Literaturwissenschaftliches Jahrbuch: 44. Band (2003) [1 ed.] 9783428512256, 9783428112258

Das Literaturwissenschaftliche Jahrbuch wurde 1926 von Günther Müller gegründet. Beabsichtigt war, in dieser Publikation

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Literaturwissenschaftliches Jahrbuch: 44. Band (2003) [1 ed.]
 9783428512256, 9783428112258

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LITERATURWISSENSCHAFTLICHES J A H R B U C H N e u e Folge, b e g r ü n d e t v o n H e r m a n n K u n i s c h

IM AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN V O N PROF. DR. T H E O D O R B E R C H E M , PROF. DR. V O L K E R KAPP, PROF. DR. K U R T M Ü L L E R , PROF. DR. R U P R E C H T W I M M E R , PROF. DR. A L O I S W O L F VIERUNDVIERZIGSTER

BAND

2003

Das Literaturwissenschaftliche

Jahrbuch w i r d im Auftrage der Görres-Gesellschaft heraus-

gegeben von Prof. Dr. Theodor Berchem, Institut für Romanische Philologie der Universität, A m Hubland, 97074 Würzburg, Prof. Dr. Volker Kapp, Romanisches Seminar der Universität Kiel, Leibnizstraße 10,24098 Kiel, Prof. Dr. Kurt Müller, Institut für Anglistik/ Amerikanistik, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Ernst-Abbe-Platz 8, 07743 Jena (federführend), Prof. Dr. Ruprecht Wimmer, Sprach- und Literaturwissenschaftliche Fakultät, Katholische Universität Eichstätt, 85071 Eichstätt und Prof. Dr. Alois Wolf, Lorettostraße 60, 79100 Freiburg. Redaktionsanschrift:

Lehrstuhl für Amerikanistik, Institut für Anglistik/Amerikanistik,

Friedrich-Schiller-Universität Jena, Ernst-Abbe-Platz 8, 07743 Jena. Redaktion:

Dr. Jutta

Zimmermann. Das Literaturwissenschaftliche

Jahrbuch erscheint als Jahresband jeweils im Umfang von

etwa 20 Bogen. Manuskripte sind nicht an die Herausgeber, sondern an die Redaktion zu senden. Unverlangt eingesandte Beiträge können nur zurückgesandt werden, wenn Rückporto beigelegt ist. Es w i r d dringend gebeten, die Manuskripte druckfertig einseitig in Maschinenschrift einzureichen. Ein Merkblatt für die typographische Gestaltung kann bei der Redaktion angefordert werden. Die Einhaltung der Vorschriften ist notwendig, damit eine einheitliche Ausführung des Bandes gewährleistet ist. Besprechungsexemplare von Neuerscheinungen aus dem gesamten Gebiet der Literaturwissenschaft, einschließlich Werkausgaben, werden an die Adresse der Redaktion erbeten. Eine Gewähr für die Rezension oder Rücksendung unverlangt eingesandter Besprechungsexemplare kann nicht übernommen werden. Verlag: Duncker & H u m b l o t G m b H , Carl-Heinrich-Becker-Weg 9, 12165 Berlin.

LITERATURWISSENSCHAFTLICHES

JAHRBUCH

VIERUNDVIERZIGSTER BAND

LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH NEUE FOLGE, BEGRÜNDET V O N H E R M A N N KUNISCH

I M A U F T R A G E DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN V O N T H E O D O R B E R C H E M , V O L K E R KAPP, K U R T M Ü L L E R RUPRECHT WIMMER, ALOIS WOLF

VIERUNDVIERZIGSTER B A N D

2003

D U N C K E R

&

H U M B L O T

- B E R L I N

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0075-997X ISBN 3-428-11225-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706©

INHALT

AUFSÄTZE Paul Gerhard Schmidt, Die Gegenwelt im Jenseits

9

Ralf-Henning Steinmetz, Walthers Neuerungen im Minnesang und die Freundschaftsliteratur des 12. Jahrhunderts 19 Wolfgang G. Müller; Shakespeare and Renaissance Humanism Paul

Goetschy

Regie als Thema in Hamlet

47 65

Roland Spiller y Das Staunen der Anderen oder ».. .wenn das Herz sich zusammenzieht«. Repräsentation, Macht und Alterität bei Lope de Vega und Calderön de la Barca 83 Jean-Christophe Rebejkow ; Quelques considérations sur l'appel au soulèvement dans la 3e édition de l'Histoire des deux Indes (1780) de l'abbé Raynal

99

Wolf Gerhard Schmidt, »...in weinender Entzückung«: Die Asthetisierung der joy of grief bei Novalis 125 Matthias Pape, August von Platens »Klaglied Kaiser Otto des Dritten« (1834) Historisches Bild und ästhetischer Gehalt 147 Karl Hölz, Musset und der Feuilletonismus. Erzählen wider die Norm in den »contes et nouvelles« 173 Armin Paul Frank, Karolus magnus in Amerika: Ein Beispiel für H. W. Longfellows Programm und Praxis einer amerikanischen Nationaldichtung nach deutschem Vorbild 197 Laurence Richer ; Qu'est-ce qu'une capitale? Michelet face à Lyon

233

Maurizio Pirro, Dramentheorien im Rahmen der deutschen neuklassischen Bewegung um die Jahrhundertwende 251 Ursula Erichsen y Klangchiffren und Schmetterlinge: Robert Schumann in Thomas Manns Doktor Faustus - eine Nachlese 271 Virginie Lecerf y »Une mémoire sans mémoire«: Trauma und autofiktionale Identitätssuche im Werk Henri Raczymows 289

6

Inhalt

Klaus Benesch, Postmoderne als Drama: Don DeLillos tragikomisches Theaterstück Valparaiso 321 Peter Hühn, Mimetic Desire: An Attempt to Explain the Plot Structure of Detective Fiction 335

BUCHBESPRECHUNGEN Historisches Wörterbuch ker Kapp)

der Rhetorik, hg. Gert Ueding, Band 5, L-Musi (von Vol353

Sabine Chaouche, L'art du comédien. Déclamation et jeu scénique en France à l'âge classique (1629-1680) (von Volker Kapp) 357 Barbara Schmidt-Haberkamp, Die Kunst der Kritik. Zum Zusammenhang von Ethik und Ästhetik bei Shaftesbury (von Wolfgang G. Müller)

360

Nicola Graap, Fénelon: Dialogues des morts composés pour l'éducation d'un prince. Studien zu Fénelons Totengesprächen im Traditionszusammenhang ( von Dietmar Fricke) 363 Claudine Poulouin, Le Temps des origines. L'Eden, le Déluge et >les temps reculésL'Encyclopédie< (von Gisela Schlüter) 366 Giulia Cantarutti, Stefano Ferrari e Paola Maria Filippi (a cura di), Il Settecento tedesco in Italia. Gli italiani e l'immagine délia cultura tedesca nel XVIII secolo (von Albert Meier) 372 Michael Knoche und Harald Tausch (Hgg.), Von Rom nach Weimar - Carl Ludwig Fernow Harald Tausch, Entfernung der Antike. Carl Ludwig Fernow im Kontext der Kunsttheorie um 1800 (von Rita Unfer Lukoschik) 375 Karl-Josef Kuschel, Gottes grausamer Spaß? Heinrich Heines Leben mit der Katastrophe (von Olaf Briese) 378 Heinz Hamm, Goethe und die Zeitschrift »Le Globe«. Eine Lektüre im Zeichen der »Weltliteratur« (von Alberto Destro) 381 Paul Goetsch, Monsters in English Literature: World War (von Stefan Welz)

From the Romantic Age to the First 385

Silke Singh, Historische Wandlungen der Personalisierung schen Literatur (von Paul Goetsch)

des Bösen in der engli389

Joseph Jurt, Max Milner (Hgg.), Bernanos et ses lecteurs (von Béatrice Jakobs)

390

Manfred Loch brunner, Hans Urs von Balthasar als Autor,; Herausgeber und Verleger. Fünf Studien zu seinen Sammlungen (1942-1967) (von Volker Kapp) 394

Inhalt Bernhard F. Scholz, Emblem und Emblempoetik. Historische und systematische Studien (von Heinrich F. Plett) 396 Jean Bessiére , Manfred Christoph Wolter)

Schmeling (Hgg.) y Littérature , modernité , réflexivité (von 399

A/otttf /Corte, Die Uneinholbarkeit des Verfolgten. schen Phantastik (von Rita Unfer Lukoschik)

Der Ewige Jude in der literari402

Minorisierte Literaturen und Identitätskonzepte in Spanien und Portugal: Sprache Narrative Entwürfe - Texte, hg. Javier Gomez-Montero (von Orlando Grossegesse) 405 Bruno Zerweck, Die Synthese aus Realismus und Experiment. Der englische Roman der 1980er und 1990er Jahre aus erzähltheoretischer und kulturwissenschaftlicher Sicht (von Eva-Maria Orth) 409 Alberto Asor Rosay U alba di un mondo nuovo (von Uwe Neumahr) Wolf gang Iser y The Range of Interpretation

412

(von Thomas Klinkert)

Karin Ikas y Die zeitgenössische Chicana-Literatur. chung (von Josef Raab)

Eine interkulturelle

415 Untersu420

Francisco Lomeli and Karin Ikas (Eds.) y U.S. Latino Literatures and Cultures: Transnational Perspectives (von Josef Raab) 424

Namen- und Werkregister (von Jutta Zimmermann)

427

Die Gegen welt i m Jenseits1 Von Paul Gerhard Schmidt

Das Thema hat eine lange Vorgeschichte. Ich übergehe alle orientalischen Berichte und erinnere nur i m Vorübergehen daran, daß die griechische M y t h o logie ein Schattenreich i m Jenseits kennt, den Hades, der nur unter erschwerten Bedingungen erreicht werden kann; man muß einen Unterweltsfluß überqueren, an einem dreiköpfigen Höllenhund vorbeiziehen und w i r d i m Jenseits von drei Richtern geprüft. Jede Verfehlung i m Diesseits hinterläßt Spuren, die nach dem Tode des Taters an ihm sichtbar werden und zu seiner Bestrafung führen. Die homerischen Epen und die platonischen Dialoge haben die Idee der Katabasis, des Herabstiegs eines Lebenden in das Reich der Toten, in das kulturelle Gedächtnis des Abendlandes eingeschrieben. Es ist ein Reich der Strafen, nicht des Lohnes; ich spreche i m folgenden daher vorwiegend von Schrecken, Foltern und Qualen. Christliche Jenseitsvorstellungen sind nicht losgelöst von dieser Vorgeschichte zu betrachten. Sie bieten aber auch erfreulichere Aspekte des Außerweltlichen. Ich führe hier einen folgenreichen Satz des Apostels Paulus an. I m zweiten Korintherbrief spricht er von einer ihm bekannten Person, d. h. w o h l von sich selbst, die bis in den dritten H i m m e l entrückt war - »raptum usque ad tertium caelum«. Selbst ins Paradies war der Visionär entrückt; dort hörte er geheime Botschaften, die der Mensch nicht verbreiten darf: »audivit arcana verba, quae non licet homini loqui«. Was hat Paulus i m dritten H i m m e l und/oder i m Paradies gesehen und vor allem gehört? Was sind das für geheime Botschaften, die ein Mensch nicht verkünden darf? Dieser Passus i m zweiten Korintherbrief erweckt Neugierde und ruft geradezu nach einer Ergänzung der Leerstelle. Hat nicht Paulus vielleicht doch selbst das Jenseits beschrieben? Er hat, wenn man einem Fundbericht aus dem Jahre 388 n. Chr. glauben darf. Einem Bürger von Tarsos erscheint in diesem Jahr ein Engel i m Traum und fordert ihn auf, i m Fundament des Hauses nachzuforschen und seinen Fund zu veröffentlichen. Der Mann aus Tarsos 1

Am 11. Mai 2002 auf einem Symposium des Mittelalterzentrums der Universität Freiburg gehaltenes Referat. Die Vortragsform ist beibehalten worden.

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Paul Gerhard Schmidt

schenkt der Traumbotschaft zunächst keinen Glauben. Als aber der Engel zum dritten M a l erscheint und ihn geißelt, bequemt er sich dazu, den Boden des Hauses aufzureißen. Er fördert dort ein Kästchen aus Marmor zutage, das laut Aufschrift die Offenbarung des Apostels enthält. Uber den Richter der Stadt Tarsos geht das versiegelte Kästchen auf dem Dienstweg zu Kaiser Theodosius d. Großen, der seinen Inhalt verifiziert. Der Kaiser behält das Original der Visio Pauli und sendet eine Kopie nach Jerusalem. 2 A n der Echtheit des Textes besteht kein Zweifel. Schließlich stammt Paulus aus Tarsos (Act. 21, 39: »Ego homo sum quidem Judaeus a Tarso Ciliciae«); der Fund w i r d zudem i n dem Haus gemacht, das früher dem Apostel gehörte, und schließlich: Der Visionstext beginnt mit den von mir zitierten Worten aus dem Korintherbrief. Augustinus, der den Text kannte und zitierte, hat ihn vermutlich für authentisch gehalten, das Decretum Gelasianum verbannte ihn dagegen unter die abgelehnten Apokryphen. Das hat seiner Beliebtheit keinen Abbruch getan. Die Visio Pauli erlangte in fast allen Sprachen des Mittelalters große Verbreitung. Ihre Beschreibung des Jenseits muß daher am Eingang einer Schilderung der Gegenwelt stehen. Wer ein unbekanntes, fremdes Land betritt, benötigt einen Führer, der die oft rätselhaften Eigenheiten dieses Landes beschreibt. Der Begleiter und Führer des Visionärs gehört seit der Visio Pauli zum unverzichtbaren Element einer Jenseitsbeschreibung. Da für eine kompetente Führung die Kenntnis der Gegenwelt unerläßlich ist, kommt für diese Aufgabe nur ein Bewohner des Jenseits selbst i n Frage. I m Fall der Offenbarung des Paulus w i r d der Apostel von Engeln darüber belehrt, was er sieht. I n späteren Visionen sind es außer einzelnen Engeln oft auch Heilige, die als Himmelsbewohner dem Visionär zur Seite stehen, ihn aber auch i n die anderen Jenseitsbereiche, i n Purgatorium und Hölle, begleiten, wobei sie ihn mitunter vor den Angriffen der Teufel beschützen. Zwischen dem Jenseitsführer und dem Visionär liegt vielfach eine engere Bindung und Beziehung vor: St. Benedikt etwa geleitet einen Mönch durch die Gegenwelt, weil er ein Mitglied seines Ordens belehren und beschützen will. Visionäre, die einmal als Pilger nach Santiago gezogen und sich unter den Schutz des Heiligen Jakob gestellt hatten, werden von dem Heiligen ihrer Pilgerreise oder von einem anderen Heiligen geführt, der i n besonderer Form ihr Leben bestimmt. So geleitet der Heilige Domninus einen englischen Bauern durch das Jenseits; offensichtlich war der Bauer einmal nach R o m gepilgert und besonders von diesem Heiligen der Pilgerroute nach Rom geschützt worden. 3 N i c h t immer erschließen sich uns die Gründe für die Wahl eines 2 Theodore Silverstein, Anthony Hilhorst (Hg.), Apocalypse of Paul. A New Critical Edition of Three Long Latin Versions, Cahiers d' Orientalisme 21 (Genf 1997). 3 Paul Gerhard Schmidt (Hg.), Visio Thurkilli, relatore y ut videtur.; Radulpho de Coggeshall y Bibliotheca scriptorum Graecorum et Latinorum Teubneriana (Leipzig 1978). Die

Die Gegenwelt im Jenseits

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bestimmten Cicerone durch das Jenseits, generell läßt sich aber eine Tendenz beobachten: Waren es in der Spätantike und i m Frühmittelalter vorwiegend Engel, treten i m Hochmittelalter Heilige an ihre Stelle, und i m Spätmittelalter ist es i m Zug der zunehmenden Marienverehrung in erster Linie die Gottesmutter, mitunter ist sogar Christus der Dialogpartner des Visionärs. Eine einschlägige Studie über den oder die Führer in Jenseitsvisionen steht übrigens noch aus. Daß bei Dante verschiedene Führer, Vergil bzw. Beatrice, je nach den verschiedenen Jenseitsregionen, auftreten, ist keine originelle Neuerung, sondern entspricht einem Usus des Hochmittelalters. I m Mittelpunkt der meisten Jenseitsvisionen steht eine Maxime, die in der Visio Pauli in den oft wiederholten Satz gefaßt wird: »Humanuni genus peccat«. I n der ersten Phase der Gattung ist mehr von Sünden die Rede, nicht von individuellen Sündern. Paulus erfährt, wie Totschlag, Ehebruch, Diebstahl, Kindstötung und andere Delikte i m Jenseits bestraft werden. Das ist so einprägsam beschrieben und so exakt gemessen, daß man eine Hierarchie der Sünden und der Strafen daran ablesen kann. Für bestimmte Vergehen w i r d ein Sünder i m Jenseits nur bis zu den Knöcheln, für andere bis zu den Knien, dem Bauchnabel, den Schultern oder bis zu den Lippen in eine ätzende, eiskalte oder kochende Flüssigkeit eingetaucht. Es fällt nicht schwer, vom Strafsystem der Visio Pauli eine Verbindung zu den Bußbüchern der frühmittelalterlichen Kirche, besonders zu den irischen Poenitentialien zu ziehen. Ohne Ansehen des Täters werden hier Bußleistungen i n exakt bemessener Höhe und Zeitdauer angesetzt, etwa das auf zwei Jahre gültige Gebot, nur Wasser und Brot zu sich zu nehmen. Hier hat die Visio Pauli mit ihrer Fokussierung auf die Sünden generell zur Erstellung eines rigiden Normenwerks beigetragen. Dieses Normensystem kennt bereits einige Erleichterungen, so vor allem die Sonntagsruhe. A n diesem Tag werden die Seelen der Schuldigen nicht bestraft. Die Becken, in denen die Seelen durch ätzende Flüssigkeiten gefoltert werden, leeren sich: Vierundzwanzig Stunden später kehrt die brennende, aggressive Säure wieder in die Becken zurück und erneuert die Qualen. Unter dem Einfluß der Dialogi Gregors des Großen setzt sich i n karolingischer Zeit eine wichtige Neuerung durch. Schon Gregor hatte v o m Jenseitsschicksal einzelner Personen gehandelt und sich nicht gescheut, die Namen verstorbener Sünder und ihre individuelle Bestrafung zu nennen. Vom 9. Jahrhundert an verlagert sich das Interesse immer mehr von der Sünde auf den oder die Sünder. I n der Visio Wettini w i r d beispielsweise ein bestimmter Herrscher so

Vision des Bauern Thurkill, mit deutscher Übersetzung hg. von Paul Gerhard Schmidt (Weinheim 1987). Das mittelalterliche Borgo San Donnino erhielt unter Mussolini seinen antiken Namen Fidenza.

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Paul Gerhard Schmidt

eindeutig beschrieben, daß man ihn unschwer mit Karl dem Großen identifizieren kann. Akrosticha in Walafrids poetischer Fassung der Visio Wettini bestätigen diese Gleichsetzung. M i t der Visio Wettini haben w i r einen turning point in der Geschichte der mittelalterlichen Gegenwelt erreicht. Ich komme auf die Nennung individueller Gestalten und die Instrumentalisierung der Visionsliteratur i n den politischen und kulturellen Auseinandersetzungen noch zurück. M i t Beschreibungen des Jenseits, in das man politische und andere Gegner gern versetzte, hat man gelegentlich auch diesseitige und sehr weltliche Ziele fördern wollen. Für einen Augenblick möchte ich Ihre Aufmerksamkeit von dem Inhalt der Visionen abziehen und auf deren literarische Einkleidung lenken. I n der Visio Pauli w i r d der Bericht durch die kurze N o t i z über die Auffindung des Textes i m Haus des Apostels i m Jahre 388 eingeleitet. Der Visionär selbst ist allen Lesern gut bekannt und bedarf keiner weiteren Vorstellung. Die näheren U m stände des Geschehens, den Zeitpunkt und die Dauer der Vision, hatte der Apostel nicht genau angegeben. Er spricht zwar davon, daß der Visionär vierzehn Jahre zuvor in den H i m m e l entrückt worden sei, aber er gesteht ausdrücklich sein Nichtwissen darüber ein, ob die Entrückung »in corpore sive extra corpus« erfolgt sei. Spätere Visionsberichte konnten sich nicht auf diese Formulierung der Bibel zurückziehen, sondern mußten die A r t der Entrückung genauer definieren. Sie hatten außerdem den Visionär vorzustellen und direkt oder indirekt ein Urteil über seine Glaubwürdigkeit abzugeben. Ein klassisches Beispiel bietet die bekannte Vision Dryhthelms, die Beda i m fünften Buch seiner englischen Kirchengeschichte erzählt. Weil der Bericht Vorbild für viele Jenseitsvisionen des Mittelalters wurde, rufe ich Ihnen die wichtigsten Fakten in die Erinnerung zurück. Der Held der Erzählung ist der fromme Familienvater Dryhthelm aus Northumberland. Als er nach langer Krankheit das Zeitliche segnet, verbringt die Familie weinend die Nacht am Lager des Toten, der am Morgen zur Überraschung aller wieder zum Leben erwacht. Entsetzt fliehen die Angehörigen, einzig seine Frau bleibt zurück und erfährt von ihm, daß er zum Leben wieder erweckt sei, nun aber ein ganz anderes Leben als bisher führen wolle. Er läßt diesen Worten sofort Taten folgen, indem er seinen Besitz in drei gleiche Teile aufteilt: einen für seine Frau, einen für die Kinder, während er den dritten Teil, den er für sich selbst behielt, sofort den Armen schenkt. Mittellos tritt er in das Kloster Melrose ein und lebt dort noch viele Jahre i n unvorstellbarer Askese, die sich vor allem i n stundenlangen Aufenthalten i m kalten Wasser des Flusses Tweed dokumentiert, selbst i m tiefsten Winter, w o er von treibenden Eisschollen umgeben ist. Verläßt er den Fluß, wechselt er die klatschnasse Kleidung nicht und trocknet sich nicht ab alles, wie er neugierigen Gesprächspartnern zu erkennen gibt, in Erinnerung an

Die Gegenwelt im Jenseits

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die i m Jenseits erlittenen Kälteschauer. Sein Bericht, der übrigens als Exzerpt gesondert von Bedas Werk in vielen Handschriften überliefert ist, hat das abendländische Bild der Hölle über Jahrhunderte geprägt. Während die Neuzeit vorwiegend von einem ewig währenden Höllenfeuer, von Kesseln und unerträglicher Hitze spricht, ist die von Beda beschriebene Hölle, durch die Dryhthelm von einem Engel geführt wird, von dem Antagonismus von Hitze und Kälte bestimmt. Der Visionär zieht durch ein Tal, dessen eine Seite von Schneetreiben, Hagel, Sturm und Eiseskälte beherrscht wird. A u f der anderen Seite lodern Flammen. Die Seelen der Verdammten sind unaufhörlich in Bewegung; sie springen zwischen beiden Temperaturzonen unendlich oft hin und her, denn es gibt keine wohltemperierte Mittelzone, sondern nur Hitze und Kälte, Gestank und Verzweiflung. Der Begleiter Dryhthelms, eine helle Lichtgestalt, führt ihn weiter zu einer Mauer, hinter der ein hell erleuchtetes Gebiet voll von Blumen und Wohlgeruch beginnt, in dem weißgekleidete Gestalten sich ergehen und sich viele Wohnungen befinden, i n denen glückliche Seelen wohnen. Als Dryhthelm still bei sich erwägt, daß er w o h l i m H i m m e l angekommen sei, kommt der Engel seiner noch nicht formulierten Frage wie ein Gedankenleser zuvor und erklärt, daß es sich nur u m eine A r t Vorhimmel handele. Er führt ihn weiter zu einem Punkt, von dem aus Dryhthelm ein noch heller erleuchtetes Gebiet und einen noch süßeren D u f t wahrnehmen kann als i m Vorhimmel. Der eigentliche H i m mel, zu dem ihm der Zutritt verwehrt ist, ist nicht nur von Licht und Wohlgeruch, sondern auch von schönster Musik erfüllt. Dryhthelms Führer dreht an dieser Stelle jedoch um, so daß der Visionär keine weitere Beschreibung des Himmels bieten kann. So hat der Visionär i m Laufe seines Nachvisionslebens in der Hauptsache über die Qualen und düsteren Aspekte des Jenseits gesprochen und sie durch sein Eintauchen in den eisigen Fluß Tweed auch den Fernerstehenden demonstriert. Dryhthelms Vision und die Visio Pauli haben das Bild des Jenseits geprägt: Gemeinsam ist ihnen ein Jenseits, in dem der H i m m e l in nur wenigen Sätzen, oft nur in wenigen Worten, als O r t des hellen Lichts, der Musik, und das heißt meist des Gesangs, seltener der Instrumentalmusik, und vor allem als O r t des Wohlgeruchs geschildert wird. Der Schwerpunkt liegt auf Hölle und Purgatorium, wobei zwischen Schuld und Strafe eine Entsprechung walten muß. Nach der lex talionis w i r d der Sünder an dem Glied gestraft, mit dem er gesündigt hat; wer andere verleumdete, dessen Zunge w i r d durchstochen oder weit aus dem Rachen herausgezogen und durch Fackeln i n Brand gesetzt; ein Sünder, der sich wie Karl der Große i n sexualibus vergangen hat, w i r d an der entsprechenden Körperstelle mißhandelt; ein korrupter Richter muß auf einem glühenden Richterstuhl Platz nehmen; die Teufel erhitzen die von ihm als Bestechungsgelder eingenommenen Goldmünzen und zwingen ihn, das flüssige

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Paul Gerhard Schmidt

Gold zu trinken; Mönche, die durch den Gebrauch der Zeichensprache, d. h. der loquela digitorum, das Schweigegebot umgangen haben, werden dadurch bestraft, daß eifrige Schmiedeteufel die Hände, mit denen die Mönche ihre Zeichen machten, auf einen Amboß legen und sie mit ihren schweren Hämmern zermalmen. Sünder werden halbiert, i n Stücke zerschnitzelt, verätzt, mit nackten Füßen über Dornen gejagt; man entfernt ihre Finger- und Fußnägel, brennt sie, fesselt sie, wirft sie in die Luft und entwickelt insgesamt ein Szenario an Sadismus, zu dem es in antiker Literatur keine Parallelen gibt. Bedas detaillierter, erzählfreudiger Bericht über Dryhthelms Vision hat gegenüber der Paulusvision die eine wichtige Neuerung, daß der Visionär uns in seinem Lebenskreis vorgestellt wird: Seine Vorgeschichte, sein Familienstand, Alter, Beruf; w i r erfahren etwas über die Reaktion seiner Umgebung und über sein Verhalten nach der Vision, hier über seinen Klostereintritt. I n anderen Fällen w i r d von einer Predigttätigkeit des Visionärs berichtet, der von Gemeinde zu Gemeinde, von Kirche zu Kirche zieht oder von Interessierten in seinen eigenen vier Wänden aufgesucht und befragt wird. Man examiniert die Visionäre unter theologischen Gesichtspunkten, vielfach fragt man aber auch nur nach dem Schicksal einzelner Verstorbener, die dem Frager nahestanden. Lokale Elemente nehmen eine wichtige Rolle ein; ohnehin erweitert sich die Rahmenhandlung i n ihrem Umfang so, daß die Vision zwar noch i m Zentrum steht, aber nicht mehr die Hauptsache zu sein scheint. Krankheitsgeschichten, Geschichten über Wiederbelebungsversuche am Körper des Visionärs während seiner Entrückung, die Beschreibung seines katatonischen Körpers und die nach dem Visionsgeschehen eingetretenen Änderungen werden diskutiert. Wie kann ein zuvor verschlossener Mann, der niemals zu einer größeren Menschenmenge zusammenhängend zu sprechen in der Lage war, nun plötzlich mit großer Souveränität über Vorgänge berichten, die ihm unbekannt waren. Ist der Visionär überhaupt glaubwürdig? Diese Fragen werden in der Folgezeit von den Redaktoren diskutiert, die die Berichte der Illiteraten in lateinischer Sprache festhielten; denn nur wenige Beschreibungen des Jenseits liegen in Originalaufzeichnungen der Visionäre selbst vor. Die Geistlichen, die ihre Berichte aufzeichneten, ließen bewußt und unbewußt eigene Jenseitsvorstellungen oder literarische Reminiszenzen in ihre lateinische Version einfließen. Kontrolle über den schriftlich fixierten Text seines mündlichen Berichts konnte ein Visionär nicht ausüben, es sei denn, daß er i m Lauf seines Lebens den Stand des Analphabeten verläßt. Alberich von Settefrati, dem als Neunjährigem i m Verlauf einer Krankheit eine Jenseitsvision zuteil wurde, trat einige Jahre danach als Mönch i n das Kloster Monte Cassino ein, erlernte Lesen und Schreiben und stieß eines Tages i n der Klosterbibliothek auf den Bericht über seine Jenseitsvision, den ein Mönch von Monte Cassino aufgezeichnet

Die Gegenwelt im Jenseits

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hatte. 4 Alberich las den Bericht mit zunehmender Überraschung und wachsender Empörung. I n einem Brief an die Besitzer von Handschriften der Vision macht er seinem Herzen Luft: Die Aufzeichnung enthalte viele Verfälschungen, darunter ganze Kapitel, die der Redaktor von sich aus hinzugefügt habe. Alberich bezeichnet die inkriminierten Stellen, überarbeitet den Text und bittet darum, die Handschriften mit den verfälschten Ergänzungen und Zutaten zu zensieren, das Unechte zu tilgen. Er war damit erfolgreich, denn w i r besitzen jetzt nur noch die von ihm revidierte zweite Auflage, die er mit seinem Protestschreiben einleitet. Das Jenseits, wie Pseudo-Paulus, Gregor der Große und Beda es schildern, erschien dem Hochmittelalter viel zu abstrakt, zu unanschaulich, zu sehr auf rigide Strafandrohungen für den Fall von Normenverletzungen beschränkt. Eine Epoche, die das Leiden Christi in Malerei und Plastik möglichst lebensecht darstellen wollte, verlangte nach einer Jenseitsdarstellung, die mehr bot als den unaufhörlichen Wechsel von Hitze zu Kälte oder als das Stehen in eiskalten Säuren. Die Vision des englischen Bauern Thurkill, die bald nach 1206 ein englischer Zisterzienser in East Anglia aufzeichnete, kam diesem Bedürfnis nach Anschaulichkeit entgegen. Sie läßt den Visionär an einem Wochenendvergnügen der Teufel teilnehmen. 5 Von zwei Heiligen begleitet nähert sich der Bauer einem Theater. Es w i r d als antikes Amphitheater beschrieben - entweder der Visionär oder der Redaktor seiner Vision muß ein römisches Theater, vielleicht in Südfrankreich, in St. Albans oder i n Italien gesehen und seine Funktion gekannt haben. Man erfährt, daß die Teufel an jedem Samstagabend ins Theater gehen. Der Visionär läßt sich diese Gelegenheit nicht entgehen. Hinter einer Mauer gut versteckt, wohnt er der Aufführung bei. Vor den feixenden und grölenden Teufeln treten Sünder auf, die ihre zu Lebzeiten begangenen Verbrechen pantomimisch wiederholen müssen. Ein Müller schleicht sich auf die Bühne. W i r wissen ja alle, daß Müller notorische Diebe sind. So schleicht sich dieser arme Sünder an die vollen Mehlsäcke heran, die auf der Bühne stehen, schaut sich scheu u m und bedient sich reichlich aus den Säcken. Die Diebesbeute wechselt aber die Farbe, das weiße Mehl w i r d zu roter Feuerglut, die Lohe erfaßt den Sünder und verbrennt ihn zu einem Häuflein Asche. Die Teufel applaudieren. Dann erscheinen einige Knechte mit einem Ochsengespann. Da sie ihre schlechte Laune nicht an ihrem Herrn auslassen können, halten sie sich an dessen Vieh schadlos, das sie mit ausgesuchten Bosheiten drangsalieren. Die Strafe bleibt nicht aus - die mißhandelten Tiere gehen auf ihre Quäler los und 4 Paul Gerhard Schmidt, Visio Alberici. Die Jenseitswanderung des neunjährigen Alberich in der vom Visionär um 1127 in Monte Cassino revidierten Fassung, Sitzungsberichte der wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Band XXXV, Nr. 4 (Stuttgart 1997). 5 Visio Thurkilli, 19-28 bzw. 48-65.

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Paul Gerhard Schmidt

spießen sie auf. Eine andere Szene zeigt ein ehebrecherisches Paar, das zu seiner eigenen Beschämung i n aller Öffentlichkeit sein heimliches Tun wiederholen muß. Die anfängliche Liebesraserei verwandelt sich in wechselseitige Aggression und Vernichtung. Hier sehen w i r den Visionär als Voyeur, der heimlich die Zuschauer einer Veranstaltung beobachtet, die sich die Zeit mit der Zurschaustellung von Sünden vertreiben. Visionstexte erfüllen eine Unterhaltungsfunktion. Die Texte geben Auskunft, wie der Visionär ins Jenseits gelangt. Sie beschreiben die Reise der Seele, die mit einem Vogelflug verglichen wird. Wie eine Taube schwingt sich die Seele in die Höhe, dabei schaut sie vom H i m m e l herab in das verlassene Haus zurück; ihr Blick durchdringt Dächer und Mauern. Sie sieht die geheimen Beschäftigungen ihrer Mitmenschen, die sich einsam wähnen. Einige dieser Berichte aus der Vogelperspektive nehmen geradezu den Diable boiteux von Lesage aus dem Jahre 1707 vorweg, w o ebenfalls ein Betrachter durch die Dächer hindurch das Fehlverhalten seiner Mitmenschen betrachtet. Manche dieser Visionen des 12. und 13. Jahrhunderts begnügen sich nicht damit, idealtypische Sünder wie die Ehebrecher, Tierquäler oder Mehldiebe darzustellen. Eine große Jenseitsvision, die sich 1196 in dem bei Oxford gelegenen Benediktinerkloster Eynsham ereignete, ist viel präziser: Dieser Text von etwa 100 Druckseiten, bisher eine der unbekanntesten Jenseitsvisionen des Mittelalters überhaupt, w i r d seit ca. 8 Jahren von meinen Mitarbeitern und mir für eine Edition i m Corpus Christianorum vorbereitet. Es gibt mehrere lateinische Redaktionen, drei deutsche Ubersetzungen des 15. Jahrhunderts, eine englische w o h l aus der gleichen Zeit und eine erstaunlich große Zahl von Handschriften. Diese Jenseitsvision ist sehr präzise in der Beschreibung der i m Jenseits bestraften Personen. Hier w i r d nicht nur Heinrich II. von England in die Hölle versetzt, nicht wegen der Ermordung des Heiligen Thomas Becket, sondern wegen seiner Jagdleidenschaft, mit der er die Bauern bedrückte, wegen seiner notorischen sexuellen Eskapaden usw., sondern es werden auch drei englische Bischöfe der gleichen Zeit genannt, die wegen ihrer Verfehlungen i m Purgatorium büßen: Der eine war Jurist, Vizekönig und starb als Begleiter Richards Löwenherz auf dessen Kreuzzug - der Betreffende ist auch ohne Namensnennung leicht zu identifizieren. 6 Über alle drei heißt es, daß sie verurteilt sind, weil sie sich nicht u m die Seelen ihrer Gemeindemitglieder sorgten, weil sie auf Geld versessen waren, die Armen verachteten, den Fürsten schmeichelten, weil sie ihre Verwandten begünstigten, kurz, weil sie sich u m ihr eigenes materielles 6 Thomas Ehlen, Johannes Mangei, Elisabeth Stein (Hgg.), Visio Edmundi monachi de Eynsham. Interdisziplinäre Studien zur mittelalterlichen Visionsliteratur; ScriptOralia 105 (Tübingen 1998), 79-81.

Die Gegenwelt im Jenseits

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Fortkommen sorgten und sich nicht i n den Dienst Christi stellten. Kurzum: Die Visionsberichte zeigen uns, wie die Normen dieser Welt i n der Gegenwelt widergespiegelt werden. Unter Berufung auf eine außerweltliche Autorität werden die Einhaltung und die Geltung innerweltlicher Normen gefordert.

2 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 44. Bd.

Walthers Neuerungen i m Minnesang und die Freundschaftsliteratur des 12. Jahrhunderts Von Ralf-Henning

Steinmetz

I. Bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts war für Walthers Neuerungen in der Liebeslyrik ein Erklärungsansatz üblich, der letztlich von der Literarästhetik der Goethezeit bestimmt war. Walthers Reformierung des deutschen M i n nesangs wurde als Uberwindung der erstarrten höfischen Konventionen und als Durchbruch zu Wirklichkeit und Natürlichkeit verstanden: Die »nur gesellschaftlich höfische Minne« sei »für Walther und seine Freunde damit endgültig erledigt, das Götzenbild der frouwe zerschlagen«, 1 bei ihm träfen w i r auf »eine wip- Verehrung, die alles als unwahr und unnatürlich Empfundene i m -ze^-Ideal überwindet«, 2 »in der Gestalt des herzelieben frouwelins« wären Walther »Erlebnis und Offenbarung des Ewig-Weiblichen« 3 geschenkt worden und »mit dem Wunschtraum der ebenen Minne als des Inbegriffs reinster Humanität« tauche Walther »ganz ein in die irdische Realität (idealrealistisch)«. 4 So, stellvertretend für viele, die Formulierungen in Halbachs zuletzt 1983 gedruckter Einführung in der Sammlung Metzler. Dabei wurde schon i m 19. Jahrhundert erkannt, daß dem Spruchdichter Walther ein entscheidender Anteil an den Neuerungen des Minnesängers zukommt. 5 Aber erst Ranawake und Hahn haben 1982/83 bzw. 1986 die sich dar1 Kurt Herbert Halbach, Walther von der Vogelweide, bearb. Manfred Günter Scholz, Sammlung Metzler 40 (4., durchges. u. erg. Aufl., Stuttgart 1983), 85. 2

Halbach (wie Anm. 1), 86. Halbach (wie Anm. 1), 87. 4 Halbach (wie Anm. 1), 90. 5 Vgl. etwa allgemein Wilhelm Wilmanns, Leben und Dichten Walthers von der Vogelweide (Bonn 1882), 35; dagegen sah Konrad Burdach, Walther von der Vogelweide. Philologische und historische Forschungen, Erster Theil (Leipzig 1900), 37 den Erwerb neuer künstlerischer Mittel im Minnesang als größten Gewinn des erzwungenen Fahrendenlebens und hielt die reflektierenden Partien für Jugendschwächen. Ludwig Uhland wiederum empfand diese Passagen in seinem frühen Lebensabriß »Walther von Vogelweide, ein 3

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aus ergebenden Implikationen für das Verständnis der Texte ausgeführt. Ranawake wies nach, daß Walthers Neuerungen weniger i m Kontrast und als Gegensatz zum hohen Minnesang zu verstehen sind, sondern als Versuch, »die Vorstellungen der höfischen Minne [ . . . ] ethisch neu zu begründen« 6 . Hahn konnte zeigen, wie Walther das gegenseitige Verhältnis von Minne, Gesellschaft und Sang aus der gattungstypischen Perspektive der Spruchdichtung neu ordnet. 7 Seitdem hat die Beschreibung von Walthers Liebeslyrik einen grundlegenden Wandel erfahren, der sich mittlerweile auch in den Handbüchern niederschlägt. Wo Schweikle in seiner Minnesang-Einführung 1990 noch emphatisch die »Vollendung« und »Überwindung« des Hohen Minnesangs durch den »Entwurf neuer Minne-Konzeptionen« 8 in Walthers Liedern pries, beschreibt Hahn 1996 im Walther-Arbeitsbuch von Brunner, Hahn, Müller und Spechtler nüchtern Walthers »neue Akzentuierung innerhalb tradierter Vorstellungen« 9 des Minnesangs. Einen Schritt weiter noch ging Scholz 1999 in der Neufassung der MetzlerEinführung zu Walther, w o er Hahn inhaltlich und terminologisch in der Beschreibung >neuer Akzente< folgte. Seinerseits einen neuen Akzent setzend, sah er in Walthers Auffassung der Liebe zwar ebenfalls »nichts Neues«, hielt aber fest, daß Walther »sie als erster zur These geprägt« 10 hat. Zugleich legte Scholz längst problematisch gewordene Begriffe wie >MädchenliederNeue Hohe Minne< oder >Herzeliebeherzeliebe< und die höfische Minnedoktrin«, in: Helmut Birkhan (Hg.), Minnesang in Österreich, Wiener Arbeiten zur germanischen Altertumskunde und Philologie 24 (Wien 1983), 109-152, hier 150; vgl. unten S. 45 Anm. 106. 7 Gerhard Hahn, »Walther von der Vogelweide oder Ein Spruchdichter macht Minnesang«, in: Erich Huber-Thoma u. Ghemela Adler (Hgg.), Romantik und Moderne. Neue Beiträge aus Forschung und Lehre. Fs. f. Helmut Motekat, (Frankfurt am Main [u. a.] 1986), 197-212; vgl. auch schon Gerhard Hahn, »Zum sozialen Gehalt von Walthers Minnesang. Einige Beobachtungen am Text«, in: Dietrich Huschenbett [u. a.] (Hgg.), Medium aevum deutsch. Beiträge zur deutschen Literatur des hohen und späten Mittelalters. Fs. f. Kurt Ruh z. 65. Geb., Tübingen 1979, 121-138. 8 Günther Schweikle, Minnesang,, Sammlung Metzler 244 (Stuttgart u. Weimar 21995), 90. 9 Gerhard Hahn, »Walthers Minnesang«, in: Horst Brunner, Gerhard Hahn, Ulrich Müller u. Franz Viktor Spechtler, Walther von der Vogelweide. Epoche - Werk - Wirkung (München 1996), 74-134, hier 75. 10 Manfred Günter Scholz, Walther von der Vogelweide, Sammlung Metzler 316 (Stuttgart u. Weimar 1999), 104, hier mit Bezug auf die Idee der Gegenseitigkeit.

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dern bestimmt haben und die auch von Hahn noch zur Orientierung gebraucht wurden, endgültig zu den Akten der Forschungsgeschichte. 11 Die neuen Akzente, mit denen Walther thesenhaft den deutschen Minnesang bereichert, lassen sich ebenfalls in Schlagwörter fassen. »Gegenseitigkeit, Unterscheidung, Verwirklichung« sind nach Hahn (und Scholz) die Eigenschaften, die Walther »von dem Minnepaar und der Minne fordert«. 1 2 Ich gehe der Reihe nach auf diese nicht ganz eindeutigen Begriffe ein. Zuerst zur Gegenseitigkeit. I n den Liedern der hohen Minne sieht sich der Mann oft gezwungen, sich mit dem wän zufriedenzugeben, der bloßen Hoffnung auf Lohn. Dagegen fordert Walther »die beglückende Zuwendung der Partnerin«: Minne ist minne, tuot si wol (L. 69,5). Die Gegenseitigkeit der Liebe kommt auch i m hohen Minnesang zur Sprache, 13 bleibt dort aber »im unbestimmten Belieben« der Frau, während Walther »sie als unabdingbar für die Minne, wenn diese wirklich Minne sein will, einfordert«: 14 minne ist zweier herzen wunne: teilent sie geliehe, so ist die minne da (L. 69,10 f.). 1 5 I n einem anderen Lied definiert Walther: eines friundes minne, diu ist niht guot y da si ein ander bi. Minne entouc niht eine, si sol sin gemeine, so gemeine, daz sige durzwei herze und durch dekeinez me (L. 51,7-12). Diese in der gegenwärtigen Forschung übliche Ansicht ist allerdings stark zu relativieren. Denn nicht Walther ist es, der in den fraglichen Liedern die Gegenseitigkeit der Liebe fordert, sondern ein lyrisches Ich i n der Rolle eines Minnesängers, der um eine Frau wirbt. I n dieser Werbungsphase greift er argumentativ auf die erstrebte Phase der von Gegenseitigkeit und Freude erfüllten Liebe vor. Die Forderung nach Gegenseitigkeit ist keine Neuerung in der Liebeskonzeption, sondern eine neue Werbestrategie, ein neues Motiv, mit dem Walther den Minnesang bereichert. 16 I m übrigen ließe sich der Wunsch nach erwiderter, 11

Scholz (wie Anm. 10), 95-149. Gerhard Hahn, »Walther von der Vogelweide«, in: 2Verfasserlexikon> 10 (1999), 665697, hier 677; vgl. zustimmend Scholz (wie Anm. 10), 102-106. Etwas Ähnliches implizierte für die ältere Forschung die herzeliebe als »Prinzip gegenseitiger, erfüllter, überständischer Liebe«, so, sich distanzierend, Rüdiger Krohn, »Sein oder nicht sein? L. 91,17 ff. Fälschung und/oder Schlüssel zu Walthers Minnelyrik«, in: Hans-Dieter Mück (Hg.), Walther von der Vogelweide. Beiträge zu Leben und Werk y Kulturwissenschaftliche Bibliothek 1 (Stuttgart 1989), 221 -235. 13 Vgl. auch Ranawake (wie Anm. 6), 116 u. 143 f. 14 Hahn (wie Anm. 9), 76. 15 Walther von der Vogelweide, Leich, Lieder; Sangsprüche, 14., völlig neubearb. Aufl. der Ausg. Karl Lachmanns, hg. Christoph Cormeau (Berlin u. New York 1996). Ich zitiere wie üblich unter Angabe von Lachmanns alter Seiten- und Verszählung nach dieser Ausgabe, auf sie beziehen sich auch die römischen Strophennummern. 16 Eine ausführliche Begründung findet sich in meiner Studie: »Gegenseitigkeit als Argument in Walthers Minnesang«, in: Zeitschrift für deutsches Altertum, 132 (2003), H. 3 [im Druck]. 12

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erfüllter, beglückender Liebe zwischen Mann und Frau auch als das Eindringen einer anthropologischen Konstante der erotischen Geschlechterbeziehungen in das literarische System Minnesang verstehen und ist daher an sich ebenso wenig weiterer Erklärung bedürftig wie das von Halbach und anderen propagierte Verständnismuster. 17 Für die Forderung nach moralischer Unterscheidung und Verwirklichung, die anderen beiden Neuerungen Walthers, gilt das jedoch nicht. 1 8 >Unterscheidung< meint die sorgfältige Prüfung eines künftigen Partners, seines Charakters und seiner Tugenden. Die moralische Wertschätzung des anderen muß der Liebe vorausgehen, und zwar nicht nur die Wertschätzung des Mannes durch die Frau, sondern auch umgekehrt. Walther scheidet die guoten und die bcesen (L. 58,36) und lobt si niemer alle (L. 45,14), denn si enwerden alle guot (L. 45,16). Das gefällt den losen Frauen nicht (L. 45,15) und macht ihnen den Sänger verhaßt (L. 58,36). Denn die Tugenden spielen zwar auch i m klassischen Minnesang eine wichtige Rolle, nur w i r d ihr Vorhandensein, w i r d die Verwirklichung der höfischen Ideale bei der besungenen adeligen Dame, auf deren Liebe sich das Begehren richtet, ebenso selbstverständlich vorausgesetzt wie ihre außerordentliche Schönheit. Walther nun wendet sich zwar nicht, wie man bis in die 1980er Jahre angenommen hat, von diesen adeligen Damen ab und den einfachen Mädchen z u . 1 9 Aber der gesellschaftliche Stand der Frau spielt in seinen Liedern keine wichtige Rolle mehr. A n die Stelle der sozialen Unterschiede treten bei Walther die moralischen. N i c h t der Geburts-, sondern der Tugendadel ist das Kriterium für die Auswahl der oder des Geliebten. 2 0 »Frauenpreis konfrontiert nun die Partnerin mit einem Leitbild, das auch sie erst zu erfüllen hat und zum kritischen Maßstab w i r d für diese Erfüllung.« 2 1 I n dem Dialoglied Ich hoere iu so vil 17

Zum derzeitigen Erkenntnisstand der Anthropologie vgl. Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Grundriß der Humanethologie (3., überarb. Aufl., München 1995, Weyarn 1997), 322-365. 18

Ich sehe auch keinen Sinn darin, für das Verständnis historischer Entwicklungen auf metaphysische Potenzen wie die »entelechiale Eigenkraft des mhd. Minnesangs« zurückzugreifen, die »bes. deutlich in den Ausbildungen der Mädchenlieder Walthers von der Vogel weide und v. a. an Neidharts Lyrikneuerungen« geworden sein sollen, nur weil »bei Reinmar, Walther von der Vogelweide oder gar Neidhart [ . . . ] mit den bekannten Einflußtheorien ohnedies wenig auszurichten« sei (Schweikle (wie Anm. 8), 78). 19 Vgl. Joachim Heinzle, »Mädchendämmerung. Zu Walther 39,11 und 74,20«, in: Burkhardt Krause (Hg.), Verstehen durch Vernunft. Fs. f. Werner Hoffmann, Philologica Germanica 19 (Wien 1997), 145-158. 20 Zu dieser Unterscheidung im Hochmittelalter vgl. Karl Heinz Borck, »Adel, Tugend und Geblüt«, in Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur,, 100 (Tüb. 1978), 423-457 mit weiterer Literatur. 21 Hahn (wie Anm. 9), 77.

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tugende jehen (L. 43,9 ff.) - es handelt sich u m das mit acht Handschriften am häufigsten überlieferte Lied des deutschen Minnesangs - läßt Walther eine Frau und einen Mann die Idealvorstellungen formulieren, die sie sich von dem jeweils anderen Geschlecht machen. Die Frau erwartet vor allem, daß der Mann Frauen nach ihrem sittlichen Wert unterscheiden kann: Ich sage iu, wer uns wol behaget: der beide erkennet, übel unde guot (L. 44,1 f.). Besitzt der Mann die geforderten Eigenschaften, dann darf er auch auf die Erfüllung seiner Liebeswünsche rechnen (der mac erwerben, des er gert; L. 44,8). I n dem ebenfalls reich, nämlich in fünf Handschriften, überlieferten Lied Hier vor,; dö man so rehte minneclichen warp (L. 48,12 ff.) beklagt Walther den Verfall der höfischen Sitten. D o r t w i r d deutlich, daß er die moralische Unterscheidung nicht nur von den Männern in bezug auf die Frauen erwartet, sondern auch umgekehrt: Ich sage iu, wer uns den gemeinen schaden tuot: diu wip geleichent uns ein teil ze sere, daz wir in also liep sin übel alse guot. seht, daz geliehen nimet uns vröide und ere. Schieden uns diu wip als e, daz och si sich liezen scheiden, daz gefrumt uns iemer me, mannen unde wiben beiden, waz stet übelwaz stet wol, ob man uns niht scheiden solf edeliu wip, gedenket, daz och die man waz kunnen: gelichens iueh, ir sit gekrenket (L. 48,25 ff.). Indem Walther die sittliche Unterscheidung betont, macht er bewußt, daß die moralische Qualität nicht literarisch formulierte Abbildung der tatsächlichen Verhältnisse ist, sondern ein Ideal, nach dem die Wirklichkeit geformt werden muß, wenn die höfische Gesellschaft und besonders die Frauen darin ihr Spiegelbild sehen wollen. 2 2 Der Anspruch, höfisch lieben zu können, gründet sich nicht auf die soziale, sondern auf die moralische Überlegenheit. Wer über die üblichen höfischen Qualitäten verfügt, mag zwar zu besseren Gesellschaft gehören, der Liebe würdig ist aber nur, wer unabhängig davon einfach guot ist: Edel unde riche sint si sumeliche, dar zuo tragent si hohen muot: lihte sint si bezzer, du bist guot (L. 50,19 ff., hier I I I 5 - 8 ) . Die Kritiker, die ihm vorwerfen, daß er seinen Sang zuo nider wende (L. 49,25 ff., hier I I 2), werden belehrt, daß von wahrer Liebesfreude {liebe) nicht die Rede sein könne, w o sich die Liebe nach dem guote und nach der schcene ( I I 6) richtet. Die Frau muß triuwe und staetekeit ( V I ) besitzen. Kann sie diese Forderung nicht erfüllen, so zieht er seine Werbung zurück: Hast aber du der zweier niht, so müezest du min niemer werden (V 6). 2 3 I n der neueren Forschung wurde dieser ethische Anspruch recht pauschal mit der Personalunion von Spruchdichter und Minnesänger erklärt, die uns in Walther erstmals entgegentritt. 24 Die moralische Erziehung gehört i m ganzen 22

Vgl. Hahn (wie Anm. 9), 99. Vgl. Ranawake (wie Anm. 6), 114 f. 24 Vgl. die Literatur in Anm. 7 und die Zusammenfassungen bei Hahn (wie Anm. 9), 78 u. 132 f. und Scholz (wie Anm. 10), 23 f. 23

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Mittelalter zu den Kernthemen der Sangspruchdichtung, und bereits in einer der ältesten Strophen w i r d die Forderung nach Unterscheidung der Guten von den Bösen formuliert. 2 5 Die bloße Tatsache, daß Walther in den beiden lyrischen Hauptgattungen zuhause ist, erklärt jedoch nicht, warum die moralische Unterscheidung ausgerechnet auf die erotische Beziehung der Geschlechter übertragen und die Liebesethik zum Thema von Minnesang und Spruchdichtung w i r d . 2 6 Hahn versucht, dieses Problem zu lösen, indem er die beruflichsoziale Zwitterstellung Walthers konsequent weiterdenkt: Die Änderungen, die Walther am herkömmlichen Minnesang vorgenommen hat, erklären sich wesentlich mit daraus, daß sie nicht irgendeiner, sondern der zum Fahren gezwungene Spruchdichter Walther vorgenommen hat, der nicht von irgendeiner, sondern dieser Position aus einen Minnesang schaffen will, der ihn zu uneingeschränkter Teilnahme berechtigt. 27 Der Minnesang als Kunstübung adeliger Dilettanten und >hofsässiger< Literaten wie Reinmar sei dem fahrenden Spruchdichter verwehrt gewesen. Wenn Walther schon nicht von sich aus seine soziale Stellung ändern konnte - dahinter steht die »germanistische Legendes Walther habe sich zeitlebens u m Reinmars angebliche Hofpoetenstelle in Wien beworben 2 8 - , so wäre er doch in der Lage gewesen, den Minnesang selbst so zu verändern, daß seine eigene Kompetenz unzweifelhaft wurde. Das ist ein anregender Erklärungsversuch, der sich jedoch als psychologische Spekulation weiterer wissenschaftlicher Prüfung entzieht. Für Ranawake stellt sich das Problem der psychischen Motivation nicht, da sie zu zeigen versucht, daß Walther zwar i n der Geschichte der deutschen Lyrik der Urheber der Verschmelzung von Minnesang und minnedidaktischer Sangspruchdichtung war, sich inhaltlich aber i m Zusammenhang bereits vorhandener Modelle verstehen läßt, wie »Entsprechungen in der zeitgenössischen M i n nelehre mit lateinischem Hintergrund« 2 9 zeigen. Ihre Zeugen sind die bekannten »Vorläufer der eigentlichen Minnelehren« 3 0 : >Der heimliche BoteBüchleinWelscher Gast< und die >De amore libri tres< des Andreas (Capellanus). Diese vier Werke verbinden Minnedidaxe mit Tugend25

Vgl. Herger, MF 29,20 ff. Ranawake (wie Anm. 6), 124. 27 Hahn (wie Anm. 7), 206. 28 Vgl. Günther Schweikle: »Die Fehde zwischen Walther von der Vogelweide und Reinmar dem Alten. Ein Beispiel germanistischer Legendenbildung«, in: Zeitschrift für deutsches Altertum, 97 (1986), 235-253; wieder in: ders., Minnesang in neuer Sicht (Stuttgart u. Weimar 1994), 364-389, hier 366-371. 26

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Ranawake (wie Anm. 6), 150. Ranawake (wie Anm. 6), 124.

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lehre, kennen zudem die bei Walther begegnende Einteilung von Gütern wie Schönheit, Reichtum und Tugend i n innere und äußere und weisen i m einzelnen weitere Motivparallelen auf. >Der heimliche Bote< steht jedoch i n einer ovidianischen Tradition, in deren mittelalterlicher Adaption Tugend als Teil der Qualitäten fungiert, die den clericus als Liebhaber vor dem miles auszeichnen. 31 Ahnliches gilt zum Teil auch für >De amoreDer heimliche Bote< und Hartmann die Tugendforderung wie i m hohen M i n nesang üblich nur an den Mann heran, nicht wie Walther auch an die Frau. 3 3 Auch der >Welsche Gast< hilft uns bei der Suche nach dem geistigen Hintergrund nur bedingt weiter, da das nähere Verhältnis des 1215/16 verfaßten Werkes zu Walthers Liedern nicht ausreichend genau bestimmt werden kann. 3 4

II. Ich möchte daher einen anderen Ansatz zur Diskussion stellen, der sich durchaus mit Ranawakes und Hahns Ausgangsbeobachtungen vereinbaren ließe. Es wäre zu überlegen, ob nicht ein Zusammenhang zwischen Walthers Neuerungen, besonders der auffälligen Tugendforderung i n der Liebe, und einem i m Mittelalter vielfach propagierten und gelebten Modell für eine frei gewählte Paarbeziehung besteht, das durchaus vergleichbare Strukturen und Inhalte aufweist: die ethisch begründete Freundschaftsliebe. Als Idee kennen w i r sie aus Traktaten und Gedichten; ihre Praxis hat sich in Briefen und Erzählungen niedergeschlagen, in der historiographischen ebenso wie i n der fiktionalen Literatur. Merkwürdigerweise hat die Freundschaft in der germanistischen Mediävistik bisher kaum eine Rolle gespielt; die einschlägigen Studien lassen 31 Vgl. Ingeborg Glier, Artes amandi. Untersuchung zu Geschichte, Überlieferung und Typologie der deutschen Minnerede, Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 34 (München 1971), 19; Dietrich Huschenbett, »>Der heimliche BoteLancelotEngelhart der Lieben JagerFreundtschafft< und >Liebe< im >EngelhartFinis AmorisDe beatae Mariae virginitate< Hugos von St. Viktor an, in dem als Ideal der Ehe eine trostreiche Schicksalsgemeinschaft gezeichnet wird, die sich ähnlich auch in der christlichen Freundschaftsliteratur findet, etwa bei Peter von Blois. Ab dem Spätmittelalter läßt sich dann die »Übertragung des männlich geprägten und nur für Männer gedachten antik-mittelalterlichen Freundschaftsideals auf die Ehebeziehung« (167) häufiger belegen. Dafür gibt es mehrere Anknüpfungspunkte (158-200): die Übereinstimmung der Ansichten und Interessen wie auch die Annehmlichkeiten und der Nutzen, die sich aus der Verbindung ergeben können. Die vom idealen Ehepartner zu erwartende Tugend erlaubt schließlich auch den Bezug auf das Konzept der Tugendfreundschaft. Anders als bei Walther spielen Liebe und Sexualität eine zeitlich und/oder in der Bedeutung eine der Verbindung von Freundschaft und Ehe nachgeordnete Rolle. 105 Vgl. den Artikel »Freundschaft« im Historischen Handwörterbuch der Philosophie, hg. Joachim Ritter, Bd. 2 (Basel u. Stuttgart 1972), 1105-1114 mit Beiträgen von A. Müller, A. Nitschke u. Ch. Seidel. 104

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gemacht haben, die Geschlechterbeziehung aus dieser Perspektive neu zu betrachten. Die Forderung nach moralischer Qualität als Vorausetzung einer herausgehobenen Paarbeziehung konnte er von dort übernehmen und zum ersten M a l in der deutschen Liebeslyrik auf die erfüllte Liebe zwischen Mann und Frau beziehen. M i t der Übertragung der männlichen Freundschaftsideale auf das andere Geschlecht hätte Walther dann unbewußt einen Impuls wieder aufgenommen und verstärkt, der, wie Jaeger zeigt, die Institution des Minnesangs mit begründet hat. I n der provenzalischen Anfangsphase zu Beginn des 12. Jahrhunderts ging es darum, den Frauen der höfischen Gesellschaft überhaupt erst einmal die Fähigkeit zur virtus, zu »männlicher Tugendnatürlich< wirkende Verbindung der passionierten Tugendfreundschaft mit einer positiven Sicht auf die geschlechtlichen Beziehungen zwischen Frauen und Männern, wie sie in der lateinischen Vagantenlyrik oder, in anderer Weise, i n den Romanen Hartmanns, Gottfrieds und Wolframs ausgeprägt ist.

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Silvia Ranawake, »Gab es eine Reinmar-Fehde? Zu der These von Walthers Wendung gegen die Konventionen der hohen Minne«, in: Walther von der Vogelweide. Twelve studies (wie Anm. 45), 7-35, hier 29; vgl. oben S. 20. 107 »The romantic solutions given to the unsolvable problem of reconciling virtue and sexual passion sustain a brilliant literature but fail tragically as an ethic of love relations. The ethical aspects of courtly love were not viable as reality; they existed only as the shadow of an ideal of passionate male friendship inherited from earlier ages« (Jaeger (wie Anm. 36), 213).

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U m es am Ende noch einmal ganz unmißverständlich zu sagen: Der Versuch, für Walthers Neuerungen einen konkreten Einfluß oder gar einzelne Quellen nachweisen zu wollen, wäre ohne jeden Zweifel zum Scheitern verurteilt. Aber die Forderung nach moralischer Unterscheidung in der Liebe zwischen den Geschlechtern versteht sich nicht von selbst. Wenn es in Walthers geistiger U m gebung Modelle für Personenbeziehungen gegeben hat, die eine strukturelle und inhaltliche Ähnlichkeit mit Walthers Vorstellung aufweisen, sollte man die Ähnlichkeiten und Unterschiede und gegebenenfalls auch die Berührungsmöglichkeiten genauer in Betracht nehmen. Das habe ich für die Freundschaftsliteratur hier versucht.

Shakespeare and Renaissance Humanism By Wolfgang G. Müller

I. Two Definitions of Humanism The question of Shakespeare's relation to humanism is a topic of considerable importance for an evaluation of the dramatist from a literary, cultural and ideological perspective. I n the history of Shakespeare's reception there have been many attempts to ideologically appropriate the world's most important dramatist. 1 I n this context the term humanism has, in varying definitions, always figured prominently. Thus, an appropriation of Shakespeare under the heading »the dramatist as humanist« was realised from a Marxist as well as from a bourgeois position. The most recent attempt to lay claim to Shakespeare from a conservative cultural ideology comes from the pen of Harold Bloom, who in his book Shakespeare: The Invention of the Human emphasises the towering position of the dramatist in the canon of world-literature, declaring that Shakespeare had not only defined what is human - the humanum - for all ages, but that he had first brought it into the world. He, Shakespeare, »invented the human as we continue to know it.« 2 I n view of such attempts it is imperative to critically look at Shakespeare from a historically legitimated understanding of the term humanism. W i t h reference to the Renaissance the term humanism can be defined in a wider and in a narrower sense.3 The latter definition characterises Renaissance humanism by the special concern of the age w i t h »the study and imitation of classical antiquity, which is typical of the period and finds its expression in 1 A fascinating study of how over the centuries the prestige of Shakespeare has led to an appropriation by opposite cultural, political, and ideological camps is Jonathan Bate, The Genius of Shakespeare (London etc. 1998 [11997]). 2 Harold Bloom, Shakespeare: The Invention of the Human (London 1999), xviii. From a philosophical viewpoint Shakespeare is related to Renaissance Humanism by Farhang Zabeeh, Shakespeare: The Philosophical Poet (New York/Queenston/Lampeter 1999), 219. See also 5, 176. 3 For a comprehensive and lucid discussion of the term humanism and its application to Elizabethan literature see Mike Pincombe, Elizabethan Humanism: Literature and Learning in the Later Sixteenth Century (London etc. 2001).

