Abbé behielt er bei. Seine Histoire du Stadhouderat depuis son origine jusqu'à présent (La Haye, Den Haag 1747), und die Histoire du Parlement d'Angleterre (London 1748) führten ihn in die Kreise der Aufklärer ein, damals tout court die »philosophes« genannt. Nach einigen Gelegenheitsarbeiten wie den Anecdotes historiques , militaires et politiques de l'Europe (Amsterdam 1753-56) und L'école militaire (Paris 1762) und Herausgebertätigkeit für den Mercure de France veröffentlichte
Franz Obermeier
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er i m Jahr 1770 in Genf zuerst anonym sein Hauptwerk, die Histoire philosophique et politique, des établissements et du commerce des Européens dans les deux Indes. Das Buch wurde mit zahlreichen Neuauflagen eines der wichtigsten Werke der Aufklärung, auch wenn es durch Raynals spätere kritische Sicht auf die französische Revolution heute etwas aus dem Bewusstsein verschwunden ist. Der äußere Anlass des Buchs war eigentlich eine Anregung des Bureau de Commerce am H o f in Versailles, der Argumente brauchte für seine geplante Übernahme der Compagnie des Indes in staatliche Obhut. 1 Man erbat von Raynal eine Darstellung des Handels in den Kolonien. Raynal erkannte die Möglichkeit, die dieser Stoff bot, die aufklärerische K r i t i k hier in scheinbar harmloser Verkleidung anzubringen. Der Titel zeigt schon auf, dass er vor allem die Geschichte der Besiedlung und des Handels mit den Kolonien darstellen wollte. Durch zahlreiche Exkurse geriet das Werk aber zu einer kritischen Gesamtdarstellung des europäischen Kolonialismus in Amerika und Indien. Raynals Werk ist auch als ein gewichtiger Beitrag zur Sozialanthropologie anzusehen, auch wenn dieser Gesichtspunkt bislang nicht genügend gewürdigt worden ist. 2 Das Buch w i r d bereits 1773 verboten, eine neue, 1774 erschienene Auflage auf den Index gesetzt. Die dritte erweiterte Auflage von 1780 wurde schließlich auf Beschluss des Parlement de Paris verboten und öffentlich verbrannt. Raynal flüchtete aus Frankreich und lebte bis 1784 i m Ausland. Nach seiner Rückkehr lebte er in Toulon und Marseille, da ihm der Aufenthalt in Paris verboten war. Während der Revolution begab er sich mit einem Protestbrief vom 31. 05.1791 an die Assemblée nationale gegen die Auswüchse der Revolution und für eine starke Monarchie, verfasst mit Raynals Zustimmung von Malouet und Clermont-Tonnerre, in Gefahr, musste untertauchen und starb kurz nach dem Ende der Phase der Gewaltherrschaft, der »terreur« 1796. Raynals Histoire ist sicher das ideengeschichtlich wichtigste Buch der Aufklärung über die europäischen Kolonien. 3 Es war wie die Encyclopédie auch in großen Teilen ein kollektives Werk, sein wichtigster Beiträger und Helfer war Denis Diderot, dessen Mitarbeit vor allem für die erste Auflage, nicht für die späteren anfangs umstritten war. Goggi (1991) hat aber aufgezeigt, dass Diderot schon seit der ersten Auflage tätig mithalf und einige Bewertungen der Quellen oder der aus anderen Büchern kompilierten Teile suggerierte. 4 Exemplarisch 1
Duchet 1978,170-172.
2
Lemay 2000,223-234.
3 Zur Bibliographie der Ausgaben von Raynal und der Sekundärliteratur siehe Courtney und Fortuny 2003. 4 Diderot wurde für seine Mitarbeit von Raynal auch bezahlt (Feugère 1922, 188). Die von i h m stammenden Textteile wurden veröffentlicht in: Denis Diderot, Pensées déta-
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soll zum Verständnis von Raynals Arbeitsweise, wie aus Mosaiken anderer Textbausteine und Bewertungen ein eigenes Werk mit einer durchaus kohärenten Gesamtaussage entsteht, hier der Teil über Brasilien i m 9. Buch untersucht werden. 5 Raynals Arbeitsmethode Der i m Titel angesprochene philosophische Charakter von Raynals Werk äußert sich darin, dass nicht wie die zahlreichen damals verfügbaren geographischen Werke (die Cosmographien i m 16. Jahrhundert oder die Zusammenfassungen von Reisen in größeren Sammlungen wie die der Brys, von Zigler oder Ens 6 oder geographische Kompendien) der Hauptaugenmerk auf eine Darstellung der bekannten Fakten zu den außereuropäischen Kulturen unter dem Schwerpunkt der Berücksichtigung des Handels gelegt wird, sondern die Bewertung dieser Fakten i m Zentrum stehen soll. I n vielen Fällen ist seine Analyse der Schwächen der Kolonien mit einer direkten Aufforderung zur Verbesserung der Lage anhand konkreter Vorschläge gekoppelt. Eine kulturhistorische Bewertung der zahlreichen über Amerika verfügbaren ethnohistorischen Fakten war nicht neu; ein ähnlicher Ansatz findet sich in Joseph François Lafitaus Histoire des découvertes et conquestes des Portugais dans le Nouveau Monde (Paris 1733), die nicht zu Unrecht durch ihre Kulturvergleiche als Beginn der ethnologischen Forschung gilt. Lafitau ging es allerdings eher darum, seine eigenen theologischen Ideen über ein Fortleben der antiken Bräuche bei den außereuropäischen Völkern an dem umfangreichen Quellenmaterial der Reisewerke und geographischen Quellen zu Amerika zu belegen und nicht u m eine neutrale Beschreibung einzelner Kulturen oder gar den Versuch, diese i m Gesamtzusammenhang ihrer Gebräuche und religiösen cheés: contributions a UHistoire des deux Indes, ed. a cura di Gianluigi Goggi, Studi sull'illuminismo, 2 Bde (Siena 1976, 1977). Z u Diderots Beurteilung des Kolonialismus siehe Benot 1970. 5
Der Brasilien betreffende Teil des 9. Buches liegt auch in einer portugiesischen Ubersetzung vor: Raynal, O estab ele cimento dos portugueses no Brasil (Rio de Janeiro Arquivo nacional Publicares históricas 1998). 6 Theodor de Bry [später Johann Theodor de Bry und Matthäus Merian], America, deutsche Version 14 Bde (Frankfurt 1590-1630), lateinische Version 14 Bde (Frankfurt 1590-1634). America: das ist, Erfindung und Offenbahrung der Newen Welt, in 30 vornemste Schifffahrten kürztlich und ordentlich zusammen gefasset, [ . . . ] durch Philippum Ziglerum. [ . . . ] in Truck gegeben von Iohan-Theodoro de Bry (Franckfurt am M a y n 1617); Caspar Ens, West- vnnd Ost Indischer Lustgart: das ist Eygentliche Erzehlung, Wann vnd von wem die Newe Welt erfunden, besägelt vnd eingenommen worden, vnd was sich Denkwürdiges darbey zugetragen (Collen 1618); Johann L u d w i g Gottfried, Newe Welt und Americanische Historien, gezieret und verlegt durch Mattheum Merian (Franckfurt am M e y n 1631, 2. Aufl. 1655).
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Überzeugungen als historisch einmalige Systeme in einem sozialhistorischen Kontext zu begreifen. Raynal hat das ihm zur Verfügung stehende Material zu den Kolonien natürlich genutzt, war aber nie ein gedankenloser Kompilator älterer Informationen, wie so viele geographische Werke der Zeit. Seine kritische Auswahl, die sprachliche Aufbereitung und seine nebenbei einfließenden Bewertungen bringen i m Zusammenhang mit direkten Texteingriffen seiner Mitarbeiter, vor allem Diderot, die aufklärerische Sicht auf die Kolonialgesellschaft zur Geltung. Leitgedanke Raynals ist es, seine Quellen über das Wirken der Spanier und Portugiesen in den Kolonien unter dem Gesichtspunkt der ökonomischen Nützlichkeit der geschilderten Maßnahmen für die Entwicklung und Freiheit der jeweils behandelten Völker zu beurteilen. Dieser zentrale Gedanke hängt ideengeschichtlich sicher mit dem Aufstieg der physiokratischen Schule in Frankreich, der ersten umfassenden Theoretisierung wirtschaftlicher Zusammenhänge in der Zeit, zusammen. Die politische Brisanz dieser Ideen w i r d gleichsam im Subtext als dadurch bedingte heftige K r i t i k kolonialen Wirtschaftens der Mutterländer mitgegeben. Die Forschung hat die Abhängigkeiten von Raynals Werk von seinen Quellen im Einzelnen aufgezeigt, auch eine kritische Ausgabe ist schon seit längerem vom Centre international d'étude des X V I I I e siècle geplant (hrsg. von A n thony Strugnell / Cecil Courtney, noch nicht erschienen). Raynals Brasilienbuch ist in den Teilen über die brasilianische Gesellschaft in großen Teilen eine fast wörtliche Übernahme der entsprechenden Passagen von Prévosts Histoire générale des voyages , Bd. 14 (Paris 1757), einer weiteren wichtigen Reisesammlung der Epoche, w o fast alles in Europa verfügbare ältere Material kompiliert vorlag. Prévosts Werk war in seinen Amerikateilen damals nicht unumstritten. Seine positive Sicht etwa der Jesuitenreduktionen in Paraguay führte beispielsweise zu einer kleinen Polemik mit einem Abbé André, Bibliothekar des Kanzlers d'Aguesseau 7 , der eine Lettre a l'Abbé Prévôt , auteur de l'Histoire des Voyages pour servir d'additions aux Relations & autres Pièces concernant les Missions du Paraguay [à Paris ce premier octobre 1758], veröffentlichte, w o er dieses in seinen Augen zu positive Urteil kritisierte. Der Brasilienteil bei Prévost war wiederum eine Kompilation von Léry, Histoire d'un voyage en la terre du Brésil (erstmals [Genf] 1578), Johannes de Laets Naturkunde Amerikas in der französischen Übersetzung Histoire du Nouveau Monde ou Description des Indes Occidentales (Leiden 1640) und François Coréals' Voyages aux Indes occidentales (nouvelle édition, Paris 1722), letzteres 7 Henri François d'Aguesseau (1668-1751) war Kanzler von Frankreich mit kurzen Unterbrechungen von 1717 bis 1750 und hat ein umfangreiches juristisches Werk hinterlassen.
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ein apokryphes, weitestgehend kompiliertes Reisewerk, das seinerseits stark von älteren Autoren wie Léry abhängt. Raynal kopiert diese Teile aber nicht nur, er fügt neuere Informationen hinzu 8 , z. B. aus La Condamines damals aktueller Relation abrégée d'un voyage fait dans L'intérieur de L'Amérique méridionale (Paris 1745) über dessen Amazonasfahrt. Die Bemerkungen über die Faulheit der Wilden scheinen von De rebus Emmanuelis von Jerónimo Osorio da Fonseca (Lissabon 1571), w o h l über die französische Ausgabe Histoire de Portugal (Genf 1581) zu stammen, sind aber auch ein Topos der Epoche. Osorios' Bemerkung, dass die Lieder der Indios ihren Krieg behandeln würden, hat Raynal durch Montaignes Bemerkung aus dem berühmten Essai »Des cannibales« aus den Essais von 1580 ergänzt, dass die brasilianischen Indianer auch Lieder über die Liebe singen würden. Die Abwesenheit von Streit bei den Indianern w i r d nach einem Text von John Barrow, Abrégé chronologique ou histoire des découvertes faites parles Européens dans les différentes parties du monde, 12 Bde (Paris 1766), seinerseits eine Ubersetzung der englischen Originalausgabe, A chronological abridgment orHistory of the discoveries made by Europeans in the différent parts of the world, 9 behandelt, aber weniger differenziert auf alle Brasilianer bezogen. Die Digression über die fehlende Liebe zum Vaterland ist eine Hinzufügung Raynals nach einem der ihn stark interessierenden Themen, da er des Öfteren in seinem Werk an der Vaterlandsliebe auch den Unterschied zwischen Natur- und Kulturzustand festmacht. Manche Passagen, wie die über die in Reiseberichten tradierte Gastfreundschaft der brasilianischen Indianer werden als Zeichen eines Kulturzustands in der Mitte zwischen den »progrés de la police & des institutions sociales« (1991,44) aufgefasst, wobei Goggi hier zu Recht eine Parallele zu Gedanken Diderots in Auseinandersetzung mit Rousseau zieht (1991, 44 f.). Goggi spricht diese Passage und einige Hinzufügungen in der dritten Ausgabe von Raynals Histoire , die diese weiter ausführen, direkt Diderot zu (1991,45). I n den folgenden Passagen nach der allgemeinen Beschreibung der Brasilianer folgt Raynal dem Jesuiten Pierre du Jarric, der über die lateinische Ausgabe Thesaurus rerum Indicarum (Köln 1615) wörtlich in der Passage über die Cariges (zitiert in Goggi 1991, 41) seiner Seconde partie de l'histoire des choses plus mémorables advenues tant ez Indes Orientales , que autre païs de la descouverte des Portugais (Bordeaux 1610) zitiert wird. Goggi (1991, 47) teilt das positive Urteil über die Zivilisationsmethoden durch Uberzeugung (»persuasion«, Ausgabe 1770, 338 f.) statt durch Gewalt direkt Diderot zu, da es dessen Ideen zum Thema entspräche.
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Gianluigi Goggi hat dies an einigen Beispielen gut herausgearbeitet: Goggi 1991, 1 7 - 5 2 , besonders der Annexe I, zum Brasilienteil Raynals, 4 1 - 4 8 . 9 Eigentlich Teil von John Barrow (belegt 1735 -1774), A collection of authentic , useful , and entertaining voyages and discoveries , 3 Bde (London 1765). Barrow war Mathematikund Nautiklehrer auf den Schiffen der Royal Navy und hat einige Werke zu Geographie und N a u t i k kompiliert.
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Raynals Sicht der brasilianischen Geschichte und der indianischen Ureinwohner Raynal sieht die Ureinwohner der von ihm beschriebenen Länder zwischen den drei Stufen »sauvage« - »barbare« - »homme policé« stehen, wobei die Bezeichnung »sauvage« auch als Generikum für die Ureinwohner verwendet wird. Raynals Sicht der Zivilisation ist sicher von verschiedenen Aufklärern beeinflusst. Die moralische Berechtigung des Privateigentums w i r d vorausgesetzt. Katalysator der zivilisatorischen Entwicklung ist für Raynal der Handel. Der Begriff »barbare« w i r d eher als moralisch wertend verwendet und kann sich auch auf die Europäer beziehen, wenn diese ein moralisch fragwürdiges Verhalten an den Tag legen. 10 Der Zustand des »homme policé« zeichne sich vor allem durch die Liebe zum Vaterland aus, also ein moralisches, nur kulturell entstandenes Gefühl, das ihn vom »sauvage« unterscheide. Wie Voltaire in seinem Essai sur les moeurs , der i m Übrigen Südamerika nur einige wenige knappe Kapitel widmet, folgt Raynal nicht der Idealisierung des Naturzustands aus der Tradition des »bon sauvage« und des Rousseauismus 11 , sondern setzt auf die Zivilisierbarkeit des Menschen. Dies geht natürlich einher mit der K r i t i k an der moralischen Rechtfertigung der spanischen und portugiesischen Eroberung Südamerikas. Raynal lehnt die üblichen apologetischen Argumente für die Zivilisierung, die seit dem 16. Jahrhundert immer wieder etwa von Missionstheoretikern vorgebracht wurden, ab. Er lässt nur die Eroberung unbesiedelter Gebiete und die landwirtschaftliche Erschließung ungenutzter Teile in eroberten Gebieten als legitim gelten. 12 Raynal ist von Rousseau insoweit beeinflusst, als er auch moralisch vorbildhafte Zustände ursprünglich lebender »sauvages« anerkennt, was Voltaire beispielsweise nie getan hätte. Der Fortschritt durch die »lumières« und das Streben der Völker nach Freiheit w i r d zwar generell anerkannt, aber auch i m Gefolge Rousseaus als Mittel zur moralischen Vervollkommnung gesehen. Raynal sieht natürlich auch die negativen Auswirkungen des Handels, sobald dieser mit Unterdrückung oder einem übertriebenen Gewinnstreben einhergeht. Auch das Streben nach wirtschaftlichem Nutzen rechtfertigt für Raynal nicht die Eroberung und Unterdrückung der kolonialen Völker, oder eine wie auch immer geartete soziale Ungleichheit. Der Handel ist für den Ex-Jesuiten aber i m Idealfall eine A r t friedliche Alternative zur ver10
Vgl. Lemay 2000, 227.
11
Rousseau hat an keiner Stelle seines Werks das i h m immer zugeschriebene »Zurück zur Natur« gepredigt. Der Naturzustand ist für ihn vor allem ein theoretisches Konzept, das die durch die Kultur einsetzende moralische Degradierung des Menschen zum Bewusstsein bringt. Politisch ist der Mensch i m Naturzustand i m Status der Freiheit, die er zwar durch einen »contrat social« delegieren kann, aber nie generell verliert, wie Hobbes in seiner Rechtfertigung des Absolutismus meinte; vgl. Obermeier 1995, 242-250. 12
Vgl. L u d l o w 1992, 159.
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urteilten Conquista. Raynal ist allerdings pragmatisch genug, u m zu sehen, dass die Zeit nicht zurückgedreht werden kann und ein status quo ante vor der Kolonisierung nicht mehr erreicht werden wird. Er richtet seine Hoffnung deshalb auf eine bessere Verwaltung der Kolonien. Die Zukunft kann hier etwa durch die Abschaffung der Sklaverei auf den Antillen eine weitgehende Besserung bringen. Die zahlreichen, zum Teil schon seit der frühen Reiseliteratur bekannten Beobachtungen über die brasilianischen Indianer werden unter diesen Vorgaben nur selektiv gebracht und entsprechend kontextualisiert. Schon der historische Abriss Raynals über die frühe Kolonialzeit integriert wirtschaftliche Erwägungen. So ist es z. B. nicht nur der Hof, sondern auch die »Nation« (14), die die bislang unzureichende Erschließung Brasiliens durch das System der Capitanias ab 1532 kompensieren will. Die Ursachen der frühen Vernachlässigung Brasiliens werden zu Recht i m Kontext der großen Bedeutung von Ostindien für Portugal gesehen, das in der Tat durch seine sagenhaften Reichtümer anfangs Brasilien ins Hintertreffen geraten ließ. Raynal ist sicher kein Anthropologe oder Ethnologe, der die durch die Conquista verschwundenen oder veränderten indianischen Kulturen wie Lafitau vergleichend beschreiben möchte. Das anthropologische Thema ist zwar vorhanden, aber seiner sozialen Analyse untergeordnet, seine Maßnahmen zur Verbesserung der Lage richten sich auf den aktuellen Zustand der kolonialen Gesellschaft. Die zahlenmäßig i m 18. Jahrhundert in den zivilisierten Gebieten gering gewordenen Indianer sind dabei nur noch Vertreter einer längst marginalen und beinahe verschwundenen Bevölkerungsgruppe. Raynals Bild des brasilianischen Indianers hebt auch deshalb nur einige Charakterzüge hervor, besonders solche Themen, die sich für aufklärerische Polemik oder als Ansatzpunkt für Digressionen über ihm am Herzen liegende Themen eignen. Tanz und Musik unter den Indianern werden als Zeichen für den Beginn einer Kultur gesehen, sie hätten zudem keine Angst vor dem Leben nach dem Tod und würden ihre Priester von Zeit zu Zeit massakrieren, was den »esprit de mensonge« zumindest in Zaum halten würde (19). Diese Schilderung der Indianer als Atheisten gegen den Gottesbeweis ex consensu omnium gentium war sicher i m Sinne des Menschenbilds Diderots und bot den Ansatz für die kleine Zwischenbemerkung gegen religiös motivierten Fanatismus. 13 Ein Topos seit der frühen Reiseliteratur, das frühe Verlassen des Kindbetts, w i r d nicht mehr wie zuvor i m Kontext des Widerspruchs zum Bibelbericht gesehen, sondern gleich zu einer Digression genutzt, in der bewiesen wird, dass Frauen, auch Europäerinnen, die analog den Gedanken von Rousseau aus dem Émile ihre Kinder selbst stillen würden, kräftiger seien. Die 13
Eventuell überträgt Raynal hier eine Bemerkung über diese Tötungen bei den Skythen in Montaignes »Des cannibales« auf die brasilianischen Indianer; vgl. Lestringant 1995,187, Fußnote 45.
