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German Pages 406 Year 1997
LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH Neue Folge, begründet v o n H e r m a n n Kunisch
I M AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN V O N PROF. DR. T H E O D O R BERCHEM, PROF. DR. V O L K E R KAPP, PROF. DR. FRANZ L I N K , PROF. DR. K U R T MÜLLER, PROF. DR. RUPRECHT WIMMER, PROF. DR. ALOIS W O L F ACHTUNDDREISSIGSTER B A N D
1997
Das Literaturwissenschaftliche
Jahrbuch w i r d im Auftrage der Görres-Gesellschaft heraus-
gegeben von Prof. Dr. Theodor Berchem, Institut für Romanische Philologie der Universität, A m Hubland, 97074 Würzburg, Prof. Dr. Volker Kapp, Romanisches Seminar der Universität Kiel, Olshausenstraße 40, 24098 Kiel, Prof. Dr. Franz Link, Eichrodtstraße 1, 79117 Freiburg i. Br., Prof. Dr. Kurt Müller, Institut für Anglistik/Amerikanistik, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Ernst-Abbe-Platz 4, 07743 Jena (federführend), Prof. Dr. Ruprecht Wimmer, Sprach- und Literaturwissenschaftliche Fakultät, Katholische Universität Eichstätt, 85071 Eichstätt und Prof. Dr. Alois Wolf, Lorettostraße 60, 79100 Freiburg. Redaktionsanschrift:
Lehrstuhl für Amerikanistik, Institut für Anglistik/Amerikanistik,
Friedrich-Schiller-Universität Jena, Ernst-Abbe-Platz 4, 07743 Jena. Redaktion:
Dr. Jutta
Zimmermann. Das Literaturwissenschaftliche
Jahrbuch erscheint als Jahresband jeweils im Umfang von
etwa 20 Bogen. Manuskripte sind nicht an die Herausgeber, sondern an die Redaktion zu senden. Unverlangt eingesandte Beiträge können nur zurückgesandt werden, wenn Rückporto beigelegt ist. Es w i r d dringend gebeten, die Manuskripte druckfertig einseitig in Maschinenschrift einzureichen. Ein Merkblatt für die typographische Gestaltung kann bei der Redaktion angefordert werden. Die Einhaltung der Vorschriften ist notwendig, damit eine einheitliche Ausführung des Bandes gewährleistet ist. Besprechungsexemplare von Neuerscheinungen aus dem gesamten Gebiet der Literaturwissenschaft, einschließlich Werkausgaben, werden an die Adresse der Redaktion erbeten. Eine Gewähr für die Rezension oder Rücksendung unverlangt eingesandter Besprechungsexemplare kann nicht übernommen werden. Verlag: Duncker & H u m b l o t G m b H , Carl-Heinrich-Becker-Weg 9, 12165 Berlin.
LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH ACHTUNDDREISSIGSTER BAND
LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH NEUE FOLGE, BEGRÜNDET V O N H E R M A N N K U N I S C H
I M AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN V O N T H E O D O R B E R C H E M , V O L K E R KAPP, F R A N Z L I N K KURT MÜLLER, RUPRECHT WIMMER, ALOIS WOLF
ACHTUNDDREISSIGSTER B A N D
1997
D U N C K E R
&
H U M B L O T
/
B E R L I N
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1997 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0075-997X ISBN 3-428-09271-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ©
INHALT AUFSÄTZE Nicola Graap (Kiel), Peregrins Geschichte: Die antike Welt als Rederaum in Wielands Geheime Geschichte des Philosophen Peregrinus Proteus Hermann F. Weiss (Ann Arbor), Unbeachtete Zeugnisse zu Novalis' Wittenberger Studienzeit (Mit einem Anhang: Novalis und Johanna von Manteuffel)
9
27
Bernhard Buschendorf (Heidelberg), Jean Pauls Kampaner Tal - Ein »mendelssohnplatonisches Kolloquium« über die Unsterblichkeit der Seele 63 Oliver Scheiding (Tübingen), »Nothing but a Disjointed and Mutilated Tale«. Zur narrativen Strategie der Doppelperspektive in Charles Brockden Browns historischer Erzählung »Thessalonica: A Roman Story« (1799)
93
Hans-Christof Kraus (Speyer), Politisches Denken der deutschen Spätromantik
111
Norbert H. Platz (Trier), The Symbolic Dynamics of the Gentleman Idea in the Victorian Novel
147
Pere Joan i Tous (Borchen-Etteln), Écriture de cendres. Zur Problematik der Erzählbarkeit und Ästhetisierung des Leidens in der französischen KZ-Literatur 167 Cornelia Blasberg (Tübingen), Peter Handke und die ewige Wiederkehr des Neuen . Helmut Meter (Klagenfurt), Liebesroman und Postmoderne in Italien. Das Beispiel De Carlo Martin Neuman (Regensburg), Der roman rustique: Begriff, Formen, Ziele
185
205 223
Paul Geyer (Eichstätt), Foucaults Les mots et les choses: Ende oder Anfang einer modernen Subjekttheorie? 245
F O R M E N DES SONETTS Paul Goetsch (Freiburg i. Br.), Sonette über das Sonett Willi Erzgräber (Freiburg i. Fr.), Zu Hopkins' Sonettkunst Franz Link (Freiburg i. Br.), Das amerikanische Sonett in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
261 281
307
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Inhalt
BUCHBESPRECHUNGEN Lancelot und Ginover (Prosa-Lancelot). Übersetzt, kommentiert und herausgegeben von Hans-Hugo Steinhoff (von Fritz Peter Knapp) 331 Udo Friedrich, Naturgeschichte zwischen artes liberales und frühneuzeitlicher senschaft: Conrad Gessners »Historia animalium« und ihre volkssprachliche zeption (von Rudolf Kilian Weigand)
WisRe336
Claus Uhlig, Klio und Natio. Studien zu Spenser und der englischen Renaissance (von Wolfgang G. Müller) 343 Ulrich Suerbaum y Shakespeares Dramen (von Thomas Kullmann)
348
Anne Mantero, La Muse théologienne , poésie et théologie en France de 1629 à 1680 (von Julien Goeury) 351 Horst Joachim Frank, Literatur in Schleswig-Holstein. (von Hartmut Freytag und Wolfgang Harms)
Von den Anfängen bis 1700 353
Ulrich Schulz-Buschhaus, Flaubert - Die Rhetorik des Schweigens und die Poetik des Zitats (von Klaus Ley) 360 Sabine Appel, Naivität und Lebenskunst. Die Idee der Synthese von Leben und Geist in Thomas Manns Hochstapler-Memoiren (von Ulrich Karthaus)
363
Florence Godeau> Les Désarrois du moi. »A la recherche du temps perdu « de M. Proust et »Der Mann ohne Eigenschaften« de R. Musil (von Susanne Winter)
364
Alexander Stutzer.; Darstellung und Deutung der Moderne bei D. H. Lawrence (von Hans Ulrich Seeber) 366 Susanne Winter, Jean Cocteaus frühe Lyrik. Poetische Praxis undpoetologische Reflexion (von Dietmar Fricke) 368 Manfred Beyer,; Das englische Drama des 20. Jahrhunderts: schichtliche Untersuchung (von Adolf Barth) Barbara Körte, Der englische Reisebericht. (von Elmar Schenkel) Ansgar Nünning, Von historischer Bernd Engler)
Fiktion
Eine motiv- und bildge371
Von der Pilgerfahrt
zu historiographischer
bis zur Postmoderne 374 Metafiktion
(von 377
Gillian Beer; Open Fields. Science in Cultural Encounter (von Elmar Schenkel) Semiotiky Rhetorik und Soziologie des Lachens: Vergleichende Studien zum Funktionswandel des Lachens vom Mittelalter zur Gegenwart, hg. Lothar Fietz, Joerg O. Fichte, Hans-Werner Ludwig (von Paul Goetsch) 382
380
Inhalt
7
Gottfried Boehm und Helmut Pfotenhauer (Hg.), Beschreibungskunst - Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart (Bild und Text) (von Volker Kapp) 385 Joseph Jurt t Das literarische Feld: Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis (von Dorothee Scholl) 389 Gert Ueding (Hg.)> Historisches Volker Kapp)
Wörterbuch
der Rhetorik , Band 3: Eup - Hör (von 391
Ciaire de Obaldia , The Essayistic Spirit: Literature , Modern Criticism, (von Franz Link)
Namen- und Werkregister (von Jutta Zimmermann)
and the Essay 396
399
Peregrins Geschichte: Die antike Welt als Rederaum in Wielands Geheime Geschichte des Philosophen Peregrinus Proteus Von Nicola Graap
I n der bisherigen Forschung hat der zunächst i n einer Serie von Fortsetzungen vom Februar bis zum Dezember 1789 i m Teutschen Merkur, dann 1791 bei Göschen i n Buchform veröffentlichte Dialogroman Die geheime Geschichte des Philosophen Peregrinus Proteus vor allem i m Zusammenhang mit den anderen >Schwärmerromanen< Christoph Martin Wielands, Der Sieg der Natur über die Schwärmerey oder Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva (1764) und Geschichte des Agathon (1766/67; endgültige Fassung 1794), Beachtung gefunden. 1 Michael Voges 2 nimmt Peregrins Anfälligkeit gegenüber den Lockungen des mysteriösen Geheimbundführers Kerinthus zum Anlaß, u m die Funktionalisierung von Geheimnis und Mysterium i n der Lebenswelt Peregrins und analog dazu - in der Zeit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts zu bestimmen. Karl Mickel 3 , A u t o r des Nachworts zur 1985 erschienenen Neuausgabe (Peregrinus Proteus oder Die Nachtseite der pädagogischen Revolution) sieht die U r sache dafür, daß die Lebensbewältigung des idealistischen Schwärmers nicht gelingt, vor allem i m Versagen des universal verstandenen pädagogischen Pro1
Vgl. v.a. Brigitte Thorand, »Zwischen Ideal und Wirklichkeit. Zum Problem des Schwärmertums im Peregrinus Proteus«, in: Thomas Höhle (Hg.), Das Spätwerk Christoph Martin Wielands und seine Bedeutung für die deutsche Aufklärung, 4. Halberstädter Kolloquium 1987 (Halle/Saale 1988), 91-99; Jutta Heinz, »Von der Schwärmerkur zur Gesprächstherapie. Symptomatik und Darstellung des Schwärmers in Wielands Don Sylvio und Peregrinus Proteus«, in: Klaus Manger/ Wieland-Archiv Biberach (Hg.), Wieland-Studien, 2 Bde (Sigmaringen 1994), Bd. I I , 33-53; Jürgen Viering, Schwärmerische Erwartung bei Wieland, im trivialen Geheimnisroman und bei Jean Paul, Literatur und Leben N.F. 18 (Köln/Wen 1976); John McCarthy, Fantasy and Reality. An Epistemological Approach to Wieland (Bern/Frankfurt/M. 1974). 2
Michael Voges, Aufklärung und Geheimnis. Untersuchungen zur Vermittlung von Literatur- und Sozialgeschichte am Beispiel der Aneignung des Geheimbundmaterials im Roman des späten 18. Jahrhunderts, Hermaea N.F. 53 (Tübingen 1987). 3 Karl Mickel, »Peregrinus Proteus oder Die Nachtseite der pädagogischen Revolution«, Nachwort zu: Christoph Martin Wieland, Peregrinus Proteus, Bibliothek des 18. Jahrhunderts (München 1985), 337-364.
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Nicola Graap
gramms der Aufklärung. I m folgenden soll gegenüber Mickel, nach dessen Lesart sich die >WeltenLaboratoriumswirklichkeit< ist, als Wieland sie schafft, u m seine Hauptfigur mit verschiedenen Rhetorikkonzeptionen zu konfrontieren. Die von Peregrin erzählte Welt des Altertums, die nicht - wie so häufig in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts - die von Winckelmann idealisierte archaische und klassische Antike Griechenlands darstellt, sondern die unter Dekadenzverdacht stehende Spätantike des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts, ist ein Raum, in dem nicht i n erster Linie gehandelt w i r d (im Sinne der großen Tat, etwa des Sturzes Domitians durch den Bund des Apollonius von Tyana, von dem Agathodämon erzählt), vielmehr w i r d zuallererst geredet: Die von Peregrin erzählten Lebensstationen sind auch als Gesprächsund Redestationen zu bestimmen, die, entsprechend der Intention Wielands, zum einen die antike Welt rhetorisch charakterisieren, zum andern das Scheitern Peregrins bedingen. Die Analyse soll verdeutlichen, mit welchen rhetorischen Maßstäben Wieland mißt. Dabei ist zu berücksichtigen, daß es in dem Dialogroman keinen Erzähler (allenfalls einen Verfasser der Vorrede) gibt, der uneingeschränkt als Sprachrohr des Autors gelten dürfte. Wielands Maßstäbe lassen sich implizit an der Lebensgeschichte Peregrins, explizit an textexternen Weitungen des Autors Wieland ablesen. Die i n der histoire erkennbaren Redestrategien und Gesprächsmuster können so i n Bezug gesetzt werden zum Diskurs über gute Rhetorik und eloquentia mala (corrupta), dessen Geschichte Wieland kennt und an dem er selbst intensiv teilnimmt. 5 Dabei w i r d sich zeigen, daß die Erzählung des antiken Rederaums als Wfelands Diagnose von Verfallserscheinungen der Rede i m 18. Jahrhundert zu lesen ist. 6
4 Jan-Dirk Müller, Wielands späte Romane. Untersuchungen zur Erzählweise erzählten Wirklichkeit (München 1971). 5 6
und zur
Vgl. vor allem Wielands Red-Kunst und Dicht-Kunst (1757).
Die folgenden Überlegungen greifen dankbar auf die Untersuchungen Reinhard Tschapkes zurück (die Wielands Rhetorik-Verständnis entwickeln, aber nur beiläufig auf Peregrinus Proteus eingehen) und verstehen sich insofern als Ergänzungsschrift: Reinhard Tschapke, Anmutige Vernunft. Christoph Martin Wieland und die Rhetorik (Stuttgart 1990). - Weitgehend unberücksichtigt, einer späteren Untersuchung vorbehalten, bleiben hier die Funktion des Elysiums als Gesprächsort, die Interaktion von Peregrin und Lukian, die den Dialogcharakter des Romans konstituiert, und der einer confessio bzw. einer Apologie ähnelnde Erzählgestus Peregrins.
Peregrins Geschichte
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I. Rhetorikunterricht als geist- und seelentötende Zwangsveranstaltung Als ein mit einer »zarten Empfänglichkeit« (45) 7 ausgestatteter, Homer schwärmerisch verehrender Jüngling w i r d Peregrin von einem Pädagogen unterrichtet, der, wie er seinem Gesprächspartner Lukian i m Elysium berichtet, nichts dazu beigetragen hat, »die A r t , wie dieser [Homer] auf mich wirkte, zu begünstigen oder zu berichtigen, zu verstärken oder zu schwächen« (45). Er charakterisiert ihn als einen Lehrer, »der nichts als Wörter, Redensarten und Dialekte, grammatische und rhetorische Figuren, Mythologie, alte Geschichte und Geografie - und auch dieß alles nur mit den Augen eines stumpfsinnigen Pedanten in dem Dichter sah [ . . . ] « (45). Es ist ein Unterricht, der sich i m wesentlichen auf ein trockenes »Herdeklamieren« beschränkt (46). Offensichtlich spielt Wieland hier auf einen Prozeß an, der i n griechisch-hellenistischer Zeit beginnt und sich i n der römischen Spätantike fortsetzt: Der Untergang der freiheitlich-republikanischen Staatsordnung i n der griechischen Polis wie i m römischen Weltreich reduziert die Wirkungsmöglichkeiten der Rhetorik i m öffentlichen Leben und verdrängt sie weitgehend i n den Schulbetrieb, w o sie u. a. auf Deklamationsübungen beschränkt w i r d . 8 Einen so gearteten (besser: entarteten) Rhetorikunterricht, üblich i n der jahrhundertelang tradierten Form althumanistischer Unterweisung, hat Wieland möglicherweise i n der Biberacher Lateinschule selbst erfahren. Gegen ein solches Unterrichtskonzept wendet sich i n der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die neuhumanistische Auffassung von Pädagogik, die, nachdem Winckelmann dafür die Augen geöffnet hatte, den Vorrang des archaischen und klassischen Griechentums vor der römischen Kultur behauptet; sie sucht die vollendete Humanität durch die den ganzen Menschen berührende Lektüre der Klassiker, die an die Stelle althumanistischer schematischer Deklamation und erstarrter Analyse rhetorischer Tropen und Figuren treten soll, zur lebendigen Anschauung zu bringen. Der Zweck dieses Unterrichts ist Menschenbildung, »harmonische Ausbildung des Geistes und des Gemüts«, wie Friedrich August Wolf, seit 1783 Professor i n Halle, formuliert. 9 Daß Wieland, indem er Peregrins Pädagogen als einen auf Deklamation, 7
Die Ziffern in Klammern markieren hier und im folgenden die Seitenzahlen der Peregrinus Proteus-Edition in der Bibliothek des 18. Jahrhunderts: Christoph Martin Wieland, Peregrinus Proteus. M i t einem Essay als Nachwort und Anmerkungen von Karl Mickel (München 1985). 8 Vgl. dazu: Manfred Fuhrmann, Rhetorik und öffentliche Rede. Über die Ursachen des Verfalls der Rhetorik im ausgehenden 18. Jahrhundert, Konstanzer Universitätsreden 147 (Konstanz 1983), 12-13; Eduard Norden, Die antike Kunstprosa vom VI. Jahrhundert v. Chr. bis in die Zeit der Renaissance, Nachdruck der Ausgabe von 1919 (Darmstadt 1958), Bd. I, 277-299. 9
Zitiert nach: Fritz Blättner, Geschichte der Pädagogik (6. Aufl., Heidelberg 1958), 122/123; vgl. z. B. auch die neu gedruckten Dokumente zum Bildungskonzept des Päd-
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Nicola Graap
Grammatik und rhetorische Figuren fixierten Pedanten zeichnet, der das eigentliche Wesen von Dichtung und Lehre nicht begreift, eine so geartete Auffassung von Pädagogik und Rhetorik von einem neuhumanistischen Standpunkt aus kritisiert, w i r d deutlich, wenn er von »ächter Beredsamkeit« das fordert, »was man i n der Mahlerei die stille Größe« 1 0 nennt. Diese stille Größe, die - entsprechend Wielands Ideal - i n der »ungekünstelte[n] Schönheit und edle[n] Simplicität des Ausdrucks« 1 1 liegt, ist Peregrins Pädagoge nicht i n der Lage zu erkennen und zu vermitteln. Die Tatsache, daß Wieland dessen K o n zept pädagogischer Rhetorik verwirft, heißt nicht, daß er Peregrin i n seiner begeisterten Schwärmerei für »alles Wunderbare, die Götterscenen [ . . . ] und die Feerey des Odysseus« (45) Recht gäbe; denn i n Peregrin ist auch der junge Wieland mit seinem von Bodmer und Breitinger genährten Enthusiasmus für das Wunderbare und Phantastische zu erkennen, den zwar der Dichter früh überwindet, den aber die literarische Figur Peregrin mit einem solchen Pädagogen nicht überwinden kann.
I I . Dioklea - Sophisterei und Schauspielkunst M i t Dioklea begegnet Peregrin in Halikarnaß der Sophisterei und einer besonderen Form der Schauspielkunst. Dioklea inszeniert ein perfektes Schauspiel, u m Peregrin, der sich selbst zu einem entkörperten Dämon der Liebe stilisiert, dazu zu bewegen, ein erotisches Verhältnis mit ihrer alternden Freundin, der Römerin Mamilia Quintiiiana, Verkörperung des Kurtisanentypus des 2. wie des 18. Jahrhunderts, einzugehen. Die Kulisse ist ein marmorner Tempel; die Nymphen, die Sphinx vor dem Eingangstor und eine unzählige Menge »schneeweißer Tauben [ . . . ] , deren Farbe das Symbol der Reinheit« (84) ist, weihen die Wohnstätte der angeblichen Tochter des Apollonius von Tyana gleichermaßen zu einem altehrwürdigen griechischen Heiligtum wie zu einem O r t des Geheimnisses. Dioklea spielt in ihrem ihre schöne Gestalt zur Geltung bringenden blauen, mit silbernen Sternen durchwirkten Gewand die Rolle der dazu gehörenden Priesterin. Offensichtlich weiß sie die Lehren der rhetorischen actio 12 wirksam zu ihren Zwecken einzusetzen. Sie spekuliert darauf, daß agogen und Altphilologen Johann Heinrich Voss in: Johann Heinrich Voss, Ausgewählte Werke , hg. Adrian Hummel (Göttingen 1996), 257-308. 10
Christoph Martin Wieland, »Theorie und Geschichte der Red-Kunst und DichtKunst«, in: Wielands Gesammelte Schriften , hg. Deutsche Kommission der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften (Berlin 1916), Bd. I, 4, hg. Fritz Homeyer und Hugo Bieber, 303-420, hier 419. 11 12
S. 323.
Vgl. zur Lehre von der actio Ursula Geitner, Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert (Tübingen 1992).
Peregrins Geschichte
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der platonische Schwärmer die starken visuellen Eindrücke i m Sinne der antiken Vollkommenheitstheorie, der Kalokagathia, rezipiert, derzufolge Schönheit und Tugend zusammengehören. Wieland zeigt sich dieser Vorstellung verpflichtet, wenn er die actio als Mittel, Seelenschönheit sichtbar zu machen, schon i n Koxkox und Kikequetzel. Eine mexikanische Geschichte (1769/70) hervorhebt, 1 3 wenn er A n m u t bzw. Grazie i n Timoklea. Ein Gespräch über scheinbare und wahre Schönheit (1754) 1 4 als Ergebnis von »kleinen Einflüssen« definiert, »welche die Lebhaftigkeit, Schönheit und Zierlichkeit des Gemüths in den Körper hat«, und wenn er somit das rhetorische Ethos nicht rein geistigverbal, sondern auch körperlich-ästhetisch verstanden wissen will. Allerdings, und das zeigt die Dioklea-Episode auch, ist er sich durchaus der Gefahr bewußt, daß der Eindruck der Grazie auch zum Zweck der Täuschung eingesetzt werden kann. Die Formen des Nonverbalen, etwa die Musik, aber auch das andachtsvolle Schweigen, die Wieland in der Hierarchie der Kommunikationsmöglichkeiten i n seinem Romanwerk nicht selten über die verbale Kommunikation stellt, 1 5 setzt Dioklea als Manifestationen angeblich verstehender, empfindsamster Seelensprache ein, u m den Eindruck gemeinsamer Innerlichkeit, des vollkommenen gegenseitigen Verständnisses zu erwecken. U m ihr Ziel auf der Ebene des Wortes zu erreichen, versucht sie nicht etwa Peregrin - mittels eines Appells an die ratio - von seiner wahnhaften Wunschvorstellung, ein entkörperter Dämon der Liebe zu werden, abzubringen, sondern sie argumentiert innerhalb von Peregrins eigenen Denkmustern. Sie bedient sich dabei platonischer Denkmodelle [z. B. hinsichtlich des Antagonismus von »Schatten« und »Wesen« (S. 100), Erscheinung und Idee], u m den platonischen Schwärmer i n einen antiplatonisch-sinnlichen Liebhaber zu verwandeln: Das sicherste Mittel dich vor den Blendwerken der Einbildung zu verwahren, ist[... ] dich gänzlich den Gefühlen deines Herzens zu Überlassenf... ]. Das Herz, nicht die Einbildungskraft, ist das Organ, das ihrer [der Göttin] Mittheilungen empfänglich ist.
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Christoph Martin Wieland, Koxkox und Kikequetzel Eine mexikanische Geschichte, in: Christoph Martin Wieland, Sämtliche Werke, hg. Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur, 14 Bde, Reprint der Edition Leipzig (Göschen) 1794-1811 (Hamburg 1984), Bd. V, 14, 3-118, hier 78-79. 14
Christoph Martin Wieland, Timoklea. Ein Gespräch über scheinbare und wahre Schönheit, in: Wieland, Werke (Reprint), Bd. X I V , Suppl. 4, 33-64, hier 57. 15 I m Agathon heißt es: »Der Gebrauch der Sprache hört auf, wenn sich die Seelen einander unmittelbar anschauen und berühren, und in einem Augenblick mehr empfinden, als die Zunge der Musen selbst in ganzen Jahren auszusprechen vermöchten.« Christoph Martin Wieland, Geschichte des Agathon, in: Christoph Martin Wieland, Werke, hg. Fritz Martini und Hans Werner Seiffert, 5 Bde (München 1964-1968), Bd. I, 373-866, hier 390; vgl. auch Agathodämon: Die Musik vermittelt dort eine »Anschauung« von der »durch den Geist der Ordnung und Liebe zusammengesetzten Symfonie des Weltalls.« [Christoph Martin Wieland, Agathodämon, in: Wieland, Werke (Martini), Bd. I I , 457-704, hier 650.]
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Nicola Graap
Würde Dioklea tatsächlich aufklärerische, d. h. hier auf intellektuelle Klarheit gerichtete, Intentionen verfolgen, wie sie vorgibt, so hätte sie nicht die sinnverwandten Begriffe »Einbildungskraft« und »Herz« (Schlüsselwort von Empfindsamkeit und Pietismus i n Wielands Jahrhundert) antithetisch miteinander verbunden, sondern der »Einbildungskraft« das »Denken«, die ratio , gegenübergestellt. Wenn Dioklea Peregrin auffordert, seiner Einbildung Einhalt zu gebieten, meint sie nicht, daß er seinem Verstand folgen, sondern daß er sein Ideal einer platonischen Liebe aufgeben solle; wenn sie von »Herz« spricht, meint sie nicht den Sitz der Empfindsamkeit, sondern den Sexus. Die folgende rhetorische Frage [»Kann Liebe ohne Verlangen, Verlangen ohne Ausdruck seyn?« (102)] birgt, ganz i m Sinne der dozierenden Scheinlogik, einen Syllogismus: Liebe kann nicht ohne Verlangen sein, Verlangen drückt sich in sinnlichen Empfindungen aus, deine Gefühle sind Ausdruck der Liebe, und zwar der »reinste[n] Liebe« - »Venus Urania kann keine andere wecken« (101). - Die Verdrehung einer bisher für evident gehaltenen Wahrheit (was für das Wesen des Seins gehalten wurde, ist nur Schatten), die Konstruktion einer Pseudoantithese (Einbildungskraft vs. Herz), die Scheinlogik des Syllogismus, die Vortäuschung aufklärerischer Intentionen und das am Ende erteilte Denkverbot (102) enthüllen den sophistischen Charakter von Diokleas Rede und kennzeichnen die literarische Figur - entsprechend der geschichtlichen Situierung der histoire des Romans - als weibliche Spielart der spätantiken Sophistik. Wenn Dioklea später, bei ihrem zweiten Auftritt i m Gefängnis von A n t i o chia, in mittlerer Stillage versucht, Peregrin von seinem Schwärmertum abzubringen (239), so hat sie nur scheinbar einen aufklärerischen Habitus angenommen. Die Argumente, mit denen sie Peregrin für die zweifelhaften, machiavellistisch begründeten Machenschaften ihres Bruders Kerinthus gewinnen w i l l , zeigen jedoch, daß die zugrunde liegende Dialektik weiterhin durch und durch sophistische Züge trägt. Wieland läßt sie das Argument formulieren, daß die Täuschungen i m Dienste des guten Zweckes ähnlich erlaubt seien wie bildliche »Einkleidungen großer Wahrheiten« i n der »unschuldigsten Poesie« (254). Wieland stellt sie, indem sie eine Analogie zwischen den Täuschungen des Kerinthus und dem Schmuck der Poesie behauptet, i n Widerspruch zur gesamten europäischen Poetiktradition seit Horaz, die zwar den Schmuck der Metapher zur Erregung der Imaginationskräfte (das rhetorische movere) erlaubt, auf keinen Fall aber die bewußte Täuschung. Daß diese Tradition i m Aufklärungsjahrhundert Wielands nicht abgerissen ist, zeigt Gottscheds produktionsästhetische Anweisung, daß am Beginn des Dichtens die Formulierung einer Vernunftwahrheit zu stehen habe. - Die Figur des Sophisten, als verlachtes Zerrbild des Philosophen vorgebildet i n den Lukianschen Totengesprächen (z. B. I, X ) , ist i n Wielands Werk keine Einzelerscheinung: Die von Wieland i n der frühen Theorie und Geschichte der Red-Kunst und Dicht-Kunst (1757) apostrophierten So-
Peregrins Geschichte
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phisten, die sich nicht schämten, »das Interesse der Leidenschaften gegen die Vernunft und des Lasters in ihren Schutz zu nehmen«, 16 sind Vorläufer des späteren Hippias i m Agathon; in der Vorrede zur ersten Fassung dieses Romans hebt der A u t o r hervor, daß trotz seiner zuweilen positiven Funktion in der Romanhandlung (ihm gelingt es, Agathon von seiner Schwärmerei zu heilen) H i p pias ein gefährlicher Mann sei, da er mit einem »Gewebe von Trugschlüssen« arbeite, das jede humane Gesellschaft zugrunde richten müsse. 17 U n d Reinhard Tschapke hat gezeigt, daß das M o t i v der depravierten sophistischen Rhetorik Wielands Werk über den Agathon-Stoff hinaus begleitet: »In seiner Antikenerzählung Stilpon führt er dieses M o t i v auf einen Höhepunkt, indem er eine Verblendungs-und Tauschungsrhetorik anklagt und deren Siegeszug i m republikanischen Staatswesen Megara sarkastisch kommentiert.« 1 8 Das von Aristoteles zusammengestellte Repertoire Sophistischer Widerlegungen hat Wieland dem Peregrin der histoire nicht zur Verfügung gestellt, weil das Kompositionsprinzip des ganzen Werkes erst mit dem Gespräch zwischen Peregrin und Lukian i m Elysium, also zwischen den Toten, den Aufklärungsprozeß (auch beim Leser) in Gang setzen soll.
I I I . Kerinthus: genus grande im Dienste der lauschung Die Redestrategie des Kerinthus, Führer des Geheimbundes der Christianer, unterscheidet sich grundsätzlich von der Diokleas. Seine i n einem Wald in der Nähe von Smyrna an Peregrin gerichtete Rede gehört dem genus grande mit pathetischem ornatus an. Ziel ist die Erschütterung, Überwältigung des Hörers, also das movere. Nach einer ersten Demonstration seiner angeblichen, wundersamen Hellsichtigkeit beschreibt er Peregrins Seelenzustand in einer Reihung von Antithesen, die stilistisch Peregrins innere Zerrissenheit ausdrücken soll. »[D]u [ . . .Jsehnst dich nach dem Licht, und taumelst in der Finsterniß« (156). Der metaphorischen Ubersteigerung des Kontrastes zwischen dem ersehnten Zustand (»Licht«) und der tatsächlichen seelischen Befindlichkeit (»Finsterniß«) - die Licht-Finsternis-Metapher w i r d i m Fortgang der Rede zum Leitmotiv - korrespondiert Peregrins Selbstwahrnehmung und sein eigenes sprachliches Inventar. Kerinthus versucht also, Peregrin durch eine Imitation der Sprache des Schwärmers zu erreichen und sein einfühlsames Verständnis für dessen Verzweiflung zu demonstrieren. Dies w i r d besonders deutlich, als er auf das Abenteuer mit »Venus Mamilia« anspielt: »Der stolze Ixion glaubte die Köni16
Wieland, Red-Kunst, 329.
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Wieland, Agathon, 378.
18
Tschapke, Vernunft,
150.
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Nicola Graap
gin der Götter zu umarmen, noch glücklich, wenn die vermeinte Göttin i n eine Wolke zerflossen wäre!« (156) Als Ixion hatte Peregrin sich selbst schon einmal bezeichnet (137) und sich damit zum Liebhaber und Liebling Heras überhöht. Die Kontrastierung von vermeintlicher »Göttin« und »Sirene« soll Peregrin den Gegensatz zwischen einstigem Traum und gegenwärtiger Realität zeigen. Es ist aber signifikant für die Wortwahl des Redners, daß er nicht von der »alternden Römerin«, sondern eben von der »Sirene« spricht; er kontrastiert also nicht - wie er vorgibt - Traum und Realität, sondern er kehrt den ehemals schönen Traum i n einen Alptraum um. Schon hier deutet sich an, daß er nicht aufklären, nicht zu einer realistischen Weltsicht verhelfen w i l l , sondern i n dieser Phase beabsichtigt, Peregrins Gemütszustand zu bestätigen, sogar zur Verzweiflung zu steigern. I m zweiten Redeabschnitt spricht Kerinthus über sich und seine Intentionen. Peregrins Frage nach der Identität des Fremden beantwortet er i n paradox-verrätselnder Weise: »Nicht wofür du mich vielleicht hältst, wiewohl mehr als ich scheine « (156). Kerinthus arbeitet mit der A n t i these von Schein und Sein, u m seine Identität zu verschleiern, sich selbst zu mystifizieren; mal ist er mehr, als er scheint, mal scheint er mehr, als er ist. Seine Intention, so behauptet er (wie Dioklea), ist Aufklärung (156). Hier ist zu erkennen, warum er vorher Peregrins Niedergeschlagenheit zu verstärken gesucht hat; er kann nun als der rettende Engel auftreten, der i n der labyrinthischen Welt der Täuschungen die Sehnsucht nach Wahrheit zu stillen verspricht. I m Schlüsselwort »Wahrheit« ist die Lüge verborgen; mit der verlockenden Aussicht auf Wahrheit versucht er, Peregrin an sich zu binden und letztlich für die Errichtung eines theokratischen Herrschaftssystems zu mißbrauchen. Nach der Licht-Schatten-Metaphorik w i r d die Antithese von Schein und Sein i m beschriebenen Kontext zum zweiten Leitmotiv der Rede. I m dritten Abschnitt z. B. setzt er diese Antithese bei der Betrachtung des Seins ein, und zwar i m H i n b l i c k auf das Wesen der Natur i m allgemeinen und das des Menschen i m besonderen: »Nichts ist was es scheint , wiewohl dem Erleuchteten Alles scheint was es ist« (157). Der Chiasmus und der dadurch entstehende Kyklos sorgen für den einprägsamen, eine allgemeine Wahrheit vortäuschenden sentenzhaften Charakter dieser Aussage. N u r i n der Wahrnehmung des Weisen löse sich die Antithese von Schein und Sein auf, wie das Oxymoron am Schluß des Satzes demonstriert. Dieser Gedanke ist dem Platoniker Peregrin vertraut: N u r der Weise, der Philosoph, kann sich von den Schattenbildern lösen und die Ideen schauen. Kerinthus inszeniert sich hier als Exeget allen Seins, und das heißt: auch des Menschen. Seine Behauptung »der Mensch kennet alles besser als sich selbst« (157) erinnert - als deutlicher W i n k ! - an die Forderung nach Selbsterkenntnis beim Orakel zu Delphi. Der folgende Hinweis auf die Geschichte des Odipus, als allusio indirekt, nicht expressis verbis gegeben, unterstreicht den Gedanken, der ihn - Kerinthus - zum priesterlichen Seher erhöht. Ödipus w i r d zur sinnbildlichen Verkörperung des menschlichen Seins: Die Tragödie des
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Menschen besteht darin, wie der »ausgesetzten Königssohn[]« i n der Welt herumzuirren (als ein peregrinus!\ »ohne vom Ursprung und von dem, w o z u er geboren war, einige Ahnung gehabt zu haben« (157). Kerinthus zeichnet den Menschen als von sich entfremdet; nur ihm zu folgen erscheint als Möglichkeit, zu sich selbst zu finden. Wieland läßt Kerinthus diesen Abschnitt der Rede mit einem erneuten Verwirrspiel beenden: Das Leben des Menschen, das sein Alles scheint, ist Nichts, immer von einem Augenblicke verschlungen, der schon dahin ist, ehe man gewahr wurde, daß er da war, ist es Nichts\[...
] es ist mit der Zukunft schwanger, die Alles ist. (157)
Es ist das bereits bekannte rhetorische Spiel mit den antithetischen Fügungen (Alles-Nichts) und den paradoxen Gedankenfiguren. Zusammen mit der Allgemeingültigkeit beanspruchenden Sentenz zu Beginn dieses Passus muß das dunkle Raunen i m Kontext mit den vorangegangenen Rätselworten wie ein Orakelspruch klingen. Z u der Anmaßung, über das Wissen des platonischen Philosophen zu verfügen, tritt hier implizit die Hybris, den delphischen Gott Apollon, mindestens aber den priesterlichen Seher Teiresias i n der sophokleischen Tragödie vertreten zu können. Kerinthus' Strategie besteht an dieser Stelle darin, den enttäuschten platonischen Schwärmer bei seinem humanistischen Bildungswissen quasi abzuholen, u m die ethischen Maßstäbe und metaphysischen Signaturen dieser Geisteswelt, für seine politischen Herrschaftsambitionen verfälscht, mit von ihm ausgewählten, zunächst vor allem eschatologischen, Lehren der christlichen Religion zu verbinden. Nach einer das Gesagte wirkungsvoll unterstreichenden Pause setzt Kerinthus mit »nach und nach immer feierlicher werdenden Tone« (158) wieder ein. Was eben noch nur vage konnotiert war, w i r d nun überdeutlich: I n der Sprache der biblischen Offenbarung gestaltet Wieland die »Prophezeiung des Kerinthusc »Eine mächtige Stimme vom H i m m e l ist durch alle Lande erschollen« (158). Wielands Kerinthus spielt nicht nur auf Johannes den Taufer an, der als Rufer i n der Wüste die Ankunft des Messias ankündigt, sondern auch auf den i h m typologisch zugeordneten Johannes der Offenbarung, nach dessen apokalyptischer Vision der Schall der Trompeten den Jüngsten Tag einleitet. Die Prophezeiung der furchtbaren »Umkehrung der Dinge« und des nahenden Endes des Reiches »der Dämonen und ihrer Diener« (158) steht gedanklich und rhetorisch i m Zeichen der eschatologischen Endzeiterwartung der frühchristlichen Gnosis, doch i m Gegensatz zu ihr soll sie nicht passiv erwartet, sondern aktiv herbeigeführt werden, und zwar durch eine die Machtverhältnisse grundlegend verändernde politische Revolution, als deren Speerspitze der von Kerinthus geführte Geheimbund fungieren soll. Die Religion w i r d so als Deckmantel für politische Zwecke instrumentalisiert. Hat Kerinthus die Licht-Schatten-Metaphorik bisher i m Sinne des platonischen Höhlengleichnisses benutzt, u m sich selbst als den zum Licht der Idee geleitenden Philosophen darzustellen, so w i r d sie hier zum sprachlichen Instru2 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 38. Bd.
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ment für die Ausmalung der apokalyptischen Endzeitprophetie; blendete bei Piaton das Licht des wahren Seins die Augen der Unwissenden , so blendet es hier die Augen der » Unheiligen « (158), die nicht erkennen, was die Geweihten vorhersehen: das Herabsteigen des Himmlischen Jerusalems, die Vernichtung der Feinde des Lichts und die Vereinigung aller Völker der Erde (158). - Der letzte Teil der Rede ist v o m christusartigen >Totenerwecker< als Prophetie gestaltet, die sich direkt auf Peregrin bezieht, und kehrt damit - einen Kreis schließend - zur ersten Anrede zurück: »Ich sehe das Zeichen der Erwählung auf deiner Stirn« (158). Die Person Peregrin bekommt nach der Beschwörung von Geschichte und Endzeit auf diese Weise eine herausragende Funktion i m Prozeß einer von Kerinthus nicht nur interpretierten, sondern von i h m selbst geplanten Weltheilsgeschichte. Kerinthus stimuliert sich und seinen Zuhörer zum endgültigen Redeschluß hin bis zur Ekstase: Der amplificatio durch comparatio - »und ein ganz anderer Führer der Seelen, als jener fabelhafte Hermes , w i r d das Göttliche i n dir zu seinem Ursprung zurück führen!« (159) - folgt direkt eine amplificatio in Form des incrementum: »Dann wirst du mein Bruder seyn, Peregrin! wirst die Stimme des hohen Berufs hören«: Anapher und Ellipse des grammatischen Subjekts signalisieren die Acceleration des Sprechtempos (159). - I m Gegensatz zu einem gängigen literarischen Topos des 18. Jahrhunderts (Weltabgeschiedenheit als Voraussetzung für die Wahrheitsfindung) ist i n der Kerinthus-Episode die Einsamkeit des Waldes räumliche Bedingung der Täuschung, er ist damit gleichzeitig A n t i - O r t des von Wieland, Kant und anderen Aufklärern publizistisch geforderten öffentlichen, freien Räsonnements: Aufgrund des Ausschlusses der Öffentlichkeit und wegen des Fehlens eines potentiellen Gegenredners mangelt es entgegen den Forderungen auch schon der antiken Rhetoriktheorie an einem die Subjektivität des Redners einschränkenden kritischen Korrektiv. 1 9 Während der Rede hat Kerinthus, der vorher mit einem »finstern Blick« (153) erschienen war, wie »Feuer« glühende Augen, die wie »Lichtstrahle i n das Dunkle« von Peregrins Seele dringen (157-158), so daß dieser nicht mehr Herr seines Wullens ist und die eigentlich gewollte »Kälte« des Abstands gegen-
19 Vgl. hierzu: Manfred Fuhrmann: »Nur die zu dialogischer Beredsamkeit anleitende Rhetorik ist gegen den Vorwurf gefeit, daß sie moralisch bedenklich sei, da sie lehre, wie man die Wahrheit entstellt oder an Emotionen appelliere; der einzelne Redner eines freien Staates darf subjektiv sein, weil das Prinzip von Rede und Gegenrede die beste Gewähr dafür bietet, daß sich seine Perspektive nicht schädlich auswirkt, und er darf an Emotionen appellieren, weil auch hier das jeweils zuträgliche Maß der Kontrolle des Gegners und darüber hinaus der gesamten Zuhörerschaft unterliegt.« (Fuhrmann, Rhetorik , 24; Hervorhebungen von mir) - Das Fehlen von Öffentlichkeit im deutschen 18. Jahrhundert haben Jürgen Habermas (1962), Reinhart Koselleck (1975) und Michael Voges (1987; hier auch im Zusammenhang mit Wielands Peregrin) ausführlich behandelt.
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über dem unheimlichen Fremden nicht aufzubringen vermag. Stimme und M i m i k stehen i m Gegensatz zum actio-Ideal bürgerlich-aufklärerischer Rhetorik zumindest der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, das sich u. a. mit der Forderung nach Mäßigung und Bescheidenheit am aptum des vir-bonus-Idezls der antiken Redelehre orientiert. Wieland formuliert i n Theorie und Geschichte der Red-Kunst und Dicht-Kunst: »Endlich gehört zur Pronunciation und action eine mit Anstand, Nachdruck und Annehmlichkeit begleitete Moderation oder Lenkung der Stimme, Miene und Geberden.« 20 Dies steht in Einklang mit dem sog. Wohlredenheitsideal der wirkungsmächtigsten aufklärerischen Rhetoriklehre, der Ausführlichen Redekunst Gottscheds. 21 Die Kerinthus-Rede ist angelegt als ein Exemplum für die Vernachlässigung der rednerischen virtutes docere und delectare zugunsten des einseitigen movere, also des Ubergewichts der verha über die res. M i t Gottsched formuliert, geschieht hier die Überredung auf ungehörige Weise dadurch, daß die auf den Willen gerichteten »Bewegungsgründe« von dem notwendigen Zusammenhang mit den auf den Verstand gerichteten »Beweisgründen«, d. h. von aufklärerischer Rationalität, gelöst werden. 2 2 Das ist die Ursache dafür, daß Peregrin lange Zeit zum willenlosen Instrument eines rhetorisch hochbegabten Verführers wird. - I n der fiktiven, von Wieland ins Deutsche übersetzten Gerichtsrede Lukians (Der zwiefach Angeklagte) w i r d der übertriebene ornatus einer solchen Rhetorik mit der grellen Schminke einer Prostituierten verglichen; wie eine Hure läßt sich diese Rhetorik von moralisch verwerflichen Liebhabern benutzen. 2 3 Das soll heißen: Weil die Rhetorik die Wahrheit verrät, kann das ciceronianische Ideal, das ratio und oratio (Vernunft und attizistische Redekunst) zusammen zur Grundlage von Gesittung und Gesellschaft erklärt, auch nicht annäherungsweise verwirklicht werden. Das gilt nach Wielands Urteil ganz offenbar auch für das eigene Jahrhundert. Die Rede des Kerinthus vor der Christianergemeinde gestaltet Wieland i n stilistischer und inhaltlicher Hinsicht wie auch hinsichtlich der Wirkungsintention als Fortsetzung der ersten i m Wald bei Smyrna, jetzt allerdings i m Gewand 20
Wieland, Red-Kunst, 307.
21
Vgl. Johann Christoph Gottsched, Ausführliche Redekunst, nach Anleitung der alten Griechen und Römer,; wie auch der neuern Ausländer; Reprint der Ausgabe Leipzig 1736, Documenta Linguistica (Hildesheim/New York 1973), 345-347; außerdem die Artikel »Redner« (S. 1376) und »Stellung und Bewegung eines Redners« (S. 1516), in: Johann Christoph Gottsched (Hg.), Handlexicon oder kurzgefaßtes Wörterbuch der schönen Wissenschaften und freyen Künste, Reprint der Ausgabe Leipzig 1760 (Hildesheim/New York 1970). 22 23
Gottsched, Redekunst, 36-37.