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scholarship, education, and many other areas, including the arts and sciences.«4 A humanist is i n this sense as a teacher or student concerned w i t h the study of the studia humanitatis, the writings of the classical authors (auctores). The main fields of humanist education were grammar, rhetoric, poetry, history, and moral philosophy. Other areas, which belonged to the so-called free arts of the M i d dle Ages - the artes liberates - such as logic, mathematics and astronomy take a lesser position in humanist education and learning, even though all disciplines of the medieval trivium and quadrivium were in due course subjected to humanist influence. The wider concept of humanism is derived from the Latin word humanitas, which is semantically related to the Greek words paideia (>educationfeeling of love for mankindMay the gods grant that this is your highest glory!crimes< such as having corrupted the youth of the realm by founding a grammar school, encouraging printing, building a paper-mill and keeping company w i t h people »that usually talk of a noun, and a verb, and such abominable words as no Christian ear can endure to hear.« (2 Henry VI, IV.700.37-39) Say signs his o w n death warrant by speaking a sentence in Latin. Referring to the county of Kent, from where the rebels come, he says »bona terra, mala gens«. Cade reacts w i t h the words, »Away w i t h him! away w i t h him! he speaks Latin.« (IV.7.55) Say, then, does honour to his name, by addressing an urgent plea to Cade and his followers. As a veritable humanist he quotes - albeit in English translation and w i t h some variation - Caesar's words on Kent: »Kent, in the Commentaries Caesar writ, / Is term'd the civil'st place of all this isle« (IV.70.57 f.). The precise wording of Caesar's dictum is: »Ex his omnibus sunt humanissimi qui Cantium incolunt.« 8 H e praises the Kentians and declares how much he has done for his country and how strongly he has supported the law. I n the end he refers to his achievements in the field of education and learning, praising education and inveighing against ignorance: » [ . . . ] ignorance is the curse of God, / Knowledge the w i n g wherewith we fly to heaven.« (2 Henry VI, IV.70.70 f.) I t is obvious that w i t h such words Say cannot impress his hearers. A n aside indicates, however, that Cade is moved by Say's rhetorical affirmation of his innocence and his plea to be spared his life, but the rebel immediately suppresses his impulse of pity, cynically declaring that Say has to die, if only because he pleaded so well. H e orders Say's head - and his son-in-law's into the bargain - to be struck off and brought back on poles. Another conspicuous example from Shakespeare's plays which drastically shows that human and cultural values are destroyed in times of civil war is to be found in Julius Caesar, where the crowd moved to fury and mutiny by Antony's demagogic speech kills the poet Cinna because they mistake him for the conspirator Cinna. The poet's desperate cries - »Im am Cinna the poet, I am Cinna the poet« (III.3.29) - are of no avail. The voice of reason remains unheard. One of the crowd shouts that if he is Cinna the poet, they should tear him to shreds for his bad verses. 8

The source is Andrew Borde, The First Book of the Introduction 1548), I.ii. Quoted from the Arden Edition of 2 Henry VI, 125. 4*

to Knowledge (ca.

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Henry VI makes it quite clear that as a consequence of the Wars of the Roses a whole culture declines, the core of which is language as a means of communication and argument. I t was obviously Shakespeare's artistic decision to demonstrate that, as a consequence of the fight for the crown and the civil war of that turbulent time, humanist values and ideals are affected detrimentally. This is, of course, not to be taken as a historically adequate representation of the Wars of the Roses in the fifteenth century, a time when humanism had not yet really arrived in England. Even though these are history plays and as such use historical facts to some extent, the vision of the w o r l d presented is late Elizabethan, or, to be more precise, early Shakespearean. We cannot conclude from these plays that Shakespeare was non-humanist, let alone anti-humanist. But we can safely say that i n his history plays he chose to present a w o r l d in which humanist values are ineffectual and mocked by most of the participants in the ongoing power struggle which is depicted. What is to be noticed in the trilogy of Henry VI holds true to an even stronger degree for the next play of the first tetralogy of Shakespeare's English histories, Richard III, w i t h its magnetic villain-protagonist who on his unstoppable march to the throne resorts to the most abominable strategies and perverts all moral virtues and in doing so turns out to be one of the greatest theatrical successes Shakespeare produced. Also in the second tetralogy we look in vain for a leading politician or statesman who is wise and benevolent. Even the portrait of the most successful king Shakespeare ever presented on the stage, K i n g Henry V, is much too ambiguous to take for granted the Chorus' laudatory characterisation of him as »the mirror of all Christian kings« (II. Chorus, 7). O u r examination of Shakespeare's early histories comes to the following conclusion. Since all characters who represent a humanist position in these plays remain unheard or earn scorn and derision and usually find a violent death, Shakespeare cannot be called a humanist dramatist w i t h regard to these early works. Contrary to Wolfgang Riehle, who i n his book on Henry VI made a careful study of humanist references in these plays, I w o u l d not speak of a »sceptical humanism« 9 . The early histories, or, to be precise, Henry VI, rather ought be understood as a theatrically most effective swan-song of humanism. N o w , if humanism cannot be regarded as a cultural context for these plays, in which context should we then place them? I f we ignore the outdated reading of the history plays as an interpretation of English history in favour of the dynasty ruling England in the sixteenth century (Tudor M y t h ) , the only frame of reference w o u l d be the Machiavellian concept of politics. The most cunning and the most brutal of the power-seeking aristocrats in Shakespeare's first his-

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Wolfgang Riehle, Shakespeares Trilogie >King Henry VI< und die Anfänge seiner dramatischen Kunst (Heidelberg 1997), esp. 210-232.

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tory plays, Richard, Duke of Gloucester, is expressly related to Machiavelli, or, to be more precise, to the English stage adaptation of Machiavelli, as he is to be found in Marlowe's Jew of Malta (1592), a play which has a character w i t h the name of Machiavel among its cast. I n the third part of Henry VI Richard declares that in his attempt to »catch the English crown« (III.2.179) he w i l l muster up all his capacity for murder, deceit, and intrigue, presenting a catalogue of precedents (exempla), which he wants to imitate or, rather, outdo. H e w i l l , for instance »play the orator as well as Nestor«, deceive »more slyly than Ulysses could«, »like a Sinon, take another Troy«, »add colors to the chameleon«, and change »shapes w i t h Proteus for advantages«. A t the climactic end of this catalogue Richard refers to Machiavelli. H e boasts that he w i l l make the Machiavel look like a schoolboy: »And set the murderous Machiavel to school.« (2 Henry VI. III.200.188-193). This passage bears testimony to the tremendous fascination which Machiavelli, much admired and much reviled, exerted on the imagination of the Renaissance. I n Richard's monologue the Machiavel emerges as the incarnation of rhetorical deceit, sophistry, and hypocrisy, all qualities he deems necessary in his attempted rise to the throne. I n Richard III y then, Shakespeare presents a fascinating portrait of a power-seeker, who liquidates everybody who is an obstacle on his way to the throne, simply by his superior expertise in the art of rhetoric, hypocrisy, and manipulation and without ever personally soiling his hand w i t h blood. Even though stage characters such as Marlowe's Barrabas and Shakespeare's Richard w i t h their monstrous villainies may at first sight have nothing i n common w i t h Machiavelli's portrait of a competent, power-conscious prince, they show how the recommendation of the Florentine theorist that a politician should for tactical reasons be able to pretend to possess virtue and and at the same time to conceal his pretence was received in the theatre. Machiavelli's postulate from the eighteenth chapter of II Principe (1513) that the prince ought to be a great simulator and dissimulator - »ed essere gran simulatore e dissimulatore« - is, albeit in a theatrically heightened way, reflected on the Elizabethan stage. Shakespeare's Richard is always ready to simulate (deceptively to present positive social roles) and to dissimulate (to conceal his true character and his true intentions). Elizabethan dramatists obviously found the Machiavellian concept of power politics more suited for effective dramatisation than humanist conceptions.

I I I . Humanist Relics in Shakespeare's Early Comedies Shakespeare deals w i t h humanism in a different, but equally disrespectful way in his early comedies. The Taming of the Shrew (1593-94) begins like a veritable humanist drama. Lucentio, a young gentleman from Pisa, comes, thirsty for knowledge, to Padua, the »nursery of arts« (1.1.2), where he wants

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to take »A course of learning and ingenious studies« (1.1.9) and specifically to study »that part of philosophy [ . . . ] that treats of happiness / By virtue specially to be achiev'd.« (1.100.18-20) This truly humanist project is immediately subverted by his servant, who is named Tranio, like the cunning and resourceful servant i n Plautus' comedy Mostellaria. W i t h a rather rough play on words which joins the similar-sounding words »stoics« and »stocks« - »Let's be no stoics nor no stocks« (1.1.31) - he ridicules ethics, the domain of the Stoic philosophers, as that part of philosophy which his master desires to study. And, obviously referring to the Ars amatoria , he plays O v i d off against Aristotle. His master is not to submit so fully to Aristotle's intellectual rigour as to make O v i d an outcast: »Or so devote to Aristotle's checks / As O v i d be an outcast quite abjur'd.« (1.10.32 f.) The idea of making O v i d an >outcast< alludes, of course, to Ovid's exile in Tomi. I t is wonderfully ironic that Shakespeare here makes a servant, who by his name evokes classical comedy, employ knowledge of classical authors in his attempt to disparage the educational programme which his master has set up. Tranio, in fact, undermines his master's course of studies. Instead of studying logic, Lucentio is to chop logic, i.e. to practise w i t t y sophistry - »Balk logic« (1.1.34) - w i t h his friends. Rhetoric should be exercised in »common talk« (1.1.35) and music and poesy should be used to cheer - »quicken« (1.1.36) - his mind. According to Tranio, who uses a telling culinary metaphor, his master should only turn to mathematics and metaphysics when his appetite prompts him: »Fall to them as y o u find your stomach serves you.« (1.1.38) I n sum, he recommends, w i t h an obvious ironic allusion to Horace's pairing of prodesse and delectare , that his master should only study what causes him pleasure - « N o profit grows where is no pleasure ta'en. / I n brief, sir, study what you most affect« (1.10.39 f.) - , a maxim which Lucentio embraces all too gladly. There are some school-teaching scenes i n The Taming of the Shrew which elaborate the mock-humanist tone sounded in the play's first scene. Bianca, the younger sister of the »shrew« referred i n the comedy's title, seems to embody the humanist ideal of a well-educated woman. Her father praises her for her virtue, her domesticity, and her silence, a triad of qualities which was celebrated in Renaissance literature, for instance i n the well-known emblem depicting Venus standing naked w i t h her foot on a tortoise and w i t h her hand covering her pudenda, which means according to the emblem's text that she is locked in the house and that her body is closed and her mouth shut. 1 0 The humanist context is here explicitly referred to, since Bianca's devotion to music and books is emphasised by her father - »I know she taketh most delight / I n music, instru10 See Wolfgang G. Müller, »Das Problem weiblicher Identität bei Shakespeare«, Die Frau in der Renaissance, ed. Paul Gerhard Schmidt (Wiesbaden 1994), 223-241, especially 229-231.

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ments, and poetry (1.10.92 f.) who wants to »keep« schoolmasters »within m y house / Fit to instruct her youth.« (1.10.94 f.). N o w t w o young men pretend to be private tutors and set out to woo her under the pretext of teaching her philosophy, literature and music, which turns out to be a quite unusual kind of teaching. I t is, i n fact, a comic subversion of humanist instruction. Lucentio quotes t w o lines from one of Ovid's Heroides: Hie ibat Simoisy hie est Sigella tellus, Hie steterat Priami regia celsa senis. (III. 10.28 f.) (Here ran the river Simois, here is the Sigeian land, Here stood old Priam's lofty palace.) H e »construes«, i.e. translates the passage from Ovid, by telling the story of his o w n coming, his intention of seducing Bianca and gulling his rival, the second tutor, who is also on stage in the scene: «Hie ibat, as told y o u before - Simois, I am Lucentio - hie est, son unto Vincentio of Pisa - Sigeia tellus, disguised thus to get your love [ . . . ] « (111.100.31 - 3 3 ) Bianca joins i n the game i n formulating her answer also in accordance w i t h the grammatical structure of the passage from Ovid. First she pretends to reject Lucentio's proposal, only to agree to it whole-heartedly a little later: » N o w let me see if I can construe it: «Hie ibat Simois, I know you not - hie est Sigeia tellus, I trust you not [ . . . ] celsa senis, despair not.« (1111.40-43). The wooing of the second lover, Hortensio, who pretends to be a music teacher, follows the same comic pattern. H e declares that he w o u l d teach Bianca »the gamut«, i.e. the musical scale, i n »in a briefer sort, / More pleasant, pithy, and effectual, / Than hath been taught by any of m y trade.« ( I I I . 100.65-67) H e gives her a text which presents Guido d'Arezzo's system of the musical scale in the form of a love letter. A t the beginning he mentions »gamut« as the basis of the Hexachord i n the Guidonian system: «Gamut I am, the ground of all accord« (III.1.71). This is followed by an explanation of the individual notes w i t h the capital letters referring to the diatonic scale on which the tone syllables of the Hexachord are placed: A re, to plead Hortensio's passion B mi, Bianca, take him for thy lord C fa tit, that loves with all affection D sol re, one clef, two notes have I E la miy show pity or I die. (III. 100.71 - 76) Having read the letter aloud, Bianca does not join i n this game, which construes the musical scale analogous to Lucentio's construction of the passage from Ovid. She blames her >teacher< for having departed from orthodox teaching. She obviously has a w i l l of her own, and plainly rejects a lover w h o does not please her. A t this point already we see that she is completely different from the

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ideal picture her father paints of her. These teaching lessons are a wonderfully comic play w i t h elements of the humanist curriculum. Such a playful reference to classical education is also to be found in Love's Labour's Lost (1594-95), another early comedy, whose starting-point is the decision of the K i n g of Navarre and three of his lords to change their court into »a little academe« (1.1.13) for three years and to devote themselves entirely to the study of philosophy and the fine arts. The model for this project is Plato's school at Athens and the circle of poets, philosophers and scholars formed by the Medicis in Florence. A n impossible circumstance for a comedy is the condition that in these three years no woman shall come w i t h i n a mile of their academe and that for any man to »be seen to talk w i t h a woman« (1.1.128) w i l l lead to the severest punishment. That this grandiosely advertised humanist programme is doomed to fail is shown already in the invitation of an extravagantly dressed Spaniard, D o n Adriano de Armado, to the courtiers' castle, from whose grotesquely flowery way of speaking and arguing they expect entertainment. The whole projects finally collapses as the Princess of France and three of her ladies arrive and, having been lodged beyond the mile limit for a time, after many excuses and evasions of the lords finally gain access to the castle. The result are love-relationships between the courtiers and the ladies, which develop in strict symmetry. From then on the comedy revels i n verbal w i t and lust for argument, without any real action. Humanist aspirations have been nipped in the bud and courtly conduct, specifically the characteristic love for verbal fencing and elegant, flowery rhetoric, manifests itself in all its splendour. I n the course of the play references to humanism comically re-emerge, when t w o characters are introduced who are, albeit i n a rather limited or pedantic way, connected w i t h learnedness, the curate Nathaniel and especially the schoolmaster Holofernes, whose name may be derived from the Latin teacher, Maistre Thubal Holofernes i n Rabelais' Gargantua. Holofernes' affected verbosity mirrors the enormous growth of the lexicon in sixteenth-century England, which was caused by the adoption of Latin or Latinate words. The relevant scenes in Love's Labour's Lost have to be seen in the context of the controversy on the importance of Latin and English. Two examples must suffice. H o lofernes exhibits his knowledge of Latin like a dictionary, quoting individual words first in Latin and then adding English equivalents: The deer was, as you know, sanguis, in blood; ripe as the pomewater, who now hangeth like a jewel in the ear of coelo, the sky, the welkin, the heaven; and anon falleth like a crab on the face of terra, the soil, the land, the earth. (IV.200.3 - 7) This is a comic example of the contemporary love for synonymy. The number of the English equivalents of the Latin words varies between t w o and three. The treatment of the words coelo and terra is surprisingly similar to the corre-

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sponding entries in John Florio's dictionary, A New World of Words - »Cielo. The heaven, the skie, the firmament or welkin«, »terra. The element called earth. Also any land [ . . . ] or soile« 11 - which gives some support to the conjecture that in Shakespeare's play Holofernes stands for John Florio, a theory which is, however, upset by the fact that Florio's dictionary was published not before 1611. A term which must have been especially funny to the contemporary audience is the expression used by D o n Armado for >afternoondignity< of man, which was one of the great concerns of the humanists, belongs to the intellectual substance of Shakespeare's play. The examination of humanist elements i n Shakespeare's Hamlet would, of course, also require a discussion of the problem of revenge, for which there is no room in this study. A few brief remarks must suffice. I t is obvious that the idea of revenge is alien to humanism, and a Hamlet who shows at least signs of a humanist world-view could never be an avenger. The ideas of revenge or feud do no go together w i t h a humanist image of man. This can be seen as

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the crucial problem of Hamlet as a revenge tragedy. Hamlet is by his temperament not disposed for the role of an avenger, although he accept the ghost's mandate for revenge. I n the words which he uses to express his resolution to take revenge, the words »meditation« and »love« stand out curiously. H e wants to know the whole truth from his father, »that I w i t h wings as swift / As meditation or the thoughts of love, / May sweep to my revenge.« (1.5.29-31) The way Hamlet expresses his readiness for revenge indicates already that he is, as a character, not qualified to be an avenger. H e may be capable of violent action, when he feels himself cornered or threatened, as is the case in the closet scene, when he realises that Polonius is spying on him. But he is simply unable to commit premeditated murder. Even when the guilt of Claudius has been proved beyond doubt and when Hamlet is convinced that Claudius has, as a poisoner, usurper, incestuous criminal, and murderous intriguer against himself, deserved death at his hand - »is't not perfect conscience / To quit him w i t h this arm?« (V.200.67-68) - , we never see him devising, let alone executing, a plan of revenge, while his adversaries, Claudius and Laertes, arrange a double murder plot against him. The gulf between Hamlet and his enemy, the plotter Claudius, is here, in the play's last act, wider than ever.

V. Conclusion I n my discussion of the problem of humanism in Shakespeare I have gone through different genres and texts. I n his dramatisation of the Wars of the Roses Shakespeare presents a w o r l d on the stage in which there is no room for humanist values, even though the decline of such values is lamented by some of the characters. I n the sphere of power politics Machiavelli's political realism seems to be much more adequate than humanist ethic and culture. I n the early comedies humanist pretensions of learning and education provide material for comic treatment, while in the so-called mature comedies humanist positions emerge particularly in female characters. A special case is, in this context, Hamlet. This tragedy's protagonist comes close to a humanist position, but there are situations, notably the »nunnery scene«, in which his conduct runs counter to the humanist ethic. Generally it can be said that Hamlet finds himself after his father's death in a w o r l d which does not in any way favour the cultivation of humanist values. O u r examination of an admittedly limited textual material does not permit the conclusion that Shakespeare was a humanist or humanist dramatist. Such a designation w o u l d not do justice to the complexity of the author and the whole historical and cultural context of his works. Conversely, it would, however, be equally wrong to say that Shakespeare was not a humanist. As is so often the case, Shakespeare defies in this respect, too, any general-

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isations and fixations. The issue of humanist references in Shakespeare and the dramatist's relation to humanism remains, however, an important topic. There can be no doubt that humanism belongs to the essential cultural contexts of Shakespeare's works.

Regie als Thema in Hamlet Von Paul Goetsch

Einführung Hamlet gilt zu Recht als komplexes und anspruchsvolles Stück. 1 Dennoch ist es überaus theaterwirksam und behauptet sich nach wie vor auf der Bühne. Dafür ist vor allem die Tatsache verantwortlich, daß Shakespeare Theaterpraktiker war. Er schrieb seine Werke für ihm vertraute zeitgenössische Bühnen und sorgte dafür, daß der szenischen Umsetzung der Texte keine Schwierigkeiten i m Wege standen. Darüber hinaus legte er die Stücke so an, daß die Probleme der Figuren und der Handlung nicht nur über die Sprache vermittelt werden, sondern auch über Kostümierung, Gestik, sowie szenische Bilder, A k t i o nen und Symbole. 2 Als Dramenautor war Shakespeare gewissermaßen der Regisseur seiner eigenen Stücke. Wahrend i m 20. Jahrhundert George Bernard Shaw mit Hilfe sehr detaillierter Bühnen- und Regieanweisungen seine Inszenierungsvorstellungen gegen die Willkür des modernen Regietheaters durchsetzen wollte, artikulierte Shakespeare seine Regiekonzeption auf andere Weise: Er verzichtete fast völlig 1

Zu älteren Forschungsansätzen vgl. Willi Erzgräber, »Probleme der Hamlet-Interpretation im 20. Jahrhundert (1900-1970)«, Mittelalter und Renaissance in England (Freiburg 1997), 457-496; Paul Gottschalk, The Meanings of Hamlet. Modes of Literary Interpretation Since Bradley (Albuquerque 1972); Morris Weitz, Hamlet and His Philosophy of Literary Criticism (Cleveland 1966). Zu neueren Ansätzen vgl. die Beiträge in William Shakespeare, Hamlet, hg. Susanne L. Wofford (Boston 1994). Hamlet wird im folgenden nach Woffords Ausgabe zitiert. 2 Vgl. z. B. David Bevington, Action Is Eloquence. Shakespeare's Language of Gesture (Cambridge, MA 1984), 172-187; James L. Calderwood, »Hamlet's Readiness«, Shakespeare Quarterly , 35 (1984), 267-273 (zu Kostümierung und Kleidermetaphorik); Maurice Charney, »Hamlet without Words«, ELH y 32 (1965), 457-477; Charles R. Forker, »Shakespeare's Theatrical Symbolism and Its Function in Hamlet «, Shakespeare Quarterly , 14 (1961), 215-230; Roland M. Frye, >»Looking Before and Afterc The Use of Visual Evidence and Symbolism for Interpreting Hamlet «, Huntington Library Quarterly , 45 (1982), 1 -19; Bridget Geliert Lyons, »The Iconography of Ophelia«, ELH , 44 (1977), 60-74; Rudolf Stamm, »The Theatrical Physiognomy of Shakespeare's Plays: The Spanish Tragedy and Hamlet «, The Shaping Powers at Work (Heidelberg 1967), 11-32. 5 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 44. Bd.

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auf gesonderte Bühnen- und Regieanweisungen und zog es vor, solche A n gaben in den Haupttext der Dramen zu integrieren. Entsprechend enthalten die Dialoge seiner Figuren sog. Wortkulissen, die Schauplatz und Atmosphäre charakterisieren, HandlungsVorschriften für die Personen, Beschreibungen ihres gewünschten oder tatsächlichen Aussehens und Verhaltens und überdies die Aufmerksamkeit des Publikums lenkende Bemerkungen. Diese dialogisch vermittelten Inszenierungshinweise kommentieren wenigstens punktuell das Geschehen und tragen zu seiner besseren Verständlichkeit bei. Sie können darüber hinaus auch thematische Funktionen übernehmen. Das möchte ich an Hamlet illustrieren. Über die Theatermetaphorik von Hamlet, 3 das eingelagerte Spiel i m Spiel, 4 die Schauspielerthematik 5 und die Selbstreflexivität des Stückes 6 ist schon viel geschrieben worden. Ich konzentriere mich hier auf das Thema der Regie, 7 mit dessen Hilfe Shakespeare den Charakter des dänischen Königshofes, die Rachehandlung und die Entwicklung des tragischen Helden verdeutlicht.

3 Vgl. Martin Euringer, Zuschauer des Welttheaters: Lebensrolle, Theatermetapher und gelingendes Selbst in der Frühen Neuzeit (Darmstadt 1999), 112-124; Forker, a. a. O.; Anne Righter, Shakespeare and the Idea of the Play (London 1962); Wendy Coppard Sanford, Theater as Metaphor in Hamlet (Cambridge, MA 1967). 4 Vgl. u. a. Wolfgang Iser, »Das Spiel im Spiel: Formen dramatischer Illusion bei Shakespeare«, Archiv; 198 (1962), 209-226; Dieter Mehl, »Zur Entwicklung des Spiels im Spiel im elisabethanischen Drama«, Shakespeare-Jahrbuch, 97 (1961), 134-152; Righter, a. a. O. 5 Vgl. P. J. Aldus, Mousetrap. Structure and Meaning in Hamlet (Toronto 1977); Nigel Alexander, Poison , Play, and Duel. A Study in Hamlet (London 1971); Maurice Charney, Hamlet's Fictions (New York 1988); Anthony B. Dawson, Indirections: Shakespeare and the Art of Illusion (Toronto 1978), 38-61; Thomas F. Van Laan, Role-playing in Shakespeare (Toronto 1978); Wolfgang G. Müller, »Verstellung, Rollenspiel und personale Identität in Shakespeares Dramen«, in Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität, hg. Reto L. Fetz, Roland Hagenbüchle, Peter Schulz (Berlin 1998), 679-692; Dietrich Schwanitz, »Theatrum mundi und soziales Rollenspiel: zur sozialgeschichtlichen Deutung des Hamlet«, Shakespeare-Jahrbuch West 1978/1979, 114-131. 6 Vgl. u. a. Catherine Belsey, The Subject of Tragedy: Identity and Difference in Renaissance Drama (London 1985), 27 ff.; J. Bünsch, »Selbstreflexion des Theaters in Shakespeares Hamlet «, Literatur in Wissenschaft u. Unterricht, 10 (1977), 247-258; Ekbert Faas, Shakespeare's Poetics (Cambridge 1986); Sidney Homans, When the Theater Turns to Itself: The Aesthetic Metaphor in Shakespeare (Lewisburg 1981), 152-176; Maynard Mack, »The World of Hamlet«, Yale Review, 41 (1952), 502-523; Manfred Pfister, »Kommentar, Metasprache und Metakommunikation in Hamlet «, Shakespeare-Jb. West 1978/1979, 132-151; Michael Shapiro, »Role-Playing, Reflexivity, and Metadrama in Recent Shakespearean Criticism«, Renaissance Drama , N. S. 12 (1981), 145-161; Robert Weimann, »Mimesis in Hamlet «, in Shakespeare and the Question of Theory, hg. Patricia Parker, Geoffrey Hartman (New York 1985), 275-291. 7

Siehe Aldus, »Directors«, a. a. O., 95-101; Sanford, a. a. O., 7-20.

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Regie im Theater und am dänischen Königshof Wie Polonius ist Hamlet Theaterliebhaber. Deshalb freut er sich über die A n kunft der Schauspieltruppe und spannt sie später für das Ziel ein, Claudius durch eine Theateraufführung des Mordes an seinem Vorgänger zu überführen. Er wählt das ihm geeignet erscheinende Stück The Murder of Gonzago aus, fügt einen kurzen Text hinzu und gibt den Schauspielern - wenn auch allgemeine Anweisungen. I m Einklang mit klassizistischen Normen fordert er sie zu einer >natürlichen< Darstellung auf und warnt vor Übertreibungen, besonders aber vor eigenmächtigem Improvisieren und Unterhaltungseinlagen für das Publikum. Unmittelbar vor der Aufführung des Stückes bittet er seinen Freund Horatio, während der Mordszene auf die Reaktionen des zuschauenden Königs Claudius zu achten. Damit steuert Shakespeare zugleich die Aufmerksamkeit des Publikums, als dessen Vertreter Horatio in dieser Szene fungiert. Insgesamt handelt Hamlet wie ein Regisseur, der den Text auswählt, abändert, aktualisiert und in seiner Komplexität reduziert, damit er für den Zuschauer lebendig und verständlich w i r d und auf der Bühne den gewünschten Effekt erzielt. Hamlet ist die einzige Figur des Stückes, die eine Zeitlang als Regisseur einer Theateraufführung auftritt. I m übertragenen Sinne befinden sich am dänischen Königshof allerdings noch weitere Figuren, die Regie führen oder führen w o l len. Shakespeare hat von seinen Anfängen an bis hin zu The Tempest den Bereich der Politik als Analogon zum Theater aufgefaßt. I n der Neigung, Politik als Inszenierung zu begreifen, mag er durch seine Erfahrungen am H o f bestärkt worden sein. Einflußreich war aber vor allem die Rezeption Machiavellis in England, eine Rezeption, in der sich zumindest in zeitgenössischen Theaterstücken das Entsetzen über die Skrupellosigkeit, die Verstellungs- und Manipulationskünste von Politikern mit einer geheimen Bewunderung des verschlagenen Machtmenschen paarte. 8 Das Regiekonzept von Claudius w i r d ansatzweise i n der zweiten Szene des ersten Aktes entwickelt. I n dieser ersten Staatsszene nach der Übernahme des Throns und der Heirat mit der Witwe seines Vorgängers möchte Claudius die 8 Vgl. Julia Lupton, »Truant Dispositions: Hamlet and Machiavelli«, Journal of Medieval and Renaissance Studies , 17 (1987), 59-82. Zu Politik und Theater in Hamlet siehe auch Paul Goetsch, »The Monstrous in Hamlet«, in Historidzing/Contemporizing Shakespeare, hg. Christoph Bode, Wolfgang Klooss (Trier 2000), 91-113; Alvin B. Kernan, The Playwright as Magician. Shakespeare's Image of the Poet in the English Public Theater (New Haven 1979), 85-111. Siehe auch Paul Goetsch, »Die Grenzen der Macht: Prósperos dialogisches Verhalten in The Tempest«, in Dialogische Strukturen, hg. Thomas Kühn, Ursula Schaefer (Tübingen 1996), 69-88; Wolfgang G. Müller, »Claudius und Hamlet: Der Herrscher und sein Gegenspieler in Shakespeares Hamlet«, in Basileus und Tyrann: Herrscherbilder und Bilder von Herrschaft in der Englischen Renaissance, hg. Uwe Baumann (Frankfurt 1999), 347-362.

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Rückkehr des Hofes zur Normalität signalisieren. Er beendet formell die Zeit der Staatstrauer und leitet Maßnahmen zur Beilegung des außenpolitischen Konflikts mit Norwegen ein. Nach der Verabschiedung des jungen Laertes wendet er sich Hamlet zu, der wegen seines unangepaßten Verhaltens - er trägt nach wie vor Trauer - der Normalisierung des höfischen Lebens i m Wege steht und als beim Volk beliebter, bei der Thronfolge übergangener Prinz eine innenpolitische Bedrohung darstellt. Der König ermahnt Hamlet, den Tod des Vaters zu akzeptieren, und verspricht, er werde ihn als Sohn und Nachfolger behandeln. U m ihn überwachen zu können, bittet er ihn, nicht zum Studium nach Wittenberg zurückzukehren. Diesem Wunsch, der von der Königin aufgegriffen wird, fügt sich Hamlet. Seine Trauer legt er jedoch nicht ab. Sein Verhalten erregt deshalb A r g w o h n und führt dazu, daß Claudius und Polonius ihn bespitzeln. Sie greifen dabei zu verschiedenen Mitteln. 9 Sie beauftragen Hamlets frühere Kommilitonen Rosencrantz und Guildenstern, den Prinzen auszuhorchen. Sie arrangieren ferner eine Begegnung Ophelias mit Hamlet, bei der sie die heimlichen Beobachter spielen. Schließlich versteckt sich Polonius mit Wissen der Königin, u m Hamlets Aussprache mit seiner Mutter zu belauschen. A l l diesen Handlungen gehen Dialoge voraus, i n denen Claudius und Polonius ihre A b sichten enthüllen und zumindest teilweise die einzelnen Handlungsschritte und ihr Rollenspiel vorausplanen. Wie bei dem von Hamlet inszenierten Theaterstück w i r d das Publikum eingeweiht. Dank seines Informationsvorsprungs kann es zwischen Sein und Schein unterscheiden und Hamlets Reaktionen beobachten. Hamlet durchschaut immer wieder das Ränkespiel des Königs und seines Ratgebers und widersetzt sich den i h m zugedachten Rollen. Er schützt sich, indem er sich die Maske des Narren und zeitweilig Geistesgestörten zulegt. 1 0 I n dieser Maske entwaffnet und verwirrt er mit Wortwitz und Ironie seine Studienfreunde und Polonius. I n der Maske des Geistesgestörten, die freilich zeitweilig ihren Maskencharakter zu verlieren droht, setzt er überdies Ophelia und seiner Mutter mit zynischen und groben Bemerkungen zu. Polonius erkennt zwar, daß Hamlets Wahnsinn Methode hat, doch hält er an seiner voreiligen These, Hamlet leide an Liebeskummer, fest. Der König ist «vorsichtiger und glaubt, daß Hamlets »madness« politisch gefährlich sei (3.3.2). N o c h bevor 9 Siehe Aldus, a. a. O., 68 ff.; Michael E. Holstein, »>actions that a man might playcloset scene< den zweiten A u f trag des Geistes erfolgreich ausgeführt. 21 Einen Plan, wie er dem ersten Auftrag entsprechen könnte, hat er noch nicht. Er hat jetzt auch keine Zeit zum Planen, denn er ist i n die Defensive gedrängt und muß sich der England-Intrige des Königs erwehren. Gleichwohl kritisiert Hamlet in einem weiteren Monolog noch einmal sich selbst und meint, seine Skrupel zu handeln seien zu einem Viertel Ausdruck von Weisheit, zu Dreiviertel aber Zeichen der Feigheit (4.4.42 f.). Dies ist immerhin eine deutliche Einschränkung der i m »To be or not to be«-Monolog gemachten Aussage über >conscience< und Feigheit. A m Ende des Monologs fordert er sich erneut zum Handeln auf: O, from this time forth, My thoughts be bloody, or be nothing worth! (4.4.65 f.) Nach der Rückkehr von der Seereise, die ihm beinahe den Tod gebracht hätte, w i r k t Hamlet wie verwandelt. Dieser Eindruck, der von vielen Kritikern geteilt wird, gründet sich auf sein Verhalten in der Friedhofsszene und vor dem Duell. Hamlet scheint jetzt mit dem eigenen Tod zu rechnen und sich in sein Schicksal zu fügen. I n der Friedhofsszene reflektiert er gelassener als je zuvor über die Sterblichkeit aller Menschen und erinnert sich dankbar und ohne Bitterkeit an den Narren Yorick, der sich früher wie ein Vater u m ihn kümmerte. Richard Fly schreibt: The sense of meaninglessness that flooded his consciousness and paralyzed his will in Act IV has now become externalized and objectified in his immediate surroundings, allowing him some distance and mastery over this debilitating mood. He now contemplates the gruesome evidence of death's omnipotence not with the hysterical bitterness and nausea of previous scenes but with something close to philosophical detachment. He does not abandon himself to despair, but makes use of his discriminating intellect to take personal possession of the fact of mortality. 22 20

Vgl. Fredson Bowers, »Hamlet as Minister and Scourge«, PMLA , 70 (1955), 740749, 746. 21 Vgl. William Kerrigan, Hamlet's Perfection (Baltimore 1994), 114 f.: »In psychological terms the second and last appearance of King Hamlet is wholly benign, defusing Hamlet's matricidal rage and directing him toward an empathic link with his mother.« Siehe auch A. C. Bradley, Shakespearean Tragedy (Toronto 1957), 135; Robert Fricker, Kontrast und Polarität in den Charakterbildern Shakespeares (Bern, 1951), 133; E. T. Sehrt, »Zur Umstimmungsszene bei Shakespeare: Hamlet III, 4«, Shakespeare-Jb. West 1966, 63-102, 95. Vgl. aber auch Dieter Mehl, Die Tragödien Shakespeares. Eine Einführung (Berlin 1983), 65; Welsh, a. a. O., 62. 22 Richard Fly, »Accommodating Death: The Ending of Hamlet «, Studies in English Literature , 24 (1984), 257-274, 267. Zur letzten Szene vgl. auch James L. Calderwood,

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Bei der Beerdigung Ophelias verliert er zwar vorübergehend die Fassung, entschuldigt sich dann aber bei Laertes und bezeichnet sein Verhalten als Wahnsinn, der ihn seinem Wesen entfremdet habe (5.2.214). Damit verabschiedet er sich endgültig von der Maske der >antic dispositionScourge and Ministers Zur Nachwirkung der Moralitäten in Hamlet III, 4«, Shakespeare-Jb. West 1978/1979, 100-113. Vgl. Sehrt, a. a. O. 30 Zur Bedeutung der Vorsehung und zu Hamlet als »minister and scourge« vgl. vor allem Bowers, a. a. O.; Charles K. Cannon, »>As in a TheaterHamlet< und Montaigne«, in Hamlet-Interpretationen, hg. Willi Erzgräber (Darmstadt 1977), 211-252; Robert Ellrodt, »Self-consciousness in Montaigne and Shakespeare«, Shakespeare Survey , 28 (1975), 37-50. 33

Erzgräber, »Shakespeare's Hamlet«, 517. Zur zeitgenössischen Problematisierung des Todes und des Unsterblichkeitsglaubens vgl. z. B. Neill, a. a. O.; Robert N. Watson, The Rest Is Silence: Death as Annihilation in the English Renaissance (Berkeley 1994), 55-102. 35 Harley Granville-Barker, Prefaces to Shakespeare. Third Series (London 1949), 325. Siehe auch Pfeiffer, a. a. O.; Horst Breuer, »Ekel und Wirklichkeitsverlust: Versuch über >Hamletoverreachersapproprié< les matériaux fournis par ses collaborateurs, en les refondant ou en les corrigeant«. Voir A. Feugère, »Raynal, Diderot et quelques autres »Historiens des Deux IndesJe ne souffrirai jamais qu'on vous éclaire [...]< (V, 328). Dans l ' H D I , le despotisme est comparé à Saturne: »Dans sa [celle du despotisme] vieillesse, c'est Saturne qui, après avoir dévoré ses enfans, se voit mutilé honteusement par sa propre race« (X, 156). 24 La mythologie est ici mise au ser24 On sait que Saturne dévorant ses enfants est, pour Büchner, l'image de la Révolution: »DANTON: Die Revolution ist wie Saturn, sie frißt ihre eignen Kinder« (Dantons Tod y I, 5). L'image de Saturne est utilisée d'une autre façon sous la Révolution. Le Journal politique-national, publié par M. Salomon, à Cambrai (troisième abonnement, juin 1790) porte en épigraphe des mots du Dialogue des Saturnales de Lucien (»Je voulais vivre à mon aise & boire mon saoul de nectar & d'ambroisie, sans avoir toujours à pleuvoir, venter,

Quelques considérations sur Y Histoire des deux Indes (1780) de l'abbé Raynal

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vice d'une pensée pré-révolutionnaire. Nous le verrons, la violence du despotisme n'a (et ne doit avoir) pour l ' H D I d'égale que la violence du soulèvement contre cette tyrannie.

V. L'appel au soulèvement L ' H D I s'interroge sur la nécessité d'un soulèvement sanglant: »faut-il que la barbarie de notre police Européenne inspire des veux [sic] de sang & de ruine à l'homme juste & humain qui médite les moyens d'assurer la paix & le bonheur de tous les hommes?« (VI, 422-23). Mais la constatation de la résignation en face du tyran sonne souvent comme un appel au soulèvement, avec l'acceptation de ses conséquences, comme dans le livre 7: »Dans ces circonstances, je suis toujours étonné de la patience des opprimés. Car nous sommes tous résolus à périr, plutôt que de vivre plus-longtemps malheureux sous une administration injuste« (VII, 172). U n passage célèbre et souvent commenté sur les hottentots, 2 5 les invite à fuir, ou mieux à se rebeller, à tuer les colonisateurs. Par delà l'allusion au »bon sauvage«, innocent, le texte révèle clairement que la liberté vaut bien le sacrifice de la vie, et justifie le crime. Comme le prouve la fin de cet extrait, cette apostrophe virulente est à multiple entente: s'adressant en apparence aux hottentots (en réalité bien incapables de l'entendre), dénigrant l'attitude des colonisateurs européens, qui sont pires même que le tigre, parangon de l'animal féroce pour l ' H D I , elle est destinée à susciter la rébellion populaire:

tonner & grêler«), auxquels font allusion la fin du texte: »[...] il vous a été bien démontré que Louis X V I avait été créé & mis au monde tout-exprès pour votre Révolution; vous n'avez plus douté qu'il ne voulut vivre à l'aise, comme le Saturne de Lucien, qui était las de régner & de faire la pluie & le beau-temps; & vous avez enfin compris que ce n'était pas contre lui, mais contre le Peuple, qu'il fallait prendre des précautions et vous armer de Décrets« (34). Saturne représente le temps, le monde renversé; mais les saturnales sont un ordre temporaire. Dans le De natura deorum de Cicéron, Saturne était enchaîné, soumis au cours des astres, à la Révolution: »Ex se enim natos comesse fingitur solitus, quia consumit aetas temporum spatia annisque praeteritis insaturabiliter expletur. Vinctus est autem a Jove, ne immoderatos cursus haberet, atque ut eum siderum vinclis alligaret« [(...) on le représente comme dévorant ses enfants parce que dans la durée infinie les périodes de temps ne cessent d'être consommées et qu'il engloutit les années sans jamais se rassasier, mais Saturne est enchaîné par Jupiter, de façon que sa course ne soit pas déréglée: ce sont les astres qui l'astreignent à une marche ordonnée] [De natura deorum, L.II, ch. XXV, édition et traduction de Ch. Appuhn (Paris 1935), 166-167]. Saturne déchaîné, c'est l'image de la Révolution. Sur d'autres sources littéraires concernant Saturne, dieu des semailles, voir également le Dictionnaire de la mythologie grecque et romaine de Joël Schmidt (Paris: Larousse, 1970), 276. 25 Cf. F. Venturi, »Vieillesse de Diderot «, RDE, XIII, 19-20; F. Diaz, »Le dernier Diderot «, in: Diderot, Colloque international (Paris 1984), 158, etc.

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Jean-Christophe Rebejkow

Fuyez, malheureux Hottentots, fuyez! enfoncez-vous dans vos forêts. Les bêtes féroces qui les habitent sont moins redoutables que les monstres sous l'empire desquels vous allez tomber. Le tigre vous déchirera peut-être, mais il ne vous ôtera que la vie. L'autre vous ravira l'innocence et la liberté. Ou si vous vous en sentez le courage, prenez vos haches, tendez vos arcs, faites pleuvoir sur ces étrangers vos flèches empoisonnées. [ . . . ] Et vous, cruels Européens, ne vous irritez pas de ma harangue. N i le Hottentot, ni l'habitant des contrées qui vous restent à dévaster ne l'entendront. Si mon discours vous offense, c'est que vous n'êtes pas plus humains que vos prédécesseurs; c'est que vous voyez dans la haine que je leur ai vouée celle que j'ai pour vous. (I, 397-398) Les sauvages des Caraïbes ont déjà mis en pratique les recommandations que Diderot donne aux hottentots: ils »tirent des flèches empoisonnées, sur les colons français, les assomment« ( V I I , 130). Des exemples de sauvages rebelles, criminels, se révoltant contre les colonisateurs, se retrouvent dans l ' H D I : »Ils vont [Les nègres] au-devant de l'épée de l'Européen, pour lui plonger un poignard dans le cœur« (VII, 445); un soulèvement de nègres contre les anglais est évoqué (VII, 446). Par ailleurs, l'appel au meurtre est repris plusieurs fois dans l ' H D I : »qu'il [le sauvage] descende quelquefois avec les torrens, pour surprendre l'ennemi dans ses tentes, & ravager ses lignes« ( V I I , 446; voir aussi I X , 246). Une phrase suggestive fait même parler le sauvage: »j'irai brûler ton habitation« (VII, 492). L ' H D I prône souvent l'insurrection et la légitime par l'état des opprimés: Nous avons droit de prendre les armes. Nos droits sont la nécessité, une juste défense, nos malheurs, ceux de nos enfans, les excès commis contre nous. Nos droits sont notre titre auguste de nation. C'est au glaive à nous juger (IX, 293,). La violence et l'appel au crime demeurent, même si l'incitation au meurtre ne prône pas toujours une extermination »sanglante«: Que si tu te crois autorisé à m'opprimer, parce que tu es plus fort et plus adroit que moi; ne te plains donc pas quand mon bras vigoureux ouvrira ton sein pour y chercher ton coeur; ne te plains pas, lorsque, dans tes entrailles déchirées, tu sentiras la mort que j'y aurai fait passer avec tes alimens (VI, 203-204).

V I . Les »dénégations« désamorcent-elles l'appel au soulèvement? Ces propos séditieux sont, dans quelques cas, suivis de dénégations. Celles-ci en restreignent-elles la portée? U n passage paraît, après un appel au peuple, une réaffirmation finale de la foi dans la vertu des Lumières, par l'invocation aux citoyens honnêtes, et un déni de l'appel à l'insurrection: Non, non; il faut que, tôt ou tard, la justice soit faite. S'il en arrivoit autrement, je m'adresserois à la populace. Je lui dirois: Peuples, dont les rugissemens ont fait trembler tant de fois vos maîtres, qu'attendez-vous? pour quel moment réservez-vous vos flam-

Quelques considérations sur Y Histoire des deux Indes (1780) de l'abbé Raynal beaux & les pierres qui pavent vos rues? Arrachez-les Mais les citoyens honnêtes, s'il en reste quelques-uns, s'élèveront enfin. On verra que l'esprit du monopole est petit et cruel. On verra qu'il est insensible au bien public. On verra qu'il n'est contenu, ni par le blâme présent, ni par le blâme à venir. On verra qu'il n'aperçoit rien au-delà du moment. On verra que dans son délire il a prononcé cet arrêt, & qu'il l'a prononcé dans tous les temps & chez toutes les nations (II, 269). L'opposition est sensible entre l'évocation d'une éventualité, par l'utilisation du conditionnel suivi de l'apostrophe au peuple, et celle d'un futur en fait hypothétique (mais ici présenté comme certain), sous la forme d'une prophétie. Le texte laisse-t-il simplement suggérer que »les citoyens honnêtes« éviteront tout bain de sang? La fin du chapitre n'indique pas explicitement la condamnation d'une révolution. Elle révèle en tout cas une critique de l'esprit du monopole, mais n'indique aucun autre moyen de lutte que le soulèvement. L'extrait reste finalement évasif sur les moyens d'action »des citoyens honnêtes«. La tension provoquée par l'incitation à la révolte ne semble pas véritablement levée. De même, une phrase semble, après un panégyrique de la révolution américaine, une dénégation: Nous examinons les choses en philosophes, et l'on sait bien que ce ne sont pas nos spéculations qui amènent les troubles civils. (IX, 252). Cette rétroaction paraît bien destinée à rassurer les puissants, la censure, plus que les âmes sensibles et éclairées. »Prudence à vrai dire provocante, commente justement M . Duchet, puisque le véritable destinataire du discours, au delà des lecteurs >éclairéspatientskleinen Menschen< erscheinen denn auch - mehr oder minder paraphrasiert - in den Werken fast aller Romantiker. Das »Gefühl des Verlustes der goldenen Z e i t « 2 4 findet sich jedoch in keinem Text des 18. Jahrhunderts so stark betont wie i n Macphersons Werk. 2 5 Daher w i r d Ossian selbst zur Inspirationsinstanz: So wehe auch Genius, du, den silbernes Haupthaar bedecket, Der oede Trümmer bewohnt mich an mit wogenden [sie!] Flug Der oft durch schaurge Gewölber und gothische Tempel dich trug Und über bemoostes Gestein mit dunkelen Hieroglyfen Für späte Enkel beschrieben die ungerührt drauf lieben.26 Daß Novalis hier den keltischen Barden vor Augen hat, belegt die frühe Hymne An Ossian, in der Fingais Sohn explizit als »Silberlockicher Natur Greis« bezeichnet w i r d und ebenfalls zum >Genius der Vorzeit< avanciert. 27 A u c h mit Blick auf die Betonung des Nächtlichen, wie sie sich schon bei Young, Blair und Gray findet, 2 8 erscheint Ossian als wichtiger Mediator, dessen Bedeutung allerdings oft unterschätzt wird. Denn wenn Dieter Arendt behauptet, erst die Romantik habe die Nacht existentiell erlebt, und den englischspra21

Vgl. The Poems of Ossian and related works , hg. Howard Gaskill (Edinburgh 1996), 79 u.ö. 22 Wilhelm Heinrich Wackenroder, Werke und Briefe, hg. Lambert Schneider, reprographischer Nachdruck der Ausgabe von 1938 (Heidelberg 1967), 389 [Brief vom 28. Dezember 1792]. 23

Lothar Pikulik, Romantik als Ungenügen an der Normalität. Am Beispiel Tiecks, Hoffmanns, Eichendorffs (Frankfurt a.M. 1979), Titel und passim. 24 Arthur Henkel, »Was ist eigentlich romantisch?«, in: Festschrift für Richard Alewyn, hg. Herbert Singer und Benno von Wiese (Köln/Graz 1967), 292-308, hier 305. 25 Vgl. Fiona J. Stafford, »>Dangerous Successc Ossian, Wordsworth, and English Romantic Literature«, in: Ossian Revisited , hg. Howard Gaskill (Edinburgh 1991), 4972, hier 66. 26

HKNA I, 467 [»Der Falckenstein am Harz«]. HKNA I, 475. 28 Vgl. Edward Youngs »Night Thoughts« (1742-1745), Robert Blairs »The Grave« (1743) und Thomas Grays »Elegy written in a Country Church-Yard« (1. Fassung 1750/ 2. Fassung 1768). 27

Die Ästhetisierung der joy of grief bei Novalis

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chigen Autoren einen Mangel an »subjektiver Erfahrung« v o r w i r f t , 2 9 dann übersieht er die persönliche Betroffenheit, mit der Ossian die Düsternis seiner Welt erlebt. So spricht bereits Maler Müller i n der Vorrede zu seiner FaustDichtung vom »blizerhellten Nachtgesange des blinden Königs der Lieder«. 3 0 U n d auch Edmond de Harolds ossianisches Gedicht Sulmora (1778) enthält eine Idolatrie des Nokturnen, in der sogar die romantische Vorstellung einer »sternenhellen Nacht< 3 1 antizipiert wird: Heil dir o Nacht [ . . . ] ich grüsse dein grenzloses Herrschen. Du gebietest unbezwungen und allein. Du bist schauervoll in deiner feierlichen Dunkelheit, wenn du die weiten Strecken des Oceans bedeckest, und seinem Brausen neue Schrecken beifügst. Du bist fürchterlich in deiner Gröse, wenn der blau funkelnde Blitz den arbeitenden Busen einer Wolke zerreißt, und die ungeheuern Felsen entdeckt. Schreckbar ist deine Herankunft. Deine Schritte sind majestätisch und stattlich, wenn du langsam über die braune Heide daher gehst, und deinen dunkeln Schleier über die mit Wolken bekränzten Hügel, und wallenden Walder ausbreitest. Dann zieht sich die Sonne vor deinem Antlitz zurück. Sie flieht zu ihrer westlichen Höhle. Dann zieren Miriaden von funkelnden Sternen dein wallendes Kleid. Dann versilbern des Mondes mildere Stralen seine weit ausgedehnten Säume.32 Arendt erwähnt Macphersons Dichtung nur beiläufig, 33 und das obwohl die Hölderlin- und Novalis-Referenzen, die er als Beleg für die veränderte Wahrnehmung der Nacht zitiert, ihrerseits ossianisch beeinflußt sind. 3 4 Für den Kenner reduziert sich somit deren Innovations- und Legitimationspotential. Denn der keltische Barde markiert das vorromantische Paradigma eines nach innen blickenden Dichters, der den Zugang gefunden hat zur bisher vernachlässigten >Nachtseite< der Natur. I n ihm sieht man den »Fürsten des Gesanges«, dem die »weltlichen Augen« zugefallen sind, »weil die geistigen ihm aufgiengen«. 35 29 Vgl. Dieter Arendt, Der >poetische Nihilismus< in der Romantik. Studien zum Verhältnis von Dichtung und Wirklichkeit in der Frühromantik, Bd. 1, Studien zur deutschen Literatur; 29/30 (Tübingen 1972), 216 f. und 220. Ossian wird nicht einmal explizit genannt. 30

Friedrich Müller [genannt Maler Müller], »[Vorrede:] Meinem Lieben, Theuren Otto Freiherrn von Gemmingen [1778]«, in: Ders., Fausts Leben. Nach Handschriften und Erstdrucken, hg. Johannes Mahr (Stuttgart 1979), 5 - 9 , hier 9. 31 Vgl. Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. Ernst Behler u. a. 35 Bde. (Paderborn 1958 ff.), hier Bd. 3,234 (Über nordische Dichtkunst). Im folgenden als KA abgekürzt. 32 [Edmond de Harold], »Sulmora. Ein Gedicht«, in: Die Gedichte Ossian ys eines alten celtischen Helden und Barden [Übersetzung von E.d.H.], Bd. 1 (Düsseldorf 1775), 289302, hier 293 f. 33 Vgl. Arendt (Anm. 29), Bd. 1, 227. 34 Vgl. Arendt (Anm. 29), Bd. 1, 218 f. und 228. 35 Wilhelm Grimm, »Gleichnisse im Ossian und Parzival [Entstehungszeit unbekannt, möglicherweise um 1811]«, in: Ders.; Kleinere Schriften, hg. Gustav Hinrichs, Bd. 1 (Berlin 1881), 48-57, hier 50. 9 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 44. Bd.

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»Ossian ist die Nacht«, in der »die Verbindung mit der Natur die ursprüngliche Göttlichkeit« zeigt. 3 6 Wie am berühmten Beginn der Songs of Selma, die Goethe i m Werther übersetzt, w i r d die aufklärerische Lichtmetaphorik auch i n der literarischen »Rom a n t i k neuverortet: sie ist nicht mehr Teil der Welt, sondern Produkt des Ich: Stern der dämmernden Nacht, schön funkelst du in Westen. Hebst dein strahlend Haupt aus deiner Wolke. Wandelst stattlich deinen Hügel hin. Wornach blickst du auf die Heide? [ . . . ] Wornach siehst du, schönes Licht? [ . . . ] Lebe wohl ruhiger Strahl. Erscheine du herrliches Licht von Ossians Seele.37 O b w o h l die Vorstellung eines »inneren Lichts< religiös präformiert ist und in Deutschland nicht zuletzt i m Pietismus begegnet, macht das textliche U m feld - insbesondere die damit verbundene Vergangenheitsevokation - einen Rekurs der Frühromantik auf Macpherson mehr als wahrscheinlich. So schreibt Friedrich Schlegel in der stark ossianisch inspirierten Lucinde (1799) 38 über Julius: »Es ward Licht in seinem Innern«, 3 9 und bei Novalis fragt der Weise die Lehrlinge zu Sais, »ob auch in uns aufgegangen ist das Gestirn, das die Figur sichtbar und verständlich macht«. 4 0 Wenig später heißt es dann mit Blick auf die Liebe für die »alte, ersehnte Zeit«: »das Element des Gefühls ist ein inneres Licht, was sich i n schöner'n, kräftiger'n Farben bricht«. Wie bei Macpherson w i r d dem Menschen hier aus sich heraus hell, und es gehen »die Gestirne i n ihm auf«. 41 Eine ähnliche Vorstellung findet sich am Beginn des zweiten Teils von Franz Sternhaids Wanderungen (1798). D o r t konstatiert der Erzähler unter Verwendung entsprechender Naturmetaphorik: »wie fliegende Wolken umhüllt die Wirklichkeit die innere Sonne«. 42 I m Heinrich von Ofterdingen w i r d diesel36 Achim von Arnim und die ihm nahe standen, hg. Reinhold Steig und Herman Grimm, Bd. 3 (Stuttgart/Berlin 1913), 183 f. [Brief Wilhelm Grimms vom 11. März 1811 an Achim von Arnim]. 37 MA 1.2,284. 38 So konstatiert Karl August Böttiger in einem Brief an Wieland: »die verschämte Weibsperson Lucinde pflegt nicht selten Oßianische Bilder für ihre eignen zu geben« [Handschrift zit.n. Ernst Friedrich Sondermann, Karl August Böttiger. Literarischer Journalist der Goethezeit in Weimar; Mitteilungen zur Theatergeschichte der Goethezeit 7 (Bonn 1983), 224]. 39 KA V, 57. An anderer Stelle entdeckt der Erzähler in sich »eine reine Masse von mildem Licht« (ebd. 19). 40 HKNA I, 79. 41 HKNA I, 96. 42 Ludwig Tieck, Franz Sternbalds Wanderungen. Studienausgabe y hg. Alfred Anger, bibliographisch ergänzte Ausgabe (Stuttgart 1994), 198. Vgl. hierzu im Original: »night settles with all her clouds on the hill« [The Poems of Ossian (Anm. 21), 56]; »the light cloud flies over the hills« (ebd., 62); »the red stars trembled between the flying clouds«

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be Vorstellung mit der ossianischen Erinnerungskultur zusammengedacht: »Der Vorwelt heiige Lüfte I U m w e h n sein Angesicht, I U n d in die Nacht der Klüfte I Strahlt ihm ein ewges Licht«. 4 3 Es ist also auch hier die nächtliche Natur, die den inneren Stern und damit den poetischen Sinn hervorbringt: »Der M o n d stand in mildem Glänze über den Hügeln, und ließ wunderliche Träume in allen Kreaturen aufsteigen«. 44 Die zitierten Textstellen und die darin verwendete Metaphorik zeigen, daß die romantische Poetogenese großenteils auf Macpherson zurückgeht. Sie läßt sich nicht trennen von Dunkelheit, Introspektive, Vorwelt und Naturinspiration. Diese Patterns aber sind Topoi des ossianischen Kosmos und nur dort verbunden mit der süßen Trauer über den Verlust des Großen und die Herrschaft der little men. Während der keltische Barde nicht mehr an die Wiederkehr des golden age glaubt, sucht die Frühromantik den Verlust ästhetisch zu kompensieren. So setzt der Erzähler i m Sternbald dem Lamento über die verlorene Jugend die Vorstellung einer ständigen »Verwandlung der Natur« entgegen: »Sonnenblicke wechseln mit Schatten; in ewiger Erneuerung gibt es kein Alter«. 4 5 '

II. Während sich die beiden Schlegel-Brüder auch historisch-philologisch für Ossian interessieren, findet sich bei Novalis das absolute Primat des Ästhetischen. Er steht dadurch in einer Reihe mit Goethe, Moritz, Schiller, Jean Paul und Hölderlin, die sich ebenfalls nicht zur Authentizitätsfrage äußern. 46 M i t diesen Autoren teilt Novalis die poetische Funktionalisierung der joy of grief bei weitgehendem Verzicht auf moralische Implikationen. Wie bei Friedrich (ebd., 69); »like broken clouds on the hill« (ebd., 87) und »like the full moon of heaven, when the clouds vanish away, and leave her calm and broad in the midst of the sky« (ebd., 102). 43 HKNA 1,247. 44 HKNA I, 252. Vgl. u. a. »it is like the glimmering light of the moon, when it shines through broken clouds, and the mist is on the hills« [The Poems of Ossian (Anm. 21), 134]; »sleep descends with the sound of the harp; and pleasant dreams begin to rise« (ebd., 119) und »Sleep descended on his eyes, and his future battles rose in his dreams« (ebd., 158). 45 Tieck (Anm. 40), 198. 46 Die einzige, allerdings unmarkierte Anspielung auf diese Thematik findet sich im Heinrich von Ofterdingen. Dort äußert der Einsiedler die Vermutung, daß die Lebewesen der Vorzeit größer und robuster gewesen seien als die gegenwärtigen, und fügt hinzu: »wenigstens dürfte man die alten Sagen von einem Riesenvolke dann keiner Erdichtungen zeihen« (HKNA I, 261). Hiermit kann im Grunde nur Ossian gemeint sein, denn kein anderer Mythos wird in dieser Form für unecht gehalten. Bei Homers Epen zweifelt man lediglich an der Autorschaft. 9*

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Schlegel w i r d Intertextualität zum wesentlichen Konstitutionsprinzip von Poesie, denn innovativ muß nicht der »Stoff« sein, sondern lediglich die »Ausführung«. 4 7 I n der Forschung gibt es bis heute keinen Beitrag zu Novalis' Ossianrezeption. Dies ist insofern erstaunlich, als 1789 die Hymne An Ossian entsteht, die - möglicherweise i m Rekurs auf die Struktur der Vorlage - den U n tertitel Ein Fragment trägt. Novalis kennt und benutzt sehr wahrscheinlich die Ubersetzung von Michael Denis, den er i n einem u m dieselbe Zeit entstandenen Gedicht erwähnt, 4 8 daneben w o h l aber auch Goethes Werther. 49 Das Gedicht selbst beginnt mit dem Lob des keltischen Barden, auf das - bezeichnenderweise - sogleich die zweifache Evokation der joy of grief folgt: Heil dir Ossian! Heil dir Sänger von Colma! Siehe mir bebt in weinender Entzückung Der Tränen Freudigste An der seidenen Jugendwimper.50 Zudem w i r d Ossian mit der heiteren »Gestirnnacht« in Verbindung gebracht, die später auch Schlegel als Chiffre für die romantische Mittelalterbegeisterung verwendet - und zwar i n unmittelbarem Anschluß an seine Darstellung von Macphersons Dichtung. 5 1 Der keltische Barde avanciert also schon beim jungen Novalis zur >nokturnen< Inspirationsinstanz (was gleichzeitige Referenzen auf Young und die sog. Kirchhofs- und Grabespoesie keineswegs ausschließt 52 ): Ich sah deine Seele Sah sie heiter und hehr Heilig wie die Gestirnnacht Und mir schauerte Vor hoher Begeistrung[.] 53 47

HKNA I, 286. Vgl. HKNA I, 472 [»Cäsar Joseph«]. 49 Vgl. HKNA I, 435 [Nr. 36]. 50 HKNA I, 475. 51 Schlegel nennt das Mittelalter eine «sternenhelle Nacht« (KA III, 234). Vgl. auch »Rise, moon! from behind thy clouds; stars of the night appear! Lead me, some light, to the place where my love rests from the toil of the chace!« [The Poems of Ossian (Anm. 21), 166], »They were like stars, on a rainy hill, by night, each looking faintly through her mist« (ebd., 193) und »Red stars looked from high. I gleamed, along the night« (ebd., 237). Zu Hardenbergs Beschäftigung mit dem Mittelalter vgl. ausführlich Ira Kasperowski, die Macpherson in ihrer Darstellung allerdings nicht erwähnt [Mittelalterrezeption im Werk des Novalis, Hermaea; N.F. 74 (Tübingen 1994)]. 48

52

Vgl. hierzu Novalis' Elegie auf einen Kirchhof (1788 f.) und seine Elegie beym Grabe eines Jünglings (1790). HKNA I, 4 5 .