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in der Literatur häufig diskutierte Frage nach dem Ursprung der Tupinamba stellt Raynal nur am Rande, er glaubt an häufige Ortswechsel, was die sehr ähnlichen Sprachen in Südamerika belegen würden (17). 1 4 Bei der K r i t i k an der Mentalität der Indianer, die früher immer auf deren angebliche Faulheit zielte (in Wirklichkeit der Wechsel zwischen längeren Ruhephasen und Phasen starker Aktivität wie z. B. bei der Jagd), w i r d hier in Bezug auf das Gefühl für die Heimat, das bei einem nicht sesshaften Volk natürlich fehlen würde, kritisch gesehen und nicht per se wie etwa bei José de Acosta als Beleg für eine niedere Zivilisation. 1 5 Zentral w i r d die Beurteilung der »police« der Indianer, also ihrer Gesittetheit durch soziale Normsetzung. Die indianischen Kulturen werden von Raynal entgegen kursierender Clichés der Rechtlosigkeit der Indianer zutreffend als sozial geordnete Strukturen angesehen. Das Ehebruchsverbot w i r d behandelt, die freie Scheidung erwähnt. Das lange gesunde Leben der »sauvages« in der Natur, ein Topos seit den frühen Reiseberichten, w i r d in rousseauistischer Tradition gegen das Leben in der Zivilisation ausgespielt (17). Montaigne-Reflexe finden sich in der Konstatierung, dass es kein »gouvernement« gäbe und dass die Existenz einer Herrschaft in einem Gespräch den Indianern unverständlich sei, eine klare Anspielung auf das berühmte Gespräch zwischen Montaigne und einigen Tupinamba in Rouen, über das er in seinem Essai »Des cannibales« berichtet hatte. D o r t wundern sich diese Indianer allerdings darüber, dass ein königliches K i n d über Erwachsene gebieten würde. Montaigne hatte sich dies von einem sprachkundigen Ubersetzer erklären lassen. Die Beschreibung der Brasilianer mit einer Sprache und Kultur ohne f 1 r (fe, ley, rey) ist auch ein häufiger Topos auch der portugiesischen Brasilienliteratur. 16 Raynal verschärft den Gedanken aber, indem er den Topos der Brasilienbeschreibung der Abwesenheit jeglicher formalen Herrschaft bei den Indianern als durch die fehlende Religion begründet sieht, eine versteckte, aber deutliche Anspielung auf das Gottesgnadentum und die von der Aufklärung immer wieder bekämpfte Unterstützung europäischer Machtstrukturen durch religiöse Sanktionierung. Auch wenn diese angebliche Herrschaftslosigkeit als Zeichen einer niedrigeren Kulturstufe aufgefasst wird, zeigt dies doch, dass die Abwesenheit von Herrschaft, undenkbar für Theoretiker des Absolutismus, zumindest möglich sei: »Jamais ils [les Indiens] n'avoient 14
Vergleiche auch die Ausgabe der Histoire von 1770, Bd. I I I , 329, und Lemay 2000,
230. 15
José de Acosta versucht sich in seiner missionstheoretischen Schrift De procurando, Indorum salute in einer Typisierung der Indianerkulturen nach Kategorien wie Religion, Sesshaftigkeit, Schrift etc. Eine Neuausgabe des Werks wurde herausgegeben von Luciano Pereña, Madrid Consejo Superior de Investigationes cientificas, Bd. 1: Pacificación e colonización (Madrid 1984); Bd. 2: Educación e evangelización (Madrid 1987). 16
Obermeier, 1995,378.
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conçu qu'un homme, quel qu'il fût, pût acquérir le droit ou former la prétention de commander à d'autres hommes.« (19) Raynal ist aber kein unkritischer Anhänger einer Idee vom stetigen zivilisatorischen Fortschritt der Menschheit. Als genauer Leser von Rousseau, insbesondere dessen zivilisationskritischen ersten Discours mit dem Titel Discours sur les sciences et les arts (1750) sieht Raynal sein Ideal jeglichen Fortschritts in einer mittleren Entwicklung. Der »homme sauvage« werde sich zwar weiterentwickeln, diese Entwicklung werde aber mittelfristig den wilden Ureinwohner und den zivilisierten Menschen wieder zusammenführen. Der »homme civilisé« würde sich in einzelnen Elementen eher zurückentwickeln, und dieser und der ursprünglich Lebende könnten ihr Glück dann gleichsam in der Mitte finden (23). Anstelle einer unreflektierten linearen Entwicklung, wie sie das neunzehnte Jahrhundert dann in seinem unkritischen Fortschrittsoptimismus propagieren sollte, w i r d hier i m Sinne einer kritischen Rousseau-Rezeption der Fortschrittsgedanke von dem rein zivilisatorischen Entwicklungskonzept auf eine moralische Ebene gehoben. Es wäre aber sicher verfehlt in Raynals' Bild der brasilianischen Indianer durch die Mitarbeit Diderots in Analogie zu Diderots berühmtem Supplément au voyage de Bougainville über die sexuelle Freizügigkeit auf Tahiti etwa eine idealisierende Vision der südamerikanischen Indianer zu sehen (so auch Moureau, 1998, 124). Dazu sind Raynals Hoffnungen auf eine Zivilisierbarkeit der Indianer einfach zu dominant, soweit er dem Thema der Indianer überhaupt Raum widmet. Wie groß Raynals Hoffnung auf eine Autonomie auch der Indianer war, zeigt der Vergleich mit Corneille de Pauw (1739-1799), der kurz vor Raynal in seinen Recherches philosophiques sur Les Américains , ou Mémoires intéressants pour servir à l'histoire de l'espèce humaine , 2 Bde (Berlin 1768 /1769) ein sehr negatives Indianerbild vertrat. Das berühmte Brasilholzgespräch von Léry, eine in der Rezeption Lérys wiederholt aufgenommene moralische K r i t i k europäischen Gewinnstrebens durch den Export von Färbeholz nach Europa aus indianischem M u n d w i r d über das Prévostsche Vorbild in direkter Rede gebracht. Der Kannibalismus der Tupinamba, in der frühen Brasilienliteratur wie bei Thevet {Singularités de la France antarctique [Paris 1557/58]) ein Argument gegen den Zivilisationsgrad der brasilianischen Indianer, ist trotz der erwähnten Zweifel mancher späterer Autoren ein quellenmäßig belegtes Faktum für Raynal, das nicht in A b rede gestellt werden kann (29), aber für ihn keine weitere moralische Diskussion wert. Raynals prinzipieller Glaube an den zivilisatorischen Fortschritt hat diesen Brauch ohnedies zu einem überwindbaren Merkmal der ursprünglichen Indianerkulturen werden lassen, ein Gedanke, den er mit Missionsschriftstellern wie den von ihm auch paraphrasierten Pierre du Jarric oder dem ihm w o h l nicht bekannten Claude d'Abbeville {Histoire de la mission des pères capucins en l'isle de Maragnan [Paris 1614]) durchaus teilt. Das Wirken der Jesuiten als
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Vermittler zwischen Portugiesen und von diesen benachteiligten Indianern w i r d explizit hervorgehoben. Die Indianer (in dem Fall die Cariges-Indianer von Säo Vicente) werden explizit nicht als Wilde dargestellt, sondern in direkter Übernahme der Ideen des Jesuiten Pierre du Jarric als bereitwillig zivilisierbar gesehen, sie lassen nach dem Versprechen der Jesuiten, dass die Portugiesen sich ihnen gegenüber nach zahlreichen Übergriffen gerechter verhalten würden, sogar ihre Kinder in den Jesuitenkollegien erziehen. A n der Stelle fügt Raynal auch ein interessantes Urteil über das Wirken der Jesuiten generell ein. Dieses Urteil war für seine Leser hochaktuell, zumal der Orden ja unlängst in Portugal und seinen Kolonien 1759 und in Spanien und seinem Kolonialreich 1767, später 1773 allgemein verboten worden war. 1 7 Teil der vorausgehenden Kampagne war auch der Streit u m die Jesuitenreduktionen in Paraguay gewesen, in denen die Jesuiten nach Meinung ihrer Gegner angeblich einen Staat i m Staate aufgebaut hätten. Diese schon früher einsetzende Polemik war u m die Mitte des 18. Jahrhunderts von dem portugiesischen Minister Pombai aufgegriffen worden und trug erheblich zu der natürlich vor allem i m absolutistischen Staatsverständnis begründeten Vertreibung des Ordens aus Portugal, Spanien und seinen Kolonien bei. 1 8 Raynals Urteil ist, sicher nicht nur weil er selbst am Anfang seiner Karriere kurzzeitig Jesuit war, ein Versuch, inmitten der Polemik jesuitischem Wirken retrospektiv eine gewisse Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Allerdings wurde das Urteil über die Missionen in Paraguay durch H i n z u fügungen in den Neuauflagen etwas verschärft. 19 I m Vergleich zu der heftigen Polemik, die sich in den zahlreichen von Pombai gezielt verbreiteten Schmähschriften äußerte, blieb Raynal aber insgesamt geradezu gemäßigt: Si ces hommes actifs & courageux [die Jesuiten] avoient eu un esprit moins infecté de celui de Rome; si, formés en société dans la cour la plus intriguante & la plus corrompue de l'Europe, s'ils ne s'étoient pas introduits dans les autres cours pour influer sur tous les événemens politiques; s'ils n'avoient révolté, par leur intolérance, tous les gens modérés, & tous les tribunaux par leur passion pour le despotisme; si un zèle outré pour la religion ne les eût rendu les ennemis secrets du progrès des connoissances & les
17 Zur Polemik und ihren verschiedenen Argumentations- und Konfliktlinien grundlegend Christine Vogel, Der Untergang der Gesellschaft Jesu als europäisches Medienereignis (1758-1773), publizistische Debatten im Spannungsfeld von Aufklärung und Gegenaufklärung (Mainz 2006). 18 Ich behandle dieses Thema anhand der zeitgenössischen polemischen Literatur in dem Aufsatz »Antijesuitische Drucke über Südamerika und die Jesuitenreduktionen in Paraguay«, Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte 3 1 / 1 (2006), 2 3 - 3 3 . 19
Insbesondere durch die Hinzufügungen der dritten Auflage, vgl. Wölpe 1957, 90; L u d l o w 1992, 161. Es handelt sich u m den Vergleich der Guarani mit Mönchen und die Bemerkung »s'il [der Guarani-Indianer] était sans vice, il était aussi sans vertu« (1781), Bd. IV, 208-209. Z u den inhaltlichen Differenzen des Portugal- und Spanienbildes in den verschiedenen Auflagen vgl. Tietz 1995.
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persécuteurs de la philosophie; s'ils avoient employé autant d'art à se faire aimer qu'à se faire craindre, s'ils avoient été aussi jaloux d'accroître la splendeur de leur société que d'en augmenter la puissance, si leurs chefs n'avoient pas abusé des vertus mêmes de la plupart des membres: l'ancien & le Nouveau-Monde jouiroient encore des travaux d'un corps qu'on pouvoit rendre utile, en l'empêchant d'être nécessaire. Le dix-huitième siècle n'auroit pas à rougir des atrocités qui ont accompagné son anéantissement. L'univers continueroit à être arrosé de leurs sueurs & sécondé par leurs entreprises. {Histoire philosophique des deux Indes [Genf 1780], Bd 5, 34/35). D e r T e x t e n t h ä l t i n nuce die V o r w ü r f e , die d e n Jesuiten gemacht w u r d e n , w o b e i der H a u p t v o r w u r f
die sicher v o r a l l e m i n der G e g e n r e f o r m a t i o n
gegebene
E i n m i s c h u n g i n die i n n e r e n p o l i t i s c h e n A n g e l e g e n h e i t e n d e r Staaten f ü r die Z w e c k e der R e l i g i o n u n d des O r d e n s ist. D i e d a m i t einhergehende I n t o l e r a n z u n d Gegnerschaft z u m F o r t s c h r i t t u n d z u r A u f k l ä r u n g ( » p h i l o s o p h i e « ) h a b e n d e n O r d e n i n d e n A u g e n d e r Ö f f e n t l i c h k e i t e n d g ü l t i g d i s k r e d i t i e r t t r o t z der z w e i f e l s o h n e gegebenen F ä h i g k e i t e n u n d des M u t e s e i n z e l n e r seiner M i t g l i e d e r , der z u g u t e n Z w e c k e n l e i c h t hätte besser g e n u t z t w e r d e n k ö n n e n . D i e A u f k l ä r e r selbst h a t t e n sich, m i t A u s n a h m e eines a n o n y m v e r ö f f e n t l i c h t e n u n d u m e i n ä h n l i c h differenziertes
U r t e i l b e m ü h t e n Texts ü b e r die V o r w ü r f e
gegen
die Jesuiten, verfasst v o n Jean L e R o n d d ' A l e m b e r t ü b e r die z a h l r e i c h e n a n t i j e s u i t i s c h e n G e d a n k e n n u r a m R a n d e geäußert, i h n e n w a r e n andere T h e m e n bereiche w o h l w i c h t i g e r , sie ü b e r l i e ß e n diese P o l e m i k d e n ohnedies z a h l r e i c h e n anderen G e g n e r n d e r J e s u i t e n . 2 0 A n einer anderen Stelle äußert sich R a y n a l i n e i n e m k l e i n e n E i n s c h u b z u r P s y c h o l o g i e des M i s s i o n a r s . G r u n d
seines
H a n d e l n s sei d e r »enthousiasme de r e l i g i o n « (80), p o s i t i v d a r a n aber n u r das M i t l e i d f ü r d e n auf einer n i e d r i g e r e n K u l t u r s t u f e stehenden I n d i a n e r als T e i l d e r M e n s c h h e i t »que T o n s'est p r o p o s é d ' a r r a c h e r à l ' i g n o r a n c e , à la s t u p i d i t é & à la misère« (I.e.).
20 Der Mitherausgeber der Encyclopédie und Mathematiker Jean Le Rond d'Alembert (1717-1783) widmete sich in seinem anonym veröffentlichten Text Sur la destruction des jésuites en France par un auteur désintéressé [s. L] 1765 den Jesuiten, aber nur in sehr allgemeinem Kontext. Der Text führte zu einer kleinen Polemik, der Abbé Louis Guidi (1710- 1780) antwortete mit einer Lettre a un ami y sur un écrit intitulé: Sur la destruction des Jésuites en France par un auteur desintéressé [1765?]. D'Alembert antwortete mit einigen zusätzlichen Briefen zu seinem Werk, Lettre a M. conseiller au Parlement de pour servir de supplément à Vouvrage précédent , qui lui est dédié , Première lettre , Seconde lettre. Sur Védit du roi d'Espagne pour l'expulsion des Jésuites. Addition qui doit être mise a la fin de la seconde lettre , aile Texte enthalten in der Ausgabe seiner Œuvres , 5 Bde (1821-1822), Bd. 2. Die 3 è m e lettre et dernière vom 01.01.1776 in den Œuvres et correspondances inédites de d'Alembert , publ. avec introd., notes et appendice [par] Charles Henry (Paris 1887, Reprint Genève 1967), 2 7 - 3 4 . D'Alemberts Sicht auf die Jesuiten ist für einen dezidierten Atheisten überraschend abgewogen und wurde selbst von seinen aufklärerischen Freunden in der berühmten Correspondance littéraire als für die gemeinsamen Ziele kontraproduktiv kritisiert. Siehe die Correspondance vom 1er août 1765.
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Auch die soziale Lage der Indianer und schwarzen Sklaven in späterer Zeit hat Raynal behandelt. Das Problem der Sklaverei der Schwarzen w i r d von Raynal in Brasilien als nicht besonders dringlich anerkannt, da die Sklaven die Möglichkeit hätten, durch ihre Subsistenzwirtschaft und den Verkauf der dort geernteten Produkte das Geld zum Freikauf zu erlangen. Dieser Gedanke mag angesichts Raynals kompromissloser Ablehnung der Sklaverei besonders in den Kapiteln zu den französischen Besitzungen der Karibik erstaunen. Raynals Absicht war es hier wohl, das ihm wichtige Thema der Sklaverei eher i m Kontext der französischen Besitzungen zu behandeln, da diese dem Erfahrungshorizont seiner Zeitgenossen und ersten Leser näher lagen, als eine mehr oder weniger abstrakte Behandlung des Problems auf Brasilien bezogen. D o r t glaubte er eher an ein harmonisches Zusammenleben der Rassen. Die Beziehungen der Weißen zu farbigen Frauen würden praktisch der Ehe in Europa entsprechen, auch wenn sie selten legitimiert würden. Die von Raynal aufgeführten Indianergesetze des portugiesischen Hofs von 1570, 1596, 1605 und 1609 und 1611 seien durchweg nicht befolgt worden. Politischen Demarchen der Missionare und der Reaktion auf den »esprit d'indépendance« (106) der Kolonie sei es zu verdanken, dass die Indianersklaverei ab 1647 mit wenigen Ausnahmen abgeschafft sei. Durch den Import von afrikanischen Sklaven spielten die Indianer als Arbeitskräfte eine immer geringere Rolle und 1755 wurden sie definitiv frei 2 1 , was zu wenig beachtet worden sei, obwohl es zum »bonheur des nations« beitrage (108). I n Bezug auf das so genannte »aldeiamento«, die Zentrierung von Indianern in jesuitisch geleiteten Dörfern, oder ihr Leben in selbst bestimmter Freiheit wagt Raynal ein kritisches Urteil. Auch wenn sich der Charakter der Indianer, selbst dort w o sie mit den Portugiesen und Schwarzen zusammen leben würden, nicht geändert habe, also die negativen Charakterelemente wie die Faulheit noch existierten, können sie durchaus aufgeklärt (»éclairer«, 110) werden, Raynal glaubt an ihre Eigenverantwortung: U n des hommes les plus éclairés 22 qui aient jamais vécu dans le Brésil, m'a répété cent fois que les Indiens qu'on laisse maîtres de leurs actions dans la colonie Portugaise sont fort supérieurs en intelligence & en industrie à ceux qui sont tenus dans une tutelle perpétuelle (111). 21 Dass Raynal das Dekret vom 6. und 7. Juni 1755, das innerhalb des Wirkungsbereichs der Companhia geral do Gräo Parä e Maranhäo die Indianer durch Auflösung der Jesuitenaldeias befreit, als letztendliche Befreiung ansieht, entspricht Raynals kritischer Sicht der paternalistischen Reduktionen und aldeias, die die Indianer bevormundeten. Es handelt sich hier weniger wie Moureau (1998,127 u. Fußnote 43) meint, u m ein Lob Pombals, was die anderen noch zu behandelnden kritischen Stellen zu Pombals' Politik deutlich zeigen. Zur frühen Indianergesetzgebung des 16./17. Jahrhunderts, siehe Thomas 1968. 22 Bei diesem nicht genannten Informanten handelt es sich vielleicht auch um eine erfundene Gestalt, die nur der Authentizitätsbeteuerung dient (so auch Moureau, 1998,120).
