Literaturwissenschaftliches Jahrbuch: 23. Band (1982) [1 ed.] 9783428451920, 9783428051922

Das Literaturwissenschaftliche Jahrbuch wurde 1926 von Günther Müller gegründet. Beabsichtigt war, in dieser Publikation

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Literaturwissenschaftliches Jahrbuch: 23. Band (1982) [1 ed.]
 9783428451920, 9783428051922

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LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH IM AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN VON HERMANN KUNISCH THEODOR BERCHEM UND FRANZ LINK

NEUE FOLGE / DREIUNDZWANZIGSTER BAND

1982

DUNCKER & HUMBLOT · BERLIN

LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH I M AUFTRAGE DER

GÖRRES-GESELLSCHAFT

HERAUSGEGEBEN V O N PROF. DR. H E R M A N N

KUNISCH,

PROF. DR. T H E O D O R B E R C H E M U N D PROF. DR. F R A N Z

N E U E FOLGE / D R E I U N D Z W A N Z I G S T E R

LINK

BAND

1982

Das Literaturwissenschaftliche herausgegeben von Prof.

Dr.

Jahrbuch wird im Auftrage der Görres-Gesellschaft Hermann

Kunisch, Nürnberger

Straße 63,

8000

München 19, Professor D r . Theodor Berchem, Frühlingstr. 35, 8700 WürzburgLengfeld, und Professor D r . Franz Link, Eichrodtstr. 1, 7800 Freiburg. Redaktion: D r . Kurt Müller, Steinbuckstr. 2, 7830 Emmendingen 16. Das Literaturwissenschaftliche

Jahrbuch erscheint als Jahresband jeweils im U m -

fang von etwa 20 Bogen. Manuskripte sind an die Herausgeber zu senden. Unverlangt eingesandte Beiträge können nur zurückgesandt werden, wenn Rückporto beigelegt ist. Es wird dringend gebeten, die Manuskripte druckfertig, einseitig in Masdiinenschrift

einzureichen. Ein Merkblatt

für die typographische

Gestaltung

kann bei der Redaktion angefordert werden. Die Einhaltung der Vorschriften ist notwendig, damit eine einheitliche Ausstattung des Bandes gewährleistet ist. Besprechungsexemplare von Neuerscheinungen aus dem gesamten Gebiet der europäischen Literaturwissenschaft, einschließlich Werkausgaben, werden an die Adresse der Redaktion erbeten. Eine Gewähr für die Besprechung kann nicht übernommen werden. Verlag: Duncker & Humblot, Dietrich-Schäfer-Weg 9, 1000 Berlin 41.

LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH DREIUNDZWANZIGSTER

BAND

LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH I M AUFTRAGE D E R GÖRRES-GESELLSCHAFT H E R A U S G E G E B E N VON H E R M A N N K U N I S C H , THEODOR BERCHEM UND FRANZ LINK

N E U E FOLGE / D R E I U N D Z W A N Z I G S T E R

BAND

1982

D U N C K E R

&

H Ü M B L O T

/

B E R L I N

Redaktion: Kurt Müller

Alle Rechte, audi die des auszugsweisen Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe und der Ubersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1982 Duncker & Humblot, Berlin 41 Printed in Germany Gedruckt 1982 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 I S B N 3 428 05192 0

I N H A L T

AUFSÄTZE Herbert Kolb Gregorius

(München), Der

wuocher der riuwe:

Studien zu Hartmanns 9

Manfred Bambeck (Frankfurt/Main), Die Stadt Paris als »Haus des Brotes« oder zur Verweltlichung der biblischen Allegorese bei Georges Chastellain .

57

Angel San Miguel (Würzburg), D i e Comédie jouée au Mont Marguerite de Navarre

71

de Marsan

von

Hermann Heuer (Freiburg i. Br.), Dichterischer Wettstreit über das Thema der Hoffnung im englischen Literaturbarock

81

Wolfgang Wittkowski ( A l b a n y / N . Y . ) , Schrieb Kleist regierungsfreundliche A r tikel? Über den Umgang mit politischen Texten

95

Werner Kohlschmidt (Bern), Fontanes Weihnachtsfeste : Eine M o t i v - und Strukturuntersuchung 117 Robert Kauf"\ (Chicago/Ill.), D i e expressionistischen Dramen Georg Kaisers und der literarische Symbolismus 143 Willi Erzgräber (Freiburg i. Br.), Spaziergang am Strand: Zur Proteus-Episode in James Joyces Ulysses 151 Gerhard Neumann

(Freiburg i. Br.), Das Essen und die Literatur

173

Ulrich Schödlbauer (Heidelberg), Odenform und freier Vers: Antike Formmotive in moderner Dichtung 191 Albert Fuß (Würzburg), Paul Claudels Fünfte Große Ode: La maison fermée . 207 Volker Kapp (Trier), Gebet und Agitation in den Psalmen von Ernesto Cardenal 225 Bernd Engler (Freiburg i. Br.), Allen Tates und Robert Lowells »Civil W a r Odes«: Literarische Tradition und modernes Krisenbewußtsein 243 Rüdiger Ahrens (Würzburg), Transzendenz und lyrisches Ich in Ted Hughes* »Gnat-Psalm« und Geoffrey Hills Mercian Hymns 265

6

Inhalt KLEINE BEITRÄGE

Ernst Pfeiffer

(Göttingen), »Denn Rainer starb >trostlosSinn< der Geschichte, wie sie H a r t m a n n nicht nur vorfand, sondern selbst erzählt hat«3®. Ist es also unbezweifelt, daß Buße als Selbstreinigung u n d Gnade als eine v o n G o t t geschenkte Befreiung etwas bedingen, w o v o n gereinigt u n d 35 Alanus von Lille: Investigari etiam oportet, utrum peccatum tantum sit voluntatis, vel voluntatis et operis. Gravius etenim est peccatum voluntatis et operis, quam voluntatis tantum. Liber poenitentialis, lib. I , cap. 24 »Utrum peccatum sit voluntatis tantum?«; ed. Longère, t. I I , p. 33. 36 R. Ruh, Höfische Epik des Mittelalters. Erster Teil: Von den Anfängen Hartmann von Aue, Berlin 1967, S. 109 (Grundlagen der Germanistik 7).

bis zu

Der wuocher der riuwe

27

woraus befreit werden kann, so bleibt umstritten, w o r i n dieses, i n die Begriffe Schuld u n d Sünde gefaßt, i m Gregoriusleben bestehe. D i e Beurteilung der Dichtung läuft i n einem sehr erheblichen P u n k t i n die Frage der Vereinbarkeit v o n Unwissenheit u n d Schuld zusammen. Sie w i r d gemeinhin i m verneinenden Sinne beschieden unter Berufung auf eine »eindeutige[n] Feststellung der Forschung, daß der Inzest keine kanonisch fixierbare Schuld gewesen ist, weil er unwissentlich begangen wurde«. Eine solche Ansicht der Dinge, die darauf hinausläuft, daß Unwissenheit v o n Schuld freispricht, führt schließlich dazu, die Frage der Vereinbarkeit v o n Unwissenheit u n d Schuld auch i m Gregoriusleben ganz aufzuheben u n d als bedeutungslos zu erachten: »Der Unterschied zwischen wissentlich u n d unwissentlich begangener Sünde ist für das Erzählmodell irrelevant: ausschlaggebend ist die Beteiligung am Geschehen, nicht das Wissen. D i e Frage nach moralischer Verfallenheit, nach persönlich anrechenbarer Schuld i m theologischen Sinn stellt sich i n der Conversio-Legende nicht; die Größe des objektiven Vergehens ist wichtig, w e i l nur bercswœre schulde (v. 153) den Beweis erbringen, daß Gottes Gnade superabundans ist« 3 7 . Wenn i n solcher Weise alles auf die misericordia Dei gestellt ist, so w i r d man fragen müssen, ob es erlaubt u n d v o m Dichter gewollt sei, die iustitia Dei ganz aus dem Geschehen zu entrücken. Würde man aber fernerhin den Satz annehmen; »Gregorius mußte genau wissen, daß er i m kanonischen Sinne keine Schuld auf sich geladen hatte« 3 8 , so wäre man, da sich das kanonische Recht ja auf das ius divinum gründet, genötigt, den sich keiner Schuld bewußten, dabei aber Schuld bekennenden u n d büßenden Gregorius der Unaufrichtigkeit zu zeihen. E r würde dagegen verstoßen, daß geboten ist: »Nullus confiteatur peccata quae non fecit«, und er hätte die Warnung mißachtet: »Sed caveat ne falsa humilitate se reum dicat esse peccati, cujus se reum non n o v i t « 3 9 . K ö n n t e ohne das i n w i r k l i c h begangener Sünde gegründete Bewußtsein der Schuld seine Reue überhaupt noch vera contritio sein? H a r t m a n n hat sich eindeutig dafür erklärt, daß des Gregorius Inzest m i t seiner Mutter, obwohl er von beiden Seiten unwissentlich geschieht, auf bei37 Mertens, Gregorius Eremita , S. 67 - 68 und (vorhergehendes Zitat) S. 15. U n d schließlich, S. 68: »So betrachtet ist das Problem der persönlichen Schuld Gregors für den Sinn der Erzählung ohne Belang, und die Frage danach kann keine befriedigende Antwort finden, weil sie falsch gestellt ist«. 38 39

Mertens, Gregorius Eremita , S. 63.

Alanus von Lille, Liber poenitentialis, lib. I V , cap. 2; ed. Longère, t. I I , p. 162. Darauf läuft Cormeaus Auffassung hinaus: »Was soll Gregorius beichten? D i e Schuld, die er sich nicht in seinem Herzen, nur in seiner Buße zu eigen gemacht hat?« Hartmanns von Aue >Armer Heinrich< und >Gregorius< y S. 72.

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den Seiten Sünde ist 4 0 . E r steht damit nicht, wie zumeist angenommen, i n einem Gegensatz zum kanonischen Recht seiner Zeit. Dieses erklärt bei der Beurteilung begangener Sünde, daß Wissen eine Schuld schwerer, Unwissen sie leichter mache 41 , u n d dies bis zu dem Grade, daß absolut unvermeidbare, »unbesiegbare« Unwissenheit Sünde entschuldigen könne: »Plura sunt quae peccatum atténuant et excusant: impotentia, et ignorantia, si sit i n v i n c i bilis«. Ist die Unwissenheit aber »besiegbar«, entschuldigt sie begangene Sünde nicht: »Si autem ignorantia sit vincibilis, crassa et supina et affectata, non excusat.« 42 D i e Frage, die es zunächst zu klären gilt, lautet demnach: Was ist unbesiegbare Unwissenheit u n d was ist besiegbare? Diese Begriffe sind i n der Kirchenrechtslehre zumal der zweiten H ä l f t e des 12. Jahrhunderts i m Z u sammenhang der Bestimmung u n d Abstufung v o n Schuld u n d Sünde eingehend erörtert w o r d e n 4 3 . Z u r Grundlage dieser Erörterungen dient, v o n der Theologie aufgestellt, dann auch i n die kanonische Rechtslehre übernommen, zunächst das Gegensatzpaar ignorantia vincibilis : ignorantia invincibilis, w o f ü r gelegentlich auch die Charakterisierungen evitabilis : inevitabilis gewählt werden. W ä h rend der Terminus ignorantia invincibilis unabgewandelt bleibt, kommen zur Abstufung der ignorantia vincibilis später noch weitere Merkmalsbestimmungen hinzu, die allesamt i n einem stärkeren Maße auf die subjektive Komponente, die einem schuldhaften Verhalten zugrunde liegt, Rücksicht nehmen. U n t e r ihnen sind das aus der Theologie stammende Prädikat affectata (>gewollterstrebtgrobträgeauf Nachlässigkeit beruhend«). A l l e diese, zunächst als untergliedernde Bestimmungen der ignorantia vincibilis zu H i l f e genommen, werden bald m i t dieser u n d unter sich bedeutungsgleich i m H i n b l i c k auf die Schuldhaftigkeit ge40 z. B. vv. 2481 - 85: und als si dar an gelas / daz si aber versenket was / in den vil tiefen ünden / tœtlîcher sünden, / do duhte si sich unsœlic gnuoc; vv. 2 8 3 2 - 3 4 : daz hete er gerne vertragen, / ob sîner sünden sware / iht deste ringer ware. Vgl. oben Anm. 30. 41 Alanus von Lille: Praeterea inquirendum est utrum peccatum factum sit scienter vel ignoranter, quia scientia culpam aggravat, ignorantia alleviat, quia cui datum est donum majoris scientiae, transgressor majori subjacet culpae. Liber poenitentialis y lib. I , cap. 23 >Utrum peccaverit scienter vel ignoranter?< ; ed. Longère, t. I I , p. 33. 42 Alanus von Lille, Liber poenitentialis, lib. I , cap. 37 >Quae sunt circumstantiae quae plus peccatum aggravant (vel atténuant) ?Decretum Gratianu diskutiert.

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braucht: »invincibilis est pena peccati t a n t u m et non peccatum, vincibilis autem dicitur crassa et supina et est peccatum.« 4 4 Eine solche Gleichsetzung der Merkmalsbestimmungen, die zudem noch das Prädikat affectata auf die Ebene der ignorantia vincibilis stellt, findet sich auch i n dem oben zitierten Satz des Alanus. Doch nicht nur i n der Terminologie der unbesiegbaren Unwissenheit u n d der feiner differenzierten besiegbaren stimmt er m i t der Kanonistik des 12. Jahrhunderts durchweg über ein, sondern auch i n der Beurteilung, daß besiegbare Unwissenheit Sünde sei: »Et sciendum, quod duplex est ignorantia, vincibilis et invincibilis, invincibilis est pena peccati tantum et non peccatum, vincibilis a u t e m . . . est peccatum.« 45 Der Begriff der ignorantia vincibilis w i r d v o n vielen Kirchenrechtslehrern aus dem Psalmwort » N o l u i t intellegere ut bene ageret« (35, 4) begründet u n d als unentschuldbare Lässigkeit, Leichtfertigkeit u n d Mißachtung gegenüber allem Wissenkönnen verstanden: »Est etiam ignorantia eorum, q u i scire, cum possunt, nolunt [ . . . ] ; l t e m affectata, supina vel prona.« 4 8 Demzufolge beruhen auch alle weiteren Differenzierungen des Begriffs der besiegbaren U n wissenheit auf der Annahme eines posse sed nolle scire: daß nämlich die Möglichkeit des Wissens objektiv gegeben ist, diese aber durch subjektive Mängel nicht genutzt, nicht realisiert w i r d . E i n Blick auf Hartmanns u n d seiner Vorgänger Legendendichtung läßt leicht erkennen, daß die Unwissenheit über sich selbst ein Grundzug i m Leben des Gregorius ist. Doch deren A r t u n d damit auch die Grundlage, wie diese Unwissenheit jeweils zu beurteilen ist, ändern sich i m Laufe seiner Geschichte. I n Unkenntnis seiner H e r k u n f t u n d seines bisherigen Schicksals wächst der Knabe auf, nach den Umständen muß er sich für ein K i n d der Fischersleute halten; daß der A b t , auf dessen N a m e n er getauft ist, sein Pate ist, weiß er. E r lebt i n der unschuldigsten Unwissenheit bis zu dem Augenblick, als er erfährt, daß er als F i n d e l k i n d aus einer über den See herangetriebenen Barke aufgefischt worden ist. Seitdem weiß er, daß er nicht ist, was er zu sein wähnte (v. 1403). Diese Einsicht vermag i n i h m nur vorübergehend den Wunsch zu erwecken, seine Unwissenheit über sich selbst zu überwinden. Doch i m weiteren w i r d dieser v o n einer A h n u n g überlagert, die sich auf einen einzigen Gedanken einengt: vielleicht einer H e r k u n f t zu sein, die es i h m erlaubte, Ritter zu werden. 44 Summa Bambergensis zum Decretum Gratiani; nach Kuttner, Kanonistische Schuldlebre, S. 147 Anm. 2. 45 48

ibid., S. 139 Anm. 4.

Stephan von Tournai; nach Kuttner, Kanonistische Schuldlebre, S. 142 f. Anm. 4. D i e Stelle ist in der um viele der eigentlich theologischen Erörterungen gekürzten Ausgabe der Summa des Stephan von Tournai zum Dekret durch Schulte (vgl. dort S. X X V - X X V I ) nicht enthalten.

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Bis dahin ist seine Unwissenheit fürwahr unbesiegbar. D i e Umstände, i n denen er lebt, lassen nicht zu, daß er mehr wissen kann, als er weiß. Legt man zur Beurteilung dieser A r t v o n Unwissenheit ein Schema der zeitgenössischen Theologie an, so ist die ignorantia invincibilis des Kindes Gregorius ein einfaches Nichtwissen: er weiß einfach nicht, ohne das Wissen über sich selbst zu meiden oder zu suchen 47 . Doch dies ändert sich m i t dem i h m zugetragenen Wissen, daß er ein F i n d e l k i n d u n d über den See herangetrieben worden ist; es ruft i n i h m den Wunsch wach, mehr über sich zu wissen, als er weiß. Doch er hat keine Möglichkeit dazu; seine Unwissenheit ist v o n der A r t , wie die sie haben qui v o l u n t sed non possunt scire. E i n weiterer Wandel i n der Weise seiner ignorantia kündigt sich an, als der A b t i h n die Tafel lesen läßt, durch deren Inschrift er die sündigen Umstände seiner Geburt erfährt und daß er von hoher geburt, von richer habe ist (v. 1754), doch nach wie vor weiß er nichts über liute noch lant, geburt noch sîn heimuot (v. 764 f.). M a n darf erwarten, daß es i h n drängte, i n dem Augenblick, da er einen T e i l erfahren hat, noch mehr zu wissen, u n d man w i r d i n dieser E r w a r t u n g zunächst nicht enttäuscht: ich engeruowe niemer me / una wil iemer varnde sîn , / mir entuo noch gotes gnâde schîn / von wanne ich sì oder wer (vv. 1802 - 05). Dies ist sein letztes W o r t , m i t dem er v o n dem A b t scheidet, ein Wissenwollen über sich selbst. Aber hält er sich audi daran? A m weiteren Erzählgang ist leicht abzulesen, daß i m Sinne der herangezogenen Begriffsunterscheidungen die Unwissenheit des Gregorius, auf der das Verhängnis der H e i r a t m i t seiner M u t t e r beruht, v o m Z e i t p u n k t seines A b schieds aus dem geistlichen Leben an nicht unvermeidlich u n d nicht unüberw i n d b a r geblieben wäre, wenn er nur hätte wissen wollen. Doch sein Vorsatz des Wissenwollens über sich selbst scheint m i t dem Auszug i n die W e l t erloschen zu sein. Seine Unwissenheit w i r d fortan zu einem posse sed nolle scire u n d muß dies auch sein, wenn die Geschichte ihren L a u f nehmen soll. V o n einem blinden D r a n g i n die W e l t nach R i t t e r t u m u n d Abenteuer (gir zuo der werlde v . 1800) bewegt, achtet er nicht auf Ziel u n d Richtung; sie sind i h m gleichgültig. Das Schiff, das i h n hinausträgt, läßt er, wenn auch unter A n r u f u n g Gottes, treiben swarz die winde lêrten (v. 1835). Wie das L a n d u n d die Stadt heißen, v o r denen er schließlich landet, scheint i h m bedeutungslos; i h m genügt, daß es die Hauptstadt ist u n d daß sie sich i n einer Lage befindet, die i h m die willkommene Gelegenheit bietet, seine unerprobte Manneskraft u n d ritterliche Tüchtigkeit zu bewähren. Was die H e r r i n v o n L a n d u n d Hauptstadt betrifft, so gibt er sich m i t dem zufrieden, was man i h m v o n ihr erzählt:daz diu vrouwe wœre !schcene junc und âne man,!daz ir daz urliuge dar an / und diu ungenâde geschach / daz si den herzogen versprach l 47

Kuttner, Kanonistische Schuldlehre, S. 141.

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und daz sie ze state / die man versprochen hate (vv. 1896 - 1902). Daß . . . u n d daß . . . u n d daß . . . eins wie das andere; w a r u m dies alles so ist, danach fragt er nicht. Er w i l l nur wissen, wie u n d w o er sie treffen könnte. H a t er überhaupt gehört, daß sie auf immer allen Männern Absage getan hat? D a ß sie sich v o n den Leuten nicht sehen läßt u n d daß er, u m sie sehen zu können, sich i n die Kirche führen lassen muß, w o sie zu allen Tagzeiten ihr Gebet spricht, gibt i h m nicht zu denken u n d nicht zu fragen: ouch was sîn herze dar an Mint / und im unkunt genuoc / daz in diu selbe vrouwe truoc (vv. 1936 1938). Sie w i r d seine Frau, ohne daß er v o n ihr mehr weiß, als i h m v o n anderen über sie gesagt worden ist. Gregorius hätte wissen können, wenn er hätte wissen wollen. Seine U n wissenheit über sich selbst u n d über seine M u t t e r wäre besiegbar gewesen, hätte er nur den W i l l e n dazu gehabt. Doch dies ließ die Geschichte nicht zu. Sie hätte i m schmerzlich glücklichen Wiederfinden ein vorzeitiges versöhnliches Ende gefunden u n d Gregorius nicht durch die Bitternis v o n Sünde, Reue u n d Buße führen können. Es wäre unmöglich gewesen, sie zu erzählen, wenn die nicht mehr unbesiegliche Unwissenheit der Beteiligten durch sie selbst überwunden wäre. Dies macht deutlich, daß die ignorantia vincibilis des Gregorius über sich selbst unlösbar m i t der Struktur der Geschichte verknüpft ist. Besiegbare Unwissenheit aber, wie gezeigt wurde, entschuldigt nicht v o n einer Sünde, die aus ihr begangen w i r d . M a g jeder Betrachter für sich die Schwere der Unwissenheitsschuld des Gregorius an dem scholastischen Schema messen: »Ignorantia ex impossibilitate: nulla culpa, ex difficultate: levis culpa, ex negligentia: gravis culpa, ex voluntate: mortalis culpa« 4 8 , u n d dabei schwanken, welchen G r a d er ihr zuordnen solle, unstreitig dürfte dabei doch bleiben, daß nach den Beurteilungskriterien des kanonischen Rechts i n seinem Unwissen Schuld liegt. Wiege sie schwer oder leicht, i n jedem Falle drückt auf sie ein zusätzliches Gewicht, wenn sie auf einer vorhergehenden Schuld beruht. D i e ignorantia ex culpa praecedenti ist, eben durch ihren ursächlichen Zusammenhang m i t einer v o r hergehenden Schuld, i n jedem Falle schuldhaft; sie w i r d jedoch nur v o r G o t t angerechnet, nicht v o r dem Priester 40 . ScKuldvermehrend durch die culpa 48 Summa Gallicana-Bamhergensis nistische Schuldlehre, S. 144 Anm. 1.

zum Decretum Gratiani; nadi Kuttner, Kano-

49 H i e r z u Kuttner, ifrtwottiiiijc&e Schuldlehre, S. 1 4 7 - 4 9 , mit der Zusammenfassung: »Völlig entschuldigt werden: die ignorantia invincibilis, ferner die ignorantia vincibilis, die ohne vorangehende Schuld, d. h. unverdient auch den discretissimus befallen könnte. Teilweise entschuldigt werden: die ignorantia vincibilis simplex (Strafmilderung), die verdiente (ex culpa praecedenti) ignorantia vincibilis, die auch den discretissimus befallen könnte (Schuldausschluß vor der Kirche, nicht vor Gott). Zugeredinet werden die ignorantia vincibilis affectata, d. h. das scire posse sed nolle (vel negligere et contemnere) oder die ignorantia vincibilis crassa et supina« (S. 149).

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praecedens w i r k t dabei, wenn, wie i m Falle des Gregorius, die Unwissenheit als ignorantia vincibilis schon an sich, also auch ohne den Bezug auf eine vorausgehende Schuld, schuldhaft ist. Was die M u t t e r angeht, so erübrigt die Evidenz des Sachverhalts, auf die vorhergehende sündige Verbindung m i t dem Bruder mehr als einen knappen H i n w e i s zu verwenden. D i e Vermeidbarkeit ihres Unwissens v o r dem zweiten Inzest hat H a r t m a n n stärker hervorgehoben als i m Falle des Sohnes, er t u t es erzählend u n d kommentierend: A n der K l e i d u n g des auftretenden Ritters, der ihr Befreier sein w i l l , f ä l l t i h r die Übereinstimmung des Stoffes m i t demjenigen auf, den sie »mit eigener H a n d « ihrem K i n d bei dessen Aussetzung auf den See beigegeben hatte 5 0 . Doch sie geht diesem Wiedererkennen nicht auf den Grund. Sie begnügt sich m i t Mutmaßungen, die sich auf die Kleider erstrecken, doch nicht auf die Person, die sie trägt, u n d schiebt allen Hintergründen, zu denen ihre Entdeckung, wäre sie i h r nur gefolgt, hätte führen können, ein sie mehr beanspruchendes Interesse v o r : ouch behagete ir der gast / baz danne ie man getœte (vv. 1958 f.). D i e Bemerkung, m i t der H a r t m a n n dies kommentiert ( v v . 1960 - 62), sagt sehr deutlich, daß er dies für ein hochgradig schuldhaftes Verhalten erachtet. W o r i n aber liegt die vorhergehende Schuld des Gregorius, aus der seine schuldhafte ignorantia vincibilis, deren Schuldhaftigkeit noch erhöhend, erwachsen ist u n d die ihn über diese zur Inzestsünde geführt hat? D i e Frage führt n o d i tiefer i n das Schuldproblem des Gregorius hinein, u n d es ist unausweichlich, daß sich ihre Beantwortung aufs neue den Versuchen anreiht, die »schon fast bis zur Unerträglichkeit das Schuldproblem erörtern u n d aus zeitgenössischer Theologie begründen« 5 1 . 7. G r e g o r i u s '

Schuld

Das i n der Sünde seiner Eltern geborene K i n d ist v o n seiner M u t t e r auf dem See ausgesetzt worden i n der Hoffnung, daß es durch günstigen W i n d an ein Gestade getrieben würde, w o es sein H e i l fände 6 2 . D i e H o f f n u n g der M u t t e r geht i n E r f ü l l u n g ; das K i n d k o m m t nicht i n den Wellen um, sondern 50 vv. 1942 - 54; vgl. rückblickend vv. 1641 - 44. D a ß in dem nicht unüberwindlichen Nichtwissen des Sohnes wie der Mutter Schuld liegt, ist nachdrücklich hervorgehoben bei U . Ernst, »Der Antagonismus von vita carnalis und vita spiritualis im Gregorius Hartmanns von Aue. Versuch einer Werkdeutung im Horizont der patristischen und monastisdien Tradition [ I I ] « , Eupb.73 (1979), S. 5 5 - 5 9 : »Das Versäumnis, in Aquitanien nach der eigenen Herkunft zu fragen und entsprechende Nachforschungen anzustellen, ist Gregorius besonders anzulasten« (S. 55). 51 62

K . Ruh, Höfische Epik I , S. 109.

v v . 729 - 32: wan si hâte des gedingen / daz ez got solde bringen ! den liuten ze banden J die got an im erkanden.