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Möglicherweise ist der i n der Athenäumsfassung der Hymnen verwendete Ausdruck »liebliche Sonne der Nacht« ebenfalls ossianisch inspiriert, denn bei Macpherson finden sich ähnliche Formulierungen wie »lovely sun-beam«, 54 »pillar of fire that giveth light i n the night« 5 5 oder »The night came rolling down. The light of an hundred oaks arose«. 56 Darüber hinaus w i r d der keltische Barde - wie schon bei K l o p s t o c k 5 7 - mit der Verabschiedung normenpoetischen Denkens assoziiert. »Regellos wie die Töne des Sturms I Strömet dir die H y m n e « . 5 8 Suzanne Bernard 5 9 und Jonathan M o n r o e 6 0 sehen i n Macphersons Werk daher einen bedeutenden Wegbereiter für Novalis' Hymnen

an die Nacht sowie die Entwicklung des europäischen

Prosagedichts insgesamt. 61 Denn der Wechsel von versifizierten und nicht-versifizierten Passagen begegnet i m Ossian sehr häufig, wie überhaupt das gesamte Werk sich durch extreme metrische Polyvalenz auszeichnet. 62 »Rythmischer Sinn« bedeutet aber auch für den jungen Hardenberg »Genie«, 63 und i m fiktiven Gespräch mit Ossian wünscht er, die eigene D i k t i o n möge ebenso »melodisch« sein wie »deine Gesänge« und »Nicht wie des Thebaners Weisen I Oder des Römers sanftere Odenflüge«. 6 4 Novalis begründet dies entwicklungsgeschichtlich: »Unsre Sprache - sie war zu Anfang viel musicalischer und hat sich nur nach gerade so prosaisirt - so enttönt. Es ist jezt mehr Schallen gewor-

54

The Poems of Ossian (Anm. 21), 67. Vgl. auch »the lovely beam« (ebd., 255 und 323).

55

The Poems of Ossian,, 68.

56

The Poems of Ossian, 153.

57

Vgl. Friedrich Gottlieb Klopstocks Oden, hg. Franz Muncker und Jaro Pawel, 2 Bde in einem (Stuttgart 1889), hier Bd. 1, 9 [»Wingolf«]: »Willst du zu Strophen werden, o Haingesang? I Willst du gesetzlos, Ossians Schwünge gleich, I Gleich Ullers Tanz auf Meerkrystalle, I Frey aus der Seele des Dichters schweben?«. 58

HKNA 1,475.

59

Vgl. Suzanne Bernard, Le Poeme en prose de Baudelaire jusqu'ä nos jours (Paris 1959), 24-47, v.a. 24-29. 60

Vgl. Jonathan Monroe, »Novalis' Hymnen an die Nacht and the Prose Poem avant la lettre«, Studies in Romanticism, 22 (1983), 93 -110, hier 94. 61 Hierauf weist bereits Friedrich Schlegel in seiner Maler-Müller-Rezension hin (KA III, 303). Novalis bezieht sich in diesem Zusammenhang sicher nicht auf die HexameterFassung von Denis, sondern auf Goethes Prosaübersetzung der Songs of Selma. 62 Vgl. hierzu ausführlich John Joseph Dunn, The Role of Macpherson's Ossian in the Development of British Romanticism , Diss. Duke University 1966, 69-102. 63 64

HKNA III, 310 [Nr. 382] [»Das Allgemeine Brouillon« (1798 f.)].

HKNA I, 475 [»An Ossian. Fragment«]. Vgl. auch Hölderlins Diktum, die ossianischen Gedichte seien »wahrhaftige Centaurengesänge, mit dem Stromgeist gesungen« [.Sämtliche Werke, hg. Friedrich Beissner und Adolf Beck, 8 Bde., Stuttgarter HölderlinAusgabe (Stuttgart 1946-1985), hier Bd. 5, 290] [»Anm. zum Pindarfragment Das Belebende«]). Im folgenden als StA abgekürzt.

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den - Laut, wenn man dieses schöne Wort so erniedrigen w i l l . Sie muß wieder Gesang werden«. 6 5 Die »sogenannte Prosa« ist also »nur ad interim da und spielt eine subalterne, temporelle Rolle. Es kommt eine Zeit, w o sie nicht mehr ist«. 6 6 Das Primat des Musikalischen w i r d in der Novalis-Forschung zumeist mit der »alten orphischen Sage von den Wundern der Tonkunst« in Verbindung gebracht. 67 Der intertextuelle Kontext (nicht nur der Hymnen an die Nacht) zeigt jedoch, daß Novalis' rhythmische Prosa und die damit verbundene Idolatrie des Gesanges auch Macphersons Dichtung einiges verdankt. Schon in der frühen H y m n e erscheint Ossian als Muster für einen ästhetischen Vergangenheitsrekurs und gewinnt dabei zugleich eine wesentliche Vorbild- und Inspirationsfunktion: So gieng ich umkränzt von Edleren Prunklos durch die Reihen der Unsterblichkeit Nezte mich zu deinen Füßen Und opferte dir den ersungenen Eichenzweig. Wenn oft in der Gebirgsnacht In kühlen Klüften ich lauschte Und Wünsche der Väterzeit Mir die Rosenwangen nezten Dann lispelte es schaurig Oft und ich fühlte geistiges Wehn. Warst du es Ossian oder Verschmähst du den Cheruskerenkel Weilst nur in Schottlands Höhlennacht An deinem Grabe. [ . . . ] 6 8 Die Bezeichnung des lyrischen Ich als »Cheruskerenkel« und die darauffolgenden Verse legen die Vermutung nahe, daß Novalis - wie schon einige vor ihm - die Deutschen als legitime Erben Ossians versteht. Denn »Nicht mehr I Beschirmt Ruhm und Errinnerung [sie!] I Den einsamen Felsstein I Den ein frommer Enkel I A m weinenden Abend über dein Gebein I Zitternd wälzte«. 6 9 Das Fehlen eines kollektiven Andenkens kann sich jedoch nicht auf die zeitgenössische deutsche Literatur beziehen, weil Macphersons Werk Ende der 65

HKNÂ III, 283 f. [Nr. 245] [»Das Allgemeine Brouillon«]. HKNA II, 536 [Nr. 51] [Poésie (= Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen)]. 66

67

Florian Roder, Novalis. Die Verwandlung des Menschen. Leben und Werk Friedrich von Hardenbergs (Stuttgart 1992), 645. Vgl. auch Eckhard Heftrich, Novalis. Vom Logos der Poesie, Studien zur Philosophie und Literatur des neunzehnten Jahrhunderts 4 (Frankfurt a.M. 1969), 102-115. Ahnliche Vorstellungen finden sich allerdings auch bei Strabo und Longinus sowie im 18. Jahrhundert bei Blackwell, Hamann und Percy. 68 HKNA I, 475 f. 9 HKNA I, 4 6 .

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1780er Jahre begeistert rezipiert wird. Aus Großbritannien erhält man statt dessen immer wieder Nachrichten über die sog. ossianische Kontroverse, i n der philologische Fragen und politische Ressentiments eine ästhetische Beurteilung der Gedichte weitgehend verhindern. 7 0 Wie die meisten deutschsprachigen Schriftsteller sieht auch Novalis i n Ossian zuallererst einen der größten Poeten der Weltliteratur. Dies belegt eine N o t i z aus dem Jahr 1791, in der verschiedenen Bereichen (Theater, Philosophie, Jurisprudenz etc.) jeweils besonders geschätzte Repräsentanten zugeordnet sind. Unter der Rubrik »Dichter« erscheinen dabei: »Wieland, Ossian, Klopstock, Göthe, Schiller, Bürger«. 71 Auch in die erste Hälfte des zweiten Teils von Heinrich von Ofterdingen soll der keltische Barde integriert werden. Novalis notiert hierzu i n seinen Vorarbeiten: »Poésie der verschiednen Nationen und Zeiten. Ossian. Edda. Morgenländische Poésie. Wilde. Französische - spanische, griechische, deutsche etc. Druiden. Minnesinger«. 72 U n d in der 36. Nummer der Aufzeichnungen vom Sommer 1800 heißt es: »Druiden, Ossian. I Sage eines Urvolks - eines Riesenvolks«. 73 Diese Eintragung ist in zweifacher Hinsicht von Bedeutung: Z u m einen erscheint Macphersons Dichtung als Symbol der großen Vergangenheit und bleibt - wie schon i n der frühen Ossian-Hymne - mit der Vorstellung einer Erinnerungskultur verbunden. Denn dort w i r d »der sterblichen Jugend« der »Silberlockicher Natur Greis« gegenübergestellt - nach Novalis zwei wesentliche Aspekte der ossianischen Dichtung. I m Heinrich von Ofterdingen verwendet er nahezu identische Metaphern, u m die Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart zu beschreiben: »Junges Gebüsch schlang sich u m die alten Mauern, wie ein jugendlicher Kranz u m das Silberhaupt eines Greises«. 74 U n d auch das Lamento über den Verlust einer Gedächtniskultur in der sechsten Hymne an die Nacht liest sich wie eine Beschreibung der Lebenswirklichkeit des keltischen Barden Was sollen wir auf dieser Welt Mit unsrer Lieb* und Treue. Das Alte wird hintangestellt, Was soll uns dann das Neue. O! einsam steht und tiefbetrübt, Wer heiß und fromm die Vorzeit liebt. 75 70

Vgl. hierzu Schmidt (Anm. 8), Teil B, 1.1. HKNA IV, 4. 72 HKNA I, 345. Vgl. auch HKNA III, 675. 73 HKNA I, 436. Vgl. auch HKNA III, 679. 74 HKNA I, 325. 75 HKNA 1,155. Vgl. u. a. »here I must sit alone, by the rock of the mossy stream. The stream and the wind roar; nor can I hear the voice of my love« [The Poems of Ossian (Anm. 21), 21]; »blind, and tearful, and forlorn I now walk with little men« (ebd., 79); »My days are with the years that are past: and no morning of mine shall arise. - They shall 71

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Alfred Wolf weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß der Begriff »Vorzeit« - wenigstens in gedruckter Form - zum ersten M a l in Denis' Ossianausgabe erscheint, und zwar als Ubersetzung von Macphersons Ausdruck »times of old«. 7 6 Z u m anderen w i r d Ossian in den Aufzeichnungen zum Ofterdingen einem religiösen Kontext integriert. Dies ist insofern interessant, als bei Macpherson bereits ein Säkularisierungsprozeß stattgefunden hat und die Druidenkaste historisch nicht mehr existent ist. 7 7 A n ihre Stelle tritt der weltliche Barde (Künstler). Novalis geht dagegen von der ursprünglichen Personalunion beider Gruppen aus: »Dichter und Priester waren i m Anfang Eins, und nur spätere Zeiten haben sie getrennt. Der ächte Dichter ist aber immer Priester, so wie der ächte Priester immer Dichter geblieben. U n d sollte nicht die Zukunft den alten Zustand der Dinge wieder herbeyführen?«. 78

III. Z u den literarischen Plänen Hardenbergs zählt auch ein »Project zu einem Roman, beynah wie Werther. 2 Liebende, die sich aus Überdruß des Lebens und der Menschen selbst tödten. Character - tiefe Wehmuth«. 79 Die joy of grief w i r d aber bereits von Goethe an Macpherson rückgebunden, so daß angesichts der häufigen Verwendung (u. a. in der frühen Hymne) auch hier von einer intertextuellen Ossianreferenz ausgegangen werden kann. Während der keltische Barde als sentimentalischer Dichter erscheint, ist Homer wie i m Werther mit Naivität assoziiert: Ich habe den Homer wieder so liebgewonnen in seiner heiligen, einfachen, Häuslichen, gutmüthigen Sinn und Denkart, daß ich Kronen darum gegeben hätte, wenn ich den biedern Alten um den Hals fallen und mein erröthendes Gesicht in seinem dichten, ehrseek me at Temora, but I shall not be found« (ebd., 138); »My steps were unequal; my grief was great. I wished for the days that were past« (ebd., 188); »thou wert sad, my daughter, for thy friends were passed away. The sons of little men were in the hall; and none remained of the heroes, but Ossian king of spears« (ebd., 194) und »The actions of other times are in my soul: my memory beams on the days that are past« (ebd.). 76 Vgl. Alfred Wolf, Zur Entwicklungsgeschichte der Lyrik von Novalis. Ein stilkritischer Versuch, I. Die Jugendgedichte, Uppsala Universitets Ärsskrift (Uppsala 1928), 46, Anm. 1. Klopstock hat den Ausdruck bereits in den Handschriften seiner Oden verwendet - aber auch hier im Rekurs auf Macpherson. 77

Vgl. James Macpherson, »A Dissertation concerning the Antiquity, &c. of the Poems of Ossian [1765]«, in: The Poems of Ossian (Anm. 21), 43-52 und 417-419 (Anm.), hier 45 und 47. 78 HKNA II, 441 [Nr. 71] [»Blütenstaub«]. 79 HKNA I, 435 [Nr. 36]. Vgl. auch das Gedicht »An Werthers Grabe« (ebd., 490).

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würdigen Barte verbergen könnte. So, dachte ich mir, gieng er, so sprach er, so trug er sich. Jung und alt umhüpfte den heiligen Greis und baten ihn um ein Lied von ihren Heroenvätern vor Troja: und dann sang er es Ihnen in der simpelsten, faßlichsten, melodischsten Volksart und Weise kunstlos aber tief erschütternd, anschmiegend an jedes Herz und Sinn.80 Wahrend der späte Herder, Goethe und Schiller allerdings den fundamentalen Gegensatz zwischen dem Griechen und dem Kelten hervorheben, sieht Novalis eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen den großen Dichtern der Weltliteratur unabhängig vom jeweils behandelten Stoff und der A r t der Darstellung: Mir ist alles lieb im Homer, wie mir in der Natur alles auch lieb und werth ist und so muß es mit jedem großen Menschen seyn, dessen Geist eine runde, vollendete Form hat, wenn sie gleich von der andern himmelweit unterschieden ist. So finde ich auch im Ariost, im Ossian, im Werther, im Don Karlos mehr Homerisches, mehr ächte Homerheit als im Appolonius Rhodius und andern Nachahmern Homers, in deren Händen der Göttliche eine Anthropomorphose ausstehn muß. 81 Aus diesem Grund kann kein Schriftsteller Vorrang vor einem anderen beanspruchen. Novalis distanziert sich damit von dem u m 1800 noch immer virulenten Qualitätsvergleich zwischen griechischer und nordischer Poesie: »Ossian und Homer, M i l t o n und Ariost, Virgil und Klopstock, jeder ist, was er wollte und konnte: aber keiner wollte je ein infallibler, einziger Codex der Gesetze der Schönheit und Wahrheit seyn und ein Idol für alle Zeiten und Völker abgeben«. 82 Wie Jean Paul 8 3 und Schiller 8 4 betont auch Novalis den perspektivischen Charakter derartiger Kategorisierungen. So schreibt er 1798 in einem Fragment über Goethe: »Natur und Natureinsicht entstehn zugleich, wie A n t i ke, und Antikenkenntniß; denn man irrt sehr, wenn man glaubt, daß es Antiken giebt. Erst jezt fängt die Antike an zu entstehen. Sie w i r d unter den Augen und der Seele des Künstlers«. 85 Jede sinnliche Erfahrung ist somit durch eigene Vorstellungen geprägt, die den Gegenstand der Wahrnehmung allererst generieren. Was Novalis hier beschreibt, ist das sentimentalische Postulat einer großen Vergangenheit, die für immer verloren und eben deshalb idealisiert erscheint. Tröstung schafft auch hier die joy of grief die via Ossian aus dem empfindsamen in 80 81 82 83

HKNA IV, 99 [Brief vom 7. Oktober 1791 an Friedrich Schiller]. HKNA IV, 100. HKNA IV, 99.

Vgl. J e a n P a u l (Anm. 15), Bd. 1,131 [»Die unsichtbare Loge«]. Vgl. Schillers Werke, Nationalausgabe, begründet von Julius Petersen, hg. im Auftrag der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (Goethe- und Schiller-Archiv) und des Schiller-Nationalmuseums in Marbach von Liselotte Blumenthal, Benno von Wiese u. a. (Weimar 1943 ff.), hier Bd. 20, 431 [»Ueber naive und sentimentalische Dichtung«]. HKNA II, 6 0 . 84

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den frühromantischen Diskurs transferiert wird. Bei Novalis ist an (mindestens) zwei Stellen von »süßer Wehmuth« 8 6 die Rede - einer häufig verwendeten Paraphrase der joy of grief wie sie auch bei Moritz, Schiller, Jean Paul und Hölderlin begegnet. Darüber hinaus genießt man den »Schmerz der Wehm u t h « 8 7 und sieht »Wehmuth und Wollust [ . . . ] in innigster Sympathie«. 88 A n Macpherson erinnert zudem das textliche Umfeld sowie die Verbindung der joy of grief mit der Idee einer Gedächtniskultur. So heißt es am Beginn der Hymnen an die Nacht: »In den Sayten der Brust weht tiefe Wehmuth«, 8 9 und wenig später erscheinen die »Fernen der Erinnerung« ganz ossianisch »wie Abendnebel nach der Sonne Untergang«. 9 0 I m Heinrich von Ofterdingen w i r d darüber hinaus die ossianische Traum- und Inspirationsmetaphorik verwendet: »Die Erinnerung an die Dichtkunst, die bisher ihre ganze Seele beschäftigt hatte, war zu einem fernen Gesänge geworden, der ihren seltsam lieblichen Traum mit den ehemaligen Zeiten verband«. 91 U n d auch die »Ästhetik der 86

HKNA I, 278 [»Heinrich von Ofterdingen«]. Vgl. auch »mit seiner süßen Wehmuth« (ebd., 283) sowie »Thränen der Freude« (ebd., 149) [»Hymnen an die Nacht«], »Heiige Wehmuth!« (ebd., 168) [»Geistliche Lieder«] und »ihre wehmüthigen Klagen« (ebd., 306) [»Heinrich von Ofterdingen«]. 87

HKNA I, 232. HKNA I, 319. Eine ähnliche latente Sexualisierung der joy of grief findet sich auch bei Jakob Michael Reinhold Lenz [vgl. Werke und Briefe in drei Bänden, hg. Sigrid Damm (München/Wien 1987), hier Bd. 2, 741, 746 [»Über die Veränderung des Theaters im Shakespear«] sowie »Fingal, ein alt Gedicht von Ossian« [Prosaübersetzung von Jakob Michael Reinhold Lenz], in: Iris (Düsseldorf 1775), Bd. 3. St. 3 (Junius), 166-192; Bd. 4. St. 2 (August), 83-105 und (Berlin 1776), Bd. 5. St. 2, 87-107; Bd. 6. St. 2,335-353; Bd. 7. St. 2, 563-580; Bd. 8. St. 1, 812-830, hier Bd. 8. St. 1, 825. 89 HKNA 1,131. Vgl. hierzu u. a. »Return soon, she said, O Lamderg! for here I wait in sorrow. Her white breast rose with sighs; her cheek was wet with tears« [The Poems of Ossian (Anm. 21), 31]; »Her white breast heaved with sighs, like the foam of the streamy Lubar« (ebd., 74); »Why bursts that broken sigh from the breast of him that never feared before?« (ebd.); »Her white breast rose with sighs« (ebd., 94); »The sighing of his breast was frequent; and the decayed flame of his eyes terrible. His spear was a column of mist: the stars looked dim through his form. His voice was like hollow wind in a cave: and he told the tale of grief« (ebd., 141) und »Bend thy red eye over my tomb, and beat thy mournful heaving breast« (ebd., 164). 88

90 HKNA I, 131. Vgl. hierzu »like mist that shades the hills of autumn: when broken and dark it settles high, and lifts its head to heaven« [The Poems of Ossian (Anm. 21), 56] und »it is the mist of the desart tinged with the beam of the west« (ebd., 110). Und wenn Novalis »von der Erinnerung mossigem Denkmal« spricht (HKNA 1,137), so erinnert das stark an ossianische Formulierungen wie »raise the mossy stones of their fame« [The Poems of Ossian (Anm. 21), 101] und »Four stones, with their heads of moss, are the only memorial of thee« (ebd., 168). 91 HKNA I, 217 f. [»Heinrich von Ofterdingen«]. Vgl. auch »Zauber der Errinnerungen [sic!], I Heilger Wehmuth süße Schauer I Haben innig uns durchklungen I Kühlen unsre Glut« (ebd., 354) [»Das Lied der Toten. Urfassung«].

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Dämmerung< 92 w i r d in diesem Zusammenhang thematisch, denn erst die »geschickte Vertheilung von Licht, Farbe und Schatten« offenbart nach Novalis die »verborgene Herrlichkeit der sichtbaren Welt«. 9 3 Der Bezug zu Ossian manifestiert sich nun darin, daß das »Zwielichte« 9 4 wiederum mit der joy of grief verbunden wird: »Die Abenddämmerung - ist immer eine wehmüthige [ . . . ] Stunde«. 95 Für eine solche Zuschreibung an sich unmarkierter Verweise spricht auch die Präsenz ossianischer Naturmetaphorik. So heißt es i m Heinrich von Ofterdingen: »Ein entsetzliches Heer [ . . . ] kam wie ein Sturm von dunkeln Bergen herunter«. 96 U n d wenig später vermuten die Anwohner, daß i n einer Höhle ein Geist wohne, weil sie »zur Nachtzeit Gesänge da herüber gehört haben wollten«. 9 7 Auch die spezifische Beschreibung der lunaren Sphäre 98 sowie das Erscheinen nächtlicher Meteore 9 9 läßt an Macpherson denken. Novalis übertritt jedoch das ossianische Modell einer Gedächtniskultur, indem er der Erinnerung weniger eine ethisch-moralische denn eine ästhetischtranszendentale Funktion zuschreibt: die zahllosen Erinnerungen sind eine unterhaltende Gesellschaft, und dies um so mehr, je veränderter der Blick ist, mit dem wir sie überschauen, und der nun erst ihren wahren Zusammenhang, den Tiefsinn ihrer Folge, und die Bedeutung ihrer Erscheinungen ent92

Vgl. hierzu Schmidt (Anm. 8), Teil B, 2.3 und Teil D, 3.8. HKNA I, 204 (»Heinrich von Ofterdingen«). 94 HKNA I, 204. 95 HKNA IV, 50 [»Betrachtung (1798?)«]. 96 HKNA I, 299. Vgl. u. a. »They came like streams from the mountains; each rushed roaring from his hill. Bright are the chiefs of battle in the armour of their fathers« [The Poems of Ossian (Anm. 21), 56]; »As a hundred winds on Morven; as the streams of a hundred hills; as clouds fly successive over heaven; or, as the dark ocean assaults the shore of the desart: so roaring, so vast, so terrible the armies mixed on Lena's echoing heath« (ebd., 77) und »A blast came from the mountain, and bore, on its wings, the spirit of Loda« (ebd., 161). 93

97 HKNA I, 251 (»Heinrich von Ofterdingen«). Vgl. u. a. »ye ghosts of the dead! speak, and I will not be afraid. - Whither are ye gone to rest? In what cave of the hill shall I find you?« [The Poems of Ossian (Anm. 21), 21] und »the ghost of Crugal came from the cave of his hill« (ebd., 65). 98 Vgl. »Der Mond stand in mildem Glänze über den Hügeln« (HKNA I, 252) [»Heinrich von Ofterdingen«] und »Flüchtige Schimmer des Mondes erhellten die klappernden Fenster« [ebd., 355 (»Die Vermählung der Jahrszeiten«)]. Bei Macpherson finden sich u. a. folgende Referenzstellen: »fair as the full moon setting on the hills of Cromla« [The Poems of Ossian (Anm. 21), 94] und »it is like the glimmering light of the moon, when it shines through broken clouds, and the mist is on the hills« (ebd., 134). 99 Vgl. »die Nacht ward von fürchterlichen Meteoren erleuchtet« (HKNA I, 299 f.). Im Ossian heißt es: »Terrible is the spear of Torlath! it is a meteor of night« [The Poems of Ossian (Anm. 21), 136] und »As roll the troubled clouds, round a meteor of night, when they brighten their sides« (ebd., 256).

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deckt. Der eigentliche Sinn für die Geschichten der Menschen entwickelt sich erst spät, und mehr unter den stillen Einflüssen der Erinnerung, als unter den gewaltsameren Eindrücken der Gegenwart. Die nächsten Ereignisse scheinen nur locker verknüpft, aber sie sympathisiren desto wunderbarer mit entfernteren; und nur dann, wenn man im Stande ist, eine lange Reihe zu übersehn und weder alles buchstäblich zu nehmen, noch auch in muthwilligen Träumen die eigenliche [sie!] Ordnung zu verwirren, bemerkt man die geheime Verkettung des Ehemaligen und Künftigen, und lernt die Geschichte aus Hoffnung und Erinnerung zusammensetzen. Indeß nur dem, welchem die ganze Vorzeit gegenwärtig ist, mag es gelingen, die einfache Regel der Geschichte zu entdecken.100 Dieser rückwärtig-reflexive Erkenntnisprozeß ist aber mit der joy of grief verbunden, weil das Goldene Zeitalter nicht wiederbelebt werden kann: »O! du suchest umsonst - untergegangen ist I Jenes himmlische Land - keiner der Sterblichen I Weiß den Pfad, den auf immer I Unzugängliches Meer verh ü l l t « . 1 0 1 Hans-Joachim Mähl verweist daher mit Recht auf den Unterschied dieses Modells zur »arkadischen Idyllik« von Vergil bis Geßner, vergißt jedoch, daß sich die von ihm benannten Patterns bereits i m Ossian finden, der - nicht nur in Goethes Werther - die poetische Legitimationsinstanz darstellt für einen empfindsam-melancholischen Rekurs auf das Altertum. Denn auch bei Novalis spielt die vergangene Traumzeit immer nur die Rolle der wehmütigen Erinnerung, aus der sich die Ahnung der Zukunft erhebt, und indem Erinnerung und Ahnung sich in die Gegenwart verweben, sie durchdringen und durchsichtig machen, wird diese Gegenwart selbst verwandelt, bahnt sich der große Erlösungsvorgang an, dessen Schilderung die eigentliche Intention des Dichters ausmacht. Es gibt keine Dichtung des Novalis, die in goldener Vorzeit spielt - diese ist immer nur in der Erinnerung gegenwärtig und löst die Ahnung der goldenen Endzeit aus; die Gegenwart wird nicht verlassen, sondern verwandelt und der Zukunft entgegengeführt. 102 Hiermit geht Novalis über Macpherson hinaus, denn Ossian kann die große Vorzeit zwar poetisch imaginieren, aber nicht i n ein produktives Verhältnis zum Status Q u o setzen. A u f ihn paßt eine Passage aus dem 24. BlüthenstaubFragment: »Der erste Schritt w i r d Blick nach Innen, absondernde Beschauung unsers Selbst. Wer hier stehn bleibt, geräth nur halb. Der zweyte Schritt muß wirksamer Blick nach Außen, selbstthätige, gehaltne Beobachtung der Außenwelt seyn«. 1 0 3 Dennoch oszilliert auch Hardenbergs Poetik zwischen dem anthropologisch begründeten Postulat eines Metanarrativs 1 0 4 und dem mehrfach 100

HKNA I, 257 f. (»Heinrich von Ofterdingen«). HKNA I, 399 [»Der Fremdling (1797 f.)]. 102 Hans-Joachim Mähl, Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen, Probleme der Dichtung 7 (Heidelberg 1965), 359 f., Anm. 8. HKNA I , 4 3 . 101

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artikulierten Zweifel an dessen Realisierbarkeit. I n den Fichte-Studien (1795 f.) schreibt er hierzu: »Das eigentliche Philosophische System muß Freyheit und Unendlichkeit, oder, u m es auffallend auszudrücken, Systemlosigkeit, in ein System gebracht, seyn«. 1 0 5 Das Fragment w i r d zum Symbol für ein Denken, das »noch nicht i m Ganzen fertig ist«, gleichzeitig aber unter dem Diktat einer »großen, alles verändernden Idee« steht. 1 0 6 Die Utopie bleibt daher - wie i m Heinrich von Ofterdingen - dem »Märchen« vorbehalten. 1 0 7 A u f diese Weise w i r d aber die Dichtung zum »Mittelglied« 1 0 8 zwischen Vorstellung und W i r k lichkeit und die vermischte Empfindung der joy of grief zur Chiffre modernen Welterlebens. Denn das einzige, was der »heilige Strahl« des Himmels zurückläßt, der alle »Schmerzen und Bekümmernisse« des Menschen eliminiert, ist »ein stilles inniges Sehnen und ein wehmüthiger Klang i m Aller Innersten«. 1 0 9 Ähnlich äußert sich Novalis auch i m 109. Blüthenstaub-Fragment: Nichts ist poetischer, als Erinnerung und Ahndung oder Vorstellung der Zukunft. Die Vorstellungen der Vorzeit ziehn uns zum Sterben, zum Verfliegen an. Die Vorstellungen der Zukunft treiben uns zum Beleben, zum Verkörpern, zur assimilirenden Wirksamkeit. Daher ist alle Erinnerung wehmüthig, alle Ahndung freudig. Jene mäßigt die allzugroße Lebhaftigkeit, diese erhebt ein zu schwaches Leben. Die gewöhnliche Gegenwart verknüpft Vergangenheit und Zukunft durch Beschränkung. Es entsteht Kontiguität, durch Erstarrung Krystallisazion. Es giebt aber eine geistige Gegenwart, die beyde durch Auflösung identifizirt, und diese Mischung ist das Element, die Atmosphäre des Dichters. 110 Novalis denkt hier die bereits bei Macpherson virulente Ästhetisierung des ethisch-politischen Diskurses zu Ende. Denn während Ossian nur aufgrund der gesellschaftlichen Isolation zum selbstreflexiven Dichter w i r d und den daraus resultierenden Handlungsverzicht zutiefst bedauert, macht Novalis aus der N o t eine Tugend und postuliert das uneingeschränkte Primat des Poeten: »Wenn man ihn mit dem Helden vergleicht, so findet man, daß die Gesänge der Dichter nicht selten den Heldenmuth in jugendlichen Herzen erweckt, Heldenthaten aber w o h l nie den Geist der Poesie in ein neues Gemüth gerufen 104 Ygi »Wer keinen Sinn für Religion hätte - müßte doch an ihrer Stelle etwas haben, was für ihn das wäre, was andern die Religion ist« [HKNA III, 563 [Nr. 53] [»Fragmente und Studien (1799 f.)«]]. 105

HKNA II, 288 f. [Nr. 648]. Ähnlich äußert sich Friedrich Schlegel im 53. Athenäums-Fragment: »Es ist gleich tödlich für den Geist, ein System zu haben, und keins zu haben. Er wird sich also wohl entschließen müssen, beides zu verbinden« (KA II, 173). 106 HKNA II, 595 [Nr. 318] [Vermischte Fragmente III]. 107 Vgl. HKNA I, 345. 108 HKNA II, 441 -443 [Nr. 74] [»Blüthenstaub«]. Vgl. auch ebd., 461 [Nr. 110]. 109 HKNA I, 322 (»Heinrich von Ofterdingen«). 110 HKNA II, 461 [Nr. 109] [»Blüthenstaub«].

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haben«. 1 1 1 Innovativ ist somit nicht die Tat, sondern das Wort. Daher w i r d alle Lebenspraxis an ihrer Bedeutung für die Dichtung gemessen. N i c h t Fingais Eingreifen in die Welt kann den Status quo optimieren, sondern Ossians Erzählen von der großen Vergangenheit. Heinrich ist daher - auch i m Sinne von Blankenburgs Romantheorie - eine »\p\assive N a t u r « . 1 1 2 U n d i m AtlantisMärchen w i r d der Jüngling sogar zu einem >alter OssianMuse< Malvina benötigt, u m nicht ganz isoliert zu leben, braucht der Mensch auch bei Novalis eine weibliche Inspirationsinstanz. Ihr frühes Sterben führt über die Einsamkeitserfahrung zum eigentlichen A k t der poetischen I n i t i a t i o n . 1 1 5 Die Frauenfigur ist jedoch - eine Parallele zu L e n z 1 1 6 und H ö l d e r l i n 1 1 7 - deutlich sexualisiert: aus der Geliebten des Sohns (Oscar) w i r d die des Dichters. I n der dritten Hymne an die Nacht beschreibt Novalis diesen Prozeß - und zwar i m Rekurs auf ossianische Patterns: Einst da ich bittre Thränen vergoß, da in Schmerz aufgelöst meine Hoffnung zerrann, und ich einsam stand am dürren Hügel,'-118-' der in engen, dunkeln Raum'-119-' die Gestalt meines Lebens barg - einsam, wie noch kein Einsamer war, von unsäglicher Angst getrieben - kraftlos, [1201 nur ein Gedanke des Elends noch. - Wie ich da nach Hülfe um111

HKNA I, 267 [»Heinrich von Ofterdingen«]. HKNA I, 340. 113 Vgl. »Eine Geschichte der verflossenen Zeit! Die Thaten der Vorwelt« [Die Gedichte Ossians eines alten celtischen Dichters, aus dem Englischen übersetzt von M. Denis, aus der G.J. Bd. 1 (Wien 1768), 187 [»Carthon«]]. 114 HKNA 1,220 f. Vgl. auch »Ich ließ es mir damals angelegen seyn, ihn mit den Schätzen der Vorwelt, mit der kostbaren Hinterlassenschaft einer zu früh abgeschiedenen Welt bekannt zu machen« (ebd., 326). 115 Vgl. Gerhard Schulz, »Kommentarteil«, in: Novalis Werke, hg. und kommentiert von G.S. (München 1969), 569-828, hier 692. 116 Vgl. oben, Anm. 87. 117 Vgl. StA III, 72 (»Hyperion«). 118 Vgl. u. a. »Lena's dusky heath« [The Poems of Ossian (Anm. 21), 56]; »the dark heaths« (ebd., 60); »Lena's gloomy heath« (ebd., 84) und »the heath was bare« (ebd., 146). 119 Vgl. u. a. »four stones with their heads of moss stand there; and mark the narrow house of death« (ebd., 93) und »A tree stands alone on the hill« (ebd., 165). 120 Vgl. u. a. »Feeble was his arm« (ebd., 131, 143) und »the feeble remain on the hills« (ebd., 178). 112

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herschaute, vorwärts nicht konnte und rückwärts nicht, und am fliehenden, verlöschten Leben mit unendlicher Sehnsucht hing. 121 Wahrend i m Ossian die vergängliche Sonne hinter den Wolken erscheint, blickt bei Novalis die unsterbliche Geliebte daraus hervor, deren gleichzeitige (reale) A b - und (ideale) Anwesenheit die vermischte Empfindung der joy of grief hervorruft: da kam aus blauen Fernen - von den Höhen meiner alten Seligkeit ein Dämmerungsschauer - und mit einemmale riß das Band der Geburt - des Lichtes Fessel. Hin floh die irdische Herrlichkeit und meine Trauer mit ihr - zusammen floß die Wehmuth in eine neue, unergründliche Welt - du Nachtbegeisterung, Schlummer des Himmels kamst über mich - die Gegend hob sich sacht empor; über die Gegend schwebte mein entbundner, neugeborner Geist. Zur Staubwolke wurde der Hügel - durch die Wolke sah ich die verklärten Züge der Geliebten.122 Es wäre sicher problematisch, die zitierten Passagen allein auf Ossian zurückzuführen, zumal u. a. auch biblische Metaphern darin vorkommen. Die spezifische Verbindung der einzelnen Elemente spricht jedoch für einen primären Rekurs auf Macpherson, und auch der »über der Gegend« schwebende Geist des symbolisch Toten mag nicht nur durch die Schöpfungsgeschichte inspiriert sein, sondern auch - was das intertextuelle Umfeld nahelegt - durch die ossianischen Nebelgeister, die sich aus den Körpern der Verstorbenen i n den H i m m e l erheben. H i n z u kommt, daß Novalis die Einsamkeitserfahrung nach dem Verlust Sophies sowie entsprechende Textstellen in seinem poetischen Werk unter Verwendung ossianischer Muster beschreibt. So findet sich am 9. Juni 1797 die Eintragung i m Tagebuch: »Das Einzige Gute fand ich heute - die Idee der unaussprechlichen Einsamkeit, die mich seit Sfophiens] Tode umgiebt - mit ihr ist für mich die ganze Welt ausgestorben - Ich gehöre seitdem nicht mehr hieher«. 1 2 3

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HKNA 1,135. HKNA I, 135. Vgl. hierzu u. a. »night settles with all her clouds on the hill« [The Poems of Ossian (Anm. 21), 56]; »the light cloud flies over the hills« (ebd., 62); »O Fingal, it is like the sun on Cromla; when the hunter mourns his absence for a season, and sees him between the clouds« (ebd., 103) und »like the watry beam of the moon, when it rushes from between two clouds, and the midnight shower is on the field« (ebd., 123). 122

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HKNA IV, 45. Vgl. hierzu u. a. »She sat alone, and heard the rolling of the wave. The big tear is in her eye; and she looks for the car-borne Nathos. [ . . . ] Where art thou, son of my love! The roar of the blast is around me. Dark is the cloudy night. - But Nathos does not return« [The Poems of Ossian (Anm. 21), 141]; »Yes, my fair, I return; but I alone of my race. Thou shalt see them no more: their graves I raised on the plain. But why art thou on the desert hill? Why on the heath, alone? Alone I am, O Shilric! alone in the winter-house. With grief for thee I expired. Shilric, I am pale in the tomb« (ebd., 160) und »Go with thy rustling wing, O breeze! and sigh on Malvina's tomb. It rises yonder beneath the rock, at the blue stream of Lutha. The maids are departed to their place; and thou alone, O breeze, mournest there« (ebd., 194).

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Wolf Gerhard Schmidt

U n d wenige Tage später möchte er der Geliebten wie i m Ossian nachsterben, denn »die Welt ist öde«. 1 2 4 Ein möglicher intertextueller Bezug zu Orpheus w i r d dadurch unterminiert, daß es hier nicht u m die Rückkehr der Frau aus dem Jenseits geht, sondern u m die letztgültige Vereinigung beider Partner i m Liebestod. Denn schon in den Hymnen an die Nacht zerbricht der antike Mythos »schließlich an der Nicht-Integration des Todes«. 1 2 5 Darüber hinaus formuliert auch Karoline von Günderrode, die selbst Teile Ossians übersetzt hat, ihre Todessehnsucht i m Rekurs auf Macpherson. So heißt es i m Brief vom 29. A u gust 1801 an Gunda Brentano: »Gestern las ich Ossians Darthula, und es wirkte so angenehm auf mich; der alte Wunsch, einen Heldentod zu sterben, ergriff mich mit großer Heftigkeit; unleidlich war es mir, noch zu leben, unleidlicher, ruhig und gemein zu sterben«. 126 Ahnliche Verlassenheitsevokationen wie in den Tagebucheinträgen über Sophies Tod finden sich in den Hymnen an die Nacht: »Auf ewig nun von allem abgeschieden, I Was hier das Herz in süßer Wollust regt, I Getrennt von den Geliebten, die hienieden I Vergebne Sehnsucht, langes Weh bewegt, I Schien matter Traum dem Todten nur beschieden«. 127 U n d wenig später heißt es: »Sanft w i r d das Ende, wie ein Wehn der Harfe. I Erinnerung schmilzt i n kühler Schattenflut, I So sang das Lied dem traurigen Bedarfe«. 128 Zur Verstärkung der Isolationserfahrung greift Novalis mehrfach auf ossianische Echoeffekte zu124 HKNA IV, 46 [Eintrag vom 12./13. Juni 1797]. Vgl. auch »Es ist Abend um mich geworden, während ich noch in die Morgenröthe hineinsah« (ebd., 206) [Brief vom 22. März 1797 an Karl Ludwig Woltmann] bzw. die Ossianreferenz »Our youth is like the dream of the hunter on the hill of heath. He sleeps in the mild beams of the sun; but he awakes amidst a storm; the red lightning flies around: and the trees shake their heads to the wind. He looks back with joy on the day of the sun, and the pleasant dreams of his rest!« [The Poems of Ossian (Anm. 21), 115] sowie »Ich lebe das alte vergangene Leben hier in stiller Betrachtung durch« (HKNA IV, 227) [Brief vom 3. Mai 1797 an Karl Ludwig Woltmann] bzw. die Ossianreferenz »It sends my soul back to the ages of old, and to the days of other years« [The Poems of Ossian (Anm. 21), 70] und »He looks back with joy on the day of the sun, and the pleasant dreams of his rest!« (ebd., 115). 125 Herbert Uerlings, Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis. Werk und Forschung (Stuttgart 1991), 286. 126 »Ich sende Dir ein zärtliches Pfand«: [Die Briefe der Karoline von Günderrode, hg. und mit einer Einleitung versehen von Birgit Weißenborn (Frankfurt a.M./ Leipzig 1992), 78 f. 127 HKNA I, 143. Vgl. hierzu »Silent is the hall of joy; I hear not the voice of the singer« [The Poems of Ossian (Anm. 21), 31]; »I sit forlorn at the tombs of my friends« (ebd., 104); »O that I could forget my friends: till my footsteps cease to be seen!« (ebd., 126) und »Where are thy friends, my love? [ . . . ] Yes, my fair, I return; but I alone of my race. Thou shalt see them no more« (ebd., 160). 128 HKNA I, 143. Vgl. u. a. »Bring not, Carril, I replied, bring not her memory to my mind. My soul must melt at the remembrance. My eyes must have their tears« [The Poems of Ossian (Anm. 21), 96].

Die Ästhetisierung der joy of grief bei Novalis

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rück. »Unendlich und geheimnißvoll«, schreibt er in der vorletzten Strophe der Hymnen, »Durchströmt uns süßer Schauer - I M i r däucht, aus tiefen Fernen scholl I Ein Echo unsrer Trauer«. 1 2 9 U n d i m Klingsohr-Märchen antwortet der »Felsen der Trauer« den Rufenden »in einem tausendfachen Echo«. 1 3 0 I n diesem Zusammenhang sei auch auf den Beginn der Geschichte hingewiesen. Denn das mehrfache Schildschlagen durch den alten Helden erinnert stark an den Anfang des siebten Buchs von Temora: [Novalis:] Die lange Nacht war eben angegangen. Der alte Held schlug an seinen Schild, daß es weit umher in den öden Gassen der Stadt erklang. Er wiederholte das Zeichen dreymal. 131 [Macpherson:] It is dark. The sleeping host were still, in the skirts of night. The flame decayed, on the hill of Fingal [ . . . ] . The king took his deathful spear, and struck the deeply-sounding shield: his shield that hung high in night, the dismal sign of war! [ . . . ] He struck again the shield: battles rose in the dreams of his host. [ . . . ] But when the third sound arose; deer started from the clefts of their rocks. 132 Der intertextuelle Verweis auf Macphersons Werk dient jedoch bei Novalis primär der Darstellung von Phänomenen wie Tod, Einsamkeit und Trauer sowie der Diskrepanz zwischen Idee und Wirklichkeit, Künstler und Welt, Vergangenheit und Gegenwart. Dabei w i r d der scheinbar so realitätsferne Barde zum Muster des modernen Menschen und die von ihm kultivierte joy of grief zum emotionalen Kennzeichen für einen Totalitätsverlust, der durch transzendente Sinngebung nur noch notdürftig aufgefangen werden kann. Die ossianischen Dämmerungszustände und Nachtstimmungen fungieren i m romantischen Diskurs als Sinnbild der Mediatorfunktion von Kunst und erscheinen deshalb mehr und mehr positiv konnotiert. Aus dem empfindsamen >Bruder< Homers w i r d auf diese Weise tatsächlich die sentimentalische >Mutter< der Romantik.

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HKNA 1,157. HKNA I, 305 (»Heinrich von Ofterdingen«). Vgl. auch »Vom Felsen tönte der sanfte Wiederhall der Musik« (ebd., 307). Im Ossian finden sich u. a. folgende Referenzstellen: »The field echoes from wing to wing, as a hundred hammers that rise by turns on the red son of the furnace« [The Poems of Ossian (Anm. 21), 60]; »A thousand rocks replied to the voice of his dogs« (ebd., 70), »Its head is covered with foam, and the hills are echoing around« (ebd., 75) und »The rocking hills echoed around« (ebd., 113). 130

131 132

HKNA 1,290. The Poems of Ossian (Anm. 21), 279.

10 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 44. Bd.

August von Platens »Klaglied Kaiser O t t o des Dritten« (1834) Historisches Bild und ästhetischer Gehalt"' Zum Millenium des Todes Ottos III. im Jahr 1002 Von Matthias Pape

Klaglied Kaiser Otto des Dritten 1 O Erde, nimm den Müden, Den Lebensmüden auf, Der hier im fernen Süden Beschließt den Pilgerlauf! Schon steh* ich an der Grenze, Die Leib und Seele teilt, Und meine zwanzig Lenze Sind rasch dahin geeilt. Voll unerfüllter Träume, Verwaist, in Gram versenkt, Entfallen mir die Zäume, Die dieses Reich gelenkt. Ein Andrer mag es zügeln Mit Händen minder schlaff, Von diesen sieben Hügeln Bis an des Nordens Haff! * Dem Aufsatz liegt ein Vortrag im literaturwissenschaftlichen Oberseminar von Professor Dr. Karl Konrad Polheim an der Universität Bonn im Wintersemester 2001/02 zugrunde. Die Interpretation verdankt der Diskussion vielfache Anregungen, ebenso den Hinweisen von Knut Görich (München) zur Forschungsdiskussion über den jüngsten Ottonenkaiser. 1 August Graf von Platen, Sämtliche Werke , hist.-krit. Ausgabe, hg. Max Koch u. Erich Petzet, 12 Bde. (Leipzig [1910], Nachdruck 1969), Bd. 2, 51-53. - Auch in: Eduard Stemplinger (Hg.), Der Münchner Kreis. Platen , Curtius , Geibel, Strachwitz , Deutsche Literatur. Sammlung literarischer Kunst- und Kulturdenkmäler in Entwicklungsreihen, Reihe Formkunst, Bd. 1 (Leipzig 1933), 34-36. - August von Platen, Werke , Bd. 1, Lyrik [mehr nicht ersch.], hg. Kurt Wölfel u. Jürgen Link (München 1982), 22-24. 10*

Matthias Pape Doch selbst im Seelenreiche Harrt meiner noch die Schmach, Es folgt der blassen Leiche Begangner Frevel nach: Vergebens mit Gebeten Beschwör ich diesen Bann, Und mir entgegen treten Crescentius und Johann! Doch nein! Die Stolzen beugte Mein reuemütig Flehn; Ihn, welcher mich erzeugte, Ihn werd' ich wiedersehn! Nach welchem ich als Knabe So oft vergebens frug: An seinem frühen Grabe Hab' ich geweint genug. Des deutschen Volks Berater Umwandeln Gottes Thron: Mir winkt der Altervater Mit seinem großen Sohn. Und während, voll von Milde, Die frommen Hände legt Mir auf das Haubt Mathilde, Steht Heinrich tiefbewegt. Nun fühl' ich erst, wie eitel Des Glücks Geschenke sind, Wiewohl ich auf dem Scheitel Schon Kronen trug als Kind! Was je mir schien gewichtig, Zerstiebt wie ein Atom: O Welt, du bist so nichtig, Du bist so klein, o Rom! O Rom, wo meine Blüten Verwelkt wie dürres Laub, Dir ziemt es nicht, zu hüten Den kaiserlichen Staub! Die mir die Treue brachen, Zerbrächen mein Gebein: Beim großen Karl in Aachen Will ich bestattet sein. Die echten Palmen wehen Nur dort um sein Panier: Ihn hab ich liegen sehen In seiner Kaiserzier.

August von Platens »Klaglied Kaiser Otto des Dritten« (1834)

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Was durfte mich verführen, Zu öffnen seinen Sarg? Den Lorbeer anzurühren, Der seine Schläfe barg? O Freunde, laßt das Klagen, Mir aber gebt Entsatz, Und macht dem Leichenwagen Mit euren Waffen Platz! Bedeckt das Grab mit Rosen, Das ich so früh gewann, Und legt den tatenlosen Zum tatenreichsten Mann!

I. Die Wirkung von Platens Werk blieb stets begrenzt. Breitere Resonanz fand Platens anspruchsvolle Lyrik nur mit einzelnen Balladen und Romanzen, die ihren Platz in den Balladen- und Lesebüchern bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts behaupten konnten und geschichtliche Situationen v o m eigenen tragischen Lebensgefühl aus gestalteten und damit wieder lebendig machten. Z u diesen zählt das »Klaglied Kaiser O t t o des Dritten«. Karl August Georg Maximilian Graf von Platen Hallermünde, als Sproß einer verarmten protestantischen Grafenfamilie 1796 i m fränkischen Ansbach geboren (das 1791 an Preußen und 1806 an Bayern fiel), bezeichnete sich noch beim Tod Franz II. i m Jahr 1835, dreißig Jahre nach dem Untergang des Alten Reiches, als »Vasall« des Kaisers. Das Todesjahr des letzten römisch-deutschen Kaisers war auch Platens Todesjahr. Seine Anhänglichkeit an Kaiser und Reich war typisch für das Standesbewußtsein der alten reichsunmittelbaren Familien, die den Herrschafts- und Prestigeverlust durch die Mediatisierung 1803 nicht verwunden hatten und sich unter die Herrschaft von Landesherren begeben mußten. Platen besuchte das Kadettenkorps und die Pagerie in München, trat 1812 als Edelknabe in den H o f dienst ein, entschied sich dann jedoch für die militärische Laufbahn, von der er sich mehr freie Zeit versprach. Er empfand den Militärdienst bald als Martyrium und ließ sich 1818 als Unterleutnant zum Studium beurlauben. 2 A u f die Dichterexistenz bereitete er sich durch gelehrte 2 Im Materialreichtum unerschöpflich ist das Werk des Jenaer Literarhistorikers Rudolf Schlösser, August Graf von Platen. Ein Bild seines geistigen Entwicklungsganges und seines dichterischen Schaffens, Bd. 1: 1795-1826; Bd. 2: 1826-1835 (München 1910-1913). - Vgl. auch Kurt Wölfel, »August von Platen«, Fränkische Lebensbilder N.F. 3 (1969), 250-273. - Vincent J. Günther: »August Graf von Platen«, in: Benno von Wiese (Hg.), Deutsche Dichter des 19. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk (2., Überarb. u. verm. Aufl.

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Matthias Pape

Arbeit (Jura-Studium i n Würzburg und Erlangen) sowie Wanderungen und Reisen quer durch Deutschland und Italien vor. I n Italien lebte er seit 1826 fast ständig, zunächst in Rom, später in Neapel, von w o er sich alle historisch und kunstgeschichtlich bedeutsamen Stätten des Landes mit Forscherdrang >erwanderte< und w o er 1835 auf der Flucht vor der Cholera starb. 3 König L u d w i g I. von Bayern nahm ihn 1828 auf Antrag Schellings und Rumohrs als außerordentliches Mitglied in die philosophisch-philologische Klasse der Königlichen Akademie der Wissenschaften mit der üblichen Jahrespension von 500 Gulden auf und gewährte i h m daneben die halbe Offiziersgage (180 fl.). 4 Dadurch war Platen finanziell - wenn auch nur notdürftig - abgesichert. L u d w i g selbst hatte i n Rom seine tiefsten Bildungseindrücke empfangen und als Kronprinz inmitten der deutschen Künstlerkolonie gelebt. Er schätzte Platens Dichtung (der anläßlich von Ludwigs Regierungsantritt 1825 die Ode »An König Ludwig« hatte drucken lassen) und teilte dessen Vorliebe für Italien. Platens »ganzes Bestreben« ging dahin, wie er dem von ihm verehrten Schelling schrieb, »mich zu dem auszubilden, w o z u mich die Natur bestimmt zu haben scheint, und wodurch ich meinen Freunden am besten genügen kann.« 5 Platen hat, wie sich seinen Tagebüchern und Briefen entnehmen läßt, zeitlebens eine weit ausgreifende Lektüre historischer Werke betrieben, die er während des Studiums und der Aushilfstätigkeit an der Universitätsbibliothek in Erlangen (1819-1826) systematisiert hat. Dabei fesselte ihn lange Zeit nur die ästhetische Darbietung von Geschichte, nach der er den Wert eines Werkes beurteilte. Es sollte ihn zur poetischen Arbeit anregen und den nötigen Stoff liefern. Die beginnende quellenkritische Historiographie, die nicht mehr vom Erzählton lebte, stieß ihn ab. Platen hat zahlreiche epische Dichtungen über Gestalten der germanisch-deutschen Geschichte begonnen (Odoaker, Luther, Gustav Adolf) oder geplant. Er trug sich mit dem Gedanken, die großen deutBerlin 1979), 77-97. - Peter Bumm, August Graf von Platen. Eine Biographie (2. Aufl. Paderborn 1996). - Hartmut Bobzin, Gunnar Och (Hg.), August Graf von Platen. Lehen, Werk, Wirkung (Paderborn 1998). 3 Er liegt im Park der Villa Landolina in Syrakus auf Sizilien begraben. Vgl. Bruno Arzeni, »Platen und Italien«, in: Platen. Gedächtnisschrift der Universitätsbibliothek Erlangen zum hundertsten Jahrestag des Todes August von Platens, hg. E. Stollreither (Erlangen 1936), 137-149. 4 Antrag Schellings als Vorstand der Akademie der Wissenschaften an den König und dessen Reskript in: Der Briefwechsel des Grafen August von Platen, Bd. 4, hg. Paul Bornstein (München 1931), 472 f. - Dazu Schlösser, Platen, Bd. 1, 664-666; Bd. 2, 63, 352 f. Zu Ludwigs Mäzenatentum und seiner Kunstpolitik, die seinen Ruhm am Ende mehr begründet haben als seine Staatspolitik, vgl. Heinz Gollwitzer, Ludwig I. von Bayern. Eine politische Biographie (München 1986), 103-119, 745-765 (hier wiederholt zu Platen). 5

Siena, 13. 12. 1828, in: Platen, Briefwechsel,

Bd. 4, 492-495.

August von Platens » Klaglied Kaiser Otto des Dritten« (1834)

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sehen Kaiser in einem historischen Epos zu feiern, das seinen Platz neben dem Nibelungenlied finden sollte. Die antike (Herodot, Sallust, Plutarch) und vaterländische Geschichte hat in den Studien- und frühen italienischen Jahren am stärksten auf ihn gewirkt. 6 I n Italien galt seine Vorliebe der Hohenstaufenzeit und dem Quattrocento. Zur Vorbereitung des geplanten Hohenstaufenepos las er, wenn auch ohne ästhetischen Genuß, Friedrich von Raumers Geschichte der Hohenstaufen und ihrer Zeit (1823-1825), die erste ansatzweise quellenkritische Darstellung, die ihm am Ende den Stoff verleidete; 7 ferner Niebuhrs Römische Geschichte (1811 /12) und unter dem Eindruck der persönlichen Begegnung mit Ranke i m Winter 1829/30 in Rom, w o sich der Geschichtsschreiber des erkrankten Dichters annahm, dessen Geschichten der romanischen und germanischen Völker 1494-1515 (1824) und die Fürsten und Völker von Südeuropa im 16. und 17. Jahrhundert (1827). 8 Platen war kein unpolitischer Ästhet. Er wandelte seine politische Anschauung mehrfach, verstärkt durch seinen Gerechtigkeits- und Unabhängigkeitssinn, der ihn zu Widerspruch reizte. Wilhelm Teil war der H e l d seiner Jugend, Schillers Freiheitspathos sein Ideal. Anfang 1816 - der Deutsche Bund war gerade gegründet - wünschte er sich dessen Ausgestaltung zu einem deutschen 6 In Erlangen las er (zumindest die folgen Schriften sind nachweisbar) Voltaire (Œuvres complètes , Bd. 13, Deux-Ponts 1791), Winckelmanns Schriften (in der Ausgabe von Fernow, Dresden 1808-1820), Johannes von Müllers Universalhistorie Vier und zwanzig Bücher Allgemeiner Geschichten besonders der europäischen Menschheit (1810), Heinrich Ludens Allgemeine Geschichte der Völker und Staaten, Erster Teil: Geschichte der Völker und Staaten des Alterthums (1814) und Ernst Moritz Arndts Ansichten und Aussichten der teutschen Geschichte (Teil 1, 1814). Im größeren zeitlichen Abstand las er (in Italien) zwei Mal Edward Gibbons History of the Décliné and Fall of the Roman Empire (1774-1788). Alle Werke ging er »mit ausgesprochener Stoffjagd« durch. So Hermann Stockhausen, Studien zu Platens Balladen, phil. Diss. Berlin 1899, 45. - Vgl. Schlösser, Platen, Bd. 1, 104 f.; 197 f.; Bd. 2, 262-266. - E. Stollreither, »Platen an der Universitätsbibliothek Erlangen«, in: Platen. Gedächtnisschrift, 150-186. - Hartmut Bobzin u. Ursula Münchhoff, »Platen in den Entleihjournalen der Erlanger Universitätsbibliothek«, in: August Graf von Platen 1796-1835. Katalog zur Ausstellung, hg. Gunnar Och (Erlangen 1996), 69-87. 7

Platen an seinen Freund Friedrich Graf von Fugger, Rom, 10. 12. 1829: »Raumer hat gar zu wenig Erzählungsgabe«. In: Der Briefwechsel des Grafen August von Platen, Bd. 5, hg. Peter Bumm (Paderborn u. a. 1995), 59. - Vgl. auch Schlösser, Platen, Bd. 2, 449 f. 8 Platen über Ranke: »Letzteres [»Fürsten und Völker von Südeuropaidee fixe< wurde Platen der L o h n durch Ruhm; komplementär dazu erfüllte ihn ein übersteigertes Sendungsbewußtsein. Die Literatur seiner Zeit hat er kaum oder gar nicht (Kleist, Eichendorff, Brentano) zur Kenntnis genom13 Erschienen 1833 bei Sauerländer in Frankfurt a.M. - Dazu v.a. Platens Brief an die Brüder Frizzoni, München, 25. 3. 1834, in: Platen, Briefwechsel, Bd. 5, 266 f. - Vgl. Schlösser, Platen, Bd. 2, 461 -477 (auch zur Aufnahme des Werks durch die Fachkritik). 14 Platen, Sämtliche Werke, Bd. 12, 19. - Zu Platens geschichtlichen Schriften die Einleitung von Erich Petzet, ebd. 7-16. 15 Vgl. Kommentar von Jürgen Link zu den politischen Zeitgedichten in: Platen, Werke, Bd. 1, hg. Wölfel/Link, 771 -773. - Günther, Platen, 90 f. 16 Reinhold Schneider, »Platen«, in: Ders., Macht und Gnade. Gestalten, Bilder und Werte in der Geschichte (Leipzig 1940), 39-45.

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Matthias Pape

men. Seine ästhetischen Vorstellungen, die antikisierende und puristische Form vieler Gedichte, setzte er absolut, ohne sich u m die Moden und Erwartungen der Leserschaft zu kümmern; entsprechend dürftig war das Echo. 1 7 I n der Phase von Platens gesteigertem politisch-historischen Interesse seit 1831 entstand das »Klaglied Kaiser O t t o des Dritten«. Es gehört zu seinen bekannteren Gedichten und erschien am 1. März 1834 i n Cottas Morgenblatt für gebildete Stände - in dem selben Jahr, i n dem i m Aachener Münster inmitten des spätgotischen Chores eine Gedenkplatte aus schwarzem Marmor eingelassen wurde, u m an das Grab Ottos I I I . (das ursprünglich hinter dem Altar i m östlichen Umgangsjoch gelegen hatte) an dieser Stelle zu erinnern. 1 8 Das »Klaglied« fügt sich äußerlich i n die Reihe der Oden und Balladen über historische Themen ein, die Platen vor allem i n Italien geschrieben hat. I n diesen Gedichten ging es ihm nach dem Sturz des Restaurationsregimes i n Frankreich vor dem Hintergrund der Restaurationspolitik i n Deutschland und Italien u m die Aktualisierung historischer Ereignisse. 19 Platen hat das »Klaglied« Ende 1833, bei seinem zweiten Münchner Aufenthalt während der italienischen Jahre, der von November 1833 bis A p r i l 1834 dauerte, zu Papier gebracht. Dabei dürften mehrere Impulse zusammengewirkt haben: das Interesse des 19. Jahrhunderts am Mittelalter, Platens Wahlheimat und seine persönliche Lebenslage. Platen notierte am 31. Dezember 1833 in München in seinem Tagebuch: Indem ich dieses Jahr beschließe, muß ich den Wunsch aussprechen, daß das nächste poetisch fruchtbarer für mich sein möchte, als das vergangene. Ich habe nicht leicht in einem Jahr so wenig geschrieben. [ . . . ] Bloß die Romanzen Philemons Tod y Der alte Gondolier y Klagelied Kaiser Ottos und die Idylle aus Burano trösten mich, da ich sie zu meinen besten Gedichten rechne; die beiden letzteren sind erst in diesem Monat zu Stande gekommen, wiewohl ich die Idylle bereits in Venedig ausgedacht.20 Platen hat das »Klaglied« in der Ausgabe letzter Hand von 1834 bei den Balladen eingeordnet, die hier erstmals einen gesonderten Genreabschnitt erhiel17 Vgl. Wölfel, Platen, 260. - Schlösser, Platen, Bd. 1, 270 f.; Bd. 2, 419 f. - Günther, Platen, 80. 18 Der französische Bischof Berdolet hatte das Epitaph, das den freien Blick auf den Hochaltar verstellte, 1803 abreißen, der Präfekt den Sarg öffnen und die Gebeine herausnehmen lassen, ohne daß wir wissen, wo diese beigesetzt worden sind. Die Inschrift der Marmorplatte bedauert die Zerstörung des Vorgängerdenkmals: die Kunst trauere, weil ein schlichter Stein den Platz des fortgeschaffenen besetze: »Ottoni I I I / Quod atavorum / pietas alto aere / monimentum / erexit funesta / dies fractum / evertit. Ars / luget dum humi- / le saxum amoti / locum occupat / Pos(itum) 1834.« 19

Vgl- Jürgen Link, Artistische Form und ästhetischer Sinn in Platens Lyrik, Bochumer Arbeiten zur Sprach- und Literaturwissenschaft, 5 (München 1971), 178-187. - Ders., Kommentar in: Platen, Werke, hg. Wölfel/Link, 700 f. 20 Platen, Tagebücher, Bd. 2, 953.