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Deutlicher könnte man den Gegensatz zu jesuitischem Paternalismus, der sich auch in den Reduktionen in Paraguay idealtypisch verwirklichte, nicht formulieren. Durch die selektive, den ethnographischen Kontext etwas vernachlässigende Übernahme einiger Beschreibungselemente der ursprünglichen Indianerkultur werden die ethnographischen Fakten bei Raynal, entsprechend einer Grundtendenz der Anthropologie in der Aufklärung zu einer Abstraktion, die unverständliche Sitten in den Hintergrund treten lässt und natürlich den Weg bereitet für eine kohärente ideologische Funktionalisierung. 23
Die wirtschaftlichen Entwicklungschancen Portugals und Brasiliens Die Portugalkapitel der Histoire sind recht umfangreich (Buch 1, Kapitel 1 - 3 0 ) und stehen unter der Hauptfragestellung, wie die Kolonisierung organisiert war und warum nach den Anfangserfolgen der frühen Kolonialzeit Portugal rasch an Bedeutung verloren hatte, ja in den Augen der Zeitgenossen dekadent geworden war. Brasilien spielt hier in diesen ersten Kapiteln keine Rolle, nur Ostindien. Es sei hier untersucht, wie diese Ideen an den Brasilienkapiteln exemplifiziert werden. Natürlich nimmt die Frage nach dem wirtschaftlichen Aspekt des Handels entsprechend der ursprünglichen Themensetzung des Buchs einen großen Raum ein. Raynal bringt hierbei konkrete Verbesserungsvorschläge. Die Erlaubnis des gegenseitigen Handels zwischen Q u i t o und dem brasilianischen Amazonas würde zur wirtschaftlichen Prosperität beider Regionen beitragen und sei bisher nur durch die nationalen Vorurteile beider Nationen verhindert worden. Diese Vorurteile gingen aber auf das Konto des zivilisierten Menschen und nicht des »homme de la nature«, (86) ein rousseauistisch inspirierter Gegensatz, der hier als sozialpsychologische Erklärung für die Handelsbeschränkungen herangezogen wird. Diese würden nur zu Schmuggel führen, wie i m Fall der bei Buenos Aires im heutigen Uruguay gelegenen Stadt Colonia del Sacramento, w o sich in der Tat ein intensiver Schmuggel entwickelte, der durch die Tauschregelung der 7 Indianerdörfer in dem von Raynal kurz behandelten Tratado von Madrid 1750 behoben werden sollte. Diese Indianerdörfer sollten i m Tausch gegen die Stadt Colonia del Sacramento portugiesisch werden, eine Vereinbarung, die für Raynal den auch den Indianern zugesprochenen Rechten der Völker zutiefst widersprach: Les Jésuites, qui dès leur naissance, s'étoient ouvert une route secrète à la domination, pouvoient contrarier le démembrement d'un empire, fondé par leurs travaux. Indépen23
Lestringant 1995,184 u. 186.
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Franz Obermeier damment de ce grand intérêt, ils devoient se croire chargés de la félicité d'un peuple docile qui, en se jettant dans leur sein, s'étoit reposé sur eux du soin de sa destinée. D'ailleurs les Guaranis n'avoient pas été subjugés. En se soumettant à l'Espagne, avoient-ils donné à cette couronne le droit de les aliéner? Sans avoir médité sur les droits imprescriptibles des nations, ils pouvoient penser que c'étoit à eux seuls de décider de ce qui convenoit à leur bonheur. (90)
Es w i r d also neben der Anspielung auf jesuitisches Machtstreben durchaus auch auf das Recht auf Selbstbestimmung der Guarani-Indianer verwiesen, und damit indirekt deren Aufstand in der so genannten guerra guaranitica moralisch gerechtfertigt. I n der Folge behandelt Raynal den Vertrag von Ildefonso von 1777, der diese Tauschregelung für nichtig erklärte. Alles, was dem wirtschaftlichen Wohlstand zuwiderläuft, sei als schädlich abzulehnen. Die Priester seien in Kontext der Beförderung der öffentlichen Wohlfahrt volkswirtschaftlich unnütz. Sie würden von den Gaben der Leute leben (»avidité des prêtres«, 102), es gäbe Benediktinerklöster, diese seien »aussi libertins qu'oisifs«, 103. Der religiös motivierte Fanatismus habe sich allerdings nur zwischen 1702 und 1718 in den Anklagen gegen angebliche Sympatisanten des Judentums gezeigt (103). I n einer umfangreichen Digression gibt Raynal einen Überblick über die regionalen wirtschaftlichen Möglichkeiten Brasiliens. Belém w i r d nach dem Ende des Privilegs der Handelskompanien 1778, die auf einen »ministère trompé ou corrompu«, gemeint ist Pombai (115), zurückgingen, ein wirtschaftlicher Aufschwung prophezeit. Für Maranhäo werden das Sammeln von »ambre gris« (Ambra) und der erfolgreiche Baumwollanbau erwähnt. Auch das Gewürz »urucu«, aus dem auch roter Farbstoff gewonnen werden kann, würde geerntet. Die französische Geschichte der Stadtgründung von Säo Luis 1612 w i r d nur kurz angerissen. Piaui sei durch Trockenheiten gefährdet, einige Bodenschätze würden noch nicht ausgebeutet. Holzhandel als königliches Privileg w i r d kurz erwähnt. Bahia und sein Reichtum als ehemalige Hauptstadt werden beschrieben, auch wenn dieser wegen der Gesetze gegen den Luxus vor allem religiösen Objekten zugute käme: »riches enseignes d'une religion pauvre« (125). Die strenge Reklusion der dort lebenden Frauen würde deren Liebschaften nicht verhindern, einige unverheiratete Mädchen hätten Liebhaber, was oft durch Heiraten vertuscht werden soll, oder die Mädchen würden später Kurtisanen. Die Trennung beider Geschlechter w i r d als sozial schädlich angesehen (127). Zahlreiche Laster seien hier vertreten, aber die »Lumières« (127) hätten diese wenn auch nicht abgeschafft, so doch zumindest etwas gedämpft. Walfang w i r d als Privileg einer Handelskompagnie erwähnt, nachdem er zuvor frei war. Raynal mahnt eine bessere Förderung dieses Wirtschaftszweigs durch den H o f in Lissabon an. Die Bedeutung des Tabaks w i r d etwas unterschätzt von Raynal. Es folgen einige Angaben zum Preis und zur Qualität des Tabaks, der beste
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würde von Genua gekauft, schlechterer von Spanien und Portugal und der schlechteste von Hamburg, der auch nach Frankreich geliefert würde. I n Rio würde wenig Tabakanbau, aber mehr erfolgreicher Zuckerrohranbau betrieben, auch Indigo und Kaffee seien wichtig. Die südlichen Provinzen würden vor allem Leder, Mehl und gesalzenes Fleisch liefern. Die französische Kolonie von Rio 1555-1560 w i r d als »un foible établissement« (134) abgetan. Der dortige Streit zwischen Katholiken und Protestanten w i r d nicht weiter thematisiert, allenfalls an anderen Stellen der Histoire Raynals die »légereté« der Franzosen als Ursache des Scheitern ihrer Koloniegründungsversuche aufgegriffen. 24 Die Sitten seien in Rio lose wie in Bahia und in Minas geraes, Laster blieben ungestraft. Durch den Reichtum sei die Stadt stark gewachsen. Es folgt eine kleine Diatribe gegen die Bedeutung des Goldes. Die Eroberung Rios durch den Franzosen Duguay-Trouin 1711 w i r d erwähnt. Nach Süden voranschreitend beschreibt Raynal Santa Catarina. Damals war es »le refuge de quelques vagabons« (138), die im Großen und Ganzen die Herrschaft Portugals anerkennen würden, aber alle anderen Schiffe aufnehmen würden und mit ihnen Handel trieben, ohne großen Wert auf Reichtum zu legen. Auch der Abschaum der Gesellschaft könnte bei entsprechenden Führern Großes vollbringen, wie die Römer unter Verletzung des Rechts anderer Völker (139). Das Fehlen geeigneter Führer könnte diese Völker böse und gierig werden lassen, wie dies die Paulistaner waren. Die Bescheidung auf eine Subsistenzwirtschaft würde zumindest zu einem Leben »civilisé par le bonheur & la sécurité d'une vie paisible« (140) führen, ein weiterer Reflex der Rousseau-Rezeption. Dies sei bei den Bewohnern von Santa Catarina der Fall, die mit ihrem Uberfluss Handel mit anderen Völkern trieben. A b 1738 sei die gleichnamige Hauptstadt (heute Florianopolis) befestigt worden, was nicht verhindert hat, dass sie 1778 von den Spaniern angegriffen wurde. Folgt Säo Paulo. Auch die Stadt sei 1570 (sie!) von Verbrechern gegründet, die der sozialen Kontrolle in der Küstenregion entflohen seien. Die jesuitische Gründung von Piratininga scheint Raynal nicht bekannt gewesen zu sein. Die »brigands courageux« seien dort an der Herrschaft, die »envie de dominer qui suit de près l'indépendance« führten zu den bekannten Zügen der Bandeirantes in das Hinterland (142). Langsam wurden die Paulistaner der portugiesischen Herrschaft unterworfen. Neben ein wenig Baumwolle würden nur Mehl und Pökelfleisch nach Rio geliefert, einige Minen in der Nähe noch nicht ausgebeutet. Die Provinzen des brasilianischen Hinterlandes werden in der Folge beschrieben, vor allem in den Minas Geraes. Die Minen seien schon seit dem 16. Jahrhundert bekannt gewesen, aber wegen
24 Lestringant 1995,176; zum Gemeinplatz geworden über die ebenfalls stark durch die Leryrezeption geprägten Ideen des Kanadareisenden und Historiographen Marc Lescarbot (1570-1642) in dessen Histoire de la Nouvelle France (Paris 1609), die wie Raynal generell die fehlende Bewirtschaftung des Bodens in den Kolonien kritisierte.
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des Verbots der spanischen Könige wie Philipp II., der die Kolonie i m Elend halten wollte, nicht ausgebeutet worden (146). Erst lange nach der Unabhängigkeit Portugals und seiner Kolonien von Spanien (1640) habe man nach zufälligen Funden die Bodenschätze abgebaut. Minenfunde müssten bei den Behörden deklariert werden. Die reichen Minen würden vom Fiskus selber ausgebeutet, die armen den Privatleuten überlassen. Dem König stamme das königliche Fünftel zu, eine enorme Einnahmequelle für den H o f in Portugal, auch wenn die Menge gefundenen Goldes abgenommen habe. Der Goldpreis sei nicht gesunken, weil man viel Gold für den dortigen Luxus verbrauchen würde. Es folgt eine Digression über die Diamanten und die Steuerung des Handels mit ihnen durch den Hof. Die wirtschaftliche Bedeutung Brasiliens für Portugal w i r d von Raynal zu Recht als insgesamt wichtig eingeschätzt. Moureau (1998, 129) schreibt recht schön, dass er zu einer »recolonisation« Brasiliens unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten auffordere. N i c h t nur durch die Abgaben auf die Edelsteine, sondern auch durch den Verkauf und die Verpachtung von Monopolen würden große Einnahmen erzielt. Zahlreiche Steuern würden die Einkünfte des Hofs zusätzlich vergrößern. Es folgt eine Darlegung der Handelsverbindungen des Landes mit Afrika, vor allem wegen des Sklavenhandels und mit anderen portugiesischen Besitzungen wie Madeira, w o vor allem Essig und Schnaps nach Brasilien geliefert würde, i m Tausch gegen brasilianische Produkte. Der Gesamtwert der zwischen 1770 und 1775 nach Portugal aus Brasilien eingeführten Güter w i r d mit mehr als 56 Millionen livres beziffert. M i t den erzielten Gewinnen würde ein großer Teil des portugiesischen Außenhandels mit anderen europäischen Ländern abgewickelt. Die Vorgeschichte des bekannten Methuen-Vertrags von 1703, der Portugal in wirtschaftliche Abhängigkeit von England brachte, w i r d genau beschrieben (178). Raynal behauptet nicht zu Unrecht, dass Portugal diese Vorteile mit dem brasilianischen Gold erkaufen würde (179) und die Meistbegünstigung Englands nur dessen Interessen dienen würde, während das Zulassen der Konkurrenz positive Einflüsse haben könnte. England würde i m Sinne seiner Gleichgewichtspolitik auch ein selbstbewussteres Portugal, das ihm i m Handel keine Meistbegünstigung erlauben würde, weiterhin unterstützen (209). Bei der militärischen Verteidigung dürfe man sich in Portugal aber nicht auf Großbritannien verlassen (211). Raynal schlägt die Produktion von Seide und einfachen Tüchern vor, u m die Abhängigkeit von der Außenwirtschaft zu verringern. Manufakturen könnten entstehen »Des atteliers (sic) remplaceront des cloîtres.« (195). Das Land könnte damit von neuem einen wirtschaftlichen Aufstieg erleben und die Marine ausbauen. Dies könnte sich nicht nur auf die portugiesischen Inseln wie Madeira und die Kapverden auswirken, sondern auch auf Brasilien: »Ce nouvel esprit se fera sentir principalement dans le Brésil, cette grande
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colonie qui ne fut jamais ce qu'elle devoit être.« (197). Nachdem anfangs nur Zuchthäusler ins Land gekommen seien, hätten die ersten Europäer, denen Kapitanien zugeteilt wurden, dort einen 60-jährigen Kampf zur Unterjochung der Indianer unternommen. Die Arbeit der Indianer hätte wie die der Europäer, die jede Arbeit als Verlust an Sozialprestige ansahen, aber wenig eingebracht, erst ab 1570 sei es mit dem Import von Sklaven zu einem Aufschwung gekommen. Die Kriege mit den Holländern hätten diesen aber gehemmt. Raynal erkannte klarsichtig, dass die Europäer in den Kolonien in der Tat vor jeglicher manuellen Arbeit zurückschreckten, da sie diese als unwürdig empfanden. Selbst die positiven Funde von Gold und Edelsteinen hätten sich negativ auf die Wirtschaft ausgewirkt, da damit die sehr viel wichtigere Förderung der durch Steuern belegten Landwirtschaft verzögert wurde (199). Unabhängig von Raynal findet sich derselbe Gedanke schon in dem Werk von Antonil, das wegen der Zensur Raynal sicher nicht bekannt war. Der aus Italien stammende und in Bahia wirkende Jesuit Joäo Antonio (Giovanni Antonio) Andreoni schrieb unter dem Pseudonym André Joäo A n t o n i l (1649-1716) 1711 seine Cultura e opulência do Brasil Andreonis Buch wurde 1711 in der Lissaboner Druckerei von Miguel Deslandes gedruckt; in Brasilien gab es keinen Buchdruck zu der Zeit. Auch die Inquisition gab ihre Zustimmung zur Publikation. Trotz der sorgsam eingehaltenen Genehmigungsprozeduren wurde das Buch gleich bei Erscheinen auf königliche Order hin beschlagnahmt, w o h l weil der H o f in den exakten wirtschaftlichen Informationen eine Preisgabe von nicht zur Verbreitung bestimmten Fakten an andere Nationen sah. N u r wenige Exemplare blieben erhalten. 25 Die sich auch bei Raynal findende Hochschätzung der Landwirtschaft als Quelle des staatlichen Reichtums ist typisch für die Zeit und findet sich bei zahlreichen Aufklärern, auch der Schule der Physiokraten und dem erwähnten Antonil. Sicherlich war das Manufakturwesen in Brasilien wie in den anderen Kolonien noch zu wenig entwickelt, zumal die merkantilistische Politik versuchte, die Einnahmen auf das Mutterland zu konzentrieren. Erst jetzt in der Zeit, als Raynal schrieb, würden sich die wirtschaftlichen Möglichkeiten des Landes zeigen: Die Häfen der Küste seien leicht zugänglich, viele Flüsse schiffbar, in Europa gewünschte Exportgüter würden gut gedeihen. »Rien n'y manque pour en faire un des plus beaux établissemens du globe« (201). Sobald die zahlreichen, zumeist königlichen Monopole gefallen seien, und der Handel mit den anderen portugiesischen Besitzungen erlaubt sei, könnte Brasilien zahlreiche Werte selber erwirtschaften. Die Bedeutung des
25 Der erste Nachdruck des Buchs erschien abgesehen von einem Auszug über den Zuckeranbau in O Fazendeiro do Brasil, por Fr. José Marianno da Concei?äo Velloso (Lissabon 1798 bis 1806) erst i m Jahr 1837 als Joäo Antonio Antonil, Cultura e Opulencia do Brasil por suas drogas e minas (Rio de Janeiro). Z u A n t o n i l und seinem Buch vgl. Obermeier 2003.
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Freihandels w i r d auch von anderen Wirtschaftstheoretikern der Epoche in Bezug auf den Handel Portugals betont. 2 6 Arbeitskräfte seien genügend vorhanden, Raynal spricht von 17 600 Weißen, 347 158 Sklaven und 278 349 Indianern, von denen 200 000 noch »sauvages errans« seien (202), also in der portugiesischen Begrifflichkeit der Zeit »indios arredios«, die man doch vielleicht der portugiesischen Herrschaft unterwerfen könnte, da sie weitab von den portugiesischen Siedlungszentren lebten. Man solle das Land für Einwanderung auch anderer Völker öffnen, die damit auch die »race dégénérée des Portugais créoles« wieder zu neuen Aktivitäten bringen würden. Es gäbe für diese Siedler genügend unkultiviertes Kronland. Der Einfluss des Klerus und der Inquisition müsse zurückgedrängt werden (203). Die an dieser Stelle erweiterte Polemik gegenüber der Inquisition ist i m Übrigen eine Hinzufügung der 3. Auflage von 1780. 27 Die Inquisition war ein Hauptkritikpunkt der Aufklärer an der Religion, dass sie in Brasilien von eher geringer Bedeutung war, tut dem hier keinen Abbruch. Hier zeigt sich schon der später in Frankreich sehr einflussreich werdende Gedanke der Trennung von Staat und Kirche. Die Schulausbildung war i m damaligen Brasilien überwiegend von den Jesuiten geleitet worden. Nach der Vertreibung des Ordens könne dies durch die Erziehung der Kinder reicher Großgrundbesitzer in Portugal wettgemacht werden, dies würde sich aber nur langsam durchsetzen: »La lumière semble être réservée aux générations suivantes« (206/207). Die zu Raynals Zeit tagesaktuellen Reformen von Pombai kommen nicht gut weg. Der portugiesische Minister Sebastiäo José Carvalho e Melo, Graf von Oeyras, bekannter unter seinem späteren Titel Marques de Pombai (16991782), ist die zentrale Gestalt der portugiesischen Politik des 18. Jahrhunderts. Nach Pombals eigenem Dafürhalten waren seine Hauptfeinde die Jesuiten. A u f seinen Druck wurde 1759 der Jesuitenorden in Portugal und den Kolonien verboten. Der Papst Benedict XIV. reagierte auf Druck des portugiesischen Hofs in einem Breve, vom 01.04.1758 das den Kardinal Saldanha die Befugnis gab, unvoreingenommene Untersuchungen über die Anschuldigungen gegenüber den Jesuiten einzuleiten. Der Papst starb am 03. Mai, der politische Druck auf Saldanha wurde in dieser Situation der Vakanz des Papststuhls so stark, dass Saldanha am 15. Mai die Jesuiten schuldig sprach und ihnen bald darauf alle Rechte entzog. Als Clemens X I I I . am 6. Juli 1758 Papst wurde, war die politische Entscheidung gegen die Jesuiten schon gefallen. Brasilien spielte i m Vergleich zu den Reduktionen in Paraguay als Thema in der Polemik Pombals ge-
26 Etwa in Jacques Accarias de Serionnes, Les intérêts des nations de l'Europe, dévélopés relativement au commerce, 2 Bde (Leiden 1766), vgl. auch Moureau 1998, 127 u. Fußnote 40. 27
Vgl. auch Tietz 1995, 270.
