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German Pages 458 Year 1994
LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH IM AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN VON THEODOR BERCHEM, ECKHARD HEFTRICH, VOLKER KAPP FRANZ LINK, KURT MÜLLER, ALOIS WOLF
FÜNFUNDDREISSIGSTER BAND
1994
DUNCKER & HUMBLOT · BERLIN
LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH Neue Folge, begründet v o n Hermann Kunisch
I M AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN VON PROF. DR. THEODOR BERCHEM, PROF. DR. ECKHARD HEFTRICH, PROF. DR. VOLKER KAPP, PROF. DR. FRANZ LINK PROF. DR. KURT MÜLLER, PROF. DR. ALOIS WOLF
FÜNFUNDDREISSIGSTER B A N D
1994
Das Literaturwissenschaftliche Jahrbuch wird i m Auftrage der Görres-Gesellschaft herausgegeben von Prof. Dr. Theodor Berchem, Institut für Romanische Philologie der Universität, A m Hubland, 97074 Würzburg, Prof. Dr. Eckhard Heftrich, Germanistisches Institut der Universität, Domplatz 20-22, 48143 Münster, Prof. Dr. Volker Kapp, Romanisches Seminar der Universität Kiel, Olshausenstraße 40, 24098 Kiel, Prof. Dr. Franz Link, Eichrodtstraße 1,79117 Freiburg i. Br. (federführend), Prof. Dr. Kurt Müller, Institut für Anglistik/Amerikanistik, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Universitätshochhaus, 23. O G , 07740 Jena und Prof. Dr. Alois W o l f , Deutsches Seminar der Universität, Werthmannplatz, 79085 Freiburg i. Br.
Redaktionsanschrift: Lehrstuhl für Amerikanistik, Institut für Anglistik/Amerikanistik, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Universitätshochhaus, 23. O G , 07740 Jena. Redaktion: Jutta Zimmermann.
Das Literaturwissenschaftliche Jahrbuch erscheint als Jahresband jeweils i m Umfang von etwa 20 Bogen, Manuskripte sind nicht an die Herausgeber, sondern an die Redaktion zu senden. Unverlangt eingesandte Beiträge können nur zurückgesandt werden, wenn Rückporto beigelegt ist. Es wird dringend gebeten, die Manuskripte druckfertig einseitig in Maschinenschrift einzureichen. Ein Merkblatt für die typographische Gestaltung kann bei der Redaktion angefordert werden. Die Einhaltung der Vorschriften ist notwendig, damit eine einheitliche Ausführung des Bandes gewährleistet ist. Besprechungsexemplare von Neuerscheinungen aus dem gesamten Gebiet der Literaturwissenschaft, einschließlich Werkausgaben, werden an die Adresse der Redaktion erbeten. Eine Gewähr für die Rezension oder Rücksendung unverlangt eingesandter Besprechungsexemplare kann nicht übernommen werden. Verlag: Duncker & H u m b l o t G m b H , Carl-Heinrich-Becker-Weg 9, 12165 Berlin.
LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH FÜNFUNDDREISSIGSTER B A N D
LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH NEUE FOLGE, BEGRÜNDET V O N H E R M A N N KUNISCH
I M A U F T R A G E DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN V O N THEODOR BERCHEM, ECKHARD HEFTRICH, VOLKER KAPP FRANZ L I N K , KURT MÜLLER, ALOIS WOLF
FÜNFUNDDREISSIGSTER BAND
1994
D U N C K E R
&
H U M B L O T / B E R L I N
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1994 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: Hagedornsatz, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0075-997X ISBN 3-428-08033-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier gemäß der A N S I - N o r m für Bibliotheken
INHALT
AUFSÄTZE Gregor Vogt-Spira (Freiburg i. Br.), Ars oder Ingenium? Homer und Vergil als literarische Paradigmata 9 Albrecht Classen (Tuscon, Arizona/USA), Oswald von Wolkenstein und Leonardo Giustiniani. Zwei Zeitgenossen des frühen 15. Jahrhunderts . . . 33 Uwe Baumann (Düsseldorf), Das Drama der englischen Renaissance als politische Kunst. Die zeitgenössische Aktualität der Römerdramen. Teil 2 63 Willi Erzgräber (Freiburg i. Br.), Shakespeares Hamlet als Rachetragödie .. 101 Thomas Kulimann (Heidelberg), Höfischkeit und Spiritualität: Dramatische Elemente in der „Metaphysical Poetry" 121 Anne Margret Rusam (Bielefeld), Worte als Waffen. Zur Kunst der Überlistung bei Molière und Marivaux 139 Wolfgang Wittkowski (Albany, New York/USA), Plädoyer für die Dramen Heinrich Leopold Wagners 151 Monika Fick (Heidelberg), Die gefallene Natur. Deutungen der Sünde in Dichtung und Philosophie der Romantik 181 Jochen Heymann (Erlangen), L'Avare IV, 7 und Goriots Sterbemonolog. Anmerkungen zur Interpretation der Figur Goriots 215 Peter Heßelmann (Münster), Unbekannte Briefe von Joseph Görres
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Herwig Fried! (Düsseldorf), Eine religiöse Kehre. Denken und Dichten im amerikanischen Transzendentalismus von Emerson bis Dickinson . . . 253
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Eckhard Heftrich Tetralogie
Inhalt
(Münster), Richard Wagner in Thomas Manns Josephs275
Frank-Rutger Hausmann (Freiburg i. Br.), Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter won Ernst Robert Curtius - sechzig Jahre danach 291 Urs Heftrich (Heidelberg), Zur Originalität verdammt. Tschechische katholische Autoren im 20. Jahrhundert: Durych, Demi, Cep, Zahradnicek 321 Franz Link (Freiburg i. Br.), Denkversuche. Montaigne und Pascal, Emerson und Nietzsche, Postmoderne. Hommage à Max Müller 343 Alessandro Fontana (Fontenay-aux poses/Saint Cloud) undJean-Louis Fournel (Paris), Per un'analisi topologica della letteratura 387
BUCHBESPRECHUNGEN Hartmut Frey tag, Hg., Der Totentanz der Marienkirche in Lüheck und der Nikolaikirche in Reval (Tallinn). Edition, Kommentar, Interpretation, Rezeption (von Franz Link) 405 Martina Eicheldinger, Friedrich Spee - Seelsorger und poeta doctus. Die Tradition des Hohenliedes und Einflüsse der ignatianischen Andacht in seinem Werk (von Wilhelm Kühlmann) 408 Roland Krebs und Jean-Marie Valentin, Hg., Théâtre, nation, et société en Allemagne au XVIII e siècle (von Wolfgang F. Bender) 411 Helmut Koopmann, Hg., Bürgerlichkeit im Umbruch. Studien zum deutschsprachigen Drama 1750-1800, mit einer Bibliographie der Dramen der OettingenWallersteinschen Bibliothek zwischen 1750 und 1800 (von Wolfgang F. Bender) 417 Kimberley Reynolds and Nicola Humble, Victorian Heroines: Representations of Femininity in Nineteenth-Century Literature and Art (von Paul Goetsch) 420 Erich Kleinschmidt, Gleitende Sprache. Sprachbewußtsein und Poetik in der literarischen Moderne (von Franz Link) 422
Inhalt
Christoph Irinscher, Masken der Moderne. Literarische Selbststilisierung bei T. S. Eliot, Ezra Pound, Wallace Stevens und William Carlos Williams (von Hubert Zapf) 425 Günter Niggl, Hg., Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung (von Ludwig Völker) 427 Alfred Hornung und Ernstpeter Ruhe, Hg., Autobiographie & Avantgarde (von Christine Asiaban) 429 Gerd Hurm, Fragmented Urban Images: The American City in Modern American Fiction from Stephen Crane to Thomas Pynchon (von Eberhard Kreutzer). 431 Nilda Guglielmi, El Eco de la Rosay Borges; Adele J. Haft/Jane G. White/Robert J. White, The Key to The Name of the Rose; Theresa Coletti, Naming the Rose - Eco, Medieval Signs, and Modern Theory ; M. Thomas Inge, Hg., Naming the Rose - Essays on Eco's The Name of the Rose (von Thomas Stauder) 435 Regionalität, Nationalität und Internationalität in der zeitgenössischen Lyrik. Erträge des Siebten Blaubeurer Symposions, hg. Lothar Fietz, Paul Hoffmann und Hans-Werner Ludwig (von Wolfgang G. Müller) 439 Alfred Hornung, Lexikon amerikanische Literatur (von Franz Link)
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Tensions between North and South: Studies in Modern Commonwealth Literature and Culture, hg. Edith Mettke (von Christian Mair) 445 Namen- und Werkregister (von Jutta Zimmermann)
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Ars oder Ingenium? Homer und Vergil als literarische Paradigmata* Von Gregor Vogt- S pira
Ι. Als im Jahre 1980 Christa Wolf die Orestie des Aischylos liest, ist sie von der Gestalt der Kassandra so fasziniert, daß sie den Plan zu ihrem gleichnamigen Roman faßt. Sie denkt sich in die Welt des trojanischen Krieges hinein, in seine einzelnen Figuren, wie sie bei Homer und Aischylos dargestellt sind1. Man stelle sich nun vor, die Literaturkritik hätte auf diese Imitatio folgendermaßen reagiert: Man hätte Listen von Worten oder Stellen angefertigt, in denen Christa Wolf Homer und Aischylos nachgeahmt hat; man hätte die Vergleiche, die sie gebraucht, neben diejenigen ihrer Vorlagen gehalten und gefragt, welche passender und eindrucksvoller seien; oder man hätte debattiert, ob in der stehenden Wendung >Achill das Vieh< das Epitheton sinnvoller und ausdrucksstärker sei als das homerische Beiwort >der schnellfüßigem Eine solche Betrachtungsweise erschiene im besten Falle kurios und jedenfalls der Botschaft des Romans gegenüber völlig unangemessen. Zudem wäre sie offensichtlich ästhetisch unzulänglich; um ein Wort von Charles Nisard zu gebrauchen, müßte man einem derartigen Kritiker vorhalten: »II s'attache aux détails, et par là juge de l'ensemble, comme on jugerait d'un édifice sur un chapiteau«2. * U m Anmerkungen ergänzte Fassung meiner Freiburger Antrittsvorlesung vom 7.7. 1993. 1 Vgl. Chr. Wolf, Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra. Frankfurter PoetikVorlesungen (Darmstadt, 1983), hier bes. das erste Kapitel: »Ein Reisebericht über das zufällige Auftauchen und die allmähliche Verfertigung einer Gestalt« S. 9ff.; zur Verarbeitung Homers als literarisches Muster etwa S. 132 u.ö. Zur Antikerezeption P. Wülfing, »Der Kassandra-Mythos und Christa Wolfs Erzählung«, Anregung Bd. 39 (1993), S. 4 - 1 7 und M . Fuhrmann, »Mythos und Herrschaft in Christa Wolfs Kassandra und Christoph Ransmayrs Letzter Welt«, Der Altsprachliche Unterricht Bd. 37.3 (1994). 2
Ch. Nisard, Les gladiateurs de la république des lettres aux XV e, XVI e (Paris, 1860), S. 375 (zu J. C. Scaligere literarkritischer Methode in der Poetik).
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e
siècles
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Gregor Vogt-Spira
Indes, in ähnlicher Weise ist fast zwei Jahrtausende hindurch tatsächlich Literaturkritik betrieben worden. Zwar handelt es sich nicht um die einzige Umgangsform mit literarischen Kunstwerken 3, aber doch um die allgemein anerkannte und vor allem durch die Theorie fundierte Methode: Sie bildete den literarästhetischen Leitdiskurs. Beispielsweise löste das Erscheinen von Vergils Aeneis eben eine solche Reaktion aus, wie sie im Falle von Christa Wolfs Kassandra hypothetisch entworfen wurde 4 : Ein Herennius publizierte eine Sammlung von Vergils vitia, ein Perellius Faustus ein Verzeichnis seiner furta; ein Q. Octavius Avitus stellte in acht Bänden Stellen zusammen, in denen sich Vergil mit früheren Autoren berühre, 'Ομοιότητες (Übereinstimmungen) betitelt. Schließlich tadelte M. Vipsanius Agrippa Vergil als Erfinder einer neuen Art sprachlichen Affektausdrucks, wogegen alsbald Q. Asconius Pedianus aufstand und einen Liber contra obtrectatores Vergilii verfaßte. Schon aus diesen wenigen Beispielen läßt sich die Richtung des Zugriffs ersehen: Man interessiert sich nicht für Deutungsfragen, sondern dafür, wie ein Literaturwerk im einzelnen gemacht ist, wobei eine besondere Hilfe bildet, wenn man im Detail vergleichen kann, wie ein Schriftsteller seine literarischen Vorlagen nachahmt. Das Schwergewicht liegt hierbei auf der Beurteilung der elocutio; es handelt sich also um eine Stilkritik. Solche produktionsästhetische Betrachtungsweise ist nun keineswegs Selbstzweck. Vielmehr steht dahinter die optimistische Auffassung, daß Schreiben lehrbar sei. Es geht hier um das grundlegende praktische Interesse einer Schriftkultur, den Standard der Literalisierung weiterzuvermitteln. Man soll an Mustern seine Ausdrucksweise schulen und lernen zu beurteilen, was guter und was schlechter Stil ist, um sich nach Möglichkeit selbst vor Fehlern zu hüten5. Da man das am ehesten an den besten Autoren lernt, als die größten Dichter aber Homer und Vergil gelten, rücken diese in den Rang literarischer Paradigmata auf. Ein Hauptvermittler jener Art des Umgangs mit Literaturwerken ist naturgemäß die Schule6. Zwar erhebt bereits Seneca den Vorwurf
3 Neben die grammatisch-philologische tritt eine hermeneutische Methode: die allegorische Dichtererklärung, die namentlich bei Homer und Vergil ausgiebig gepflogen worden ist. Selten hingegen übte man eine strukturanalytische Betrachtungsweise, wie sie in Aristoteles' Poetik angebahnt ist; eines der wenigen Beispiele in der Homerkritik liefert die elfte Rede des Dion Chrysostomos zum Thema >Troja ist nicht erobert worden< [dazu G. A. Seeck, »Dion Chrysostomos als Homerkritiker (Or. 11)«, Rheinisches Museum Bd. 133 (1990), S. 97-107]. 4
Die folgenden Nachrichten über die Anfänge der antiken Aeneis-Ktiük in einer der Vergilviten, der Vita Suetonii (vulgo Donatiana) 44-6. 5 6
Vgl. die Zeugnisse u. Anm. 38-40.
Gute Überblicksdarstellung bei H . I. Marrou, Histoire (Paris, 1948), S. 369-89.
de V éducation dans Γ Antiquité
Ars oder Ingenium?
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der Geistlosigkeit gegen die dort vermittelte Vergilphilologie 7 ; doch erst das 18. Jahrhundert wirft die Methode, dann freilich endgültig, ab, wovon wiederum die Beurteilung von Homer und Vergil nicht unberührt bleibt. Im folgenden soll versucht werden, jenen historisch gewordenen Umgang mit Literatur in seiner pragmatischen Dimension vorzustellen: ein Zusammenhang, der infolge des Wandels der kulturellen Praxis weitgehend aus dem Gedächtnis geraten ist, jedoch für das Verständnis der alten Literaturkritik unabdingbar ist 8 . Als Grundlage gewählt sind zwei der ausführlichsten Vergleiche zwischen Homer und Vergil, die angestellt worden sind und die beide selbst wiederum eine Leitwirkung ausgeübt haben: einmal in den Saturnalien des Ambrosius Theodosius Macrobius, eines dem Neuplatonismus nahestehenden Autors um die Wende des vierten zum fünften Jahrhundert n.Chr., der für das ganze Mittelalter zur philosophischen und wissenschaftlichen Autorität wird 9 ; zum zweiten bei Julius Caesar Scaliger, dem Verfasser der bedeutendsten Poetik der Renaissance, die 1561 postum erscheint 10. Zugleich werden 7 Ep. 108, 23ff. unter dem Leitgedanken: quaephilosopbia fuit, factaphilologia est. Auch heute noch pflegt der antiken Aeaeis-Ktiük ein tieferes Verständnis des Werks abgesprochen zu werden [vgl. etwa den Überblick von R. Glei, »Von Probus zu Pöschl: Vergilinterpretation im Wandel«, Gymnasium Bd. 97 (1990), S. 321-40]: gewiß nicht zu Unrecht. N u r muß man sich klarmachen, daß sie ein solches auch gar nicht anstrebte. 8
Stellvertretend für dieses Desiderat kann hier das große Werk von G. Weinberg, A History of Literary Criticism in the Italian Renaissance, 2 Bde. (Chicago, 1961) stehen, das für die ideengeschichtlichen Bezüge der Renaissancepoetiken Grundlegendes geleistet hat, dabei jedoch die Verbindung zur zeitgenössischen kulturellen Praxis, also den pragmatischen Horizont, in dem die poetologischen Reflexionen und praktischen Anweisungen gerade in ihrer historischen Differenz erst eigentlich verständlich werden, völlig unberücksichtigt läßt. Z u leisten wäre Ähnliches, wie es etwa M . Fumaroli, L'Age de l'éloquence. Rhétorique et »res literaria« de la Renaissance au seuil de l'époque classique (Genève, 1980) für die Rhetorik des 16. und 17. Jahrhunderts in Frankreich durchgeführt hat. 9 Zur Datierung: S. Döpp, »Zur Datierung von Macrobius , Saturnalia «, Hermes Bd. 106 (1978), S. 619-32; zu Autor und Werk: N . Marinone, »Macrobio«, in: Enciclopedia Virgiliana (Roma, 1983), Bd. 3, S. 299-304; zur Nachwirkung: C. Zintzen, »Bemerkungen zur Nachwirkung des Macrobius in Mittelalter und Renaissance«, in: M . Wissemann (Hrsg.), Roma renascens. Festschrift I. Opelt (Frankfurt, 1988), S.415-39. Vgl. auch E. R. Curtius, Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter (Bern, 1 0 1984), S. 441-2. Zitiert wird im folgenden nach der Ausgabe von I. Willis, Macrobius Bd. 1 (Leipzig, 1970). 10 Überblick über das Werk bei M . Fuhrmann, Einführung in die antike Dichtungstheorie (Darmstadt, 1973), S. 202-11. Zur Stellung innerhalb der poetischen Theorie der Renaissance G. Weinberg, Λ History of Literary Criticism (ο. Anm. 8), bes. S. 743-50. Z u m literarkritischen Verfahren: G. Finsler, Homer in der Neuheit von Dante bis Goethe (Leipzig-Berlin, 1912), S. 133-49; E. Brinkschulte, fulius Caesar Scaliger s kunsttheoretische Anschauungen und deren Hauptquellen (Bonn, 1914); S. Shepard, »Scaliger on Homer and Virgil. A Study of Literary Prejudice«, Emerita Bd. 29 (1961), S. 313-40. Bezeichnend
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Gregor Vogt-Spira
schlaglichtartig einige Verbindungslinien in die Diskussion des 18. Jahrhunderts ausgezogen werden, in der im Zuge der neu erwachten Homerbegeisterung oft eine frappante Benutzung der traditionellen Begriffe und Kriterien festzustellen ist, allein daß sich die Bewertung gegenüber der RenaissancePoetik diametral verkehrt 11 . Eine Bewertung im übrigen, die heute noch sehr wohl vertraut erscheint, die jedoch als Reaktion auf das vorangehende Paradigma selbst wieder ihren historischen Bedingungen unterliegt. II.
Zunächst aber zu den Voraussetzungen jenes komparatistischen Verfahrens: Wie kommt es überhaupt dazu, daß man Homer und Vergil miteinander vergleicht 12? Hier steht ein ganzes System literarischen Produzierens im für die Tendenz von Scaligers Vergleich ist die absolute Vorrangstellung, die er Vergil vor Homer einräumt, der freilich schon in Vidas Poetik (1527) entthront worden war; bei Scaliger kommt eine kräftige Polemik gegen Homers >Fehler< sowie gegen vorangehende grammatici , die Vergil zu kritisieren wagten, hinzu. Zitiert wird in Text und Übersetzung nach der im Erscheinen begriffenen Neuedition: Julius Caesar Scaliger: Poetices libri Septem. Sieben Bücher über die Dichtkunst. Unter Mitwirkung von M . Fuhrmann hg., übers., eingel. und eri. von L. Deitz und G. Vogt-Spira, 5 Bde. (Stuttgart-Bad Cannstatt, 1994ff.); die Stellenverweise sind hier noch nach der Paginierung der Erstausgabe von 1561 gegeben, die in dem von A. Buck herausgegebenen Facsimile-Neudruck (Stuttgart-Bad Cannstatt, 1964) wieder vorliegt. 11
Dies ist bereits gelegentlich gesehen worden: So vermerkt etwa F. J. Worstbrock, Elemente einer Poetik der Aeneis. Untersuchungen zum Gattungsstil vergilianischer Epik (Münster, 1963), S. 21 zum neuen Verständnis des >Originalgenies< Homer sowie der Neuorientierung der epischen Theorie in der deutschen Ästhetik von Herder bis zu den Schlegel, »daß diese Kunstlehre bei der Bestimmung epischer Stilmerkmale Gesichtspunkte und Begriffe verwendet, die sich mit denen der Renaissancepoetik weithin decken. Der Unterschied liegt in der Bewertung.« Eine Aufarbeitung dieser Beziehungen, vergleichbar derjenigen, wie sie Brummack für die Satiretheorie geleistet hat [»Zu Begriff und Theorie der Satire«, DVJs Bd. 45 (1971) Sonderheft, S. 275-377], ist ein Desiderat. 12 Obwohl der Vergleich zu den großen Konstanten der europäischen Literaturgeschichte gehört, ist er ungenügend erforscht. Besonders hervorzuheben ist jüngst A. Wlosok, »Zur Geltung und Beurteilung Vergils und Homers in Spätantike und früher Neuzeit«, in: Res humanae - Res divinae. Antonie Wlosok: Gesammelte Schriften, hrsg. v. E. Heck u. E. A. Schmidt (Heidelberg, 1990), S. 476-98, die die großen Linien der Vergleichung bis zu Scaliger auszieht (mit reichen Literaturverweisen). Unverzichtbar für die Neuzeit noch immer G. Finsler, Homer in der Neuheit (o. Anm. 10); für das Mittelalter jetzt W . Kullmann, »Einige Bemerkungen zum Homerbild des Mittelalters«, in: Ders., Homerische Motive. Beiträge %ur Entstehung, Eigenart und Wirkung von Utas und Odyssee, hrsg. v. R. J. Müller (Stuttgart, 1992), S. 353-72 [zuerst in: Litterae medii aevi. Festschrift J. Autenrieth, hrsg. v. M . Borgolte und H . Spilling (Sigmaringen, 1988), S. 1-15]. Einen Überblick über den Homer-Vergil-Vergleich bis ins frühe 19. Jahrhundert bietet ferner H . Gronemeyer, Untersuchungen %ur Geschichte der deutschen Vergil-
Ars oder Ingenium?