August von Platens »Klaglied Kaiser Otto des Dritten« (1834)

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ten, während er vorher die Gattungsbezeichnungen »Balladen« und »Romanzen« synonym verwendet hat. 2 1 Neben den ästhetischen Aspekten (dazu u. Abschnitt I I I ) ist die Frage von Interesse, auf welchem Geschichtsbild das »Klaglied« beruht. Offensichtlich hat Platen die entscheidende Anregung für die Verarbeitung des Stoffs Heinrich Luden verdankt. Die mit Platen befreundeten Brüder Frizzoni i n Bergamo, die ihn auch finanziell unterstützten, bat er seit 1830 wiederholt u m Zusendung von Ludens Geschichte - gemeint war dessen Geschichte des teutschen Volkes -, die er »für die beste deutsche Geschichte« hielt und i m Oktober 1833 endlich erhielt. 2 2 Diese damals i m Erscheinen begriffene Nationalgeschichte 23 des i n Jena lehrenden Heinrich Luden (1778-1847) ist das wichtigste Bindeglied zwischen der Mittelalteridealisierung der Frühromantik 2 4 und der kritischen, die Quellen systematisch erschließenden Mediävistik des späteren 19. Jahrhunderts. Darin hat Luden i m 16. Buch (Bd. 7, 1832) die Quellen der Ottonenzeit, soweit sie gedruckt vorlagen (die Monumenta Germaniae Histórica war erst gerade i n Gang gesetzt worden), verarbeitet, Persönlichkeit und Politik Ottos I I I . eingehend dargestellt und sich in der Tradition des Deutschen Idealismus in die seelische Verfassung Ottos und seiner römischen Gegner eingefühlt. 25 Knapper und i m Urteil schärfer hatte Luden den Kaiser zuvor in seiner Allgemeine[n] Geschichte der Völker und Staaten charakterisiert 2 6

21 August von Platen, Gedichte (2. vermehrte Aufl., Stuttgart, Tübingen 1834), 32 - 34. - Dazu Links Kommentar in: Platen, Werke , hg. Wölfel/Link, 700. 22 Vgl. Platens Briefe an die Brüder Frizzoni, Sorrent, 12. 6. 1830, Venedig, 4. 6., 2. 10. 1833, in: Platen, Briefwechsel , Bd. 5, 75 f., 248 f., 253 f. (im Register fehlt Luden). Zu den Brüdern Frizzoni die Erläuterungen in Platen, Werke , hg. Wölfel/Link, 900. 23 Sie erschien in 12 Bänden, Gotha 1825-1837. Zu ihren Subskribenten zählten u. a. Regierungsrat Baron von Eichendorff in Königsberg, Geh. Kammerrat von Goethe in Weimar, Staatsminister Graf von Montgelas in München, Herzoglicher Kabinettssekretär J[osef] Mosengeil in Meiningen, Dr. Ranke in Frankfurt an der Oder, wirkl. Geh. Rat und Oberpräsident Theodor von Schön in Königsberg. Vgl. Subskribentenliste in Bd. 1, 1825, X V - X X X ; Bd. 2,1826, V - X I I . 24 Dazu immer noch Rudolf Stadelmann, »Grundformen der Mittelalterauffassung von Herder bis Ranke«, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistes geschickte , 9 (1931), 45-88. - Walter Schieblich, Die Auffassung des mittelalterlichen Kaisertums in der deutschen Geschichtsschreibung von Leibniz bis Giesebrecht, Historische Abhandlungen, 1 (Berlin 1932), 79-99. 25 Wie Platen verdankte auch Luden die Muße für die Abfassung der Geschichte des teutschen Volkes einem Stipendium Ludwigs I. von Bayern, der diesem zwölf Jahre lang jährlich 1200 fl. gewährte. 26 3 Bde. (Jena 1814-1822, 2. Aufl. 1824), hier Bd. 2, 398-403. Vgl. u. Anm. 46. - Zumindest Bd. 1 hatte Platen in Erlangen entliehen. Vgl. o. Anm. 6.

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Matthias Pape

Ludens nationales Geschichtsbild war, wie die historischen Schriften Ludwigs I. von Bayern, von der Auseinandersetzung mit der napoleonischen Herrschaft in Deutschland und vom historiographischen Werk seines Mentors Johannes von Müller geprägt, 27 der auch der von Platen bewunderte Geschichtsschreiber war, in dessen »wahrhaft hinreißendem« Stil er »eine gewisse Magie« fand, »die man w o h l fühlen, aber nicht zergliedern kann.« 2 8 Zweifellos stand ihm dabei Müllers Schweizer Geschichte vor Augen, die i n der Tradition der rhetorischen Geschichtsschreibung verfaßt ist und den Freiheitskampf und Selbstbehauptungswillen der Schweizer Eidgenossenschaft gegenüber Habsburg und Bourbon darstellt. 29 Luden, der zu den politischen Professoren des Vormärz zählte und den Deutschen Bund in seiner Zeitschrift Nemesis ablehnte, 30 wollte, wie sein Vorbild Johannes von Müller, durch seine Werke in die Breite des Volkes politisch und sittlich bildend wirken, wobei er zur Radikalisierung der Burschenschaften erheblich beigetragen hat. 3 1 A m Anspruch der sich verwissenschaftlichenden 27

Vgl. Heinrich Luden, Rückblicke in mein Leben. Aus dem Nachlasse, Jena 1847, 60, 73. - Ralph Marks, Die Entwicklung nationaler Geschichtsschreibung. Luden und seine Zeit, Europäische Hochschulschriften, Reihe 3, 329 (Frankfurt a.M. 1987). - Zu Müllers Einfluß auf Ludwig I. vgl. Andreas Erb, »Vergangenheit wird Gegenwart!« Studien zum Geschichtsbild Ludwigs I. von Bayern, Mannheimer Historische Forschungen, 16 (Mannheim 1999). - Die von Platen herangezogenen >modernen< Geschichtsschreiber - Raumer, Sismondi, Luden, Ranke - beriefen sich in den Vorworten ihrer Werke auf Müller als ihr Vorbild, dem die Erforschung der mittelalterlichen Geschichte und mittelhochdeutschen Literatur wesentliche Impulse verdankt. - Vgl. Matthias Pape, Johannes von Müller. Seine geistige und politische Umwelt in Wien und Berlin 1793-1806 (Bern, Stuttgart 1989). - Ders., »Johannes von Müller«, in: Neue Deutsche Biographie, 18 (Berlin 1997), 315-318. - Müllers zentrale Stellung erhellt die im Erscheinen begriffene Edition Karl Viktor von Bonstetten, Bonstettiana. Briefkorrespondenz Karl Viktor von Bonstettens und seines Kreises, mit Einleitung u. Kommentar hg. Doris u. Peter Walser-Wilhelm, Bern 1997 ff. 28

Platen, Tagebücher.; 7. 4. 1816, Bd. 1, 478. - Platen vertiefte sich 1830 in Sorrent erneut in Müllers Universalhistorie. Vgl. Schlösser, Platen, Bd. 2, 262. 29 Platens Geschichten des Königreichs Neapel lehnen sich mit der Pluralform des Titels, vor allem aber mit ihren zumeist kurzen, gehämmerten Sätzen, oft in Elipsenform, stilistisch an Müllers berühmte Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft (5 Bde., 1786-1808) an; wieder in: Johannes von Müller, Sämmtliche Werke, hg. Johann Georg Müller (27 Bde., Tübingen 1810-1819), Bd. 19-26; Neudruck im Taschenbuchformat in der von Platen benutzten Ausgabe (40 Bde., Stuttgart, Tübingen 1830-1835), hier Bd. 7 16. - Vgl. auch Brief an seine Mutter, Neapel, 16. 4. 1831, in: Platen, Briefwechsel, Bd. 5, 108; zur Lektüre von Müllers Schriften (Schweizer Geschichte, Universalhistorie, Briefe) Platen, Briefwechsel, hg. Ludwig Scheffler u. Paul Bornstein, Bd. 1 (München, Leipzig 1911), 80, 96 f., 345; Bd. 2 (ebd. 1914), 23. 30

Platen las die Nemesis mit besonderem Genuß. Vgl. Schlösser, Platen, Bd. 1, 91. Vgl. Gerhard Müller, Heinrich Luden und der Landtag von Sachsen-Weimar-Eisenach. Ein Beitrag zur Geschichte des frühen Parlamentarismus in Thüringen, in: Schriften 31

August von Platens »Klaglied Kaiser Otto des Dritten« (1834)

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Geschichtsschreibung ist er schließlich gescheitert, seine Geschichte des teutschen Volkes hat er mit dem 13. Jahrhundert abgebrochen. Bei ihm findet sich - soweit zu sehen erstmals - in prononcierter Form die K r i t i k an der Italienpolitik der Ottonen vorgeformt, die die nationalliberale bzw. kleindeutsch-protestantische Geschichtsschreibung (Heinrich von Sybel) vor dem Hintergrund des preußisch-österreichischen Dualismus und der Loslösung Italiens von Osterreich (1859) in scharfer Form geübt und die das Urteil bis tief ins 20. Jahrhundert bestimmt hat. 3 2 Die kleindeutschen Historiker lehnten sowohl die sich für die Einigkeit und Stärke Deutschlands i m Mittelalter begeisternde vaterländische Geschichtsschreibung 33 als auch die katholische, großdeutsch-föderalistische Historiographie (Julius Ficker/Innsbruck) ab, die das universale katholische Reich und die Vormachtstellung des Hauses Habsburg i n Deutschland verteidigte. Nach Sybel war dem deutschen Reich und dem deutschen Königtum seit O t t o dem Großen »kein H e i l aus dem so errungenen kaiserlichen Glänze« erwachsen: Die Kräfte der Nation, die sich bisher mit richtigem Instinkte in die großen Kolonisationen des Ostens ergossen, wurden seitdem für einen stets lockenden und stets täuschenden Machtschimmer im Süden der Alpen vergeudet.34 zur Geschichte des Parlamentarismus in Thüringen, H. 10, hg. Thüringer Landtag (Weimar 1998), 11-177. 32 Die Kritik an der Italienpolitik der »großen« deutschen Könige, »die nur mit der Weltherrschaft und dem Kaiserthum der Römer beschäftigt waren« und - anders als die Kapetinger - »nach und nach alle Macht und Habe aus den Händen gaben, bis sie als Schattenherrscher verspottet wurden«, findet sich in ersten Ansätzen bei dem Breslauer Gymnasiallehrer und Bibliothekar Carl Adolf Menzel, Die Geschichten der Deutschen, 8 (Breslau 1815-1823); zu Otto III., Bd. 2, 1817, 655-668, hier 659: Die Ottonen seien »durch falsche Ideen, meist die Folge ausländischer Mütter und Erzieher, irre geleitet und vom deutschen Wesen abgewendet worden« (660). Ottos III. »undeutsche Gesinnung« sei auf den »Einfluß seiner griechischen Mutter« zurückzuführen, die ihren Sohn »der Sitte und Sprache seines Vaterlands und Volkes entfremdet« habe (658). - Vgl. Schieblich, Auffassung des mittelalterlichen Kaisertums, 72 f., 104-113. 33 So v.a. Wilhelm Giesebrecht, der seine Geschichte der Deutschen Kaiserzeit von den Sachsenkaisern bis zu Heinrich d. Löwen (5 Bde., 1855-1880) nach 1848 schrieb, als die Lösung der nationalen Frage an den Fürsten zu scheitern drohte. Bei der Schilderung des 10. und 11. Jahrhunderts fällt alles Licht auf den Träger der Krone und fallen alle Schatten auf die Fürsten. - Vgl. Schieblich, Auffassung des mittelalterlichen Kaisertums, 129-149. 34

So Heinrich von Sybel, Über die neueren Darstellungen der deutschen Kaiserzeit, in der Festrede zum Geburtsfest König Maximilians II. in der königlichen Akademie der Wissenschaften zu München (28. 11. 1859), zit. n. dem Neudruck der Streitschriften von 1859/62, eine der berühmten geschichtswissenschaftlichen Kontroversen des 19. Jahrhunderts: Friedrich Schneider (Hg.), Universalstaat oder Nationalstaat. Macht und Ende des Ersten deutschen Reiches. Die Streitschriften von Heinrich v. Sybel und Julius Ficker zur deutschen Kaiserpolitik des Mittelalters (Innsbruck 1941), 15. - Vgl. Heinz Gollwitzer, »Zur Auffassung der mittelalterlichen Kaiserpolitik im 19. Jahrhundert. Eine ideologieund wissenschaftsgeschichtliche Nachlese«, in: Dauer und Wandel der Geschichte. Aspekte

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Die K r i t i k an O t t o I. w i r d bei Sybel noch übertroffen durch die K r i t i k an seinem Enkel. O t t o I I I . habe »die i h m angestammte sächsische Rohheit« vergessen machen, sein Wesen »mit römischer Bildung« erfüllen und »die Verwaltung seines Hofes und Reiches nach byzantinischem Muster modeln« wollen: Sein Leben verfloß ihm in andächtiger Begeisterung und Zerknirschung. Er pilgerte von Rom hinüber zu heiligen Einsiedlern im Apennin, zog dann nach Gnesen zum Grabe des heiligen Adalbert und eilte von dort nach Aachen an die Gruft des heiligen Kaisers Karl. Sein Ziel faßte er in die Worte zusammen: Erneuerung des römischen Reiches. Hätte ihn, zu seinem und unserem Glück, nicht ein früher Tod hinweggenommen, er würde alle Kraft daran gesetzt haben, das >rohe< deutsche Wesen von der Welt zu vertilgen. 35 Percy Ernst Schramm hat 1929 in einer großen geistesgeschichtlichen Deutung Ottos Ehrenrettung versucht und den Kaiser gegen das parteiliche Urteil der kleindeutschen Geschichtsschreibung verteidigt. Unter dem Eindruck der Devise »Renovatio imperii Romanorum«, die sich auf den Bleisiegeln von Ottos Bullen zwischen 998 und 1000 findet, und i m Bann der Schule von A b y Warburg wollte Schramm in dem jugendlichen Herrscher den Vollstrecker eines literarisch vermittelten »römischen Erneuerungsgedankens« sehen und schrieb dem Kaiser eine planvolle Italien- und Rompolitik z u . 3 6 Dieses Bild hat die jüngste Forschung radikal in Frage gestellt. Sie sieht i n der berühmten Devise nicht mehr als den kaiserlichen Willen zur Stärkung der päpstlichen Stellung gegenüber dem stadtrömischem Adel, Impulse zur Unterstützung der päpstlich-kaiserlichen Kirchenreform und für die klösterliche Erneuerungsbewegung. Sie verwirft die Methodik, aus Ereignissen auf konzeptionelle Politikentwürfe mittelalterlicher Herrscher zu schließen. 37 Das Bild keines mittelaltereuropäischer Vergangenheit. Festgabe für Kurt von Raumer zum 15. Dezember 1965, Neue Münstersche Beiträge zur Geschichtsforschung, 9 (Münster 1966), 483-512. - Dazu auch Johannes Fried, Der Weg in die Geschichte. Die Ursprünge Deutschlands bis 1024, Propyläen Geschichte Deutschlands, Bd. 1 (Frankfurt, Berlin 1994), ungekürzte Taschenbuchausgabe (Berlin 1998), 647-649 (Fried bezeichnet den katholischen Paderborner Ficker irrig als Österreicher). - Zum Bild Ottos in der Geschichtsschreibung der Aufriß bei Albert Morgenroth, Kaiser Otto der Dritte in der deutschen Dichtung, phil. Diss. [masch.] Breslau [1922], 4-16. 35 So Sybel in seiner Replik auf Ficker 1862, zit. n. Schneider, Universalstaat oder Nationalstaat, 204. 36 Percy Ernst Schramm, Kaiser,; Rom und Renovatio. Studien zur Geschichte des römischen Erneuerungsgedankens vom Ende des karolingischen Reiches bis zum Investiturstreit (Leipzig, Berlin 1929,2. Aufl. Darmstadt 1957). 37 Zu nennen ist v.a. Knut Görich, Otto III. Romanus Saxonicus et Italicus. Kaiserliche Rompolitik und sächsische Historiographie, Historische Forschungen, 18 (2. Aufl. Sigmaringen 1995), Teil 3, 187-274, zur Renovatio-Devise, 267-274 (im Folgenden Otto III. zit.). - Nach Görich ist ein Widerstand der deutschen Führungsschicht »als wichtiger Schritt auf dem Weg zur Bildung der deutschen Nation im Mittelalter« erst von der

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liehen Kaisers ist durch die K r i t i k der wenigen Quellen, die überhaupt überliefert sind, i m letzten Jahrzehnt so abgemagert wie das des jüngsten Ottonen. Vom »Jüngling i m Sternenmantel« (Gertrud Bäumer), der die Nachwelt fasziniert hat, ist nichts mehr übrig geblieben. 38 Insofern steht die Lektüre von Platens Gedicht i m doppelten Spanungsverhältnis zum Geschichtsbild des frühen 19. Jahrhunderts und unserer Zeit.

II. Platen legt dem Kaiser in seiner Sterbestunde (Z. 5 - 6 ) ein »Klaglied« in den Mund, in dem dieser sich seiner Frevel zeiht. 3 9 Es ist gleichzeitig ein A b schiedslied von der Welt, steht aber nicht i n der Tradition christlicher Sterbegesänge wie des Nunc dimittis des greisen Simeon » N u n läßt du, Herr, deinen Diener i n Frieden scheiden, wie du gesagt hast« ( L k 2, 2 9 - 3 2 ) oder des weit verbreiteten Sterbeliedes »O Welt, ich muß dich lassen, ich fahr dahin mein Straßen, ins ewig Vaterland« (Nürnberg 1555). Die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts hat Ottos Religiosität, seine ungewöhnliche Bildung und lebhafte Bußgesinnung, die die mittelalterlichen Quellen bezeugen und die sein Freund, Bischof Adalbert von Prag, vorgelebt und verkündet hat, sowie die durch die Salbung und Weihe begründete Sakralität des frühmittelalterlichen Königtums nicht thematisiert. Sie klingt auch bei Platen nicht an. So fehlt i n modernen Forschung unterstellt worden, Otto habe Rom keineswegs zur Dauerresidenz machen wollen. - Fried, Weg in die Geschichte y 713-736, hält dagegen an Ottos Programm der Erneuerung des Römerreiches und der Nachfolge der antiken Cäsaren fest. Diese Interpretation bestimmt auch die Beiträge in: Alfried Wieczorek u. Hans-Martin Hinz (Hg.), Europas Mitte um 1000. Beiträge zur Geschichte, Kunst und Archäologie (Darmstadt 2001). - Vom Scheitern von Ottos Italienpolitik und seinem fehlenden Realismus spricht erneut Ekkehard Eickhoff, Kaiser Otto III. Die erste Jahrtausendwende und die Entfaltung Europas (Stuttgart 1999), 345-347. - Vgl. dagegen Knut Görich, »Otto III.«, Neue Deutsche Biographie, 19 (Berlin 1999), 662-665. - Gegen die suggestive Epochendarstellung von Fried, Weg in die Geschichte y 628-736, vgl. die methodischen Einwände von Gerd Althoff, »Von Fakten zu Motiven. Johannes Frieds Beschreibung der Ursprünge Deutschlands«, Historische Zeitschrift, 260 (1995), 107-117. - Entgegnung von Fried, »Über das Schreiben von Geschichtswerken und Rezensionen. Eine Erwiderung«, ebd. 119-130. 38

Zu Otto III. als Stoff in der schönen Literatur vgl. Elisabeth Frenzel, Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte, Kröners Taschenausgabe, 300 (6. verb. Aufl. Stuttgart 1983), 579-581, die den Kaiser dem überkommenen Bild entsprechend beurteilt (»leicht entflammte Phantasie«, »überschwengliche Ideen von seiner künftigen Weltstellung« und »schwärmerisch asketische Gedanken an Weltentsagung und Selbsterniedrigung«, die »ihn der Realität entfremdeten«). 39 Im Morgenblatt »Klagelied«, in der zweiten vermehrten Auflage von Platens Gedichten (Stuttgart, Tübingen 1834, 32-34) »Klaglied«, so auch in der hist.-krit. Ausgabe.

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dem Gedicht jeder christliche bzw. theologische Bezug und der Ton christlicher Zuversicht i m Sterben, wie er für die barocken Epicedien typisch ist (deren Metaphern Str. 6 aufgreift). Platen unterstellt dem Kaiser ein rein innerweltliches Verständnis. Der Kaiser richtet sein Klagelied nicht an Gott, sondern an die Erde (Z. 1). N u r noch seine Bezeichnung als Pilger (Z. 4) erinnert von Ferne an seine tiefe Verwurzelung i m christlichen Glauben, war er doch als Sohn der oströmischen Prinzessin Theophanu, die die Regentschaft fast bis zu Ottos Volljährigkeit (994) ausgeübt hat, 4 0 in der west- und oströmischen Tradition erzogen worden: von den Klerikern Johannes Philagatos (einem Griechen aus Kalabrien), der O t t o in die Geisteswelt Ostroms eingeführt hat, und von Bernward, dem späteren Bischof von Hildesheim. Der Abschied von der Erde w i r d als von O t t o erwünscht, der Kaiser als des »Lebens« »müde« dargestellt, der (in Str. 2) eine bittere Lebensbilanz zieht, die von »unerfüllten Träumen«, »Gram« und Resignation gekennzeichnet ist und deren Gründe in den Folgestrophen entwickelt werden. A u f dem Sterbebett (Otto starb i m Januar 1002 i n Paterno bei Viterbo und wurde am Ostersonntag 1002 in der Aachener Pfalzkapelle beigesetzt) erinnert sich der Kaiser an drei Ereignisse seines Lebens, die nur in knappster Form genannt werden: an die Auseinandersetzung mit dem römischen Stadtpräfekten Crescentius II. und dem Gegenpapst Johannes X V I . (Str. 3), an die nutzlosen Romzüge (Str. 7) und an die Öffnung des Karlsgrabes in Aachen (Str. 8), die zum letzten Wunsch des Sterbenden und zum Schlußgedanken des Gedichts überleitet: Ottos Beisetzung in Aachen an der Seite Karls des Großen. Die bei Platen (wie in der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts) negativ gefärbte Lebensbilanz des Kaisers w i r d auf die beiden großen »Frevel« Ottos zurückgeführt, die die beiden Fixpunkte in Platens Gedicht bilden und die auch die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts dem Kaiser zur Last gelegt hat. Den ersten Frevel benennt Platen in der dritten Strophe: Ottos Vorgehen Ende 997/Anfang 998 gegen den aufsässigen römischen Stadtpräfekten Crescentius Nomentanus, der der mächtigsten römischen Familie angehörte und an der Spitze einer Adelsgruppe stand, die den von O t t o eingesetzten deutschen Papst Gregor V. (Ottos Vetter Brun von Kärnten, der aus der kaiserlichen Hofkapelle kam) vertrieben hatte - eben jenen Papst, der O t t o am Himmelfahrtstag des Jahres 996 in R o m gekrönt hatte und mit dem O t t o die Verbindung zwischen Kaisertum und Papsttum auf eine neue und tragfähige Basis stellen wollte. Die römische Adelsschicht hatte durch den Aufstand ihre alte Machtposition zurückgewinnen wollen, zu der das i m 10. Jahrhundert kon40

Zu Theophanus politischer Konzeption und ihrem Einfluß auf Otto II. Fried, Weg in die Geschichte, 685-706; zu Ottos Buße und Askese, 725-727.

August von Platens »Klaglied Kaiser Otto des Dritten« (1834)

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sequent beanspruchte Vorrecht gehörte, den Papststuhl und die Kurienstellen zu besetzen. 41 Die Crescentier hatten den früheren Erzieher des Kaisers, Johannes Philagatos, der durch die Gunst der Kaiserin Theophanu zum Kanzler für Italien und Erzbischof des eigens für ihn gegründeten Erzbistums Piacenza erhoben worden war, als Johannes X V I . zum Gegenpapst ausgerufen. 42 Crescentius hatte sich damit über die von O t t o nach seiner Krönung in Rom 996 herbeigeführte gütliche Einigung mit ihm und dem Stadtpatriziat hinweggesetzt. 43 Der historische Zusammenhang w i r d von Platen nicht näher erörtert, hätte auch i m Rahmen dieses Gedichts, das kein historisches Ereignis entfalten möchte, nicht ausgeführt werden können; der Kontext stand aber dem kundigen Leser durch die Namen »Crescentius und Johann« vor Augen: daß O t t o bzw. Gregor V. und ihre Gefolgsleute mit dem abtrünnigen Crescentius und dem Gegenpapst streng ins Gericht gegangen sind, daß der Kaiser einerseits den Johannes Philagatos (seinen früheren Erzieher) an Augen, Nase und Zunge grausam verstümmeln und von einer Synode förmlich absetzen ließ, ihm (gemäß den Ritualen der Devistur) die päpstlichen Gewänder vom Leib gerissen wurden und er rücklings auf einem Esel sitzend und dessen Schwanz als Zügel 41 Erst das Papstwahldekret von 1059 beseitigte die in der Ottonenzeit gewonnene, wenn auch unter Heinrich II. schon wieder verlorengegangene kaiserliche Beherrschung der durch Klerus und Volk vollzogenen Papstwahl sowie den Einfluß des stadtrömischen Adels, indem es die Wahl im wesentlichen in die Hände des Kardinalskollegiums legte. 42 Daher förderte Otto die Gegenpartei der Crescentier in der städtischen Machtelite, die de Imiza. Vgl. Knut Görich, »Die >De Imiza< - Versuch über eine römische Adelsfamilie zur Zeit Ottos III.«, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 74 (1994), 1 -41, hier 31-38. - Zu den Spannungen zwischen Otto und den römischen Adelsfamilien Ders., Otto III., 250-263; zu den Abläufen 997/998 in Rom und ihre Beurteilung v.a. Gerd Althoff, Otto III., Gestalten des Mittelalters und der Renaissance (Darmstadt 1996), 100-114; Eickhoff, Otto III., 176-186; Fried, Weg in die Geschichte, 717-720. - Luden vermutet in seiner Geschichte des teutschen Volkes, Crescentius und die Römer hätten den Johannes Philagatos in der Hoffnung zum Gegenpapst gewählt, »daß der Kaiser diesen Mann, der ihn sogar aus der Taufe gehoben hatte, am Wenigsten verwerfen würde« (297), schränkt aber ein, daß das Vorgehen des Crescentius »gewaltthätig und empörerisch« war; »das Benehmen des Bischofs Johannes hatte eine starke Farbe von Untreue und Verrätherei« (298). 43 Otto hatte auf seinem ersten Romzug 996 den Crescentius auf Bitten Papst Gregors V. in seiner Stellung belassen, der Kaiser hatte also herrscherliche dementia statt iustitia walten lassen. Vgl. Althoff, Otto III., 112. - Luden schreibt über die Italienpolitik Ottos kritisch: »Und Teutschland, so hart bedrängt an seinen Gränzen, so arg verfallen in seinem Inneren, ward abermals seiner besten Kräfte zum Bestehen und Gedeihen beraubet, damit der König eine verhaßte Herrschaft in Italien üben möge« (299). Luden über Crescentius' zweiten Abfall: »Gewiß ist, er handelte in Leidenschaft, und verfehlte deswegen, und weil sein Leben nicht rein war, und weil seine Gesinnung kein Vertrauen einflößte, gänzlich sein Ziel. [ . . . ] So wurde Crescentius Herr der Stadt, und, wie es scheint, zur großen Freude der Römer« (295).

11 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 44. Bd.

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haltend durch Rom geführt wurde; daß andererseits Crescentius zum Tode verurteilt und enthauptet, sein Leichnam von den Zinnen der Engelsburg gestürzt und die Leiche mit zwölf anderen ebenfalls hingerichteten Gefährten an den Beinen mit dem Kopf nach unten an Kreuzen am Monte Mario aufgehängt wurde. Die Empörung über die (angeblichen) Rachegelüste des Kaisers, die sich, wie es die antikaiserliche Partei sehen wollte, selbst noch an der Leiche ausgetobt hatten, hallte in den mittelalterlichen Quellen nach. 4 4 Luden urteilt abwägend, daß zweifellos »schreckliche Gräuel Statt gefunden« hätten: »Weniger gewiß aber ist, auf wen die meiste Schuld von der unmenschlichen Grausamkeit fällt«, die gegen Crescentius und Papst Johann »und die Häupter und ihre Anhänger begangen worden ist.« Deutsche und italienische Quellen wichen stark voneinander ab, und »der mitfühlende Mensch, der die Lage der Dinge erwäget, vermag die Besorgnis nicht zu unterdrücken, daß das Uebergewicht der Wahrheit auf der Seite der Italiäner sei« (300). Luden prägte Platens negatives Bild mit der Aussage, daß die »teutschen Schriftsteller« (wie Thietmar von Merseburg) nichts darüber sagten, wer die Täter waren, »die eine so grausame Lust an der Bestrafung hatten, und der Kaiser und die Teutschen gehen rein durch den Frevel hindurch« (301). Wie wahr auch immer die Berichte über die Vorgänge in Rom sein mögen, so seien jedenfalls »Dinge vorgegangen, welche die Italiäner mit Schmerz, Zorn, Groll und jeglicher Leidenschaft erfüllen, und ihr Verhältnis zu den Teutschen 44

Nach Althoff, Otto III111. - Vgl. auch Eickhoff, Otto III199-202. - Die sächsische Historiographie rechtfertigt Ottos Vorgehen: Bischof Thietmar von Merseburg ( t 1018) nennt Crescentius einen »Perversus«. Die Quedlinburger Annalen bescheinigen Otto, er sei »diabolica fraude deceptus« und habe Johannes Philagatos nicht als Papst, sondern als »apostata« abgesetzt. Die Hildesheimer Annalen sprechen davon, Otto habe die römische »sentina«, die Jauchegrube, reinigen müssen (Althoff, Otto III., 110). Thietmar sagt über den zweiten Abfall des Crescentius, dieser sei »uneingedenk seines Eides und der großen Milde [magne pietatis], die ihm der erhabene Otto erwiesen hatte«, geschehen. - Gerd Althoff, der symbolhaftes und ritualisiertes Verhalten im Mittelalter erforscht hat, weist darauf hin, daß ein Gegner wie Crescentius, der Milde und Verzeihung gefunden hatte und den Konflikt erneut eröffnete, jeden Anspruch auf das ius dedicationis, jede spes reconciliationis verwirkt hatte und dies auch wußte (ebd. 112). Auch das kanonische Recht sah für Ketzer und Apostaten die einmalige Verzeihung vor, bei Rückfälligkeit aber die obligatorische Todesstrafe (ebd. 113). Für die Zeitgenossen dürfte also sehr viel verständlicher gewesen sein als für die Nachwelt, wie Ottos Urteil aufzufassen war, denn auf pietas (Milde) konnte man nur einmal hoffen (113), aber kein zweites Mal. Insofern war Ottos Verhalten >systemgerechtwahre Sozialismus< eines »konservativen Revolutionär: Paul Emsts Auseinandersetzung mit der Linken«, Der Wille zur Form, 3. Folge, H. 4 (1996), 65-84. Ausgehend von einer Analyse des autobiographischen Essays Emsts (»Bemerkungen über mich selbst«, 1904) betrachtet die Autorin die politischen Erfahrungen des Schriftstellers als den Versuch, die vom Untergang der arkadischen bäuerlichen Gesellschaft verursachten Ängste durch eine radikale Kritik an der kapitalistischen und industriellen Welt zu überwinden. In diesem Sinne sei Emsts Anknüpfung an die linke Politik paradoxerweise der Ausdruck konservativer Gesinnungen, »eine interessante Horizonterweiterung, die aber seine ideologischen Grundüberzeugungen nicht dauerhaft verändert« (76).

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hältnisse zu betrachten ist. Bei den Naturalisten - so die Hauptthese Emsts geht es vor allem u m die Bestimmung solcher Verhältnisse und u m deren Wiedergabe unter besonderer Berücksichtigung von deren Wirkungen auf das geistige Leben der ärmsten Menschen, was Ernst als eine A r t gewaltige Besetzung der Bühne anprangert, »wo früher die Könige und Fürsten des Geistes und Herzens geherrscht hatten, mit dem elendesten Proletariergesindel der Seele.«2 I n der Ableitung jedes menschlichen Gefühls von einer immer verifizierbaren materiellen Ursache sieht Ernst die Vernichtung jener einheitlichen Weltanschauung verwirklicht, die i m Goetheschen Begriff »Totalität« ihren Höhepunkt erreicht hatte. Die Uberschätzung des von den sozialen und ökonomischen Bedingungen auf das innere Leben des Subjektes ausgeübten Einflusses führe nämlich zu einer starken Relativierung des individuellen Willens und zu einer aus Emsts Sicht abwegigen Darstellung des menschlichen Geistes, dessen Autonomie zugunsten einer materialistisch gefärbten Interpretation in Frage gestellt werde, welche darin eher ein Epiphänomen, eine sekundäre Erscheinung sieht, als einen autonomen und i n sich geschlossenen Ausdruck der Subjektivität. Ernst verurteilt i m besonderen die Herabsetzung von Kunst und Religion, indem er bemerkt, daß das Gebiet des rein Vernünftigen aber nur ein sehr kleiner Teil unserer Seele ist; nur in unseren Tagen glaubt man, daß es das wichtigste sei; früher wußte man, daß die eigentlich wertvollen Betätigungen des Menschen, die über das Banausentum des materiellen Erwerbs und der ihm dienenden Einsichten hinweggehen, also Religion, Kunst und Sittlichkeit, aus ganz anderen Kräften der Seele herauskommen.3 Die Grundlagen des Naturalismus, der die Menschen »vornehmlich vom soziologischen Standpunkt aus betrachtet«, und dem die Tendenz »offen oder latent« innewohnt, »ein großes Gesellschaftsbild zu geben«,4 vertragen sich nicht mit der Form und dem Wesen des Dramas, sondern lediglich mit der Struktur des Romans, da dieser Emsts Meinung nach eine »Halbkunst« ist, und als einziges Ziel die Vermittlung epischer Inhalte als Ersatz zur Auflösung der epischen Dichtung hat. N u r der Roman ist in der Lage, »breite Schilderungen zu geben und damit das Milieu darzustellen, die feinen Beziehungen zwischen Persönlichkeit und Umwelt aufzuweisen durch Analyse des Autors.« 5 Was Ernst nun beunruhigend findet, ist die Tatsache, daß man den Glauben an die mechanische Reproduzierbarkeit der Wirklichkeit durch das Kunstwerk, der innerhalb des 2 Paul Ernst, »Das Drama und die moderne Weltanschauung«, in: ders., Der Weg zur Form: Ästhetische Abhandlungen vornehmlich zur Tragödie und Novelle, 2. Aufl. (Berlin 1915), 14-34, hier 21. 3 4 5

Ernst, »Das Drama und die moderne Weltanschauung«, 17-18. Paul Ernst, »Das moderne Drama« (1898), in: Der Weg zur Form, 48-54, hier 48. Ernst, »Das moderne Drama«, 48.

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Maurizio Pirro

Romans als einer Gattung zweiten Ranges nichts mehr als ein irreführendes, aber letzendlich harmloses Mißverständnis ist, auf das Drama zu übertragen wagt, wie der Fall Hauptmann ausführlich beweist. Ein auf der reinen Mimesis beruhendes Drama ist für Ernst eine groteske contradictio in adjecto; auf der Bühne hat die Anwendung der naturalistischen Vorschriften die Zersplitterung der Handlung und deren Auflösung in bloßem dialogischem Inhalt zur einzigen Folge, was notwendigerweise zur Auslöschung jeder möglichen Wirkung auf den Zuschauer führt. I m naturalistischen Theater muß sich der dramaturgische Vorgang somit auf die möglichst treue Wiedergabe eines Gesprächs beschränken, da die unmittelbare Durchschaubarkeit der theatralischen Handlung dem Schriftsteller keine Möglichkeit gibt, das Milieu mikroskopisch und analytisch zu beschreiben; der A u t o r kann höchstens minutiöse Regieanweisungen verfassen, die er dann der Diskretion des Regisseurs anvertraut, kann aber auf keinen Fall zu einer systematischen Darstellung der Verhältnisse zwischen Umwelt und Personen gelangen. Bei dem großen Erfolg, den das Theater Hauptmanns zwischen dem Ende des 19. und dem Anfang des 20. Jahrhunderts genießt, »drängt sich« dann »die Frage auf, ob dieses naturalistische Drama überhaupt den Lebensbedingungen des Dramas entspricht«, 6 zumal dieses Theater eine der Hauptbedingungen der dramatischen Handlung offenkundig verletzt, indem es glaubt, daß niedrige Gestalten tragische Wirkung erzeugen können. Dies bestreitet Ernst am heftigsten durch die Annahme, daß die Mitleiderregung mit dem tragischen Sinn überhaupt nichts Gemeinsames hat, und vor allem durch die Behauptung, daß nur die Freiheit des menschlichen Willens würdiger Gegenstand eines dramatischen Werkes ist. Da doch Figuren niedriger Herkunft - argumentiert er weiter - jede denkbare Bedürftigkeit angehaftet ist, muß die Bühne »Mitgliedern aus den höheren freien Gesellschaftsschichten« vorbehalten bleiben; »deshalb ist die Entdeckung des »vierten Standes< für die Literatur durchaus nicht so wertvoll, wie man anzunehmen liebt; schon die des dritten hatte seinerzeit bekanntlich zunächst nur das Rührstück als Resultat und hat auch späterhin nicht vorteilhaft auf die Entwicklung der tragischen Kunst eingewirkt.« 7 Paul Ernst kommt es bei seiner K r i t i k des Naturalismus vor allem darauf an, die Linearität der dramatischen Handlung als unentbehrliche Voraussetzung künstlerischer Wirksamkeit zu verteidigen. Der Zuschauer w i r d immer dazu neigen, unnötige und verwirrende Verwicklungen i m Laufe der dargestellten Handlung abzulehnen, weshalb sich das Drama, das auf die ganz einfache Formel »Aufführung durch Schauspieler vor einer größeren Menge von Menschen« 8 reduzierbar ist, jeder Lust aufs schmückende oder explizierende Detail 6 7 8

Ernst, »Das moderne Drama«, 49. Ernst, »Das Drama und die moderne Weltanschauung«, 25-26. Ernst, »Das moderne Drama«, 50.

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strikt enthalten muß; dagegen »besteht das Wesen des Naturalismus darin, daß er die Vorgänge durch eine Unmenge von Detail erklären will.« 9 Ernst geht grundsätzlich von der Idee einer unauflösbaren Verbindung zwischen Ästhetik und Moral aus; dort w o er von szenischer Wirkung spricht, bezieht er sich unmißverständlich auch auf eine Steigerung der Sittlichkeit. Bei näherer Betrachtung scheint der Kern seiner Widerlegung der naturalistischen Theorien weniger in ästhetischen Fragen zu bestehen, sondern vielmehr darin, daß die Suche nach unwandelbaren kausalen Verhältnissen unter den verschiedenen Erscheinungen den Menschen der Gefahr aussetzt, jeden Fehler sowie jede Unzulänglichkeit als erklärbar zu rechtfertigen, ohne deren Beseitigung zu unternehmen. Hinter dem Versuch, jede Erscheinung sorgfältig und unwiderruflich zu begründen, lauert nach Emsts Meinung der Spuk des Relativismus: Wir haben an die Stelle der Pflichten die Nerven gesetzt, an die Stelle des Sollens das Erkennen, wir denken vom Menschen wie vom Tier, denn das Tier, das keine absoluten Worte erkennen und erstreben kann, unterliegt allerdings lediglich der Notwendigkeit; und so haben wir Religion, Sittlichkeit und Kunst verloren, und sind wirklich das geworden, was uns als das Ideal erschienen ist: das höchst entwickelte Tier. 10 Das Drama muß dann den Kampf darstellen, den der H e l d gerade gegen das Milieu aufnimmt, das die Kraft seiner Individualität dadurch zu dämpfen versucht, daß es ihm die Welt als eine nicht zu verändernde erscheinen läßt. Das für den Naturalismus grundlegende Prinzip der Vererbung ist nach Ernst das Antidramatische schlechthin; die Vornehmheit des tragischen Helden geht dagegen auf die Tatsache zurück, daß er sich dem Schicksal mit allen Kräften entgegensetzt, da »das willenlose Unterliegen das Alltägliche ist und deshalb uninteressant; das Interessanteste ist der Kampf.« 1 1 Die Dramentheorien des Naturalismus sind mit Abstand die meistbesprochenen in der Essayistik Emsts; eine nicht unbescheidene Relevanz haben doch auch andere wichtige Abschnitte abendländischer Theatergeschichte, von 9

Ernst, »Das moderne Drama«, 51. Ernst, »Das Drama und die moderne Weltanschauung«, 23. Man lese auch folgende Stelle aus dem selben Essay: »Der schlimmste Feind alles Tragischen ist die Ansicht von der Relativität aller Sittlichkeit. Als Euripides den Satz aufstellte, daß dieselbe Handlung gut und böse sein könne, je nach der Person und den Umständen, da war die griechische Tragödie zu Ende. Denn wenn es keine objektiven, allgemeinen und unter allen Umständen gültigen Regeln der Sittlichkeit gibt, mögen diese auch das freie Produkt einzelner hoher Geister sein, dann gibt es keinen sittlichen Konflikt mehr; dann gibt es eben nur noch ein Verstehen« (28-29). Zu Emsts Forderung nach einer Hierarchisierung der Wirklichkeit vgl. Carola Groppe, Die Welt des Geldes. Paul Ernst und die Intellektuellen seiner Zeit: Georg Simmel, Rudolf Borchardt, in: Paul Ernst. Außenseiter und Zeitgenosse, hg. Horst Thome (Würzburg 2002), 133 -158. 10

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Ernst, »Das moderne Drama«, 53.

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Shakespeare bis Schiller, von Calderon bis Hebbel und Ibsen. Die Untersuchungen Emsts verfahren meistens vergleichend, und beschäftigen sich i m besonderen mit dem Problem der Notwendigkeit. Wie es klar ersichtlich ist, liegt das eigentliche Ziel Emsts darin, die Überlegenheit der griechischen Tragödie allen späteren Formen gegenüber zu beweisen; drastisch vereinfachend könnte man sagen, daß Ernst darauf abzielt, das moderne Theater als Ergebnis einer allmählichen Entfernung von den klassischen Regeln darzustellen. Diese Ausartung, deren auffälligste Erscheinung in der naturalistischen Mischung von Theater und Roman zu finden wäre, soll nun durch eine Rückkehr auf die ursprüngliche Nüchternheit der griechischen Tragödie ausgeglichen werden, namentlich durch eine Reduzierung der tragischen Handlung auf die unmittelbare Evidenz des Konfliktes zwischen Individuum und Schicksal, wonach Ernst selbst seine eigenen dramatischen Werke auszurichten versucht. I n Shakespeare sieht Ernst z. B. den Fall einer Unterbewertung des Notwendigkeitsbegriffes zugunsten des individuellen Charakters; das Ersetzen der Objektivität des Schicksals durch die Subjektivität des Charakters führt aber paradoxerweise zu einem Verlust von Wahrhaftigkeit in der dramatischen Handlung, weil der Charakter, wenn er als paradigmatische N o r m angenommen wird, zur Erstarrung und Typisierung neigt. U m solchen Verlust zu kompensieren, sieht sich Shakespeare dazu gezwungen, das Illusionspotential der szenischen Darstellung durch eine Steigerung der Färbung und der Lebhaftigkeit des dichterischen Ausdrucks zu verstärken, wobei aber alle Genialität des Dichters die Schwäche seiner tragischen Grundlagen nicht aufheben kann: jede Handlung, die rein aus dem Charakter entspringt, nicht aus der Notwendigkeit einer objektiven Situation, in die jeder Charakter hineingeraten kann, ist im letzten Grunde willkürlich. Das hat der Dichter selbst gewußt, deshalb hat er seine Figuren mit so wundervollem Leben ausgestattet, daß er uns doch wenigstens während der Darstellung das Gefühl der Notwendigkeit suggeriert. 12 Bei Schiller steht das Problem der Notwendigkeit unter dem Zeichen der Philosophie Kants: Wo ein tragischer Held an einem Schicksalsschlag zugrundegeht, dort soll man als Ursache eine individuelle Schuld vermuten; da aber der Held, der grundsätzlich eine kräftig fürs Sittliche veranlagte Individualität besitzt, eine zu schwere Schuld nicht auf sich laden darf, w i r d es notwendig, daß das Sittlichkeitsprinzip so verabsolutiert wird, daß das Scheitern des Helden auch aufgrund der unbedeutendsten Schuld gerechtfertigt erscheint. I m Gegensatz zu Shakespeare nimmt hier der Notwendigkeitsbegriff eine so vorrangige Stellung ein, daß die dramatische Handlung zum Stocken kommt und in eine 12

Ernst, »Die Möglichkeit der klassischen Tragödie«, in: Der Weg zur Form, 113 -126, hier 120. Zur Verurteilung von Shakespeare in den theoretischen Schriften Emsts vgl. Gaetano Biccari, »»Tragisches WollenArthur Schnitzler und seine Zeit hg. Giuseppe Farese (Bernu. a. 1985), 213-224] hebt die im Vergleich zu Bahr komplexere und differenziertere Perspektive Lublinskis mit Nach18

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Bewußtsein der Unwiderruflichkeit der technischen und ökonomischen Zeitentwicklung aus, und sein Ziel liegt nicht in der Wiederherstellung älterer Verhältnisse, sondern in der Linderung der schlimmsten Folgen von Industrialisierung und Kapitalismus durch das reiche Vermögen der humanistischen Tradition. Lublinski teilt Emsts Meinung zum symptomatischen Wert des Naturalismus, spitzt aber Emsts Formulierungen noch mehr zu, indem er eine gewisse Verwandtschaft zwischen neuklassischen und naturalistischen Kunstanschauungen in der gemeinsamen Neigung zum Realismus und zur strukturellen Geschlossenheit des Kunstwerkes zu spüren glaubt. Die Fehler des Naturalismus - argumentiert Lublinski - sind nicht in dessen enger Beziehung zur historischen und sozialen Lage zu finden, sondern in der Tatsache, daß i m naturalistischen Drama kein Ansatz zu einem sozialen Gebrauch der literarischen Form vorhanden ist, und dies in dem Sinne, daß die Kunst nach Lublinski vielmehr durch ihre geschlossene Form als durch ihre expliziten Inhalte die Möglichkeit hat, die gesellschaftlichen Wandlungen überzeugend darzustellen. Die Wiederbelebung der humanistischen Tradition w i r d erst dann möglich sein, wenn die Form des Kunstwerkes nicht nur als Medium bestimmter Inhalte, sondern auch als Ausdruck einer inneren, auf einer starken und zur Totalität neigenden Weltanschauung stützenden Einheit des Kunstwerkes selbst gelten w i r d . 2 0 Das Kunstwerk soll namentlich die Totalität der Zeit, in der es entsteht, auf einer sowohl ästhetischen als auch moralischen Ebene bewältigen können. Lublinski erliegt nie der Versuchung (wie das manchmal bei Ernst der Fall ist), sich der Auseinandersetzung mit seiner Zeit durch naive Ausrufe von der A r t o tempora o mores! zu entziehen; die am Anfang des Jahrhunderts so oft debattierte Frage des Verhältnisses zwischen traditioneller Kultur und moderner Zivilisation behandelt er z. B. keineswegs i m Sinne einer Ablehnung der gegenwärtigen Zivilisation, er weist dagegen auf eine mögliche Versöhnung von Kultur und Zivilisation hin, indem er beide in den höchsten Meisterwerken der Kunstgeschichte zugleich vertreten sieht. Die zivilisatorische Wirkung der Kunst kann erst dann ausgeübt werden, wenn die menschlichen Triebe und i m allgemeinen die U n menge der dunklen und irrationalen Kulturelemente zu einem höheren und nicht mehr zu überwindenden Punkt emporgetrieben worden sind. Diese u. a. auch auf Nietzsches Theorie der Geburt der Tragödie zurückgeführte Versöhnung von Kultur und Zivilisation kann nach Lublinski sogar eine entscheiden-

druck hervor. Vgl. auch Gilbert J. Carr, »Zwischen Neuklassik und Satire: Otto Stoessl Samuel Lublinski - Karl Kraus«, Modem Austrian Literature, 27 (1994), Nr. 2, 21-38. 20 Im Aufsatz »Klassische Kunst« (1904) schreibt Lublinski, daß sich Naturalismus und Neuklassik insofern unterscheiden, als »dort [im Naturalismus] versucht ein sehr einfacher und hier [in der Neuklassik] schon ein sehr verwickelter Gedanke den Lebensstoff zu unterwerfen und energisch zu formen« [Samuel Lublinski, Nachgelassene Schriften (München 1914), 7].

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de Grundlage für die Kunst der Moderne schaffen: »Wenn es uns gelingt, früher oder später zu einer wirklich großen Kunst zu gelangen, die unsere Naturtriebe zugleich steigert und adelt, dann brauchen w i r nicht zu fürchten, daß unsere Kultur zu einer A r t von ästhetischem Barbarentum entartet, wie es die alten Azteken schließlich auch besessen haben«. 21 Die Frage, die Lublinski am meisten beschäftigt, ist die Stellung der modernen Kunst der technischen und industriellen Entwicklung gegenüber. Den vom Naturalismus unternommenen Versuch, die Kunst an den technischen Fortschritt dadurch anzuknüpfen, daß die Kunst selbst quasi als Werkzeug zur photographischen Nachbildung der Wirklichkeit benutzt wird, lehnt Lublinski entschieden ab; es kommt bei ihm nicht darauf an, daß Kunst und Technik in Genauigkeit und Bemühung ums Detail wetteifern, sondern darauf, daß die Kunst eine eigene Monumentalität entwickelt, i n der die Vielschichtigkeit der humanistischen Tradition statt eines rein technischen Könnens i n Erscheinung treten kann: »Die moderne Kunst w i r d monumental sein, oder sie w i r d gar nicht sein«. 22 A n diesem Punkt kreuzen sich Lublinskis und Emsts Kunstansichten ganz deutlich, wobei ersterer ein in historischer und soziologischer Hinsicht viel breiteres und schärferes Verständnis der Situation der deutschen Literatur u m die Jahrhundertwende zeigt, und zu einigen Fragen eine fast schon phänomenologisch geprägte Stellung nimmt, von der der andere sich ausdrücklich distanziert. 23 Der neuklassische Plan von einer Erweckung der tra-

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Lublinski, »Kulturwert der großen Kunst«, in: Nachgelassene Schriften, 38. Lublinski, »Kunst und Leben«, in: Nachgelassene Schriften, 45. 23 Im Essay »Gesellschaftliche Voraussetzungen« (1905) läßt Ernst z. B. in Bezug auf Lublinskis Bilanz der Moderne (Berlin 1904) ein ziemlich ungünstiges Urteil über die dort angewendete soziologische Methode fallen. Eher als aus der Perspektive des Klassenkampfes (wie das bei Lublinski eigentlich nur teilweise der Fall ist) will Ernst die Situation der deutschen Gesellschaft und der deutschen Kunst im Hinblick auf deren regressive Elemente beurteilen, namentlich auf die Verdinglichung des Kunstwerkes durch die Geldwirtschaft: »[...] erscheinen mir die gesellschaftlichen Grundlagen für unsere heutige Literatur: nicht, wie Lublinski meint, als ein Kampf von Klassen, sondern als ein allzu undifferenziertes und dadurch indifferentes Publikum, das der Kunst gegenüber zunächst gar keine Ansprüche stellt als der Unterhaltung oder der Sensation, aber aus sich heraus einen neuen Berufstand von Personen entwickelt, die nicht mehr naiv genießend, sondern pflichtmäßig prüfend ihm das Urteil sagen, welches es selber haben wird, und nach dem sich dann der endliche Erfolg und Einfluß einer Dichtung richtet« [Ernst, Der Weg zur Form y 218-219], In der Tat hält Ernst ein soziologisches Verfahren nur dann für angebracht, wenn es von Belletristik die Rede ist, da die höhere Kunst von der soziologisch orientierten Literaturwissenschaft lieber unangetastet bleiben soll. Ernst ist eigentlich nie bereit, die Form der Tragödie als zeitbedingt zu betrachten: »Liegt in der Form die Freiheit des Künstlers, und je strenger die Form, desto freier ist der Dichter. Die strengste dichterische Form hat die Tragödie, und eine richtig gebaute Tragödie ist auch gänzlich zeitlos« (219). Gerade diese äußerst voreingenommene und willkürliche Anwendung 22

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gischen Gattung zu neuem Leben w i r d von Lublinski zunächst einmal politisch verstanden, als Überwindung extremistischer Gesinnungen, die sich auf der einen Seite i m Naturalismus und i m zu diesem verbundenen Sozialismus, auf der anderen in der Neuromantik bzw. i m Junkertum ausdrücken. Was diese scheinbar entgegengesetzten Bewegungen i m Grunde verbindet, ist die Unterwerfung des Individuums bald unter sein Verhältnis zur sozialen Herkunft, bald unter die Geschlossenheit eines begrenzten Kreises von ästhetisch Gleichgesinnten. Solche i n ihrem tiefsten Kern durchaus solidarischen Weltanschauungen können nur durch ein Bündnis zwischen den kulturellen und den politischen Kräften überwunden werden, die die Grundsätze der humanistischen Mitte verteidigen: Liberalismus und Neuklassik. 2 4 Die Berufung auf den Geist der Klassik hängt bei Lublinski mit der Forderung einer Demokratisierung der Gesellschaft zusammen, und geht immer von einer unbefangenen und systematischen Beschäftigung mit der Sachlichkeit der geschichtlichen Situation aus, worauf er selbst den Leser mehrmals aufmerksam macht, z. B. in einer Stelle aus einem 1910 verfaßten Aufsatz (»Moderne Politik und moderne Literatur«), w o er die Neuklassiker, zu denen er sich selbst miteinbezieht, i m Anschluß an zwei berühmte Verse Schillers (»Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei / U n d wär'er in Ketten geboren«) folgendermaßen bezeichnet: der soziologischen Methode ist der Grund dafür, daß Emsts These im wesentlichen unbegründet bleibt, daß aus einem formlosen Zeitalter die höchste Form ohne weiteres entstehen kann. Der programmatisch höchst anspruchsvolle Weg zur Form mündet tatsächlich in eine schwer lösbare Aporie: »Geben wir zu, was unsere Zeit Großes schafft, das ist alles im einzelnen banausisch, denn es dient nur dem gemeinen Bedürfnis und entsprang der gewöhnlichen Not. Aber betrachten wir die Erfindungen, Entdeckungen, Kämpfe, Organisationen, das Geschaffene und die Möglichkeiten, so sind wir zu einem Kraftgefühl berechtigt wie nie vorher eine Zeit. Und sollte dieses Kraftgefühl nicht unsere Dichter so heben können, daß sie der großen Tragödie fähig würden?« (220). Es muß jedenfalls vor einer Gleichstellung Emsts und Lublinskis aufgrund ihrer gemeinsamen Unterstützung der neuklassischen Bewegung gewarnt werden; Lublinski verfügt nämlich über eine viel größere kritische Schärfe als Ernst, der allerdings der einzige Neuklassiker ist, der als autonomer Dichter in Frage kommt. Die vielen, nachweisbaren Unterschiede zwischen den beiden Schriftsteilem haben Gotthart Wunberg dazu veranlaßt, von der Notwendigkeit zu sprechen, Lublinski »aus der Umarmung« mit Ernst »zu befreien« [»Samuel Lublinskis Versuch, Literatur soziologisch zu verstehen«, Nachwort zu Samuel Lublinski, Die Bilanz der Moderne, hg. Gotthart Wunberg (Tübingen 1974), 369-406]. Die großangelegte Studie Wunbergs stellt den einzigen Versuch dar, die Person und das Werk Lublinskis der Germanistik wieder vertraut zu machen, wenn man von einem wichtigen Aufsatz Vagets absieht [Hans Rudolf Vaget, »Thomas Mann und die Neuklassik. >Der Tod in Venedig< und Samuel Lublinskis Literaturauffassung«, Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 17 (1973), 432-54], der sich aber eher auf Thomas Mann als auf Lublinski konzentriert. 24 Zu den politischen Implikationen der Tragödientheorie Lublinskis vgl. Andreas Wöhrmann, Das Programm der Neuklassik. Die Konzeption einer modernen Tragödie bei Paul Ernst, Wilhelm von Scholz und Samuel Lublinski (Frankfurt a.M. u. a. 1979), 98101.

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Dieses [Schillers] Zitat ist um so mehr am Platz, als diese Schriftsteller und Dichter nicht daran denken, die Ketten zu leugnen, jene soziologischen und psychologischen Notwendigkeiten, die durch die bisherige moderne Kunst ergründet und dargestellt wurden. Aber wir leben des Glaubens, daß die menschliche Freiheit und menschliche Größe diese Schranken überwindet und an ihnen zu tragischem Höhenwuchs emporwachsen kann.25 Die Suche nach Ansätzen zur Wiederbelebung der klassischen Tragödie beschäftigt Lublinski i m 1909 veröffentlichten Buch Der Ausgang der Moderne am meisten und mit desto größerer Dringlichkeit, je deutlicher die Unzulänglichkeit des Naturalismus und der Neuromantik erscheint. Lublinskis Hauptfrage ist, »ob unsere Zeit einer werdenden klassischen Kunst die günstigen Lebensbedingungen zu bieten hätte, oder ob sich dieser neue Versuch gegen alle Kräfte und Instinkte der Epoche durchsetzen müsste«. 26 Einer neuen klassischen Kunst setzen sich vor allem die sozialen Verhältnisse entgegen; die Arbeitsteilung und die Verwandlung des Kunstwerkes in ein Massenprodukt heben z. B. jenes Totalitätsgefühl vollkommen auf, das mit dem Begriff »Klassik« immer verbunden ist, so wie dieser in der Tradition der deutschen Kultur verwurzelt ist. Es kommt jedenfalls nicht darauf an, Zivilisation und technischen Fortschritt zu leugnen, sondern darauf, diesen unvermeidlichen Prozeß durch eine höhere humanistische Instanz zu steuern. Solche Aufgabe - hier schließt sich der Kreis von Lublinskis Thesen - kommt vornehmlich der Kunst zu, »nur die Kunst kann, ohne unfruchtbarer Weltflucht und einer banalen Antithese zu verfallen, die moderne Zivilisation i n dieser grundlegenden Weise vollenden«. 2 7 Wenn die moderne Gesellschaft dem Menschen nur Zerrissenheit und Entfremdung bietet, dann soll die Kunst diesen Identitätsverlust durch eine geschlossene Form ausgleichen, die dem Menschen es ermöglicht, sich auf der einen Seite der Krise seiner Zeit immer bewußt zu bleiben, auf der anderen aber solch eine Krise aus einer einheitlichen Perspektive aufzufassen und zu überwinden. Die künstlerische Gattung, die diese anspruchsvolle Aufgabe am besten bewältigen kann, ist die dramatische, und i m besonderen die tragische, weil das Wesen des Tragischen i n der Erkenntnis der tiefen Einheit des Lebens besteht: Tragisch empfinden bedeutet: vollkommensten Zwiespalt und durch ihn die Einheit empfinden. Wer nur lediglich die All-Einheit erlebt, in der jeder Dualismus verschwindet und aufgelöst wird, der ist ein Romantiker und Mystiker, vielleicht ein sehr hoch stehender und hochbegabter, aber das Wesen der Tragödie bleibt ihm verschlossen; und 25

Lublinski, Nachgelassene Schriften, 59. Lublinski, Der Ausgang der Moderne. Ein Buch der Opposition (Dresden 1909). Mit einer Bibliographie von Johannes J. Braakenburg neu hg. Gotthart Wunberg (Tübingen 1976), 77. 27 Lublinski, Der Ausgang der Moderne, 83. 26

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wer wieder überall nur den Zwiespalt klaffen sieht, mag vielleicht zum Geschlecht der großen Kritiker und Skeptiker und Rationalisten gehören; - vom Drama aber soll er die Hände lassen, und vor allem von der Tragödie, die seiner Wesensart so vollkommen widerstreitet, daß er gezwungen wäre, sie oder sich selbst zu verleugnen.28 Unter Tragödie soll dann grundsätzlich die Darstellung von Entstehung und Auflösung eines bestimmten Konfliktes verstanden werden, in dem der der Wirklichkeit innewohnende Zwiespalt klar zu erkennen ist. Dieser Konflikt entsteht meistens zwischen einer höheren Notwendigkeit, die die unumgängliche Heteronomie des Individuums widerspiegelt, und dem menschlichen Drang nach Freiheit und Selbstbestimmung. Es handelt sich u m einen der Struktur der Welt immanenten Konflikt, der den Rezipienten nur dann zum Verständnis der Zerrissenheit der Welt führen kann, wenn er durch eine einfache und sich am durchschaubarsten entwickelnde Handlung dargestellt wird, in der der Dichter alles Willkürliche tilgt: »Wo der Konflikt sich selbst setzt, da ist auch Notwendigkeit und Schicksal, weil die Gegensätze nicht durch äußere Zufälligkeiten, sondern durch die Natur der Sache, durch das Wesen unserer Vernunft und Seele, veranlasst werden.« 2 9 Die Zeit der Zivilisation und der Industrialisierung ist insofern für die tragische Form besonders günstig, als die Brüche und die Widersprüche, die zwar das geistige Leben in der Massengesellschaft gefährden, dem Menschen doch eine viel klarere Übersicht über die Natur der in der Tragödie darzustellenden Konfklikte ermöglichen, als das in vergangenen Epochen der Fall war. Die Tatsache, daß die moderne Gesellschaft auf jegliche Form von Totalität weitgehend verzichtet hat, hat außerdem zur Folge, daß der tragische Konflikt nicht nur als solcher in aller Klarheit beobachtet werden kann, sondern auch in einem sozusagen noch elementaren Zustand erscheint, wobei nämlich keine totalitätbeanspruchenden Denkstrukturen mehr vorhanden sind, die diesem Konflikt eine zwar bedenkliche, aber scheinbar wirksame Lösung bieten könnten. Die Analyse Lublinskis ist hier äußerst einleuchtend: Darin besteht gerade die Größe der Zeit, daß sie die mächtigsten Spannungen und Gegensätze zu ertragen und in ihren Institutionen wie im Privatleben einzuschließen vermag. Wo man früher nicht neben einander leben konnte, ohne daß die Schwerter aus den Schneiden flogen und ohne daß die Gewehre losgingen und manchmal die Scheiterhaufen flammten: da kann man gegenwärtig unter einem Dach hausen und inmitten aller Gegensätze die höhere Einheit und höhere Verwandtschaft ahnen, ohne daß es dabei zu schlaffer Abspannung und verächtlichen Friedensschlüssen zu kommen braucht. 30

28 29 30

Lublinski, Der Ausgang der Moderne, 122. Lublinski, Der Ausgang der Moderne, 125. Lublinski, Der Ausgang der Moderne, 134.