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gen die Jesuiten eine eher untergeordnete Rolle. Die Reduktionen Paraguays waren dagegen den Zeitgenossen auch durch frühere Texte und idealisierende Darstellungen wie Muratoris Ii cristianesimo felice nelle missioni de 3 padri della Compagnia di Gesü nel Paraguai, 2 Bde (erstmals Venedig 1743 -1749), auch in zahlreichen Übersetzungen weit verbreitet, sehr viel besser bekannt. 2 8 Die Chance, die das Erdbeben von Lissabon 1755, ein zentrales Ereignis für eine kritische Diskussion angesichts des Fortschrittsoptimismus der Aufklärung, für eine Neuausrichtung des Staatswesens und der staatlichen Politik geboten habe, sei laut Raynal nicht genutzt worden (212), es sei kein »meilleur ordre de choses, un nouvel état, un peuple nouveau« entstanden (213). Tietz (1995, 270, 273) sieht in diesen Stellen und auch den Analysen der ökonomischen Abhängigkeit Portugals einen Reflex einer französischen Schrift, die anonym der Franzose Ange Goudar, der lange Zeit in Portugal gelebt hatte, als Relation historique du tremblement de terre survenu a Lisbonne le premier novembre 1755 (La Haye [fiktiver Druckort, wohl Paris], chez Philantrope 1756) herausgegeben hat. 2 9 Das Buch behandelt nicht nur das Erdbeben von 1755, sondern auch ausführlich die ökonomischen Grundlagen Portugals. Das Konvoisystem des Transports von Brasilien nach Portugal w i r d von Raynal als die Wirtschaft schädigend angesehen, auch wenn es aus Sicherheitsgründen notwendig erscheint. Es behindere die Händler, die in günstigen Jahreszeiten häufiger Schiffe aussenden könnten. Die von Pombai initiierten Handelskompagnien werden als schädliche »aliénation des droits de la nation en28 Texte über die brasilianischen Jesuiten fehlen fast vollständig, obwohl Pombai ja hier über Material verfügte, aber die Reduktionen in Paraguay lieferten einfach einen besseren polemischen Ansatzpunkt und waren den Zeitgenossen durch vorhergehende K r i t i k und auch die Apologetik der Lettres edificantes eines Muratori und Charlevoix (Histoire du Paraguay, 1756) gut bekannt. N u r ein Dekret des Bischofs von Parä in Nordbrasilien, Miguel de Bulhöens, w o dieser die Bulle von Benedikt XIV. in seinem Bistum bekannt gab, was angeblich die Jesuiten verhindern wollten, wurde in einige Texte aufgenommen, zuerst in die italienischen Übersetzungen der Relaçâo als Relazione breve, später in französischer Ubersetzung dem Recueil de pièces, pour servir d'addition et de preuve à la Relation abrégée concernant la République établie par les Jésuites dans les domaines d'outre-mer des Rois d'Espagne et de Portugal, o. O . 1758, und schließlich dem Recueil de toutes les Pièces et Nouvelles qui ont paru sur les affaires des Jesuites, 4 Bde (Paris 1760-61) beigegeben. Pombals Bruder Francisco Xavier de Mendonça Furtado, der in Maranhäo als governador e capitäo-geral de Grâo-Parâ e Maranhäo Leiter einer zur Förderung der Wirtschaft neu gegründeten Handelskompagnie für den Estado do Gräo Para e Maranhäo (die Verwaltungseinheit für das nordbrasilianische Gebiet, bestehend von 1621 -1774) tätig war, hat dieses Material w o h l geliefert. 29 Ange Goudar (1720-1791) hatte eines der zentralen Werke für das physiokratische Denken: Les intérêts de la France mal entendus, dans les branches de VAgriculture, de la Population, des Finances , du Commerce, de la Marine, & de l'Industrie. Par un Citoyen, 3 Bde (Amsterdam [Jacques Cœur] 1756) anonym publiziert.
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tière« angesehen (97), da sie nur auf den privatwirtschaftlichen Nutzen einer kleinen Anzahl von Menschen abzielten. Der wegen der Pombalschen Reformen in Porto ausgebrochene Aufstand w i r d der Verzweiflung der Menschen zugeschrieben. I n der Folge geht Raynal auf die 1755 für Gräo-Para und Maranhäo gegründete Handelskompagnie ein, ebenso auf die analoge Institution für Pernambuco. Diese hätten die Erlaubnis, ihre Produkte mit exzessiven Preisaufschlägen zu verkaufen und die von ihnen eingekauften Produkte zu billigen Preisen erworben. Raynal endet mit einem pessimistischen Rückblick dieses Kapitels, w o er, ohne seinen Namen direkt zu nennen, die Politik von Pombai heftig kritisiert: Des consciences hardies opprimèrent les consciences foibles; & l'époque de ce grand phénomène, fut celle d'une grande servitude. Triste & commun effet des catastrophes de la nature [i.e. des Erdbebens von 1755]. Elles livrent presque toujours les hommes, à l'artifice de ceux qui ont l'ambition de les dominer. C'est alors qu'on cherche à multiplier sans fin les actes d'une autorité arbitraire; soit que ceux qui gouvernent, croient réellement les peuples nés pour leur obéir; soit qu'ils pensent qu'en étendant le pouvoir de leur personne, ils augmentent la force publique. (213/214).
Raynal hat recht deutlich erkannt, dass die Politik des zum Zeitpunkts des Erscheinens der dritten Auflage seines Werks von 1780 vor kurzem (1777) abberufenen Pombals den staatlichen Einfluss in allen Gebieten zu erweitern, doch die Gefahr einer überzogenen Machtballung mit sich brachte, die nicht immer dem Volk zugute kommen musste, sondern auch Partikularinteressen wie seiner eigenen Machtfülle dienen konnte. Raynals Analysen sind i m Großen und Ganzen klarsichtige Betrachtungen der ökonomischen und sozialen Situation von Portugal und Brasilien. Seine Bewertungen zeigen, dass er nicht nur über einen überraschend guten Informationsstand verfügte, sondern auch in seinen Beurteilungen klar die ökonomischen Abhängigkeiten und das w i r t schaftliche Potenzial von Portugal und seinen Kolonien erkannte.
Weitere Themenbereiche Raynal fügt in seinen Brasilienteil (Buch I X , 1 - 2 1 4 ) aber auch charakteristische Lesestücke zu, so einen Auszug der berühmten Predigt von Antonio Vieira (1608 -1697) in Bahia über den Sieg der portugiesischen Waffen (47-58). Natürlich w i r d dieser antireligiös mit seiner Unwirksamkeit konfrontiert (58). Der Text wurde w o h l wegen der unbestreitbaren rhetorischen Brillanz von Vieira aufgenommen. Die Loslösung Portugals von Spanien 1640 w i r d als Sieg der Freiheit über die Tyrannei der das Land seit Philipp II. unterjochenden spanischen Herrscher dargestellt und damit die Sicht der portugiesischen Historiographie aufgegriffen. Der Leiter des portugiesischen Widerstands gegen die Holländer w i r d mit allen Charakterzügen eines Vertreters des bürgerlichen
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Standes gezeichnet: er habe sich aus armen Verhältnissen mit Hilfe seiner Intelligenz hochgearbeitet und sei moralisch rechtschaffen (62/63). Die Ursachen der holländischen Niederlage werden nicht nur in der sicher gegebenen heimlichen Unterstützung der Aufständischen durch den portugiesischen H o f gesehen, sondern zurecht auch in Fehlern der Westindischen Kompagnie bei ihrer Verwaltung Brasiliens: N i c h t die gewinnorientierte Westindische K o m pagnie, sondern der Staat hätte die Organisation der Kolonie übernehmen sollen und durch mehr Freiheit und die landwirtschaftliche Erschließung die Grundlage für eine dauerhafte Herrschaft durch staatlich geschützten Freihandel legen sollen (67). Die Digression über die Amazonen w i r d zu einem Seitenhieb gegen die Mönchs- und Nonnenorden verwendet, w o wie bei den Amazonen die Geschlechter getrennt leben würden, dies w i r d allerdings als Effekt einiger »préjugés bizarres« (73) gemeint der christlichen Tradition, angesehen und durch den Vergleich mit den mythischen Amazonen gleichsam diskreditiert. Der Glaube an die Amazonen selbst w i r d als H u m b u g abgetan (I.e.), sicher eine kritische Replik auf das Amazonenkapitel in La Condamines Reisebericht. Die historischen Episoden des Aufstands von Aguirre und die Reise von Pedro Teixeira am Amazonas werden kurz dargestellt. Die militärische Bedeutung des Amazonas w i r d aus der Sicht der Spanier als Möglichkeit gesehen, den durch Piraten bedrohten Transport des amerikanischen Goldes über den Amazonas gemeinsam mit portugiesischen Verbänden sicherer zu gestalten, eine Idee, die dann mit der Trennung von Spanien und Portugal zunichte wurde. Die Rückführung politischer Ansprüche auf wirtschaftliche Erwägungen zeigt wieder deutlich die Bedeutung des ökonomischen Denkens für Raynal.
Kolonialkritik und aufklärerischer Subtext Die Hochschätzung des Handels ist für Raynal natürlich kein bürgerlicher Selbstzweck, sondern dient in allen seinen Überlegungen dazu, dass die Lebenssituation der Europäer und Bewohner der Kolonien zugleich von einem freieren Handel profitiert. I m Hintergrund steht natürlich die von Raynal mit den Physiokraten wie Pierre Joseph André Roubaud in seiner Histoire générale de l yAsie y de l'Afrique et de l'Amérique , (Paris 1770-1775) geteilte Idee, dass eine Liberalisierung des Handels in Amerika und Europa nicht nur einen positiven ökonomischen Einfluss hätte, sondern letztendlich mittelfristig auch das Feudalsystem in seinen letzten Resten beseitigen w i r d und in der Folge einen politischen Wandel herbeiführen könnte. 3 0
30
Vgl. Cheney 2001.
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Raynals Buch hat als auflagenstarker Bestseller einen großen Einfluss auf das aufklärerische Denken der Epoche gehabt. 31 Der Brasilienteil der Histoire fand sogar eine kurze Zusammenfassung in dem Brasilienartikel der Encyclopédie méthodique (1782-1832, 201 Bde) des Druckers und Verlegers Charles Joseph Panckoucke (1736-1798) in der Sektion Économie politique et diplomatique, Artikel »Brésil«, 1784, Bd 1, 3 9 6 - 4 1 3 . 3 2 Diese Encyclopédie war nach Diderots und D'Alemberts enzyklopädischem Werk der nächste größere Versuch einer Zusammenführung des zeitgenössischen Wissens. Die in den Werken der »philosophes« und vor allem der Encyclopédie Diderots vorgebrachte K r i t i k wurde bei Raynal an dem konkreten Beispiel der Kolonialpolitik erstmals in seinen sozialen und wirtschaftlich negativen Folgen ausführlich dargestellt. Raynals vehemente Polemik gegen die Sklaverei, eine Idee, die er mit Diderot teilte, hat sicher dazu beigetragen, dass diese von der französischen Nationalversammlung, der Convention, am 04. 02.1794 abgeschafft w u r d e 3 3 , auch wenn sie Napoléon durch das Dekret vom 20. florial an X (10. 05.1802) wieder eingeführt hat. Erst am 27. A p r i l 1848 wurde sie für die französischen Kolonien definitiv abgeschafft. I m Brasilienteil findet sich keine klare Stellungnahme gegen die Sklaverei, die er in anderen Teilen des Buchs gebracht hat, w o h l weil er durch die Möglichkeit des Freikaufs die brasilianische Variante der Sklaverei als menschenwürdiger angesehen hat. Für die zeitgenössischen Leser genauso wichtig dürfte neben den konkreten Informationen über die Kolonien der sich deutlich in den Vordergrund schiebende Subtext des Buches gewesen sein. Trotz der weitgehenden Mitarbeit von Diderot und auch anderen Autoren ist Raynal dabei durchaus als ein eigenständiger Denker zu sehen, er lässt Retouchen und die Übernahmen Diderotscher Ideen zu, streut aber immer wieder Gedanken seiner eigenen Rousseaurezeption mit ein. I n Portugal stieß Raynals Werk verständlicherweise auf wenig Gegenliebe. Es wurde bereits 1774 verboten 3 4 und das Projekt einer Übersetzung verhindert, in Brasilien war es zwar einigen Gebildeten bekannt und wurde den Teilnehmern der Inconfidência mineira in den Prozessen nach ihrem gescheiterten Aufstand auch zum Vorwurf gemacht. 35 I n dem ob seiner Kolonialpolitik von Raynal heftig kritisierten Spanien konnte nur die u m die spanien31
Zur Rezeption in den einzelnen Ländern, z. B. auch in der Karibik i m Kontext der Polemik um die Sklaverei, vgl. die Aufsätze in: Lectures de Raynal, actes du Colloque de Wolfenbüttel, hg. Hans-Jürgen Lüsebrink und Manfred Tietz, Studies on Voltaire and the eighteenth Century 286 (Oxford 1991). 32
Moureau 1998, 120.
33
Z u m Thema vgl. Lüsebrink 1991, 8 5 - 9 7 .
34
Tietz 1995, 274 f., hat den Text der Begründung für das Verbot durch die portugiesische Real Mesa Censöria 1774 abgedruckt. 35
Moureau 1998,122.
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kritischen Passagen zensierte spanische Fassung durch den Herzog von A l m o dóvar 1784 unter dem Pseudonym Eduardo Malo de Luque als Historia politica de los establecimientos ultramarinos de las naciones Europeas , 5 Bde (Madrid 1784-90), erscheinen. Diese purgierte Übersetzung reicht nur bis zum 5. Buch der Edition von 1780. 36 Raynal liefert nicht nur eine durch sein Interesse für Ökonomie gänzlich andere Schwerpunktsetzung als viele zeitgenössische Reiseberichtsammlungen oder geographische Werke, sondern benutzt diese gut recherchierten Angaben auch dazu, seine aufklärerischen Gedanken anhand der Kolonialgeschichte zu illustrieren. I n weiten Teilen liest sich sein Text auch wie eine konkrete Handlungsanweisung, was man denn besser machen könnte, um das allgemeine Wohl der Volkswirtschaft als zentralen Punkt seines Denkens durch entsprechende Maßnahmen weiter zu befördern. Dieser Subtext ist neben dem Informationsstand und der Relevanz von Raynals kolonialhistorischen Betrachtungen auch für den heutigen Leser der wohl interessanteste Teil des Texts. N u r in wenigen Fällen zeigt sich Raynal schlecht informiert, die Inquisition, die er so anprangert, spielte in Brasilien nie eine große Rolle, die anklagenden Digressionen sind hier sicher ein Vehikel, u m dieses Muster antiquierter christlicher Intoleranz bei allen passenden Gegebenheiten als nicht mehr zeitgemäß hinzustellen. Auch wenn Raynals Beobachtungen sicher unsystematisch vorgebracht werden und einzelne ihm wichtig erscheinende Punkte stark in den Vordergrund treten, hat er seinen Lesern doch anhand des ihm verfügbaren Materials einen guten Informationsstand über Brasilien gegeben. Das soziale Leben in den K o lonien war den Europäern sicher auch i m Mutterland Portugal oder in Spanien kaum bekannt, da auch i m 18. Jahrhundert nur einige wenige Werke erschienen, die dieses Thema überhaupt behandeln. Auffallend ist -was sicher auch an der Quellenlage liegt,- dass er trotz einiger weniger Daten zur Bevölkerung über relativ wenig neues Material über die weitere kolonialpolitische Entwicklung i m ausgehenden 17. und 18. Jahrhundert verfügt, was neben dem Fehlen aktueller zugänglicher Brasilienbücher auch an der weitgehenden Stagnation der sozialen Entwicklung in den Kolonien liegen mag. Portugal hielt vor allem aktuelles ökonomische Material ohnedies gerne geheim, was die erwähnte Zensur des Buchs von A n t o n i l 1705 zeigt, dessen zahlreiche auf empirischem Material basierenden Angaben für Portugal als eine Gefahr erschienen, da sie Begehrlichkeiten fremder Mächte auf das Land wecken konnten. Trotz der Kompilation mehrerer heterogener Quellen und seiner unsystematischen Darstellungsweise gelang Raynal ein abgerundetes Bild der aufklärerischen Sicht auf das koloniale Brasilien durch geschickte Auswahl der Quellen 36
Vgl. Tietz 1995,265.
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und Hinzufügen eigener Gedanken. Das Bild Portugals, das wegen der Dekadenz und wirtschaftlichen Abwesenheit in der Erstauflage negativ ist, w i r d nicht wesentlich durch weitere kritische Züge in den späteren Auflagen verstärkt 3 7 , ja die Kolonisation Brasiliens durch die Portugiesen erscheint in der Gesamtheit als humaner als die spanische Kolonisation Südamerikas. Selbst die Sklaverei in Brasilien w i r d als weniger menschenfeindlich als in anderen Ländern angesehen. Raynals grundlegende wirtschaftliche Ideen entsprechen zwar in den großen Zügen den Gemeinplätzen ökonomischer Ideen der Aufklärung, etwa die unzutreffende Abnahme der Bevölkerung i m 18. Jahrhundert, die de facto ein langsames Ansteigen aufzeigte, aber seit Montesquieus Esprit des Lois immer wieder als beunruhigende Entwicklung aufgegriffen wurde. Zeittypisch ist i m Gefolge der Physiokraten auch die Hochschätzung der Landwirtschaft i m Vergleich zu dem von Raynal auch wegen des diesbezüglichen Rückstands der Kolonien nur am Rande berücksichtigten Manufakturwesens. Dennoch war Raynals konsequente Anwendung dieser zeittypischen Ideen auf die kolonialzeitliche Gesellschaft neu. Raynal nutzte den Brasilienteil seiner Histoire aber nicht nur dazu, sachliche Informationen über das Land zu geben, sondern arbeitete auch dessen vorhandenes und nach seinem Dafürhalten schlecht genutztes wirtschaftliches Potential gut heraus. Er erkennt dabei klarsichtig das Grundproblem der europäischen Herrschaft über die Kolonialgebiete: die Mutterländer hatten an einer Förderung der Kolonien nur insoweit Interesse, wie dies für den eigenen Machterhalt notwendig war. Die Kolonien trugen erheblich zu den Steuereinnahmen Portugals bei und waren Lieferant von Reichtum wie Gold und Silber, oder in Europa begehrten Rohstoffen wie Kaffee. Aller Handel sollte i m Sinne merkantilistischer Wirtschaftspolitik mit den Mutterländern erfolgen, damit kein anderes Volk an diesem Reichtum durch Verkauf wertvoller Produkte teilhaben würde. Seit Hugo Grotius, 1583-1645 (Mare liberum, Leiden 1609) gab es zwar schon eine Diskussion über den Freihandel, diese blieb aber theoretisch und politisch folgenlos. Die mit dem Merkantilismus einhergehende weitestgehende Abhängigkeit der Kolonien ließ diese in der Tat in ihrer Entwicklung stagnieren, mit den bekannten Spätfolgen bis heute. Die ökonomischen Abhägigkeiten Portugals und indirekt auch seiner Kolonien von Großbritannien seit den Methuen-Vertrag 1703 hat Raynal sehr deutlich erkannt und auch kritisch gesehen. Er versuchte ihre Folgen abzumildern, indem er vorschlug, eine Meistbegünstigung auch anderen Nationen einzuräumen, u m damit die Konkurrenz zu beleben und günstigere Preise zu erhalten. Auch Pombals weit reichende Reformen hat er kritisiert, in der von Pombai gegründeten Handelkompagnie Compania de Gräo-Para e Maranhäo (die übrigens ein Bruder Pombals leitete) sieht er letztlich doch wieder eine Privatisierung und Bevorzugung von Privatleuten und damit i m Grunde ein 7
Tietz 1995, 2 7 .