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Hintergrund, dessen wesentliches Stichwort Imitatio oder μίμησίς lautet. >Nachahmung< bezieht sich dabei auf literarische Vorbilder; die Doktrin besagt, daß man sich an als vorbildlich erkannte literarische Gestaltungen anzuschließen und mit ihnen in Wettstreit zu treten habe, um sie nach Möglichkeit zu übertreffen 13. Das Verfahren stammt ursprünglich aus der Rhetorik und dient dort ausdrücklich der stilistischen Perfektionierung: Die Benutzung musterhafter Vorlagen erlaubt es dem Redner, sich darauf zu konzentrieren, die eigene Darstellung möglichst wirkungsvoll auszufeilen 14. Die Übertragung auf den Gesamtbereich der Literatur wird dann im ersten Jahrhundert v. Chr. theoretisch fundiert. Dionys von Halikarnaß etwa spricht in seiner Schrift Περί μιμήσεως davon, daß »die Seele des Lesenden sich durch die andauernde Beobachtung die Ähnlichkeit mit dem literarischen Vorbild aneignet«15. Es geht um einen »psychischen Prozeß des Eindringens in Geist und Haltung der vorbildlichen Autoren« 16 , durch den man die »rechte Natur« erlange - damit ist das schöpferische Potential gemeint - , was im einzelnen durch »genaue Beobachtung und mühevolle Übung« zu geschehen habe17; die moderne Verhaltensbiologie würde diesen Prozeß der nachahmenÜbertragung mit besonderer Berücksichtigung Rudolf Alexander Schröders (Diss. Hamburg, 1960), S. 5 - 5 6 mit 292-301. Ein Desiderat ist eine nähere Untersuchung des Vergleichungsverfahrens in seiner praktischen Durchführung. 13 Einen Überblick über die antike Theorie der Imitatio bieten H . Flashar, »Die klassizistische Theorie der Mimesis«, in: Eidola. Ausgewählte Kleine Schriften, hrsg. v. M . Kraus (Amsterdam, 1989), S. 201-19 (zuerst 1979) und M . Fuhrmann, Dichtungstheorie der Antike: Aristoteles - Hora% - Longin. Eine Einführung (2. Überarb. u. veränd. Aufl., Darmstadt, 1992), S. 153-5; bis in die Neuzeit reichend jetzt B. Bauer, Art.: »Aemulatio«, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 1 (Tübingen, 1992), Sp. 141-87. Z u m Selbstverständnis der Imitatio in Rom A. Reiff, interpretatio, imitatio, aemulatio. Begriff und Vorstellung literarischer Abhängigkeit bei den Römern (Bonn, 1959) mit der Besprechung von M . Fuhrmann, Gnomon Bd. 33 (1961), S. 445-8 und der weiterführenden Untersuchung zum »vocabulaire de Timitation< bei A. Thill, Alter ab ilio. Recherches sur limitation dans la poésie personnelle à F Epoque Augustéenne (Paris, 1979), S. 452-70. D e m Verhältnis des modernen Intertextualitätstheorems zum Konzept der Imitatio geht nach A. Kablitz, »Intertextualität und die Nachahmungslehre der Italienischen Renaissance. Überlegungen zu einem aktuellen Begriff aus historischer Sicht«, Italienische Studien Bd. 8 (1985), S. 27-38 und Bd. 9 (1986), S. 19-35. 14 Vgl. Isokrates, Or. 4,8: [...] ούκέτι φευκτέον ταΰτ* έστί περί ών έτεροι πρότερον είρήκασιν, άλλ* ΰμεινον έκείνων είπειν πειρατέον. 15
Fr. 6 (ιOpuscula I I , S. 202, Ζ . 20-22 Usener-Radermacher): ή γ α ρ ψ υ χ ή
του
άναγινώσκοντος ύπό της συνεχούς παρατηρήσεως τήν όμοιότητα του χαρακτήρος έφέλκεται. 16 Fuhrmann, Dichtungstheorie der Antike (ο. Anm. 13), S. 193; vgl. Flashar, »Die klassizistische Theorie der Mimesis« (ο. Anm. 13), S. 209. 17
Fr. 2 (Opuscula I I , S.200, Z . 4 - 7 Usener-Radermacher): τρία ταΰτα τήν άριστη ν ήμΐν ëv τε τοις πολιτικοΐς λόγοις §ξιν και έν πάσηι τέχνηι τε Kai έπιστήμηι χορηγήσει* φύσις δεξιά, μάθησις άκριβής, δσκησις έπίπονος.
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Gregor Vogt-Spira
den Aneignung als >Modellieren< bezeichnen. Solches >Beobachten und Einüben< wird zumal im Rhetorikunterricht praktiziert, in dem die Nachahmung der kanonischen Autoren den Unterrichtsgegenstand bildet. Hieraus erhellt, daß es sich zugleich »um ein allgemeines Erziehungsideal handelt, in dem sich Rhetorik und Literatur wechselseitig durchdringen« 18. Indes ist dies erst der Rahmen dafür, daß es zu jenem Vergleich zwischen Homer und Vergil kommen kann. Handelt es sich doch hier zusätzlich darum, einen griechischen und einen römischen Autor einander gegenüberzustellen. Imitatio ist nun in besonderem Maße die Raison d'être der römischen Literatur überhaupt, die sich an ihrem Beginn einem bereits fertig ausgebildeten griechischen Literatursystem gegenüber sieht und aus dessen Rezeption heraus entsteht19. Eine oft zitierte Formel für das produktionsästhetische Prinzip der Mimesis der Griechen hat Horaz geprägt (Ars poet. 268-9): Vos exemplaria Graeca nocturna versate manu, versate diurna. Wälzt die griechischen Vorbilder nächtens, wälzt sie bei Tage.
In exemplarischer Weise ist jenes Postulat von Vergil erfüllt worden, der in seiner Aenets »das Konzept der >totalen< Homerimitation - im Sinne einer vollständigen Umsetzung der beiden homerischen Großepen in ein adäquates römisches Epos - verfolgt und auch verwirklicht« hat 20 ; dies liefert den Grund dafür, daß die literarische Kritik, wie eingangs geschildert, überhaupt mit jenem Zusammenstellen von >Diebstählen< und »Übereinstimmungen reagieren kann 21 . Ungeachtet solcher Anfeindungen wird der Rang Vergils jedoch rasch anerkannt. Seit dem Ende des ersten nachchristlichen Jahrhunderts als Gipfel der römischen Epik schlechthin betrachtet, rückt er unmittelbar neben den Griechen Homer, was zwangsläufig das messende Vergleichen herausfordert im übrigen der folgerichtige Reflex darauf, daß der nachahmende Dichter grundsätzlich in einen agonalen Bezug zu seinem Vorbild tritt. Der HomerVergil-Vergleich bleibt dabei nicht nur auf die professionelle Ebene beschränkt; so scheint er etwa auch als literarisches Gespräch eine beliebte Unterhaltung beim Symposion gebildet zu haben. Juvenal liefert hierfür in 18
Flashar, »Die klassizistische Theorie der Mimesis« (ο. Anm. 13), S. 210.
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Das Verhältnis der lateinischen zur griechischen Literatur gehört zu den Kardinalfragen der Latinistik; zu den Besonderheiten des Aneignungs Vorgangs in Zusammenhang mit spezifisch römischer Mentalität C. Zintzen, »Abhängigkeit und Emanzipation der römischen Literatur«, Gymnasium Bd. 82 (1975), S. 173-93. 20 Wlosok, »Zur Geltung und Beurteilung Vergils und Homers« (o. Anm. 12), S. 478. Grundlegend zu Vergils Homerbenutzung G. N . Knauer, Die Aenets und Homer. Studien zur poetischen Technik Vergils mit Listen der Homerzitate in der Aeneis, Hypomnemata Bd. 7 (Göttingen, 2 1979).
» S.o.S. 9.
Ars oder Ingenium?
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seiner großen Satire gegen die Frauen ein Beispiel, das freilich grotesk erscheinen soll: Eine besonders üble Vertreterin des weiblichen Geschlechts nämlich sei die folgende {Sat. 6, 434-7): [ . . . ] quae cum discumbere coepit laudat Vergilium, periturae ignoscit Elissae, committit vates et comparat, inde Maronem atque alia parte in trutina suspendit Homerum. [ . . . ] eine, die, kaum daß man Platz genommen hat, Vergil lobt, für Didos Selbstmord Verständnis hat, Vergleiche zwischen Dichtern zieht und Vergil gegen Homer in die Waagschale wirft 2 2 .
Man wüßte gerne, wie jene Vergleichung in der literarischen Konversation oder auch in der Schule im einzelnen praktisch durchgeführt worden ist. Die Quellenlage ist freilich dürftig. Doch läßt sich immerhin aus Macrobius und Scaliger, der sich auf weite Strecken mit den spätantiken critici auseinandersetzt, ein prinzipieller Einblick in die komparatistische Methodik gewinnen. ΙΠ. Macrobius führt in einem Kapitel Stellen auf, in denen er die Vergil'sche Nachahmung gegenüber dem homerischen Urbild für überlegen hält 23 . Der Abschnitt steht unter dem Gesichtspunkt, Vergil habe bei seiner Übertragung die Vorlage »dichter ausgearbeitet^4: Es handelt sich also um ein Mehr an Ars. Ein erstes wichtiges Verfahren solch dichterer Ausarbeitung besteht in der Hinzuerfindung charakteristischer Details. Dafür wird etwa folgender Fall Vergil'scher Nachahmung angeführt 25. Im 16. Buch der Ilias zeiht Patroklos den Achill, der sich trotz der miserablen Lage der Achaier weigert, in den Kampf einzugreifen, der Härte und Grausamkeit ( w . 33-4):
22 Übersetzung von Harry C. Schnur, in: Juvenal : Satiren, übers, und eingel. v. H . C. S. (Stuttgart, 1969). Anspielung auf die Praxis des Homer-Vergil-Vergleichs beim Symposion wohl auch luv. Sat. 11, 180 f. 23 I n Buch 5 der Saturnalien, das großenteils dem Homer-Vergil-Vergleich gewidmet ist, wird zunächst die Imitatio als solche nachgewiesen (5,2,13: omne opus Vergilianum velut de quodam Homerici operis speculo formatum est); die für die Frage nach den ästhetischen Kriterien der Vergleichung zentrale Partie ist dann so disponiert, daß zunächst Überlegenheit (c. 11), hernach Gleichrangigkeit (c. 12), schließlich Unterlegenheit (c. 13) Vergils gegenüber Homer aufgezeigt wird. 24 25
5,11,1 : non negabo non numquam Vergilium
in transferendo
densius excoluisse.
5,11,14-9. Die Textstellen aus Homer und Vergil werden im folgenden jeweils in der bei Macrobius oder Scaliger gegebenen Fassung geboten.
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νηλεές, ούκ άρα σοί γε πατήρ ή ν ίππότα Πηλεύς, ούδέ Θέτις μήτηρ* γλαυκή δέ σε τίκτε θάλασσα. Erbarmungsloser! Vater war dir also nicht der Rosselenker Peleus, und nicht Thetis die Mutter; dich hat das bläulich glänzende Meer geboren.
Diesen Gedanken hat Vergil auf Didos Anklagerede gegen Aeneas übertragen, unmittelbar nachdem jener eröffnet hatte, er müsse auf göttliches Geheiß nach Italien weiterfahren und könne nicht in Karthago bleiben (Aen. 4, 365-7): Nec tibi diva parens generis nec Dardanus auctor, perfide, sed duris genuit te cautibus horrens Caucasus Hyrcanaeque admorunt ubera tigres. Weder hast du eine Göttin zur Mutter noch ist Dardanus der Stammvater deines Geschlechts, Treuloser, vielmehr hat dich der vom harten Felsgestein starrende Kaukasus geboren und hyrcanische Tiger haben dir ihr Euter gegeben.
Besonders gelobt wird dieser letzte Zusatz, den Vergil aus eigenem gegeben hat. Hinter ihm steht die Theorie, daß die natürliche Anlage von Kindern durch die zuerst aufgenommene Nahrung gesteigert oder verändert werde. Vergil habe also, so lautet die Interpretation, nicht nur wie Homer die Geburt zum Gegenstand des Vorwurfs genommen, sondern darüber hinaus auch die grausam und wild machende Ernährung hinzuerfunden 26. Durch solche Zufügung eines charakteristischen Details wird somit größere Wucht der Rede erzielt. Dieser Stellenvergleich ist im übrigen ein Beispiel für die Kontinuität derartiger literarkritischer Argumentationen. Zufallig nämlich ist das Lob jener VergiPschen Erfindung zuerst bei Gellius im zweiten nachchristlichen Jahrhundert erhalten 27; von dort wird es dann von Macrobius im fünften und Scaliger im 16. Jahrhundert mit gleichlautender Begründung übernommen 28. Ein weiteres Beispiel. In einer berühmten Szene im sechsten Buch der Odyssee läßt Homer den Odysseus Nausikaa ansprechen: er nach dem Schiffbruch, nackt und von Schmutz und Salz entstellt; sie hingegen, mit ihren Gefahrtinnen beim Ballspielen am Strand, in prangender Schönheit. Aus dieser Situation erwächst folgende Anrede (vv. 149-52):
26 5,11,15: piene Vergilius non partionem solam, sicut ille quem sequebatur, sed educationem quoque nutricationis tamquam belualem et asper am crimtnatus est. addidit enim de suo: > Hyrcanaeque etc.< 27 28
Noctes Atticae 12,1,20-3.
Seal. 233 a B - C . Eine anders argumentierende Auseinandersetzung mit dieser Stelle, die dadurch, daß hier Vergil gegenüber Homer einen erkennbar wohlüberlegten Zusatz macht, die Kritik herausforderte, bezeugen die Scholien (Serv. auet. 4, 367).
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γουνοϋμαί σε, άνασσα* θεός νύ τις ή βροτός έσσι; εΐ μέν τις θεός έσσι, τοί ούρανόν εύρύν δχουσιν, Άρτέμιδί σε έγώ γε, Διός κούρηι μεγάλοιο, είδός τε μέγεθός τε φυήν τ' άγχιστα έΐσκω. Ich flehe dich an, Herrin: bist du eine Göttin oder eine Sterbliche? Wenn du eine Göttin bist wie die, die den weiten Himmel innehaben, dann vergleiche ich dich nach Aussehen, Größe und Wuchs am nächsten mit Artemis, der Tochter des gewaltigen Zeus.
Diese Stelle ahmt Vergil nach, als er Aeneas im ersten Buch bei einem Landausflug Venus begegnen läßt 29 . Nach Scaligers Urteil überbietet der römische Dichter hier seine Vorlage, indem er ein Moment der Charakterzeichnung hinzufüge; Scaliger nennt das ηθική oratio 30: Denn Aeneas hebe zunächst mit dem Ausdruck des Zögerns, sodann der entschiedenen Behauptung an: »Doch wie soll ich dich nennen, Jungfrau?«, woraufhin der Grund des Zögerns angeführt sei, der von Venus* Anblick herrühre: »Denn du trägst keine sterblichen Züge«, was im folgenden noch gesteigert werde: »Und deine Stimme klingt nicht wie die eines Menschen«; daraufhin unter Wiederholung die Behauptung: »O, eine Göttin gewiß!« Gerühmt wird somit Vergils psychologische Vertiefung, indem in der Art der Ansprache zugleich die seelischen Prozesse des Anredenden zum Ausdruck gebracht werden. Der technische Bezug auf das Verfahren der Imitatio ist aus diesen beiden Beispielen bereits deutlich geworden: Der nachahmende Dichter hat die Aufgabe, eine Vorlage, wenn möglich, zu vervollständigen, sie gewissermaßen als Anstoß zu benutzen und weiter auszuführen. Das wird einmal unmißverständlich ausgesprochen: Homer habe ein breve semen geliefert, Vergil habe daraus eine plena descriptio gemacht31. Für diesen Akt der Ausarbeitung werden die qualifizierenden Adjektive >reicher< und »fruchtbaren gebraucht; er wird als eine Art Veredelungsprozeß beschrieben32. Scaliger spricht darüberhinaus einmal von Vergils Detailversessenheit33. Ein sehr charakteristisches Beispiel für diese Technik der Ausführung bis ins Einzelne hinein ist die Schilderung eines Schiffssteuermanns, der sich nachts am Sternenhimmel orientiert. Wäh29
Aen. 1, 326-9: nulla tuarum audita mihi neque visa sororum,/o quam te memorem, virgoì namque haud tibi vultusjmor talis, nec vox hominem sonat; o, dea certe] an Phoebi sororì an Nymph arum sanguinis una? 30 Seal. 217 a A. Die Stellen finden sich auch bei Macr. 5,4,6 aufgeführt, jedoch ohne Bewertung. 31 32
Macr. 5,11,22 zu den Wagenrennen-Gleichnissen Od. 13, 81 ff. und Aen. 5, 144 ff.
Macr. 5,11,5: locupletior; prolatum.
§ 29: uberius [...] pulchriusque descripsit;
33 228 b D : et illa (ut ego solitus sum iocari) 457-60.
2 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 35. Bd.
καθεκαστότης
§ 30: cultius a Marone
mit Bezug auf Aen. 8,
Gregor Vogt-Spira
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rend ihn Homer schlicht auf die Pleiaden im Süden sowie Bootes und Bärin im Norden blicken läßt, nennt Vergil zahlreiche Sternzeichen in einer solchen Reihenfolge, daß dadurch der Prozeß des dauernden Hin- und Herschauens, eines fortlaufenden unruhigen Sich-Umwendens nach allen Himmelsrichtungen ausgemalt ist: hoc mire et velut coloribus Maro pinxit urteilt Macrobius 34. Allerdings kommt es nicht auf bedingungslose quantitative Steigerung an, vielmehr bedarf es des richtigen Urteils, um die passenden Züge auszuwählen. Scaliger vermerkt deshalb eigens, Vergil verfüge über die seltene Fähigkeit, eine Sache durch Weglassen reicher zu machen35; eine Einschätzung, die übrigens später Wieland teilen wird 3 6 : »Homer ist ein ungemeiner Mahler, aber villeicht drückt er die Natur nur gar zu sehr aus. Ich finde in ihm nicht allemal diese Wahl des schönsten unter mehrern schönen, die ich im Virgil bewundere. Kurz jener ist erstaunenswürdiger, dieser schöner und reizzender.« Ein besonders wichtiges Mittel der poetischen Inventio ist die Wahl des richtigen Bildes. Im vierten Buch der Aeneis gebraucht Vergil folgendes Gleichnis, um Fama zu charakterisieren, das Gerücht über die Liebe der Dido, die sich nicht mehr um das Gerede der Leute kümmert (vv. 176-7): Parva metu primo, mox sese attollit in auras ingrediturque solo et caput inter nubila condit. Klein zunächst vor Furcht, erhebt sie sich bald in die Lüfte, schreitet am Boden dahin und birgt das Haupt in den Wolken.
Die Vorlage für dieses Bild ist eine Stelle der Ilias, in der es jedoch für Eris, die Streitgöttin, gebraucht ist {IL 4,442-3): ή τ' όλίγη μέν πρώτα κορύσσεται, αύτάρ έπειτα ούρανώι έστήριξε κάρη Kai έπί χθονί βαίνει. Die gering zuerst sich waffnet, dann aber ihr Haupt an den Himmel lehnt und auf der Erde einherschreitet.
Macrobius wirft Vergil vor, er habe das homerische Bild unpassend von Eris auf Fama übertragen, incongrue 37. Denn Streit bleibe, möge er auch noch so sehr wachsen, immer noch Streit; wenn ein Gerücht hingegen sich ins Unermeßliche vergrößere, höre es irgendwann einmal auf, Gerücht zu sein, und schlage um in Wissen einer bekannten Tatsache. Solche zunächst einleuchtend erscheinende Kritik wird von Scaliger als lächerliches Gefasel zurückgeOd. 5, 270-4; Aen. 3, 513-7; Macr. 5,11, 10-3, Zitat § 11. 35
214b B: jQuodque perpaucis datum est y multa detrahendo fecit auctiorem [sc. arte m].
36
I n einem Brief an Bodmer vom 29.10. 1751, in: Wielands Briefwechsel, v. H . W . Seiffert (Berlin, 1963), S.24. 37 5,13,31-2.
Bd. 1.1, hrsg.
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wiesen, wobei nicht zu Unrecht auf die Ratio der Verglichen Entscheidung und die Feinheit der Variation in der Imitatio aufmerksam gemacht ist 38 : Der römische Dichter nämlich verberge das Haupt der Fama deshalb in den Wolken, weil dieses, d. h. der Urheber von Gerüchten, gemeinhin ungewiß sei. Und er sage >WolkenHimmeledlen Einfalt und stillen Größeölf Bänden, hrsg. v. W . Barner u.a., Bd. 5.1 (Frankfurt a . M . , 1990), S. 163. Herders etwas verkürztes Zitat in: J. G . Herder, Werke in Zehn Bänden, hrsg. v. M . Bollacher u.a., Bd.7 (Frankfurt a . M . , 1991), S.195. Z u Diderots Homerbild Finsler, Homer in der Neuheit (o. Anm. 10), S. 24 V 5. Aufschlußreich ist auch die Fortsetzung der Stelle, die bereits auf die mit der Verabschiedung der Imitatio im 19. Jahrhundert einhergehende Schreibkrise vorausweist (ebd. 226, nachdem am Modell des Priamos vorgeführt worden ist, wie die wahrhafte Klage eines Vaters um den Verlust seines Sohnes auszusehen habe): »Pour nous, qui connaissons un peu la difficulté et le mérite d'être simple, lisons ces morceaux; lisons-les bien; et puis prenons tous nos papiers et les jetons au feu. Le génie se sent; mais il ne s'imite point.«
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Komplementär sei noch eine Äußerung Lessings danebengestellt, um die bei Macrobius implizit formulierte Antithese zu illustrieren, diesmal nicht die simplicitas, sondern die Ars in der Nuance von Künstelei betreffend; es handelt sich um die Diskreditierung von Vergils Schildbeschreibung im 18. Stück des Laokoon S2>\ »[...] der witzige Hofmann leuchtet überall durch, der mit allerlei schmeichelhaften Anspielungen seine Materie aufstutzet, aber nicht das große Genie, das sich auf die eigene innere Stärke seines Werks verläßt, und alle äußere Mittel, interessant zu werden, verachtet.« Es geht hier nur darum zu zeigen, wie alte Begriffspaare aufgenommen und unter gewissen Verschiebungen zu Antithesen umgedeutet werden. Diderots Schrift richtet sich gegen den >goût classiqueQuerelle des Anciens et des ModernesNaturtalent< wie andererseits Homer als Inbegriff aller rednerischen virtus über >KunstverstandNatur Homer - Vergib, zu der sich die Herder'sehe Position nachgerade als Antithese ausnimmt61 : Homers Begabung ist sehr groß; seine Kunst ist von der Art, daß er sie eher erfunden als sorgfältig ausgearbeitet zu haben scheint. Deshalb ist es nicht'verwunderlich, wenn es heißt, bei ihm finde sich eine Art Urbild der Natur, jedoch keine künstlerische Formung [ . . . ] . Vergil aber führte die Kunst, die von jenem in rohem Zustand auf ihn kam, durch sein Streben nach stärker ausgewählter Natur und durch sein künstlerisches Urteil auf den höchsten Gipfel der Vollendung.
Und verknappt, in gewollter Paradoxie, wobei nicht von ungefähr Schulmetaphorik hineinfließt 62: »Die Homer von der Natur vorgetragenen, gleichsam dem Schüler diktierten Stoffe verbessert Vergil so wie ein Lehrer.« Homer als
59 Fragmente über die Bildung einer Sprache, zit. nach: J. G. Herder, Werke, hrsg. v. W . Pross, Bd. 1 (München-Wien, 1984), S. 165. Z u Herder als »erste[m] Zweifler im Reich der deutschen Homerbegeisterung« Wohlleben, Die Sonne Homers (o. Anm. 44), S. 15-26. 60
Vgl. Fuhrmann, Dichtungstheorie der Antike (o. Anm. 13), S. 30ff.; 82ff.