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Die i m Rahmen des sozialen Lebens fehlende allgemeingültige Lösung zum Konflikt kann auf der Bühne inszeniert werden, und dadurch ins kollektive Bewußtsein eindringen: »Die gebändigten und disziplinierten und verinnerlichten Triebe müssen sich darum auf geistigem Gebiet entladen, und der eigentümliche Konflikt des Lebens muß auf der Bühne zur restlosen Lösung gelangen. Wohlgemerkt: der Konflikt des Lebens selbst, der Kampf aus dem Kraftzentrum unserer Kultur heraus!« 31 Lublinski behauptet, daß das dramaturgische Werk Paul Emsts schon längst auf diesem Weg ist, da es sich durch »eine geschlossene Form, einen logischen Aufbau, eine klare Handlung und einen durchdachten und durchgeführten Willenskonflikt« 3 2 auszeichnet; die Neuklassik könnte nun ihr Programm völlig erfüllen und jede andere literarische Bewegung endgültig überwinden - setzt Lublinski fort - wenn nur ihre Dichter und Theoretiker der engen Beziehungen ihrer Schriften zu den Entwicklungen innerhalb der deutschen Gesellschaft bewußter würden. Die Betonung der Rolle der Form und der strukturellen Kohärenz i m Aufbau des literarischen Textes ist namentlich nach Lublinski ein deutliches Zeichen dafür, daß eine bedeutende Verwandtschaft zwischen Neuklassik und moderner Zivilisation besteht, die sich darin offenbart, daß beide die Technik als Mittelpunkt haben, und die der Neuklassik selbst die beste und unbestreitbarste Interpretation der Moderne ermöglicht. Paul Ernst scheint aber dieses heuristische Potential seiner Kunsttheorien, »solche geheime Bundesgenossenschaft des Zeitalters mit seinen Bestrebungen« ganz zu übersehen, weil er i m Grunde »die künstlerisch-technischen Probleme zuweilen in einer zu isolierten Weise behandelte, so daß sein programmatisches Buch manchmal fast schon eine minutiöse Handwerkslehre für angehende Dramatiker zu werden droht, was natürlich von seinen Gegnern, die von der Kernfrage gern ablenken mochten, nach Kräften ausgenutzt wurde.« 3 3 Die neuklassische Tragödie hätte nach Lublinskis Ansichten eine engere Beziehung zur sozialen, ökonomischen und auch wissenschaftlichen Entwicklung der Zeit schließen müssen. Aus einer kurzen Darlegung der Tragödientheorie und des dramaturgischen Werkes von Paul Ernst w i r d es sich ergeben, daß dieser Weg i n der Tat nur selten gegangen wurde.

Das Tragische und die Tragödie bei Paul Ernst Das Wesen des Tragischen besteht für Paul Ernst, so wie für Lublinski, i m Konflikt zwischen einer übermenschlichen und einer menschlichen Notwendigkeit; i m Mittelpunkt dieses Konfliktes steht der tragische Held, dessen 31 32 33

Lublinski, Der Ausgang der Moderne, 134. Lublinski, Der Ausgang der Moderne, 163. Lublinski, Der Ausgang der Moderne, 165.

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Innerlichkeit das eigentliche Schlachtfeld ist, w o der Kampf des Menschlichen gegen das Ubermenschliche stattfindet (als prägnantes Beispiel erwähnt Ernst immer wieder den Fall von Antigone). D e m Helden erscheint der tragische Konflikt tatsächlich als eine seelische Angelegenheit, als eine Aufgabe, die er i m Rahmen seines geistigen Lebens zu bewältigen hat. Der Versuch muß zwingend scheitern, weil der Mensch der höheren Notwendigkeit nichts als seinen Willen entgegensetzen kann; durch sein verzweifeltes Kämpfen und die Aufbietung seiner vornehmsten Kräfte steigert sich der Held jedoch bis zum höchsten Grad von Sittlichkeit und geistiger Freiheit. Entscheidend ist dann der Anstoß, den der H e l d von der klaren Erkenntnis der eigenen und kollektiven Beschränktheit bekommt; 3 4 indem er sein ganzes seelisches Vermögen in der tragischen Handlung entfaltet, überwindet er sein Leiden, und erhebt sich zu einem rein geistigen Zustand gewissermaßen jenseits vom Guten und Bösen, von w o das Leben als eine ungebrochene Totalität erscheint. Wie Ernst schreibt, entsteht die Tragödie »aus dem tiefsten Leiden und bejaht doch das Leben mit dem höchsten Jauchzen.« 35 Gegenstand der Tragödie ist i m Grunde der reine Wille des Helden, in dessen Würde die Menschlichkeit ihren höchsten und sittlichsten Ausdruck überhaupt findet. Da nun das Tragische nur dann auf die Menschen positiv wirken kann, wenn es in geschlossener und zugleich durchschaubarer Form dargestellt wird, soll der tragische Dichter die Handlung so aufbauen, daß der Zuschauer jedes einzelne Ereignis auf der Bühne unbedingt auf eine der beiden Notwendigkeiten zurückführen kann. Unter »Stil« versteht Ernst die Fähigkeit des Dichters, das Kunstwerk immer einheitlich und linear zu gestalten, auch auf die Gefahr hin, die reizende Lebhaftigkeit und die prächtige Färbung der dichterischen Darstellung dem reinen Verstand zu opfern. 3 6 Ernst hält sich von einer werkimmanenten Perspektive alles i n allem immer ziemlich weit entfernt, und konzentriert sich lieber auf wirkungsästhetische Fragen, 37 oft ausgehend von einem 34 Der Begriff »Gottlosigkeit« ist bei Ernst von höchster Bedeutung. Dazu lese man den Beitrag von Kurt Schobert, »Anreger einer phänomenologischen Literatursoziologie?«, Neue deutsche Hefte, 35 (1988), 12-30. 35

Ernst, »Die Möglichkeit der klassischen Tragödie«, 126. »Deshalb muß man sich nicht wundern, wenn gerade die großen Tragiker, das heißt diejenigen, welche ihr Spezifisches in der höchsten Vollkommenheit und ungetrübt selbst durch andere Vorzüge besaßen, sehr verstandesmäßig wirken; der spezifisch-poetische Reiz findet sich bei den Tragikern des zweiten Ranges mehr als bei ihnen. Aber der Verstand in seiner höchsten Potenz ist eben etwas ganz Besonderes, was freilich die meisten modernen Dichter nicht ahnen, welche einen oft unternormalen Verstand durch Geringfügigkeit des Talentes ersetzen wollen« [Ernst, »Das Weib und die Tragödie« (1906), in: Der Weg zur Form, 194-202, hier 200]. 36

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Vgl. dazu die höchstdifferenzierte Analyse von Viktor Zmegac, »Literatur und Gesellschaft aus der Sicht der Neuklassik«, Zagreber Germanistische Beiträge, 6 (1997), 29-39.

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Dualismus Kantscher Prägung, aufgrund dessen er behauptet, daß die Tragödie an das transzendentale Ich des Rezipienten appellieren soll, von dessen Warte aus es sehr klar erscheint, daß »unsere Sehnsucht nichts bedeutet als das Streben nach größerer Ähnlichkeit mit ihm [dem transzendentalen Ich], die w i r durch den Integrationsprozeß erreichen, da die Unvollkommenheit ja wesentlich das Resultat dieser störenden, verwirrenden und in uns sich festnistenden Welt ist, i n welche w i r geworden sind.« 3 8 Der Appell an das transzendentale Ich setzt notwendigerweise die Ausführung der tragischen Handlung an einer abstrakten und rein geistig aufzufassenden Ebene voraus, w o nämlich die Notwendigkeit der Handlung selbst von jedwedem interferierenden Umstand ungestört bleibt. Dieses Prinzip hat äußerst wichtige Folgen sowohl i m technischen als auch i m inhaltlichen Bereich der Dramaturgie Emsts. Das Bedürfnis, nicht nur jedes unnötige Detail auszulöschen, sondern auch die Handlung auf einer immer durchgeistigteren und fast schon verklärten Bühne spielen zu lassen, führt Ernst dazu, jeden epischen Vorgang wie die Anspielung auf eine Vorgeschichte zu perhorreszieren. Die Ursachen des tragischen Konfliktes werden immer verschwiegen, damit seine rein geistige Bedeutung ungehemmt und unabhängig von den dargestellten Inhalten i n Erscheinung treten kann. Der Inhalt w i r d tatsächlich immer unwichtiger, weil die reinigende Auswirkung der Tragödie nicht durch das individuelle Schicksal der Figuren erfolgt, das einer höheren und dann nicht beeinflußbaren Notwendigkeit gehorcht, sondern durch die formale und stilistische Behandlung des Stoffes. N i c h t die Handlung an sich w i r k t auf den Zuschauer, sondern die stilistische Souveränität des Künstlers. Andererseits w i r d die absolute Abstraktion, auf die Ernst abzielt, von jeder A n deutung auf einen historisch und gesellschaftlich deutlich erkennbaren Zusammenhang stark gefährdet; inhaltlich hat dies zur Folge, daß die dramatische Handlung i n eine A r t Vakuum versetzt wird, w o die einzelnen Gestalten nur noch Verkörperungen bestimmter sittlicher Werte sind. Von der einen Tragödie zur nächsten w i r d dieser Vorgang immer auffälliger. 39 Der eigentliche dramatische Stoff ist für Ernst die Menge der subjektiven Empfindungen der tragischen Gestalten und i m besonderen des tragischen Helden; die eigentliche Handlung besteht i n der Darstellung der A r t und Weise, wie sich solche Empfindungen zur Ebene der reinen Sittlichkeit erheben. Der Prozeß von sittlicher Steigerung 38 Ernst, »Das Drama und die moderne Weltanschauung«, 33. Vgl. dazu Horst Thome, »Tragödienästhetik als Zeitkritik. Zu Friedrich Nietzsches >Die Geburt der Tragödie< und Paul Emsts Tragödientheorie«, Der Wille zur Form, 3. Folge, H. 3 (1995), 3-37. 39 Dazu vgl. die Untersuchung Günter Hartungs [»Paul Emsts Tragödientheorie in ihrem geistesgeschichtlichen Kontext«, Der Wille zur Form, 3. Folge, H. 4 (1996), 9-44], der von der »Absicht Emsts« spricht, »die historischen Stoffe durch vor- oder außergeschichtliche und die gesellschaftlichen Motive durch seelisch-existentielle zu ersetzen« (35). Von Härtung vgl. auch »Paul Emsts Beitrag zur modernen Theorie der Kunst«, Der Wille zur Form, 3. Folge, H. 5 (1997), 42-62.

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erfolgt immer aufgrund einer logischen und rationalen Einstellung, die jede Seite der dramaturgischen Operation betreffen muß: Der A u t o r soll die Figuren und die Handlung so bilden, daß jeder Schritt die notwendige Folge des vorherigen darstellt, und der Zuschauer ist seinerseits verpflichtet, die Angaben des Dichters dadurch zu integrieren, daß er die inszenierten Ereignisse moralisch interpretiert, und auf ihr abstraktes und unpersönliches Wesen reduziert. Man möchte fast von einem pädagogischen Theater i m Gottschedschen Sinne sprechen, aber es sind auch Brechtsche Ansätze hervorzuheben, i m besonderen dort, w o von einer A r t kritischer Verarbeitung der aufgeführten Handlung die Rede ist, die zur Verwirklichung der Ziele der Tragödie i n dem Bewußtsein des Zuschauers notwendig ist. Die Ansicht ist zwar vertretbar, Emsts Vermeiden jedes geschichtlich erkennbaren Stoffes hänge mit seiner K r i t i k an der Massengesellschaft zusammen, in der dem entfremdeten Subjekt die konkrete Wirklichkeit gleichgültig geworden sei, weil es keine Möglichkeit mehr habe, auf die gegebenen Verhältnisse den geringsten Einfluß auszuüben. Es muß aber ergänzend bemerkt werden, daß andere Autoren, die Emsts Drang nach Abstraktion durchaus teilen, das neuklassische Streben nach Monumentalität in viel engerer Beziehung zum historisch-sozialen Kontext Deutschlands u m die Jahrhundertwende verstehen, als das bei Ernst der Fall ist. Lublinski plädiert z. B. insofern für eine abstrakte Kunst, als sie die sozialen Spannungen in Form, Stil und entschlossener Sachlichkeit auflösen kann, so wie der junge Lukäcs eine autonome Kunst als M i t t e l fordert, u m ein reiferes kollektives Bewußtsein zu schaffen. 40 Ernst richtet sich dagegen immer mehr nach metaphysischen Gesinnungen, die i m Grunde nach einem logischen Verständis des Seins überhaupt und des Wesens menschlicher Sittlichkeit streben. I n seinem Emsts Brunhild gewidmeten Essay analysiert Lukäcs den metaphysischen Hintergrund Ernstscher Tragödientheorie dort am differenziertesten, w o er von »Verzicht auf jeden äußern Reichtum des Lebens u m seines innern Reichtums willen« spricht, und weiter von Verzicht »auf seine sinnliche Schönheit u m der tiefern, unsinnlichen Schönheit seines letzten Sinnes willen; auf jeden Stoff u m des rein Seelischen der reinen Form willen. Es ist die neuerstandene tragédie classique.« 41 Die Tragödie ist für Ernst desto möglicher und wirksamer, je mächtiger das Schicksal ist, und je unberührter dieses von 40

Wichtiges dazu in Michele Cometa, Ii demone della redenzione. Tragedia, mistica e cultura da Hebbel a Lukdcs (Firenze 1999), 41-63. 41 Aus der Rezension Lukäcs' zur Münchner Aufführung von Brunbild (in der Schaubühne vom 18. 5. 1911), in: Paul Ernst und Georg Lukdcs. Dokumente einer Freundschaft. In Verbindung mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach a.N. hg. Karl August Kutzbach (Emsdetten 1974), 17. Der Briefwechsel zwischen Lukäcs und Ernst ist zweifellos das ergiebigste Dokument über die Entwicklung der Neuklassik. Die Arbeit von Norbert Fuerst {Ideologie und Literatur. Zum Dialog zwischen Paul Ernst und Georg Lukdcs. Son-

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tröstenden religiösen Gefühlen bleibt; das Tragische setzt Gottlosigkeit und zugleich Sehnsucht nach Gott voraus, und schließt auf jeden Fall den Begriff »Schuld« aus. I n Brunhild handeln die tragischen Gestalten auf der Bühne wie blinde Vollender ihres eigenen Schicksals, ohne die Möglichkeit zu haben, dieses Schicksal zu mildern oder zu verändern. 42 Aber - und das ist der entscheidende Punkt in der Ästhetik Emsts - was i m Menschenschicksal absurd erscheint, findet einen Sinn in der Form der künstlerischen Darstellung und in der vom Dichter souverän beherrschten Technik. N u r die künstlerische Form kann der Sittlichkeit des Helden einen universalen Wert verleihen, und den notwendigen Untergang des Helden selbst so gestalten, daß der Zuschauer zur Identifikation mit den unglücklichen, aber ruhmreichen Taten der Hauptfigur, zum »Stolz an diesem heldischen Untergang«, 43 geführt wird. Ernst hat jede Form von art pour l'art immer heftig kritisiert, indem er in ihr eine unmoralische Anwendung von Technik und Stil getadelt hat, und dies in dem Sinne, daß Technik und Stil nur dann ihren Höhepunkt erreichen, wenn sie Ausdruck menschlicher Totalität sind. Es muß aber abschließend hervorgehoben werden, daß sich Ernst selbst der Gefahr einer Verabsolutierung der Kunst als sittliches Mittel hat nicht entziehen können. 4 4 Die Wiederbelebung

derband von Der Wille zur Form, 1975) versucht, die Beziehung zwischen Ernst und Lukäcs als diejenige zwischen einem der weitsichtigsten und unverstandensten Köpfe der deutschen Kultur und einem allgemein überschätzten und pädanten Dogmatiker darzustellen. Der Unsinn solch eines Unternehmens ist umso krasser, weil die Analyse von Fuerst durch absurde Vergleiche zwischen den Emsts und Lukäcs' Werken beliebig entnommenen Abschnitten verfährt, die oft im Abstand von Jahrzehnten und zu den verschiedensten Zwecken geschrieben wurden, geschweige denn von der Arroganz, die den Autor dieser unwissenschaftlichen Untersuchung zur Überzeugung führt, über die Komplexität des behandelten Themas durch Wendungen wie »es geht einem wirklich auf die Nerven« (138) in Bezug auf die Schwierigkeiten, die die Struktur der Essaystik Lukäcs' dem Leser bereitet, glatt hinweggehen zu können. 42 Dies gilt im besonderen für Hagen, wie Ernst im Aufsatz »Die Nibelungen: Stoff, Epos und Drama« (1905) schreibt (in: Der Weg zur Form, 157-178). Nichts könnte Hagen widerlicher sein, als Siegfried zu ermorden; trotzdem weiß er, daß er sich dafür entschließen muß, weil dies einer übermenschlichen Notwendigkeit entspricht. 43 Herbert Georg Göpfert, Paul Ernst und die Tragödie (Leipzig 1932) 63. Diese Studie ist eine sehr hilfreiche, alles andere als veraltete Gesamtdarstellung der Tragödienästhetik Emsts. Lesenswert, wenn auch auf eine schemenhafte Wiedergabe der Schriften Emsts über die Neuklassik meist beschränkt, ist auch das Buch von Jutta Bucquet-Radczewski, Die neuklassische Tragödie hei Paul Ernst (1900-1910) (Würzburg 1993). Vgl. außerdem die kurze und einleuchtende Darstellung von Dieter Borchmeyer, Neuklassik, in Moderne Literatur in Grundbegriffen, hg. Dieter Borchmeyer und Viktor Zmegac, 2., neu bearb. Aufl. (Tübingen 1994) 331 -334. 44 Im Brief vom 19.2.1906 thematisiert Lublinski die Ausartung in reinen Formalismus als die größte Gefahr, der Emsts Werke ausgesetzt sind: » [ . . . ] es scheint mir fast, daß Sie manchmal das Kind mit dem Bade ausschütten und die Gefahr des französischen u. auch

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Maurizio Pirro

des klassischen Geistes als Grundlage seiner Ästhetik w i r d tatsächlich sehr schnell zur konservativen Parole, was sich u. a. i m vielleicht nicht besonders kämpferischen, aber am entschiedensten vertretenen Nationalismus Emsts während des Ersten Weltkrieges ausdrückt; die Suche nach einem mythischen Stoff erfolgt nicht aus dem Bedürfnis nach der aufklärenden Kraft des Mythos, sondern i m wesentlichen aus Eskapismus und Unlust, sich mit der Zeitgeschichte auseinanderzusetzen. Die Vertilgung jedes sozial und historisch erkennbaren Elementes hat die Entstehung einer absoluten Kunst zur Folge, 4 5 die sich von der von Ernst mehrmals angeprangerten art pour Vart nur insofern unterscheidet, als sie die abstrakte Sittlichkeit und nicht die sinnliche Schönheit als höchstes Ziel hat.

des älteren deutschen Klassizismus mindestens streifen: ich meine des Formalismus. Die Form ist das Wichtigste, aber es muß eine dynamische Form sein, ein Konstruktives, aber auch Lebendiges, wodurch allein das Monumentale entsteht« [in: Die neuklassiscbe Bewegung um 1905. Paul Ernst in Düsseldorf. Dargestellt und dokumentiert durch Karl August Kutzbach (Emsdetten 1972), 186-187]. 45 Zu Emsts »ästhetischer Lebensfeme« vgl. Viktor Zmegac, Text und Kontext in der Gattungspoetik von Paul Ernst, in: Paul Ernst. Außenseiter und Zeitgenosse, 11 - 24.

Klangchiffren und Schmetterlinge: Robert Schumann in Thomas Manns Doktor Faustus eine Nachlese 1 Von Ursula Erich sen

»Nach Tisch in der Zeitung über Schumanns Psychose [ . . . ] Mahnung an die Faust-Novelle« notiert Thomas Mann am 9. X I I . 37 i m Tagebuch; 2 am 22. V. 41 verzeichnet er eine vorausdeutende Zusammenstellung: »Vormittags am Joseph [ . . . ] Abends einige Lieder-Platten. Welche Perle, »Schumanns Mondnacht!< Das Geheimnisvoll-Schlimme in Eichendorffs Romantik. >Hast du einen Freund auf ErdenAh, qz c'est bien allemand, par exemple!< Richard Wagner in Thomas Manns Doktor Faustus«, in: V/agner - Nietzsche - Thomas Mann. Festschrift für Eckhard Heftrich, hg. Heinz Gockel und Ruprecht Wimmer (Frankfurt/M. 1993), 228253; Matthias Schulze, »Immer noch kein Ende: Wagner und Thomas Manns Doktor Faustus«, Thomas Mann fahrbuch, 13 (2000), 195-218. 8 Michael Maar, »Der Teufel in Palestrina. Neues zum Doktor Faustus und zur Position Gustav Mahlers im Werk Thomas Manns«, Literaturwissenschaftliches Jahrbuch i. A. der Görres-Gesellschaft, 30 (1989), 217-247. 9 Hans Rudolf Vaget, »Salome und Palestrina als historische Chiffren. Zur musikgeschichtlichen Codierung in Thomas Manns Doktor Faustus,« in: Festschrift Heftrich (Anm. 7), 69-82. 10 Lieselotte Voss, Die Entstehung von Thomas Manns Roman Doktor Faustus: Dargestellt anhand von unveröffentlichten Vorarbeiten (Tübingen 1975), 21-24, 31. 11 Eugenie Schumann (1851-1938), Robert Schumann. Ein Lebensbild meines Vaters (Leipzig 1931). 12 Richard Batka, Biographie Schumanns (Leipzig 1891). 13 Voss, Die Entstehung von Thomas Manns Roman Doktor Faustus, 22: Notizenkonvolut Blatt 6. 14 Hans Rudolf Vaget, »Thomas Mann und James Joyce«, Thomas Mann Jahrbuch, 2 (1989), 128. 15 Voss, Die Entstehung von Thomas Manns Roman Doktor Faustus, 79.

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gleichen Augen sieht (»Vorbild« Hans Reisiger hatte die gleiche Augenfarbe wie Thomas M a n n 1 6 ) , ihre Namen sind inhaltlich mehrfach belegt. Rudi aus Hans Christian Andersens Eisjungfrau} 7Schwerdtfeger und Schildknapp aus dem Wagner-Motivkreis 1 8 - das zweifache, ja nicht zwingende R Sch gibt Adrian einen geheimnisvoll anspielungsreichen Rahmen. Immerhin war Robert Schumann (1810-56) ein Vertreter der zu überwindenden Romantik, ein »syphilitischer Künstler« - und gehörte überdies mit einigen seiner Werke zu geliebten Kindheitserinnerungen Thomas Manns, doch dazu weiter unten. Beginnen w i r mit dem 23. Mai 1943. Der zögernde, absetzende, entschuldigende und wieder anhebende Serenus Zeitblom hat eine Vorläuferin: Eugenie Schumann. Die Tochter des Komponisten beginnt ihr Lebensbild meines Vaters: Lange war ich unschlüssig, ob ich mich mit nachstehender Arbeit an die Öffentlichkeit wagen dürfe. Viele Male setzte ich die Feder an, ebenso oft legte ich sie wieder hin. Hast du das Recht, so fragte ich mich, mit Ansichten hervorzutreten, zu welchen ein jeder [ . . . ] ebenso gut gelangen könnte wie du? Kannst du etwas sagen, was andere noch nicht gesagt haben? [ . . . ] Man wird mich anmaßend nennen, und ich bin darauf gefaßt, bin mir meiner Unzulänglichkeit voll bewußt. Aber eins darf ich für mich in Anspruch nehmen, was mein Unterfangen entschuldigen [ . . . ] mag: [ . . . ] daß ich ihm in Liebe näher stehe als irgendein anderer, und Liebe ist es, die es braucht, sein Wesen zu erfassen. 19 Hier ist auf kindlich-naive Weise - sie spricht von »Liebesarbeit« - der vielfach gebrochene Roman-Anfang vorgebildet. Eugenie Schumann - die 1851 geborene kann nur geringe Erinnerung an den bereits 1854 in der Nervenheilanstalt in Endenich bei Bonn Verschwundenen haben - legt einen die Wirklichkeit bis zur Unkenntlichkeit bereinigten, sentimental gefärbten und zur Legendenbildung neigenden Bericht vor. Dieser kann Thomas Mann ansonsten wenig Anschauung geboten haben. Er erwähnt die Lektüre i m Tagebuch erst ein Jahr später, während der Arbeit am X V I . Kapitel, am 18. 5. 1944: »In Robert Schumann von seiner Tochter« 2 0 . Jedoch legen die 16 Wie Thomas Mann in seinem Brief an Hans Reisiger vom 16. 9. 1946 betont; siehe Thomas Mann, Selbstkommentare: Doktor Faustus (Frankfurt/M. 1992), 86. 17 Michael Maar, Geister und Kunst. Neuigkeiten aus dem Zauberberg (Frankfurt/M. 1997), 140-143. 18 Schulze, »Immer noch kein Ende«, 200 (gegen Schulzes Anm. 23: Schildknapp darf Adrian nicht duzen!) und 203; zum Wagner-Bezug der Gleichäugigen: Ders., Die Musik als zeitgeschichtliches Paradigma. Zu Hesses Glasperlenspiel und Thomas Manns Doktor Faustus (Frankfurt/M. 1998), 89. 19 Eugenie Schumann, Robert Schumann, 7, 12. Zu Zeitblom als Biograph vgl. Helmut Koopmann, »>Doktor Faustus< - eine Geschichte der deutschen Innerlichkeit?«, Thomas Mann Jahrbuch, 2 (1989), 5 - 7 und Seiwert, Beethoven-Szenarien, 201 -211. 20 Thomas Mann Tagebücher 1944 -1. 4. 1946, hg. Inge Jens (Frankfurt/M. 1986), 57.

18 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 44. Bd.

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Überlegungen i m Notizenkonvolut frühere Lektüre nahe. - Serenus* Schlußgebet am Ende des Romans ist bekanntlich ein Zitat aus Podachs NietzscheBuch - auch Eugenie Schumann betet am Schluß: »Möchte die himmlische Gnade [ . . . ] einst auch meinem Vater zuteil werden!« 2 1

I. Biographische M o t i v e 2 2 Bei Schumann fällt hauptsächlich die »Ausgelassenheit nach beiden Seiten« auf, die der Teufel Adrian i n Palestrina als »Künstlerart und -natur« (307) erklärt. »Zwischen Aufgeräumtheit und Melencolia« (307) lebte auch Robert Schumann: bereits i m Jugendalter trat eine manisch-depressive Erkrankung auf 2 3 , die in späteren Jahren durch die Folgen der luetischen Infektion noch verstärkt wurde. Von den drei hauptsächlich faßbaren Quellen, aus denen sich das Notizenkonvolut (vor allem Blatt 3, 4 und 6 ) 2 4 speist - die Biographien von Richard Batka und Tochter Eugenie sowie Paul Bekkers Musikgeschichte 25 - , ist Batkas Buch noch das brauchbarste, obwohl die ebenfalls verharmlosende und verherrlichende Darstellung unbequeme Fakten schlicht we gläßt 2 6 . I m Fall des erst 1937 veröffentlichten Violinkonzerts (s.u.) sind Thomas Mann sachdienliche Zeitungsartikel bekannt geworden. Ansonsten flössen i h m Informationen über den geheimnisumwitterten Romantiker aus Gesprächen mit den ihm bekannten Musikern zu, die mit Sicherheit vieles aus den bis dato bereits veröffentlichten Quellen wußten und weitergaben 27 . 21

Eugenie Schumann, Robert Schumann, 402. Unübersehbar sind die Parallelen der Künstlerpersönlichkeiten Robert Schumann und Thomas Mann selbst: beide sind früh vom späteren Ruhm überzeugt [Flechsig (s. Anm. 45), 392 und: Thomas Mann. Ein Leben in Bildern, hg. H. Wysling u. Y. Schmidlin (Zürich 1994), 75]; beide schreiben exzessiv Tagebücher mit intimsten Einzelheiten; beide sind als Jugendliche einsam und selbstmordgefährdet, und beide bescheren liebenden Ehefrauen ein »strenges« Glück mit vielen Kindern. Sogar Werkthemen bzw. -pläne stimmen überein, wie Faust und Luther. 23 Franz Hermann Franken, »Untersuchungen zur Krankengeschichte Robert Schumanns«, in: Robert Schumann - Ein romantisches Erbe in neuer Forschung. Acht Studien, hg. Robert-Schumann-Gesellschaft (Düsseldorf, Mainz u. a. 1984), 87-97. 24 Voss, Die Entstehung von Thomas Manns Roman Doktor Faustus, 21-23. 25 Paul Bekker, Musikgeschichte als Geschichte der musikalischen Formwandlungen (Berlin/Leipzig 1926-28). 26 Wie Schumanns Tagebücher berichten, sprach er dem Champagner übermäßig zu, und hat auch ansonsten nicht »Reis« gegessen: Robert Schumann, Tagebücher Band I 1827-1838, hg. Georg Eismann (Leipzig 1971), passim. 27 An Zeitzeugnissen und Quellen lagen bis 1943 vor: Jugendbriefe von Robert Schumann, nach den Originalen mitgeteilt von Clara Schumann (Leipzig 1885); Hermann 22

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Das Notizenkonvolut verzeichnet Charaktereigenschaften, Krankheitssymptome und die Geschehnisse beim Ausbruch des Wahnsinns. Der Bericht Batkas über Schumanns Studium (»Eiseskälte der Rechtswissenschaften« 28 ) mit Leipzig, Gewandhauskonzerten, »Saxoborussen« 29 und dem Fachwechsel zur M u s i k 3 0 mutet wie eine biedermeierliche Variante von Adrians Studium an. Von Schumanns extremen Stimmungsschwankungen zwischen »fiebrischer Hast« und »apathische[r] Ruhe« 3 1 einerseits »mit Schnelligkeit« 32 »unermüdlich« 3 3 zu arbeiten, andererseits »wortkarg« 34 und »schweigend« 35 vor sich hin zu brüten, wird Thomas Mann mit Anteilnahme gelesen haben. Während Schumann 1844 an den Faust-Szenen (!) arbeitete, und zwar »mit Aufgebot aller Kräfte«, stellte sich »ein nervöses Leiden« ein, »finstere Dämonen beherrschten ihn«. 3 6 Batka zitiert Schumanns Fähigkeit, die beiden Stimmungsextreme zu personalisieren: »Florestan und Euseb ist meine Doppelnatur« 3 7 , d. i. die Aufspaltung der Identität in zwei Figuren des geschaffenen Werks: Florestan für die manische und Eusebius für die depressive Komponente, in Carnaval op. 9 (s. u.) - Anklänge an die »Identität« von Adrian und Serenus mit ihrem A u t o r . 3 8 Schumanns Symptome Kopfschmerz, Augenveränderungen, Gehörstörungen 3 9 gehen via Notizenkonvolut direkt in den Roman ein. Erler, Robert Schumanns Leben. Aus seinen Briefen geschildert (Berlin 1887); Wolfgang Boetticher (Hg.), Robert Schumann in seinen Briefen und Schriften (Berlin 1942). Aus der Fülle der Schumann-Biographien bis 1940 sei noch erwähnt: Wilhelm Josef von Wasielewski, Robert Schumann. Eine Biographie (Dresden 1858) [bis 1906 in 4. Auflage] Wasielewski kannte Schumann sehr gut. 28 Batka, Biographie Schumanns, 16. 29 Batka, Biographie Schumanns, 18. 30 Batka, Biographie Schumanns, 19 ff. 31 Batka, Biographie Schumanns, 77. 32 Batka, Biographie Schumanns, 57. 33 Batka, Biographie Schumanns, 58. 34 Batka, Biographie Schumanns, 62. In diese Zeit fällt Schumanns Bekanntschaft mit Richard Wagner: Wagner fand Schumann »stumm«; Schumann äußerte über ihn: »ein geistreicher Kerl voll toller Einfälle« - der aber unaufhörlich rede, was man doch nicht aushalten könne (Batka, 63). Diese Äußerung über Wagner hat Thomas Mann angestrichen (Tagebücher 1943, Anm. S. 903). Wagner hingegen über Schumann: »Schumann ist ein hochbegabter Musiker, aber ein unmöglicher Mensch!« (Batka 63). 35 Batka, Biographie Schumanns, 61. 36 Batka, Biographie Schumanns, 62. 37 Batka, Biographie Schumanns, 33, zitiert nach einem Brief an Heinrich Dorn. 38 Zur Identitäts-Diskussion vor allem: Heftrich, Vom Verfall zur Apokalypse, 281 — 288; Manfred Dierks, «Doktor Faustus unter dem Aspekt der neuen Narzißmustheorien«, Thomas Mann Jahrbuch, 2 (1989), 22-23, 32 f. und passim; Erkme Joseph, »Nietzsche im Doktor Faustus«, in: «... und was werden die Deutschen sagen??« (s. Anm. 1), 67 f. 18*

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Wahnvorstellungen, Halluzinationen, schwerste Verzweiflung und Unruhe plagten Schumann vor dem Kulminationspunkt der Krankheit, und Thomas Mann überträgt ins Notizenkonvolut: »Nachts phantasiert, Engel umschweben ihn, sangen i h m ein Thema vor, das er aufschrieb. Verwandlung der Engel i n Dämonen mit gräßlicher M u s i k « 4 0 - ein eher un»seliges Diktat« (317) 4 1 . »Davon schrieb ich viel auf. O f t waren auch gewisse Kinder bei mir i m Zimmer [ . . . ] « (665). I n den letzten Nächten zuhause fiel Schumanns Äußerung, er sei ein »Verbrecher« 42 , von Thomas Mann notiert. Man assoziiert Adrians Selbstanklage »welch ein Verbrechen, daß w i r ihn kommen ließen« (633). 1843 schrieb Schumann ein »großangelegtes Chorwerk: Das Paradies und die Peri« 43 nach Thomas More's Versepos Lalla Rokh y 1817 mit anderen Verserzählungen des englischen Dichters erschienen, dessen deutsche Bearbeitung Jugendfreund Emil Flechsig besorgt hatte 4 4 . (Dieser Serenus verfaßte auch Erinnerungen an Robert Schumann nach dessen Tod. Sie lagen leider erst 1956 gedruckt vor. 4 5 ) Bei diesem Oratorium handelt es sich u m eine Erlösungsgeschichte: das Einzige, das die Paradiesespforte aufspringen läßt, ist »die Thräne des reuigen Sünders« 46 , eine romantische Vorstellung, die der »contritio ohne jede Hoffnung« (329) insofern nahekommt, als auch sie »der äußerste Ansporn [ . . . ] für die Güte« (666) ist. Übrigens hatte Schumann den Jugendfreund »Echomein« (!) genannt. 47 (Eine mythologische Nebenbemerkung: Schumann notierte i m Tagebuch - i m 39

Batka, Biographie Schumanns, 71, 83, 84. Notizenkonvolut Blatt 6, vgl. Voss, Die Entstehung von Thomas Manns Roman Doktor Faustus, 23. 40 Zitiert nach Voss, Die Entstehung von Thomas Manns Roman Doktor Faustus, 23. Vgl. auch Batka, Biographie Schumanns, 84 und Barbara Meier, Robert Schumann, rowohlts monographien (Reinbek bei Hamburg 1995), 139, Anm. 90: »Das Thema in Es-Dur, über das er einige Tage später die sogenannten Geister-Variationen schrieb, entspricht dem Beginn des Solothemas im 2. Satz des Violinkonzerts.« 41

Nach Nietzsche. Vgl. Hermann Kurzke, Thomas Mann. Epoche - Werk - Wirkung (München 21991), 281. 42 Berthold Litzmann, Clara Schumann. Ein Künstlerleben nach Tagebüchern und Briefen (Leipzig 1902-08), Bd. 2, 298. 43 op. 50. Vgl. Batka, Biographie Schumanns, 58 ff. 44 Batka, Biographie Schumanns, 59; Meier, Robert Schumann, 90. Man denke an Zeitbloms Shakespeare-Bearbeitung (215)! 45 Emil Flechsig, »Erinnerungen an Robert Schumann«, Neue Zeitschrift für Musik, 117 (1956), H. 7/8. Vgl. auch Paula und Walter Rehberg, Robert Schumann. Sein Leben und sein Werk (Zürich/Stuttgart 21969), 759. 46 Batka, Biographie Schumanns, 59. 47 Tagebücher (s. Anm. 26), 339, unter »Achter Juny« (1831): »Von heute an will ich meinen Freunden schönere, passendere Namen geben. Ich tauf Euch daher folgender-

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Zusammenhang mit der »lokale[n] Erkrankung« (208) am 12. Mai 1831: »Nachmittags Chr blaß - Mittheilungen - nur Schuld gebiert die Nemesis ~« 4 8 . Thomas Mann schrieb am 11.Mai 1945 an Agnes E. Meyer in bezug auf Deutschlands Untergang: »Nemesis und Jüngstes Gericht« 4 9 . Nemesis, die Göttin der Vergeltung - Tochter der Nacht und Mutter der Helena - bestrafte Narkissos, der die N y m p h e Echo verschmäht hatte.) » A m Fastnachtsmontag, am 17. Februar 1854, entfernt er sich heimlich aus dem Hause, eilt auf die Rheinbrücke und springt, seinen peinlichen Zustand zu enden, in den eisigen Strom« 5 0 . Das M o t i v des Selbstmordversuchs ist - wie das Laden der Freunde - auch in der Biographie Hugo Wolfs zu finden. Doch in der Batka-Schilderung ist ein Charakteristikum enthalten, das auch Adrian früh auszeichnete: » U m ihn war Kälte« (13). Die von Adrian betonte »Kälte des Weihers« (673) entspricht dem »eisigen Strom«, in dem Schumann den Tod gesucht hatte.

I I . Musikalisches »Leverkühn war nicht der erste Komponist [ . . . ] , der es liebte, Heimlichkeiten formel- und sigelhafter A r t in seinem Werk zu verschließen« (207). Schumann betrieb das Komponieren nach Buchstaben bereits f r ü h 5 1 und nach für ihn bedeutungsvollen Worten spätestens ab op. 9: Carnaval (1834/35). Zunächst lautete der Titel: »Fasching. Schwänke auf vier Noten für Pianoforte von Florestan«. Es lauteten aber diese vier Noten: A - S - C - H - böhmischer Geburtsort seiner kurzzeitigen Verlobten Ernestine von Fricken 5 2 . Daß die Scenes maßen: Wieck zum Meister Raro - Clara zur Cilia - Christel zur Charitas - [ . . . ] Glock zur medicinischen alten Muse - [ . . . ] Flechsig zum Jüngling Echomein - « . 48 Tagebücher (s. Anm. 26), 330. Die Einträge im Mai/Juni 1831 berichten in erschütternder Weise von der lokalen Infektion - der ihm befreundete Mediziner Glock behandelte ihn - und von der Angst bei weiteren Begegnungen mit Christel. [Hier muß erwähnt werden: Peter Härtling, Schumanns Schatten (Köln 1996)]. 49 Thomas Mann - Agnes E. Meyer, Briefwechsel 1937-1955, hg. Hans Rudolf Vaget (Frankfurt/M. 1992), 627. 50 Batka, Biographie Schumanns, 85. Zu Adrians Selbstmordversuch vgl. Maar, Geister und Kunst, 88. Zum Motiv der Kälte: Renate Böschenstein, »Doktor Faustus und die Krankheit als Inspiration.«, in: Vom »Zauberberg« zum »Doktor Faustus«. Die Davoser Literaturtage 1998, hg. Thomas Sprecher, Thomas-Mann-Studien X X I I I (Frankfurt/M. 2000), 153. 51 Sein op. 1: Abegg-Variationen, 1829/30 variiert die Noten der Namens-Buchstaben in horizontalen und vertikalen Kombinationen und stellt ein äußerst virtuoses Konzertstück dar. 52 Die Verlobung wurde im August 1835 wieder gelöst. Vgl. Batka, Biographie Schumanns, 31-32.

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mignonnes nur von Florestan, dem draufgängerischen Teil seiner Persönlichkeit, stammen sollten, fiel i n der gedruckten Ausgabe mit dem französischen Titel flach. Besonders beeindruckt das Stück »Eusebius« i n seiner tiefmelancholischen Gedrücktheit. - I n verschiedener harmonischer Zusammensetzung und unterschiedlich rhythmisierter Melodie - also horizontal und vertikal variiert! - bilden die vier N o t e n A - E s - C - H Motivbestandteile aller enthaltenen Stücke: in »Arlequin« i n der Reihenfolge A - E s - C - H , ebenfalls in »Valse noble«; natürlich setzt »Florestan« »passionato« mit A - E s - C - H ein, »Papillons« flattern prestissimo mit A-Es-C-Ces (= H , enharmonisch!), die »Lettres dansantes« tragen schon den Titel A.S.C.H und S.C.H.A. (die komponierbaren Buchstaben seines Namens). N i c h t nur der unglückliche Liebesroman und seine Persönlichkeitsprobleme werden i m Carnaval abgehandelt, auch sein Lebensprogramm mit dem »Davidsbund« erscheint: alle ihm wichtigen Personen, u. a. auch Chopin und Beethoven sind i n diesem fiktiven Bund gegen die »Philister« (die Spießbürger) vereint. I m Finale »Marsch der Davidsbündler gegen die Philister« huldigt er Beethoven mit einem Zitat aus dessen 5. Klavierkonzert. U m das Programm nochmals zu betonen - und zugleich zu verrätsein - , läßt er vor den »Papillons« drei »Sphynxes« ertönen, sogenannte Pfundnoten: S - C - H - A , A s - C - H und A-S-C-H. Hier kann diese geniale und virtuose Folge nur kurz vorgestellt werden: Komposition von Chiffren als Programm eines totalen Lebens-»carneval«. Thomas Mann erwähnt reine Klavier-Kompositionen Schumanns nicht. Da der Carnaval jedoch zu den berühmtesten Klavierwerken überhaupt zählt, zum Standard für Konzert und Schallplatte, ist anzunehmen, daß er ihn kannte. Schade, daß er nie die N o t e n dazu in der Hand hatte. Adrian jedenfalls hätte seinen »ernsten« Spaß nicht nur an den Buchstaben gehabt: ein Stück ist mit »Papillons« betitelt. Bereits Schumanns op. 2 Papillons (1830) hätte allein vom Titel her sein Interesse erregen können, wegen des Schmetterling-Motivs, »ein Leitmotiv mit konkret musikalischer Konnotation« 5 3 . N i c h t nur musikalisch: bereits in Faust II w i r d Euphorion mit i h m verglichen, 54 der Vorläufer Echos. (Schumann bezieht seine Papillons auf Jean Pauls Flegeljahre 55.) 53

Volker Scherliess, »Adrian Leverkühn - Fiktion und Realität«, in: Die musikalische Welt des Adrian Leverkühn. Ein Projekt zum »Faustus«-Roman« (Konzerthaus Berlin 1996/97), 12; ders., »Zur Musik im Doktor Faustus«, in: »... und was werden die Deutschen sagen??« (s. Anm. 1), 115 f. Vgl. auch Doris Runge, »Haetera esmeralda und die kleine Seejungfrau«, in: Festschrift Heftrich (s. Anm. 7), 391 -403. 54 Heinz Gockel, »Faust im Faustus«, Thomas Mann Jahrbuch, 1 (1988), 140. 55 Meier, Robert Schumann, 34 und Stefan Mickisch, Jean Paul als Geburtshelfer der Klaviermusik von Robert Schumann, Gesprächskonzert 26. 11. 2000 Stadthalle Bayreuth, 2001 (CD).

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I I I . Die Warnung Adrian erfährt direkt nach der Erstberührung der Haetera Esmeralda eine deutliche Warnung durch ein Werk Robert Schumanns, die Rheinische Symphonie. I m Brief Adrians an Serenus über die »Büffelposse« (die so bedrohlich erlebt wurde, daß gleich ein »betet für mich!« stehen muß) folgt unmittelbar: »Nur ein Gewandhaus-Konzert bis dato gehört mit Schumanns Dritter als pièce de résistence« (191). Da zu diesem Zeitpunkt ja noch nichts Entscheidendes passiert ist, könnte Adrian noch »résistence« leisten. Die Warnung ist nur spärlich maskiert: Nietzsche hatte bekanntlich sein Bordell-Erlebnis in K ö l n 5 6 . Die »signalisierende Zuordnung der Bordell-Anekdote« 5 7 zur Rheinischen Symphonie lassen Schumann als Mahner und Warner auftreten - aber eben auch als Vorbild und genialen Musiker: zu diesem Zeitpunkt hat Adrian theoretisch noch die Qual der Wahl. (Ein anderes geniales Musikwerk, Richard Strauss' Salome signalisiert wenig später die Entscheidung für die Krankheit. 5 8 ) Auch zitiert Adrian über Schumanns Dritte aus einer K r i t i k , die dieser Musik »umfassende Weltanschauung« zuschreibt, was seiner Meinung nach »die Standeserhöhung bezeichnet, die Musik und Musiker der Romantik verdanken. Sie hat die Musik [ . . . ] emanzipiert und sie mit der großen Welt des Geistes [ . . . ] in Kontakt gebracht [ . . . ] « (191). U m diese große Welt betreten zu können, w i r d Adrian die Inspiration u m jeden Preis herbeizwingen wollen.

IV. »Lebensbesitz« Eine frühere, wie beiläufig erscheinende, jedoch relativ lang ausgearbeitete Warnung erfolgt durch Schumann-Lieder, die Adrian schon als Schüler kennenlernt (106). »Die Verbindung von Wort und Ton i m Liede« hatte auch den jungen Thomas Mann begeistert, als seine Mutter i h m romantische Kunstlieder unter eigener Klavierbegleitung vorsang; ihr verdankte er »eine nie verlorene Vertrautheit mit diesem vielleicht herrlichsten Gebiet deutscher Kunstpflege«: die »unvergleichlichen musikalischen Ausdeutungen Eichendorffscher [ . . . ] Gedichte durch Robert Schumann, ein Seelenwunder und Kleinod wie >Es war, als 56

Friedrich Nietzsche. Chronik in Bildern und Texten (München/Wien 2000), 122. Vgl. auch Gockel, »Faust im Faustus«, 137 (hier wird der Stellenwert der Rheinischen Symphonie mit der schon lange nicht mehr gebräuchlichen Bezeichnung »Gretchen im Dom« für den 4. Satz begründet - doch spräche auch dies nicht gegen die warnende Funktion der Symphonie). 57 Heftrich, Vom Verfall zur Apokalypse, 314, Anm. 62. 58 Vaget, »Salome und Palestrina«, 70 ff. und passim.

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hätt' der Himmel< [ . . . ] - all dies wäre mir nie so ganz und tief zum Lebensbesitz geworden ohne meine Mutter.« 5 9 »Ein Werk muß lange Wurzeln haben in meinem Leben, geheime Verbindungen müssen laufen von ihm zu frühesten Kindheitsträumen [ . . . ] « 6 0 Der »Lebensbesitz«, hier besonders das Eichendorff-Gedicht »Zwielicht«, von Schumann i m Liederkreis op. 39 Nr. 10 vertont, führt direkt in zentrale Themen des Romans: die Ambivalenz der Töne und der Identität, sowie zum tödlichen Verrat Rudis. Thomas Mann hörte die ihm vertrauten Lieder immer wieder; so notierte er am 26. X . 1919: 61 [ . . . ] mit K. in das Konzert, das er [Pfitzner] mit Erb 62 und Ivogün in den Jahreszeiten gab [ . . . ] Genußreicher Abend: Lieder von Pf. und Schumann. Pièce de Résistence: Cyklus von Eichendorff Schumann-Liedern [ . . . ] . Merkwürdigster Eindruck durch Eichendorff! Das Gedicht, worin es heißt, >Hast du einen Freund gefunden, trau ihm nicht zu dieser Stunde .. .< - Kunst der romantisch-dämonischen Gefühlsverworrenheit. Schon 1919 rührte der Gedanke, einem Freund zu mißtrauen, sein Innerstes an. Der bei Schumann mit so eindrucksvoller Warnung vor-gedachte FreundesVerrat w i r d nicht nur die Freundschaft, und das Leben Rudis, sondern auch die »Sache mit dem reinen süßen jungen Mädchen« der beiden alten Pläne beenden - i n anderer Weise. Der 3-Zeilen-Plan von 1904: »Der syphilitische Künstler nähert sich von Sehnsucht getrieben einem reinen süßen jungen Mädchen, betreibt die Verlobung mit der Ahnungslosen und erschießt sich dicht vor der Hochzeit« 6 3 läßt eine N o t i z Nietzsches (im Hintergrund immer präsent!) von 1867 assoziieren: »Der unglückliche Selbstmord Kretzschmers in Schulpforte. [ . . . ] Etwas Räthselhaftes liegt darin, daß der vortreffliche gewissenhafte Mensch sich [ . . . ] vorher noch verlobt hat und auf diese Weise noch ein junges Mädchen unglücklich macht.« 6 4 59

Thomas Mann, (»Das Bild der Mutter«), GW XI, 422 (1930). zit. nach Hans Wysling, »Thomas Manns Verhältnis zu den Quellen«, in: Paul Scherer/Hans Wysling, Quellenkritische Studien zum Werk Thomas Manns, Thomas-MannStudien I (Bern/München 1967), 283. 61 Thomas Mann, Tagebücher 1918-1921. hg. Peter de Mendelssohn (Frankfurt/M. 1979), 310. 62 Karl Erb, Tenor (1877-1958), Lieder- und Oratoriensänger. Thomas Mann setzte ihm im Faustus ein kleines Denkmal: ein Tenor »eunuchalen Typs namens Erbe« sang 1926 den Johannes in Leverkühns »Apocalipsis« (500). 63 Thomas Mann Notizbücher; hg. Hans Wysling und Yvonne Schmidlin (Frankfurt/M. 1991-92), Bd. II, 107. 60

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Das M o t i v des Lehrer-Selbstmords hatte Thomas Mann schon mit Raoul Überbeins Tod in Königliche Hoheit eingebaut. Es legt nicht nur eine Spur zur Namensgebung von Adrians Lehrer 6 5 . Es führt auch auf verschlungenem Pfad durch 40 Jahre Werkplanung von Faustus zurück zu diesem frühen Werk und seinen privaten Wurzeln. U n d der Pfad berührt - natürlich das Schumannsche Lied »Zwielicht«: Die Verbindung mit der Musik spielt eine große Rolle. Vielleicht würde ich das Eichendorff-Gedicht, worin es heißt: Hast ein Reh du lieb vor andern, Laß es nicht alleine grasen, das mit der Mahnung schließt: Hüte dich, sei wach und munter! (was unter den gegebenen Umständen viel verlangt ist) - vielleicht würde ich es nicht so lieben, wenn Schumann es nicht so unglaublich genial vertont hätte. - so Thomas Mann 1948. 66 Bei »Reh« horcht der Leser auf. I m gedanklichen Zusammenhang »radikale Autobiographie« (Heftrich 1982) erscheint eine tief zurückreichende Wurzel: am 14. 7. 1904 schreibt Thomas Mann an Kurt Martens über seine Werbung u m Katia: »Alles ganz leicht, natürlich und selbstverständlich, aber kommt es zur Sache, so sieht sie mich an wie ein gehetztes Reh und ist außer Stande [ , . . ] . « 6 7 Übersetzt man also Eichendorff - und hiermit auch Schumann - in Thomas Manns ureigenste Lebensmotive, so erscheint Katia, die er »lieb vor andern« hatte. Katia ist durch ihre Augen bekanntlich Vorläuferin für Imma Spoelmann, Rahel und Marie Godeau, die »die schönsten schwarzen Augen von der Welt hatte, [ . . . ] schwarz wie Jett, wie Teer, wie reife Brombeeren« (555) - eine Frauen-Reihe, die für Leben, Liebe und innige Verbundenheit steht. Serenus freut sich zu Recht, aber zu früh, »daß sein Vorhaben die Lösung 64

Nietzsche (s. Anm. 56), 173, über Julius Kretzschmer, Lehrer in Schulpforta. Kretzschmar konnte gar nicht anders heißen; die Kombination von Namensvorbildern war zu verlockend: der Nietzsche-Lehrer, und der Musikwissenschaftler Hermann Kretzschmar. Zu letzterem: Carl Dahlhaus, Musikalischer Realismus. Zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts (München 1982), 51-53. Durch Adorno dürfte Thomas Mann auch Kretzschmars Führer durch den Konzertsaal, Leipzig 1891, kennengelernt haben. Adorno selbst, der ja zu den Vorbildern für Wendeil Kretzschmar zählt, sprach vor Publikum derart prononciert, geradezu abgehackt, daß in der Fantasie von Thomas Mann der Schritt von dieser Sprechweise zum Stottern vorstellbar ist (am 31. 08. 2001 waren alte AdornoAufnahmen in »Kulturzeit« in 3sat zu sehen und zu hören). 66 Thomas Mann, »Das Lieblingsgedicht«, GWX, 922. 67 Thomas Mann Briefe 1889-1955 und Nachlese, hg. Erika Mann, 3 Bde. (Frankfurt/M. 1961-65), Band 1, 50. 65

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aus der elbischen Bindung an Schwerdtfeger bedeutete« (560), wie die Eheschließung Thomas Mann endgültig aus der Ehrenberg-Bindung befreite. Daß Thomas Mann die letzte Liedzeile mit dem Kommentar bedachte »was unter den gegeben Umständen viel verlangt ist«, scheint nahezulegen, daß ihm selbst der verschlungene Pfad zur »Wurzel« gefühlsmäßig bewußt war. I n bezug auf Adrian aber wußte er - der Kommentar wurde 1948 verfaßt - ja schon, daß es zuviel verlangt war. I n der frühen Phase - Adrian und Serenus sind noch Schüler, als die Lieder eingeführt werden - w i r d »das alle romantischen Gefahren und Bedrohungen der Seele beschwörende Stück«, zwar unter anderen Liedern beschrieben, aber der Schluß mit der »unheimlich moralischen Warnung« (106), taucht die ganze Schilderung in ein Licht, das den guten Serenus hätte schaudern lassen müssen. Es folgen nämlich Brahms mit »O Tod, wie bitter bist du«, und Schuberts »EinsamkeitsVerhängnis« der Winterreise, w o m i t in kurzem Absatz Adrians Zukunft gewissermaßen i m Liede umrissen ist: Einsamkeit, Kälte und bitterer Tod. Serenus bemerkt, zu seiner »unvergessenen Bestürzung, Tränen in seine Augen treten« zu sehen (107). - Ebenso scheint das »Hüte dich, sei wach und munter!« das »Seid nüchtern und wachet!« des letzten Bekenntnisses (662) und dessen Zusammenhänge 68 vorwegzunehmen. Schumanns private Situation war 1840, als er den Liederkreis komponierte, sehr gespannt. Seine Eheschließung mit Clara konnte erst per Gerichtsbeschluß am 12. September 1840 erfolgen. Ausgerechnet in Thomas Manns Lieblingsliedern »Mondnacht« und »Zwielicht« brachte Schumann wiederholt die Formel E - H - E als musikalisches M o t i v an: »Ehe« so schrieb er an Clara, sei »ein sehr musikalisches Wort«. 6 9 Vom Titel, aber auch von der musikalischen Gestaltung her, gehört das Lied »Zwielicht« in den Zusammenhang »Zweideutigkeit als System« (66): »Das Vorspiel ist nicht nur tonal unbestimmt, sondern auch rhythmisch verunklart (das Zwielichtige w i r d durch die tonale und rhythmische Verschleierung musikalisch zum Ausdruck gebracht).« 70 Die unheimliche Stimmung des Liedes empfand ja Thomas Mann auch, wie i m Tagebuch und i m Roman nachzulesen. Die schwankende Identität gehört zu den wesentlichen Themen i m Roman. Die Literatur dazu und zur »Zweideutigkeit als System« ist Legion, 7 1 und kann 68

Vgl. Heftrich, Vom Verfall zur Apokalypse, 274. Reinhold Brinkmann, Schumann und Eichendorff Musik-Konzepte 95 (München 1997), 43 und 59. 70 August Gerstmeier, Die Lieder Schumanns (Tutzing 1982), 74. Vgl. auch Brinkmann, Schumann und Eichendorff 51 f. 71 Heftrich, Vom Verfall zur Apokalypse, 195 ff.; Manfred Dierks, «Doktor Faustus unter dem Aspekt der neuen Narzißmustheorien«, Thomas Mann Jahrbuch, 2 (1989), 23; Puschmann, Magisches Quadrat und Melancholie, 133 ff. 69

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hier nicht diskutiert werden. D o c h ist, da Thomas Mann Zweideutigkeit als »ureigenste und dauerndste Erfahrung« erlebte, 72 sein Empfinden für das Lied »Zwielicht« unmittelbar einleuchtend. Das Unheilvolle kommt ebenfalls i n dem andern geliebten Lied »Mondnacht« i n Text und Musik vor, wie der »Wirkl. Geh. Rat« T.W. Adorno auch i n Proben mit Gesangschülern zu vermitteln suchte 73 - i m Hause Mann w i r d er darüber nicht geschwiegen haben.

V. Violinkonzert Rudi Schwerdtfegers Schicksal wendet sich ins Unvermeidliche durch das Violinkonzert, das »platonische Kind« (467), u m das der naive Geiger Adrian bittet »zu meiner Hebung, meiner Vervollkommnung, meiner Besserung, auch zu meiner Reinigung, gewissermaßen, von den anderen Geschichten« (467). I m M a i 1853 lernten Robert und Clara Schumann den jungen Geiger Joseph Joachim (1831-1907) kennen. Er hatte beim 31. Niederrheinischen Musikfest i n Düsseldorf, das Schumann mitgestaltet hatte, mit Beethovens Violinkonzert einen grandiosen Erfolg errungen, und war auch privat mit Schumanns bekannt geworden. Schumann äußerte sich - was bei seiner sonstigen Verschlossenheit auffällt - überschwenglich: »Joachim alles bezaubernd«; »früh und abends mit Joachim musiziert. Schöne Stunden« 74 . Die Freundschaft wurde so intensiv, daß Schumann i n kurzer Zeit - v o m 11. September bis 8. Oktober 1853 - das Violinkonzert schrieb und Joachim widmete. Es war sein letztes Werk. Nach seinem Tode unterdrückte Clara das Konzert, auf Anraten von Johannes Brahms und Joseph Joachim, dem Clara das Manuskript geschenkt hatte. 7 5 Joachim begründete sein Veto gegen die Veröffentlichung mit Floskeln: »gewisse Ermattung«, »wirkungslose Arbeit«, »Wiederholungen«, so daß man versucht ist, Joachim als nicht unparteiisch anzusehen: 76 vielleicht erinnerte er sich ungern an die letzten Jahre Schumanns. Er besuchte den Kranken zwar i n der Heilanstalt, aber möglicherweise war i h m die Erinnerung an den engen Kontakt mit Schumann, kurz vor dessen Zusammenbruch, nicht angenehm. Es 72

Heftrich, Vom Verfall zur Apokalypse, 203. Carla Henius, »Erfahrungen mit Schumanns Liederkreis - und mit Adorno«, in: Musik-Konzepte Sonderband Robert Schumann //, Dezember 1982,170-176. 74 Udo Rauchfleisch, Robert Schumann. Leben und Werk. Eine Psychobiographie (Stuttgart/Berlin/Köln 1990), 154. 75 Rauchfleisch, Robert Schumann, 206-207. 76 Michael Struck, Schumann. Violinkonzert d-moll, Meisterwerke der Musik (München 1988), 72 f. 73

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gibt m.E. keinen greifbaren Beleg, aber in H i n b l i c k auf Adrian und Rudi mutet es mehr als seltsam an, daß Schumanns Beziehung zu Joachim eine »homoerotische Komponente« 7 7 unterlegt wurde. Das vom Stigma geistiger Umnachtung verschattete und lange ungekannte Violinkonzert w i r d Thomas Manns Fantasie i m Faustus-Zusammenhang geradezu magisch angezogen haben. Die Uraufführung des Konzerts fand am 26. 11. 1937 i m Deutschen Opernhaus Berlin mit Georg Kulenkampff als Solist und den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Karl Böhm statt. Die Rezension dieser Uraufführung in der Deutschen Allgemeinen Zeitschrift vom 29. 11. 1937 78 ist mit Sicherheit der Zeitungsartikel, den Thomas Mann als »Mahnung an die Faust-Novelle« am 9. 12. 1937 i m Tagebuch verzeichnete (s. o.). Zwei Schallplattenaufnahmen erschienen 1937: i n Deutschland mit dem Solisten der Uraufführung, i n Amerika mit Yehudi Menuhin. 7 9 Wahrend Thomas Mann am Faustus arbeitete, scheint die »Mahnung« durch Schumanns Violinkonzert weiter gewirkt zu haben, und er wollte das umstrittene Werk kennenlernen. Sicher durch eine Andeutung von ihm schenkte i h m seine Tochter Elisabeth Mann-Borgese zu Weihnachten 1946 Schumanns Violinkonzert - er quittierte den Empfang an seine Tochter: »nicht weit von Tränen war ich [ . . . ] , als heute Dein liebes wohlgedachtes Geschenk, das Schumann-Album eintraf - und denke Dir, jede einzelne Platte ist zerbrochen!«. 80 Schnellstens besorgte die Lieblingstochter Ersatz, dessen Eintreffen am 31. 1. 1947 notiert wurde. 8 1 Zwar ist der Roman zu diesem Zeitpunkt bereits vollendet. Doch wurde die erste Fassung des zu diesem Zeitpunkt noch als einsätziges Werk konzipierten Konzerts zweimal umgearbeitet. A m 3. 2. 1947 wurde die erste Umarbeitung i m Tagebuch vermerkt 8 2 - nach Empfang der Schallplatten am 31. 1. 1947 schien Thomas Mann das Werk als dreisätziges doch stimmiger. A m 5. 2. 1947 wurde die dann endgültige Version verfaßt: er übergab seiner Sekretärin, »der Kahn«, das Manuskript bis auf das »Violinkonzert, das ich nach ihrem Weggang noch einmal umzuschreiben begann. Hörten abends Teile des nachgelassenen Violinkonzerts von Schumann (Geschenk Medis) - . « 8 3 77

Rauchfleisch, Robert Schumann, 156. Auszugsweise in: Rauchfleisch, Robert Schumann, 210. 79 Struck, Schumann. Violinkonzert d-moll, 22. 80 Thomas Mann Tagebücher 1946-1948, hg. Inge Jens (Frankfurt/M. 1989), 73 (»Freitag, den 13. XII. 1946«) und 495: Brief an Elisabeth Mann-Borgese am 14. 12.1946. 81 Thomas Mann Tagebücher 1946-1948, 93. 82 Thomas Mann Tagebücher 1946-1948, 94. 83 Thomas Mann Tagebücher 1946-1948, 95. 78

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I m Roman gibt es zwei das Konzert charakterisierende Stellen: einmal Rudis Vorschlag, und später die Beschreibung des ausgeführten Konzerts. I n Rudis vehementer Bitte sind einige Formulierungen enthalten, die auf Schumanns Konzert zutreffen. Schumanns Konzert - so konnte Thomas Mann selber hören, und sicherlich auch auf dem Plattencover lesen - »stellt sich entschieden gegen die Tradition des Virtuosenkonzerts« 84 (»Sie können alle Konventionen umstoßen«, 467). »Es gibt keine [ . . . ] Solokadenzen« 85 (»Sie brauchen überhaupt keine Kadenz zu machen«, 466). U n d das »sangbare(n) erste(n) Thema« (466) ist als »liedhaftes Thema« in Schumanns zweitem Satz 8 6 zu finden. Das ausgeführte Konzert hingegen (543) scheint Rudis Vorstellungen wenig umzusetzen. Schumanns Konzert ist »entsetzlich schwer« (so Joseph Joachim 8 7 ), auch Adrians Konzert stellt entsprechend »Zumutungen an die Technik des Spielers« (544) - die Schwierigkeiten der Ausführung scheinen aber die einzige Parallele von Schumanns und Adrians Konzert zu sein. I n der Beschreibung des ersten Satzes, den Thomas Mann »Andante amoroso«(!) betitelt, tritt ein »Leit(!)akkord« auf, der für Serenus< »Ohr etwas Französisches« hat (543). Vom Musikalischen abgesehen, scheint mir hier eher ein kleiner Hinweis auf »salva venia, die lieben Franzosen« (305) zu stecken, durch den auch dieses Konzert in den diabolischen Zusammenhang gebracht wird. D e m Schluß des Konzerts w i r d mit der »Reminiszenz« an »Beethovens a-Moll-Quartett« (544) also op. 132 mit dem »Dankgesang eines Genesenen« (auch: 212) - eine Zitatformel eingefügt, die wie in der op. 111 - Besprechung (75-77) und ihrer bedeutungsträchtigen Entsprechung in »Dr. Fausti Weheklag« (651) 8 8 den vermenschlichenden Trost spendet. Der Rückbezug auf Beethoven und besonders auf op. 111 w i r d durch eine Formulierung i n der Konzertbeschreibung markiert: »Sichübersteigen« (543). Das entspricht der »Verstiegenheit« (76) zum Ende des Arietta-Satzes. (Dieser folgt die »wehmütig versöhnlichste Handlung von der Welt«, die in der Erweiterung des Themas durch den c-Anlaut und das berühmte eis die »Vermenschlichung« symbolisiert.) Die wiederholte Erinnerung an Beethoven verbindet die Werke Leverkühns und Schumanns: das Beethoven-Zitat i m »Marsch der Davidsbündler gegen die Philister« ist nicht nur als einfache Huldigung zu verstehen - das »plus ultra« (72) Beethovenscher Musik war Schumann so präsent wie Thomas Mann. 84 85 86 87 88

Meier, Robert Schumann, 128. Meier, Robert Schumann, 128. Meier, Robert Schumann, 129. Meier, Robert Schumann, 130. Heftrich, Vom Verfall zur Apokalypse, 246-248.