Der wuocher der riuwe

33

g e l a n g t z u U f e r n , w o M e n s c h e n es a u f n e h m e n , d i e seinem L e b e n eine B e s t i m m u n g geben, d i e es z u m H e i l f ü h r e n s o l l . I n e i n e r F i s c h e r f a m i l i e

wird

f ü r sein leibliches W o h l gesorgt, e i n A b t s o r g t f ü r das W o h l seiner Seele, i n d e m er es z u m g e i s t l i c h e n L e b e n i n n e r h a l b e i n e r K l o s t e r g e m e i n s c h a f t

er-

ziehen läßt. D e r D i c h t e r h a t a u s d r ü c k l i c h h e r v o r g e k e h r t , w a s d i e E r z ä h l u n g bis h i e r h e r a n i n n e r e m S i n n e n t h i e l t : Es w a r G o t t e s W i l l e , d e r sich a n d e m K i n d v o l l z o g 5 3 . D i e g r o ß e A l l e g o r i e v o m M e e r als d e m L e b e n i n dieser W e l t , das d e m Menschen oder einer menschlichen Gemeinschaft z u durchqueren aufgegeben ist, i n m i t t e l a l t e r l i c h e r L i t e r a t u r u n z ä h l i g e M a l e ausgeführt 54,

findet

sich i n

dieser D i c h t u n g n u r a n g e d e u t e t . D o c h das B r u c h s t ü c k h a f t e i n i h r w e i s t

mit

g e n ü g e n d e r D e u t l i c h k e i t a u f das d a h i n t e r s t e h e n d e S i n n g a n z e . D a s G r e g o r i u s l e b e n s t e h t s i c h t b a r u n t e r d e m W i l l e n G o t t e s , s o l a n g e d e r E i g e n w i l l e des K n a b e n n o c h n i c h t e r w e c k t ist u n d n a c h h e r d e n g ö t t l i c h e n W i l l e n

durch-

k r e u z t , als j u g e n d l i c h e S e l b s t h e r r l i c h k e i t a u f l a n g e h i n v e r e i t e l t . V o n n u n a n a b e r , s o b a l d G r e g o r i u s seiner h o c h a d l i g e n H e r k u n f t

i n n e w i r d , g e r ä t sein

L e b e n S c h r i t t u m S c h r i t t u n t e r seinen e i g e n e n W i l l e n , u n d dieser 53

entfernt

vv. 785 - 88, 923 - 28. Vgl. U . Ernst (wie Anm. 50), Euph. 73 (1979), S. 16 f.

54

Die Allegorie ist auch von Alanus in der Widmung seines Liber poenitentialis an Heinrich von Sully, von 1183 bis 1199 Erzbisdiof von Bourges und Primas von Aquitanien, verwendet. D a r i n wird, dem Charakter des Buches entsprechend, die Buße als die rettende Planke bezeichnet, die den auf dem Meer dieser W e l t im geistlichen Sinne schiffbrüchig Gewordenen ans feste Land bringt: »Quoniam hujus fluctuantis mundi debaccnantes procellae plerisque spirituale comminantur naufragium, verum omnes cogunt naufragii subire periculum, vestram decet vigilantiam, tamquam spiritualem nautam Petri gubernare naviculam et naufragantibus secundam post naufragium porrigere tabulam. Haec est poenitentia quae ad portum dirigit naufragantem, viae restituit deviantem, aegro praeparat medicinam, proscriptum reducit ad patriam. »Prologus Alani ad Henricum Bituricensem patriarcham«; ed. Longère, t. I I , p. 1 7 - 1 8 . D i e Planke (tabula), die aus dem Schiffbruch des sündigen Lebens rettet, w i r d von Alanus andernorts als Sinnbild der Reue gedeutet: »Compunctio [seu contritio] secunda est tabula post naufragium. — Si ergo in abysso peccati naufragaris, adhaereas tabulae contritionis, haec excludit naufragium, haec adducit ad portum« Summa de arte predicatoria, cap. 30 »De compunzione seu contritione«; P L 2 1 0 , col. 170C bzw. 171BC. I n denDistinctiones führt Alanus die Allegorie unter dem Stichwort Mare allgemeiner aus: »Dicitur praesens saeculum [ . . . ] . Eleganter mare praesens saeculum significat; mare quippe est salsum, inquietum, turnet et fetet; sie praesens saeculum salsum est per amaritudinem, inquietum per curiositatem, turnet per superbiam, fetet per luxuriam. N a v i cula est Ecclesia. Sicut enim navicula ad optatam sine submersione pervenit regionem, ita si in fide Ecclesiae consistimus, ad simplicitatem primam salubriter pervenimus. Sed vento contrario mare turbatur, et navicula fluetibus operitur, dum, instigante maligno spiritu, praesens saeculum undique concutitur et agitatur, et contra sanetam Ecclesiam gravis et importuna ac turbulenta tentatio sive persecutio concitatur«. Liber in distinetionibus dictionum theologicalium; P L 210, col. 850D - 851 Α . Wenn die Meeresallegorie auch nicht in allem einzelnen auf das Gregoriusleben angewandt werden kann, so ist sie doch Sinnbildrahmen und -hintergrund des Ganzen. 3 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 23. Band

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i h n immer weiter v o n dem i h m durch G o t t zubestimmten geistlichen Leben. Zunächst innerlich, dann auch äußerlich; alle Vorhaltungen seines geistlichen Vaters i n den W i n d schlagend, bricht er aus dem geistlichen Leben i n die W e l t aus. Sein Weg führt i h n blindlings v o m Ufer des Heils über den See zurück an das Ufer des Unheils, an dem er, ohne es zu wissen, einstmals ausgesetzt worden war. Es ist schwer, sich v o n der bewegenden Darstellung Hartmanns gerade i n diesen Partien nicht gefangennehmen zu lassen. Das Begehren aber, das den jungen Gregorius hinaus i n die W e l t treibt, ist menschliche Verirrung i m Nachgeben an den eigenen W i l l e n u n d damit Sünde 5 5 . D e n n es steht gegen den W i l l e n Gottes, der sein Leben bisher sichtbar geleitet hatte. Keine leichte, vergebbare, sondern die schwere Sünde der superbia . W o r i n deren hervorstechendes M e r k m a l auch gesehen w i r d , ob i n der Liebe zur eigenen Vortrefflichkeit, i n der Abtrünnigkeit v o n G o t t oder i n der Fügsamkeit gegen den eigenen W i l l e n , immer ist sie, gemäß der biblischen Aussage 58 , auf welcher die Bestimmungen der superbia am meisten fußen, A n f a n g oder Wurzel, Quelle oder H a u p t aller Sünde 5 7 . Dies ist i m H i n b l i c k auf das Gregoriusleben nicht immer recht eingesehen worden. U n d wenn es dem neuzeitlichen Leser schon schwer fällt, aus der Beurteilung des Sachverhalts die i h m entgegenstehende Auffassung v o n der Autonomie des Individuums ganz auszuschalten, so hat H a r t m a n n noch einiges dazu getan, die superbia des jungen Gregorius dem Leser i n einem milderen Licht erscheinen zu lassen. Das eine, was seine Erzählung nahezulegen scheint, ist die Einschränkung des freien Willensentscheids durch die angeborene A r t , die i h m v o n Vaters u n d Mutters Seite mitgegeben worden ist. Aus Hartmanns Schilderungen (am lebhaftesten v v . 1569- 1624) könnte der Eindruck entstehen, als dränge i n Gregorius' ritterlicher gir ( ν . 1622), i n seinem wan u n d muot ze ritterschaft (v. 1514, v. 1572) eine irrationale K r a f t 55

vv. 1 5 1 5 - 2 9 , 1 7 8 5 - 9 8 .

56

Sir 10,14 - 15: »Initium superbiae hominis apostatare a D e o ; quoniam ab eo qui fecit ilium recessit cor eius, quoniam initium peccati omnis superbia. Q u i tenuerit illam adimplebitur maledictis, et subvertet eos in finem«. 57 Sehr viel konkreter und auf den jungen Gregorius näher anzuwenden sind die quattuor species superbiae, die Alanus unterscheidet: »Arrogantia scilicet, quae sibi ascribit quod non habet; insolentia, quae sibi appropriai quod aliis debet; fastus, qui multa credit de se ultra verum; contumacia, quae se erigit in praelatum.« U n d eben so lassen sich auf sein Verhalten die folgenden Bestimmungen der superbia beziehen: »Haec est quae dum se extra se quaerit, se intra se non invenit. Haec est quae hominem in generalitate facit specialem, et in universitate facit singularem, in publico solitarium, et in conventu privatum«. Summa de arte praedicatoria, cap. 10 »Contra superbiam«; P L 210, col. 132CD, vorhergehendes Zitat col. 133C. Vgl. demgegenüber Gregorius, vv. 1582 - 1608.

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z u r E n t f a l t u n g , d i e m a n als elterliches E r b t e i l b e g r e i f e n k ö n n t e ; u n d also w ä r e sein V e r h a l t e n , d a er n i c h t a n d e r s k ö n n e , v o n d a h e r m i n d e s t e n s einem Teil

entschuldigt. D e n n

wenn,

wie

oben berührt

wurde,

nur

zu die

w i l l e n t l i c h b e g a n g e n e S ü n d e als solche g i l t u n d also d i e B e t e i l i g u n g des W i l lens a n d e r S ü n d e k o n s t i t u t i v f ü r diese i s t , so setzt dies w i e d e r u m d i e F r e i h e i t des W i l l e n s e n t s c h e i d s o d e r w e n i g s t e n s e i n gewisses M a ß d a v o n v o r a u s . E r s t d i e A n n a h m e eines liberum

arbitrium

begründet Schuld u n d die V e r a n t w o r -

tung dafür. D u r c h seine B e g r i i f l i c h k e i t

hat H a r t m a n n jedoch keinen Z w e i f e l

daran

gelassen, d ä ß d u r c h d e n D r a n g seines H e l d e n z u W e l t u n d R i t t e r t u m sein f r e i e r W i l l e n i c h t i r g e n d w i e z w a n g h a f t e i n g e s c h r ä n k t i s t ; er h a t diesen D r a n g selbst r a t i o n a l i s i e r t 5 8 . N i c h t n u r , d a ß er i n d i e s e m Z u s a m m e n h a n g d e n B e g r i f f d e r art o d e r des erbe v e r m e i d e t 5 9 , er h e b t a u s d r ü c k l i c h h e r v o r , d a ß d e r W i l l e auch schon des j u n g e n G r e g o r i u s v e r n u n f t g e l e i t e t i s t : ich sage iu } sît der / daz ich bedenken mîn

muot

künde

/ beidiu

übel

unde

guot,

/ so stuont

ze

stunde

ritterschaft

( v v . 1 5 6 9 - 7 2 ) . I m ü b r i g e n l ä ß t er d i e P o s i t i o n des f r e i e n W i l l e n s -

entscheids u n d

der

daraus

resultierenden

persönlichen

Verantwortung

in

eindringlicher M a h n u n g darlegen59®; der A b t z u Gregorius: G o t t habe i h m z u r G e s t a l t u n g seines L e b e n s die vrîe

wal

gegeben, d e m z u f o l g e müsse er sich nach

sîner kür e n t s c h e i d e n ( v v . 1 4 3 6 ff.). 58 Die Begriffe, mit denen er Gregorius' Weltstreben bezeichnet, wie muoty gir , ger (v. 1589), gern (v. 1592), senen (v. 1586), sind rationaler A r t , da nach mittelalterlicher Auffassung nicht nur die Vorstellungskraft (imaginatio, die bei dem Knaben Gregorius üppig entwickelt ist), sondern audi die Willenskräfte zur Intellektualität des Menschen gerechnet werden. Dafür als Beispiel einige Kernsätze aus dem zu Hartmanns Zeit als augustinisch angesehenen Traktat eines noch nicht sicher ermittelten Autors des 12. Jahrhunderts De spiritu et anima , der seiner Qualität und autoritativen Geltung wegen in der Folge ganz oder mit Teilen in umfassendere Werke übernommen wurde: »Anima est spiritus intellectualis, rationalis, semper vivens, semper in motu, bone maleque voluntatis capax. — Anime duplices actiones sunt. — Per concupiscibilitatem namque appétit, per irascibilitatem contempnit, per rationabilitatem inter utrumque discernit. Tota anime essentia in hiis potentiis suis consistit. — Potentie anime sunt rationabilitas, concupiscibilitas et irascibilitas; vires sunt sensus, ymaginatio, ratio, memoria, intellectus et intelligentia.« Thomas Cantimpratensis, Liber de natura rerum , lib. I I »De anima et eius virtutibus naturalibus secundum beatum Augustinum«, cap. 9; ed. H . Boese, Bd. I , Berlin/New Y o r k 1973, S. 88 - 89. 59 H i e r z u Mertens, Gregorius Eremita , S. 20 unter Hinweis auf die Romanhelden Lanzelet und Parzival: »Aber wie bei ihnen (und bei Rennewart) setzt sich bei Gregor die ererbte Veranlagung, die Wolfram art nennt, durch: v. 1497 beruft er sich auf seine Sippe, v. 1696 auf das erbe — er meint die Anlagen — seines Vaters«. Diese Darlegung ist unzutreffend, wie leicht am Text nachgeprüft werden kann, und demgemäß audi die Folgerung: »Ganz im Sinn eines afrz. Sprichworts setzt sich Anlage gegen Erziehung durch: nature passe nourriture« . 59a Vgl. hierzu W . Schwarz, »Free W i l l in Hartmann's Gregorius« PBB 89 (Tüb. 1967), bes. S. 1 3 2 - 3 3 ; U . Ernst, »Der Antagonismus von vita carnalis und vita spiritualis im Gregorius Hartmanns von Aue [ I ] « , Euph. 72 (1978), S. 165.

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Das andere, was i n Hartmanns Erzählung Gregorius' Eigenmächtigkeit i n ein weniger schroffes Profil zu setzen u n d seine Sünde der superbia , hier w i r k sam als contumacia , quae se erigit in praelatum (s. oben A n m . 57), zu mildern scheint, liegt i m Verhalten des Abtes. T r o t z bewegender Einreden gibt er a m Ende nach u n d läßt dem Jungen seinen W i l l e n , ja seine Nachgiebigkeit scheint i n stillschweigende E i n w i l l i g u n g u n d i n tatkräftige M i t h i l f e überzugehen. Durch die Aushändigung des i h m anvertrauten Geldes, das durch seine ökonomische Umsicht auch noch reichliche Zinsen eingetragen hat, gibt er dem fortstrebenden Gregorius die M i t t e l i n die H a n d , die i h m die Ausführung seines Vorhabens erst möglich machen. D e r A b t ein Mitschuldiger an der Welt Verstrickung des Gregorius? Wäre er es, so bedeutete dies zumindest eine teilweise Entschuldigung, eine Milderung v o n dessen Sünde der superbia. D i e Handlungsweise des Abtes ist v o n seiner Rolle innerhalb der Geschichte eben so bestimmt wie v o n dem, was seines Amtes ist. I n der Erzähldichtung des Mittelalters sind F i k t i o n u n d Wirklichkeit nicht immer zwei streng geschiedene Bereiche. D i e Öffentlichkeit der Dichtung, d. h. daß sie i m H i n b l i c k auf ein vorhersehbares P u b l i k u m entworfen u n d v o r einem solchen vorgetragen w i r d , steht einer derartigen Trennung entgegen. Dieses n i m m t Dichtung i n der E r w a r t u n g auf, daß sie w a h r sei. U n t e r Wahrheit versteht es die Obereinstimmung des Erdichteten m i t der Wirklichkeit. Daraus folgt, daß die F i k t i o n nur dort freies Spiel hat, w o ihr eine dem P u b l i k u m erfahrbare W i r k lichkeit nicht gegenübersteht u n d w o daher das F i k t i v e sich nicht an den Gegebenheiten des Realen stoßen kann. W o F i k t i o n aber i n Konkurrenz m i t einer dem P u b l i k u m zugänglichen Wirklichkeit t r i t t , erwartet dieses Übereinstimmung i m Sinne wirklichkeitsanaloger oder doch der Wirklichkeit nicht geradewegs zuwiderlaufender Darstellung. D i e ästhetische W i r k u n g würde gestört, ja v e r w i r r t werden, w e n n die Strukturen dargebotener Erzähldichtung, die w a h r zu sein beansprucht, m i t den Strukturen der ihr konkurrierenden Wirklichkeit, die dem intendierten Publikum erfahrbar ist, i n einen Gegensatz träten. U n d nach alledem, was w i r beobachten können, trägt der Dichter i n Kenntnis der Erwartungen seines Publikums diesen Rechnung. N i c h t immer bis zu dem Grade, daß er die fiktive Wirklichkeit seiner Erzählung m i t der erfahrbaren Wirklichkeit seines Publikums i n völligen E i n k l a n g bringt, doch i n dem Maße, w i e es i h m seine Geschichte erlaubt, ohne daß die Eigengesetzlichkeit ihres Verlaufs u n d ihres Sinnes dadurch beeinträchtigt würde. E i n solches Stück wirklichkeitsanaloger Darstellung i n der F i k t i o n a l i t ä t des Gregoriuslebens liegt v o r i n dem Verhalten des Abtes gegenüber einem Schutzbefohlenen, der sich entgegen einem i h m übergeordneten W i l l e n i n die klösterliche Gemeinschaft nicht einfügen w i l l . Dieses Verhalten ist vorgezeich-

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net durch die Klosterregel, i n der Zeit u n d U m w e l t der Gregorius-Dichter wie ihres Publikums ist dies i n dominierender Weise die Benediktusregel; für eine aus der Vergangenheit für die Gegenwart erzählte Geschichte mochte sie ihnen als die Mönchsregel schlechthin gelten: »Die geistliche Lehre der Regel ist weitgehend identisch m i t der altkirchlichen Spiritualität überhaupt«.® 0 Das aus der Sünde seiner Eltern geborene u n d v o n seiner M u t t e r auf dem See ausgesetzte K i n d ist, obz ze lande / got temer gesande ( ν . 717 f.), denen, die es fänden, zur Erziehung anvertraut worden; dazu wurde i h m eine Summe Geldes beigegeben. Der A b t , an dessen Gestade es angetrieben wurde, hat es, durch die Inschrift der beigelegten Tafel dazu ermächtigt, bei sich aufgenommen u n d sorgt für die leibliche u n d geistliche Erziehung des Findelkindes. Somit erfüllt er den W i l l e n des noch lebenden Elternteils. E r befindet sich dem K i n d gegenüber also i n einer Lage, die i m Grunde derjenigen analog ist, für welche die Regel i n dem Abschnitt »Von den Söhnen der Vornehmen u n d der Armen, die dargebracht werden« v o r sieht: »Wenn ein Vornehmer seinen Sohn i m Kloster G o t t darbringt, u n d wenn dieser Knabe minderjährig ist, setzten die Eltern die oben genannte Bittschrift auf. Sie hüllen diese Bittschrift und die H a n d des Knaben zusammen m i t der Opfergäbe i n das Altartuch u n d bringen i h n so dar«. D e m K i n d der Gregoriusgeschichte ist eine Summe Geldes beigegeben, die für seine E r ziehung verwendet werden sollte; diese Verfügung des Elternteils entspricht dem i n der Regel so Festgesetzten: »Was das Vermögen betrifft, [ . . . ] wenn sie [ . . . ] etwas darbringen w o l l e n als Almosen für das Kloster u n d u m des eigenen Lohnes w i l l e n , sollen sie die M i t t e l , die sie dem Kloster geben wollen, als Schenkung vermachen, wobei sie sich — wenn es i h r W i l l e ist — , die Nutznießung vorbehalten können. A u f diese Weise werden T ü r u n d T o r versperrt, so daß dem Knaben keine Aussichten bleiben, die i h n betören und verderben könnten. — Das sei fern! — W i r wissen aus Erfahrung davon« 6 1 . I n der Verwendung des beigelegten Geldes verfährt der A b t i m Gregoriusleben nur teilweise so, wie es die Regel vorschreibt. Er gibt dem Fischer, der 60 Die Benediktsregel. Eine Anleitung zu christlichem Leben. D e r vollständige Text der Regel übers, u. erkl. v. G . Holzherr, A b t von Einsiedeln, Zürich 1980, S. 9. β1 Übersetzung Holzherr, S. 241. Saneti Benedicti Regula monasteriorum , cap. L I X »De filiis nobilium aut pauperum qui offeruntur« : »Si quis forte de nobilibus offert filium suum Deo in monasterio, si ipse puer minori aetate est, parentes eius faciant petitionem quam supra diximus; et cum oblatione ipsam petitionem et manum pueri involvant in palla altaris, et sic eum offerant. D e rebus autem suis . . . ) si ( . . . ) aliquid offerre volunt in elemosinam monasterio pro mercede sua, aciant ex rebus quas dare volunt monasterio donationem, reservato sibi, si ita voluerint, usum fructum. Atque ita omnia obstruantur, ut nulla suspicio remaneat puero, per quam deceptus perire possit, quod absit, quod experimento didicimus.« Ed. C. Butler, Freiburg/Br. 2 1927, p. 110 - 11.

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das K i n d i n seine Familie aufnimmt, zwei M a r k davon, dem anderen Fischer, der dabei war, als es aufgefunden wurde, eine M a r k , damit er Stillschweigen über den V o r f a l l bewahrte. D i e übrigbleibenden siebzehn M a r k übereignet er nicht dem Kloster als Schenkung, sondern hebt sie für den Knaben auf ; dies ist eine Konzession an den künftigen Verlauf der Geschichte u n d steht gegen die Satzung der Regel. W e n n er das Geld so anlegt, daß es sich i m Laufe der Jahre beträchtlich vermehrt — wie man später erfährt, auf nahezu das N e u n fache — , so ist dies nicht gegen die Regel, die ausdrücklich zuläßt, daß die Eltern sich die Nutznießung des beim Klostereintritt ihres Kindes mitgegebenen Vermögens vorbehalten können. N u r eben: der A b t händigt nachher m i t dem Geld auch die Zinsen dem das Kloster verlassenden Gregorius aus. Dies wiederum steht gegen die Regel, wie auch die Ausrüstung des Jünglings z u m Ritter m i t H i l f e des Geldes natürlich ganz allein der Geschichte zugehört. Auch darin, daß der A b t den der Klosterschule noch nicht Entwachsenen ziehen läßt, nachdem er eingesehen hat, daß er i h n nicht länger halten kann, handelt er, w i e es seines Amtes ist. I n dem Abschnitt » V o m Verfahren bei der Aufnahme v o n Brüdern« bestimmt die Regel über den, der schon i n die Klostergemeinschaft aufgenommen ist: »Geht er nämlich einmal auf die Verlockung des Teufels ein — was fern sei — u n d verläßt er das Kloster, dann nehme man i h m die Sachen des Klosters ab u n d stelle i h n hinaus« 8 2 . I m Grunde nicht anders handelt der A b t an Gregorius, wobei für die U n t e r schiede beachtet werden muß, daß dieser sich noch i m Stand eines frater novicius befindet u n d noch nicht das Profeß-Versprechen abgelegt hat, wennschon der A b t den Augenblick, da der Junge i n die Klostergemeinschaft aufgenommen w i r d , als nahe bevorstehend sieht 8 3 . Wenn es nach der Regel, wie sehr auch »als schimpflich empfunden« (Holzherr, S. 240 z. St.), schon dem i n die Mönchsbruderschaft v o l l Integrierten möglich ist, das Kloster wieder zu verlassen — für diesen Fall werden i h m die Kleider aufbewahrt, die er beim E i n t r i t t ins Kloster getragen hatte — , so ist der A b t durch die Regel erst recht nicht verpflichtet, den noch nicht durch die Profeß Gebundenen gegen seinen W i l l e n i m Kloster festzuhalten. Eine Mitschuld des Abtes am Auszug des Gregorius ins Weltleben k a n n demnach nicht behauptet werden. Er hat getan, was i n seinen K r ä f t e n u n d i n 82 Übersetzung Holzherr, S. 233. S aneti Benedicti Regula monasteriorum, cap. L V I I I »De disciplina suseipiendorum fratrum«: » U t si aliquando suadenti diabolo consenserit ut egrediatur de monasterio, quod absit, tunc exutus rebus monasterii proiciatur.« Ed. C . Butler, p. 110. Vgl. auch U . Ernst, Euph. 72 (1978), der mit teilweise anderen Folgerungen für das Gregoriusleben die K a p . 58 (S. 214 f.) und 59 (S. 166) der Benediktusregel zu Rate zieht. 63 vv. 1554 - 57: du bist vil wol geschaffen fLesinde: / diu kutte gestuont nie manne baz.

