Literaturwissenschaftliches Jahrbuch: 37. Band (1996) [1 ed.] 9783428487424, 9783428087426

Das Literaturwissenschaftliche Jahrbuch wurde 1926 von Günther Müller gegründet. Beabsichtigt war, in dieser Publikation

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Literaturwissenschaftliches Jahrbuch: 37. Band (1996) [1 ed.]
 9783428487424, 9783428087426

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LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH Neue Folge, begründet von Hermann Kunisch

I M AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN V O N PROF. DR. T H E O D O R BERCHEM, PROF. DR. V O L K E R KAPP, PROF. DR. FRANZ L I N K , PROF. DR. KURT MÜLLER, PROF. DR. RUPRECHT WIMMER, PROF. DR. ALOIS W O L F SIEBENUNDDREISSIGSTER B A N D

1996

Das Literaturwissenschaftliche

Jahrbuch w i r d im Auftrage der Görres-Gesellschaft heraus-

gegeben von Prof. Dr. Theodor Berchem, Institut für Romanische Philologie der Universität, A m Hubland, 97074 Würzburg, Prof. Dr. Volker Kapp, Romanisches Seminar der Universität Kiel, Olshausenstraße 40, 24098 Kiel, Prof. Dr. Franz Link, Eichrodtstraße 1, 79117 Freiburg i. Br., Prof. Dr. Kurt Müller, Institut für Anglistik/Amerikanistik, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Ernst-Abbe-Platz 4, 07743 Jena (federführend), Prof. Dr. Ruprecht Wimmer, Sprach- und Literaturwissenschaftliche Fakultät, Katholische Universität Eichstätt, 85071 Eichstätt und Prof. Dr. Alois Wolf, Deutsches Seminar der Universität, Werthmannplatz, 79085 Freiburg i. Br. Redaktionsanschrift:

Lehrstuhl für Amerikanistik, Institut für Anglistik/Amerikanistik,

Friedrich-Schiller-Universität Jena, Ernst-Abbe-Platz 4, 07743 Jena. Redaktion:

Dr. Jutta

Zimmermann. Das Literaturwissenschaftliche

Jahrbuch erscheint als Jahresband jeweils im Umfang von

etwa 20 Bogen. Manuskripte sind nicht an die Herausgeber, sondern an die Redaktion zu senden. Unverlangt eingesandte Beiträge können nur zurückgesandt werden, wenn Rückporto beigelegt ist. Es wird dringend gebeten, die Manuskripte druckfertig einseitig in Maschinenschrift einzureichen. Ein Merkblatt für die typographische Gestaltung kann bei der Redaktion angefordert werden. Die Einhaltung der Vorschriften ist notwendig, damit eine einheitliche Ausführung des Bandes gewährleistet ist. Besprechungsexemplare von Neuerscheinungen aus dem gesamten Gebiet der Literaturwissenschaft, einschließlich Werkausgaben, werden an die Adresse der Redaktion erbeten. Eine Gewähr für die Rezension oder Rücksendung unverlangt eingesandter Besprechungsexemplare kann nicht übernommen werden. Verlag: Duncker & H u m b l o t G m b H , Carl-Heinrich-Becker-Weg 9, 12165 Berlin.

LITERATUR WISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH SIEBENUNDDREISSIGSTER BAND

LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH NEUE FOLGE, BEGRÜNDET V O N H E R M A N N K U N I S C H

I M A U F T R A G E D E R GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN V O N T H E O D O R B E R C H E M , V O L K E R KAPP, F R A N Z L I N K KURT MÜLLER, RUPRECHT WIMMER, ALOIS WOLF

SIEBENUNDDREISSIGSTER B A N D

1996

D U N C K E R

&

H U M B L O T / B E R L I N

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1996 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0075-997X ISBN 3-428-08742-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ©

INHALT

AUFSÄTZE Alfred Schopf (Hohenschäftlarn), Bedas Sterbelied James E. Cathey (Amherst, Mass./USA), Beredtheit i m altsächsischen Heliand

Die

9 Rhetorik

der

Weisheit

und 31

Vincent DiMarco (Amherst, Mass./USA), Travels in Médiéval Femenye: Alexander the Great and the Amazon Queen

47

Martina Backes (Freiburg i. Br.), » [ . . . ] von dem nabel hinauff ein menschlich vnd hübsch weyblichs bilde/und von dem nabel hin ab ein grosser langer wurm.« Zur Illustrierung deutscher Melusinehandschriften des 15. Jahrhunderts

67

Barbara Feichtinger (Salzburg), Die eine und die vielen: Identität und Variation i m literarischen Kleopatra-Bild von der Antike bis zu Shakespeare

89

Joachim Zelter (Tübingen), Liebe und Intimität: Shakespeares Welt - unsere W e l t . . .

113

Jacques Le Brun (Paris), Télémaque: Fable et spiritualité

137

Jean-Christophe dien

157

Rebejkow (Ivry), Le langage musical dans le Paradoxe sur le comé-

Sabine Volk-Birke (Bamberg), »Cliffs of fall frightful«: Selbsterkenntnis und Weltbild von Thomas Hardy bis Gerard Manley Hopkins

171

Jochen Achilles (Mainz), Funktionen der Religion in der irischen K u l t u r der Jahrhundertwende: Moore, Shaw, Yeats und Joyce

193

Elmar Schenkel (Leipzig), Cyclomanie: Fahrrad und Literatur u m 1900

211

Robert Theel (Berlin), »Der Snob Rathenau«. Carl Sternheims Parvenü Christian Maske als dramatische Verschlüsselung des wilhelminischen Industriellen, Philosophen und Zeitkritikers Walther Rathenau (Der Snob, 1913)

229

Udo J. Hebel (Potsdam), »The Whole Evanescent Context«? Möglichkeiten und Grenzen synchroner Kulturpoetik am Beispiel von Sinclair Lewis* Main Street (1920)

261

Daniel Hoffmann Tagebuch

283

(Düsseldorf), Krieg und Tausch: Hans Carossas Rumänisches

6 Martin

Inhalt Neumann

(Regensburg), Bufalino als Leser und Übersetzer von Baudelaire

307

Heinz Klüppelholz (Mülheim/Ruhr), U n d ewig lockt das Wort: Vargas Llosas El hablador i n der Tradition des Indigenismus

325

Volker Kapp (Kiel), Übersetzung italienischer Nachkriegsliteratur

343

Ulrich Schulz-Buschbaus (Graz), Übersetzung und Kanonbildung - N o t i z e n zur deutschsprachigen Rezeption italienischer Literatur

363

Paul Goetsch (Freiburg i. Br.), Von Bücherwürmern Motivkomplex Lesen und Essen

381

und

Leseratten:

Der

KLEINE BEITRÄGE Alfred Anger (Essen), Die sogenannte historisch-kritische Ausgabe Wackenroders . . Werner Frizen (Köln), Der Tod des Autors: Zwei Thomas-Mann-Biographien Michael Neumann (Münster), Archäologie der literarischen Kommunikation

407 439 455

BUCHBESPRECHUNGEN Dennis Howard Green, Médiéval Listening and Reading. The Primary Reception of German Literature 800-1300 (von Martina Backes)

477

Fritz Peter Knapp, Die Literatur des Früh- und Hochmittelalters in den Bistümern Passau, Salzburg, Brixen und Trient von den Anfängen bis zum Jahre 1273 (von Werner Hoffmann) 481 Libriy idee e sentimenti religiosi nel Cinquecento italiano (von Volker Kapp)

484

Stefano Guazzo, La civil conversazione a cura di Amadeo Quondam (von Volker Kapp)

488

Rita Unfer Lukoschik, Der erste deutsche Gozzi: Untersuchungen zu der Rezeption Carlo Gozzis in der deutschen Spätaufklärung (von Susanne Winter)

493

Gonthier-Louis Fink, Hg., Limage de V Italie dans les lettres allemandes et françaises au XVIII e siècle. Das Bild Italiens in der deutschen und französischen Literatur des 18. Jahrhunderts. Actes du Colloque International Strasbourg 16-18 septembre 1992 (von Britta Brandt) 499 Wolf gang F. Bender/Siegfried Bushuven/Michael Huesmann, Theaterperiodika des 18. Jahrhunderts. Bibliographie und inhaltliche Erschließung deutschsprachiger Theaterzeitschriften, Theaterkalender und Theatertaschenbücher unter Mitarbeit von Christoph Bruckmann und Christian Sasse. Teil 1: 1750-1780 (von Jürgen Wilke) 502

Inhalt Gerhard Kaiser ; Ist der Mensch zu retten f Vision und Kritik Faust (von Karl Pestalozzi)

der Moderne in Goethes 507

Bernd Leistner ; Hg., Deutsche Erzählprosa der frühen Restaurationszeit. ausgewählten Texten (von Irmgard Scheitler)

Studien zu 513

Thomas Kullmann , Vermenschlichte Natur. Zur Bedeutung von Landschaft und Wetter im englischen Roman von Ann Radcliffe bis Thomas Hardy (von Elmar Schenkel) 519 Jürgen Fohrmann/Wilhelm Voßkamp , Hg. y Wissenschaftsgeschichte im 19. Jahrhundert (von Jens Haustein) Manfred Pütz , Hg., Nietzsche in American Link)

Literature

der Germanistik

and Thought

522 (von Franz 524

Peter Tischer, Der gezeichnete Held - Die Serienfigur Humor-Comic (von Thomas Stauder)

im modernen französischen 528

Peter Hühn, Geschichte der englischen Lyrik. Band 1: Vom 16. Jahrhundert bis zur Romantik. Band 2: Von der Viktorianischen Epoche bis zur Gegenwart (von A d o l f Barth)

530

Paul Peter Schnierer, Rekonventionalisierung A d o l f Barth)

532

Ansgar Nünning, Hg., Literaturwissenschaftliche (von Stefan Glomb)

im englischen Drama 1980 -1990 (von

Theorien, Modelle und Methoden

Namen- und Werkregister (von Jutta Zimmermann)