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O b als technische Vorlage Alban Bergs Violinkonzert diente, 8 9 mag naheliegen, wegen Adrians Positionierung in der Musik des 20. Jahrhunderts - endgültig festzulegen ist dies m. E. nicht. Daß man das Konzert so schwer fassen kann, liegt w o h l auch an der »Unmöglichkeit, Musik zu beschreiben, daran, daß es >töricht< und >unmöglich< ist - wie Richard Wagner urteilt - , >das aussprechen zu wollen, was deswegen Musik geworden war, weil es sich nicht aussprechen läßtjüdisches< Buch werden, eine erste, behutsame Annäherung an eine Leere, die er stets empfunden, jedoch lange nicht zu benennen wusste. Es brauchte zuerst drei andere Bücher 2 9 , Bücher, die dieses vage Gefühl der Leere zögerlich einkreisten und zu ihrem Mittelpunkt machten: »Au centre de mes trois premiers livres, i l y avait comme un blanc, un vide que l'écriture même tentait de combler«. 3 0 Nach seinen ersten schriftstellerischen >Lehrjahren< erkannte Raczymow, dass dieses Nichts begann, Konturen anzunehmen: [ . . . ] je découvris un jour que ce rien que j'avais à dire, à écrire, à explorer, à élaborer en phrases, en séquences, en livres, que j'avais à dire comme un rien positif, c'était ma propre judéité. Ma judéité n'était pas rien, elle était le rien. 31 Die Erkenntnis, dass die Frage nach der eigenen jüdischen Identität unweigerlich auf einen Abgrund zuführt, in dem das Ich weder Halt noch Antworten findet, weckte i n Raczymow das Bedürfnis, mit Hilfe der eigenen Imaginationskraft die Reise zu seinen Wurzeln anzutreten, u m zu erkunden, was er nie gekannt hat und was restlos in Asche aufgelöst wurde: Das jüdische Polen seiner Großeltern, die Wiege seiner kulturellen Identität. Die so entstandenen Contes d'exil et d'oubli bilden ein kaleidoskopisches Nebeneinander von Erzählungen und Anekdoten, Eindrücken und Bildern, die ständig unterbrochen, wiederaufgenommen, vervollständigt werden und i n deren Zentrum Matthieu Schriftlich, das alter ego Raczymows, sich verzweifelt bemüht, die verwischten, kaum sichtbaren Spuren seiner Vorfahren aufzunehmen, zu verfolgen, u m Besitz von einer Welt zu ergreifen, die unwiderruflich ausgelöscht ist. Matthieu beginnt seine imaginäre Reise in die Vergangenheit mit nostalgischen Anekdoten aus dem Leben seiner Großeltern in einem fernen D o r f 28

Alain Robbe-Grillet, »Discussions«, in: Alfred Hornung u. a.(Hgg.): Autobiographie et Avantgarde (Tübingen 1992), 117-129, hier 120 f. 29 Henri Raczymow, La Saisie ; Scènes; Bluette. Vgl. insbesondere zu La Saisie Interview, 313. 30 Pascal Ronafoux, »Henri Raczymow. L'apprenti romancier«, Canal, 5 (1984), 26. 31 Raczymow, »La mémoire trouée«, 177.

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namens Konsk. Es ist die von Raczymow beschriebene »mythologie d'un paradis perdu, d'un avant idyllique«, 3 2 die hier evoziert wird, eine Mythologie, welche die »nostalgie sans objets« 3 3 , eine inhaltslose Nostalgie, immer wieder durchläuft und ergänzt: Nous sommes alors dans la pure mythologie, et il s'agit bien [ . . . ] d'une nostalgie mythique, la nostalgie de ce qu'on a pas connu, de ce qui n'existe plus, de ce qui n'existera plus jamais. Nostalgie sans objets, comme je parlais d'une mémoire sans objets. Nostalgie d'un monde disparu, parce que justement ce monde a disparu. Ce monde est tout entier en cendres.34 U n d so bleibt die mythische Idylle nicht von langer Dauer. Bereits die folgenden Untertitel kontrastieren mit der vorhergehenden Nostalgie: »Le lac imaginaire de Kamenetz«, »L'aïeule assassinée«, »Cauchemar«, »Le nom des morts« und »Pitchipoi« evozieren unheilvoll die Katastrophe, kündigen einen immer weiteren Abstieg i n die Tiefen eines lückenhaften Gedächtnisses an. Doch Matthieu ist nun nicht mehr alleine. I n Simon, einem aus Konsk stammenden alten Mann, hat er einen Reisegefährten gefunden, der nun hinter dem Schleier seiner gealterten Erinnerungen gemeinsam mit Matthieu nach verschwommenen Gesichtern, Namen und Gerüchen sucht. Aber Simons morsches Gedächtnis ist bereits voller Löcher und so entsteht in seiner Erinnerung ein verworrenes Sammelsurium an wirklichen und fiktiven Bildern, verwischen die Grenzen zwischen Realität und Imagination. Für Matthieu Schriftlich ist das jedoch ohne Bedeutung, solange Simon nur erzählt, solange der Fluss der evozierten Bilder nur nicht abbricht, und so drängt er den Alten unaufhörlich zum Weitersprechen, treibt ihn mit einer verzweifelten Dringlichkeit immer wieder in die Welt der Vergangenheit zurück: »Racontez Simon. Inventez au besoin«, »Parle donc, Simon kochany, parle, que vois-tu encore?« 35 U n d so lässt Simon sich entlang des Stroms seiner vagen Erinnerungen treiben, verliert sich in den Gabelungen vertrauter Gesichter und Stimmen, Stimmen, die sich multiplizieren, deren Echo beginnt von allen Seiten widerzuhallen, die sich gegenseitig unterbrechen und ergänzen, bis sich Simons erinnernde Stimme in einer Vielzahl fiktiver Stimmen auflöst. Dieses feingewebte Netz aus ständig wechselnden Stimmen und Geschichten ist charakteristisch für die Gattung des Märchens, man denke hier beispielsweise an die kunstvolle Verflechtung der Erzählerstimmen orientalischer Märchen 32

Raczymow, »La mémoire trouée«, 179. Raczymow, »La mémoire trouée«, 179. 34 Raczymow, »La mémoire trouée«, 179. 35 Raczymow, Conte d'exil et d'oubli , 96 f. Alle weiteren Zitate dieses Abschnittes beziehen sich auf diese Ausgabe und werden direkt im Text vermerkt. 33

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wie Tausend und eine Nacht. D o c h auch i n den ostjüdischen Märchen des Jizchak Leib Peretz 3 6 , welche Raczymow zu seinen eigenen Contes d'exil et d'oubli inspirierten, findet sich diese narrative Struktur des mise en abîme wieder (vgl. Interview, 312). Durch diesen unmittelbaren Einfluss jiddischer Literatur auf Raczymows eigenen Schreibprozess w i r d hier eine Verbundenheit mit ostjüdischer Erzähl tradition deutlich, die Raczymow jedoch entscheidend variiert: Er verleiht seinem subtilen Spiel der Verschachtelung eine eigentümliche, unheilvolle Dimension, sind es doch die Stimmen der Toten, die hier unaufhörlich erklingen. Matthieu kommt i n der assoziativen Erinnerungssuche Simons jedoch nicht die Rolle des passiven Zuhörers zu, sondern er lässt sich unmittelbar in den Strom der halluzinatorischen Erinnerungen des alten Mannes hineinziehen. D o c h i m Gegensatz zu Simon, dessen Erinnerungen zwar löchrig, aber i n ihrer halluzinatorischen Vielfalt dennoch unerschöpflich scheinen, ist Matthieus Gedächtnis leer, ohne Inhalt, besitzt er lediglich eine »mémoire sans objets«. So kann er sich einzig von den Worten Simons leiten lassen, der ihm den Weg in die Vergangenheit weist, einen Weg, den es auf keiner Karte mehr gibt: »Simon [ . . . ] le conduit, le prend par la main, par ses yeux bandés, lui, aveugle sur les routes absentes, enlisées, englouties [ . . . ] « (86). Schemenhafte Bilder, abgerissene Satzfragmente, flüchtig erahnte Gerüche sind Matthieus einzige Wegweiser: Sensorische Halluzinationen, die immer wieder die Leere, die Abwesenheit der Erinnerungen bruchstückhaft umreißen. Hinter jeder Zeile dieser fragmentarischen Schrift Raczymows spürt der Leser dieses schwarze, bodenlose Loch, welches der A u t o r selbst mit dem für ihn zentralen Begriff der »mémoire absente« beschreibt: Elle [la mémoire absente] est chez moi. le moteur de l'écriture. Et mes livres ne cherchent pas à combler cette mémoire absente - je n'écris pas, banalement, pour lutter contre l'oubli - mais à la présenter, justement, comme absente. Je tente de restituer une non-mémoire, par définition irratrapable, incomblable.37 Es geht hier also nicht darum, die empfundene Leere mit Bildern, mit Worten zu füllen, eine ausgelöschte Welt in verklärender Nostalgie wieder aufleben zu lassen. Wo dies vordergründig geschieht, w i r d die erträumte Idylle sogleich zunichte gemacht, durch abrupte Satzbrüche zerstört: »Matthieu ouvre les yeux sur [ . . . ] le chantre Rabbi Schlomo Grünenflamm recouvert du châle à franges et chantant de sa voix de baryton Le Mystère du Shabbath. Mais nul ne l'entend. Voix inaudible. Brisure« (74). Syntaktische Fügungsbrüche, fragmentarische Sätze und Bilder, welche i n den ersten Kapiteln sich zunächst wie feine, den Text durchlaufende Risse andeuten, treten nun massiv auf, zerreißen die 36 37

Jizchak Leib Peretz, 1851 -1915. Raczymow, »La mémoire trouée«, 181.

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imaginierten Erinnerungen Matthieus i n mutilierte Illusionen. Die klaffende Leere des Gedächtnisses w i r d auf diese elliptische Weise bildhaft gemacht, gelingt es Raczymow, die Leere als >leer< darzustellen. Dieser zentrale Aspekt der Leere i m Schreiben Raczymows wurzelt i n der materiellen Unmöglichkeit, i n das Polen seiner Großeltern zurückkehren zu können, u m sich auf die Spuren seiner Vorfahren zu begeben (vgl. Interview, 312). U n d so bleiben die imaginierten Sinneseindrücke Matthieus schemenhaft, nichts weiter als Staub, »poussière rescapée d'un magnifique brasier« (62), der sich mit der polnischen Erde vermischt. »La realité est semblable à l'eau du lac de Kamenetz« (84), sagt Simon, und so w i r d der ausgetrocknete See von Kamenetz zur Metapher des schwarzen Lochs, welches durch die Auslöschung der ostjüdischen Welt entstand und das sich auch i n die Identitätsbildung der folgenden Generation einbrennen sollte. A u f seiner uferlosen Suche klammert sich Matthieu an die Laute vertraut klingender Namen, sucht Halt i n einer endlosen Litanei der »noms chéris« (60) der Ermordeten und ihrer ausgelöschten Welt: »Mendel Zimmermann, Eva Albertstein, Rywka Apflowicz, Szymon Rozenbaum [ . . . ] Podolie, Galicie, Volhynie, Lituanie, Bessarabie, Polésie« (60). I n dieser »poétique du nom j u i f « 3 8 beginnt sich ein Name herauszukristallisieren, umkreisen die obsessiven Gedanken Matthieus immer enger den Namen seiner ermordeten Großmutter: »Le nom de M a t l Oksenberg tourne dans le cerveau de Matthieu comme en une cage, le rend muet et hésitant« (59). Was i h m von dieser nie gekannten, nie berührten Großmutter bleibt, ist einzig ihr Name, ihn kann er sich endlos wiederholen, seinem fremden und zugleich so vertrauten Klang nachspüren. D o c h was verbirgt sich hinter diesem Namen, welche Stimme, welches Gesicht? Verzweifelt dreht und wendet Matthieu den Namen der Toten, versucht er, ihm Konturen eines Gesichts, eines Körpers zu entreißen. 39 D o c h auch wenn es Matthieu nicht gelingen kann, hinter die Namen der Toten zu blicken, u m die Leere seiner Erinnerungen mit ihren Gesichtern, mit ihren Gesten und Stimmen zu füllen, so versucht er doch, sie zu retten, indem er sie nennt, sichtbar macht, damit sie sich i n den Text einbrennen, damit sie wie eine »nébuleuse d'étoiles mortes« (74) am dunklen H i m m e l der leeren Erinnerung leuchten: »Matthieu parviendra alors à insuffler la vie, à allumer la flamme d'une chandelle dans la nuit polonaise, nuit englouti dans la nuit« (56). Der Nachname

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Chatti, »Le palimpseste ou une poétique de l'absence-présence«, (s. Anm. 6). »Le long du lac de Kamenetz, le voici tirant le corps d'une aïeule, d'une mémoire, d'une fabulation. Ses doigts sentent bientôt la naissance des seins maternels de Matl sous ses aisselles. Il observe les tressaillements blancs que produit sa peau. Puis la lassitude le gagne. Il se laisse tomber en arrière, et à la renverse aussi partent les noms chéris, partent en rêve, en fumée crématoire« (60). 39

Trauma und autofiktionale Identitätssuche im Werk Henri Raczymows

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Matthieus w i r d hier zur Vokation: M i t seiner Schrift fixiert er die Namen derer schwarz auf weiß, denen die letzte Ruhe verwehrt blieb, die weder Grab noch Inschrift besitzen. A u f diese Weise schreibt Matthieu sich in die althergebrachte jüdische Tradition des Erzählens und Erinnerns, i n die Tradition der yizker bikher ein. Diese Erinnerungsbücher dienten bereits seit dem Mittelalter den immer wieder durch Progrome vertriebenen Juden, den kommenden Generationen über das Leben ihrer zerstörten Gemeinden zu berichten und ihnen so eine Quelle des kulturellen Gedächtnisses zu ermöglichen. Besonders nach der Shoah schrieben viele Uberlebende aschkenazischer Herkunft ihre Erinnerungen an die ausgelöschte Heimat nieder, u m die Bilder ihrer verlorenen Vergangenheit festzuhalten und für ihre Kinder zu bewahren. 40 I n diesem Sinne sieht es auch Matthieu als seine Aufgabe an, den yizker bikher gleich, die Erinnerungen an eine Welt, die sich ganz und gar i n Asche aufgelöst hat, für die zukünftigen Generationen zu retten. Doch Matthieu ist kein Überlebender, sondern i m Exil eines anderen Landes, einer anderen Zeit geboren und so werden seine verzweifelten Bemühungen, Bilder einer nie gekannten Welt aus dem dunklen Loch des Vergessens zu retten, zum Spiegel der eigenen leeren Erinnerungen. Die nach der Shoah geschriebenen yizker bikher erinnern jedoch nicht nur an das frühere Leben i n der fernen, nicht mehr existierenden Heimat, sie gedenken vor allem, durch die Niederschrift unzähliger Namen, der Ermordeten, deren geschundenen Körpern kein Grab gewährt wurde. Ihnen errichten ihre überlebenden Angehörigen mit den Erinnerungsbüchern ein Denkmal, einen Grabstein, wie es Raczymow formuliert: »Les »Livres du souvenir< que [les survivants] rédigent après la guerre pour évoquer ce que fut leur village tiennent lieu de sépultures pour ceux qui sont morts sans sépulture«. 41 Hier greift Raczymow, wie er es i n seinem Essay Le cygne de Proust beschreibt, die narrative Erinnerungsstruktur Marcel Prousts auf: »C'est Proust écrivain qui n'a de cesse d'enterrer ces morts afin, en les nommant dans son livre, de les sauver un peu«. 4 2 Es ist dieser Gedanke, der Raczymow bei Proust fasziniert und der auch den Contes d'exil et d'oubli zugrunde liegt: Solange die Namen der Toten ausgesprochen, niedergeschrieben werden, solange werden sie in unserer Erinnerung Spuren hinterlassen und weiterleben: »Sauver les noms, c'était le but de Contes d'exil et d'oubli et, au fond, c'est le but de tout ce que je fais, c'est cela qui est au centre« (Interview, 315). I n diesem Sinne können die Contes d'exil , 40

Vgl. hierzu Jonathan Boyarin, Jack Kugelmass, From a Ruined Garden: The Memorial Books of Polish Jewry (Bloomington 1998); Marianne Hirsch, »Past Lives: Postmemories in Exile«, 664. 41 Raczymow, »La mémoire trouée«, 179. 42 Raczymow, Le cygne de Proust , 38.

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Virginie Lecerf

i n Analogie zu Proust, auch als »livre-cimetière« 43 betrachtet werden: Einem Kaddisch gleich werden hier die Namen der Toten psalmodiert, w i r d den ruhelosen Seelen, deren Körper nichts als »ein Grab in den Lüften« 4 4 blieb, durch die Niederschrift ihrer Namen ein Grabstein gesetzt. Doch Raczymow hat sich nicht zuletzt auf diese imaginäre Reise i n die Vergangenheit begeben, u m seine eigenen Wurzeln zu erforschen, u m einen Ort, ein Fleckchen Erde zu finden, auf welches er sich stützen, auf welches er seine eigene Identität gründen kann, ist doch die Suche nach der Vergangenheit immer zugleich auch die Suche nach sich selbst. I n einem gemeinsamen Interview mit Régine Robin betonte Raczymow: »Je n'ai toujours eu au départ [de l'écriture] que le désir d'un lieu, d'une identité; c'est donc aussi un travail d'analyse au sens psychanalitique et traversé par sa propre histoire«. 4 5 Es ist dies die vielleicht persönlichste Dimension dieser so vielschichtigen Contes d'exil et d'oubli: Die Suche des Autors selbst nach seiner eigenen Identität. Anhand der imaginären Reise seines alter egos Matthieu ist es Raczymow selbst, der hier die Geschichten, die ihm seine emigrierten Großeltern über die verlassene Heimat erzählten, mit imaginierten Bildern montiert, ist es der A u t o r selbst, der versucht, einen Blick auf das Gesicht seiner deportierten Großmutter zu erhaschen. Hier vermischen sich Realität und Imagination, verwischen die Grenzen zwischen Autobiographie und Fiktion, w i r d Raczymow selbst zum Suchenden, der sich in diesem Netz aus fiktiver und realer Erinnerung zu verlieren droht. Die Ergebnisse der eigenen Analyse fließen hier laut eigener Aussage unmittelbar in den Schreibprozess mit ein und die Contes d'exil geraten so nicht nur zu einem Experiment psychoanalytischer Selbsterfahrung, sondern, ganz i m Sinne Doubrovskys, zu einem autofiktionalen Text.

I I I . Un cri sans voix : Der Exorzismus des Dibbuks Während i n den Contes d'exil et d'oubli die Zeit der Shoah wie eine Leere innerhalb des Textes klafft und so zum stummen Zentrum der eigenen Identitätssuche wird, gibt Raczymow mit Un cri sans voix dem inneren Drang, über die quälenden Schatten der nie erlebten Vergangenheit zu schreiben, nach. Der Roman beginnt mit einer Rückblende des Erzählers Mathieu Litvak. Er schildert, wie er sich i m Sommer 1982 an seine tote Schwester erinnert: 43

Raczymow, Le cygne de Proust, 62. Paul Celan, »Todesfuge«, in: Ausgewählte Gedichte ( Frankfurt a. M. 1968), 18. 45 Jean Liberman, »Dialogue entre Régine Robin et Henri Raczymow: >Le besoin nouveau de vivre une certaine judéité sans exclusion des autres dimensionsKrankheit< Esthers auf den Grund zu gehen. Für Mathieu liegt der Schlüssel zu Esthers Geheimnis in der Photographie, die noch heute, lange nach ihrem Tod, über ihrem Bett hängt. A u f diesem Photo sind Widerstandskämpferinnen des Warschauer Ghettos zu sehen, die vor einem Erschießungskommando aufgereiht sind. Besonders die junge Frau i m Vordergrund des Photos zieht das Auge des Betrachters auf sich: Die viel zu große Kappe tief ins Gesicht gezogen blickt sie seitlich auf den Boden, ihre Körperhaltung scheint erstarrt, der Atem angehalten. Ihre Gestalt dominiert das Bild, von ihr geht die Wirkung aus, die auch Roland Barthes i n seinen Überlegungen zur Photographie notiert: »La photo est littéralement une émanation du réfèrent. D ' u n corps réel, qui était là, sont parties des radiations qui viennent me toucher, moi qui suis ici«. 4 8 A u f diese Weise gerät Esther immer mehr in den Bann dieser intensiven Photographie, fühlt sich von dieser jungen Frau berührt, angezogen, bis die Momentaufnahme, die zugleich Leben und Tod der Widerstandskämpferin widerspiegelt, zum verzerrten Spiegelbild von Esthers eigenem Ich wird: Wie diese Frau hätte auch sie i m Warschauer Ghetto kämpfen wollen, hätte auch sie dort sterben sollen. 4 9 U m die zeitliche Kluft zwischen ihrer realen Gegenwart und der ersehnten Vergangenheit zu überwinden, eignet sich Esther Stück für Stück die Identität der Widerstandskämpferin an. So kauft sie sich, u m ihr äußerlich zu gleichen, genau die Kappe, welche auch die junge Frau auf dem Photo trägt, und betrachtet sich damit i m Spiegel. A u f diese Weise fusioniert, mit den Worten Roland Barthes, das sujet regardant mit dem sujet regardé 50, bis das eigene Spiegelbild 48 Roland Barthes, »La chambre claire«, in: Œuvres complètes , Tome III, 1974-1980 (Paris 1995), 1105-1192, hier 1166. Zur Wirkung und Bedeutung der Photographie im Kontext der Shoah vgl. insbesondere: Marianne Hirsch, Familiy Frames. Photography Narrative and Postmemory (Cambridge 1997); dies., »Past Lives: Postmemories in Exile«. 49

Es ist die eigene Faszination für diese Photographie und das Warschauer Ghetto, die Raczymow hier literarisiert. Vgl. Interview, 316. 50 Barthes, »La chambre claire«, 1115.

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Esthers die Frau auf dem Photo reflektiert. I n ihren Tagträumen agiert sie nun ihre zweite Identität, entwirft ein imaginäres >Ghetto-DrehbuchDying is an artpeuple juiflieu comunlieu commungesungen< haben wollte (vgl. 359), wie dies durch die französische Variante der Oper, die »tragédie lyriques zu Lebzeiten Racines möglich wurde, sondern daß er an der seit Ronsard belegten Gleichsetzung von Singen und Rezitieren festhielt (vgl. 309). Die auf Racines Tragödien spezialisierte Schauspielerin La Champmeslé glänzte i m 17. Jahrhundert mit dieser A r t von Rezitation, und Chaouche widmet ihr hochinteressante Analysen (351 — 358). Die Besonderheit Racines läßt sich an seiner Verwendung der Frage ablesen, »interrogation la plus apte à tenir le spectateur en haleine, à l'émouvoir, en donnant l'allure d'une véritable conversation (alternance de questions et de réponses)« (S. 324). M i t einer statistischen Erhebung über die Verteilung von «affirmations, interrogations, exclamations, interjections« (369-372) und deren Verteilung in den von La Champmeslé gespielten Rollen (372-389) untermauert sie ihre Beweisführung und revidiert dabei das weit verbreitete Vorurteil von der »violence de Phèdre« (S. 357), deren Leidenschaft »une passion toute intérieure« (357) sei. Chaouches Studie kann nicht nur dem Literaturwissenschaftler, sondern auch den Theaterleuten Impulse vermitteln. Das Kapitel über Racine schlägt vielleicht am ehesten eine Brücke zur heutigen Aufführungspraxis. Volker

Kapp,

Kiel

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Barbara Schmidt-Haberkamp, Die Kunst der Kritik. Z u m Zusammenhang von Ethik und Ästhetik bei Shaftesbury. München: Fink Verlag, 2000, 275 S. Die zu besprechende Habilitationsschrift ist schon deshalb eine freudige Überraschung, weil sie den kritischen Geist des allzu früh verstorbenen M ü n steraner Anglisten Herbert Mainusch atmet, der sich als geistreicher, diskussionsfreudiger und stets toleranter und menschlicher Forscher auf dem Gebiet der Literaturkritik und des Theaters einen Namen in seinem Fach gemacht hat. M i t dieser Aussage soll die wissenschaftliche Eigenständigkeit der vorliegenden Arbeit nicht i m mindesten in Zweifel gezogen werden. Es ist für einen Anglisten nur beglückend zu sehen, daß Herbert Mainusch eine Schülerin hatte, die i m besten Sinne des Wortes in seiner Tradition forscht und mit ihrer Studie über Shaftesburys Kunstkritik und Moralphilosophie ein Thema in beeindruckender Weise behandelt, das nach dem Herzen ihres Lehrers ist. Frau Schmidt-Haberkamps Untersuchung ist eine überzeugende Gesamtbetrachtung des Werks von Shaftesbury. I m Zentrum steht eine Neubeurteilung seines Kritikbegriffs. Argumentationsziel ist es, den Zusammenhang von Ethik und Ästhetik bei dem englischen Philosophen deutlich zu machen. Als grundlegend für das gesamte Denken von Shaftesbury w i r d der Begriff des Dialogischen in der besonderen Form des Selbstgesprächs herausgestellt. Die Untersuchung ist über weite Strecken referierend angelegt und läßt Shaftesbury, der für Vf.in auch heute noch Vorbild für freies, vernünftiges, tolerantes und sachgerechtes Denken ist, ausgiebig zu Wort kommen. Die kritischen Akzente der Arbeit liegen auf Kernbegriffen wie K r i t i k , Dialog, moral sense, Toleranz. Diese Begriffe werden in scharfsinniger Auseinandersetzung mit der Shaftesbury-Literatur deutlicher als je bestimmt, wobei es zur Korrektur mancher traditioneller Fehlbeurteilungen kommt. Es erfolgt auch eine ständige Anbindung der Argumentation an Gegenwartspositionen, etwa in der Frage der Interdependenz von Ethik und Ästhetik oder in der Betonung dialogischer Argumentationsstrukturen gegenüber einem autoritativen monologischen Diskurs. Von der Warte ihrer hervorragenden Sachkenntnis nimmt Vf.in wiederholt kritisch Stellung zu der Erlanger historisch-kritischen Gesamtausgabe der Werke Shaftesburys. Während die Texterstellung zwar als »zuverlässig« gelobt wird, w i r d die Anlage der Edition mit der »Aufspaltung« i n die beiden Abteilungen Aesthetics (I) und Moral and Political Philosophy (II) heftig kritisiert, weil sie dem Werk eine »Systematik« aufzwinge, gegen die sich der A u t o r »stets erbittert zur Wehr gesetzt« habe (17). Plausibel erscheint auch die K r i t i k an der Reihenfolge der Texte in der Ausgabe, an deren Anfang mit Soliloquy ein spät entstandenes Werk steht. Die Ausgabe präsentiere i m Widerspruch zur Erklä-

Buchbesprechungen rung der Editoren i n der Einleitung das Werk »mitnichten« in statu nascendi, noch folge sie dem Gesamtplan Shaftesburys, bei dem »Fragestellungen zur Ethik« den Ausgangspunkt bildeten und die Einsicht zunehmend deutlicher werde, »daß nur aus der Auseinandersetzung mit Kunst Kriterien zu ihrer Beantwortung gewonnen werden« könnten (112). Stichhaltig ist auch die K r i t i k an der Übersetzung in der Ausgabe, z. B. an der durchgängigen Wiedergabe von moral durch moralisch anstelle von geistig/intellektuell, die »einer Sicht auf Shaftesbury als Moralphilosoph Vorschub« leiste, die E r w i n Wolff, einer der Mitherausgeber der Standard Edition, schon »auszuräumen versucht hatte« (18-19. Siehe auch 26, Fußnote 8). Als »anfechtbar« w i r d auch die Ubersetzung von humour mit Laune bezeichnet (63, Fußnote 19). Den Stand der Shaftesbury-Forschung hält Vf.in für »revisionsbedürftig« (17). Vorliegende Erkenntnisleistungen werden zwar gewürdigt, aber mit K r i t i k w i r d nicht gespart, w o sie notwendig ist. So erkennt Vf.in Einzeleinsichten in Wolfram Bendas Studie aus dem Jahre 1982 durchaus an, etwa seine Erläuterung des Einflusses von Horaz auf Shaftesbury (173), findet aber insgesamt bei ihm einen »Tiefpunkt i n der Anerkennung von Shaftesburys Kunsttheorie«, ein Verkennen der Absage Shaftesburys an das systematische Denken und eine Mißachtung seines Verfahrens, »dem Leser Freiraum zum Abwägen von Positionen und zur Bildung eines eigenen Standpunktes« zu lassen (19). Endgültig räumt Vf.in mit der einseitigen »stereotypen Beschreibung« Shaftesburys »als Hauptexponent des Benevolenz-Gedankens« (79 f.) auf, mit der undifferenzierten Anwendung des Gentleman-Begriffs auf den A u t o r (128, 165) und mit der intuitionistischen Deutung des Begriffs des »natural moral sense« bei Shaftesbury (203). Zurückgewiesen w i r d die Deutung der Beschreibung des Dichters als eines zweiten Schöpfers i m Sinne einer »Inspirations- und Geniepoetik« (145). Kritisiert w i r d auch die Vernachlässigung der Dialogizität in dem Naturhymnus als Shaftesburys berühmtestem Text (228, Fußnote 12), dessen Analyse einen der Höhepunkte der Untersuchung darstellt (228-230). Die Hauptleistung der Arbeit besteht darin, daß es Vf.in gelingt, das dialogische Grundprinzip des Denkens von Shaftesbury herauszuarbeiten, ein Prinzip, das seinen Kritikbegriff bestimmt und für seine Kunsttheorie und seine Schriften zur Ethik und Religion sowie allgemein seinen Philosophiebegriff grundsätzliche Gültigkeit besitzt. Sie stellt heraus, daß für Shaftesbury Kunst und Literatur - hier w i r d die Gattung der Komödie hervorgehoben - in ihrem Wesen dialogisch und die Kunstkritik eine Fortsetzung der dialogischen Verfahrensweise der Dichtung ist (111). Gleiches gilt, wie gezeigt wird, für Shaftesburys Religionskritik, die gegen normsetzende Instanzen argumentiert und das Konzept des »Sceptick-Christian« vertritt. A u f dieser Grundlage werden zentrale Begriffe der Ethik Shaftesburys wie Interesselosigkeit, Enthusiasmus und Toleranz neu gedeutet.

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Neben der Herausarbeitung von Shaftesburys dialogisch fundiertem Kunstbegriff ist es ein weiteres Ziel der Monographie, Shaftesburys kritisches Denken i n eine historische Perspektive zu stellen. Dabei w i l l Vf.in angesichts analoger Denkformen in der jüngsten Moderne die Aktualität des Autors nachweisen, der lange Zeit zu Unrecht in der Hauptsache als Vertreter des Benevolenzgedankens und einer intuitionistischen Ethik betrachtet wurde. So w i r d eine Affinität des englischen Autors des Augustan Age mit modernen Plädoyers für das dialogische (und gegen das monologische) Denken und Argumentieren festgestellt, oder es w i r d die Wendung gegen das Systemdenken in der Postmoderne bei Shaftesbury vorgeprägt gesehen. A n eine moderne Debatte knüpft Vf.in auch i m Zusammenhang mit Shaftesburys Forderung an, Wissen und Lebenspraxis nicht zu trennen. Sie bezieht sich auf Hans-Georg Gadamers Warnung vor der Verselbständigung der Wissenschaft und sein Postulat der »Notwendigkeit der Integration von Wissenschaft und dem Wissen des Menschen von sich selbst« (241). Shaftesbury w i r d wiederholt deutlich i n Stellung gebracht gegen moderne lebensfeindliche Wissenschaftskonzepte. A u c h gegen Tendenzen in der gegenwärtigen Literaturtheorie w i r d Shaftesbury ins Feld geführt. Vf.in stellt die Frage, »ob eine Literaturkritik, die mit dem souveränen Individuum zugleich das Kritikpotential von Kunst negiert, nicht auch als Ideologiekritik wirkungslos bleiben muß.« (20) Zustimmend bezieht sie sich auf eine Publikation wie Why Literature Matters: Theories and Functions of Literature (hg. von Rüdiger Ahrens und Laurenz Volkmann, 1996), weil dort Elemente der Kunstauffassung Shaftesburys wie das Konzept der Interesselosigkeit und das Prinzip des Dialogischen aufgegriffen würden (149-151). M i t Shaftesbury w i r d gegen den Neohistorizismus und dessen Eliminierung des Subjekts argumentiert (250 f.). Gelegentlich w i r d der Ton der Darstellung polemisch, z. B. wenn i m Kommentar zu O d o Marquards Zurückweisung eines Kritikbegriffs in der Tradition von Shaftesbury, Meredith, Wilde und Nietzsche die Rede davon ist, »seine Schriften hinterließen nie den Eindruck, daß sich ihr A u t o r je mit Kunst oder ihrer Theorie befaßt« habe (182). Z u kritisieren ist an dieser Studie kaum etwas. Die gelegentlich hervortretende Tendenz zur Polemik ist aus der engagierten Anteilnahme der Vf.in an ihrem Gegenstand zu rechtfertigen, eine Erscheinung, die in der neueren Literaturkritik leider sehr selten ist. Das Kapitel über Oscar Wilde, den Vf.in mit Recht als einen geistigen Nachfolger Shaftesburys ansieht, überzeugt argumentativ jedoch nicht ganz, vor allem in der Bezugnahme auf The Picture of Dorian Gray (108-110), einen Roman, der eher i m Kontext des Asthetizismus des fin de siecle als in der Tradition von Shaftesburys Kritikbegriff zu deuten ist. N i c h t reflektiert w i r d der folgende Widerspruch: Vf.in betont an einer Stelle, daß in Shaftesburys Dialogen die Figuren »Marionetten des Autors« seien und der Philosoph ein »helles Bewußtsein« davon habe, daß »jeder Diskurs autoritativ«

Buchbesprechungen sei (195). Dieser i n der Untersuchung isolierte Hinweis widerspricht der gesamten Argumentationstendenz der Studie, die darauf zielt, den Dialog bei Shaftesbury als Mittel der geistigen Befreiung des Menschen herauszustellen. Eine Ergänzung ließe sich i m H i n b l i c k auf die von Vf.in postulierte und insgesamt auch bewiesene Modernität Shaftesburys noch vorschlagen. Es ist für Vf.ins tiefe Einsicht i n das Wesen von Shaftesburys Denken kennzeichnend, daß sie bei dem A u t o r eine Verlagerung »vom Gegenstand der Philosophie auf die Form und den Stil des Philosophierens« konstatiert (243). M i t dem Begriff des »Philosophical Stile« (248) nimmt Shaftesbury die moderne Theorie des Denkstils vorweg. - Insgesamt handelt es sich bei dieser Arbeit u m eine stringent und leidenschaftlich (und gelegentlich auch polemisch) argumentierende Untersuchung, die Shaftesburys Kritikbegriff scharfsinnig und subtil erörtert und in seiner Relevanz für das Gesamtwerk des Autors aufzeigt und gleichzeitig die Aktualität seines Denkens überzeugend nachweist. Wolf gang G. Müller; Jena

Nicola Graap, Fénelon: Dialogues des morts composés p o u r l'éducation d ' u n prince. Studien zu Fénelons Totengesprächen i m Traditionszusammenhang [ Ars Rhetorica 10], Hamburg: LIT, 2001. 316 S. Fénelons Dialogues des morts , zwischen 1700 und 1718 entstanden, haben bei weitem nicht die Rezeption erfahren wie beispielsweise Les Aventures de Télémaque (1699). Ist darum dieser Fürstenspiegel, der für den Herzog von Burgund, den Enkel L u d w i g XIV., bestimmt war, nur noch historische Erinnerung? Liest man das Inzipit, » O n voit ici comment ceux qui sont préposés pour l'éducation des princes doivent travailler à corriger leurs vices naissants, et à leur inspirer les vertus de leur état«, dann spürt man einen didaktischen Ansatz, der recht aktuell wirkt. So ist es verdienstvoll, diese Totengespräche wieder ins Bewusstsein zu rufen, den thematischen Reichtum, der sich i n den scheinbar antikisierenden Dialogen verbirgt, wieder in den Blick zu heben. Genau das gelingt Nicola Graap, der A u t o r i n der hier vorzustellenden Dissertation, ganz vorzüglich, vor allem dank einer erstaunlichen Gelehrsamkeit. Wie schon die Titelgebung ausweist, setzt die Deutung der Dialogues des morts vor allem vor dem Hintergrund des Fénelon'schen Gesamtwerks an, u m die zahlreichen inneren Bezüge aufzuzeigen. Diese offensichtlich verkannte Vielschichtigkeit soll für neue Deutungsansätze geöffnet werden: »Die zentrale These [ . . . ] besagt, daß die Schriften vordergründig weltlichen Inhalts, also auch die Dialogues des morts, nicht unabhängig von den geistlichen Texten Fénelons gelesen werden dürfen« (7). Neben diese eher intratextuellen Bezüge treten jene der historischen Traditionszusammenhänge, d. h. die komplexen intertextuellen Bezüge, die diesem Genus seit der Antike her innewohnen. Dieser mehrfache Ansatz,

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der stets auf den eigentlichen Text zentriert bleibt, w i r d in nicht weniger als zehn meist recht umfangreichen Kapiteln entwickelt. Die Einleitung skizziert Geschichte und Topik der Gattung Totengespräche, verweist auf die Nähe und Bedeutung der Rhetorik; die A u t o r i n lehnt sich i m Ansatz an einschlägige Arbeiten Fumarolis an, vertieft die Fragestellungen später in Kapitel VII.2; insofern ist die Aufnahme dieser Dissertation i n die Reihe »Ars Rhetorica« voll gerechtfertigt. Diese multiperspektivische Orientierung bedingt, dass zunächst die historische Tiefenstruktur des antiken wie auch noch neuzeitlichen Genus i n den Blick genommen wird. So widmet sich Kapitel I I dem Urvater der Gattung, Lukian, damit seiner Rezeption »im Zeitalter des Humanismus und der Renaissance.« M i t großer Akribie und reichem Wissen zeigt Graap auf, wie solche antikisierenden Totengespräche i n den damaligen religiösen Konflikten instrumentalisiert werden, beispielsweise i n Kapitel I I I bei den Charon-Figuren, wie sie bei Erasmus von Rotterdam, Giovanni Pontano, Alfonso de Valdés oder auch Clément Marot und Ulrich v. Hutten auftreten. Vor dem Hintergrund dieser wechselnden Konstellationen können dann i m folgenden die Absichten Fénelons umso deutlicher herausgestellt werden. Hier setzt Kapitel I V mit der eigentlichen Präsentation der Fénelon'schen Dialogues des morts ein. Die A u t o r i n liefert einen exemplarischen Forschungsbericht, u m von daher ihren eigenen Weg der Recherche zu skizzieren: »Zu prüfen ist deshalb, ob die Dialogues des morts nicht doch als spezifisch christliche Unterweisung für einen christlichen Herrscher gelesen werden können: ob also der paganen Oberfläche eine christlich-relig(i)öse Tiefenschicht entspricht« (67). I n der Tat ein richtiger, wenn auch langer und mühsamer Weg! Er führt uns zunächst zu dem als zentral erachteten und deswegen herausgehobenen 15. Dialog, »Hérodote et Lucien«. Denn dort tritt Lukian selbst auf, von dem sich sein Imitator Fénelon sogleich distanziert; dessen superbia könne sein Vorbild nicht sein. Graap sieht hier w o h l zu Recht die Grundierung der Dialogues des morts, insofern als nämlich Augustinus als die zentrale spirituelle Autorität Fénelons indirekt auf den Plan tritt; man darf dazu der Verfasserin eine genaue Kenntnis des Kirchenvaters attestieren und ihre zahlreichen Folgerungen entsprechend unterstreichen. A u f dieser ins Christliche gewendeten Basis folgen in Kapitel V I sechs weitere exemplarische Analysen einzelner Dialoge. Diese sind weniger einer stilistisch-philologischen Methodik verpflichtet, als vielmehr den philosophisch-theologischen Deutungen. Durch das Aufzeigen der historischen Präfigurationen und durch den Blick auf das Gesamtwerk Fénelons schälen sich in immer wieder neuen Analysen die eigentlichen Intentionen der Dialogues heraus, eben die des Fürstenspiegels. I n ihn münden die als zentral erachteten Lehren Fénelons ein: seine Gnadenlehre, die Auseinandersetzung mit den (un-)religiösen Strömungen seiner Zeit, allem voran der

Buchbesprechungen Libertinismus und Epikuräismus: »Ulysse et Grillus« vermitteln u. a. die zentrale Abrechnung Fénelons mit jenen bekämpften Strömungen. Es w i r d überzeugend deutlich gemacht, dass diese zeitgebundenen Diskussionen in die mythologischen und philosophischen Figuren, die in den Dialogen auftreten, gleichsam zurückverlegt werden. Beispielsweise stempelt i m 24. Dialog Plato, dem Fénelon eine große Nähe zum christlichen Denken attestiert, Aristoteles als »courtisan« (117) ab. Zugleich findet aber hier unterschwellig eine Attacke gegen Fontenelle, der in seinen Dialogues des morts die eigentlichen Wahrheiten verrate, statt (127). I n dieser wissenschaftlichen Rekonstruktion des Fénelon'schen Textes entfaltet sich somit das überzeugende Bild des kompromisslosen Erziehers und des nicht allzu hoffnungsvollen fürstlichen Zöglings: Der Fürstenspiegel w i r d als Frömmigkeitsdiskurs lesbar, als eine Spielart der Lehre vom » amour pur«. Dabei kommt der Rhetorik, wie bereits angedeutet, eine entscheidende Rolle zu. I n den Ausführungen zum »Rhetorikideal in den Dialogues des morts« geht es nicht nur u m Unterscheidung und Abgrenzung zwischen Cicero und Demosthenes, sondern darum, dass »viele Elemente, die einer genuin christlichen Rhetorik- und Dialogpraxis entstammen«, [ . . . ] »auch als Texte geistlicher Unterweisung« (213) gelesen werden können. I n dem sehr umfangreichen Kapitel w i r d dies vielfach belegt an sprachlichen Elementen, die an Gewissenserforschung, confessio, contritio, conversio erinnern. Das bedeute, »daß sich Fénelon auch als Dialoge verfertigender Prinzenerzieher letztlich dem Missionsauftrag des Apostels verpflichtet fühlt« (223). I n einem späteren Kapitel, gleichsam einem Exkurs, w i r d die exegetische Praxis der so genannten Bibelsinne nachgezeichnet, u m deutlich machen zu können, dass auch in dieser imitatio jene «exégèse scriptuaire« anwendbar ist. So werden die Dialogues des morts zu »Spiegelungen des Streites von Gottes- und Erdenstaat« (250). Entsprechend schlüssig erscheint die Bedeutung, die Graap den Orten, an denen die Totengespräche sich abspielen, zumisst: »Das Totenreich des französischen Erzbischofs hat nichts mit der Spielwiese gemein, die es Lukian und Fontenelle erlaubt, ihren Geist mit witzigen satirischen Einfällen brillieren zu lassen« (241). Es finde keine Reise durch die Räume statt, sondern durch die Zeiten. So w i r d insgesamt eine unabweisbare Nähe zwischen den von Fénelon überlieferten spirituellen Schriften und seinen Dialogues des morts hergestellt und nachgewiesen. Das Abschlusskapitel, I X , wartet noch mit einer überraschenden Funktion der Gespräche als Fürstenspiegel auf. Graap weist in genauer historischer Rekonstruktion überzeugend nach, dass diese Texte einen scharfen Tadel an der Politik Richelieus beinhalten; Fénelon wende sich dergestalt indirekt gegen Ludwig XIV.: »Darum kann das Frankreich des Sonnenkönigs nur [ . . . ] ein weiteres Babylon [ . . . ] sein« (264). Fazit: Nicola Graap hat eine brillante und hoch gelehrte Analyse zu einem zweifellos unterbewerteten Text Fénelons vorgelegt. Es darf dabei vermutet

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werden, dass Volker Kapps einschlägige Arbeiten zu diesem A u t o r und seiner Zeit höchst inspirierend gewirkt haben. Dazu kann man beiden gratulieren. I m Übrigen ist das Buch grundsätzlich gut ediert; allerdings lassen die Fußnoten den Satzspiegel ein wenig verrutschen. A n Druckfehlern gibt es eine gewisse Fülle; doch habe ich keinen sinnentstellenden gefunden; erwähnt sei nur Cherel, dessen Name mehrfach falsch wiedergegeben wird. Die griechischen Zitate (135) müssten mit einem altgriechischen Zeichensatz wiedergeben bzw. korrigiert werden, also: »to Y^VÔ^IEVOV«; »tö KaXov ist xö OV.« Übrigens können Fénelons Dialogues des morts in der BnF, Paris, online eingesehen und heruntergeladen werden: http://gallica.bnf.fr/ . Sollte eine französische Fassung der Arbeit angefertigt werden, was wünschenswert wäre, dann könnte sie vor allem in den Zitaten gekürzt werden die wissenschaftliche Stringenz würde nicht beeinträchtigt. Dietmar Fricke, Duisburg

Claudine Poulouin, Le Temps des origines. L'Eden, le Déluge et >les temps reculésL'Encyclopédie< [Lumière Classique 19], Paris: Champion, 1998, 667 S. I n welchem Jahr erschuf Gott die Welt? Wann vertrieb er die ersten Menschen aus dem Paradies? U n d w o lag der Garten Eden? Wann sandte Gott die Sintflut über die Welt, und warum berichten weder die chinesischen Chroniken noch die alten Ägypter über die Sintflut? Bezeugen die fossilen Funde die vorsintflutliche Existenz der Riesen, von denen i n der H l . Schrift die Rede ist? Solche und ähnliche Fragen zur biblischen Chronologie und Geographie sowie zur Kompatibilität von historia sacra und historia profana , geographica sacra und ihrer profanen Entsprechung beschäftigten die europäische Gelehrtenrepublik seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und bis zur wissenschaftlichen Etablierung der Vor- und Frühgeschichte - mit Paläontologie, Geologie, Zoologie, Archäologie etc. - i m späten 18. und 19. Jahrhundert, wie Claudine Poulouin i n ihrer umfangreichen Monographie ausführlich darlegt. Sie skizziert die europäische Dimension der Debatte, 1 beschränkt sich aber dann erklärtermaßen weitgehend auf deren Verlauf in Frankreich (13), bei Bodins Differenzierung von Heils-, profaner Welt- und Naturgeschichte einsetzend (14) und abweichend vom insofern irreführenden Untertitel ihrer Untersuchung mit nur wenigen Sätzen zu Pascal ( 8 - 1 0 ) , u m sich dann auf den vielsträngigen Diskussionsverlauf zwischen ca. 1650 - La Peyrères Präadamiten-Theorie - und ca. 1 Angesichts der ausufernden rezenten Forschungsliteratur zur Geschichte der res publica litteraria wäre das zweite Kapitel des ersten Teils: »La République des Lettres et la conception de Puniversalisme« (65 ff.) gewiss entbehrlich gewesen.

Buchbesprechungen 1750 - Frérets letzten Schriften und den einschlägigen Artikeln der Encyclopédie (D'Alembert über chronologie , Diderot über chronologie sacrée , Boulanger über le Déluge ) - zu konzentrieren. So bildet die Frühaufklärung den Schwerpunkt der Untersuchung einer Kontroverse, die, geprägt durch Libertinismus und englischen Deismus, gleichwohl kundige und einflussreiche Apologeten wie D o m Calmet und, unter den Bedingungen des historischen Pyrrhonismus, gleichwohl produktive und gewissenhafte Historiker wie Nicolas Fréret hervorbringt, eine Epoche, die die Säkularisierung der Geschichte vollendet und den Übergang von der histoire universelle zur philosophie de Vhistoire vollzieht. Die vor allem mit Buffon, seiner Théorie de la terre und den Époques de la nature in Frankreich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts massiv einsetzende naturwissenschaftliche Erforschung der antiquité la plus reculée und das durch die Forschungsarbeiten in Pompeji und Herculanum verstärkte Interesse an den materiellen Spuren der Antike bilden gewissermaßen die historische Grenze der groß angelegten Untersuchung Claudine Poulouins, die in mancherlei Hinsicht an die einschlägigen Arbeiten Chantal Greils anzuknüpfen scheint. 2 Wenngleich der historische Rekonstruktionsversuch Poulouins in seiner Gesamtanlage eine gewisse konzeptionelle Schwäche, einen Mangel an analytischer Durchdringung des umfangreichen Quellenmaterials - dessen Auswahl und Begrenzung auch leider an keiner Stelle eigens thematisiert und begründet w i r d - erkennen lässt, eine konzeptionelle Schwäche und mangelnde analytische Kraft, die sich sogar in der typographischen Gestaltung des Inhaltsverzeichnisses spiegeln, 3 werden doch die großen Linien der Debatte deutlich ausgezogen: (a) die biblischen Vorgaben der Debatte über die Vor- und Frühgeschichte der Menschheit; (b) die vor allem durch die historischen Ereignisse der Frühen Neuzeit erforderlich gewordenen Revisionen, Apologien und Korrekturen; c) die philosophischen und wissenschaftlichen Implikationen der Debatte. Explizit ausgeklammert w i r d der Aspekt der utopischen und arkadischen Stilisierungen der temps les plus reculés als Goldenes Zeitalter (vgl. 21) oder i m Rahmen des Atlantis-Mythos, inexplizit bleibt die - von der Sache her nahe liegende - Aussparung der naturrechtlichen Hypothesen über den vorgesellschaftlichen Menschen des status naturalis.

2 Vgl. bes. Chantal Grell, L'Histoire entre érudition et philosophie. Etude sur la connaissance historique a l'âge des Lumières (Paris 1993), sowie ebd., Le XVIIle siècle et l'Antiquité en France. Etude sur les représentations sociales et politiques , littéraires et esthétiques de la Grèce et de Rome païennes (Oxford 1995). 3 Das schon prima vista unübersichtliche Inhaltsverzeichnis weicht an einigen Stellen vom Text selbst ab, so z. B. in der Einleitung zum ersten Teil (im Text nur als Introduction betitelt, im Inhaltsverzeichnis mit einem längeren, zudem fehlerhaften Titel, 663), im ersten Abschnitt des fünften Kapitels des ersten Teils (im Text vom Inhaltsverzeichnis abweichender Titel, im Inhaltsverzeichnis anders und fehlerhaft, 190/ 664).

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(a) Die Vorgaben der Diskussionen über Entstehung und frühe Geschichte der Menschheit liefert die Bibel mit ihrer in den unterschiedlichen Fassungen nicht einheitlich angegebenen Chronologie und Geographie. Schöpfung und Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies, die Sintflut - »le point zéro de l'histoire de l'humanité« (375) - und Besiedelung der Welt durch N o a h und seine Söhne, der Turmbau zu Babel konfrontieren die bistoria profana mit Gegebenheiten, die theologisch unhintergehbar, historisch aber hoch problematisch erscheinen. Die chronologische Glaubwürdigkeit der H l . Schrift - i n der katholischen Orthodoxie zwischen Augustinus und Bossuet letztlich unproblematisch 4 - bleibt von der Bibelkritik, von Richard Simon und vor allem Spinozas wirkmächtigem Tractatus theologico-politicus y nicht unberührt (Teil 1, Kap. 4); mit der exklusiv mosaischen Provenienz des Pentateuch werden auch die historischen Berichte der Genesis fragwürdig. 5 (b) Die, wie man von den jesuitischen Missionaren erfährt, von den Chinesen behauptete Anciennetät der chinesischen Kultur, die jedenfalls weit hinter die biblische Datierung der Schöpfung zurückreicht, die Zeugnisse der ägyptischen Hochkultur, die Entdeckung der Neuen Welt und speziell der aztekischen Kultur, die Informationen über die Existenz von Völkern und Weltteilen, über die die Bibel schweigt, destabilisieren die biblische Weltgeschichte und lassen die augustinische Geschichtsphilosophie obsolet erscheinen. Revisionen der Chronologie, des >Ariadne-Fadens der Geschichtetemps reculéslongissime retroacta saecula< (Bochart, La Peyrère, 10) zu höherem Ansehen verhelfen. Man beginnt, i n großen Zeiträumen zu rechnen und sich - wie etwa Boulanger - den primitiven Menschen i m Dunkel der Zeiten vorzustellen. Neben der Naturgeschichte mit ihren unterschiedlichen Disziplinen, die das Schweigen der Schöpfungsgeschichte über die Modalitäten der Schöpfung zum Anlass für umfangreiche Forschungsaktivitäten nimmt, entfaltet sich in der zweiten Jahrhunderthälfte auch die menschheitsgeschichtliche Spekulation. I n der von Poulouin vorgelegten Studie vermisst man einige prominente Theoretiker der Vor- und Früh- bzw. frühen Menschheitsgeschichte: vor allem Rousseau, aber auch Vico, nicht zuletzt auch i m Zusammenhang mit N . - A . Boulanger. 8 Zwar ist die Ausklammerung der Vichianischen Theorie der frühesten Menschheitsgeschichte durch die Beschränkung von Poulouins Untersuchung auf Frankreich gerechtfertigt; da die Scienza nuova aber auch dort 8

Vgl. dazu u. a. Franco Venturi, Boulanger e Videa di progresso (Bari 1947), eine Arbeit, die Poulouin nicht anführt.

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- bei Rousseau wie Boulanger - nicht ohne Einfluss war, 9 wäre es aufschlussreich und an einzelnen Stellen geboten gewesen, Vicos spekulative Geschichtsphilosophie in die Argumentation einzubeziehen statt sie nur i m Nachwort kurz zu streifen. Wo sich heute Paläogenetiker und Gendesigner um Vergangenheit und Zukunft des Menschen als ens perfectissimum kümmern, da denkt schon die Aufklärung den Menschen in der Linie seiner Perfektibilität nicht nur als vollkommenes Wesen der Zukunft, sondern situiert ihn auch, sei's als gefallenen Menschen der Schöpfung oder als Präadamiten oder als Wilden, i m Stand moralischer, aber auch schon biologischer Unvollkommenheit in fernster Vergangenheit. I n ihrer mit einigen Illustrationen, Bibliographien und einem Namenindex versehenen, lesbaren und lesenswerten Studie, die freilich den Standards der von ihr thematisierten Gelehrsamkeit nicht durchgängig genügt, 1 0 erzählt Claudine Poulouin ein fesselndes Kapitel dieser anthropologischen macrostoria. 11 Gisela Schlüter.; Erlangen 9 Poulouin merkt zu Vicos Einfluss allzu pauschal an: »son œuvre n'a pas eu d'influence sur ses contemporains, notamment en France« ( 603). 10 Zu monieren sind einige Fehler und Lücken. Irritierend ist die Praxis, (Vor-)Namen teils, aber nicht konsequent in allen Fällen in französierter Form anzugeben. An einigen Stellen fehlen in den Nachweisen die Seitenangaben. Einige Titel werden in vager Form angeführt (vgl. z. B. Rabelais in der Bibliographie), in mehreren Fällen werden die Untertitel weggelassen (z. B. Auvray, Grell in der Bibliographie). An dieser Stelle können nur einige der Fehler korrigiert werden: Klempt, »Die Säkularisierung der universalhistorischen Auffassung ...« (anders 7, Anm. 1, und 641); Erscheinungsort des Werkes fehlt (641); law and history (anders 42, Anm. 26); Alexander von HumboWt (anders 55 u. ö.); Duisburg (anders 59); Jahresangabe 160? (79); Chnstopher Wren (anders 87); hieroglyphs (anders 273); Pu/endorf (anders 293); Tschirnhaus (anders 294); 296, Anm. 64: unvollständiger Satz; ossia (anders 312, Anm. 105); The rise of (anders 319, Anm. 1); Fuhrmann, »Die Querelle des Anciens et Modernes, der Nationalismus ...« (anders 327, Anm. 16, und 638); Parallèle des Anciens et des Modernes ... (anders 327, Anm. 18); Desmareis de Saint-Sorlin (anders 329, Anm. 23); »The Eighteenth Century confronts the Gods« (anders 343, Anm. 59); »... the rhetoric of relative time« (anders 380, Anm. 9); 383, Anm. 18: falsche Jahresangabe; 436, Z. 2: unvollständiger Satz; Borghero, »La certezza e la storia« (anders 516, Anm. 62); Untertitel desselben Werkes: »Cartesianesimo, pirronismo ...« (anders 634); »La storia universale prov^ta...« (anders 562); R. Shackleton (anders 625); Court de Gébelin, ... 1773-1784 (anders 625); Leibniz, Gottfried Wilhelm von (anders 628). - In der Bibliographie sind u. a. folgende Titel zu ergänzen: Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie (Stuttgart 4. Aufl. 1961 [dt. 1. Aufl. 1953]; D. Pastine, »Le origini del poligenismo e Isaac La Peyrère«, Miscellanea Seicento, I (1971), 7-234; Paolo Rossi, I segni del tempo. Storia della terra e storia delle nazioni da Hooke a Vico (Mailand 1979); Edoardo Tortarolo, »Die Angst des Aufklärers vor der Tiefenzeit oder: die Euthanasie der biblischen Chronologie«, in: Universalgeschichte und Nationalge schichten. Festschrift für Ernst Schulin (Freiburg 1994), 31-50. In der Rubrik Ouvrages collectifs et divers vermisst man einige Kongressakten neueren Datums: Pierre DanielHuet (1630-1721). Actes du colloque de Caen,

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Giulia Cantarutti, Stefano Ferrari e Paola Maria Filippi (a cura di), I i Settecento tedesco in Italia. Gli italiani e l'immagine della cultura tedesca nel X V I I I secolo. Bologna: i l Mulino, 2001. 517 S. Welch immense Bedeutung der deutschen Italien-Rezeption während des 18. Jahrhunderts zukommt, ist hinlänglich bekannt. Gleichgültig, ob die Wahrnehmung der mediterranen Kultur autoptisch geschah oder sich bloß am Schreibtisch ereignete - für die Aufklärer i m weit weniger heiteren Norden bildete der »klassische Boden< jenseits der Alpen den geistigen Bezugsort schlechthin und verklärte sich i m Zuge der sentimentalischen Selbstreflexion als »germanisch umso mehr zu einem Sehnsuchtsland, w o Alles besser schien: w o die Kultur noch sinnlich war und Wahrheit mit Schönheit harmonierte. Was diese N o r d /Süd-Perspektive angeht, so sind die wichtigsten Entwicklungen gut aufgearbeitet und an Studien, die sich mit dem Italienbild der Deutschen befassen, herrscht keinerlei Mangel. I n umgekehrter Richtung verhält es sich anders. Derart wenige Einwirkungen der deutschen Dichter und Denker auf ihre italienischen Kollegen sind bekannt und so wenige Reisen eines Italieners in Deutschland dokumentiert, dass man meinen möchte, es hätte sich seinerzeit u m ein recht einseitiges Verhältnis von Geben und Nehmen gehandelt. Vermutlich ist ja wirklich von einer drastischen Asymmetrie der wechselseitigen Aufmerksamkeit auszugehen, und die augenfällige Atrophie der Forschungen zur Präsenz deutschen Denkens bei den Künstlern und Gelehrten i n Italien dürfte ihren guten Grund i n den tatsächlichen Sachverhalten haben. Immerhin regt sich in jüngerer Zeit ein gewisses Interesse an der Frage, ob die deutsche Kultur des 18. Jahrhunderts nicht doch einen Beitrag zur Aufklärung i n Italien geleistet haben mag. Der Sammelband La cultura tedesca in Italia 1750-1850, den Alberto Destro und Paola Maria Filippi 1995 herausgegeben haben, hat jedenfalls den Fokus auf denjenigen Ideen-Handel gerichtet, der sich eben doch auch in der unwahrscheinlicheren Nord/Süd-Richtung beobachten lässt und zumindest nicht ganz so belanglos gewesen ist, wie man das lange vermuten mochte. A n diese Pioniertat, die

12-13 nov. 1993, hg. S. Guellouz (Paris 1994); Nicolas Fréret entre légende et vérité. Colloque 18 et 19 oct. 1991, hg. Ch. Grell u. C. Volpilhac-Auger (Oxford 1994); Primitivisme et mythes des origines dans la France des Lumières , 1680-1820. Colloque Sorbonne 1988, hg. Ch. Grell u. Chr. Michel (Paris 1989); La république des lettres et l'histoire du judaïsme antique: XVIe-XVIIle siècles , hg. Ch. Grell u. F. Laplanche (Paris 1992). 11 Der Begriff der Macrostoria verdankt sich Giuseppe Ricuperati, der ihn freilich unter Rekurs auf die Historiographie des 18. Jahrhunderts in einem präziseren Sinne verwendet, vgl. seinen - auch für die von Poulouin traktierten Fragen - aufschlussreichen Aufsatz »Comparatismo, storia universale, storia delle civiltà. Il mutamento dei paradigmi dalla >Crisi della coscienza europea< all'illuminismo«, in: Lepassioni dello storico. Studi in onore di Giuseppe Giarrizzo, hg. A. Coco (Catania 1999), 511-580, bes. 522 ff.