/ zeinem gotes kinde I und ze kor-

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seiner Macht stand, den Jungen i m geistlichen Leben zu halten. Es bleibt i h m nun, da dieser seinen Rat verworfen hat (v. 1808), nichts mehr, als seinen Schutzbefohlenen, der ja nicht einfach i n die Geborgenheit seiner Familie zurückkehren kann, nicht schutzlos i n die W e l t ziehen zu lassen; u n d dafür verwendet er das i h m anvertraute u n d durch i h n vermehrte G e l d 6 4 , das die einzige Habe ist, die der Junge besitzt. Seine geistliche Vaterschaft hat gegen den Eigenwillen des Pflegesohnes zunächst nicht ankommen können; doch sie w i r d durch das, was dieser bei i h m gelernt hat, später zur W i r k u n g gelangen. Der gegen alle Vorhaltungen u n d Belehrungen behauptete Eigenwille des Gregorius trägt allein die Verantwortung für das Unheil, dem er i n der W e l t entgegengeht. Seine superbia ist die Schuld, aus der i h m weitere Schuld erwächst, sie ist auch für i h n initium peccati omnis. Seine Unwissenheit, die i h n i n den Inzest stürzt, als ignorantia vincibilis, wie gezeigt wurde, schon an sich selbst nicht schuldfrei, ist i n erhöhtem Maße dadurch schuldhaft, daß sie die Folge der Initialsünde der superbia darstellt; sie ist eine ignorantia ec culpa praecedenti. Aus der Summierung dieser drei Elemente, die es zu analysieren galt, ergibt sich das, was die fast ins Übermaß getriebene große Buße u n d die große Gnade des Gregoriuslebens voraussetzen: die fast ins Ubermaß getriebene große Schuld des Gregorius. Wenn m i t dem soeben Dargelegten ungeachtet des Überdrusses der Interpreten das Problem der Schuld des Gregorius erneut aufgegriffen u n d m i t uneingeschränkter Bejahung, ohne Unterscheidung i n objektive u n d subjektive Schuld oder andere Subtilitäten, beantwortet wurde, so geschah dies nicht, u m die Gregoriusgeschichte i n das gedankliche u n d begriffliche Gerüst einer kanonistischen Quaestio » U t r u m peccatum ex ignorantia commissum sit poenitend u m vel non?« einzuzwängen u n d i m Widerstreit der Argumente »Quidam dicunt — Sed dicunt alii« zu diskutieren. Vielmehr ging es darum, den Sinn der Geschichte über die V i e l f a l t der kontroversen Ansichten hochzuhalten u n d i n ihr nicht untergehen zu lassen. D e n n ohne eine Schuld, eine persönlich zu verantwortende Schuld hätte die Geschichte keinen Sinn. Was wäre die Gerechtigkeit Gottes, wenn sie jemand für etwas büßen ließe, w o r a n er nicht 64 D a ß der A b t das Geld in den (siebzehn?) Jahren des Aufenthalts des Gregorius bei ihm reichlich Zinsen tragen läßt, findet sich zuerst in Hartmanns Erzählung; seine französischen Vorgänger kennen dies nicht, doch deutsche Nachfolger sind ihm darin gefolgt. D i e dadurch, vor allem angesichts des allgemeinen Zinsnahmeverbots für Geldverleihe durch das kanonische Recht aufgeworfenen Fragen behandelt P. Hölzle, Kapitalakkumulation im >Gregorius< Hartmanns von Aue, WolframStudien 4 (1977), S. 152 - 72. D i e von der Benediktusregel eingeräumte » N u t z nießung« (usus fructus 59, 5) bleibt dabei außerhalb der Betrachtung. Es dürfte, mit Bezug auf anvertrautes Geld, das für seinen Eigentümer gewinnbringend verwendet und ihm zurückerstattet wird, schwer sein, die Grenze zwischen » N u t z nießung« (usus fructus) und »Wucher« (usura) auszumachen.

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Schuld trüge? U n d was wäre seine Barmherzigkeit, wenn sie es zuließe, daß jemand i n eine Schuld geriete, für die er nichts kann? D i e Negation einer persönlichen Schuld des Gregorius würde die Abwesenheit der iustitia oder der misericordia Dei oder gar beider behaupten. D i e desperatio de Dei misericordia könnte nicht eine unvergebbare Sünde sein, wenn i n Gottes Barmherzigkeit die Möglichkeit enthalten wäre, daß sie den Sünder schuldlos sündig werden ließe. E i n einziges M a l gerät Gregorius, der, wie zu sehen war, i m Augenblick der Einsicht i n den Inzest m i t seiner M u t t e r , an dem er sich schuldig weiß, nicht der desperatio verfällt, an den R a n d der Verzweiflung, u n d dies gerade deshalb, w e i l er sich an der Sünde seiner Eltern nicht schuldig weiß u n d es nicht ist: ouwê , lieber herre, / ich bin vervallen verre / âne alle mine schulde. / wie sol ich gotes hulde / gewinnen nach der missetât / diu hie von mir geschriben stati ( v v . 1779 - 84). Auch dies läßt sehen, daß die Barmherzigkeit Gottes w i e das Irrewerden daran die persönliche Schuld des Sünders voraussetzt. Es wäre allenfalls Großmut, wenn G o t t sich des bloß i n Schuld geratenen oder gestoßenen Menschen annähme. D a ß seine Barmherzigkeit sich aber gerade dem durch seinen Eigenwillen — u n d gegen den göttlichen W i l l e n — i n Schuld geführten Menschen zuwendet, dadurch ist sie, w e i l v o m Menschen ganz u n d gar unverdient, Gnade 6 5 . 8. G r e g o r i u s '

Ritterschaft

Hartmanns Darstellung hat bei mandiem Betrachter den Eindruck hinterlassen, als gälten ihm, entgegen der allgemeinen Auffassung des Mittelalters, das geistliches Leben dem weltlichen i n allen seinen Formen, auch dem des R i t 65 Fr. Ohly, Der Verfluchte und der Erwählte. Vom Leben mit der Schuld, O p l a den 1976, urteilt S. 10 Anm. 5: »Die Einsicht, daß im Gregorius nicht das Schuldigwerden, sondern das Leben mit der Schuld zur Rede stehe, bricht im letzten Jahrzehnt sich langsam Bahn« und zieht in diesem Punkt die Monographien von W . D i t t mann (1966) und Chr. Cormeau (1966) sowie den Aufsatz von P. F. Ganz (FS. W . Schröder, 1974) auf seine Seite. Ich kann mich dieser Ansicht nicht anschließen. Denn nur wenn Schuldigwerden als ein Verhängnis erscheint, dem der Mensch nicht entrinnen kann, w i r d die Weise, wie es eintritt, unbedeutend gegenüber der Weise, wie der Mensch in der Schuld und mit ihr lebt. Dies ist im Gregorius nicht der Fall. D i e Erzählung verwendet gerade ihre lebhaftesten Partien und im Umfang den größeren Teil darauf, zu schildern, wie die Eltern des Helden und danach er selbst, während sie doch auch anders könnten, schuldig werden. Demgegenüber führt die Schuld, sobald sie den Handelnden bewußt geworden ist, aus der W e l t als dem Raum des Lebens hinaus und verwandelt dieses in ein Leben zum Tode; erst als sie auf Grund ihrer Buße durch Gottes Gnade von ihrer Schuld befreit sind, lenkt ihr irdisches Leben in die W e l t zurück und von da, jenseits der Schranke des Todes, in das ewige Leben. M i t dem U r t e i l hingegen, daß die Dichtung am Beispiel des Gregorius H i l f e und Lehre für das Leben sein will, hat er den Text ganz auf seiner Seite: »Die kühne Erzählung seiner Schuld hat der Dichter im Gedanken an mögliche Schuldige zu wagen, denen sie zur Lehre diene« (S. 10). Doch zu dieser Absicht gehört m. E. auch, zu zeigen, wodurch Schuld entsteht und daß sie nicht hätte entstehen müssen.

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tertums, überordnet, beide Lebensformen samt ihren besonderen Inhalten i m Sinne eines »Jedem das Seine« gleich viel. E i n solcher Eindruck ergibt sich aus der Gleichordnung der drei Aussagen i m Gregorius, die einmal das geistliche Leben i n der Form der monastischen Abgeschiedenheit daz süeziste leben / daz got der werlde hat gegeben (vv. 1507 f.) nennen, ein andermal ritterschaft als ein Leben bezeichnen, das, i n der rechten Weise geübt, zum H e i l führt ( v v . 1531 - 33), u n d schließlich durch den Dichter i n eigener Person rühmen lassen: êlich hîrât / daz ist daz aller beste leben / daz got der werlde hat gegeben ( v v . 2222 - 24). Doch diese Aussagen dürfen weder gleichgeordnet noch absolut genommen werden, sondern sind i m H i n b l i c k auf die Situat i o n zu beurteilen, i n denen sie vorgebracht werden. Sie haben jeweils eine besondere Intentionalität. I m ersten Falle ist es der Knabe Gregorius selbst, der aus seiner klösterlichen Erziehung urteilt. Doch schon ist i n i h m der W i l l e erwacht, dieses allerbeste Leben nicht zu dem seinen zu machen' 8 , sondern die E r f ü l l u n g seines Lebens i n der ritter schaft zu suchen u n d sein H e i l als got es ritter zu finden ( v v . 1531 - 35). M i t dem dritten U r t e i l bekräftigt H a r t m a n n den Rat der Landherren v o n Aquitanien, die ihrer Fürstin davon abraten, durch Ehelosigkeit ein so richez lant auch weiterhin ohne Erben und legitimen Nachfolger zu lassen u n d es damit nach ihrem Tode einem ungewissen Schicksal auszusetzen, u n d ihr statt dessen zum N u t z e n des Landes wie auch zu ihrem eigenen zuraten, daz si einen man name / und erben bekäme (vv. 2219 f.). Auch hier entspricht Hartmanns bekräftigende Aussage einer bestimmten menschlichen Situation i n der Gesellschaft u n d hat Geltung nur für diese Lebensordnung. N ä h m e man einen Begriff zu H i l f e , den i n der volkssprachigen Dichtung erst W o l f r a m ausgiebig verwendet, so könnte man sagen: A l l e diese Aussagen gelten nicht absolut, sondern jeweils i m H i n b l i c k auf einen bestimmten orden, i n welchem derjenige, der sie sich zu eigen macht, lebt. Gregorius aber ist durch Gottes Fügung i n das geistliche Leben geführt worden, u n d also wurde i h m durch einen höheren W i l l e n als den seinen dieser orden zubestimmt. D i e scheinbare Unvereinbarkeit der Bestimmung zum jeweils besten leben daz got der werlde hat gegeben w i r d dadurch aufgehoben, daß dieses Leben nur dann jeweils das beste i n der W e l t ist, wenn es i n Übereinstimmung m i t Gottes W i l l e n steht, der sich i n der Zuweisung eines bestimmten orden k u n d gibt, u n d nicht gegen diesen v o m menschlichen Eigenwillen angestrebt w i r d . Dies zeigt die Geschichte i n ihrem Fortgang. Gregorius' u n d seiner M u t t e r U n h e i l entsteht daraus, daß beide, die M u t t e r durch weltliche Ratgeber bew vv. 1509 - 13: swer imz ze rehte hat erkorn, / der ist salie geborn. I ich belibe hie lîhte state, l ob ich den willen hate I des ich leider niht enhan.

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Herbert Kolb

stärkt, der Sohn gegen den Rat seines geistlichen Vaters, hinfort nicht dem göttlichen W i l l e n folgen, sondern ihrem eigenen. I h r H e i l aber finden sie nicht dort, w o dieser sie zunächst hintreibt bzw. festhält; sie finden es außerhalb Von Ritterschaft u n d weltlichem Leben. D i e Geschichte gibt es aber auch daran zu erkennen, daß sie das R i t t e r t u m des Gregorius als ein bloß angemaßtes darstellt. Der junge M a n n besitzt zwar v o n Geburt alle Voraussetzungen äußerer A r t dazu, doch was i h m fehlt, ist eine seinem W i l l e n übergeordnete Berufung zur Ritterschaft. Infolgedessen bleibt sein Ziel, gotes ritter zu werden, ein unerfüllbarer Vorsatz. W i e k a n n er dies werden wollen, wenn Gottes Fügung i h n offenbar davon fernhalten wollte, Ritter zu werden? Er aber hat diesen W i l l e n u n d traut sich i n seiner hohen Selbsteinschätzung zu, alles lernen zu können, was er nur w o l l e 6 7 . Er sieht zwar ein, daß es der gewizzenheit bedarf, u m ein guter Ritter zu werden ( v v . 1564 f.), doch es ist i h m genug, darin sein eigener Lehrmeister zu sein; i h m genügt der Drang, der W i l l e , der M u t dazu, ein Selbstbewußtsein ohne Grenzen. I n Gedanken k a n n er jetzt schon mehr als der Beste (vv. 1575 - 78). I h m fehlt die lenkende u n d formende H a n d v o n außen. Auch darin ist er, wenn man einen späteren Begriff v o n auswärts zu H i l f e nehmen darf, ein selpherrisch kint. E i n wie guter Schüler i m Erlernen der Grammatik, Gottesgelehrtheit u n d Rechtskunde er auch gewesen sein mag, das erworbene Wissen ist i h m bis jetzt äußerlich geblieben, er weiß es auf sich selbst nicht anzuwenden; noch ist er unfähig dazu, seinen W i l l e n damit zu zügeln. Wie man aus seinem M u n d e hört u n d i m Weitergang der Erzählung nachher aus seinen Taten entnimmt, bleiben seine Vorstellungen v o n Ritterschaft oberflächlidi auf den Erwerb v o n guoty ere u n d prîs gerichtet (vv. 1717 f.) und rechtfertigen auch i n sich nicht sein W o r t v o n gotes ritter, der zu werden er sich zutraut. Sein R i t t e r t u m bleibt eigensinnig u n d eigensüchtig. Auch w o er sich i n den Dienst für i n N o t u n d Bedrängnis Geratene stellt, erscheint er bloß uneigennützig; i n W i r k l i c h keit ergreift er darin nur eine Gelegenheit, seinen Betätigungsdrang zu stillen. Wenn er, v o n seiner vermeintlich glückhaften Ausfahrt bis zur Landung v o r der Hauptstadt seiner M u t t e r , sich unter Gottes Geleite wähnt, so zeigt sich darin nur, wie gründlich er dessen W i l l e n verkennt u n d wie sehr er sich darin gefällt, als W i n k e des göttlichen Einverständnisses auszudeuten, was seinen Wünschen lieb u n d w i l l k o m m e n ist 6 8 . D a ß Gregorius R i t t e r aus eigener Vollmacht w i r d u n d daß er sich ohne Berufung, ohne ritterliche Erziehung u n d ohne ritterlichen Lehrmeister, m i t 67 vv. 1543 - 46: herre, ich bin ein junger man / und lerne des ich niht enkan. / swar ich die sinne wenden wily / des gelerne ich schiere vil. 68 vv. 1868 - 74: er sprach: >so bin ich rehte komen. / daz ist des ich got ie bat / daz er mich brœhte an die stat / da ich ze tuonne vunde, / daz ich mîn junge stunde / niht müezic enlœge , / da man urliuges phlsît er nû ritter ist.. .neve, nu var / und gebe dir got durch sîne craft / heil ze dîner ritterschaftSacerdos ante omnia caveat, ne de his qui ei confitentur peccata sua, alii alicui recitet, non propinquis, non extraneis, ne, quod absit, aliquod scandal u m inde proveniat. N a m si hoc fecerit, deponatur et omnibus diebus vitae suae ignominiosus peregrinando pergatfalsum< κρίσις >judicium< interpretatur« (Isidorus Hispalensis, Etymologiae , Ausg. Lindsay, Oxford 1911, X , 118) » . . . Saba rete interpretatur . . . « (Bruno Signiensis , Expositio in Job, P L 164, 576 B). S. hier ab A . 14 immer wieder die Wendung interpretatio oder interpretari.

Die Stadt Paris als »Haus des Brotes« zeichnete auch eine nach eine logie, hat

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wesensmäßig (φύσει) zum Ausdruck: Nomen est res. D a m i t w a r Basis für die allegorisierende Weltsicht gegeben. K e n n t man demBezeichnung i n ihrer ursprünglichen Sinngebung, i n ihrer E t y m o man damit auch Aufschluß über das i m letzten damit Gemeinte 9 .

Auch Chastellain operiert also m i t einer solchen Worterklärung, m i t einer Worterklärung, die sich auf Biblisches bezieht. H i e r hat dieser Verstehensmodus i m Rahmen der seit Philon u n d Origenes üblichen allegorischen Auslegung einst eine große Rolle gespielt; denn neben dem Wortsinn, der Literaloder Historialbedeutung, gab es die Übertragungen nach der Maßgabe v o n Tropologie, Allegorie ( i m engeren Sinne) u n d Anagogie. M a n hatte dafür ein Distichon, i n dem dies prägnant h e r v o r k o m m t 1 0 : Littera gesta docet, quid credas allegoria, Moralis quid agas, quo tendas anagogia.

U n d innerhalb dieser allgemeinen Tendenz zur Übertragung hatte auch die Etymologie ihren festen P l a t z 1 1 . Daß Chastellain die Ortsbezeichnung Bethlehem nun seinerseits als »Haus des Brotes« vorführt, verweist uns also m i t Sicherheit auf die alte Bibelexegese, dies u m so mehr, als er die Deutung nicht nur auf französisch, sondern noch vorher auf lateinisch gibt, was doch gerade so aussieht, als habe er sein »domus panis« wie ein wörtliches Z i t a t irgend einem Kirchenvater oder Theologen entnommen. Sehen w i r uns also i n der lateinischen Schriftsauslegung einmal um. Genesis 35, 16, 17 heißt es 12 : »Dann zogen sie v o n Betel weiter. Als sie zur Frühlingszeit noch eine kurze Wegstrecke v o n Ephrata entfernt waren, kanen Geburtswehen über Rachel, u n d sie tat sich schwer beim Gebären.« Rabanus Maurus erklärt dazu u. a., Ephrata u n d Bethlehem meinten dieselbe Stadt; denn für beide Bezeichnungen gelte die Deutung (interpretatione consimili) »fruchtbringend« u n d »Haus des Brotes«. Der Bezug gehe dabei auf

9 Siehe u. a. E. R . Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Exkurs X I V »Etymologie als Denkform«, Bern u. München (3. Aufl.) 1961, S. 486 ff.; Friedrich Ohly, Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung y Darmstadt 1977, I X , X X V I I f., 1 6 - 19, 24, 36, 52, 169; Roswitha Klinck, Die lateinische Etymologie des Mittelalters, München 1970. 10 Zit. nach H e n r i de Lubac, Exégèse médiévale. Première partie I , Paris (Aubier) 1959, S. 23.

Les quatre sens de récriture.

11 Vgl. zuletzt Werner Helmich, Die Allegorie im französischen Theater des 15. und 16. Jahrhunderts. I.Das religiöse Theater, Tübingen 1976 ( = Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie, Bd. 156), S. 265, 266. 12 I n der Vulgata: »Egressus autem inde, venit verno tempore ad terram, quae ducit Ephrata, in qua cum parturiret Rachel, 17 ob difficultatem partus periclitari coepit...»

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das Brot, das v o n sich sagt, es sei v o m H i m m e l 1 3 herabgekommen 14 . Genauso hat auch Angelomus v o n Luxueil Genesis 35, 16,17 ausgelegt 15 . Genesis 48, 7 steht i n demselben Zusammenhang geschrieben 16 : »Als ich aus Paddan kam, starb m i r Rachel unterwegs i m Lande Kanaan — es w a r Frühjahrszeit — , als nur noch eine kurze Strecke nach Ephrata war. D o r t habe ich sie am Wege nach Ephrata, das ist Bethlehem, begraben.« Guibert v o n Nogent äußert sich dazu wie f o l g t 1 7 : »Bethlehem heißt >Haus des BrotesHaus des Brotesfrugiferam< et >domum panis< vertitur, propter eum qui de coelo descendisse se dicit« (Rabanus Maurus, Comment, in Genesim, P L 107, 617 B). 15

Angelomus Luxoviensis, Comment, in Genesim, P L 115, 225 B, C.

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I n der Vulgata: » M i h i enim, quando veniebam de Mesopotamia, mortua est Rachel in terra Chanaan in ipso itinere, eratque vernum tempus, et ingrediebar Ephratam, et sepelivi eam juxta viam Ephrata, quae alio nomine appellatur Bethlehem.« 17 »Bethlehem dicitur domus panis. Alio nomine Ephrata appellatur >domus panisIn Bethleem terra JudaEt tu, Bethleem [ . . . ] < [ . . . ] arbitror Matthaeum volentem arguere scribarum et sacerdotum erga divinae Scripturae lectionem negligentiam, sic etiam posuisse ut ab eis dictum est [ . . . ] Exponamus ergo Hebraicum: Et tu Bethleem, id est >domus panis< [ . . . ] Et in utroque nomine significat sacramentum; domus enim panis dicitur, propter panem vivum, qui de coelo descendit (Joann. 6, 51) [ . . . ] Potest Ephrata in lingua nostra καρπυφόρον, >uberem< atque >frugiferumdomus panis< dicitur, ante vocata Ephrata, id est >frugiferabeeth< dicitur, et ipsa domus interpretatur, et utraque nomina Ecclesiae conveniunt. Et dignum fuit, ut domus, in qua Christus nascebatur, his nominibus ante vocaretur, quia in Ecclesia ipsius verus panis et satietas aeterna reperitur ab omnibus in veritate quaerentibus (Christianus Druthmarus Corbeiensis, Expositio in Matthaeum, P L 106, 1280 D ) . 26

Johannes 6, 51 52.

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»Bethlehem, sicut diximus, >domus panis< interpretatur, et significat Ecclesiam, in qua verus panis invenitur, id est Christus, qui dixit: >Ego sum panis vivus, qui de coelo descendi, et si quis manducaverit ex hoc pane, vi vet in aeternumHaus des Brotes< deshalb gedeutet, weil dort das Brot der Engel geboren wurde.« Z u m Schluß wollen w i r noch Bruno v o n Asti, Bischof v o n Segni, zu Matthäus 2 , 1 hören. Interessant ist i n seiner Exegese die leicht mariologische Tönung, wenn er schreibt, es sei nicht ohne tieferen Sinn gewesen, daß die M u t t e r Jesu nach dem Verlassen ihrer H e i m a t u n d ihres Vaterhauses nach Bethlehem kam, u m dort ihren Sohn auf die W e l t zu bringen. Bethlehem beinhalte »Haus des Brotes«. Jesus selber habe v o n sich gesagt: — u n d hier folgt wieder die übliche Wendung aus Johannes 6, 51 3 1 . Es w a r also w ü r d i g u n d recht, daß das lebendige Brot i m Hause des Brotes das Licht der Welt erblickte. Es sei diese Benennung auf die Tatsache v o n Christi Geburt i n Bethlehem zurückzuführen. N i c h t umgekehrt — insistiert Bruno — sei es gewesen, daß etwa Christus wegen des Namens »Haus des Brotes« dort geboren wurde, sondern diese Bezeichnung schreibt sich vielmehr v o n Christi dortiger Menschwerdung her 3 2 . Näher unserem Zusammenhang steht vielleicht die Darstellung der Geburt Christi, wie sie bei Lukas vorliegt; denn, wie w i r uns erinnern, die weitere allegorische Aufmachung bei Chastellain geht v o n dort aus 33 . Beda Venerabiiis lehrt also, der O r t , i n dem der H e r r geboren werden wollte, habe schon 29 »Bethlehem quippe >domus panis< interpretatur, ex quo nimirum praesagium inducitur futurorum, quod ibidem panis vivus, qui de coelo descendit ad refectionem eorum qui credituri erant, quandoque nasceretur. N a m antea Ephrata vocabatur, sed postea commutato vocabulo Bethlehem significantius nominatur. Gerit enim figuram totius Ecclesiae, quae domus panis non inconvenienter dici tur; in qua cotidie credentes coelesti dulcedine jam ilio aluntur cibo angelico, et saginantur, dum praegustant carnem ac sanguinem Redemptoris [ . . . ] I n Bethlehem ergo nascitur, quia vera domus panis sola Ecclesia christianorum ostenditur, extra quam panis ille coelestis non invenitur. H i n c igitur in praesepio ponitur, velut piorum uberrimus jumentorum cibus, si quos forte ratione carentes invenerat, refectos alimento spirituali ad angelicam sublimius referret dignitatem« (Paschasius Radbertus, Expositio in Matthaeum., P L 120, 125 D - 126 A ) . 30 »Bethlehem vero >domus panis< interpretatur, quia panis angelorum ibi natus est« (Anselmus Laudunensis, Enarrationes in Matthaeum, P L 162, 1253 C). 31

Vgl. hier A . 13, 2 0 , 2 6 .