Lukian von Samosata, »Der zwiefach Angeklagte«, in: Lukian, Vergnügliche Gespräche und burleske Szenen, hg. und übers. Horst Gasse (3. Aufl., Leipzig 1985), 437-469, hier 464. 2*
20
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der Kathederrhetorik. Die religiöse Verzückung, die Kerinthus mit zurückgesunkenem Haupt und starren Augen (170) vorspielt und i n die er seine Zuhörer versetzt, sowie das gegenüber der Rede i n der Waldeinsamkeit neue Spiel mit dem Unsagbarkeitstopos (168), den er einsetzt, u m innere (religiöse) Wahrhaftigkeit vorzutäuschen, sollen Peregrin dazu bewegen, es dem beschworenen Christianer-Märtyrer gleichzutun und zu opfern - wie sich später zeigt, nicht das Leben, sondern das Vermögen. Wieland führt hier einen Predigttypus vor, der den Maßstäben einer i n seinem Jahrhundert weithin als ideal empfundenen Kanzelrhetorik widerspricht 2 4 : Gottsched hatte schon i n seiner Redekunst lobend auf den Bischof von Cambrai gewiesen, und dieser hatte sich i n seinen Dialogues sur l'Eloquence (1718) für eine dem Stilideal der simplicité gehorchende Kanzelberedsamkeit ausgesprochen; 25 und Wieland w i l l den geistlichen Rednern »eine allgemeine Regel« vorschreiben: » [ . . . ] das sie nicht nur das Herz, sondern auch den Verstand überzeugen« müssen. 26
IV. Symposionales Geschwätz in den Urbanen Zentren des Imperiums Wielands Maßstäbe für eine gelungene Konversation sind an seiner Würdigung des Gastmahls von Xenophon ablesbar. I n seinem Versuch über das xenophontische Gastmahl nennt er das Werk »ein schwer zu übertreffendes Muster einer dialogisierten dramatischen Erzählung« 2 7 Es handelt sich u m die Wiedergabe eines Tischgespräches einer vermischten Gesellschaft liebenswürdiger Jünglinge und verdienstvoller Männer, [ . . . ] wo edle und gute Menschen dem Geist geselliger Fröhlichkeit und der Stimmung, welche Zeit, Ort und Augenblick natürlicherweise hervorbringen, sich ohne Zwang und zurückhaltende Aufmerksamkeit auf sich selbst zu überlassen pflegen.. . « 2 8 »Es ist [ . . . ] ein [ . . . ] Tischgespräch unter [ . . . ] guten Freunden [ . . . ] , denen es bloß um eine angenehme Unterhaltung, und auch dann, wo das Gespräch eine ernsthaftere Wendung nimmt, nicht um Offenbarungen
aus der Geister-und Götterwelt, sondern um
schlichte, nackte, menschliche Wahrheit zu tun ist. 2 9
Jeder kann sich »zwanglos« in »seiner eigenen Gestalt« zeigen, »ohne darüber die gehörige Rücksicht auf andere zu vergessen, welche die Urbanität ge24 Vgl. zur Kanzelberedsamkeit: Gert Ueding, Grundriß der Rhetorik. Technik, Methode (2. Aufl., Stuttgart 1986), 130. 25
Gottsched, Redekunst, 44-45.
26
Wieland, Red-Kunst, 332.
27
Geschichte y
Christoph Martin Wieland, »Versuch über das xenophontische Gastmahl«, in: Xenophon, Das Gastmahl, hg. und übers. Peter Landmann (Hamburg 1957), 111. 2
* ibid.
29
S. 113.
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bildeten Personen [ . . . ] zur unerläßlichen Pflicht macht.« 3 0 Ein solches Gespräch, so Wieland, kann nur i n einem Volk geführt werden, das politische Freiheit genießt. 31 M i t diesem Gesprächsideal ist Wieland auch den i n der Renaissance i m Zuge des wiederentdeckten antiken Interesses an Sozialität wiederbelebten und vor allem bei Pontanus und Castiglione kultivierten Vorstellungen von der ars sermonis 32 verbunden. I n der Forderung nach Rücksicht klingt die Idee von der dem Ethos zugehörigen sympathetischen Affektbrücke an; der Begriff der »zurückhaltenden Aufmerksamkeit« rekurriert auf die antike prepon-Lehre; comitas (Freundlichkeit), affabilitas (Leutseligkeit), liberalitas und humanitas sind für Wieland wie für die Antike Grundvoraussetzungen dafür, daß die intendierte Wirkung des Urbanen Gesprächs, die delectatio von Körper, Geist und Seele, erzielt w i r d . 3 3 Die i m Peregrinus Proteus skizzierten Symposien in R o m und Alexandria entsprechen nicht annähernd dem sich aus dem Xenophon-Aufsatz ergebenden Anforderungen an einen sermo urbanus. Es ist das erste M a l (erst i m V I I I . Abschnitt des zweiten Teiles), daß Wieland die Hauptfigur seines Romans einem bestimmten Rede- bzw. Gesprächstypus innerhalb der Welt , hier verstanden als monde, grande société , begegnen läßt. Wielands Peregrin nennt die Gäste in einem Atemzug mit »Sykofanten, Schmeichlern, Giftmischern, Erbschleichern und falschen Freunden« (299), die natürlich dem Prinzip der comitas nicht gerecht werden können, und die Reden, die dort gehalten werden, sind panegyrische Ergüsse der verachtenswertesten Art. Peregrins schwärmerisch-naiv angelegtes Projekt, durch eine A r t >Moralisierung< von oben (nämlich durch seine Einwirkung auf die dem Kaiserhaus nahestehenden Kreise u m den jungen Römer Cejonius) die Menschen der hauptstädtischen Gesellschaft zu einer Urbanen Humanität zu erziehen, muß i n dieser Welt von »Thoren, Gecken und Narren« (299) scheitern. Wieland arbeitet hier mit dem Topos der unverwüstlichen menschlichen Narrheit, dessen Traditionslinie von der attischen Komödie und Lukian über Sebastian Brant, 3 4 v o m vorromantisch verstandenen D o n Quijote bis zu den Kleinbürgern A b deras ihn immer wieder beschäftigt hat. Die Narrheit der Menschheit, anthropologische Grundkonstante i n Wielands Denken, 3 5 ist die Ursache dafür, daß
30
ibid.
31
S. 115.
32
Vgl. Claudia Schmölders, Die Kunst des Gesprächs. Texte zur Geschichte der europäischen Komversationstheorie (München 1979), 22. 33
Vgl. zur antiken ars sermonis : Schmölders, Kunst.
34
Vgl. zur Nachwirkung des Brantschen Narrenschiffs das von Hans-Joachim Mähl verfaßte Nachwort zu folgender Ausgabe: Sebastian Brant, Das Narrenschiff übers. H . A . Junghans, mit Anmerkungen versehen v. Hans-Joachim Mähl (Stuttgart 1993), 461-521. 35 Vgl. zu diesem Komplex, insbesondere zu Wielands Schwanken zwischen geschichtsphilosophischem Pessimismus und Dennoch-Optimismus: Horst Thome, »Wie-
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der A u t o r seine Figur, die selbst ein Narr besonderer A r t ist, in der Welt scheitern läßt.
V. Die leisen Stimmen der Wahrhaftigkeit M i t der Rede des »Wirts« der i m Wald von Pitane lebenden Christianerfamilie, deren »Liebenswürdigkeit«, »Unschuld der Sitten«, »Eintracht« und »Einfalt der Seelen« (13) Peregrin tief bewegen, zeichnet Wieland eine Affektrhetorik, die dem pietistischen Sprachgestus seiner Zeit nachgebildet ist. Die Mitglieder der Christianer-Familie machen »wenig Worte«. »Es war als ob ihnen die Seelensprache, w o r i n sie einander so gut verstanden, zu allem hinreichte, was sie sich zu sagen hatten« (177), und die Tränen des Wirts, die fließen, als er über den gekreuzigten Gottessohn spricht (181), sind Ausdruck der compassio und damit auch innerer Wahrhaftigkeit. Bekannt ist, daß Wieland i n seinen religiösschwärmerischen Jugendjahren von der Herz-zu-Herz-Sprache, die er spätestens 1747 i n dem pietistisch geprägten Internat Klosterbergen kennengelernt hat, fasziniert gewesen ist. Doch obwohl der Erzähler Peregrin i m Elysium diese Christianer gegen den von Lukian erhobenen Vorwurf der Tauschung und Volksverführung verteidigt (186/87) und auf überzeugende Weise deren Wahrhaftigkeit auch aus der Rückschau v o m Totenreich bestätigt, läßt Wieland seinen Helden schließlich doch auf Distanz gehen: Es ist Dionysius, der Peregrin i m Sinne des Autors darüber belehrt, daß er, von Jugend an i n Kontakt mit Menschen gebildeten Geistes, auf die Dauer ein Leben unter »so schlichten und einförmigen Landleuten« (282) nur »übellaunig« würde ertragen können. So schön die Idee von einer Menschheit zu sein scheint, deren Unschuld sich i n einer Rede ausdrückt, die »nach ihrer wahren Bestimmung ein offenherziges Bild dessen [ist], was in eines jeden Herz vorgegangen wäre [ . . . ] « , 3 6 so sicher weiß der alternde Wieland, daß Kulturwille, Reflexionsfähigkeit, differenzierte Gesellschaftlichkeit zur einmal erreichten Stufe der Menschheitsgeschichte gehören; nicht umsonst befindet sich der Rederaum der Christianer außerhalb der »Welt«. Der Typ des aufklärerisch-rationalen, schlichten und rechtschaffenen 37 Redners ist i n der Figur des Dionysius repräsentiert. Seine Rede verhängt weder Denkverbote noch zielt sie auf emotionale Überwältigung, weder greift sie zu
lands Romane als Spiegel und Kritik der Aufklärung«, in: Sven-Aage Jörgensen, Herbert Jaumann, John A. McCarthy, Horst Thome, Christoph Martin Wieland - Epoche , Werk , Wirkung (München 1994), 120-158, hier v.a. 130, 153. 36 Christoph Martin Wieland, »Abhandlung vom Naiven« (1755), in: Wielands Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), Bd. 1,4,15-21, hier 15. 37
Vgl. z. B. Gottsched, Redekunst , 46.
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sophistischer Spitzfindigkeit noch entartet sie zum leeren Geschwätz - statt dessen regt sie mit der Darlegung von Argument und Gegenargument dialektisch zum Mitdenken an (279). Aber i n seiner Diskussion mit Peregrin über den Geheimbundführer Kerinthus enthüllt sich die Resignation des Aufklärers, der erkannt hat, daß die Menschen noch nicht reif sind für den offenen aufklärerischen Diskurs und möglicherweise sogar der Tauschungsrhetorik des Kerinthus bedürfen, die er letztlich nicht legitimieren kann. Die Konsequenz ist für ihn der Rückzug aus der Gesellschaft. Der Gedanke vom Ausstieg war bei Wieland schon i n Sokrates Mainomenos oder die Dialoge des Diogenes von Sinope (1770) aufgetaucht, war aber schnell verworfen worden. Vor allem Wielands geradezu höhnische Ablehnung der rousseauschen K u l t u r k r i t i k zeigt, daß er die Antithese von verderbter Zivilisation und idyllischem (oder kynischem) Leben i n außergesellschaftlicher Natürlichkeit nicht akzeptiert. Seine Betrachtungen über J.J. Rousseaus ursprünglichen Zustand des Menschen (1770) lassen daran keinen Zweifel. Die einzige ganz positiv gezeichnete Figur des Romans, die in der Gesellschaft überlebt, ist der die kultivierte ars sermonis beherrschende Agathobulus. Zwar bleibt dieser i n der verderbten Gesellschaft, die ihn zu ihren Gastmählern lädt, innerlich rein, aber seine Rolle erschöpft sich darin, mit Geist und Eloquenz Unterhalter ohne moralische Wirksamkeit zu sein - Zierat, nicht mehr. I n der Redewelt, die die histoire des Totengesprächsromans erzählt, gibt es weder einen Archytas noch eine Republik von Tarent, i n der die Versöhnung von Moral und politischer Wirksamkeit, von idealem Wollen und nüchternem Realitätssinn gelingt. Gegenüber der lauten Eloquenz der Mächtigen und der Machtgierigen sind die leisen Stimmen der Aufklärung allenfalls als Flüstern zu vernehmen. Wieland gestaltet mit der histoire des Romans, wie die als letztes Fanal gedachte öffentliche Selbstverbrennung belegt, eine der grundlegenden Aporien spätaufklärerischen Denkens: Aufklärung erscheint nur in einer sich bereits i m Prozeß der Aufklärung befindlichen Welt möglich; i n einer machtund lustbetonten Welt, wie Wieland sie i n seinem Roman schildert, muß die Initiation in Aufklärung scheitern.
V I . Fazit und: Wider das Vergessen - Juan Luis Vives Daß Wfaland mit der Welt der Spätantike auch die eigene Zeit meint, hat die Wieland-Forschung der letzten Jahre hinlänglich gezeigt. 38 Fixiert auf das Schwärmertum, hat sie bislang hinsichtlich des Peregrinus Proteus nicht be-
38
Vgl. zur Problematik einer allzu einfachen Parallelisierung: Thome, »Wielands Romane«, 147.
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rücksichtigt, daß der Rederaum der A n t i k e v o n W i e l a n d kritisch bewertete rhetorische Erscheinungen des späten 18. Jahrhunderts repräsentiert: D a ß die verfehlte pädagogische U n t e r w e i s u n g Peregrins M ä n g e l der aus neuhumanistischer Sicht kritisierten
althumanistischen
Unterrichtspraxis
demonstriert,
wurde
schon gezeigt. Diokleas sophistische D i a l e k t i k u n d R h e t o r i k u n d Kerinthus' dunkles, pathetisch-metaphysisches Raunen spiegeln eindeutig Wielands U n b e hagen gegenüber Erscheinungsformen der zeitgenössischen spekulativen Philosophie: [a]lle Dankbarkeit und Ehrerbietung, die ich ihnen [den Philosophen] schuldig seyn mag, kann mich nicht verhindern zu gestehen, daß die meisten von ihnen zu Zeiten sehr wunderliche Launen haben. 39 U n d was die Kanzelrhetorik angeht, bemerkt Wieland, daß der »Geschmack der mittleren Zeiten« m i t der Vorliebe für »Antithesen, übertriebene Figuren und Wortspiele [ . . . ] bis i n die neueren Zeiten« nicht generell ü b e r w u n d e n i s t . 4 0 Wieland greift z u einem alten Gedanken, w e n n er den mangelhaften Zustand der R h e t o r i k seiner Z e i t auf das Fehlen v o n Freiheit u n d Öffentlichkeit z u r ü c k führt: »Seit d e m U n t e r g a n g der alten R e p u b l i k e n haben beynahe alle schönen Künste
[also auch die
»Beredsamkeit«]
ihren ehemaligen G l a n z
[ . . . ] . « 4 1 - 1777 veröffentlicht W i e l a n d i m Teutschen
Merkur
verloren
eine knappe, bis-
lang so gut w i e nicht beachtete W ü r d i g u n g des großen spanischen H u m a n i s t e n Juan Luis Vives (1492-1540). M i t einer Klage ( » A u c h dieser für sein Zeitalter große u n d wichtige M a n n ist n u n vergessen!« 4 2 ) beginnt der Aufsatz, der Vives als Streiter für die »Verbreitung des Lichts einer gesundern Philosophie« u n d als Vertreter der »Sprache des gesunden Verstandes« s k i z z i e r t 4 3 u n d m i t d e m Vorschlag für eine Neuausgabe seiner Schriften gegen das Vergessen plädiert. Vives ist für W i e l a n d aber nicht nur Aufklärer, sondern auch Verfasser bedeutsamer Schriften z u r Rhetorik. D a ß er bei der A u f z ä h l u n g v o n Vives' W e r k e n an erster Stelle De causis corruptarum est de corrupta
rhetorica]
artium
[Brügge 1531, m i t d e m B u c h I V
Qui
nennt, mag als ein Zeichen dafür gelesen werden, daß
er nicht nur Q u i n t i l i a n m i t seinem verlorenen Buch über den Verfall der Redekunst, sondern auch eben Vives z u m K r o n z e u g e n für die Beschreibung depravierter R h e t o r i k aufruft.
39 Christoph Martin Wieland, »Über die von J J. Rousseau vorgeschlagenen Versuche den wahren Stand der Natur des Menschen zu entdecken nebst einem Traumgespräch mit Prometheus« (1770), in: Wieland, Werke (Reprint), Bd. V, 14,177-235, hier 180. 40
Wieland, Red-Kunst , 333.
41
S. 314.
42
Christoph Martin Wieland, »Ludwig Vives«, in: Christoph Martin Wielands sämmtliche Werke , 36 Bde (Leipzig: Göschen, 1858), Bd. 36, 159-163, hier 159. 43
Wieland, »Vives«, 160.
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Alle menschlichen Gesellschaften [so heißt es bei Vives] werden hauptsächlich durch zwei Bande zusammengehalten, durch die Gerechtigkeit und die Sprache. [ . . . ] Deswegen gibt es sozusagen zwei Steuerruder, durch welche die Vereinigungen der Menschen gelenkt werden, die Gerechtigkeit und Sprache. [ . . . ] Denjenigen aber, der am meisten durch seine Sprache vermag und der am besten zum Reden ausgebildet ist, den wollen sie als Führer und Leiter für sich haben und diesem vertrauen sie sich ganz an, denn sie glauben, daß dieselbe Kraft im Geist des Redners ist, die sie im Fluß des Geistes, in der Sprache erfahren. 44 D i e S t e u e r r u d e r - M e t a p h e r (iustitia! sermo) schaft z w i s c h e n d e m A u t o r des Peregrinus
ist geeignet, die G e i s t e s v e r w a n d t Proteus
m u s v o n R o t t e r d a m z u bezeugen. D a z u iustitia
u n d d e m F r e u n d des Eras-
u n z w e i f e l h a f t Veritas
gehört,
ist m i t der F o r m e l des spanischen H u m a n i s t e n die V e r l o r e n h e i t Peregrins i n der W e l t der r h e t o r i s c h i n s z e n i e r t e n T ä u s c h u n g z u b e g r ü n d e n : D a s Schiff seines Lebens u n d das d e r G e s i t t u n g sozialer O r g a n i s a t i o n e n zerschellen d o r t , w o die » F ü h r e r u n d L e i t e r « z u selbstsüchtigen Z w e c k e n das R u d e r d e r
Wahrheit
d u r c h das R u d e r der L ü g e ersetzt haben.
44
Juan Luis Vives, Über die Gründe des Verfalls der Künste. De causis corruptarum artium, übers. Wilhelm Sender unter Mitarbeit von Christian Wolf und Emilio Hidalgo Serna, hg. Emilio Hidalgo Serna, Humanistische Bibliothek, Reihe I I , Texte Bd. 28 (München 1990), 413. Das Bild des Segeins für eine an die Wahrheit gebundene Rede verwendet Vives auch in De ratione dicendi. Vgl. Juan Luis Vives, De ratione dicendi, übers. Angelika Ott, mit einer Einl. v. Emilio Hidalgo Serna, ars rhetorica 5, hg. Volker Kapp u. a. (Marburg 1993).
Unbeachtete Zeugnisse zu Novalis' Wittenberger Studienzeit Mit einem Anhang: Novalis und Johanna von Manteuffel V o n Hermann
F. Weiss
K u r z n a c h A b s c h l u ß seines S t u d i u m s i n Jena s c h r e i b t N o v a l i s a m 5. O k t o b e r 1791 a n einen seiner d o r t i g e n M e n t o r e n , K a r l L e o n h a r d R e i n h o l d : Ich muß mehr Festigkeit, mehr Bestimmtheit, mehr Plan, mehr Zweck mir zu erringen suchen [ . . . ] und gewissenhafte Enthaltsamkeit von allem zweckwidrigen hab ich mir zum strengsten Gesez gemacht [ . . . ]* E n t s p r e c h e n d v e r s i c h e r t er Schiller a m 22. September 1791, er w e r d e , v o n i h m d a z u angeregt, sich b e m ü h e n , »die gefährlichste K l i p p e eines j u n g e n , l e b e n d i gen K o p f s die sauren u n d a n h a l t e n d e n V o r a r b e i t e n z u e i n e m k ü n f t i g e n , bes t i m m t e n B e r u f g l ü c k l i c h z u übersteigen [ . . . ] « . 2 M i t diesen g u t e n V o r s ä t z e n sollte es b e k a n n t l i c h eine W e i l e haben. N o c h n i c h t w ä h r e n d seines n u n f o l g e n d e n S t u d i u m s i n L e i p z i g , s o n d e r n erst i n W i t t e n b e r g , w o sich N o v a l i s a m 27. M a i 1793 i m m a t r i k u l i e r t e , 3 k o n z e n t r i e r t e er s i c h stärker auf berufsbezogene S t u d i e n . Seinem w e i t e r h i n b e s o r g t e n V a t e r t e i l t e er v o n d o r t aus E n d e M a i 1794 mit: Was meinen Fleiß anbelangt, so habe ich nun keine Treiber mehr nöthig. Ich hoffe diesen Sommer mehr zu lernen, als ich je [gelernt] habe - Die Arbeit schmeckt mir und was Französisch betrift, so kann ich positiv genug auf Michaiiis. Staatsrecht, Statistik, Völkerrecht und Referiren füllen außerdem meine Stunden völlig. Mich treibt eine Sehnsucht nach einer Anstellung, wo ich bald von Deinem Beutel unabhängig bin. 4 1
Novalis, Schriften (zit. HKA), Bd. 4, hg. Richard Samuel (Stuttgart 1975), 97. - Ich danke dem Office of the Vice President for Research an der University of Michigan (Ann Arbor/USA) für die finanzielle Unterstützung meiner Forschungen. 2
Ebd., 90.
3
Album Academiae Vitebergensis. Jüngere Reihe. Teil 3 (1710-1812), hg. Fritz Juntke (Halle 1966), 206 (zit. Album). Dem Archiv der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg sei für zahlreiche Auskünfte herzlich gedankt. 4 HKA , Bd. 4, 136. Zur beruflichen Entwicklung von Novalis vgl. Gerhard Schulz, »Die Berufslaufbahn Friedrich von Hardenbergs (Novalis)«, in: Novalis. Beiträge zu
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Hermann F. Weiss A n d e r s als L e i p z i g w a r das ärmere, p r o v i n z i e l l e r e W i t t e n b e r g m i t seinen 6000
E i n w o h n e r n , i n d e m die w ä h r e n d des Siebenjährigen Krieges a n g e r i c h t e t e n V e r w ü s t u n g e n a l l e n t h a l b e n n o c h z u sehen w a r e n , 5 o h n e h i n n i c h t der O r t , a n d e m N o v a l i s » b r i l l a n t e R o l l e n auf d e m T h e a t e r d e r W e l t « 6 h ä t t e spielen k ö n n e n . A l l e i n v o n d e r G r ö ß e d e r U n i v e r s i t ä t u n d d e r Stadt h e r gesehen k o n n t e L e i p z i g w e i t a u s m e h r A n r e g u n g e n - u n d A b l e n k u n g e n - b i e t e n . 7 W a h r e n d sich d o r t 1792 398 u n d i n Jena 1790 331 S t u d e n t e n i m m a t r i k u l i e r t e n , w a r e n es i n W i t t e n b e r g 1793 n u r 106. 8 I n d e n J a h r e n 1791-1795 gab es h i e r p r o J a h r d u r c h s c h n i t t l i c h 279 Studierende, i n L e i p z i g dagegen 642 u n d i n Jena gar 8 6 7 . 9 A n dieser k l e i n e n I n s t i t u t i o n , die damals eher eine L a n d e s u n i v e r s i t ä t als d i e anderen h i e r gen a n n t e n w a r , k o n n t e sich d e r F l e i ß der S t u d e n t e n u n g e s t ö r t e r entfalten. J o h a n n G o t t l o b H e y n i g (geb. 1772), d e r v o n 1791 bis 1795 i n W i t t e n b e r g s t u d i e r t e , 1 0 beschreibt das V e r h a l t e n seiner K o m m i l i t o n e n i n seiner u n t e r e i n e m P s e u d o n y m v e r ö f f e n t l i c h t e n Historisch-geographischen Universität
nebst ihrem gegenwärtigen
Beschreibung Zustande
Wittenbergs
und
seiner
folgendermaßen:
Itzt ist die Zahl der lüderlichen Bursche zu Wittenberg sehr gering; vielmehr giebt es eine Menge recht fleisiger [sie] und ordentlicher Menschen aller Art, die ihre Collegia strenge besuchen, bis zum Ende hören und mit ihrer Zeit haushälterisch umgehen. 11
Werk und Persönlichkeit Friedrich 1970), 283-356, bes. 287-289.
von Hardenbergs, hg. Gerhard Schulz (Darmstadt
5 Vg^ /• Meermanns Freyherrn von Dalem Reise durch Preußen, Oesterreich, Sicilien und einige an jene Monarchien grenzende Länder (Braunschweig 1794), Bd. 1, 255. Der Verfasser, der sich im Herbst 1791 in Sachsen aufhielt, schreibt ferner über Wittenberg: »Prächtige Gebäude sucht man hier vergebens, doch entdeckt man hie und da ein einzelnes Haus, das von außen ein frohes Aussehen hat.« (ebd., 254); vgl. auch seine Ausführungen zu Leipzig (ebd., 262-275). 6 HKA, Bd. 4,127 (Brief an Erasmus, September 1793). 7
In seinen Erinnerungen vergleicht der mit Novalis befreundete Karl Salomo Zachariä (1769-1843) die Universitäten Leipzig, Heidelberg und Wittenberg - zu Ungunsten der letzteren; vgl. Biographischer und juristischer Nachlaß von Dr. Karl Salomo Zachariä v. Lingenthal, hg. K. E. Zachariä von Lingenthal (Stuttgart u. Tübingen 1843), 27-28 (teilweise abgedruckt in HKA, Bd. 4, 576-577), 43-44. 8 Vgl. Franz Eulenberg, »Die Frequenz der deutschen Universitäten von ihrer Gründung bis zur Gegenwart«, Abhandlungen der Philologisch-historischen Klasse der Königl. Sächsischen Akademie der Wissenschaften X X I V . 2 (1904), 298. 9 10
Ebd., 164.
V g l . / . G. Heynig's, gegenwärtig Privatgelehrten beschreibung (Straßburg 1806), 8-9.
zu Straßburg, kurzgefaßte
Lebens-
11 (Frankfurt u. Leipzig 1795), 261. Heynig hält die juristische Fakultät für die beste in Wittenberg: »in ihr lehren eine ganze Menge vortrefflicher Männer, sowohl von Professoren, als von jungen Männer[n], die nicht eigentliche Professores sind; daher ist jetzt auch (welches ein seltener Fall ist) die Anzahl der Jura-Studirenden zu Wittenberg die stärkere« (ebd., 167).
Unbeachtete Zeugnisse zu Novalis' Wittenberger Studienzeit
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Bei Novalis* Kontaktfreudigkeit und seinem Drang zum Gedankenaustausch kann es allerdings kaum verwundern, daß er sich selbst i n Wittenberg nicht ausschließlich auf sein Studium konzentriert. So schreibt er am 20. August 1793 an Friedrich Schlegel: Seitdem ich wieder von Leipzig zurück bin hab ich keine 10 Blätter gelesen. Dafür bin ich jezt tüchtig fleißig, und nehme Antheil an manchen frohen, gesellschaftlichen Stunden. 1 2
Seinem Bruder Erasmus gegenüber w i r d er schon deutlicher: »Ich lebe jetzt sehr vergnügt. Alle Stunden, die mir nicht Beruf und Fleiß ausfüllt, leb ich in geselligem Genuß.« U n d er berichtet ihm über die allabendliche »Fahrt i n die Bürgerwelt« zum Rendezvous mit »blanke[n], baare[n] Bürgermädchen«. 13 I m Bewußtsein, i n eine neue Lebensphase einzutreten - »Jetzt hat mein ganzer Charakter einen politisch philosophischen Schwung erhalten [ . . . ] < < 1 4 ~ distanziert sich Novalis bereits i m Brief an Friedrich Schlegel vom 1. August 1794 von der eben beendeten Wittenberger Studienzeit: »Ich bin plötzlich von Wittenberg weggegangen, u m mich allein zu haben. Des jugendlichen Lärms hab ich genug.« Andererseits deutet er frohgemut an, daß seine dortigen Beziehungen nicht bloß der Zerstreuung dienten: »Mit den Besten war ich bekannt, und da sie etwas aus mir machten, so lebt ich gern und frei dort.« 1 5 Zwar gab es hier i m Unterschied zu Jena keine Persönlichkeit vom Rang eines Schiller oder Reinhold in seiner Umgebung, auch keinen Werner wie einige Jahre später i n Freiberg, aber er traf dort Menschen an, die seine Entwicklung beeinflußten und z.T. auch später noch befördern sollten. Anhand bisher unbeachteter Stammbücher und anderer zeitgenössischer Zeugnisse sollen hier neue Informationen zum Wittenberger Freundes- und Bekanntenkreis von Novalis dargeboten werden. A u c h diese Phase seines Lebens, die von der Forschung eher nebenher behandelt worden ist, 1 6 trug zu seinem Reifungsprozeß bei, und dies nicht nur i n beruflich-praktischer Hinsicht. Die zahllosen noch vorhandenen Stammbücher aus der Zeit u m 1800 sind bisher nicht systematisch ausgewertet worden, 1 7 obwohl sie doch z. B. viel In12
HKA , Bd. 4,125.
13
Ebd., 122 (Brief vom Anfang August 1793).
14
Ebd., 140. N u r wenige Tage später stürzt sich Novalis allerdings nochmals ins studentische Treiben. Karl von Hardenberg berichtet nämlich von einem Aufenthalt in »Wittenberg, wo wir uns 2 Tage sehr gut Divertirten [ . . . ] « (ebd., 141). 15
Ebd., 140.
16
Vgl. ebd., *23-*24, ferner Klaus Englert, »Auf den Spuren von Novalis in Ostdeutschland«, Athenäum , 3 (1993), 244-257, wo Wittenberg nicht erwähnt wird. 17 Zur Literatur über Stammbücher vgl. u. a. Stammbücher als kulturhistorische Quellen , hg. Jörg-Ulrich Fechner (München 1981), ferner Hans Henning, »Katalogisierung
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Hermann F. Weiss
teressantes zur Rezeption von Literatur enthalten oder zur Aufdeckung von Beziehungsgeflechten und mithin bei der Suche nach unbekannten Dokumenten nützlich sein können. Bekanntlich beteiligte sich auch Novalis i n seiner Schüler- und Studentenzeit an dieser damals sehr populären Tradition. Zahlreiche Jenaer 18 und drei Leipziger 1 9 Kommilitonen kommen i n seinem von 1790 bis 1793 geführten Stammbuch zu Wort, das i n den nächsten Jahren veröffentlicht werden soll. Von Novalis selbst enthält der 1975 erschienene Band 4 der HKA acht Stammbucheintragungen. Die früheste (5. August 1789) ist Auguste Jani, einer Tochter seines Eislebener Lehrers Christian David Jani gewidmet. 2 0 Sechs Einträge des Jahres 1791 richten sich an Jenaer Freunde bzw. K o m m i l i t o nen. 2 1 H i n z u kommt eine weitere neulich von mir wiederentdeckte Eintragung, welche Novalis kurz vor seiner Abreise aus Jena i m September 1791 für Karl Wilhelm Justi niederschrieb. 22 Aus der Leipziger Studienzeit sind keine Stammbucheinträge des Dichters bekanntgeworden, aus der Wittenberger bisher nur einer v o m 12. A p r i l 1793, welcher sich an einen »Schauspieler Schirmer« richtet. 2 3 I m Kommentar der HKA heißt es lediglich: »war ein Schauspieler aus Dresden, der w o h l ein Gastspiel in Wittenberg gab.« 24 Diese Angaben lassen sich präzisieren. Es handelt sich u m Andreas Daniel Schirmer (1760-1834), 25 Mitglied der damals während und Edition von Stammbüchern«, in: Im Vorfeld der Literatur. Vom Wert archivaliscber Überlieferung für das Verständnis von Literatur und ihrer Geschichte, hg. Karl-Heinz Hahn (Weimar 1991), 294-302. 18
Landesarchiv Magdeburg, Rep. H Oberwiederstedt, Nr. 34. 24 Jenaer Studenten trugen sich im Zeitraum 8.-26. September 1791 ein; vgl. HKA, Bd. 5, hg. Hans-Joachim Mähl u. Richard Samuel (Stuttgart 1988), 370; ferner Bd. 4, 765-767. Insgesamt enthält das Stammbuch von Novalis 54 Eintragungen, davon 46 aus der Jenaer, aber keine aus der Wittenberger Zeit (frdl. Mitteilung des Landesarchivs Magdeburg vom 11. April 1995). 19 Johann Christoph Ludwig Wagner und J. G. Langermann; vgl. HKA, Bd. 5, S. 371372. Der dritte Eintrag (1792) aus der Leipziger Zeit stammt von Friedrich Christian Ermel (geb. 1773) aus Dresden (frdl. Mitteilung des Landesarchivs Magdeburg vom 1. N o vember 1995). Er immatrikulierte sich am 27. Mai 1791 in Leipzig; vgl. Die Jüngere Matrikel der Universität Leipzig 1559-1809, hg. Georg Erler, Bd. 3 (Leipzig 1909), 80. 20
HKA, Bd. 4,79-80.
21
Franz de Paula Herbert, F. I. Niethammer, J. B. Erhard, C. C. E. Schmid, F. und C. A. L. Creuzer (ebd., 84-89). 22 Verf., »Zu einer unbeachteten Begegnung Karl Wilhelm Justis und Joseph Friedrich Engelschalls mit Schiller und Novalis«, Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde, 101 (1996), 43-56. 23
HKA, Bd. 4,130.
24
Ebd., 779.
25
Zu Schirmer vgl. Neuer Nekrolog der Deutschen, 12, 1834 (1836), 1241. Über die Zentralkartei der Autographen in der Staatsbibliothek zu Berlin ließ sich nichts Relevantes zu Schirmer ermitteln, für den im Theaterkalender auf das Jahr 1796 folgende Rollen-
Unbeachtete Zeugnisse zu Novalis Wittenberger Studienzeit
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d e r W i n t e r s a i s o n i n D r e s d e n b e h e i m a t e t e n K u r f ü r s t l i c h p r i v i l e g i e r t e n sächsischen Hofschauspielergesellschaft, die n a c h i h r e m D i r e k t o r F r a n z B a r t h o l o mäus Seconda (1755-1835) Secondasche T r u p p e g e n a n n t w u r d e . 2 6
Christian
G o t t f r i e d K ö r n e r e r w ä h n t S c h i r m e r gelegentlich, w e n n er Schiller ü b e r d i e D r e s d e n e r I n s z e n i e r u n g e n seiner D r a m e n i n f o r m i e r t , z. B . die d o r t i g e E r s t a u f f ü h r u n g des Don
Carlos , i n d e r S c h i r m e r - anscheinend m i t E r f o l g - d e n M a r -
q u i s v o n Posa s p i e l t e . 2 7 Es ist d u r c h a u s m ö g l i c h , daß N o v a l i s S c h i r m e r w ä h r e n d einer Gastspielreise d e r Secondaschen T r u p p e i n W i t t e n b e r g k e n n e n l e r n t e , aber N ä h e r e s ließ sich h i e r z u n i c h t e r m i t t e l n . 2 8
fächer angegeben werden: »erste Liebhaber im Trauer- und Lustspiel, junge Helden und naive Rollen« (Gotha 1796,296). 26 Seconda übernahm 1789 diese damals noch als Bondinische Truppe bezeichnete Gesellschaft; vgl. Oscar Teuber, Geschichte des Prager Theaters , Bd. 2 (Prag 1885), 280. Schirmer hatte sich der Bondinischen Truppe 1782 angeschlossen; vgl. Robert Prölss, Geschichte des Hoftheaters zu Dresden (Dresden 1878), 313. 27
Schillers Februar 1789).
Werke.
Nationalausgabe , Bd. 33, Teil 1 (Weimar 1989), 305 (Brief vom 19.
28 Prölss (wie Anm. 27, 332) verzeichnet die 1794 von der Secondaschen Truppe aufgeführten Stücke. - Hinsichtlich der Kontakte von Novalis zum Theater lassen sich auch die Angaben der HKA zur »Mademoiselle Huber« ergänzen, die den von ihm verfaßten »Epilog auf der Weissenf eiser Bühne« [Bd. 1, hg. Paul Kluckhohn u. Richard Samuel (3. Aufl., Stuttgart 1977), 517-518] »Wahrscheinlich Frühjahr 1790 am Ende eines Gastspiels« vortrug (ebd., 732). I m Kommentar heißt es ferner: »Eine Truppe unter der Direktion eines Franz Huber mit mehreren Töchtern ist für Jan. 1789 in Merseburg und März 1792 in Altenburg bezeugt« (ebd.). Dem läßt sich nun hinzufügen, daß es sich um Franz Huber (geb. 1744) handelt, der zur Döbbelinschen und dann zur Bondinischen Gesellschaft gehörte und ab etwa 1782 hauptsächlich in Kursachsen mit seiner eigenen Truppe Vorstellungen gab. Seine Frau Henriette geb. Fick (geb. 1742) war Mitglied dieses Ensembles; vgl. Wilhelm Kosch, Deutsches Theater-Lexikon , Bd. 1 (Klagenfurt u. Wien 1953), 852; ferner Friedrich Johann von Reden-Esbeck, Deutsches Bühnen-Lexikon , Bd. 1 (Eichstätt u. Stuttgart 1879), 299. Von ihren Kindern ist nur Sophie Henriette Wilhelmine (1773-1793) bekannt geworden, für die Novalis höchstwahrscheinlich den »Epilog« schrieb. I m Theater-Kalender auf das Jahr 1794 erschien ein anonym veröffentlichter Nachruf mit dem Titel »Etwas über die verstorbene Schauspielerin, Demoiselle Wilhelmine Huber« (Gotha o. J.), 224-226, deren Rollenfach »erste Liebhaberin im Trauer- und Lustspiel« war (ebd., 225). Über ihren Vater, der gleichfalls sehr gelobt wird, liest man hier u. a.: »Merseburg, Weisenfels und Sangerhausen sind seine gewöhnlichen Oerter« (ebd.). Wilhelm Stieda zufolge gastierte Hubers Truppe, die hauptsächlich deutsche Schauspiele aufführte, im Frühjahr 1789 in Merseburg und erhielt am 6. April 1789 die Konzession zu Aufführungen in den Wintermonaten von 1790 bis 1792. Rechnungen vom 24. Februar und 6. März 1790 lassen darauf schließen, daß seine Gesellschaft um diese Zeit in Merseburg spielte; vgl. W. Stieda, »Wandernde Schauspielertruppen im 18. Jahrhundert im Gebiet der heutigen Provinz Sachsen«, Sachsen und Anhalt. Jahrbuch der Historischen Kommission für die Provinz Sachsen und Anhalt , 3 (1927), 339-340. Weder im Stadtarchiv noch im Städtischen M u seum Weißenfels befinden sich relevante Akten; auch über die Zentralkartei der Autographen ließ sich nichts ermitteln.
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Hermann F. Weiss
Hier seien zwei weitere Stammbucheintragungen vorgestellt, welche Novalis für Wittenberger Kommilitonen verfaßte. Von der Novalis-Forschung sind sie anscheinend übersehen worden, was damit zusammenhängen mag, daß sie vor über hundert Jahren und außerdem an abgelegener Stelle veröffentlicht wurden. Eine erneute Beschäftigung mit ihnen lohnt sich, weil die Erstdrucke ungenau sind und die Auswertung dieser Einträge sowie der beiden von mir wiederentdeckten Stammbücher insgesamt damals nur ansatzweise geleistet wurde. Eine ganze Reihe der i n ihnen enthaltenen Widmungen regen geradezu zur Erforschung der Beziehungsgeflechte u m Novalis während seiner Wittenberger Studienzeit und darüber hinaus an. Bisher konnte man lediglich aufgrund von zwei Briefstellen annehmen, daß eine Verbindung zwischen Novalis und der Familie Detlev Karl Graf von Einsiedels (1737-1810) bestand, der ab 1782 sächsischer Konferenzminister war. 2 9 A m 30. März 1796 schreibt Novalis seinem Bruder Erasmus aus Weißenfels: »der älteste Sohn vom Conferenzminister Einsiedel heyrathet Comtesse Loeben [ . . . ] . « 3 0 U n d am 26. Februar 1797 teilt er ihm mit: »die übrigen Neuigkeiten hat D i r vielleicht Karl schon geschrieben [ . . . ] daß die junge Comtesse Einsiedel i n den Wochen gestorben [ . . . ] . « 3 1 Der ansonsten so reichhaltige K o m mentar der HKA enthält keine Anmerkungen zu diesen Briefstellen, aber aus dem Namenregister erfährt man, daß sich der Dichter auf Carl Graf von Einsiedel (1770-1841), also den ältesten Sohn des Ministers bezieht, der sich am 31. M a i 1796 i n Dresden mit Sophie Augusta Gräfin von Loeben vermählte. 3 2 Hier sei noch nachgetragen, daß seine Gattin dort schon am 16. Februar 1797 verstarb. 33 Unbeachtet blieb auch, daß er sich am 28. A p r i l 1788 an der Universität Wittenberg 3 4 und am 25. Mai 1791 in Leipzig immatrikulierte. 3 5 Novalis, der sich am Tag darauf i n Leipzig immatrikulierte, könnte ihn dort kennengelernt haben. Die Novalis-Forschung hat bisher übersehen, daß auch eine Verbindung zwischen dem Dichter und dem dritten und bedeutendsten Sohn Detlev Karl 29 Vgl. Neue Deutsche Biographie , Bd. 5, 399-400, ferner Genealogisches Handbuch der Gräflichen Häuser , Bd. 9 (Limburg a. d. Lahn 1979), 178. 30
HKA, Bd. 4,175.
31
Ebd., 203.
32
Vgl. HKA , Bd. 5, 842.
33 Vgl. Genealogisches Handbuch (wie Anm. 29), 181. Die Ehe blieb kinderlos. A m 15. März 1800 heiratete K. v. Einsiedel Wilhelmine Louise Adelaide von Edelsheim (17781830); vgl. ebd. 34 35
Album, 133.
Die Jüngere Matrikel (wie Anm. 19), Bd. 3, 76. Karl von Einsiedel wirkte ab 1802 viele Jahre lang als sächsischer Gesandter in München; vgl. Neuer Nekrolog der Deutschen, 19,1841 (1843), 1328.
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von Einsiedels, nämlich Detlev Graf von Einsiedel (1773-1861) bestand. I m Zusammenhang mit meinen Kleist-Recherchen stieß ich auf die von Karl von Weber verfaßte Biographie über Detlev von Einsiedel, 36 in der es heißt, dieser habe, nachdem er eine Zeit lang die Kreuzschule in Dresden besucht, vom Jahre 1790 an in Wittenberg studirt. Ueber seine Studienjahre haben sich specielle Nachrichten nicht erhalten; nur ein Curiosum aus jener Zeit bietet sein aus wenigen Blättern bestehendes academisches Stammbuch; es ist ein Gedenkblatt von der Hand des später unter dem Pseudonamen Novalis zu Dichterruhm gelangten Friedrich (Ludwig) von Hardenberg
Es folgt die - wie sich noch herausstellen w i r d - nicht ganz fehlerfreie Wiedergabe der Eintragung, die fast unkommentiert bleibt. Der Historiker Karl Weber (1806-1879), ab 1848 Direktor des Sächsischen Staatsarchivs Dresden, 3 8 gibt den damaligen Standort des Stammbuchs nicht an. Meine Nachforschungen ergaben, daß es nunmehr i n der Sächsischen Landesbibliothek Dresden unter der Signatur Mscr. Dresd. App. 2506 aufbewahrt w i r d . 3 9 Wann es dorthin gelangt ist, ließ sich nicht klären. D e m Abdruck und der Kommentierung des Novalis-Eintrags sowie der weiteren Auswertung des Stammbuchs seien einige Bemerkungen zum Leben und Wirken Detlev von Einsiedels voraufgeschickt. D e m Matrikelverzeichnis der Universität Wittenberg zufolge immatrikulierte er sich am 26. A p r i l 1790, 40 also etwa drei Jahre vor Novalis. Wie w i r noch sehen werden, bezeugt sein Gedenkbuch, daß er schon als Student Kontakte zu einer Reihe von Persönlichkeiten pflegte, die i m kulturellen bzw. politischen Leben bereits eine wichtige Rolle spielten oder noch spielen sollten. Er wurde am 12. November 1794 zum Supernumerar- Amtshauptmann, am 8. Januar 1795 zum Supernumerar-Obersteuereinnehmer i m Meißner Kreis and am 16. Dezember 1797 zum Kammerherrn ernannt. 41 A m 10. Oktober 1800 vermählte sich Einsiedel mit Johanna Friederike Louise Gräfin von 42 Schulenburg (1773-1832). A b 14.Archiv Novem36 »Detlev Graf von Einsiedel, der Königlich Sächsischer Cabinets-Minister«, für sächsische Geschichte , 1 (1863), 58-116. Zu diesem Einsiedel vgl. auch Allgemeine Deutsche Biographie , Bd. 5, 760-761, ferner Neue Deutsche Biographie , Bd. 4, 400-401, und Genealogisches Handbuch (wie Anm. 29), 179-180. 37
Weber (wie Anm. 36), 37.
38
Vgl. Allgemeine Deutsche Biographie , Bd. 41, 345-349. Weber war ab 1863 zunächst Mitherausgeber, dann Herausgeber des Archivs für sächsische Geschichte. 39 Ich danke Herrn Dr. Manfred Mühlner (Sächsische Landesbibliothek Dresden) für die Zitiererlaubnis sowie seiner Kollegin Undine Fedrich für zahlreiche Hinweise. 40
Album, 131.
41
Weber (wie Anm. 36), 61-62.
42
Vgl. Genealogisches Handbuch (wie Anm. 29), 180.
3 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 38. Bd.
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ber 1801 gehörte er etwa fünf Jahre lang als geheimer Finanzrat zum Geheimen Finanz-Kollegium, woraufhin er bis 1813 als Kreishauptmann des Meißner Kreises war. 4 3 Von 1813 bis zu seinem Sturz i m Jahre 1830 spielte Einsiedel als Kabinettsminister eine zentrale und zunehmend umstrittene Rolle i n der Geschichte Sachsens. Zwar wirkte er i n diesen Jahren mit Erfolg für den w i r t schaftlichen Aufschwung des Landes, konzentrierte aber immer mehr Macht in seiner Hand und zeigte kein Verständnis für politische Reformtendenzen. Vielleicht tauchen eines Tages noch Dokumente auf, welche das Verhältnis zwischen Novalis und Detlev von Einsiedel näher beleuchten. Z u m Beispiel könnte ihn Einsiedels schon früh hervortretende Begabung für Verwaltungsund Bergwerksangelegenheiten i n Hinsicht auf seine eigene berufliche Zukunft interessiert haben. Der Vater des Grafen besaß mehrere Eisenwerke, deren Leitung er diesem i m Jahre 1805 übergab. Detlev von Einsiedel führte sie zu hoher Blüte und hatte somit maßgeblichen Anteil an der Entwicklung der mitteldeutschen Eisenindustrie. Welche Anschauungen er etwa i n religiöser oder philosophischer Hinsicht vertrat, bleibt unbekannt. Erwähnenswert ist, daß sein Vater den Herrnhutern sehr nahestand und sein Reibersdorfer Onkel Johann Georg Friedrich von Einsiedel (1730-1811) 44 ab 1782 Mitglied der Herrnhuter Gemeinde war. Die für die Novalis-Forschung relevante Frage, ob Detlev von Einsiedel ihre Uberzeugungen schon i n seiner Wittenberger Zeit teilte, läßt sich nicht beantworten, da diesbezügliche Quellen nicht aufzufinden waren. 4 5 A l lerdings ist gesichert, daß er ab etwa 1820 eine der führenden Persönlichkeiten der sächsischen Erweckungsbewegung war. 4 6 Übrigens dürfte Novalis nach seiner Wittenberger Studienzeit Karl und Detlev von Einsiedel bei seinen häufigen Besuchen i n Dresden gelegentlich wiedergesehen haben, etwa bei der Familie Körner, die er ab 1792 kannte. Ein Brief Detlev von Einsiedels v o m 14. Juli 1798 an Christian Gottfried Körner bezeugt, daß er gleichfalls i n diesem Hause verkehrte. 4 7 I n einer evtl. auf August 1799 zu datierenden N o t i z von Novalis, die sich anscheinend auf einen Besuch i n Dresden bezieht, werden mehrere Namen genannt, darunter gleich hintereinander »Einsiedel . Körners«. 4 8 D e m Kommentar der HKA zufolge ist »wohl der 43
Weber (wie Anm. 36), 62-63.