Buchbesprechungen ihre institutionelle Rückendeckung i n der ehrwürdigen Accademia Roveretana degli Agiati fand, schließt nun vorliegender Band an, der die Fragestellung gleichermaßen fortführt wie erweitert und erneut in den Roveretaner AkademieAkten erscheint. Dabei soll es, wie Alberto Destros »Prefazione« formuliert, u m mehr gehen als bloß u m die Analyse kulturgeschichtlicher Einzelheiten: »si propone qualcosa di essenziale non su questo o quel fenomeno o su questa o quella personalitä, ma sulla storia culturale complessiva del settecento italiano« (10). Dieses Erkenntnisziel w i r d in insgesamt elf monografisch angelegten Studien von in Italien lehrenden Philologen verfolgt, die chronologisch angeordnet sind und zum Teil einen beachtlichen Umfang erreichen, der nicht immer bloß einem Anhang mit Archiv-Material geschuldet ist. A m Anfang steht Fabio Marris reich dokumentierte Rekonstruktion von Ludovico Antonio Muratoris historiografisch-juristisch-diplomatischen A k t i vitäten i m Rahmen der sog. >questione comacchiese< (»Agli albori del filogermanesimo di Muratori«). M i t Antonio Trampus< »La cultura italiana e PAufklärung: un confronto mancato?« schließt einer der beiden Grundlagen-Artikel des Bandes an: I m Rahmen von >Philosophie< - >Recht< - >Politik< geht es vor allem u m die italienische Rezeption deutscher Naturrechtslehren, die sich u m 1750 auffällig intensiviert hat; Dagmar von Wille führt diese Thematik unter Konzentration auf den Wolff-Schüler Ulrich Weis fort (»II pensiero di Christian Wolff nella cultura cattolica del Settecento: l'eclettismo filosofico di U l r i c h Weis«). A u f diese drei Darstellungen >gelehrter< Deutschland-Beziehungen italienischer Intellektueller folgt eine Serie von Auseinandersetzungen mit den belletristischen Dimensionen des Themas: Mario Allegri schildert die Übersetzungsschicksale deutscher Lyrik vor dem Hintergrund eines Deutschen wie Italienern gemeinsamen antifranzösischen Affekts (»Gli italiani e i l >Parnaso Alemanno«Monstergroßen Leute von morgenc »Iis sont le dernier rempart car ils appartiennent à un avenir qui n'est pas encore entièrement écrit« (29, auch 121). Die spirituelle Ebene des Werkes von Bernanos - bei der die theologische Größe »esperance« eine entscheidende Rolle spielt - läßt die Schriften des Autors schwer zugänglich erscheinen. Wie Joseph Jurt jedoch eindeutig zeigt, wendet sich der Katholik keineswegs nur an ein katholisches Publikum, sondern an alle Menschen guten Willens (34), deren »présence invisible« ihm ein »réconfort pendant les mauvaises heures« (34) ist, da sie die Hoffnung auf eine andere Welt mit ihm teilen. Wenn Bernanos überzeugt davon ist, daß seine Leser von ihm erwarten »que je ne fasse pas comme les autres« (S. 34), er sich als ihr Sprachrohr (38) versteht, deutet dies auf eine >geistliche Gemeinschaft von Autor und z.T. fiktivem Leser hin, wie sie z .B. auch in Un crime vorliegt (157 ff.). Der Beitrag von Bruno Durier scheint auf den ersten Blick seinen Platz eher i n einer Zeitschrift für Medienpädagogik zu haben, als in der vorliegenden Veröffentlichung. Bei näherem Hinsehen und vor allem vor dem Hintergrund der »enfance spirituel« (29, ebenso 118), ist die Beschreibung eines in einer Collège-Klasse durchgeführten Lektüreprojekts zu Sous le soleil de Satan ein Beweis dafür, daß das Gedankengebäude von Bernanos bei entsprechender Begleitung für Jugendliche keinesfalls zu komplex ist, auch sie somit zum Kreis der »lecteurs« zählen. Der den »Problèmes de réception« (sechs Beiträge, 55-114) gewidmete zweite Teil beschreibt die Aufnahme der Werke von Bernanos in der Ukraine, der D D R und i m heutigen Spanien. Neben diese Studien, die sich auf geographisch festgelegte Räume beziehen, treten die Beiträge, die sich der katholischen (H. U . v. Balthasar), jüdischen und atheistischen (L. Sciascia) Auseinandersetzung mit dem Werk von Bernanos widmen. I n beiderlei Hinsicht ist man rasch mit vorschnellen Urteilen zur Stelle: Ein katholischer A u t o r w i r d in sozialistisch-areligiösen Gesellschaften wie der Ukraine und der D D R sicherlich selten gedruckt und gelesen worden sein. Auch die Beschäftigung eines atheistischen Autors wie Sciascia mit Bernanos w i r d man von vornherein gering einstufen, wohingegen man dem katholischen Theologen eine fruchtbare Auseinandersetzung mit Bernanos vorhersagen möchte. Trotz dieser scheinbar eindeutigen Situation gelingt es den Verfassern der Beiträge, vorgefaßte Meinungen aufzuweichen und mit neuen Ergebnissen zu überraschen, wobei sie Tendenzen aufzeigen, die die Rezeption der Werke von Bernanos in den beschriebenen Bereichen durchziehen.

Buchbesprechungen Volker Kapp geht über die simple Erklärung des »berufsbedingten Interesses< eines Theologen für Bernanos weit hinaus, indem er erklärt, Balthasar sei nicht nur vom Kirchenbild und den Vorstellungen des Autors über die Aufgaben der Laien fasziniert gewesen, die sich i n den Werken des Autors manifestieren (57), sondern auch von dessen gelebter Theologie (60). Ein Beweis für das persönliche Interesse und die Betroffenheit des Theologen sind die zahlreichen Kontroversen, die aus seiner Auseinandersetzung mit der Kirchenkritik Bernanos entsprungen sind. Wurde durch Balthasar die spirituelle Ausrichtung von Bernanos unterstrichen, so führt Pierrette Renard aus, wie der Atheist Sciascia der expliziten Vertikalität des Systems von Bernanos (104) die Verneinung des Ubernatürlichen (104) entgegensetzt, sich jedoch mit ihm i m Kampf um die >Werte der Menschlichkeit (104) trifft. Auch Michaël de Saint Cheron betont die Menschlichkeit, die Bernanos i n H i n b l i c k auf den spanischen Bürgerkrieg bewiesen hat, den er als »crime contre l'humanité« (93) bezeichnete. Diese Einstellung führte letztlich zu einer positiven Aufnahme seines Werkes bei jüdischen Autoren: »Un écrivain de droite qui a le courage de prendre les positions qu'il a prise pendant la guerre d'Espagne, fait preuve d'une attitude prémonitoire. I l était clair que Bernanos allait venir vers nous« (92). Die Einstellung Bernanos', die Religion als Möglichkeit zur Bewahrung der universellen menschlichen Werte (75) zu sehen, betont auch Valentine Fessenko und sieht in der Vermeidung des spezifisch Katholischen den Grund für den wenn auch späten Erfolg von Bernanos i n der Ukraine. Während jedoch die ukrainische Bevölkerung grundsätzlich empfänglich für christliche Werte und die Botschaft des Autors war, spricht Brigitte Sändig von einer i m doppelten Sinne gescheiterten Rezeption des Werks von Bernanos in der D D R , denn weder die Autoritäten kümmerten sich um sein Werk, noch die Leser, die sich normalerweise für alle schlecht angesehenen Autoren erwärmen konnten, zeigten Interesse. (79). Ein Grund für die nur geringe Präsens von Bernanos' Schriften in der D D R sieht sie in der schwierigen politischen Situation in den 80er Jahren, für die der Autor keine Lösungsvorschläge bereit zu halten schien. (84). Christlichkeit und der Ruf nach Ehrlichkeit (S. 109) waren nach Antonio Vicens-Castaner auch i m heutigen Spanien die entscheidenden Faktoren. Während jedoch die Katholizität dem Werk zunächst zum Nachteil gereichte (109), verzieh man Bernanos später seine Haltung i m spanischen Bürgerkrieg, so daß ab 1951 (105) Verbreitung, Lektüre und Ubersetzung der Werke des Franzosen einsetzten. Nach dieser >Europareise< umfaßt der dritte Teil «Destinataires et lecteurs implicites« (acht Beiträge, 117-214) vor allem werkimmanente Analysen traditioneller Art. N e u ist hingegen die Erweiterung des bekannten Dreigespanns >Sender Botschaft Empfänger< durch die Institution der (Roman)-Figur (Michael Kohlhauer, 139), die bei Bernanos durch die Lektüre des Lesers geformt w i r d und ihn formt, sowie die M i t w i r k u n g des Lesers an der Gestaltung

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des Textes. André N o t betont das fragmentarische Erscheinungsbild von Monsieur Ouine , das den Leser dazu auffordert, die Lücken zwischen den nur angerissenen Szenen gedanklich zu schließen (205), Martin Neumann weist i n seiner Interpretation von Un mauvais rêve ebenso wie M y r i a m Watthee-Delmotte bei der Auseinandersetzung mit dem Journal d'un curé de campagne auf die von Bernanos angeregte Phantasie des Lesers hin, die jedoch bei einem so stark kodifizierten Genre wie dem Kriminalroman schnell an ihre Grenzen stößt. A u f einen Nenner gebracht, könnte man die Studien, die mit Hilfe von Erzähltheorie (Sven Storelv, 125 ff.) und Tiefenpsychologie (158) nicht nur die merkwürdige Vorliebe Bernanos' für den Kriminalroman zu erklären suchen, sondern darüber hinaus auch das Verhältnis von A u t o r und Leser i n H i n b l i c k auf die Romane erhellen wollen, wie folgt zusammenfassen: Bernanos verwendet die äußeren Kennzeichen des Genre, u m am Beispiel des Kriminalromans die menschliche Seele i m ständigen Kampf zwischen den Versuchungen des Bösen und dem Wissen u m das Gute zeigen zu können (178). Dabei verlangt der A u t o r vom Leser ein hohes Maß an >Dechiffrierkunst< (169). Erst wenn dieser die Botschaft eines Werkes entschlüsselt hat, besteht zwischen A u t o r und ihm ein »contrat de connivence« (157). Die aufgezeigte Vielschichtigkeit der Untersuchungen aus unterschiedlichen Blickwinkeln kann somit eventuelle Leseerfahrungen bestätigen und darüber hinaus verdeutlichen, welch entscheidende Stellung die Autor-Leser-Beziehung i m >Dichtungsverständnis< von Bernanos einnimmt. Leider haben sich in die Publikation einige orthographische Ungereimtheiten eingeschlichen, die z. B. bei der Verwechslung von Jean-Loup Bernanos und Jean-Louis Bernanos (15) Verwirrung stiften können. Béatrice Jakobs , Kiel

Manfred Lochbrunner, Hans Urs v o n Balthasar als A u t o r , Herausgeber u n d Verleger. F ü n f Studien zu seinen Sammlungen (1942-1967). Würzburg: Echter, 2002. 336 S. Manfred Lochbrunner trägt seit Jahren systematisch Materialien für eine fundierte Biographie von Hans Urs von Balthasar zusammen. I n diesem K o n text untersuchte er die vier von Balthasar herausgegebenen Sammlungen: »Klosterberg. Europäische Reihe« (1942-1952), »Menschen der Kirche in Zeugnis und Urkunde« (1942-1951. 1955-1967), »Christ heute« (1947-1966) und »Sigillum« (1954-1965). Er entdeckte dabei einen bisher unbekannten und nie realisierten »Plan einer neuen Bibliothek der Kirchenväter«, den er auf die Zeit u m 1950 datiert.

Buchbesprechungen Viele Partien dieses Buches gehören eher in den engeren Bereich der Theologie, in der Lochbrunner als Dogmatiker ein anerkannter Fachmann ist. Gleichw o h l kann der Literaturwissenschaftler aus dem vorliegenden höchst informativen Werk vieles lernen, da hier nicht nur ein zentrales Moment der christlichen Kultur des 20. Jahrhunderts aufgearbeitet wird, sondern auch Themen angesprochen werden, die ins eigentliche Fachgebiet der Literaturwissenschaft gehören. Lochbrunner entschuldigt sich zwar dafür, dass ihm »die Professionalität i m Bereich der Literaturwissenschaft fehlt« (3), doch scheint mir dieses Eingeständnis eher ein Zeichen für die Bescheidenheit des Verfassers als ein Manko seines Buches zu sein. Gewiß ist unverkennbar, dass der Autor seine profunde Kenntnis des Schaffens von Balthasar dazu nutzt, sozusagen nebenbei die einzelnen Veröffentlichungen des Theologen i n dessen monumentalem Gesamtwerk zu situieren. Die Partien, die sich mit literarischen und literaturwissenschaftlichen Texten befassen, sind jedoch genauso gut recherchiert und erhellend. Der Literaturwissenschaftler w i r d sich besonders für die »Sammlung K l o sterberg« interessieren, die aus der geistigen N o t des Dritten Reiches als Gegenmodell zur Insel-Bücherei entstanden ist. Balthasar zeichnet für die »Europäische Reihe« als Herausgeber und hat in Walter Muschg einen Partner für die »Schweizer Reihe«. Lochbrunners Recherchen fördern die zentrale Bedeutung des damaligen Lektors beim Benno Schwabe Verlag in Basel, Konrad Farner, zutage. Die Germanisten kennen Farner vielleicht als die Persönlichkeit, die bei Bertolt Brechts Begräbnis 1956 die Trauerrede hielt. Er ist seit 1923 Mitglied der Kommunistischen Partei, aus der er erst 1969 beim Einmarsch der sowjetischen Truppen in Prag austrat, nachdem er 1956 selbst bei der Ungarn-Krise Opfer der Kommunistenhetze in der Schweiz geworden ist. Farner hat die Sammlung »lanciert« (35) und einige Zeit trotz weltanschaulicher Divergenzen gut mit Balthasar zusammengearbeitet, dann aber mit ihm Schwierigkeiten bekommen, als er eine Auswahl von Texten Benjamin Constants, die Balthasar übersetzt und Albert Béguin mit einem Vorwort versehen hat, wegen Bedenken gegen dessen Übersetzung zurückweist. Die Erkenntnisse über Farners Rolle bei Benno Schwabe sind nur eine der vielen Facetten, die Lochbrunner für die Literaturwissenschaft durch seine systematische Beschreibung ihrer einzelnen Bändchen über die »Sammlung Klosterberg« bzw. deren Autoren zugänglich macht. Die Reihen »Christ heute«, die Balthasar dann i n seinem Johannes Verlag realisiert, akzentuieren das christliche Profil stärker als die »Sammlung Klosterberg«, nehmen aber auch manche ihrer Bändchen, teilweise in veränderter Form, wieder auf. Balthasars Engagement für die Autoren des sog. Renouveau catholique manifestiert sich dort in Übersetzungen von Péguy, Claudel, Bernanos und Mauriac. Der Theologe veröffentlicht daneben Gedichtbände von

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Schott und Fuchs bzw. Studien von Eudo C. Mason und Edgar Hederer. Die Reihe informiert über die damaligen Zeitenläufe, z. B. durch die Veröffentlichung der Predigten von Erich Przywara aus den letzten Kriegs jähren, der berühmten Hirtenbriefe von Suhard oder durch Essays von Karl Rahner, Reinhold Schneider und Friedrich Heer. Hugo Rahners Vortrag bei der EranosTagung »Der spielende Mensch« gehört zu den Meisterwerken, die durch diese Reihe weltweit verbreitet wurden. Die Sammlung »Sigillum« liefert kompakte Auswahlausgaben von christlicher Literatur, seien es Kirchenväter, Mystiker, Dichter oder Denker. Balthasar war sich des Defizits der katholischen Geisteswelt i m Umgang mit ihrer Tradition bewusst und stemmte sich mit dieser wie mit anderen Reihen als mutiger Verleger gegen den allgemeinen Strom. Lochbrunners Studie bietet eine lesenswerte Zusammenschau des komplexen Gegenstandes. Sie ist als historische Untersuchung voller neuer Gesichtspunkte, kann aber gleichermaßen auch als Nachschlagewerk benutzt werden. Volker Kapp , Kiel

Bernhard F. Scholz, Emblem u n d Emblempoetik. Historische u n d systematische Studien [Allgemeine Literaturwissenschaft, Wuppertaler Schriften, 3], Berlin: Erich Schmidt Verlag, 2002. 421 S. Seit den inzwischen als grundlegend geltenden Studien zur Emblematik von Mario Praz [Studies in Seventeenth-Century Imagery (1939, 2 1964)] und Albrecht Schöne [Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock (1964, 2 1968)], die in den 1960er Jahren zu einer Hochkonjunktur dieses komparatistisch-intermedialen Forschungszweiges führten, sind wenig innovative wissenschaftliche Abhandlungen zur Emblemforschung vorgelegt worden. Vielmehr widmeten sich die späteren Veröffentlichungen häufig der weiterführenden Ausarbeitung der von Praz und Schöne aufgezeigten Forschungsprobleme. Zudem erlebten i m Zuge der Wiederbelebung der Emblemforschung einige ältere Publikationen eine Renaissance: zum Beispiel Rosemary Freemans faktenorientiertes Werk English Emblem Books (1948, Faksimile-Nachdrucke: 1966, 1967) und Ludwig Volkmanns bahnbrechende, aber in Vergessenheit geratene Publikation Bilderschriften der Renaissance: Hieroglyphik und Emblematik in ihren Beziehungen und Fortwirkungen (1923, Faksimile-Nachdrucke: 1962, 1969). Wertvolle neue Erkenntnisse vermittelten am Ende des Jahrhunderts allerdings zwei Abhandlungen zur Geschichte der Emblemtheorien, die i n den materialorientierten früheren Arbeiten entschieden zu kurz gekommen waren: zunächst Dieter Sulzers aus einer Heidelberger Dissertation (1977) hervorgegangene Monographie Traktate zur Emblematik: Studien zur Geschichte der Emblemtheorien (1992) und Michael Baths systematisch vorgehende Studie

Buchbesprechungen Speaking Pictures: English Emblem Books and Renaissance Culture (1994). Ä u ßerst verdienstvoll ist auch die faksimilierte Wiederveröffentlichung des bedeutenden französischen Traktats L'Art des Emblèmes (Paris, 1673) von ClaudeFrançois Menestrier durch den Mäander Kunstverlag (Mittenwald, 1981), ferner Daniel S. Russells Buch The Emblem and Device in France (1985), das einen bislang eher marginalisierten Sektor der Emblem-Rezeption erstmals differenziert zur Darstellung bringt. I m Hinblick auf die vorangehende Forschung repräsentiert das Werk von Bernhard F. Scholz eine A r t summa emblematica des 20. Jahrhunderts. Der Autor, der bislang durch eine Vielzahl von Einzelstudien zur Emblematik hervorgetreten ist, ist wie w o h l kein anderer qualifiziert, dazu eine zusammenfassende Darstellung zu schreiben - die Quintessenz eines ganzen Forscherlebens. Die Darstellung des Themas gliedert sich in zwei große Hauptabschnitte, deren erster unter dem Zwischentitel »Historische Studien« der Behandlung des Emblems in der frühmodernen Poetik und deren zweiter unter dem Zwischentitel »Systematische Studien« der klassifikatorischen Erfassung dieser »symmedialen didaktischen Gattung« gewidmet ist. Nach einleitenden Bemerkungen zu »Thesen und Fragestellungen der Emblemforschung« erörtert der erste Hauptteil in chronologischer Reihenfolge ausführlich die wichtigsten Emblemtheorien der frühen Neuzeit, zunächst Paolo Giovios das Genre theoretisch begründenden Dialogo delVlmprese Militari et Amorose (1555), dessen Konzept i m Kern von den späteren Theorien vielfach übernommen wurde, ferner Henri Estiennes L'Art de Faire les Devises (1645) und schließlich C.-F. Menestriers erwähnten Traktat L'Art des Emblèmes. Abgesehen von der Untersuchung dieses bedeutenden Werks der Emblemtheorie ist es ferner das Verdienst von Scholz, dass er einen Theorie-Abriss des schottischen Renaissance-Autors William D r u m m o n d of Hawthornden, enthalten in einem Brief an den Earl of Perth und veröffentlicht unter dem Titel «^4 short Discourse upon Impresa's and Anagrams«, entdeckt und analysiert hat (197 ff.). Den Abschluss des ersten Hauptteils des Buches bilden Untersuchungen zu gemeinsamen Merkmalen des behandelten Theorienkorpus wie die Brevitas-Vorschrift, die Leib-Seele Metaphorik für pictura und subscriptio und das Verhältnis von Emblempoetik, Emblembegriff und Emblemkorpus. A m relevantesten scheint in diesen emblemgeschichtlichen Ausführungen die Erkenntnis, dass das Emblem der frühen Neuzeit Bestandteil einer topica universalis ist und die Emblemtheorien eine topische Grundstruktur besitzen. I m zweiten Hauptabschnitt setzt sich Scholz unter dem Zwischentitel »Systematische Studien« mit neueren Emblemtheorien auseinander. I m ersten Unterkapitel kritisiert er Schönes modernistische Terminologie, die mit solchen Ausdrücken wie »Ontologie«, »potentielle Faktizität« oder »Entmythologisierung« dem Realitätsbezug des Emblems nicht gerecht werde, und verweist

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stattdessen auf die nach seiner Ansicht sehr viel modernere Konzeption des historischen Theoretikers Pierre Le Moyne, der in L'Art des Devises (1666) die réalité des »Köpers« (corps) des Emblems, d. h. seiner pictura y i m Kontext der Begriffe créance commune und opinion ansiedelt. Scholz schlägt angesichts von Emblemen, die in ihrer Bildlichkeit nicht Gegenstände der lebensweltlichen Natur, sondern solche der Kunst und Mythologie denotieren, zu Recht vor, Begriffe wie »potentielle Faktizität« oder »Ontologie« fallenzulassen und durch »Semantik« zu ersetzen. Er weist dabei darauf hin, »daß in der Periode der Produktivität des Emblems das Faktum der möglichen Bedeutungen einer pictura i m Sinne von deren möglichen Referenzialisierungen oftmals das Faktum der miteinander konkurrierenden Formen des Wissens widerspiegelt« (269). I m nächsten Kapitel w i r d die Frage der Gattungszugehörigkeit des Emblems erörtert, wozu wiederum die einschlägige Forschungsliteratur herangezogen wird. Dabei stellt sich heraus, dass der Variantenreichtum des Emblems offensichtlich einer eindeutigen Definition des Genres i m Wege steht. U m dieses Problem zu lösen, postuliert Scholz i m Rückgriff auf die von der klassischen Rhetorik etablierten Phasen der Textkonstitution ein Schema, das den emblematischen Text aus idealgenetischer Perspektive darstellt. Dies geschieht auf vier Artikulationsebenen: »1. Ebene der Handlungsnormen und der handlungsrelevanten generellen Sätze (inventio) > 2. Ebene der Darstellung (dispositio) > 3. Ebene der Perspektivierung (dispositio) > 4. Ebene der sprachlichen und bildlichen Realisierung (ielocutio)« (294). A u f diesen Artikulationsebenen erfährt die Textsorte Emblem eine detaillierte systematische und durch historische Beispiele belegte Differenzierung und erfüllt somit die von Scholz vorgeschlagene Normalform des Emblems mit konkreter Substanz: [ . . . ] das normale Emblem hat eine dreiteilige, vertikal angeordnete Oberflächengestalt, es hat ein ausgeführtes Bild, es nimmt eine ganze Blattseite ein, der sprachliche Teil des dreiteiligen Gesamttextes oberhalb des Bildes besteht in der übergroßen Zahl der Fälle aus einer einzigen Zeile, derjenige unterhalb des Bildes besteht aus einigen wenigen Versen, und schließlich: der sprachlich-bildliche Text als Ganzes enthält einen expliziten oder impliziten allgemeinen Lehrsatz bzw. eine explizite oder implizite, handlungsrelevante Lehre oder Maxime (290). Letztere Bestimmung w i r d i n dem Folgekapitel über »Didaktische Funktion und Textkonstitution i m Emblem« (III.3) näher expliziert, während das Schlusskapitel sich der »Beziehung von Bildstruktur, Bild Wahrnehmung und Bildverständnis i m Emblem« (III.4) zuwendet. Insgesamt kann die von Bernhard F. Scholz vorgelegte Abhandlung als eine umfassende kritische Summe historischer und moderner Emblemtheorien bezeichnet werden, die ältere Studien trotz deren unzweifelhafter Meriten als weitgehend überholt erscheinen läßt. Die kompendienhafte Behandlung des Themas kommt auch in einem den Text illustrierenden ausführlichen Abbil-

Buchbesprechungen dungsteil sowie einem detaillierten Literaturverzeichnis zum Ausdruck. Wenn man an dem Band eines vermisst, so ist dies eine Vorstellung der bedeutendsten Emblembücher von Renaissance und Barock einschließlich der Beschreibung ihrer wechselseitigen Beziehungen und Abhängigkeiten. Doch dafür reicht der Umfang eines einzigen Buches offensichtlich nicht aus. Daher wäre es angebracht, dem vorliegenden Werk einen zweiten Band folgen zu lassen. Als sein A u t o r wäre sicherlich keiner besser berufen als der Groninger Komparatist Bernhard F. Scholz. Trotzdem w i r d man auch in Zukunft neue Funde von Emblemen und Emblemtheorien machen sowie weitere Möglichkeiten ihrer Anwendung zur Erhellung spezifischer kultureller Phänomene entdecken. Das haben in der Vergangenheit bereits Zeitschriften wie Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, Word and Image und Emblematica i n vielfältiger Weise belegt. Heinrich E Plett, Essen Jean Bessière, Manfred Schmeling (Hgg.), Littérature, modernité, réflexivité. Conférences d u Séminaire de Littérature comparée de l'Université de la Sorbonne Nouvelle [Colloques, congrès et conférences sur la Littérature comparée 5], Paris: Honoré Champion, 2002. 222 S. Der Sammelband veröffentlicht die Akten des Kolloquiums, anlässlich dessen die prominenten Herausgeber i m Herbst 1999 Vertreter der internationalen Komparatistik einluden, ihre Beiträge zu »Literatur, Moderne, Reflexivität« zu präsentieren. Die Einheitlichkeit der Tagung (und des Bandes) durch diese sehr allgemein gehaltenen Begriffe aufs Spiel zu setzen, war dabei kalkulierte A b sicht, erlaubte es doch, Ansätze verschiedenster geographischer und methodischer Herkunft zusammenzubringen. So sieht sich Jean-Marie Schaeffer auch veranlasst, mit einer genauen Begriffsbestimmung von réflexivité zu eröffnen (15-27). Sein Beitrag fragt nach einem historischen Horizont, innerhalb dessen sich die heterogene Terminologie heutiger Reflexivitätsdiskurse auf eine grundlegende Konzeption zurückführen ließe. Diesen Horizont erkennt der A u t o r i n der ästhetischen Theorie des deutschen Idealismus und ihre Rezeption in der deutschen Romantik. Er rekonstruiert den Reflexivitätsbegriff nach den Athenäums-Fragmenten Friedrich Schlegels und beleuchtet ihn in fünffacher Hinsicht, illustriert jeweils mit Beispielen vornehmlich aus der deutschen Romantik. Als réflexivité fonctionnelle, réflexivité critique, réflexivité transcendantalisante, réflexivité spéculaire und réflexivité déconstructrice identifiziert J.-M. Schaeffer zentrale Aspekte wie die autoteleologische Existenz des Kunstwerks, dessen Doppelwesen als Kunst und K r i t i k und die romantische Ironie als Infragestellung und Zerstörung der eigenen Konstitutionsregeln. Dass all diese Aspekte in der heutigen Konzeption von Reflexivität wiederkehren, dient Schaeffer als Beleg dafür, die

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Reflexivität der Moderne als legitime Erbin der romantischen Poetik zu verstehen. Manfred Schmeling (59 - 72) stellt einen historischen Abriss des Reiseberichts und Reiseromans vor, einer Gattung, die sich durch ihren Gegenstand der Darstellung der Differenz, des Anderen und Fremden als besonders empfänglich für Reflexivitätsstrukturen auszeichnet. Gegen das gattungsspezifische Merkmal gelingt es M . Schmeling, kurz und konzise die sich verändernden epochalen und autortypischen Funktionen von Reflexivität an ausgewählten Werken hervorzuheben. Von Cervantes, Sterne über Diderot und Schlegel bis zu zeitgenössischen Autoren wie Ransmayr und Theroux ist Reflexivität der O r t eines Skeptizismus und als solches ein Ausdruck von Modernität. Stellte seit Beginn der Neuzeit Reflexivität die Gewissheit menschlicher Perzeption, die Abbildbarkeit der Welt und das Verhältnis von Fakt und Fiktion infrage, resultiert aus der Reflexivität in zeitgenössischen Reiseromanen das Verschwinden des Fremden, der Verzicht auf Authentizität und eine Demontage der eigenen literarischen Tradition. Statt der Entdeckung einzelner Orte geht es den Reisebeschreibungen letztlich u m die Entdeckung der Konstruiertheit von Wirklichkeit. Ähnlich überzeugend und in aller Kürze illustriert Daniel-Henri Pageaux (73 - 84) anhand zweier Textstellen des Don Quichotte, dass es zu den Konstanten reflexiver Texte gehört, die Vorbedingungen ihrer Genese in sich aufzunehmen und zu konservieren. Damit verschieben reflexive Texte die traditionelle Logik des Schreibens, welche entweder darüber zu schweigen gebot oder derlei i n eine Anrufung der Musen umzudichten forderte. Das Ziel der Inklusion des Schreibprozesses, dessen Träger- und Produktionsmittel dient jedoch nicht allein der Zerstörung der romanesken Illusion und der Parodierung literarischer Traditionen. Octavio Paz' El mono gramâtico kann als paradigmatisch aufgefasst werden für das Bemühen, die Linearität der écriture durch Reflexivität zu überschreiten, indem die Referenzfunktion der »Sprache-Wörter« (mots-langagey 80) aufgehoben wird. Die Wörter verweisen nicht länger auf die Außenwelt - die in der Malerei ohnehin getreuer abbildbar ist - , sondern werden selbst zum Gegenstand ästhetischer Betrachtung. Reflexivitätsstrukturen transformieren den linearen Text i n einen räumlichen, in dem die Wörter die mythische Epoche der Einheit von Graphie und Bedeutung wiederfinden. Reflexive Literatur bindet das Sehen neu ein in die Dimension des Schreibens /Lesens. A n die semiotische Problematik anknüpfend, veranschaulicht Zacharias I. Siaflekis i m Vergleich dreier Gedichte F. Pessoas, J. Supervielles und A . Embiricos', wie Reflexivität als zentrales Element der Sinnbildung lyrisch-poetischer Texte fungiert (85 - 99). Seine vielfach interessanten Beobachtungen zur Reiseund Identitätsthematik führen i m Ganzen jedoch zu keinem sehr originellen Ergebnis.

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Der einzige englischsprachige Artikel ist zugleich der mit Abstand längste (101-33). Ausgehend von Nietzsches Kausalitäts- und Sprachkritik steckt Monika Schmitz-Emans fundiert, aber nicht ohne Redundanz, ein imposantes philosophisches Feld ab, das Modernität als (letztlich: »notwendig«!, 130) explizit selbstreflexiv postuliert und Reflexivität dabei als Selbstbegründung versteht. I m »project of turning notions and concepts to the reverse« (104) verschreibt sich der moderne Text immer schon der Dekonstruktion der traditionellen, fundamentalistischen metaphysischen Begründungsdiskurse und der Mimesis-Poetiken. Diesem Projekt verpflichtet, implementiert der moderne Autor dem Text Zirkularitätsparadoxa, die das Leserdenken in hierarchischen Strukturen subversieren. I n dieser Funktion identifiziert M . Schmitz-Emans als wiederkehrendes Muster in einem Dutzend Beispielen das Paradoxon des Möbiusbandes (115 ff.), berühmt nicht zuletzt durch die künstlerischen Umsetzungen M . C. Eschers. Untermauert die Abundanz der Illustrationen (108-13, 118-32) eindrucksvoll die Gültigkeit der These M . Schmitz-Emans', bleibt fraglich, ob eine Bescheidung auf ein Viertel der Beispiele der Sache nicht ebenso Genüge getan und Redundanzen vermieden hätte - zumal die Ausführlichkeit der Veranschaulichung kaum dem Fortgang des Gedankens nutzbar gemacht wird. Dennoch gibt der beanspruchte Raum der A u t o r i n Gelegenheit, den Leser mit einer Vielzahl exzellenter Beobachtungen zu bereichern. Etwas aus der Reihe fällt der metatheoretische Beitrag Paul Corneas ( 2 9 41). Er plädiert für die Rückbesinnung auf eine »intentionalistische« Literaturtheorie, die als Modifikation des autorzentrierten Lektüremodells nicht nach der »Intention« des Autors, sondern des Textes zu fragen hätte. P. Cornea rekonstruiert dazu wichtige Argumente gängiger gegenläufiger Ansätze, mit deren Hilfe er die Schwächen der klassischen biographischen Methode aufzeigt, gleichzeitig aber die Möglichkeit einer Rehabilitation des Autors unter veränderten Vorzeichen unterstreicht. I m Zentrum seines Ansatzes steht eine dreigliedrige Texttypologie anhand des Referenzbegriffs: zwischen den Polen aus »referentiellen« Texten (z. B. wissenschaftlichen Aufsätzen) und »auto-referentiellen« Texten (Sprachspiellyrik der Avantgarde) erstreckt sich das weite Feld der »pseudo-referentiellen« (R. Barthes), d. h. fiktionalen Texte. Diese nähern sich mehr dem einen oder dem anderen Extrem an und schweben daher zwischen gesicherter Autorintention und individueller Leserinitiative. »Verstehensprogrammierung« (36) sei in gewissen Grenzen möglich, insofern der A u t o r sich Lesererwartung, Peritexte und materielle und außersprachliche Paratexte zur Leserlenkung nutzbar machen könne. Diese Strategien gelte es i m Text als »textuelle Intentionalität« (34) ausfindig zu machen. - Auch wenn P. Cornea sich hiermit der überfälligen Abkehr v o m subjektivistischen Leserzentrismus verschreibt, bleibt der A u t o r noch den Beweis schuldig, dass sein Ansatz fruchtbare Ergebnisse zeitigen kann. i t e r t r i e n a t i e

r

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Eine Applikation des Reflexivitätskonzepts auf ein nicht-textuelles Medium, den Stummfilm, versucht François Jost (147-55). Neben den weiteren Beiträgen von Christine Baron, Tania Franco Carvalhal, Philippe Daros und Mireille Calle-Gruber sei noch Jean Bessière lobend genannt, der mit einer Abstraktion und Synthese schließt (191-215). J. Bessière neigt aber - wie auch C. Baron zur Unleserlichkeit, hervorgerufen durch ein Amalgam der Fachsprachen, das sich in seinem Beitrag konzentriert und nicht nur dem ungeübten Leser viel Mühe abverlangt. Dass Reflexivität Kennzeichen der modernen Literatur ist, braucht dieser Band nicht erst zu belegen. D o c h zählt es zu den Verdiensten aller Beiträge des vorliegenden Bandes, Reflexivitätsstrukturen in der Literatur der Moderne in ihren multiplen Erscheinungsformen nachzuforschen und darin die Lesererwartung z.T. zu übersteigen. Daher mag über die Vernachlässigung der A u t o biographiegattung i n diesem Sammelband (mit Ausnahme des Aufsatzes M . Calle-Grubers) unterschiedlich geurteilt werden. Erwähnenswert scheint hier auch der Gedanke T. F. Carvalhals, Reflexivität u. a. als Intertextualität zu definieren. Insofern der Dichter zitiert, w i l l er sich in eine bestimmte literarische Tradition eingeordnet sehen. W i l l man jedoch wie die vorliegenden Beiträge an Reflexivitätsstrukturen in der Moderne irgendeinen signifikanten Inhalt festmachen, muss man acht geben, nicht alles als reflexiv zu erklären. So vermeidet der Band durchgehend die fatale These, nach der jeder Text immer schon deswegen reflexiv ist, weil er sprachlich strukturiert ist. Zudem sollte niemand aus dem Auge verlieren, dass Selbstbezüglichkeit keine Erfindung der Moderne ist, sondern seit Sokrates das Abendland durchzieht; und das Mimesis und Referenz nach wie vor feste Bestandteile auch der modernen Literatur bleiben. Christoph Wolter; Kiel

M o n a Körte, Die Uneinholbarkeit des Verfolgten. D e r Ewige Jude i n der literarischen Phantastik. Frankfurt a. M . / N e w York: Campus, 2000. 347 S. Leicht ist die Aufgabe nicht, die sich Mona Körte gestellt hat. Die Ursprünge der Legende u m den mit dem Fluch der Unsterblichkeit Belegten, u m den bis zum Jüngsten Tag Verdammten, verurteilt, durch die Welt zu irren ohne Rast und Ruhe, weil er Christus auf seiner via crucis zum Golgatha geschlagen bzw. weil er I h m auf dessen Leidensweg eine kurze Rast mißgönnt habe, lassen sich bis ins frühe 13. Jahrhundert verfolgen, und schier unübersehbar ist die Fülle der literarischen und ikonographischen Zeugnisse, welche die Gestalt des Ewigen Juden i m Verlauf der Jahrhunderte hervorgebracht hat. Einblick in den Reichtum von Bilddokumenten zum Stoff hat zuletzt die Ausstellung gewährt, die vom 26. Oktober 2001 bis zum 24. Februar 2002 i m

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Pariser Jüdischen Museum gezeigt wurde und deren eindrucksvolle Zusammenstellung der reich bebilderte Katalog vor Augen führt. 1 Wie dort gezeigt wurde, zeugen nicht zuletzt Plakate von der enormen Popularität dieser Gestalt, die den rastlosen Wanderer durch die Jahrhunderte u. a. für eine Schuhwerbung beanspruchten. Die Bilder der Pariser Ausstellung erzählen auch von der Ambivalenz des Stoffes, der unweigerlich mit der Geschichte der Haltung einer christlichen Umgebung gegenüber der gleichzeitig in ihr und außerhalb ihrer lebenden Gemeinde der jüdischen Mitbürger verquickt ist und sowohl negativ als auch positiv besetzbar und besetzt ist. Neben Darstellungen, die durch anti- sowie philosemitische Einstellungen grundiert sind, gebiert diese Gestalt auch (Bild-)Dokumente, die von einer neuen Sicht auf diesen zur Rastlosigkeit Verdammten erzählen, auf den Entwurzelten, Unbehausten, Einsamen, der mit seinem Schicksal zu einer Denkfigur einer Moderne auf der unendlichen, ewigen Suche nach einem onthologischem ubi consistam wird. N i c h t weniger intensive Verbreitung findet der Stoff in der Literatur, die gegenüber der bildenden Kunst i n der Rolle der Anregungen gleichermaßen Nehmenden und Spendenden auftritt. Ihr ambivalentes Gesicht zeigt der Ewige Jude auch hier. Von der noch i m neutralen Ton gehaltenen Legende zum antisemitischen Pamphlet, von der psychiatrischen Fachliteratur zum Roman, i n dem, wie beim in Europa stark verbreiteten, 1844 erschienenen mehrbändigen Roman Le juif errant von Eugene Sue, die Gestalt eine neue, positive sozialkritische Konnotation erhält, streift der endlos Fliehende, der Unerlöste durch die Literatur vieler Jahrhunderte und vieler Kulturlandschaften. Der, wie es Karl Gutzkow ausdrückt, zur »negativen Unsterblichkeit« (70) Verdammte w i r d i n der Literatur der Moderne zum Mythos, und seine Züge fließen übergangslos und oft unentwirrbar mit denen anderer literarischer Untoter zusammen, welche die »unendliche Fahrt< der unbehausten modernen Seele versinnbildlichen: der Fliegende Holländer, the Ancyent Marinere , der Vampir. Den roten Faden bei der Fülle des stofflichen und motivischen Materials nicht zu verlieren, der zum Themenkomplex des Ewigen Juden vorliegt, ist zweifelsohne ein hervorragendes Verdienst der klugen und lehrreichen Arbeit von Mona Körte, die an der Technischen Universität in Berlin als Dissertation vorgelegen hat. Der Bewältigung des gewaltigen Pensums ist die jahrelange Beschäftigung Körtes mit dem Thema zugute gekommen, aus der u. a. die von ihr mitherausgegebene, hier ausdrücklich empfohlene Anthologie Ahasvers Spur

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Le juif errant: un témoin du temps. Paris, Musée d'Art et d'Histoire du Judaïsme (Paris 2001). 2*

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hervorgegangen ist, die entlegene, seltene und unentbehrliche Texte zur Geschichte dieses literarischen Stoffes verfügbar macht. 2 M i t sicherer Hand begleitet Körte i m ersten Teil der hier besprochenen Arbeit (Ahasver, der Jude, 11-68) ihre Leser auf den wichtigsten Etappen der langen europäischen Geschichte dieses Mythos, u m sie aufgeräumten Kopfes und Herzens an die Hauptthese ihrer Studie heran zu führen. Weder »rückwärtsgerichteter oder rückwärtslesender literarischer Antisemitismus« (16) soll betrieben noch philosemitische Konnotationen sollen vorrangig Gegenstand der Betrachtung werden. Körte w i l l vielmehr die »bisher verborgen gebliebene Geschichte Ahasvers« erzählen (17), indem sie eine Interpretation der Figur von ihren literarischen Gattungen her versucht und ihre Analyse auf die poetischen Verfahren fokussiert, die für die Zuschreibung der von ihr untersuchten Werke zum Themenkomplex des Ewigen Juden ursächlich sind. Der Ansatz, diese Figur ideologisch zu entlasten und die Geschichte eines literarischen Stoffes mit den ihr gemäßen Instrumenten literarischer Analyse zu betrachten, ist sehr zu begrüßen, und in der Tat bieten die Kapitel des Buches eine äußerst reizvolle, gekonnte und souveräne Behandlung des Themas. I n «Ahasvers Gattungen« (69-130) werden die Wanderungen dieser Gestalt durch die Literatur verfolgt: von der »Anti-Legende« (72) zur Oper, von der Novelle zum Roman mit seinen Untergattungen, vom Epos zum Drama. Es folgen Einzelanalysen zu den Sprachen des Ewigen Juden (133-309), d. h. zu repräsentativen Romanen des 19. und 20. Jahrhunderts: Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (133-162); Jean Potockis Manuscrit trouvé ä Saragosse (163185); E.T.A. Hoffmanns Die Elixiere des Teufels (186-211); Charles Maturins in der Tradition der Gothic Novel abgefaßter Roman Melmoth the Wanderer (212-238); Gustav Meyrinks Das grüne Gesicht (239-265); Leo Perutz' Der Marquis de Bolibar (266-283) und Klaps oder Wie sich Ahasver als Saint Germain entpuppt , der 1924 veröffentlichte phantastische Roman des heute vergessenen E m i l Szittyas (284-309). Ein Ausblick mit einer abschließenden Synthese der Untersuchungsergebnisse, Ahsver ohne Ende (313-326), rundet die Arbeit ab. Die Uneinholharkeit des Verfolgten - und dies sei hier vorweggenommen ist eine überaus lohnende Lektüre, zu der ein einziger Einwand zu erheben ist: der etwas irreführende Titel, der für manche Irritation sorgt. Geht man an die Lektüre des Buches mit der Erwartung, Wissenswertes über den Ewigen Juden in der literarischen Phantastik »anhand ausgewählter Werke der europäischen Literatur zu erfahren«, wie der Buchumschlag verspricht, so w i r d man nicht 2 Ahasvers Spur. Dichtungen und Dokumente vom »Ewigen Juden«, hg. und mit einem Nachwort von Mona Körte und Robert Stockhammer, Reclam-Bibliothek 1538 (Leipzig 1995).

Buchbesprechungen ganz das Angekündigte finden. Der Schwerpunkt der Untersuchung Körtes liegt unverkennbar auf der deutschsprachigen Literatur, die das referentielle System der ganzen Arbeit bildet, und das Adjektiv europäisch' bezieht sich lediglich auf Werke französisch- und englischsprachiger Literatur, die, außer i n den Abschnitten über Maturins Melmoth the Wanderer und Potockis Geheimbundroman, i m Laufe der Arbeit gelegentliche Erwähnung erfahren, wobei das bedauerliche Fehlen eines Namenregisters das Verfolgen dieser Spuren erheblich erschwert. Eine Einbeziehung literarischer Werke der Primär- und Sekundärliteratur 3 aus anderen europäischen Landschaften fehlt ganz, was die bloße Erwähnung des Titels des literarisch weniger ambitionierten Romans von Fruttero und Lucentini, Uamante senza fissa dimora , i n einer i m übrigen üppigen Bibliographie um so mehr bedauern läßt. Veranlaßt der gewählte Titel zur milden Kritik, zeigt Körtes Arbeit als »Fallstudien zur phantastischen deutschsprachigen Literatur i m europäischen Kontext« betrachtet große Vorzüge. Sie ist angenehm zu lesen, weil sprachlich und stilistisch beherrscht und diszipliniert und dennoch dem behandelten Stoff unübersehbar zugetan, spannend i m Argumentationsaufbau, inhaltlich anregend und mit originellen Gedanken gespickt, die zur Weiterbeschäftigung mit dem Thema und zur Suche nach »ahasverische[n] Gattungfen]« (283) der Weltliteratur auf die von Körte aufgezeigte Weise reizen. Für den Gewinn, den ich bei der Lektüre ihrer Arbeit gezogen habe, gebührt ihr mein Dank. Rita Unfer Lukoschik, Berlin

Minorisierte Literaturen und Identitätskonzepte in Spanien und Portugal: Sprache - Narrative Entwürfe - Texte, hg. Javier Gómez-Montero [Beiträge zur Romanistik 5], Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2001. 413 S. Die Konstruktionen kollektiver Identität über Sprachbewusstsein und Literatur auf der Iberischen Halbinsel sind ein Thema, das selten aus vergleichender Sicht behandelt wird. Eine solche Sicht ermöglicht der vorliegende Band. Die Vielfältigkeit, die der Titel verheißt, w i r d durch eine Fülle anregender Studien eingelöst und durch eine Anthologie zeitgenössischer baskischer und katalanischer Poesie sowie galicischer Kurzprosa i n Originalsprache und deutscher Übersetzung abgerundet. Die 15 Studien basieren großenteils auf Vorträgen, die i m Rahmen der Sektion »Identität und Territorialität i n den Literaturen der 3

Es sei hier zumindest auf den sehr anregenden Sammelband hingewiesen, den Esther Fintz Menascé 1993 herausgegeben hat: L'ebreo errante: Metamorfosi di un mito y a cura di Esther Fintz Menascé (Milano 1993).

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Iberischen Halbinsel« auf dem 12. Hispanistentag (Humboldt-Universität zu Berlin 1999) präsentiert wurden. Die Anthologie, die die letzten achtzig Seiten umfasst, kann als Pendant zu dem Buch Territorios

de la Poesía (Berlin: Tranvia

2001, 190 S.) verstanden werden, das ebenfalls v o n Javier Gómez-Montero, Professor für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität Kiel, herausgegeben wurde. 1 Diese Vielfältigkeit ist allerdings schwer zu bändigen, was sich schon i n den zwei Junktionen des Haupttitels reflektiert. Beide Elemente, Minorisierte Literaturen und Identitätskonzepte, scheinen sowohl auf Spanien als auch auf Portugal bezogen. D i e Vermeidung eines iberischen Überbegriffes zugunsten der Ländernamen, die der Zwei-Staaten-Gliederung i m Zuge des Absolutismus bis zur Gegenwart entsprechen, suggeriert Ausgrenzungen und Verzerrungen, die jedoch den hier versammelten Studien i n ihrer Reichweite und Differenziertheit gänzlich fern liegen. So behandelt A n t o n i Rosseil ausgehend v o m okzitanisch-provenzalen Beispiel Identitätsstrategien i n literarischen Texten des M i t telalters, i n denen sich romanische Sprachen gegenüber dem Latein behaupten und untereinander i n Beziehung treten, exemplarisch bei Alfonso X , ohne dam i t direkt Ausdruck v o n Kollektividentität, Territorialität oder Macht zu sein. Franz-Josef K l e i n zeigt, dass selbst i m 16. u n d 17. Jahrhundert unter der D o m i nanz des Kastilischen unterschiedlich gelagerte Apologetiken des KatalanischValenzialischen stattfinden. Dies mahnt zur Vorsicht gegenüber vereinfachenden Vorstellungen analog laufender sprachlicher, kultureller und sozial-politischer Identitätskonstruktion bzw. v o n Hegemonisierung und Minorisierung in Diglossie-Situationen. A u c h der Herausgeber Gómez-Montero bedenkt die Problematiken i m Vorwort historisch. Trotzdem spricht er v o n einem Zulaufen der »Kräfte« des Literatursystems der Iberischen Halbinsel »zumindest seit dem Spätmittelalter i n zwei dominanten Diskursen [ . . . ] , deren institutionelle Zentren bis heute M a d r i d und Lissabon sind [ . . . ] « , w o h l u m die Setzung von Portugal und Spanien i m Titel zu begründen (X). Es fällt schwer, i m Anschluss hieran eine »horizontale Verbindung« zwischen der spanischen und portugiesischen Literatur zu akzeptieren, die auch analoge Ausbildungen v o n Identitätskonzepten und Sprachbewusstsein suggeriert, gar m i t vergleichbar hegemonialer Ausrichtung gegenüber minorisierten Sprachen, Kulturen und Literaturen (X). Dies ist natürlich kaum der Fall, wie dies die Absenz Portugals i n den auf Spanien zentrierten historischen Ausführungen

Gómez-Monteros

über die Dialektik von Hegemonisierung und Minorisierung ex negativo

zei-

gen ( X V - X V I I I ) . Denn unter minorisiert könnte man für Portugal nur M a deira und die Azoren oder das i n letzter Zeit aufgewertete »mirandes« verbuchen (sowie i m Zuge der Immigration das kapverdische »crioulo«). Verein-

1

Jaume Pont ist der einzige Autor, der in beiden Publikationen vertreten ist.

Buchbesprechungen facht gesagt liegt Portugals Position zwischen dem Hegemonialstaat Spanien kastilischen Ursprungs und am ehesten Katalonien, denn dort begegnen sich eigene Dominanz-Strategien und Minorisierung in ähnlicher Weise wie in Portugal, begleitet von Anti-Fixierungen. Kataloniens »Normalisierung« steht den bildungs- und kulturpolitischen Anstrengungen Portugals gegen spanische Überfremdung durchaus nahe. Die spanische und die portugiesische Literatur gehören eben nicht in gleicher Weise zu den »traditionell hegemonialen Literaturen« (XII). Daher lässt sich auch kaum eine horizontale Junktion zwischen Juan Goytisolo und José Saramago knüpfen, denn die »Dekonstruktion der Bilder des Selbst« ( X I I ) besitzen ganz verschiedene Ausprägungen und Reichweiten, wie dies i m Einzelnen Claudius Armbruster und Burghard Baltrusch deutlich machen. Die Begründung von Nationalbewusstsein als Wiedergeburt aus der Literatur nach romantischem Muster (Gebrüder Schlegel) betrifft i n der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in verschiedenen Phasen und Verwerfungen sowohl hegemoniale als auch minorisierte Identitäten, wie Gómez-Montero für Spanien zeigt ( X V I - X V I I I ) . I m Falle Portugals bilden Teixeira de Pascoaes und der Saudosismo das direkte Pendant zu Unamunos Ontologisierung. Die Bewegungen i m Geiste der Romantik konstruieren in Essentialisierung und Emotionalisierung (Pathos) - durchaus harmonisiert mit der Hegemonisierung des Kastilischen zum (stolz-feurigen) Kern-Spanien gegenüber dem (sanft-traurigen) Rand-Portugal zugleich die plurale Konfiguration der Iberia, überhöht als ursprüngliche, wiedergeschöpfte. Die Beiträge von Maria Xesús Lama López zur keltischen Konstruktion der galicischen Identität und von Roger Friedlein zum Mittelalterrekurs in der katalanischen Renaixença , insbesondere i m Musiktheater, illustrieren dies, während Miguel Ramos Corrada und Roberto Gonzälez-Quevedo die Schwierigkeiten der Literatur auf Asturisch (Bable) aufzeigen, von der Romantik ausgehend an die Moderne und Nach-Moderne Anschluss zu finden. Die Verabschiedung der Essentialisierung, die nach Gómez-Montero »unter dem Eindruck einer postmodernen Konstellation« gelte ( X X ) , muss relativiert werden i m Sinne von Armbrusters Hinweis auf das Fortwirken »neoromantischer Residuen« und die »Gefahr des Monologischen aus der obsessioneilen Suche nach dem Ursprung« i n Literaturen der Iberischen Halbinsel, »die aus ihrer minoritären oder marginalisierten Lage einen polylogischen und postkolonialen Diskurs zu entwickeln suchen« (242). Diese Re-essentialisierungen treten trotz oder gerade wegen der Dominanz aufklärerischer Rationalisierung und supranationaler Modernität auf. So gilt es nicht nur, den Urbanen Raum mit minorisierten Sprachen meist ruraler Herkunft zu erobern, sondern auch universale Urbanität zu Identitätszeichen umzuwerten, wie dies etwa i m publikumswirksamen Genre des Kriminalromans geschieht. 2 »Stadt, Autobahn und

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Kindheit« erscheinen i m konzis-witzigen Beitrag Jon Kortazars als »drei Achsen der sentimentalen Geographie der zeitgenössischen baskischen Literatur«. Diese Achsen beweisen sich nicht zuletzt i m aktuellen Produzieren und Publizieren baskischer, galicischer oder asturischer Lyrik, sowie zum geringeren Teil katalanischer Lyrik, die dank der starken bürgerlichen Tradition des Katalanischen so wie die gesamte katalanische Kunst in ein viel reicheres Verhältnis zur Moderne und Nach-Moderne eintreten konnte. Dies zeigt Jaume Ponts Beitrag zur »schöpferischen Transversalität« Joan Brossas beispielhaft. Die historischen sowie die soziologischen Ansätze, letzterer etwa bei Andreu van H o o f t Comajuncosas auf der Basis des Literaturmarktes intra-iberischer Übersetzungen der letzten Dekade (wiederum ohne das Portugiesische), vermögen weit mehr zu überzeugen als der systematische von Xoän GonzälezMillän, der zu Beginn des Bandes extensiv präsentiert wird. Aus kurzen A b schnitten und Fussnoten muss man die Applikation auf die Situation Galiciens herauslesen. Die »ideologische Artikulation des literarischen Nationalismus« und seine mögliche »Kristallisierung zur Nationalliteratur« i m Rahmen soziokultureller Situationen, die durch einen »Erfahrungsmodus von Abhängigkeit« geprägt sind, vollziehe sich auf der Basis komplexer und problematischer Relationen »zwischen einer bestimmten diskursiven Kanonbildung / Hierarchisierung und den potentiellen Defiziten einer sozialen Diskursmatrix« (9). Da diese Prozesse primär als institutionelle begriffen werden, nähert sich die Theoriebildung und davon abgeleitete Desiderate und Postulate dem monologischen Design von Kultur- und Sprachpolitik an, das auf »Normalisierung und eine Eroberung des öffentlichen Raumes« (24) ausgerichtet ist. Konkurrierende Konstruktionen (etwa i m Falle von Galicien die Lusophilie) oder schlicht das polyphone Wuchern i m Sinne Bachtins oder Transversalität (siehe Baltrusch zu Saramago) werden ausgeblendet oder mit dem Institutionellen harmonisiert. Es geht nicht mehr darum, sich Herausforderungen von Demokratisierung, K o m merzialisierung und Technologisierung zu stellen, sondern u m das - zum Glück - nicht völlig planbare Mitspielen minorisierter Kulturen und Sprachen i m vielstimmigen Konzert einer zugleich globalen und lokalen diskursiven Logik, die - wie beispielsweise Suso de Toro - die anglo-amerikanische Hegemonisierung durch Hybridisierungen aushöhlt. Dabei können historisch gewachsene Migrationszentren, sowohl innerhalb wie ausserhalb der Iberia und Europas (Galicien auf Cuba, die Azoren in den USA), i m Sinne »flüchtiger Identitäten< 3 post2

Siehe zum Beispiel Emilio Frechilla Díaz, »La novela policiaca asturiana en el contexto de la narrativa española actual«, in: La novela policíaca en la Península Ibérica , hg. Béatrice Schmid e Montserrat Ollé (Basel 1998), 59-73. 3 Identidades fugidias ist auch der treffende, von Mia Couto inspirierte Titel des Sammelbandes, den das grenzüberschreitende Centro de Estudos Ibéricos in Guarda 2001 publizierte.