61
214b B: Homert ingenium maximum, ars etusmodi, ut earn potius invenisse quam exeoluisse videatur. quare neque mirandum est, si in eo naturae idea quaedam, non ars exstare dicatur. [...]. Vergilius vero artem ab eo rudern aeeeptam lectioris naturae studiis atque iudicio ad summum extulit fasttgium perfectionis. Vgl. auch o. Anm. 46. 62 237 a B: [ . . . ] a natura proposito Virgilius tamquam magister.
Homero argumenta
quasi dictata
diseipulo
emendai
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dem ersten Dichter bleibt nichts anderes als Natura nachzuahmen; der Spätere ist in der glücklichen Lage, daß er bereits auf Muster aufbauen kann und sie wie Rohentwürfe nur weiter zu überarbeiten und auszufeilen braucht 63. Man erkennt die strukturelle Identität mit Herders Modell. Daß dieser Prozeß der Ausarbeitung wiederum keinen Verlust von Ursprünglichkeit bedeutet, sondern im Gegenteil auf Natura hinzielt, zeigt die literarästhetische Wertung im einzelnen. Scaliger hebt als eine besondere Qualität der Vergil'schen Darstellungsweise hervor, daß es dem römischen Dichter gelinge, die Sache selbst mit Worten zu bilden und nicht so sehr die Worte aus den Dingen als die Dinge aus den Worten entspringen zu lassen, wohingegen Homer genug daran habe, einfach zu erzählen 64. Ein Beispiel: Im vierten Buch der Iltas wird der Augenblick geschildert, als sich Pandaros zu seinem verhängnisvollen Pfeilschuß auf Menelaos anschickt (v. 123): νευρήν μέν μαζώι πέλασεν, τόξωι δέ σίδηρον. Die Sehne näherte er der Brust, das Eisen aber dem Bogen.
Diese Stelle ahmt Vergil im elften Buch nach, als die Nymphe Opis den Tod Camillas rächt (vv. 860-2): duxit longe, donee curvata coirent inter se capita et manibus iam tangeret aequis, laeva aciem ferri, dextra nervoque papillam. Sie zog die Sehne zurück, lange, bis die Bügelenden aneinanderstießen und sie mit beiden Händen in gleicher Anspannung, mit der linken die Eisenspitze, rechts mit der Sehne die Brust berührte.
Die Vergil'sche Darstellung ist mimetisch: Man spürt förmlich die Länge des Ziehens65. Scaliger spricht an anderer Stelle davon, Vergil sei von so mächtig drängender Bewegung, daß er sich vorkomme, als sei er mitten in den
63 I n aller Deutlichkeit findet sich dieses Stufenverhältnis nochmals im Anschluß an die eben zitierte Stelle expliziert (237 a B): Falluntur enim Graeci, si alio animo putent nos ab Ulis aeeepisse sua, quam ut meliora faceremus. nam quae tili a natura quae ante ipsos erat mutuati sunt, ab ipsis nos eadem de causa mutuatos esse par est. quippe si tili non dixissent, ea nos dicturo fuisse, nunc cum dixerint, nos quoque dicendt rationem iniisse. 64 222 b C: Illum [sc. Horn.] satis habere si narret, hunc [sc. Verg.] rem ipsam formare verbis neque tarn verba ex rebus quam res ipsas excutere e verbis. 65 Seal. 225 b B: Divinus vero vir totum arcus tr actum, curvationem, coniunctionem extremorum. ad haec manuum aequale officium simul et diversum, simul cum laeva ferrum solum, cum dextra et nervo papillam . Das ist zugleich eine Zurückweisung des Macrobius, der beim Vergleich derselben Stellen Vergil Weitläufigkeit vorwirft (5,3,2, nach Zitat der Homerstelle; Sprecher ist der Grieche Eusthatius): Tot am rem quanto compendio lingua ditior explicavtt? vester licet periodo usus idem tarnen dixit?
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dargestellten Vorgang hineinversetzt 66; oder auch: man sehe den Gegenstand selbst, sozusagen voller lebhafter Bewegung und sogar lebendig67. Neben die Hochschätzung solcher Intensität der Vergegenwärtigung tritt jedoch, als Kehrseite jenes Mimesis-Konzepts, eine Realismus-Forderung, die namentlich von Scaliger überaus rigide gehandhabt wird. Er wird nicht müde, Homer des Verstoßes gegen die Naturordnung zu zeihen: So habe er im Gegensatz zu Vergil das natürliche Freßverhalten von Schlangen nicht richtig beobachtet68. Oder ein Gleichnis, in dem ein Adler auf einen Hasen hinabstößt, der unter einen dichtbelaubten Busch geduckt liegt, provoziert ihn zu folgender Zurechtweisung 69: »Jeder, der nur ein wenig besser in der Natur geschult ist, weiß, daß ein Adler, der einen Hasen im Gebüsch erblickt hat, niemals auf ihn herabstürzen wird, und daß ein Hase, der in einem Gebüsch sitzt, niemals durch einen Adler, der ihn bedroht, zugrunde gehen wird.« Das strenge Beharren auf der Wahrscheinlichkeit des Erzählten reicht bis an die Grenze des Grotesken. Wenn im 14. Buch der Ilias Hera dem Hypnos, dem Gott des Schlafs, für die Erfüllung einer Bitte einen Sessel verspricht, auf dem er beim Mahle ruhen könne, so wird dazu bemerkt 70 : »Der arme Schlaf, der bis dahin seine Mahlzeit stehend wie die Soldaten einnehmen mußte.« Es versteht sich von selbst, daß die Forderung der Naturtreue in einem Epos mit Götterapparat an ihre Grenzen stößt, die sich Scaliger freilich bei Vergil auszuloten hütet. Entscheidend ist aber, daß sich hier - und darin kann seine Auffassung als repräsentativ für die frühere Ästhetik gelten - Natura und Ars nicht wechselseitig ausschließen oder in Gegensatz zueinander treten. Wenigstens gilt das für die Theorie; daß in der Praxis Ars sehr wohl zu einem >reinen Aufputzhäufig frostig, kindisch, deplaziert< zu bezeichnen, während Vergils Beiwörter sehr viel mehr zur Sache täten76, erscheint der Eigentümlichkeit der Werke gegenüber völlig unangemessen. Indes, der Preis der historischen Betrachtungsweise ist nicht gering: Wenn Homer und Vergil nicht mehr untereinander vergleichbar sind, so sind sie dies auch nicht mehr mit der jeweils eigenen Gegenwart. Das Konzept der Imitatio bietet eine Umgangsweise mit vorangegangener Dichtung, die radikal auf den eigenen Nutzen orientiert ist, die sich herausnimmt, nur das zu sehen, was ihr brauchbar erscheint, und die die Eigengesetzlichkei73 P. Virgilius Maro varietate lectionis et perpetua adnotatione illustratus a Chr. G. Heyne, 6 Bde., 3. Auflage (Leipzig, 1797-1800); die Auseinandersetzung mit dem HomerVergil-Vergleich findet sich dort Bd. 2, S. X L I I , Anmerkung, um folgende Passage ergänzt: »Discrimen primarium statim ipsa temporum, quibus uterque vixit, et hominum, quibuscum vixerunt, et sermonis, quo usi sunt, diversitas inferre debuit.« Es folgt abschließend Heynes eigene Auffassung des Vergil im Spannungsfeld von Ars und Ingenium: »Virgilius arte et studio finxit ingenium, et ad sublimitatem ac dignitatem, ad elegantiae sensum aliquem in rebus et verbis, expolivit. Quam diversa in Homero fuerint omnia, hoc loco exponere nihil attinet.« 74
F. A. Wolf, Prolegomena ad Homerum (Halle, 1795), Kap. 12, S. X L I I I : »Nondum enim prorsus eiecta et explosa est eorum ratio, qui Homerum et Callimachum et Virgilium et Nonnum et Miltonum eodem animo legunt, nec, quid uniuscuiusque aetas ferat, expendere legendo et computare laborant.« Die Übersetzung nach: F. A. Wolfs Prolegomena Homer ins Deutsche übertr. v. H . Muchau (Leipzig, 1908), S. 95. 75 Vgl. auch J. Latacz, »Tradition und Neuerung in der Homerforschung. Zur Geschichte der Oral poetry-Theorie«, in: Ders. (Hrsg.), Homer: Tradition und Neuerung (Darmstadt, 1979), S.26-44, hier 29-31. 76 Seal. 216b C: Homert epitheta saepe frigida autpuerilia aut locis inepta. 243a A : Plus ad rem facit >antiquum< quam nigrum (mit Bezug auf Aen. 12, 897 und II. 21, 404). Macrobius* Versuch (5,13,16), Homer einmal als besser in den Beiwörtern zu erweisen, wird von Scaliger 238 b D - 2 3 9 a A energisch zurückgewiesen.
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ten eines Werks gering achtet, weil sie eines Werkbegriffs nicht bedarf. Mit der Historisierung hingegen wird jener Praxisbezug aufgehoben, und damit schwindet auch die Relevanz der Muster. Friedrich August Wolfs Prolegomena ad Homerum, in denen jener Grundsatz der historischen Betrachtungsweise durchgeführt wird, eröffnen die moderne Homerphilologie und bewirken zum Zeitpunkt ihres Erscheinens einen Aufruhr ohnegleichen. In Wahrheit eröffnen sie zugleich eine Phase der fortschreitenden Bedeutungsabnahme Homers 77. Mit der endgültigen Ablösung des rhetorisch-poetischen Systems verlieren die beiden Musterautoren ihren Stellenwert als Paradigmata und werden eine Sache für Spezialisten. Für die Übergangsperiode des 18. Jahrhunderts dagegen ist die herausragende Stellung Homers und Vergils noch durch das überkommene System der literarischen Imitatio vermittelt. Denn nur auf diesem Hintergrund ist zu verstehen, wenn ein Winckelmann beginnt, während der Sonntagspredigten in der Kirche im Homer zu lesen und »Gleichnisse aus dem Homerus« zu beten78.
77 Vgl. Latacz, »Tradition und Neuerung in der Homerforschung« (o. Anm. 75), S. 1. I n aller Schärfe hat das einmal A . Lesky formuliert: »Die Behandlung der homerischen Frage seit Fr. A. W o l f darf als das fragwürdigste Kapitel philologischer Forschung bezeichnet werden.« [»Mündlichkeit und Schriftlichkeit im homerischen Epos«, in: Ders., Gesammelte Schriften (Bern, 1966), S. 63-71; jetzt auch in: Latacz, Homer: Tradition und Neuerung (o. Anm. 75), S. 297-307; Zitat S.297]. 78 Das Zitat aus dem Brief an H . Füssli vom 22.9. 1764, in: Briefe (Berlin, 1956), Bd. 3, S. 55. Zur Homerlektüre als Predigtersatz C. Justi, Winckelmann und seine Zeitgenossen, 3 Bde. (Leipzig, 3 1923), B d . l , S.133f. Vgl. auch Wohlleben, Die Sonne Homers (o. Anm. 44), S. 13.
Oswald von Wolkenstein und Leonardo Giustiniani Zwei Zeitgenossen des frühen 15. Jahrhunderts Von Albrecht Classen
In zwei seiner Lieder hat der Südtiroler Sänger Oswald von Wolkenstein (1376/77-1445) einen merkwürdigen Begriff oder vielleicht auch Namen fallen gelassen, der bisher noch keine befriedigende bzw. ausreichende Erklärung gefunden hat. Zweimal bezieht sich Oswald auf »Jöstlins saitenspiel« (Kl 21, 42) bzw. auf den »jösstel« (Kl 70, 27)1. Ansonsten schweigt er sich vollkommen darüber aus und gibt uns somit keine Hinweise darauf, was unter dieser Bezeichnung gemeint sein könnte. Entweder handelte es sich um einen Ausdruck, der zu seiner Zeit in Tirol gemeinhin bekannt gewesen war und somit keinerlei zusätzlicher Anmerkungen bedurfte, um von seinem Publikum verstanden zu werden, oder um die Umschreibung einer Person oder Sache, mit der der Dichter so intim vertraut war, daß er den gleichen Bekanntheitsgrad unter seinen Zuhörern annehmen durfte. Die dritte Möglichkeit besteht darin, daß er hier wie so oft in seinem Oeuvre mit einem Wort spielte, das gerade durch seinen »exotischen« (?) Klang poetische Bedeutung besaß. Es überrascht daher kaum, daß in modernen Studien und Übersetzungen unreflektiert die Wortverbindung »Jöstlins saitenspil« direkt übernommen wird, ohne daß die Herkunft dieser Bezeichnung näher überprüft oder überhaupt hinterfragt würde. 2 Zwar ist »Jöstlin« im Oeuvre Oswalds als ein hapax legomenon anzusehen, doch könnte dieser Ausdruck, ganz naiv verstanden, sich schlicht auf einen lokalen, vielleicht bäuerlichen Namen beziehen. Dennoch verursacht diese 1
Zitiert nach: Die Lieder Oswalds von Wolkenstein f A T B 55. Unter Mitwirkung von Walter Weiß und Notburga W o l f hg. von Karl Kurt Klein. Musikanhang von Walter Salmen. 3., neubearbeitete und erw. Aufl. von Hans Moser, Norbert Richard W o l f und Notburga W o l f (Tübingen, 1987). 2 Siehe z.B. Eva und Hansjürgen Kiepe, Gedichte 1300-1500. Nach Handschriften und Frühdrucken in zeitlicher Folge hg. von E. und H . K . , Epochen der deutschen Lyrik 2 (München, 1972), S. 191; Oswald von Wolkenstein, Leib /und Lebenslieder. Aus dem Altdeutschen ausgewählt und übertragen von Hubert Witt, Sammlung Dieterich 397 (Leipzig, 1968), S.51.
3 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 35. Bd.
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Bezeichnung einiges Kopfzerbrechen und kann nicht ohne weiteres als spielerischer Hinweis auf einen heimischen Sänger abgetan werden. Betrachten wir uns zunächst den Inhalt beider Lieder, um erst dann auf die philologischen Erklärungsmöglichkeiten zu sprechen zu kommen. Wir müssen außerdem die Vorschläge erörtern, die zur Interpretation angeführt worden sind und deren Wahrscheinlichkeit erwägen. Das Ziel meiner Untersuchung besteht letztlich darin, dieses Lexem genauer zu bestimmen und daraufhin eine kulturgeschichtliche rezeptionsgeschichtliche These zu entwickeln, mit der die zukünftige Forschung in Bezug auf K l 21 und K l 70 auf solidere Grundlage gestellt werden kann. »Ir alten weib, nu freut eu mit den jungen!« (Kl 21) gehört zu denjenigen Liedern im Werk Oswalds, die er in seinen zwei Handschriften A und Β unverändert aufnehmen ließ und die auch von seiner Familie nach seinem Tod als wichtig genug angesehen wurden, um einen Platz in der Papierhandschrift c zu finden. Späteren Druckern war wohl auch K l 21 bekannt, denn es wurde verschiedenemal in Frühdrucken integriert und später im 16. Jahrhundert sogar von Johann Fischart 1575 in seiner Geschicbtsklitterung zitiert 3. Offensichtlich sah man gemeinhin dieses Lied als eines der beliebteren Stücke Oswalds an, womit es die ansonsten weitgehend für sein gesamtes Werk bedauerlicherweise vorhandene Schallmauer zur breiteren Rezeption im deutschprachigen Raum durchbrach 4. »Ir alten weib« reiht sich in die Tradition der Frühlingslieder ein, doch ist damit noch keineswegs automatisch die Gattungszugehörigkeit festgelegt. In der ersten Strophe appelliert Oswald sowohl an die Menschen als auch an alle Lebewesen in der Natur, sich nach dem langen kalten Winter am Aufbruch des Frühlings zu erfreuen. Die Anrede an die alten Frauen enthüllt von vornherein die dem Lied zugrundeliegende Hoffnung, daß mit der neuen Jahreszeit auch neue Fruchtbarkeit eintreffen werde, so daß Sexualität zu neuem Leben gelange - und dies selbst bei schon bei jenseits der Gebärfahigkeit stehenden Frauen:
3 Hans-Dieter Mück, Untersuchungen zur Überlieferung und Rezeption spätmittelalterlicher Lieder und Spruchgedichte im 15. und 16. fahrhundert. Die >Streuüberlieferung< von Liedern und Reimpaarreden Oswalds von Wolkenstein, G A G 263, 2 Bde. (Göppingen 1980); ibid., Oswald von Wolkenstein. Streuüberlieferung, Litterae 36. I n Abbildung hg. von H . - D . Mück (Göppingen, 1985), S. 17 ff. 4 Hans Moser, »Wie sorgt ein spätmittelalterlicher Dichter für die Erhaltung seines Werkes? Nachlese zur Oswald-Überlieferung«, in: Oswald von Wolkenstein. Beiträge der philologisch-musikwissenschaftlichen Tagung in Neustift bei Brixen 1973, Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft 1, hg. von Egon Kühebacher (Innsbruck, 1974), S. 85-120, hier 111; Günther Schweikle, »Zur literarturhistorischen Stellung Oswalds von Wolkenstein«, fahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 2 (1982/83), S. 193-217.
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was uns der kalte winter hat betwungen, das wil der meie mit geschraie düngen mit süsser krafft, den wurzlin geben safft.
( K l 21, 2 - 4 )
Anstatt aber sich direkt auf die menschliche Gesellschaft zu beziehen, d. h. den Menschen in der Natur vorzustellen, wie wir es von der literarischen Tradition der Frühlingspreislieder erwarten würden 5, bietet Oswald zunächst einen mikroskopischen Eindruck von dem, was sich in Wald und Feld ereignet. Tiere, Vögel, Würmer, ja alle Kreaturen kommen aus ihrem Winterschlaf heraus und ergeben sich erneut den Freuden des Lebens: »All creatuer, zam und wild,/nach junger frucht senlichen quillt« (18f.). Daß auch der Bauer in dieser Liste von Lebewesen auftaucht, überrascht uns jetzt nicht mehr, wissen wir ja mittlerweile, daß der Dichter, selbst wenn er durchaus zeittypisch verächtlich von dieser Klasse dachte, sie trotzdem im Unterbewußtsein beneidete und ihren reichen Vertretern in den Tiroler Alpen nachzustreben bemüht war 6 : »gepawer, reut ain ander mei,« (14). Recht unerwartet gestaltet sich jedoch der Übergang zum Themenbereich der menschlichen Vergnügungen: Raien, springen, louffen, ringen, geigen, singen, lat her bringen, klumpern, klingen
(23-27),
denn nun enthüllt sich auf einmal das eigentliche Thema: die Liebe zwischen Mann und Frau, bei der nun allerdings, deutlich im Gegensatz zur mittelalterlichen Fernliebe des hohen Minnesangs 7 keinerlei Schranken akzeptiert werden und der Dichter die erotische Erfüllung als normal und wünschenswert
5 Wilhelm Ganzenmüller, Das Naturgefühl im Mittelalter, Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance 18 (Leipzig-Berlin, 1914, N D Hildesheim, 1974), S. 244f., weist darauf hin, daß es sich dabei um einen Topos schon aus der Antike handelt. Daß es gerade in der mhd. Dichtung zu Variationen und kreativen Verarbeitungen von empirischen Eindrücken kam, hat zuletzt Wolfgang Adam, »Die >wandelungepartes rustikales< in der Kunst einschließlich der Darbietun8 Jutta Goheen, »Naturbild und >locus amoenus< im Liede Oswalds von Wolkenstein«, in: Akten des V. Internationalen Germanisten-Kongresses Cambridge 1975. Heft 2. Hg. von L. Forster und H . - G . Roloff, Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A , Kongreßberichte 2 (Bern-Frankfurt a . M . , 1976), S. 376-382, hier S. 377. 9 A. Classen, Zur Rezeption norditalieniscber Kultur des Trecento Wolkenstein (1376j 77-1445), G A G 471 (Göppingen, 1987), S. 241 ff.
im Werk Oswalds von
10 Conrad H . Lester, Zur literarischen Bedeutung Oswalds von Wolkenstein (Wien, 1949), Norbert Richard Wolf, Rezension von Erika Timm, Die Überlieferung der Lieder Oswalds von Wolkenstein, Germanische Studien 242 (Lübeck-Hamburg, 1972), in: Archiv für das deutsche Altertum 85 (1974), S. 99-104, hier 101 ff. 11 12
Dieter Kühn, Ich Wolkenstein.
Eine Biographie (Frankfurt a . M . , 1977), S. 186.
George Fenwick Jones, Oswald von Wolkenstein, S. 42; G. Schweikle [Anm. 4, 1982/83], S.200.
T W A S 236 (New York, 1973),
13 W . T . H . Jackson, »Alliteration and Sound Repetition in the Lyrics of Oswald von Wolkenstein«, in: Formal Aspects of Medieval German Poetry. A Symposium. Ed. with an Introduction by Stanley N . Werbow (Austin-London, 1969), S. 50.
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gen der >kunstelosen< Spielleute höhnisch verachteten, im Gegenteil, er partizipierte an deren Daseinsweise und Wirken« 14 . Werfen wir nun einen sorgfaltigen Blick auf die Kontextverse von »Jöstlin«, um die Bedeutung dieses Wortes näher einzugrenzen. Oswald thematisiert die Freizeitbeschäftigung eines freiständischen Landadligen, der sich ausdrücklich nicht mit der Hofkultur und dem Hof Friedrichs IV. u. a. identifizierte, ja die Höflinge generell ablehnte (siehe etwa Lied K l 25). Er illustriert vielmehr, welche Unterhaltungsformen in adligen Kreisen in Tirol gepflegt werden und kontrastiert dabei den Ruf des Kuckucks, der ganz zu Unrecht wenig Zustimmung fände: »Wie wohl der gauch von hals nit schon quientieret« (39), mit dem Gesang einer Person, die sich in der französischen Melodie gut auskenne: »und der franzoisch hoflich discantieret« (40). Er lehnt sich ganz folgerecht gegen »Jöstlins saitenspil« auf, so als ob ihm dies ein unangebrachter Tonfall zu sein scheint, lebensfremd, unnatürlich und zu abstrakt. In der neuen Übersetzung von Wernfried Hofmeister lautet dieser Vers so: »und ergötzt mich weit mehr als Jöstleins Saitenklang«15, doch vermag auch er nicht mehr als Vermutungen darüber zu äußern, was mit »Jöstlein« gemeint sein könnte. Bedenken wir die Aussage der vorhergehenden Strophe und vergleichen wir sie mit der zweiten. Oswald verherrlicht zunächst den Frühlingsanbruch, den Beginn des Lebens nach dem langen kalten Winter; dabei stimmt er eine Art von Pastorale an, obwohl er es offensichtlich bewußt vermieden hat, sich hier der Gattung der Pastourelle zu bedienen16, selbst wenn er mit ihr durchaus vertraut gewesen ist, wie wir es anhand mehrerer seiner besten Lieder erkennen können (cf. K l 76 und K l 83). Dieser poetische Naturpreis impliziert eigenartigerweise eine Kritik am Hofleben und die Verherrlichung des Ruralen. Der Kuckuck vermag kaum im Wettstreit mit den anderen gefiederten Sängern den Preis davonzutragen, wie Oswald selbst an anderer Stelle bestätigt 17 . Dennoch fühlt sich der Dichter hier bemüßigt, den Gesang des ländlichen und wenig geachteten Vogel neu aufzuwerten, denn ausschlaggebend ist nicht so sehr die damit möglicherweise angedeutete Selbstverherrlichung des 14 Walter Salmen, »Die Musik im Weltbild Oswalds von Wolkenstein«, in: Oswald von Wolkenstein [Anm. 4, 1974], S. 242. 15 Wernfried Hofmeister, Oswald von Wolkenstein. Sämtliche Neuhochdeutsche übersetzt, G A G 511 (Göppingen, 1989), S.76.