536

541

Bedas Sterbelied Von Alfred Schopf

0.0. W i r erinnern uns: Beda Venerabiiis, Bekenner und Kirchenlehrer, wurde u m 673 n. Chr. in der Gegend südlich des Tyne (nahe bei Newcastle) geboren und schon i m Alter von nur sieben Jahren in das 674 von Benedict Biscop gegründete Benediktinerkloster Wearmouth aufgenommen. Sein späterer Wirkungsort war das unweit gelegene, 681 errichtete Kloster Jarrow. 1 Der von Canterbury aus durch Paulinus unternommene Christianisierungsversuch Nordhumbriens war mit der Ermordung König Edwins durch Caedwalla und Penda 632 gescheitert, und Paulinus mußte fliehen. Erfolgreicher war die iro-schottische Mission, die nach der Bekehrung Schottlands durch Columba hier unter dem Schutz König Oswalds durch Aidan die Klöster Lindisfarne (643) und Melrose gründete. Der Gegensatz zwischen der iro-schottischen Mönchskirche und der römischen Episkopalkirche, den der hl. Augustinus von Canterbury aus auf zwei Konferenzen mit den Bischöfen der keltischen Kirche in Wales vergeblich auszugleichen versucht hatte, und der auf dem Kontinent, w o die iro-schottische Mission unter Columbanus von Luxeuil (590) nach Oberitalien (Bobbio 612), zu den Alemannen (Bregenz und St. Gallen 614), später dann nach Thüringen (Kilian in Würzburg) und Bayern vordrang und über Salzburg (der Ire Virgil als Bischof: 745 - 84) in Kärnten und über Passau in Mähren und i m Karpatenbecken 2 an der Slavenmission beteiligt war, bis in die Zeit des hl. Bonifatius 1 Über Benedict Biscop und die Gründung der beiden Klöster vgl. H . P. Blair, The World of Bede (London, 1970), 130 - 138. 2 Zur iro-schottischen Mission vgl. P. M . Finsterwalder, »Wege und Ziele der irischen und angelsächsischen Mission i m fränkischen Reich«, Zeitschrift für Kirchengesch. , 47, (1948), 203 - 226. Über den überraschend großen Umfang der iro-schottischen Mission in Bayern vgl. P. R. Bauerreiß, »Irische Frühmissionäre i n Südbayern«, in Wissenschaftliche Festgabe zum zwölfhundertjährigen Jubiläum des heiligen Korbinian , hg. v. J. Schlecht (München, 1924), 43 - 60. Zur vermuteten Beteiligung der Iren an der Slavenmission vgl. H . Preidel, Slawische Altertumskunde des östlichen Mitteleuropa im 9. und 10. Jahrhundert (Gräfelfing, 1961), 118 ff.; der sich auf architekturgesch. Arbeiten und Ausgrabungen von J. Cibulka bei Modra in Südmähren (Velkomoravsky kostel v Modre u Velehradu a krest'anstvi na Morave , Prag, 1958) beruft. Vgl. dagegen K. Bosl, »Probleme der Mis-

10

Alfred Schopf

- man denke nur an seine Auseinandersetzung mit Virgil 3 - bestehen blieb, konnte in England auf der Synode i n W h i t b y (664) ausgeräumt werden, so daß die iro-schottischen Klöster Lindisfarne und Melrose zusammen mit den benediktinischen Klöstern Wearmouth und Jarrow unter Cutlobert (684 Bischof von Lindisfarne) zu einem Kernland christlicher Klosterkultur und Gelehrsamkeit sich entwickeln konnten, von dem aus die geistige Entwicklung des Abendlands wesentlich mitbestimmt wurde. Beda repräsentiert diese Hochblüte christlicher Klosterkultur, 4 die allerdings stets unter der Bedrohung der Dänen- und Vikingereinfälle lag. Lindisfarne w i r d bereits 793 geplündert, Jarrow 794 zerstört. Beda genoß großes Ansehen wegen seiner Gelehrsamkeit, insbesondere wegen seiner Kenntnis der klassischen Sprachen einschließlich des Hebräischen. Sein umfangreiches, vor allem an seinem späteren Wirkungsort, Jarrow , entstandenes Schrifttum umfaßte das gesamte Wissen seiner Zeit. Für den Historiker ist seine auf Quellen fußende Historia eeclesiástica gentis Anglorum 5 von Bedeutung: Er gilt als der Vater der englischen Geschichtsschreibung und trägt den Ehrentitel »Lehrer des Abendlandes«.6 I n der von König Alfred angeregten, westsächsischen Übersetzung der Historia eeclesiástico 7 interessiert den Anglisten vor allem der Bericht über die Berufung Caedmons zum Dichter und dessen Hymne über die Erschaffung der Welt. 8 Ungewöhnliches Interesse erregte wegen seines enigmatischen Charakters auch Bedas Sterbelied , ein kleines Stabreimgedicht, das er kurz vor seinem Tod verfaßt oder rezitiert haben soll. 1.0. Das Gedicht w i r d in einigen Manuskripten von Cuthberts Brief über das Sterben Bedas 9 angeführt, der in zwei sehr unterschiedlichen Manuskriptgrupsionierung des böhmisch-mährischen Herrschaftsraums«, in Siedlung und Verfassung Böhmens in der Frühzeit, hg. v. E Graus und H . Ludat (Wiesbaden, 1967), 104 - 124. 3 Albert Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands. Erster Teil bis zum Tode des Bonifatius (Leipzig, 1904), 371 ff., vor allem 569, Fn. 3, und Bauerreiß, I.e., 43 f., w o von einem entschiedenen Auftreten des Bonifatius gegen die Iren und der Eifersucht dem Werk der Columbaner gegenüber die Rede ist. Vgl. hierzu auch Finsterwalder, »Wege und Ziele der irischen und angelsächsischen Mission i m fränkischen Reich«, 220 f. 4

Gerald Bonner, »Bede and medieval civilization«, in Anglo-Saxon Ciamoes et al. (Cambridge, 1973), 71.

England , ed. Peter

5 Bede's Ecclesiastical History of the English People , eds. Bertram Colgrave and R. A . B. Mynors (Oxford, 1969). 6 C. E. Whiting, »The Life of Venerable Bede«, in Be de. His Life , Times and Writings , ed. A . H a m i l t o n Thompson (New York, 1966), 1 - 38. 7

König Alfreds Übersetzung von Bedas Kirchengeschichte. Bibliothek der Angelsächsischen Prosa IV, hg. v. Jacob Schipper (Leipzig, 1897 - 99) und The Old English Version of Bede's Ecclesiastical History of the English People. Early English Text Society. Original Series 95/96, ed. Thomas Miller (London, 1890). 8

Schipper, Hg., Bedas Kirchengeschichte,

4. Buch, Kap. 24, 480 - 81 und 484.

Bedas Sterbelied

11

pen überliefert wurde, einer kontinentalen und einer insularen. Die Überlieferungsgeschichte behandeln ausführlich Rudolf Brotanek 1 0 und Elliot van K i r k D o b b i e 1 1 . Die Unterschiede zwischen den beiden Manuskriptgruppen veranlassen W. F. B o l t o n 1 2 zu einigem Vorbehalt bezüglich der Echtheit von Cuthberts Brief. W i r folgen in dieser Frage H . D . Chickering Jr., 1 3 der annimmt, daß dieser Brief auf historische Fakten Bezug nimmt. W i r zitieren den lateinischen Text am Ende dieser Ausführungen (mit unserer Zeilenzählung!), wie ihn Colgrave/Mynors 1 4 aus der Handschrift 70.H.7 der Königlichen Bibliothek i n Den Haag rekonstruieren und ins Neuenglische übersetzen. Der Text dieser Handschrift nimmt eine Zwischenstellung zwischen der insularen und kontinentalen Überlieferung ein. Den ältesten Text dieses Briefes mit Bedas Sterbelied, vermutlich aus der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts, überliefert das MS 254 (pagina 253) in der K l o sterbibliothek St. Gallen. Die insularen Manuskripte, in der Regel etwa zwei Jahrhunderte jünger, geben das Gedicht in westsächsischer Fassung wieder, die offenbar i m Zuge der Umschreibung der altenglischen Literatur in die vorherrschende westsächsische Literatursprache entstanden ist. 1 5 Der handschriftliche Text in St. Gallen sieht wie folgt aus: Fore th'e neidfaerae na enig uuiurthit thonc snottura than h i m thar^ sie toymbhycggan nae aerhishin iongae huaet his gas tae godaes a&htha yflaes aefter deoth daege doemid uueor t h a e

Die Wortabstände sind hier andeutungsweise wie in der Handschrift wiedergegeben, ebenso die hochgestellten, offenbar nachgetragenen Buchstaben. A u f 9 Elliot van K i r k Dobbie, The Manuscripts of Caedmon's Hymn and Bede's Death Song with a Critical Text of the Epistula Cuthberti de obitu Bedae ( N e w York, 1937). 10

Texte und Untersuchungen zur altenglischen Literatur

und Kirchengeschichte (Halle,

1937). 11 12

The Manuscripts of Caedmon's Hymn y 49 - 116.

»Epistola Cuthberti de obitu Bedae, a caveat«, i n Medievalia M . Cogan (Cleveland and London, 1970), 127 - 39.

et Humanistica,

13

«Some Contexts for Bede's Death Song«, PMLA, 91 (1976), Nr. 1, 91 - 100.

14

Colgrave/Mynors, eds., Bede's Ecclesiastical History, 579 - 587.

ed. P.

15 Karl Brunner, Altenglische Grammatik nach der angelsächsischen Grammatik von Eduard Sievers (Halle, 1942), 8; vgl. hierzu auch H e l m u t Gneuss, »The O r i g i n of Standard O l d English and Aethelwold's School at Winchester«, in Anglo- Saxon England 1, eds. Peter Clemoes et al. (Cambridge, 1972), 63 - 83; und Walter Hofstetter, Winchester und der spätaltenglische Sprachgebrauch (München, 1987), sowie dessen »Winchester and the Standardization of O l d English Vocabulary« i n Anglo-Saxon England 17, eds. Peter Clemoes et al. (Cambridge, 1988), 139 - 61.

12

Alfred Schopf

dieser Grundlage gibt A . H . Smith 1 6 das Gedicht in seiner ursprünglichen, nordhumbrischen Fassung wie folgt wieder: Fore them neidfaerae thoncsnotturra

naenig uuiurthit

than h i m tharf sie

to ymbhycggannae

aer his hiniongae,

hwaet his gastae godes aeththa yfles aefter deothdaege doemid uueorthae.

1.1. Umstritten bleibt die Emendation des th ye in der ersten Halbzeile des Gedichts in der St. Gallener Handschrift. W i r brauchen hier zwar nicht auf die gesamte Geschichte der Textüberlieferung und alle sprachlichen Besonderheiten des Gedichts einzugehen, mit denen sich R. Brotanek 1 7 bereits ausführlich beschäftigt hat. Erwähnt werden soll aber, daß dieses th'e in der ersten Zeile der Handschrift drei Deutungen erfahren hat. Das apostrophartige Zeichen über dem e nahe an h wurde als Kürzel für er, re aufgefaßt und th'e folglich zu there ergänzt. So schon Zupitza i n seinem A l t - und Mittelenglischen Übungsb u c h 1 8 und Brotanek 1 9 . Z u demselben Ergebnis kommt D o b b i e 2 0 auf etwas anderem Wege. Da der Apostroph nach seiner Ansicht zwischen h und e steht, fügt er die Abkürzung er zwischen diese beiden Buchstaben ein und emendiert th'e zu there. 21 Dieser Deutung schließt sich Ute Schwab 2 2 an und verbessert th'e zu thaerae. Anders deutet Max Förster den Apostroph, nämlich als »schräggestellte Form des allgemeinen Abkürzungszeichens«, das hier für m steht, und emendiert das th'e zu themP Eine ausführliche Begründung hierfür liefert er in seinem Artikel »Paläographisches zu Bedas Sterbespruch und Caedmons Hymnus«. 2 4 1.2. Diese Emendationen haben Folgen für die Deutung des folgenden Substantivs neidfaerae, das als Femininum (nach there) von D o b b i e 2 5 mit »forced

16

A . H . Smith, ed., Three Northumbrian and the Leiden Riddle ) (London, 1933), 42.