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Weiterleben der seit der frühen Kolonialzeit bestehenden zahlreichen Wirtschaftsmonopole, auf deren schädliche Wirkung er zu wiederholten Malen verwiesen hat. Für die Frühzeit greift Raynal über den Umweg der bei Prévost kompilierten Quellen und eigener Lektüren auf die üblichen in Frankreich verfügbaren Texte zurück, Lérys berühmtes Tropenholzgespräch mit der moralischen Verurteilung europäischen Gewinnstrebens hat er paraphrasiert, Montaignes »Des cannibales« ist ihm bekannt gewesen. Bei seiner Schilderung der Indianer beschränkt er sich auf einige Klischees der Reiseliteratur, hat insgesamt dem Thema aber keine allzu große Bedeutung zugewiesen. Die Ausbildung einer Mestizenbevölkerung erwähnt er nur am Rande, indem er anregt, diese degenerierte Bevölkerung durch europäische Einwanderer wieder auf Vordermann zu bringen, wobei dies nicht als rassistisches Stereotyp aufzufassen ist, sondern i m Sinne der damals dominanten Lehre von einzelnen Nationalcharakteren und dem sozialpsychologischen Einfluss des Klimas eher als moralische Aufmunterung durch ein mit neuen Siedlern einhergehendes europäisches Arbeitsethos zu verstehen ist. Die kolonialpolitische Funktionalisierung rassischer Gedanken stammt erst aus der Ideologie des Imperialismus i m 19. Jahrhundert. Raynals Forderungen nach Freiheit und Gleichheit bleiben stets allgemein und nicht auf bestimmte Völker und Gruppen eingegrenzt. Sie beziehen den Gedanken einer Unabhängigkeit der Kolonien trotz durchgehender K r i t i k an der Vernachlässigung durch das Mutterland nicht mit ein. Raynal bleibt damit auch im Denken seiner Zeit verhaftet, auch wenn er in einer selten klarsichtigen Weise die jahrhundertealten Fehler und Schwächen europäischer Kolonialpolitik schonungsloser als viele apologetische Zeitgenossen aufgezeigt hat. 3 8 Es verwundert nicht, dass Raynal von Gegnern der Jesuiten zum Kronzeugen erwählt wurde, trotz seiner durchaus ambivalenten Haltung ihnen gegenüber, 39 er hatte 38 Von den ihm allerdings nicht ebenbürtigen Apologeten Spaniens wurde er deshalb auch heftig kritisiert, so von dem Jesuiten Juan N u i x y Perpiña, in seinen Riflessioni sopra l'umanità degli Spagnuoli (Venedig 1780), span. als Reflexiones imparciales sobre la humanidad de los Españoles en las Indias , contra los pretendidos filosofas, y políticos , para ilustrar las historias de MM. Raynal , y Robertson (Madrid 1782, Neuausgabe Cervera 1783). Erwähnenswert auch Juan Artetas, Difesa délia Spagna e délia sua America Meridional (entstanden 1780), zu letzterem Francisco Pérez Mateos, »Una versión inédita de la conquista del Perú«, in: Revista de Indias , Consejo Superior de Investigaciones Cientificas (Instituto Gonzalo Fernández de Oviedo 1944), 389-442. 39 Die französische Ubersetzung des antijesuitischen Reyno jesuítico del Paraguay von dem Exjesuiten Bernardo Ibáñez de Echávarri, erstmals in der antijesuitischen Quellensammlung Coleccion general de documentos , 4 Bde (Madrid 1768-70), hier Bd. 4 (1770), beruft sich i m Titel explizit auf Raynals Buch Histoire du Paraguay sous les Jesuites et de la royauté qu'ils y ont exercée pendant un siecle & demi: ouvrage qui renferme des détails très-intéressans & qui peut servir de suite a l'histoire philosophique & politique des établissemens & du commerce des Européens dans les deux Indes (Amsterdam 1780).
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beispielsweise einige Passagen des Jesuiten Pierre du Jarric i m Brasilienteil direkt paraphrasiert. Bei seiner Beurteilung der Portugiesen scheint Raynal besonders die Ursache für ihre frühere Bedeutung zu Beginn der Kolonialzeit und ihre Dekadenz zum Zeitpunkt seines Schreibens zu suchen. Er sieht diese Ursachen sowohl in wirtschaftspolitischen Fehlern, scheint aber auch sozialpsychologisch motivierte Einflüsse nicht ganz auszuschließen, wie bei den brasilianischen Mestizen. Portugiesische Quellen scheint Raynal nur sporadisch benutzt zu haben, 40 den längeren Auszug aus einer Predigt Vieiras hat er wohl nur deshalb übernommen, weil der Jesuit schon damals als einer der größten Prediger portugiesischer Sprache galt. Weitere portugiesische Quellen hat er w o h l nicht gekannt, viele der frühen Texte zu Brasilien zirkulierten ohnedies nur als unpublizierte Manuskripte und waren ihm sicher nicht verfügbar. 41 Seine K r i t i k an der französischen Revolution hat Raynal w o h l viele Sympathien gekostet und indirekt auch Einfluss auf die spätere Rezeption gehabt. Sein Werk, das neben Bayles Dictionnaire , der Encyclopédie Diderots und D'Alemberts w o h l wichtigste aufklärerische Gemeinschaftswerk des 18. Jahrhunderts, geriet weitestgehend in Vergessenheit und erfuhr erst in den letzten Jahrzehnten eine allerdings mehr literaturwissenschaftlich als wirtschaftshistorisch motivierte Neuentdeckung.
Primärliteratur Jacques Accarias de Serionnes, Les intérêts des nations de l'Europe , dévélopés relativement au commerce , 2 Bde (Leiden 1766). José de Acosta, De procuranda Indorum
salute y hg. Luciano Pereña, Madrid Consejo Su-
perior de Investigaciones científicas, Bd. 1: Pacificación e colonización (Madrid 1984); Bd. 2: Educación e evangelización (Madrid 1987). André (abbé), Lettre à l'Abbé Prévôt, auteur de l'Histoire des Voyages pour servir d'additions aux Relations & autres Pièces concernant les Missions du Paraguay (Paris [ce premier octobre] 1758), s.l, s.n. Joäo Antonio Andreoni (Giovanni Antonio) [Pseudonym André Joäo Antonil], Cultura e opulência do Brasil por suas drogas e minas; com várias noticias curiosas do modo de fazer o açùcar, plantar e beneficiar o tabaco, tirar ouro das minas, e descobrir as da prata; e dos grandes emolumentos que esta conquista da América Meridional dá ao Reino 40 Allerdings kannte er in Übersetzung einige portugiesische Wirtschafttheoretiker, vgl. Gonnard 1948; w o h l weniger die dort angesprochenen missionarischen Texte, ähnlich Tietz 1995, 272. 41 Vgl. anhand eines Vergleichs der Kannibalismusdarstellung die Angaben zur frühen Brasilienliteratur in: Obermeier 2001a.
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de Portugal com estes e outros generös e contratos reais (Lisboa na oficina Deslandesiana 1711); Veröffentlichung eines Teils in: O Fazendeiro do Brasil, por Fr. José Marianno da Conceiçâo Velloso (Lissabon 1798-1806), erste Gesamtausgabe Joäo Antonio A n t o nil, Cultura e Opulência do Brasil por suas drogas e minas (Rio de Janeiro 1837). Juan Artetas, Difesa della Spagna e della sua America Meridional (entstanden 1780), siehe den Artikel von Mateos 1944. John Barrow, Abrégé chronologique ou histoire des découvertes faites par les Européens dans les différentes parties du monde, 12 Bde (Paris [Saillant] 1766). Übersetzung der englischen Originalausgabe »A chronological abridgment or History of the discoveries made by Europeans in the different parts of the world«, in: John Barrow, A collection of authentic , useful , and entertaining
voyages and discoveries , 3 Bde (London [Knox]
1765). Pierre Bayle, Dictionnaire
historique et critique , 4 Bde (Rotterdam [Leers] 1697).
Theodor de Bry [später Johann Theodor de Bry und Matthäus Merian], America, deutsche Version 14 Bde (Frankfurt 1590-1630), lateinische Version 14 Bde (Frankfurt 15901634). Carvalho E. Mello, Sebastiäo José de, Marquis de Pombai (Autor oder Ideengeber) s. Relaçâo, Relazione. Pierre-François-Xavier de Charlevoix, Histoire du Paraguay, 3 Bde (Paris [Desaint u. a.] 1756). Claude d'Abbeville, Histoire de la mission des peres capucins en l'isle de Maragnon et terres circonvoisines
(Paris [ H u b y ] 1614), ed. Alfred Métraux e Jacques Lafarge (Frühe Reisen
und Seefahrten in Originaltexten 4 [Graz 1963]). François Coréal, Voyages aux Indes occidentales (Erstausgabe 1722, nouvelle édition Paris [Amaulry] 1722). Jean Le Rond D'Alembert, »Lettre à M . * * * , conseiller au Parlement de * * * , pour servir de supplément à l'ouvrage précédent, qui lui est dédié, Première lettre, Seconde lettre. Sur l'édit du roi d'Espagne pour l'expulsion des Jésuites. A d d i t i o n qui doit être mise à la fin de la seconde lettre«, in Œuvres , 5 Bde (Paris 1821 -1822), Bd. 2. Die » 3 è m e lettre et dernière« vom 01.01.1776 in den Œuvres et correspondances inédites de d'Alembert, publ. avec introd., notes et appendice [par] Charles Henry (Paris 1887, Reprint Genève 1967), 2 7 - 3 4 . Jean Le Rond D'Alembert [ermittelt], Sur la destruction des jésuites en France , par un auteur désintéressé, s.l, s.n. (1765). Denis Diderot und Jean Le Rond d'Alembert (Hgg.), Encyclopédie, ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers: la première encyclopédie française, lumières du XVIIle
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Franz Obermeier
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Die französischen Aufklärer und Brasilien
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110
Franz Obermeier
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da república , que os religiosos Jesuitas das provincias de Portugal, e
Hespanha, estabeleceraö nos dominios ultramarinos das duas monarchias: e da guerra, que nelles tem movido, e sustentado contra os exercitos Hespanhoes, e Portuguezes, formada pelos registos das secretarias dos dous respectivos principaes commissarios, e plenipotenciarios, e por outros documentos authenticos (Lissabon [s.n.] 1757?) Relazione breve della república , che i religiosi Gesuiti delle provincie di Portogallo, e di Spagna hanno stabilita ne' dominj oltramarini delle due monarchie, e della guerra, che in esse hanno mossa, e sostenuta contro gli eserciti spagnuoli, e portoghesi. Cavata da' registri delle segreterie dei due rispetti vi principali commissarj, e plenopotenziarj, e da altri documenti autentici, e fedelmente tradotta dell' idioma Portughese, in Italiano (Lisbona [i.e. Rome]: [s.n.] 1757). Pierre Joseph André Roubaud, Histoire générale de l'Asie, de VAfrique et de VAmérique, contenent des discours sur l'histoire
ancienne des peuples de ces contrées: leur histoire
moderne etc., par M . L. A . R. [d.i. Pierre Joseph André Roubaud], 12 Bde (Paris [Des Ventes de la Doué] 1770-1775). Jean Jacques Rousseau, [Discours sur les sciences et les arts] Discours qui a remporté le prix a l'Académie
de Dijon
en l'année 1750 sur cette question proposée par la même
Académie: Si le rétablissement des sciences et des arts a contribué a épurer les mœurs (Genève [Babillot] 1751). Jean Jacques Rousseau, Emile ou de l'éducation, 4 Bde (Amsterdam [Néaulme] 1762). André Thevet, Les singularitez
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facsimilé de l'édition de Paris
1558, ed. Pierre Gasnault, introduction de Jean Baudry (Paris 1982). François Marie Arouet Voltaire, Essai sur l'histoire générale et sur les moeurs et l'esprit des nations, depuis Charlemagne jusqu'à nos jours, 17 Bde (Genf [Cramer] 1756). Philipp Zigler, America: das ist, Erfindung und Offenbahrung der Newen Welt, in 30 vornemste Schifffahrten kürztlich und ordentlich zusammen gefasset, [ . . . ] durch Philippum Ziglerum. [ . . . ] in Truck gegeben von Iohan-Theodoro de Bry (Franckfurt am M a y n [Hoffman] 1617).
Die französischen Aufklärer und Brasilien
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Bernard Emont, Les Muses de la Nouvelle France de Marc Lescarbot. Premier recueil de poèmes européens écrits en Amérique du Nord (Paris / Budapest / Torino 2004), 10. 8 Cf. Bref récit et succincte narration de la navigation faite en 1535 et 1536 par le Capitaine Jacques Cartier.
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Dorothea Scholl
qu'à briser le langage pour créer du nouveau en plongeant dans les profondeurs surréalistes de l'inconscient collectif. 9 Par la suite, j'essayerai de dégager dans les écrits de la Nouvelle-France un certain nombre de repères qui ne prétendent pas à être exhaustifs mais qui permettront d'ouvrir quelques voies pour la recherche. La réalité »Faux comme l'or et le diamant du Canada« Ancien proverbe
Face à la réalité, la topologie des rêves s'avère utopique. Les nombreuses »invasions« - par les Amérindiens, par les Anglais, les Hollandais et d'autres détruisent le rêve de l'autonomie et de la création illimitée. L'espace, au lieu de s'ouvrir toujours de nouveau avec de perspectives toujours plus merveilleuses, se restreint de plus en plus. Le rêve devient un mythe. L'Acadie, que Verrazano avait nommée euphémiquement »Arcadia«, 10 n'a rien à faire avec le mythe helléniste d'un paradis pastoral. L'or et les diamants du Canada sont de faux brillants. Marc Lescarbot démythifie le rêve impérialiste de l'exploitation des mines d'or: La plus belle mine que je sçache c'est du blé & du vin, avec la nourriture du bestial. Q u i a de ceci il a de l'argent. Et de mines nous n'en vivons point, quant à leur substance. Et tel bien-souvent a belle mine qui n'a pas bon jeu. 1 1
La première expérience des voyageurs en Nouvelle-France est celle d'une altérité radicale: altérité du climat, du paysage, de l'espace, des animaux sauvages, des hommes aux moeurs étranges et inquiétantes. Par conséquent, la page écrite dans la nostalgie du paradis perdu et retrouvé doit être sans cesse revue et corrigée, et cette révision demande à être expliquée devant un public dont l'horizon d'attente est marqué par la topologie des rêves. Le mythe du bon sauvage mis en scène par le baron de Lahontan 1 2 est revu et corrigé par Claude Lebeau, voyageur à contrecoeur dont le désir est de retourner en France. 13 9
Cf. Claude Gauvreau, Étal mixte et autres poèmes (Montréal 1993), 217-233.
10
Cf. Giovanni Da Verrazano, »Le Voyage de Giovanni Da Verrazano à la >Francesca< (1524)«, dans Jacques Cartier, Voyages au Canada: avec les relations des voyages en América de Gonneville, Verrazano et Roberval, éd. Charles-André Julien, R. Herval, Th. Beauchêne, introduction par Charles-André Julien, La découverte 35 (Paris 1989), 7 1 106, ici 8 2 - 8 5 . 11
Lescarbot, Histoire de la Nouvelle-France,
s.p. [Livre I, chap. II].
12
Cf. Louis Armand de L o m d'Arce de Lahontan, Œuvres complètes [1703], éd. crit. Réal Ouellet et Alain Beaulieu, 2 tomes (Montréal 1990). 13 Cf. Claude Lebeau, Avantures du S? Le Beau, avocat en parlement, ou Voyage curieux & nouveau, Parmi les Sauvages de VAmérique Septentrionale. Dans lequel On trou-
D'une topologie des rêves à une typologie des écrits
119
C o m m e n t c o n c i l i e r la t o p o l o g i e des rêves avec la réalité rencontrée? L o r s q u e Jacques C a r t i e r se v o i t le 12 j u i n 1534 au L a b r a d o r c o n f r o n t é à u n paysage r o c h e u x et effrayant avec des bêtes et u n e p o p u l a t i o n n o n m o i n s i n q u i é t a n t e s , i l essaye d ' i n t é g r e r l ' i n c o n n u dans le c o n n u et l ' a n c i e n dans le m o d e r n e en m o d e l a n t s o n récit s e l o n le t o p o s littéraire d u locus horribilis
et en i n t e r p r é t a n t
ce p h é n o m è n e à la l u m i è r e de la b i b l e : Enfin, j'estime plutôt que c'est la terre que Dieu donna à Caïn. I l y a des gens sur ladite terre, qui sont d'assez belle corpulence, mais ils sont gens effarouchés et sauvages. Ils ont les cheveux liés sur leurs têtes, à la façon d'une poignée de foin tressé, et un clou passé dedans, ou autre chose; et ils y lient quelques plumes d'oiseaux. Ils se vêtent de peaux de bêtes, tant hommes que femmes [ . . . ] . 1 4 L a »terre que D i e u d o n n a à C a ï n « avec ses h a b i t a n t s farouches est le c o n t r a i r e d u Paradis, elle est l ' a n t i t h è s e d ' u n locus amoenus.
D a n s b e a u c o u p de récits,
le rêve d u paradis f o r m e l ' a r r i è r e - f o n d des d e s c r i p t i o n s . Selon le jésuite Pierre B i a r d » t o u t e ceste r é g i o n [ l ' A c a d i e ] , q u o y q u e capable de mesme félicité q u e n o u s , t o u t e f o i s , p a r m a l i c e de Satan q u i y règne, n'est q u ' u n h o r r i b l e d é s e r t « , 1 5 u n désert q u ' i l faut c o n q u é r i r à D i e u p o u r le changer en p a r a d i s . 1 6 D a n s ce t y p e de récit, la N o u v e l l e - F r a n c e est représentée c o m m e d é m o n i a q u e . A v a n t de christianiser la p o p u l a t i o n , o n c o m m e n c e p a r c o n v e r t i r et baptiser les l i e u x . Peu à p e u , la terre vierge d u rêve sera m a r q u é e p a r des s y m b o l e s et des n o m s de saints et de m a r t y r s tels q u e S a i n t - L a u r e n t , Saint-Jean, Sainte C a t h e rine, s u i v a n t le calendrier c h r é t i e n . 1 7 L e texte, d o n t la page b l a n c h e d o i t être vera une description du Canada, avec une Relation très particulière des anciennes Coutumes, Mœurs & Façons de vivre des Barbares qui l'habitent & de la maniéré dont ils se comportent aujourd'hui (Amsterdam [Chez Herman Uytwerf] 1738). 14
Cartier, Voyages au Canada, 122.
15
Cit. dans LeBlanc, Écrits de la Nouvelle France, 38.
16
»Où est-ce que la gloire d'un chrestien le peut eslever plus heureusement que où elle apporteroit la félicité corporelle tout ensemble et la spirituelle à ses consorts et où, comme grand outil de Dieu, il feroit d'un désert un paradis, où il dompteroit les monstres infernaux et introduiroit la police et la milice du ciel en terre, où les générations et générations, à milliers et jusques aux derniers siècles, béniroyent son nom et mémoire sans cesse et le ciel mesme, qui se peupleroit de ses bienfaits, se resjoyroit des grâces et bénédictions versées dessus luy? / O r c'est, amy lecteur, l'ardent désir de voir ceste N o u velle-France, que je dy, conquise à Nostre-Seigneur qui m'a fait prendre la plume en main pour vous dépeindre brievfement et en toute vérité ce que j'ay recogneu de ses contrées«, ibid. 17 »Et ce jour-là i l fit brumes et mauvais temps, et nous ne pûmes approcher de ladite terre; et comme c'était le jour de monseigneur Saint Jean, nous le nommâmes le cap SaintJean.« Cartier, Voyages au Canada, 126. Sur le mythe du baptême en Nouvelle-France cf. Dorothea Scholl, »Le baptême du >bon sauvage»Ces trois diables< [ . . . ] n'étaient que des prêtres devins, portant le costume de leurs fonctions. [ . . . ] « Assiniwi, Deux siècles de civilisation blanche, 52. 32 33
Cartier, Voyages au Canada, 188-189.
Voir à ce propos L u d w i g Schräder, »Kolumbus. Seine Vorbereiter - Seine Fahrten Seine Berichte«, dans Peter Wunderli (éd.), Reisen in reale und mythische Ferne. Reiseliteratur in Mittelalter und Renaissance, Studia humaniora 22 (Düsseldorf 1993), 232-254, ici 246.