Lieder und Gedichte
16
ins
Sabine Christiane Brinkmann, Die deutschsprachige Pastourelle. 13. bis 16. Jahrhundert, G A G 307 (Göppingen, 1985); cf. The Medieval Pastourelle, Garland Library of Medieval Literature 3 4 Β / 3 5 Β , 2 vols. Selected, transi, and in part ed. by William D . Paden (New York, 1988). 17 K1 42, 77; K1 50, 7, 42; K1 112, 286; cf. A. Classen, »Onomatopoesie in der Lyrik von Jehan Vaillant, Oswald von Wolkenstein und Niccolò Soldanieri«, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 108 (1989), 3, S. 357-377, hier 366-369.
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Sängers, sondern die manifeste Opposition zwischen Landadel und Höfling, zwischen »Fürstenknechten« und freien Adligen, was sich in K l 25 sogar zu einer Satire auf den Adel schlechthin steigert. Oswald befindet sich hier durchaus in der Tradition der literarischen Hofkritik 18 , sei es nun derjenigen der lateinischen Dichtung des 12. und 13. Jahrhunderts 19, oder sei es derjenigen, die in den deutschen Texten eines Walthers von der Vogelweide, Wernhers des Gartenaere oder Neidharts zum Ausdruck gelangte: »den lust ich breis für alle hofeweis« (46). Die Opposition gegen das Hofleben war sogar ein beliebtes Thema unter Oswalds Zeitgenossen im italienischen Sprachraum und wurde insbesondere von den Humanisten begierig aufgegriffen. 20 Selbst Beschreibungen des Dichters von seinen Erfahrungen im Hofdienst unter König Sigismund erweisen sich bei näherer Betrachtung als doppeldeutig und weitgehend negativ, entsprechen dann aber wieder einem altbekannten Toposkatalog21. Seine Barthaare seien über die Liebe zu den Frauen im Ausland grau (55 f.) und er über seine Bewerbungen um sie krank geworden (85). Dennoch endet das Lied damit, daß unbeschränkte Lustbefriedigung und sinnliche Freude als ein Ideal im Leben postuliert werden: »trutza trätzli,/der uns freud vergan« (113 f.), der Schmerz und die Frustration über negative Erlebnisse also bewußt verdrängt werden angesichts des anbrechenden Frühlings. Entgegen Gerhard Wolfs Behauptung beweist dieser poetische Text, daß auch die »Minnelyrik« - wenn man allerdings Oswalds Lied überhaupt noch dieser zurechnen kann - im 15. Jahrhundert endlich ganz offen Sexualität thematisieren konnte, ohne daß der Dichter sich auf das Genre des Tageliedes beschränken mußte. 22
18
Cf. Claus Uhlig, Hofkritik im England des Mittelalters und der Renaissance. Studien einem Gemeinplatz der europäischen Moralistik, Quellen und Forschungen zu Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker 56 (Berlin-New York, 1973); Helmut Kiesel, >Bei Hof, bei Holl·. Untersuchungen literarischen Hofkritik von Sebastian Brant bis Friedrich Schiller, Studien zur deutschen Literatur 60 (Tübingen, 1979); C. Stephen Jaeger, The Origins of Courtliness — Civilizing Trends and the Formation of Courtly Ideals 939-1210 (The Middle Ages) (Philadelphia, 1985). 19 Ronald Pepin, Literature of Satire in the Twelfth Century. A Neglected Mediaeval Genre, Studies in Mediaeval Literature 2 (Lewiston-Queenston-Lampeter, 1988). 20
A. Classen, »Oswald von Wolkenstein: A Fifteenth-Century Reader of Medieval Courtly Criticism«, Mediaevistik 3 (1990), S. 27-53, hier 41 -46. 21 Dazu Sieglinde Hartmann, Altersdichtung und SelbstdarStellung bei Oswald von Wolkenstein. Die Lieder Kl 1 bis 7 im spätmittelalterlichen Kontext, G A G 288 (Göppingen, 1980). 22 G. Wolf, »Zur Thematisierung der Sexualität in Liebeslyrik und Ehelehre des späten Mittelalters«, in: Hans-Jürgen Bachorski, Hg., Ordnung und Lust. Bilder von Liebe, Ehe und Sexualität in Spätmittelalter und Früher Neuheit, Literatur - Imagination Realität 1 (Trier, 1991), S. 477-509, hier 482f.
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Wie paßt also »Jöstlins saitenspil« in diesen Kontext hinein? Offensichtlich bedient sich Oswald bei dieser Anspielung auf einen uns bisher unbekannten sehen wir von verschiedentlich geäußerten Vermutungen ab, die wir erst nachfolgend überprüfen können - Sänger bzw. Musikanten, um sich gegen eine bestimmte Kulturform aufzulehnen. Es wäre allerdings völlig unzutreffend, hierin eine Kritik am Adel an sich zu erblicken, denn Oswald betont weiterhin, daß er sich begeistert der Jagd hingebe, einem traditionell aristokratischen Privileg vor allem seit dem Spätmittelalter 23. Zielrichtung seines Spottes ist vielmehr die »unnatürliche« Abwendung von der Natur, wo immerhin noch schrankenlos erotische Liebesbeziehungen entwickelt werden können 24 : vor grünem wald nach pfifferlingen klauben mit ainer mait, beklait von ainer Stauden, den lust ich breis für alle hofeweis.
(44-46).
Derjenige aber, der sich des Saitenspiels bediene, d. h. der also die Geige oder Fiedel einsetze, pflege eine andere Kunstform, die wir jetzt wohl ex negativo im Sinne Oswalds als abstrakt, theoretisch, lebensabgewandt und realitätsfern charakterisieren könnten. Der Vers »franzoisch höflich discantieret« steht zusammen mit der Aussage »Jöstlins saitenspil« in Opposition zu »>gug gugk, lieb ruckGiustiniana< bekannt waren 5 1 .
Soweit ich es übersehen kann, ist man bis heute dieser interessanten rezeptionsgeschichtlichen Spur noch nicht nachgegangen, obwohl sich gerade in den letzten Jahren die Stimmen gemehrt haben, die für eine engere intellektuelle Beziehung Oswalds und der süddeutschen Dichter überhaupt zum norditalienischen Raum votierten 52 . Wer aber war dieser Giustiniani? Was für ein poetisches Werk hat er hinterlassen? Welcher Gestalt waren seine möglichen Beziehungen zu Oswald und auf welchen Wegen mag unser Dichter mit den Liedern seines venezianischen Zeitgenossen vertraut geworden sein? Leonardo Giustiniani wurde 1387 oder 1388, möglicherweise aber schon 1383 als Sohn vermögender Eltern der Senatorenklasse in Venedig geboren und empfing auch dort seine erste Ausbildung. Später studierte er in Padua, heiratete 1405 Lucrezia di Bernardino da Mula und wurde 1407 Mitglied des Maggior Consiglio. 1414 begab er sich für mehrere Jahre in den Unterricht des Humanisten Guarino da Verona (1374-1460), berühmt für seine Griechischkenntnisse, und beschäftigte sich intensiv unter dessen Leitung mit dem Studium der antiken Wissenschaften. Zu dem engen Zirkel von Tutor und Schüler gehörte auch der später berühmt gewordene Leonardo Francesco Barbaro (ca. 1395-1454), aus dessen Feder die hochangesehene Schrift De re uxoria kommen sollte. Giustiniani konnte sich in dieser Atmosphäre von humanistisch geprägten Personen rasch heranbilden und begann selbst mit einer Büchersammlung und mit dem Kopieren von wichtigen Handschriften des klassischen Altertums 53 . Bedeutsam ist in unserem Zusammenhang dieser 51 Werner Marold, Rezension von H . Löwenstein Wort deutsche Altertum 52 (1933), S. 52.
und Ton, in: Archiv für das
52
A. Classen [Anm. 9, 1987]; die Kritik hat sich allerdings bisher heftig, fast ideologisch aufgeheizt gegen meine Überlegungen gewehrt, siehe als Beispiel die geradezu ängstlich um Abgrenzung gegen Italien besorgte Besprechung von M . Silier in ZfdtPh 111 (1992), 1, S. 134-139, wo bezeichnenderweise die entscheidenden Kapitel zur Rezeptionsthese mit keinem Wort Erwähnung finden. Positiv zur italienischen Rezeptionsthese äußern sich jetzt Michael Dallapiazza, Die Boccaccio-Handschriften in den deutschsprachigen Ländern. Eine Bibliographie, Gratia 17 (Bamberg, 1988); C. D . M . Cossar, The German Translation of Niccolò da Poggibonsi's Libro d'oltramare, G A G 452 (Göppingen, 1985); Walther Ludwig, Römische Historie im deutschen Humanismus. Über einen verkannten Mainzer Druck von 1505 und den angeblich ersten deutschen Geschichtsprofessor, Berichte aus den Sitzungen der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften e.V., Hamburg, 5 / 1 (Hamburg, 1987), S.36; Trude Webhofer, »Meister Johannes von Bruneck«, in: Veröffentlichungen des Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum 62 (1982), S. 141-226. 53
Manlio Dazzi, Leonardo Giustinian, poeta populäre d'amore, con una scelta di sue poesie (Bari, 1934), S. 31 ff.; Remigio Sabbadini, Le scoperte dei codici latini a greci ne' secoli XIV e XV. Vol. 1 (Firenze, 1905), ( N D hg. von E. Garin, Firenze 1967), S. 64. Z u Guarino da
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Venetianer nun deswegen, weil er etwa seit dem zweiten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts zusätzlich eine Fülle von Liebesliedern dichtete, sogenannte strambotti und canzonette, die ein eigentümliches Licht auf den Sohn einer altadligen Familie, den Politiker und Humanisten werfen, da er offensichtlich einerseits passioniert seine humanistischen Studien weitertrieb und dafür hochgepriesen wurde, andererseits Interesse am volgare als Ausdrucksmittel für Liebeslieder entwickelte. In der modernen Forschung sind diese dennoch bisher kaum beachtet worden, 54 obwohl sich seine Gedichte, zu denen er selbst Melodien für Laute, Lira di braccio und der Viola, und natürlich auch für Gesang komponierte, zu seiner Lebenszeit schon rasch zu Beginn des 15. Jahrhunderts eine breite Beliebtheit erwarben und durch die gesamte Lombardei getragen wurden, wovon heute noch eine große Zahl von Manuskripten des frühen 15. bis späten 16. Jahrhunderts Zeugnis ablegen55. In gewisser Weise wurden diese giustiniani alsbald zersungen und in vielerlei Form rezipiert. Sowohl vom Thema als auch von den darin ausgedrückten Idealen her handelt es sich zwar ohne jeglichen Zweifel um adlige Dichtung, wie sie noch von Francesco Petrarca, Giovanni Quirini, Matteo Frescobaldi, Matteo Correggiaio u. a. gepflegt worden war, 56 doch errang sie auf Grund ihrer hohen Musikalität und der darin zum Ausdruck gebrachten traditionellen Werte große Beliebtheit in der allgemeinen Öffentlichkeit. Dazu und zur Thematik der Lieder Giustinianis aber weiter unten. Betrachten wir uns zunächst seine Karriere und Biographie genauer. 1418 ernannte ihn die Stadtregierung zum offiziellen Leichenredner (siehe z. B. seine F mehr is oratio pro Carolo Zenio) y 1420 zum Notaren der Stadt. 1423 weilte er Verona siehe Remigio Sabbadini, La scuola e gli studi dt Guarino Guarini Veronese (Catania, 1896); Renate Schweyen, Guarino Veronese. Philosophie und humanistische Pädagogik, Humanistische Bibliothek. Reihe 3, Skripten 3 (München, 1973). 54 Lucie Brind' Amour, »La tradition de l'amour courtois«, in: L'Epoque de la Renaissance 1400-1600. Premier volume: L'avènement de l'esprit nouveau (1400-1480), Historie comparée des littératures de langues européennes V I I , 1. Publié sous la direction de Tibor Klaniczay, Eva Kushner, André Stegmann (Budapest, 1988), S. 446459, hier 456. 55 W . Thomas Marrocco, »Giustiniani, Leonardo«, in: The New Grove. Dictionary of Music and Musicians. Ed. by Stanley Sadie. V o l . 7 (London-Washington D . C . - H o n g Kong, 1980), S. 418f.; Dennis Arnold, »Giustiniani«, in: ibid., S.418; A. E. Quaglio, »Leonardo Giustinian in una silloge ferrarese di rime quattrocentische«, in: Rivista di letteratura italiana 1 (1983), S. 311 -76; W . Rubsamen, »The Justiniane or Viniziane of the 15th Century«, in: Acta musicologica 29 (1957), S. 172-184; zur Verbreitung seiner Lieder und der formalen Seite dieser Texte cf. Berthold Fenigstein, Leonardo Giustiniani ( 1383?1446). Diss. Zürich. Halle 1909, S. 73ff. und 89ff. 56
Eine Auswahlausgabe findet sich in Poesia italiana del Trecento , a cura di Piero Cudini, I Garzanti. I Grandi Libri (Milano, 1978). Siehe auch Giuseppe Corsi, ed., Rimatori del Trecento (Torino, 1980) (1. Ausg. 1969).
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bereits als Botschafter am byzantischen Hof unter Kaiser Paleologo (zusammen mit seinem Freund Barbaro), wozu ihn insbesondere seine mittlerweile ausgezeichneten Griechischkenntnisse prädestiniert hatten. 1428 stieg er auf zum Rat der Zehn ( Consiglio dei Dieci), 1429 übernahm er das Amt des Inquisitors innerhalb der Kirchenhierarchie (unklar, um welchen Aufgabenbereich es sich dabei wirklich handelte), und 1432 ernannte man ihn schließlich zum Statthalter Venedigs in Friaul. Während dieser Zeit setzte er ständig seine Studien und Schreibarbeiten fort, die dann allerdings meistens ernste, wissenschaftliche Themen umschlossen (z.B. die Übersetzung des Lebens von Cato aus dem Griechischen ins Lateinische57 und einen Traktat für seinen Sohn über die Regulae artificialis memoriae). 58 Giustinianis Gedichte in der Volkssprache nahmen schon bald nach seinem Eintritt in die Politik einen gewichtigen Tonfall an und besaßen etwa ab 1428 oft einen religiösen Gehalt (laudae). Offensichtlich trugen ihm die Liebeslieder nicht die gewünschte Respektabilität ein und mußten daher der würdigeren Thematik der Marien Verehrung u.a. weichen.59 1438 übertrug man ihm die Position eines >Weisem (>SavioPiacenza-LiedWein, Weib und Gesang< erklären würde 95 . Mit der dementsprechenden Datierung von ca. 1417-1428 wären wir jedoch mit anderen Schwierigkeiten konfrontiert, wollten wir weiterhin unsere These aufrecht halten, daß hier die Hochzeitsfeier von Oswald und Margareta von Schwangau vorgestellt worden bzw. angedeutet worden sei. Norbert Mayr meinte jedoch, K l 70 sei in die Zeit von 1414 bis 1418 zu verlegen 96, womit man auch die festliche Stimmung erklären könne, die nicht von einer vermeintlichen Bauernsatire herrühre, sondern vielmehr schlechthin ein großes Gelage mit Tanzveranstaltung reflektiere. Berücksichtigen wir freilich die zwei zentralen Aspekte in diesem Lied, die uns hier beschäftigt haben, gelangen wir vielleicht zu einer anderen Datierungsmöglichkeit. Zum einen wäre der Hinweis auf »Gretel« als ein solcher auf Margarete von Schwangau zu verstehen, zum anderen müßte die Anspielung auf den »jösstel« als ein >giustiniani< 93 Walter Röll, »Oswald von Wolkenstein: Du armer mensch. Interpretation«, in: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 2 (1982/83), S. 219-241 hier 232 ff. 94 Klaus Schönmetzier, Oswald von Wolkenstein. Die Lieder mittelhochdeutsch-deutsch. In Text und Melodien neu übertragen und kommentiert von Klaus f. Schönmet^ler (München, 1979), S. 421. 95 96
Erika T i m m [Anm. 10, 1972], S. 2.
Norbert Mayr, »Oswald von Wolkenstein Liederhandschrift A in neuer Sicht«, in: Hans-Dieter Mück, Ulrich Müller, Hgg.: Gesammelte Vorträge der 600-fahrfeier Oswalds von Wolkenstein Seis am Schiern 1977. Dem Edeln unserm sunderlieben getrewn Hern Oswaltten von W olkchenstain y G A G 206 (Göppingen, 1978), S. 360 und 369.
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begriffen werden. Beide Angaben erzwingen aber eine spätere Datierung zwischen 1418 und etwa 1425 - das Hochzeitsthema wäre dann als Rückblick auf das frühere Ereignis aufzufassen, denn warum sollte der Bräutigam noch während der Feier diese poetisch reflektieren? 97 Überzeugender wäre vielmehr, in diesem Lied eine humorvolle Reminiszenz zu erblicken, wobei sich der Sänger immer noch schmunzelnd an die wilde Feier erinnert und u.a. das Tanzgeschehen erneut vor Augen führen möchte. Im Fall des ersten Liedes ergibt sich nun eine leichte Erklärung, wieso sich Oswald auf Giustiniani bezog. Da er die Klänge der Natur über diejenigen der Hofkultur stellten wollte, bedurfte er einer Kontrastfigur bzw. deren Kunstpraxis, die er ohne weiteres im Werk des venetianischen Sängers vorfand. Die Spannung zwischen Oswalds Dichtung und derjenigen Giustinianis könnte kaum größer sein, handelt es sich ja beim deutschen Sänger um das Bemühen, neue, naturverbundene und stark emotionale Gefühlsausbrüche in lyrische Form zu gießen, beim italienischen Künstler dagegen um relativ starre und stark der höfischen Literatur verbundene Aussageformen, selbst wenn diese eine große Popularität genossen. Oswalds Lieder sprechen uns heute noch so stark an, nicht weil sie etwa den Triumph des Minnesangs im Spätmittelalter vorführten, sondern weil sie genau diesen transgredieren und durch eine große Offenheit ausländischen Quellen gegenüber zu neuen individualistischen Aussagen vorstießen. Die mangelnde Rezeption des Oswaldschen Oeuvre im deutschsprachigen Raum spricht eine deutliche Sprache98, selbst wenn einige seiner Gedichte in verschiedenen Liederbüchern oder Sammelhandschriften des 15. und 16. Jahrhunderts Aufnahme fanden 99. D.h., offensichtlich empfand sich Oswald bereits zu Beginn seiner Karriere als Dichter in Opposition zur literarischen Tradition und suchte nach neuen Wegen, um eine selbständige poetische Aussage zu finden. Die Auseinandersetzung mit Giustinianis Liedern, die eben eine so enorme Beliebtheit in der Lombardei genossen, reflektiert einerseits die kulturelle Ausrichtung Oswalds zum Süden hin, andererseits beweist sie, daß der Südtiroler sich nicht von der traditionellen Hofkultur vereinnehmen ließ und somit in Giustiniani den entsprechenden Angriffspunkt erblickte.
97
Klaus J. Schönmetzier [Anm. 94, 1979], S.441, datiert K l 69 auf 1417, K l 70 auf vor 1408, obwohl beide Lieder sowohl in Hs. A als auch in Hs. Β unmittelbar-* nacheinander folgen. K l 68 befindet sich in unmittelbarer Nachbarschaft (Β 29 Γ , A 30 v ), und dort besingt Oswald eindeutig seine Ehefrau Margarete. D . h . , K l 69 ist aller Wahrscheinlichkeit nach doch erst um oder nach 1417 entstanden, so daß das Argument, Oswald beziehe sich hier auf Giustiniani, sich gut behaupten kann. 98
Günther Schweikle [Anm.4, 1982/83].
99
Hans-Dieter Mück [Anm. 3, 1980 und 1985].
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Die Verhältnisse in K l 70 sprechen allerdings eine etwas andere Sprache. Hier begibt sich der Sänger in eine neue Situation, wo es nicht mehr um polemische Auseinandersetzungen zwischen zwei konträren Dichterschulen geht, sondern um eine schlichte Festszene, die Oswald ohne besondere politische Intentionen im Lied gestaltet. Dej: Zeitabstand zu K l 21 ist beträchtlich, und so auch die neue Einstellung zu dem italienischen Konkurrenten. Oswald hat es nicht mehr nötig, sich gegen ihn bzw. den Vortrag eines seiner strambotti oder cannoni aufzulehnen, denn für ihn sind diese »jösstel« nichts anderes als schlichte Unterhaltungsstücke traditioneller Hoflyrik, die nun den Rang des deutschsprachigen Künstlers nicht mehr gefährden kann. Viel hängt natürlich davon ab, wie wir K l 70 wirklich deuten und datieren wollen. Das Lied erschließt sich uns nicht ohne weiteres bzw. behält sich vor, in enigmatischer Weise dialektische Elemente nebeneinander zu stellen, so daß die modernen Interpreten sich bis heute noch darüber in die Haare geraten. Entscheidend bleibt jedoch für unsere Betrachtung, daß hier Oswald seine Bekanntheit mit dem venetianischen Sänger Leonardo Giustiniani manifestiert, den er allerdings nicht ernst genug nimmt, um ihm eine gleichwertige Stellung neben sich selbst zu gewähren. Es scheint mir, als ob Oswald hier eine geradezu moderne Szene entwirft, die etwa mit einer Hochzeitsfeier, einer Kirmes oder einem anderen Volksfest zu vergleichen wäre. Der hochgebildete Dichter Oswald mischt sich unter die Gäste und fordert nun, unbekümmert um die Bedeutung des »Konkurrenten«, die Musikanten dazu auf, einen weiteren giustiniani zu spielen. Wären solche modernen Begriffe wie »Schnulze« oder »Schlager« unangebracht in diesem Kontext? Oder handelt es sich schlicht um einen solchen Kulturunterschied, wie ich ihn hier in Arizona täglich feststellen kann, kontrastiere ich die mexikanischen Canciones de Rancheros mit denjenigen lyrischen Gattungen, die gemeinhin von den » Anglos« bevorzugt werden? Aber auch Giustiniani erblickte wohl kaum in seinen Liebesliedern die wichtigsten Ausdrucksformen für sein Künstlertum. Dafür war er viel zu sehr Humanist und gebildeter Sänger, als daß er seine strambotti oder cannoni mehr als notwendig ernst genommen hätte. Als Ergebnis dürfen wir jedenfalls festhalten, daß sich Oswald als Globetrotter und internationaler Dichter zweifelsohne mit den beliebten Liebesliedern Giustinianis auseinandergesetzt hatte, muß er sie ja oft auf seinen Reisen in die Lombardei bzw. ins Veneto gehört haben. Es erscheint somit als logische Schlußfolgerung, die zweimalige Andeutung auf den »Jöstlin« in seinen eigenen Gedichten als Hinweis auf Giustiniani zu verstehen, selbst wenn Oswald keinen besonderen Wert darauf legte, den Begriff »jösstel« für seine Zuhörer einwandfrei mit dem venezianischen Dichter zu identifizieren.
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In K l 21 betrifft es ein Negativmuster, in K l 70 dagegen einen Liedtypus, der ohne besonderen künstlerischen Anspruch leichthin bei einer festlichen Gelegenheit vorgetragen werden kann. Aber selbst eine negative Rezeption besitzt Bedeutung für uns, denn damit sind wir in die Lage versetzt, auch diejenigen literarischen und musikalischen Quellen zu identifizieren, mit denen sich Oswald eher kritisch und ablehnend auseinandergesetzt hatte.