Poems (Caedmon's Hymn , Bede's Death Song

17

Texte und Untersuchungen.

18

Julius Zupitza, Alt- und Mittelenglisches Lesebuch (1. Aufl., Wien, 1883), 2.

19

Texte und Untersuchungen, 162.

20

The Manuscripts of Caedmon's Hymn , 52 f.

21

The Manuscripts of Caedmon's Hymn , 53, Fn. 13.

22

»Aer-Aefter. Das Memento M o r i Bedas als christliche Kontrafaktur. Eine philologische Interpretation«, in Studi di letterature religiosa tedesca in memoria di Sergio Lupi (Rom, 1972), 12. 23

Altenglisches Lesebuch (Leipzig, 1913), 8.

24

Archiv für das Studium der Neueren Sprachen und Literaturen, N . S.), 282 - 284. 25

The Manuscripts of Caedmon's Hymn y 52.

70 (1916), (Bd. 35,

Bedas Sterbelied

13

journey« übersetzt wird, nach them als Maskulinum aber als »sudden peril«. Die Emendation them läßt die Deutung des folgenden Substantivs auch als Neutrum (mit der gleichen Bedeutung wie das Femininum = »notwendige Fahrt«) zu, für die sich Alfred Bammesberger entscheidet. 26 Er sieht i m Den Haager Manuskript, das daem an der fraglichen Stelle hat und damit mit der insularen Tradition übereinstimmt, die an dieser Stelle durchwegs tham, tban oder einfach tha überliefert, eine Bestätigung für die Emendation Försters. Inhaltliche Konsequenzen ergeben sich aus diesen verschiedenen Deutungen eigentlich nicht, es sei denn, man faßt das Maskulinum (faer = »sudden peril«) als Hinweis auf das Partikulargericht für die Seele unmittelbar nach dem Tode auf, das ja die Gefahr der ewigen Verdammnis in sich schließt. Aber auch das ändert am Gesamtsinn nichts Entscheidendes. 1.3. Auch zur Frage der Verfasserschaft wollen w i r nicht i m einzelnen Stellung nehmen. Zwar bescheinigt der Brief Cuthberts 2 7 Beda die Kenntnis der einheimischen Dichtung (»... ut erat doctus in nostris carminibus«). Das ist aber kein eindeutiger Hinweis auf dessen Verfasserschaft. Auch die Frage nach der Dichtersprache, nach der A r t der Stabreimverse, nach der Lexik - für jedermann ersichtlich ist die lexikalische Variation über das Todesthema (neidfaerae - biniongae - deotbdaege) - soll uns nicht näher beschäftigen, da w i r vor allem am Gehalt des Gedichts interessiert sind. 1.4. Etwas genauer ansehen wollen w i r uns jedoch seinen syntaktischen Aufbau. Es besteht ja aus einem einzigen, hypotaktisch konstruierten Satz und läßt deswegen an einen am Lateinischen geschulten Verfasser denken, also eher an Beda als an Caedmon. 2 8 I n unserem syntaktischen Schema (die übernächste Seite) verwenden w i r das Zetazeichen (Z) für Teilsätze, die durch ein Satzadverbiale erweitert sind, und symbolisieren den Satzkern durch (S). Von den Satzadverbialen lösen w i r nur das erste voll auf, bei den übrigen und Wortzusammensetzungen begnügen w i r uns mit Andeutungen. Den Vergleichssatz verstehen w i r als adverbiale Bestimmung des prädikativen Adjektivs thoncsnottur; die diesem durch die zweigliedrige Vergleichspartikel . . . ra- tban zugeordnet ist. Wenn w i r in unserem syntaktischen Schema sagen, daß der verkürzte Finalsatz (to ymbbycggannae ...) kein Subjekt hat, so meinen w i r das Oberflächensubjekt. I m übrigen halten w i r uns bewußt an die hergebrachte deutsche Terminologie und sind vor allem bestrebt, in unserem Schema die Modifikationsbeziehungen zwischen den Konstituenten zu erfassen. Der Fragesatz am Schluß des Gedichts ist deshalb als Akkusativobjekt i m verkürzten Finalsatz, d. h. als ab26

»Zu Altenglisch -faerae in Bedas Sterbespruch«, Zeitschrift forschung, 85 (1971), 276 - 279.

für vergleichende Sprach-

27

Elliot van K i r k Dobbie, The Manuscripts of Caedmon's Hymn , 120 f.

28

Ute Schwab, »Aer-Aefter«, 25 ff.

14

Bedas Sterbelied

hängig von ymbhycggan

aufgefaßt. Die Syntax deutet nicht, wie von Ute

Schwab 2 9 angenommen, auf eine Auslassung i m Text der Handschrift hin. 1.5. Zur Semantik der Wörter und Wortzusammensetzungen ist zunächst zu fragen, auf welchem Hintergrund neidfaru bzw. neidfaer zu deuten ist. Weist es auf die Seebestattung wie in Beowulf \ auf die gefahrvolle Reise der Seele nach dem Tod ins Jenseits oder nur auf die Unabwendbarkeit des Todes hin? Des weiteren stellt sich die Frage, welches Wissen thoncsnottur anspricht. Sodann bleibt zu klären, ob godaes aeththa yflaes die i m Leben vollbrachten guten oder bösen Taten oder aber das gute oder böse Geschick der Seele nach dem Tode meint. I n diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach der Bedeutung von doeman. Diese Fragen greifen w i r i m Laufe der folgenden Ausführungen wieder auf. 2.0. Das Gedicht hat wegen seines rätselhaften Charakters zu diversen Deutungs- und Ubersetzungsversuchen geführt. 2.1. W i r betrachten zunächst einige der Ubersetzungen: Ute Schwab 3 0 führt deren eine ganze Reihe auf. Eine der ersten ist die von Carolus Plummer. Er schreibt: »Ere that forced journey, no one may be/ More prudent, than him well beseemeth/ If he but meditate, ere his departure,/ What to his spirit of good or evil,/ After his deathday, may be decreed.« 31 W i r finden die Wiedergabe von than him tharf sie als »than him well beseemeth« ebenso wie die Deutung von to ymbhycggannae als Konditionalsatz nicht überzeugend. Auch scheint seine Übersetzung der letzten Verszeile offen zu lassen, ob sie auf die guten oder bösen Taten vor dem Tod oder auf das Geschick der Seele nach ihm Bezug nimmt. Verständlicher übersetzt Kemp Malone 3 2 : »Before the needful journey (i. e. death) no one becomes/wiser i n thought than he needs to be/ to think over, ere his going hence,/ what of good or evil about his spirit/ after his day of death may be decided.« Er verdeutlicht den syntaktischen Zusammenhang zwischen der zweiten Halbzeile des zweiten und der ersten des dritten Verses und bezieht die zweite Halbzeile des vierten Verses unmißverständlich auf das Partikulargericht für die Seele nach dem Tode.

29

Schwab, »Aer-Aefter«, 11.

30

Schwab, »Aer-Aefter«, 6 ff.

31

Venerabiiis Baedae Opera Histórica , 2 vols. (Oxford, 1896, repr. 1946), p. lxxiv.

32

»The O l d English Period (to 1100)«, i n A Literary C r o l l Baugh (London, 1950), 44.

History

of England , ed. Albert

z

j

I

!

N

|

Subj. naenig

1

Fore them neidfaerae

Art.

:

Satzadv. 1 i 1 Präp. NP : I

;

Adj.

Prädikat I i—1 kop.Verb

1

I

1 Präp. i aer

J

S'

Satiadv. S^''(Frages.) I aefter deothdaege 1 1 Subj pass.Verb Dativobj. I doemid uueorthae I 1 1 I 1 Fragepron. Attrib. Attrib. N huaet godes aeththa yfles his gastae

Dativobj. 1 \ ! 1 N attr.Best.(Finals.) | : : I j : tharf Z ' ' sie him , 1 , Satzadv. S'' 1 1 1 1 1 NP Subj.(O) Prädikat Akkusativobj. u 1 s -i ! his hiniongae to ymbhycggannae Z''1

Vergleichspart. -ra than Subjekt Verb

Z'

adv.Best.(Vergleichss.)

1 Prädikatsnomen 1 1

uuiuirthit thoncsnottur-

:

3

Bedas Sterbelied 15

16

Alfred Schopf

G. K . Anderson 3 3 dagegen versteht das Gedicht wie folgt: »Before the necessary journey, no one/ Is wiser than he should be,/ W h o considers before his going hence/ What may be judged of his soul for good and evil/ After the day of his death.« Unverständlich ist hier die Auflösung des Vergleichsatzes in einen Relativsatz, für die sich auch Ute Schwab 3 4 einsetzt: »Vor jener Fahrt in hilfloser Bedrängnis und N o t w i r d niemand weiser und klüger als (derjenige, welcher weiß, daß) es ihm nötig (nützlich?) ist (sorgfältig) zu umdenken - vor seinem Hinscheiden - , was seiner Seele (in Bezug auf?) Gutes oder Übles nach dem Todestag durch das Urteil (im Gericht) bestimmt wird.« Die Übersetzungen führen kaum zu einem klareren, auf keinen Fall aber zu einem eindeutigen Verständnis des Texts. Sie lassen ungeklärt, ob von den guten oder bösen Einzeltaten der Seele oder von ihrem metaphysischen Endgeschick i m Gericht (Rettung oder Verdammnis) die Rede ist. Ersteres scheint Andersons Text nahezulegen, letzteres die anderen beiden Übersetzungen. 2.2. Unterschiedlich fallen auch die ausführlicheren Deutungen aus, von denen drei etwas eingehender betrachtet werden sollen. Als die erste kann die lateinische Paraphrase des Gedichts angesehen werden, die Symeon von Durham mit Cuthberts Brief und der westsächsischen Version des Sterbespruchs in seine Historia Dunelmensis Ecclesiae 35 aufgenommen hat. Die zweite ist i n einem Aufsatz enthalten, den Dietrich Bischoff zum 60. Geburtstag von Karl Jaspers verfaßt hat. 3 6 Die dritte stammt von Ute Schwab. 37 Die lateinische Prosaversion des Symeon von Durham, zugänglich in D o b bie 3 8 und in A . H . Smith 3 9 , oder auch in Max Förster 4 0 , lautet wie folgt: Ante necessarium exitum prudentior quam opus fuerit nemo existit, ad cogitandum videlicet , antequam hinc proficiscatur anima, quid boni vel mali egerit, qualiter post exitum judicandum fuerit. Auffällig sind die Tempusformen. W i r haben der Form nach eine Vorzukunft oder einen Konjunktiv der Vergangenheit in fuerit einen Konjunktiv der Gegenwart in proficiscatur; einen Konjunktiv der Vergangenheit in egerit. Wie können diese Formen erklärt werden? Die Gegenwart in nemo existit kann 33

The Literature

34

Schwab, »Aer-Aefter«, 21.

of the Anglo-Saxons (Princeton, 1949), 168.