44
Vgl. Karl Hennig, Die sächsische Erweckungsbewegung derts (Leipzig 1929), 151-152.
im Anfange des 19. Jahrhun-
45 Weder in dem im Sächsischen Hauptstaatsarchiv Dresden aufbewahrten kleinen Nachlaß Detlev von Einsiedel noch in dem dort befindlichen Familienarchiv von Einsiedel bzw. dem Grundherrschaftsarchiv Wolkenburg fanden sich relevante Dokumente, auch nicht im Bestand von Einsiedel des Thüringischen Staatsarchivs Altenburg. 46
Hennig (wie Anm. 44), 150-162.
47
Vgl. Theodor Körner. Zum 23. September 1891 (Leipzig 1891), 73-75.
48
HKA , Bd. 4, 52.
Unbeachtete Zeugnisse zu Novalis* Wittenberger Studienzeit
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Konferenzminister Detlev Karl v. E.« gemeint. 4 9 Ist es nicht wahrscheinlicher, daß Novalis sich hier auf Detlev oder Karl von Einsiedel bezieht? Detlev von Einsiedels Gedenkbuch besteht aus lediglich 15 Blättern mit je einer Eintragung aus seiner Wittenberger Z e i t . 5 0 O b es sich u m einen Teil eines einst umfangreicheren Stammbuchs handelt, ließ sich nicht feststellen. Jedenfalls sind die Blätter nicht miteinander verbunden, sondern befinden sich lose i n einer u m 1800 gearbeiteten Tasche. Sie trägt keine Aufschrift, und ein Titelblatt ist auch nicht vorhanden. A u f dem letzten Blatt befindet sich der Eintrag von Novalis, der schon dadurch auffällt, daß er weder O r t noch Datum angibt und außerdem weit i n die Zukunft vorausgreift. Er w i r d hier diplomatisch getreu wiedergegeben: Lebensbeschreibung des berühmten Kabinetsministers, Grafen Detlevs von Einsiedel, von Seinem academischen Zeitgenossen u. Freunde Fridrich von Hardenberg. Motto. Ah! te meae si partem animae rapit Maturior vis, quid moror altera, Nec carus acque, nec superstes Integer? Leipzig. in der Weidmannischen Buchhandlung. 1865. 51
Dieser scherzhafte Text wirft eine Reihe von Fragen auf, die sich nur zum Teil beantworten lassen. Wahrscheinlich entstand er 1794 i n den Monaten vor Novalis' Abreise aus Wittenberg. M a n wüßte gern, wieso er gerade auf die Weidmannsche Buchhandlung verfiel. Liegt der Grund hierfür lediglich darin, daß sie einer der renommiertesten sächsischen Verlage war? U n d warum entschied er sich ausgerechnet für das Jahr 1865? Möglicherweise spielt der Eintrag auf Unterhaltungen bzw. Ansichten in Einsiedels Freundeskreis über dessen und auch Friedrich von Hardenbergs zukünftige Bestimmung an. Erkannten Einsiedels Freunde bereits damals seinen Ehrgeiz und sein politisches Talent? I n der eigenwilligen Eintragung w i r d das traditionelle Stammbuchmotto,
3""
49
Ebd., 745.
50
Blattgröße 11,5x19,7 cm.
51
Sächsische Landesbibliothek Dresden, Mscr. Dresd. App. 2506, S. 15.
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also ein prägnantes, oft einer Dichtung entnommenes Zitat, zum M o t t o der fiktiven Biographie Einsiedels umfunktioniert. Wohl mit Bedacht wählte Novalis die zweite Strophe der 17. Ode in Buch 2 der Horazischen Carmina als Motto. D o r t w i r d nämlich die Anhänglichkeit des Sprechers an einen Freund thematisiert, die so stark ist, daß er beteuert, dessen etwaigen verfrühten Tod nicht überleben zu können. Novalis scheint sich - zumindest in seiner Wittenberger Zeit - Detlev von Einsiedel verbunden gefühlt zu haben. Das M o t t o stellt übrigens ein weiteres Indiz für seine ab 1789 belegte Beschäftigung mit Horaz dar, die sich bekanntlich u. a. in seinen frühen Ubersetzungen mehrerer Oden manifestiert. 52 I n einem Anfang Juni 1793 entstandenen Brief an seinen Bruder Erasmus aus Wittenberg heißt es bezeichnenderweise: Zu Deiner Jagdbibliothek empfehl ich Dir ferner den Horaz. Auswendig mußt D u ihn können, und in seiner Gesellschaft assekurier ich Dir Dein ganzes Leben gegen die Langeweile. 53
Was ergeben die anderen vierzehn Eintragungen für die Novalis-Forschung? Da es sich u m relativ wenige Widmungen für eine bedeutende Persönlichkeit handelt, nenne ich alle Einträger, zumal dies anderen Forschern bei ihrer Sucharbeit dienlich sein könnte. Zunächst seien diejenigen Personen aufgeführt, zu welchen sich nur wenig finden ließ: Rochus August Graf zu Lynar (17731800), 54 Georg Reinhold von Palmstrauch »aus Livland«, 5 5 Heinrich L u d w i g Burggraf zu Dohna (1772-1833), 56 ein Herrnhuter, Johann Gottfried Moesler aus Tennstedt, 57 Christian Gottlieb Lauter aus Wittenberg, 5 8 Hans August Fürchtegott von Globig (1773-1832), 59 Friedrich Ferdinand Gottlieb von Glo-
52 Vgl. HKA, Bd. 1, 754-755. Ich danke Charles Witke (Ann Arbor) für die Identifizierung des Horaz-Zitats. 53
HKA, Bd. 4,120.
54
Mscr. Dresd. App. 2506, fol. 2. Eintragung vom 22. März 1794.
55
Ebd., fol. 6. Eintragung vom 3. Juni 1791. Einsiedel vermerkt auf dieser Seite, daß Palmstrauch 1793 starb. Immatrikulation 8. Juli 1789 {Album, 341). 56 Ebd., fol. 7. Eintragung vom 11. April 1794. Immatrikulation 5. Mai 1792 {Album, 121). Dohna, dessen Großvater der für die Entwicklung der Herrnhuter so wichtige Graf Nikolaus von Zinzendorf war, vermählte sich am 11. November 1806 mit Gräfin Friederike zu Stolberg-Wernigerode (1776-1858). 57 Ebd., fol. 9. Eintragung vom 5. April 1794. Immatrikulation 6. Mai 1789, »examen pro praxi et notariatu« 4. Juni 1792, Dr. jur. 18. Juli 1799 {Album, 314). 58 Ebd., fol. 10. Eintragung vom 21. September 1790. Immatrikulation 14. Mai 1776, »examen pro praxi et notariatu« 18. Juli 1785 {Album, 267). 59 Ebd., fol. 11. Eintragung vom 27. September 1790. 1795 Assessor bei der Landesregierung und 1798 Supernumerar-Hofrat und Kammerherr in Dresden, später sächsischer Gesandter in Berlin und beim Bundestag in Frankfurt; vgl. Neuer Nekrolog der Deutschen, 10,1832 (1834), 106-108; ferner Anm. 148.
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big (1771-1852) 60 und Balthasar von Campenhausen (1773-1823) aus Livland. 6 1 Da sich, wie i m Folgenden deutlich wird, die Wittenberger Freundes- und Bekanntenkreise Einsiedels und Novalis' teilweise überschnitten, ist es möglich, daß Novalis mit einigen der Vorgenannten in Berührung kam. Bei den verbleibenden Einträgern sind Kontakte zu Novalis bezeugt oder sehr wahrscheinlich. A m 3. A p r i l 1792 schrieb sich Franz Volkmar Reinhard (1753-1812), von 1782 bis 1792 Professor der Theologie i n Wittenberg, in Einsiedels Stammbuch ein, also kurz vor seiner Übersiedlung nach Dresden, 6 2 w o er ab A p r i l 1792 viele Jahre lang als Oberhofprediger wirkte. Wann Novalis Reinhard, einen der bedeutendsten Theologen und Prediger seiner Zeit, kennenlernte, ist ungewiß. Bezeugt sind Kontakte lediglich für das Jahr 1799. 63 Der Historiker Karl Heinrich Pölitz (1772-1858) berichtet, leider ohne Jahresangabe, daß er i m »Abendkreise« bei Reinhard viele gefeierte Männer unsers Vaterlandes [ . . . ] zuerst persönlich kennen lernte, und mit andern die frühere Verbindung erneuern konnte, z. B. mit Novalis, oder dem Baron von Hardenberg, mit dem ich in Leipzig studirt hatte, und der zu früh starb als Bräutigam der jüngsten Schwägerin Reinhards, der Fräulein Julie von Charpentier. 64
Möglicherweise kannte Novalis Wilhelmine Charlotte Albertine von Lindenau (1765-1821), die älteste Schwester Einsiedels, welche diesem am 8. M a i 1794 ein Stammbuchblatt widmete. 6 5 A m 12. A p r i l 1793 hatte sie sich in Dresden mit dem Kammerherrn und Oberforstmeister Gottlob Heinrich von L i n denau (1755-1830) vermählt. 6 6 Kontakte des Dichters mit mehreren Angehörigen der Familie von Lindenau sind ab 1794 belegt. 6 7 Das Stammbuch enthält noch eine weitere Eintragung einer Frau. Diese Persönlichkeit, welche Novalis
60
Ebd., fol. 12. Eintragung vom 27. September 1790. Nach dem Abgang von Wittenberg Kammerjunker und Assessor bei der sächsischen Landesregierung; vgl. Neuer Nekrolog der Deutschen, 30, 1852 (1854), 636. 61 Ebd., fol. 13. Eintragung vom 27. September 1790. Immatrikulation 16. März 1790 (Album, 58). Bekleidete später hohe Ämter in der russischen Regierung und veröffentlichte Werke über Rußland. 62 Ebd., fol. l.Vgl. Heynigs (wie Anm. 11, 158) Klage über Reinhards Weggang aus Wittenberg. 63
Vgl. HKA, Bd. 4, 51-52, 282-285. Evtl. traf Novalis mit Reinhard im August 1800 in Schulpforta zusammen (ebd., 1022). 64 Karl Heinrich Ludwig Pölitz, D. Franz Volkmar Reinhard nach seinem Leben und Wirken dargestellt (Leipzig 1815), Bd. 1, 135-136. Johann Adolf Thielmanns Angabe (HKA, Bd. 4, 645), daß sich Novalis und Pölitz schon als Studenten in Leipzig kannten, gewinnt durch diese Stelle an Wahrscheinlichkeit; vgl. HKA, Bd. 4,1016. 65
Mscr. Dresd. App. 2506, fol. 3.
66
Vgl. Genealogisches Handbuch (wie Anm. 29), 179.
67
Vgl. HKA, Bd. 4,142,145 u.ö.
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Hermann F. Weiss
n a c h K a r l v o n H a r d e n b e r g s B i o g r a p h i e »sehr h o c h s c h ä z t e « , 6 8 w i d m e t e E i n siedel f o l g e n d e Z e i l e n : Des innern Friedens kühler Fittig schatte, Wohlthätig Deinen Gang im Mittagsstrahl; Sanft sey Dein Abend und Dein Fuß ermatte Nie auf des Lebens Höhe, nie im Thal! Wittenberg den 6 April 1794
Rahel Nürnberger geb. Strauß 69
A u c h aus a n d e r e n zeitgenössischen Z e u g n i s s e n e r g i b t s i c h , 7 0 daß N o v a l i s i n seiner Wittenberger Studienzeit oft u n d gern i m Hause der Rahel D o r o t h e e C h r i stine N ü r n b e r g e r ( 1 7 5 7 - 1 8 3 3 ) , 7 1 T o c h t e r des D r e s d e n e r H o f p r e d i g e r s J o h a n n G o t t f r i e d Strauß (1718-1779) u n d ihres ersten G a t t e n , des A n a t o m i e - u n d B o tanikprofessors
Christian Friedrich Nürnberger
(1744-26. N o v e m b e r
1795)
v e r k e h r t e . I n e i n e m bisher u n b e a c h t e t e n N a c h r u f a u f N ü r n b e r g e r h e i ß t es: Vorzüglich wußte er aber auch in seinen häuslichen Zirkeln sich um die gebildetere Jugend verdient zu machen. Er hatte sich im Jahr 1786 mit der Tochter des vormaligen Hofpredigers D . Strauß zu Dresden verheirathet. Ihr gebildeter Verstand, ihr sanfter Charakter, ihr wohlwollendes Herz war ganz dazu geeignet, einen solchen Mann, wie Nürnberger war, glücklich zu machen, und in Gemeinschaft mit ihm zur Bildung guter Jünglinge mitzuwirken. Wie manche frohe Stunde, wie manchen heitern Abend brachten mehrere edle Jünglinge im Nürnbergschen Hause zu, und verdanken es ihnen noch, daß sie da vor manchen Abwegen verwahrt wurden, ihren Geschmack verfeinern, ihr
68
Ebd., 532.
69
Mscr. Dresd. App. 2506, fol. 8.
70
Vgl. HKA, Bd. 4,592, 816.
71
Die vollständigen Vornamen nach: Dr. Friedrich Krug von Nidda und von Falkenstein, Von der Romantik zum Biedermeier. Aus unveröffentlichten Briefen und Tagebüchern eines deutschen Geschlechts (o.O. 1927), 261 (zit.: KN). Dessen Enkel Friedrich-Carl Krug von Nidda und von Falkenstein stellte mir freundlicherweise eine Kopie dieses der Novalis-Forschung anscheinend unbekannten maschinenschriftlichen Manuskripts zur Verfügung, welches zahllose Dokumente aus dem ehemaligen Schloßarchiv Frohburg enthält; vgl. Verf., »Unveröffentlichte Zeugnisse zu Heinrich von Kleists Dresdener Jahren aus den Nachlässen Ernst und Heinrich Blümners,« Euphorion, 89 (1995), 1-22. Zu den nach Kriegsende verlorengegangenen Beständen dieses Archivs gehört auch der Nachlaß der Rahel Just verw. Nürnberger, aus dem Dr. Friedrich Krug von Nidda und von Falkenstein Richard Samuel 1933 Abschriften mitteilte; vgl. HKA, Bd. 4, 705-707, 720 u.ö. Allerdings sind die R. Samuel damals vorgelegten Novalis-Handschriften aus dem Just-Nachlaß mit Ausnahme des »Gedicht[s] zum 29sten April« (KN, 372-374) in KN nicht ediert. Dr. Krug von Nidda und von Falkenstein zufolge wird es »mit der Schreibweise und Interpunktion der Originalhandschrift« wiedergegeben (ebd., 374), weicht aber von Samuels Transkription dieser Handschrift (HKA, Bd. 1, 396-398) bzw. den Abschriften (b) und (c) (ebd., 669-671) an einer Reihe von Stellen ab, die untersucht werden müßten.
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Gefühl veredlen lernten, an Festigkeit des Charakters, so wie an milden Sitten und an Kenntnissen gewannen! 72
I m Hause Nürnberger kam Novalis höchstwahrscheinlich öfters mit Detlev von Einsiedel und anderen gemeinsamen Freunden bzw. Bekannten zusammen. Ein nicht näher datierter Eintrag i n Einsiedels Stammbuch 7 3 macht auf eine Persönlichkeit aufmerksam, die bisher nicht mit Novalis i n Verbindung gebracht worden ist, nämlich Karl Christian Kohlschütter (1764-1837), 74 der sich übrigens auch i n das zweite hier zu besprechende Stammbuch einschrieb. Kohlschütter, der am 28. A p r i l 1791 den Dr. jur. i n Wittenberg erworben hatte, 7 5 war dort ab 1792 Privatdozent und ab 1796 Professor des sächsischen Rechts. 76 Er gehörte zu den beliebtesten Juristen der Universität: durch die Angemessenheit seiner Vorlesungen zu den Bedürfnissen der Zeit und den Fortschritten der Wissenschaft, durch die Erbauung derselben auf philosophischem Grunde, und durch die Lebendigkeit seines freien Vortrags [ . . . ] aber auch durch die Humanität seiner äußeren und geselligen Erscheinung zog er die Geister und die Herzen seiner zahlreichen Zuhörer an und machte das, was man damals noch größtentheils trockne Wissenschaft nannte, zu einer Quelle der lautersten Kenntnisse und Genüsse.77
I n diesem Zusammenhang interessiert, daß Novalis am 1. August 1794 an Friedrich Schlegel schreibt: »Studium chursächsischer Gesetze nahm alle meine Zeit weg.« 7 8 Er dürfte i m Zusammenhang mit seinem Studium, evtl. auch durch einige seiner Freunde, mit Kohlschütter i n Verbindung gekommen sein. Friedensburg erwähnt unter Hinweis auf das mir nicht zugängliche Vorlesungsverzeichnis des Wintersemesters 1791/1792, daß Kohlschütter damals eine »studentische Gesellschaft >jurisprudentiae humaniorisKannst D u mir vergeben?< Aber Karlson drückte ihn mit ungestümer Warme ans dankende Herz: ein so erhabenes Vertrauen der Freundschaft und ein so zarter Beweis desselben hob seine gestärkte Seele über alle Wünsche empor, und die fremde Tugend breitete in ihm die hohe Ruhe der eignen aus« (578). Derart gestärkt, vermag Karlson denn auch der vom Hauskaplan am nächsten Morgen vollzogenen Trauung zwischen Gione und Wilhelmi beizuwohnen. I m Anschluß an die i n der platonischen Politeia entwickelte Tugendlehre hat Jean Paul Mitte der achtziger Jahre sein Bild vom edlen oder seltenen Menschen entworfen. 1 8 Dieses Bild hat er dann i n der bereits erwähnten Vorfassung des Kampaner Tal , i n der theoretischen Abhandlung Über die Fortdauer der Seele, 19 und in der Unsichtbaren Loge, nämlich i m »Extrablatt Von hohen Menschen« 20 ausgestaltet: Die sogenannten »hohe[n] oder Festtagmenschen« haben nach Jean Paul nicht nur einen festen Charakter, Feingefühl, Aufopferungswillen, Ehrgefühl, Sensibilität und Genie. Als hohen Menschen bezeichnet Jean Paul vielmehr denjenigen, 18
Siehe vor allem die im Anschluß an die Politeia-Lektüre von 1785 entstandene Bienenallegorie, in der Jean Paul - vermutlich angeregt durch ein ähnliches Bild in Politeia 520 B / C - den guten Menschen als lebendigen Bienenstock bezeichnet, der voller Bienen, d. h. voller guter Triebe und Handlungen sei. Als Beispiele nennt er Piaton und Sokrates mit ihrem charakteristischen Drang nach einer höheren Welt (SW I I , 2, 354 ff.); zu Recht betont Berend, »in der wunderlichen Allegorie vom Bienenstock« klinge »schon der tiefe Unsterblichkeitsglaube des Kampaner Thals an« (HkA I, 1, X L I V ) ; zum Piatonismus der Bienenallegorie siehe Joseph Kiermeier, Der Weise auf den Thron! Studien zum Platonismus Jean Pauls (Stuttgart 1980), 70 ff. 19
SW I I , 2, 789 f.
20
SW 1,1,221 f.
Jean Pauls Kampaner Tal
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der zum größern oder geringem Grade aller dieser Vorzüge noch etwas setzt, was die Erde so selten hat - die Erhebung über die Erde, das Gefühl der Geringfügigkeit alles irdischen Tuns und der Unförmlichkeit zwischen unserem Herzen und unserem Orte, das über das verwirrende Gebüsch und den ekelhaften Köder unsers Fußbodens aufgerichtete Angesicht, den Wunsch des Todes und den Blick über die Wolken. 2 1
I n diesen »Sonnen unter den Menschen [ . . . ] glühen und brennen unnenbare Empfindungen der Liebe und Freundschaft.« 22 Es sind »Menschen, die i n diese Welt - nicht passen [ . . . ] , die [ . . . ] das leben mehr ertrügen als genössen, mehr liebten als geliebt« werden und gleichwohl »thätig aus Tugend« 2 3 sind. N i c h t von ungefähr rechnet Jean Paul unter die herausragenden Vertreter dieses »hohen Adels der Menschheit« 2 4 neben Shakespeare und Rousseau drei Platoniker: den Renaissance-Platoniker Pico della Mirandola, den platonischen Sokrates und natürlich Piaton selbst, den Jean Paul schon früher - der platonischen Ideen- und Anamnesislehre gemäß - wegen seiner außerordentlichen Kraft zu geistigem Aufschwung und wegen seines klaren Tugendkonzepts als Inbegriff von Geistesadel gepriesen hatte. 2 5 Wie Ottomar und Gustav i n der Unsichtbaren Loge oder Viktor und Klothilde i m Hesperus so schreibt Jean Paul auch Gione und Karlson i m Kampaner Tal »in die Matrikel der seltenen Menschen ein, die sich wie Raffaels und Piatons Werke erst unter dem Beschauen entwölken und die wie beide dem Siebengestirn gleichen, das dem kurzen Auge anfangs nur sieben Sonnen, dann aber dem langen Sehrohr über vierzig zeigt« (576). Die von Jean Paul empfindsam inszenierte Entsagung Giones und Karlsons ist als ergreifendes Beispiel bewährter Tugend gestaltet. Es soll den Leser rühren, also an sein Gefühl appellieren und damit das Organ ansprechen, das Jean Paul zufolge dem Menschen allererst der Triftigkeit seines Glaubens an die U n sterblichkeit versichern kann. N i c h t zufällig werden i m eigentlichen Gespräch über die Unsterblichkeit als ihre Garanten immer wieder Edelmut und bewährte Tugend genannt und nicht zufällig heißt es i m Text, daß diese Glaubensbekundungen als spontane Gefühlsäußerungen erfolgen: »gerührt« (612, 616, 622) oder »bewegt« (612). Die weitere Erzählung besteht i n nichts anderem als i n einer ausführlichen Schilderung des, wie gesagt, als »horizontale Himmelfahrt« bezeichneten, von einem Gespräch über die Unsterblichkeit begleiteten Spaziergangs, der die Freunde nach der Trauung den lieblichen Adour entlang
21 Ebd. 22
SW I I , 2, 790.
23
Ebd., 789.
24
SW 1,1,222.
25 »Pikus von Mirandula« nennt er allerdings nur in dem entsprechenden Abschnitt der Abhandlung »Über die Fortdauer der Seele und ihres Bewustseins« (SW I I , 2, 789); zum Lobpreis auf Piaton siehe die bereits angeführte Bienenallegorie (SW I I , 2, 354).
72
Bernhard Buschendorf
zu einem am Ende des Kampaner Tals gelegenen Schloß führt, w o für einen abschließenden, effektvoll inszenierten Theatercoup zwei Montgolfieren bereitstehen. Was die i m eigentlichen Gespräch über die Unsterblichkeit vertretenen systematischen Positionen betrifft, so lassen sich - sieht man einmal von den gelegentlichen, epikureisch tingierten Einwürfen Wilhelmis ab - i m wesentlichen drei Standpunkte unterscheiden: der sensualistische Agnostizismus des U n sterblichkeitsleugners Karlson, der vom Hauskaplan vertretene kantianische Kritizismus, i n dem die Idee der Unsterblichkeit nurmehr als praktisches Postulat anerkannt wird, und schließlich die von Unsterblichkeitsgewißheit erfüllte, an Jacobi orientierte Gefühls- oder Glaubensphilosophie Jean Pauls, der auch Gione und Nadine zuneigen. Karlson, der nach Jean Pauls Charakterisierung der Tradition des französischen Denkens verpflichtet ist (594, 595), ohne jedoch Materialist zu sein (603), leugnet die Unsterblichkeit aus folgenden beiden theoretischen Gründen. Erstens erklärt er, daß es angesichts des empirisch ausnahmslos gültigen Parallelismus oder Commerciums von Körper und Seele unsinnig sei, ausgerechnet i m Falle des physischen Todes eine Ausnahme zu statuieren, nämlich anzunehmen, die Seele werde nicht mit dem Körper zugrundegehen, sondern unabhängig von ihm weiterleben oder gar mit einem neuen Körper verbunden werden (601 f.). Zweitens hätten w i r keinerlei Recht, »aus [ . . . ] irdischen Analogien und Erfahrungen« auf die Existenz einer jenseitigen Welt zu schließen, die sich all unserer Erfahrung eben grundsätzlich entziehe (602). 26 Der Hauskaplan vertritt, wie gesagt, eine kantianische Position. Bekanntlich hatte Kant zwar die Möglichkeit einer positiven Erkenntnis unserer Fortdauer ebenfalls entschieden bestritten, 27 doch hatte er gleichzeitig ebenso entschieden erklärt, daß die Annahme der Fortdauer unserer Existenz v o m Standpunkt der praktischen Vernunft aus unerläßlich sei. 28 Nach Kant folgt die Unsterblichkeit der Seele als Postulat der praktischen Vernunft aus der Tatsache, daß es dem Menschen aufgegeben ist, seine Gesinnungen und Handlungen immer mehr 26 Zu den klassischen Lösungen der Leib-Seele-Problematik in der Tradition des Cartesianismus siehe Rainer Specht, Commercium mentis et corporis (Stuttgart/Bad Cannstadt 1966); zum Verhältnis des jungen Jean Paul zu dieser Tradition siehe Wilhelm SchmidtBiggemann, Maschine und Teufel Jean Pauls Jugendsatiren nach ihrer Modellgeschichte (Freiburg/München 1975). 27
Siehe hierzu das erste, »Von den Paralogismen der reinen Vernunft« betitelte Hauptstück des zweiten Buchs der transzendentalen Dialektik in Kants Kritik der reinen Vernunft'. B 399 ff. und dort vor allem den Abschnitt über die »Widerlegung des Mendelssohnschen Beweises der Beharrlichkeit der Seele« (B 413 ff.). 28 Bereits in Kritik der reinen Vernunft, B X X X I I und B 826 ff. finden sich Hinweise auf die praktische Notwendigkeit der Annahme eines künftigen Lebens.
Jean Pauls Kampaner Tal
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der moralischen Vollkommenheit anzunähern. Da auf den Menschen als sinnliches Vernunftwesen aber stets auch das Böse Einfluß hat, könne die Annäherung an die Vollkommenheit nur i n einem unendlichen Bildungsprozeß erreicht werden, der über das Leben hinausführt. Das heißt, daß die Unsterblichkeit der Seele postuliert werden m u ß . 2 9 I n diesem Sinne erklärt der Kaplan: Es ist überhaupt keine Unsterblichkeit darzutun als die der moralischen Wesen, bei denen sie ein Postulat der praktischen Vernunft ist. Denn da die völlige Angemessenheit des Willens zum moralischen Gesetz, die der gerechte Schöpfer nie erlassen kann, nie von einem endlichen Wesen zu erreichen ist: so muß ein ins Unendliche gehender Progressus, d. h. eine ewige Dauer diese Angemessenheit in Gottes Augen, der die unendliche Reihe überschauet, enthalten und zeigen. Daher ist unsere Unsterblichkeit nötig. (591)
U n d er betont zu Recht, daß »Kant damit die Unsterblichkeit nicht demonstrieren« (592), also nicht beweisen oder i n der Anschauung darstellen, sondern nur die praktische Notwendigkeit der Annahme unserer Fortdauer dartun wollte.30 Die Argumente, die Jean Paul i m Kampaner Tal für die Existenz einer zweiten Welt und eines Lebens nach dem Tode vorbringt, gehen, wie bereits erwähnt, auf Friedrich Heinrich Jacobi zurück, der gegen den Idealismus und das systematische Denken Kants oder Fichtes einen gefühls- oder glaubensfundierten Realismus vertrat. 3 1 Wenn Kant erklärte, daß »wir von keinem Gegenstande als D i n g an sich selbst, sondern nur [ . . . ] als Erscheinung, Erkenntnis haben können«, 3 2 so galt dies nach Kant nur unter der Voraussetzung, daß unser Erkennen damit anfängt, daß unsere Sinne durch etwas affiziert werden, was nicht Erscheinung ist: durch die »Dinge an sich selbst«. 33 Diese Voraussetzung eines Affiziertwerdens von außen hielt Jacobi aber für eine der kritischen Philosophie Kants i m Grunde widersprechende Annahme und fragte, wie ein konsequenter Kritizismus eigentlich aussehen müsse. Offenbar, so Jacobi, wäre i n ei-
29 Siehe hierzu vor allem Kritik der praktischen Vernunft, 1. Teil, 2. Buch, 2. Hauptstück, IV. Abschnitt: »Die Unsterblichkeit der Seele als ein Postulat der reinen praktischen Vernunft«. 30 Siehe hierzu Kritik der praktischen Vernunft, 1. Teil, 2. Buch, 2. Hauptstück, V I I . Abschnitt: »Wie eine Erweiterung der reinen Vernunft, in praktischer Absicht, ohne damit ihr Erkenntnis, als spekulativ, zugleich zu erweitern, zu denken möglich sei?«. 31 Zu Jacobis Kant- bzw. Fichte-Kritik siehe Klaus Hammacher, Die Philosophie Friedrich Heinrich Jacobis (München 1969), 131-184; zur folgenden Skizze der Position Jacobis vgl. Wilhelm Weischedel, Jacobi und Schelling. Eine philosophisch-theologische Kontroverse (Darmstadt 1969), 8-20. 32
Kritik
33
Ebd.
der reinen Vernunft,
B XXVI.
74
Bernhard Buschendorf
nem radikalen Kritizismus »alles Erkennen [ . . . ] ein rein immanenter Vorgang i m Subjekt«. 34 »So führt der Weg der Kantischen Lehre nothwendig zu einem System absoluter Subjectivität«, 35 i n dem »wir durch die Sinne überall nichts Wahres erfahren« 36 , sondern nur »Erscheinungen«, »in denen nichts erscheint« 37 : »ein [ . . . ] Reich wunderbarlicher intellektueller Träume, ohne Deutung und Bedeutung.« 38 U m diesem Idealismus oder Nihilismus zu entgehen und die auf rationalem Wege verlorengegangene Gewißheit der Realität zurückzugewinnen, rekurrierte Jacobi auf einen vorrationalen »Naturglauben an eine unabhängig von unseren Vorstellungen vorhandene materielle Welt«, 3 9 auf ein basales Gefühl, denn »[a]lle Wirklichkeit [ . . . ] w i r d dem Menschen allein durch das Gefühl bewährt«. 4 0 Ebenso wie i n bezug auf die sinnlich erfahrbare Realität bringt Jacobi auch i n bezug auf das Ubersinnliche ein gegenstandserschließendes und Gewißheit vermittelndes Gefühl in Anschlag. Er beruft sich nämlich auch hier »auf ein unabweisbares unüberwindliches Gefühl als ersten und unmittelbaren Grund aller Philosophie [ . . . ] ; auf ein Gefühl, welches den Menschen [ . . . ] inne werden läßt: er habe einen Sinn für das Übersinnliche.« 41 Dieses Gefühl, »das über alle andere erhabene Vermögen«, 42 dieses »Schauen der Ahndung«, 4 3 erschließt als »Wahrheitsgefühl« die »Göttliche[n] Dinge«. 4 4 Dieses »Vermögen der Gefühle [ . . . ] ist«, so behauptet Jacobi, »mit der Vernunft Eines und Dasselbe.« 45 Wie Kant ist auch Jacobi der Meinung, daß der »Verstand, wenn er über das Gebiet der Sinnlichkeit hinaus zu greifen versucht, nur ins Leere [ . . . ] greifen kann.« 4 6 D o c h kritisiert er zugleich an Kant, daß dieser i n der praktischen Philosophie »[d]ie Ideen von Gott, Freyheit und U n sterblichkeit [ . . . ] als blose subjective Fictionen« behandelt, »denen jede objec-
34
Weischedel, Jacobi und Schelling (wie Anm. 31), 9.
35
Friedrich Heinrich Jacobi, David Hume über den Glauben, oder Idealismus und Realismus (1787), in: ders., Werke, hg. von Friedrich Roth und Friedrich Koppen (Leipzig 1812 ff.), Nachdruck (Darmstadt 1968), Bd.II, 3-310, hier 36. 36
Ebd., 18.
37
Jacobi, Über das Unternehmen des Kriticismus (1801), Werke I I I , 58-195, hier 111.
y
die Vernunft
38 Jacobi, Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung 460, hier 372. 39
zu Verstände zu bringen
(1811), Werke
I I I , 245-
Jacobi, David Hume über den Glauben (wie Anm. 35), 37.
40
Ebd., 108 f.
41
Jacobi, »Vorbericht« in: Werke IV, X X I .
42
Jacobi, David Hume über den Glauben (wie Anm. 35), 61.
43
Jacobi, Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung
44
Ebd., 317.
45
Jacobi, David Hume über den Glauben (wie Anm. 35), 61.
46
Ebd., 73.
(wie Anm. 38), 437.
75
Jean Pauls Kampaner Tal
tive Realität mangelt.« 4 7 Dies sei subjektiver Idealismus oder Nihilismus. 4 8 Gegen ihn müsse das Vermögen der Gefühle zur Geltung gebracht werden, die in unsere Brust gelegte Liebe, die reinen Hoffnungen, Sehnsüchte und Wünsche, denn sie könnten uns der Realität der göttlichen Dinge versichern. 49 I m Unsterblichkeitsgespräch des Kampaner Tal kritisiert auch Jean Paul diesen subjektiven Idealismus: Wie es Idealisten der äußern Welt gibt, die glauben, die Wahrnehmungen machen die Gegenstände - anstatt daß die Gegenstände die Wahrnehmungen machen - , so gibt es Idealisten für die innere Welt, die das Sein aus dem Scheinen, den Schall aus dem Echo, das Bestehen aus dem Bemerken deduzieren, anstatt umgekehrt das Scheinen aus dem Sein, unser Bewußtsein aus Gegenständen desselben zu erklären. (611 f.)
Er selbst orientiert sich demgegenüber - nicht anders als Jacobi - an der platonischen Tradition und vertritt wie dieser die Position des objektiven Idealismus. 5 0 Es gibt, wie Jean Paul den Freunden gegenüber wiederholt betont, eine allen intellektuellen Vollzügen immer schon vorausliegende, also unabhängig von unserer Erkenntnis bestehende Welt des Geistes, die Jean Paul zufolge denn auch »nicht [ . . . ] mundus intelligibilis, sondern mundus intellectus« (611) genannt werden sollte. U m der unbegreiflichen, rational nicht faßbaren Vorgegebenheit dieser Geisteswelt gerecht zu werden und die Freunde von der Existenz des mundus intellectus zu überzeugen, schlägt Jean Paul i n dem Gespräch einen emphatischen, ganz auf Gefühlserregung abzielenden Ton an. Interjektionen, Appelle, beschwörende Ausrufe und rhetorische Fragen sind für die von i h m gewählte Sprache ebenso charakteristisch wie die geradezu überbordende Bildlichkeit. Besonders bezeichnend aber ist, daß er i n seiner poetischen Explikation des Verhältnisses von geistiger, transzendenter und sinnlicher Welt an entscheidenden Stellen immer wieder auf die i m Piatonismus vorgeprägte Licht-, Reinheits-, Erinnerungs- und Erhebungsmetaphorik zurückgreift: O mein guter Karlson! wie konnte deine schöne Seele eine zweite Welt, die schon hinieden in die physische vererzet ist, wie lichte Kristalle in Gletscher, auslassen, nämlich die in unserem Geiste glühende Sonnenwelt der Tugend, Wahrheit,
47 Jacobi, Über das Unternehmen des Kritidsmus, (wie Anm. 37), 182. 48
die Vernunft
und Schönheit, de-
zu Verstände zu bringen
Vgl. ebd., 184; vgl. auch Jacobi an Fichte (1799), Werke I I I , 3-57, hier 44.
49
Zu Glauben oder Gefühl als den für Jacobis Philosophie basalen Vermögen siehe David Hume über den Glauben (wie Anm. 35), 55 ff. und 61 ff. 50
Zu den platonischen Anleihen Jacobis gehören sein Rückgriff auf die im Phaidros entwickelte Lehre von der die göttliche Wahrheit allererst erschließenden Begeisterung in Allwills Briefsammlung (1792), Werke I, 143-149, sowie seine Interpretation der platonischen Ideenlehre in Beilage C seiner Schrift Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung (wie Anm. 38), 455 ff.
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Bernhard Buschendorf ren Goldader auf eine unbegreifliche Art den dunkeln schmutzigen Klumpen der Sinnenwelt glänzend durchwächset! (602 f.) Es gibt eine innere, in unserem Herzen hängende Geisterwelt, die mitten aus dem Gewölke der Körperweit wie eine warme Sonne bricht. Ich meine das innere Universum der Tugend , der Schönheit und der Wahrheit , drei innere Himmel und Welten, die weder Teile, noch Ausflüsse und Absenker, noch Kopien der äußern sind. Wir erstaunen darum weniger über das unbegreifliche Dasein dieser drei transzendenten Himmelsgloben, weil sie immer vor uns schweben, und weil wir töricht wähnen, wir erschaffen
sie,
da wir sie doch bloß erkennen. (611)
Stand die Sonne i m Sonnengleichnis der platonischen Politeia (508A-509B) für die höchste Idee, die Idee des Guten, so steht sie hier offenbar für die gesamte - Tugend, Wahrheit und Schönheit umfassende - Geistes- oder Ideenwelt. Wenn Jean Paul später i n der Vorschule der Ästhetik i n einem beiläufigen Lobpreis des Dichter-Philosophen Piaton die außerordentliche Leuchtkraft von dessen Besonnenheit rühmt, dann vergleicht er Piatons »Ideen« bezeichnenderweise mit den »Sternbildern eines unterirdischen Himmels« 5 1 . I m U n sterblichkeitsgespräch des Kampaner Tal benutzt er diesen Vergleich, als er gegen die von den Freunden erwogene Möglichkeit einer äußeren Himmelsreise der Seele zu bedenken gibt, daß »wir i n unserer Brust einen H i m m e l voll Sternbilder tragen und verschließen, für den keine beschmutzte Weltkugel weit und rein genug ist« (611). I n der Ausgestaltung dieser Vorstellung rekurriert Jean Paul ferner auf die pythagoreische, von Piaton in Politeia 530D ausdrücklich gebilligte Lehre von der Sphärenharmonie, wenn er feststellt: »Der Dreiklang der Tugend, der Wahrheit und der Schönheit, der aus einer Sphärenmusik genommen ist, rufet uns aus dieser dumpfen Erde heraus und rufet uns die Nähe einer melodischen zu« (612). U n d unter Rückgriff auf die platonisch inspirierte Bildlichkeit der Reinheit, des Aufstiegs und der Liebe, die er bereits in seinem an Piaton orientierten Porträt des hohen Menschen verwendet hatte, fährt er fort: Wozu und woher wurden diese außerweltlichen
Anlagen und Wünsche in uns gelegt,
die bloß wie verschluckte Diamanten unsere erdige Hülle langsam zerschneiden? Warum wurde auf den schmutzigen Erdenkloß ein Geschöpf mit unnützen Lichtflügeln geklebt, wenn es in die Geburtsscholle zurückfaulen sollte, ohne sich je mit den ätherischen Flügeln loszuwinden? (612)
Charakteristisch für die von Jean Paul vertretene Gefühls- oder Glaubensphilosophie ist die Uberzeugung von der den Zugang zur Transzendenz erschließenden Funktion der Liebe, eine Überzeugung, die i n prägnanten Metaphern des Unsterblichkeitsgesprächs wiederholt aufscheint und letztlich ebenfalls auf Piaton, nämlich auf die Lehre von der himmlischen Liebe zurück-
51
Vorschule der Ästhetik, SWI, 5, 58.
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geht. 5 2 U m die transzendierende Macht dieser Liebe zu umschreiben, erklärt Jean Paul, alles »am ganzen H i m m e l [ . . . ] von Milchstraße zu Milchstraße« sei »kleiner als der Wunsch und Wuchs i n unserer Brust« (597). Zweifellos kannte Jean Paul die berühmte Stelle aus der trunkenen Rede des Alkibiades in Piatons Symposion, w o Sokrates selbst mit jenen merkwürdigen, von Bildhauern angefertigten Silen-Statuen verglichen wurde, die außen das Gesicht eines häßlichen Mannes zeigten, i m Innern aber Götterbilder enthielten. 53 Jedenfalls preist Jean Paul die »außerweltlichen Anlagen und Wünsche« (612), die inneren Strebungen des Menschen unter Verwendung eines ganz ähnlichen Bildes: »Der innere Mensch, dieser verhüllte Gott i n der Statue, ist nicht selber von Stein wie diese, i n den steinernen Gliedern wachsen und reifen seine lebendigen nach einer unbekannten Lebensweise« (603). A u c h die platonische Metapher v o m Körper als Gefängnis des Geistes, 54 die Jean Paul schon i m »Extrablatt Von hohen Menschen« benutzte, kehrt i m Kampaner Tal wieder, freilich in einer stark hyperbolischen Form. »[K]ein Ich«, erläutert Jean Paul mit gezielter Pedanterie und Weitschweifigkeit, ist [ . . . ] von einem so vielgehäusigen Karzer ummauert als das menschliche: denn unsere Spandaus stecken ja ordentlich immer enger ineinander. Denn mein und dein Ich sitzt nicht sowohl in der Welt gefangen als auf der Erde - in dieser Kings-Bench hocken wieder die Stadtmauern - in diesen umfangen uns die vier Pfähle - in den Pfählen der Armsessel oder das Bette - in diesen das Hemde oder der Rock oder beides - endlich gar der Leib - und am allergenauesten (und noch dazu nach Sömmering) in den Gehirnhöhlen der Entenpfuhl... Erschrick über die fatale vielschalige Suite von Korrektionsstuben, die ein Ich umstellen! (586)
Z u m Ausbruch aus diesem Kerker, zur Sprengung aller Fesseln drängt den Menschen aber jener innere Trieb, jenes basale Transzendierenwollen, das Jean Paul zufolge nicht nur das eigentliche movens für Spaziergänge und Reisen aller A r t ist, sondern auch und vor allem als bewegende Kraft der inneren Erhebungen und Seelenflüge des Menschen zu betrachten ist. Zweifellos ist es die intuitive Gewißheit von der Existenz dieses innersten Strebens, wodurch sich Jean Paul dazu berechtigt sieht, den i m Kampaner Tal unternommenen Spaziergang eine »horizontale Himmelfahrt« zu nennen und das Ziel dieses Spaziergangs, das am Ende des Tals gelegene Schloß oder Landgut, als »das architektonische Himmelreich« (584) zu bezeichnen. Bevor er sich der Schilderung dieses Spaziergangs zuwendet, streut Jean Paul denn auch eine gnomische Reflexion ein, die eben jenem Transzendierenwollen gewidmet ist und i n eine Reihe von w i t zigen, einander überbietenden Beispielen mündet: 52
Symposion, 180 D - E .
53
Symposion, 215 B.
54 Zum platonischen Ursprung dieser Metapher bei Jean Paul siehe Götz Müller, Jean Pauls Ästhetik und Naturphilosophie (Tübingen 1983), 173 ff.
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Bernhard Buschendorf [W]enn Szenen, Berge, Hügel, Menschen im Wechsel kommen und fliehen und Freiheitslüfte über das ganze veränderliche Eden wehen - wenn wir mit zersprengten Haisund Brusteisen und zerschlagenen Sperrketten der engen Verhältnisse leicht und ungebunden wie in Träumen über neue Bühnen fliegen — dann ists kein Wunder, daß ein Mensch sich auf die Füße macht, und daß er immer weiter will. Denn leider muß die Glasglocke über Menschen und Melonen, die beide anfangs eine zerbrochene Bouteille überbauet, immer höher aufgehangen und zuletzt gar weggehoben werden. Anfangs will der Mensch in die nächste Stadt - dann auf die Universität dann in eine Residenzstadt von Belang - dann (falls er nur 24 Zeilen geschrieben) nach Weimar - und endlich nach Italien oder in den Himmel; denn wären vollends die Planeten an eine Perlenschnur gefädelt und einander genähert, oder wären die Lichtstrahlen Fähren und Treibeis und die Lichtkügelchen Pontons: so wären Extraposten im Uranus angelegt, und der unersättliche innere Mensch würde sich, eben weil der äußere so sehr ersättlich ist, von einer Kugel zur andern sehnen und begeben [ . . . ] . (585 f.)
Ganz pathetisch, d. h. ohne alles satirische oder humoristische Beiwerk w i r d die Metapher von der Unersättlichkeit des inneren Menschen i m Unsterblichkeitsgespräch selbst eingesetzt. Gegen die dort von Wilhelmi geäußerte Vermutung, »unsere schönen geistigen Kräfte« dienten nur dem »Genüsse des jetzigen Lebens« (612), also den irdischen Freuden, erklärt Jean Paul nämlich: »[D]er ewige Hunger i m Menschen, die Unersättlichkeit seines Herzens, w i l l ja nicht reichlichere, sondern andere Kost. [ . . . ] [D]ie Phantasie [ . . . ] kann uns mit der gemalten Auftürmung aller Güter nicht beglücken, wenn es andere als Wahrheit, Tugend und Schönheit sind« (614). Als Nadine daraufhin nach Charakter und Haltung der sogenannten »schönen Seele< fragt, ist das entscheidende Stichwort gefallen, und Jean Paul kann noch einmal den Gegensatz von Unendlichkeitsverlangen und Endlichkeit explizieren, der dem platonisierenden Extrablatt zufolge ein Wesenszug der hohen Menschen ist. Hieß es dort, die hohen Menschen seien erfüllt vom »Gefühl [ . . . ] der Unförmlichkeit zwischen unserem Herzen und unserem Orte«, 5 5 so w i r d der schönen Seele hier attestiert, sie sei von einer unstillbaren Sehnsucht durchdrungen, die einem fundamentalen Ungenügen an allem Irdischen entspringe: Diese Unförmlichkeit zwischen unserem Wunsche und unserem Verhältnis, zwischen dem Herzen und der Erde bleibt ein Rätsel, wenn wir dauern, und wäre eine Blasphemie, wenn wir schwinden. Ach wie könnte die schöne Seele glücklich sein? Fremdlinge, die auf Bergen geboren sind, zehret in niedrigen Gegenden ein unheilbares Heimweh aus - wir gehören für einen höhern Ort, und darum zernaget uns ein ewiges Sehnen, und jede Musik ist unser Schweizer-Kuhreigen. (614)
55
»Extrablatt Von hohen Menschen«, SW1,1,221.