Das Drama der englischen Renaissance als politische Kunst Die zeitgenössische Aktualität der Römerdramen Teil I I Von Uwe Baumann
Hubertus Schulte Herbrüggen zum 70. Geburtstag I . Prolegomena
»O du bist mächtig noch! Dein Geist geht um«. Dieses Zitat aus Shakespeares Julius Caesar, mit dem Brutus auf den Freitod des Cassius nach der Niederlage bei Philippi reagiert (JC V,2,94-96: »O Julius Caesar, thou art mighty yet!/Thy spirit walks abroad, and turns our swords/In our own proper entrails«1), setzt Ekkehard Krippendorff programmatisch über das Kapitel seines anregenden Buches Politik in Shakespeares Dramen, in dem er die politische Relevanz von Shakespeares Julius Caesar eingehend analysiert2. Die im Zitat des Brutus sich artikulierende Macht Caesars, die über den Tod hinaus reicht, macht Krippendorff zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen, indem er mit wenigen markanten Sätzen die Bedeutung der historischen Figur Julius Caesar für die europäische Geschichte skizziert: I n der europäischen Geschichte gibt es wohl keine politische Figur, keine historische Persönlichkeit, die es mit dem römischen Feldherrn und Staatsmann Caius Julius Caesar an Berühmtheit aufnehmen kann. Allenfalls Alexander der Große könnte noch genannt werden - und dann erst wieder Napoleon. Aber während ersterer fast noch in die >Vorgeschichte< gehört und kaum Anknüpfungspunkte zu unserer eigenen Geschichte bietet, der letztere hingegen eigentlich schon oder noch immer Gegenwart ist, hat Caesar beides: die identifizierbaren Bezugspunkte von Nähe und Ferne zugleich. Unter Caesar wurde Westeuropa - von Gallien / Frankreich bis Britanni1
William Shakespeare, Julius Caesar, hrsg. von T . S. Dorsch, The Arden Edition of the Works of William Shakespeare, 6. Aufl. (London, 1 9 5 5 / N D 1972); wenn keine andere Edition explizit genannt ist, werden im folgenden die Dramen Shakespeares nach der jeweiligen Arden-Edition zitiert. 2
E. Krippendorff, Politik in Shakespeares Dramen (Frankfurt / Main, 1992), 265.
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en I England - erobert und lateinisch-römisch zivilisiert, wurden also die wichtigsten Voraussetzungen geschaffen für das, was heute Europa darstellt: das weiß jedes Schulkind; und zugleich sind die physischen Spuren dieses Caesar noch immer auffindbar: z.B. die Stelle auf dem Forum Romanum, wo seine Leiche verbrannt wurde (fast vermeint man da noch die Brandspuren zu sehen). Aber was den Mann eigentlich berühmt gemacht, ihn zur mythischen Figur verklärt hat, an der sich die Phantasie so vieler späterer Generationen immer wieder entzündete, das war sein Tod: die Ermordung auf dem Höhepunkt seines Ruhmes und als mächtigster (und übrigens auch reichster) Mann der - europäischen - Welt. 3
Der Tod Caesars an den Iden des März 44 v.Chr. galt bekanntlich den Verschwörern, insbesondere Brutus und Cassius, als legitimer, ja geradezu notwendiger Tyrannenmord, als Befreiung der res publica von der Über- oder vielleicht besser: Allmacht des dictators Julius Caesar4. Zugleich, und dies unterstreicht das ausführliche Zitat aus Krippendorffs Studie nachdrücklich, ist der Tod Caesars unter den Dolchen der Verschwörer mehr als ein durch viele Quellen gut belegtes historisches Ereignis in der Vergangenheit der Geschichte der ausgehenden römischen Republik: Der Tod Caesars wird in der europäischen Mentalitäts- und Literaturgeschichte zum Paradigma für den Tyrannenmord schlechthin. In den Tyrannentraktaten der italienischen Renaissance beispielsweise wird die Problematik des Tyrannenmordes in vielfältiger Weise und unter beständigem Rückgriff auf die antike Tradition reflektiert 5. Das historische exemplum 6, das dabei stereotyp immer und immer wieder herangezogen wird, ist die Ermordung Caesars am 15. März des Jahres 44 3
Krippendorff, 265. Vgl. auch insgesamt 265-296.
4
Vgl. zum historischen Brutus insbes. W . Stewens, Marcus Brutus als Politiker (Diss. Zürich, 1963) und E. Wistrand, The Policy of Brutus the Tyrannicide (Göteborg, 1981); vgl. auch F. L. Ford, Der Politische Mord. Von der Antike bis %ur Gegenwart (Hamburg, 1 9 9 0 / N D Reinbek, 1992), bes. 97-109. 5
Vgl. insgesamt (jeweils mit vielen Einzelbelegen): E. Walser, »Die Gestalt des tragischen und des komischen Tyrannen in Mittelalter und Renaissance«, Kultur- und Universalgeschichte: Walther-Goet^-Festschrift (Leipzig; Berlin, 1927), 125-144; A. von Martin (Hrsg.), Coluccio Salutatis Traktat >Vom Tyrannenc Eine Kulturgeschichtliche Untersuchung nebst Textedition, Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte, Bd. 47 (Berlin, 1913); F. Ercole (Hrsg.), >Tractatus de tyranno< von Coluccio Salutati: Kritische Ausgabe mit einer historisch-juristischen Einleitung, Quellen der Rechtsphilosophie, Bd. 1 (Berlin, 1914); E. Emerton, Humanism and Tyranny: Studies in the Italian Trecento, (Cambridge/Mass., 1925); vgl. für Frankreich: Β. Bess, Frankreichs Kirchenpolitik und der Proqeß des Jean Petit über die Lehre vom Tyrannenmord (Marburg, 1891); A. Coville, Jean Petit: La question du tyrannicide au commencement du XV e siècle (Paris, 1932). 6 Vgl. zum Begriff exemplum die reichen Materialien, die Peter von Moos (Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike %ur Neuheit und die >historiae< im >Policraticus< Johanns von Salisbury, Ordo. Studien zur Literatur und Gesellschaft des Mittelalters und der frühen Neuzeit Bd. 2 [Hildesheim; Zürich; N e w York, 1988], bes. I X - X L V I I und 1-143) bequem zusammenstellt und auswertet.
Das Drama der englischen Renaissance als politische Kunst
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v.Chr., wie als repräsentatives Beispiel eine Passage aus dem berühmten Kapitel 6. (»Über Verschwörungen«) aus dem Buch I I I der Discorsi Niccolò Machiavellis bezeugen mag: Eine andere Triebfeder zur Verschwörung gegen einen Machthaber gibt es noch, und zwar eine sehr starke: Dies ist das Verlangen, das von ihm geknechtete Vaterland zu befreien. Dieser Anlaß bewog Brutus und Cassius zur Verschwörung gegen Cäsar und hat viele andere zur Verschwörung gegen Gewalthaber wie Phalaris, Dionys und andere Unterdrücker ihres Vaterlandes getrieben. Vor solchen Anschlägen kann sich kein Gewalthaber schützen, es müßte denn sein, daß er auf seine Gewaltherrschaft verzichtet. 7
Den Tyrannenmord als politisches Problem und in Verbindung damit das Widerstandsrecht gegen tyrannische Herrscher wollen wir im folgenden im Rahmen der im ersten Teil unserer kleinen Skizze dargelegten theoretischen Vorüberlegungen analysieren8, die Frage nach der zeitgenössischen Aktualität der in den englischen Römerdramen dargestellten gerechten und ungerechten Herrschaftsausübung im allgemeinen müssen wir uns für den dritten Teil unserer Überlegungen aufheben 9. Die Diskussion der vielfältigen juristischen und moralischen Aspekte - wie auch die zeitgenössische Aktualität - der Bluttat des 15.März 44 v.Chr., insbesondere die Figur des Brutus als Tyrannenmörder, ist mittlerweile für die italienische Renaissance sehr gut erforscht 10. Für die englische Renaissance hingegen fehlen - ungeachtet einiger wertvoller Vorstudien 11 - vergleichbare 7 N . Machiavelli, Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, tet und erläutert von R. Zorn, 2. Aufl. (Stuttgart, 1977), I I I , 6 (S. 287-288).
übersetzt, eingelei-
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»Das Drama der englischen Renaissance als politische Kunst. Die zeitgenössische Aktualität der Römerdramen, Teill«, Literaturwissenschaftlicbes Jahrbuch 33 (1992), 101131. 9 Dieser Teil I I I wird sich schwerpunktmäßig auf die beiden Dekaden 1590-1610 konzentrieren und dabei auch die übrige dramatische Produktion dieser entscheidenden Jahrzehnte mitzuberücksichtigen haben. Teil I I I ist zur Veröffentlichung in Bd. 37 dieses Jahrbuchs vorgesehen. 10
Vgl. zuletzt M . Piccolomini, The Brutus Revival. Renaissance (Carbondale; Ed wards ville, 1991).
Parricide
and Tyrannicide
During the
11 Vgl. W . C. Bradford, fulius Caesar as a Literary Device: English Plays 1594-1663 (Diss. Duke Univ., 1970); M . J. Gary, The Theme of Caesar and Brutus in Sixteenth-Century Tragedy (Diss. Univ. of Denver, 1979); T . A. Owen, fulius Caesar in English Literature from Chaucer through the Renaissance (Diss. Univ. of Minnesota, 1966); C. J. Ronan, The Antique Roman in Elizabethan Drama (Diss. Univ. of California, 1971); R. E. Rose, Julius Caesar and the Late Roman Republic in the Literature of the Late 16th Century , with Especial Reference to Shakespeare's fulius Caesar (Diss. Princeton Univ., 1964); S. H . Sargent, Roman History in the Elizabethan Drama (Diss. Univ. of Minnesota, 1970). Vgl. allgemein zum Begriff und zur Figur des Tyrannen in der englischen Renaissance: R. P. Adams, »Opposed Tudor Myths of Power: Machiavellian Tyrants and Christian Kings«, D . B. J.
5 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 35. Bd.
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Arbeiten. Dies ist mehr als erstaunlich, stellt man in Rechnung, welche hochrangige Bedeutung der Figur des Julius Caesar beispielsweise im Gesamtwerk William Shakespeares zukommt, wie zahlreiche explizite Erwähnungen und Anspielungen auf ihn und seine Mörder beweisen. Insgesamt verweist Shakespeare außerhalb des Dramas Julius Caesar in fünfzehn weiteren Dramen und in rund fünfundvierzig Einzelpassagen zweifelsfrei auf die Person Julius Caesar12. Die hochpolitische Bedeutung des Dramas Julius Caesar selbst ist erst jüngst von Ekkehart Krippendorff und anderen gebührend herausgestellt worden 13 . Völlig zu recht stellt Krippendorff wichtige, erkenntnis- und interesseleitende Fragen an Shakespeares (und implizit zugleich an jede) konzeptionelle Bearbeitung des Caesar-Stoffes: es wird notwendigerweise unentschieden bleiben müssen - und doch gleichzeitig eine >parteiliche< Antwort erfordern —, ob es sich hier um einen legitimen Tyrannenmord handelte oder um einen der unsinnigsten Morde der Weltgeschichte, ob Caesar der Held dieser Geschichte ist oder nicht vielmehr sein Mörder Brutus, der das Attentat [ . . . ] organisierte. Ist Brutus der Inbegriff des Verräters und irregeleiteten Idealisten, der eine große historische Chance zerstörte und die Welt in ein Chaos stürzte - oder ist Caesar der Inbegriff des Tyrannen und Diktators, der der Welt ein schlechtes Vorbild gab und dessen Sturz eine befreiende Tat war, auch wenn das Resultat tragischerweise - nicht den Hoffnungen der Freiheitsrevolutionäre entsprach? 14
Antworten auf diese Fragen mit Bezug auf Shakespeares Drama sind dabei so zahlreich wie die Beiträge insgesamt zu Shakespeares Julius Caesar; gleichwohl wird man konstatieren müssen, daß diese Fragen nach wie vor offen sind, daß Randall; G. W . Williams (Hrsg.), Studies in the Continental Background of Renaissance English Literature : Essays Presented to J. L. Lievsay (Durham, 1977), 67-90; W . A. Armstrong, »The Elizabethan Conception of the Tyrant«, RES 22 (1946), 161-181; W . A. Armstrong, »The Influence of Seneca and Machiavelli on the Elizabethan Tyrant«, RES 24 (1948), 19-35; U. Baumann, »Thomas More and the Classical Tyrant«, Moreana 22 (1985), Heft 86, 108-127; F. J. Bayerl, The Characterisation of the Tyrant in Elizabethan Drama (Diss. Univ. of Toronto, 1974); R. W . Bushnell, Tragedies of Tyrants . Political Thought and Theater in the English Renaissance (Ithaca; London 1990). 12 Bei der Ermittlung dieser Passagen erweist sich die große Konkordanz von M . Spevack (A Complete and Systematic Concordance to the Works of Shakespeare, 8 Bde. [Hildesheim, 1968-1975]) als wichtiges Hilfsmittel, gleichwohl ist immer im Gesamtkontext der Szene zu entscheiden, ob Julius Caesar oder der junge Caesar (d.h. Oktavian, der nachmalige Augustus) gemeint ist. I m folgenden spielen alle Stellen, die Caesar lediglich als Synonym für Kaiser (Herrscher) bieten, keine Rolle mehr; Anspielungen auf Julius Caesar ohne explizite Namensnennung (etwa: 2 H 4, IV,3,39-42) wollen wir ebenfalls übergehen; selbst von den Passagen, die sich zweifelsfrei auf Julius Caesar beziehen, werden wir nur eine repräsentative Auswahl besprechen können. 13
Krippendorff, 265-296, Vgl. ebenfalls W . A. Rebhorn, »The Crisis of the Aristocracy in fulius Caesar «, RQ 43 (1990), 75-111 und H . Breuer, »Politische Perspektiven in Shakespeares Julius Caesar«, LWU 25 (1992), 227-240. 14
Krippendorff, 266.
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sie - ungeachtet aller eindeutigen, insgesamt jedoch einander ausschließenden Stellungnahmen - eine beständig neue Herausforderung für den Rezipienten darstellen 15. Dies scheint im übrigen bereits Shakespeare bewußt gewesen zu sein, wie die Verse bezeugen, die er Cassius - unmittelbar nach der Bluttat - in den Mund legt (JC 111,1,111-113): »How many ages hence/Shall this our lofty scene be acted over,/In states unborn, and accents yet unknown!« I I . Das Caesarbild W i l l i a m Shakespeares
Wir wollen uns einigen Antworten auf diese Fragen zu Shakespeares Julius Caesar auf einem Umweg nähern, genauer auf einem Umweg mit drei Einzelschritten: zuerst stehen die Caesarerwähnungen in Shakespeares Dramen, die vor dem Römerdrama Julius Caesar entstanden sind, im Mittelpunkt des Interesses, sodann das Drama Julius Caesar selbst, und dann werde ich die Caesarerwähnungen in den Dramen nach 1599 untersuchen. Mit den auf diesem Umweg gewonnenen Ergebnissen besitzen wir eine breite Basis an Ansatzpunkten, die es uns dann auch erlauben wird, die Konzeption(en) Shakespeares mit den zahlreichen anderen Caesar-Dramen seiner Zeitgenossen zu vergleichen. Bisher gibt es nur zwei Versuche, die Caesarerwähnungen 16 in Shakespeares Gesamtwerk zu deuten und in eine Analyse des Caesarbildes Shakespeares 15 Vgl. in Auswahl: J. E. A l vis, Shakespeare' s Roman Tragedies: Self -Glorification and the Incomplete Polity (Diss. Univ. of Dallas, 1973); J. E. Alvis, »The Coherence of Shakespeare's Roman Plays«, MLQ 40 (1979), 115-134; J. L. Barroll, »Shakespeare and Roman History«, MLR 53 (1958), 327-343; R. Berry, »Julius Caesar: A Roman Tragedy«, DalR 61 (1981), 325-336; P. A. Cantor, Shakespeare's Rome: Republic and Empire (Ithaca; London, 1976); J. B. Cantrell, A Commentary on Shakespeare's >Julius CaesarNoblest Roman of Them All»Thou bleeding piece of earthc The Ritual Ground of Julius Caesar«, SStud 14 (1981), 175-196; R. S. Miola, Shakespeare's Rome (Cambridge, 1983); R. S. Miola, »Julius Caesar and the Tyrannicide Debate«, RQ 38 (1985), 271-289; A. Molan, »Julius Caesar: The General Good and the Singular Case«, Critical Review 26 (1984), 84-100; J. L. Simmons, »Shakespeare and the Antique Romans«, P. A. Ramsey (Hrsg.), Rome in the Renaissance , The City and the Myth (Binghamton; New York, 1982), 77-92; V . Thomas, Shakespeare's Roman Worlds (London; New York, 1989), bes. 40-92; vgl. insgesamt auch die Materialien bei U. Baumann, Vorausdeutung und Tod im Römerdrama der englischen Renaissance, Kultur und Erkenntnis, Bd. 11 (Tübingen, 1994). 16 Eine - im Grunde selbstverständliche - methodische Vorbemerkung gilt es noch zu machen: die Caesarerwähnungen in den übrigen Dramen William Shakespeares sind
*
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einzubeziehen: der Altphilologe Bernard Kytzler wertet in seinem Buch Shakespeare. Julius Caesar. Dichtung und Wirklichkeit 17 fünfundzwanzig der einschlägigen Caesarerwähnungen aus und konstatiert einen bedeutsamen Wandel in Shakespeares Caesarbild nach 1592/93, der ungefähren Abfassungszeit von Richard 7/. 18 . Trevor Allen Owen untersucht in seiner ungedruckten Dissertation Julius Caesar in English Literature. From Chaucer through the Renaissance immerhin einunddreißig der Caesarerwähnungen und stellt als Ergebnis heraus, daß Shakespeare in all seinen Dramen ein durchweg positives Caesarbild erkennen lasse19. Beide Thesen, dies sei gleich hier festgehalten, werde ich im folgenden zu widerlegen suchen. 1. Shakespeares Caesarbild in den Dramen vor Julius Caesar ( 1599) Die Caesarerwähnungen in den Dramen William Shakespeares, die vor Julius Caesar, also vor 1599 entstanden sind, lassen sich nach ihrem sachlichen Gehalt in drei Gruppen unterteilen. Caesars sprichwörtlicher Ruhm als Feldherr wird dabei gleich mehrfach genutzt, einen englischen König mit Julius Caesar zu vergleichen; während der Beisetzung Heinrichs V. glaubt Bedford in seiner Begeisterung für das staatsmännische Geschick Heinrichs, daß dieser (selbstverständlich zu seinem Vorteil) nur mit einem einzigen Herrscher verglichen werden könne: Henry the Fifth, thy ghost I invocate: Prosper this realm, keep it from civil broils, Combat with adverse planets in the heavens. A far more glorious star thy soul will make Than Julius Caesar...
( 1 H 6 , 1,1,52-56)
Shakespeare, der auch an anderer Stelle (H5, V Pr. 22-28) einen Vergleich zwischen Caesar und Heinrich V. bietet, folgt damit der panegyrischen Konvention, positive Vergleiche zwischen Caesar und englischen Monarchen natürlich zuerst einmal im jeweiligen Handlungs- und Figurenkontext des Einzeldramas zu deuten; sie können demnach nur behutsam und auch längst nicht alle für Shakespeares Caesarverständnis ausgewertet werden. 17
B. Kytzler, Shakespeare. Julius Caesar. Dichtung und Wirklichkeit 1963), bes. 128 ff.
(Frankfurt/M.,
18 Kytzler, 129: »Nach diesen ersten Dramen Shakespeares, die in den Jahren 15901592 entstanden sind, hat sich das bislang eindeutige Caesar-Bild des Dramatikers gewandelt und vertieft«. 19 Owen, bes. 255ff.; vgl. z.B. 272: »It is significant also that the references to Caesar after the composition of Julius Caesar reveal no change of attitude«. Vgl. in diesem Kontext auch die leider nicht weiter ausgearbeitete Staatsarbeit von U. Piasberg (Shakespeares Cäsarbild, [masch. Staatsexamensarbeit Düsseldorf, 1982]), die insgesamt bereits über den bei Kytzler und Owen erreichten Kenntnisstand hinausfuhrt.
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zu ziehen20. Das Vergleichskriterium bildet dabei, wie H 5 , V Pr. 25-28, zweifelsfrei erweist, die sich im Krieg dokumentierende virtus des Herrschers: The mayor and all his brethren in best sort, Like to the senators of th'antique Rome, With the plebeians swarming at their heels, Go forth and fetch their conqu'ring Caesar in:
In durchaus vergleichbarer Weise gibt Prince Edward in Shakespeares Richard III. eine für seine Jugend erstaunlich einsichtige Charakterisierung Caesars, die - in den Worten Bernhard Kytzlers - »dessen schriftstellerisches und politisches Genie miteinander verknüpft« 21 : That Julius Caesar was a famous man, With what his valour did enrich his wit, His wit set down to make his valour live: Death makes no conquest of this conqueror, For now he lives in fame though not in life.
(R3, 111,1,84-88)
In dieser Lobrede auf Caesars doppelten Verdienst als Feldherr und Geschichtsschreiber, die er Prince Edward in den Mund legt, erinnert Shakespeare an die Commentarli de Bello Gallico und die übrigen historiographischen Werke Caesars, die er als verläßliche Informationsquellen auch anderen Orts heranzog {2 H6, IV,12,56-58; 3 H 6, 1,2,40-43). Gleichzeitig jedoch, und dies macht die Passage aus Richard III. so bedeutsam, wird betont, daß Julius Caesar aufgrund seiner militärischen Erfolge (und seines schriftstellerischen Talents) gleichsam unsterblich geworden ist: »Death makes no conquest of this conqueror, / For now he lives in fame though not in life«. Immer wieder wird in den Dramen vor Julius Caesar, die Liste der Belege ließe sich noch erweitern (1H6, 1,3,138-139; 2H4,1,1,20-23), die militärische Leistung Caesars in den Vordergrund gerückt: alle Äußerungen sind gekennzeichnet von Faszination und vorbehaltloser Bewunderung 22, die keinen Raum lassen für militärische Niederlagen und für das Publikum den Eindruck erwecken müssen, schon die bloße Gegenwart Caesars bei einem Kampf garantiere den Erfolg. Den anerkennenden Äußerungen über Caesars sprich20 Vgl. z.B.: J. Lydgate, The Troy Book, hrsg. von H . Bergen, 3Bde. (London, 1906), Bd. I , 877 (Heinrich V . und Caesar) und T . More, Latin Poems, hrsg. von C. H . Miller; L. Bradner; C. A. Lynch und R. P. Oliver, The Complete Works of St. Thomas More, Bd. 3, I I (New Haven; London), Nr. 244 (Heinrich V I I I . und Caesar). 21 22
Kytzler, 128.
Die Aussage La Pucelles, nachdem sie sich mit Charles, dem späteren König von Frankreich, gegen die Engländer verbündet hat, ist sicherlich differenzierter zu betrachten ( 1 H 6 1,2,138-139) »Now am I like that proud insulting ship/Which Caesar and his fortunes bare at once«, für uns aber hier nicht weiter von Belang.