126
Dorothea Scholl
paysages et leur population peut être révélateur à ce propos. Ce regard peut exprimer une curiosité scientifique ou humaine, mais il peut révéler aussi la convoitise et le désir de dominer. Dans ce cas, il »présuppose une vision marchande de la société«. 34 Lorsque Jacques Cartier découvre en juillet 1534 dans la »Baie de Chaleurs« une population paisible dans un paysage agréable, il décrit les fruits, les herbes et les bêtes dont on pourrait tirer profit et, après avoir raconté comment il a dépouillé cette population accueillante et généreuse de ses richesses modestes, il conclut »que les gens seraient faciles à convertir à notre sainte foi«, 3 5 comme si la conquête matérielle impliquait une conquête spirituelle. De même au niveau de l'échange des objets, la distinction entre marchandise et objets de dévotion n'est pas claire. 36 O n offre à la population autochtone des couteaux, des patenôtres, des peignes, et, comme l'affirme Jacques Cartier, »aultres besongnes de peu de valleur« 3 7 pour captiver leur bienveillance et pour obtenir en échange des pelleteries. Encore au X X e siècle, Yves Thériault, chargé des affaires indiennes, constate que ce rapport d'échange inégal n'a pas vraiment changé: Comme autrefois ils offrent des verroteries, des pacotilles contre les pelleteries, aujourd'hui ils offrent à mes gens les néons, les rues pavées et les costumes de terylène. / Et le malheur c'est que mes gens ne reconnaissent pas la folie de ces marchés de dupes. 38
Le rapport à l'Autre est déséquilibré par le désir de le dominer. Comment civiliser et apprivoiser ces »gens effroyables« qui semblent appartenir à l'ordre de la nature des bêtes sauvages, se demandent certains auteurs des écrits de la Nouvelle-France. Comment les convertir à la religion chrétienne? Comment les adoucir pour entrer en commerce avec eux et les rendre gouvernables?
34
Krysinski, »Vers une typologie des récits de voyages«, 296.
35
Cartier, Voyages au Canada, 142-143.
36
Cf. Laurier Turgeon, »Échange d'objets et conquête de l'Autre en Nouvelle-France au X V I e siècle«, dans Laurier Turgeon, Denis Delâge et Réal Ouellet (éds.), Transferts culturels et métissages - Amérique/Europe - XVI e-XX e siècle/ Cultural Transfer, America and Europe: 500 Years of Interculturation, Les Presses de l'Université de Laval (Paris 1996), 154-168. 37 Dans la version modernisée des textes, le terme de patenôtre a été remplacé par celui de verroterie: »Nous leur donnâmes des couteaux, de la verroterie, des peignes, et autres objets de peu de valeur; ce pour quoi ils faisaient plusieurs signes de joie, levant les mains au ciel, en chantant et dansant dans leurs barques. Ces gens-là se peuvent appeler sauvages, car ce sont les plus pauvres gens qui puissent être au monde; car tous ensemble ils n'avaient pas la valeur de cinq sous, leurs barques et leurs filets de pêche exceptés. Ils sont tous nus, sauf une petite peau, dont ils couvrent leur nature, et quelques vieilles peaux de bêtes qu'ils jettent sur eux de travers.« Cartier, Voyages au Canada, 145. 38
Yves Thériault, Ashini [1960] (Montréal / Ottawa 1961), 143.
D'une topologie des rêves à une typologie des écrits
127
La représentation de l'Autre Dans les écrits de la Nouvelle-France, ces questions sont toujours présentes, et une des perspectives qui peut orienter l'analyse de ces écrits est d'ordre imagologique: c'est la question de la représentation de l'Autre. Cette représentation est fortement influencée par des fantasmes transmis d'un texte à l'autre et découle souvent d'un savoir topique voire mythique sur l'altérité, c'est-à-dire, l'horizon d'attente peut modeler le récit de manière que la représentation de l'Autre soit conforme à une image préexistante. Le mythe du »bon Sauvage« peut mener à un annoblissement de l'Autre, tandis que le mythe du »mauvais Sauvage« peut conduire à la dégradation de l'Autre. C'est parfois par opposition manichéiste que l'Autre est caractérisé, analysé, interprété. »Ils sont larrons à merveille, de tout ce qu'ils peuvent dérober«, 39 écrit Jacques Cartier, sans s'avouer les nombreux mensonges et ruses dont il use lui-même à leur égard. Le but sanctifie les moyens. Tel un bouc émissaire, on charge l'Autre de tous les défauts qu'on voudrait exclure de la parfaite image de soi-même. Même l'assurance souvent répétée de l'amitié entre Amérindiens et Français peut cacher des motifs utilitaires, et la réciprocité dans l'échange des hommes et des objets ou dans l'union avec les Hurôns et les Algonquins pendant la guerre contre les Iroquois révèle une méfiance viscérale entre les deux partis associés.40 Une analyse éthique qui tiendrait compte des comportements des deux côtés peut prétendre à une certaine objectivité à condition qu'elle souligne le fait que les textes sont toujours écrits dans la perspective française. Toutefois, même à travers cette perspective unilatérale, la qualité de la réciprocité peut être évaluée. En suivant à travers les écrits de la Nouvelle-France la symbolique des gestes et des comportements, on constate que les vertus comme l'hospitalité, la bienveillance et la générosité se dégradent au fur et à mesure que la méfiance et la recherche du profit s'introduisent dans les relations et aboutissent peu à peu à la violence réciproque. Le rêve se transforme en cauchemar. A u savoir topique, issu du rêve, de l'imaginaire et des mythes, s'oppose le savoir qui vient de l'expérience. 41 En étudiant le fonctionnement de la corréla-
39
Cartier, Voyages au Canada , 147.
40
Cf. Samuel de Champlain, Voyages en Nouvelle-France. Explorations de l'Acadie, de la vallée du Saint-Laurent, rencontres avec les autochtones et la fondation de Québec (1604-1611). Texte établi et présenté Eric Thierry (Paris 2001), cf. p. ex. 179-180; 183194; 220-226. 41 Cette distinction a été introduite par Peter Wunderli, »Marco Polo und der Ferne Osten. Zwischen >Wahrheit< und >DichtungRitters v o n der t r a u r i g e n G e s t a l t < 4 8 u n d sein Begleiter, der Besenröder, L e i n w a n d h ä n d l e r u n d F e u e r w e h r h a u p t m a n n A u g u s t M o n i c h als Sancho Panza des deutschen D o n Q u i c h o t e K o r t ü m «
50
4 9
angesehen. G e n a u s o i n t e r p r e t i e r t e n
a u c h die ins E x i l a u s g e w i c h e n e n L i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t l e r
diesen
Roman.51
K l u g e w i r d i m D r i t t e n Reich v o n den Schrifttumsbetrachtern w i e v o n einigen
4 5 ;: "1886 in Leipzig, Hilfslehrer, Studium an den Akademien in Dresden und Leipzig, Verwundung im I. Weltkrieg, Erzgießerei in Leipzig, Berufung an die Hochschule für bildende Kunst in Berlin als ao. Professor für Erzguss und Plastik. Zahlreiche öffentliche und private Plastiken, Denkmäler u. ä., Restaurierungen berühmter Erzgussdenkmäler wie der Quadriga oder des Reiterstandbilds Friedrichs des Großen. Neben wissenschaftlichen Veröffentlichungen {Die antiken Großbronzen, 3 Bde in Verbindung mit Karl Lehmann-Hartleben, Berlin 1927) ab 1933 Bühnenstücke, Hörspiele, Bearbeitungen von Filmdrehbüchern, Gedichte, Erzählungen und Romane. Hauptwerke neben den i m Text erwähnten: Der Glockengießer Christoph Mahr (Roman; Stuttgart 1934), Die gefälschte Göttin (Erzählung; Stuttgart 1936), Die Zaubergeige (Roman; Stuttgart 1940), Grevasalvas - Die Geschichte eines entfachten Menschen (Stuttgart 1942). Kluge stirbt 1940 auf einer Autorenfahrt an die damalige Westfront an Herzversagen. Beisetzung in Berlin-Nikolassee. Nachlass in der Staatsbibliothek Berlin und i m Heimatmuseum Berlin-Zehlendorf. 46 Vgl. Rainer Drewes, Die Ambivalenz nichtfaschistischer Literatur im Dritten Reich am Beispiel Kurt Kluges (Frankfurt am Main / Bern / N e w York/Paris 1991), 170 ff. 47 K u r t Kluge, Wie Don Pedro zu seinem Hause kam, Des Bücherfreundes Fahrten ins Blaue, Heft 29 (Berlin 1939). 48 Elisabeth Witsch, »Der Herr K o r t ü m oder die menschliche Komödie in Deutsch«, Die Bücherei 6 - 8 (1942), 97 - 1 1 1 , hier 99. 49
Kluge und Wulfertange bevorzugen die Schreibweise >Panzaanderen< Richtfest trägt Konstanze in dem Freundeskreis die Quichotennovelle von Klaus Schart vor. Pedro, ein Diener des sterbenden Don, überbringt dem alten Knappen Sancho einen Brief seines ehemaligen Herrn. Sancho ist unterdessen Lehnsherr auf der Insel Reichenau i m Bodensee 55 geworden und hat somit sein Ziel, eine Insel zu besitzen, erreicht. Nach langem, mühesamen Ritt trifft Pedro auf Pansa. 52
Vgl. z. B. die sog. »Alcazar-Affäre« von 1936, in der man Kluge ungerechtfertigterweise vorwarf, wenige Wochen nach dem siegreichen Entsatz der Festung Alcazar / Toledo durch die Franco-Nationalisten als »Konjunkturschreiber« mit einem das Thema behandelnden Manuskript vor den Theater- und Filmtüren zu stehen. Rainer Drewes, Die Ambivalenz nichtfaschistisch er Literatur, 161 ff. 53
Dichtung der jungen Mannschaft, 13.
54
Brief von K . Kluge zit. nach Alfred Götze, »Zu K . K. Roman „ D e r Herr Kortüm". M i t 2 unveröffentl. Briefen Kluges«, Neue Literarische Welt 2 (1952), 8. A u c h in: Wilhelm Helmich, Wege zur Prosadichtung des 20. Jahrhunderts (Braunschweig 1960), 53. Die folgenden Textzitate nach der Erstausgabe des Herrn Kortüm (Stuttgart 1938), 319 — 338. 55 Sicherlich hat Kluge die Klosterinsel Reichenau mit Bedacht ausgewählt, galt sie doch i m Mittelalter als Zentrum der Rettung antiker und arabischer Autoren, die die Mönche kopierten. A u f der nahegelegenen Ufenau i m Zürichsee fand Ulrich von Hutten 1523 den Tod.
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Der Brief lautete so: >Graf Panza zu Reichenau! M e i n alter Sancho! Gute Nacht. U n d diese Nacht, die ich D i r heute wünsche, ist keine Vermutung, sondern die kommt diesmal aus mir selber. Richten w i r uns denn i m Sattel hoch und reiten. Die Holzfeuer in der Mancha freilich hätte ich gerne noch einmal gerochen, wenn dieser Wunsch einem Ritter ziemte, der aus Beruf in der Irre zu reiten hat. Aber ich schreibe hier um Deinetwillen. [ . . . ] Bleibe für Dich, aber sieh nach Deinen Gehilfen. Frage sie nicht, sieh selber nach. Sancho, sitze beim Arbeiten nicht auf einem Polster. Steh auf aus Deinem Stuhl! Gehe heraus aus Deinem Kabinett. [ . . . ] Ziehe einen billigen Rock an, gehe zu Fuß auf die Straße, henkle die Leute ein und rede auf D u mit ihnen. Bitte den Verzweifelten u m ein Stück Speck, frage den Verurteilten nach seinem Vorgesetzten, die jungen Mütter nach der Milch, den Stotterer nach der Wahrheit, den Pfaffen nach des Pharisäers Ende und sieh scharf zu, warum die Diebe bei D i r stehlen müssen. Erstatte mir Bericht über Deine Insel, aber gib mir nicht etwa die A n t w o r t Deiner Gehilfen. Ach, deiner Selbstsicht misstraue ich bis ans Ende, denn D u bist faul, Sancho. Ich habe D i r oft gesagt, daß D u nur ein Schafskopf gegen mich bist, früh nicht aufstehst und nachts nicht arbeitest. Dennoch bist D u ein Lehnsherr, ich aber, von dessen Hauch D u lebst, habe nichts gewonnen mein Lebtag. Aber ich habe D i c h lieb, Sancho, seit jenem Nachmittag beim Herzog, an dem D u mir gestandest, D u wolltest lieber als Sancho in den H i m m e l denn als Lehnsherr zur Hölle fahren. Bleibe dabei. Dann w i r d es auf deiner Insel trotz Deiner Torheit schon gehen. Ich bleibe an jedem O r t i m Reiche Gottes dein D i r wohlgeneigter D o n Quichote von der Mancha.< (328)
Sancho macht sich umgehend auf, wenn auch in seiner Sänfte und in Begleitung eines Schreibers und seiner Entourage, und spricht mit einigen seiner Untertanen. Das Schreien eines Säuglings veranlasst ihn, anzuhalten und eine ältere Frau zu fragen: »Wo ist die Mutter des Kindes?«, fragte der Lehnsherr. »Sie liegt krank nebenan.« »Warum sorgst du nicht besser für das Wurm, dass es in der Nacht jammert zum Erbarmen?«, herrschte Sancho die erschrockene Frau an. »Es liegt warm und hat die M i l c h gehabt«, stammelte die Alte und starrte die Fackeln und Hellebarden an. »Warum schreit es Weib?« »Herr, ein Kindlein muß schreien. Es w i r d davon stark auf der Brust.« »Schreibe!«, sagte Sancho zu seinem Schreiber, und ein Fackelträger hielt das flackernde Licht näher. »Zum ersten: I n meinem Reiche sind die Kindlein satt und haben es warm. Damit sie jedoch stark werden, müssen sie vor Jammer schreien!« (330)
I n dem Tun aller, die Sancho befragt, verbindet sich momentanes Wohlbefinden mit der Angst u m zukünftige N o t . Sechstens, das ist in Summa: Uberall in meinem Reiche fand ich Menschen in Angst, obwohl sie eben gegessen hatten. Es geht allen erträglich und alle schreien Zeter. N u r zwei fand ich bei Wohlsein und obendrein glücklich. Aber deren Taten liefen daraus hinaus, dass der Jammer in meinem Reiche nie aufhört, sondern immer von vorne beginnt. (336)
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Sancho verspricht dem Pedro - daraus leitet sich der Titel der Erzählung her Haus und Hof, wenn er möglichst schnell zurückreitet und A n t w o r t von Quichote bringt. Pedro findet nur noch den Grabstein, auf dem steht: D o n Quichote liegt hier. Fremd und irrend zu sich Ritt er rings durch das Land, Landend ewig bei sich. (335)
Da naht ein neuer Ritter, der D o n Quichote ähnlich sieht: Ulrich von Hutten. Er gibt Pedro die ersehnte Antwort: W i r lassen dem Lehnsherr auf der Insel sagen: Vollsein macht schwer, Zufriedenheit traurig, und der lange Frieden verstopft Euch den Darm. Aber die Ritter von der traurigen Gestalt reiten noch, einer nach dem andern, in jedem Jahrhundert. Die wenden den deutschen Magen um und machen Euch leer und tüchtig. [ . . . ] Reite, Bursch, und bestelle: Was jammert, sei nur die Todesangst in allem Wohlbefinden. (336)
Schließlich trifft Pedro wieder auf der Reichenau ein. Sancho liegt i m Sterben, aber er hört noch die Botschaft des Ritters: »Daß er wiederkommen werde und immer wieder und die Todesangst aus allem Wohlbefinden dieser Welt schon heraustreiben wolle.« (336) Für Kluge gab es diese Reihe von »ewigen«, aber untypischen Deutschen, die sich in der mittelmäßig-bürgerlichen Existenz nicht einfinden konnten: Wolfram von Eschenbach, Hutten, Luther, Bach, Goethe, Keller, Raabe und schließlich seine literarische Figur des Kortüm. Sie sind diese D o n Quichotes, die sich in ihrer Lebensfreude und in ihrem so vollkommenen Mangel an Selbstmitleid so grundsätzlich von anderen »epischen Bildern des Deutschen« 56 in der Literatur jener Jahre abheben. Des weiteren spielt i m Kortüm die Maske, die Welt der »Maskenträger« und die der »Maskenmacher«, eine bedeutende Rolle. Die Einwohner des thüringischen Dorfes, über dem der Gasthof des Herrn K o r t ü m thront, sind Handwerker, die ihre kärgliche Existenz aus der Verfertigung von Pappmasken ziehen. Kortüms Gäste sind auch meist Maskenträger, Schauspieler, Dichter, die u m das individuell-tragische Moment der Verhüllung wissen. »Wir sind keine richtigen Menschen. Wir sehen sie zu genau und durch und durch, u m noch harmlos dasselbe sein zu können.« 5 7 O b auch K o r t ü m zu diesen Maskenträgern zählt, lässt Kluge offen. Aber dass er durchaus das spielerische Element der Verstellung beherrscht, w i r d in der Episode mit dem Freudenmädchen K i t t y gezeigt: »Es war ihm ein Genuß, 56
Vgl. Hans Richter, Romane des Deutschen, der in diesem Zusammenhang an Hermann Burte, »Wiltfeber« (1912), E r w i n Guido Kolbenheyer, Paracelsus (1917-1925) oder an den Hans Friebott in Hans Grimm, Volk ohne Raum (1926) erinnert, 4 7 - 6 1 , hier 48. 57
Kortüm, 43.
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der Welt, die fortdauernd Böses log, einmal das Gute vorzulügen.« 5 8 Kluge hat sich selbst mehrfach über die Figur seines »Kortüms« geäußert und lässt so wichtige Rückschlüsse zu, wie er die Figur des Quichote versteht: »Herr K o r t ü m herrscht auf dem Schottenhaus. Da er nichts hat, doch w o h l aus dem, was er ist. Seine Menschenbeherrschung ruht in seiner Selbstsicherheit. I n seinem Anderssein. Wenn Sie wollen: Einzigsein.« 59 U n d weiter: Er »übt die wunderbare Kunst, seine Welt in Bewegung zu bringen und fruchtbar zu machen in Lachen und Weinen[... ] ein Gleichnis des schöpferischen Menschen, der nur hindurchgeht durchs Leben: lebenschaffend - ohne genießend besitzen zu können, was er schuf.« 60 Kluge stellt sich die hypothetische Frage, was wäre, wenn K o r t ü m als e p i sches Bild des Deutschen< sich selbst begegnen würde, »wenn der Deutsche dem Deutschen begegnet, wenn Herr K o r t ü m sich selber trifft, das Einzigsein nicht mehr ist [ . . . ] « und fährt fort: »Wenn Herr Cervantes den Quichote den Quichote hätte treffen lassen, wäre den Deutschen viel Mühe gespart, aber vielleicht kommt das bloß in Deutschland vor [ . . . ] « 6 1 W i r d sich diese Selbstbegegnung zum Segen oder zum Fluch auswirken weitsichtige Gedanken in jenen Kriegs jähren, die von der herrschenden Schrifttumsbetrachtung ganz anders verstanden werden mochten. Eine mögliche A n t wort gibt der Roman von Rudolf Wulfertange, eine gelungene Fortsetzung des Originals, aber auch eine gewisse Fortführung des Kortümbuches, in dem der Held nach Bankrott und Tod spurlos, doch nicht ganz ohne Spuren zu hinterlassen, in den Weiten der Welt entschwindet.
Rudolf Wulfertange 62 Wulfertange, eine Doppelbegabung wie Kluge, veröffentlicht 1939 einen Roman mit dem eigenartigen Titel Don Quichote reitet nach Deutschland. 63 Wenn 58
Kortüm,, 207.
59
Brief an Paul Fechter v. 2.12.1934, in: Kurt Kluge, Ewiger Brunnen. Eine Brief Auswahl (Stuttgart 1952), 126. 60
N o t i z vom 25. 7. 1938, ebd., 149.