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D e m Bild der an einem höheren O r t geborenen und sich dahin zurücksehnenden Seele liegt der platonische Gedanke der Anamnesis oder Wiedererinnerung zugrunde, wie ihn Piaton etwa i m Philebos selbst bereits verwendet hatte, u m zu erklären, daß dem Verlangen der Seele immer schon eine Vorstellung des von ihr begehrten Gegenstandes innewohnt. 5 6 Durch eindringliche Vergegenwärtigung der inneren Geisterwelt mit ihrer »unendlichen Liebe für einen unendlichen Gegenstand« (615) sucht Jean Paul die Uberzeugung von der Existenz einer transzendenten Welt zu vermitteln. Platonisch inspiriert ist dabei nicht nur das poetische, offenbar an Jean Pauls Auffassung von Piaton als Dichter-Philosophen orientierte Vermittlungsverfahren sowie die zentrale Liebes-, Licht- oder Reinheitsmetaphorik. Platonisch ist vielmehr auch die diesem Verfahren zugrundeliegende Gedankenfigur, daß das »Abbild das Urbild« (611) verbürge, »daß die zweite Welt in uns eine zweite außer uns fodert und zeigt« (614). I m Vorbericht zum Kampaner Tal wendet Jean Paul seine Ironie nicht nur, wie eingangs erläutert, gegen die communis opinio einer metaphysischen A u t o rität der kritischen Philosophie und ihrer Überlegenheit gegenüber der Dichtung, sondern er ironisiert auch die unter seinen Zeitgenossen ebenso verbreitete Annahme der Superiorität einer traktathaften Darstellungsweise gegenüber der Form des Gesprächs. Wiederum bedient er sich dabei der in der Vor- bzw. Nachschule der Ästhetik empfohlenen ironischen Mittel von Bescheidenheit, konventioneller Formelhaftigkeit und Umständlichkeit 5 7 : »Im Gespräche über die Unsterblichkeit«, heißt es i m Vorbericht, fehlen oft die wichtigsten Beweise, die schon in meinen vorigen Werken stehen. Auch hätt' es nicht bloß schöpfen, sondern erschöpfen sollen; und das Gespräch hat nach meinem eignen Gefühle den Vorwurf nicht genug vermieden, daß es in diesem Zustande mehr ein - Gespräch sei als ein ordentlicher vollständiger Traktat mit dem gehörigen gelehrten Zeugenverhör und mit den nötigen Beweisen durch Okularinspektion, durch Haupteide, durch briefliche Urkunden und durch halbe, 1/4, 1/8, 1/16 etc. Beweise. (564)
Die Vermutung, daß sich hinter diesem kritischen Formvergleich zugunsten des Traktats i n Wahrheit die feste Überzeugung von der Überlegenheit des Gesprächs verbirgt, bestätigt sich, wenn man die Rezension heranzieht, die Jean Paul 1809 Ferdinand Delbrücks platonischem Dialog Ein Gastmahl Reden und Gespräche über die Dichtkunst widmete. Da Jean Paul i n den einleitenden 56
Siehe Philebos, 34 A - C ; vgl. ferner die Passagen über den Flug der Seele zum überhimmlischen Ort und die auf diesen Ort bezogene Rückerinnerung in Phaidros, 246 A 254 E. 57 Vgl. »§ 37 Die Ironie, der Ernst ihres Scheins«, Vorschule der Ästhetik (SWI, 5,148154) sowie »§11 Ein Hülfsmittel zur reinem Ironie«, Kleine Nachschule zur ästhetischen Vorschule, (ebd., 471 f.).
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Passagen dieser R e z e n s i o n seine A n s i c h t ü b e r das W e s e n d e r D i a l o g f o r m e n t w i c k e l t , ist es u n u m g ä n g l i c h , h i e r a u s f ü h r l i c h daraus z u z i t i e r e n : Von dem philosophischen Gespräche, diesem eigentlichen philosophischen Gedichte, liefert die neuere Zeit wenig Muster, nicht einmal Theorien; sie behilft sich mit dem bloßen Loben und Übersetzen Piatons. Gleichwohl gibt gerade diese auf den Reichsgrenzen der Philosophie und der Dichtkunst spielende Darstellung dem Geiste am meisten Freiheit und Flügel zur Philosophie, weil sie die Wahrheiten, wie die Dichtkunst die Menschencharaktere, in der Freiheit ihrer Vielseitigkeit sich zeigen und wenden läßt. Das philosophische Gespräch will dem Leser nicht etwa zehn oder fünfzehn Wahrheiten als Resultate mitgeben (eigentlich nicht sowohl Wahrheiten als die Wahrheit suche der Mensch), sondern ihn in dem Streben, sie zu suchen, in der Kraft, sie zu finden, üben; daher es, wie die Tragödie das Herz, so den Kopf reinigt, indem es den Zuschauer über dem Helden schweben läßt. Aber die Lobrede des philosophischen Gesprächs ist zugleich die Erklärung seiner Seltenheit. N u r Freigeborne bilden Freigelassene, nur Geister, welche wie Piaton über dem uneinigen Ganzen stehen, können die Chorführer antiphonierender Chöre sein. [ . . . ] Untersuchende Gespräche brauchen übrigens, wie man an den platonischen sieht, nicht stets mit einem besondern Resultate von Ausbeute zu schließen, zu deren Hervorgrabung etwa sämtliche Sprechgesellschaft angestellt worden; es ist genug, wenn jeder Mitredner eine andere Seite der Wahrheit spiegelt, oder wenn er uns zwingt, Farbe und Widerschein seiner Eigentümlichkeit von dem reinen Diamant der Wahrheit abzusondern. Aber dieses Verstecken oder Entfernen des Resultats scheint der deutschen Treue, Stoff- und Wahrheitsliebe und Unbehülflichkeit so zuwider und so aushungernd zu sein, daß uns daher solche Gespräche, so wie der ähnliche Skeptiker, seltener zufallen als z. B. den leichten Griechen. Wir wollen die Wahrheit vom festen Glasspiegel eines Systems gezeigt erblicken, nicht von dem beweglichen Wasserspiegel des Drama, welcher durch sein Zittern und Wogen die ruhigen Blumen und Bäume des Ufers reizend schwanken läßt. 5 8 F ü r die G e f ü h l s - o d e r G l a u b e n s p h i l o s o p h i e Jacobis b z w . Jean Pauls ist d e r D i a l o g eine besonders geeignete D a r s t e l l u n g s f o r m , d e n n i m D i a l o g s i n d die e i n z e l n e n R e d n e r keineswegs b l o ß S p r a c h r o h r b e s t i m m t e r p h i l o s o p h i s c h e r P o s i t i o n e n . 5 9 V i e l m e h r n e h m e n sie bis z u e i n e m gewissen G r a d a u c h als P e r s o n e n k o n k r e t e G e s t a l t an. Sie s i n d n ä m l i c h - w i e w o h l o f t n u r i n U m r i s s e n - als C h a raktere gezeichnet, die a n d e r geselligen F o r m des Gesprächs a u c h e m o t i o n a l t e i l n e h m e n . Z u R e c h t u n t e r s t r e i c h t Jean P a u l daher das d r a m a t i s c h e M o m e n t des p h i l o s o p h i s c h e n Gesprächs u n d b e t o n t , daß d a r i n »jeder M i t r e d n e r « z u g l e i c h a u c h »Farbe u n d W i d e r s c h e i n seiner E i g e n t ü m l i c h k e i t « z u r
Geltung
b r i n g e . D i e B e h a u p t u n g e n , Beweise o d e r W i d e r l e g u n g e n der e i n z e l n e n R e d n e r
58 59
SW I I , 3,740 ff.
Zur Bedeutung des dialogischen Prinzips für Jean Pauls philosophischen Gewährsmann Jacobi siehe Hammacher, Die Philosophie Friedrich Heinrich Jacobis (wie Anm. 31), 38-48 und passim.
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eines Dialogs sind stets auch i n gewissem Maße gefühlstingiert und haben eine besondere affektive Färbung. Scherz, Ironie, Spott, Verbitterung, Überheblichkeit, Eifer, Nachdenklichkeit, Feierlichkeit oder auch Begeisterung sind die wechselnden Töne, i n denen die verschiedenen Partner am Gespräch partizipieren können. 6 0 Jean Paul macht sich diese Möglichkeiten der Dialogform i m Kampaner Tal zunutze. Die verschiedenen Charaktere sowie die Eigentümlichkeit ihrer Beziehungen zueinander werden entweder als solche ausdrücklich gekennzeichnet oder durch Darstellung der unterschiedlichen Formen ihrer Teilnahme am Gespräch szenisch vergegenwärtigt. Beiläufig w i r d immer wieder auf den Herzens- und Geistesadel der Freunde verwiesen, auf ihre »Höflichkeit« (591) und den unter ihnen herrschenden »Weltton« (600). »[D]es edeln Karlsons« (616) Unbestechlichkeit (590 ff.) und erhabene Melancholie (622), »der hohen Gione« (616) »sinnende Ruhe« (615) und Sanftmut (624) finden ihre Darstellung bzw. Erwähnung ebenso wie die Lebenskunst (584, 615), die Verbindlichkeit (616) und das »glänzende Betragen« (575) des sanguinischen Wilhelmi oder die »reizende Warme« (600) Nadines, deren Heiterkeit (601) Jean Pauls späterer Einschätzung zufolge die Mitte hält zwischen Giones »Ernste und der Lebenslustigkeit Wilhelmis.« 6 1 Entscheidend für die gleichsam dramatische Wirkung des Gesprächs ist freilich auch i m Kampaner Tal die Neigung Jean Pauls, seine Romanfiguren in extrem verknappter, aphoristischer, bonmot-oder sentenzenhafter Weise miteinander sprechen zu lassen. Z u einer der für Jean Paul typischen, äußerst stilisierten Wechselreden kommt es zum Beispiel, als der Hauskaplan während der Mittagsrast u m Fortsetzung des Unsterblichkeitsgesprächs bittet und Gione ihm diese Bitte gewährt, indem sie den folgenden, recht gesuchten Vergleich anstellt: »>Warum sollen nicht Erinnerungen der Unsterblichkeit unsere Freuden ebenso verzieren als Sarkophage englische Gärten?< - Nadine«, fährt Jean Paul fort, warf die Frage dazu: >Wenn aber die Männer über die Hoffnungen der Menschen hadern: was bleibt den Weibern übrig?< - >Ihr Herz und die Hoffnungen, NadineDie Eule der Minervas sagte lächelnd Wilhelmi, >soll wie andere Eulen Unter-
60 Der Vorzug der bereits in Piatons Pbaidros, 274 B ff. gerühmten Lebendigkeit des Dialogs gegenüber der Starrheit schriftlicher Darstellung verdankt sich nicht zuletzt dem dramatischen Moment des Gesprächs. Wenn die Gesprächsteilnehmer nicht nur Vertreter bestimmter Positionen sind, sondern auch als Individuen Gestalt gewinnen, vermag auch der Leser in erhöhtem Maße am Gespräch teilzunehmen. Zur Analyse des Gesprächs unter dem Gesichtspunkt der Interaktion der Gesprächsteilnehmer siehe insb. das Kapitel »Entfremdung in der Interaktion« in: Erving Goffman, Interaktionsrituale. Über das Verhalten in direkter Kommunikation (Frankfurt a.M. 1973), 124-150. 61
Seiina, SW 1,6,1108.
6 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 38. Bd.
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Bernhard Buschendorf gehen ansagen, wenn sie auf eine Dachung fliegt; ich hoffe aber, es ist nichts daran.< Ich setzte dazu: >An den Obiliskus der Unsterblichkeit ist ja das Leben aller unserer Geliebten, wie an Ramesses seinen, gebunden, damit die Gefahr die Kraft verdoppelt, und sie werden zerschmettert, wenn er zurückstürzte (595)
Der diesen Wortwechsel schließende Vergleich ist offenbar so entlegen, daß Jean Paul ihn ausdrücklich erläutern muß. »Ramesses«, erklärt er i n der A n merkung, »ließ seinen Sohn an die Spitze des Obeliskus hängen, damit die, welche ihn aufrichteten, ein größeres Leben als ihr eignes zu wagen hätten« (595). I n seiner Studie »Uber die schwierige Geburt des Gesprächs aus dem Geist der Schrift« behandelt K u r t Wölfel »diese stilisierende, auf Verkürzung, K o n zentration, Pointierung angelegte Redeweise«. »Sie wirkt«, wie Wölfel darlegt, in einem hohen Grade geisthaltig, wenn auch gelegentlich eher geistreich, energisch bis zur Forciertheit, zum Angestrengt-Gespannten, setzt eine betonte Intellektualität und Reflexivität voraus, die sich oft genug als Witz äußert - als quasi akrobatische Wendigkeit des auf engstem (Sprach-) Raum arbeitenden Verstandes - , was dann zu eigentümlich preziös anmutenden Sprachgebilden führt, vor allem dort, wo sich die postulierte Reflexionslosigkeit der unmittelbaren Gefühls- oder spontanen Willenskundgabe in die elaborierte >Künstlichkeit< eines solchen Sprachgestus kleidet. 62
»[DJiese A r t der Figurenrede« hat »innerhalb der Erzähleinheit >Gesprächdramatischen< Charakter bekommt, also eher als Dialog w i r k t , in dem [ . . . ] die Personen durch die Rede i n erster Linie sich selbst >setzenwirklichen< Gesprächs«; 64 es geht ihm also nicht so sehr darum, »die Figuren seiner Erzählwerke« als Gesprächspartner »mimetisch zu vergegenwärtigen, und damit ein Gespräch als »dargestellte W i r k l i c h k e i t sinnfällig zu machen.« 65 Der Zweck der Gesprächshandlung bei Jean Paul scheint vielmehr primär darin zu liegen, daß vor der Gegenwart der anderen der Einzelne sich in der Festigkeit seines Charakters bekundet und behauptet. Er stellt sich durch seine Rede als das dar, was er, zum Guten oder Bösen, ist. Die Rede ist also nicht primär auf Vermittlung mit den anderen, sondern eher auf Abgrenzung, auf Selbst-Verdeutlichung gerichtet. 66 62
Kurt Wölfel, »Zwei Studien über Jean Paul. I. Über die schwierige Geburt des Gesprächs aus dem Geist der Schrift. II. Kosmopolitische Einsamkeit. Über den Spaziergang als poetische Handlung«, Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft , 15 (1980), 7-54, hier 20 [wieder in: Kurt Wölfel, Jean Paul-Studien , hg. von Bernhard Buschendorf (Frankfurt a. M . 1989), 72-139, hier 90)]. 63
Ebd., 20 (90 f.).
64
Ebd., 21 (92).
65
Ebd., 20 f. (91).
66
Ebd., 21 f. (92 f.).
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Dies gilt auch und gerade für Jean Pauls >hohe Menschenhohes Menschentum< in kommunikativen Handlungen, in denen sie vom Erzähler nicht als Gesprächsteilnehmer vorgestellt werden, sondern als solche, die sich in einem gemeinsamen Fühlen vereinigen und deren Gefühl, zusammen mit dem von ihm entzündeten Gedanken, die Ebene menschlicher Vergesellschaftung transzendiert. Ihre Vereinigungs-, Freundschafts- und Liebesfeiern haben >Himmelfahrts-< oder >Pfingst-CharakterVerklärungs-Festen< an sich: die »Taborberg«-Metapher hat ja im Umkreis des Bildbereichs >Orte der Seligkeit< ihren festen Platz. 6 7
Geraten Jean Pauls hohe Menschen i n die vornehmen Zirkel der bürgerlichen und aristokratischen Gesellschaft, also auf einen Schauplatz depravierter Wirklichkeit, so zeichnen sie sich für gewöhnlich dadurch aus, daß sie ihre wirklichkeitstranszendente Identität bewahren und keine realitätsgerechte Rolle zu spielen vermögen. Sie erweisen sich dann nämlich zumeist als völlig unfähig, am höfischen Gespräch zu partizipieren und sich auf dessen - von Jean Paul herausgestellte - Substanzlosigkeit einzulassen. Ihre Gesprächsunfähigkeit ist Selbstbehauptung von Innerlichkeit, resultiert also aus einem inneren Reichtum. I m Kampaner Tal wie i n anderen >Verklärungs-Festen< Jean Pauls ist die Situation geradezu umgekehrt, denn Jean Paul wählt hier nicht nur, wie oben dargestellt, einen quasi realitätsenthobenen Schauplatz, sondern er versammelt an diesem Schauplatz auch gleich mehrere Personen, die dem Typus des hohen Menschen entsprechen oder nahekommen und denen als Kontrastfigur ein gesprächsunfähiger, rationalistischer, gefühlsarmer Außenseiter, nämlich der Kaplan beigegeben ist. Trotz aller weltanschaulichen Differenzen und trotz aller Unterschiede ihres Temperaments verbindet diese außerordentlichen Menschen immer schon ein basales Gefühl selbstloser Liebe und Freundschaft. Eben dieses grundlegende, i n Fragen der Metaphysik nach Jean Pauls innerster Uberzeugung allererst gegenstandserschließende Gefühl sucht er i m Laufe des U n sterblichkeitsgesprächs immer mehr zur Geltung kommen zu lassen. A u f die Gefühlsfundiertheit der von ihm geschilderten Unterredung deutet Jean Paul durch gelegentlich eingestreute Metareflexionen hin, indem er auf die das Gespräch begleitenden Empfindungen der einzelnen Teilnehmer verweist (612, 616, 622) oder indem er etwa Gione sagen läßt: »man habe immerhin die festeste Überzeugung: durch die schöne Übereinstimmung mit einer fremden w i r d sie doch noch fester« (600). I m Laufe des Dialogs w i r d der Ton der Sprecher immer emphatischer und begeisterter und der Erzähler unterstreicht die Steige-
67
6*
Ebd., 23 (92 f.).
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rung ihrer seelischen Anteilnahme, indem er sie sich schließlich gar nicht mehr äußern läßt, sondern nur noch den Strom der Ahnungen und Entzückungen beschreibt, der die Freunde beim Genuß der am Ende geschilderten, erhabenen Landschaft gemeinsam ergreift. Wegen der immanenten Spiritualität dieser jeanpaulschen Vereinigungsfeiern werden sie vom Erzähler auch weit weniger als kommunikative Handlungen entworfen, sondern eher als ein Geschehen beschrieben. Nicht mehr ihr Wille, nicht mehr ihre Vernunft sind tätig, sondern ein Jenseitiges greift in die Figuren ein und vollzieht sich in ihnen; ihr Ich ist im Göttlichen >aufgehoben< - als vereinzeltes negiert, als besonderes bewahrt. Außeres Zeichen dafür ist ihr Verstummen in den Augenblicken solcher innigster Vereinigung. Solange er redet, sich äußert, um sein Inneres mitzuteilen, bekundet sich der Mensch noch als Zweiheit von Innen und Außen. I m Zustand der »Seligkeit bedürfen die hohen Menschen Jean Pauls keiner Rede mehr; sie schwindet ihnen ebenso wie ihr Selbst-Bewußtsein: daß sie sich »nicht wissen«, reflexionslos gemeinsam dem Göttlichen in und über sich hingegeben sind, ist die stets wiederkehrende Versicherung des Erzählers. 68
I n seinem Versuch einer systematischen Darstellung der platonischen Philosophie hatte der Kantianer Wilhelm Gottlieb Tennemann Anfang der neunziger Jahre an Piaton getadelt, daß dieser für sein angebliches System ungeschickterweise die sachlich unangemessene und unbequeme Form des Dialogs gewählt habe. 69 Ebensowenig Sinn für die genuine Leistungsqualität des philosophischen Gesprächs bezeugt i m Kampaner Tal der kantianische Hauskaplan. U n ter den am Typus des hohen Menschen orientierten Freunden ist er, wie gesagt, der Außenseiter: ein monologischer Systematiker, ein gefühlskalter, lebensund erfahrungsferner Kritizist. Philosophen wie er scheinen Biographen von der A r t Jean Pauls, wie es i m Text heißt, »zu verachten, weil die Fenster i n philosophischen Auditorien so hoch sind - oder gar wie an alten Tempeln oben an der Decke daß sie daraus nicht auf die Gasse des wirklichen Lebens sehen können« (581). Jean Paul zufolge glaubt der Kantianer, sich die ganze Sinnenwelt durch seine Denk- und Anschauungsformen selbst zu erschaffen, ohne jemals aus der Welt der von i h m selbst produzierten Erscheinungen zur Welt der »wahre[n] echte[n] Dinge an sich«, 70 also zur Realität vordringen zu können.
68 69
Ebd., 24 (96).
Vgl. Wilhelm Gottlieb Tennemann, System der Platonischen (Leipzig 1792 ff.), Bd. 1,125-151.
Philosophie , 4 Bde
70 »Alte Vorrede von Siebenkäs selber«, Palingenesien , SWI, 4, 732-739, hier 736; diese Vorrede enthält eine der vielen Diatriben gegen den subjektiven Idealismus Kants und seiner Nachfolger, wie sie Jean Paul immer wieder in seine Werke und Briefe einstreute; die wichtigsten dieser satirischen Angriffe - vornehmlich aus der Zeit zwischen der Auswahl aus des Teufels Papieren (1789) und der Clavis Fichtiana seu Leibgeheriana (1803) - finden sich zusammengestellt und erläutert in Wolf gang Harich, Jean Pauls Kritik des philosophi-
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Nach Jean Pauls Karikatur solipsistisch in sich selbst kreisend, braucht der Kantianer weder Bücher noch Menschen noch Erfahrungen noch Physik, Botanik, Künste, Naturgeschichte zu kennen [ . . . ] : er kann und muß das Positive, das Reale, das Gegebene, das unbekannte X entraten, er schafft seinen Term und saugt, wie zuweilen Kinder - sie können darüber ersticken - , an seiner eignen übergestülpten Zunge, oder wie neugeborne Fohlen, an seinem Nabel [ . . . ] . (588)
Jeglichem Gefühl und aller Begeisterung abhold (587, 594), verdrießlich (585, 589, 591), »frostig« (581) und gleichgültig (588), vermag der Kaplan nach Jean Pauls ironischer Charakterisierung »ein ganzes Dezennium lang nüchtern zu verharren. Ein solcher Mensch beißet allen kräftigen Wahrheiten, Erfahrungen und Erdichtungen, wie die Ameisen den eingetragnen Samenkörnern, die Keime aus, damit sie nicht i n seinem Ameisenhaufen aufgehen, sondern nur zum Bauholz austrocknen« (581). Es überrascht daher nicht zu erfahren, daß der Kaplan »überhaupt die Epopöe der Natur nicht wie ein Naturmensch genoß, noch wie ein Naturforscher skandierte, sondern wie ein Konrektor zerwarf und versetzte zur Übung i m Zusammenbauen« (584). Da er also keinen Sinn für Menschen und Natur hat, nimmt er nur widerwillig am gemeinsamen Spaziergang teil (584), auf dem er sich denn auch wiederholt als körperlich ungeschickt erweist (598, 600), keinerlei sinnliche oder ästhetische Genußfähigkeit (594) zeigt und überhaupt jegliches >savoir vivre< vermissen läßt (585, 607). I m Dialog selbst beschränkt er sich auf die dogmatische Wiederholung einiger Lehrsätze und Einsichten Kants (589, 591, 592, 610) und gefällt sich ansonsten darin, streng die Einhaltung der formalen Schluß- und Argumentationsregeln sowie die Folgerichtigkeit und Validität der einzelnen Gesprächsbeiträge zu überwachen (596, 601, 605, 614). Statt am lebendigen Gespräch wirklich teilzunehmen und sich auf die anderen Dialpgpartner einzulassen, wünscht er eine Auseinandersetzung auf schriftlicher Basis (605). Angesichts seiner schroffen, abweisenden A r t scheint seine »Seele« dem Erzähler »kaum geistig genug zu sein, u m [ . . . ] einer andern Seele« auch nur »zum [ . . . ] Körper zu dienen« (594). »[V]oll Ingrimm, daß er nicht siegen, oder doch« wenigstens »streiten konnte«, gibt der Kaplan zu erkennen, daß er i n keiner Weise über »die somatische Hebammenkunst« (592), also die Kunst der Maieutik verfügt. Da er es durchaus nicht versteht, »wie andere Accoucheurs vorher die Entbindungswerkzeuge warm zu machen«, und überhaupt »eine so harte ungefällige Manier« hat (592), erklärt der Erzähler gegen Ende, ihn aus dem Gespräch kurzerhand ausscheiden zu lassen, nämlich ihn einfach nicht mehr erwähnen zu w o l len (622). Der Kaplan fungiert also gleichsam als Schurke des Gesprächs, als
sehen Egoismus. Belegt durch Texte und Briefstellen 1968), 121-280.
Jean Pauls im Anhang (Frankfurt
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Gegenfigur zu den übrigen Gesprächspartnern, die sich aufgrund ihres Herzens- und Geistesadels in hohem Maße als gesprächsfähig erweisen. Der gemeinsam mit den Freunden durch das Kampaner Tal wandelnde Jean Paul hingegen erscheint als der Held des Gesprächs, denn er ist der Geistreiche, der immer wieder scherzend und spielend in den Dialog eingreift und die U n terredung mit leichter Hand zu führen versteht. Sein zündender Witz behandelt das Thema i n einer A r t , die dem jeweiligen Gesprächsmoment äußerst angemessen ist. Durch seinen Esprit und seine glänzenden Einfälle zeigt er, wie intensiv er am gemeinsamen Gespräch teilnimmt. Seine Geistesgegenwart bezeugt, daß er der Unterredung mit den Freunden gleichsam ein Opfer bringt, also der einzigartigen Wirklichkeit des Gesprächs seine Reverenz erweist. U m den Leser für den Helden des Gesprächs einzunehmen, gesteht Jean Paul, daß die von i h m erzielte witzige Wirkung zuweilen gänzlich unbeabsichtigt war, ihm, dem Geistreichen, also das Glück zu Hilfe kam. Als Nadine nämlich während des Spaziergangs auf einer taubeglänzten Wiese »ein linsengroßer Diamant aus der Brillantierung ihres Halsgehenkes ausgefallen« war, die Freunde danach suchten und Jean Paul »in einer angesteckten Busenrose Nadinens« einen glimmenden Tautropfen zu sehen glaubte, sagte er zu ihr: »»Alles liegt voll weicher Demanten, und wer w i l l den harten ausfinden? Der Tau i n Ihrer Vorsteckrose glänzet so schön wie der ausgebrochene Stein.< Sie blickte darnach«, fährt Jean Pauls Bericht fort, »und i m Rosenkelche lag die gesuchte Perle. Man dachte, ich hätt' es gut gemacht; und ich ärgerte mich, daß ichs dumm gemeint« (590). Nachdem der Leser durch dieses gleichsam als captatio benevolentiae wirkende Eingeständnis gewonnen wurde, kann die Gewandtheit des Geistreichen uneingeschränkt zur Darstellung kommen. Als zum Beispiel bei der ersten Rast auf einem »bunte[n] Rasenstück« spielerisch erwogen wird, ob »die Blumen Seelen haben«, und der galante Wilhelmi i n scheinbar ernsthaftem Ton äußert, er »nehme einen mittlem Zustand der Blumenseelen nach dem Tode an: die Lilienseelen fahren wahrscheinlich i n weibliche Stirnen, Hyazinthen- und Vergißmeinnichtseelen i n weibliche Augen und Rosenseelen i n Lippen«, setzt Jean Paul witzig hinzu: »Es kömmt der Hypothese sehr zustatten, daß ein Mädchen i n der Minute, da es sich bückt und eine Rose bricht oder umbringt, von der übertretenden Seele merklich röter wird« (590 f.). Während solches »Ideenspiel und die Höflichkeit i m Gefecht« den Kaplan verdrießlich macht (591), w i r d das »mendelssohn-platonische Kolloquium« (597) der Freunde dadurch beflügelt, und so setzen sie denn, wie Jean Paul berichtet, »froh und liebend« ihre »schöne Reise [ . . . ] fort« (591). Die Bedeutung, die das Gefühl als Inbegriff aller nicht-rationalen Orientierungen für Jean Paul hat, bringt er i m Kampaner Tal, wie gesagt, i n beständiger Absetzung von dem als rationalistische Kontrastfigur fungierenden Hauskaplan zum Ausdruck. Wie Jean Paul i m Rückblick ironisch bemerkt, sah der Ka-
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plan ihn bezeichnenderweise »für einen windigen Schöngeist an, der sich bloß an Gefühle hält - obgleich Gefühle« Jean Pauls kühner Metaphorik zufolge »der Schwamm voll atmosphärischer Luft ist, den sowohl der Dichter auf seinem hohen Parnaß als der philosophische Taucher i n seiner Tiefe am Munde haben muß, und obgleich die Dichtkunst über manche dunkle Stellen der N a tur ein früheres Licht warf als die Philosophie, wie der düstre Neumond von der Venus Licht bekömmt« (587). I n den empfindsam-erhabenen Schlußpassagen des Dialogs w i r d immer deutlicher, wie sehr die Freunde existentiell betroffen sind und wie lebhaft sie sich vom Gespräch gefangennehmen lassen. Zwar muß die lebendige Denkbewegung, i n die die Dialogpartner auch emotional einbezogen sind, nach Jean Pauls eigener Gesprächstheorie keineswegs zu einem thesenhaft formulierbaren Resultat führen; doch da zur Gattung Dialog seit alters als Höhepunkt des Gesprächs das Uberzeugen des Gegners gehört, läßt Jean Paul auch den i m Kampaner Tal geführten Unsterblichkeitsdialog auf einen solchen Höhepunkt zulaufen. Als Gione gegen Ende des Gesprächs ihre persönliche Hoffnung auf U n sterblichkeit bekundet und Jean Paul dabei bemerkt, daß i n Giones gefaßter Bekundung noch der Schmerz ihrer am Morgen bekräftigten Entsagung nachbebt, kommentiert er anteilnehmend und noch i m Rückblick ergriffen: »Ich weiß nicht, warum sie gerade mit dieser beruhigten Stimme meine ganze Seele - nicht bloß meine Schlußkette - so schmerzlich zerriß« (615). U n d wenn in diesem Moment empfindsamer Rührung Nadine die Gelegenheit ergreift, Karlsons »Klage ohne Trost« vorzulesen, so ist dies nichts anderes als ein prägnantes Beispiel von Jean Pauls poetischen Nihilismusexperimenten. Bereits 1789/90 hatte er i n Des todten Shakespear's Klage [...], daß kein Got sei eindringlich die poetische Traumvision einer grauenhaften, ihres metaphysischen Trostes beraubten Welt entworfen, u m durch die auf diese Weise bewirkte Erschütterung in sich selbst die umgekehrte Gewißheit zu erwecken, nämlich das basale Gefühl für die Existenz Gottes aufzudecken. 71 Auch Karlsons poetische Klage u m die vermeintlich verstorbene Gione imaginiert »die große Erde«, den »Richtplatz der Zeit«, »von Knochen zertrümmerter zerfallner Menschen bestreuet« (616 f.), als todverfallenen O r t hoffnungsloser Qual: »Aber ich, Gione«, klagt Karlson, »stehe noch stark mit dem unvernichteten Schmerz, mit der unvernichteten Seele an deinen Ruinen und denke dich weinend, bis ich verschwinde. U n d meine Trauer ist edel und tief, denn sie hat keine Hoffnung« (617). I n unmittelbarem Anschluß an die »Klage ohne Trost« bekennt der Er71 »Des todten Shakespear's Klage unter todten Zuhörern in der Kirche, daß kein Got sei«, SW I I , 2, 589-592; noch deutlicher als Nihilismusexperiment gestaltet ist die in den Siebenkäs aufgenommene »Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei«, S W I , 2, 266-271; vgl. hierzu den Abschnitt »Poetische Nihilismusexperimente« in: Schmidt-Biggemann, Maschine und Teufel (wie Anm. 26), 268-277.
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zähler, wie unerträglich i h m - i n Ansehung von Giones »nie beglückte[r], unschuldigefr] Seele« (618) - Karlsons Vernichtungsvision sei, und er fordert mit Nachdruck dazu auf, solche Überzeugungen durch nihilistische Experimente nicht rational, sondern emotional zu überprüfen: Der Mensch trägt seine Irrtümer wie seine Wahrheiten zu oft nur in Wortbegriffen und nicht in Gefühlen bei sich; aber der Bekenner der Vernichtung stelle sich einmal statt eines sechzigjährigen Lebens eines von 60 Minuten vor und sehe dann zu, ob er den Anblick geliebter edler oder weiser Menschen als zweckloser stundenlanger Lufterscheinungen [ . . . ] ertragen könnte: nein, auch ihn überschleicht immer die Voraussetzung der Unvergänglichkeit. (618)
Da das poetische Experiment auch bei i h m selbst in diesem Augenblick Wirkung zeitigte und er bekennen kann, daß all seine »Schlüsse«, wie es i m Text heißt, »jetzt zu Gefühlen verdichtet« waren (618), bestürmt Jean Paul Karlson mit einer Reihe weiterer Bilder und Vorstellungen trostloser Vernichtung. Gewonnen w i r d Karlson freilich erst, als zu der negativen, durch die Vernichtungsvisionen bewirkten Erschütterung noch zwei positive Gefühlsappelle hinzukommen: der durch den Anblick der erhabenen Natur und der durch die Liebe. Bereits i n der Unsichtbaren Loge hatte Jean Paul eine Klassifikation der Spaziergänger entwickelt, eine Typologie, zu deren höchsten Typus diejenigen Menschen gehören, die gegenüber der Natur nicht nur i n ästhetischer Anschauung befangen bleiben, »sondern ein heiliges Auge auf die Schöpfung fallen lassen«. 72 Sie vermögen mit dem kontemplativen Organ des Herzens zu schauen, können in der blühenden irdischen die zweite Welt ahnen und unter den Geschöpfen den Schöpfer gewärtigen. Es sind Menschen, »die den tiefen Tempel der Natur [ . . . ] als eine heilige Stätte der Andacht brauchen«, also auch mit dem Herzen spazieren gehen. »Ich weiß kein größeres Lob«, schließt Jean Paul die Charakterisierung dieser kontemplativen Spaziergänger, »als daß ich von solchen Menschen leicht auf unser liebendes Paar hinübergleiten kann - die Liebe desselben ist ein solcher Spaziergang, das Leben der hohen Menschen ist auch ein solcher.« 73 Auch auf dem Höhepunkt des i m Kampaner Tal geführten Unsterblichkeitsgesprächs appelliert Jean Paul, u m Karlson zu überzeugen, an dessen Sinn für die erhabene Natur, und auch hier gelingt es ihm, u m diesen hohen Menschen zu gewinnen, das Thema der Liebe anklingen zu lassen:
72 SW I, 1, 404; vgl. hierzu Wölfel, »Kosmopolitische Einsamkeit. Über den Spaziergang als poetische Handlung« (wie Anm. 62), 28-54 [wieder in: Wölfel, Jean Paul-Studien (wie Anm. 62), 102-139)]. 73
S W I , 1, 404 f.
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»Geliebter Karlson, in diese Harmonie der Sphären nicht über, sondern neben uns wollen Sie Ihren ewig schreienden Mißton bringen! Sehen Sie, wie sanft und gerührt der Tag geht, wie erhaben die Nacht kömmt - o dachten Sie nicht daran, daß unser Geist glänzend einmal ebenso aus der Grube voll Asche steigen werde, da Sie einmal den milden und lichten Mond groß aus dem Krater des Vesuvs aufgehen sahen? .. .< Die Sonne stand schon rot auf den Gebürgen, um sich ins Meer zu stürzen und in die neue Welt zu schwimmen. Nadine umfing unendlich gerührt die Schwester und sagte: >0 wir lieben uns ewig und unsterblich, gute Schwester.< Karlson rührte zufällig die Saiten der Laute an, die er trug; Gione nahm sie mit der einen Hand und gab ihm die andere und sagte: »Unter uns allen werden Sie allein von diesem tristen Glauben gequält - und Sie verdienen einen so schönen!< Dieses Wort der verhüllten Liebe stürzte sein lang gefülltes Herz um, und zwei heiße Tropfen wanden sich aus den geblendeten Augen, und die Sonne vergoldete die reinen Tränen, und er sagte, indem er nach dem Gebürge hinüberschauete: »Ich kann keine Vernichtung ertragen als nur meine - mein ganzes Herz ist Ihrer Meinung, und mein Kopf wird ihm langsam folgen.< (622)
I n einem Gespräch, i n dem sich die Teilnehmer i n spontanem Engagement zusammenfinden, bildet sich eine gemeinsame Sprache, eine offene Denkbewegung und, wenn es glückt, eventuell eine gemeinsame Überzeugung. Wie das gelungene Gespräch dank eines eigenen Zaubers die teilnehmenden Partner verwandelt und gleichsam zu anderen werden läßt, so sucht der gute Dialog durch seine literarische Form den Leser gefangenzunehmen und i n die Auseinandersetzung der lebendig gestalteten Figuren einzubeziehen. 74 U m die Teilnahme des Lesers zu bewirken, wählte Jean Paul i m Kampaner Tal als weiteres literarisches M i t t e l die Briefform, denn er teilt die Vorgeschichte, die i m Tal selbst spielende Handlung und natürlich vor allem die während des Spaziergangs geführten Gespräche über die Unsterblichkeit in einer Reihe von Briefen mit, die er an eine seiner Romanfiguren, nämlich an Viktor, den hohen Menschen des Hesperus richtet. Die Wahl dieses edlen Adressaten legitimiert den erhabenen Ton der Briefe. Authentizität verleiht Jean Paul der empfindsam gestimmten Innerlichkeit seiner Briefe zudem dadurch, daß er traditionsgemäß den ursprünglich ganz privaten Charakter der Briefe betont und spielerisch vorgibt, sie erst auf Drängen des von ihnen entzückten Viktor veröffentlicht zu haben. 75
74 Zu dieser in den platonischen Dialogen exemplarisch vorgeprägten Leistungsqualität des Gesprächs siehe Hans Georg Gadamer, Wahrheit und Methode (2. Aufl. Tübingen 1965), 349 ff. und 360 ff., sowie Goffman, Interaktionsrituale (wie Anm. 60), 124 ff.; vgl. ferner Wolfhart Pannenberg, »Sprechakt und Gespräch«, in: Karlheinz Stierle und Rainer Warning (Hg.), Das Gespräch, Poetik und Hermeneutik 11 (München 1984), 65-76. 75 Zu der in dieser Hinsicht für Jean Paul relevanten Gattung des Briefromans siehe das Kapitel »Goethes >Werther< und der Briefroman« in: Norbert Miller, Der empfindsame
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Nachdem Karlson i m Gespräch gewonnen wurde, beendet Jean Paul die Erzählung damit, daß er die Freunde i n den zwei bereitstehenden Montgolfieren sich über die Erde erheben und sie den Anblick des Sternenhimmels und der abendlichen, panoramatisch ausgebreiteten Landschaft ahnungsvoll genießen läßt. I n der einen, östlichen Montgolfiere steigt zunächst Gione über das Tal empor. Ihr Flug ist i n der durch die christlich-platonische Tradition vorgegebenen licht- und entrückungsmetaphorisch geprägten Sprache der Elévation gehalten und somit als Vorwegnahme ihrer künftigen Himmelfahrt und Verklärung gestaltet: Sie ging einsam wie eine Himmlische empor unter die Sterne - die Nacht und die Höhe warfen ein Gewölke über die aufziehende Gestalt - ein oberes Wehen wiegte diese blühende Aurora und deckte mit der schwankenden Göttin ein Sternbild ums andere zu Plötzlich trat ihr fernes erhöhtes Angesicht in einen hellen überirdischen Glanz hinein; es stand leuchtend, wie das eines Engels, im Nachtblau gegen die Sterne erhoben! Wilhelmi und Karlson ergriff ein ungewöhnlicher Schauder, ihnen war, als sähen sie die Geliebte wieder von sich ziehen, vom Flügel des Todesengels getragen. Der Mond hinter der Erde, der seine Strahlen früher hinauf an die Sterne als herunter auf die Erdenblumen warf, hatte sie so himmlisch verklärt. (624 f.)
Nach Giones Rückkehr lassen sich auch Jean Paul und die von i h m geliebte Nadine in der anderen, westlichen Montgolfiere emportragen. Bei der Schilderung ihres gemeinsamen Flugerlebnisses greift Jean Paul auf die traditionellen Topoi und Verfahrensweisen zur Darstellung des Sublimen zurück, wie er sie auch sonst i n seinen erhabenen Landschaftsentwürfen immer wieder gebrauchte und i n seinen poetologischen Reflexionen zum Erhabenen wiederholt erörterte. Unter den einschlägigen Beispielen der Semantik des Erhabenen, die Jean Paul i n dem »Theorie des Erhabenen« betitelten Paragraphen seiner Vorschule der Ästhetik benutzte, finden sich u. a.: ein hohes Gebirge, der bestirnte Himmel, Blitze, Sturmwind, Donner, Wolken, Meere, Wasserfälle und ein lindes, leises Wehen als sanftes Zeichen der nahenden Gottheit. 7 6 Vom gestirnten H i m m e l als erhabenen Vorschein der zweiten Welt spricht Jean Paul i n den Palingenesien: [I]n der Nacht tritt die zweite Welt in Gestalt der gestirnten Unermeßlichkeit näher an das einsame Herz und zeigt ihm in dem Tag der fremden Welten den künftigen ewigen seiner Welt; von der kleinen Erde fallen alle Reize ab, aber die Edelsteine unsers Wesens werfen dann, wie Lichtmagnete, in der Finsternis einen vergrößerten Glanz - wir gleichen der Wunderblume, die in der alten Welt nur nachts ihre Blüten auftut, weil es dann in der neuen tagt, die ihre Heimat ist. 7 7
Erzähler. Untersuchungen an den Romananfängen des 18. Jahrhunderts (München 1968), 138-214. 76
SWl
77
SWI, 4, 746.
5,105-109.
Jean Pauls Kampaner Tal
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U n d i n der Vorschule der Ästhetik wiederum heißt es: »Sogar die Stille kann erhaben werden«, zum Beispiel »die eines hoch still schwebenden Raubvogels.« 78 Bekanntlich bestimmt Jean Paul dort »das Erhabene als das angewandte Unendliche« 7**, betont, daß »[d]ie optische Erhabenheit [ . . . ] auf Extension, aber nur« auf »der einfarbigen« beruht, 8 0 und gibt auf die Frage, »waru m [ . . . ] denn nun der von einer Farbe lange fortgesetzte Gegenstand ein Bild der Unendlichkeit« sei, die erhellende Antwort: »durch eine Grenze, also durch zwei Farben; und das Begrenzte ist erhaben, nicht das Begrenzende; das Auge wiederholet bis zum Schwindel dieselbe Farbe, und dieses ewige Wiederkommen des Nämlichen w i r d das unendliche Bild.« 8 1 Jean Pauls theoretische Bestimmung optischer Erhabenheit ist für ein angemessenes Verständnis der Schlußpassage des Kampaner Tal nicht so sehr deshalb wichtig, weil er hier u. a. prägnante Beispiele der Wiederkehr von Gegenständen gleicher Farbe einfließen läßt: die schwarzen, in Gewitterwolken übergehenden Waldungen und die beschneiten, sich zu lichten Schneewolken verlängernden Gebirge. Bedeutung hat seine Bestimmung optischer Erhabenheit für das Ende des Kampaner Tal vor allem deshalb, weil Jean Paul i n diesem Landschaftsentwurf ein sprachästhetisches Analogon zum »ewigen Wiederkommen des Nämlichen« verwendet, indem er den Eindruck von Erhabenheit durch geeignete syntaktische M i t t e l und durch entsprechenden Periodenbau zu evozieren sucht. Auffällig an dieser Landschaftsschilderung ist das M i t t e l der homiletischen Schlachtordnung: die parataktische Reihung gleich oder ähnlich konstruierter Sätze und Satzteile, das durch entsprechenden Einsatz von K o n junktion, Gedankenstrich und Auslassungszeichen verstärkte Prinzip der bloßen Aneinanderfügung. Die durch dieses M i t t e l entstehenden, geradezu unüberschaubar wirkenden Perioden vermitteln zusammen mit dem begeisterten Ton und den eingestreuten Reflexionen den Eindruck von Erhabenheit: - Und nun zogen uns die Sonnen empor. Die schwere Erde sank wie eine Vergangenheit zurück - Flügel, wie der Mensch in glücklichen Träumen bewegt, wiegten uns aufwärts - die erhabene Leere und Stille der Meere ruhte vor uns bis an die Sterne hin wie wir stiegen, verlängerten sich die schwarzen Waldungen zu Gewitterwolken und die beschneieten beglänzten Gebirge zu lichten Schneewolken - die auftreibende Kugel flog mit uns vor die stummen Blitze des Mondes, der wie ein Elysium unten im H i m mel stand, und in der blauen Einöde wurden wir von einem gaukelnden Sturm gleichsam in die nähere schimmernde Welt des Mondes geblendet gewiegt... und dann wurd' es dem leichtern Herz, das hoch über dem schweren Dunstkreis schlug, als flatter' es im Äther und sei aus der Erde gezogen, ohne die Hülle zurückzuwerfen. 78
SW 1,5,107.
79
Ebd., 106.
so Ebd., 107. 81
Ebd., 108.
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Bernhard Buschendorf Plötzlich stockte unser Flug - wir blickten hinunter in das von der Tiefe und der Nacht verschlungene Tal, und nur die Lichter des Schlosses schimmerten zusammenfließend hinauf - eine westliche Wolke hing vor uns in Gestalt einer weißen Nebelbank, und ein schwarzer Adler glitt wie ein Todesengel von Morgen vorüber und durchschnitt die lichte Wolkensäule und suchte seinen Gipfel - und ein kaltes Wehen zog uns spielend gegen die Insel aus Dunst - das Abendrot war schon gegen Mitternacht unter der Erde fortgezogen und wandelte über das geliebte Frankreich als künftige Aurora...