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» N o n vacat a mysterio, quod beata virgo Maria relieta patria civitate et domo filium suum in Bethlehem parere venit. Bethlehem enim >domus panis< interpretatur. Jesus autem de se ipso loquitur dicens: >Ego sum panis vivus qui de coelo descendit.< Dignum ergo fuit, ut panis vivus in domo panis nasceretur, cuius Christi nativitas fuerat causa, ut sic vocaretur. Neque enim ideo Christus in ea natus est, quia sic vocabatur, sed ideo ipsa vocata sic est, quia Christus in ea oriebatur« (Bruno Signiensis, Comment, in Matthaeum , P L 165, 78 A , B). 33 Vgl. hier S. 57. Nicht nur Lukas 2, 15 ff. kommt für uns in Betracht, sondern schon Lukas 2 , 4 , wo bereits »Bethlehem« erwähnt wird: »Ascendit autem et Joseph a Galilaea de civitate Nazareth in Judaeam in civitatem D a v i d , quae vocatur Bethlehem [ . . . ] «

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vordem »Haus des Brotes« geheißen. D a r i n sei Kommendes bereits vorweggenommen, w e i l dort i n Menschengestalt erscheinen sollte, der die Seelen der Auserwählten m i t innerer Sättigung zu laben wünschte. Doch w a r das damals nicht ein einmaliges u n d punktuelles Ereignis; denn bis heute, ja bis ans Ende der Zeiten, beschließt Beda seine Ausführungen, hört der H e r r nicht auf, i n Nazareth empfangen zu werden u n d i n Bethlehem auf die W e l t zu kommen, indem ein jeder, der das feine M e h l seines Wortes aufnimmt, sich zum Hause ewigen Brotes macht 8 4 . Für einen über den Fachbereich der unmittelbaren Bibelerklärung hinausreichenden Bekanntheitsgrad der Gleichsetzung Bethlehem = Haus des Brotes spricht dann sicherlich ihr Auftreten i n der sonstigen geistlichen Literatur, i n theologischen Traktaten, vor allem aber i m Brief u n d i n der Predigt. Schon i n dem berühmten Schreiben, das der heilige Hieronymus für Eustochium beim Tode ihrer M u t t e r Paula verfaßte, erwähnt der Kirchenvater unser B i l d m i t einer Selbstverständlichkeit, die darauf schließen läßt, daß es für die Adressatin keineswegs das A i r v o n etwas Ausgefallenem hatte. H i e ronymus versetzt sich u n d seine Leserin i n das weihnachtliche Geschehen i m Stall zu Bethlehem, w o man m i t den Augen des Glaubens das K i n d i n W i n deln gewickelt sehe, den H e r r n weinend i n der Krippe, die Weisen bei der Anbetung, den Stern, der über ihnen aufleuchtete, die jungfräuliche M u t t e r , den fleißigen Nährvater, die nächtens hereinkommenden H i r t e n , die das Fleisch gewordene W o r t sehen sollten. Schon damals hätten sie den A n f a n g des Johannes-Evangeliums kundgetan: » I m A n f a n g w a r das W o r t , u n d das W o r t ist Fleisch geworden.« U n d auch das Weitere zeichnete sich ab: Der K i n d e r m o r d , das Rasen des Herodes, Joseph u n d M a r i a auf der Flucht nach Ägypten. I n die Freude mischten sich Tränen, als es hieß : Sei gegrüßt Bethlehem, Haus des Brotes, i n dem jenes Brot geboren w a r d , das v o m H i m m e l her abgestiegen k a m 8 5 . Neben der A u t o r i t ä t des heiligen Hieronymus steht dann die des heiligen Ambrosius. Er hat seinerseits außerhalb der Exegese i m 84 »Locus ergo, in quo Dominus nasceretur domus panis ante vocatus est, quia futurum profecto erat, ut ille ibi per materiam carnis apparerei, qui electorum mentes interna satietate reficeret. Sed usque hodie et usque ad consummationem saeculi Dominus in Nazareth concipi, nasci in Bethlehem non desinit, cum quilibet audientium verbi flore suscepto domum se aeterni panis efficit« (Beda Venerabiiis, In Lucae evangelium expositio, P L 92, 330 C , D ) . 85 » . . . cernere se fidei oculis infantem pannis involutum, vagientem in praesepi, D e u m magos adorantes, stellam fulgentem desuper, matrem Virginem, nutricium sedulum, pastores nocte venientes, ut viderent verbum quod caro factum erat; et jam tunc evangelistae Joannis principium dedicarent: >In principio erat verbumVerbum caro factum est< ; parvulos interfectos, Herodem saevientem, Joseph et M a riani fugientes in Aegyptum: mixtisque gaudio lacrimis, loquebatur: Salve Bethleem, domus panis, in qua natus est ille panis, qui de coelo descendit« (Hieronymus, ep. 108,10: Ad Eustochium virginem, Epitaphium Sanctae Paulae, Ausg. J. Labourt, t. V , Paris 1955, S. 168). Z u m Schluß s. hier wieder A . 31. Wie es scheint, ist die Anknüpfung an Johannes 6, 51 52 im Westen also von Hieronymus ausgegangen.

Die Stadt Paris als »Haus des Brotes«

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engeren Sinne, i n seiner A b h a n d l u n g »Über Jakob u n d das glückliche Leben«, Genesis 3 4 , 1 z i t i e r t : »Mache dich auf u n d ziehe an den O r t Bethlehem« u n d erklärt, Bethlehem stehe für das »Haus des Brotes«, w o Christus geboren wurde, wie es bereits der Prophet Michäas bezeugte 36 . Tatsächlich, bekräftigt Ambrosius, sei das Haus Christi ein Haus des Brotes; Christus sei für uns als Himmelsbrot gekommen, auf daß keiner mehr hungere, der sich diese Speise der Unsterblichkeit e r w i r b t 3 7 . Petrus Chrysologus erwähnt i n einer Predigt zum Dreikönigstag die Geburt Jesu i n Bethlehem, u m i n direkter Anrede an die »Brüder«, d. s. seine Zuhörer, hinzuzufügen, der hebräische N a m e »Bethlehem« bedeute soviel wie »Haus des Brotes«, auf daß der Glaube an die Verheißung, die Wahrheit einer Prophetie Jakobs sich erweise 38 . I m Mittelalter setzt sich dieses, der christlichen A n t i k e entstammende Streuungsareal fort. So hat Beda Venerabiiis gleich zweimal i n seiner Samuelexegese jene Bethlehemerklärung i n Erinnerung gerufen 39 . H a i m o v o n Auxerre beschäftigt sich i n einer Ansprache z u m Dreikönigsfest m i t unserer Thematik etwas eingehender. Er bemerkt, schön sei es gewesen, daß der H e r r i n Bethlehem geboren werden wollte. Bethlehem würde als »Haus des Brotes« verständlich gemacht, da dort einst der Patriarch Jakob sein V i e h weidete u n d der ö r t l i c h k e i t ihren N a m e n gab. Es geschah dies, damit der tiefere Sinn künftiger Heilserwartung aufgezeigt wurde. Bethlehem steht nämlich als Zeichen dafür, daß dort i m Stoff des Fleisches jenes wirkliche Brot Gestalt annehme, welches den Geist der Gerechten i n alle Ewigkeit erquicken sollte 4 0 . Lupus v o n Ferrières berichtet i n einem Brief an F o l k r i d i v o n seinem Kloster. Dabei läßt er audi eine Bitte u m die Zusendung v o n Brot einfließen 4 1 : » I h r 36

Vgl. hier A . 1 8 - 2 2 .

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»>Exsurgens ascende in locum BethlehemEt tu, Bethlehem.. .< Vere domus panis, quae domus Christi est, qui nobis panis salutaris advenit e coelo, ut jam nullus esuriat cibum sibi immortalitatis acquirens« (Ambrosius, De Jakob et vita beata, lib. I I , cap. 7 P L 14, 657 Α , Β). 38 » . . . Bethlehem, fratres, Hebraice domus panis vocatur, ut promissionis fides, ut prophetiae Veritas impleatur dicente Jacob . . . « (Petrus Chrysologus, sermo C L V I : De Epiphania et magis, P L 52, 612 C ) . 39 »Bethlehem domus panis interpretatur« (Beda Venerabiiis, In I Ausg. D . Hurst, Turnholti 1962, S. 138, 187).

Samuhelem,

40 »Pulchre ergo Dominus in Bethlehem nasci voluit. Bethlehem quippe domus panis interpretatur, eo quod ibi paverit Jacob patriarcha pecora sua imponens ei nomen Bethlehem ob futurae significationis mysterium [ . . . ] Locus namque, in quo Dominus nasciturus erat, ante Bethlehem vocatus est, quia futurum profecto erat, ut verus panis ibi per materiam carnis apparerei, qui electorum mentes aeterna satietate r e f i c e r e t . . . « ( H a y m o Halberstatensis [ = H a i m o von Auxerre], Homilia X V : In epiphania Domini, P L 118, 1 0 7 C , D ) . V o n » i b i . . . « bis »reficeret« hat H a i m o den Beda (vgl. hier A . 34) wortwörtlich kopiert. 41 »Comperistis, quamquam locus noster Bethlehem, hoc est >domus panis< appellatur, panis nos penuriam cito passuros, nisi vestra [ . . . ] benignitas suffragetur (Lupus abbas Ferrierensis, ep. C X X V , Ad Folcricum, P L 119, 599 C ) .

5 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 23. Band

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habt erfahren, daß w i r hier b a l d an Brotmangel leiden werden, u n d dies, o b w o h l unsere Niederlassung >Bethlehem< heißt, das ist so viel wie >Haus des BrotesTranseamus usque Bethlehem et videamus hoc verbum quod factum est.< Transeamus, inquiunt, usque Bethlehem, usque ad domum panis« (Gerhohus Reichers bergensis, Liber de laude fidei, in: Opera inedita I , Ausg. D . und O . van den Eynde und A . Rymersdael, R o m 1955, S. 203). 44 »Bethlehem quippe >domus< interpretatur. Q u i d est ergo Bethlehem Judae nisi Synagoga Judaeorum vel Ecclesia vel unaquaeque fidelis anima vel certe virgo gloriosa vel coelestis et aeterna patria? C u m enim Synagogae primo eredita fuerant eloquia Dei, domus panis fuit, quia Verbum vitae quasi panis est animae. Sed posteaquam haec eaaem verba ad filios Ecclesiae translata, sunt, per fidem et pradicationem doctorum incoepit esse domus panis Ecclesia« (Garnerius Lingonensis, sermo V I I I : In epiphania Domini, P L 205, 627 D ) . 45 Stephan Langton, »Postille super Bibliothecam«, in: G . Lacombe, »Studies on the Commentaries of Cardinal Stephen Langton«, in: Archives d'histoire doctrinale et littéraire du moyen âge, 1930, S. 91. 46 »Recte etiam in Bethlehem Christus nascitur, cuius nomen domus panis interpretatur, cum ipse sit panis vivus qui de coelo descendit« (Guilielmus Alvernus [ =

Die Stadt Paris als »Haus des Brotes«

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man »Haus des Brotes«, w e i l dort das Brot i n die W e l t kam, das unsere Labsal ist 4 7 . D a ß die i n Rede stehende Wortdeutung nicht nur i n volkssprachlichem K o n t e x t wie oben bei Chastellain, sondern regelrecht ins Französische übersetzt auftreten kann, ersieht man dann ζ . B. aus Jean V i t r i e r , einem Prediger aus der Zeit der französischen Frühreformation 4 8 : Nostre Seigneur fut nez en Bethleem, car Bethleem vault autant à dire que maison de pain par l'interprétation de ce nom Bethleem.

D a m i t w o l l e n w i r unsere Uberschau vorläufig beenden. Es hat sich gezeigt, daß die Gleichung Bethlehem = Haus des Brotes aus der altchristlichen u n d mittelalterlichen Bibelexegese k o m m t u n d v o n daher auch i n andere Sektoren der Verkündigung u n d überhaupt des religiösen u n d moralischen Schrifttums gelangt war. M a n k a n n i m H i n b l i c k auf die Häufigkeit u n d angesichts der ausgedehnten Plazierung der Testimonien nachgerade v o n einem Topos sprechen. Dabei bleibt i n a l l den Zeugnissen, die w i r bisher vorgeführt haben, der geistliche G r u n d u n d K o n t e x t weitgehend präsent. Alles spielt sich, gemäß Wesen u n d Ursprung, innerhalb des ekklesiastischen Orbitus ab. Nirgends, außer vielleicht bei Lupus v o n Ferrières, ist eine Spur jener Säkularisierung zu entdecken, die, w i e w i r eingangs bemerkten, das Kennzeichen unseres Topos bei Georges Chastellain ist. Es hat also fast den Anschein, als sei er der erste gewesen, der i n seinem politischen Engagement biblisch-kirchliches Ausdrucksgut zu propagandistischen Zwecken herangezogen u n d eingesetzt habe. Doch da waren anfangs des 13. Jahrhunderts die Studenten v o n Paris, w e i l sie sich zu ungebärdig aufgeführt hatten, zusammen m i t ihren Professoren vorübergehend nach Orléans verpflanzt worden. D o r t ging der Lehrbetrieb leidlich weiter, wozu, wie das i m Mittelalter üblich w a r , auch die E r f ü l l u n g der kirchlich vorgeschriebenen Pflichten gehörte. Es waren z . B . ganz bestimmet Gottesdienste zu besuchen. I n diesem Rahmen hielt der Kanzler P h i l i p p u. a. am 6. A p r i l 1230 v o r den zur Ostervigil versammelten Studenten u n d Scholaren eine Predigt, i n der er ihnen ganz ungeniert die Cour macht u n d v o n der prächtigen Generation spricht, die vordem i n Bethlehem war, d. i. i n Paris, dem Haus des Brotes. Es sei verwunderlich, daß dieses schöne Geschlecht i n seiner größten Hungersnot sein Haus des Brotes Wilhelm Peraldus], opera omnia , v o l . I I , Parisiis 1674, apud Andraeam Pralard, sermo II: In die Nativitatis Domini , c. 2, S. 377). 47 »Hinc Bethlehem interpretatur domus panis, quia in ea natus est panis ille, qui est refectio nostra« (Petrus Capuanus ad litt. X V , art. 65, Ausg. Ι . Β. Pitra, Spicilegium Solesmense , t. I I , Paris 1855, S. 444). 48

5*

André Godin, Uhomêliaire

de Jean Vitrier

y

Genf 1971, S. 119.

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verlassen mußte. Es handele sich dabei nicht u m den Hunger nach Brot für den Leib, sondern u m N a h r u n g für den Geist, die Gerechtigkeit 4 9 . M a n sieht also, wie der H e r r Kanzler m i t schönen Schmeichelworten seinem A u d i t o r i u m u m den Bart geht u n d sich nicht scheut, alles auf M o r a l u n d Edelsinn abzustellen, wenn es darum geht, die Sehnsucht nach Paris, das M i ß f a l l e n an dem eher provinziellen Orléans i n den bibelexegetischen Topos v o n Bethlehem als dem Haus des Brotes zu kleiden. Einem solchen Schulmilieu w a r er natürlich ohne weiteres H e r - u n d Ausholen vertraut u n d gegenwärtig. P h i l i p p aber fährt fort u n d teilt m i t , der Wunsch nach Rückkehr werde keineswegs nur Wunsch bleiben, da der Hunger, v o n dem er spricht, aufhören u n d das Brot des Geistes, die Gerechtigkeit, i n der T a t i m Überfluß bereitgestellt werde. Schon habe man j a an den K ö n i g geschrieben u n d i h n gebeten, er möge den Studiosis die Fülle seiner Gerechtigkeit angedeihen lassen. Er möge sie folglich nach Bethlehem, ins Haus des Brotes, welches Paris ist, zurückrufen u n d ihnen die Freiheiten, die ihnen der verstorbene K ö n i g P h i l i p p gütigst gewährt hatte, i n voller Liberalität u n d Unantastbarkeit erhalten 5 0 . E i n drittes u n d letztes M a l , jetzt noch angereichert m i t weiterer Metaphorik, setzt uns der Studentenprediger seine Pariser Eingemeindung des altehrwürdigen Topos vor, wenn er formuliert, es könne überhaupt nicht i n Frage kommen, daß die illustren Scholaren v o n ihrem prangenden u n d trächtigen Ackerboden, v o n Bethlehem, v o m Haus des Brotes, eben v o n Paris abgezogen w ü r d e n 5 1 . Demnach ist die Verweltlichung der Gleichung Bethlehem = Haus des Brotes, wie sie i n der Übertragung auf die bildungsmäßige u n d dann — bei Chastellain — auch politische Vorzugsstellung der Stadt Paris hervorkommt, zumindest schon i m A n f a n g des 13. Jahrhunderts faßbar, während der i m 9. Jahrhundert lebende u n d wirkende Lupus v o n Ferrières immerhin noch i m Gebrauchsbereich der Klosterökonomie verbleibt. O b nun Chastellain direkt v o n der Predigt des Kanzlers P h i l i p p beeinflußt wurde, erscheint wenig pro49 »Haec pulchra generatio erat quidem in Bethleem, id est Parisiis, quae est domus panis, et mirum est quod de domo panis, urgente necessitate famis, exire compulsa est. N o n famis scilicet panis corporalis [ . . . ] Sed panis spiritualis qui est justitia« (Sermon du chancelier Philippe, 6-4-1230, à Orleans aux ecoliers exilés de Paris en la vigile de Pâques , in: Les sermons universitaires parisiens de 1230 à 1231, p. par M . M . D a v y , Paris 1931, S. 171). 50 »Praecepit hanc famem cessare et panis spiritualis, quod est justitia, copiam abundare, quoniam scripsit regi, ut scholaribus justitiae plenitudinem exhiberet, et eos in Bethleem, id est in domum panis quae est Parisiis revocaret, ac libertates eisdem a felicis memoriae rege Philippo pie indultas liberaliter et inviolabiliter conservaret« (Ib. S. 172). 51 » N o n vult enim, quod de cetero ab agro suo florigero et fecundo, id est a Bethleem, scilicet a domo panis, id est Parisiis recedant« (Ib. S. 173).

Die Stadt Paris als »Haus des Brotes«

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babel. Vielmehr spricht einiges dafür, daß es hier noch eine Reihe v o n Z w i schengliedern gibt. Auch ist eine Vordatierung n o d i v o r den Kanzler P h i l i p p u n d v o r Lupus v o n Ferrières nicht auszuschließen. Vermutlich könnte man den Entwicklungsgang dieser Profanierung überhaupt besser i n den Griff bekommen, wenn die gesamte Überlieferung v o m 13. bis z u m Anfang des 16. Jahrhunderts leichter zugänglich wäre 5 2 . A u f f ä l l i g bleibt immerhin, daß auch bei Chastellain neben der politischen v o r allem die bildungsmäßige u n d kulturelle Vorzüglichkeit v o n Paris herausgestrichen w i r d , wenn er u. a. schreibt 53 : . . . Et semblablement ne se conclot en Paris et y florit le très noble verger de science, la racine parfonde de philosophie, la plante très précieuse et très digne de toute divine saveur, dont Pâme se nourrit, en quoy l'esprit se délitte et contemple, et s'acquiert le fruit de perfection immortelle? . . .

U n d hier begegnet dann auch, was w i r bei V i t r i e r ohne lateinische Vorlage beobachten 54 , die Übersetzung v o n »domus panis« 5 5 ins Französische, wenn unser Rhétoriqueur f o r t f ä h r t : O h ! et n'est bien doncques maison de pain, celle qui contient ces trésors, et qui jouit et possède de si faits fruits, dont tant s'assoufissent d'âmes et de corps?

V o r allem bleibt insgesamt festzuhalten, daß Chastellain an einem P u n k t steht, der über die Verweltlichung der bloßen Exegese n o d i hinausliegt; denn sein gesamter K o n t e x t ist, wie w i r uns erinnern, eine unmittelbare u n d massive säkularisierende Indienstnahme der Bibel selber. Dies scheint, soweit ich sehe, relativ jung u n d i n Frankreich systematisch erst v o n den Rhétoriqueurs eingeführt worden zu sein. Dagegen sieht es so aus, als ob die Exegese allein 52 Vieles liegt noch ungehoben in den Archiven. Gerade die Universitätspredigten, in ihrer Gänze einmal im Druck vorgelegt, wären eine eindrucksvolle D o k u mentation für die K u l t u r - und Geistesgeschichte. D a m i t wäre auch dem unfruchtbaren theorisierenden Impressionismus ein Riegel vorgeschoben. Geschichte könnte wieder mehr an die Stelle von dialektisch verkleisterter Rhetorik treten. S. jetzt den trefflichen Beitrag von Werner Helmich: »Allegorie und Geschichte . . . « , in: Formen und Funktionen der Allegorie. Symposium Wolfenbüttel 1978, herausg. von Walter Haug, Stuttgart, S. 277 ff. I m übrigen ist die Gleichsetzung Bethlehem = domus panis noch zur Zeit der Gegenreformation keineswegs vergessen, wie etwa das Beispiel des Cornelius a Lapide zeigen kann. S. dazu Manfred Bambeck, »Das Emblem der eucharistisch-marianischen Sodalität zu Aschaffenburg aus dem Jahre 1659«, in: Aschaffenburger Jahrbuch 6, 1979, S. 292. 63

Chastellain, op. cit. S. 7.

54

S. 67.

65 Vermutlich wurde die Übertragung auf Paris originär ausgelöst durch den lautlichen Anklang von panis in domus panis an Paris. Es steht dahinter wohl die etymologisierende Assoziation: panis Paris. Vgl. hier S. 67. Zur geopolitischen und kulturellen Zentralsituation von Paris s. Leonardo Olschki, Der ideale Mittelpunkt Frankreichs im Mittelalter, Heidelberg 1913.

Manfred Bambeck

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deshalb für profane Zwecke schon früher herangezogen w u r d e 5 6 , w e i l der dort gemeinte Sachverhalt nicht direkt als Gottes W o r t empfunden, die religiöse Scheu also nicht tangiert zu werden brauchte. Wenn dann i m 15. Jahrhundert auch die Heilige Schrift unmittelbar für politische Panegyrik umfunktioniert werden konnte, ist dies ein bezeichnender H i n w e i s für die geistige Situation der Z e i t 5 7 . I m übrigen ist die Geschichte des Einflusses der Bibelexegese auf die volkssprachliche Literatur, die Übernahme der dort vorgebildeten Metaphorik, des weiteren überhaupt die Entwicklung der aus dem ekklesiastischen Provenienzboden emanzipierten Symbolik erst i n Teilbereichen als Problem erkannt, ansonsten w e i t h i n n o d i eine terra incognita .

56 Z u weiterem vgl. Manfred Bambeck, » Z u einer strittigen Passage im »Vergiers d'Amor< des Guillem de Saint-Didier oder das Problem der Herkunft der allegorischen Liebesdichtung im Mittelalter«, in: Romanische Forschungen .93, 1981, S. 37 - 54. 57

Siehe Werner H e i m i d i , hier A . 52.

D I E COMÉDIE

JOUÉE

AU MONT

DE

MARSAN

V O N MARGUERITE DE NAVARRE

V o n Angel San Miguel

D i e Comédie jouée au Mont de Marsan gehört zu den letzten Werken Margaretes v o n N a v a r r a . Sie wurde wahrscheinlich 1548 geschrieben 1 u n d i n der kleinen südfranzösischen Stadt M o n t de Marsan aufgeführt. E i n Jahr danach starb die A u t o r i n , K ö n i g i n v o n N a v a r r a u n d Schwester des französischen Königs Franz I . , i m A l t e r v o n 57 Jahren. I n der comédie selbst treten vier allegorische Frauengestalten auf, die an der mittelalterlichen »moralités« erinnern: die »Mondainne« (die Weltliche), die »Supersticieuse« (die Abergläubische oder vielleicht besser: die Frömmlerin), die »Sage« (die Weise) u n d die »Ravie de l'amour de Dieu«, eine Hirtin. Zuerst erscheint die Mondainne auf der Bühne u n d stellt sich den Z u schauern vor, indem sie ihre persönliche Weltanschauung u n d Lebensweise bekannt macht: Sie liebt, pflegt, schmückt u n d befriedigt nur ihren Leib, w e i l er schön ist u n d sie i h n m i t den Sinnen wahrnehmen kann. U m ihre Seele dagegen kümmert sie sich überhaupt nicht, da sie — wie sie meint — i m Gegensatz z u m Körper nicht sinnlich wahrnehmbar sei. Als zweite t r i t t die Supersticieuse auf. Auch sie stellt sich dem P u b l i k u m vor. I m Gegensatz zur Mondainne achtet sie nur auf ihre Seele, für deren H e i l sie stets Werke der Frömmigkeit v o l l b r i n g t : Sie betet den Rosenkranz u n d das Brevier, preist die M u t t e r Gottes u n d ist stolz auf ihr aske-r tisches Leben. Sie fastet u n d befindet sich gerade auf einer mühsamen W a l l fahrt. Es entspinnt sich nun ein Gespräch zwischen den beiden, i n dem jede die eigene Lebensweise lobt u n d die der R i v a l i n geringschätzt u n d abwertet. D i e Frömmlerin droht der Weltlichen, daß ihr schöner Leib sterben müsse, w o r a u f 1 H i e r z u siehe Marguerite de Navarre, Théâtre profane. Premiere publication collective par V . L . Saulnier. Nouvelle édition revue, Librairie Droz, Genève 1963, S. 241. Alle Zitate des vorliegenden Artikels erfolgen nach dieser Edition.

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diese sich vornimmt, wenn ihr Leib nun einmal ein Fraß der Würmer werden soll, i h r Leben vorher t ü d i t i g zu genießen. D a k o m m t die Sage hinzu. Sie schätzt die »raison« als das Wertvollste am Menschen. Durch die Vernunft — wie sie sagt — unterscheide er sich v o m Tier, durch sie könne er aber auch z u einem richtigen Verhältnis zu G o t t u n d den Mitmenschen gelangen. D e r vernünftige Mensch glaube nämlich an G o t t , liebe i h n u n d bete i h n an. Es entfaltet sich ein Streitgespräch zwischen den dreien. D i e Weise diskutiert zuerst m i t der Weltlichen. Sie belehrt sie, der Leib allein sei nichts; denn ohne die Seele fehlten i h m auch die Sinne, das heißt ihre Wahrnehmungsorgane. Der Leib sei lediglich ein Instrument der Seele; beide zusammen machten den Menschen aus. Als die Weltliche zur Einsicht neigt u n d n u n Angst v o r der ewigen Verdammnis äußert, macht ihr die Weise M u t , fest an Christus zu glauben u n d i h m zu dienen. Schließlich bekehrt sich die Weltliche u n d verspricht, die Bibel zu lesen, die sie v o n der Weisen erhält. D a n n wendet sich die Weise an die Frömmlerin. Sie macht ihr klar, daß sie keinen G r u n d habe, auf die Weltliche herabzusehen; denn auch sie sei m i t ihrer Werkheiligkeit auf dem falschen Wege. Gute Werke zu t u n sei zwar richtig, doch sie gälten v o r G o t t nichts, wenn sie (die Frömmlerin) i n ihrem Herzen nicht Freude u n d Liebe hege u n d nicht bereit sei, auf ihren Hochmut zu verzichten. G o t t w o l l e nicht Hochmut, sondern D e m u t u n d Liebe. Er wolle, daß man nicht nur ihn, sondern auch den Nächsten liebe. Nach einem hartnäckigen H i n u n d H e r gesteht die Frömmlerin ihr Unwissen u n d bekehrt sich ebenfalls. Auch sie bekommt v o n der Weisen das A l t e u n d das Neue Testament überreicht. N u n t r i t t die vierte Person, nämlich die »Ravie de l'amour de Dieu«, i m Gewand einer H i r t i n singend auf. Nachdem sie sich m i t kurzen W o r t e n v o r gestellt hat, singt sie weiter. Sie singt v o n ihrem Geliebten, v o n ihrer Sehnsucht nach ihm, v o n ihrem Glück, i h n zu lieben. D i e anderen hören zunächst nur m i t Erstaunen zu. Sie sprechen sie schließlich an, u m zu erfahren, was es für eine Bewandtnis m i t ihr habe, doch sie antwortet auf alles, was man sie fragt, nur singend. D a r a u f h i n halten sie die anderen drei für verrückt. Erst als sie sich entfernen wollen, läßt die verliebte H i r t i n sich herbei, ohne Gesang zu antworten. Doch auch das nun folgende Gespräch zu viert bringt keine Klärung. D i e H i r t i n erzählt, daß sie sich i n ihrer Liebe wunschlos glücklich fühle; sie w o l l e weder Güter der W e l t noch Wissen. Als die Weise i h r ihre eigene Gelehrsamkeit anpreist, antwortet sie, daß sie nichts anderes kenne als lieben, daß Lieben i h r einziges Wissen sei u n d zugleich der Weg, auf dem sie ihr ganzes Leben bleiben werde. N u n halten sie ihre Gesprächspartnerinnen erst recht für verrückt: D i e Liebe müsse i h r w o h l den K o p f verdreht haben. Sie fängt wiederum das Singen an, wodurch sich die anderen

Die Comédie jouée au Mont de Marsan

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i n ihrer Ansicht verstärkt fühlen; sie verlieren die H o f f n u n g auf ein vernünftiges Gespräch m i t ihr u n d entfernen sich. D i e »comédie« endet m i t der mystischen Liebeserfüllung der allein zurückgebliebenen H i r t i n . Es liegen bereits einige weit auseinanderklaffende Interpretationen dieser comédie vor. A b e l Lefranc z u m Beispiel meint, dieses W e r k bestätige wie die Lebensführung der A u t o r i n u n d der Rest ihrer literarischen P r o d u k t i o n den protestantischen Geist Margaretes v o n N a v a r r a ; dieser Geist komme sowohl i n den Ausführungen der Sage als auch i n denen der Ravie z u m Ausdruck, wobei die erstere teilweise auch die Prinzipien der katholischen Kirche vertrete 2 . E i n anderer Interpretationsversuch sieht i n den vier allegorischen Gestalten der comédie eine Entsprechung zu manchen Personen des Neuen Testaments. Demnach verkörpere die Mondainne M a r i a Magdalena, die Supersticieuse M a r t h a , die Schwester des Lazarus, die Sage M a r i a , die M u t t e r Jesu, u n d schließlich die Ravie eine weitere Idealisierung der zuletzt genannten b i b l i schen Gestalt 3 . Eine andere Interpretation stellt die vier allegorischen Gestalten i n Z u sammenhang m i t den vier Zeitaltern, wie sie durch die Sekte der »Libertins spirituels« gelehrt wurden. Danach stelle die Mondainne das Zeitalter des Heidentums, die Supersticieuse das Königreich des Vaters i m alttestamentlichen Sinn, die Sage das Königreich des Sohnes u n d schließlich die Ravie das Königreich des Heiligen Geistes dar 4 . I m Gegensatz dazu richtet sich Hans Sckommodau gegen allzu präzise »Zeitinterpretationen« 5 . I n Übereinstimmung m i t Lucien Febvre® unterstreicht er die Überkonfessionalität Margaretes v o n N a v a r r a u n d betont zu Recht den mystischen Charakter der Ravie, die er als die eigentliche H e l d i n des Stückes ansieht 7 . 2 Abel Lefranc, Les idées religieuses de Marguerite de Navarre (d'après son oeuvre poétique), Slatkine Reprints, Genève 1969 (réimpresion de l'édition de Paris, 1898), S. 110. 3

Siehe die genannte Edition von V . L. Saulnier, S. 255.