Buchbesprechungen nationale kulturelle Geographien bilden. Die weltweite Medien-Präsenz Andalusiens beweist den Erfolg der nicht-konzertierten Vermarktung einer Identität, die - wie Christian Wentzlaff-Eggebert zeigt - auf einer engen Koppelung von essentialisierter Territorialität, emotionalisiertem Gedächtnisraum und einer starken Tradition von Mündlichkeit (plus Musik und Tanz) beruht. Der vorliegende Band leistet i n seiner schwer zu bändigen Vielfältigkeit einen grundlegenden Beitrag zur Auseinandersetzung mit kollektiven Identitäten und ihrer Literarisierung auf der Iberischen Halbinsel i n einer Zeit des vielfachen Umbruchs, den Juan Goytisolo schon früh erfasst hat, wenn er sich »radikal von der Suche nach dem Urspanischen und Uriberischen« abwendet und »das Wagnis einer ungeordneten, chaotischen, vielfarbigen, schillernden und auch schrillen kulturellen Identität« eingeht (243). Für Armbruster entspricht das plurikukturelle und plurizentristische Denken - in Übernahme der botanischen Metapher des Rhizoms von Deleuze - der Vorstellung eines »Wurzelstocks, der sich enthierarchisiert ausbreitet mit zahlreichen Querverbindungen, feinen Verästelungen oder Verwurzelungen, ohne dass eine Haupt- und Urwurzel erkennbar wäre« (243). Orlando Grossegesse, Braga B r u n o Zerweck, Die Synthese aus Realismus u n d Experiment. Der englische R o m a n der 1980er u n d 1990er Jahre aus erzähltheoretischer u n d k u l turwissenschaftlicher Sicht [Studies in English Literary and Cultural H i s t o r y / Studien zur Englischen Literatur- und Kulturwissenschaft 3], Trier: W V T Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2001. 309 S. Die Studie, der die Dissertation des Verfassers an der Universität Gießen zu Grunde liegt, untersucht englische Romane der 80er und 90er Jahre des 20. Jahrhunderts, die Elemente realistischen und experimentellen Erzählens vereinen. U m die für diesen Zeitraum charakteristische »Synthese aus Realismus und Experiment« genauer zu bestimmen, w i r d ein »erzähl- und rezeptionstheoretisches Beschreibungsmodell« (1) entwickelt. Realismus und Experiment werden dabei als Eckwerte einer gedachten Skala betrachtet, auf der sich je nach dem Maß experimenteller und realistischer Darstellungselemente experimentell-realistische Mischformen bestimmen lassen. Die Basis des Beschreibungsmodells bilden vier Kategorien: erstens Illusionsbildung und Illusionsbrechung (in Anschluß an Werner Wolf), zweitens der Wirklichkeitsbezug eines Textes, drittens die narrative Selbstreflexivität und schließlich viertens Intertextualität und Intermedialität. I n jeweils einzelnen Kapiteln werden diese Kategorien erklärt und ausdifferenziert; als Resultat sind einzelne Textphänomene entweder dem realistischen oder dem experimentellen Ende des Spektrums zugeordnet. Für den Problembereich der Illusionsbildung und Illusionsbrechung in Erzähltexten beispielsweise werden realistische Illusionsbildung

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und experimentelle Illusionsbrechung einander zunächst gegenübergestellt. I n der Folge w i r d zwischen »Illusionsbildung auf der Ebene der Handlung« (Geschehens-, Figuren-, Rede-, Gedanken-, Situationsillusion) und »Illusionsbildung auf der Ebene der erzählerischen Vermittlung« (Erzählillusion) und zwischen »Erlebnisillusion« und »Referenzillusion« unterschieden. (48-55). Es w i r d überzeugend argumentiert, daß der Illusionsgrad von der Mischung und Motivierung unterschiedlicher Formen der Illusionsbildung abhängig ist. Es w i r d hier - wie auch bei den übrigen Grundkategorien - zwar eine Einordnung von Textmerkmalen an den jeweiligen Polen »realistisch« und »experimentell« vorgenommen, etwa wenn eine hohe »Anzahl verschieden ausgeprägter Illusionstypen« der realistischen Illusionsbildung entspricht und eine niedrige Anzahl der experimentellen Illusionsdurchbrechung, jedoch w i l l das Beschreibungsmodell keineswegs eindeutige Relationen von Form und Funktion etablieren. Erst Ausmaß und Kombination einzelner Merkmale, die durch die einzelnen Analysekategorien genau erfaßt werden können, entscheiden über den insgesamt realistischeren oder experimentelleren Charakter eines spezifischen Textes. So ergibt sich ein differenziertes und flexibles Instrumentarium an Analysekategorien, das zudem bereits i m theoretischen Teil der Arbeit durch Bezugnahmen auf eine große Zahl englischer Romane der letzten Jahrzehnte gestützt und veranschaulicht wird, die von Pat Barkers Regeneration Trilogie über den magic realism Angela Carters bis hin zu den Experimenten von Christine Brooke-Rose reichen. I n der theoretischen und methodischen Grundlegung der Studie werden textliche Darstellungsverfahren sehr differenziert kategorisiert; das geschieht allerdings nicht mit allen Maßstäben, an denen sie gemessen werden. So w i r d der Geltungsbereich von Begriffen wie >WirklichkeitsvorstellungWirklichkeitsverständnisErfahrungswirklichkeitlebensweltliches Wirklichkeitsmodell< nicht weiter erläutert. Es ist problematisch, wenn literarischer Realismus - i m Kontext einer i m übrigen klaren und überzeugenden »Begriffsexplikation von Realismus und Experiment« (21 - 3 7 ) - an nicht weiter erklärten »lebensweltlichen Realitätsvorstellungen« gemessen w i r d (29-31), zumal Vf. zurecht betont, daß sich Wirklichkeitsvorstellungen verändern: er spricht von der »Dynamisierung von Realitätsvorstellungen und Darstellungskonventionen« (32), von Wirklichkeitsvorstellungen, die einer »bestimmte[n] Gesellschaft, eine[r] Epoche oder eine[m] spezifischen Personenkreis« (56) zukommen. Es fragt sich, ob literarische Konventionen und entsprechende Erwartungen an Textform und Textinhalt nicht letztlich eine operablere Größe darstellen als »konventionalisierte Wirklichkeitsvorstellungen« (31), zumal das Experiment hier ohnehin als Deviation vom Realistischen bestimmt wird. Wenn als Beispiel für »konventionsdurchbrechende Erzählverfahren« modernistische »Formen von stream of consciousness« angeführt werden, an denen deutlich

Buchbesprechungen werde, daß »modernistische Erzähltexte [ . . . ] es sich zur Aufgabe gemacht hatten, die geänderten epistemologischen Prämissen eines subjektivierten W i r k lichkeitsverständnisses literarisch >nachzuahmenWirklichkeitsbezug< in den Textanalysen eine zentrale Rolle zukommt. I n dem der Untersuchung einzelner Romane gewidmeten zweiten Teil der Studie werden die i m ersten Teil erarbeiteten Analysekategorien nicht einfach systematisch abgearbeitet, denn das Interesse gilt nicht allein den Formen »experimentell-realistischen Erzählens«, sondern auch den »gesellschaftsbezogenen und diskursiven Funktionen« dieses Erzählens. So stellt Vf. etwa fest: »Die selbstreflexive Problematisierung ästhetischer Konventionen und allgemeiner Formen der Repräsentation geht i n der Regel einher mit der entschiedenen K r i t i k an politischen, kulturellen oder sozialen Zuständen i n der zeitgenössischen englischen Gesellschaft«. (116) Grundlage des zweiten Teils der Studie sind sechs Romane: Anthony Burgess' Earthly Powers (1980), J.G. Ballards Cocaine Nights (1996), W i l l Selfs GreatApes (1997), Fay Weldons Splitting (1995), Salman Rushdies The Ground Between Her Feet (1999) und Julian Barnes' Englandy England (1998). Diese ganz überwiegend aus der zweiten Hälfte der 90er Jahre stammenden Texte werden allerdings noch durch eine Reihe weiterer, jedoch nicht ausführlich besprochener Beispiel der englischen Erzählliteratur auch der 80er Jahre ergänzt. Vf. reklamiert hier für sich ein »kulturwissenschaftliches« Verfahren; der »Schwerpunkt« liegt »auf der Frage nach literarischen Inszenierungen gesellschaftlicher Diskurse«. (3) Von den untersuchten Texten heißt es, daß sie »verschiedene kulturelle Spezialdiskurse miteinander [verbinden] und [ . . . ] dadurch zu ihrer gesellschaftlichen Reintegration beitragen].« (279) Es erfolgt eine anschauliche Darstellung der Themen der untersuchten Texte, die i n Bezug zu »Kulturthemen der 1980er und 1990er Jahre« gesetzt werden: »Die Rückkehr ethischer und religiöser Sinnstiftung«, »die Krise des Individuums in der postmodernen Gesellschaft« und »die Suche nach Identität i m nationalen und interkulturellen Kontext« (116 f.). Das Herausarbeiten zeit- und gesellschaftskritischer Positionen einzelner Autoren stellt dabei aber an sich noch kein spezifisch kulturwissenschaftliches Verfahren dar. Uber die untersuchten Texte hinausgehende Bezüge bleiben bis auf kurze Verweise wie auf »Journalismus und Politik in England« (117) oder »die neue >Ethik< des Thatcherkapitalismus« (177) aus, die »kulturellen Spezialdiskurse< kommen also nicht eigentlich zur Sprache. Die Studie zeichnet sich durch einen klaren und unaufgeregten Stil aus. Irritierend allerdings ist die durchgängige Verwendung weiblicher Formen wie Leserin, w o Leser und Leserin gemeint sind, Rezipientinnen w o Rezipienten und Rezipientinnen gemeint sind, usw. Gelegentlich schwächen zu stark verall-

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gemeinernde Formulierungen an sich durchaus vertretbare Deutungen, etwa wenn gesagt wird, die »Pluralisierung ehemals eindeutiger Identitäten« sei »charakteristisch für die postmoderne Gesellschaft« (130), wenn von der »verschärften moralischen Unverbindlichkeit des westlichen Wertesystems i m späten 20. Jahrhundert« (165) die Rede ist oder »dem ethischen Vakuum, das die Postmoderne mit sich bringt« (170). Auch w o bei der Textinterpretation schlagwortartige Fügungen wiederholt werden wie »Aufrechterhaltung der Unversehrtheit des Individuums« (127), »gefährdete Stellung des Individuums in der postmodernen fragmentierten Gesellschaft Englands« (178) »problematische Position des Subjekts in der postmodernen Gesellschaft« (194) wünschte man sich mehr Differenzierung. Trotz solcher Kritikpunkte bleiben die Verdienste der Studie ungeschmälert. Eva-Maria Orth , Jena

Alberto Asor Rosa, L' alba di u n mondo nuovo. Torino: Einaudi, 2002. 325 S. I m Gegensatz zur deutschen Wissenschaftstradition, in der herausragende Vertreter der akademischen Literaturwissenschaft eher selten belletristische Werke verfassen, wagen italienische Berufsgenossen des öfteren den Spagat zwischen reiner Literaturforschung und aktiver literarischer Produktion. Daß diese dichterisch-literarische Tätigkeit der Professorenschaft sehr bemerkenswerte Resultate aufweisen kann, und daß Professorenromane in heutiger Zeit nicht nur dem Genus der antiquarischen Dichtung zuzuordnen sind, zeigen unter anderem Marco Santagatas Roman Papa non era comunista oder auch Maria Cortis neueste Erzählung Le pietre verbali y ganz zu schweigen von Umberto Ecos Welterfolgen. N u n hat auch der Literaturhistoriker Alberto Asor Rosa, Doyen des Dipartimento di studi filologici, linguistici e letterari an der Universität La Sapienza Rom, seinen literarischen Erstling vorgelegt. U alba di un mondo nuovo wurde von der italienischen K r i t i k gefeiert und mit Preisen gekrönt (u. a. Premio Forte-Village 2002) und dies - u m ein Gesamturteil vorwegzunehmen - zu Recht. Der Leser erfährt die aus der Ich-Perspektive geschriebene Geschichte eines Kindes, das gegen Ende der Dreißiger Jahre in Rom eingeschult w i r d und i m Mai 1945 schließlich, als das Buch endet, bereits zum pubertierenden Jüngling herangewachsen ist. Persönliche Erinnerungen werden vor dem Hintergrund der bewegten Geschichte jener Jahre erzählt. Daß es sich hierbei u m einen autobiographischen Bericht handelt, geht aus dem Werk eindeutig hervor. Allerdings stellt sich das Problem einer typologischen Zuordnung, denn mit dem Terminus Autobiographie w i r d man Asor Rosas Erzählung nur bedingt gerecht. Schon auf dem Klappentext werden dem Leser vage und der Eindeutigkeit widersprechende Formulierungen wie [...] una

Buchbesprechungen testimonianza , un romanzo y un ipotesi di autobiografia Charakteristika des Werkes präsentiert.

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als erläuternde

Rein formal betrachtet ist das Buch in zwei Teile untergliedert. Der sehr viel kürzere erste Teil - La luce del crepuscolo betitelt - kann als theoretische Einleitung und Schlüssel für das weitere Verständnis des Buches bezeichnet werden. Teil I I hingegen - U alba di un mondo nuovo - enthält die eigentliche Erzählung. Zentrales Thema des Buches ist die Erinnerung, die subjektive Erinnerung eines älteren Menschen an die Jahre seiner Jugend. Asor Rosa reflektiert i n Teil I i n sehr persönlichen Ausführungen über die verschiedenen Bedeutungsebenen, die er mit dem Begriff memoria assoziativ verbindet Viele der Teilabschnitte beginnen mit dem anaphorisch erscheinenden Aussagesatz La memoria (e) y [ . . . ] in denen der A u t o r den Begriff erschließt und so ein theoretisches Gerüst für das Verständnis der folgenden Erzählung konstruiert, denn die Erinnerungsmomente und Erinnerungsorte, die in Teil I I beschrieben werden, werden in jener subjektiven Perspektive dargeboten, die Asor Rosa in La luce del crepuscolo definitorisch ausarbeitet. Von besonderem Interesse sind hierbei auch die Abschnitte, in denen eine Analogie zwischen memoria und L i teratur hergestellt wird, da sie auf metatextuelle Weise Aufschluß über das dichterische Verständnis des Autors geben: Asor Rosa spricht von der Nähe des literarischen Mythos zur memoria , vom Einfluß der menschlichen Erinnerung auf die literarische Produktion (»Ma la Commedia di Dante non e che la gigantesca proiezione di una straordinaria quantitä di ricordi umani [...]«.)> aber auch von der Verwandtschaft zwischen der Erinnerung und einer literarischen Erzählung und somit von den mentalen Vorgängen, die Dichtung erst ermöglichen: »La nostra storia «reale« nella memoria diventa sempre un »racconto«, molto simile nel suo svolgimento e nelle sue dinamiche a quello letterario, [ . . . ].« I n stilistischer Hinsicht fühlt man sich in Teil I bisweilen an Calvinos Le cittä invisibili erinnert, nicht nur, weil der ausgewiesene Calvino-Kenner Asor Rosa dem ersten Teil ein M o t t o dieses Autors voranstellt. Es sind die zahlreichen Abwandlungen des Themas memoria , die in ihrer reflektierenden und assoziativen Machart den vielen Variationen des Themas »Stadt« i n Le cittä invisibili ähneln. 1 Beide Autoren wählen einen Gegenstand, den sie kunstvoll ausleuchten - auch wenn der kompositorische Konstruktionsplan gänzlich verschieden ist. Auffallend an Teil I ist die melancholische Grundhaltung. Jenes »Licht der Dämmerung« (luce del crepuscolo ) - eine Metapher, die einem Zitat des bekennenden Melancholikers Leopardi entlehnt ist (Vgl. 22) - ist nichts anderes als die Erinnerung. Der Mensch erinnere sich eben auch, so Asor Rosa, »per allontanare la fine, si ricorda per tornare al principio.« U n d dieses gedankliche Zu1

Vgl. auch die mit Le cittä e la memoria betitelten Kapitel in Le cittä invisibili.

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riick-zu-den-Ursprüngen w i r d nun i m zweiten Teil des Buches in einer für die Erinnerung typischen selektiven Weise ausformuliert: Schon durch die Kapitelüberschriften - Schlagworte wie La campagna, La cittä y I libri, U occupazione , La guerra oder La fame - erfährt der Leser, was dem A u t o r nach Jahrzehnten verhaftet geblieben ist und welche Gewichtungen sein persönliches Erinnerungsvermögen vornimmt. Es sind dies die kleinen Dinge - etwa wenn er sich amüsiert ins Gedächtnis ruft, welche Schimpfworte er als Kleinkind von sich geben mußte, um die Aufmerksamkeit der Eltern zu erlangen (Ii pozzo) - aber eben auch jene schicksalhaft-prägenden Ereignisse wie der Ausbruch des Krieges. U alba di un mondo nuovo überzeugt auch als historisches Zeugnis einer spezifischen Zeit. Den geschichtsgesättigten Hintergrund der autobiographischen Erzählung bildet die Geschichte Roms während des Faschismus: dokumentiert w i r d der Übergang von einem von der römischen Zivilbevölkerung anfangs begrüßten, als entfernt und abstrakt empfundenen Krieges, über die Zeit der deutschen Besatzung bis hin zur Befreiung durch amerikanische Truppen. Asor Rosa erzählt vom Hunger, von den Entbehrungen während des Krieges und von den Erfahrungen mit der deutschen Besatzungsmacht. Aus einem deutschen Blickwinkel heraus betrachtet fällt der Respekt auf, mit dem die deutschen Soldaten, trotz aller begangenen Grausamkeiten, beschrieben werden. I n der Erinnerung des Kindes stellen sie häufig den ordnungsliebenden, korrekten, unnahbaren und überstarken Gegenpart ihrer italienischen Kameraden dar. Asor Rosas gesamtes Leben ist untrennbar mit der Stadt Rom verbunden, und es sind die Römer beziehungsweise die Bewohner römischer Vororte, denen er liebevolle Charakterisierungen widmet: die respekteinflößende Figur der ersten Grundschullehrerin, der als Spielgefährte bewunderte, etwas ältere Cousin Carlo, die i m Vergleich zur Metropole etwas rückständig-bäuerlichen Bewohner des Dorfes Artena (in dem das K i n d regelmäßig die Schulferien verbringt) aber auch die zärtlichen Portraits der Mutter - einer energischen, lebenstüchtigen gleichwohl schwierigen Frau - und des künstlerisch begabten und politisch engagierten Vaters. A u f der letzten Seite des Buches kehrt nochmals das Bild der Dämmerung zurück. Sie w i r d nun aber, i m Gegensatz zur melancholischen Konnotation des ersten Teils, positiv belegt, denn die Dämmerung birgt jetzt, nach dem Ende des Krieges i m Mai 1945, jenes titelgebende »Morgengrauen einer neuen Welt« in sich. So w i r d die Dämmerung gleichsam zu einer Metapher für die Erinnerung: das Halbdunkel kann sowohl den Beginn des Tages wie auch den Beginn der Nacht einläuten, es enthält - im übertragenen Sinne - sowohl helles als auch dunkles. U alba di un mondo nuovo ist keine Gelehrten-Autobiographie; Asor Rosa wollte nicht die Geschichte eines angehenden Wissenschaftlers skizzieren, der

Buchbesprechungen den Weg zum eigenständigen Denken sorgfältig mit den Leseeindrücken der Kindheitsjähre beglaubigt. (Wenn er i m Kapitel I libri von Büchern spricht, dann überwiegend von den Abenteuergeschichten, die er als K i n d liebte.) Überhaupt mag es den einen oder anderen Leser verwundern, daß der intellektuellen Sphäre fast keine Bedeutung zukommt. Aber darum geht es Asor Rosa nicht. U alba di un mondo nuovo kann als Sozialgeschichte gelesen werden - als Spiegel des eher kleinbürgerlichen Milieus, in dem der A u t o r aufwuchs - und als historisches Zeugnis, in dem die Geschichte einzelner Menschen mit der allgemeinen »großen« Geschichte verwoben wird. U alba di un mondo nuovo ist aber auch eine Liebeserklärung an die Stadt Rom: noch heute betrachte er auf Spaziergängen wehmütig die »Wunden«, so Asor Rosa, die er mit seinen Spielkameraden einst der Metropole zufügen mußte, als sie in Kriegszeiten schön geschmiedete Eisenzäune und Tore entfernten, u m Metall für die Waffenproduktion zu gewinnen. (165) Das Buch ist aber vor allem eine Huldigung des menschlichen Erinnerungsvermögens, der infiniten und vielfarbigen Möglichkeiten der Erinnerung und somit auch eine Huldigung dessen, was Literatur erst ermöglicht. Uwe Neumahr, ; Bamberg Wolfgang Iser, The Range of Interpretation [The Wellek Library Lecture Series at the University of California, Irvine], N e w York: Columbia University Press, 2000. xv + 206 S. Einer gängigen Unterscheidung zufolge gibt es in den Geistes- und Textwissenschaften hermeneutische und anti-hermeneutische Methoden. Wolfgang Iser, einer der bekanntesten Vertreter der Rezeptionsästhetik, die sich auf die Tradition der Hermeneutik beruft, unternimmt es in dem hier anzuzeigenden Buch, diese Dichotomie mit überzeugenden Argumenten zu überwinden, indem er zeigt, daß alle geisteswissenschaftlichen Methoden auf Interpretation beruhen. Es ist einer der vielen Vorzüge seines Buches, daß er dies auf gänzlich unspektakuläre A r t und Weise und unter Verzicht auf jegliche Polemik tut. Isers Ziel ist es, »to bring interpretation under close scrutiny« (ix). Der A n laß dafür ist das Umsichgreifen dieses Begriffs in den verschiedensten Bereichen, welches dazu geführt habe, daß man ihn keineswegs mehr, wie früher üblich, mit der Hermeneutik gleichsetzen könne (ebd.). Interpretation finde nämlich ihre Anwendung nicht nur (wie in der Hermeneutik) auf textuelle, sondern auch auf nicht-textuelle und nicht-verschriftlichte Gegenstände. Je nach Gegenstand ändere sich dabei die A r t und Weise der Interpretation. Diesen Veränderungen möchte Iser nachspüren. Seine Grundthese lautet, daß jede Form der Interpretation eine Übersetzung sei (5). Ein zu interpretierender Gegenstand (»subject matter«) werde in eine ihm fremde und äußerliche Sprache (»register«) übersetzt. Dabei entstehe ein Schwellenbereich (»liminal space«) zwi-

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sehen Sprache und Gegenstand, der selbst irreduzibel und nicht übersetzbar sei (5 f.). Der vom Interpretationsakt erst hervorgerufene Schwellenbereich stehe, so Iser weiter, zu diesem in einer doppelten und widersprüchlichen Beziehung: Einerseits verweigere er sich der Übersetzbarkeit, andererseits provoziere er den Drang, diese Widerständigkeit zu überwinden. Je nach zu interpretierendem Gegenstand unterscheidet Iser verschiedene Methoden der Interpretation: Z u m Verständnis von Texten und deren Applikation eignet sich der hermeneutische Zirkel , dem das umfangreichste Kapitel des Buches gewidmet ist (41-81). Dieses von Schleiermacher entwickelte Verfahren der Textexegese ist eine Reaktion auf den Verlust von Autorität und Tradition, wie er sich u m 1800 i m Zusammenhang mit der Auslegung biblischer Texte deutlich manifestierte. Als Folie für die Entstehung der Hermeneutik erläutert Iser zunächst das Funktionieren einer auf Autorität beruhenden Auslegung kanonischer Texte i n der jüdischen Tora-Tradition (13-28). Die kanonisierten Texte des Alten Testaments werden durch ihre Interpreten, die jüdischen Schriftgelehrten, den jeweils aktuellen Bedürfnissen der Glaubensgemeinschaft angepaßt, wobei i m Bedarfsfall zur Vermeidung von Widersprüchen und Inkonsistenzen auch eine allegorische Auslegung stattfindet (17). Die Interpretation bedient sich der Form des Kommentars, der seine Autorität von den kanonisierten Texten bezieht und diesen zugleich Autorität zuschreibt. Daraus ergibt sich, daß weder die kanonisierten Texte noch ihre Kommentare für sich allein Autorität besitzen, sondern daß diese zwischen beiden Polen oszilliert und damit zugleich den durch die Interpretation hervorgerufenen Schwellenbereich zwischen »subject matter« und »register« anzeigt, welcher nach Isers These ja charakteristisch für jede Form der Interpretation ist. I n dem Moment, in dem die schon in den Anfängen der Schriftexegese latent prekäre Autorität, die die Gültigkeit sowohl der kanonisierten Texte als auch ihrer Kommentare verbürgt, fragwürdig geworden ist, muß die Lücke zwischen dem Text und seinem Interpreten durch ein eigens dafür entwickeltes Verfahren gefüllt werden: den hermeneutischen Zirkel. Iser nennt drei historische Voraussetzungen für die Entstehung der Hermeneutik um 1800 und den damit markierten Traditionsbruch (43-45): (1) die Abkehr von der Lehre des vierfachen Schriftsinns, (2) den Zusammenbruch der Episteme der Ähnlichkeit 1 1 Dieser Zusammenbruch erfolgte allerdings nach der These von Michel Foucault, auf den Iser sich auf S. 44 explizit bezieht, nicht erst im 18., sondern schon im 17. Jahrhundert, so daß diese Begründung ein wenig unspezifisch erscheint, wie überhaupt der Sprung von der rabbinischen Exegese zu Schleiermacher mit dem argumentativen Zwischenglied von Dr. Johnsons Shakespeare-Kommentar sehr kühn und schwer nachvollziehbar wirkt. Selbst wenn man den exemplarischen Charakter der ausgewählten Etappen einer Geschichte der Exegese in Rechnung stellt, hätte man sich doch einige die kühnen historischen Sprünge kommentierenden Worte der Überleitung gewünscht.

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und (3) die Infragestellung des Glaubens an die Vernunft als wahrheitstrukturierendes und -garantierendes Prinzip. Nach dem Zusammenbruch der alten Verstehensordnungen bleibt als Letzthorizont nur noch die Sprache übrig: »Language takes the place formerly occupied by authority at the time when the canon had to be made available through interpretation.« (47) Die Sprache hat Schleiermacher zufolge eine grammatische und eine psychologische Dimension, die eng miteinander zusammenhängen und durch bestimmte Analysetechniken (syntaktische und kontextuelle Determination und Exklusion bzw. D i v i nation und Vergleich) zu untersuchen sind. Die Vorgehensweise ist dabei insofern zirkulär, als jeder Teil nur aus dem Ganzen, zu dem er gehört, verstanden werden kann und umgekehrt (52); daher der Begriff des hermeneutischen Zirkels: The circle of interlinking part/whole, grammar/psychology, and divination/comparison is the hallmark of hermeneutics. It highlights the fact that there is no longer a given authority that can validate what interpretation sets out to achieve. Furthermore, there is no authority dwelling in the text itself; therefore understanding is to be arrived at from within the text by means of manifold circular operations that provide a way of correcting and monitoring understanding. (53) Variationen des hermeneutischen Zirkels entdeckt Iser i m Zusammenhang mit der Geschichtsschreibung (55-69) und der Psychoanalyse (69-81), deren Gegenstände nicht in vertexteter Form vorliegen. Unter Bezugnahme auf Droysen zeigt Iser, daß das Material des Historikers nicht Texte, sondern Überreste, Quellen und Denkmäler sind, mit anderen Worten: »a welter of disconnected data« (57). Daher muß der Historiker den Gegenstand der Geschichtsschreibung selbst konstituieren und er muß das Konstituierte verstehbar machen - so die doppelte interpretatorische Aufgabe (59). U m die Geschichte als eine Vermittlung zwischen Gegenwart und Vergangenheit konstruieren zu können, wendet der Droysensche Historiker eine komplexe Variante des hermeneutischen Zirkels (als doppelte Bewegung zwischen Teil und Ganzem und zwischen Gegenwart und Vergangenheit) an; Iser spricht hier von einem »nesting of circles« (61). Eine noch weitergehende Verschärfung des Interpretationsproblems ergibt sich bei der Psychoanalyse, deren Aufgabe die Interpretation des Unbewußten als einer verborgenen Dimension der menschlichen Psyche ist. Das Unbewußte ist per definitionem etwas Unsichtbares, dessen Manifestationen bereits Resultate von Interpretationsvorgängen sind. Der Gegenstand des Psychoanalytikers ist somit noch weiter entrückt als der des Historikers. U m Einsicht i n die Struktur der Freudschen Interpretationsweise zu gewinnen, referiert Iser eine Untersuchung von Paul Ricoeur (De V interprétation. Essai sur Freud), die ihrerseits Freuds Vorgehensweise interpretiert und diese in die Sprache der Philosophie zu übersetzen versucht. Die Psychoanalyse geht von der Annahme aus, i t e r t r i e n a t i e

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daß das Subjekt in sich gespalten ist: i n ein Bewußtes und ein Unbewußtes. Die psychoanalytische Interpretation muß dieser Spaltung Rechnung tragen: Indem sie die Doppelsinnigkeit der von ihr beobachteten sprachlichen Äußerungen des Patienten als Zeichen für das Unbewußte oder das sich selbst verkennende Bewußte deutet, übersetzt sie das Unbewußte in eine Sprache. Dabei vollzieht sich eine zirkuläre Bewegung von der manifesten zur latenten Bedeutungsebene (72). Die Interpretation von Symbolen, in denen sich sowohl eine verschüttete Vergangenheit als auch eine erstrebte Zukunft verbergen, bedarf eines über den herkömmlichen hermeneutischen Zirkel hinausgehenden Verfahrens, welches Iser als »transactional loops« (80) bezeichnet. Solche >transaktionellen Schleif e r vollziehen sich zwischen Patient und Analytiker in der Therapie, w o das vom Patienten Gesagte in dessen verborgene Erinnerung übersetzt werden muß. I m folgenden Kapitel seines Buches (83-112) untersucht Iser Formen von rekursiven Schleifen (»recursive loops«) i m Bereich der Ethnographie (87-99) und der Systemtheorie (99-112). Zunächst erläutert er den Begriff der rekursiven Schleife (bzw. Rückkopplungsschleife) unter Hinweis auf Norbert Wiener und die Kybernetik (84-87). Rückkopplung (»feedback«) w i r d von Wiener definiert als »the property of being able to adjust future conduct to past Performance« (84). Ein solches Verfahren kommt dann in den Blick, wenn, wie i m Bereich der Ethnographie, versucht wird, den Zusammenhang zwischen Mensch und Kultur zu beschreiben (87). Hier versagt der hermeneutische Zirkel i n all seinen Varianten, denn: »There is no text to be understood, no understanding to be applied, and no hidden text to be deciphered.« (ebd.) Der Ausgangspunkt ist statt dessen die Konfrontation des Menschen mit einer durch Entropie gekennzeichneten Umwelt, woraus sich zwei Erfordernisse ergeben, nämlich (1) die Entropie unter Kontrolle zu bringen und (2) ein Gleichgewicht zwischen den Menschen und ihrer kontingenten U m w e l t herzustellen. Der aus der Zeit der Aufklärung stammenden Auffassung, es gebe menschliche oder kulturelle Universalien, stellt die Ethnographie die Einsicht entgegen, daß Mensch und Kultur unabhängig voneinander gar nicht greifbar werden können (87). Aufgrund seiner fehlenden organischen Spezialisierung muß der Mensch eine für sein Überleben geeignete U m w e l t selbst einrichten, wobei er sich des Verfahrens der Rückkopplung bedient (90). Der Mensch muß, anders als Tiere, deren Verhalten perfekt auf die jeweilige U m w e l t abgestimmt ist, mit einer grundlegenden Informationslücke leben, die er durch kulturelle Errungenschaften füllt. Die wichtigsten dieser kulturellen Errungenschaften, welche die durch Unterspezialisierung entstandene Informationslücke füllen, sind Werkzeuge und Symbole. Letztere kann man definieren als »exteriorizations of the imagination for the purpose of organizing the natural environment of humans« (95). Sie haben einen Doppelaspekt, sind sie doch einerseits ein Modell der Realität

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und andererseits ein Modell für Realität, d. h. sie sind sowohl mimetisch als auch performativ. Indem der Mensch sich ein Bild von seiner ihm fremden U m welt macht, gibt er sich die Möglichkeit, auf sie einzuwirken; das Modell von verwandelt sich i n ein Modell für etwas. Solche symbolisch gesteuerte Einwirkung erfolgt mit Hilfe von Rückkopplungsschleifen, welche eine Intertransponibilität (»intertransposability«) zwischen mimetischen und performativen Modellen bewirken. Diesen Vorgang der wechselseitigen Überführung von mimetischen i n performative Symbole interpretiert die Ethnographie als Kultur. I n modifizierter Form dient die Rückkopplungsschleife auch als Beschreibungskonzept i n der Systemtheorie. Das kybernetische Input / O u t p u t - M o d e l l Wieners w i r d von Francisco Varela durch das Autopoiesis-Modell ersetzt. Ein autopoietisches System produziert bzw. prozessiert die zu seiner Aufrechterhaltung notwendigen Elemente selbst (101). Rückkopplungen finden somit primär innerhalb des Systems bzw. zwischen den internen Ebenen desselben statt. Solche systeminterne Rekursivität sorgt nicht nur für die Geschlossenheit des Systems (102), für seine Abgrenzung nach außen, sondern hat auch generative Funktion, indem sie die Emergenz neuer Systeme bzw. Subsysteme bewirkt (107). Das für die Systemtheorie zentrale Konzept der Rekursivität ermöglicht eine i m Vergleich zur Ethnographie spezifischere Beschreibung komplexer kultureller Systeme. Der Hauptteil des Buches schließt mit einem Kapitel zu Franz Rosenzweigs Der Stern der Erlösung, in dem eine neben dem hermeneutischen Zirkel und der rekursiven Schleife dritte Form der Interpretation vorgestellt wird: das »traveling differential« (113-144). Dieses Differential (ein von Rosenzweig aus der Mathematik entlehntes Verfahren) soll dazu dienen, das Inkommensurable, nämlich Gott, zu interpretieren und somit dem Verstehen zugänglich zu machen. Hier allerdings verwandelt sich der wissenschaftliche Diskurs in einen theologischen, denn während w o h l niemand ernsthaft die Existenz der Welt oder der Menschheit (welche Iser auf S. 114 neben Gott als Beispiele für das Inkommensurable nennt) i n Frage stellen dürfte (bei aller Uneinigkeit über deren adäquate Beschreibbarkeit), handelt es sich bei der Existenz Gottes u m eine Glaubensfrage. Gott mit wissenschaftlichen Mitteln beikommen zu w o l len, ist in einem postmetaphysischen Zeitalter ein Anachronismus. Daher kann die Einreihung der Rosenzweigschen Vorgehensweise in Isers Präsentation nicht überzeugen; sie fällt aus dem Rahmen und ist (aus einer rationalistischen Position zumindest) nicht nachvollziehbar. A u f die Hauptkapitel folgen ein Epilog (145-158) und ein ausführlicher A n hang (159-199). I n letzterem w i r d anhand von zwei Beispielen konkret veranschaulicht, wie die Begegnung von deutschem Idealismus und englischem Empirismus sich i n Thomas Carlyles Roman Sartor resartus als interkultureller 2*

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Übersetzungsvorgang vollzieht und wie bei Walter Pater in der Diskursform des Essays die Interpretation zum Gegenstand der Betrachtung gemacht wird. Hier erwächst Isers Buch erstmals konkrete Anschaulichkeit. Das (abgesehen von dem Rosenzweig-Kapitel) einzige Manko seiner perspektivenreichen, anregenden und souveränen Untersuchung ist nämlich der sehr hohe Abstraktionsgrad, das beinahe völlige Fehlen von Beispielen. Dieses Manko w i r d i m Anhang wenigstens teilweise behoben. I m Epilog werden die zentralen Gedanken und Thesen des Buches resümiert (145 f.). Außerdem kommt Iser noch einmal ausführlich auf die zentrale Bedeutung des »liminal space« zu sprechen, auf seine Widerständigkeit und Eigendynamik, welche so stark ist, daß er eine nahezu autopoietische Qualität gewinnt (149). Interpretation ist ein heuristisches Verfahren, welches die Entdeckung von Unerwartetem ermöglicht, und ein produktives Verfahren, welches die Emergenz neuer Phänomene (Verstehen, A p plikation, Heilung usw.) befördert (151 f.). Abschließend fragt Iser nach dem Grund, weshalb Menschen nicht aufhören zu interpretieren (153). Die A n t w o r t lautet, daß Interpretation als ein Verfahren zur Produktion emergenter Phänomene eine anthropologisch basale Möglichkeit ist, auf die menschliche Grunderfahrung der Unverfügbarkeit der Welt zu reagieren (156). Damit macht er deutlich, eine welch anthropologisch zentrale Rolle die Anliegen und Gegenstände der Geisteswissenschaften spielen. I n einer Zeit, i n der diese aus kurzsichtigen ökonomischen Erwägungen heraus zunehmend marginalisiert werden, kann Isers Buch nur wärmstens zur allseitigen Lektüre empfohlen werden. Thomas Klinkert,

Mannheim

K a r i n Ikas, Die zeitgenössische Chicana-Literatur. Eine interkulturelle Untersuchung [Anglistische Forschungen 288], Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 2000. XIV, 406 S. M i t ihrer gründlich recherchierten und detailliert dargebotenen Studie zeitgenössischer weiblicher amerikanischer Autorinnen mexikanischer Abstammung (Diss. Univ. Würzburg) w i l l Karin Ikas dazu beitragen, den Missstand abzubauen, dass die Chicana-Literatur, wie sie meint, »sowohl in der kritischen Forschung in den USA als auch in der deutschen Amerikanistik noch immer geringe Beachtung erfährt« (VII). Während diese Einschätzung i n den 1980er Jahren noch zugetroffen hätte, kann sie in der Gegenwart nicht mehr unbedingt aufrecht erhalten werden: einerseits laufen derzeit (laut Verzeichnis der Deutschen Gesellschaft für Amerikastudien) an deutschsprachigen Universitäten über ein halbes Dutzend Dissertations- oder Habilitationsprojekte zur mexikanisch-amerikanischen Literatur, andererseits liefert eine Stichwortsuche in der MLA International Bibliography beispielsweise zu Gloria Anzaldüa 190, zu Sandra Cisneros 75, und zu »Chicana« 710 Einträge. Dennoch muss eingestan-

Buchbesprechungen den werden, dass das Gebiet der Chicana-Literatur i n bestimmten Regionen der USA und an bestimmten deutschen Hochschulen sicherlich ein Schattendasein führt. Da die Studie von Frau Ikas leider auf Deutsch verfasst ist, kann man jedoch allenfalls auf ein Einwirken auf die deutschsprachige Amerikanistik hoffen. Für in den USA lebende Frauen mexikanischer Abstammung gebraucht Karin Ikas i n ihrem sehr informativen Buch den Begriff »Chicanas«. Zwar erwähnt sie, dass die Bezeichnung »Chicano« seit dem Chicano Movement der sechziger und siebziger Jahre ein politisierter Terminus ist, dennoch verwendet sie, wie sie angibt, den Begriff »>Chicano/a< oder >Chicana/o< neutral für alle US-Bürger mit mexikanischem Hintergrund [ . . . ] , da er i m Unterschied zu >Latin AmericanLatinoHispanicMestizo< keine einseitige und teilweise fälschliche Schwerpunktsetzung aufweist« (6). Die politische Schwerpunktsetzung des Begriffs unterschlägt sie hierbei. Außerdem scheint die Voraussetzung einer US Staatsbürgerschaft als notwendiges Gruppenmerkmal nicht unumstritten. Neutraler und angebrachter wäre sicherlich der Terminus »Mexican American« gewesen, für den es aber i m Deutschen nur umständliche Übersetzungen gibt - ein weiterer Grund dafür, die Arbeit auf Englisch abzufassen. Theoretisch basiert diese umfangreiche Studie laut Angaben der Verfasserin auf der Rezeptionsästhetik, der Alteritätsforschung und auf dem Women-ofColor-Feminismus. I n diese Ansätze führt ein einleitendes Kapitel ein. M i t »Alteritätsforschung« meint Ikas vorwiegend Stereotypenforschung und den Begriff »Rezeptionsästhetik« verwendet sie - ohne dies jedoch auszusprechen in etwa gleichbedeutend mit Kenneth Burkes Theorie von Literatur als symbolischem Handeln. Das »Leitprinzip« der Verfasserin, i m Hinblick auf die Interkulturalität der Literatur mexikanisch-amerikanischer Autorinnen eine »Beschäftigung mit Funktionsweisen und Manifestationen dynamischer Kulturbegegnung sowie ihres Nachvollzugs« i n den Vordergrund zu stellen, lädt natürlich zur Anwendung von Burkes Theorie ein (26). Wenn Ikas schreibt: »Chicana-Künstlerinnen bemühen sich so um ein komplexeres Verständnis der Machtstrukturen und der unterschiedlichen Erfahrungen von Subjektivität i n einer multikulturellen Umgebung. Sie präsentierten [sie] Alternativen politischen Handelns sowie individueller Emanzipation« (326), dann bestätigt sie die Rolle von Literatur als symbolischem Handeln, generalisiert aber zu sehr (indem sie von »Chicana-Künstlerinnen« i m Allgemeinen spricht). I n ihrer theoretischen Hinführung zum Thema stellt Karin Ikas einige Zugänge zur Chicana-Literatur vor und unterscheidet hierbei etwas überspitzt zwischen »am eurozentrischen mainstream orientierten Vorgehensweisen« und »auf die Chicana-Befindlichkeit ausgerichteten eigenen Deutungsmustern«.

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Z u m Zwecke einer klaren Trennung unterschlägt sie allerdings, dass Kritikerinnen und Kritiker der ersten Gruppe (wie Norma Alarcön) sehr w o h l auch die »Chicana-Befindlichkeit« und die soziopolitischen Hintergründe der ChicanaLiteratur i m Auge behalten, auch wenn sie auf Kristeva oder Bakhtin zurückgreifen. Auch wendet sich Ikas gegen die Anwendung postkolonialer Theorie auf Chicanas. Einerseits rückt sie i n ihrer Darstellung immer wieder den Südwesten der USA i n den Vordergrund (wo es doch auch große mexikanischamerikanische Bevölkerungsgruppen - mit etwas anders gearteten Identitätsverhandlungen - in Städten wie Chicago und N e w York gibt) und stellt fest, dass es nach 1848 in den Territorien, die Mexiko damals an die USA abtreten musste, eine A r t von kolonialer Situation gab: Der nach Nordmexiko eingewanderte nordamerikanische Staat hatte sie [die mexikanischen Einwohner dieser Gebiete] auf diese Weise als neue ethnische Minorität vereinnahmt. Für die meisten der neuen mexiko-amerikanischen Staatsbürger bedeutete diese Einbürgerung soziale und politische Diskriminierung sowie interkulturelle Konflikte. (33) Dennoch lehnt sie andererseits einen postkolonialen Zugang zur ChicanaLiteratur etwas vorschnell ab, auch wenn z. B. H o m i Bhabha seine Theorie sehr w o h l erfolgreich auf ein Werk wie Toni Morrisons Beloved anwendet (in dem es auch vornehmlich u m Machtstrukturen geht, nicht u m eine koloniale Vergangenheit). Karin Ikas sieht die Chicana-Literatur primär »als sozialkritische Dokumentation der Chicana-Erfahrung« (1). Deshalb neigt sie manchmal dazu, die von ihr ausgewählten Texte einseitig als sozial engagierte Literatur zu betrachten und konzentriert sich auf das »Bestreben der Chicana, auf eine Veränderung soziokultureller Verhältnisse hinzuwirken« (83). Andere Strömungen innerhalb der Chicana-Literatur werden somit vernachlässigt, obwohl Ikas selbst »Außenseiterfiguren wie Cecile Pineda« nennt, zu der sie meint: »Als A u t o r i n primär experimenteller Romane behandelt Pineda vorwiegend universelle und nicht explizit Chicana / o-spezifisch geprägte Themen, weshalb sie bisher von der K r i t i k trotz qualitativ hochwertiger Arbeiten nur wenig beachtet wurde« (92). Die Studie von Ikas stellt hierbei durch ihre Konzentration auf das soziopolitische Element leider auch selbst keine Ausnahme dar. Die von der Verfasserin festgestellte »Multidimensionalität und Verschiedenartigkeit des Erfahrungshorizontes der individuellen Chicanas« (96) w i r d somit nur teilweise erforscht. Insgesamt stellt Ikas ausgewählte Werke von gut 20 zeitgenössischen mexikanisch-amerikanischen Autorinnen unter folgenden Gesichtspunkten vor: »Affirmative und negative Verwendung von Stereotypen«, »Die Funktion indi-

Buchbesprechungen gener und religiöser Mythen«, »Die Auseinandersetzung mit der amerikanischen Kultur« (womit die Bereiche Sprache, Umgang mit der Urbevölkerung, »American Dream«, Rassismus, »Diätwahn« und »Barbie-Mythos« gemeint sind), »Innovative Emanzipationskonzepte«. Hierbei greift Karin Ikas Einzeltexte heraus, u m an diesen unterschiedliche Bereiche des literarischen Umgangs mit der Situation von Chicanas zu beleuchten, weshalb z. B. eine A u t o r i n wie Gloria Anzaldüa immer wieder auftaucht. Diese A r t der Gliederung macht die Lektüre der sehr ansprechenden Arbeit interessanter und führt zu einem besseren Einblick in die Chicana-Literatur als dies bei einer bloßen Aneinanderreihung von Einzelbetrachtungen der verschiedenen Autorinnen der Fall gewesen wäre. Natürlich musste die Verfasserin hierbei einzelne Schwerpunkte setzen, u m die Studie nicht noch umfangreicher werden zu lassen. Bei der Wahl dieser Schwerpunkte hätte es sicherlich auch andere Möglichkeiten gegeben. Das Kapitel zur »Funktion indigener und religiöser Mythen« befasst sich beispielsweise nur mit den Leitbildern »La Malinche« und »La Virgen de Guadalupe«. Die auch sehr einflussreiche Figur von »La Llorona«, die unter anderem von zentraler Bedeutung für die bekannteste Kurzgeschichte von Sandra Cisneros ist, kommt in dieser Untersuchung leider nicht vor. Karin Ikas kommt zu dem Schluss, dass die Chicana-Literatur »im Kontext einer Internationalisierung von Interessen [steht], welche die ethnisch-kulturellen Grenzen überschreiten, was sich nicht zuletzt i m Kampf u m eine Neudefinition von Geschlecht und Geschlechterrollen darstellt« (328). Deshalb wählt Ikas die Bezeichnung »multikulturelle Literatur.« Dennoch spricht sie auch oft lediglich von einer »bikulturellen Existenz« von Chicanas, was einen weniger breiten Horizont impliziert. Andererseits gründet die Studie in weiten Teilen auf Gloria Anzaldüa, die allerdings i n Borderlands / La Frontera (1987) schreibt: »The new mestiza copes by developing a tolerance for contradictions, a tolerance for ambiguity. [ . . . ] She learns to juggle cultures. She has a plural personality« (Anzaldüa 79). Außerdem steht die von Karin Ikas vorgenommene Betonung einer »bikulturellen Existenz« i m Widerspruch zu dem Zitat von Carmen Tafolla auf dem Buchumschlag (und auf S. 3): »We are more than simply half-Mexican and half-American. We are a unique synthesis of these, a transformation of these, and a new, dynamic culture.« Wenn Ikas gegen Ende ihres Buches schreibt, »Mittels dieses dynamischen Wechselspiels zwischen intra- und interkultureller Orientierung und Verantwortung in einem mehrkulturellen kosmopolitischen Umfeld kann sich die Chicana-Literatur aus der Enge einer ethnisch und soziologisch definierten Minoritätenliteratur befreien« (327), dann übersieht sie, dass sie selbst über

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weite Teile ihrer Studie diese Literatur eben gerade aus jener ethnischen und soziologischen Perspektive betrachtet hat. Da die Studie durch ihren vorwiegend referierenden Charakter als Einführung in das Thema Chicana-Literatur zu empfehlen ist, wäre eine kurze historische Hinführung zu der mexikanisch-amerikanischen Literatur der achtziger und neunziger Jahre von Vorteil gewesen. Eine Erwähnung früherer Autorinnen wie María Amparo Ruiz de Burton, Jovita González und Josephina Niggli oder des »Recovering the U.S. Hispanic Literary Heritage« Projekts beim Arte Público Verlag an der University of Houston wäre als Kontext für die hier behandelten Autorinnen nützlich gewesen. Für eine Studie, die so reich an Informationen und so anspruchsvoll gegliedert ist, würde sich der Leser die Hilfe eines Index beim Auffinden bestimmter Informationen und Passagen wünschen. Insgesamt ist festzustellen, dass Die zeitgenössische Chicana-Literatur zweifellos trotz der angesprochenen Mängel eine Bereicherung für die amerikanistische Forschung in Deutschland darstellt. Dieses Buch ist besonders als Einführung zu dem Thema zu empfehlen, wobei es aber auch dem fortgeschrittenen Leser eine Fülle von aufschlussreichen Informationen, Zitaten und Betrachtungen bietet. Josef Raaby Bielefeld

Francisco L o m e l i and K a r i n Ikas (Eds.), U.S. L a t i n o Literatures and C u l tures: Transnational Perspectives [Anglistische Forschungen 290], Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 2000. X X I I , 333 S. Der vorliegende Sammelband enthält eine Reihe von hervorragenden Untersuchungen zu Einzelaspekten von Latino-Literaturen und Kulturen in den USA. Den Herausgebern ist es gelungen, eine internationale Schar von Forschern, Autoren und Künstlern (aus Europa, Lateinamerika und den USA) für Beiträge zu einem bedeutenden Wandel i m Erscheinungsbild der USA zu gewinnen. Somit w i r d hier ein für die gegenwartsbezogene Amerikanistik essentieller Themenkomplex angesprochen. Eine Reihe von sehr aufschlussreichen Aufsätzen seien hier besonders hervorgehoben: Rubén G. Mendoza über »Lowriding« i m amerikanischen Südwesten, Manuel M . Martin-Rodriguez über »The Raw and W h o Cooked It: Food, Identity and Culture in U.S. L a t i n o / a Literature«, Gastón Espinoza über die verstorbene mexikanisch-amerikanische Sängerin Selena, Horst Tonn über den zeitgenössischen U.S. Latino Film, Heiner Bus über »Geography and the Dynamics of Spatial Movement and Stasis in Chicano Literature«, Monika Kaup über »The Architecture of the Malinche and Chicano Collective Memory in Alejandro Morales's The Brick People« und Héctor A . Torres über »Space,

Buchbesprechungen Difference, Mestizaje: The Erasure Mark in Contemporary Chicano/a Critical Discourse«. Leider gibt es auch weniger gelungene Beiträge. I n dem Aufsatz des GraffitiKünstlers Chez Bojörquez finden sich z. B. unverständliche Phrasen wie »It's when you personally engage the spirit of your vision that y o u can discover the soul of art« (61). Bei Tatyana Vorochenkos Bericht über die Rezeption der Chicano-Literatur in Russland lenken zu viele (von den Herausgebern und Korrekturlesern übersehene) sprachliche Fehler von interessanten Informationen ab. U n d die von Donaldo W. Urioste zusammengestellte »Bibliography on Modern Chicano/a Literature« macht in keiner Weise deutlich, welche Kriterien für die Einbeziehung bzw. den Ausschluss einzelner Werke angewendet wurden. Ein Sammelband wie Latin Looks: Images of Latinas and Latinos in the U.S. Media (herausgegeben von der puertorikanisch-amerikanischen Soziologin Clara E. Rodriguez) w i r d z. B. unter »Essays« aufgeführt (anstatt unter »Criticism«), obwohl es i n jenem Band nirgends u m Chicano/ a-Literatur geht. Andererseits fehlt ausgerechnet das von Francisco Lomeli und Carl R. Shirley 1999 herausgegebene Nachschlagewerk Chicano Writers: Third Series (Dictionary of Literary Biography, Vol. 209), w o die vorliegende Bibligraphie ansonsten doch auch Titel aus dem Jahr 2000 enthält. Wie die Themen der oben angesprochenen Beiträge veranschaulichen, ist es schwer, außerhalb des Begriffs »U.S. Latino« einen Zusammenhang zwischen den hier aneinandergereihten Einzeldarstellungen herzustellen. Eine These oder gemeinsame Linie fehlt. Leider lassen auch weder die Einleitung der Herausgeber noch die Gruppierung der Beiträge eine klare Struktur erkennen. Die Sektionstitel »Cultural Constructs Beyond Constrictions«, »Critical Issues on Literature, Language and Theory«, »Status Reports«, »Creative Writers' Corner« und »Bibliography on Modern Chicano/a Literature« verweisen eher auf eine Zufälligkeit der Zusammenstellung als auf ein stringentes Konzept. Eine Ausnahme bildet hierbei lediglich die (allerdings irreführend betitelte) Sektion »Status Reports«, in der es u m die Rezeption der Chicano-Literatur in Italien, Russland, Spanien, Mexiko und Costa Rica geht. Wie in diesem Abschnitt, so w i r d jedoch auch in dem Band insgesamt etwas zu viel Gewicht auf Chicanos gelegt, wenn es u m »U.S. Latinos« i m Allgemeinen gehen soll. Die kubanischamerikanische Literatur kommt z. B. nur in der »Creative Writers' Corner« vor. Auch wenn w i r aus der US Volkszählung des Jahres 2000 ersehen, dass zwei Drittel der in den USA lebenden »Hispanics« mexikanische Wurzeln haben, so heißt das noch nicht, dass man sie als Chicanos bezeichnen kann. I n Anbetracht der Spezialisierung der beiden Herausgeber ist die Konzentration auf Chicanos zwar verständlich, doch verzerrt sie das Bild von »U.S. Latino Literatures and Cultures«.

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Angesichts der Breite des Forschungsgebietes und der thematischen Enge vieler Beiträge wäre eine Einleitung von Nutzen gewesen, die dem Leser eine Einordnung der Einzeldarstellungen erleichtern würde. Jedoch w i r d eine solche Hilfe nicht angeboten. Die Einleitung des Bandes w i r d den interessanten Aufsätzen in vielerlei Hinsicht nicht gerecht. Anstatt belegter Fakten und klarer Beispiele finden sich allzu oft Gemeinplätze. Dem Inhalt der Einleitung entspricht leider auch die Form. Schon auf der ersten Seite stechen zwei Druckfehler ins Auge, und durchweg w i r d ein problematisches Englisch verwendet. Z u m Beispiel heißt es, Literatur und Kultur von US Latinos »constitute a new wave of newly recognized American cultural expression that is gaining notoriety by leaps and bounds« ( X I I ) . Es ist anzunehmen, dass hier »noteworthiness« gemeint ist und dass anscheinend »notorisch« mit »bemerkenswert« verwechselt wurde. N o c h schlechter verständlich ist die Ankündigung der »Status Reports«. Die Herausgeber schreiben hier: »we aim to establish an important and fundamental part of our collection i n that various countries are represented. The narrative they tell becomes quite revealing unto themselves for they document and provide a testimony of the reception of Latinos' literary production and the kind of impact they have had in certain countries« ( X I X ) . Was dies bedeuten mag, kann man nur erahnen. Der Anspruch dieses Sammelbandes, »the first truly international guide to U.S. Latino literatures and cultures« ( X I ) zu sein, w i r d in dem Aspekt »guide« nicht erfüllt: aus den Einzeldarstellungen entsteht weder ein umfassendes Bild, noch ein Leitfaden i m Umgang mit diesem Thema. Dennoch finden sich in diesem Band eine Reihe von exzellenten Beiträgen zu Einzelaspekten von U.S. Latino Literatures and Cultures. Josef Raab, Bielefeld

N A M E N - U N D WERKREGISTER Von Jutta

Zimmermann

(Die Zahlen verweisen auf die Seiten, kursive Zahlen auf die Hauptstellen, A = Anmerkung. Das Register wählt aus.) JElred 32, 33, 34, 35, 44 - De spiritali amicitia 32 Albrecht von Johansdorf 29 Andersen, Hans Christian 273 Andreas Capellanus 24 - De amore libri très 24, 25 Anzaldüa, Gloria 420, 423 Aristoteles 54, 323 Augustinus 10 Ballard, J[ames] G[raham] 411 Balthasar, Hans Urs von 394-396 Balzac, Honoré de 175, 181, 186 Barker, Pat 410 Barnes, Julian 411 Barthes, Roland 302 Baudelaire, Charles 177 - Fleurs du Mal 177 Bayle, Pierre 213, 214, 215, 217, 220 Beda Venerabiiis 12,13, 14,15 Beethoven, Ludwig van 271, 278, 283, 285 Béranger, Pierre Jean de 181 Berg, Alban 286 Bernanos, Georges 390-394 Boccaccio, Giovanni 210, 217 - Decamerone 216, 217 Börne, Ludwig [Low Baruch] 153 Brahms, Johannes 282, 283 Brooke-Rose, Christine 410 Brown, Charles Brockden 197 Burgess, Anthony 411 Byron, George Gordon Lord 387 Calderön de la Barca, Pedro 83, 84, 88, 92-94, 95, 98, 200, 255 - La aurora en Copacabana 83, 93, 94-97

- La vida es sueño 93, 94 Carlyle, Thomas 419 Castiglione, Baldassare 58 - Il Corte giano 58 Cantú, Cesare 210, 211, 212 - Storia degli Italiani 210, 212 Carter, Angela 410 Chandler, Raymond 343-346, 351 - The Big Sleep 343 - 346 - »The Simple A r t of Murder« 351 Chénier, André 116,117 Christie, Agatha 339-343, 350, 351 - The Mysterious Affair at Styles 339-343 Cicero 27, 28, 29, 30, 31, 32, 33, 44, 48 - Laelius de amicitia 29, 30, 31, 33 Cisneros, Sandra 420, 423 Coleridge, Samuel Taylor 387 Crescentius II. 160,161, 162, 169 Dante Alighieri 11, 200, 207 DeLillo, Don 321-334 - Americana 325 - The Day Room 326, 327, 332 - The Engineer of Moonlight 326 - Libra 324 - The Rapture of the Athlete Assumed into Heaven 326 - Underworld 324 - Valparaiso 321-334 - White Noise 324, 326, 330 Diderot, Denis 99, 101, 102, 104, 105, 106, 108,110,113, 115, 119,314 - Lettre apologétique de l'abbé Raynal102 Doubrovsky, Serge 294, 300 Dumas, Alexandre fils 175, 183, 184

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Namen- und Werkregister

Eco, Umberto 322, 412 Eichendorff, Joseph Freiherr von 271,

280, 281

Einhardi vita Caroli magni 214 Emerson, Ralph Waldo 201, 228, 231 Ernst, Paul 252-259, 260, 261, 265-270 - Brunhild 268, 269 - »Das Drama und die moderne Weltanschauung« 252 Fénelon, François de Salignac de la Mothe 363-366 - Dialogues des morts composés pour l'éducation d'un prince 363—366 Fernow, Carl Ludwig 375 - 378 Finkielkraut, Alain 291, 292, 303, 307, 313 Flaubert, Gustave 177,188 Freiligrath, Ferdinand 153 Gaillard, Gabriel 217 George, Elizabeth 346-349, 351 - Payment in Blood 346-349 Gesta Karoli Imperatoris 212 Girard, René 336, 336-339, 340, 342, 344,351,352 Goethe, Johann Wolfgang von 125, 127, 130, 131, 132, 136, 137, 140, 200, 202, 204, 205, 207, 253,381 -384, 404 - Die Leiden des jungen Werther 127, 130, 132, 136, 140 Gregor der Große 11, 15 - Dialogi 11 Gregor V. 163 Grimm, Gebrüder 212, 218, 220 Hammett, Dashiell 351 Hartmann von der Aue 24, 25, 38, 45 Hauptmann, Gerhart 252, 254 Hawthorne, Nathaniel 197 Hebbel, Christian Friedrich 255, 257 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 194, 257 Der heimliche Bote 24, 25 Heine, Heinrich 153,378-381 Herder, Johann Gottfried 200 Herwegh, Georg 153 Hoffmann, E[rnst] T[heodor] W i l helm] 286, 404 Hofmann von Hofmannswaldau, Christian 218 Horaz 54

Ibsen, Henrik 255, 257 Janin, Jules 181 Jean Paul [Johann Paul Friedrich Richter] 126, 131, 138, 278 Joachim, Joseph 283, 284, 285 Johannes Philagatos 160, 161, 162, 163, 169 Kant, Immanuel 207, 256, 267 Keats, John 387 Kerr, Alfred 251 Kock, Paul de 181 Kraus, Karl 251 Kyd, Thomas 71 - The Spanish Tragedy 71 La Harpe, Jean-François 113, 115, 116, 117 Langbein, Friedrich Ernst 218, 220, 221, 222, 223 Lesage, Alain-René 16 - Le diable boiteux 16 Lewis, Matthew 389 Longfellow, Henry Wads worth 197231 - »Charlemagne« 209, 210, 212, 213, 230 - »Emma and Eginhard« 209, 212, 213, 214, 217, 219, 224, 225, 226, 227, 229, 230 - Poets and Poetry of Europe: With Introduction and Biographical Notes 204, 208 - Tales of a Wayside Inn 206, 208 Lope de Vega y Carpió, Félix 83, 8892, 95, 97, 98, 200 - La Famosa Comedia de El Nuevo Mundo descubierto por Cristóbal Colón 83 Lublinski, Samuel 251, 252, 259-265, 268 - Der Ausgang der Moderne 263 Luden, Heinrich 155,156, 162, 163, 164, 166,167 Ludwig I. von Bayern 150, 156, 172 Lukács, Georg 252, 268 Lukian 364, 365, 366 Machiavelli, Niccolö 53, 62, 67 - Ii Principe 53

Namen- und Werkregister Macpherson, James 125, 126, 127, 128, 129, 130, 131, 132, 133, 134, 136, 139, 140,141, 144 - Ossian 125, 127, 128, 129, 131, 133, 134, 135, 137, 139, 140, 143, 144 - Temora 145 Mallarmé, Stéphane 177 Mann, Thomas 271 - 288 - Doktor Faustus 271 -288 Marlowe Christopher 53, 80, 81 - Doctor Faustus 80,81 - The Jew of Malta 53 Maturin, Charles 390, 404, 405 Meyrink, Georg 404 Michelet, Jules 233 - 250 - Banquet 239,245 - La Femme 238 - Histoire de France 236, 242, 243 - Histoire du Moyen Age 239, 240 - Histoire de la Révolution 234, 237, 238, 240, 246, 247 - Histoire du XIXème siècle 247 - Journal 239, 244 - Moi-Paris 233 - Mort de Chalier 238 - Mort de Condor cet 238 - Mort de Danton 238 - Le Peuple 235, 240, 244 - Tableau de la France 234 Miller, Arthur 323, 324 Millevoye, Charles-Hubert 218 Des Minnesangs Frühling 36, 43 Molière [Jean Baptiste Poquelin] 189, 357, 358, 359 More, Thomas 276 Motte-Fouqué, Friedrich de la 218, 222 Müller, Johannes von 156 Muratori, Ludovico Antonio 152 Murger, Henri 183 Musset, Alfred de 173 -196 - La confession d'un enfant du siècle 190, 194 - Contes et nouvelles 173-196 - »La coupe et les lèvres« 194 - »De la paresse« 178 - Les deux maîtresses 186, 187 - Le fils du Titien 178, 189 - Frédéric et Bernerette 181, 182, 183, 192 - L'histoire d'un merle blanc 178 - »Mardoche« 188 - Mimi Pinson 181, 182, 186

- Le poète déchu 179, 180, 189 - »Une soirée perdue« 189 Nettement, Alfred 176, 177,182 Niebuhr, Barthold Georg 151 Nietzsche, Friedrich 251, 260, 272, 286, 401 Nisard, Désiré 177 Novalis [(Georg) Friedrich (Philipp) Freiherr von Hardenberg] 125-146 - Blüthenstaub 140, 141 - Fichte-Studien 141 - Heinrich von Ofterdingen 130, 135, 136, 138, 139, 141 - Hymnen an die Nacht 133, 134, 138, 142, 144, 145 Ovid 49, 54, 55 - Heroides 49, 55 Panckoucke, Charles Joseph 118, 120, 120-23 Pater, Walter 420 Paulus 9,10,11 Pechméja, J.P. 99, 101, 104,113,115 Peretz, Jizchak Leib 297, 314 Perutz, Leo 404 Pico della Mirandola, Giovanni 61 Platen, August von [Karl August Georg Maximilian Graf von Platen Hallermünde] 147-172 - »Klaglied Kaiser O t t o des Dritten« 147-172 - Polenlieder 153 Plautus 54 - Mostellaria 54 Poisson, Jean 357 Potocki, Jean 404, 405 Proust, Marcel 299, 300, 315, 316 Quinet, Edgar 242, 243 Quintilian 48 Racine, Jean 358, 359 Raczymow, Henri 289-320 - Contes d'exil et d'oubli 290, 295300., 301, 307, 308, 313, 314, 315, 316 - Un cri sans voix 290, 300-308, 309,315,316,317 - Le cygne de Proust 299,315

430

Namen- und Werkregister

- Mémoire trouée 315, 316 - Quartier libre 290,308-311, 318 Ranke, Leopold von 151 Raumer, Friedrich von 151 Raynal, Guillaume Thomas François Abbé 99-124 - L'histoire philosophique et politique des Établissements et du Commerce des européens dans les Deux Indes 99-124 Reinmar der Alte 24, 38 Ricard, Auguste 181 Rice, Anne 390 Robbe-Grillet, Alain 294 Rosenzweig, Franz 419 Rushdie, Salman 411 Sachs, Hans 200 Sainte Beuve, Charles Augustin 176 Sayers, Dorothy 351 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 150, 171 Schiller, Friedrich von 125, 131, 137, 138, 151,255, 256, 262 Schlegel, Caroline 127 Schlegel, Friedrich 130, 131, 132, 200, 202, 203, 204, 205, 206, 207, 399, 407 - »Uber das Studium der griechischen Poesie« 203 - Lucinde 130 Schlegel, August Wilhelm 125, 131, 199, 200, 202, 203, 205, 206, 207, 407 Schubert, Franz 282, 286 Schumann, Eugenie 273 - Lebensbild meines Vaters 272, 273, 274 Schumann, Robert 271 - 288 - Camaval 277, 278 - Faust-Szenen 273 - Liederkreis 280, 282 - Papillons 278 - Das Paradies und die Peri 276 - Rheinische Symphonie 279 Scribe, Eugène 181 Self, Will 411 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper Earlof 360-363 Shakespeare, William 47-64,, 65-82, 200, 207, 255, 256, 257, 389

- As You Like It 57, 58 - Hamlet 58-62,65-82 - Henry VI 48,49-53 - Julius Caesar 51 - Love's Labour's Lost 56, 58 - Richard III 52,53,389 - The Taming of the Shrew 53, 54, 58 - The Tempest 48, 67 Shaw, George Bernard 65 Shelley, Mary 387 Simonde de Sismondi, Jean Charles Leonard 152 Soulié, Frédéric 175 Staël, Anne Germaine de 201 - De l'Allemagne 201 Steiner, George 293, 303, 323 Stoker, Bram 390 Stoupe, Jean Georges 118,120,120-23 Strauss, Richard 272, 279 Sue, Eugène 175, 403 - Le juif errant 403 Sybel, Heinrich von 157,158 Szittya, Emil 404 Thietmar von Merseburg 162, 163, 165, 166,167 Thomasin von Zerklaere 24 - Der welsche Gast 24, 25 Tieck, Ludwig 125,127, 128 - Franz Sternbalds Wanderungen 130, 131 Tocqueville, Alexis de 176, 177 - De la démocratie en Amérique 176 Uhland, Ludwig 126 Vigny, Alfred de 177, 218 Visio Pauli 10,11,13 Visio Wettini 11, 12 Wackenroder, Wilhelm Heinrich 127 Wagner, Richard 271, 273, 286 Walther von der Vogelweide 19-46 Webster, John 389 Weldon, Fay 411 Whitman, Walt 229, 230 Wiesel, Elie 291 Wilde, Oscar 363, 390 William of Malmesbury 215