O wie
richtete sich der innere Mensch unter den Sternen auf und wie leicht wurde über der Erde das H e r z . . . Auf einmal stiegen unten aus dem schimmernden Schlosse leise Harmonien herauf, und unsere Geliebten riefen uns mit gedämpften Echos zurück... Und da Nadine hinuntersah, brach ihr das einsame Herz vor Sehnen nach den teuern Menschen - und da sie in das lange versilberte Tal hinüberblickte, worüber der Mond hereingewälzet war, und da unter seinen flatternden Folien die zitternden Wasserfälle glommen und die rinnenden Bögen des Stroms und die grünenden Marmor-Torsos und die weißen Steige zwischen Ulmen und Ähren und die ganze zauberische Bahn unsers heutigen Tages: so strömten helle und glänzende Tränen unverhüllt aus ihren sanften Augen, und sie blickte mich gleichsam mit der Bitte um Nachsicht und Verschweigen an und sagte erschütternd: >Wir sind ja doch so weit von der harten Erde!< Und als unsere kleine Kugel zu den schillernden Auen und hellem Tönen zurückgezogen wurde: sah sie mich fragend an, ob ihre Augen noch Spuren der Tränen zeigten. Sie trocknete sie schneller, aber vergeblich. Wir sanken schweigend hinunter. Ich nahm ihre brennende Hand und sah ihre fortweinenden Augen. Aber ich konnte nichts sagen... - Und wie könnt' ich denn jetzt noch etwas sagen, du Geliebter! - (625 f.) D i e aus d e m G e s p r ä c h h i n l ä n g l i c h v e r t r a u t e E l e v a t i o n s - u n d E n t k ö r p e r u n g s m e t a p h o r i k , die Jean P a u l i n d e r S c h i l d e r u n g des Flugerlebnisses m i t N a d i n e b e n u t z t , läßt i h r e r b e i d e r b i l d k r ä f t i g gestaltete U n e n d l i c h k e i t s e r f a h r u n g
als
P r ä f i g u r a t i o n einer U n s t e r b l i c h k e i t s e r f a h r u n g erscheinen. V e r s t ä r k t w i r d dieser E i n d r u c k d a d u r c h , daß die R ü c k k e h r z u d e n F r e u n d e n , v o n sehnsuchtsvoller M u s i k u n t e r m a l t , als l i e b e v o l l e W i e d e r v e r e i n i g u n g i n s z e n i e r t ist. A u ß e r d e m e n t s p r i c h t es Jean Pauls e m p f i n d s a m e r , g e f ü h l s p h i l o s o p h i s c h geschulter E r z ä h l u n d A r g u m e n t a t i o n s a b s i c h t , daß er b e i d e r B e s c h r e i b u n g v o n N a d i n e s sentim e n t a l e r E r s c h ü t t e r u n g die U n s a g b a r k e i t s t o p i k i n A n s c h l a g b r i n g t u n d m i t sein e r - ebenfalls u n s a g b a r k e i t s t o p i s c h e n - S c h l u ß a p o s t r o p h e seinen A d r e s s a t e n V i k t o r u n d d e n Leser a u s d r ü c k l i c h a n der ergreifenden E r f a h r u n g t e i l h a b e n z u lassen sucht. A l l diese M i t t e l m a c h e n d e n F l u g - a u c h u n d v o r a l l e m i n f i g u r a t i v e m Sinne - z u einer E r h e b u n g ü b e r die E r d e u n d d a m i t g l e i c h s a m z u m p o e t i schen - u n d i n dieser g e f ü h l s a p p e l l a t i v e n F o r m n a c h Jean P a u l besonders v a l i den - Beweis der i m Gespräch statuierten Unsterblichkeitsgewißheit.
»Nothing but a Disjointed and Mutilated Tale« Z u r narrativen Strategie der Doppelperspektive in Charles Brockden Browns historischer Erzählung »Thessalonica: A Roman Story« (1799) V o n Oliver
Scheiding
»Tis evident there is no point of ancient history, of which we can have any assurance, but by passing thro* many millions of causes and effects, and thro* a chain of arguments of almost an immeasurable length. Before the knowledge of the fact cou'd come to the first historian, it must be conveyed thro* many mouths; and after it is committed to writing, each new copy is a new object, of which the connexion with the foregoing is known only by experience and observation.« David Hume, A Treatise of Human Nature (1739-1740)
Charles
Brockden
Browns
Erzählung
»Thessalonica:
A
Roman
Story«
(1799) b e r i c h t e t v o n e i n e m h i s t o r i s c h ü b e r l i e f e r t e n E r e i g n i s d e r Spätantike. I m M i t t e l p u n k t steht der V o l k s a u f s t a n d i n T h e s s a l o n i k i i m J a h r 390 n a c h C h r i s t u s s o w i e das anschließende M a s s a k e r a n d e r thessalischen B e v ö l k e r u n g auf B e f e h l v o n K a i s e r T h e o d o s i u s (347-395). I n d e r F o r s c h u n g w i r d B r o w n s D a r s t e l l u n g des s p ä t a n t i k e n Volksaufstandes b i s l a n g als e i n historisches E x e m p l u m gewertet, das f o l i e n h a f t d i e sich z u r Z e i t d e r A b f a s s u n g v o n B r o w n s E r z ä h l u n g abz e i c h n e n d e A u s e i n a n d e r s e t z u n g z w i s c h e n d e n F ö d e r a l i s t e n u n d d e r als » m o b o cracy« g e b r a n n t m a r k t e n A n h ä n g e r T h o m a s Jeffersons w i d e r s p i e g e l t . 1 D i e f o l g e n d e n A u s f ü h r u n g e n a r g u m e n t i e r e n i m Gegensatz d a z u , daß das h i s t o r i s c h e
1 Alan Axelrod, Charles Brockden Brown: An American Tale (Austin 1983), 98-101, 174 f.; Robert S. Levine, Conspiracy and Romance: Studies in Brockden Brown, Cooper t Hawthorne , and Melville (New York 1989), 15-57; Bill Christopherson, The Apparition in the Glass: Charles Brockden Brown's American Gothic (Athens/ London 1993), 16 f.; Steven Watts, The Romance of Real Life: Charles Brockden Brown and the Origins of American Literature (Baltimore / London 1994), 170-177. »Thessalonica« wird im Text nach folgender Ausgabe mit Seitenzahlangaben zitiert, »Thessalonica: A Roman Story«, Somnambulism and Other Stories, hg. A. Weber (Frankfurt 1987), 25-52.
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Exemplum und der Authentizitätsanspruch der Erzählung als »A Roman Story« in deren narrativer Doppelperspektive aufgebrochen werden. Die unterschiedliche Darstellung der Motivationsanalyse und der Spekulationen über die Beweggründe, die zu den tragischen Geschehnissen führten, steht i n dem perspektivischen Spannungsverhältnis zwischen der auktorialen Sicht des Historiographen und der fiktiven Perspektive des Ich-Erzählers Julius Malchus, dem als Präfekt der Stadt die Aufgabe zukommt, die Ereignisse wahrheitsgetreu zu rekonstruieren und der Nachwelt zu überliefern, auf die sich letztlich der H i storiograph stützt. I m Verlauf der Geschichte w i r d jedoch zunehmend die U n möglichkeit einer schlüssigen und »wahren« Rekonstruktion der Vorgänge durch den Ich-Erzähler deutlich. Daher werden auch die sich aus diesem Rekonstruktionsversuch ergebenden Darstellungen des Historiographen i n Frage gestellt. Die historische Erzählung Browns ist aufgrund der kontradiktorischen Erzählperspektiven weniger als ein historisches Exemplum einer »history proper« zu lesen, sondern vielmehr w i r d das eigentliche historische Exemplum i n der Doppelperspektive zum Exemplum der Unmöglichkeit historischer Rekonstruktion und Authentizität. Daran schließt die Argumentation an, daß die aus der Doppelperspektive sichtbar werdende Unmöglichkeit einer »wahren« Rekonstruktion zunächst den Authentizitätsanspruch der Historiographie erschüttert und ihre Fiktionalität i n den Vordergrund stellt. I n einem zweiten Schritt versucht Brown dann, die Plausibilität der Fiktion als einer »wahrscheinlicheren« Annäherung an die historische Wahrheit aufzuwerten. Sein Ziel ist es, mit Hilfe der Doppelperspektive die lang tradierte funktionale Gattungsabgrenzung zwischen Historiographie und Fiktion i n Frage zu stellen und neu zu verhandeln. M i t dieser Neubestimmung der möglichen Erzählintentionen soll zugleich einer i n der Forschung aufgestellten Behauptung widersprochen werden, die den mitunter verwirrenden Perspektivenwechsel i n »Thessalonica« lediglich den Eigenheiten des Brownschen Arbeits- und Schreibtempos zuschreibt. 2 I m Gegensatz dazu sollen hier die narrative Intentionalität der perspektivischen Brüche sowie ihre kontradiktorisch-disputativen Aspekte herausgearbeitet werden. Schließlich soll verdeutlicht werden, daß das Exemplum als Exemplum der Unmöglichkeit historischer Rekonstruktion erzähltheoretische Ideen Browns realisiert, wie er sie in seinem Essay »The Difference Between History and Romance« (1800) darlegte. 3 *
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Weber, XV.
»The Difference Between History and Romance«, in: Charles Brockden Brown: Literary Essays and Reviews , hg. A. Weber (Frankfurt 1992), 83-85, fortan im Text mit Seitenzahlangaben zitiert.
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Rückgriffe auf antike Erzählstoffe, Ereignisse oder Persönlichkeiten finden sich zahlreich i n der Literatur der Early Republic. Der Beispielcharakter der klassischen Antike war Bestandteil der republikanischen Ordnungs- und Tugendideale. D e m klassischen Tugendkanon wurde allgemein eine Leitfunktion und Autorität i m öffentlichen Diskurs zugeschrieben. Die Funktion des historischen Exemplums für die Gegenwart lag in der Allgemeingültigkeit klassischer Themen und der ihnen aus einer unhinterfragten, historischen Überlieferung zugesprochenen Authentizität. 4 Die historische Erzählung versucht zunächst, einen Anspruch auf Authentizität zu begründen, u m als historisches Exemplum fungieren zu können. Schon der Untertitel der Erzählung »A Roman Story« signalisiert den Beispielcharakter der Erzählung und kontextualisiert die dargestellten Ereignisse als Teil der spätantiken, römischen Geschichte aus der Sicht einer auktorialen Erzählinstanz. Neben der implizierten, äußeren Kontextualisierung i m Untertitel w i r d i n der Erzählung Authentizität durch die Faktographie des aus auktorialer Sicht berichtenden Historiographen, durch Einfügung von Fußnoten, durch das Auftreten historischer Persönlichkeiten sowie durch die Nennung historischer Ereignisse - wie das kaiserliche Massaker in Antiochia i m Jahr 387 nach Christus - erzeugt. 5 Bereits i m ersten Paragraphen der Erzählung bedient sich der auktoriale Erzähler faktographischer Deskriptionstechniken; die Ereignisse i n Thessaloniki werden von ihm zeitlich und räumlich verortet: Thessalonica, in consequence of its commercial situation, was populous and rich. Its fortifications and numerous garrisons had preserved it from injury during late commotions [hier folgt eine Fußnote mit dem Hinweis: A t the end of the Gothic war, A . D . 390], and the number of inhabitants was greatly increased, at the expense of the defenceless districts and cities [ . . . ] , no city in the empire of Theodosius exhibited so many monuments of its ancient prosperity [ . . . ] ; he had endowed the citizens with new revenues and privileges, had enhanced the frequency of their shows, and the magnificence of their halls and avenues, and made it the seat of government of Illyria and Greece. (25) 4 Vgl. Merle Curti, The Growth of American Thought , I (New York 1964), 80 f. Zur Funktion und Bedeutung des »Exemplum« aus puritanischer Sicht siehe u. a. Sacvan Bercovitch, The Puritan Origins of the American Self (New Haven/London 1975), 2-15. Den Einfluß neoklassizistischer Ideen auf die Historiographie des 18. Jahrhunderts untersucht bes. J. W. Johnson, The Formation of English Neo-Classical Thought (Princeton, N J 1967), 31-69. Zu Amerika siehe M . F. Heiser, »The Decline of Neoclassicism, 1801-1848«, Transitions in American Literary History, hg. H . H . Clark (Durham 1953), 91-161. 5
Ausgangspunkt der historischen Erzählung ist Browns Lektüre der römischen Geschichte Edward Gibbons (1776-1788). Brown rezensierte zeitgleich die Geschichtswerke von Gibbon, David Hume und William Robertson, vgl. »Parallels Between Hume, Robertson and Gibbon«, Weber, Literary Essays, 14-19. In »Thessalonica« folgt Brown fast wörtlich einzelnen faktographischen Details bei Gibbon, vgl. Edward Gibbon, The History of the Decline and Fall of the Roman Empire , hg. J. B. Bury, I I I (London 1897), 172176, bes. 172.
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Aufgrund der herausragenden Stellung der Stadt werden die Ereignisse beispielhaft erhöht, da sich der Volksaufstand ausgerechnet i n einer Stadt ereignet, die mit einer Vielzahl von Privilegien ausgestattet ist. A n dieser Stelle w i r d deutlich, daß die faktographische Einführung des auktorialen Erzählers eine implizite Wertung hinsichtlich des späteren Verhaltens der Bevölkerung enthält. Der Historiograph fährt fort, die militärische Situation i n der Stadt zu beschreiben, und er skizziert kurz den Charakter des militärischen Statthalters Butherich. Bereits i m vierten Absatz der Erzählung ergänzt der Historiograph die faktographische Einführung durch auf künftige Ereignisse verweisende Kommentare: »By these means, the empire of order was, for some time maintained; but no diligence and moderation can fully restrain the passions of the multitude« (26). Der auktoriale Kommentar i m Nachsatz enthält andeutungsweise die beiden Themen, die leitmotivisch das vom Historiographen angestrebte historische Exemplum konstituieren. Das spätantike Exemplum thematisiert das republikanische Ordnungsideal und die ständige Bedrohtheit des Staatswesens durch die zügellose Leidenschaft der Masse. 6 Der Historiograph zitiert als Beleg die römische Geschichte, die gezeigt hat, daß die Masse durch öffentliche Spektakel, Speisungen oder Zirkusspiele abgelenkt werden muß. A n dieser Stelle baut der Historiograph auch auf die Vertrautheit des Lesers mit den Grundzügen der römischen Geschichte: »You need not be told, that the populace of Roman cities are actuated by a boundless passion for public shows« (26). Der Historiograph dominiert den ersten Teil der Erzählung. Er berichtet von den Umständen, die zu den Ausschreitungen während eines Zirkusspieles führten sowie der anschließenden Ermordung Butherichs durch die aufgebrachte Masse. Der Auslöser für die Auseinandersetzung zwischen den Zuschauern und den i m Zirkus anwesenden Ordnungshütern ist den Angaben des Historiographen entsprechend ein gemeiner Mann, namens Macro, der sich Zugang zur Senatorenloge verschaffen will. Der Zutritt w i r d ihm verweigert, da ein solcher Schritt die etablierte Ordnung gefährdet: »Order had long since established distinctions i n this respect, and every class of the people enjoyed their peculiar seats and entrances« (26). Das anschließende Handgemenge zwischen Macro und den Soldaten Butherichs erweckt die Aufmerksamkeit der übrigen Zuschauer, die Macro zu Hilfe eilen. Die Situation zwischen beiden Gruppen eskaliert. Der Historiograph wertet das Verhalten der Masse mit pejorativen 6 Der auktoriale Erzähler vertritt die weitverbreitete föderalistische Vorstellung einer »essential frailty and impermanence of republican government«; John R. Howe, »Republican Thought and the Political Violence of the 1790s«, American Quarterly, 19 (1967), 145-165, bes. 154 f. Howe betont die Bedeutung des Ordnungscodes, der sich im »virtu«-Gedanken der Frühen Republik äußert, gegenüber den Entwicklungen einer Massendemokratie.
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Kommentaren: »The mob poured into the passages. [ . . . ] those w h o had been leaders i n the tumult, conspired to engage them i n the same outrages. [ . . . ] the seats of the Senators were filled w i t h a permiscuous crowd, [ . . . ] the fury of the populace it was impossible to foresee. [ . . . ] the temper of the people was revengeful and sanguinary« (27 f.). Butherich, der schließlich versucht, die aufgebrachte Masse zu beschwichtigen, w i r d durch den Steinwurf eines am Tage zuvor unehrenhaft entlassenen Soldaten, namens Eustace, getötet. Der Tod des militärischen Führers führt zu einer weiteren Eskalation der Gewalt unter den Soldaten, die nun w i l d auf die Menge dreinschlagen. Der Historiograph kommentiert verachtend die Feigheit und Eigennützigkeit der Masse angesichts der ihr entgegentretenden Gewalt: »Men, crowded together in a narrow space, are bereft of all power over their o w n motions. Their exertions contribute merely to destroy their weaker neighbours, without extricating themselves« (30). Die auktorialen Kommentare erlauben Rückschlüsse auf die Instrumentalisierung der historischen Erzählung als Exemplum i m politischen Kontext der »conspiratorial fancy« der 1790er Jahre. 7 Die auktoriale Perspektive des Historiographen formuliert die Ängste der Föderalisten vor dem Chaos und der A n archie des »King Mob«. Die Föderalisten wußten aber auch, diese Ängste zu instrumentalisieren. Sie spielten zum Teil geschickt mit dem Menetekel einer »mobocracy«, u m in der öffentlichen Auseinandersetzung die Repräsentanten des »common man«, die Jeffersonischen Republikaner, zu diskreditieren. Vielfach beinhalteten die von den Föderalisten zitierten historischen Exempla ein zyklisches Geschichtsmodell, in dem das Aufkommen einer »mobocracy« als Zeichen des politisch-moralischen Verfalls der Republik gewertet wurde. 8 Der 7 Ausdruck dafür waren zahlreiche Unruhen wie die »Shay's Rebellion« in Massachusetts (1786-87) und die »Whiskey Rebellion« in Pennsylvania (1794). Die Angst vor Jakobinertum, Illuminaten, »mobrule« sowie der Konflikt mit Frankreich (»Jay Treaty«, 1794) führten schließlich 1799 zum Alien and Sedition Act. Die Föderalisten erwirkten mit dem »Alien und Sedition Act« eine Zensurgesetzgebung, die die öffentliche Meinung weniger vor »äußerer« Beeinflussung schützen sollte, als vor dem Gegner im »Inneren«, vgl. bes. Marshall Smelser, »The Federalist Period as an Age of Passion«, American Quarterly ; 10 (1958), 391-419, und Richard Buel, jr., Securing the Revolution: Ideology in American Politics , 1789-1815 (Ithaca/London 1972), 166f., 244-261. Außerdem war das in politische Lager gespaltene Philadelphia Browns das Zentrum einer durch die Presse und ihre »alarmist rhetoric« erzeugten Massenhysterie. Offensichtlich war Brown auch durch Elihu Hubbard Smith und die konservativen Mitglieder des N e w Yorker »Friendly Society« mit den Schriften über das Illuminatentum vertraut. Laut Levine teilte Brown die konspirativen Ängste der Föderalisten, die die republikanischen Ideale durch die »mobocracy« der Masse gefährdet sahen. Die historische Erzählung Browns kann als Reaktion auf diese krisenhaften Momente gelesen werden. O b nun Brown mit dieser historisch verkleideten Erzählung als ein »Federalist in making« bezeichnet werden kann, sei hier dahingestellt; vgl. dazu etwa Levine, 15-57. 8 Howe, bes. 154 f., macht deutlich, daß die Idee vom »Aufstieg und Fall der Reiche« die Auffassung vieler Föderalisten von einem zyklischen Verlauf der Geschichte wider-
7 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 38. Bd.
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Schlußsatz der historischen Erzählung kann beispielhaft für die Instrumentalisierung der historischen Erzählung i m Sinne föderalistischer Aussageinteressen gelesen werden. Der meta-historiographische Kommentar des auktorialen Erzählers läßt die Geschichte synekdochisch als Teil einer übergeordneten, historischen Gesetzmäßigkeit erscheinen: »The horrors of this scene are only portions of the evil that has overspread the Roman world, which has been inflicted by the cavalry of Scythia, and which w i l l end only i n the destruction of the empire, and the return of the human species to their original barbarity« (52). Der Versuch, aus auktorialer Perspektive ein historisches Exemplum zu konstituieren, das Authentizität aus der historischen Uberlieferung des spätantiken Ereignisses ableitet, w i r d i m weiteren Verlauf der Erzählung problematisiert. Phasenweise w i r d aus der Perspektive des Ich-Erzählers Julius Malchus erzählt. I m Gegensatz zur totalisierenden Sicht der vorherigen Außenperspektive geht es Malchus primär u m die Rekonstruktion der Ereignisse, die zum gewaltsamen Tod Butherichs führten. Der Historiograph war bislang nicht in der Lage, die Motivationen zu entschlüsseln, die das Handeln Macros oder Eustaces erklären helfen. Die Autorität der auktorialen Darstellung beruht wesentlich auf der außenperspektivischen Faktographie. Die Außenperspektive des Historiographen erlaubt jedoch keinen Einblick in die Motivationen der beteiligten Figuren und somit bleiben die historiographischen Deutungen der kausalen Vernetzung der Ereignisse spekulativ. Die Unsicherheit des Historiographen w i r d unter anderem i n folgender Passage deutlich: This was no time to speculate upon causes and consequences. All around them was anarchy and uproar, and passion was triumphant in all hearts. [ . . . ] All this passed in a few minutes. Few were acquainted with the cause of the tumult. Still fewer were acquainted with the deplorable issue to which it had led. The immediate actors and witnesses were fully occupied. The distant crowd, [ . . . ] could only [ . . . ] , make fruitless inquiries of their neighbours. (30 f.)
A n dieser Stelle w i r d die Schwäche der historischen Rekonstruktion durch den Historiographen sichtbar. Der Historiograph scheint nur in der Lage zu sein, einzelne Ereignisabfolgen miteinander zu verknüpfen, ohne die dahinterstehenden Motivationen zu erfassen. Der anschließende Perspektivenwechsel zeigt die kombinatorischen Defizite des Historiographen, insofern er auf die Rekonstruktionsarbeit des Ich-Erzählers angewiesen ist: »The ensuing night was passed by the prefect i n receiving and comparing depositions of real and pretended witnesses« (37). Außerdem gibt der Historiograph folgendes zu bedenken: »The consequences have been already related, and afford a memorable
spiegelt und in enger Verbindung zu der Überzeugung einer »impermanence of republican government« steht; vgl. bes. Stow Persons, »The Cyclical Theory of History in Eighteenth-Century America«, American Quarterly, 6 (1954), 147-163.
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proof from what slight causes the most disastrous and extensive effect may flow« (38). Das Zitat verdeutlicht den Glauben des Historiographen, eine »prima causa«, sogar noch als »memorable proof« für die Nachwelt, zu entdecken. Die Rekonstruktionsarbeit des Ich-Erzählers stellt hingegen die historiographische Zielsetzung in Frage. Der Ich-Erzähler Julius Malchus stellt sich selbst als Autorität mit der Aufgabe vor, »to draw up a Statement of the truth, from such information as I had already received, or should speedily obtain« (36). Der Hinweis auf eine schnelle Klärung ist letztlich nur ironisch zu verstehen, denn bereits bei seinem ersten Auftritt thematisiert Julius Malchus die Schwierigkeit, die Ereignisse zu rekonstruieren, die zur Ermordung Butherichs führten: [ . . . ] I waited, in anxious suspense, for information as to the nature and extent of the mischief. In my present situation nothing could reach me but a disjointed and mutilated tale. I heard outcries, and witnessed the commotion, but was wholly at a loss as to their cause or tendency. (31 f.)
I n den anschließenden Zeugenanhörungen gelingt es Malchus nicht, zum Kern der Wahrheit vorzudringen. Die Wahrheit w i r d nicht greifbar; sie bleibt unklar vermittelt und entzieht sich ihm in den unterschiedlichen Zeugenaussagen. Während der eine Zeuge einen Bericht der Ereignisse gibt, obwohl er lediglich »a stranger to the cause of the tumult« (32 f.) ist, erzählt ein weiterer Zeuge »a nearly similar tale« (33). I n seinem Bericht vor dem Senat kann Malchus freilich trotz der Zeugenaussagen nur bruchstückhafte Informationen wiedergeben, die ihm wahrscheinlich erscheinen. Dennoch bleibt die Intention des Ich-Erzählers auf die Erfassung der ganzen Wahrheit ausgerichtet: »I pointed out the necessity of ascertaining the genuine circumstances of the case, of detecting and punishing the criminals, and of appeasing the resentment of the sovereign and the troops« (34). Sein Scheitern, die Ereignisse als »statement of truth« zu rekonstruieren, w i r d allerdings u m so deutlicher, je mehr er versucht, seine ursprüngliche Intention einzulösen. M i t der Absicht, sich der »genuine circumstances« zu versichern, konterkariert der Ich-Erzähler jedoch die Zielsetzung des auktorialen Historiographen. Für den Historiographen steht die Schuldfrage eindeutig fest. Der Grund für die Ausschreitungen ist, so der Historiograph, i n der ungezügelten Leidenschaft des Mobs zu suchen. Julius Malchus findet hingegen bei seinen Recherchen die Hintergründe heraus, die zur Bestrafung und Entlassung des Eustace aus Butherichs Diensten geführt hatten. Malchus glaubt darin, das M o t i v zu erkennen, das Eustace veranlaßte, den tödlichen Stein gegen Butherich zu werfen. Der Ich-Erzähler sieht i n dem M o t i v eine entscheidende Wende i n der Schuldfrage, denn » [ . . . ] I t w o u l d transfer, i n some degree, the guilt of this sedition from the people to their o w n order [Botheric's troops]« (39). Die folgenden Recherchen und Zeugenvernehmungen des Ich-Erzählers lassen aber nicht mit Bestimmtheit sagen, ob das M o t i v des Eustace notwendig die Tat auslöste. 7*
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Seine Motivation bleibt nur unzureichend, das heißt lediglich »in some degree« erklärbar. A u c h Macros Motivation ist unklar. Malchus bleibt, u m das Verhalten Macros zu erklären, nur eine Annahme (»it seems«) einer geistigen Verwirrung (»confusion of intéllects«) wegen zu starken Alkoholkonsums: »It seems that when he came to the circus, he was intoxicated w i t h wine, and had mistaken one entrance for another« (37 f.). I m Weiteren führt die Erzählung zu den Vorgängen am Mailänder H o f des Theodosius, w o h i n zwei Boten mit unterschiedlichen Auslegungen der Ereignisse unterwegs sind. Die eine Deutung stammt aus dem Lager Butherichs. Walimer, sein Nachfolger, macht darin die Bevölkerung für Butherichs Tod verantwortlich. Er fordert eine drakonische Bestrafung der Bevölkerung. Die zweite Deutung stammt von Julius Malchus und enthält seine hinreichende Darstellung der Ereignisse. Malchus weiß allerdings nichts von der ersten Botschaft an den Kaiser, die zudem auch noch einige Tage früher abgesandt wurde. Nach dieser immer wieder die Perspektive des Malchus privilegierenden Phase i n »Thessalonica« dominiert i n der weiteren Erzählung die auktoriale Außenperspektive. Der Historiograph spielt bewußt mit der diskrepanten Vergabe von Information, u m durch den Wissensvorsprung gegenüber dem Ich-Erzähler seine diskursive Autorität zu etablieren. Der Historiograph beschreibt aus seiner faktographischen Kenntnis die Hofintrige des kaiserlichen Beraters Rufinus, der den Kaiser zum Massaker an der thessalischen Bevölkerung überredet. Er bemüht sich u m detailreiche Schilderungen, so z. B. i n der Skizzierung des »choleric temper« (48) des Kaisers. Der Historiograph ist allerdings nicht i n der Lage, die Situation in Thessaloniki zu erschließen, »[as] those at distance were left in uncertainty« (42). Sein Hinweis auf die »Distanz« zum eigentlichen Geschehen unterstreicht das kontradiktorische Verhältnis zwischen den narrativen Ebenen. Ebenso gibt der Historiograph seine Unsicherheit i m Umgang mit dem Erzählgegenstand zu erkennen. Die Schwierigkeit der Beweisführung, einen »memorable proof« zu finden, w i r d durch die Vorgänge in der Stadt selbst verstärkt. D o r t herrscht eine »ambiguous silence« und, wie der Historiograph anmerkt, »[ears] were open to nothing but rumours and conjectures [ . . . ] « (46). Die Unsicherheit und die Spekulationen werden außerdem durch die Botschaft des Kaisers verstärkt. Er verspricht vordergründig, die Stadt zu schonen und zu Zirkusspielen einzuladen: »The Senators [ . . . ] began to look upon this circumstance w i t h eyes of some suspicion. [ . . . ] The cause of the tumult and the punishment of its authors, were unknown at the time when Walimer dismissed his messengers« (48). Der Schluß der Erzählung w i r d aus der Perspektive des Ich-Erzählers vermittelt, der als Augenzeuge das Massaker an der thessalischen Bevölkerung miterlebt. Der Perspektivenwechsel von der Außen- zur Innenperspektive des
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Ich-Erzählers ist bewußt gewählt. Der Historiograph ist nur i n der Lage, ein oberflächliches Stimmungsbild der Zweifel i n Julius Malchus wiederzugeben: »These opposite considerations were anxiously revolved by the prefect. H e was unable to divest his mind w h o l l y of inquietude and doubt. [ . . . ] O n the preceding night, Malchus had imparted his doubts and apprehensions to some of the senators« (48 - 49). I m nachfolgenden Absatz w i r d in die Ich-Perspektive übergeblendet: » M y mind was actuated by inexplicable fears« (49). Brown intensiviert mit Hilfe der Schilderung der Ereignisse aus der Innenperspektive die Dramatik des Schlußteils. Das Blutbad i m Zirkus w i r d aus der Erlebnisperspektive Malchus' wahrgenommen. Brown spielt hier sicherlich mit den narrativen Konventionen der »gothic tale«, u m einen dramatischen Schlußakzent zu erzeugen. 9 Allerdings verkürzt eine derartige Sichtweise die Bedeutung des Schlußmonologs des Ich-Erzählers. O b w o h l Malchus Augenzeuge ist, gibt er die Unmöglichkeit einer authentischen Darstellung zu erkennen. Die auf dem Augenzeugenbericht beruhende Darstellung des Historiographen erscheint somit fraglich. Der Schlußmonolog des Ich-Erzählers stellt das historische Exemplum und die daran geknüpfte Authentizität i n Frage: To expatiate on the scene that followed, and which did not terminate till midnight; to count up the victims, to describe the various circumstances of their death, is a task to which I am unequal. Language sinks under the enormity and complication of these ills. I was witness and partaker; the images exist in my imagination as vividly as when they were presented to my senses; my blood is still chilled, my dreams are still agonized by dire remembrance; but my eloquence ist too feeble to impart to others the conceptions of my own mind. [ . . . ] and the phantoms of the past have disappeared in the confusion of insanity. (51)
Die Unmöglichkeit der historischen Rekonstruktion w i r d i m perspektivischen Spannungsverhältnis der anschließenden Schlußsätze deutlich. Sie unterstreichen das kontradiktorisch-disputative Verhältnis zwischen der Innenperspektive Julius Malchus' und der Außenperspektive des Historiographen. Malchus scheitert i n dem Versuch, »to deliver to you, and to posterity, a faithful narrative«. Der Historiograph bietet i m Gegensatz dazu eine Globallösung i m Sinne einer zyklischen Geschichtsauffassung an: »The horrors of this scene are only portions of the evil that has overspread the Roman world, [ . . . ] , and which w i l l end only in the destruction of the empire, and the return of the human species to their original barbarity« (52). Die Bemühungen des Ich-Erzählers unterlaufen jedoch die totalisierenden Erklärungen des Historiographen. 1 0 9 Harry Warfei verortet die Erzählung Browns in der »gothic tradition« mit der Begründung, »Brown chose horror materials implicit in actual historical material«; vgl. Charles Brockden Brown: American Gothic Novelist (Gainesville 1949), 176. 10
Gegenüber dieser Deutung könnte eingewendet werden, daß gerade dieser auktoriale Schlußkommentar, der die Ereignisse in einen zyklischen Verlauf vom Aufstieg und Fall
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Der gescheiterte Rekonstruktionsversuch einer »faithful narrative« stellt das historiographische Projekt des auktorialen Erzählers i n Frage. Letztlich beruhen die Rekonstruktionen des Ich-Erzählers auf einer kontingenten Informationsmasse, die der Historiograph seinerseits als Quellentexte liest. »Thessalonica« erzeugt aufgrund der perspektivischen Wechsel diskursive Unsicherheit. Die perspektivischen Wechsel führen zugleich zu einer Überlagerung von Historiographie und Fiktion. Die Doppelperspektive erschüttert zunächst den Authentizitätsanspruch der Historiographie. Ebenso werden die funktionalen Abgrenzungen zwischen Historiographie und Fiktion problematisiert. I m folgenden soll gezeigt werden, welche erzähltheoretischen Ideen Brown i n »Thessalonica« realisiert. Schließlich soll in einem weiteren Schritt herausgearbeitet werden, welche Zielsetzung Brown mit der narrativen Strategie der Doppelperspektive verfolgt. *
Browns erzähltheoretischer Essay »The Différence between History and Romance« erschien 1800 i m Monthly Magazin. O b w o h l der Essay ein Jahr später als »Thessalonica« veröffentlicht wurde, ist die historische Erzählung als ein narrativer Vorgriff auf die nachfolgenden erzähltheoretischen Überlegungen des Essays zu werten. I n Erzählung und Essay geht es u m die Problematik der Rekonstruktion vergangener Ereignisse sowie u m die Frage nach der Wahrscheinlichkeit der Annäherung an die Wahrheit über die geleistete Rekonstruktionsarbeit. Der Historiograph i n »Thessalonica« fordert nach einem »mémorable proof«, u m belegen zu können, »from what slight causes the most disastrous and extensive effects may flow«. B r o w n entwertet die monokausale Zielsetzung des Historiographen mit der Feststellung i n seinem Essay, »the most simple and brief [action] is capable of being analized into a thousand subdivisions« (85). Der Hinweis Browns deutet zum einen auf die Fragmentarisierung und Unabschließbarkeit der Rekonstruktionsversuche des Ich-Erzählers. Z u m anderen unterläuft Brown mit der kontradiktorischen Strategie der Doppelperspektive i n der Erzählung sowie der antithetischen Argumentation des Essays der Reiche einordnet, der offiziellen Funktionszuschreibung der Historiographie folgt, die unter anderem forderte: »to observe the progression of mankind from simplicity to luxury, from luxury to effeminacy, and the gradual steps in the decline of empire and the dissolution of states and kingdoms, must blend that happy union of instruction and entertainment, which never fails to win our attention to the pursuit of all subjects« (William H i l l Brown, The Power of Sympathy I (1789; repr. N e w York 1937), 59. Es wäre jedoch voreilig, aufgrund dieses auktorialen Schlußkommentars zu folgern, Brown ordne sich letztlich nur den konventionellen Gattungszuschreibungen ein. I m Gegensatz dazu soll hier noch einmal betont werden, daß erst die kontradiktorische Doppelperspektive der historischen Erzählung die Notwendigkeit einer Revision der Funktionszuschreibungen von Historiographie und Fiktion eröffnet.
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d e n d o m i n a n t e n A u t h e n t i z i t ä t s a n s p r u c h der H i s t o r i o g r a p h i e des 18. J a h r h u n derts. M i t der D a r s t e l l u n g der U n m ö g l i c h k e i t d e r a u t h e n t i s c h e n R e k o n s t r u k t i o n signalisiert B r o w n die F i k t i o n a l i t ä t j e d e r h i s t o r i s c h e n R e k o n s t r u k t i o n . F ü r B r o w n w i r d die h i s t o r i s c h e R e k o n s t r u k t i o n z u r f i k t i v e n K o n s t r u k t i o n . B r o w n überlagert
Historiographie
u n d F i k t i o n , i n d e m er die
fiktionsnegierenden
A s p e k t e d e r H i s t o r i o g r a p h i e z u n ä c h s t p r o b l e m a t i s i e r t , u m sie anschließend f i k tionsaffirmierend aufzuwerten. 11 B r o w n u n t e r n i m m t i n s e i n e m Essay s o w i e i n d e r h i s t o r i s c h e n E r z ä h l u n g d e n V e r s u c h , N a r r a t i v i t ä t s o w o h l d e r H i s t o r i o g r a p h i e als a u c h d e r F i k t i o n z u z u schreiben: Narratives, whether fictitious or true, may relate to the processes of nature, or the actions of men. The former, if not impenetrable by human faculties, must be acknowledged to be, hitherto, very imperfectly known. Curiosity is not satisfied with viewing facts in their disconnected state and natural order, but is prone to arrange them anew, and to deviate from present and sensible objects, into speculations on the past or future; it is eager to infer from the present state of things, their former or future condition. (83) B r o w n widerspricht m i t der A n n a h m e narrativer Gemeinsamkeiten
zwi-
schen H i s t o r i o g r a p h i e u n d F i k t i o n d e r a l l g e m e i n e n Ü b e r z e u g u n g , daß bereits i n d e r V e r g a n g e n h e i t e i n inhärentes O r d n u n g s p r i n z i p v o r h e r r s c h t , das v o m H i s t o r i k e r n u r n o c h i n seiner » n a t ü r l i c h e n O r d n u n g « dargestellt w e r d e n m u ß . B r o w n b e t o n t dagegen die U n a b s c h l i e ß b a r k e i t u n d O f f e n h e i t i n d e r h i s t o r i schen D a r s t e l l u n g s o w i e i h r e F i k t i o n a l i t ä t . D e r stets gegenwärtige B l i c k auf die V e r g a n g e n h e i t erzeugt f ü r B r o w n i m m e r n u r neue M ö g l i c h k e i t e n d e r S e l e k t i o n u n d K o m b i n a t i o n aus d e r V i e l z a h l vergangener D a t e n . D i e daraus entstehend e n » h i s t o r i s c h e n A r r a n g e m e n t s « e n t h a l t e n ihrerseits je neue R e p r ä s e n t a t i o n e n
11 Browns funktionale Unterscheidung zwischen Historiographie und Fiktion ist nachhaltig von David Humes skeptischer Philosophie beeinflußt, in der sich Fiktionskritik und Fiktionsaffirmation überschneiden; siehe Bernd Engler, Fiktion und Wirklichkeit: Zur narrativen Vermittlung erkenntnisskeptischer Positionen hei Hawthorne und Melville (Berlin 1991), bes. 61-64. Bei Hume werden alle Verknüpfungen von »causes and effects« zu »fictions of the imagination«, A Treatise of Human Nature (1739-40), hg. L. A. Selby-Bigge (Oxford 1978), 82-86, bes. dort 85. Der Fiktion wird bei Hume ein Erkenntniswert zugeschrieben, der aus der Aufwertung der Fiktion zu einer »kritischen Instanz« besteht, die die Geltung von traditionellen Erkenntnispostulaten abbaut. Statt Fiktion zu kritisieren, wie dies noch bei John Locke geschieht, wird bei Hume die Fiktion zu einem Instrument der Kritik. Hume macht sich die in der »Tradition befestigte negative Einschätzung« der Fiktion für die fiktionalen Gesetzmäßigkeiten der Erkenntnis zunutze. I n diesem Zusammenhang spricht Iser von einem Wandel der »Bewußtseinsbeziehung« und »Bewußtseinseinstellung« gegenüber der Fiktion am Ende des 18. Jahrhunderts. So erhält die »imagination of man« bei Hume die wichtige Funktionszuschreibung, das Authentizitätspostulat der Historiographie zu problematisieren und ihr kontingentes Wesen hervorzutreiben; vgl. Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre: Perspektiven literarischer Anthropologie (Frankfurt 1993), 194 f.
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und Interpretationen des ausgewählten Materials. B r o w n erschüttert schließlich die angebliche Faktentreue des Historikers mit dem Hinweis auf die Einstellung des Historikers gegenüber seinem Untersuchungsgegenstand. Die Neugierde des Historikers ist nicht erst ein Effekt der Hinwendung auf den Gegenstand, sondern der neugierigen Hinwendung geht bereits eine Selektion voraus, die ihrerseits schon bestimmte Kombinationen annimmt. B r o w n unterstreicht nicht nur die Intentionalität und Subjektivität historischer Rekonstruktionen, sondern er hebt ebenso die Fiktionalität historischer Diskurse hervor. 1 2 I n einem weiteren Schritt versucht Brown, die Unterschiede zwischen dem »historian« und dem »romancer« herauszuarbeiten. B r o w n bezeichnet den H i storiker als Beobachter, »[who but] faithfully enumerates the appearances which occur« (83). Der »romancer« gibt sich hingegen mit der bloßen Aufzählung nicht zufrieden. Seine Aufgabe liegt darin, die Ereignisse durch Ursacheund Wirkungszusammenhänge zu verketten, u m ihnen damit ein höheres Maß an Wahrscheinlichkeit zu verleihen: »He who adorns these appearances w i t h cause and effect, and traces resemblances between the past, distant and future, w i t h the present, performs a different part. H e is a dealer, not i n certainties, but probabilities, and is therefore a romancer« (83). Das Zitat verweist zurück auf das perspektivische Spannungsverhältnis zwischen der auktorialen Sicht des Historiographen und der fiktiven Ich-Perspektive i n »Thessalonica«. Während der Historiograph nach »certainties« sucht, u m einen »memorable proof« zu entdecken, der die Ereignisse in der Stadt erklärt, bleibt Julius Malchus ein »dealer i n probabilities«. Einen Schwerpunkt i m Essay und i n der historischen Erzählung besitzt dabei die Motivationsanalyse. I n der Darstellung der Motivationsanalyse reflektiert Brown Aspekte der Humeschen Erkenntnisphilosophie sowie die damit verbundene Idee der Kausalität und der Wahrscheinlichkeit. 13 Eine zentrale Idee bei Hume ist die Kausalität, das heißt die Beziehung von Ursache und Wirkung zwischen den D i n gen. Für Hume gibt es nur wenige, allgemeine Ursachen, die unsere Erkenntnis
12 Brown ist zwar weit davon entfernt, eine tropologische Theorie aus seinen Überlegungen zur Historiographie abzuleiten, wie dies dann Hayden White unternimmt, er stellt jedoch schon 1799/1800 eine grundlegende Frage, die White später zum Ausgangspunkt seiner Arbeit machen sollte. White fordert, »[that a] theory of historical discourse must address the question of the function of narrativity in the production of the historical text«, »Figuring the Nature of the Times Deceased: Literary Theory and Historical Writing«, The Future of Literary Theory, hg. R. Cohen (New York/London 1989), 19-43, bes. 25. Das »troping« ist ein System narrativer Relationierung, das aus vier Tropen besteht, wobei eine dominant gesetzt ist. Die vier Tropen sind die Metapher, die Synekdoche, die Metonymie und die Ironie, vgl. Northrop Frye, Anatomy of Criticism: Four Essays (1957; repr. Harmondsworth 1990). 13
Vgl. Hume, Treatise , 75.
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und damit unsere Erfahrungsregeln steuern. Die übrigen Beziehungen zwischen den Dingen beruhen auf Erkenntnissen, die uns aufgrund unserer Erfahrung wahrscheinlich erscheinen. Damit können w i r aber immer nur sagen, daß uns eine Verknüpfung von Ursache und Wirkung wahrscheinlicher erscheint als eine andere. Hume legt i n seiner Darstellung der Fragwürdigkeit der gängigen Kausalitätskonzepte letztlich die Kontingenz allen Seins offen und folgert, daß w i r die letzten Gründe der Dinge nicht enthüllen können. Brown macht die Überlegung Humes zum Ausgangspunkt seiner Motivationsanalyse, wenn er schreibt: Curiosity is not content with nothing and recording the actions of men. It likewise seeks to know the motives by which the agent is impelled to the performance of these actions; but motives are modifications of thought which cannot be subjected to the senses. They cannot certainly be known. They are merely topics of conjecture. Conjecture is the weighing of probabilities; the classification of probable events, according to the measures of probability possessed by each. (84)
Brown macht deutlich, daß die Wahrscheinlichkeit einer Ursache und ihrer Wirkung vom Erfahrungshorizont des Einzelnen abhängt. Für B r o w n ist in Anlehnung an H u m e die Ursache-Wirk-Relation nicht das Ergebnis der Sinneswahrnehmung äußerer Objekte, sondern ein mentales Konstrukt, das nur aufgrund von Abwägungen (»conjectures«) wahrscheinlicher erscheint als andere. A n dieser Stelle dividiert B r o w n nicht so sehr die Funktion des Historikers und des »romancers« auseinander, sondern er betont vielmehr die grundsätzlichen, narrativen Gemeinsamkeiten i n der Historiographie und der Fiktion. B r o w n ironisiert die Dichotomie zwischen beiden Gattungen, wenn er behauptet, »[that] the wise and the ignorant, the sagacious and stupid, when busy i n assigning motives to actions, are not historians but romancers« (84). Brown erschüttert den Authentizitätsanspruch der Historiographie, nicht nur weil er ihre Quellennähe und Faktentreue hinterfragt, sondern gerade auch weil er die Differenz als Gemeinsamkeit herausarbeitet. Brown unterläuft zunächst die Funktionszuschreibung der Historiographie als »authentic history« mit Hilfe der Fiktion. I n einem weiteren Schritt versucht er, das Erkenntnispotential der Fiktion gegenüber der Historiographie aufzuwerten, da sich die Fiktion - ganz i m Gegensatz zur Historiographie - zu ihrer Fiktionalität als einem »weighing of probabilities« bekennt. Der Aspekt der Fiktionalität, der bereits i n der Überlieferungskette und der damit verbundenden »historischen Rekonstruktion« entsteht, bilden den Schlußpunkt i n Browns Essay: That which is done beneath my own inspection, it is possible for me certainly to know and exactly to record; but that which is performed at a distance, either in time of place, is the theme of foreign testimony. If it be related by me, I relate not what I have witnessed, but what I derived from others who were witnesses. The subject of my senses is merely the existence of the record, and not the deed itself which is recorded. (85)
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Das »but« i m Zitat ist entscheidend; es verweist auf die Funktion in der kontradiktorischen Doppelperspektive i n »Thessalonica« zurück. Browns Feststellung des konstanten Entzugs von Wahrheit durch eine Kette von Zeugnissen spielt auf Humes Skeptizismus gegenüber der Historiographie an. Browns These, »[that] the subject of m y senses is merely the existence of the record« erinnert an Humes nüchterne Feststellung: » [ . . . ] Before the knowledge of the fact cou'd [sic] come to the first historian, it must be convey'd thro' many mouths«. 1 4 Ferner verweist Browns Zitat auf die Problematik des Ich-Erzählers i n »Thessalonica«. O b w o h l Malchus bemüht ist, eine »faithful narrative« zu rekonstruieren, entzieht sich ihm die Wahrheit mit jeder Zeugenanhörung mehr und mehr. Das Scheitern Julius Malchus, ein »statement of truth« der Nachwelt zu überliefern, demonstriert die These Browns, die zugleich auch den funktionalen Unterschied zwischen Geschichte und Fiktion für B r o w n markiert: »The truth of the action can be weighed i n no scales but those of probability« (85). I m Gegensatz zur wahrscheinlichen Annäherung an die Wahrheit auf der Ebene des Ich-Erzählers steht i n »Thessalonica« die faktographische Darstellung der Ereignisse aus der Sicht des Historiographer B r o w n kennzeichnet nachträglich dessen Bemühungen am Schluß seines Essays: If history relates what is true, its relations must be limited to what is known by the testimony of our senses. Its sphere, therefore, is extremely narrow. The facts to which we are immediate witnesses, are, indeed, numerous; but time and place merely connect them. (85)
Brown hebt an dieser Stelle die Beschränktheit der Historiographie hervor, die sich aufgrund einer raum-zeitlichen und linearen Strukturierung entweder auf die »description of human actions« (84) beschränkt oder sich mit der blossen Aufzählung von Ereignissen begnügt. Brown wertet demgegenüber die Fiktion als »useful narrative« (85) auf, indem er betont: »[that] useful narratives must comprise facts linked together by some other circumstance«. Sein H i n weis auf »some other circumstance« schreibt der Fiktion ganz i m Gegensatz zur Historiographie eine Annäherung an die Wahrheit z u . 1 5 Der Prozeß der Annäherung an die Wahrheit i n der Fiktion bleibt allerdings offen und unbestimmt: »They [useful narratives] must, commonly, consist of events, for a
14 15
Hume, Treatise , 145.