61
Brief an Fechter, ebd.
62
*1884 in Osnabrück, A b i t u r und Ausbildung zum Bildhauer beim Vater, Studium an den Akademien in Berlin und Düsseldorf. Als freischaffender Künstler daselbst. Zahlreiche Büsten und Reliefs. Nach der Heirat in U n k e l / R h e i n wohnhaft. A b 1934 Beginn einer schriftstellerischen Laufbahn. Weitere Hauptwerke: Schrappenpüster - Jugendstreiche und Gestalten (Berlin 1935), Nono - Sonnenwende einer Liebe (Novelle; Berlin o.J. 1938), Die Geburt des Pegasus (Erzählung; Ratingen 1941), Die Geburt der Schwiegermutter (Roman; Ratingen 1943). Wulfertange stirbt 1974 in Unkel. Nachlass mit zahlreichen unveröffentlichten Texten i m Stadtarchiv Unkel.
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Rainer Drewes
dieser für uns heutige Leser durchaus Assoziationen mit den damaligen Zuständen hervorrufen kann - ein Narr reitet 1939 nach Deutschland - hat dieses ihn nötig? so ist das Buch weitgehend unpolitisch gehalten und nur >zwischen den Zeilen< finden sich gelegentlich nichtkonforme Töne. Bei Wulfertange stirbt D o n Quichote nicht wie im Original friedlich und »geheilt«, sondern bricht mit Sancho Panza und Rosinante zu der bei Cervantes ja anvisierten dritten großen Ausfahrt auf, in ein exotisch fernes Nebelland, dem Emsland. Dort, so hatte D o n Quichote »in dem geheimnisvollen Ritterbuch« gelesen, muss man »den grauen Strom in einer Nacht bei Vollmond überqueren« (89). Dahinter verbirgt sich das Mysterium, w o »die Sonne da hinten aus Urschlamm geboren wird.« (58 f.) D o n Quichote unternimmt seinen mühseligen Ritt »zur Klärung des Sonnengeheimnisses« (95 f.), u m als »Sonnenstürmer« (62) in den Pantheon der Unsterblichen Spaniens zu gelangen und sich dann »Don Quichote de la Aurora« nennen zu können. A u f dieser Reise w i r d der Ritter durch die Begegnung mit Menschen und Landschaft von einem Narr zu einem Weisen oder u m Wulfertange zu zitieren: »Wer sich nicht wandeln kann, verfault bei lebendigem Leibe.« 6 4 Er vollendet so die Sentenz der Grabinschrift des Samson Carrasco für D o n Quichote, die wie folgt endet: »Daß er, Narr i m Menschenkreise, Als ein Weiser ist verschieden.« 65 Aber diese Wandlung des Ritters ist es nicht allein, die Wulfertange mit der Figur verbindet. Das Spielerische seiner Maske hat denn auch der alternde D o n erkannt, wenn er nach einem missglückten Abenteuer zu der Erkenntnis gelangt, dass »ein großer Komödiant [ . . . ] einen Ritter spielen darf, niemals ein großer Ritter einen Komödianten.« 6 6 Etwas von dieser Einstellung w i r d i m folgenden Auszug deutlich, wenn Quichote über seine Mission sinniert: Er hatte Spanien verlassen, w o ihn kein Mensch mehr verstand, außer dem großen A r z t und Gelehrten Manuel Herrero y Oyarzun, und der war kurz vor seiner Abreise gestorben. Alle übrigen hatten ihn nur verspottet, hatten gelacht und gewitzelt über seinen neuen, beispiellos kühnen und gefährlichen Plan; ja, seine sogenannten Freunde hatten ihn hinter Schloß und Riegel setzen wollen! Er war ihnen zuvorgekommen, war heimlich in dunkler Nacht zu seiner Sendung aufgebrochen - U n d diese hohe Sendung, sie forderte nicht nur eine völlig neue Einstellung, sie forderte nicht nur eine innere, sondern auch eine äußere Wandlung von Grund auf!! 6 7 63 I m folgenden zit. nach R. Wulfertange, Don Quichote reitet nach Deutschland, Roman (Berlin 1939). Dazu Rainer Drewes, »Schrappenpüster und D o n Quichote: Rudolf Wulfertange - ein Schriftsteller aus Osnabrück«, Heimat-]ahrbuch Osnabrücker Land (Osnabrück 2004), 232-239. 64
Wulfertange, Don Quichote, 235.
65
Don Quichote de la Mancha y übers. A n t o n M . Rothbauer (Stuttgart 1964), 1312.
66
Wulfertange, Don Quichote, 233.
67
Wulfertange, Don Quichote, 215.
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Für die zeitgenössische Rezeption wohnte dem Buch von Wulfertange durchaus etwas Zeitgemäßes inne. Sein D o n Quichote w i r d anders als das literarische Vorbild »mehr zum Sucher der Tat, als zu ihrem Narren« gesehen und als Abenteurer und Entdecker, der »der Menschheit neue Wege« weise. 68
Ehm Welk 6 9 Ehm Welk (1884-1966) wurde in der ehemaligen D D R geschätzt und geehrt. I m Gegensatz zu den anderen drei Autoren ist er noch nicht vergessen. Zwei Literaturmuseen in Angermünde und Bad Doberan beschäftigen sich mit Dichter und Werk. Ehm Welk, eigentlich Thomas Trimm, musste 1934 für einige Zeit ins K Z Oranienburg, weil er in der Zeitung Grüne Post einen kritischen Leitartikel gegen Goebbels verfasst hatte (»Herr Reichsminister, ein Wort bitte!«). I n seinem umfangreichen Roman Der hohe Befehl erzählt die Romanfigur Werner Voß, i m bürgerlichen Leben Staatsanwalt, von seinen Erlebnissen und Erfahrungen in der russischen Kriegsgefangenschaft von 1914 bis 1920 70 , »ungeschminkt, aber ohne Ressentiment«. 71 Der Held entwickelt sich in diesen Jahren zu einem »unfreiwilligen Clown« (50), zu einem »grausigen Spaßmacher«, einem »Narren der Vernunft« (129), u m seinen Mitgefangenen die Lebensfreude zu erhalten. Welk hat die Kriegsgefangenschaft nicht selbst erlebt, wie bisweilen behauptet wird. Er war 1915 Soldat in Mazedonien in einer Sanitätskompanie und wurde 1917 aus Krankheitsgründen entlassen. Ein Freund erzählte ihm von seiner sechsjährigen Gefangenschaft in Sibirien. Insofern geht dieser Roman weit über einen authentischen Erlebnisbericht hinaus. Welk versteht sein Werk nicht als »Kriegsbuch«, sondern als ein Buch »des siegreichen Lebens, der heiteren Gelassenheit auch i m Leid.« 7 2 68 O t t o Hermann, »Verwandelter D o n Quichote«, Deutsche Allgemeine 10. 12. 1939.
Zeitung vom
69 "'1884 in Biesenbrow/Uckermark. Ausbildung zum Kaufmann, von 1904 bis 1922 Redakteur bzw. Chefredakteur an verschiedenen Zeitungen; 1927 bis 1934 Journalist bei der Grünen Post des Ullstein Verlages; 1934 wegen eines Artikels kurzfristig i m K Z Sachsenhausen; 1945 Eintritt in die K P D ; Ubersiedlung nach Mecklenburg-Vorpommern, Leitung der Volkshochschule Schwerin. Zuletzt in Bad Doberan, w o er 1966 stirbt. Dramatiker, Erzähler. Weitere Hauptwerke: Die Heiden von Kumerow (Roman; Berlin 1937), Die Lehensuhr des Gottlieb Grambauer (Roman; Berlin 1938), Die Gerechten von Kumerow (Roman; Berlin 1943), Im Morgennebel (Roman; Berlin / D D R 1953). Welk stirbt 1966 in Bad Doberan. Gedenkstätten in Angermünde und Bad Doberan. 70
I m Folgenden zit. nach Ehm Welk, Der hohe Befehl Opfergang und Bekenntnis des Werner Voß (Berlin 1939). 71 Walter Grossmann, »Die Kummerow Romane von Ehm Welk«, The German Quarterley, Vol. 30, N o . 1 (Jan. 1957), 3 7 - 4 4 , hier 37.
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N u r daß hier ein ungeheuerliches Spiel versucht werden sollte: die Vernunft zu zwingen, als Sohn einen Narren zu gebären und ihn zu den verdunkelten Menschen mit der Mission zu schicken, sie zu erhellen, damit sie den drohenden Tod gewahren und ihm ausweichen. Ein in sich unvernünftiger Auftrag und ein größenwahnsinniger Entschluß dazu, weil übersehen wurde, dass dies alles unnatürlich ist, und dass auch der Tod zu lachen vermag: über das Leben, und am meisten über den unsterblichen Witz seines Wesens, über das Sterben. U n d daß er über dieses künstliche Narrentum, soweit ich es verkörperte, wahrscheinlich nur grinsen würde [ . . . ] • (60)
Diese ihm fast schon metaphysisch aufgetragene Mission, der »hohe Befehl«, hilft nach zahllosen Strapazen die Kameraden, soweit sie überleben, nach Hause zurückzuführen. Sie endet aber für Voß tragisch, weil er auf der Heimfahrt stirbt. Diese Tragik durchzieht den gesamten Roman, denn der Held schlüpft bewusst und am Anfang durchaus widerwillig in die ihm zugewiesene Rolle zwischen »Einfalt und Narrheit« (258). Einmal veranstalten Voß und seine Mitstreiter ein Theaterstück mit dem Titel Don Quichote und Sancho Pansa im Weltkrieg. Voß mimt den Knappen: Ich hatte des öfteren gute Clowns gesehen und mir die Wirkung gemerkt, die sie i m langsamen, verzweifelten Kampf mit einem nebensächlichen Objekt und seinen Tücken erringen. I n meinem jetzigen Zustand brauchte ich wenig zu üben, die Dinge kamen mir entgegen, spielten mit mir, die besten Szenen ergaben sich ganz von selbst auf der Bühne. So konnte ich fünf Minuten mit unserem Futtersack kämpfen, um den, hungernd, mein Herr mit Pferd und Esel standen, und konnte ihn doch nicht öffnen, und wenn ich es fertiggebracht hatte, gelang es mir nicht, einen Korken aus der Flasche zu ziehen oder mit einem Messer ein Stück Brot abzuschneiden [ . . . ] (309 f.)
Voß sieht seine Tätigkeit als »Aufheiterungsarbeit« (231). Das Lachen der Kameraden über ihn, der den Narren zwischen Einfalt und Weisheit spielt (258 f.), dient einzig und allein dem Erfüllen der selbstauferlegten Aufgabe, die da lautet: »Bring die Verbannten heim.« (558) Der hohe Befehl erreichte i m Erscheinungsjahr 1939 in zweiter Auflage immerhin 57.000 Exemplare. Danach wurde das Buch nicht mehr aufgelegt. Den Nazis war es zweifellos zu wenig nationalsozialistisch ausgerichtet, in der Nachkriegszeit in der D D R wurde es als zu kleinbürgerlich und zu wenig sowjetfreundlich empfunden. 73 Trotzdem erreichte es Mitte der 50er Jahre in Ost und West eine Auflage von über einer halben Million. Literaturgeschichten erwähnen es kaum.
72
Vgl. Konrad Reich, Ehm Welk - Stationen eines Lebens, (2. Aufl. Rostock 1977),
30 ff. 73
Vgl. Carsten Gansei, »Ehm Welk i m Literaturunterricht oder A u f der neuen Suche nach einem >alten< A u t o r zwischen Gotland, Kummerow und Puttelfingen«, Uckermärkiscbe Literaturblätter 3 (1994), 6 9 - 8 0 .
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Martin Kessel74 »Es w i l l geglaubt sein« (193) heißt es einmal in Kessels kleinem Roman Die Schwester des Don Quichote. Der Ritter oder sein Knappe kommen in der Handlung gar nicht vor. I m ländlichen Berliner Vorort Wilmersdorf der 30er Jahre w i r d ein übersichtliches, fünfköpfiges Personal vorgestellt, die alle gewisse Züge des verehrten Vorbildes tragen: Theo Schratt, ein junger Maler, der in das Haus der verschrobenen Witwe Veitzuch einzieht und der Kreis u m die Schwester des D o n Quichote, Saskia Skorell, eine mondäne Salonlöwin, jedenfalls auf den ersten Blick, und ihr Gefolge Mymmchen, Freundin und weibliche Pansa-Variante sowie der Kunstprofessor Njeskowski. Theo Schratt, der Protagonist, ist »zur Kunst gelangt wie ein unvorsichtiges Mädchen zum K i n d [ . . . ] er war ein Erzeugnis des Künstlertums, das ihn aufrief und narrte, ihm aufgeigte und ihn verführte, so dass er oft selbst nicht wusste, wie ihm zumut war.« 7 5 Er soll und muss schließlich Saskia, die »einer Blendungserscheinung gleicht« (6), malen. Die Sphinxhaftigkeit dieser Frau zwingt Schratt dazu, sie als »Rückenfigur deren Gegenbild i m Spiegel« erscheint und in dem sogar nebelhaft die Züge der hässlichen Witwe Veitzuch auftauchen, zu gestalten. (118 f.) Auch die »Donquichotterie ihrer Lebenshaltung« (102) kann Theo nicht recht fassen. Seine Fahrt mit Professor Njeskowski nach Italien - von Kessel als Parodie eines etablierten Kunstkenners verstanden - um die geliebte Saskia zu erreichen, endet bereits i m prosaischen Plauen mit einem von Njeskowski verursachten Autounfalls. Theo kehrt nach Wilmersdorf in das Haus der Veitzuch zurück. Diese stirbt dort in seine Armen. So wie es aussieht, w i r d Theo das Häuschen der kinderlosen Witwe erben. Aber er verliert Saskia: »Denn das, was w i r festhalten und umklammern, ist nicht unser tiefster Besitz; nur das gehört uns ganz, was w i r opfern [ . . . ] « (181). Kessel hat sich gelegentlich über die Figur des Quichote geäußert. I n dem Essay Der Ritter vom Wahnsinn beschreibt er diesen wie folgt: Der Wahnsinn des D o n Quichote ist eben mehr als eine nackte Verrücktheit. Es ist ein imaginativer und moralistischer Wahnsinn, ein das Leben durchdringender und zu-
74 *1901 in Plauen / Vogtland. Studium der Germanistik, Philosophie, Musik- und Kunstwissenschaft in Berlin, München und Frankfurt am Main. Freier Schriftsteller in Berlin, Erzähler, Essayist. Lyriker. Kleist-Preis (1926); Büchner-Preis (1954); FontanePreis (1961). Weitere Hauptwerke: Gebändigte Kurven (Gedichte; Frankfurt am Main 1925), Betriebsamkeit (Novelle; Frankfurt am Main 1926), Herrn Brechers Fiasko (Roman; Stuttgart 1932), In Wirklichkeit Aber (Kleine Prosa; Berlin 1955), Lydia Faude (Roman; Neuwied / Berlin 1965). Kessel stirbt 1990 in Berlin. 75 I m Folgenden zit. nach M . Kessel, Die Schwester des Don Quichote. Eine Malergeschichte (Braunschweig 1938), 24 f.; vgl. auch die Rezension von Jürgen Verdofsky, »Schönheit mit Melancholie«, Frankfurter Rundschau vom 5. 9. 2002 u. Paul E. H . Lüth, Literatur als Geschichte. Deutsche Dichtung von 1885 bis 1947, II. Bd. (Wiesbaden 1947), 351-352.
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gleich befeuernder Wahnsinn, es ist ein die höchsten Begriffe der Menschheit mobilisierender, ein divinatorischer, ein zugleich liebender und richtender und nicht zuletzt darum auch ein satirischer Wahnsinn. 7 6
Hier äußert sich die enge Verbindung zu den Gedanken eines Unamunos, den Kessel namentlich erwähnt, wenn er von der Sehnsucht des Helden »nach einer besseren und die Hoffnung auf eine verständnisvolle Welt« (128) schreibt. I n dem Aufsatz Der Weg zu den Büchern ist D o n Quichote für Kessel »das komisch ideale, das parodistische Sinnbild des besessensten aller je dagewesenen Leser« (252) und endlich erscheint ihm die »Sehnsucht« aller sich mit D o n Quichote verbündeter Menschen so wichtig, u m »den Glanz ihrer unumstößlichen Inbilder für wirklicher und lebensfähiger zu halten als die spröden und bitteren Beweise einer sonst wie gearteten Wirklichkeit.« 7 7 So sind die »Don Quichotes« in Kessels Roman - und ich meine, alle auftretenden Figuren sind dieses Namens würdig - zweierlei: sich selbst erkennende Narren und spielerisch die Wirklichkeit aufhebende Individuen. Kessel benutzt nicht den Begriff der Maske, aber die Frage, wie sich D o n Quichotterie begreift, beantwortet er letztlich doch, aphoristisch, mit den Worten: »Durch Doppelsinn, durch Zweideutigkeit, durch Paradoxie.« 78
Fazit »Die Dichtung vor 1945 tarnte sich und bekam insgeheim prophetischen Charakter [ . . . ] . « 7 9 Tarnung als M o t i v ? - wenn ja, dann stehen D o n Quichote und Sancho Pansa sicherlich für den Code jener, die als wissende Narren den »Weltlauf« nicht verändern konnten, aber immer wieder, wie D o l f Sternberger schrieb, »auf die Probe« stellten. 80 Bereits Unamuno forderte ja als Schlussfolgerung aus dem Werk von Cervantes die Liebe zur Wahrheit »in die Welt hinauszuschleudern«, freilich auch »Apollo um Verse zu bitten, die die Liebe uns eingibt«, d. h. nicht als »fahrender Ritter und mit dem Schwerte umgürtet«, sondern in Gestalt eines Schäfers, eines Ziegenhirten. 81 Das lässt sich i m übertragenen Sinn durch76
Kessel, Ehrfurcht und Gelächter. Literarische Essays (Mainz 1974), 124.
77
Vom Zauber der Ferne, ebd., 197.
78
Kessel, Gegengabe. Aphoristisches Kompendium für hellere Köpfe (Darmstadt / Berlin-Spandau / Neuwied a. R. 1960), 141. 79 Inge Meidinger-Geise, Welterlebnis 1956/57), 15.
in deutscher Gegenwartsdichtung
(Nürnberg
80 D o l f Sternberger, »Der Narr und der Weltlauf«, Die Neue Rundschau 4 6 / 1 (1935), 8 0 - 9 0 , hier 81. 81
Unamuno, Bd. I I , 247 u. 251.
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aus auf die Maskensymbolik bei Kluge, auf das »Narrentheater« bei Ehm W e l k 8 2 beziehen. 83 Sternbergers »getarnte Auseinandersetzung mit der N S - D i k t a t u r « 8 4 w i r d noch deutlicher in seinem Aufsatz Figuren der Fabel, in der er über eine Fabel des Lafontaine urteilt, diese dulde »kein Mitleid«: »So ist eben der Charakter, das heißt die Maske des Esels, das ist seine Rolle in der Fabel und in der Welt, die muß er zu Ende spielen, bis zum schrecklichen Ende.« 8 5 Dieses »schreckliche Ende« bleibt D o n Quichote und Sancho Pansa erspart, auch in ihren deutschsprachigen Fortsetzern. Warum? Sie suchen sich ihre eigenen Fluchtmöglichkeiten. K o r t ü m verschwindet spurlos und taucht vielleicht als neuer Stern am H i m m e l wieder auf, Wulfertange lässt seinen D o n Quichote weiser werden und, in Begleitung zahlreicher Pilger, die nach San Compostella wollen, zurückkehren. Welks Voß überlebt und kann seine Geschichte aufschreiben lassen und so seine Erlebnisse kompensieren. Kessels Theo findet, nachdem er den Leichnam seiner Vermieterin beiseite geschafft und sich von Saskia seelisch durch ein A k t b i l d befreien konnte, in dem Vorstadthaus einen »Zufluchtsort und Heimat« zugleich 8 6 und auch das sind ja Formen des Zurückweichens vor einer nur schwer zu erobernden Gegenwelt. Cervantes lässt seinen D o n Quichote sagen, nachdem dieser seinem Knappen Sancho bei den Iah-Schreiern nicht geholfen hatte und Sancho sich über die unterlassene Hilfeleistung bitter beklagt: Es flieht nicht, wer sich zurückzieht, entgegnete D o n Quichote; denn du musst wissen, Sancho, die Tapferkeit, die nicht auf der Grundlage der Vorsicht ruht, nennt man Vermessenheit, und die Heldentaten des Vermessenen werden weit mehr der Gunst des Glückes als seinem mute zugeschrieben. Daher bekenne ich wohl, dass ich mich zurückgezogen, nicht aber, dass ich geflohen bin. U n d darin hab' ich vielen Tapfern nachgeahmt, die sich für bessere Zeiten aufgespart haben, und hiervon sind die Geschichtsbücher voll, von denen ich aber, weil es dir nicht zum Nutzen und mir nicht zum Vergnügen gereicht, dir jetzo nichts berichten w i l l . 8 7
82
Ehm Welk, 566.