35 Eine Ausgabe der Historia Paraphrase findet sich auf S. 44.

Dunelmensis besorgte Th. A r n o l d (London, 1882). Die

36

»Das Philosophische i m Sterbegesang des Ehrwürdigen Beda (673 - 735)«, in Die Sammlung, hg. Hermann N o h l (2. Jg., Heft 10, Göttingen, 1947), 545 - 565. 37

Schwab, »Aer-Aefter«.

38

The Manuscripts of Caedmon's Hymn , 121, Fn. zu Zeile 23.

39

Three Northumbrian

40

Altenglisches Lesebuch, 6.

Poems, 44.

Bedas Sterbelied

17

nicht den Angelpunkt für die Vorzukunft in fuerit abgeben. Auch die Gegenwart des Rezitators kann den Angelpunkt für das Futurexakt nicht liefern. Vielmehr ist dies offensichtlich der für den Dichter wie für den Rezitator des Gedichts je und je noch bevorstehende Todestag. Von diesem Zeitpunkt her liegt das Uberdenken des jeweiligen Tuns in der Vergangenheit, für den Dichter oder Sprecher also in einer Vorzukunft. Der Konjunktiv der Gegenwart (proficiscatur) erklärt sich aus der spätlateinischen Übung, i m Temporalsatz den Konjunktiv zu setzen, vielleicht auch daraus, daß der Weggang seiner Seele für den Sprecher jeweils noch nicht wirklich ist. Das zu bedenkende Tun aber ist für den Zeitpunkt des Beurteilens oder Bedenkens jeweils ein vergangenes, was i n Verbindung mit einem Fragesatz den Konjunktiv der Vergangenheit oder den Indikativ des Futurexakt ( egerit) erklären könnte. Der explizierende Nachsatz, der aus dem Text nur erschlossen ist, enthält ebenso ein Futurexakt, das auf einen Zeitpunkt »post exitum« bezogen ist. Wenn w i r wörtlich übersetzen, erhalten w i r : Vor der Zwangsfahrt erlangt niemand mehr Wissen, als für seine Seele vor ihrem Hinscheiden nötig gewesen sein wird, u m zu bedenken, was sie Gutes oder Böses getan hat und wie sie nach dem Tod zu beurteilen gewesen sein wird. Für die letzten beiden Zeilen des Gedichts, »hnaet bis gastae, godes aeththa yflaes , aefter deotbdaege doemid uueorthae«, bietet die Paraphrase zwei Deutungen zugleich, die Beurteilung der Einzeltaten der Seele nach gut und bös und außerdem das Gesamturteil über sie i m Jüngsten Gericht. W i r meinen, daß Symeons Paraphrase die beiden denkbaren Deutungen der beiden letzten Zeilen des Gedichts und vor allem seine Zeitstruktur zwar richtig erfaßt, die entscheidende religiöse Aussage des Gedichts aber nicht trifft. A n ihr geht auch die Deutung vorbei, die Dietrich Bischoff anbietet, der in dem Gedicht i m Gegensatz zu der sonst üblichen religiösen Deutung einen philosophischen Impuls erkennen zu können glaubt. Zwar gesteht er dem Gedicht eine prinzipiell religiöse, in seinen Worten »theologische« Thematik zu, indem es den bevorstehenden Tod in dem an der Grenze stehenden Bewußtsein als Erwecker der Frage nach Sinn und Bedeutung dieses irdischen Lebens unter dem Blickpunkt einer als zurechnend, richtend und urteilend gedachten Ewigkeit darstellt, meint aber, daß dieses Fragen, oder vielmehr die ganzheitliche Sinngebung des Daseins unter dem Aspekt seiner Unterstellung unter die sittliche Zurechnung ein philosophisches Tun wäre. Ebenso wäre die Bejahung des Daseins in seiner Endlichkeit und Gefährdung unter dem Aspekt der Möglichkeit zu schöpferischem Tun und die Überzeugungskraft und Schönheit der Hinnahme des Daseins und seiner selbst i n der Gefährdung der Vergänglichkeit eine philosophische A n t w o r t und ein philosophisches Standfassen. Daß von einem philosophischen Impuls i m Sinne der letzten beiden Antworten in Bedas Sterbespruch die Rede ist, behauptet Bischoff nicht. Z u widersprechen ist aber den2 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 37. Bd.

18

Alfred Schopf

noch seinem Versuch, das Unterstellen des Daseins als Ganzes unter die sittliche Zurechnung als philosophisches Tun von der Unterstellung des Daseins unter das Gericht Gottes in Bedas Gedicht als religiöser Haltung abzusetzen, denn Bischoff selbst schreibt dem Gedicht schließlich die Aussage zu: »Unserem Geist muß nach dem Tode entweder ein Gutes oder ein Böses, je nachdem, was i m Leben überwogen hat, zugeteilt werden.« 4 1 Bischoffs Deutung kommt offenbar an dem grundsätzlich religiösen Gehalt des Gedichts, letztlich an seiner Deutung i m Sinne von Symeons lateinischer Paraphrase nicht vorbei, wie aus seiner eigenen Ubersetzung unbezweifelbar hervorgeht: Angesichts der Fahrt der Notwendigkeit w i r d nicht ein einziger Mensch mehr (= jeder einzelne nur das) Wissen erlangen, als (was) i h m w o h l not sein mag, damit er vor seinem letzten Scheiden, nachsinnend über die Bedeutung des Lebens i m Ganzen, sich des Richterspruchs bewußt werde, der seinem Geiste in bezug auf Gutes oder sonst gewiß Böses nach dem Übergang des Todes zugewendet werden mag. 4 2

Ich kann i n dieser Deutung nichts spezifisch Philosophisches entdecken. Sie enthält in der »vollständigen Disjunktion Gutes oder sonst gewiß Böses«43 offenbar einen Hinweis auf das Jüngste Gericht. Ist der religiöse Sinn, der religiöse Vollzug, der sich in dem Gedicht manifestiert, damit erschöpfend getroffen? Dies möchte ich bezweifeln. Für Ute Schwab ist Bedas Sterbespruch die christliche Kontrafaktur des germanischen »aer-aefter«-Motivs, das die heldischen Taten i m Leben mit dem Nachruhm nach dem Tode zusammenbindet. Die christliche Umdeutung setzt an die Stelle der Heldentaten die guten Werke i m Sinne des Evangeliums und an die Stelle des Nachruhms das ewige H e i l . 4 4 Das zusammengesetzte Substantiv neidfaerae deutet sie auf dem Hintergrund der germanischen Schiffsbestattung (z. B. für den König Scyld Scefing i m Beowulf) und der umfangreichen paränetischen lateinischen und altenglischen Literatur zum »Mementomori«Thema als Reise der Seele nach dem Tod durch »Sphären, die von teuflischfeindlichen Mächten besetzt sind, die die Seele anfallen und unbarmherzige und schonungslose Zensoren aller ihrer Schandtaten und Sünden sind.« 4 5 Sie zitiert eindrucksvolle Belegstellen aus der lateinischen religiösen Literatur, aber auch aus der angelsächsischen.46 Die letzten beiden Verse des Gedichts deutet sie als Hinweis auf das Partikulargericht für die Seele unmittelbar nach dem Tode, als die Zurechnung ihrer guten und bösen Taten. Wir folgen ihr hier und berufen 41

Bischoff, »Das Philosophische i m Sterbegesang«, 552.

42

Ibid., 554.

43

Ibid., 552.

44

Schwab, »Aer-Aefter«, 76 ff. und abschließend 134.

45

Ibid., 97.

4

* Ibid., 96 ff.

Bedas Sterbelied

19

uns dabei auf den Genitiv godaes aeththa yflaes. Weniger aufschlußreich für die Erschließung des Sinns des Gedichts erscheint mir ihr Versuch, den numerischen Aufbau des Gedichts i m Sinne der mittelalterlichen biblischen Zahlensymbolik zu seiner Erschließung auszuwerten. Insgesamt scheint sie, trotz der beeindruckenden Darstellung des Hintergrunds des Gedichts i n der lateinischen, einheimischen und germanischen Literatur die religiöse Kernaussage des Gedichts zu verfehlen. Dies vor allem auch deswegen, weil sie den zweiten Vers des Gedichts als elliptisch deutet und als Relativsatz interpretiert. 3.0. Unsere eigene Deutung des Gedichts soll in zwei Schritten erfolgen. Zunächst gehen w i r noch einmal auf einige Fragen des Texts ein, dann betrachten w i r das Gedicht in seinem Kontext. 3.1. Das Kompositum neidfaerae (nordhumbr.) oder neodfeore, neodfere (spätws.), das von Symeon von Durham mit »necessarius exitus«, sonst aber mit »needful journey« (Kemp Malone), »necessary journey« (Anderson) oder deutsch »Fahrt in hilfloser Bedrängnis und N o t « (Schwab) oder »Fahrt der Notwendigkeit« (Bischoff) wiedergegeben wird, enthält eine Bedeutungsnuance, die in dem Kompositum neadgaful, neadgeabul, neadgaefel mit der Bedeutung »Tribut«, d. h. »Zwangsabgabe«, deutlich wird. »Zwangsfahrt« oder »unvermeidbare Fahrt« gäbe die Bedeutung von neidfaerae etwas deutlicher wieder und verwiese somit auf die Unabwendbarkeit des Todes, nicht auf die gefahrvolle Seelenreise nach dem Tod. Ein weiteres Kompositum bedarf der näheren Erläuterung: thoncsnottor. Eine Wendung aus Bosworth-Toller 4 7 , nämlich thoncsnottor guma hreostgehygdum his bearn gelaerde, kann uns drauf hinweisen, daß thoncsnottor der ist, der gehygdu, einen Gedanken- oder Wissensschatz, das heißt Gewißheit über viele Dinge i n seiner Brust verwahrt. Ute Schwab 48 verdanken w i r den Hinweis, daß snottor durchaus mit dem christlichen Begriff der sapientia i n Verbindung zu bringen ist, mit der Weisheit, die heilsnotwendig und aus der Heiligen Schrift zu erschließen ist. Sie offenbart den Willen Gottes, belehrt uns über gutes und gottgefälliges Tun. Das Studium der Schrift, ihre Deutung, vermittelt diese Weisheit. Deswegen heißt es in Maxims I der Exeter Gnomes 4 9 oder in Denksprüche I I / l 5 0 : dol bith se the his dryhten nat, to thaes oft cymed dead unthin-

47

J. Bosworth and T. N . Toller, Art Anglo-Saxon Dictionary plement von T. N . Toller (Oxford, 1921). 48

(Oxford, 1989) und Sup-

Schwab, »Aer-Aefter«, 83 ff.