Bereits in seinem Essay »Walstein's School of History« (1799) formuliert Brown in Anlehnung an Hume die zentrale These seiner funktionalen Unterscheidung zwischen H i storiographie und Fiktion: »Actions and motives cannot be truly described. We can only make approaches to truth«; Weber, Literary Essays , 31-39, hier 33; vgl. dazu Ian Ross, »Philosophy and Fiction: The Challenge of David Hume«, Hume and the Enlightenment , hg. W. B. Todd (Edinburgh 1974), 60-71, hier 66.
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knowledge of which the narrator is indebted to the evidence of others. This evidence, though accompanied w i t h different degrees of probability, can never give birth to certainty« (85). Der Nebensatz enthält das Thema der historischen Erzählung »Thessalonica«. B r o w n entfaltet die Erzählung als Exemplum der Unmöglichkeit historischer Rekonstruktion. Die aus der Doppelperspektive erzählte Geschichte erzeugt diskursive Unsicherheit beim Leser. Der fiktive Binnenerzähler scheitert i n seinen Bemühungen, eine »faithful narrative« zu überliefern. Letztlich bleibt seine Erzählung eine »disjointed and mutilated tale«. I m Gegensatz dazu relativiert der Historiograph nicht nur selbst die eigene deskriptiv-empirische Faktographie: »Those at distance were left i n uncertainties [ . . . ] « (42). Er kritisiert auch offen die Bemühungen des Ich-Erzählers Julius Malchus, dem er eine »powerless inactivity« (39) vorwirft. Die diskursive Spannung der Doppelperspektive erreicht ihren Höhepunkt i n den beiden Schlußsätzen der historischen Erzählung: The period of forgetfulness, or of tranquil existence in another scene, is hastening to console me. Meanwhile, my task shall be, to deliver to you, and to posterity, a faithful narrative. The horrors of this scene are only portions of the evil that has overspread the Roman world, which has been inflicted by the cavalry of Scythia, and which will end only in the destruction of the empire, and the return of the human species to their original barbarity. (51 f.)
Der Augenzeuge und Ich-Erzähler verzichtet auf eine Wertung der Ereignisse. Er thematisiert häufig die Subjektivität und die Wahrscheinlichkeit seiner Rekonstruktion. Letztlich gibt er sein Scheitern preis, »my eloquence is too feeble to impart others the conceptions of m y mind« (51), und er widerspricht somit selbst seiner eigenen Intention, »to deliver [ . . . ] a faithful narrative«. Der Historiograph versucht hingegen, die Erzählung i n einem synekdochischen »emplotment« 1 6 zu verorten, indem er die Vorgänge in der Stadt exemplarisch einem zyklischen Verlauf von Aufstieg und Fall der großen Imperien (»A Roman Story«) zuordnet. Der globalen Verortung widerspricht jedoch die diskursive Unsicherheit der auktorialen Erzählebene. Der Historiograph urteilt nicht nur aus zeitlicher Distanz zum Geschehen, sondern sein Urteil beruht auf einer Kette von Uberlieferungen, über die Hume zu bedenken gibt, »[that] after it is committed to writing, each new copy is a new object, of which the connexion w i t h the foregoing is k n o w n only by experience and observation«. 17
16
Das »emplotment« entsteht aus der narrativen Relationierung (vgl. »troping«) zeitlich und räumlich isolierter historischer Ereignisse, das heißt seine Operatoren sind Selektion und Kombination im Sinne einer »constructive imagination« (Collingwood); vgl. Hayden White, »Historical Text as Literary Artifact«, Tropics of Discourse: Essays in Cultural Criticism , hg. ders. (Baltimore / London 1978), 81-100; bes. 92. 17
Hume, Treatise , 145.
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Die Überlagerung der unterschiedlichen Erzählebenen entfaltet schließlich mit Hilfe der narrativen Strategie der Doppelperspektive eine kontradiktorisch-disputative Neuverhandlung der funktionalen Abgrenzung zwischen H i storiographie und Fiktion. B r o w n beabsichtigte, gegenüber dem dominanten Authentizitätsanspruch und der daraus abgeleiteten Utilität der Historiographie diskursive Unsicherheit beim Leser zu erzeugen, u m somit die Hierarchie gattungswertender Zuschreibungen sowie der damit verbundenen funktionalen Abgrenzungen für Neuverhandlungen zu öffnen. Der kontradiktorisch-disputative Aspekt der Neuverhandlung in »Thessalonica« soll i n der anschließenden Kontextualisierung der Erzählung zu anderen literarischen Texten der 1790er Jahre und den dort angelegten narrativen Strategien deutlich werden.
Allgemein ist festzustellen, daß die Historiographie aufgrund der ihr zugesprochenen Authentizität eine dominante Position i m literarischen System des 18. Jahrhunderts innehatte. Die Gründe hierfür sind einerseits i n den religiösmoralischen Funktionszuschreibungen puritanischer Autoren zu suchen, die vor der Fiktion sowie ihren Auswirkungen auf die Imagination warnten und die daher die Historiographie gerade wegen der typologischen Exemplarität höher werteten. 1 8 Andererseits sind fiktionsnegierende Einflüsse der Common-Sense-Philosophie zuzuschreiben, die i n der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zur Leitphilosophie i n Amerika wurde. 1 9 James Beattie, dessen Werke in Amerika seit 1790 zunehmend gelesen wurden, warnte so zum Beispiel 1783 i n seinem Essay »On Fables and Romances«: Romances are a dangerous recreation. A few, no doubt, of the best may be friendly to good taste and good morals; but far the greater part are unskillfully written and tend to corrupt the heart, and stimulate the passions. A habit of reading them breeds a dislike to history, and all the substantial parts of knowledge; withdraws the attention from nature, and truth; and fills the mind with extravagant thoughts, and too often with criminal propensities. I would caution my young reader against them. 2 0
Die Utilität der Historiographie beruhte auf ihrer didaktischen, moralischen und charakterbildenden Funktion für die Gesellschaft und ihre junge Leser-
18 Vgl. Bercovitch, 62, zitiert Nicholas Noyés' typologische Kennzeichnung der Historiographie als »Prophecie is Historie antedated and Historie is Postdated Prophecie« aus dessen New Englands Duty (Boston 1698), um eine der wesentlichen Funktionszuschreibungen der puritanischen Historiographie hervorzuheben. 19 Terence Martin, The Instructed Vision: Scottish Common Sense Philosophy and the Origins of American Fiction (Bloomington 1961), 3-56, bes. 74 f. 20 James Beattie, »On Fable and Romance«, Dissertations repr. N e w York 1974), 573-574.
Moral and Critical
(1783;
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schaft. Vor allem die nach gesellschaftlicher Ordnung strebenden Föderalisten zogen immer wieder Beispiele der antiken Geschichte heran, u m diese entweder für exhortative oder exemplarische Zwecke zu nutzen. I m Gegensatz zur politischen Instrumentalisierung der Geschichte als historischem Exemplum gibt es jedoch i n der Literatur der Early Republic auch zahlreiche Kommentare zur funktionalen Abgrenzung zwischen Historiographie und Fiktion. Ein Grund dafür ist einerseits darin zu suchen, daß sich die Fiktion als solche nicht zu erkennen geben durfte, da sie sonst ihre Berechtigung innerhalb des utilitaristisch orientierten Gattungssystems selbst i n Frage gestellt hätte. Fiktionale Texte thematisieren deshalb häufig ihre Authentizität, u m als »authentic history« anerkannt zu werden. Andererseits gibt es zahlreiche didaktische Texte, die i m Gegenzug gegen die allmähliche Verwischung der Gattungsgrenzen deutlicher zwischen Fiktion und Historiographie differenzieren und einzig der letzteren Utilität zuschreiben. Stellvertretend für diese funktionale Abgrenzung von Historiographie gegenüber Fiktion am Ende des 18. Jahrhunderts kann der Kommentar der essayistischen Erzählerin i n Judith Sargent Murrays The Gleaner (1798) stehen, einer Sammlung unterschiedlicher didaktischer Essays i n Briefform. The time we devote to the reading of history, or to the perusal of the lives of eminent persons, who have really acted a part upon this globe , is indeed well spent. It puts us in possession of a fund of knowledge; for a narration of facts is decidedly\
information;
while the pages of the novelist can, at best, bestow only the lighter or more trivial embellishments; they originate in fiction, and the pleasures in their gift are as evanescent as the passing breeze; they may amuse for the moment, but they constitute no valuable part of erudition.
21
Durch die Hervorhebungen i m Text werden bereits die Funktionen der H i storiographie deutlich. Geschichte ist exemplarisch, weil sie unter anderem Personen i n den Vordergrund stellt, die, wie die Erzählerin betont, »really acted upon this globe«. Aufgrund der daraus abgeleiteten Authentizität entsteht eine Faktenerzählung mit Informations- und Lernwert für den Leser. Die Historiographie legitimiert sich schließlich damit, »[a] valuable part of erudition« zu sein. Die hier noch unhinterfragt geltende Funktionalisierung der Historiographie als »authentic history« w i r d jedoch von B r o w n in seiner historischen Erzählung »Thessalonica« sowie in seinem Essay »The Difference between History and Romance« problematisiert. Für Brown bleibt die Arbeit des Historikers reine »description«, gerade weil der Historiker bemüht ist, eine »narration of facts« zu gestalten. I n seinem Essay bemüht B r o w n eine eindrückliche Metapher, u m die unterschiedliche Aussagefunktion zwischen Historiographie und Fiktion zu beschreiben: 21
Judith Sargent Murray, The Gleaner: A Miscellaneous Production nectady, N Y 1992), 365; Hervorh. im Text.
(1798; repr. Sche-
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The merit of him who drags stones together, must not be depreciated; but must not be compared with him who hews stones into just proportions, and piles them up into convenient and magnificent fabrics. (85)
Auch in diesem Zitat ist das »but« entscheidend; es deutet auf die Fiktionsaffirmation bei Brown. Das »empire of romance« ist für B r o w n tatsächlich »absolute and undivided over the motives and tendencies of human actions« (85). Insofern die Fiktion auch Aussagen über die »motives of human actions« zuläßt, bietet sie dem Leser durchaus eine Darstellung der Ereignisse, die wahrscheinlicher erscheint, die aber damit dennoch nicht notgedrungen wahrer ist. I n »Thessalonica« w i r d der Prozeß der bloßen Annäherung an die Wahrheit durch den Ich-Erzähler problematisiert. Der Ich-Erzähler erschüttert die Glaubwürdigkeit des Historiographen und hinterfragt die funktionale Abgrenzung zwischen Historiographie und Fiktion. Brown durchbricht i n »Thessalonica« die i n der zeitgenössischen Literatur gängige Vorstellung von der Historiographie als einer »happy union of instruction and entertainment« 22 durch die narrative Strategie einer doppelten und darüber hinaus kontradiktorischen Perspektivierung. Die beiden konkurrierenden Erzählinstanzen erzeugen eine diskursive Unsicherheit, die zwangsläufig zu einer Entgrenzung der Historiographie hin zur Fiktion führt. Letztlich benutzt Brown das historische Exemplum nur als Vehikel für weitergehende erzähltheoretische Reflexionen. Brown wählt die historische Überlieferung der Ereignisse durch einen Historiographen als Ausgangspunkt für seine Erzählung, weil er daran exemplarisch narrative Strategien i n der traditionellen Historiographie offenlegen kann, u m sie zugleich mit Hilfe des fiktiven Ich-Erzählers als fragwürdig zu charakterisieren. Das eigentliche Exemplum w i r d letztlich zum Exemplum der Unmöglichkeit einer »narration of facts«. I n der historischen Erzählung w i r d somit der zeitgenössische Anspruch der historiographischen Authentizität erschüttert und die Fiktionalität der Historiographie betont.
22
Vgl. William H i l l Brown, The Power of Sympathy , 59.
Politisches Denken der deutschen Spätromantik V o n Hans-Christof
Kraus
I. D i e p o l i t i s c h e I d e e n w e l t d e r d e u t s c h e n R o m a n t i k i m a l l g e m e i n e n u n d das p o l i t i s c h e D e n k e n d e r s p ä t r o m a n t i s c h e n A u t o r e n i m b e s o n d e r e n erfreut sich seit e t w a e i n e i n h a l b J a h r h u n d e r t e n n i c h t gerade einer ausgesprochen f r e u n d l i c h e n o d e r a u c h n u r v e r s t ä n d n i s v o l l e n B e u r t e i l u n g . I m G e g e n t e i l : I n der n e g a t i v e n B e w e r t u n g d e r p o l i t i s c h e n R o m a n t i k w a r e n u n d s i n d sich, bis auf w e n i g e , w e n n g l e i c h g e w i c h t i g e , A u s n a h m e n , seit j e h e r - u n t e r d e n Z e i t g e n o s s e n w i e unter den Nachgeborenen - die Vertreter der meisten politischen u n d weltans c h a u l i c h e n R i c h t u n g e n einig. V o n H e i n r i c h H e i n e u n d d e n J u n g h e g e l i a n e r n ü b e r G e o r g Brandes bis h i n z u G e o r g L u k ä c s v e r u r t e i l t e n A u t o r e n der p o l i t i s c h e n L i n k e n die r o m a n t i s c h e Wirklichkeitsfremdheit, den vermeintlichen oder w i r k l i c h e n »Irrationalismus«, die V e r k l ä r u n g des feudalistischen M i t t e l a l t e r s u n d das religiöse, auf R e h a b i l i t i e r u n g der R e c h t e d e r K i r c h e n abzielende W e l t b i l d . 1 A l s V e r t r e t e r d e r p o l i t i schen R e c h t e n b e k ä m p f t e n C h a r l e s M a u r r a s i n F r a n k r e i c h 2 u n d C a r l S c h m i t t 1 Heinrich Heine, Die romantische Schule (1835), in: derselbe, Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke , hrsg. v. Manfred Windfuhr, Bd. V I I I / I (Hamburg 1979), S. 121249; Theodor Echtermeyer / Arnold Rüge, Der Protestantismus und die Romantik . Zur Verständigung über die Zeit und ihre Gegensätze. Ein Manifest (1839/40), neu hrsg. v. Norbert Oellers (Hildesheim 1972); Georg Brandes, Hauptströmungen der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts , Bd. I (Berlin 1924), S. 171-420 (»Die romantische Schule in Deutschland«); Georg Lukäcs, Skizze einer Geschichte der neueren deutschen Literatur (Berlin-Ost 1955), S. 43-57. I n diesen Zusammenhang gehört auch die Romantikkritik von Herrmann Hettner, Die romantische Schule in ihrem inneren Zusammenhange mit Goethe und Schiller (Braunschweig 1850). 2 Charles Maurras, Romantisme et Révolution (Paris 1922); derselbe, Dictionnaire politique et critique. Établi par les soins de Pierre Chardon , Bd. V (Paris 1933), S. 120 ff.; siehe dazu auch Hugo Friedrich, Das antiromantische Denken im modernen Frankreich. Sein System und seine Herkunft (München 1935); Fritz Schalk, »Das antiromantische Denken im modernen Frankreich«, Historische Zeitschrift , 156 (1937), S. 24-39; Franz-Walter Müller, »Deutsche und französische Romantik«, in: Die deutsche Romantik im französischen Deutschlandbild. Fragen und Fragwürdigkeiten , Schriftenreihe des Internationalen Schulbuchinstituts, Bd. 2 (Braunschweig 1957), S. 91-111.
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i n D e u t s c h l a n d die R o m a n t i k als eine I d e o l o g i e d e r Z e r s e t z u n g klassischer F o r m e n u n d klassischen M a ß e s , als a n a r c h i s c h - a u f l ö s e n d e n Ä s t h e t i z i s m u s , als u n ernsten, das Spiel m i t b e l i e b i g e n F o r m e n u n d I n h a l t e n b e t r e i b e n d e n » O c c a s i o nalismus«.3 Liberale A u t o r e n w i e d e r u m , w i e etwa Benedetto Croce oder der a m e r i k a n i s c h e H i s t o r i k e r G o r d o n C r a i g , k r i t i s i e r t e n die R o m a n t i k als » s i t t l i c h e K r a n k h e i t « , als U n f ä h i g k e i t , a n die Segnungen des l i b e r a l e n F o r t s c h r i t t s g l a u b e n z u k ö n n e n o d e r als N e i g u n g z u r »Todesbesessenheit« m i t a p o k a l y p t i s c h e n Z ü g e n . 4 N o c h J o a c h i m Fest m e i n t e , d e n B e g r i f f » R o m a n t i z i s m u s « s c h l i c h t w e g als S y n o n y m f ü r p o l i t i s c h e V e r b l e n d u n g , f ü r R e a l i t ä t s v e r n e i n u n g u n d W i r k l i c h keitsblindheit gebrauchen z u k ö n n e n . 5 D a g e g e n h a t das p o l i t i s c h e D e n k e n d e r d e u t s c h e n R o m a n t i k e r n u r v e r gleichsweise w e n i g e F r e u n d e o d e r a u c h n u r f r e u n d l i c h e B e u r t e i l e r gefunden. E r i n n e r t sei h i e r n u r a n R i c a r d a H u c h , die m i t i h r e r zuerst 1899 u n d 1902 i n z w e i B ä n d e n v e r ö f f e n t l i c h t e n G e s a m t d a r s t e l l u n g der r o m a n t i s c h e n B e w e g u n g das bis heute w o h l bedeutendste, g r ü n d l i c h s t e u n d gedankenreichste W e r k ü b e r die deutsche R o m a n t i k verfaßt h a t ; 6 e r i n n e r t sei a u c h a n G e o r g v o n B e l o w , O s k a r W a l z e l u n d P a u l K l u c k h o h n , die s i c h i n d e n 1920er J a h r e n i n einer R e i h e w i c h t i g e r w i s s e n s c h a f t l i c h e r P u b l i k a t i o n e n u m eine umfassende
Rehabilitie-
r u n g d e r R o m a n t i k b e m ü h t e n . 7 W i c h t i g f ü r eine N e u r e z e p t i o n des r o m a n t i 3
Carl Schmitt, Politische Romantik, 4. Aufl, (Berlin 1984), S. 24: »Die Romantik ist subjektivierter Occasionalismus, weil ihr eine occasionelle Beziehung zur Welt wesentlich ist, statt Gottes aber nunmehr das romantische Subjekt die zentrale Stelle einnimmt und aus der Welt und allem, was in ihr geschieht, einen bloßen Anlaß macht«; ebenda, S. 172 f.: »Das ist also der Kern aller politischen Romantik: der Staat ist ein Kunstwerk, der Staat der historisch-politischen Wirklichkeit ist occasio zu der das Kunstwerk produzierenden schöpferischen Leistung des romantischen Subjekts, Anlaß zur Poesie, oder auch zu einer bloßen romantischen Stimmung.« 4
Benedetto Croce, Geschichte Europas im neunzehnten Jahrhundert [1932] (Frankfurt a. M . 1979), S. 38-50; Gordon Craig, Über die Deutschen (München 1982), S. 216-239. 5 Joachim Fest, »Die verneinte Realität. Überlegungen zum Romantizismus heute« (1970), in: derselbe, Aufgehobene Vergangenheit. Porträts und Betrachtungen (München 1983), S. 118-146; ähnlich auch Richard Löwenthal, Der romantische Rückfall. Wege und Irrwege einer rückwärts gewendeten Revolution, 2. Aufl. (Stuttgart / Berlin / Köln / Mainz 1970). 6
Ricarda Huch, Die Romantik, Bd. I: Blütezeit der Romantik, 8 . / 9 . Aufl. (Leipzig 1920), Bd. II: Ausbreitung und Verfall der Romantik, 6. / 7. Aufl. (Leipzig 1920). 7 Georg von Below, Die deutsche Geschichtschreibung von den Befreiungskriegen bis zu unsern Tagen. Geschichtschreibung und Geschichtsauffassung, 2. Aufl. (München/Berlin 1924), S. 4 ff.; derselbe, »Wesen und Ausbreitung der Romantik«, in: derselbe, Über historische Periodisierungen (Berlin 1925), S. 87-108; derselbe, »Zum Streit um die Deutung der Romantik«, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 81 (1926), S. 154162, erneut abgedruckt in: Begriffsbestimmung der Romantik, hrsg. v. Helmut Prang, (Darmstadt 1972), S. 135-144; Oskar Walzel, Deutsche Romantik, 4. Aufl., Bd. I: Weltund Kunstanschauung (Leipzig/Berlin 1918), S. 104ff.; Paul Kluckhohn, Die deutsche
Politisches Denken der deutschen Spätromantik
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sehen politischen Denkens wurde schließlich die Schule des österreichischen Philosophen und Nationalökonomen Othmar Spann, dem maßgebende Neueditionen der politischen Schriften deutscher Romantiker - insbesondere Adam Müllers - zu danken sind 8 und dessen Schüler Jakob Baxa die bis heute grundlegenden Forschungen und Darstellungen zu diesem Thema vorgelegt hat. 9 Neigten Spann und Baxa wiederum zu einer allzu unkritischen und sicherlich harmonisierenden Interpretation der politischen Romantik, ohne deren unleugbare Brüche und Defizite angemessen wahrnehmen zu w o l l e n , 1 0 so dürfte es heute eher angebracht sein, möglichst unvoreingenommen und auch unbefangen an die Äußerungen und Thesen der romantischen politischen Autoren heranzugehen: vorschnelle Aktualisierung sollte nunmehr ebenso obsolet sein wie forsche Aburteilung. Es kommt zuallererst darauf an, einen erneuten Zugang zu diesem - vielen Heutigen in der Regel sehr fremdartig anmutenden Denken zu finden. Zuerst einmal erscheint es notwendig, den hier verwendeten Epochenbegriff der »Spätromantik« etwas näher zu bestimmen. A u c h wenn man sich der unleugbaren Problematik jeder Epochenbestimmung und -abgrenzung w o h l bewußt ist - etwa der Verlockung zum Schematisieren, zur Vernachlässigung von (in der Regel fast immer vorhandenen) Ubergängen und Kontinuitäten - , kommt man doch letztendlich nicht umhin, mit diesem Mittel zu arbeiten. A n -
Romantik (Bielefeld / Leipzig 1924), S. 153 ff.; derselbe, Persönlichkeit und Gemeinschaft. Studien zur Staatsauffassung der deutschen Romantik (Halle a. S. 1925); derselbe, Das Ideengut der deutschen Romantik , 4. Aufl. (Tübingen 1961), S. 78 ff., 101 ff. 8 Adam Müller, Die Elemente der Staatskunst, hrsg. v. Jakob Baxa, Bde. I - I I (Wien / Leipzig 1922); derselbe, Versuche einer neuen Theorie des Geldes, hrsg. v. Helene Lieser (Jena 1922); Adam Müllers Handschriftliche Zusätze zu den »Elementen der Staatskunst «, hrsg. v. Jakob Baxa. M i t einem Anhang: Verschollene Schriften Adam Müllers aus den Jahren 1812-1818 (Jena 1926); derselbe, Ausgewählte Abhandlungen, hrsg. v. Jakob Baxa, 2. Aufl. (Jena 1931); Gesellschaft und Staat im Spiegel deutscher Romantik , ausgew. u. hrsg. v. Jakob Baxa (Jena 1924). I n der von Spann seit 1922 herausgegebenen Buchreihe »Die Herdflamme« erschienen neben zentralen Texten Adam Müllers auch Neuausgaben der politischen Schriften Schellings, Baaders und Friedrich Lists. 9 Othmar Spann, Die Haupttheorien der Volkswirtschaftslehre [1929], 25. Aufl. (Heidelberg 1949); Jakob Baxa, Adam Müller. Ein Lebensbild aus den Befreiungskriegen und aus der deutschen Restauration (Jena 1930); derselbe, Einführung in die romantische Staatswissenschaft, 2. Aufl. (Jena 1931); derselbe, »Romantik und konservative Politik«, in: Rekonstruktion des Konservatismus, hrsg. v. Gerd-Klaus Kaltenbrunner (Freiburg i. Br. 1972), S. 443-468. 10
Vgl. zur politischen Bedeutung und zum Werk Othmar Spanns u. a. Martin Schneller, Zwischen Romantik und Faschismus. Der Beitrag Othmar Spanns zum Konservatismus in der Weimarer Republik (Stuttgart 1970); Mohammed Rassem, »Othmar Spann«, in: Politische Philosophie des 20. Jahrhunderts, hrsg. v. Karl Graf Ballestrem und Henning Ottmann (München 1990), S. 89-103. 8 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 38. Bd.
114
Hans-Christof Kraus
dernfalls fällt man der Gefahr einer allzu unpräzisen Argumentation zum O p fer, denn gerade die Romantik muß, wenn sie näher definiert wird, nicht nur unter systematischen, sondern auch nach historischen Gesichtspunkten bestimmt und differenziert werden. So läßt sich die Spätromantik, sehr vereinfacht gesagt, als die letzte von vier Phasen der gesamten romantischen Bewegung bestimmen: A u f die Präromantik, die aufklärungskritische literarische und geistesgeschichtliche Strömung i m Deutschland der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die sich etwa mit den Namen Hamann, Herder, Klopstock, Jacobi verbinden läßt, folgte seit etwa 1795 die Frühromantik, - ein Begriff, mit dem man den Romantikerkreis bezeichnet, der sich in der Zeit bis etwa 1800 i n Jena u m die Brüder Friedrich und August Wilhelm Schlegel und u m ihre berühmten Zeitschriften Lyceum und Athenäum gesammelt hatte. Als Hochromantik w i r d man die Ära zwischen 1800 und 1813 bezeichnen können, jene große politische und geistesgeschichtliche Umbruchsepoche, i n der die bedeutendsten Dichtungen, literatur- und sprachhistorischen Untersuchungen, philosophischen Systeme und politischen Entwürfe der Romantik entstanden. U n d als Spätromantik wiederum läßt sich die an den Niedergang des napoleonischen Imperiums und die Befreiungskriege anschließende Zeit bis etwa 1848 bezeichnen, die man in der politischen Geschichte mit den Begriffen Restauration und Vormärz umschreibt. Das Revolutionsjahr 1848 darf man deshalb als Schlußpunkt der politischen Romantik auffassen, weil in diesem Jahr die Verwirklichung der Ideale des letzten »Romantikers auf dem Thron«, König Friedrich Wilhelms IV. von Preußen, endgültig scheiterte. 11 Als die fünf wichtigsten und seinerzeit auch bekanntesten politischen A u t o ren der deutschen Spätromantik, von denen i m folgenden ausführlicher zu sprechen sein wird, sind anzusehen: Adam Müller 12 mit seinen Spätschriften »Von der Notwendigkeit einer theologischen Grundlage der gesamten Staatswissenschaften und der Staatswirtschaft insbesondere« von 1819 und »Die innere Staatshaushaltung; systematisch dargestellt auf theologischer Grundlage« 11 Vgl. zu dieser Spätphase u. a. Ernst Lewalter, Friedrich Wilhelm IV. -Das Schicksal eines Geistes (Berlin 1938), bes. S. 329 ff., 347 ff., 392 ff.; Richard Benz, Die deutsche Romantik. Geschichte einer geistigen Bewegung, 4. Aufl. (Leipzig 1940), S. 471 ff., sowie vor allem die unten (Anm. 59) zitierte grundlegende Arbeit von Frank-Lothar Kroll. 12 Vgl. Alfred von Martin, »Die politische Ideenwelt Adam Müllers«, in: Kultur- und Universalgeschichte. Festschrift für Walter Goetz (Leipzig / Berlin 1927), S. 305-327; Baxa, Adam Müller (Anm. 9); Eugen Sasse, Adam Müller in Leben und Lehre, Nürnberger Beiträge zu den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Bd. 55 (Nürnberg 1935); Georg Polter, Adam Müllers Kritik am Liberalismus (Diss. Frankfurt a. M . 1936); Ernst Rudolf Huber, »Adam Müller und Preußen«, in: derselbe, Nationalstaat und Verfassungsstaat. Studien zur Geschichte der modernen Staatsidee (Stuttgart 1965), S, 48-70; Benedikt Koehler, Ästhetik der Politik. Adam Müller und die politische Romantik (Stuttgart 1980).
Politisches Denken der deutschen Spätromantik von
1 8 2 0 , 1 3 Joseph
Görres
14
mit
115
seinen g r o ß e n z e i t k r i t i s c h e n
Pamphleten
» T e u t s c h l a n d u n d die R e v o l u t i o n « u n d » E u r o p a u n d die R e v o l u t i o n « v o n 1819 u n d 1821 s o w i e m i t e i n i g e n seiner k l e i n e r e n p o l i t i s c h e n G e l e g e n h e i t s s c h r i f t e n u n d a u c h m i t e i n z e l n e n A r t i k e l n seines b e r ü h m t e n » R h e i n i s c h e n M e r k u r s « aus d e n J a h r e n der B e f r e i u n g s k r i e g e , 1 5 s o d a n n v o r a l l e m Friedrich
Schlegel 16
seiner 1820 bis 1823 i n d e r v o n i h m herausgegebenen Z e i t s c h r i f t Concordia
mit ver-
ö f f e n t l i c h t e n A r t i k e l s e r i e »Signatur des Z e i t a l t e r s « 1 7 s o w i e m i t seinen späten Vorlesungszyklen,
der
1827 i n W i e n v o r g e t r a g e n e n
»Philosophie
b e n s « , 1 8 u n d der » P h i l o s o p h i e d e r G e s c h i c h t e « v o n 1 8 2 8 , 1 9 Franz von
des
Le-
Baader 20
m i t seinen z w i s c h e n 1815 u n d 1835 abgefaßten z e i t k r i t i s c h e n S c h r i f t e n » U b e r das [ . . . ] B e d ü r f n i s einer n e u e n [ . . . ] V e r b i n d u n g d e r R e l i g i o n m i t d e r P o l i t i k « , » Ü b e r d e n E v o l u t i o n i s m u s u n d R e v o l u t i o n i s m u s « u n d » Ü b e r das d e r m a l i g e M i ß v e r h ä l t n i s d e r V e r m ö g e n s l o s e n o d e r P r o l e t a i r s « , 2 1 s c h l i e ß l i c h Joseph von Eichendorff
y
22
d e r i n d e n 1830er J a h r e n einige w e n i g b e k a n n t e , aber f ü r die p o -
13 Beide erneut abgedruckt in: Adam Müller, Schriften Rudolf Kohler (München 1923), S. 177-246,247-314.
zur Staatsphilosophie , hrsg. v.
14 Vgl. u. a. Görres-Festschrift. Aufsätze und Abhandlungen zum 150. Geburtstag von Joseph Görres , hrsg. v. Karl Hoeber (Köln 1926); Heribert Raab, »Europäische Völkerrepublik und christliches Abendland. Politische Aspekte und Prophetien bei Joseph Görres«, Historisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft, 96 (1976); S. 58-92; derselbe, Joseph Görres. Ein Leben für Freiheit und Recht (Paderborn usw. 1978). 15 Bis auf »Europa und die Revolution« sind diese Texte gut zugänglich in der Ausgabe: Joseph Görres, Auswahl in zwei Bänden , hrsg. v. Arno Duch (München 1921), wichtig auch die Einleitungen des Hrsgs. in Bd. I, S. I X - X X X V I , Bd. I I , S. I X - X X X I I . 16
Vgl. Richard Volpers, Friedrich Schlegel als politischer Denker und deutscher Patriot (Naumburg 1917); Reinhold Lorenz, »Deutschland und Europa. Friedrich Schlegels Wiener Vorlesungen über die Neuere Geschichte«, in: derselbe Drei Jahrhunderte Volk , Staat und Reich. Fünfzehn Beiträge zur Neueren Deutschen Geschichte (Wien 1942), S. 291-323; Gerd-Peter Hendrix, Das politische Weltbild Friedrich Schlegels (Bonn 1962); neuere U n tersuchungen zum politischen Denken des späten Schlegel fehlen. 17 Wieder abgedruckt in: Friedrich Schlegel, Kritische Ausgabe, hrsg. v. Ernst Behler (München/Paderborn/Wien/Zürich 1958f.), hier Bd. V I I , S. 483-596. 18
Wieder abgedruckt in: ebenda, Bd. X , S. 1-307.
19
Wieder abgedruckt in: ebenda, Bd. I X , S. 1-428.
20
Grundlegend noch immer: David Baumgardt, Franz von Baader und die philosophische Romantik (Halle 1927); Eugène Susini, Franz von Baader et le romantisme mystique (Paris 1942); Josef Siegl, Franz von Baader. Ein Bild seines Lebens und Wirkens (München 1957). 21 Alle enthalten in der wichtigen Ausgabe: Franz von Baader, Schriften schaftsphilosophie, hrsg. v. Johannes Sauter (Jena 1925).
zur Gesell-
22 Vgl. u. a. Peter Krüger, »Eichendorffs politisches Denken«, Aurora - Eichendorff Almanachy 28 (1968), S. 7-32; 29 (1969), S. 50-69; Helmut Koopmann, »Joseph von Eichendorff«, in: Deutsche Dichter der Romantik , hrsg. v. Benno von Wiese (Berlin 1971), S. 416-441; Hans G. Pott (Hrsg.): Eichendorff und die Spätromantik (Paderborn 1985);
8*
116
Hans-Christof Kraus
litische Ideenwelt der Spätromantik sehr aufschlußreiche Arbeiten zur K r i t i k der Säkularisation von 1803 und zur aktuellen preußischen Verfassungsfrage niederschrieb. 23 Jedoch nicht die einzelnen Autoren, 2 4 sondern die zentralen Themen und Motive des politischen Denkens der deutschen Spätromantik 2 5 werden i m folAlfred Riemen (Hrsg.), Ansichten zu Eichendorff (Sigmaringen 1988).
- Beiträge der Forschung 1958-1988
23 Im folgenden zitiert nach dem Abdruck in: Joseph Freiherr von Eichendorff, Werke und Schriften, hrsg. v. Gerhart Baumann und Siegfried Grosse, Bd. IV: Literarhistorische Schriften, historische Schriften, politische Schriften (Stuttgart 1958). 24 Es versteht sich von selbst, daß mit den voranstehend genannten fünf Autoren nur die wichtigsten Vertreter des politischen Denkens der deutschen Spätromantik hier herangezogen werden. Fraglos hätte eine umfassendere (an dieser Stelle aus Platzgründen nicht zu leistende) Darstellung eine Reihe weiterer Persönlichkeiten zu berücksichtigen, darunter etwa Achim und Bettine von Arnim, Clemens Brentano, Friedrich Daniel Schleierma•cher, August Wilhelm Schlegel, Hendrik Steffens, Ludwig Tieck, Friedrich de la MotteFouqué, Wilhelm von Schütz, Ludwig Uhland. 25 Eine eigenständige Untersuchung speziell zum politischen Denken der SpKatholizismus< und katholische >Romantika nonchalant, effortless easeThe Heart rather than the Headc Oliver Goldsmith, Henry Mackenzie, Laurence Sterne«, 193-235. One of the archetypal representatives of the 18th-century kindhearted gentleman is Uncle Toby in Lawrence Sterne, The Life and Opinions ofTristam Shandy; Gentleman (1760-1767). 38
Mullock, 162.
The Symbolic Dynamics of the Gentleman Idea in the Victorian Novel
157
prepared to live up to the standards by which the symbolic authority and power availed by this title can be justified. Analysing the discrepancy which manifests itself between the aristocratic practice of living and the traditional norms of the gentleman-concept the author persuasively argues that the aristocrats have betrayed the ideal according to which they are supposed to live, thereby having forfeited their inherited claim to symbolic power. Conversely, by demonstrating how Halifax, in his whole way of life, embodies all the essential qualities of the gentleman, she presents a legitimizing construction of a new reality. I n this self-legitimizing symbolic anticipation of a new reality, the title of the gentleman is awarded to those members of society who, irrespective of inherited rank, make an effort to be gentlemen by orienting their lives towards the aristos-component reclaimed from the old ideal. The appeal was to the commonsense of the readers who were invited to ratify a new »legitimate vision of the social w o r l d « . 3 9 Mulock throws into relief, and enhances i n a persuasively imaginative way, the deep-felt middle-class desire to add symbolic capital to the monetary capital which the entrepreneurial protagonists of the industrial revolution had already accumulated in abundance.
IV. Trollope's Conservative Defence of the Gentleman Idea According to Philip Mason, »Trollope's novels are all about niceties of social position and social behaviour, the interplay of true love w i t h the need for a comfortable income, about the behaviour proper for a true gentleman and a virtuous young lady«. 4 0 I f that were all, Trollope w o u l d perhaps deserve the neglect which he had received for quite some time on the part of academe. Recent criticism, however, has sensitized us to a much more subtle awareness of Trollope's achievement. 41 What is obvious to any reader of Trollope's novels is that many of his protagonists belong to the upper ranks of society and can thus broadly be classified as »gentlefolks«. Trollope is quite clearly preoccupied w i t h the notion of gentil i t y but, as Gilmour's and Letwin's studies have shown, a strenuous comparative reading of his many novels is required if one wants to grasp what Trollope actually means by this notion. I n this connexion Trollope's »notorious reluc-
39
Bourdieu, 137.
40
Mason, 132.
41 See e.g. Gilmore, The Idea of the Gentleman, Chapter 5 »Trollope and the Squires«, 149-181, and Coral Lansbury, The Reasonable Man: TroHope's Legal Fiction (Princeton, N.J. 1981). Mention must be made above all of Shirley Robin Letwin, The Gentleman in Trollope: Individuality and Moral Conduct (London 1982).
158
Norbert H . Platz
tance to say what he meant by a gentleman« 42 has to be taken into account. Since Shirley Robin Letwin's book provides a clear explication of Trollope's implicit understanding of the gentleman ideal, I w i l l utilize some of her major insights. However, the juxtaposition of gentleman and economic man as well as the conclusions I arrive at are m y own. I n m y view, the ubiquitous presence of »gentlemen« i n Trollope's novels can be interpreted as a defensive reaction against the middle-class attempt to appropriate the gentleman idea. The contention underlying this is that Trollope is also involved in a process of ideological world-making. I n his Autobiography
(1883) Trollope wrote:
There are places in life which can hardly be well filled except by »Gentlemen«. The word is one the use of which almost subjects one to ignominy. If I say that a judge should be a gentleman, or a bishop, I am met with scornful allusion to »Nature's Gentlemen«. [ . . . ] It may be that the son of a butcher of the village shall become as well fitted for employments requiring gentle culture as the son of a parson. Such is often the case. When such is the case, no one has been more prone to give the butcher's son all the welcome he has merited than myself; but the chances are greatly in favour of the parson's son. 43
As we can see from this important statement, Trollope is firmly convinced that society needs the gentleman and the beneficial effects which he is expected to diffuse into the social fabric. The competitive mentality of the middle classes, so his implicit argument goes, cannot easily be reconciled w i t h the essentials of gentility and gentlemanly behaviour. So he persisted in proclaiming his position that the symbolic order of gentility could not be transferred to the middle classes but had to preserve its traditional habitat w i t h the aristocracy, w i t h the landed gentry i n particular. Like Jane Austen, he was particularly familiar w i t h the customs and life-style of this sector of society. Capitalizing on this familiarity, he was able to create convincing imaginative embodiments of what he considered true gentlemanly behaviour. Trollope's conception of the gentleman can be grasped more clearly if we set it against the image of the middle-class economic man. The distinctive feature of the economic man is that he has to respond to external reality and the demands of the market. Submitting to the necessity of economic growth, he has to pursue his self-interest i n a free market w i t h an egotism that is no longer checked by moral restraint but solely by the rival self-interests of his competitors. 4 4 According to Adam Smith, it is the »invisible hand« of the market forces
42 43
Gilmore, 149.
Anthony Trollope, An Autobiography; introd. by Bradford Allen Booth (Berkeley/ Los Angeles/London 1947, repr. 1978), 34.
The Symbolic Dynamics of the Gentleman Idea in the Victorian Novel
159
which produces national wealth out of egotistical drives. 45 Looked at from a traditional point of view, it is characteristic of the economic man that he is dependent on, and has to conform to, outside norms such as the market and the principle of profit maximization. What is required of him is a functional flexibility which permits h i m to recognize his advantages in a flash. His egotism, instead of being an object of moral control, becomes, on the contrary, the incentive for the achievement of socially approved value. His society is no longer held together by an emotional cohesion which has been provided by the traditional organicistic world-view but is split up into a market society of economically competing individuals. The »Condition of England« question of the 1830's and 1840's 46 illuminates how the declared aim of the economic man to create wealth for everybody led to the opposite result - the production of a starving working class. The main argument which Trollope holds against the economic man is that he cannot act i n a socially responsible, disinterested manner for the very reason that he must pursue his self-interest. But for its survival society needs disinterested people. A n d it is this central idea of »disinterestedness« which lies at the core of Trollope's concept of gentility. I n contrast to the economic man, the gentleman does not conform to outward norms but rather is inner-directed. I n his Life of Cicero Trollope speaks of the »superiority of inward being« 4 7 that distinguishes a gentleman. According to Letwin's expert rendering of Trollope, this superior »inward being« is achieved by self-culture, a process i n which a balance between a person's egotistical and possessive appetite and his reason is established. The gentleman's main concern is the shaping of »a coherent self«. 48 His value cannot be measured i n terms of a market-price of social usefulness but is constituted by his »self-possessed«, »self-determined«, »self-contained«, »well-regulated« and »collected« personality. 49 What characterizes the gentleman above all is the consistency of his behaviour. Consequently, one of his major self-monitoring tasks is to consider »whether the meaning of what he does today is consistent
44 For my condensed presentation of the >Economic Man< I am more indebted to Sombart, Der Bourgeois , than to Milton S. Myers, The Soul of Modern Economic Man: Ideas of Self-Interest (London 1983). See also E.K. Hunt, Property and Prophets: The Evolution of Economic Institutions and Ideologies (rev. 2nd ed. N e w York 1978). 45 Adam Smith, Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of the Nations ( 1 1776), (newly edited as) The Wealth of the Nations (New York 1937), 423. 46 The phrase was coined by Thomas Carlyle in Past and Present (1843). For background information see Richard D . Altick, Victorian People and Ideas (London 1973), 3850. 47
Anthony Trollope, The Life of Cicero (London 1880), 1,16.
48
Letwin, 64.
49
Letwin, 65.
160
Norbert H . Platz
w i t h what he did yesterday or is likely to do tomorrow«. 5 0 Ideally, he assumes a »responsibility for the coherence of all his thoughts, words, and actions«. 51 Thus the gentleman, i n Trollope's ideal version, is an autonomous man per se. H e gains his motivational impetus for action from within. Instead of succumbing to the demands of the external world, as does the economic man, the gentleman, relying on his inner resources, is able to project a stabilizing pattern of control onto the social w o r l d around him. What qualifies him for this stabilizing social function is his habitualized control of egotistical drives. This moral check enables h i m to act i n a »disinterested« manner whereas the economic man's main virtue consists i n releasing his self-interest, thus producing potentially de-stabilizing effects on society. What also needs brief mention is Trollope's attachment to the aristocracy and the landed gentry i n particular. 52 Although he does not exclude the possibility that non-aristocrats may be admitted to the symbolic precinct of gentility, he gives distinct preference to members of the traditional aristocracy. The rationale underlying this attitude can be explained as follows. Since a gentleman does not drop from heaven but has to be made, one needs a fertile soil i n which to breed him. The social space appropriate for the cultivation of a gentleman, however, was neither the bustling t o w n nor the market-place but the manor house i n the countryside. I n Trollope's view, the landed gentry of his time was still a community - or a Gemeinschaft, to use Tonnies' 5 3 phrase - which resembled a living organism. The life-style of this social organism was inspired by tradition i n such a way that the standards according to which people lived had been handed down i n history, thus providing what George Eliot considered a »vital connexion« w i t h the past. 5 4 As the gentry had been the most prominent custodian of the gentleman idea, it provided the best conditions for the education of a gentleman. Accordingly, Trollope brings into play the criterion of good birth. I n Trollope, good birth is »a sign that a man was intended to be a gentleman. Such an intention is significant i n the same way as the intention of an artist to produce a w o r k of art. H e may fail, but if we take his intention seriously, we feel obliged
50
Ibid.
51
Ibid.
52
For the role of the gentry in English social history see Edmund Gordon Mingay, The Gentry. The Rise and Fall of a Ruling Class (London/New York 1976). 53 Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft: logie (Darmstadt 1963). 54
Grundhegriffe
der reinen Sozio-
George Eliot, »The Natural History of German Life«, in: The Essays of George Eliot , ed. Thomas Pinney (London 1963), 266-299, here 288.