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wörtlichen Ruhm und seine militärische Meisterschaft entspricht die Verurteilung der Verschwörer, insbesondere des Brutus, und die Stilisierung ihrer Tat zu einem grausigen Verbrechen. Im Zweiten Teil Heinrichs VI. vergleicht Suffolk kurz vor seiner Ermordung seine eigene Situation mit den Todesstunden dreier berühmter Römer: Cicero, Caesar und Pompeius: Great men oft die by vile bezonians. A roman sworder and bandito slave Murder'd sweet Tully; Brutus' bastard hand Stabb'd Julius Caesar; savage islanders Pompey the Great; and Suffolk dies by pirates. ( 2 H 6 , IV,1,134-138)
Die Kommentatoren dieser Passage weisen durchgängig darauf hin 23 , daß die Formulierung »Brutus' bastard hand« auf den in der Renaissance weitverbreiteten Glauben anspiele, Brutus sei der uneheliche Sohn Caesars. Eine solche Deutung dieser Stelle ist jedoch weder zwingend noch auch nur wahrscheinlich. Plausibler und der Redeabsicht Suffolks angemessener (Reihung von drei historischen exempla) erscheint es, »bastard« ganz allgemein im Sinne von »widernatürlich«, »verbrecherisch« zu verstehen, ein für die Shakespearezeit durchaus üblicher Sprachgebrauch 24. Dies würde sich harmonisch in die Reihung der Adjektive »vile« und »savage«, mit denen Suffolk seine Abscheu vor den Mördern dieser drei großen Römer artikuliert, einfügen. Eine noch schärfere Verurteilung der Ermordung Caesars findet sich im Dritten Teil Heinrichs VI., wo sie für Queen Margaret sozusagen zum Archetyp des grausamen und verabscheuungswürdigen Verbrechens wird. Nachdem ihr Sohn, der junge Prince Edward, vor ihren Augen erstochen worden ist, ruft sie entsetzt: They that stabb'd Caesar shed no blood at all, D i d not offend, nor were not worthy blame, I f this foul deed were by to equal it.
( 3 H 6 , V,5,51 -53)
Shakespeare setzt in der Konzeption dieser Szene die Verurteilung der Mörder Caesars als beinahe selbstverständlich voraus. Und selbst dieses abscheuliche Verbrechen der Vergangenheit verblaßt noch vor der gerade verübten, widernatürlichen Untat, der Ermordung des Prinzen Edward. 23 Vgl. stellvertretend Andrew S. Cairncross (Hrsg.), The Second Part of King Henry VI, The Arden Edition of the Works of William Shakespeare, 3. Aufl. (London, 1 9 5 7 / N D 1969), 107-108 zur Stelle: »Brutus was popularly credited, in error, with being Julius Caesar's bastard son, owing to the fact that his mother, Servilia, after her lawful husband's death, and his birth, became Caesar's mistress«. Vgl. ebenso John D . Wilson (Hrsg.),.The Second Part of King Henry the Sixth, 2. Aufl. (Cambridge, 1968), 173. 24
Vgl. OED
Bd. I , 695.
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Der dritte Aspekt, auf den die Caesarerwähnungen vor 1599 immer wieder verweisen, ist die Caesarfigur der mittelalterlichen Legendentradition. So wird Julius Caesar sowohl in Riebard II. als auch in Richard III. als Gründer des Towers von London bezeichnet (R3, 111,1,70-71; R2, V , l , l - 2 ) . Das berühmte, legendäre Schwert Caesars dient in der launigen Unterhaltung in Love's Labour's Lost, in der über die Kopfform des Holofernes gespottet wird, als Vergleichsmaßstab: der Kopf des Holofernes habe eine Form wie der Griff von Caesars Schwert {LLL, V, 2, 607). Obwohl Shakespeare nur zwei Themen aus den mittelalterlichen Caesar-Legenden rezipierte (Gründung des Towers und Caesars Schwert), wird man den Einfluß der heimischen Legendentradition auf das frühe Caesarbild Shakespeares nicht leugnen können 25 , bedenkt man, daß drei von elf Passagen, die Caesar vor dem Römerdrama Julius Caesar nennen, allein auf diesen Ursprung zurückzuführen sind. Zusammenfassend wird man über das Caesarbild William Shakespeares vor 1599 festhalten dürfen: keine der knappen Caesarerwähnungen läßt eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Person oder der politischen Lebensleistung Julius Caesars erkennen. Shakespeares Caesar vor dem Römerdrama Julius Caesar ist der Caesar der mittelalterlichen Tradition; es ist einerseits der geradezu sprichwörtliche Ruhm als Feldherr (und als Schriftsteller) und andererseits die abgrundtiefe Verurteilung der Ermordung Caesars, die Shakespeare immer wieder betont. Dieser Caesar ist gleichsam eine mythische Gestalt, ein statischer und sich nur über glorreiche Erfolge definierender Charakter, der keine wirklich menschlichen Züge besitzt. 2. Shakespeares Caesarbild im Drama Julius Caesar ( 1599) Die bisherigen Interpretationen der Figur Julius Caesar im Drama Julius Caesar haben bekanntlich zu unterschiedlichen - bisweilen sogar völlig gegensätzlichen - Aussagen über Shakespeares Caesarbild in diesem seinem ersten Römerdrama geführt 26 . Die überwiegende Mehrheit speziell der älteren Deutungen versucht dabei, letztlich erfolglos, Caesars Charakter eindeutig positiv oder negativ festzulegen 27. Es wird jedoch m. E. nur eine solche Auslegung 25 Die Aussage G . Highets »But Shakespeare, like Milton, rejected and practically ignored the world of the Middle Ages« (The Classical Tradition, 2. Aufl. [Oxford, 1951], 196) ist so allgemein sicherlich falsch. 26
Stellvertretend für eine Vielzahl ähnlicher Aussagen sei M . Platt {Rome and the Romans According to Shakespeare, SSEL JDS, Bd. 51 [Salzburg, 1976], 174) zitiert: »We do not know what view to take of Caesar, are we to think of him as the legitimate and benevolent ruler or, on the contrary, is he a tyrant, the usurper of his country's liberties?« 27 Vgl. neben der oben, Anm. 15 zusammengestellten Literatur noch die übrige Literatur, die bei Baumann, Vorausdeutung und Tod, passim und J. C. Maxwell,
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dem Charakter von Shakespeares Caesar gerecht, die die offenkundigen Zwiespältigkeiten und Ambivalenzen als Charaktermerkmal Caesars akzeptiert. Dies hat erst die Kritik der letzten drei Jahrzehnte in gebührender Weise berücksichtigt 28 , dabei allerdings verschiedentlich auch diese kritische Einsicht verabsolutiert: so spricht etwa Mildred E. Hartsock vom >intellektuellen Relativismus^ 9 des Dramas und Rene E. Fortin wertet Julius Caesar als »a deliberate experiment in point of view, intended to reveal the limitations of human knowledge«30. Wer auf diese Weise die Ambiguität als Selbstwert versteht, läuft Gefahr, die politischen Probleme und die mögliche zeitgenössische Brisanz aus dem Drama und aus der Figur Julius Caesar herauszuinterpretieren 31 . Im folgenden sollen in aller Kürze die wichtigsten Charakteristika von Shakespeares Caesarbild in Julius Caesar herausgearbeitet werden, wobei Caesars eigene Äußerungen und Handlungen genau so zu berücksichtigen sind, wie die Fremdcharakterisierungen durch die übrigen Figuren. Die Szene 1,2 präsentiert dem Publikum in sorgsam konzipierter Reihung zunächst Caesar selbst als Handelnden, danach Caesar als zentralen Gegenstand des Dialogs zwischen Cassius und Brutus, und schließlich noch einmal Caesar selbst. Bereits der erste, nur insgesamt 24 Verse umfassende, Auftritt Caesars genügt Shakespeare, um ihn zum unumschränkten Alleinherrscher zu stilisieren. Sein Name hallt in steter Wiederholung durch die Verse (insgesamt siebenmal32); wenn Caesar spricht, verstummt die Musik, ja selbst die Menge schweigt. Seine Äußerungen sind kurze, präzise Befehle, - an seine Frau Calphurnia, den Freund Antonius, den Wahrsager und das gesamte Gefolge. Und zugleich macht Shakespeare Julius Caesar bereits bei diesem ersten Auftritt zu einem Verblendeten, der die Warnung, er werde an den Iden des März fallen, in den Wind schlägt. Das lange Zwiegespräch des Cassius mit »Shakespeare's- Roman Plays«: 1900-1956«, ShS 10 (1957), 1 - 1 2 ; P. Ure (Hrsg.), Shakespeare, Julius Caesar, A Casebook (London, 1969); J. W . Velz, Shaekespeare and the Classical Tradition: A Critical Guide to Commentai y. 1660-1960 (Minneapolis, 1968) bequem zugänglich ist. 28 Vgl. hierzu neben den oben (Anm. 15 und 27) zusammengestellten Belegen insbes. W . G. Müller, Die politische Rede bei Shaekespeare (Tübingen, 1979), 101 ff., eine Untersuchung, auf deren - primär durch sorgfaltige rhetorische Analyse ermittelten - Ergebnisse ich gerne im Detail wie insgesamt zurückgreife. 29 M . E. Hartsock, »The Complexity of Julius Caesar«, Ρ ML A 81 (1966), 56-62, insbes. 62 (vgl. W . G. Müller, 105). 30 R. E. Fortin, »Julius Caesar: A n Experiment in Point of View«, SQ 19 (1968), 341 347, Zitat: 342 (vgl. W . G. Müller, 105). 31 Vgl. zur zeitgenössischen Brisanz des Dramas zuletzt W . A. Rebhorn, H . Breuer, Krippendorff. Vgl. ebenfalls W . G. Müller, 105 ff. 32
Vgl. die Einzelbelege bei W . G. Müller, 89 ff.
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Brutus setzt diese Charakterisierung Julius Caesars konsequent fort. Ohne diesen Dialog, den man, was die Äußerungen des Cassius angeht, auch als zusammenhängende Redepartie auffassen kann 33 , nun im Detail analysieren zu müssen, wird man festhalten können, daß insbesondere Cassius die schwächliche Natur, die labile Physis Caesars als Argument gegen Caesars Herrschaftsund Göttlichkeitsanspruch ins Feld führt. Die beiden von Cassius in seine Rede eingelegten exempla über Caesars Schwächeanfall beim Schwimmen wie auch über den Fieberanfall in Spanien akzentuieren dies sinnfällig. Und - dies macht sie in besonderer Weise bedeutsam - beide exempla sind Erfindungen Shakespeares. Der Dramatiker legt Cassius diese Anekdoten in den Mund, um den Widersinn zu formulieren, der »darin liegt, daß ein körperlich so schwacher Mensch wie Caesar die Macht eines Gottes gewonnen hat«34 (»this man/Is now become a god« \JC 1,2,114-115]). Die Tatsache, daß aus Cassius' Worten Neid, Mißgunst und Eifersucht spricht, hat die meisten Kritiker veranlaßt, in diesen persönlichen Motiven die Triebfeder für das Handeln des Cassius zu suchen35; die argumentative Leistung wie auch die politische Motivation des Cassius wurden vielfach übersehen. Erst Wolfgang G. Müller gelang es in seiner sorgfaltigen, primär rhetorisch ausgerichteten, Analyse dieser Szene den radikalen Demokratismus des Cassius überzeugend herauszuarbeiten 36. Persönliche Abneigung gegen Julius Caesar und politisch-theoretische Ablehnung der durch Caesar verkörperten absoluten Herrschaft eines Einzelnen verbinden sich in Cassius und machen ihn zunächst zur treibenden Kraft der Verschwörung gegen Caesar. Wichtig für das Bild Caesars, das Shakespeare in der ersten Hälfte des Dramas (bis zur Ermordung in 111,1) präsentiert, ist die Tatsache, daß die Argumentation des Cassius in den wichtigsten Punkten auch die des Gesamtdramas ist. Nicht nur Cassius (und in der Folgezeit auch Brutus) protestieren und polemisieren gegen Caesars Göttlichkeitsanspruch, sondern der Dramatiker unterstreicht durch die Art, wie er Caesar präsentiert, den Wahrheitsgehalt der Äußerungen des Cassius. Unmittelbar nach der Rede des Cassius tritt Caesar wiederum auf und zeichnet in wenigen, aber prägnanten Versen das von der Kritik zu Recht gerühmte Charakterbild des Cassius. Seine Charakterisierung des Cassius beschließt Caesar mit einer vollmundigen Selb st Charakterisierung, er als Caesar kenne so
33
Vgl. W . G. Müller, 91 ff. (mit überzeugenden Argumenten).
34
W . G. Müller, 101.
35 Vgl. etwa: M . W . MacCallum, Shakespeare' s Roman Plays and Their Background (London; Melbourne, 1 9 1 0 / N D 1967), 216; D . Traversi, Shakespeare: The Roman Plays (London, 1963), 24 und W . Riehle, »Shakespeare: Julius Caesar«, D . Mehl (Hrsg.), Das englische Drama, Bd. 1 (Düsseldorf, 1970), 114-133, bes. 119; V . Thomas, Shakespeare's Roman Worlds, bes. 49. 36
W . G. Müller, 101 ff.
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etwas wie Furcht nicht. In subtiler dramatischer Ironie läßt Shakespeare Caesar nach dieser Affirmation der eigenen Größe darauf hinweisen, daß er auf einem Ohr taub ist: I rather tell thee what is to be fear'd Than what I fear; for always I am Caesar. Come on my right hand, for this ear is deaf, And tell me truly what thou think'st of him.
(JC 1,2,211-214)
Caesars partielle Taubheit ist wie die körperlichen Schwächen in den exempla des Cassius Erfindung des Dramatikers und darüber hinaus in erster Linie Mitteilung für das Publikum, da Antonius als guter Freund Caesars natürlich darum wissen mußte. War es zuvor Cassius, so ist es an dieser Stelle eindeutig der Dramatiker selbst, der durch seine Präsentation Caesars die Größe und Allmacht des Herrschers durch den Hinweis auf einen physischen Defekt ironisch in Frage stellt. Und auch die im Grunde scharfsinnige Analyse des Charakters des Cassius durch Julius Caesar gewinnt an Tiefe, wenn man berücksichtigt, daß ein Vers wie »He thinks too much. Such men are dangerous« (JC 11,2,195) letztlich auch auf den Sprechenden selbst zurückverweist. Die kritische, praktische Intelligenz des Cassius (»He reads much, / He is a great observer, and he looks / Quite through the deeds of men« \JC 1,2,201 203]) stellt den caesarischen Absolutheitsanspruch in Frage, und Shakespeare demaskiert den diktatorischen Herrschaftsanspruch Caesars, indem er ihm die durchaus traditionelle Intellektuellenfurcht autoritärer Herrscher zuschreibt 37. In konsequenter Fortsetzung dieser Tyrannenstilisierung zeigt Shakespeare in 11,2 einen Julius Caesar, der mehrfach betont, daß er seine Entscheidungen nicht rechtfertigen müsse, weil sein Wille gleichsam das Gesetz sei: And tell them that I will not come today. Cannot, is false; and that I dare not, falser: I will not come today. Tell them so, Decius.
[...]
The cause is in my will: I will not come. That is enough to satisfy the Senate;
(JC 11,2,62-64 und 71-72)
Obwohl diese Szene politisch unbedeutend ist, es geht nur um die Frage, ob Caesar in den Senat geht oder nicht, entlarvt Shakespeare Caesar, indem er ihm dieses eindeutige Bekenntnis seines Absolutismus in den Mund legt: Für 37 Vgl. die Detaüs und weitere Belege bei W . G . Müller, 107, insbes. die folgende markante Aussage, der hier nichts mehr hinzuzufügen bleibt (107): »Die kritische Intelligenz des Einzelnen, die intellektuelle Anstrengung, die zur Mitgestaltung drängt und die Veränderung der Gesellschaft will, stellt den cäsarischen Absolutheitsanspruch und damit die cäsarische Herrschaftsform in Frage. Die Sätze »He thinks too much: such men are dangerous« (1,2,195) können nur als Verurteilung dessen, der so etwas sagt, verstanden werden«.
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Caesar bedürfen seine Entscheidungen als Willensakte eines höheren Wesens keiner rationalen Rechtfertigung mehr. Diese Majestät Julius Caesars wird von William Shakespeare nicht nur durch die leidenschaftliche Agitation des Cassius und die ironisch-distanzierende Präsentation der schwächlichen Physis Caesars in Zweifel gezogen; Shakespeare zeichnet Caesar darüber hinaus insgesamt als Menschen, dessen geistigseelische Verfassung weitgehend von Inkongruenzen und Widersprüchen bestimmt ist. Dies bezeugen nachdrücklich Caesars ambivalente Aussagen zum Aberglauben, zu den Omina und zur Furcht 38 . In der schon herangezogenen Szene 11,2 betont Shakespeare mit der schon in 1,2 konstatierten grundsätzlich ironisierenden Präsentation seine Zweifel an Caesars vorgeblicher Willensstärke. In dieser Szene läßt sich Caesar, obwohl er mehrfach kategorisch von der unbeugsamen Festigkeit seines Willens spricht, zweimal umstimmen. Dreimal sagt Caesar geradezu apodiktisch, er wolle in den Senat; dann beschließt er seiner Frau zuliebe, zu Hause zu bleiben. Diesen neuen Entschluß teilt er genauso apodiktisch - Decius, der ihn abholen kommt, gleich viermal mit, und läßt sich noch einmal umstimmen39. Die Ermordungsszene in 111,1 ist in ähnlicher Weise konzipiert, ohne daß dies hier weiter auszuführen wäre: Shakespeare steigert dort mit in der Kritik immer wieder und zurecht gerühmter Meisterschaft Caesars Hybris ins Maßlose und legt ihm eine Rede in den Mund, in der sich Caesar selbst zu übermenschlicher Größe und zugleich zur riesenhaft unbeweglichen Statue des Caesarismus erhebt. Nahezu alles, was in der ersten Hälfte des Dramas Caesars Größe verkleinert oder gar gegen diese spricht, sind Erfindungen des Dramatikers William Shakespeare. Die Ambivalenzen in diesem Caesarbild verdeutlichen damit den Widerspruch zwischen dem selbsterhobenen Anspruch übermenschlicher Größe und den tatsächlichen, physischen und geistigen Unzulänglichkeiten des Diktators. Shakespeare wendet sich damit zugleich ganz allgemein gegen die Selbsterhöhung eines Herrschers, der sich aufgrund seiner politischen Macht dazu versteigt, sich als Gott zu fühlen und sich als Gott behandeln zu lassen. Zwei Details gilt es noch nachzutragen: die Einschätzung Caesars durch Antonius und durch Brutus. Antonius, Freund und Werkzeug Caesars, sieht in ihm - wie er unmittelbar nach der Ermordung in seinem Monolog zu erkennen gibt - den edelsten Römer, der je auf Erden wandelte:
38 Vgl. hierzu die Einzelheiten bei D . L. Carson, »The Dramatic Importance of Prodigies in Julius Caesar, Act I I , Scenei«, ELN 2 (1965), 177-180; M . Beyer, Das Staunen in Shakespeares Dramen. Ursachen, Darstellungsweisen und Wirkungsintentionen, stische Studien, Bd. 7 (Köln; Wien, 1987), bes. 172ff. ; und Baumann, Vorausdeutung und Tod, passim. 39
Vgl. die Einzelheiten bei W . G. Müller, 103 ff.
Angli-
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O , pardon me, thou bleeding piece of earth, That I am meek and gentle with these butchers! Thou art the ruins of the noblest man That ever livèd in the tide of times.
(JC 111,1,254-257)
Den deutlichsten Einblick in das Caesarbild des Brutus vermittelt Shakespeare in der berühmten Szene 11,1, dem Gartenmonolog des Brutus. Dieser Monolog des Brutus hat die Kritiker immer wieder befremdet 40, nicht zuletzt deshalb, weil es sich um die Darlegung einer schwierigen politisch-theoretischen Frage handelt, in der Brutus nach langem Ringen 41 zu einem Entschluß gekommen ist: »It must be by his death« (JC 11,1,10). Diesen Entschluß versucht nun Brutus zu rechtfertigen, und zwar als präventive Maßnahme für den hypothetischen Fall zu rechtfertigen, daß sich Caesar nach seiner Krönung zu einem Tyrannen entwickelt. Mit einem Wort, und dies paßt ganz und gar nicht zu der ansonsten im Drama präsentierten Caesar-Figur 42, Brutus sieht in 40 Vgl. hierzu wie auch zur Figur des Brutus insgesamt: J. Auffret, »The Philosophie Background of Julius Caesar«, Cahiers élisabethains 5 (1974), 66-92; R. Berman, »A Note on the Motives of Marcus Brutus«, SQ 23 (1972), 197-200; W . R. Bowden, »The M i n d of Brutus«, SQ 17 (1966), 57-67; B. R. Brewer, »A New Look at Julius Caesar«, Essays in Honor of Walter Clyde Curry (Nashville, 1954), 161-180; J. R. Dove; P. Gamble, >»Lovers in Peace< - Brutus and Cassius: A Re-Examination«, EngS 60 (1979), 543-554; D . Kaula, >»Let us be sacrificers< : Religious Motifs in Julius Caesar«, SStud 14 (1981), 197-214; J. R. Kayser; R. J. Lettieri, >»The Last of All the Romansc Shakespeare's Commentary on Classical Republicanism«, Clio 9 (1980), 197-227; R. A. Levin, »Brutus: >Noblest Roman of Them AllThou bleeding piece of earthe The Ritual Ground of Julius Caesar«, SStud 14 (1981), 175-196; R. J. Lordi, »Brutus and Hotspur«, SQ 27 (1976), 177-185; M . Piccolomini, The Brutus Revival. Parricide and Tyrannicide During the Renaissance (Carbondale; Edwards ville, 1991); Μ . E. Prior, »The Search for a Hero in Julius Caesar«, RenD N . S.2 (1969), 81-101; P. Rackin, »The Pride of Shakespeare's Brutus«, LCUP 32 (1966), 18-30; W . Reinsdorf, »Brutus, Self and Society«, NDQ 50 (1982), 83-92; S. Rish, »Shakespeare's and Plutarch's Brutus: Shakespeare's Dramatic Strategy to Undercut the Noble Image«, JRMMRA 3 (1982), 191-197; E. T . Sehrt, »Julius Caesar: Brutus«, W . Habicht; I. Schabert (Hrsg.), Sympathielenkung in den Dramen Shakespeares (München, 1978), 65-71; G. R. Smith, »Brutus, Virtue and Will«, SQ 10 (1959), 367-379; M . G. Southwell, »Dawn in Brutus' Orchard«, ELN 5 (1967), 91-98. Die einfühlsame - und auch in den Details überzeugende - Deutung von Wolfgang G. Müller (110-118) des Gartenmonologs ist für das Folgende grundlegend. 41 Dieses lange Ringen beschreibt Brutus anschaulich in JC 11,1,61-69, in Versen, die für sich selbst sprechen: »Since Cassius first did whet me against Caesar,/I have not slept. I Between the acting of a dreadful thing/And the first motion, all the interim is/Like a phantasma or a hideous dream./The genius and the mortal instruments / Are then in council, and the state of a man,/Like to a little kingdom, suffers then/The nature of an insurrection«. 42
Zwei Beispiele mögen dies exemplarisch belegen: JC 1,1,32-75 (der Triumph Caesars über die Söhne des Pompeius wird von den Tribunen Flavius und Marullus scharf - als unmenschlich und wider die Verfassung - verurteilt) und JC 1,2,282-283
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Caesar keinen wirklichen, sondern nur einen potentiellen Tyrannen. Der ganze Monolog des Brutus ist - wie in der Forschung immer wieder betont wurde 43 - geprägt von einer tiefgreifenden Tyrannenfurcht, und er ist als solcher auch eine überzeugende Analyse der Auswirkungen einer möglichen Tyrannis. Wenn jedoch selbst ein so guter Mensch wie es Caesar ja in Brutus* Augen ist, geradezu zwangsläufig zum verderblichen Tyrannen degenerieren wird, dann ist es nicht nur Caesar, sondern die Alleinherrschaft schlechthin, gegen die sich der politische Widerstand des Brutus richtet. Die Argumentation des Brutus in seinem Gartenmonolog weist, wie Wolfgang G. Müller erstmals, wenngleich nicht unwidersprochen, herausstellte44, interessante Parallelen zu den Schriften der Monarchomachen, jener Gruppe radikal republikanischer politischer Theoretiker der 70er Jahre des 16. Jahrhunderts auf (George Buchanan, De jure Regni apud scotis dialogus [1579], Anon., Vindiciae contra tyrannos [1579], Franciscus Hotomannus, Fracogallia [1573] und Theodor Beza, De iure magistratum [1576]). Sie propagierten, insbesondere in ihrer bekanntesten Schrift, der Vindiciae contra tyrannos [1579], genau wie Shakespeares Brutus ein präventives Vorgehen gegen Tyrannen; der Zeitpunkt, an dem die Verhinderung der Tyrannis nötig ist und noch erfolgversprechend scheint, ist dann gegeben, wenn - wie es in der Vindiciae contra tyrannos heißt »der Tyrann plant, intrigriert und seine Sturmgräben vorantreibt« 45. Dies unterstreicht einmal mehr die (aktuelle) politische Bedeutsamkeit dieses Römerdramas, in dem Shakespeare am Beispiel Julius Caesars sowohl die innere Widersprüchlichkeit von absolutem Herrschaftsanspruch und schwächlicher Physis, als auch die prinzipielle Opposition von Caesarismus und Republikanismus herausstellt. Diesem außerordentlich komplexen Bild von Julius Caesar entspricht das differenzierte Bild, das Shakespeare von den Verschwörern, insbesondere von Brutus, zeichnet. Antonius, der Freund Caesars, ist es, der dem Mörder Caesars - nach der Niederlage bei Philippi - mit seinen Worten gleichsam die letzte Ehre erweist:
(die Strafe für die Handlungen der Tribunen, die zugleich das Bild eines allmächtigen, drohend im Hintergrund lauernden Polizeiapparats evoziert): »Marullus and Flavius, for pulling scarfs off Caesar's images, are put to silence«. 43 Vgl. insbes. B. R. Brewer, 161-180 und W . G. Müller, 112-118, wobei Brewer aus z . T . richtigen Beobachtungen die falschen Schlüsse zieht. Vgl. insgesamt auch R. S. Miola, »Julius Caesar and the Tyrannicide Debate«. 44 W . G. Müller, 112-118; vgl. dagegen (jedoch ohne Argumente) H . Breuer, 240, Anm. 26: »Ich folge Müller allerdings nicht in der Auffassung des Brutus, den er als »radikal republikanisch« im Sinne der puritanischen Monarchomachen versteht (S. 114f)«. 45 Beya, Brutus, Hotman. Calvinistische Monarchomachen, übers, von H . Klingelhöfer; hrsg. und eingel. von J. Dennert (Köln; Opladen, 1968), 174 (vgl. W . G. Müller, 114).