49

The Anglo-Saxon Poetic Records III: The Exeter Book, ed. George Philip Krapp und Elliot van K i r k Dobbie ( N e w York, 1936), 156 f. 50 Bibliothek der angelsächsischen Poesie (begründet von Christian W. M. Grein): Das Beowulflied nebst den kleineren epischen, lyrischen, didaktischen und geschichtlichen Stükken, hg. Richard Paul Wülcker (Kassel 1883), 341.

2*

Alfred Schopf

20

ged: snotre men sawlum beorgad [...] W i r sind der Meinung, daß snottor durchaus das Wissen meinen kann, das die Bibelexegese als Heilswissen erarbeitet. Über ymbhycgan erfahren w i r aus Bosworth-Troller, daß das Substantiv ymbhygd oft die Bedeutung »care«, »anxiety« hat. W i r können dem Verb deshalb die Bedeutung »mit Sorge bedenken« zusprechen, und da es in einem Fragesatz erscheint, gebe ich ihm die Bedeutung »sorgenvoll fragen«. Die Zusammensetzung hiniongae ist w o h l aus »heonon gongae« verkürzt worden und stellt hinsichtlich seiner Bedeutung kein Problem dar. Eine seiner Entsprechungen ist hinsith. Es ist vielleicht nötig darauf hinzuweisen, daß gast i m Altenglischen keinen Gegensatz zu sawol darstellt, wie Bischoff anzunehmen scheint. Beide geben das lat. anima wieder, sawol möglicherweise aber keineswegs spiritus, was aber hier außer acht bleiben kann. Erklärungsbedürftig bleibt der Konjunktiv in der Wendung »than him tharf sie« y während der i m Schlußvers »doemid uueorthae« als abhängig von ymbhycggan sich ohne weiteres versteht. Bei der Deutung von doeman berufen w i r uns auf Wendungen aus Toller, 5 1 in denen es mit der Kasusfolge Dativ plus Akkusativ konstruiert ist: Demab steopcildum domas sode und He eallum demeb lean aefter rihte. Seine Bedeutung ist in diesen Kontexten mit lat. censere (dt. zuerkennen, zuweisen, zurechnen) wiederzugeben. Wir übersetzen also: Vor der Zwangsfahrt w i r d niemandem mehr Wissen zuteil als nötig sein mag, um vor seinem Hingang mit Sorge zu fragen, was seiner Seele nach dem Tode als gute oder böse Tat zugerechnet werden wird. 3.2. Bei der Deutung des Gedichts schließen w i r uns H . D . Chickering Jr. 5 2 an, der vorschlägt »to read this poem in several contexts: psychological, theological, literary.« Zweifellos richtig ist, das Gedicht zunächst nach seiner Funktion in seinem unmittelbaren textlichen Zusammenhang, in Cuthberts Brief an seinen Mitbruder C u t h w i n zu befragen. Allerdings ist dieser nach seiner Überlieferung zunächst widersprüchliche Text vorher als möglichst folgerichtiger Zusammenhang zu rekonstruieren. 3.2.1. Cuthbert schildert in seinem Brief die letzten Lebenstage Bedas. Eine neuenglische Übersetzung des Briefes liegt in der Ausgabe der Ecclesiastical History von Colgrave/Mynors 5 3 vor. Der Brief ist in drei Versionen überliefert, einer kontinentalen, insularen und einer dritten, die in der königlichen Biblio51

Supplement, 128.

52

Chickering Jr., »Some Contexts for Bede's Death Song«, 91 ff.

53

Colgrave/Mynors, eds., Bede's EcclesiasticalHistory,

579ff.

Bedas Sterbelied

21

t h e k i n D e n H a g e n t d e c k t w u r d e . 5 4 D i e W i d e r s p r ü c h e z w i s c h e n diesen V e r s i o n e n k o n n t e n bisher n i c h t aufgelöst w e r d e n . D i e H a n d s c h r i f t aus D e n H a a g scheint der U r f a s s u n g a m nächsten z u stehen, w e s h a l b C o l g r a v e / M y n o r s diesen Text i n i h r e A u s g a b e a u f n e h m e n . D i e W i d e r s p r ü c h e i n der D a r s t e l l u n g der E r eignisse beseitigt auch sie n i c h t . W i r f o l g e n i n der N a c h z e i c h n u n g d e r E r e i g nisse diesem Text. Beda e r k r a n k t e t w a z w e i W o c h e n v o r O s t e r n u n d leidet an A t e m n o t , b l e i b t j e d o c h fast g ä n z l i c h schmerzfrei. I n d e n f o l g e n d e n W o c h e n bis z u C h r i s t i H i m m e l f a h r t beschreibt C u t h b e r t Beda als »cheerful a n d r e j o i c i n g , g i v i n g t h a n k s t o a l m i g h t y G o d d a y and n i g h t « . 5 5 E r f ü h r t d e n U n t e r r i c h t f o r t , schläft n u r k u r z e Z e i t u n d s o b a l d er e r w a c h t , r e z i t i e r t er v o l l e r F r e u d e d e n Psalter. C u t h b e r t faßt seinen E i n d r u c k z u s a m m e n i n d e m A u s r u f : » O vere quam

beatus

vir!«

(An-

h a n g Z . 21). A b e r Beda hat o f f e n b a r a u c h eine V o r a h n u n g v o n seinem b e v o r s t e h e n d e n T o d , d e n n er z i t i e r t Paulus m i t d e n W o r t e n »Horrendum manus

Dei

viventis

est incidere

in

( H e b . 10:31) u n d k n ü p f t daran die E r m a h n u n g an seine

Schüler, i m m e r an d e n u n a b w e n d b a r e n T o d z u d e n k e n . I n d i e s e m Z u s a m m e n hang z i t i e r t er auch unser S t a b r e i m g e d i c h t »de terribili

exitu animarum

e corpo-

re« ( A n h a n g Z . 26 f.). D i e s deutet auf eine z e i t w e i l i g e V e r d u n k e l u n g seines G e m ü t s z u s t a n d s h i n . U m sich u n d seine Schüler z u t r ö s t e n , z i t i e r t er aus d e m A n t i p h o n a r , u n t e r a n d e r e m aus d e m M a g n i f i k a t des H i m m e l f a h r t s t a g e s , » O rex gloriose,

domine

ne derelinquas tis. Alleluja.«

virtutum,

qui triumphator

nos orphanos,

bodie super omnes caelos

sed mitte promissum

Patris

ascendisti,

in nos Spiritum

( A n h a n g Z . 33 ff.). B e i der B i t t e »ne derelinquas

nos

veritaorphanos«

b r i c h t er i n heftiges W e i n e n aus, das länger als eine Stunde andauert u n d sich an m e h r e r e n Tagen w i e d e r h o l t . Seine Schüler w e r d e n a u c h v o n T r a u e r e r f ü l l t u n d w e i n e n m i t i h m . A l l e w e i t e r e A r b e i t ist v o n W e i n e n begleitet: »altera musy altera

ploravimus,

immo

cum fletu

legimus«

vice

legi-

( A n h a n g Z . 39 f.). C u t h b e r t

sagt hier, i m W i d e r s p r u c h z u seiner B e h a u p t u n g , Beda sei bis z u m H i m m e l fahrtstag i n z u v e r s i c h t l i c h e r u n d f r e u d i g e r S t i m m u n g gewesen, daß er v o n tiefer Trauer u n d d e m G e f ü h l der Verlassenheit e r f ü l l t gewesen sei. I n n o c h krasserem W i d e r s p r u c h z u m V o r a u s g e h e n d e n f ä h r t er m i t d e n W o r t e n f o r t »In

tali

ad diem praefatam

laetitia (unsere H e r v o r h e b u n g ) quinquagesimales deduximus«

dies

usque

( A n h a n g Z . 41 f.). ( I n solcher F r e u d e v e r b r a c h -

t e n w i r die n a c h ö s t e r l i c h e n Tage bis z u m v o r e r w ä h n t e n Tag ( C h r i s t i H i m m e l fahrt), was einen krassen B r u c h i n der G e d a n k e n f ü h r u n g darstellt.) H . D . C h i c k e r i n g Jr. b e z e i c h n e t diesen W i d e r s p r u c h als »a b l a t a n t s e l f - c o n t r a d i c t i o n o f the feelings C u t h b e r t has j u s t d e p i c t e d « 5 6 u n d v e r s u c h t i h n m i t 54

N . R. Ker, »The Hague Manuscript of the Epistola Cuthberti de obitu Bedae w i t h Bede's song«, in Medium Aevum, ed. C. T. Onions (vol. viii, N o . 1, 1939), 40 - 44. 55

Colgrave/Mynors, Bede's Ecclesiastical History, 581.

22

Alfred Schopf

der Annahme zu erklären, daß »laetitia« sich auf Bedas Annahme seiner Krankheit und seines Tods, die Cuthbert i n den folgenden Sätzen schildert, bezieht. Ich halte dies vom textlichen Zusammenhang her für unmöglich. Welche anderen Lösungen könnten sich anbieten, u m die Kohärenz des Briefes herzustellen? Wenn Colgrave/Mynors 5 7 laetitia mit »exaltation« übersetzen, vermindern sie zwar den gedanklichen Bruch, tun aber dem lateinischen Wort »laetitia« Gewalt an. Ute Schwab 58 erwägt, ob die Schilderung der depressiven Phase von Bedas Sterbeweg nicht als eine spätere Interpolation zu betrachten sei. Dies würde bedeuten, daß ursprünglich eine dem hagiographischen Muster - der sterbende Heilige ist sich des ewigen Heils gewiß und erwartet in Freude den Tod - voll entsprechende Darstellung, vielleicht als Entwurf eines jungen Schreibgehilfen, vorlag, die man erhält, wenn i n Cuthberts Brief der Abschnitt von impediret (nach van K i r k Dobbie 1937, S. 118: Z. 17 bzw. 18) bis legimus (S. 120: Z. 36), i n unserem Anhang der Abschnitt zwischen / / und / / (Z. 22 - 40) gestrichen wird. Diese legendenhaft geglättete Darstellung müßte dann von einem Augenzeugen auf die historische Wirklichkeit hin nachträglich durch Einschub einer entsprechenden Passage korrigiert worden sein, was zur erwähnten Inkohärenz geführt hätte. Kann man aber davon ausgehen, daß ein solcher Redaktor (Cuthbert?) diesen Widerspruch, der auf diese Weise entsteht und i m Text aller drei Fassungen vorliegt, nicht bemerkt und auszuräumen versucht hätte ? Ute Schwab 5 9 sieht als andere Korrekturmöglichkeit nur, laetitia als maestitia (= Trauer) zu lesen: »In tali maestitia quinquagesimales dies usque ad diern praefatam deduximus, et ille multum gavisus est et Deo gratias referebat quia sie meruisset infirmari.« Wenn w i r das et nach «deduximus« adversativ lesen könnten, was ja i n bestimmten Kontexten möglich ist, dann könnten w i r übersetzen: »in solcher Trauer verbrachten w i r die vorpfingstlichen Tage, er aber wurde von Freude erfüllt und dankte Gott, daß er ihn wert befunden hatte, so erkranken zu lassen.« Denn aus seiner Erkrankung gewinnt Beda neue Zuversicht. Er bezieht sich dabei auf ein Wort des hl. Paulus (Heb. 12:6) 60 : Flagellat Deus omnemfilium quem reeipit und einen Satz des hl. Ambrosius: Non sie vixi 56

Chickering Jr., »Some Contexts for Bede's Death Song«, 93 f.