The Symbolic Dynamics of the Gentleman Idea in the Victorian Novel
161
to give his creation careful consideration.« 5 5 Having descended from a good family means that one has been exposed to the shaping forces of a good old school; » [ . . . ] such teaching has been generally efficacious«, Barrington Erie says i n Trollope's Phineas Redux. 56 H e continues: » O f course, there have been failures [ . . . ] . But the school i n w h i c h good training is most practiced w i l l , as a rule, turn out the best scholars. I n this way I believe i n families.« 5 7 I t is because one learns genteel behaviour from those w h o have practised it that ancestry becomes important. Seen i n the perspective that has been developed so far Trollope's novels are not just a social kaleidoscope i n w h i c h the better sort of people flaunt their refined elegance of life-style and pass verbose judgement on their fellow-creatures' behaviour. This is an impression w h i c h one may gain if one reads his novels as entertainment. I f set against the middle-class fight for the accolade of gentility, however, Trollope's novel-writing can quite appropriately be interpreted as a performative act of symbolic world-making, an act i n w h i c h he vindicates the aristocratic right to gentility against middle-class claims. Whereas Smiles and M u l o c k legitimized access to gentility by focusing on character, Trollope, for his part, refuted the argument of character b y demonstrating that self-interest and egotism as the chief motivational forces i n middle-class life could not, in practice, be easily brought into accordance w i t h the moral selfcontrol that marked the true gentleman. This k i n d of moral self-control enables the gentleman to render his services to society and become »an agency of social discipline« 5 8 . Against the self-interested economic man he set up a model of the disinterested gentleman. I f the symbolic order of the gentleman were to be i m posed on the real w o r l d this w o u l d no doubt yield a social reality w h i c h w o u l d be different from the one w h i c h the economic man had i n mind.
V. The Dismantling of the Gentleman Idea in Charles Dickens' Great Expectations
(1861)
N o matter to what extent M u l o c k and Trollope disagreed as to whether the middle classes or the aristocracy should have privileged access to the symbolic authority and power of the gentleman idea, what they both agreed on was the 55
Letwin, 130.
56
Anthony Trollope, Phineas Redux (London 1970), 1,216.
57 Ibid. 58 J.F.C. Harrison, The Early Victorians: 1832-1852 (London 1971), 99: »What was most clearly expected of a gentleman was public service, given voluntarily and if necessary at his own expense. In return he was accorded immense respect and his authority and privileges were accepted.«
11 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 38. Bd.
162
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belief that, w i t h the gentleman concept, culture was holding i n store a mould i n which a man could find a happy union of self-realization and social identity. B y contrast, Dickens' Great Expectations can be interpreted as an attempt to dismantle both the legitimacy and the symbolic authority of the gentleman. I n his pessimistic vision, Dickens disfigures and deconstructs the traditional meanings allegedly enshrined in the gentleman idea as well as the legitimacy of Victorian revitalizations of the Mulock and Trollope variety. 5 9 This can be demonstrated by looking at the career of Pip, the novel's protagonist, and by comparing h i m w i t h John Halifax. Like John Halifax, Pip is also an orphan boy who wants to improve the conditions of his life. John has a clear awareness of how to achieve his goals of wealth and social recognition. Pip, on the other hand, is motivated by his urge to free himself from the sordid and suppressive conditions he is exposed to i n his sister's household. When he reveals to Biddy »1 want to be a gentleman« 60 , this goal-setting appears as though he is succumbing to a propagandist enticement. Apart from a vague idea about living i n a less »common way«, he does not know what he aims to achieve. This is i n sharp contrast to the calculating prudence w i t h which John Halifax proceeds. As Pip does not know what his aims are, it is impossible for h i m to apply resourceful strategies to the difficulties of life w i t h the purpose of successfully overcoming them. His general cognitive disorientation makes him quite often appear an embarrassing bungler instead of a competent virtuoso. John Halifax rises in life through his o w n effort, becoming a self-made and self-cultured man. Pip's rise i n life is made possible by the promise of a mysterious fortune which arouses his »great expectations« 61 . This promise of fortune is combined w i t h the further promise that his unknown benefactor desires to make him a gentleman as well. Thus Pip deviates from the traditional norm of self-cultivation. O f course, he goes to London to undergo what he thinks is a gentleman's education. But he learns little apart from agreeable table manners and conversational skills. Instead of shaping his inner self, as the traditional code would have required, he gives in to a facile snobbery. I n his London days, he shows no sign of self-reflexiveness nor self-control. The people w h o m he consorts w i t h for instance, Herbert Pocket and Bentley Drummle, w h o »was actually the next heir but one to a baronetcy«, 62 resemble caricatures of what Trollope w o u l d have considered gentlemen.
59 For a less radical interpretation of Great Expectations Chapter 4 »Dickens and Great Expectations«, 105-148. 60
Charles Dickens, Great Expectations,
154. 61
Dickens, 165.
62
Dickens, 215.
see Gilmour's perceptive
ed. Angus Calder (Harmondsworth 1965),
The Symbolic Dynamics of the Gentleman Idea in the Victorian Novel
163
The most striking clash w i t h the traditional gentleman idea can perhaps be seen i n Pip's total lack of self-determination and autonomy. The novel abounds i n hints that qualify Pip as a victim rather than as a self-determining subject. When he is still a child, his sister uses him as a »connubial missile« i n the conflicts w i t h her husband. She brings him up »by hand« 6 3 . His relatives, Uncle Pumblechook for example, show him that whatever he does is wrong. Miss H a visham makes him an object of her sadistic desire to wreak revenge on men. H e is terrorized by Magwitch when he first meets him i n the churchyard, and feels even more existentially threatened when after many years Magwitch reveals to him that it is he who has made Pip a gentleman. 64 What has been said so far may be enough to provide a basis on which to now approach Dickens's critical attitude to the gentleman idea. First of all, it must be pointed out that Dickens does not take his hero to task for his inability to become a gentleman. O n the contrary, he exculpates Pip for not knowing what he is up to when he declares that he wants to be a gentleman and for failing to achieve his aim. For the society i n which Pip lives does not offer him an institutional or mental space in which to develop. Dickens emphasizes the strident anti-social character of Pip's society by focusing on the money-grubbing instincts and the belief that everything can be bought w i t h money. H e also shows how an excessive cruelty manifests itself i n both the individuals and the government's legal system. Finally he throws into relief the unenlightened oppressiveness i n the lower walks of life and the ridiculous superficiality of behaviour i n the higher reaches. The gentility which Pip encounters in London is merely an idolatry of empty forms. I t is an imaginary register of enticements which pull him away from his inner self instead of granting him the opportunity to come into his own, both as a person and as a useful member of society. The conventional assumption that culture provides a habitat for the personal perfection of man through the symbolic institution of the gentleman is subverted i n Great Expectations as stringently as the allegedly beneficial effects which a gentleman may produce i n the social sphere. When Pip at the crucial moment of his life learns that the secret benefactor who has bought him into gentility is a convict pursued by the police, he is horror-stricken and sinks into a mental crisis. 65 N o w he realizes that he is really homeless and decentred. The social self which he believed he had owned crumbles to dust. After the destruction of his vacuous social self, Pip begins in the third part of the novel to struggle for the construction of a private self. Here we encounter a shift of emphasis that is w o r t h commenting on.
63
Dickens, 39.
64
Dickens, 337.
65
Dickens, Chapter 39.
11*
164
Norbert H . Platz
The constitution of his inner self coincides w i t h his economic failure and increasing isolation from fashionable society. Henceforth, however, he is ever more challenged to respond to other people i n very personal terms. H e suffers w i t h his benefactor Magwitch and shows a growing inclination to appreciate the rich human potential of Joe Gargery, his brother-in-law. I n the latter's praise Pip de-composes and re-composes the term »gentleman« into the phrase »this gentle Christian man«. 6 6 Through the immediate encounter w i t h his fellow-creatures, from w h o m he was estranged while he was toying w i t h the pose of a »gent«, he discovers his »real inner« or »natural« self. This permits the conclusion that Pip is obviously meant as a demonstration of the view so characteristic of Dickens' later writing that man comes into his o w n not because of, and w i t h the allegedly favourable assistance of, society but despite it. Society does not offer man a pattern of identity which he might integrate into his personality. O n the contrary, i n order to establish his identity, the individual quite often has to embrace his role as an outsider. The cultural support provided by a prefabricated pattern of identity - as it could possibly have been given by the gentleman concept - has thus become meaningless. I n Dickens' view, the inner self and existing social forces are related disproportionately. Consequently, there are no objective correlatives for the demands of the inner self in society.
Conclusion As has been demonstrated, both Dinah Maria Mulock and Anthony Trollope were experimenting w i t h the cultural dynamics of the gentleman by producing a symbolic w o r l d i n which the gentleman was to play an important part. M u lock and Trollope were aware of the rich symbolic capital which the idea of the gentleman had succeeded i n accumulating over the centuries. They vindicated the gentleman idea i n general and legitimized it in particular on behalf of the social classes they felt attached to. This confident evaluation made them raise specific claims i n such a way that their social peers w o u l d be entitled to the privileged enjoyment of the symbolic power inherent i n the gentleman idea. Although Mulock and Trollope pursued diverging interests, i n retrospect they seem to have joined forces to assert the dynamics of the gentleman by virtue of an extremely positive evaluation that had been hallowed by a long tradition. W i t h Dickens, on the other hand, the gentleman idea unfolded its symbolic dynamics i n a rather negative way. I n Great Expectations Dickens felt challenged to expose the vacuity of the gentleman idea manifested i n his contemporaries' practice of living. O u t of fundamental doubts as to the nature of so66
Dickens, 472.
The Symbolic Dynamics of the Gentleman Idea in the Victorian Novel
165
ciety, Dickens became involved in deconstructing the gentleman as a consoling mirage whose deceptiveness was all the more dangerous for having the authority of a long tradition behind it. H e no longer shared the belief so much cherished i n the 19th century that the gentleman was the zenith of human civilisation or, as a ninteenth-century voice put it, »the Phoenix of the human species«. 67 Dickens' basically critical attitude can be seen i n many of his novels i n which he focuses on genteel society. 68 I t is difficult to decide whether Dickens' Great Expectations marks the start of the demythologizing process that was to lead to the official demise which Harold Laski pronounced i n 1939 w i t h respect to the gentleman by »explaining the dangers of being a gentleman«. 69 What has to be considered i n connexion w i t h Laski's criticism is the fact that i n the second half of the 19th century the educational sector had also begun appropriating the gentleman idea as a frame for outlining educational aims and constructing personal identity. Contrary to Trollope's view (as expressed i n his Autobiography for example), Laski's argument was that society badly needed, and was to give priority to, people w i t h a solid professional training rather than the gentlemanlike amateurs who were Oxbridge graduates using their genteel networks. I n this connexion it is interesting to note: When the late nineteenth and early twentieth centuries the universities and public schools were aiming at educating gentlemen, the educational system profited from the symbolic prestige of the old concept, too. A study of the educational appropriation of the gentleman idea w i t h a strong emphasis on his moral character w o u l d be a project w o r t h pursuing i n its o w n right. What is intriguing indeed is the fact that the educational context supplies further proof for the gentleman's longevity and symbolic dynamics. Although the idea of the gentleman was gradually becoming out-of-date i n the years after World War I I , it has continued to nourish some nostalgic memories of a higher competence and a more refined way of living.
67
»The perfect English gentleman is the Phoenix of the human species«, declared Count Warren, British India (1843); quoted by Palmer, 45. 68 » [ . . . ] the gent, the dandy, the traditional gentleman by birth, the self-made man, the manly Victorian gentleman - Dickens's imaginative response to these competing images of social style fluctuates with changes in his attitude to his own experience and to the life of a changing society« (Gilmour, 109). 69
Laski, 19.
Écriture de cendres Z u r Problematik der Erzählbarkeit und Ästhetisierung des Leidens in der französischen KZ-Literatur V o n Pere Joan i Tons
en hommage à Leandro Guillén Pascual et Francisco Rodríguez Tejada survivants de Mauthausen, citoyens de Rosny-Sous-Bois
Sie w o l l t e n sprechen, e n d l i c h a n g e h ö r t w e r d e n . M a n sagte i h n e n , i h r p h y s i scher Z u s t a n d a l l e i n sei s c h o n b e r e d t genug. A b e r sie k a m e n gerade z u r ü c k , sie b r a c h t e n i h r e E r i n n e r u n g m i t , i h r e n o c h ganz l e b e n d i g e E r f a h r u n g , u n d sie v e r s p ü r t e n e i n irrsinniges V e r l a n g e n , diese so auszusprechen, w i e sie gewesen w a r : [Nous] ramenions avec nous notre mémoire, notre expérience toute vivante et nous éprouvions un désir frénétique de la dire telle quelle.1 W e r h i e r s p r i c h t , ist e i n Ü b e r l e b e n d e r v o n B u c h e n w a l d u n d D a c h a u , R o b e r t A n t e l m e , i n d e m V o r w o r t z u s e i n e m 1947 erschienenen R o m a n L'espèce maine.
hu-
D o c h was er z u b e r i c h t e n w u ß t e , w a r so u n f a ß b a r w i e sein A n b l i c k . I n
i h r e r t a g e b u c h a r t i g e n E r z ä h l u n g La douleur
e r i n n e r t sich M a r g u e r i t e D u r a s an
die H e i m k e h r dieses U b e r l e b e n d e n , m i t d e m sie damals v e r h e i r a t e t war. R o b e r t A n t e l m e k e h r t e als T o d g e w e i h t e r z u r ü c k , als » M u s e l m a n n « , w i e es i m k o n z e n t r a t i o n ä r e n J a r g o n hieß: Il devait peser entre trente-sept et trente-huit kilos: Pos, la peau, le foie, les intestins, la cervelle, le poumon, tout compris: trente-huit kilos répartis sur un corps d'un mètre soixante-dix-huit. O n le posait sur le seau hygiénique sur le bord duquel on disposait un petit coussin [ . . . ] . Une fois assis sur son seau, il faisait d'un seul coup, dans un
1 Robert Antelme, L'espèce humaine (Paris 1995), S. 9 ^1947; eine erweiterte und überarbeitete Fassung erschien 1978]. Cf. zu diesem »livre unique, peut-être sans équivalant« (Daniel Dobbels) das Dossier »Robert Antelme. Présence de l'Espèce humaine «, Lignes , 21 (Januar 1994), S. 89-202 mit Texten u. a. von Maurice Blanchot, Dionys Mascolo, Marguerite Duras, Claude Roy, Sarah Kofman und François Mitterand. Die beste Einführung zu diesem Roman bleibt der Essay »Robert Antelme ou la vérité de la littérature« von Georges Perec, der zunächst in Partisans, 8 (Januar - Februar 1963) erschien und später dann in L.G. Une aventure des années soixante (Paris 1992), S. 87-114, wiederaufgenommen wurde.
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Pere Joan i Tous
glou-glou énorme, inattendu, démesuré. [ . . . ] Tout, ou presque, lâchait son contenu, même les doigts qui ne retenaient plus les ongles, qui les lâchaient à leur tour. Le cœur, lui, continuait à retenir son contenu. Le cœur. Et la tête. Hagarde, mais sublime, seule, elle sortait de ce charnier, elle émergeait, se souvenait, racontait [ . . . ] . Parlait. Parlait. 2
Wie Antelme haben viele der Überlebenden in der erschöpften Unmittelbarkeit ihrer Rückkehr gesprochen, erzählt, geschrieben, u m sich von der Last ihrer Erinnerungen zu befreien. Sie sprachen, u m nicht an dem Erlebten zu ersticken, wie es wieder und immer wieder in ihren Alpträumen geschah. Sie erzählten, erzählten, wie es Robert Antelme i m Vorwort zu L'espèce humaine beschreibt, »en proie à un véritable délire«. 3 Sie erzählten, u m jenen »devoir de témoignage« zu erfüllen, dessen Einlösung für viele von ihnen die einzige moralische Legitimierung ihres Überlebens darstellte, w o doch so viele andere millionenfach - gestorben waren. Sie erzählten, wie David Rousset es ausdrückte, in der »méfiance des mots« 4 , wohlwissend, daß es ihnen niemals gelingen würde, das Erlittene restlos in Worte zu fassen. So erschienen in Frankreich in den ersten fünf Jahren nach der Befreiung weit mehr als hundert solcher Texte von Überlebenden. 5 Gattungsmäßig reicht diese Literatur vom großangelegten epischen Roman, so wie ihn etwa David Rousset mit Les jours de notre mort 6 vorlegte, bis hin zu Jean Cayrols Poèmes de la nuit et du brouillard 7 oder gar zu den konzentrationären Traumprotokollen, die derselbe Jean Cayrol 1948 in Les Temps Modernes 8 veröffentlichte. Es handelt sich - von wenigen Ausnahmen abgesehen - u m eine verschüttete und nur selten wiederaufgelegte Literatur, die heute noch zum größten Teil auf ihre literaturgeschichtliche und vor allem auf ihre rezeptionsgeschichtliche Würdigung wartet. 9 2
Marguerite Duras, La douleur (Paris 1995) [H9S5], S. 72 f.
3
Antelme, L'espèce humaine , S. 9.
4
David Rousset, Les jours de notre mort (Paris 1993), 2 Bde, Bd. 1, S. 9.
5 Cf. die von Annette Wieviorka zusammengestellte und kommentierte Auflistung in ihrem Buch Déportation et génocide. Entre la mémoire et l'oubli (Paris 1992), S. 446-475, sowie ihr Beitrag »Indicible ou inaudible? La déportation: premiers récits (1944-1947)«, Pardès , 9-10 (1989), Sondernummer: Penser Auschwitz, hg. Shmuel Trigano, S. 23-59. 6
Die Erstausgabe erschien 1947 in der Edition du Pavois. Erst 1974 wurde das Buch bei 10-18 wiederaufgelegt. Für seinen 1946 erschienenen dokumentarischen Bericht L'univers concentrationnaire erhielt David Rousset den »Prix Renaudot«. Auch dieses Buch wurde erst nach einer großen Zeitspanne wiederaufgelegt und zwar 1981 in den Editions de Minuit sowie im selben Jahr bei 10-18 als Taschenbuch. Zu David Rousset cf. Emile Copfermann, David Rousset. Une vie dans le siècle. Fragments d'autobiographie (Paris 1991). 7 8
Jean Cayrol, Poèmes de la nuit et du brouillard
(Paris 1945).
Jean Cayrol, »Les rêves concentrationnaires«, Les Temps Modernes , 36 (September 1948), S. 520-535. Cf. dazu Judith Klein, »>An unseren Schläfen perlt die Angst.< Traumberichte in literarischen Werken über das Grauen der Ghettos und Lager«, Psyche, 6 (1991), S. 506-521.
Écriture
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de cendres
A n d e r e Ü b e r l e b e n d e h a b e n sich lange Jahre g e w e i g e r t z u sprechen o d e r z u schreiben. Jorge S e m p r ü n 1 0 e t w a , d e r erst 1963 m i t Le grand
voyage
e i n e n er-
sten V e r s u c h u n t e r n a h m , l i t e r a r i s c h n a c h B u c h e n w a l d z u r ü c k z u k e h r e n -
und
selbst da endete d e r R o m a n m i t d e r A n k u n f t auf d e m Ettersberg. A u c h sein z w e i t e r , 1967 erschienener R o m a n L'évanouissement
behandelt nicht u n m i t t e l -
bar seine K Z - E r f a h r u n g , s o n d e r n v o r r a n g i g sein E r w a c h e n aus d e m k o n z e n t r a t i o n ä r e n T r a u m a . U n d es s o l l t e n n o c h fast 15 Jahre vergehen, ehe sich S e m p r ü n , jener E x i l s p a n i e r , d e r sich als H e i m a t die französische Sprache g e w ä h l t hatte, i n Quel
beau dimanche!
u n t e r d e n Schlägen der K a p o s w i e d e r auf d e m A p p e l l -
platz v o n B u c h e n w a l d einreihte, m i t nach vorne gerichtetem, gesenktem B l i c k , u m die SS ja n i c h t z u p r o v o z i e r e n , aber auch, u m d e m A n b l i c k j e n e r orangefarb e n e n F l a m m e n z u entgehen, die u n a u f h ö r l i c h aus d e m u n t e r s e t z t e n K a m i n des K r e m a t o r i u m s herauszüngelten. B e i all diesen A u t o r e n , w i e e t w a b e i M i c h e l d e l C a s t i l l o , P i o t r R a w i c z , E l i e Wiesel, A n n a L a n g f u s , P a u l T i l l a r d o d e r D o m i n i q u e G a u s s e n , 1 1 die sich d e r
9
Sowohl im Hinblick auf autobiographische als auch auf fiktionale Texte ist die bereits vorhandene literaturgeschichtliche Auseinandersetzung mit der französischsprachigen KZ-Literatur meist autorenzentriert. Sie hat aber nichtsdestoweniger bereits einige Standardwerke hervorgebracht: Cynthia Haft, The Theme of Nazi Concentration Camps in French Literature (Den Haag-Paris 1973); Lawrence L. Langer, The Holocaust and the Literary Imagination (New Häven-London 1975); Charlotte Wardi, Le génocide dans la fiction romanesque. Histoire et représentation (Paris 1986); Judith Klein, Literatur und Genozid. Darstellungen der nationalsozialistischen Massenvernichtung in der französischen Literatur (Wien 1992) sowie Alain Parrau, Écrire les camps (Paris 1995). Eine Typologisierung der KZ-Literatur sowie eine Reflexion über ihre hermeneutische Problematik bietet James E. Young, Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation (Frankfurt am Main 1992) [englische Originalausgabe 1988]. 10 J o r g e Semprün hat seine KZ-Erfahrung und seine Befindlichkeit als Uberlebender in folgenden Romanen thematisiert: Le grand voyage (Paris 1963); L'évanouissement (Paris 1967); Quel beau dimanche! (Paris 1980); La montagne blanche (Paris 1986) sowie L'écriture ou la vie (Paris 1994). Von besonderem Interesse und großer Eindringlichkeit ist das Gespräch, das er im Rahmen eines Themenabends bei La Sept Arte im März 1995 mit Elie Wiesel führte. Cf. Jorge Semprun/Elie Wiesel, Se taire est impossible (Paris 1995). Über Semprün und sein Werk cf. vor allem Lutz Küster, Obsession der Erinnerung. Das literarische Werk Jorge Semprüns (Frankfurt am Main 1989) sowie Richard Faber, Erinnern und Darstellen des Unauslöschlichen. Über Jorge Semprüns KZ-Literatur (Berlin 1995). 11 Cf. Michel del Castillo, Tanguy. Histoire d'un enfant d'aujourd'hui (Paris 1957) [1995 erschien eine »édition revue et corrigée« bei Gallimard]; Piotr Rawicz, Le sang du ciel (Paris 1961); Elie Wiesel, La nuit. Préface de François Mauriac (Paris 1958); Anna Langfus, Le sel et le soufre [»Prix Charles Veillon«] (Paris 1960); Paul Tillard, Le pain des temps maudits (Paris 1965); Dominique Gaussen, Le kapo (Paris 1966). Zu bemerken wäre allerdings, daß die autobiographischen Romane von Michel del Castillo und Piotr Rawicz eine besondere Problematik aufweisen, da Castillo erst zwölf und Rawicz fünfzehn Jahre alt waren, als sie befreit wurden. Über die spezifische KZ-Erfahrung und deren psychosozialen Spätfolgen bei denen, die als Kinder oder Jugendliche interniert waren, cf. George
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Pere Joan i Tous
Unmittelbarkeit des literarischen Zeugnisses verweigert hatten, ist die Motivation ihrer nachgetragenen Erinnerung äußerst vielfältig und ebenso vielschichtig und individuell bedingt wie ihr vorausgegangenes Schweigen. Viele mögen, wie Semprun selbst, die Erinnerung verdrängt haben. »Je Pavais oubliée, refoulée, censurée«, 12 schreibt er 1994 in seinem bislang letzten Buch, L'écriture ou la vie. Diese Erinnerungsverweigerung ist bei vielen Uberlebenden anzutreffen; nicht alle haben sie durchbrechen können. Sie brauchten das Vergessen und sei es nur als neurotische Konfliktlösung, u m an den Folgen dessen, was i n der Sprache der Psychologen Extremtraumatisierung 13 genannt wird, nicht zu zerbrechen. »Cela faisait tellement de morts que je me demandais en définitive ce que je faisais là, vaguement abandonné, un vivant oublié par les morts«, 1 4 heißt es bei Paul Tillard i n Le pain des temps maudits über seine Selbstwahrnehmung als Überlebender und über die Jahre, in denen er sich der Erinnerung verweigert hatte, Jahre, i n denen er so paradoxal gelebt haben muß wie Semprun: I l faut que je fabrique de la vie avec toute cette mort. Et la meilleure façon d'y parvenir, c'est l'écriture. O r celle-ci me ramène à la mort, m'y enferme, m'y asphyxie. Voilà où j'en suis: je ne puis vivre qu'en assumant cette mort par l'écriture, mais l'écriture m'interdit littéralement de vivre. 15
Eine Literaturgeschichte dieser Erinnerungsverweigerung ist noch zu schreiben, ebenso wie es gilt, die literarische Spezifizität dieser zweiten Welle von »Zeugnisliteratur« herauszustellen und dies vor allem i m H i n b l i c k auf die Reflexion über das eigene Schreibprojekt. Denn anders als die erste, i m Zeichen der Unmittelbarkeit erfolgte, literarische Thematisierung der KZ-Erfahrung, stellte sich für diese Autoren die Frage nach der Erzählbarkeit - sowohl des ob als auch des wie darüber schreiben - unter ganz anderen Bedingungen. Sie spraEisen, Les enfants pendant l'holocauste. Jouer parmi les ombres (Paris 1993) [erweiterte Version der englischen Erstausgabe von 1988], sowie Denise Baumann, La mémoire des oubliés. Grandir après Auschwitz. Préface de Serge Klarsfeld (Paris 1988). 12
Semprun, L'écriture
ou la vie , S. 250.
13
Besonders erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang der Aufsatz von Ilse Grubrich-Simitis, »Extremtraumatisierung als kumulatives Trauma. Psychoanalytische Studien über seelische Nachwirkungen der Konzentrationslagerhaft bei Überlebenden und ihren Kindern«, Psyche, 33 (1979), S. 991-1023, sowie die Studie von William G. Niederland, Die Folgen der Verfolgung. Das Überlebenden-Syndrom. Seelenmord (Frankfurt am Main 1980) und der Sammelband von Gertrud Hardtmann (Hg.), Spuren der Verfolgung. Seelische Auswirkungen des Holocaust auf die Opfer und ihre Kinder (Gerlingen 1992). Erinnert sei auch an The Informed Heart (New York 1960) von Bruno Bettelheim, der selbst in Dachau interniert gewesen war. Eine psychosoziale Annäherung an das konzentrationäre Trauma und dessen Folgen bietet Michael Pollak, L'expérience concentrationnaire. Essai sur le maintien de l'identité sociale (Paris 1990). 14
Tillard, Le pain des temps maudits , S. 211.
15
Semprun, L'écriture
ou la vie , S. 174.
Écriture
de cendres
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chen nicht mehr zu einem prinzipiell unvorbereiteten, unkundigen Leser. Es hatte ja bereits eine erste »Zeugnisliteratur« gegeben, selbst wenn diese, wie es Semprun ohne Überheblichkeit vermerkt, i m allgemeinen »désordonnéfe], confus[e], trop prolixe« 1 6 gewesen war: [Ça] s'embourbait dans les détails, il n'y avait aucune vision d'ensemble, tout était placé sous le même éclairage. C'était un témoignage à l'état brut, en somme: des images en vrac. U n déballage de faits, d'impressions, de commentaires oiseux. [ . . . ] [Sa] véracité n'était même plus vraisemblable. 17
Doch diese Literatur war vorhanden, wichtig und notwendig, und sei es nur als Ermahnung jenes Ungenügens des Wortes, das schon Robert Antelme thematisiert hatte als »disproportion entre l'expérience que nous avions vécue et le récit qu'il était possible d'en faire.« 18 Wichtig und notwendig waren diese ersten Zeugnisse gewesen, auch, weil sie eine Erzähltradition darstellten, die zumindest den nicht jüdischen Autoren - fehlte. Die später entstandene »Zeugnisliteratur« über die Lager war nicht mehr, wie es derselbe Semprün vermerkt, so »brutalement dépourvue d'une tradition référentielle de mythes ou d'allégories historiques qui en auraient facilité la représentation.« 19 Dieser späteren »Zeugnisliteratur« stand auch als voraussetzbarer Bezugsmoment die bereits stattgefundene und noch stattfindende historiographische oder gar juristische Aufarbeitung der konzentrationären Welt gegenüber. So ist es sicherlich kein Zufall, daß das Einsetzen dieser zweiten Welle von »Zeugnisliteratur« mit den Auschwitz-Prozessen zusammenfällt. Diese Aufarbeitung ist von den meisten Überlebenden mit A r g w o h n wahrgenommen worden: »Tout y [est] vrai«, schreibt Semprun, »sauf qu'il [manque] l'essentielle vérité, à laquelle aucune reconstruction historique ne pourra jamais atteindre, pour parfaite et omnicompréhensive qu'elle soit [ . . . ] . « 2 0 U n d dennoch kam ihr eine doppelte Funktion zu: A u f der Rezeptionsseite konnte diese nicht-literarische Aufarbeitung als Resonanzboden und voraussetzbare Leseerfahrung für das eigene Schreiben i n Anspruch genommen werden. A u f der Produktionsseite jedoch vermag der historiographische und juristische Diskurs eher jene Aporie verschärft haben, die sich zwar von Anfang an stellte, aber erst jetzt i n ihrer vollen Tragweite sichtbar wurde: Zeugnis ablegen über die Lager bedeutete, i m vollen Bewußtsein dessen zu schreiben, daß die Worte an sich keinen Beweis für das Leiden und die Wirklichkeit der Lager erbringen können, daß aber andererseits das Gewesene einzig und allein durch eben diese Worte an erlebter, also historischer 16
Ebd., S. 249.
17
Ebd.
18
Antelme, L'espèce humaine, S. 9.
19
Semprun, L'écriture
20
Ebd., S. 136.
ou la vie, S. 191.
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Pere Joan i Tous
Wirklichkeit gewinnen und sich ins kollektive Gedächtnis einprägen, ja letztlich sogar die Täter überführen kann. Zudem hatte eine literaturkritische Diskussion stattgefunden, die auch in Frankreich ab Mitte der 60er Jahre unaufhörlich u m Adornos Erzählbarkeits- und Ästhetisierungs-Aporie kreiste: »Die Moral, die der Kunst gebietet, [das Grauen der Lager] keine Sekunde zu vergessen, schliddert i n den Abgrund ihres Gegenteils.« 21 Maurice Blanchot sollte es weniger dialektisch aber umso prägnanter formulieren: »Ii y a une limite où l'exercice d ' u n art, quel qu'il soit, devient une insulte au malheur. N e l'oublions 22
pas.« Diese ethische Warnung galt und gilt vor allem der fiktionalen Literatur, die sich - ebenso ab Anfang der 60er Jahre - i n Frankreich zunehmend entfaltete. Auch Schriftsteller, die keine Uberlebende waren, fingen damals an, sich literarisch mit dem »univers concentrationnaire«, wie es Rousset nannte, auseinanderzusetzen. Das gesamte Gattungspotential wurde benutzt: Vom Chanson » N u i t et brouillard« 2 3 eines Jean Ferrat bis hin zum dokumentarischen Roman Treblinka 24 eines Jean-François Steiner. Von der geschichtsphilosophischen Saga Le dernier des justes 25 von André Schwarz-Bart, die die Shoah i n die Leidensgeschichte des osteuropäischen Judentums einbettet, bis hin zum umstrittenen Roi des aulnes 26 von Michel Tournier oder zur psychoanalytischen Groteske La danse de Gengis Cohn27 von Romain Gary. Das Sprechen der Überlebenden mußte sich nunmehr gegen diese Polyphonie behaupten - auch literarisch, ohne jedoch jenen »devoir de témoignage« zu verletzen, der sie mit den ersten Zeugnissen verband. Sie konnten auch nicht mehr so schreiben, als ob das alttradierte Realismus-Projekt der französischen Literatur Ende der 50er Jahre nicht vom nouveau roman aus der Nische seiner psychologisierenden Behaglichkeit vertrieben worden wäre. Diejenigen Überlebenden, die i n den 60er und 70er Jahren ihre nachgetragenen Erinnerungen lieferten, befanden sich vielmehr mitten in einem literarischen Paradigmawechsel. Wie man weiß, entwickelte sich Anfang der 60er Jahre die nahezu jakobinistische Privilegie21 Theodor W. Adorno »Engagement« (1962), in ders., Zur Dialektik des Engagements (Frankfurt am Main 1973), S. 22. 22
Maurice Blanchot, L'écriture
du désastre (Paris 1980), S. 132.
23
Dieses 1963 von ihm selbst geschriebene Lied gehört noch heute zum Repertoire von Jean Ferrat. Erhältlich ist es in mehreren Versionen, zuletzt 1991 als Titel-Lied der C D Jean Ferrat bei PolyGram (Master Serie). 24 Jean-François Steiner, Treblinka. Simone de Beauvoir (Paris 1966).
La révolte d'un camp d'extermination
25 André Schwarz-Bart, Le dernier Schwarz-Bart den »Prix Goncourt«.
des justes (Paris 1959). Für diesen Roman erhielt
26
Michel Tournier, Le roi des aulnes (Paris 1970).
27
Romain Gary, La danse de Gengis Cohn (Paris 1967).
. Préface de
Écriture
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rung des »récit« über die »histoire« zum literarischen Zeitgeist. I m Zeichen des vorherrschenden Strukturalismus hatte Roland Barthes mit poetologischer Inbrunst verkündet: »l'écrivain est celui qui travaille sa parole [ . . . ] et s'absorbe fonctionnellement dans ce travail. [ . . . ] [Le] réel ne lui est jamais qu'un prétexte (pour l'écrivain, écrire est un verbe intransitif) [ . . . ] . I l s'ensuit que l'écrivain s'interdit existentiellement [le témoignage ], quelque soit l'intelligence ou la sincérité de son entreprise [ . . . ] . « 2 8 Für die Überlebenden aber konnte Literatur kein »Vorwand« sein, Schreiben kein »intransitives« Verb bleiben. Für sie, die oftmals nach Jahren des Verstummens und des Verdrängens endlich fähig und bereit waren zu sprechen, konnte ein solches Zeugnis-Verbot keine »existentielle« Gültigkeit haben - und keine poetologische Notwendigkeit darstellen. I m Gegenteil: Einer von ihnen, Jean Cayrol, hatte bereits 1949 in seinem vielbeachtetem Essay » D ' u n romanesque concentrationnaire« 29 gefordert, die Literatur insgesamt, und vor allem der Roman, solle konzentrationäre Literatur werden, selbst wenn er nicht explizit das Leiden der Lager thematisiere. Gemeint war, daß der Roman inhaltlich an den Brandwunden leiden sollte, die die Krematorien i m Gesicht und i m Wesen unserer scheinbar befreiten Zivilisation hinterlassen hatten. I n struktureller Hinsicht bedeutete dies, daß i n Analogie zur konzentrationären Welt der Roman auf eine nachvollzogene Sinngebung und einen Totalitätsanspruch der Handlung verzichten mußte. A u c h die Figurenpsychologie sollte sich an der depersonalisierenden Extremtraumatisierung orientieren, die die Lagererfahrung bewirkt hatte. Wie geschundene KZ-Insassen sollten die Romanfiguren sein, verlorene, allem und allen mißtrauende Gestalten in einer monströsen Inszenierung des Bösen. D o c h auch den Überlebenden sollten sie gleichen, den für immer Gezeichneten, die nie mehr heimisch werden können in dieser Welt. Der Einfluß von Cayrols Poetik auf den nouveau roman ist ebenso unstreitbar und unbestritten wie der Einfluß seiner Roman-und Verlegerpraxis auf die Rückbesinnung, die Anfang der 70er Jahre erfolgte, als selbst die ehemaligen Verfechter einer radikalen Autonomie der Kunst wie Roland Barthes, die literarische Würde der Mimesis entdeckten und nunmehr eine »littérature proprement réaliste« einforderten, die die »énergie de témoignage« aufbringen sollte. 3 0 Für die Überlebenden, die mitten i n dieser poetologischen Umbruchs28 Roland Barthes, »Ecrivains et écrivants«, in: Œuvres complètes. Bd. 1:1942-1965 (Paris 1993), S. 1279. Der bewußt provokativ gehaltene und kontrovers diskutierte Aufsatz erschien zunächst 1960 in der Zeitschrift Arguments. 29
Jean Cayrol, »D'un romanesque concentrationnaire«, Esprit , 159 (September 1949), S. 340-357. Daniel Oster hat der komplexen Literaturauffassung und -praxis Cayrols eine Monographie gewidmet: Jean Cayrol et son œuvre (Paris 1967). 30
Roland Barthes/Maurice Nadeau, Sur la littérature
(Grenoble 1980), S. 37.
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zeit ihr Zeugnis ablegten, verschärfte sich die Frage der »élaboration«, wie Semprun es nennen sollte: Comment raconter une vérité peu crédible, comment susciter l'imagination de l'inimaginable, si ce n'est en élaborant, en travaillant la réalité, en la mettant en perspective? 31
Das Wagnis dieses »elaborierten« Schreibens war für Semprun erst dann möglich, als er sich von den Zwängen der Erzählkausalität, des linearen Erzählens, des auf Klarheit und Sinngebung pochenden Erzählens, des strikt zwischen Fiktion und autobiographischem Bericht trennenden Erzählens befreite. I n ihrem 1987 erschienenen Essay Paroles suffoquées hat Sarah Kofman diese A r t , Zeugnis abzulegen, eine »écriture de cendres« 32 - »Aschenschrift« - genannt: ein Schreiben, das sich der »loi idyllique du récit« verweigert, ein Schreiben, das seine literarische, ja moralische Würde nur dann gewinnen kann, wenn es darauf verzichtet, die Ohnmacht der Opfer und die Sinnlosigkeit ihres Leidens durch einen Erzählmodus zu verbrämen, der Sinnstiftung vortäuscht. 33 Sarah Kofman, die selbst ihren Vater in Auschwitz verloren hat, wehrt sich gegen jedwede Form verklärenden Erzählens. M i t der Asche von Auschwitz soll keine trübe Metaphysik geschrieben werden. Aus dieser Asche darf auch i m Zeichen einer noch so säkularen Theodizee kein Trost erdichtet werden. Als einzige Legitimation des Schreibens glaubt Sarah Kofman vielmehr an das Wagnis einer bewußt aporetischen Literatur, die sich der desolaten Erkenntnis ihrer eigenen Unzulänglichkeit nicht entzieht. Sie fordert eine Literatur ein, die das Gebot des Zeugnisses und des Gedenkens erfüllt, ohne das Unsagbare des Massenmordes zu verklären: Parce qu'il était juif, mon père est mort à Auschwitz: comment ne pas le dire? Et comment le dire? Comment parler de ce devant quoi cesse toute possibilité de parler? De cet événement, mon absolu, qui communique avec l'absolu de l'histoire - intéressant seulement à ce titre? Parler - il le faut - sans pouvoir, sans que le langage trop puissant, souverain, ne vienne maîtriser la situation la plus aporétique, Pimpouvoir absolu et la détresse même, ne vienne l'enfermer dans la clarté et le bonheur du jour? Et comment
31
Semprun, L'écriture
ou la vie , S. 135.
32
Sarah Kofman, Paroles suffoquées (Paris 1987). In Anlehnung an Maurice Blanchot spricht Sarah Kofman dort von einer »écriture de cendres, écriture du désastre qui évite le piège d'une complicité avec le savoir spéculatif, avec ce qui en lui relève du pouvoir, et est donc complice des tortionnaires d'Auschwitz« (S. 14). 33 Cf. ebd., S. 21 und 43: »Sur Auschwitz, et après Auschwitz, pas de récit possible, si par récit l'on entend: raconter une histoire d'événements, faisant sens. [ . . . ] Parler, pour témoigner, mais comment? Comment un témoignage peut-il échapper à la loi idyllique du récit? Comment parler de >l'inimaginableJ'ai soif.< Ils entrent dans un café et ils commandent une bière.« 52 W i r d für diese Menschen das Wort »soif« jemals die gleiche Bedeutung haben können, wie für die Erzählerin selbst? W i r d es reichen, wenn man ihnen erzählt: J'avais soif depuis des jours et des jours, soif à en perdre la raison, soif à ne plus pouvoir manger, parce que je n'avais pas de salive dans la bouche, soif à ne plus pouvoir parler, parce qu'on ne peut pas parler quand on n'a pas de salive dans la bouche. Mes lèvres étaient déchirées, mes gencives gonflées, ma langue un bout de bois. Mes gencives gonflées et ma langue gonflée m'empêchaient de fermer la bouche, et je gardais la bouche ouverte comme une égarée, avec, comme une égarée, les pupilles dilatées, les yeux hagards. [ . . . ] Tous mes sens étaient abolis par la soif. 53
Charlotte Delbo läßt den Leser jedoch selten i n jener »complaisance doloriste« verweilen, von der der jüdische Philosoph Vladimir Jankélévitch sagte, sie sei »naturelle, [ . . . ] excusable«. 54 Ebensowenig w i r d dem Leser die Katharsis gegönnt, selbst eine i m Geist der Aufklärung »versittlichende« Katharsis nicht. Das Leiden i n Auschwitz soll in seiner Unfaßbarkeit nicht durch das Mitleid, nicht durch das Mit-Leiden vom Leser instrumentalisiert, ja vielleicht sogar verraten werden. Wie der Psychoanalytiker Bruno Bettelheim, selbst ein Überlebender, scheint auch Charlotte Delbo mißtrauisch einer Betroffenheit gegenüber zu sein, in deren Unbewußten der Todestrieb lauert. Vielleicht ist dies 51
Delbo, Aucun de nous ne reviendra,
52
Delbo, Une connaissance inutile, S. 49.
S. 137,139,170 f.
53 Ebd., S. 42 f. Cf. auch den Kommentar von Alain Parrau: »Même sans donner naissance à une langue séparée, l'expérience du camp interrompt la communication par le langage, introduit dans le »commun« de la langue des significations qui le défont. [ . . . ] Certes, on ne trouve pas ici la représentation d'un langage »d'une âpreté nouvelle«, mais le sentiment que l'expérience du camp donne accès au sens véritable des mots, qu'elle les délivre de la »légèreté« et du »vide« à quoi les condamne l'usage courant. Mais cette »délivrance« ne vaut que pour quelques-uns, elle ne se réalise que comme parole séparée, soliloque qui délimite le »monde des vivants« comme celui de la parole vaine.« (Écrire les camps, S. 205 f.) 54
Vladimir Jankélévitch/Béatrice Berlowitz, Quelque part dans l'inachevé (Paris 1978), S. 142.
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auch ein Grund dafür, weshalb sie nur selten vergißt, ihr eigenes ästhetisierendes Pathos zu verfremden. So etwa an jener Stelle, an der sie den Abschied von ihrem Mann evoziert, unmittelbar vor seiner Hinrichtung: Je lui ai dit que tu es beau. I l était beau de sa mort à chaque seconde plus visible. C'est vrai que cela rend beau la mort. Avez-vous remarqué comme ils sont les morts, ces temps-ci comme ils sont jeunes et musclés les cadavres de cette année. 55
U m weitererzählen zu können, u m überhaupt erzählen zu können, verfremdet Charlotte Delbo ihre eigene Trauer und das Beben i n ihrer Stimme. Selbst die dichtesten metaphorischen Segmente der Erzählung verweigern sich so jedweder Überhöhung des Leidens: Ce dimanche-là. [ . . . ] Toutes les femmes étaient assises dans la poussière de boue séchée en un troupeau misérable qui faisait penser à des mouches sur un fumier. Sans doute à cause de l'odeur. L'odeur était si dense et si fétide qu'on croyait respirer, non pas dans l'air, mais dans un fluide autre plus épais et visqueux qui enveloppait et isolait cette partie de la terre d'une atmosphère surajoutée où ne pouvaient se mouvoir que des êtres adaptés.56
Die verwendeten Bilder evozieren eine zoologisch-physikalische Vorstellungswelt. N u r das Wort »misérable« konnotiert hier das Beschriebene. N u r dieses eine Wort appelliert ausdrücklich an die mitleidende Empathie des Lesers. Bloße Betroffenheit soll nicht ohne weiteres aufkommen, darf nicht ohne weiteres möglich sein. Sie wäre zu billig und vielleicht vor allem zu unpassend. Denn dieses verfremdende Erzählen vergegenwärtigt nicht nur jenen makaberironisierenden Sprachduktus, mit dem die Gefangenen dem Grauen der konzentrationären Welt begegneten, u m Abstand zu schaffen zwischen dem todgeweihten Leiden anderer und dem eigenen Überlebensanspruch, u m kein zerstörerisches Mitleid aufkommen zu lassen, etwa mit denen, die man »Muselmann«, »Schmuckstück« nannte. Diese Verfremdung verhindert auch, daß das erzählte Leiden letztlich eine Sinngebung erfährt, die ihm, wie es Charlotte Delbo mehrmals betont, als »connaissance inutile«, als »nutzloses Wissen« nicht zukommt. Dies ist letztlich auch der Grund, weshalb die Erzählerstimme die Erwartungen des Lesers des öfteren ironisiert: 55
Delbo, Une connaissance inutile , S. 158.
56
Delbo, Aucun de nous ne reviendra , S. 178.
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Pere Joan i Tous Ainsi vous croyiez qu'aux lèvres des mourants ne montent que des paroles solennelles parce que le solennel fleurit naturellement au lit de la mort [ . . . ] Le trivial est indigne au florilège des mots ultimes. 57
Man erinnere sich hier an die wohlbekannte Holocaust-Verfilmung und zwar an die Szene, w o es dem Helden gelingt, i n die Baracke zu gelangen, i n der seine Frau i m Sterben liegt. Eine schwermütige Musik setzt ein, die letzten Worte, die sie zu ihm spricht, sind erhabene, wohlklingende Worte. Günther Anders hat diese und ähnliche traditionelle Kunstmittel der Rührung, so wie sie i n der Serie massiv eingesetzt wurden, mit dem Argument verteidigt, ohne sie würde das Bewußtsein des Grauens breiten Bevölkerungsschichten versperrt bleiben. 5 8 Allein das Ästhetische mache es erträglich. Charlotte Delbo aber wählt einen anderen Weg: Nues sur les grabats du revir [sic], nos camarades presque toutes on dit: >Cette fois-ci je vais clabotter.< 59
»Cette fois-ci je vais clabotter«: »Diesmal kratze ich ab.« - Charlotte Delbos Sterbende liegen nackt auf ihren nackten Brettern. Sie sind schmutzig, und die Bretter sind schmutzig von Durchfall und Eiter. Was sie sagen, kann nicht in den Zitatenschatz der letzten Worte aufgenommen werden. Die Erzählerstimme läßt keine Erhabenheit zu. Sie versucht nicht einmal, die Fassungslosigkeit des Lesers aufzufangen. Das Unerträgliche soll unerträglich bleiben. Statt Annäherung durch Identifikation wählte Charlotte Delbo die Distanz: für sich als Erzählerin und für den Leser. Ihre auktoriale Stimme w i r d zur eifersüchtigen Hüterin dieser Distanz. I n diesem Sinne gleicht sie i n ihrer Funktion zum Erzählten der Musik, die Hanns Eisler zum F i l m Nuit et brouillard (1956) von Alain Resnais komponiert hat. 6 0 Seine Musik »illustriert« nicht, verstärkt nicht, sie w i l l kein bloßer sinnstiftender Resonanzboden sein. Eisler wider57
Ebd., S. 172.