4

op. cit., S. 259 - 260.

5 Hans Sckommodau, Die religiösen Dichtungen Margaretes von Navarra, K ö l n und Opladen 1955, S. 140. Für andere Interpretationsversuche siehe z. B. P. Jourda, Marguerite d'Angouléme, Duchesse d'Alençon, Reine de Navarre (1492 -1549). Etude biographique et littéraire, 2 B. Slatkine Reprints, Genève 1978 (réimpression de l'édition de Paris 1930) Band I , S. 596 ff. Siehe ferner: Œuvres de Marguerite de Navarre , Comédies, Bibliothèque française, Ed. H e i t z , Strasbourg 1923. Notice S. X X V I £F. 6 Lucien Febvre, Autour mard, Paris 1944, S. 133 ff. 7

d l'Heptaméron.

Amour

sacré, amour profane,

Hans Sckommodau, Die religiösen Dichtungen Margaretes von Navarra,

GalliS. 133.

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Sckommodau hat damit einen Weg z u m besseren Verständnis der comédie eingeschlagen. A u f der anderen Seite aber läßt er die Bedeutung der anderen Gestalten zu sehr i m H i n t e r g r u n d , so daß er sidb dadurch eine Globalinterpretation erschwert. Eine adäquate Interpretation dieser comédie w i r d k a u m möglich sein, wenn man sich nicht intensiver als bisher m i t der Untersuchung aller einzelnen allegorischen Figuren befaßt; denn aus ihrer Gesamtheit gew i n n t man die nötige K l a r h e i t . Eine nüchterne, v o r allem an H a n d des Textes durchgeführte Betrachtung dieser Figuren zeigt zunächst z w e i k o n trastierende Gestalten: D i e Mondainne u n d die Supersticieuse. Der N a m e Mondainne geht semantisch auf das lateinische W o r t »mundus« zurück und k a n n i n Anlehnung ζ. B. an Johannes 8 oder Paulus 9 m i t dem Begriff »gottfeindlich« umrissen werden. Der Lasterkatalog der Mondainne ist komplexer, als bisher vermutet u n d läßt sich m i t dem bloßen Begriff des Heidentums nicht i n seiner ganzen Tragweite erfassen. D i e Eigenschaft, die diese Gestalt am treffendsten charakterisiert, ist ihre unreligiöse Sinnlichkeit. Sie ist sinnlich i n mehrfacher Hinsicht: I m theoretischen Bereich denkt sie empirisch u n d materialistisch. Sie fühlt sich ihrem K ö r p e r so sehr verhaftet, daß sie nur an das glaubt, was sie m i t den Sinnen u n d durch die Erfahrung erfassen kann. Sie leugnet zwar nicht ausdrücklich die Existenz der Seele, aber sie schenkt ihr keine Bedeutung m i t der Begründung, tasten könne sie nur ihren Körper. Als Folge dieser Einstellung läßt sich ihre praktische Lebensweise erklären: Sie pflegt m i t aller Sorgfalt ihre Gesundheit, u n d ihre Lebensführung trägt eindeutig hedonistische Züge. Sie sucht den Genuß, die Bequemlichkeit, eitle Schönheit, gutes Essen u n d Trinken. Alles, was dem K ö r p e r w o h l t u t , stellt sie i n den M i t t e l p u n k t ihres Lebens. D i e Mondainne stellt nicht die Versinnbildlichung des Heidentums dar, wie etwa i m vorchristlichen Stadium, sondern sie ist aus dem Sinnen- u n d K ö r p e r k u l t der Renaissance entstanden. Das Argumentieren aus der Erfahrung heraus, der H a n g zur Sinnenfreude u n d zum Luxus sind unverkennbare Merkmale dieses Zeitalters. Doch damit ist keineswegs gesagt, w i e man später sehen w i r d , daß die Mondainne irgendeine bestimmte Epoche als solche versinnbildlichen soll. D i e Supersticieuse w i r d i n der comédie noch stereotyper als die M o n dainne dargestellt. I h r Verhalten könnte aus irgendeinem T r a k t a t »De 8 Bei Johannes 7, 7 heißt es nach der Vulgataübersetzung: » N o n potest mundus odisse vos; me autem odit, quia ego testimonium perhibeo de ilio quod opera eius mala sunt.« Margarete von N a v a r r a benutzt das W o r t »monde« in ähnlichem Sinne wie hier »Mondainne« in zahlreichen ihrer »Chansons spirituelles«, z. B. in N r . 4 (vierte Strophe), N r . 5 (ebenfalls vierte Strophe) und N r . 9 (erste Strophe). D i e Nummern der Chansons entsprechen der kritischen Ausgabe von Georges D o t t i n : Marguerite de Navarre: Chansons spirituelles, Genève—Paris 1971. 9 I m I . Brief an die Korinther heißt es: » D u m iudicamur autem, a Domino corripimur, ut non cum hoc mundo damnemur.« (11, 32).

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contemptu mundi« entnommen sein. Statt des hedonistischen Körperkultus der Mondainne peinigt die Supersticieuse ihren Leib m i t dem Bußgürtel u n d z w i n g t sich strenges Fasten auf. Darüber hinaus stellt sie ein klassisches Beispiel für kleinliches, engstirniges Verhalten dar: Sie glaubt, durch Nebensächlichkeiten, wie z u m Beispiel durch Novenen, Wallfahrten, Gebete an die M u t t e r Gottes und ähnliches, die Substanz des christlichen Lebens ersetzen zu können. Z u ihren Hauptlastern gehört i h r Hochmut, den sie der M o n dainne gegenüber zum Ausdruck bringt, der sie i m Gegensatz zu ihrer eigenen Person keinerlei Möglichkeiten einräumt, das ewige H e i l zu erlangen. Ebenso wie die Mondainne v o r dem H i n t e r g r u n d der Renaissance gesehen werden kann, darf man auch die Supersticieuse sehr w o h l i n Verbindung m i t der mittelalterlichen Frömmigkeitspraxis betrachten. Kenner des religiösen Verhaltens dieser Zeit bestätigen, daß die Ausübung des Glaubens auch noch i m Spätmittelalter häufig jene extremen Formen annahmen, die Margarete v o n N a v a r r a an der Supersticieuse kritisiert u n d durch sie k a r i k i e r t 1 0 . Ebensowenig wie die Mondainne darf jedoch die Supersticieuse als Versinnbildlichung irgendeiner konkreten Epoche interpretiert werden. Es ging der Dichterin nicht u m allgemeine, an einen geschichtlichen Zeitabschnitt gebundene, sondern u m individuelle Verhaltensweisen. D i e Supersticieuse u n d die Mondainne stehen aller Wahrscheinlichkeit nach i n direkter Ver-, bindung zur herkömmlichen Moraltheologie. Bereits i n der Summa Theologica v o n Thomas v o n A q u i n tauchen zwei Laster auf, die der Tugend der »religio« entgegenstehen u n d die w o h l auf die beiden bereits besprochenen Gestalten der comédie Einfluß ausgeübt haben dürften; es handelt sich u m die »superstitio« u n d die »irreligiositas«. Beide werden — übrigens wie i n der comédie — nebeneinander erwähnt u n d nacheinander behandelt; auch bei Thomas v o n A q u i n fungieren sie nämlich als Gegensätze. I n der Summa heißt es: »Postea considerandum est de vitiis religioni oppositis« . . . »Primum autem horum pertinet ad superstitionem; secundum ad irreligiositatem. 1 1 « W i r d hier die »superstitio« als » v i t i u m religioni oppositum secundum excessum« 12 definiert, so w i r d die »irreligiositas« als i h r Gegensatz angesehen; i n einem späteren K a p i t e l 1 3 w i r d ausführlich über sie berichtet. Dieser moraltheologische Bezug stellt einen ersten Schritt zur richtigen Interpretation dieser beiden Figuren u n d somit auch der comédie dar; u n d z w a r nicht, w e i l

10 Siehe Francis Rapp, »Le 15 e siècle« in: Histoire spirituelle de la France, Beauchesne Paris 1964, S. 180. Ferner Johan Huizinga, Herbst des Mittelalters, Stuttgart 1975, S. 273 ff. 11

Summa theologica 2. 2. q. 92.

12

op. cit. 2. 2. q. 92.

13

op. cit. 2. 2. q. 97.

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die Mondainne u n d die Supersticieuse i n alien Details der »irreligiositas« bzw. der »superstitio« der Summa Theologica entsprechen müssen, sondern w e i l sie i m gleichen moraltheologischen Sinn wie jene gesehen werden. U n t e r diesem Gesichtspunkt erhält das Gespräch beider Kontrahentinnen i n der comédie den sicheren Charakter einer Debatte über das praktische Verhalten des einzelnen Menschen; denn dies u n d nicht anderes ist die eigentliche D o mäne der Moraltheologie. Margarete v o n N a v a r r a hatte sogar einen ganz konkreten A n l a ß , ihre comédie m i t der Gegenüberstellung dieser beiden allegorischen Gestalten i m oben genannten Sinn zu beginnen. D i e comédie wurde nämlich am Faschingsdienstag, d. h. am Übergang v o n der Faschings- zur Fastenzeit uraufgeführt. Beide Verhaltensweisen, sowohl die der sinnlichen Exzesse als auch die der extremen Enthaltsamheit, prallten i n dieser Nacht hart aufeinander. Durch die A u f f ü h r u n g der comédie am Faschingsdienstag erhält das Streitgespräch zwischen der Mondainne u n d der Supersticieuse eine unerwartet deutliche A k t u a l i t ä t , die den moralisch-pragmatischen Charakter des Stückes bekräftigt. Margarete v o n N a v a r r a nützt ein wichtiges D a t u m i m Kirchenkalender, u m das extreme Verhalten vieler Christen sowohl i n der Faschings- als auch i n der Fastenzeit anzusprechen. Weder die hedonistischen Ubertreibungen der Mondainne — sinnbildlich für viele Christen i n der Faschingszeit — , noch das körperfeindliche Verhalten der Supersticieuse — sinnbildlich für viele Christen i n der »quadragesima« — konnte die Dichterin ihren Z u schauern als nachahmenswert empfehlen. D i e unverkennbar satirische V e r zerrung beider Gestalten, besonders aber die der Supersticieuse, u n d deren Bekehrung lassen keinen Zweifel daran aufkommen, daß Margarete v o n N a v a r r a sich v o n der Verhaltensweise sowohl der einen als auch der anderen distanziert. Bekehrt werden die beiden ersten allegorischen Gestalten durch die Sage. Diese unterscheidet sich v o n jenen nicht nur durch ihr höheres Wissen — wie schon ihr N a m e andeutet — , sondern v o r allem auch durch die ihr zugewiesene dramatische Rolle. Zunächst einmal verkörpert sie die »raison«, auf die sie bei ihrem ersten A u f t r i t t eine Lobeshymne »singt« 14 . U m diesen Begriff der »raison«, wie er v o n Margarete v o n N a v a r r a verstanden w i r d , i n seiner wahren Dimension zu erfassen, muß man i h n selbstverständlich v o n seinen aufklärerischen u n d materialistischen Konnotationen modernerer Zeiten befreien. »Raison« stellt i m Wortgebrauch der Dichterin keinen Gegensatz zum Glauben dar, sondern — i n Übereinstimmung m i t der aristotelischen u n d thomistischen T r a d i t i o n — eine Gabe Gottes, die den Menschen v o n den 14

Siehe die Verse 161 ff. in der Ed. von Saulnier.

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Tieren abhebt 1 5 . I n ihrer dramatischen Rolle unterscheidet sich die Sage v o n der Mondainne u n d der Supersticieuse auch dadurch, daß sie nicht über ihr eigenes Verhalten, sondern über das der anderen spricht. Sie übernimmt die F u n k t i o n eines Richters u n d Ratgebers, sie theoretisiert, statt selbst zu handeln. Daher versinnbildlicht sie nicht wie die anderen eine konkrete i n d i v i duelle Verhaltensweise, sondern bezieht eine theoretische Position. U n t e r Berücksichtigung der kulturhistorischen Perspektive verkörpert sie die H a l tung eines fortschrittlichen, sachkundigen Theologen u n d eifrigen Seelsorgers, der die Herausforderung der Reformationszeit, i n der die comédie entstand, berücksichtigt, sich aber vermutlich als Sprachrohr der offiziellen Kirche versteht. M i t der Herausforderung ihrer Zeit setzt sich die Sage auseinander, indem sie i m E i n k l a n g m i t dem Geist des Humanismus eindeutig für die Aufhebung des Dualismus zwischen Körper u n d Seele, zwischen Materie u n d Geist plädiert, der i n der Kirche seit den Gnostikern u n d den Manichäern bestanden hat. Sie erklärt der Supersticieuse, daß nicht nur die Seele, sondern auch der Körper v o n G o t t geschaffen worden sei u n d daß die Seele ohne den Körper nicht i n der Lage sei, gute Werke zu verrichten. Schließlich macht sie ihr deutlich, daß Leib u n d Seele nur zusammen eine Einheit bilden könnten. D i e Supersticieuse solle daher ihre Körperfeindlichkeit ebenso wie die M o n dainne ihre Körperverherrlichung aufgeben. M a n ist geneigt, diese Empfehlung i m Zusammenhang m i t dem M o t t o der Renaissancezeit »Mens sana i n corpore sano« zu sehen. I h r fortschrittliches Denken innerhalb der Kirche stellt die Sage unter Beweis, indem sie die Bedeutung der Bibellektüre unterstreicht, die durch die Reformation belebt wurde. D i e Sage bringt dies deutlich z u m Ausdruck, indem sie der Mondainne u n d der Supersticieuse bei deren Bekehrung das A l t e u n d das Neue Testament überreicht. Vernunft u n d Offenbarung, Philosophie u n d Theologie, das w i l l sie m i t dieser Geste zu erkennen geben, ergänzen sich. Sie ist ein Seelsorger u n d nicht nur ein bloßer Theoretiker, w e i l sie ihren Gesprächspartnerinnen nicht nur irgendwelche abstrakte D o k t r i n e n zu vermitteln weiß, sondern auch moralische Ratschläge zur praktischen, i n d i v i d u e l l verstandenen Lebensführung erteilt. D i e Sage schafft den Ausgleich zwischen den zwei Extremen, die durch die Mondainne u n d die Supersticieuse verkörpert werden, die sich schließlich beide bekehren. Es k a n n nun der Gedanke aufkommen, die comédie sei damit an ihrem »logischen« Ende angelangt. Doch offensichtlich w o l l t e Margarete v o n N a v a r r a ihren Zuschauern noch etwas Weiteres mitteilen. M a n kann sogar annehmen, daß das Allerwichtigste noch nicht zur Sprache

15 I n Vers 166 z. B. heißt es: »Par la raison il (l'homme) diffère a la beste«. H i e r zu siehe H e n r i Vernay, Les divers sens du mot raison autour de l'œuvre de Marguerite d'Angouléme Reine de Navarre (1492 - 1549J, Heidelberg 1962.

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gekommen ist; denn m i t dem Auftreten der eigenartigen Gestalt der Ravie beginnt zugleich die letzte u n d längste Szene. V o n den 1015 Versen nämlich, aus denen die comédie besteht, n i m m t sie 443 i n Anspruch, also fast die H ä l f t e des gesamten Werkes. M i t dem Erscheinen der Ravie (der H i r t i n ) n i m m t die »comédie« nicht nur inhaltlich, sondern auch formal eine v ö l l i g neue Dimension an; alles deutet auf einen gezielten H ö h e p u n k t hin. H a t t e sich die Sage mit ihrer H y m n e an die »raison« v o n A n f a n g an unmißverständlich charakterisiert, so läßt die H i r t i n ebenso v o n A n f a n g an keinen Zweifel darüber aufkommen, wer sie ist. So stellt sie sich singend m i t folgenden Versen v o r : »Helas! je languys d'amours . . . Helas! je meurs tous les jours.« 1 6

U m die Aussage des Gesangs zu unterstreichen, rezitiert sie anschließend zehn weitere Verse, deren durchgehende anaphorische Reihung ihren bloßen semantischen Sinn lapidar bekräftigt. I n ihnen w i r d die Liebe als die absolute u n d vollkommene E r f ü l l u n g des persönlichen Lebens angepriesen 17 . Diese eindringlichen Verse deuten darauf hin, wie schwer die K o m m u n i k a t i o n zwischen der Ravie u n d den anderen drei Gestalten der comédie sein w i r d . Sowohl die H i r t i n als auch die anderen drei behaupten i m Verlauf der vierten Szene immer deutlicher ihre k l a r umrissenen, unbeeinflußbaren Positionen; ihre Einstellungen gehören zwei verschiedenen, voneinander weit entfernten u n d fast nicht vergleichbaren Welten an. D e m vernünftigen, auf die Offenbarung gründenden Glauben ihrer Kontrahentinnen stellt die Ravie ihre »verrückte«, mystische Liebe entgegen; auf das philosophisch-theologische Wissen der drei antwortet sie m i t ihrer »docta ignorantia«; an Stelle eines ernsthaften, durch Gebote u n d Verbote geregelten Lebens setzt sie Freiheit, Naturverbundenheit, Freude u n d Glückseligkeit; denn sie f ü h l t sich jenseits v o n allen Tugend- u n d Lasterkatalogen. D i e Ravie läßt z w a r ihre Gesprächspartnerinnen weitgehend darüber i m Unklaren, ob es sich bei ihrer Liebe u m profane oder religiöse Zuneigung handelt 1 8 , doch es taudien auch 16

op. cit. S. 299. Sie lauten.

» Q u i vit d'amour a bien le cueur joieulx, Q u i tient amour ne peult desirer mieulx, Q u i scet amour (n')ignore nul sçavoir, Q u i void amour a tousjours rians yeulx, Q u i baise amour i l passe dans les cieulx, Q u i vainc amour il a parfaict pouvoir, Q u i ayme amour acomplyt son debvoir, Q u i est porté d'amour n'a nul(le) peine, Q u i peult amour embrasser prandre et veoir, I l (est) remply de grace souveraine.« (op. cit. 299 - 300).

18 D i e sich aus dieser Situation ergebende Ironie hat Rainer H e ß als »äußerst subtil« bezeichnet. Siehe R . H e ß , Das Romanische Geistliche Schauspiel als Profane

Die Comédie jouée au Mont de Marsan

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unzweideutige Stellen auf, die neben der ausgeprägten theologischen Themat i k der »comédie« für die nötige K l a r h e i t sorgen. D a z u gehört v o r allem jene Passage, i n der die Ravie an einen zur damaligen Zeit w e i t verbreiteten mystischen Gedanken anknüpfend 1 9 ihre Liebe als frei v o n jeglichem Interesse darstellt, das heißt als unabhängig sowohl v o n der H o f f n u n g auf das Paradies als auch v o n der Angst v o r der H ö l l e 2 0 . D i e Unfähigkeit, sich miteinander zu verständigen, zeigt sich über ihre unterschiedlichen Gesinnungen u n d H a l t u n g e n hinaus i n der A u s w a h l des Kommunikationsmediums; denn auf die Sprache der ersten drei allegorischen Gestalten antwortet die H i r t i n m i t Gesang, was sicher ihre Zugehörigkeit zu einer anderen, höheren W e l t bekunden soll. Äußerlich verbindet sie zwar m i t der Mondainne u n d der Supersticieuse die Verwendung der Ichform, da sie ebenso wie diese beiden Gestalten ein individuelles Verhalten versinnbildlicht, doch damit enden die Gemeinsamkeiten. D i e H e i m a t der Ravie liegt — wie bereits gesagt — i n der W e l t der M y s t i k . A l s H i r t i n lebt sie i n ihrem eigenen, freiheitlichen Arkadien. I h r Verhalten entspricht also nicht der allgemeinen N o r m u n d darf deshalb nicht an i h r gemessen werden. Für ihre Gesprächspartnerinnen ist die H i r t i n — gerade w e i l sie nicht der allgemeinen N o r m entspricht — eine »folle«, eine Verrückte 2 1 . I m Gegensatz dazu ist sie für die A u t o r i n eine »ravie«, eine Verzückte. M a n k a n n gerade aus der semantischen Differenz zwischen »folle« u n d »ravie« erkennen, wie unterschiedlich die drei allegorischen Gestalten u n d die Dichterin selbst das Verhalten der H i r t i n bewerten. Es k a n n kein Zweifel daran bestehen, daß diese »folle« alle Sympathien der A u t o r i n gennießt. D i e Blüte der mystischen Schriften i n der ersten H ä l f t e des 16. Jahrhunderts i n Frankreich, v o n der z . B . die zahlreichen Übersetzungen u n d Editionen durch Lefèvre d'Etaples zeugen 22 , der Briefwechsel Margaretes v o n N a v a r r a m i t Briçonnet 2 3 , ihre K o n t a k t e m i t den mystischen Ideen der »Libertins spirituels« u n d nicht zuletzt ihre K e n n t und Religiöse Komödie, chen 1965, S. 129 - 134.

Freiburger Schriften zur Romanischen Philologie, 4, M ü n -

10 H i e r z u siehe ζ. B. Marcel Bataillon, »El anònimo del soneto >No me mueve mi Dios ...Miroir des simples âmes< et Marguerite de Navarre« in La Mystique Rhénane: Colloque de Strasbourg 16 - 19 mai 1961, Presses universitaires de France, Paris 1963, S. 281 - 289. Zur weiteren Information über das mystische W e r k Marguerite Poretes siehe Romana Guarnieri, » I I movimento del Libero Spirito: I . Dalle origini al secolo X V I ; I I . I l >Miroir des simples âmes< di Marhgerita Porete« in Archivio italiano per la storia della pietà. Volume quarto. Roma M C M L X V , S. 351 - 708. Einen »essai de présentation« über dieses Werk findet man bei K u r t Ruh: »Le Miroir des simples âmes* der Marguerite Porete«, in Festschrift Friedrich Ohly, Verbum et Signum 77, hrsg. Hans Fromm, München 1975, S. 365 - 388. Siehe auch K u r t Ruh: »Beginenmystik: Hadewijch, Mechthild von Magdeburg, Marguerite Porete« in Zeifsc&nT? für deutsches Altertum 106, 1977, S. 265 - 277.