57

Colgrave/Mynors, Bede's Ecclesiastical History, 583.

58

Schwab, »Aer-Aefter«, 41, Fortsetzung der Fn. 2 von S. 40.

59

Ibid.

60

Zitate aus der Schrift sind entnommen aus Novum Testamentum Graece et Latine, hg. Eberhard und E r w i n Nestle und K u r t Aland (20. Aufl., Stuttgart, 1961) und aus Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testamentes, hg. Vinzenz Hamp, Meinhard Stenzel, Josef Kürzinger (Aschaffenburg, 1956).

Bedas Sterbelied

23

ut me pudeat inter vos vivere; sed nec mori timeo, quia bonum Deum habemus.61 A u f diese Weise erhielten w i r einen einigermaßen kohärenten Text. Freilich empfinden w i r es immer noch als Widerspruch, daß Cuthbert zunächst behauptet, Beda sei von Ostern bis zum Himmelfahrtstag, seinem Sterbetag, voller Zuversicht und Freude gewesen, dann aber von dessen Verzweiflung berichtet. Vielleicht muß man annehmen, daß der letzte Lebensabschnitt Bedas zunächst von seinem seligen Ende her berichtet und deshalb insgesamt als »laetus« charakterisiert werden sollte, dem gegenüber die depressive Phase nicht so schwer wog, weshalb sie gewissermaßen als Ausnahme (mittels autern) vom Gesamt des Sterbewegs abgesetzt und adversativ (et) in die zuversichtliche Endphase zurückgeführt wurde. Widersprüchlich bleibt der Bericht dennoch. Der Text legt jedenfalls nahe, als historische Wirklichkeit i n Bedas Sterbeweg drei Phasen anzunehmen. Die erste Phase - Beda leidet schon an Atemnot zeigt ihn dennoch »cheerful and rejoicing«, 62 in Gebet und Unterricht vertieft, in die er Ermahnungen an seine Schüler einfließen läßt, immer an den unabwendbaren Tod und das Gericht Gottes zu denken. I n diesem Zusammenhang zitiert er das bereits erwähnte Pauluswort aus dem Hebräerbrief (10:31) und unser Stabreimgedicht »de terribili exitu animarum e corpore«. Dies deutet offenbar die zweite Phase seines Sterbeweges an, eine beginnende Verdunkelung seines Gemütes. Denn der Brief berichtet weiter, daß er sich und seine Schüler mit der Antiphon aus dem Magnifikat von Christi Himmelfahrt zu trösten suchte, während der er bei der Bitte »ne derelinquas nor orphanos« von einem tiefen Gefühl der Verlassenheit ergriffen wurde und mit seinen Schülern in haltloses Weinen ausbricht. Beda befällt offenbar ein Gefühl tiefer Gottverlassenheit. Die dritte Phase, die erneuerte Zuversicht in die Güte Gottes, die er aus der Deutung seiner Erkrankung als Zeichen seiner Erwählung gewinnt, leitet über zur Schilderung seines seligen Endes, wie er nämlich nach der Fertigstellung einer letzten Arbeit, - er arbeitete an einer Ubersetzung des Johannesevangeliums und des hl. Isidors De natura rerum, 63 mit dem Gloria auf den Lippen am Vorabend des Himmelfahrtstages (liturgisch am Himmelfahrtstage) stirbt. W i r nehmen an, daß diese drei Phasen den ursprünglich beabsichtigten Inhalt des Briefes Cuthberts darstellen, der möglicherweise schon während seiner Entstehung widersprüchlich formuliert wurde und i m Laufe der jahrhundertelangen Uberlieferung durch eigenmächtige Erweiterungen und Veränderungen 61 Colgrave/Mynors, Bede's Ecclesiastical History, 582, Fn. 4: »Quoted in Paulinus, Life of Ambrose ( PL, xiv, 43). 62

Ibid., 581.

63

Ibid., 583, Fn. 5 und 6.

Alfred Schopf

24

der Kopisten sich zu drei verschiedenen Fassungen unterschiedlicher Länge entwickelt hat. 3.2.2. Welches Ziel verfolgt Cuthbert mit dieser Darstellung, die einerseits unzweifelhaft hagiographische Stilisierung, andererseits aber auch deutliche Züge verrät, die auf authentische Augenzeugenschaft hinweisen ? Stilisierung w i r d erkennbar in der Auswahl der letzten Worte, die Beda in den M u n d gelegt werden, und in deutlichen Anklängen an andere Schilderungen des Sterbeweges heiliger Personen. Ute Schwab bemerkt in Cuthberts Bericht Parallelen zu dem von Beda selbst geschilderten vorbildlichen Sterben Gregors des Großen, so daß sie zu dem Schluß kommt, Cuthbert versuche »das außerordentliche Geschehen (des Sterbeweges Bedas) in den passenden biblischen, poetischen und liturgischen Rahmen zu stellen und sein Ende durch die Himmelfahrt Christi zu überhöhen.« 64 Ein Anklang an andere Heiligenleben ist zweifellos darin zu sehen, daß Cuthbert nicht daran zweifelt, daß Bedas Seele von Engeln in den H i m m e l geleitet w i r d (Anhang Z. 89 f.), weiter darin, daß er Beda seinen Tod vorausahnen und in Freude erwarten (Anhang Z. 73 ff.) und seine Mitbrüder trösten läßt (Anhang Z. 32). Seine Darstellung erweckt aber den Eindruck eines Augenzeugenberichts durch die Abweichungen von der i n der damaligen Hagiographie üblichen Beschreibung des Sterbens heiliger Personen. Chickering 6 5 faßt diese Schilderungen in ihren wiederkehrenden Merkmalen in einer A r t Muster zusammen und sieht es mehr oder minder verwirklicht in Bedas Bericht über das Sterben Caedmons 6 6 und des Abtes Sigfrid 6 7 und in Adomnans Beschreibung des Lebens des hl. C o l u m b a 6 8 ebenso wie in anderen Viten heiliger Personen. Eines der wesentlichen Merkmale dieser Darstellungen besteht darin, daß der Sterbende sich in der Regel seines ewigen Heils ohne Zweifel gewiß ist. Daß Beda aber nach Cuthbert vor seinem Tode eine Phase tiefer Trauer und äußerster Gottverlassenheit durchlebt, hinterläßt den Eindruck, daß hier tatsächliche Sachverhalte zur Sprache kommen. Cuthbert scheint das hagiographische Muster auch darin verlassen zu haben, daß er das Leben und Sterben Bedas enger als sonst üblich an das Sterben Christi anschließt. Wenn Cuthberts Bedas Trauer und Verlassenheitsgefühl bei den 64

Schwab, »Aer-Aefter«, 34 f.

65

Ibid., 72.

66

Colgrave/Mynors, eds., Bede's Ecclesiastical History, iv:24.

67

Venerabiiis Bedae Historia Ecclesiastica Gentis Anglorum, Historia Abbatum, Epistola ad Ecgberctum, una cum Historia Abbatum Auetore Anonymo, ed. Carolus Plummer (Oxford, 1896, repr. 1946), daraus in der Historia Abbatum: ch.iv, 364 - 387. 68

Adomnan's Life of Columba, ed. and transl. Alan O . Anderson and Marjorie O . A n derson (Princeton, 1949).

Bedas Sterbelied W o r t e n »ne derelinquas

nos orphanos«

25

einsetzen läßt, d a n n m a g er selbst an

den B e r i c h t des M a r k u s e v a n g e l i u m s (15:34) gedacht u n d den Leser auf diesen h i n w e i s e n haben w o l l e n , w e l c h e r v o n C h r i s t i Verlassenheit a m K r e u z ausd r ü c k l i c h sagt: »Et hora nona exclamavit sabacthaniquod quisti mef«

est interpretatum:

Jesus magna voce: yEloi

y

Eloi,

Deus meus, Deus meus, ut quid

lamma derelin-

D e n gleichen B e r i c h t f i n d e n w i r bei M a t t h ä u s (27:46), n i c h t j e d o c h

bei Lukas. D a ß C u t h b e r t aber i n der Tat den B e r i c h t der Evangelien ü b e r Jesu T o d v o r A u g e n gehabt haben k ö n n t e , geht vielleicht daraus hervor, daß er die Sterbeszene C h r i s t i , auch w i e sie Johannes schildert, a n k l i n g e n läßt. A n seinem letzten Lebenstag, an d e m Beda v o n Freude erfüllt

ist, erinnert i h n sein

Schreibgehilfe, der junge W i l b e r h t , daß i n d e m W e r k , an d e m sie arbeiten, n o c h ein K a p i t e l fehlt. Beda läßt es bis z u m letzten Satz niederschreiben, w o r a u f W i l b e r h t sagt: » M o d o descripta est« (Schon ist er geschrieben), w o r a u f Beda a n t w o r t e t : »Beney consummatum

est; veritatem

an Johannes (19:30) d e n k e n läßt: »Cum yConsummatum

est\ Et inclinato

dixisti«

( A n h a n g 2 . 83 f.), was

ergo accepisset Jesus acetum y

capite tradit

spiritum.«

dixit:

M i t diesen A n k l ä n g e n

versucht C u t h b e r t offensichtlich i m Leser seines Berichts die Sterbeszene Jesu nach Johannes w a c h z u r u f e n , u m Bedas L e b e n u n d Sterben auch d a r i n als c h r i stusförmig darzustellen, daß diesem Jesu Verlassenheit i m Sterben wenigstens teilweise nachzuleben erlaubt war. 3.2.3. Welche R o l l e fällt n u n i n diesem B e r i c h t unserem G e d i c h t zu? Z u nächst ist festzustellen, daß C u t h b e r t es thematisch (» dicens de terribili animarum

exitu

e corpore «) d e m P a u l u s w o r t aus d e m H e b r ä e r b r i e f (10:30) z u o r d n e t :

»Horrendum

est incidere

in manus Dei viventis«.