58
Cf. Günther Anders, »Nach >Holocaust< 1979«, Besuch im Hades (München 1985) [ 1 1979], S. 179-216. 59
Delbo, Aucun de nous ne reviendra, S. 172. Cf. die Behauptung Adornos, wonach jedwede Verklärung des Schreckens »absichtlich oder nicht, durchblicken läßt, [daß] selbst in den sogenannten extremen Situationen, und gerade in ihnen, [ . . . ] das Menschliche [blühe]; zuweilen wird daraus eine trübe Metaphysik, welche das zur Grenzsituation zurechtgestutzte Grauen womöglich insofern bejaht, als die Eigendichkeit des Menschen dort erscheine.« (»Engagement«, S. 22 f.) 60
Jean Cayrol war es, der den Kommentar zum Film verfaßte. Für die deutschsprachige Version besorgte Paul Celan die Übersetzung. Cf. die zweisprachige Ausgabe in Paul Celan, Gesammelte Werke, 5 Bde, Bd. 4. Übertragungen I (Frankfurt am Main 1986), S. 76-99.
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spricht damit den Erwartungen der Zuschauer, denn er untermalt die filmische Darstellung des Schreckens nicht musikalisch, sondern komponiert gleichsam kontrapunktisch eine bewußt unsentimentale Musik zu den Dokumentaraufnahmen von Gaskammern und Leichenbergen. A u c h Charlotte Delbo versucht, kontrapunktisch zu erzählen, u m aus der daraus entstehenden Verunsicherung ein bewußteres Lesen einzufordern, ein verunsichertes Lesen. So beschließt sie ihre »Prière aux vivants pour leur pardonner d'être vivants«, ihr »Gebet an die Lebenden, zur Vergebung, daß sie leben«, mit folgenden Zeilen: [Mieux] vaut ne pas y croire à ces histoires de revenants plus jamais vous ne dormirez si jamais vous les croyez ces spectres revenants ces revenants qui reviennent sans pouvoir même expliquer comment. 61
61
Delbo, Une connaissance inutile , S. 191.
Peter Handke und die ewige Wiederkehr des Neuen Von Cornelia Blasberg
Was die >Postmoderne< nicht epochal, aber als eine immer schon vorhandene subkutane Gegenströmung von der >Moderne< trennt, hat man vielfältig untersucht und zu beschreiben versucht. 1 Z u solchen Charakteristika der >Postmoderne< gehört, daß die Kategorie der Zukunft für verloren gilt, und entsprechend skeptisch ist man gegenüber allen Emanationen von (vorgeblich) >Neuem< geworden: >Neu< ist allenfalls das recht verbreitete Einverständnis mit dem alten Topos »nihil novum sub sole«. Die letzte große Philosophie des Neuen hat Ernst Bloch zwischen 1938 und 1947 i m amerikanischen Exil geschrieben, 1959 erschien Das Prinzip Hoffnung auf dem deutschen Buchmarkt und entfaltete knapp zehn Jahre später seine revolutionäre Wirkung. Bloch hat konsequent versucht, die >objektiven< Möglichkeiten für Veränderungen, determiniert durch die jeweils spezifische historische Situation, mit dem »subjektivem Veränderungswillen des kreativen Individuums zusammenzudenken, sogar vom künstlerischen »Genie« ist die Rede. 2 Die Überzeugung, daß die Künste in engem Bund mit jeder Form antizipierenden Bewußtseins sind, gehört seit der Renaissance, spätestens seit Johann Jacob Breitingers Critischer Dichtkunst von 1730 zum Selbstverständnis der Literatur, 3 und gerade in Deutschland hat man der Kunst die Rolle der Revolutionärin stets umso bereitwilliger zugestanden, je erfolgreicher sich gesellschaftliche Umstürze begrenzen ließen. So meinte man gute Gründe für die Annahme zu haben, daß der nach 1968 für Furore sorgende Innovationsschub i m öffentlichen Leben der Bundesrepublik von ähnlich radikalen Erneuerungen in der Literatur begleitet und forciert worden sei. Der Augenschein gab dieser Vermutung recht. Ließ sich doch die 1 Z. B. Andreas Huyssen, Klaus R. Scherpe (Hg.), Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels (Reinbek 1986); Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne, 3. durchgesehene Auflage (Weinheim 1991). 2 3
Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung,
3 Bde (Frankfurt/Main 1976), hier Bd. 1, S. 142.
Vgl. dazu Bernd Hüppauf, »Das große Neue und das kleine Neue. Bemerkungen über Veränderungen der gesellschaftlichen Produktion des Neuen in der Literatur«, in: Literaturmagazin 13: Wie halten wir es mit dem Neuen t Innovation und Restauration im Zeichen einer vergangenen Zukunft (Reinbek 1980), S. 27-41.
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Literatur, kaum hatte man sie 1968 öffentlich begraben, nach 1970 zu einer glänzenden und marktträchtigen Wiedergeburt i m Zeichen von »Alltagsdichtung« und »Neuer Subjektivität« beglückwünschen. Zudem kamen nach Ingeborg Bachmanns, Paul Celans und Günter Eichs Tod neue Namen ins Gespräch - Botho Strauss, Rolf-Dieter Brinkmann, Nicolas Born, Peter Schneider, Karin Struck, Peter Handke und diese junge Autorengeneration profitierte nicht wenig davon, daß man seit dem 18. Jahrhundert daran gewöhnt war, mit jedem solchen Wechsel den Umschwung zu überraschend >neuen< Schreibstilen und Inhalten zu assoziieren. Neben dem Dramatiker Botho Strauss hat sich Peter Handke als Erzähler internationalen Respekt und langjährige Publizität erschrieben. »Im Blick auf das letzte Jahrzehnt bundesrepublikanischer Literaturentwicklung«, behauptete Manfred Durzak 1982 sogar, »ließe sich kein A u t o r nennen, der stärker als Ferment i m Kreislauf des literarischen Lebens gewirkt hätte als Handke.« 4 Aus der Perspektive der 1990er Jahre weiß man indes, daß Handkes Erfolge i n den 7Oer Jahren, w o Erzählungen wie Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (1970), Der lange Brief zum kurzen Abschied (1972), Wunschloses Unglück (1972) und Die linkshändige Frau (1976) erschienen, keine adäquate Fortsetzung fanden, ja, daß sich das Publikum seit der Kindergeschichte (1981) oder dem Chinesen des Schmerzes (1983) von Handkes zunehmend hartnäckiger und unkritischer formulierten Myelographie ästhetischen Lebens abwandte. Als selbstgefälliger Apostel eines Kunstreichs von Suhrkamps Gnaden hat Peter Handke die Rolle des aufmüpfigen Rebellen, mit der er seine Karriere einleitete, gründlich i n Vergessenheit geraten lassen. Aber selbst wenn man der Revolutionspose rückblickend mißtrauen mag: Handkes Ruhm i n den 1970er Jahren ist ein Faktum und berechtigt zu der Frage, was er beigetragen hat zur Veränderung der Literatur seit 1960. Ich möchte dieser Frage unter zwei verschiedenen Blickwinkeln nachgehen. Das, was man gleichsam die Innen- und die Außenperspektive auf Handkes Texte nennen könnte, ist allerdings kaum voneinander zu trennen. Man kann Handkes Frühwerk nicht analysieren, ohne den i n öffentlichen Auftritten des Autors immer wieder provozierten Überraschungseffekt zu berücksichtigen, d. h. man muß die Frage nach dem, was neu i n den Texten ist, mit der Frage verbinden, welche Vorstellungen von >Neuheit< das Publikum gerade favorisierte und welchen Inszenierungen des >Neuen< es den größten Beifall spendete. 5 Schließlich beruht das Funktionieren des literarischen Marktes auf der Fiktion, es gebe einen sich stets selbst überbietenden Fortschritt, ein niemals oder zumindest nicht in absehbarer Zeit erschöpfbares Reservoir an >NeuigkeitenTheorie der AvantgardeJetzt< eine solche Bedeutung zu wie bei Handke. Der achrone und enigmatische Zeitpunkt der vollen Gegenwart ist der Dreh- und Angelpunkt im temporalen Feld seiner Texte.« Bartmann bezieht sich auf Karl Heinz Bohrers Studie Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins (Frankfurt/Main 1981). 8 Das Schlagwort findet sich im Titel des Sammelbandes von Jochen Hörisch, Hubert Winkels (Hg.), Das schnelle Altern der neuesten Literatur (Düsseldorf 1985).
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A u f s e h e n erregte i n P r i n c e t o n keinesfalls d e r T e x t , d e n H a n d k e vorlas - das w a r e i n K a p i t e l aus d e r K r i m i n a l e r z ä h l u n g Der Hausierer
(1966) - , f ü r F u r o r e
sorgte seine später d u t z e n d f a c h k o l p o r t i e r t e Schmährede a u f die »Beschreib u n g s i m p o t e n z « der g e g e n w ä r t i g e n L i t e r a t u r . A m ersten T a g h a t t e n u. a. W a l ter Jens u n d G ü n t h e r Grass v o r g e t r a g e n , a m z w e i t e n lasen d e r l e t z t j ä h r i g e Preisträger Peter Bichsei, W a l t e r H ö l l e r e r , R e i n h a r d L e t t a u u n d H e r m a n n Peter P i w i t t , u n d n a c h P i w i t t s B e i t r a g m e l d e t e sich d e r v o n U n s e l d eher z u f ä l l i g e i n geladene H a n d k e z u W o r t . A l l denen, die i h n sahen, p r ä g t e sich das B i l d eines s c h m ä c h t i g e n , m ä d c h e n h a f t w i r k e n d e n j u n g e n M a n n e s ein, dessen H a a r s c h n i t t d e n » P i l z k ö p f e n « der Beatles e n t f e r n t n a c h e m p f u n d e n w a r ; 9 die F e u i l l e t o n i s t e n beschrieben i h n , n i c h t o h n e L u s t a n d e r R a n c u n e , als e i n e n sanften A u f r ü h r e r v o n v o l l e n d e t h a r m l o s e m Ä u ß e r e n , d o c h m i t G i f t auf d e r Z u n g e . G i f t auf d e r Z u n g e ? I c h z i t i e r e einige Passagen aus d e m T o n b a n d p r o t o k o l l d e r S i t z u n g : Peter Handke: Ich bemerke, daß in der gegenwärtigen deutschen Prosa eine Art Beschreibungsimpotenz vorherrscht. Man versucht sein Heil in einer bloßen Beschreibung, was von Natur aus schon das billigste ist, womit man überhaupt nur Literatur machen kann. Wenn man nichts mehr weiß, dann kann man immer noch Einzelheiten beschreiben. Es ist eine ganz, ganz unschöpferische Periode in der deutschen Literatur doch hier angebrochen, und dieses komische Schlagwort vom »Neuen Realismus« wird von allerlei Leuten ausgenützt, um doch da irgendwie ins Gespräch zu kommen, obwohl sie keinerlei Fähigkeiten und keinerlei schöpferische Potenz zu irgendeiner Literatur haben. (Gemurmel) [ . . . ] Das Übel dieser Prosa besteht darin, daß man sie ebensogut aus einem Lexikon abschreiben könnte. Man könnte den Sprachduden, diesen Bilderduden verwenden und auf die einzelnen Teile hinweisen. Und dieses System wird hier angewendet und (es) wird vorgegeben, Literatur zu machen. Was eine völlig läppische und idiotische Literatur ist. (Allgemeines Gelächter ; vereinzelter
Applaus) Und die
Kritik [ . . . ] ist damit einverstanden, weil eben ihr überkommenes Instrumentarium noch für diese Literatur ausreicht, gerade noch hinreicht. (Erneutes Gelächter) Weil die Kritik ebenso läppisch ist, wie diese läppische Literatur. (Vereinzeltes
Gelächter ; Un-
ruhe)} 0 O h n e Z w e i f e l hatte H a n d k e e i n T a b u v e r l e t z t : D i e Tagungsgesetze
der
» G r u p p e 47« e r l a u b t e n k e i n e G e n e r a l d e b a t t e n , s o n d e r n n u r K r i t i k a m soeben vorgelesenen T e x t . D a ß h i e r eine feurige A t t a c k e gegen das R e g l e m e n t g e r i t t e n w u r d e , m u ß a l l e n B e t e i l i g t e n k l a r gewesen sein, w e n i g e r K l a r h e i t
herrschte
9 Joachim Kaiser, »Drei Tage und ein Tag«, in: Süddeutsche Zeitung (München) vom 30. 4. 1966; zitiert nach: Die Gruppe 47. Bericht-Kritik-Polemik. Ein Handbuch , hg. von Reinhard Lettau (Neuwied, Berlin 1967), S. 220-224, hier S. 222; Jochen Ernst, »Rowohlt wird unsicher«, Deutsche Wochenzeitung (Hannover) vom 3. 6. 1966; zitiert nach ebd. S. 401-405, hier S. 403. 10 »Im Wortlaut. Peter Handkes >Auftritt< in Princeton und Hans Mayers Entgegnung«, in: Text und Kritik, Heft 24, 5. Auflage, Neufassung November 1989, S. 17-21, hier S. 17f.
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darüber, was der junge Autor eigentlich hatte sagen wollen. Daran konnte auch Hans Mayers Spontan-Interpretation nichts ändern, die sich rasch zum Lamento über die »neurestaurative[ ], biedermeierliche[ ] Gesellschaft« der Bundesrepublik und ihre Literatur auswuchs. 11 Dafür, daß Handkes Auftritt nicht so schnell in Vergessenheit geriet, sorgten die mit nach Princeton gereisten und vom sonstigen Tagungsprogramm eher gelangweilten Journalisten, aber auch der A u t o r selbst ließ es nicht an Phantasie fehlen. N o c h ein knappes Jahr später konnte man i m Merkur lesen, Handke habe das Princetoner Spektakel allein zu dem Zweck inszeniert, u m sich den seit langem gehegten Wunsch zu erfüllen, einmal i m Nachrichtenmagazin Der Spiegel erwähnt zu werden. 1 2 Er habe, so Handke, groß herauskommen wollen, und er habe diesen Erfolg einfach mit »einigen starken Bemerkungen« beschleunigt. Weniger Beachtung fanden Handkes baldige Entschuldigung für das »Schimpfwort« »Beschreibungsimpotenz« und seine Andeutungen über die Möglichkeiten alternativen Schreibens in der Zeitschrift konkret: Ich habe nichts gegen die Beschreibung, ich sehe vielmehr die Beschreibung als notwendiges Mittel an, um zur Reflexion zu gelangen. Ich bin für die Beschreibung, aber nicht für die Art von Beschreibung, wie sie heutzutage in Deutschland als >Neuer Realismus< proklamiert wird. Es wird nämlich verkannt, daß die Literatur mit der Sprache gemacht wird, und nicht mit den Dingen, die mit der Sprache beschrieben werden. In dieser neu aufkommenden Art von Literatur werden die Dinge beschrieben, ohne daß man über die Sprache nachdenkt, es sei denn, in germanistischen Kategorien der Wortwahl usw. 13
I n Princeton zog Handke die große, unbestimmte Geste sachhaltigen Aussagen dieser A r t vor. Spekulierte er darauf, daß man mit K r i t i k zurechtkam, solange sie als revolutionäre Geste verpuffte oder, wie das knapp zwei Monate nach Princeton (am 8. 6. 1966) i m Frankfurter Theater am Turm uraufgeführte Sprechstück Publikumsbeschimpfung, seine Wirksamkeit einzig und allein als Bühnenereignis erzielte? M i c h irritieren an Handkes Princetoner >Tagungsbeschimpfung< vor allem drei Widersprüche, deren Gemeinsamkeit ist, daß sich Handke, ohne selber mit Neuem aufwerten zu können, in der Rolle des großen Neuerers präsentieren konnte. Das erste Irritationsmoment entspringt der Tatsache, daß Handke ausgerechnet die Autoren des »Neuen Realismus« angriff. I n Princeton w i r d man zumindest ratlos gewesen sein, als Handke am Tag nach seiner Attacke auf die detailversessene Beschreibungsliteratur aus einem zweifelsfrei beschreibenden Text 11
Ebd., S. 19 f.
12
Günter Blöcker, »Peter Handkes Entdeckungen«, Merkur,; X X I (1967), S. 1090.
13
Peter Handke. »Zur Tagung der Gruppe 47 in USA«, in: ders., Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (Frankfurt/Main 1972), S. 29-34, hier 29.
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las, d e m Hausierer.
I c h greife z w e i Passagen aus d e m ersten K a p i t e l heraus; sie
u n t e r s c h e i d e n s i c h s t i l i s t i s c h so w e n i g v o n e i n a n d e r w i e v o m Rest d e r E r z ä h l u n g , die e i n aus u n t e r s c h i e d l i c h s t e n W a h r n e h m u n g s p a r t i k e l n
zusammenge-
setztes M o s a i k ist. B e s c h r i e b e n w i r d aus d e r Perspektive eines V a g a b u n d e n , eines Deserteurs aus d e m common sense: Die Flecken auf der Straße schrumpfen sichtbar zusammen. Die Schuhe haben keine Stahlkappen. Es ist Bratenduft, was der Hausierer riecht. Die Stiefel sind bis zum Schaft mit Kot überkrustet! Die Teller hängen in gleichmäßigen Abständen voneinander an der Wand. Wie kommt der Maiskolben in den Rinnstein? Der Mann ist unauffällig gekleidet. 14 Die Stimmen der Spieler werden zu den Stimmen von Verschwörern. Er hört kein Geräusch, aber er spürt eine winzige Bewegung der Luft über sich. Niemand hat ein Fleckputzmittel bei der Hand. I m nächsten Augenblick hätte das Rinnsal ihre hochhakkigen Schuhe erreicht. Bei diesem Lärm werden alle Geräusche ununterscheidbar. 15 H a n d k e s Hausierer
f o r d e r t d e n V e r g l e i c h m i t e i n e m T e x t aus d e m U m k r e i s
des als »unschöpferisch« u n d »läppisch« a b g e k a n z e l t e n » N e u e n Realismus« ger a d e z u heraus. D i e t e r W e l l e r s h o f f , i n P r i n c e t o n n i c h t anwesend, hatte 1960 a u f der A s c h a f f e n b u r g e r T a g u n g der » G r u p p e 47« e r f o l g r e i c h d e b ü t i e r t ; z u s a m m e n m i t L u d w i g H a r i g u n d J ü r g e n B e c k e r v e r t r a t er damals jene »junge G e n e r a t i o n « , 1 6 v o n der m a n N e u e s erwartete. 1960 e n t s t a n d Wellershoffs k l e i n e P r o saerzählung Während , eine s u b t i l e Studie ü b e r die P a t h o l o g i e des A l l t a g s l e b e n s u n d das P h a n t a s m a d e r I d e n t i t ä t . I c h z i t i e r e a u c h daraus eine charakteristische Passage: Ein Mann kommt über die Wiesen, hat einen schwarzen Hund bei sich, verschwindet hinter dem Bungalow, erst der Mann, dann der Hund, kommt wieder zum Vorschein, erst der Mann, dann der Hund. I m Vorderfenster die Straße. Ein alter Mann fährt langsam auf einem Fahrrad vorbei, drei Tretbewegungen, Freilauf, in diesem offenbar asthmatischen Rhythmus und dahinter ein schwarzer Hund. Ein Schwung Möwen kreuzt das hintere Fenster. I m Vorderfenster das Haus gegenüber und eine dicke Frau in Shorts, die aus der Tür tritt. Hat einen Tennisschläger in der Hand. Hat einen kleinen Jungen in blaugestreiftem Hemd. Hat auch einen Schläger. Wollen Federball spielen. I m Hinterfenster vor allem der Himmel, vor allem die Wolken, vor allem hinter den Dünen die Wolken, hinter den Wolken den Dünen Wolken der W i n d . 1 7 D i e Ä h n l i c h k e i t e n s i n d f r a p p a n t . B e i d e Texte sind, i n d e r T r a d i t i o n des f r a n zösischen >nouveau roman< u n d i n s p i r i e r t d u r c h kameratechnische Einflüsse, 14
Peter Handke, Der Hausierer (Frankfurt/Main 1966), S. 23.
15
Ebd., S. 24.
16
Grundriß , Text und
17
Seestück und andere Texte (Köln 1974),
Göttinger Seminar »Gruppe 47«: Die Gruppe 47. Ein kritischer Kritik Sonderband (München 1980), S. 116. Dieter Wellershoff, Doppelt belichtetes S. 9-17, hier S.9f.
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von einer extremen Subjektivierung der Blickführung geprägt, beide bieten eine durch keinen Begriff zu bändigende Inflation sinnlicher Einzelheiten, beide zerstören die szenische Objektivität der Dialoge. Für die generative Grammat i k solcher Texte nutzte Handke vier Jahre nach Princeton, während der Arbeit an seiner 1970 veröffentlichten Erzählung Die Angst des Tormanns beim Elfmeter , ein psychologisches Erklärungsmodell. Der Monteur Josef Bloch ist nicht nur ein naher Verwandter des »Hausierers«, sondern ein getreues Nachbild jener Schizophreniekranken, deren Symptome der Analytiker Claus Conrad i n seiner Studie Die beginnende Schizophrenie beschrieben hatte; 1 8 schließlich würden Wahrnehmungsveränderungen i n der heutigen Situation, so Handke, nur durch schwere psychische Erkrankungen möglich. 1 9 Nichts anderes fordert i m übrigen Wellershoff von der Literatur, wenn er sie als eine A r t Simulator definiert, der Autoren und Lesern die Überschreitung der engen Grenzen routinehafter Alltagserfahrung erlaubt. Keinesfalls zielt der »Neue Realismus« damit auf eine Beschreibung des Vorfindlichen, denn er ist i m Bund mit einer Wahrnehmungstheorie, die an der Vorfindlichkeit von Realem gerade zweifelt, weil sie die Menschen zu Sklaven ihrer Orientierungsschemata geworden sieht, unfähig, das, was »Wirklichkeit« i m emphatischen Sinne ist, überhaupt zu erkennen. Die erzählerische Technik kalkulierten Sinnentzugs, mit deren Hilfe die Leser >Realität< ungeschützt, vorbehaltlos, gleichsam wie zum ersten M a l erleben sollen, hat Handke von Wellershoff übernommen und bis 1975, bis zur Stunde der wahren Empfindung, kultiviert. 2 0 Blättert man darüber hinaus durch seine Gedichtbände Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt (1969) und Als das Wünschen noch geholfen hat (1974), findet man Foto-Text-Kombinationen, die wie ein schwaches Imitat von Rolf-Dieter Brinkmanns >neu-realistischen< Sudelbüchern wirken. Konnte Handke allen Ernstes behaupten, der »Neue Realismus« mache Literatur »mit Dingen« statt »mit Sprache«, ohne sich selbst, d. h. die i n seiner eigenen Literatur wirksame Tradition und Programmatik anzugreifen? Inszenierte man i n Princeton vielleicht gar nicht das 18
Claus Conrad, Die beginnende Schizophrenie. Versuch Wahns (Stuttgart 2 1966).
einer Gestaltanalyse
des
19 Auf seine Inspiration durch Conrads Studie wies Peter Handke in einem brieflichen Kommentar zu Vorabdrucken aus dem Hausierer im Kölner Stadtanzeiger (Weihnachten 1966) hin. Wieder abgedruckt in: Peter Handke. Text und Kritik, Heft 24,1969, S. 3-7. Zu Handke und Conrad vgl. Manfred Mixner, Peter Handke (Kronberg 1977), S. 127 ff. 20 Noch im Gespräch mit Herbert Gamper vom 9. 4.1986, bezugnehmend auf die 1979 veröffentlichte Erzählung Langsame Heimkehr, formulierte Handke entsprechend: »Der Almkanal, der dort vorbeifließt, der wird vielleicht einmal zerstfört], ausgetrocknet sein, den wirds vielleicht nicht mehr geben. Aber die Erzählung gibts, in der Erzählung bleibt alles wie am ersten Tag. Es ist auch die Herrlichkeit des Erzählens, daß die Dinge wie am ersten Tag sind, auch wenn sie in der Tatsachenwelt oder in der Nachrichtenwelt zerstört sind.« Zitiert nach: Peter Handke: Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen. Ein Gespräch, geführt von Herbert Gamper (Zürich 1987), S. 35, Hervorhebung von mir.
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Sprechstück Publikumsbeschimpfung, sondern probte für Handkes Selbstbezichtigung, uraufgeführt am 22.10.1966 in Oberhausen? Wer an diesem Punkt Einspruch erheben und an Handkes knappe Charakteristik des eigenen poetischen Ansatzes in der Zeitschrift konkret erinnern will, stößt bald auf den nächsten Widerspruch. D o r t heißt es nämlich vollmundig: Es wird vernachlässigt, wie sehr die Sprache manipulierbar ist, für alle gesellschaftlichen und individuellen Zwecke. Es wird vernachlässigt, daß die Welt nicht nur aus den Gegenständen besteht, sondern auch aus der Sprache für diese Gegenstände. Indem man die Sprache nur benützt und nicht in und mit ihr schreibt, zeigt man nicht auf die Fehlerquellen in der Sprache hin, sondern fällt ihnen selber zum Opfer. Das >Glas der Sprache< sollte endlich zerschlagen werden. 21
Hat man wirklich auf das Jahr 1966 warten müssen, u m Peter Handke das >Glas der Sprache< zerschlagen zu sehen, hat es keinen Georg Büchner, hat es weder Friedrich Nietzsche noch Fritz Mauthner, weder Hugo von Hofmannsthal noch Robert Musil, weder Günter Eich noch Paul Celan gegeben? W i r d die Diskussion u m die reproduktive resp. wirklichkeitskonstitutive Potenz der Sprache nicht schon seit Jahrhunderten geführt? Vermutlich erliegen gerade arrivierte, i n ihre eigenen Strukturzwänge verstrickte kulturelle Gemeinschaften wie die »Gruppe 47« mit besonderer Bereitschaft solcher Fundamentalkritik und der hochmütigen Illusion junger Leute, sie hätten ihre Literatur »auf einer tabula rasa erfunden, mit ihr tabula rasa gemacht«. 22 Dabei wäre es so einfach gewesen, den Gruppen-Neuling in Princeton darauf aufmerksam zu machen, daß er gewissermaßen die letzte literarische Mode mit der vorletzten auszutreiben versuche. Handke lieh sich nämlich für die Ankündigung einer unvordenklich neuen Literatur die Stimmen seiner Lehrmeister aus der »Wiener Gruppe« ( H . C. Achleitner, Konrad Bayer, Gerhard Rühm, Oswald Wiener) aus. Diese Stimmen hatten ihn Anfang der 60er Jahre in seinem Studienort Graz erreicht, w o sich die »Wiener« Gruppe, zu diesem Zeitpunkt noch zu einer A r t avantgardistischem Untergrund-Dasein i n Österreich verdammt, i n der von Alfred Kolleritsch und Günter Waldorf herausgegebenen Zeitschrift manuskripte vorstellen konnte. 2 3 Seit Helmut Heissenbüttels Lesung »konkreter Poesie« auf der Tagung 1955 wurde über den jede Erkenntnis vorstrukturierenden transzendentalen Status der Sprache i m Rahmen der »Gruppe 47« diskutiert. I n den Jahren 1961 bis 1964 las Heissenbüttel aus seinen gegen die »Sprichwörterzeit« angeschriebenen Textbüchern, 1963 trug Konrad Bayer, von starkem Applaus 21
Peter Handke, »Zur Tagung der Gruppe 47 in USA«, a. a. O., S. 30.
22
Heinz Ludwig Arnold, »Die drei Sprünge der westdeutschen Literatur«, Akzente, 20 (1973), S. 70-80, hierS. 79. 23
Adolf Haslinger, Peter Handke. Jugend eines Schriftstellers S. 118.
(Salzburg, Wien 1992),
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bedacht, aus seinem »roman« der sechste sinn vor. 2 4 Erst i n seinem 1968 uraufgeführten Sprechstück Kaspar zeigte sich Handke dem poetischen Anspruch der »Wiener« wirklich gewachsen; Kaspar führt Sprache als eine reale physische Gewalt vor und sollte zeigen, so der Autor, wie »jemand durch Sprechen zum Sprechen gebracht«, 25 wie ein Mensch mit Satzschablonen gefoltert wird, damit er i m Rahmen der gesellschaftlichen Normen funktioniere. Verglichen mit der i n Kaspar geglückten Vermittlung zwischen Erkenntnis-und Sprachtheorie erscheint die Lösung, die Handke 1966 präsentierte, defizitär, weil schlicht additiv. I m Hausierer w i r d jedes i m besten Sinne des »Neuen Realismus« >beschreibende< Kapitel durch kursivierte Passagen eingeleitet, in denen das sprachliche Muster der Erzählung, die »Mordgeschichte«, vorgestellt und bis i n Satzmodelle hinein erläutert wird. A u f diese Weise soll die (gesellschaftliche) Ordnung der Dinge, deren Zerstörung und Restitution ein Kriminalroman traditionellerweise vorführt, auf die Grammatik der darstellenden Sprache zurückgeführt werden. Peter Handkes Literatur zwischen 1960 und 1970, hat Helmut Mader polemisch formuliert, sei »ein Versuch« gewesen, die konkreten Radikalen (die Wiener Gruppe, Heissenbüttel, M o n ) verwässert dem Geschmack eines größeren Publikums anzubieten. 26 Z u präzisieren wäre: Handkes Texte zwischen 1966 und 1975 haben erfolgreich an einer Synthese zwischen dem »Neuen Realismus« der sechziger und der »konkreten Poesie« aus den fünfziger Jahren gearbeitet. M i t dieser synthetisch gewonnenen Poetik aber stand der Autor, und damit komme ich auf Princeton zurück und möchte ein drittes Irritationsmoment i n Handkes Auftritt erläutern, nicht allein. Reinhard Lettau, i n seinen frühen Texten (In der Umgebung, 1964) Anhänger des Beschreibungsstils, präsentierte am 2. Lesungstag i n Princeton die Prosaskizze Der Feind, i n der er nachzuweisen versuchte, daß die »autoritären Denkstereotypen«, die für das Militär charakteristisch und für manche seiner grotesken Fehlhandlungen verantwortlich sind, auf der »Eigendynamik der Wörter« ebenso beruhen wie auf den »ritualisierte [n] Befehlsabläufen.« 27 N i c h t der Ausführung, aber der Idee nach entstammen Lettaus Feind und Handkes Kaspar aus demselben poetologischen Fundus, und nicht nur das: Bereits 1965 hatte Peter Bichsei für einige der später i m Band Die Jahreszeiten versammelten Kurztexte, die virtuos sprachliche Versatzstücke kombinieren und gleichsam dekonstruieren, sogar den Preis der 24 Konrad Bayer, »der sechste sinn, ein roman«, in: Das Gesamtwerk, hg. von Gerhard Rühm (Reinbek 1977), S. 331-426. 25
Peter Handke, Kaspar, in: Stücke 1 (Frankfurt 1972), S. 99-198, hier S. 103.
26
Helmut Mader, »Das Ich als die Quelle des Irrationalismus. Der Einzige und sein Eigentum oder: Macht und Ohnmacht der Subjektivität. Peter Handkes neues Buch Als das Wünschen noch geholfen hat.«, FAZ vom 12.11. 1974. 27
Göttinger Seminar »Gruppe 47«: Die Gruppe 47, a. a. O., S. 124.
13 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 38. Bd.
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»Gruppe 47« erhalten. Daß Bichsei seine »Geschichte« wahrlich nicht von den »Gegenständen«, sondern von den für sie konstitutiven »Wörtern« aus erzählt, belegt beispielsweise folgende Passage: Kieninger ist nicht bereit, mir Geschichten zu erzählen. Ich schiebe ihm Wörter zu, ich sage >Tarragona< und er sagt >TarragonaElfriede< sage, wiederholt er es. Wenn er es mehrmals wiederholt und mit kleinen Unterschieden in der Betonung, werde ich aufmerksam und fülle sein Glas nach. 28
I m Grunde ließ Handkes Attacke also nicht nur den Gegner vermissen, sondern hielt diesem noch dessen eigenes Programm entgegen, mit einem Wort: Die Tür, die der junge A u t o r i n Princeton einrannte, hätte offener nicht sein können. Wie es trotzdem zum Princetoner Eklat kam und warum sich auf ihn eine Schriftstellerkarriere i m Zeichen ungestümer literarischer Erneuerung gründen ließ, scheint an der Sensationslust der Medien und der auf Umsturz eingestellten Erwartung der literarischen Öffentlichkeit nicht weniger gelegen zu haben als an einer A r t Gunst der Stunde. Die »Gruppe 47« war 1966 schon längst zur Sklavin ihres Erfolgs geworden, was die finanzkräftige Einladung nach Amerika ebenso bewies wie die Tatsache, daß eine Armada deutscher Autoren, K r i t i ker und Journalisten, die allesamt von ihrem politischen Nonkonformismus überzeugt waren, dieser Einladung folgten, obwohl Amerika auf unbestreitbar zweifelhafte A r t in den Vietnam-Krieg verwickelt war. 2 9 Ihr von der kritischen amerikanischen Presse mit Befremden notiertes Stillhalten kompensierte die Gruppe auf der 1967er Tagung i n der fränkischen »Pulvermühle« durch so heftige politische Auseinandersetzungen, daß eine Spaltung kurz bevorzustehen schien - dazu kam es nicht, weil die von Hans-Werner Richter i n Prag geplante Jahrestagung 1968 platzte. Die explosive Atmosphäre von 1967 hat man stets damit zu erklären versucht, daß die Politisierung der bundesrepublikanischen Gesellschaft vor der Gruppe nicht haltgemacht habe. Dieses Argument bedarf der Differenzierung, denn die »Gruppe 47« war 1967 nicht nur wehrloses O p fer einer von außen induzierten politischen Spaltung, sondern trug diesen Prozeß aktiv und, so paradox das klingen mag, i m Interesse der Selbsterhaltung mit. Konnte sich nämlich die Gruppe i n den fünfziger Jahren als Repräsentant i n eines anderen, politisch wachsameren und flexibleren, auch selbstkritischen Deutschlands rühmen, so wurde ihr diese Rolle nun von rebellischen außerparlamentarischen Bewegungen erfolgreich streitig gemacht. Rasch assimilierte 28 Peter Bichsei, Die Jahreszeiten (Neuwied, Berlin 1967), S. 52. 29
Vgl. dazu Joachim P. Bauke, »Die Gruppe 47 in Princeton«, The New York Times Book Review ; 15. 5. 1966; zitiert nach: Reinhard Lettau, Die Gruppe 47, a. a. O., S. 236240; Fritz J. Raddatz, »Die Bilanz von Princeton«, Frankfurter Hefte , Juli 1966; zitiert nach ebd., S. 241-247.
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sich die Literaten-Gruppe, wurde offensiv i m Sinne ihrer Herausforderer, doch lenkte sie ihre kämpferischen Energien, >freischwebendPublikumsbeschimpfung< Regie führte. Hat man ihn, den medien- und erfolgversessenen Newcomer, nicht ebenso benutzt wie die auf Newcomer konditionierten Medien, u m weithin sichtbar demonstrieren zu können, wie lebendig und innovationsfreudig es i n der »Gruppe 47« zuging? N i c h t zufällig bewies Hans-Werner Richter, der Gruppen-»Vater«, 31 erstaunlichen Langmut gegenüber Handkes großen Worten und schwachen Argumenten, und ebenso wenig zufällig kommentierte Dieter E. Zimmer in der ZEIT vom 6. 5. 1966: Es war ein Aufstand gegen so gut wie alles, was sich an Literatur und Kritik auf dieser Tagung präsentiert hatte, nicht sehr artikuliert zwar, selber Geschimpf, doch radikal gemeint. Aber wer glaubte, jetzt würde sich irgendwer getroffen fühlen und zur Wehr setzen, sah sich getäuscht. Der Aufstand wurde willkommen geheißen, die Rebellion vereinnahmt, freudestrahlend kamen die Angegriffenen dem Revolutionär entgegen und drückten ihm den Bruderkuß auf die Wange - und die Situation war gerettet. 32
Es gibt genügend Belege aus den Archiven früherer Jugendbewegungen, die verdeutlichen, mit welcher Umsicht die >alte< Generation ihren vermeintlichen Sturz durch eine >neue< vorzubereiten und zu inszenieren pflegt, selbst wenn aus dem Spiel mit dem Feuer ein Brand werden könnte. 3 3 Fiktionen dieser A r t , zubereitet durch literarische Darstellungsmuster, bestimmen die Geschichtsschreibung, hat Hayden White i n seiner Studie Metahistory herausgearbeitet, 34 30 Gérard Raulet, Gehemmte Zukunft - Zur gegenwärtigen (Darmstadt, Neuwied 1986), S. 183 ff.
Krise der Emanzipation
31 Z. B. Joachim Kaiser, »Drei Tage und ein Tag«, a. a. O., S. 222: »Richter ist der Vater, der seine Schriftsteller-Existenz für die Gruppen-Existenz geopfert hat (und dem dafür Autorität zugestanden wird, denn er kennt keinen Neid); Günter Grass ist der mächtige Onkel, der mit wohlwollender Genauigkeit seinen technischen Segen gibt [ . . . ] « . 32
Dieter E. Zimmer, »Gruppe 47 in Princeton«, DIE ZEIT (Hamburg), 6. 5. 1966, zitiert nach ebd., S. 225-236, hier S. 233. 33 Zahlreiche Belege in Thomas Koebner, Rolf Peter Janz, Frank Trommler (Hg.), »Mit uns zieht die neue Zeit«. Der Mythos Jugend (Frankfurt/Main 1985). 34 Hayden White, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert Europa [Metahistory. The Imagination in Nineteenth-Century Europe (Baltimore, London 1973)]. Aus dem Amerikanischen von Peter Kohlhaas (Frankfurt/Main 1991).
13*
in
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Cornelia Blasberg
und entsprechend möchte ich behaupten: I n Princeton spielte man ein Vatermorddrama, das die Geburt des Neuen aus dem Schoß des Alten glaubhaft machen sollte, und niemand war eifriger daran beteiligt als die >VaterGroßväterTagungsbeschimpfung< den revolutionären Gestus kopiert und das >Neue< emphatisch als Zerstörung resp. Überwindung des >Alten< einfordert (das ist ein Gestus, der auch Handkes programmatische und literaturtheoretische Schriften der Zeit prägt), w i r k t der vorgetragene Hausierer-Text mit seinem eklektischen Verfahren und seiner dezentrierten Struktur geradezu anti-modernistisch und »postmodern«. 38 Es ist bekannt, daß Handke, der seine Auftritte heute recht weihevoll zu zelebrieren pflegt, 3 9 die Lust an der Rebellion rasch verloren und auf Happenings ä la Princeton verzichtet hat. U m 1968, als die studentenbewegten Aktivisten das Establishment weit radikaler noch als er attackierten, versuchte er sich kurzfristig und vergeblich als eine A r t Provokateur der Provokateure und 37
Hans Ulrich Gumbrecht, »Modern, Modernität, Moderne«, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland , hg. von Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Stuttgart 1980), S. 93-131, hier S. 127 am Beispiel der Pop-Art: »Ermöglicht dieses Programm letztlich doch nur eine Anpassung an die schon von der Avantgarde der Jahrhundertwende vollzogene Erfahrung der Beschleunigung in der Ablösung der Stilarten, so wird das Grundprinzip von PopArt, nach dem alle Gegenstände potentiell ästhetische sind, eher der neuen Einsicht gerecht, daß der moderne Künstler bei seinem Schaffen stets aus einer Fülle synchroner Möglichkeiten auswählen kann.« 38 39
Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne , a. a. O., S. 4.
Ein Zeugnis aus jüngster Vergangenheit bietet Rainer umnachtet«, Süddeutsche Zeitung , Nr. 72 vom 26. 3.1996.
Stephan,
»Handke,
198
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setzte Parolen wie Die Literatur ist romantisch (1966), Ich hin ein Bewohner des Elfenbeinturms (1967) oder »Brecht ist [ . . . ] ein Trivialautor« (Horvath und Brecht, 1968) i n die Welt. Es bedarf keines großen Scharfsinns, i n Handkes antizyklischer Progammatik eine gehörige Portion Konservatismus zu entdekken; ähnlich, wie er i n Princeton die »Beschreibungsliteratur« mit der »experimentellen Poesie« zu überholen dachte, rückte er nun dem politisierten common sense mit der Devise zu Leibe: »[Es] ist nichts anderes als das hoffnungsbestimmte poetische Denken, das die Welt immer wieder neu anfangen läßt«. 4 0 U n d ähnlich wie i n literarischer, so scheint Handke auch i n politischer Hinsicht dort, w o er von Zukünftigem spricht, den Blick i n die Vergangenheit zu richten und beliebig aus ihrem Archiv, einem zeitlosen, synchronen Raum längst nicht abgegoltener Gestaltungsmöglichkeiten, zu zitieren. Ein solches Verfahren entspricht der postmodernen Uberzeugung von der Abstandlosigkeit des Heterogenen und der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, doch zögere ich trotzdem, Handkes Texte, selbst die von poststrukturalistischer Philosophie inspirierten Erzählungen der 1980er Jahre, 41 als Dokumente postmoderner Kultur zu charakterisieren. Ihnen fehlt das, was Wolf gang Welsch »die Verfassung radikaler Pluralität« genannt hat, ihnen fehlt das »zuinnerst positive« 4 2 Einverständnis mit der Heteronomie und Gleich-Gültigkeit aller Ordnungen. Uneingeschränkter Pluralismus herrscht zwar i m Textarchiv der Vergangenheit, aber der selektive, textgestaltende Griff i n diesen Fundus hat die Konstruktion eines über alle postmoderne »Unübersichtlichkeit« erhabenen poetischen Ortes zum Ziel. Ebenso, wie Handkes frühe literarische Werke allzu feste lebensweltliche Gewißheiten subvertieren, bemühen sich die späteren u m eine Rezeptur gegen das allzu schnelle Einverständnis der Zeitgenossen mit der >postmodernen< D i spersion des Sinns. Deshalb findet man immer wieder deutlich umzirkte, bereits durch ihre Gestalt zur Poetisierung disponierte Räume in Handkes Texten - dazu gehören der provensalische Gebirgszug Sainte-Victoire (Die Lehre der Sainte-Victoire), das slowenische Karstgebiet i n der Wiederholung oder die titelgebende Niemandsbucht - die, mehr als daß sie reale Orte bezeichnen, herausgehobene Elemente einer durch den Werkkontext mit neuer Verbindlichkeit ausgestatteten Zeichenordnung sind. Dieser besonderen Raumordnung korre40 Peter Handke, »Die Geborgenheit unter der Schädeldecke«, in: Als das Wünschen noch geholfen hat (Frankfurt/Main 1974), S. 71-80, hier S. 80. 41
Zu der Erzählung Die Lehre der Sainte-Victoire vgl. Ingrid Hoesterey, »Mit Cézanne auf der Hochebene des Philosophen. Der visuelle und philosophische Intertext in Handkes Lehre der Sainte-Victoire«, in: dies., Verschlungene Schriftzeichen. Intertextualität von Literatur und Kunst in der Moderne/Postmoderne (Frankfurt/Main 1988), S. 101-129; zur Wiederholung vgl. Martina Wagner-Egelhaaf, »Die heilige Schrift. Peter Handke: Die Wiederholung (1986)«, in: dies., Mystik der Moderne. Die visionäre Ästhetik der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert (Stuttgart 1989), S. 172-207. 42
Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne, a. a. O., S. 1.
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spondiert eine charakteristische Zeit- und Personalstruktur der Texte, die ich - abschließend - aufhellen und nicht ohne einen letzten Blick auf die Princetoner Situation analysieren möchte. Dazu fasse ich noch einmal zusammen: Als Handke sich in Princeton zum Anwalt der neuesten Literatur stilisierte, lag diesem Schauspiel ein aus Vatermord- und Revolutionsdramen wohlbekanntes Rollenschema zugrunde, und mit dem Einverständnis aller Beteiligten wurde der Durchbruch zu >Neuem< so inszeniert, als gebe es - statt der anonymen und unterschiedslos an allem interessierten Medienherrschaft - tatsächlich noch die aus der Vergangenheit bekannte machtvolle >VaterSöhne< mit ihren neuen Ideen zur Wehr setzen müßten. Die hierarchische >alte< Ordnung mußte also gewissermaßen i m selben Moment, i n dem ihre Auflösung zugunsten des >Neuen< inszeniert wurde, revitalisiert und bestätigt werden. U n d offensichtlich wurde der pathetische >Bruch< mit dem >Alten< zur Schau gestellt, ohne daß er von den vorgetragenen literarischen Texten her gerechtfertigt gewesen wäre: Die Schreibverfahren, d. h. die generischen Tiefenstrukturen der als unvergleichlich, als >alt< resp. >neu< ausgegebenen Werke stimmten nämlich frappant überein. Die Prosatexte von Jürgen Becker und Peter Bichsei, Reinhard Lettau, Walter Höllerer und Peter Handke konstituierten sich allesamt durch ihren - wenn auch unterschiedlich akzentuierten - Rückbezug auf jüngste literarische Konventionen, waren also Resultate und Zeugnisse eines Selektions- und Rekombinationsprozesses, der sich i m Verhältnis zu einem virtuell unendlichen, plural verfaßten >Textverlorenen< und wiederzufindenden Vater. 49 Die Tatsache, daß - auf der Ebene des Erzählten - eine positive familiale Ordnung derart vermißt wird, daß - hinsichtlich der Textform - ein zentraler Bezugspunkt des Erzählens fehlt, zieht vor allem einen Effekt nach sich: Der Wunsch nach Restitution einer; einer bestimmten, identifizierbaren, sinnstiftenden (Text-)Ordnung ist so groß, daß »Pluralität« keine »zuinnerst positive Vision« in den Texten sein kann. O b Handkes auf ihren autobiographischen Grund hin durchsichtige Erzählungen nun 1966 (Die Hornissen) oder 1986 (Die Wiederholung) geschrieben sind, immer werden >postmoderne< K r i terien wie »Dispersion des Subjekts«, »Dezentrierung des Sinns« oder »Unsynthetisierbarkeit der vielfältigen Lebensformen und Rationalitätsmuster« 50 als i m und vom Text zu überwindende Verlusterfahrungen dargestellt. Daß Hand45
Peter Handke, Langsame Heimkehr (Frankfurt/Main 1979), S. 104.
46
Ebd., S. 103.
47
Peter Handke, Die Lehre der Sainte-Victoire
(Frankfurt/Main 2 1984), S. 69.
48
Zahlreiche Belege in: Cornelia Blasberg, »»Niemandes Sohn