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This was the noblest Roman of them all. [...] His life was gentle, and the elements So mixed in him that Nature might stand up And say to all the world, >This was a man!< ( JC V,4,68 und 73-75)
3. Shakespeares Caesarbild in den Dramen nach Julius Caesar ( 1599) Obwohl sich Shakespeares Caesarbild nach der intensiven Auseinandersetzung mit der politischen Bedeutung und der Person Caesars in seinem Drama Julius Caesar gewandelt und vertieft hat, bleibt für ihn Caesars Kriegsruhm sprichwörtlich, wie insgesamt vier Äußerungen in späteren Dramen bezeugen (AWW 111,6,49-51; Oth 11,3,115; MM 11,1,242-247; MM 111,2,42-43). Als charakteristisches und zugleich repräsentatives Beispiel mag hier ein Beleg genügen: in All's Well That Ends Well werden Caesars brillante Leistungen als Feldherr und Schlachtenlenker als vorbildlich und gleichzeitig als Maßstäbe setzend herangezogen; als sich der Second Lord für eine verlorene Schlacht entschuldigt, führt er aus: »[...] it was a disaster of war that Caesar himself could not have prevented if he had been there to command« (AWW 111,6,49-51). Wie schon in den Dramen vor 1599, so rückt auch in den späteren Dramen der Tod Caesars, bzw. seine Ermordung an den Iden des März, immer wieder ins Blickfeld des Dramatikers. Drei Passagen in Shakespeares Hamlet sind dabei von besonderem Interesse. Zunächst glaubt Horatio, als er den Geist von Hamlets gemordetem Vater sieht46, daß dies ein genauso böses Omen für die Zukunft Dänemarks ist, wie es die Omen für Rom waren, die den Tod des mächtigen Caesar ankündigten (Ham 1,1,113-125). Mit dem >Vorbild< des großen Julius Caesar akzentuiert Horatio die Bedeutsamkeit der gegenwärtigen Geistererscheinung und zugleich verweist er auf eine elementare - fest in die elisabethanischen Vorstellungen eingebundene - Wahrheit, die man nicht besser als mit den Versen von Shakespeares Calphurnia beschreiben kann (JC 11,2,30-31): »When beggars die, there are no comets seen,/The heavens 46 William Shakespeare, Hamlet, Englisch /Deutsch, hrsg., übers, und kommentiert von H . M . Klein, 2Bde. (Stuttgart, 1984), Bd. 1, 1,1,113-125: »In the most high and palmy state of R o m e , / A little ere the mightiest Julius fell,/The graves stood tenantless, and the sheeted dead/Did squeak and gibber in the Roman streets . . . / A s stars with trains of fire, and dews of blood, / Disasters in the sun; and the moist star/Upon whose influence Neptune's empire stands,/Was sick almost to doomsday with eclipse./And even the like precurse of fierce events,/As harbingers preceding still the fates/And prologue to the omen coming on, / Have heaven and earth together demonstrated / Unto our climatures and countrymen«.
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themselves blaze forth the death of princes«. Die zweite Passage, in der Julius Caesar in Hamlet Erwähnung findet, erscheint auf den ersten Blick als platter Scherz. Bevor die Schauspieler ihr Spiel beginnen, unterhält sich Hamlet mit Polonius über dessen Aktivitäten als Schauspieler an der Universität: Hamlet: What did you enact? Polonius: I did enact Julius Caesar. I was killed i'th' Capitol, Brutus killed me. Hamlet: I t was a brute part of him to kill so capital a calf there [ . . . ]
(Ham 111,2,99 -103)
Die Tatsache, daß ausgerechnet Polonius als junger Universitätsschauspieler Julius Caesar darstellte, wurde in mehreren Untersuchungen (A. Schlösser, T. A. Owen 47 ), in denen Polonius insgesamt als alberner und tölpelhafter Charakter betrachtet wird, dahingehend gedeutet, daß Shakespeare damit Caesar in einem ähnlich unvorteilhaften Licht erscheinen lasse wolle. Ungenannte Prämisse dieser Deutung ist jedoch jeweils die Annahme, daß Polonius wirklich eindeutig als ein solcher Tölpel zu werten ist, eine Annahme, die zumindest in dieser Einseitigkeit gleich mehrere textliche Zeugnisse gegen sich hat: die von Einfühlungsvermögen und Menschenkenntnis zeugenden Ratschläge, die Polonius gibt, wie auch sein so zufalliger und zugleich so tragischer Tod als Lauscher hinter der Wand mögen als Stichworte in diesem Zusammenhang genügen. Wenn man sich jedoch Caesars zwiespältigen Charakter aus dem Römerdrama Julius Caesar ins Gedächtnis ruft, so erscheint Polonius, dessen Charakter ebenfalls, wenn auch in anderer Beziehung, durch Ambiguität gekennzeichnet ist, wie geschaffen für die Rolle des Julius Caesar. Die Replik Hamlets »It was a brute part of him to kill so capital a calf« wirkt auf jeden Fall respektlos: wie schon zuvor im Drama Julius Caesar stellt Shakespeare damit den Mythos von Caesar als einer unantastbaren und über jeden Zweifel erhabenen Figur in Frage. Zugleich jedoch, und damit gewinnt dieser scheinbare Scherz auch eine politische Dimension in Shakespeares Hamlet, wird damit unmittelbar vor dem Spiel im Spiel, von dem Hamlet sich die entscheidende Antwort auf seine Frage, ob er den Tod des Vaters rächen (und den Tyrannen töten) soll, erhofft, das klassische exemplum für den Tyrannenmord und seine politischen Konsequenzen, der blutige Tod Caesars an den Iden des März, dem Publikum eindringlich ins Gedächtnis gerufen. Die dritte Erwähnung Caesars in Shakespeares Hamlet, in der berühmten Totengräberszene des fünften Akts, betont auch am Beispiel Julius Caesars die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens. Wie der zu Lehm gewordene Alexander der Große ein Bierfaß abdichten könnte, wären die Überreste des 47 A. Schlösser, »Shakespeares Julius Caesar - ein Interpretationsversuch«, Ζ Λ Λ 19 (1971), 229-260, insbes. 246; Owen, 256,
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toten Caesar, zu Staub und dann zu Lehm geworden, in der Lage, ein Loch zu stopfen, um den Wind abzuhalten: »Imperious Caesar, dead and turned to clay,/Might stop a hole to keep the wind away« (Ham V,1,207-208). Damit stehen Hamlets Gedanken in signifikantem Gegensatz zu dem festen Glauben an Caesars Unvergänglichkeit, wie ihn Prince Edward in Richard III. noch formulierte: »Death makes no conquest of this conqueror« (R3,111,1,87). Diese Beobachtung, für sich allein genommen sicherlich nicht besonders aussagekräftig, fügt sich jedoch ein in das Gesamtbild, das die übrigen Caesarerwähnungen nach 1599 vermitteln. Offene Kritik an einem Charakterzug Caesars übt Shakespeares Rosalind in der in unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft zu Julius Caesar entstandenen Komödie As You Like It (AYL, V,2,28-36). Rosalind bezeichnet die berühmte, knappe Nachricht Caesars nach seinem Sieg über Pharnakes II. (»veni, vidi, vici«) als thrasonische Prahlerei 48. In Antony and Cleopatra ist es, wiewohl durch den Handlungskontext nahegelegt, immer wieder das Liebesverhältnis Caesars zu Cleopatra, das den großen Römer in ein nicht gerade vorteilhaftes Licht setzt. Und in Cymbeline spottet die Königin ebenfalls über Caesars »veni, vidi, vici«; der König Cymbeline selbst geißelt, wie ansonsten im Gesamt werk Shakespeares nur noch Brutus, den maßlosen Ehrgeiz Caesars. Dieser Ehrgeiz Caesars ist für Cymbeline der einzige Grund für Caesars Britannienfeldzug und damit letztlich auch für das Joch, das den Britanniern durch die Tributforderung von Caesar auferlegt worden ist: [ . . . ] Caesar's ambition, Which swell'd so much that it did almost stretch The sides o' th' world, against all colour here D i d put the yoke upon's; which to shake off Becomes a warlike people, whom we reckon Ourselves to be.
(Cym, 111,1,49 - 54)
Die Auswahl der von William Shakespeare in den Dramen nach 1599 herangezogenen Details aus dem Leben Caesars ist selbstverständlich in erster Linie durch die jeweiligen Handlungskontexte bedingt; sie bezeugt allerdings zugleich ein sehr viel differenzierteres Bild von Julius Caesar als die Dramen vor 1599 erkennen lassen. Die vorbehaltlose Bewunderung für Caesar hat sich zu einer zwar nicht von jeder Bewunderung freien, so aber doch vertieften und komplexeren Betrachtung entwickelt: in den Dramen nach 1599 erscheint Julius Caesar nicht länger mehr als statischer, sondern als dynamischer - alle 48 AYL V,2,28-36: »O, I know where you are. Nay, 'tis true. There was never anything so sudden, but the fight of two rams, and Caesar's thrasonical brag of I came, saw and overcame. For your brother and my sister no sooner met, but they looked; no sooner looked, but they loved; no sooner loved, but they sighed; so sooner sighed, but they asked one another the reason; no sooner knew the reason, but they sought the remedy«.
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Gegensätzlichkeiten der menschlichen Natur in sich vereinigender - Charakter. Wenn man so will, ist der Caesar-Mythos der Dramen vor 1599 durch den weitgehend aus der Darstellung des Plutarch (re-)konstruierten historischen Caesar ersetzt worden. Diesem Wandel des Caesarbildes korrespondiert, und dies ist eine weitere Bestätigung, ein in ähnlicher Weise vertieftes und differenziertes Bild der Verschwörer, wie stellvertretend für mehrere ähnliche Passagen, in denen Brutus und Cassius entweder ohne Geringschätzung verratende Epitheta oder gar explizit als gute, ehrenwerte Römer bezeichnet werden (z.B. AôcC 11,6,13-16), A&C 111,2,54-56 bezeugen mag: »When Antony found Julius Caesar dead,/He cried almost to roaring; and he wept/When at Philippi he found Brutus slain«. Diese Verse Agrippas charakterisieren natürlich in erster Linie Antonius, zugleich jedoch weisen sie zurück, und damit schließt sich der argumentative Kreis, auf die SchlußWürdigung des Brutus durch Antonius im Drama Julius Caesar. 4. Die zeitgenössische Aktualität des Caesarbildes William Shakespeares Die - bei allen Unsicherheiten der Datierung einzelner Dramen - chronologische Untersuchung aller Passagen in Shakespeares dramatischem Werk, die Julius Caesar erwähnen oder auf ihn anspielen, läßt eine klare Entwicklung des Caesarbildes Shakespeares erkennen. Shakespeares Caesar vor dem Römerdrama Julius Caesar ist der Caesar der mittelalterlichen Tradition 49 , dessen Ruhm, militärische Meisterschaft und gewaltsamer Tod Inhalt zahlreicher Legenden ist. Er ist eine mythische, statische und mit glorreichen Taten assoziierte Figur, die über keine wirklich menschlichen Züge verfügt. Erst im Drama Julius Caesar selbst wird neben dem gleichsam mythischen Feldherrn und Herrscher erstmals auch der Mensch Julius Caesar greifbar: Shakespeare offenbart seinem Publikum an ihm Eigenschaften, die Caesars Majestät und Größe immer wieder in Frage stellen. Anstatt an seine überragenden soldatischen Fähigkeiten zu erinnern, macht Shakespeare auf Caesars Taubheit aufmerksam; Shakespeare legt seiner Caesar-Figur immer wieder großartige Behauptungen der eigenen Festigkeit und unerschütterlichen Willensstärke in den Mund und widerlegt sie noch in der gleichen Szene durch seine grundsätzlich ironisierende szenische Präsentation. Nicht Caesars Ruhm scheint für sein Leben bestimmend zu sein, sondern eine Eigenschaft, die - ins Maßlose gesteigert - unabsehbare negative Folgen haben kann (und, so fürchtet selbst Brutus, haben wird): der Ehrgeiz (»ambition«). 49 Vgl. hierzu neben den oben, Anm. 11, zusammengestellten Studien noch bes. H. Nearing, »The Legend of Julius Caesar's British Conquest«, PMLA 64 (1949), 889-929; ders., »Local Caesar Traditions in Britain«, Speculum 24 (1949), 218-227; ders., »Julius Caesar and the Tower of London«, MLN β3 (1948), 228-233.
6 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 35. Bd.
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Diese Ambivalenz der Caesarfigur, die zugleich Caesar zu einem dynamischen Charakter macht, findet ihre konsequente Fortsetzung in den Caesarerwähnungen der Dramen, die nach 1599 entstanden. Zwar bleiben für Shakespeare Caesars militärische Erfolge weiterhin sprichwörtlich, doch inkorporiert der Dramatiker nun auch kritische Bemerkungen über Caesar in seine Dramen; die knappe Siegesnachricht Caesars »veni, vidi, vici« wird gleich mehrfach zur Zielscheibe spöttischer Bemerkungen 50, und maßloser Ehrgeiz wird Caesar auch von Cymbeline zugeschrieben. Zugleich greift Shakespeare wiederholt auf Einzelheiten aus Caesars Karriere zurück, die diesen nicht vorbehaltlos in ein günstiges Licht rückten, wie die Britannienexpedition und die Liaison mit Cleopatra. Diesem Wandel des Caesarbildes korrespondiert, ohne daß dieses hier nochmals auszuführen wäre, die Einschätzung der Verschwörer, insbesondere des Brutus und des Cassius, durch Shakespeare. Dieser Befund, d.h. daß sich ein Wandel in Shakespeares Caesarbild erstmals im Drama Julius Caesar nachweisen läßt, gestattet die weitere Frage, wie denn diese gewandelte, differenzierte Sicht Shakespeares zu erklären ist. Zunächst einmal, und dies ist sicherlich die erste und naheliegendste Antwort, ist für diesen Wandel der Einfluß der Parallelbiograpbien des Plutarch kaum zu überschätzen. Die Biographien großer Griechen und Römer aus der Feder Plutarchs (in der englischen Übersetzung des Sir Thomas North), denen Shakespeare in der Folgezeit noch Anregung und Stoff für drei weitere Dramen zu verdanken haben wird 5 1 , standen ihm, wie etliche, teilweise wörtliche, Übernahmen zeigen, wohl während der gesamten Abfassungszeit des Dramas Julius Caesar zur Verfügung 52 . In der intensiven Auseinandersetzung mit Plutarch, der in seinen Lebensbeschreibungen bekanntlich keine präzise Darstellung historischer Ereignisse, sondern Charakterbilder bedeutender Männer geben wollte, schuf Shakespeare seine Figur Julius Caesar, die wie der Caesar Plutarchs insgesamt zwiespältig geschildert und aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet wird. Als einen weiteren Grund für die erstmals im Drama Julius Caesar nachweisbare differenzierte Darstellung Julius Caesars - und verbunden damit der Alleinherrschaft - wird man ganz allgemein die historisch-politische Entwick-
50 Vgl. insbes. AYL
V,2,28-36 und Cym 111,1,23-34.
51
Dies sind selbstverständlich Antony and Cleopatra (1607), The Tragedy of Coriolanus (1608) und - häufig in seiner Bedeutung unterschätzt - Timon of Athens (1605-1608). 52
Vgl. insbes. die Materialien, die P. S. Gourlay (Shakespeare' s Use of North's >Plutarch< in the Roman Plays , With Special Reference to >Julius Caesar< [Diss. Columbia Univ., 1969] und D . C. Green (Plutarch Revisited : A Study of Shakespeare's Last Roman Tragedies and their Source, SSEL JDS Bd. 78 [Salzburg, 1979]) bequem zusammenstellen und mit Blick für die Details auswerten.
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lung in den 90er Jahren des 16. Jahrhunderts betrachten dürfen 53. Dies ist wie im ersten Teil unserer Überlegungen bereits herausgestellt - naturgemäß nicht explizit beweisbar. Die immer wieder von Shakespeare ins Zentrum seiner Darstellung gerückte spezifisch politische Dimension seines Dramas Julius Caesar legt einen solchen Schluß jedoch zumindest nahe. In einer Zeit der Zunahme absolutistischer Tendenzen, in der England nach dem vielzitierten Wort eines Zeitgenossen überwacht wird, »as if it had been the household and estate of a nobleman under a strict and prying steward« 54, in einer Zeit, in der wiederholt Kritik an dem Unfehlbarkeits-Mythos der Königin laut wird (»What, cannot princes err? Cannot subjects receive wrongs? Is an earthly power or authority infinite? Pardon me, pardon me, my good Lord, I can never subscribe to these principles« 55), gewinnt das leidenschaftliche Argumentieren für die Freiheit und Gleichheit aller Bürger in der Rede des Cassius und sein ebenso vehementer Protest gegen die Erhebung Caesars zu einem Gott zeitgenössische Aktualität. Und der Caesar Shakespeares, der seinen Willen förmlich zum Gesetz erhebt, widerspricht er nicht dem verfassungsrechtlichen Denken der Shakespeare-Zeit56, wo sich längst die Einsicht durchgesetzt hat, daß der König nicht Urheber des Rechts, sondern selbst dem Recht unterworfen ist? Gleichzeitig jedoch, und dies akzentuiert nochmals die politische Brisanz des Dramas Julius Caesar y unterscheidet sich die Position der CaesarFigur Shakespeares in dieser Frage nur geringfügig vom politischen Standpunkt, den König James VI. (von Schottland) im Jahre 1598, also nur ein Jahr vor der Abfassung von Julius Caesar, eingenommen hat: »And so it followes of necessitie, that the kings were the authors and makers of the Lawes, and not the Lawes of the kings«57. Shakespeares Auseinandersetzung mit Julius Caesar und seiner Ermordung, jenem klassischen exemplum für einen Tyrannenmord, und zugleich damit Shakespeares Auseinandersetzung mit dem Caesarismus, der absoluten - fast ist man versucht zu sagen: absolutistischen - Herrschaft, führt geradezu
53
Vgl. in diesem Sinne ebenfalls W . A. Rebhorn und H . Breuer.
54
Vgl. B. L. Joseph, Shakespeare's Eden. The Commonwealth (London, 1971), 122; vgl. ebenfalls W . G. Müller, 100.
of England 1558-1629
55 W . B. Devereux, Lives and Letters of the Devereux, Earls of Essex, 2 Bde. (London, 1853), Bd. 1, 501 (Brief vom 18. Oktober 1598: Graf Essex an den Lord Keeper of the Great Seal). Vgl. eine Fülle weiterer Belege bei U. Suerbaum, Das elisabethanische Zeitalter (Stuttgart, 1989), insbes. 109 ff.
56 Vgl. eine Vielzahl von Belegen bei W . G. Müller, 107-109. 57 C. H . Mcllwain (Hrsg.), The Political Works of fames I, (New York, 1965), 62. Vgl. insgesamt die Materialien, die Robert Ashton (fames I by his Contemporaries. An Account of his Career and Character as Seen by some of his Contemporaries [London, 1969]) zusammenstellt.