W i e dieses spricht es v o n der

F u r c h t v o r d e m G e r i c h t Gottes. D a m i t ist j e d o c h eine sehr viel weitergehende Aussage, die es auf der theologischen u n d biographischen Ebene leistet, n i c h t erfaßt. D e n n seine G e d a n k e n f ü h r u n g w i r d n i c h t n u r d u r c h die A n t i t h e s e »aer bis biniongae

- aefter deothdaege«

s t r u k t u r i e r t , sondern auch v o n einem z w e i -

ten Gegensatz, d e m n ä m l i c h z w i s c h e n einem nötigen, begrenzten Wissen u n d einem darüber hinausgehenden, das z w a r a u s d r ü c k l i c h verneint w i r d , aber i n d e m es verneint w i r d , u n ü b e r h ö r b a r z u m T h e m a gemacht w i r d ; u n d dies w o h l deshalb, w e i l der Sprecher oder Verfasser des G e d i c h t s nach diesem » M e h r « an Wissen, nach einem » M e h r « an G e w i ß h e i t gefragt, aber i n einem A k t der Bescheidung oder des Verzichts einsehen gelernt hat, daß es i h m u n d allen M e n schen verweigert ist. U m welches Wissen handelt es sich? D i e s ist die Frage nach der B e d e u t u n g des Wortes thoncsnottor

i n unserem G e d i c h t . W i r e r i n n e r n

uns, daß U t e S c h w a b 6 9 feststellt, daß das altenglische W o r t g u t aus d e m Bereich der Weisheit u n d des Wissens, u n t e r anderem snottor u n d modsnottor ),

69

(z. B. auch i n

bygesnottor

d e m I n h a l t des christlichen Begriffs der Sapientia durchaus

Schwab, »Aer-Aefter«, 88.

26

Alfred Schopf

offensteht, und Elmar Seebold 70 zeigt, daß die regelmäßige anglische Entsprechung für sapiens und sapientia i n allen Texten snottor/snyttru ist. Das Wissen i m christlichen Sinn ist heilsnotwendig. Seine Grundlage ist die Schrift, i n der sich Gott zu erkennen gibt und seinen Willen als Heilsweg für den Menschen offenbart: »The Bible is [ . . . ] pre-eminent over all because it has the >authority< of divine inspiration, the power or >utility< to lead man to salvation [.. .]«. 7 1 Die Exegese der Schrift ist deshalb ein für das H e i l des Menschen unerläßliches Tun. Das Studium, wie es i n der mittelalterlichen Klosterkultur konzipiert war, diente der Gewinnung des Heils. Das Wissen aber, das es erarbeitet, durfte nicht als Heilsgewißheit mißverstanden werden. Es lieferte keine Gewißheit über das jenseitige Geschick der Einzelseele. Aber eben dies wäre das »Mehr« an Wissen, nach dem Beda Ausschau gehalten haben mag (und viele Menschen verlangen), die Heilsgewißheit nämlich, die unser Gedicht offenbar anspricht, aber für den Menschen ausdrücklich ausschließt. Dieser Gedanke w i r d in der altenglischen Literatur wiederholt ausgesprochen. H . D . Chickering 7 2 zitiert unter anderem Maxims I I 7 3 , w o es in Zeile 57 - 58 heißt: »Meotud ana wat/ hwyder seo sawul sceal syôôan hweorfan/« (Gott allein weiß, wohin die Seele fahren wird), und weiter in Zeile 61 - 63: »is seo forögesceaft/ digol and dyrne; drihten ana wat/« (Die Zukunft ist dunkel und verhüllt, Gott allein kennt sie. Der Text ist auch zugänglich in Denksprüche I . 7 4 I n der Zurückweisung der Erwartung durch unser Gedicht, daß der Mensch aus der Kenntnis des Heilsweges etwas über das jenseitige Geschick seiner Seele erschließen könnte, dürfen w i r mit B. F. H u p p é 7 5 doch w o h l auch eine generelle Infragestellung des menschlichen Wissens überhaupt sehen: »the song, though generalized in expression, implies a deeply feit and personal (unsere Hervorhebung) renunciation of human learning.« U n d wenn der Gelehrte Beda sich zu diesem Vorbehalt bekennt, dann ist dies »sub specie aeternitatis« auch eine Infragestellung seiner eigenen Tätigkeit als Exeget, Historiker und Dichter, zumal wenn er selbst der Verfasser des Liedes sein sollte. Wenn w i r mitbedenken, daß Beda seine Mitbrüder bittet, für ihn »missas et orationes« darzubringen (Anhang Z. 71), dürfen w i r dann nicht den Eindruck gewinnen, daß in die-

70

»Die ae. Entsprechung von lat. sapiens und prudens«, Anglia, 92 (1974), 296 und 303.

71

Bernhard F. Huppé, Doctrine and Poetry ; Augustine's Influence on Old English Poetry (New York, 1959). 72

Chickering Jr., »Some Contexts for Bede's Death Song«, 97.

73

The Anglo-Saxon Poetic Records VI: The Anglo-Saxon K i r k Dobbie ( N e w York, 1942), 57. 74

Bibliothek

75

Huppé, Doctrine and Poetry, 79.

Minor Poems, ed. Elliot van

der angelsächsischen Poesie, hg. Paul Richard Wülcker (Kassel, 1883), 341.

Bedas Sterbelied

27

sem Gedicht zum ersten Mal in der englischen Literatur ein Anklang an eine retraction hörbar wird, wie sie uns am Ende der Canterbury Tales begegnet, w o Chaucer seine Leser bittet, »that ye preye for me that Crist have mercy on me and foryeve me m y giltes, and namely of my translacions and enditynges of wordly vanitees« 76 und die meisten seiner Werke widerruft. Die Infragestellung seines Werkes (wenn w i r unser Gedicht in diesem Sinne lesen dürfen), ist bei Beda jedoch nicht endgültig. Sie erfolgt ja i n der depressiven Phase seines Sterbeweges und w i r d in Cuthberts Brief zurückgenommen, wenn dort Beda an seinem letzten Lebenstag, unmittelbar vor seinem Tod ein in Arbeit befindliches Werk und somit sein Gelehrtenleben mit den Worten vollenden darf: »Es ist vollbracht!« Cuthbert hat das kleine Stabreimgedicht gut überlegt in seinen Bericht über das Sterben Bedas eingebaut. Es greift in der depressiven Phase seines Sterbeweges den Gedanken an das Gericht Gottes auf, deutet, wenn w i r H u p p é 7 7 folgen können, auf die Infragestellung seines eigenen Lebens und Gelehrtendaseins hin, macht aber vor allem deutlich, daß das Heilswissen keinerlei Aufschluß darüber geben kann, was der Seele i m Gericht bevorsteht. W i r haben gesehen, daß Cuthbert diese depressive Phase, Bedas Zweifel an seinem H e i l und an sich selbst, in die erneuerte Zuversicht in die Güte Gottes und in die Versöhnung mit sich selbst in der Vollendung seines gelehrten Werkes und seines Lebens ausklingen läßt. Beda nimmt seinen Tod an, nicht weil er sich auf irgendeine Form des Wissens oder der Gewißheit berufen könnte. Vielmehr sieht er sich auf sein Gewissen zurückverwiesen und versöhnt sich mit seinem Tod i n einem A k t des Zutrauens in die Güte Gottes. Cuthbert hat dieses Sterben auf dem Hintergrund der zeitgenössischen hagiographischen Tradition mit beeindruckender Eigenständigkeit und großem menschlichen und religiösen Einfühlungsvermögen dargestellt. 4.0. Anhang: Cuthberts Epistola de obitu Bedae (nach ColgraVe/Mynors, I.e., S. 80ff.). W i r geben nur den lateinischen Text wieder (Unsere! Zeilenzählung in runden Klammern). (1) D I L E C T I S S I M O in Christo conlectori Cuthuuino Guthbertus diaconus i n Deo aeterno salutem. Munusculum quod misisti multum libenter aeeepi, multumque gratanter litteras tuae devotae eruditionis legi, in quibus (5) quod maxime desiderabam, missas videlicet et orationes sacrosanctas pro Deo dilecto patre ac nostro Magistro Beda a vobis diligenter celebrari repperi.

76

The Works of Geoffrey

77

Huppé, Doctrine and Poetry, 79.

Chancer, ed. F. N . Robinson, 2. edition (London, 1957), 265.

Alfred Schopf

28

Unde delectat magis pro eius caritate quam fretus ingenio paucis sermonibus dicere quo ordine migraverit e seculo, cum etiam hoc te (9) desiderare et proposcere intellexi. Gravatus est quidem infirmitate, et maxime creberrimi anhelitus, sed tamen paene sine aliquo dolore, ante diem autem resurrectionis dominicae id est fere duabus ebdomadibus; et sic postea laetus ac gaudens gratiasque agens omni(13) potenti Deo omni die et nocte, immo horis omnibus usque ad diem ascensionis dominicae, id est septimo kalendas Junii vitam ducebat, et nobis suis discipulis cotidie lectiones dabat, et quicquid reliquum fuit diei in Psalmorum cantu prout potuit occupabat. Totam vero noctem laetus in (17) orationibus et gratiarum actione Deo ducere studebat, nisi tantum modicus somnus impediret; itemque autem evigilans statim consveta scripturarum modulamina ruminabat, extensisque manibus Deo gratias agere non est oblitus. Vere fateor quia neminem umquam alium oculis meis vidi nec auribus (21) audivi tam diligenter gratias Deo vivo referre. O vere quam beatus vir! / / Canebat autem sententiam sancti Pauli apostoli dicentis >Horrendum est incidere in manus Dei viventis0 rex gloriose, domine virtutum, qui triumphator hodie super omnes caelos ascendisti, ne derelinquas (35) nos orphanos, sed mitte promissum Patris in nos Spritum veritatis. Alleluias C u m venisset autem ad illud verbum >ne derelinquas nos orphanosFlagellat Deus omnem filium quem recipit,< et sententiam Ambrosii: >Non sic vixi ut me pudeat inter vos vivere; sed nec mori timeo, quia bonum Deum habemus.< I n istis autem diebus duo opuscula multum memoriae digna, exceptis lectionibus quas cotidie accepimus ab eo et cantu Psalmorum,