D I C H T E R I S C H E R WETTSTREIT ÜBER DAS T H E M A DER HOFFNUNG I M ENGLISCHEN LITERATURBAROCK*

V o n Hermann

Heuer

Es bedarf w o h l keines begründenden Hinweises, daß für das christliche Seinsverständnis das M o t i v der H o f f n u n g entscheidend ist. O b w i r uns zu den Aposteln u n d Evangelisten, zu den Kirchenlehrern u n d zur Patristik, zur religiösen Spekulation des Mittelalters u n d gar noch zur agnostischen Bewegung der Moderne u n d schließlich zu den religiösen Erneuerungsvorgängen unseres Jahrhunderts wenden: immer bleibt i n These u n d Antithese die Hoffnungsthematik v o n lebenbestimmender Bedeutsamkeit. Romano Guardini, Gabriel Marcel u n d Josef Pieper, u m nur einige zu nennen, analysieren sie m i t dem Blick auf die besondere Lage des Menschen v o n heute. Wer einen Blick i n Augustins "Bekenntnisse" w i r f t , k a n n sich leicht überzeugen, daß bis i n seine Denkvorgänge u n d Formulierungen hinein die religiöse Literatur v o n ihnen spürbare Anregungen erhalten hat. England ist das L a n d einer fast ununterbrochenen religiösen Dichtung. D i e berühmte * metaphysische Dichterschule ,> umfaßte zwar das Leben i n seiner dialektischen Fülle u n d dem Ausdrucksreichtum seiner nuancierten Paradoxien, fand aber i n der Sichtbarmachung der religiösen Anliegen vornehmlich neue Wege religiöser Erschließung fruchtbarer Denkstrukturen. John Donne u n d George Herbert stellten neue Leitbilder religiöser Erfahrungsmitteilung auf. I n streng anglikanischen Kreisen bildete sich gar eine klösterliche Gemeinschaft — L i t t l e G i d d i n g — , die v o n Nicholas Ferrar begründet, i n unserer Zeit v o n T . S. E l i o t besungen, bedeutende Geister an sich zog. Z u ihnen zählte der recht eigentliche religiöse Dichter des Anglikanismus George Herbert, dessen geistliche Gedichtsammlung The Temple eine zentrale Ausstrahlungskraft bewies. Dieser wiederum regte den später z u m Katholizismus konvertierenden Richard Crashaw zu geistlichen Dichtungen ekstatischer Inbrunst an. D a v o n legt der posthume Gedichtzyklus Carmen Deo Nostro (1652) m i t seiner glühenden H y m n i k ein beredtes Zeugnis ab. Aber längst hatte der 1649 gestorbene Dichter i n seinen Epigrammata Sacra (1634) u n d v o r allem i n dem charakteristisch be-

* Zur Erinnerung an ein Symposium im Freiburger Kollegenkreis. 6 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 23. Band

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Hermann Heuer

titelten Gedichtkreis Steps to the Temple (1646) das Augenmerk auf diese Nachfolge v o n George Herbert u n d auf das eigene religiöse Genie gelenkt. Es scheint so zu liegen, daß Steps to the Temple v o n einem Angehörigen der Little-Gidding-Gemeinschaft veröffentlicht worden ist. D a r a u f deutet ein V o r w o r t des unbekannten Herausgebers, i n welchem der Bezug zu Herbert u n d die Gleichstellung m i t i h m unverhohlen ausgesprochen werden. A n Crashaw w i r d i n begeisterter Preisung u n d steigernder Formulierung der idealistische Aufschwung religiöser Inspiration hervorgehoben. Es darf vermerkt werden, daß die 2. Ausgabe v o n 1648 auch weltliche Gedichte v o n bezaubernder Qualität enthält, ζ . B. den Wettgesang zwischen Musiker u n d Nachtigall i n "Musick's D u e l l " . Wenn w i r die Zeittafel betrachten, so f ä l l t auf, daß i n den dreißiger Jahren Donne, der Verfasser der Holy Sonnets u n d Divine Poems, 1631 starb, George Herbert 1633 u n d der vielseitige Ben Jonson 1637. Richard Crashaws Lebenszeit dauerte v o n 1613 bis 1649. Der Dichter, der ihm, dem Fellow v o n Peterhouse, als Fellow i n Cambridge ( T r i n i t y ) zugesellt u n d i h m bei aller Verschiedenartigkeit der Temperamente und Gesinnungen i n Freundschaft zugeneigt w a r und über die Jahre des Exils hinaus sein Bewunderer blieb, w a r der vielseitige, gewandte Abraham Cowley (gestorben 1667), der, i m wesentlichen weltlich-rational und einen gewissen Klassizismus vorbereitend, einen bemerkenswerten Nachruf auf Crashaw verfaßte (enthalten i n einer Ausgabe des Jahres 1656: " O n the Death of M r . Crashaw"). M i t einer für Cowley bezeichnenden leichten ironischen Heiterkeit mokiert er sich über die Loreto-Legende (Crashaw verbrachte seine letzten katholischen Jahre i n kirchlichen Diensten an diesem Wallfahrtsort). Er erhebt Crashaw i n den Heiligenstand, nennt i h n "Poet" und " S a i n t " , behandelt zwar die Wendung zum Katholizismus m i t maliziös-charmanter Toleranz, glaubt sogar " K a t h o l i k " genug zu sein, zu dem neuen Heiligen zu beten, u n d apostrophiert ihn schließlich als "Poet T r i u m p h a n t " . Er selbst rechnet sich zu den "Poets M i l i t a n t " , die noch i n den Gefahren, Tücken und A n fechtungen der W e l t stehen. (Ähnliche Profanierungseffekte finden sich übrigens auch bei Donne und Herrick.) Dieser Dichter erkennt immerhin die überragende Stellung seines Freundes und früheren Zeitgenossen. U n d nun kommen w i r zu dem interessanten Punkt, der sich aus der Einsicht i n Crashaws Steps to the Temple u n d Cowleys Gedichtsammlung The Mistress (fast gleichzeitig 1647) ergibt. Es handelt sich u m zwei Gedichte für u n d gegen die H o f f n u n g bei C o w l e y u n d ein Antwortgedicht " F o r H o p e " v o n Crashaw. Z w e i Welten, zwei Gesinnungen, zwei Stile! W i r beabsichtigen, uns m i t diesen Gegensätzen zu befassen. Es sei vorweg bemerkt, daß C o w l e y einen besonderen Spüreifer für das besitzt, was er i n seinem Gedicht

Wettstreit über Thema Hoffnung im englischen Literaturbarock

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" L i f e " e i n m a l " t r a n s p a r e n t fallacies" n e n n t , w o g e g e n andererseits C r a s h a w d e r S i n n f ü r r e l i g i ö s e V e r t i e f u n g e i g e n i s t . W i r s t e l l e n , b e v o r w i r sie i n t e r pretieren, die T e x t e voraus.

Abraham

Cowley For

Hope1. 1.

Hope, of all Ills that men endure, The only cheap and Universal Cure! Thou Captives freedom, and Thou sick Mans Health ! Thou Losers Victo'ry, and thou Beggars wealth ! Thou Manna, which from H e a v ' n we eat, T o every Tast a several Meat! Thou strong Retreat! thou sure entaiVd Estate, Which nought has power to alienate! Thou pleasant, honest Flatterer ! for none Flatter unhappy Men, but thou alone! 2. Hope, thou First-fruits of Happiness! Thou gentle Dawning of a bright Success! Thou good Preparative, without which our Joy Does work too strong, and whilst it cures, destroy; W h o out of Fortunes reach dost stand, A n d art a blessing still in hand! Whilst Thee, her Earnest-Money we retain, W e certain arc to gain, Whether she'her bargain break, or else fulfill; Thou only good, not worse, for ending ill! 3. Brother of Faith, 'twixt whom and Thee The joys of Heav'en and Earth divided be! Though Faith be Heir, and have the fixt estate, T h y Portion yet in Moveables is great. Happiness it self's all one I n Thee, or in possession! O n l y the Future* s Thine, the present His! Thine's the more hard and noble bliss; Best apprehender of our joys, which hast So long a reaò, and yet canst hold so fast!

1 Abraham Cowley, The English bridge, 1905), Bd. I , S. 110.

6*

Writings

of A.C.,

hg. A . R. Waller

(Cam-

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Hermann Heuer 4. Hope, thou sad Lovers only Friend ! Thou Way that mayst dispute it w i t h the End! For Love I fear's a fruit that docs delight The Tast it self less than the Smell and Sight. Fruition more deceitful is Than Thou canst be, when thou dost miss ; M e n leave thee by obtaining , and strait flee Some other way again to Thee; A n d that's a pleasant Country , without doubt, T o which all soon return that travel out.

Dies Gedicht ist w o h l als ein hinsichtlich seiner Datierung u n d Einordnung nicht ganz sicheres tour de force , aber gewiß doch i m dialektisch eng zusammengehörigen K o n t e x t m i t dem bekannteren "Against H o p e " zu verstehen. Es erweckt m. E. falsche Erwartungen. Seine Grundgesinnung ist die des blanken Zynismus, sein Darstellungsprinzip das der Ironie. D a v o n w i m m e l t es: zunächst die ganze erste Strophe, etwa wenn v o n der H o f f n u n g als A l l h e i l m i t t e l oder v o n einem M a n n a als einer Speise nach individuellem Geschmack gesprochen w i r d . D i e Aussagen des verstellten Ernstes sind i n ihr Gegenteil umzukehren, damit uns der illusionäre Charakter der H o f f n u n g ironisierend mitgeteilt werde. Sophistische Scheinlogik beherrscht das Feld. D i e 2. Strophe enthält z w a r eine schöne Zeile: " T h o u gentle Dawning of a bright success! 39, i m übrigen aber w i r d (durch den ironischen Schlenker am Schluß bekräftigt) das Unseriöse des Hoffnungsbesitzes betont. N u r wenige Zeilen sehen eine gewisse positive F u n k t i o n i n ihrem Charakter als V o r bereitung auf Freude u n d Erfolg. D i e Verteilung auf die Gebrüder Glauben u n d Hoffnung sichert der H o f f n u n g die Z u k u n f t u n d eine gewisse A n t e i l i g keit an beweglicher Habe. Illusorisches Glück ist dieser fluktuierenden Irrealität eigen. Strophe 4 charakterisiert den Platz der H o f f n u n g i m trügerischen Geschäft der Liebe. D e r Mensch, nicht k l u g geworden, kehrt nach seinen Enttäuschungen zur Fata Morgana der H o f f n u n g zurück. Summa summarum w i r d der H o f f n u n g eine sehr problematische F u n k t i o n der menschlichen Selbsttäuschung (Delusion) u n d der zerrinnenden Illusion (ironisch: " a blessing still in handr) zuerkannt. Sie ist, wie eingangs betont, ein billiges A l l h e i l m i t t e l und, wie es abschließend heißt, ein L a n d der Narretei. W e n n das ganze Glück i n der H o f f n u n g beschlossen ist (3) u n d demgegenüber die Realität des Besitzes i m gleichen Atemzuge genannt w i r d , so liegt i n diesem schein-apologetischen Gedicht i m wesentlichen eine Verhöhnung der H o f f n u n g vor. Es handelt sich bei dieser Spiegelfechterei keineswegs u m ihre Rehabilitierung.

Wettstreit über Thema Hoffnung im englischen Literaturbarock On

Hope2,

By way of Question and Answer , betweene A. Cowley, and R. Cr ash aw. Cowley. I Hope, whose weake being ruin'd is Alike, if it succeed, and if it misse. W h o m 111, and Good doth equally confound, A n d both the homes of Fates dilemma wound, Vaine shadow! that doth vanish quite Both at full noone, and perfect night. The Fates have not a possibility O f blessing thee. I f things then from their ends wee happy call, 'This hope is the most hopelesse thing of all. Crashaw. Deare H o p e ! Earths dowry, and Heavens debt, The entity of things that are not yet. Subtlest, but surest being! Thou by whom O u r Nothing hath a definition. Faire cloud of fire, both shade, and light, Our life in death, our day i n night. Fates cannot find out a capacity O f hurting thee. From thee their thinne dilemma with blunt home Shrinkes, like the sick Moone at the wholsome morne. Cowley . II Hope, thou bold taster of delight, Who, in stead of doing so, devour'st it quite. Thou bring'st us an estate, yet leav'st us poore, By clogging it w i t h Legacies before. The joyes, which wee intire should wed, Come deflour'd virgins to our bed. Good fortunes without gaine imported bee, So mighty Customed paid to thee. For joy, like Wine kept close doth better taste : I f it take ayre before, its spirits waste.

Richard Crashaw, Poetical Works, hg. L. C. M a r t i n (Oxford, 1927), S. 143 -

Hermann Heuer Crashaw. Thou art Loves Legacic under lock O f Faith: the steward of our growing stocke. Our Crown-lands lye above, yet each meale brings A seemly portion for the Sons of Kings. N o r w i l l the Virgin-joyes wee wed Come lesse unbroken to our bed, Because that from the bridall dieeke of Blisse, Thou thus steaPst downe a distant kisse, Hopes chaste kisse wrongs no more joyes maidenhead, Then Spousall rites prejudge the marriage-bed. Cowley.

III Hope, Fortunes cheating Lotterie, Where for one prize an hundred blankes there bee. Fond Archer Hope, who tak'st thine ayme so farre, That still, or short, or wide thine arrowes are. Thine empty cloud the eye, it self e deceives W i t h shapes that our owne fancie gives: A cloud, which gilt, and painted now appeares, But must drop presently in teares. When thy false beames o're Reasons light prevaile, By ignes fatui , not N o r t h starres we sayle. Crashaw. Faire Hope! our earlier Heaven! by thee Young Time is taster to Eternity. The generous wine w i t h age growes strong, not sower ; N o r need wee k i l l thy fruity to smell thy flower, T h y golden head never hangs downe, T i l l in the lap of Loves full noone I t falls, and dyes: oh no, it melts away As doth the dawne into the day: As lumpes of Sugar lose themselves, and twine Their subtile essence w i t h the soule of Wine. Cowley.

IV Brother of Feare! more gaily clad The merrier Foole o'th' two, yet quite as mad. Sire of Repentance! Child of fond desire, That blows the Chymicks, and the Lovers fire, Still leading them insensibly on, W i t h the strange witchcraft of Anon. By thee the one doth changing Nature through H e r endlesse Laborinths pursue, A n d th' other chases woman, while she goes More wayes, and turnes, then hunted Nature knowes.

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Crashaw. Fortune ala s above the worlds law warres : Hope kicks the curPd heads of conspiring starres. H e r keele cuts not the waves, where our winds stirre, A n d Fates whole Lottery is one blanke to her. H e r shafts, and shee fly farre above, A n d forrage in the fields of light, and love. Sweet Hope! kind cheat! faire fallacy! by thee Wee are not where, or what wee bee, But what, and where wee would bee : thus art thou Our absent presence, and our future now. Crashaw. V Faith's Sister! Nurse of faire desire! Feares Antidote! a wise, and well stay'd fire Temper'd 'twixt cold despaire, and torrid joy: Queen Regent in young Loves minoritie. Though the vext Chymick vainly chases His fugitive gold through all hei faces, A n d loves more fierce, more fruitlesse fires assay One face more fugitive then all they, True Hope 9s a glorious Huntresse, and her chase The God of Nature in the field of Grace.

C o w l e y s Gedicht der Anti-Apotheose gibt m i t vier doppelgereimten 10Zeilern wechselnder Länge den T o n an: auch die beiden anderen Hoffnungsgedichte folgen i m metrischen Gefüge dieser Tonart. Es enthält Überraschungseffekte, z. B. i n der A n w e n d u n g des unerwarteten maskulinen Geschlechts (Str. I V ) , das durch die ersten drei Strophen hindurch maskiert bleibt, da die Sprache sowohl i n ihren F ü r w ö r t e r n (Str. I ) als auch i n ihren Berufsbezeichnungen (Str. I I u n d I I I ) die Doppelgeschlechtigkeit kennt. Für den Übersetzer ist das ebenso mißlich wie wenn der Franzose bei M i l t o n weibliche Sünde m i t le péché und den T o d (masc.) m i t la mort übertragen muß oder wenn w i r den männlich gebrauchten Wörtern "Sun" und " T i m e " m i t unseren Feminina nicht i n Kürze entsprechen können. Das Femininum Hoffnung erinnert ja bei uns an eine der Charitinnen (vgl. auch K o r . I . X I I I , 13). Sie w i r d nur weiblich vorgestellt, anders freilich — später als unser Dichter — i n Bunyans The Pilgrim's Progress , w o Christian v o n den Gefährten Faithful u n d Hopeful begleitet w i r d . C o w l e y bleibt übrigens auch i n seinem zweiten Gedicht " F o r H o p e " bei seiner Anschauung u n d Sprachverwendung (s. " F o r H o p e " Str. I I I ) . Auch der Bilderreichtum u n d nicht zum wenigsten einige treffliche Pointen verbürgen Überraschungswirkungen. Z w a r hat C o w l e y i n der gleichen Gedichtsammlung The Mistress i n seinem Gedicht " O f W i t " übertriebener Zier-

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ratüberladung seine scharfe K r i t i k gewidmet u n d als echter Avantgardist des Klassizismus die Übereinstimmung i m Ganzen u n d i n den Teilen gefordert. E r behängt jedoch seine Darstellung immerhin m i t so viel Lamettaschmuck, daß dennoch die barocken Züge für unser heutiges Gefühl i n den Bildsprüngen u n d Stilbrüchen, i n der Heterogenität u n d Seltsamkeit als Übertreibungen erscheinen mögen. C o w l e y steht jedoch hier i n den Nachwirkungen einer weltweiten Stilperiode, die er seinerseits später als Besinger der naturwissenschaftlichen R o y a l Academy m i t ihren neuen D e n k - u n d Sprachformen i m Gefolge eines Bacon deutlich überwindet. D i e Essayistik Cowleys wandelt i n der Nachfolge Bacons. I n diesem definitorischen Gedicht zeigt sich noch der Faltenwurf barocker Gewandung. Allerdings: einem D r . Samuel Johnson, dessen Vanity of Human Wishes vergleichsweise herangezogen werden könnte, ist C o w l e y wegen der immer noch verbliebenen heterogenen Gedanken ausgesprochen mißfällig: er bedenkt i n seinen Lives of the Poets unseren Dichter m i t herbem Tadel. Kehren w i r zu unserem Gedicht zurück. Zunächst zu seinem Überfluß an personifizierenden Bildern. Manches ist klärlich zeitgebunden. Das i n Str. I angesprochene Dilemma zielt auf jenen dialektischen Kunstgriff der L o g i k , der gleich ungünstige Alternativen anbietet, die sinnigerweise " H ö r n e r " genannt werden, w e i l der Opponent oder Disputant, wie immer er sich entscheidet, auf eines m i t Gewißheit aufgespießt w i r d . Der Alchimist als versessener Goldjäger ist uns wiederum vertraut genug (Str. I V ) . D i e übrigen Vorstellungen entstammen der A n t i k e {Fatum, re spie e finem, das Krösusm o t i v , Str. I ) , der Sprache des Rechts (materieller Besitz, Vermächtnis, Z o l l ) , der Lotterie, des Weingenusses, der Bogenkunst, gewisser Phänomene der N a t u r (Wolke, ignes fatui, Nordstern), der N a u t i k , des Narrentums, der Liebe (mit dem letzteren M o t i v dem Donne-haften Gesamttitel The Mistress gerecht werdend). Keine der geweckten Vorstellungen, v o n wenigen antiken Anleihen abgesehen, geht über den Bereich der Beobachtung u n d Erfahrung hinaus. Der A p p e l l geschieht wie bei Bacon (vgl. etwa die Essays " O f T r u t h " oder " O f Studies") an die Vernunft (sehr deutlich am Schluß v o n Str. I I I ) . Dies ist das entscheidende Schlüsselwort. D i e H o f f n u n g erscheint als menschliche Torheit i m Lichte der Vernunft u n d des materiellen Selbstnutzens. Reue u n d törichte Sehnsucht werden ihres Platzes verwiesen. Das Gedicht ist prononciert unmetaphysisch. Es schließt m i t einem Lieblingsmotiv der weltlichen Muse: der Untreue der Geliebten. D a m i t reiht es sich i n den Reigen tagesüblicher galanter A n a k r e o n t i k ( z . B . der "Cavalier Poets", aber auch der weltlichen "Metaphysicals" wie Donne) ein, allerdings m i t etwas schwächeren spielerischen Akzenten. Einiges gefällt zweifellos. Das sprichwörtliche " H o f f e n u n d H a r r e n macht manchen z u m N a r r e n " oder ein sinnloses "hoping against hope" w i r d z u m

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schlagenden Treffer der I . Str.: "Tis hope is the most hopelesse thing of a l l " . Drastik u n d A n t i t h e t i k sind erkennbar beherrschend. Gegensätzlichkeiten werden herausgearbeitet. Überall ist der Dichter adversativ, ja aggressiv. Die Argumentation verschießt gute Pfeile. N i c h t alles ist jedoch auf gleicher Höhe. Der Vergleich v o n Liebhaber u n d Alchimist w i r k t etwas gezwungen (das tertium comparationis ist das Jagen), gewollt geistreich. D i e rationale Auflösung menschlicher Hoffnungstorheit kleidet sich charakteristischerweise i n die Wendung "shapes that our owne fancie gives" (Str. I I I ) . (Bei der Bezeichnung solcher Wolkenkuckucksheime mag mancher an die W o l k e n Wandelbarkeit i n der Anschauungswelt des Hamlet oder v o n Antony and Cleopatra versucht sein zu denken.) Aufschlußreich ist besonders Str. I I I , w o der v o n Irrlichtern genarrte Mensch auf törichter Fahrt gezeigt w i r d . D i e Bemühung u m gegensätzliche Positionen ist für die Gedankenführung eines Weltmannes, sozusagen eines M r . W o r d l y Wiseman, m i t dem verständnisinnigen, aufgeklärten oder pessimistischen Zynismus eines Rationalisten i m negativen Gesamtertrag deutlich bekundet. D i e Bilanz also: die H o f f n u n g ist dreist, betrügerisch, töricht, falsch, verrückt, nichtig u n d naiv. D i e Rehabilitierung, ja Hochpreisung erfolgt erst i m Gedicht des poetischen Kontrahenten u n d katholischen Konvertiten R i c h a r d C r a s h a w , der wie C o w l e y über alle M i t t e l der metaphysischen Dichterschule verfügt, allerdings v o n Herbert (statt v o n Donne) herkommt (Steps to the Temple sein Sammelband gegenüber The Temple , dem Frömmigkeitswerk des Anglikaners H e r bert). Crashaw bietet eine K o n t e m p l a t i o n religiöser N a t u r , die allerdings nach Schulregeln des scholastischen Disputs u n d m i t nicht unbeträchtlichem A u f w a n d an "Conceits" (witzigen Gedankenspielen) angelegt ist. Crashaw bringt noch eine wesentliche Komponente m i t : der Übersetzer u n d Nachahmer Marinos u n d der Verfasser v o n Epigrammen nach A r t der lateinischen geistlichen Dichtung u n d der Emblematiker (Quarles 1635) 3 zeigt einen großen Bereich literarischer Topoi, aber audi der persönlichen Erfindung. Der scholastisch u n d patristisch geschulte Philosoph, der humanistische K e n ner der A n t i k e , der idealistische Dichter gehen ein Bündnis ein. Das letzte W o r t des Gedichtes ist "grace", die Gnade, der Vernunft v o n C o w l e y sehr entgegengesetzt. G o t t , N a t u r , Gnade sind die Orientierungsbegriffe, die als wirkungsvolle Pointe den Aussagewert des Schlußverses bestimmen. Das A n liegen ist nicht pragmatisch-empirisch, sondern meta-empirisch, metaphysisch. Der Mensch ist in statu viatoris (Thomas). Seine H o f f n u n g ist etwas Übernatürliches. Der metaphysische Aufblick geschieht schon gleich am Anfang. I m Sinne der analogia entis w i r d alles i n einen universal-harmonischen Z u 8 Vgl. hierzu R u t h Wallerstein, Riebard Crashaw. Development (Madison, 1935).