83
Eulenspiegel als einer weiteren literarischen Narrenfigur, die Sternberger in den M i t telpunkt seines erw. Aufsatzes stellt, war den meisten Autoren der 30er Jahre w o h l zu didaktisch angelegt, um ihn literarisch angemessen zu verarbeiten. Immerhin gab es neben Gerhart Hauptmann (1928) eine Reihe von Schriftstellern, die sich auf die eine oder andere Weise dem Eulenspiegel-Stoff zuwandten, z.B. M o r i t z Jahn (1933), Heinrich Zerkaulen (1933), Walter Kordt (1935/36), Hans Friedrich Blunck (1936), Adam Kuckhoff (1941) u. Hans Leip (1941). Vgl. dazu mit Textauszügen Siegfried H . Sichtermann (Hg.), Die Wandlungen des Till Eulenspiegel ( K ö l n / Wien 1982). 84
Ehrke-Rotermund, Zwischenreiche, 202.
85
D o l f Sternberger, »Figuren der Fabel«, Frankfurter Zeitung und Handelsblatt Nr. 658, Weihnachtsausgabe, 25.12.1941, 6, zit. nach Ehrke-Rotermund, ebd., 202. 86
Schwester des Don Quichote, 194.
87
Don Quichote, I I . Teil, 28. Kap. Nach der Übersetzung von Braunfels, 189.
86,
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Rainer Drewes
Wulfertange berührt ebenfalls den Gedanken des Spielerischen, wenn er von einer »Bühne« spricht, auf der sich viele Gestalten bewegen und ihre Rolle spielen: »Charakterdarsteller gab es und Gerechte und Bösewichte, auch Narren hüpften herum, aber die meisten hatten von allem etwas.« 88 Wie sollte man bei dieser Häufung von Parallelen nicht an eine Strategieempfehlung für das Uberleben in einer Diktatur erinnert werden? I n dem Bereich der Narrheit bleibt den Helden ein Freiraum oder wie Kessel in einem Aphorismus feststellt: »Der Narr kann sich jeder Verpflichtung entziehen außer der einen: in allem als Narr zu gelten.« 89 A u f der anderen Seite ist den Quichote-Figuren bei Kluge, Welk und Wulfertange ein gewisses »Sendungsbewusstsein« eigen und somit ein prophetischer Charakter nicht abzusprechen. Durch ihren »Doppelsinn«, ihre »Zweideutigkeit« und durch »Paradoxie« (Kessel, ebd.) können die vorgestellten Romane die Wirklichkeit auf Zeit aufheben und in ein Zwischenreich führen, in das eben diese Realität nicht hineindringt. Cervantes mit dem Don Quichote bot sich als literarisches Vorbild an und die Leser i m Dritten Reich verstanden offensichtlich mit dem Narrentum des »Ritters von der traurigen Gestalt« ihre Individualität zu wahren. U n d noch eines: Den vorgestellten Quichote-Adaptionen mangelt es nicht an Humor. Auch das ist eine Facette von Überlebensstrategie, die Perspektiven für ein >Danach< aufzeigt. Die dezidiert nationalistisch und faschistisch auftretenden Literaturhelden besitzen keinen Humor, wie uns Burtes Wiltfeber y Grimms Friebott, Kolbenheyers Paracelsus und andere mehr zeigen. 90 I n diesem Sinne beantwortet sich die eingangs gestellte Frage nach der auffälligen Rezeption des Don Quicbote i m Dritten Reich.
88
Wulfertange, Schrappenpüster. Jugendstreiche und Gestalten (Berlin 1935), 116. Vgl. dazu auch seinen Aufsatz »Der Globus von Schnorkeloh«, Der Bücherwurm. Monatsschrift für Bücherfreunde , hg. Karl Rauch, 22 (Mai 1937), Heft 9, 242-244. 89 90
Kessel, Gegengabe, 141.
Das gilt i m Übrigen auch für weite Teile der faschistischen Literatur außerhalb Deutschlands, wie es Mario Praz am Beispiel von D ' A n n u n z i o nachweist: Liebe, Tod und Teufel. Die schwarze Romantik (1930), 2 Bde (München 1970), 352.
D o n Quijote: eine literarische Leitfigur von der Aufklärung bis in die Gegenwart Von Manfred Tietz
I. Der Don Quijote: intentio auctoris und Leitfigurenfunktion Als 1605 der erste Teil des Romans El Ingenioso Hidalgo Don Quijote de la Mancha erschien (1615 folgte der zweite Teil), sprach nichts oder doch fast nichts dafür, dass sein Protagonist - der ältliche und durch das exzessive Lesen von Ritterromanen u m den Verstand gekommene Angehörige des müßiggängerischen spanischen Adels der Zeit, der sich den Namen D o n Quijote zugelegt hat und als der >Ritter von der traurigen Gestalt< bezeichnet w i r d - zu einer Leitfigur - und noch dazu zu einer der hoch gepriesenen und vieldeutigsten Leitfiguren - der neueren europäischen Literatur und Kultur werden sollte. 1 Miguel de Cervantes (1547-1616) schien seinem Roman eine sehr schlichte Zielsetzung gegeben zu haben. Zumindest lässt er, bzw. der Erzähler, in der Vorrede an den »müßigen Leser« (»desocupado lector«) einen Freund des A u tors sagen, der Roman wolle nichts anderes sein als eine Parodie der - de facto allmählich aus der Mode kommenden - Ritterromane und diese so als immer noch begehrte Lesestoffe, aber auch als geistiges und geistliches Skandalon aus der Welt schaffen: »derribar la máquina mal fundada destos caballerescos libros, aborrecidos de tantos y alabados de muchos más« 2 (»das auf so schlechter Grundlage ruhende Gerüste jener Ritterbücher nieder[zu]reißen, die von so vielen verabscheut und von einer noch weit größeren Anzahl gepriesen wer1 Z u m Begriff der (kulturellen) Leitfigur cf. den Artikel »Leitbild« i m Historischen Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5 (Basel / Stuttgart 1980), 224-228, sowie die Einleitung »Kulturelle Leitfiguren: Prozesse und Strategien ihrer Funktionalisierung« von Bernd Engler und Isabell Klaiber zu dem von ihnen unter Mitarbeit von Norbert Franz, Volker Kapp und Helmuth Kiesel herausgegebenen Sammelband: Kulturelle Leitfiguren - Figurationen und Refigurationen (Berlin 2007), 9 - 2 8 . Der Band enthält die Akten einer Sektion der Osnabrücker Tagung der Goerres-Gesellschaft (2004), auf der auch der vorliegende Beitrag in verkürzter Form vorgetragen wurde. 2 Miguel de Cervantes, Don Quijote de la Mancha, D o n Quijote I, Prölogo, Ediciön del Instituto Cervantes dirigida por Francisco Rico u. a. (Barcelona 2 1998), 18. Die deutsche Version der spanischen Zitate folgt der Übertragung von L u d w i g Braunfels, Der sinnreiche Junker Don Quichote von der Mancha (München 1961).
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den«). Ähnlich allgemein, auf keinerlei angestrebte tiefere Bedeutung hinweisend, sind die Angaben zu den Lesertypen, die der Roman ansprechen w i l l Beim Lesen der Geschichte solle erreicht werden »[que] el melancólico se mueva a risa, el risueño la acreciente, el simple no se enfade, el discreto se admire de la invención, el grave no la desprecie, ni el prudente deje de alabarla« 3 (»der Schwermütige soll zum Lachen erregt werde[n], der Lachlustige noch stärker auflache[n], der Mann von einfachem Verstand nicht Überdruß empfinde[n], der Einsichtsvolle die Erfindung bewunder[n], der sinnig Ernste sie nicht missachtefn] und der Kenner nicht umhin könne[n], sie zu loben.«) Dieses Ziel, das vorrangig auf Unterhaltung und in geringerem Maße auch auf Belehrung zielt und damit der Forderung nach delectare und docere entsprach, die die zeitgenössische Ästhetik vom Kunstwerk verlangte, wurde auch tatsächlich erreicht, wie der Erzähler 1615 im dritten Kapitel des zweiten Teils des Don Quijote den Baccalaureus Sansón Carrasco nicht ohne Stolz einflechten lässt: [ . . . ] el día de hoy están impresos más de doce mil libros de tal historia: si no, dígalo Portugal, Barcelona y Valencia, donde se han impreso, y aun hay fama que se está imprimiendo en Amberes; y a mí se me trasluce que no ha de haber nación ni lengua donde no se traduzga. 4 (»Bis zum heutigen Tag sind schon mehr als zwölftausend Stücke besagter Geschichte verbreitet; oder wenn das einer bestreitet, so mögen Portugal, Barcelona und Valencia es bezeugen, w o sie gedruckt wurden; und es geht sogar das Gerücht, dass sie eben jetzt zu Antwerpen unter der Presse ist, und mir schwant es, dass es bald kein Land mehr gibt, w o man sie nicht übersetzen wird.«)
Es ist dies eine Prophezeiung, die angesichts des heutzutage feststellbaren großen Erfolgs des Don Quijote - er gilt, wie übrigens manches andere Werk auch, als das meistgelesene Buch der Welt überhaupt - durchaus als erfüllt angesehen werden kann. Außerdem w i r d i m gleichen Kapitel I I , 3 durch Sansón ein Erfolg der Geschichte in allen Publikumsschichten bestätigt: »los niños la manosean, los mozos la leen, los hombres la entienden y los viejos la celebran.« 5 (»Die Kinder nehmen sie zur Hand, die Jünglinge lesen sie, die Männer verstehen sie, die Greise rühmen sie.«) Als Begründung für diesen Erfolg w i r d angegeben, »[que] la tal historia es del más gustoso y menos perjudicial entretenimiento que hasta agora se haya visto, porque en toda ella no se descubre ni por semejas una palabra deshonesta ni un pensamiento menos que católico.« 6 ([dass] »die besagte Geschichte den heitersten und unschädlichsten Zeitvertreib [bietet], der jemals bis zum heutigen Tage vorhanden gewesen; denn in dem 3 Ibid. 4
Cervantes, Don Quijote , 647-648.
5
Cervantes, Don Quijote, 652-653.
6
Cervantes, Don Quijote, 653.
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ganzen Buche findet sich nicht ein unanständiges Wort, ja nichts, was dem ähnlich sähe, noch irgendein Gedanke, der etwas anderes als ehrlich und von echtem Schrot und K o r n wäre.«) Als ein höchst unterhaltsames, zum Lachen reizendes Buch, ganz wie es Cervantes zu suggerieren wollte, wurde der Roman zunächst auch tatsächlich rezipiert. Das bestätigt der selbst generell kunstbegeisterte König Felipe I I I . (1598-1621), der - so w i l l es eine immer wieder berichtete Anekdote - als er eines Tages vom Fenster seines Palastes aus einen Mann auf einer Bank in einem Buch lesen und ganz unmäßig lachen sah, gesagt haben soll: dieser Mann sei entweder verrückt oder aber er lese gerade den Don Quijote. I n der Tat haben viele Leser diese Erfahrung des Lachens bei der Lektüre des Don Quijote gemacht - so auch Jacob Grimm, der i m August 1823 berichtet, er habe »in diesen warmen faultagen den halben Don Quijote gelesen« und er wisse nicht, »wer eine so schöne und gleiche prosa schriebe, wie Cervantes. U n d über den inhalt - so fährt er fort - lache ich manchmal für mich laut auf, was mir sonst selten begegnet.«7 Dies alles scheint nicht darauf hinzudeuten, dass der Protagonist und sein A u t o r dazu bestimmt waren, eines Tages zu einer europäischen Leitfigur zu werden, noch dazu, obwohl spanischer Herkunft, insbesondere i m deutschen Sprachbereich, w o der Autor eine andere herausragende literarisch kulturelle Leitfigur - William Shakespeare, der kurioserweise, wie es die Fama will, am gleichen Tag (22. 4. 1616) starb wie Cervantes - sicher noch übertrifft 8 und nur hinter dem »heimischen Goethe« zurückstehen muss. Eine tiefere Bedeutung des Buches als die des Spotts über die Ritterromane scheint sich für die unmittelbaren zeitgenössischen Leser nicht ergeben zu haben, obwohl es aus heutiger Sicht dafür nicht an Hinweisen fehlt. Dies gilt für die in die >Geschichte< (histoire) eingeschobenen Novellen i m 1. Teil des Quijote, insbesondere die vom »törichten Vorwitz« (I, 33 - 34), die, weit entfernt von der bloßen Ritterromanparodie, sehr nachdrücklich allgemein menschliche, moralische Fragen thematisieren, über deren Einfügung schon von den Zeitgenossen gestritten wurde 9 und die neben der >Geschichte< einen 7
Jürgen Jacobs, Don Quijote in der Aufklärung
(Bielefeld 1992), 11 - 1 3 u. 76.
8
Die >Nostrifizierung< des englischen Autors Shakespeare und seinen Weg zur spezifisch deutschen Leitfigur hat Wolfgang Müller überzeugend, wenn auch ohne Cervantes ins Blickfeld einzubeziehen, dargestellt, siehe »Formen der Aneignung Shakespeares in der deutschen Literatur- und Kulturgeschichte«, in: Engler und Klaiber (Hgg.), Kulturelle Leitfiguren, 115-131. 9 Darauf weist wiederum der Baccalaureus Sansón ausdrücklich hin, lässt das Ganze aber von Sancho Panza abtun, der meint, der Hundesohn (»hideperro«) von arabischem Verfasser der Geschichte habe da w o h l alles wie Kraut und Rüben zusammengeworfen, siehe Don Quijote de la Mancha , 652. Für den (heutigen) Leser ist dies natürlich ein eindeutiger Hinweis des Erzählers, dass dies nicht der Fall ist und Cervantes die Novellen sehr bewusst in die Erzählung der Handlung eingefügt hat.
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höchst komplexen (laizistischen) ethischen Diskurs in den Roman einbringen. 10 Das Gleiche gilt aber auch für weitaus kürzere Textelemente wie den Bericht vom Sterben D o n Quijotes, w o es heißt, »[djespertö al cabo del tiempo dicho y, dando una gran voz, dijo: [ . . . . ] « 1 1 (»er erwachte nach Verlauf der erwähnten Zeit und sprach laut aufschreiend: [ . . . ] « ) . Das spanische Original verdeutlicht stärker als die deutsche Wiedergabe einen in einer Ritterromanparodie vielleicht doch überraschenden intertextuellen Bezug. Die Passage spielt an auf den Tod Christi i m Text der Vulgata ( L k 23,46), genauer noch, wie die K r i t i k nachgewiesen hat, auf dessen Ubersetzung in einer spanischen protestantischen Bibel des 16. Jahrhunderts. 12 Daraus lässt sich, vielleicht nicht zu Unrecht, auf eine von Cervantes durchaus beabsichtigte >Christusförmigkeit< des D o n Q u i jote schließen, die aber den Zeitgenossen ebenso irrelevant erschienen sein mag wie die Erzählung von dem Morisken Ricote, der nach der Vertreibung im Jahre 1609 von Heimweh und Vaterlandsliebe getrieben heimlich und trotz striktester königlicher Verbote in sein D o r f - das D o r f Dulcineas - zurückgekehrt ist, eine Episode, die Thomas Mann auf dem Weg in sein amerikanisches Noch-nicht-Exil als für den heutigen Leser menschlich besonders bewegend und tiefgründig angesehen hat 1 3 und mit der Cervantes in die höchst brisante Debatte um die nur wenige Jahre zurückliegende Vertreibung der Morisken (1609) eingriff. 1 4 A l l dies sind zweifelsohne Hinweise auf weiter und tiefer gehendere Bedeutungsdimensionen des Don Quijote, die durchaus das Potential zur Funktion einer europäischen Leitfigur enthielten, die allerdings erst i m 18. und 19. Jahrhundert, und dann zunächst und ganz vorrangig außerhalb Spaniens, zur vollen Entfaltung kommen sollten. Was Spanien selbst angeht, so ist man sicher gut beraten, trotz der in I I , 3 genannten Zahlen den Bucherfolg des Don Quijote und damit seine eventuelle literarästhetische Leitfigurenfunktion i m Kampf gegen die von vielen Gelehrten und Theologen aufs heftigste beklagte und massiv bekämpfte >Pest der Amadisse< nicht allzu hoch einzuschätzen. »Zwischen 1617 und 1637 gab es keine spanische Neuauflage des Don Quijote. Von 1637 bis 1674 waren es zehn, 10 Dies ist die überzeugende Grundthese der Arbeit von Hans-Jörg Neuschäfer, La ética del Quijote: función de las novelas intercaladas (Madrid 1999). 11
Cervantes, Don Quijote , 1216.
12
Cervantes, Don Quijote, Volumen complementario,
663.
13
Thomas Mann, »Meerfahrt mit >Don QuijoteNarr< als Emblem des »öffentlichen SchriftstellersLesewut< u n d i h n d a n n als g e m i s c h t e n C h a r a k t e r darstellt, der s o w o h l p o s i t i v e w i e negat i v e Eigenschaften b e s i t z t . 4 2 F ü r W i e l a n d , so lässt sich dessen Sicht m i t seinen eigenen W o r t e n zusammenfassen, s i n d D o n Q u i x o t e u n d Sancho Panza »die w a h r e n Repräsentanten des M e n s c h e n g e s c h l e c h t s . « 4 3 N o c h i m K o n t e x t der A u f k l ä r u n g e n t s t a n d e n ist eine w e i t e r e Sichtweise des Don
Quijote
u n d seines A u t o r s , die d e n Q u i j o t e auch i n p o e t o l o g i s c h e r H i n -
37
Zitiert nach: Jacobs, Don Quijote in der Aufklärung,
38
Jacobs, Don Quijote in der Aufklärung,
11.
11.
39 So zog der Spätaufklärer Eschenburg (1743-1820) das folgende Fazit aus dem Don Quijote: »Hauptsächlich liegt darin die wichtige Lehre, daß jeder noch so vernünftige Mensch seine Lieblingsneigung oder sein Steckenpferd hat, wodurch er zu tausenderlei Anomalien und Ausschweifungen verleitet werden kann [ . . . ] . « Zitiert nach: von Zimmermann, Reiseberichte und Romanzen, 296. 40
von Zimmermann weist auf die Rolle Bodmers in diesem Deutungsprozess hin: »Im Gefolge Bodmers wurde der spanische Roman [der Don Quijote ] zum Paradigma des Aufklärens und Cervantes zum Paradigma des Aufklärers«; Reiseberichte und Romanzen, 296. 41 Cf. den vollständigen Titel des Romans: Der Sieg der Natur über die Schwärmerey, oder die Abentheuer des Don Sylvio von Rosalva. Eine Geschichte worinn alles Wunderbare natürlich zugeht. Cf. die bereits sehr alte Untersuchung von Stephan Tropsch, »Wielands >Don Sylvio< und Cervantes >Don Quijote