Bedas Sterbelied

29

(48) facere s t u d u i t , i d est a capite evangelii sancti J o h a n n i s usque ad e u m l o c u m i n q u o d i c i t u r >Sed haec q u i d s u n t i n t e r tantos ?< i n n o s t r a m l i n g u a m ad u t i l i t a t e m ecclesiae D e i c o n v e r t i t , et de l i b r i s R o t a r u m Y s i d o r i e p i s c o p i exceptiones q u a s d a m , dicens > N o l o u t p u e r i m e i m e n d a c i u m legant, (52) et i n h o c p o s t m e u m o b i t u m sine f r u c t u laborent.< C u m venisset a u t e m t e r t i a feria ante ascensionem D o m i n i , c o e p i t v e h e m e n t i us aegrotari i n a n h e l i t u , et m o d i c u s t u m o r i n suis p e d i b u s apparuerat; t o t u m t a m e n i l i u m d i e m docebat et h i l a r i t e r d i c t a b a t , et n o n u m q u a m i n t e r alia d i x i t : >Discite (57) cite c u m festinatione, q u i a »nescio q u a m d i u subsistam, et si p o s t m o d i c u m t o l l a t m e F a c t o r meus«.< N o b i s t a m e n v i d e b a t u r , ne f o r t e e x i t u m s u u m bene sciret. E t sic n o c t e m i n g r a t i a r u m actione p e r v i g i l d u x i t , et m a n e inlucescente, i d est q u a r t a feria, praecepit d i l i g e n t e r s c r i b i quae coepe(61) ramus. E t hoc fecimus usque ad t e r t i a m h o r a m . A t e r t i a a u t e m h o r a a m b u l a v i m u s c u m r e l i q u i i s s a n c t o r u m , u t c o n s v e t u d o i l l i u s d i e i poscebat. E t u n u s erat ex n o b i s c u m i l l o , q u i d i x i t i l l i : >Adhuc c a p i t u l u m u n u m de l i b r o q u e m d i c tasti deest, et v i d e t u r m i h i t i b i d i f f i c i l e esse p l u s te interogare.< (65) A t ille i n q u i t : >Facile est. A c c i p e t u u m c a l a m u m et t e m p e r a , festinanterque scribe.< E t i l l e hoc fecit. A n o n a h o r a d i x i t m i h i : >Quaedam preciosa i n mea capsella habeo, i d est p i p e r u m , oraria et incensa. Sed curre velociter, et a d d u c presbiteros n o s t r i m o n a s t e r i i ad m e , u t ego m u n u s c u l a , (69) q u a l i a m i h i D e u s d o n a v i t , illis distribuam.< E t h o c c u m t r e m o r e feci. E t praesentibus illis l o c u t u s est ad eos et u n u m q u e m q u e , m o n e n s et obsecrans p r o eo missas et orationes d i l i g e n t e r facere. E t i l l i l i b e n t e r s p o p o n d e r u n t . L u g e b a n t a u t e m et flebant o m n e s , m á x i m e a u t e m i n v e r b o q u o d d i x e r a t , (73) q u i a existimaret q u o d faciem eius a m p l i u s n o n m u l t o i n h o c seculo essent v i s u r i . G a u d e b a n t a u t e m de eo q u o d d i x i t : >Tempus est, si sic F a c t o r i m e o v i d e t u r , u t ad e u m m o d o resolutus e carne v e n i a m , q u i m e q u a n d o n o n e r a m ex n i h i l o f o r m a v i t . M u l t u m t e m p u s v i x i , beneque m i h i p i u s J u d e x v i t a m (77) m e a m p r a e v i d i t . T e m p u s v e r o a b s o l u t i o n i s meae p r o p e est; e t e n i m a n i m a mea desiderat R e g e m m e u m C h r i s t u m i n decore suo videre.
Magister dilecte, restat adhuc u n a sententia n o n descripta.< A t i l l e i n q u i t , S c r i b e . , E t p o s t m o d i c u m d i x i t p u e r : > M o d o descripta est., A t ille >Bene< i n q u i t ; > c o n s u m m a t u m est; v e r i t a t e m d i x i s t i . A c c i p e m e u m c a p u t i n m a n u s tuas, q u i a (85) m u l t u m m e delectat sedere ex adverso l o c o sancto m e o , i n q u a orare solebam, u t et ego sedens P a t r e m m e u m i n v o c a r e possim.< E t sic i n p a v i m e n t o suae casulae, decantans >Gloria P a t r i et F i l i o et S p i r i t u i sancto< et cetera, u l t i m u m e c o r p o r e s p i r i t u m e x h a l a v i t ; atque sine d u b i o c r e d e n d u m est q u o d ,

30

Alfred Schopf

(89) pro eo quia hie semper in Dei laudibus laboraverat, ad gaudia desideriorum caelestium anima eius ab angelis portaretur. Omnes autem qui audiere vel videre obitum beati Bedae patris nostri, numquam se vidisse alium i n tam magna devotione atque tranquillitate vitam suam finisse dicebant, (93) quia, sicut audisti, quousque anima eius in corpore fuit, >Gloria Patri< et alia quaedam ad gloriam Dei cecinit, et expansis manibus Deo gratias agere non cessabat. Scire autem debes quia adhuc multa narrari et scribi possunt de eo, sed nunc brevitatem sermonis ineruditio meae (98) linguae facit. Attamen cogito Deo adjuvante ex tempore plenius de eo scribere, quae oculis vidi et auribus audivi. Explicit epistola Gutberti de obitu venerabilis Bedae presbiteri.

Die Rhetorik der Weisheit und Beredtheit i m altsächsischen Heliand Von James E. Cathey Heliand 621 - 627 a: so is an üsun bokun giscriban, / uuislico giuuritan, so it uuärsagon, / suuiöo glauua gumon bi godes crafta / filuuuise man furn gispräcun, / that scoldi fon Betleem burgo hirdi, / liof landes uuard an thit lioht cuman, / r i k i rädgebo [ . . . ].* Heliand 2464 b - 2469: bisted thar oöar man, / the is i m u iung endi glau, - endi habad i m u godan mod - , / spräkono spähi endi uuet iuuuaro spello gisked, / hugid is than an is herton endi horid thar mid is orun to / suiöo niudlico endi nähor sted, / an is breost hledid that gibod godes. 2

Wie in den zwei (von vielen möglichen) oben angeführten Zitaten beobachten w i r i m altsächsischen Heliand an verschiedenen Stellen eine ausgesprochene Häufung von Wörtern, die sich auf sapientia und eloquentia beziehen. I m ersten Zitat w i r d die Weisheit der Bücher und der Propheten hervorgehoben, die die Geburt Jesu voraussagen. I m zweiten Zitat geht es u m die Uberzeugungskraft beredten Vortragens und den Effekt auf Zuhörer mit der richtigen Einstellung. Die Frage, u m die es hier geht, ist, ob die zentrale Stellung des richtig Verstehens und Wissens und des beredten Sprechens dem Heliand aus den Traditionen der lateinischen Rhetorik zugeflossen sind (und auf welchem Wege) oder ob sie nicht auch aus bodenständigen Quellen stammen. Der Heliand wurde nach den von Karl dem Großen geführten langen und harten Sachsenkriegen u m das Jahr 830 verfaßt, noch während einer Zeit des religiösen und vor allem politischen Stabilisierungsprozesses i n dem neu einverleibten norddeutschen Territorium. Als die christlich-europäische Kultur über die Klöster in Essen, Fulda, Werden und Corvey unter die Sachsen verbreitet wurde, konnte diese eingreifende kulturelle Erneuerung w o h l nur langsam gegen tief eingewurzelte traditionelle Werte ankommen. Das Verfassen des He1 »So ist es i n unseren Büchern weise geschrieben, wie Wahrsager, sehr weise Männer, vorhersagende Propheten früher erzählten, daß in Bethlehem ein H i r t der Städte, ein lieber Vormund des Landes, ein mächtiger Ratgeber i n dieses Licht kommen (geboren) werde [...].« 2 »Da steht (aber) ein anderer Mann, der jung und weise ist und ein gutes Gemüt hat. (Er ist) i m Sprechen beredt und versteht Eure Reden. Er überlegt dann i m Herzen, hört mit den Ohren zu und k o m m t näher. I n seine Brust nimmt er das Gebot Gottes auf.«

32

James E. Cathey

liand diente auch sicherlich dazu, die Geschichte Jesu und die damit verbundene neue Heilslehre entweder direkt an die zwangsgetaufte sächsische Bevölkerung oder aber zuerst an sächsische Novizen i n den Klöstern 3 und erst dann weiter an die Allgemeinheit zu vermitteln. Politisch hatte die neue Religion die Aufgabe, das Sachsenland mit einem Netz von Kirchen und Klöstern zu durchziehen, die Karls nördliches Gebiet durch Bekehrung der Bevölkerung befriedigen sollten. Der Heliand wurde in ca. 6 000 stabreimenden Strophen in einem modifizierten Stil alter Lieder 4 komponiert, offenbar u m auf das angesprochene Publik u m mittels einer vertrauten poetischen Form überzeugend zu wirken. N i c h t nur der Stabreim, sondern auch der Wortschatz diente diesem Zweck. I m Heliand finden w i r Beschreibungen, die sich auf objektive Hinweise auf eine noch i n einer vorchristlichen Stufe stehenden Gesellschaft beziehen, 5 und w i r können vom Anfang bis zum Ende des Heliand Wörter und Ausdrücke finden, deren semantischer Inhalt mindestens historisch und vielleicht noch i n der Erlebniswelt der Zuhörer Bezüge auf frühere kulturelle Begebenheiten und Denkweisen hatte. 6 W i r können also mit Recht überlegen, welche Reaktionen unter den Zuhörern des Heliand hätten ausgelöst werden können oder müssen, als sie gewisse w o h l immer noch sehr traditionsbeladene und semantisch geladene 3 Klaus Gantert schreibt in »Der Heliand«: Eine rezeptionsästhetische Untersuchung (Freiburg i. Br., 1993): »Bereits u m 809/10 hatte Adalhard I., der A b t des picardischen Klosters Corbie, ein Vetter Karls des Großen, aufgrund des hohen Anteils an Mönchen aus Kreisen des sächsischen Adels, die Karl nach Corbie gebracht hatte, den Plan zur Gründung eines Tochterklosters in Sachsen. [ . . . ] 815 siedelte sich eine kleine Mönchsgruppe aus Corbie i m sächsischen Hethis an, wobei diese Grundbesatzung w o h l bereits aus heimkehrenden Sachsen bestand. Schon diese kleine Zelle in der Grafschaft Höxter findet beträchtlichen Zustrom aus sächsischen Adelskreisen und besitzt bereits eine K l o sterschule (S. 92 - 93). Beide Seiten, die für eine erfolgreiche Rezeption benötigt werden, waren i n Corvey vorhanden: Die durch die germanisch-adelige Vorstellungswelt geprägten Novizen, die neben der lateinischen Sprache noch die grundlegenden Inhalte der christlichen Lehre kennenlernen mußten, und die ebenfalls adligen sächsischen Mönche [ . . . ] « (S. 95). 4

Vgl. Alois Wolf, Heldensage und Epos (Tübingen, 1995), S. 71.

5

E i n Beispiel von vielen: »Wie steht es nun mit den germ. Ausdrücken >Allwaltender< und >Allwalter