A Study in Style and Poetic

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Hermann Heuer

sammenhang gestellt. I n der letzten Zeile des Gedichtes ist das gratia supponit naturam unüberhörbar. Bei Clemens v o n Alexandrien stieß ich auf eine Definition der H o f f n u n g i m Sinne der E r w a r t u n g eines hohen Gutes, das auf G r u n d v o n "Gottes Treue" als sicher verbürgt werde. I n diesen Bahnen w a n delt der Gedankengang des Gedichtes, dessen begriffliche Definition trotz des Fluidums des idealistischen Phantasieauftriebes jeweils v o n erstaunlichem Präzisionsverlangen kündet. " T h e entity of things that are not y e t " (Str. I ) mag an aristotelische Entelechie-Vorstellungen erinnern. Hervorragend herausgemeißelt ist die Formulierung " b y w h o m / O u r N o t h i n g hath a definition". ( M a n w i r d an eine Formulierung i n Augustins 'Bekenntnis v o r G o t t ' erinnert.) Später heißt es i n Str. I V : " b y thee / Wee are not where, or w h a t wee bee, / But what, and where wee w o u l d bee" (ein idealistischer, aber scharf umrissener O p t a t i v , etwa wie Sidney den Sinn v o n Dichtung definiert). I n diesen, aber v o r allem aber den eminent poetischen Zusammenhang, mag es gehören, wenn — anders als bei dem Antithetiker Cowley — das Oxymoron i n der fast mystischen Sprache den Ausdruck des unvereinbar Erscheinenden darstellt. Identifikationen i n der Gegensätzlichkeit prägen scheinbare Paradoxien: " o u r earlier H e a v e n " ! ( I I I ) ; " k i n d cheat! faire fallacy!" ( I V ) ; ferner: " O u r absent presence, and our future n o w " ( I V ) (Ähnliches bei T . S. E l i o t i n den Four Quartets über "Past" und "Present"). Es k o m m t bei Crashaw zu solchen Verdichtungen wie "her ciiase / The G o d of N a t u r e i n the field of Grace" (V). Dieser synthetische D r a n g des Glaubens sieht i n litaneiartiger Steigerung der Apostrophen m i t Wärme die "liebe H o f f n u n g " , die "schöne H o f f n u n g " , die "süße H o f f n u n g " , die "echte H o f f nung" als Vorstufen der Glückseligkeit. U n d so durchmißt der Dichter die argumentierenden Bildbereiche des Opponenten P u n k t für Punkt, Argument für Argument, Strophe für Strophe. Das Fatum u n d das Dilemma, das Vermächtnis u n d das Vermögen, die jungfräulichen Freuden der hoffenden V o r ahnung, den W e i n u n d die Dämmerung, Fortuna u n d die Gestirne, die Täuschung u n d den Betrug, die Pfeile des Bogenschützen, die Lotterie, den Liebenden u n d den Alchimisten. Darüber hinausgehend findet sich n o d i mancherlei: die schöne Feuerwolke, die Essenz des Weines, das K r o n l a n d droben, das M a h l der Königssöhne, die strahlende Jägerin (etwas antikisierend dianahaft, aber das Jagdmotiv i n den Bereich der aufstrebenden Sehnsüchte hineinnehmend). ( E i n anderer wußte später i n Umkehrung dieses Jagdmotivs die verfolgende Gnade zu gestalten: Francis Thompson i n The Hound of Heaven.) Überall werden also die gegnerischen Argumente berücksichtigt u n d zurechtgerückt. D i e Pfeile fliegen nach droben — das Fatum ist eine Lotterie m i t lauter Nieten — Fortuna ist ohnmächtig — die Gestirne werden durcheinandergewürfelt (die H o f f n u n g " k i c k t " sie) — die zarten Vorfreuden der bräutlichen E r w a r t u n g — die " M i t g i f t der Erde" — "des

Wettstreit über Thema Hoffnung im englischen Literaturbarock

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Himmels U n t e r p f a n d " — "feinstes, aber sicheres Sein". D i e flüchtig fruchtlose H e k t i k weicht früher Zuversicht. D i e H o f f n u n g ist vornehmlich die Regentin, die K ö n i g i n i m Bereich der jungen minderjährigen Liebe. Alles ist bei Crashaw durchglüht v o n diesem Impuls drängender Jenseitshoffnung. Sie ist der realistischen, rational-pessimistischen Diesseitigkeit v o n Cowleys Gedicht diametral i n christlichem Glauben entgegengesetzt u n d läßt die Fortuna- u n d Fatumgedanken des antiken Erbes verblassen. Das weltliche "dum spiro spero* w i r d überhöht durch die Aspiration der religiösen Inbrunst. D i e schwingenden Bogen der Phrasierung vermitteln einen hohen ästhetischen Reiz. Das Ästhetische ist jedoch nicht Selbstzweck, es w i r d Glaubenssache. Es w i r d existenziell. E i n Definitionsgedicht, wie es einer ganzen Gattung dieser A r t (z. B. bei M a r v e l l ) entsprach, w i r d hier zum Bekenntnisgedicht. D e m geistreich eleganten Zynismus Cowleys w i r d eine ebenso geistreich sich mitteilende formvollendete Frömmigkeitshaltung entgegengesetzt. N u n möchte es scheinen, als ob bei den Dichtern C o w l e y u n d Crashaw v o n vornherein nur Unvereinbarkeiten vorlägen. Dies ist nicht der Fall. Sie sind K i n d e r einer u n d derselben Zeit, was ja i n Denkstruktur u n d Stilgeschichte sehr w o h l zutage t r i t t . Auch die persönlichen K o n t a k t e sollten nicht übersehen werden. Beide waren befreundet; ihre H a u p t w e r k e erschienen 1646 (Crashaw) u n d 1647 (Cowley). D i e responsorischen Doppeldichtungen lassen zuvorigen oder begleitenden Meinungsaustausch annehmen. D i e beiden Rivalen waren zwar poetische Kombattanten, aber offenbar auch freundschaftlich verbunden, wie sich aus ihren Schicksalen u n d aus Cowleys Nachruf gedieht ablesen läßt. Sie gehörten als Fellows, sehr frühreife, vielseitig geschulte Humanisten, ihren Colleges i n Cambridge an, Crashaw dem ältesten College Peterhouse m i t dem angrenzenden Kirchlein L i t t l e St. M a r y (das für i h n u n d sein Andachtsleben eine ähnliche Bedeutung hatte wie später für N e w m a n St. M a r y i n O x f o r d ) . Beide büßten i n politisch aufgeregter Zeit ihre Fellowships ein. Wie es damals zuging, teilt uns ein drastischer Bericht über die Bilderstürmerei der Puritaner i m Peterhouse College und i n L i t t l e St. M a r y mit. Es gibt hierzu N o t i z e n aus dem Tagebuch eines gewissen W i l l i a m Dowsing. Sie sind i n Coopers Annals of Cambridge enthalten u n d beziehen sich auf den brutalen Bildersturm einer puritanischen Parlamentskommission v o m 20. u n d 23. Dezember 1643 i n Ausführung eines Gesetzes v o m 28. August 1643: "Monuments of superstition or I d o l a t r y to be Demolished". Peterhouse : " W e pulled d o w n 2 m i g h t y great Angells w i t h Wings, & divers other Angells, & the 4 Evangelists & Peter w i t h his Keies, over the Chapel Dore, & about a hundred Chirubims & Angells & divers Superstitious Letters i n G o l d " . Little St. Mary: " W e brake d o w n 60 superstitious

Hermann H e u r

92

Pictures, Some Popes & Crucyfixes & G o d the father sitting i n a chayer &: holding a Glasse i n his h a n d . * 4 Der Herausgeber der poetischen Werke v o n Crashaw, L . C. M a r t i n (1927), hält es für wahrscheinlich, daß sich danach Crashaw nach L i t t l e G i d d i n g begab. Auch für Cowley scheint das ein Signal gewesen zu sein. Beide Dichter erlitten ein Emigrantenschicksal, beide erfreuten sich eines gewissen Patronats der K ö n i g i n Henrietta, C o w l e y länger als Crashaw, der nach enttäuschenden Aufenthalten i n Frankreich u n d H o l l a n d v o n der K ö n i g i n durch direkte Fürsprache beim Papst empfohlen wurde. Der konvertierte Sohn eines bekannten puritanischen Antipapisten k a m nach Loreto (bei Ancona), l i t t unter Intrigen, gehörte schließlich der Priesterschaft der legendären Casa Santa an u n d starb 36jährig. C o w l e y hatte früher w o h l noch eine Begegnung m i t Crashaw i n O x f o r d , über die w i r k a u m etwas wissen. Er überlebte das puritanische Regime (nicht ohne H a f t u n d Fährnisse, wie es scheint) u n d fristete i n der Restaurationszeit auf einem offenbar schmal bemessenen Landlehen seinen Lebensabend. Er schrieb übrigens ein unvollendetes Epos religiöser N a t u r , die Davideis i n vier Büchern, so wie umgekehrt j a auch Crashaw i n den Delights of the Muses seine Versiertheit i n weltlicher Dichtung hervorragend unter Beweis gestellt hatte ("Musicks D u e l l " ; "Wishes t o his Supposed Mistress"). Es gibt also Parallelen u n d Überschneidungen, Übereinstimmungen i n der Fruchtbarmachung v o n Konventionen u n d Techniken. D i e Linien, die v o n Ben Jonson u n d Donne einerseits, v o n Herbert u n d M a r i n o andererseits zu unseren Dichtern führen, lassen eine gewisse Annäherung aus dem Geiste der Zeit erkennen. M a n liebt den geistreichen W i t z : etwa die Pointen über den Wein. D e r v o r zeitig entkorkte W e i n w i r d schal, meint C o w l e y gegenüber der Hoffnung. D i e i n den W e i n getauchten Zuckerstücke ( !) sollen sich i n subtiler Essenz m i t i h m vermählen, so definiert Crashaw das Positivum der Hoffnung. D e r späte C o w l e y allerdings, v o n Bacon u n d den Fortschritten der Naturwissenschaften mächtig inspiriert, auch ein ausgezeichneter Essayist m i t Darstellungen autobiographischen Einschlags, leitet eine Ä r a klassizistischer, vernunftbetonter Denkart u n d Ausdrucksweise ein. Mögen seine pseudo-pindarischen Oden nicht den ersten Rang beanspruchen, so interessieren doch die Themen. Er vermag w i t z i g über diverse Aspekte des Lebens u n d der Kunst u n d über das sich moderner gestaltende Denken zu schreiben. C o w l e y ist zweifellos eine vielseitige, interessante Figur einer Übergangsepoche. Crashaw andererseits ist aus der imponierenden Geschichte v o n Englands religiöser Dichtung zwischen Caedmons Schöpfungslyrik bis zu H o p k i n s u n d T . S. E l i o t als ekstatisch-glutvoller Frömmigkeitstyp (man denke u. a. an seine großartigen Theresienhymnen) u n d wegen seiner Mittlerschaft zwischen dem südlich-

4

Z i t a t nach Richard Crashaw, Poetical Works, S. X X V .

Wettstreit über Thema Hoffnung im englischen Literaturbarock

93

katholischen Kulturkreis u n d dem protestantischen N o r d e n nicht wegzudenken. Er ist i n einem prägnanten Wortsinn "barock". D i e angelsächsischbritische W e l t liebt diesen Begriff nicht, aber selbst ein Douglas Bush wendet i h n m i t der Formulierung auf Crashaw an, daß er der einzige sei, auf den diese Bezeichnung i m Bereich der englischen Literatur eigentlich zutreffe. Begriffsgeschichtlich liegt hinsichtlich der Anwendbarkeit u n d Wesensbestimmung des Terminus "barock" bekanntermaßen ein großes Feld der Auseinandersetzung vor. Es k a n n nicht darum gehen, deutschen Lesern des 20. Jahrhunderts solche Phänomene wie Crashaw u n d C o w l e y empfehlend aufzudrängen, aber wenn es gelungen sein sollte, ein gewisses Verständnis für das befreundete Gegensatzpaar (um ein O x y m o r o n zu gebrauchen!), seine Schicksale u n d seine poetischen Debatten zu wecken, so wäre unserem persönlichen Bestreben gedient.

SCHRIEB KLEIST REGIERUNGSFREUNDLICHE

ARTIKEL?

Über den Umgang m i t politischen Texten* V o n Wolf gang Wittkowski

Das Kleist-Gedenkjahr 1977 verlief i n Deutschland u n d der deutschen Germanistik auffallend still. Ganz anders w a r das i m Gedenkjahr 1961, als Kleist neben K a f k a noch bevorzugter Gegenstand der existentialistischen Literaturbetrachtung w a r . Dazwischen fällt u m 1970 der politische K l i m a wechsel i n der Bundesrepublik. Wieder einmal lautete nun, wie i n der D D R v o n A n f a n g an, die Gretchenfrage an den Schriftsteller: »Wie hast du's m i t der Politik?« U n d eben da schnitt Kleist ungünstig ab. D i e große Ausnahme bildet i n diesem Zusammenhang K u r t Gerlach: Heinrich von Kleist. Sein Leben und Schaffen in neuer Sicht, eine Veröffentlichung der ostdeutschen Forschungsstelle i m Lande Nordrhein-Westfalen; D o r t m u n d , Bd. 1 (1971), 2 (1972), 3 (1977). Die »neue« Sicht ist freilich so neu nicht. Es ist diejenige v o n Reinhold Steig. Dessen Buch Kleists Berliner Kämpfe (1901; neu bei Lang, Bern 1971) ordnete Kleist m i t patriotischem Nachdruck dem märkischen Junkertum zu. Gerlach legt den Akzent besonders auf das Märkische, w o m i t er seine k a u m beachtete P u b l i k a t i o n nicht attraktiver macht. D i e marxistische L i t e r a t u r k r i t i k (Mehring, Lukâcs) folgte lange Steig, allerdings m i t negativem Vorzeichen. Ihre Fragestellung, ob Literatur »progressiv« sei oder »regressiv«, w a r auch v o n der Frankfurter Schule der zwanziger Jahre u n d seit ihrer Erneuerung i n den fünfziger Jahren propagiert worden. D i e »Erbe«-Diskussion der sechziger Jahre i n der D D R t r a f sich m i t den Nachklängen der westdeutschen Kleist-Verehrung i n dem Wunsch, den Dichter auch politisch als »progressiv« ausweisen zu können. Dabei ruhten die Hoffnungen, Kleist nicht als v ö l l i g reaktionär einstufen zu müssen, nahezu ausschließlich auf drei A r t i k e l n , i n denen der Redakteur der Berliner Abendblätter die progressiven Reformen der Regierung Hardenberg gegen seine adligen Standesgenossen zu unterstützen scheint: »Über die Luxussteuern« y »Über die Aufhebung des laßbäuerlichen Verhältnisses«; »Über die Finanzmaßregeln der Regierung« (BA 20. und 29. Dez. 1810, 18. Jan. 1811). * Erweiterte Fassung eines Vortrags Conference 1979 in Lexington, K y .

auf

der

Kentucky

Foreign

Language

Wolfgang Wittkowski

96

Das lange erwartete Finanzedikt v o m 27. Oktober 1810 kündigte das Ende der Leibeigenschaft u n d der Steuerprivilegien des Adels an. Es hieß, nur so sei die gewaltige Kriegsschuld an das siegreiche Frankreich abzutragen. Z u gleich sollte die gesetzliche u n d soziale Sonderstellung des bisher v o n Steuern ausgenommenen Adels gebrochen werden, u m so eine nationale Gemeingesinnung zu ermöglichen. Diese Grundeinstellung teilten u n d halfen formulieren Männer wie der Baron Stein zu Altenstein, welchem Kleist 1805/6 i n Königsberg, u n d Gneiseau, welchem er noch 1811 nahetrat 1 . Jetzt w a r er freilich befreundet m i t A d a m M ü l l e r , m i t dem er 1808/9 i n Dresden den Phoebus herausgegeben hatte u n d den er nun i n seiner Zeitung — der ersten Tageszeitung Norddeutschlands — i n historisch hochkritischer Stunde zur Verteidigung des Adels das W o r t ergreifen ließ. M ü l l e r tat das aufs schärfste u n d wurde zumal i n dem A r t i k e l »Vom Nationaler e dit« am 15./16. N o vember 1810 so ausfallend gegen Hardenberg, daß der K ö n i g am 18. N o v . die strengste Zensur der Abendblätter anordnete. Kleist mußte froh sein, wenn er v o n Hardenberg u n d dessen damals 29jährigem Sekretär v o n Raumer persönlich die Erlaubnis erhandelte, wenigstens halbamtliche Regierungsäußerungen u n d regierungsfreundliche Beiträge zu drucken. D i e anderen Berliner Zeitungen gruben i h m dann noch dieses letzte Wasser ab. Bis zu ihrem Eingehen Ende M ä r z 1811 brachten die Abendblätter nur noch 6 p o l i tische A r t i k e l , darunter 3 v o n Kleist. A l l e machen Verbeugungen v o r der Regierung. Gerlach hält dergleichen u n d alles, was Kleist zugunsten Hardenbergs gegen den A d e l sagt, für Heuchelei 2 . I m selben Jahr 1972 erklärt D i r k Grathoff vorsichtiger, hier könne man keine Schlüsse auf die Gesinnung der Verfasser ziehen. Zugleich versichert er jedoch, die A u t o r e n stellten ihre Gedanken keineswegs einfach auf den K o p f , auch Kleist nicht i n den drei A u f sätzen, »in denen er Hardenbergs Wirtschaftsreformen verteidigte«. U n annehmbar sei deshalb »Steigs Versuch, Kleists Aufsatz über die Finanzmaßregeln [ . . . ] , der für die preußischen Reformen eintritt, i n einen >im K e r n oppositionellen A r t i k e l · umzuinterpretieren« 3 . D e n gleichen V o r w u r f erhob schon 1937 H e l m u t Sembdner i m Fall des Luxussteuer-Aufsatzes 4 . Das heißt 1 Vgl. Richard Samuel, »Heinrich von Kleist und K a r l Baron von Altenstein, Euphorion 49 (1955), 7 1 3 - 7 6 ; »Heinrich von Kleist und Neidhardt von Gneisenau«, JDSG 7 (1963), 352 - 370. Beides audi in R . Samuel, Selected Writings , Melbourne 1965, 8 5 - 111. 2

Gerlach, Bd. 2, S. 26.

8

D i r k Grathoff, »Die Zensurkonflikte der Berliner Abendblätter«. kritische Studien zur Literatur. Essays I , hrsg. Volkmar Sander. Athenäum 1972, S. 35 - 168, bes. 126 f., 120, 70. 4 H e l m u t Sembdner, Die Berliner Abendblätter druck Amsterdam: John Benjamins 1970, S. 113 f.

I n : IdeologieFrankfurt/M.:

Heinrich von Kleists, 1939, N e u -

Schrieb Kleist regierungsfreundliche Artikel? a b e r , w i e E b e r h a r d Scheibner

i n d e n Weimarer

Beiträgen

97 1977 m i t

Ent-

s c h i e d e n h e i t e r k l ä r t : b e i d e A r t i k e l » s i n d sichere Belege f ü r K l e i s t s r e f o r m b e j a h e n d e H a l t u n g « 5 . D a s gleiche U r t e i l

findet

sich b e i H e l m u t Rogge 6

sowie

— u n t e r E i n s d i l u ß des v o n Scheibner o h n e n ä h e r e B e g r ü n d u n g

ignorierten

B e i t r a g s Ȇber

(der L e i b -

die Aufhebung

des laßbäuerlichen

Verhältnissesunbefangen< über die miserable Lage der Arbeiterklasse äußerten. M i t dem hellsichtigen H a ß des feudalen Klassengegners erblickten Müller und Baader die eben erst aufkeimenden Widersprüche der noch aufsteigenden kapitalistischen Welt. Sie wurden nicht müde, die grellen Dissonanzen des Bourgeoissystems mit der angeblich heilen W e l t des Feudalismus zu konfrontieren. D i e zu eitel W o h l leben und Humanität hodistilisierte Leibeigenschaft verglichen sie hierbei demagogisch mit dem grausamen und elenden Los des Frühproletariats. 5 Eberhard Scheibner, » Z u Kleists politischen Ansichten zur Zeit der Berliner Abendblätter c. WB 23 (1977), S. 144 - 165, hier 161 f. β H e l m u t Rogge, Fingierte Briefe als Mittel politischer Satire. München: Beck 1966, S. 135. Ebenso über den Luxussteuer-Aufsatz Ulrich Vohland, Bürgerliche Emanzipation in Heinrich von Kleists Dramen und theoretischen Schriften. Bern/ Frankfurt: Lang 1977, S. 452 - 454. 7 Peter Goldammer, S. 717 der Anmerkungen zum Band Erzählungen, Gedichte, Anekdoten, Sc&n/iew der vierbändigen Ausgabe Heinrich von Kleist, Werke und Briefe, Berlin/Weimar: Aufbau 1978. 8 Anmerkung zu »Uber die dtv Gesamtausgabe Bd. 5, S. 225. 9

Aufhebung

des laßbäuerlichen

Verhältnisses«,

H e i n z H ä r t l in WB 23 (1977), S. 178 - 181, hier 178.

10

»Adam Müller und Kleist. Über die sozialökonomische Ausprägung der deutschen Romantik in ihren Bezügen zur spezifisch literarischen Form der Romantik«. WB 24 (1978), S. 1 2 1 - 1 3 5 . 7 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 23. Band

98

Wolfgang Wittkowski

Keiner dieser beiden Verfasser erwähnt die fraglichen Aufsätze. R u d o l p h stellt lediglich die N ä h e mancher Dichtungen zu Müllers Katholizismus fest. A u f ein Werk, Die Heilige Cäcilie, w i r d unten näher einzugehen sein. A l s Steig die Berliner Kämpfe schrieb, wußte er noch nicht, daß Kleist der Verfasser der drei A r t i k e l w a r . Das ermittelte er für den einen später selbst, für die zwei anderen tat das erst Sembdner. Dieser wies auch nach, daß ein Begrüßungs- u n d Preisgedicht auf I f f l a n d nicht, wie Steig annahm, v o n einem aufrichtigen Verehrer des Theaterdirektors stammt, sondern eine ironische Sottise aus Kleists Feder ist 1 1 . Dagegen hält Sembdner das v o n Kleist fingierte »Schreiben eines redlichen Berliners, das hiesige Theater betreffend«> das seinen ironisch-satirischen Charakter doch i m T i t e l schon enthüllt, für »ganz vernünftig«; »allein durch die Nachschrift« werde es »entkräftet u n d ins Lächerliche gezogen« 12 . »Erst die Nachschrift [ . . . ] läßt die satirische Tendenz erkennen«, sagt auch, i h m folgend, Grathoff (107) — während i m gleichen Jahr Michael Moering den I r r t u m Sembdners feierte als einen T r i u m p h für Kleists Kunst der verhüllten I r o n i e 1 3 . Ferner wußte Sembdner seinerzeit nichts anzufangen m i t Steigs Analyse v o n 1901: »Die Augenverblendung«, »die vollendete Verhöhnung Ifflands i n Formen, die das Gegentheil davon zu besagen scheinen«, beginne gleich m i t der »Vorbemerkung«. » V ö l l i g neutral«, »ohne L o b u n d Tadel« gelange i n den ersten Sätzen dennoch Kleists »Gegnerschaft grell z u m Ausdruck« (220 223). Eine nähere Erläuterung hielt Steig offenbar für überflüssig. Unseren Zwecken k a n n sie dienen: beispielsweise erwartet der redliche Berliner, daß I f f l a n d dem Nationaltheater einen bestimmten Charakter einprägen soll. E r erwartet das aber m i t einer auffällig verwickelten Syntax so: »daß er dem Theater (was ihm, zu besitzen, das erste Bedürfnis ist), [.../ einprägen werde: nämlid) einen CharakterDie Parenthese erhält dabei zwei Bedeutungen: erstens w i l l I f f l a n d v o r allem Besitzer des Theaters sein; u n d zweitens ist er v o r allem eines Charakters bedürftig. H i e r a u f u n d auf andere Teile des Briefes kommen w i r zurück. D r e i Tage nach Erscheinen dieses fingierten Briefes v o m 2 3 . 1 1 . 1 8 1 0 k a m es am 26. zu einem Theaterskandal, bei dem laut ministerieller A k t e n n o t i z ein »von Kleist, M a j o r « den Offizieren vorher die Plätze angewiesen u n d 11 Steig a.a.O. S. 189. Sembdner, »Neuentdeckte Schriften H . v. Kleists« Euphorion 53 (1959), S. 175 - 194. Z i t . nach Sembdner, In Sachen Kleist, München, Hanser 1974, S. 1 2 9 - 1 3 1 . 12 Sembdner, Die Berliner Abendblätter (Anm. 4), S. 113. dtv Bd. 5 (Anm. 8), S. 228: »Die Ironie w i r d erst durch die Nachschrift offenbar«. Ebenso In Sachen Kleist 1974 (Anm. 11), S. 215. 18 Michael Moering, Fink 1972, S. 205 f.

Witz und Ironie in der Prosa Heinrich von Kleists, München,

Schrieb Kleist regierungsfreundliche Artikel?

99

dann »den meisten L ä r m gemacht haben soll« (Grathoff 114, 159). Während die Polizei behauptete, vergeblich nach dem Übeltäter zu fahnden, den der Berliner Polizeipräsident persönlich kannte u n d unter seiner besonderen Zensur-Obhut hatte, erweiterte Kleist die W i r k u n g eben durch die Zeitung. M i t scheinheiligem Kopfschütteln über das unbotmäßige P u b l i k u m berichtet er unschuldig n u r : beim Auftreten der Mslle. Herbst habe ein »heftiges u n d ziemlich allgemeines Klatschen« begonnen, »welches durch den Umstand, daß man, bevor sie noch einen Laut v o n sich gegeben hatte, da capo rief, sehr zweideutig ward«. Das druckten die Abendblätter am 27. November. A m 1. Dezember erhielten sie auf Betreiben I f f lands Druckverbot für Theaterk r i t i k e n . Uns geht es hier darum, zu illustrieren, m i t welcher Unschuldsmiene Kleist seine K r i t i k ironisch-witzig anzubringen u n d zugleich halb zu verhüllen wußte. W i r prüfen daraufhin die drei politischen A r t i k e l u n d v o r her ein anderes kleines D o k u m e n t : 1. R e d a k t i o n e l l e A n m e r k u n g z u » S t ä n d i s c h e C o m m i s s i o n « (19.1.1811) Kleist bedient sich dieser Unschuldsmiene i n einer redaktionellen A n merkung, die i n den genannten Ausgaben leider fehlt. Sie kommentiert den letzten politischen A r t i k e l seiner Zeitung: Der Verfasser, L u d o l p h Beckedorff, lehnt da den »Reichstag« einer allgemeinen ständischen Versammlung »mit gesetzgebender Gewalt« verächtlich ab. »Ein U n d i n g ! « wettert Kleist unter dem Strich u n d scheinbar überflüssigerweise. Steig (148 ff.) zufolge richtet der Doppelangriff sich gegen die Ziele der Hardenbergpartei. Das mag damals möglich gewesen sein, da Hardenberg lediglich eine Kommission v o n Notablen, also Spitzenvertretern des Adels u n d des Bürgertums, berufen durfte. T r a t der K ö n i g damit der Zielsetzung Hardenbergs entgegen, so nicht weniger derjenigen, die er i n A d a m Müllers erwähntem Aufsatz »Vom Nationaler edit« entdeckt zu haben meinte — w o h l irrtümlich. M ü l l e r ging da aus v o n der Voraussetzung, »daß die Gesetzgebung eines bedeutenden Staates niemals die Sache des einzelnen guten Kopfes seyn könne, sondern daß sie nur aus dem Conflict u n d der Berathung der bei der Existenz dieses Staates am meisten interessierten Stände hervor gehen, auch nur auf diesem Wege erhalten u n d erweitert werden könne«. Doch der K ö n i g kommentierte i n seiner Kabinettsordre v o m 18.11.1810, die daraufhin die Abendblätter »der strengsten Censur« unterwarf: »Außerdem spricht man [ . . . ] nicht undeutlich den Wunsch nach einer allgemeinen Versammlung v o n Ständen aus, der i n erhitzten K ö p f e n vorherrschend sein soll u n d der auf jeden Fall einer großen Modification bedarf.« 1 4 14



Abgedruckt bei Steig S. 75.