6*
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zwangsläufig hinein in die aktuelle politische Diskussion der Entstehungszeit des Dramas (ich erinnere nur an die >monarchomaische< Argumentation des Brutus in seinem Gartenmonolog). Der Dramatiker Shakespeare macht in seinem Drama Julius Caesar im Grunde genau das, was König James I. (von England) in seiner großen Rede vom 26. Juli 1616 als widerrechtlich und zugleich widernatürlich bezeichnen wird 5 8 : er zeigt die Widersprüche zwischen Anspruch und Wirklichkeit des Alleinherrschers auf, widerlegt den Anspruch auf Göttlichkeit und zerstört damit die Aura des Mystischen und Übermenschlichen, mit der sich der absolute Herrscher umgibt 59 . I I I . D i e Ermordung Caesars in den Caesar-Dramen der Zeitgenossen Shakespeares
Die Mehrzahl der zahlreichen Caesar-Dramen der Zeitgenossen William Shakespeares sind, dies sei gleich unmißverständlich festgehalten, für unsere Frage nach einer zeitgenössischen politischen Aktualität vergleichsweise unergiebig 60 . In Ben Jonsons Catiline His Conspiracy (1611) agiert der aufstrebende Caesar lediglich als graue Eminenz im Hintergrund 61 , in John Fletchers The 58 Vgl. bes. C. H . Mcllwain (Hrsg.), 333 (Rede des Königs in der Star Chamber vom 26. Juni 1616): »That which concernes the mysterie of the Kings power, is not lawfull to be disputed: for that is to wade into the weaknesse of Princes, and to take away the mysticall reuerance, that belongs into them that sit in the Throne of God«. 59
Vgl. dazu zuletzt U. Baumann, »Macht der Mythologie und Mythologie der Macht. Zur politischen Interpretation antiker Mythen in der englischen Renaissance«, W . Busse (Hrsg.), Die Rückkehr des Mythos (im Druck). 60 Vgl. insgesamt zu den im folgenden nur kurz angesprochenen Dramen die ausführlichen Analysen bei Baumann, Vorausdeutung und Tod. Wir zitieren die Dramen nach den folgenden Ausgaben: G. A. Wilkes (Hrsg.), Catiline His Conspiracy, ders. (Hrsg.), This Complete Plays of Ben Jonson, based on the Edition edited by C.H. Herford and P. and E . Simpson, Bd. 3 (Oxford, 1982), 357-478; T . M . Parrott (Hrsg.), The Plays of George Chapman: The Tragedies, 2 Bde. (London; New York, 1 9 1 0 / N D 1961), Bd. 2 »Caesar and Pompey, A Roman Tragedy«, 339-400 (Text) und 655-681 (Introduction; Notes); W . Mühlfeld (Hrsg.), The Tragedie of Caesar and Pompey or Caesars Reuenge. Ein Beitrag %ur Geschichte der Caesardramen %ur Zeit Shakespeares (Diss. Münster, 1912/gedr. Weimar, 1912), 1-60; A. R. Waller (Hrsg.), »The False One, A Tragedy«, ders.; A. Glover (Hrsg.), The Works of Francis Beaumont and John Fletcher, 10 Bde. (Cambridge, 19051912), Bd. 3 (Cambridge, 1 9 0 6 / N D New York, 1969), 300-372; W . C. Hazlitt (Hrsg.), Fuimus Troes: The True Trojans, ders. (Hrsg.), A Select Collection of Old English Plays. Originally Published by Robert Dodsley in the Year 1744, Bd. 12 (London, 1 8 7 5 / N D New York, 1964), 445-536. 61 Die zeitgenössische Aktualität, die politische Brisanz dieses Römerdramas (Gunpowder-Plot!) wurde von Β. Ν . DeLuna (Jonson* s Romish Plot. A Study of >Catiline< and its Historical Context [Oxford, 1967]) insgesamt überzeugend herausgestellt, wenngleich nicht jedes Detail ihrer Analyse einer kritischen Überprüfung standhält.
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False One (1620) steht der Krieg in Alexandria, und damit Caesar als kühner Eroberer und politischer Taktiker im Mittelpunkt des Geschehens. Jasper Fisher bringt in seinem nahezu unbekannten Drama Fuimus Troes: The True Trojans (1625) die Britannienexpeditionen Caesars auf die Bühne, die Ermordung Caesars wird für. ihn, der die gesamte Handlung nach der englischen Legendentradition ausrichtet, zum Strafgericht für das Britannien zugefügte Unrecht: Be Saturn, and so thou shalt not be Tarquin. A Brutus strong Repays in fine The brutish wrong To Brutus' line .
(FT
V,1,50-54)
Der Struktur nach eine Rachetragödie ist die anonyme Tragedie of Caesar and Pompey or Caesars Reuenge (1595), in der ein klassisch ungemein gebildeter Verfasser die politisch bedeutungsvollen Ereignisse von Caesars Sieg über Pompeius bei Pharsalus (9. August 48 v.Chr.) bis zur Niederlage der Caesarmörder bei Philippi (Oktober 42 v.Chr.) seinem universitären Publikum als dramatisierte Chronik nahebringt: die Niederlage und der Tod des Pompeius sind die Ursache weiteren Unheils, die Ermordung des Pompeius führt den Tod Caesars herbei und das an den Iden des März vergossene Blut Caesars kommt über die Häupter der Verschwörer, mit deren Tod von eigener Hand die Tragödie endet. Caesars Geist selbst ist es, der diese Deutung des Geschehens bietet, bevor er, der aus dem grausigen Schattenreich emporgestiegen war, um seine Rächer im Kampf mit den Caesarmördern anzufeuern, zurückkehrt in die Welt der Toten, die nach vollzogener Rache jedoch ein Elysium für ihn sein wird, wo ewige Ruhe und die Freuden ewigen Frühlings seiner warten: Sith my reueng is full accomplished, And my deaths causers by them selues are slaine, I will descend to mine eternali home, Where euerlastingly my quiet soule The sweete Elysium pleasure shall inioy, And walke those fragrant flowry fields at rest. (CR V,1,2470-2475)
Die Caesar-Figur in George Chapmans Caesar and Pompey (1605) ist zwar ein würdiger Gegenspieler des eigentlichen Helden, des Cato Uticensis, für unsere spezielle Frage jedoch von keinerlei Interesse. Ungleich wichtiger ist die Auseinandersetzung mit der Ermordung Caesars in William Alexanders The Tragedy of Julius Caesar. Entstanden wohl unmittelbar vor der Drucklegung erschien diese Tragödie als vierte Tragödie gemeinsam mit Darius , Croesus und The Alexandrean Tragedy unter dem bezeichnenden Titel The Monarchicke Tragedies 1607 erstmals im Druck 62 . Als Quellen seiner Darstellung der Verschwö-
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rung gegen Julius Caesar und der unmittelbaren Reaktionen im Senat auf die Ermordung des Dictators dienten Alexander vornehmlich die Biographiensammlung des Plutarch, sowie die Caesar-Tragödien Marc-Antoine de Murets und Robert Garniers 63. Mit dem Kreis um Mary Sidney (bzw. Herbert), Countess of Pembroke, in vielfaltiger Weise verbunden 64, ist William Alexanders The Tragedy of Julius Caesar ein bemerkenswertes (und nahezu unbekanntes) Glied in der Kette englischer Rezitationsdramen, die sich selbst vorbehaltlos in die Tradition der Seneca-Tragödie und deren französischer Rezipienten einordnen 65. Die Konzeption der Tragedy of Julius Caesar folgt bis ins Detail der Struktur der frühen Tragödien Robert Garniers 66: der gesamte erste Akt besteht nur aus einem langen Monolog der Iuno und einem abschließenden Chor, die Akte I I bis I V entwickeln mit langen Dialogen und einzelnen, ebenso langen, Monologen die Handlung, der fünfte Akt enthält den Botenbericht über die Katastrophe, die Ermordung Caesars, und den die gesamte Tragödie beschließenden Chor. Auf der Bühne findet selbstverständlich keine Handlung statt, die Ermordung Caesars erfolgt off stage ; in keiner Szene sind mehr als fünf Figuren zugegen, die dafür jedoch mit einer Fülle von Sentenzen und allerdings nur bisweilen - lebendigen Dialogen die Handlungsarmut ausgleichen67.
« L. E. Kastner; H . B. Charlton (Hrsg.), The Poetical Works of Sir William Alexander, Earl of Stirling, Bd. 1: The Dramatic Works (Edinburgh; London, 1921), 343-442. I m folgenden zitiere ich Alexanders Tragödie nach dieser Edition, bei Zitaten löse ich Ligaturen auf. 63 Vgl. zur Text- und Editionsgeschichte Kastner / Charlton, cxci-cc. Vgl. zum Titel Monarchiche Tragedies eingehend cxci-cxciv. Vgl. ebenfalls MacCallum, bes. 39-41 und 207-211; A. M . Witherspoon, The Influence of Robert Garnier on Elizabethan Drama (New York, 1 9 2 4 / N D 1968), bes. 128-150. 64 Vgl. Witherspoon, 65 ff. und allgemeiner zu William Alexander T . H . McGrail, Sir William Alexander, First Earl of Stirling: A Biographical Study (Edinburgh, 1940); G. F. Waller, »Sir William Alexander and Renaissance Court Culture«, Aevum 51 (1977), 505515. Vgl. zum Kreis um Mary Sidney, Countess of Pembroke, zuletzt M . P. Hannay, Philip's Phoenix. Mary Sidney, Countess of Pembroke (New York; Oxford, 1990). 65 Vgl. Kastner/Charlton, cxxxvuiff.; MacCallum, bes. 19ff.; Witherspoon, 33ff. Vgl. allgemein zur Rezeption der Seneca-Tragödie in England die Forschungsberichte von R. Borgmeier (»Die englische Literatur«, E. Lefèvre [Hrsg.], Der Einfluß Senecas auf das europäische Drama [Darmstadt, 1978], 276-323) und F. Kiefer (»Seneca's Influence on Elizabethan Tragedy«, RORD 21 [1978], 17-34); vgl. ebenfalls G. Braden, Renaissance Tagedy and the Senecan Tradition, Anger's Privilege (New Haven; London, 1985), sowie zuletzt U. Baumann, »Seneca-Rezeption im neulateinischen Drama der englischen Renaissance«, Literaturwissenschaftliches fahrbuch N . F. 30 (1989), 55-77 und R. S. Miola, Shakespeare and Classical Tragedy. The Influence of Seneca (Oxford, 1992). 66
Vgl. die Details bei Kastner / Charlton, clxxviff und Witherspoon, 133ff.
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Funktional eingebunden erscheint die gesamte Verschwörung gegen Julius Caesar, den zum Tyrannen entarteten Alleinherrscher Roms (1,1,197-222), in die verhängnisvolle Rachedrohung Junos: immer noch beleidigt von der Entscheidung des Paris, Venus den Apfel der Schönheit zu überreichen, wütet die Göttin gegen Rom, den Abkömmling des verräterischen Trojaners Aeneas, und speziell gegen Caesar (1,1,237-240). Der Chor des ersten Aktes (I Ch. 290298), wie auch die parallel als Spiegelszenen68 konzipierten Dialoge zwischen Caesar und Antonius (11,1), bzw. Cicero und Decius Brutus (11,2), akzentuieren die Tyrannis Caesars und deren Auswirkungen auf das Gemeinwesen in eindrucksvoller Deutlichkeit 69 : allgemeine Unfreiheit und Heuchelei bestimme das Leben wie nie zuvor; als Quelle all dieser Übel gelte vielen einzig Caesar, dessen Stolz die ehrenhaften Bürger mit Abscheu erfülle, und dessen Machtfülle die Götter neidisch mache (11,2,907-910). Angesichts dieser bedrückenden Zustände erscheint die Beseitigung Caesars als alleiniges remedium , die Verschwörung gegen den Tyrannen wird zur logisch konsequenten Handlung. In der ersten Szene des dritten Aktes nimmt die Verschwörung gegen Caesar Gestalt an: nicht persönlicher Haß oder gar Ehrgeiz, sondern einzig das über alle freundschaftlichen Bindungen zu stellende Interesse des Gemeinwohls (»There are degrees of duty to be past, / Of which the first unto the Gods we owe,/The next t'our Countrey, to our friends the last« [111,2,1538-1540]) zwinge ihn zum Mord an Caesar, bekundet Brutus im intimen Zwiegespräch mit Cassius (111,1,1182-1202). Caesar sei ein Tyrann, der sich den Staat zur Beute genommen habe, begründet Brutus im Detail den Tyrannenmord, der ganz im Unterschied etwa zum frevelhaften Mord (»a monstrous crime«) an einem geborenen oder gewählten rechtmäßigen Monarchen - moralisch gerechtfertigt, ja geradezu gefordert werde: I f Caesar had been born, or chus'd our Prince, Then those who durst attempt to take his life, The world of treason justly might convince.
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Vgl. insgesamt die wichtigen Vorarbeiten von Bradford, Julius Caesar as a Literary Device , bes. 142-148 und Owen, bes. 176-200. Vgl. ebenfalls Mühlfeld, bes. X X I V XXV. 68 Wir fassen damit den Begriff Spiegelszene sehr viel weiter als etwa W . von Koppenfels (»Spiegelszenen als Instrument der Sympathielenkung«, W . Habicht; I. Schabert [Hrsg.], Sympathielenkung in den Dramen Shakespeares [München, 1978], 121-131) in seinem wichtigen Beitrag zur Sympathielenkung bei Shakespeare. 69
Vgl. hierzu die heuchlerische, aber darum nicht weniger prononcierte, Metaphorik des Decius: »But now great Caesar from tempestuous windes,/Romes scattered ruines recollects of late:/A Pilot meet to calme tumultuous mindes,/A fit Physitian for an anguish State« (11,2,683-686). Vgl. die detaillierte weitere Verwendung der Krankheitsmetaphorik als elementare Ergänzung der überreichen Tyrannentopik durch die Verschwörer in 11,2,871 ff; III,l,1015ff; IV,1,1701 ff.
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U w e Baumann Let still the States which flourish for the time, By subjects be inviolable thought, And those (no doubt) commit a monstrous crime, Who lawfull Soveraignty prophane in ought: And we must thinke (though how thus brought to bow) The Senate King; a subject Caesar is; The Soveraignty whom violating now, The world must damne, as having done amisse. (111,1,1280-1290)
Diese Bemerkung des Brutus erscheint - berücksichtigt man die konkrete dargestellte Situation im republikanischen Rom - als unsinnig, ja geradezu als absurd: eine Erbmonarchie oder Wahlmonarchie stellte im Grunde nicht einmal eine Denkmöglichkeit für (den historischen und auch Alexanders) Brutus dar. Man geht also sicher nicht fehl, in diesem expliziten - Brutus in den Mund gelegten - Bekenntnis zur Frevelhaftigkeit des Mordes an einem geborenen oder gewählten König, eine Huldigung William Alexanders an das Gottesgnadentum des regierenden Königs James I. (von England) zu sehen, eine Huldigung, wie sie einem schottischen Edelmann, der auf weitere Protektion am Hofe hoffte, gut zu Gesichte stand. Und damit verweist William Alexander, wie zuvor schon Shakespeare in seinem Julius Caesar, auf die aktuelle politische Situation, indem er das historische exemplum nutzt, um in allgemeiner Form über die Rechtmäßigkeit des Tyrannenmordes zu reflektieren: seine Antwort ist klar und unmißverständlich, und James wird sie gerne vernommen haben: »If Caesar had been born, or chus'd our Prince,/Then those who durst attempt to take his life,/The world of treason justly might convince«. Die weitere Handlung der Tragedy of Julius Caesar können wir übergehen, sie bietet - wie angedeutet - die staatsrechtlich, moralisch und durch den Willen der Götter sanktionierte Ermordung Caesars, in der das weitere Schicksal der Verschwörer Brutus und Cassius folgerichtig nur als Rachewunsch Calphurnias aufscheint (V,2,3030-3034). Für uns bleibt jedoch als wichtiges Ergebnis festzuhalten, daß William Alexander die Ermordung Caesars nutzt, um mit wenigen Versen zwischen der Ermordung eines rechtmäßigen Monarchen und dem Mord an Caesar zu differenzieren. Was in jener historischen Situation staatsrechtlich, moralisch und durch den Götterwillen gerechtfertigt, ja geradezu notwendig war, die Darstellung des maßlos ehrgeizigen Gewaltherrschers Caesar unterstreicht diese Deutung wirkungsvoll, wäre in einer anderen historischen Situation, in einer Erb- oder Wahlmonarchie, (etwa in England, möchte der moderne Interpret ergänzen) durch nichts zu rechtfertigen, es wäre ein Frevel wider alles göttliche und menschliche Recht. Und diese feine Differenzierung wird - so wird man vermuten dürfen - den Zuhörern und Lesern dieser Rezitationstragödie nicht entgangen sein.
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I V . D i e E r m o r d u n g tyrannischer Kaiser (und Kaiserinnen)
Mit genau der Frage, die William Alexanders Brutus so kategorisch verneint hatte, ob es zu rechtfertigen sei, einen regierenden Monarchen wegen tyrannischen Verhaltens oder schlichter und präziser: wegen verübter Verbrechen wider die natürlichen oder göttlichen Gesetze zu töten, mit der Frage des möglichen Widerstandsrechts gegen den legitimen Herrscher, der zum Tyrannen wird, konfrontierten viele der elisabethanischen und jakobäischen Dramatiker ihr Publikum, die römische Kaiser in das Zentrum ihrer Darstellung rückten. Als erste - durch die Zufalle der Überlieferung sicherlich mit zu erklärende - Tatsache gilt es sich zu vergegenwärtigen, daß alle erhaltenen englischen Römerdramen (im engeren Sinne), die Stoffe der römischen Kaiserzeit für die Bühne bearbeiteten, aus den Jahren 1603 bis 1635 stammen, also während der Regierungszeit der ersten beiden Stuartkönige entstanden. Diese Tatsache jedoch ausschließlich mit den Zufälligkeiten der historischen Überlieferung zu erklären, geht wohl nicht an, denn auch unter den verlorenen Dramen sind vor 1603 nur maximal acht Dramen bezeugt, die im weitesten Sinne kaiserzeitliche Stoffe behandeln70. Das Interesse der Dramatiker, sich mit der römischen Kaiserzeit und mit der Herrschaft römischer Kaiser dramatisch auseinanderzusetzen, scheint nach dem Herrschaftswechsel des Jahres 1603 spürbar gewachsen zu sein. Auf die möglichen Ursachen für diese nicht unbedeutende Beobachtung wird noch im Detail zurückzukommen sein. Insgesamt zehn erhaltene englische Römerdramen der Renaissance (bis 1642) lassen sich aufgrund der behandelten Stoffe zu einer Gruppe zusammenstellen71, die Episoden der Geschichte der römischen Kaiserzeit auf die 70
Es sind dies T . Ashton, Julian the Apostate (1566); Anon., Titus and Gisippus (1577); Anon., The Mad Priest of the Sun (1587); Anon., Octavia (1591); Anon., Titus and Vespasian; Anon., Diocletian (1594); Anon., Heliogabalus (1594); Anon., Julian the Apostate (1596). Nicht auszuschließen ist jedoch hierbei, daß die beiden Dramen mit dem Titel Julian the Apostate identisch sind und daß Heliogabalus als Wiederaufnahme des Dramas The Mad Priest of the Sun zu werten ist. Octavia muß ebenfalls nicht notwendigerweise ein Drama sein, das in der römischen Kaiserzeit spielt, wie S. Brandons The Tragicomoedi of the Vertuous Octavia (1598) bezeugt. Und ob das anonyme Titus and Gisippus überhaupt als Römerdrama (im engeren Sinne) anzusprechen ist, bleibt eine offene Frage, die man allein aufgrund des überlieferten Titels eher verneinen möchte. 71 W i r zitieren im folgenden nach diesen Ausgaben: W . F. Bolton (Hsg.), Ben fonson, Sejanus his Fall, The N e w Mermaids, (London, 1966); U. Baumann (Hrsg.), Claudius Tiberius Nero. A Critical Edition of the Play Published Anonymously in 1607, Bibliotheca Humanistica Bd.4 (Frankfurt/Main; Bern; N e w York; Paris, 1990); C. Hoy (Hrsg.), »Bonduca«, F. Bowers (Hrsg.), The Dramatic Works in the Beaumont and Fletcher Canon, Bd.4 (Cambridge; London; N e w York; Melbourne, 1979), 149-259; A. R. Skemp (Hrsg.), Nathanael Richards' Tragedy of Messallina The Roman Emperesse, Materialien zur Kunde des Älteren Englischen Dramas, Bd. 30 (Louvain, 1 9 1 0 / N D Nendeln, 1970); F. E. Schmid (Hrsg.), Thomas May's Tragedy of fulia Agrippina, Empresse of Rome, Nebst einem
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öffentlichen Bühnen Englands bringt, sieben davon bearbeiten Stoffe der frühen römischen Kaiserzeit. Tragödien über die Herrschergestalten und die Geschichte der Julisch-Claudischen Dynastie bilden mit sechs erhaltenen Dramen dabei den Schwerpunkt, hinzu kommt noch eine Tragödie über Domitian (81-96 n.Chr.), den letzten Kaiser des Flavischen Kaiserhauses. Ben Jonsons Sejanus His Fall (1603) zeichnet den Aufstieg und Fall des Prätorianerpräfekten und Günstlings des Kaisers Tiberius, des L. Aelius Seianus, nach; die gesamte Regierungszeit des Augustusnachfolgers, Tiberius (14-37 n.Chr.), bringt die anonyme Tragödie Claudius Tiberius Nero (1607) auf die Bühne. John Fletcher führt das Publikum mit seiner Tragödie Bonduca (1613) in die Regierungszeit des Claudius (41-54 n.Chr.) und schildert eindringlich den heroischen Kampf der Britannier unter Caratach und Bonduca gegen die römischen Eroberer. Tbe Tragedy of Messallina, The Roman Emperesse (1635) porträtiert vornehmlich die lasterhafte dritte Ehefrau des Claudius; Thomas Mays The Tragedy of Julia Agrippina, Empresse of Rome (1628) zeichnet die letzten Regierungsjähre des Claudius, die Ermordung durch Agrippina, seine vierte Gemahlin, und die ersten Jahre der Herrschaft Neros (54-68 n.Chr.) bis zur frevelhaften Ermordung Agrippinas im Jahre 59 n.Chr. nach. Die anonyme Tragödie Nero (1624) schließlich bietet eine deprimierend realistische Charakterstudie Neros (54-68 n.Chr.), des letzten Kaisers der Julisch-Claudischen Dynastie. Philip Massingers The Roman Actor (1626) schildert in ähnlich düsteren Farben das politische Klima und die ruchlosen Freveltaten der Regierungszeit des letzten flavischen Kaisers, des Domitian (81-96 n.Chr.). Zu diesen sieben Tragödien kommen noch drei weitere, die Stoffe der späten römischen Kaiserzeit für die öffentlichen Bühnen Londons einrichten: John Fletchers The Prophetess, A Tragical History (1622) schildert die gesamte Regierungszeit Diokletians (284-305 n.Chr.); in die Zeit der großen Christenverfolgung Diokletians (Beginn: 303 n.Chr.) führt Thomas Dekkers The Virgin Martyr, A Tragedy (1620) das Publikum. John Fletchers The Tragedy of Valentinian (1614) schließlich präsentiert in Art zeitgenössischer RachetragöAnhang >Die Tragoedie Nero und Thomas MayTugend< der dissimulatio. Die Zeitgenossen bescheinigen James I. ebenfalls eine große Meisterschaft in dieser hohen Kunst 88 , so daß der - scheinbar allgemein gezogene - Vergleich mit Tiberius in diesem Punkte als durchaus berechtigt erscheint; mehr noch, James I. wird von einem Zeitgenossen bescheinigt, seine Herrschaft ganz bewußt unter die 85
Vgl. zu Ben Jonsons Sejanus His Fall: D . C. Boughner, »Sejanus and Machiavelli«, SEL 1 (1961), 81-100; A. Patterson, >»Roman-cast Similitudec Ben Jonson and the English Use of Roman History«, P. A. Ramsey (Hrsg.), Rome in the Renaissance , The City and the Myth (Binghamton; New York, 1982), 381-394; Ν . H . Platz, Ethik und Rhetorik in Ben Jonsons Dramen, Anglistische Forschungen, Bd. 113 (Heidelberg, 1976), bes. 167-204; Ν . H . Platz, »>By Oblique Glance of his Licentious Pene Ben Jonson's Christian Humanist Protest against the Counter-Renaissance Conception of the State in Sejanus «, J. Hogg (Hrsg.), Recent Research on Ben Jonson, SSEL JDS Bd. 76 (Salzburg, 1978), 71-107; M . H . Wikander, >»Queasy to Be Touched