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Wolfgang Wittkowski

Dergleichen w a r hier überflüssig. Beckendorff haut aus Überzeugung u n d w o h l aus Berechnung i n dieselbe Kerbe. Durch die Arbeit der Kommission würden »die törichten Erwartungen Derjenigen vollständig zu Schanden, welche sich nichts Geringeres versprochen haben, als eine allgemeine ständische Versammlung m i t g e s e t z g e b e n d e r G e w a l t , [hier erfolgt Kleists Anmerkung] einen großen Reichstag gleichsam, w o h l gar ein Parlament m i t Ober- u n d Unterhause u n d m i t allem Zubehör v o n Opposition, Stimmenmehrheit u n d möglichen Ministerial- Veränderungen«. Das Beispiel des konstitutionellen England w a r dem K ö n i g i n Müllers Aufsatz unlieb aufgefallen. Verfasser u n d Redakteur stimmen also dem K ö n i g bei, offenbar auf Kosten Hardenbergs u n d Müllers, den Friedrich W i l h e l m mißverstanden hatte. Gegen den Zentralgedanken i n Müllers Aufsatz zielt der Passus, »daß gerade solche, die am meisten v o n alten Rechten u n d Privilegien u n d v o n hergebrachter Verfassung geredet haben, eine so unerhörte Maßregel haben erwarten können«. Statt dem von M ü l l e r propagierten »Widerstreite einseitiger H e r r n - u n d Stände-Interessen« sollen »Vorbedacht u n d Absicht« den Staat gestalten »als ein Kunstwerk u n d nach dem Resultate eines ruhigen u n d besonnenen Selbstgespräches«. M a n könnte dennoch stutzen u n d sich fragen: ist das nicht, beruhigender vorgetragen, genau A d a m Müllers ästhetische Theorie v o m versöhnenden Gegensatze 15 u n d Widerstreit? U n d zwar entsprechend seiner Ansicht, daß das Entscheidende »niemals die Sache des einzelnen guten Kopfes seyn könne«? Tatsächlich richtet Beckedorff unüberhörbar an den K ö n i g u n d an Hardenberg die Mahnung, daß »ein weiser Staatsmann« das Resultat jenes Gesprächs und Selbstgesprächs, »die ö f f e n t l i c h e M e i n u n g « , »keineswegs leiten oder beherrschen zu w o l l e n unternimmt, sondern m i t welcher er sich möglichst zu vereinbaren u n d zu verständigen bemüht seyn w i r d « . N i c h t er, sondern die v o m K ö n i g berufenen Sprecher der Provinzen sind die »Organe [ . . . ] dieser öffentlichen Meinung, dem gesetzgebenden Souverän gegenüber« — ein unmißverständlicher A p p e l l , der K ö n i g solle auf einflußreiche Bürger u n d den A d e l hören, nicht auf Hardenberg, auf »MinisterialVeränderungen« — M ü l l e r hatte boshaft v o n der »Verschlagenheit eines noch so genialischen Administrators« gesprochen; der könne »Gold, aber ewig keinen Nationalcredit machen«, welcher allein »durch Treue gegen die Verfassung erworben u n d aufrecht erhalten w i r d « . Beckedorffs Aufsatz bringt also die scheinbar abgewiesenen Ketzereien Müllers zuletzt wieder zu Ehren. U n d darauf, auf die Ausschaltung des Ministers u n d die Verpflichtung v o n

15 A d a m Müllers Lehre vom Gegensatze (1804) lieferte die strukturelle Grundlage für seine Elemente der Staatskunst y die Kleist ihn 1808/9 in Dresden vortragen hörte und die 1809 erschienen.

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K ö n i g u n d Gesetz auf die Stände, die Sprecher der N a t i o n , sieht es auch Kleists redaktionelle A n m e r k u n g ab: Ein Unding! denn eine ä c h t e ständische Verfassung, [ . . . ] als hoffentlich das Resultat der neuen Einrichtungen sein wird, überträgt die Gesetzgebung dem Souverän als dem allgegenwärtigen Mittelpunkt des ganzen Staates, den Ständen dagegen, als den geborenen und erwählten Repräsentanten der Staatskräfte, das Geschäft, die Wünsche und Bedürfnisse der N a t i o n , ihr Interesse und ihr V e r langen dem Gesetzgeber immer gegenwärtig zu erhalten.

Ähnlich soll i m Kohlhaas der alleinverantwortliche Fürst den K o n t a k t z u m U n t e r t a n nicht stören lassen durch die Bürokratie. Was die i n der redaktionellen Anmerkung gemeinten ständischen Repräsentanten angeht, so dürfte das A t t r i b u t geborenen erweisen; daß eine Versammlung gemeint ist, i n der der A d e l den V o r r a n g v o r den anderen Ständen hatte. So w a r es üblich, u n d so meinten es M ü l l e r u n d Beckedorff 16 . D a n n aber bezieht der A r t i k e l — wie allein Steig feststellte, während die übrige Forschung den A r t i k e l u n d Steigs Kommentar so gut w i e v ö l l i g überging — schärfste O p position gegen die Ziele Hardenbergs u n d der Reformpartei. Das wurde v o n den Zeitgenossen auch bemerkt, wie Steig (S. 150) belegt: am 2 4 . 1 . 1 1 meldet Freiherr L u d w i g v o n Ompteda brieflich seinem Bruder »einige neuerliche Aufloderungen« i n den Abendblättern. D a ß Hardenberg begriff, versteht sich. Dies eben blieb der letzte tapfere Streich der ihrem Ende zutreibenden Abendblätter. W e n n er durch die Zensur kam, verdankte er es deren M i l d e angesichts der tagenden Notabelnversammlung, v o r allem aber der Technik des Verfassers, die A u t o r i t ä t e n irrezuführen durch die Angriffe auf M ü l l e r — u n d sie durch unausgesprochene Rehabilitierung Müllers versteckt zu verhöhnen. Ironische Satire also. M a n fand dergleichen — freilich ohne ironische Verhüllung — i n Kleists Briefen für die nicht zustandegekommene Germania u n d für die Abendblätter y ζ . Β . auch i m ersten der angeblich »regierungsfreundlichen A r t i k e l « , »Über die LuxussteuernWir besprechen jedoch zunächst den zweiten. 2. Ü b e r d i e A u f h e b u n g d e s l a ß b ä u e r l i c h e n V e r h ä l t n i s s e s (29.12.1810) Es ist der nüchternste, unscheinbarste, scheinbar eindeutigste u n d w o h l deshalb meist übergangene der drei A r t i k e l , v o n denen hier die Rede ist. Steig u n d Sembdner sind, was die Regierungsfreundlichkeit des Beitrags an16 »Beckedorff hatte unter dem 8. Dezember 1810 dem Staatskanzler ein Promemoria überreicht, das den Plan entwickelte, wie der preußische Adel wieder zu beleben sei«, und das Hardenberg »natürlich spurlos >zu den Akten< schrieb: 3. Jan. 1811.« Steig, S. 148. Sembdner (mdl. Mittig.) schreibt die Anmerkung Beckedorff zu, nicht Kleist.

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geht, hier unter sich u n d m i t der Forschung einig. Sembdner, der Kleists Verfasserschaft ermittelte (Euphorion 1959), n i m m t an, er lege hier »die Weisheit« der v o n Hardenberg »ergriffenen Maßregeln gründlich u n d v o l l ständig dem P u b l i k o auseinander« ( d t v 5, S. 225). M i t diesen W o r t e n hatte Kleist den Kanzler u m »Andeutungen oder Befehle« ersucht, u n d sie waren i h m durch Raumer zugekommen ( 3 . 1 2 . 1 0 an Hardenberg; 2 0 . 5 . 1 1 an Prinz W i l h e l m ) . Steig vermutet sogar einen Beamten als Verfasser. Es geht u m die verantwortliche Sorge für den Untertan, wie sie etwa Kohlhaas für seinen Knecht Herse zeigt. Menschen, die über Nacht eine Freiheit erhalten sollen, auf deren Gebrauch sie gar nicht vorbereitet sind, geraten unvermeidlich i n Schwierigkeiten. Eine Zeitlang bleiben sie angewiesen auf die »Unterstützung« ihres Herren. Das sind Erwägungen aus der Adelsperspektive, wie sie sein soll. Kleist unterstellt sie der Regierung u n d schreibt ihrer Fürsorge die Verzögerung des Edikts zu. Der Zensor konnte i n der T a t zufrieden sein. Indessen behauptet Kleist durchaus nicht, er wisse, daß die Regierung aus so löblichen M o t i v e n handle. Vielmehr deutet er bloß an, hier könne der G r u n d für die Verzögerung liegen. Nachdrücklich erklärt er eingangs, bei a l l ihrer offenkundigen »Wohltätigkeit« für den Einzelnen u n d für die L a n d wirtschaft dürfe besagte »Maßregel [ . . . ] doch nicht [ . . . ] plötzlich u n d m i t e i n e m Schlage [ . . . ] ins Leben gerufen werden«. D a n n folgen die humanitären u n d adelsgemäßen Argumente, als Erläuterung endlich der Schlußabsatz: Diese Betrachtungen sind ohne Zweifel von der Regierung in Erwägung gezogen worden und w i r führen sie hier nur an, um der Ungeduld derjenigen zu begegnen, welche die Publication der Edicté über diesen Gegenstand nicht erwarten können.

Handelte es sich i n der T a t u m Ideen der Regierung, könnte u n d müßte Kleist sich bestimmter ausdrücken. So, wie er seine Worte setzt, sind sie ein H i n w e i s auf das humanitäre Problem der Bauernbefreiung; eine Warnung, die das erwartete E d i k t schwerlich populärer machen half. Vermutlich wußte man sogar, daß das E d i k t sich keineswegs aus humanitären, sondern aus taktischen Gründen verzögerte 1 7 . D a n n freilich ließ das beflissene »ohne Zweifel« ebenso wie das »Ein U n d i n g ! « der oben erörterten redaktionellen A n m e r k u n g hinter einer Unschuldsmiene den H o h n auf die Regierung u n d die Ablehnung ihres Edikts u m so deutlicher hervorblicken. U n d u m so besser w i r d man i n den beiden anderen A r t i k e l n das Regierungslob als Ironie 17 Steig wertet sie (120) als »diplomatische Konzession, vielleicht nur ScheinKonzession, des Staatskanzlers an den lauter widersprechenden, Grund besitzenden Adel.«

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verstanden haben, gerade w e i l es da weit weniger gedämpft u n d sogar überschwänglich ertönt. Beide befassen sich m i t den Steuergesetzen gegen den Adel. 3. Ü b e r d i e L u x u s s t e u e r

(20.12.1810)

Der A r t i k e l , der sich m i t dem Luxussteueredict v o m 28. Oktober 1810 befaßt, gibt einen dem Verfasser angeblich bekannt gewordenen Brief wieder, eingefaßt von einer Vorbemerkung u n d einer Nachschrift, die eine A n t w o r t Kleists als »Anonymus« enthält. D e r fingierte Brief stellt das Muster einer Steuerhinterziehung dar, offenk u n d i g eine Satire auf den Adel. Einzig Steig hielt das nicht für die wahre Grundtendenz u n d erhielt dafür v o n Sembdner die Rüge: er habe »nicht nur den satirischen Sinn des ganzen Artikels v ö l l i g mißverstanden, sondern auch Kleists nationales Verantwortungsgefühl i n nicht mehr rechtzufertigender [ ! ] Weise unterschätzt«. Sembdner vermischt sogar v e r w i r r t - v e r w i r r e n d die Absichten Kleists u n d des fingierten Briefschreibers, u m Steig vorzuwerfen, er w o l l e »den Aufsatz [ . . . ] als praktischen Vorschlag, den Luxussteuern zu entschlüpfen, gewertet wissen« 18 . So wertete Steig (116) aber natürlich nur die Absicht des fingierten Briefschreibers. D i e F i k t i o n als solche dagegen »lief« seiner Ansicht nach »auf eine Verspottung des Gesetzes hinaus« (117). Steig meinte noch, Einleitung, Zwischenbemerkung u n d abschließende A n t w o r t zu dem Brief stammten nicht v o n Kleist, sondern v o n Regierungsseite, womöglich v o n Raumer. D e m unterbreitete ja Kleist diesen A r t i k e l (Steig meinte, bloß den Brief, was allerdings wenig wahrscheinlich ist) zur Begutachtung, bevor er i h n druckte. D a r i n erblickt man noch heute die selbstverständliche Garantie für die regierungsfreundliche Tendenz des Ganzen. Scheibner beruft sich außerdem auf den A p p e l l des Gesetzes, u n d wertet Kleists A p p e l l an »den Edelmut u n d Gemeinsinn der N a t i o n « , die Luxussteuern zu erstatten »als eine A r t v o n patriotischem Beitrag [ . . . ] zur Rettung des Staats«. E i n solcher A p p e l l könne seine W i r k u n g nicht verfehlen, gebe es doch, w i e Kleist versichert, genug Leute, die » d i e Zweckmäßigkeit der L u x u s s t e u e r n begreifen« (Hervorhebung bei Rogge 135 u n d Scheibner 162). U n d Kleist versichere ja, »obiger Brief« sei nur die V e r i r r u n g einer einzelnen, isolierten Schlechtigkeit« — vielmehr, das allein könne sie sein. — W o z u dann aber der A p p e l l , die lächerlichausführliche Darlegung, wie man die Steuer umgehen könne? D i e Tendenz muß sich logischerweise doch »gegen die egoistisch-restaurive Rolle bestimmter Adelskreise« richten, wie Scheibner feststellt, ohne indes den Widerspruch zu dem zitierten W o r t l a u t zu erörtern. 18

(Anm. 4), S. 114.

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D a ß hier etwas nicht stimmte, bemerkte wieder allein Steig. D i e A n t w o r t an den Sdireiber spricht sogleich v o n dessen »Genossenschaft« u n d fügt erst nachträglich h i n z u : »falls Sie dergleichen haben«. Steig sah darin eine H i n deutung auf den ganzen besitzenden Adel, der die Steuer angreife u n d das auch schon i n Delegationen, wie dann i n der bekannten Stolper tat. Den immanenten Widerspruch beachtete er freilich nicht; u n d »die fiskalische D r o hung m i t einer Steuererhöhung, als Ausfluß der H u l d u n d Güte der Regierung, steht« für sein Empfinden nur »wie an Unrechter Stelle da«. »Sehr geschickt« erscheint i h m deshalb »diese A n t w o r t nicht« (118 f.) — eben wenn sie den Standpunkt der Regierung einleuchtend machen soll. I n der T a t : wenn die Regierung zum Eintreiben der Steuer ein Beamtenheer mobilisiert, hat sie zunächst ganz eindeutig nicht m i t einer »einzelnen, isolierten Schlechtigkeit« zu schaffen. W e i l sie dazu aber, wie Kleist i m einzelnen vorrechnet, die Steuer weiter erhöhen muß, fragt sich, ob der zusätzliche A u f w a n d sich nicht selbst verzehrt, u n d umgekehrt, ob ein bescheidener bürokratischer A u f w a n d überhaupt lohnt, wenn derart viele Ausweichmöglichkeiten bestehen. Z u der Satire auf den Egoismus der adligen Besitzenden käme also hinzu die Satire auf die Rechenkunst der Regierung. Diese durfte Kleist nicht offen kritisieren, u n d er brauchte es nicht; sie wurde damals immer wieder öffentlich bezweifelt. Er erreicht seinen Zweck vielmehr durch jene Widersprüche, die z u m Aufhorchen u n d Nachdenken anhalten sollen, u n d durch das übertrieben enthusiastische Vertrauen i n die Weisheit der Regierung. Z u diesen, uns schon bekannten M i t t e l n gesellt sich die verhüllte K o m i k einer lächerlich moralisierenden Argumentation: Nach allem, was w i r v o n Kleist wissen, ist es i h m ernst m i t der Zwischenbemerkung: »ob ein Staat, der aus solchen Bürgern zusammengesetzt ist, besteht, oder ob er, v o n den Stürmen der Zeit, i n alle Lüfte verweht w i r d : das gilt v ö l l i g gleichviel.« Was aber soll man davon halten, wenn er als drakonische Strafe des einzelnen Missetäters — Steuererlaß empfiehlt u n d die Anprangerung des Namens m i t dem entehrenden V e r d i k t : »dieser ist v o n der Steuer frei«? U n d wenn er, daran gemessen, die Alternative der Steuererhöhung u n d Beamtenvermehrung feiert als ein weiteres Beispiel — nicht der Einfalt, sondern — der » H u l d u n d Güte«, die »seit undenklichen Zeiten, die Eigenschaft aller unserer Landesregierungen gewesen ist«? Der hypothetische Charakter dieser Alternative w i r d noch i n den prosaisch abschließenden Zahlenvergleichen gegenwärtig gehalten (»vielleicht«) u n d mochte sich bei vielen Lesern erstrecken auf » H u l d u n d Güte [ . . . ] aller unserer Landesregierungen«. U n d sollte gerade jenes letzte Z i t a t nicht auch heute noch Anspruch erheben dürfen auf ein wenig Mißtrauen? Aber nein, auf einen ganz ähnlichen

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Ausruf gründet Scheibner (162) sein Vertrauen zur Regierungsfreundlichkeit des dritten Aufsatzes:

4. Ü b e r

die F i η a η ζ m a ß r eg e1 η der

Regierung

(18.1.1811)

D e r H i m m e l bewahre mich davor, der Regierung bei so viel preiswürdigen und gesegneten Schritten, die sie zum Aufbau einer besseren Zukunft tat, nichts als eine Absicht dieser sekundären A r t unterzulegen; es gilt hoffentlich ganz andere Dinge, als die bloße Tilgung einer, momentan auf uns lastenden Kriegsschuld.

Was Scheibner u n d andere Kommentatoren nicht bemerkten, ist, daß gerade dieser Ausruf zu Beginn des Schluß abschnitt s das scheinbare Ergebnis des Artikels entwertet u n d i n sein Gegenteil verkehrt. W i r haben wieder einen fingierten Brief m i t der Anrede: »Mein theurer Freund« und unterzeichnet »xy«. D e m angeschriebenen Partner legt Kleist die Frage i n den M u n d , die damals i m Zentrum der Reform-Debatten stand: W a r u m verlangte man v o m A d e l nicht eine einmalige Kriegskontribution, die nichts an der Verfassung u n d an den Privilegien des Standes änderte? N u n , antwortet der Briefschreiber: als davon die Rede w a r , erklärte sich der A d e l außerstande zu einer so außerordentlichen »Kraftäußerung«. Jetzt freilich, da er »das Drückende [ . . . ] der Alternative« sieht, ist er plötzlich einverstanden u n d imstande. D e r »Buchstabe« »der erlassenen Verordnungen« mußte allerdings »auf ganz notwendige Weise« diese »Reaktion« herbeiführen, den »Geist« dieses patriotischen Opfersinns erwecken. — D a r f man daher annehmen, sie seien auf diesen Endzweck berechnet? Daß der »Gedanke, diese K r a f t i m Schöße der N a t i o n zu erwecken u n d zu reifen, m i t i n die Waageschale gefallen wäre?« M i t der »Kraft« ist hier, ähnlich wie i m Aufsatz über die Luxussteuer, »die K r a f t der Hingebung u n d Aufopferung für das Gemeinwesen« gemeint. I m vorletzten Absatz befindet sich die Anekdote v o n dem Gelähmten, dem plötzlich ein Feuer Beine macht. D a m i t lenkt Kleist jäh v o n jener höheren »Kraft« ab u n d zurück auf die materielle »Kraftäußerung«. Tatsächlich erschien i m drittletzten Absatz die materialistische Reaktion auf den materiellen Druck der Verordnung allein als deren unanzweifelbare u n d auch beabsichtigte Folge, die Erweckung des höheren Vermögens dagegen nur als hypothetische Zusatzabsicht. D e r Schlußabsatz versichert dann eigentlich nur, der Regierung wenigstens nicht ausschließlich die T i l g u n g der N a t i o n a l schuld als Ziel zu unterstellen. Vollends die Wendung »hoffentlich ganz andre Dinge« läßt — nach der vorangegangenen klaren Definition überraschend — wieder offen, was die ganz andren Dinge sein mögen. D e m

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entspricht i m drittletzten Absatz der Ausdruck »Inbegriff jener erlassenen Verordnungen«. E r dürfte ebenfalls andeuten, daß es u m mehr geht als u m die Kriegsschuld, eben — u n d das wußten viele Leser — u m den Umsturz »der alten O r d n u n g der Dinge«, u m die Entmachtung des Adels, u m die A b schaffung seiner Steuerprivilegien, einer wichtigen ökonomischen Grundlage für seine Standesprivilegien. D a v o n w a r die Rede — freilich i n unverfänglichen Andeutungen — am Anfang, bei Rekapitulation des Standpunktes, auf welchen der Brief antw o r t e n d eingeht. A m Ende kehrt Kleist — über die unanzweifelbare A b sicht, die Nationalschuld zu tilgen, u n d die nur hypothetisch unterstellte Absicht, den nationalen Opfergeist zu wecken — i n ebenso verhüllter F o r m d o r t h i n zurück. Der Satz: »Ich gehe hier bloß i n eine Ansicht der Dinge ein, die Sie m i r i n Ihrem Brief aufgestellt haben«, verweist den Leser auf den A n f a n g u n d — über die Wendung »hoffentlich ganz andre Dinge« — auf die dort i n Frage gestellte »Erhaltung der alten O r d n u n g der Dinge«. Vielleicht möchte man einwenden, so genau habe Kleist i n einem derartigen A r t i k e l das Wortnetz nicht flechten können. Der Aufsatz muß indessen (so Sembdner, d t v S. 225) »schon Ende Dezember 1810 verfaßt sein, blieb aber zunächst liegen, da zum Quartalswechsel alle politischen A r t i k e l i n den Abendblättern untersagt wurden«. Kleist konnte ihn also noch bearbeiten. Vielleicht hatte er i h n aber schon damals so gründlich ausgearbeitet, wie w i r es gleich genauer sehen werden. D i e Begeisterung für den Gedanken, die Regierung habe den Opfergeist des Adels wecken wollen, verliert sich i m Schlußabsatz noch weiter. Das Lob, das der Regierung auf G r u n d ihrer bisherigen Leistungen u n d trotzdem nur b l i n d vertrauend (»hoffentlich«) i m H i n b l i c k auf die anstehende Frage unter A n r u f u n g des Himmels vorgeschossen wurde, bestand, genau besehen, nur i n dem hochmoralischen Entschluß, der Regierung nicht bloß materialistische Gedankengänge zuzuschreiben (was, schlimm genug, auf gesellschaftspolitische schließen ließ). D a n n aber sinkt auch dieser bloße gute W i l l e noch eine Stufe tiefer: der Schreiber mahnt, man solle das Reformwerk wenigstens nicht ablehnen, bevor es ganz bekannt ist. Das hieße, man solle auf die i m vollen Gang befindliche Debatte der Reform verzichten — bis die Tatsachen vollendet u n d nicht mehr zu ändern waren. I n der damaligen Situation einem konservativen A d l i g e n gegenüber eine v ö l l i g paradoxe Zumutung. U n d steckte nicht ein ähnliches Paradox i n dem Zentralthema des Aufsatzes, die Regierung wolle den A d e l zur Opferbereitschaft erziehen durch dieselbe Steuergesetzgebung, die i h m die Freiheit z u m materiellen Opfer gerade rauben, ja i h n als A d e l weitgehend vernichten würde? Tatsächlich dispensiert der Schlußteil des Schlußsatzes jede A k t i v i t ä t seitens des Staatsbürgers.

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Scheinbar verstärkt sich i n gleichem Maße wieder das L o b der Regierung. Doch hören w i r genauer h i n : [Ich] möchte I h r Vertrauen schärfen zu einer Regierung, die es lebhaft, wie je eine, verdient, und, in einer so verhängnisvollen Zeit, wie die jetzige, mehr als irgend eine andere, falls die Wolken, die uns umringen, zerstreut werden sollen, in ihren Maßregeln, groß und klein, die sie zu ergreifen für gut befindet, bedarf.

Das k l i n g t w o h l wollend, harmlos, sogar lächerlich einfältig: »Maßregeln, groß u n d klein.« I m m e r h i n verdient die Regierung Vertrauen, u n d sie »bedarf« dessen. Bedarf? Bei I f f land hatte >bedürfen< auch die Bedeutung: micht habenKraft der Hingebung u n d Aufopferung für das Gemeinwesen u n d u m Verständnis für die Maßnahmen der Regierungohne die I n f o r mationen u n d Vorschläge der adligen Provinzvertreter angemessen zu berücksichtigenLegende« »Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik«. D i e zweite Folge bringt die Erzählung des »Wunders«: Schwester A n t o n i a erscheint überraschend, dirigiert u n d rettet damit das Kloster, bis man es am Ende des dreißigjährigen Krieges, »vermöge eines Artikels i m westfälischen Frieden, gleichwohl säkularisierte«. Steig (532) vermutet darin eine deutliche Anspielung auf die am 30. O k t . 1810 i m Zusammenhang m i t den Finanzmaßnahmen verkündete »Säkularisation aller geistlichen Güter u n d die A u f hebung der Klöster«. Werner Hoffmeister u n d ich deuteten unabhängig voneinander die N o v e l l e als Verspottung des Wunder- u n d Legendenglaubens 21 , ich außerdem als ironisch verhüllten Spott auf M ü l l e r . Nach seiner Konversion i m Interesse einer Wiener Karriere hatte der Wendige eine geschiedene Protestantin geheiratet; u n d nun, am 15. November, mußte er seine Tochter Cäcilie (Kleist präsentierte die »Legende« als »Taufangebinde«, betonte also das kirchliche Element) gemäß dem einschlägigen Paragraphen des preußischen Landrechts protestantisch taufen lassen. Kleist verspottet also — gewiß ohne daß M ü l l e r es bemerkte — dessen i n religiösen Dingen höchst wechselhaftes Verhältnis zur Vergangenheit, deren treue H e i l i g h a l t u n g M ü l l e r doch schon auf der nächsten Seite des Abendblattes predigte; weiter seine Abhängigkeit v o m Buchstaben des Gesetzes, w o er den Geist unabhängig davon wissen w i l l — kurz, Widersprüche seiner Theorie, v o r allem zwischen Theorie u n d Praxis; endlich die Manöver, m i t denen er sich dem wechselnden Gewicht der Verhältnisse unterwarf u n d anpaßte. U n d das alles, w i e gesagt, i n derselben N u m m e r , die Müllers wichtigen Aufsatz »Vom Nationalcredit« enthielt! 21 Werner Hoffmeister, »Die Doppeldeutigkeit der Erzählweise in H . v. Kleists >Die Heilige Cäcilie oder die Gewalt der MusikDie Heilige Cäcilie< und >Der Zweikampfvon unten< (zur Mobilisierung des Bürgertums) anstrebte«. Sicher erkannte er nicht v o l l , »daß M ü l l e r klassenkämpferische Ziele >von oben< (für die Junker) verfolgte« u n d daß sein eigener K a m p f »um das Recht der freien Meinungsäußerung [ . . . ] nur einige Aussicht auf Erfolg haben könnte, wenn er klassenspezifischer geführt wurde«. D i e derart »manifesten Widersprüche« seiner »Liberalität« (Grathoff 152 f.) u n d die Möglichkeit, ob er sie überwand, ja »ob Kleist überhaupt je i n der Lage w a r , ästhetische oder staatstheoretische Grundpositionen uneingeschränkt zu übernehmen«, je eine »klare Perspektive« zu gewinnen, macht Grathoff später 2 3 davon abhängig, ob Kleist seine »erkenntnistheoretische« »Krise« meistert; »denn solange das Problem der Wirklichkeitserkenntnis nicht gelöst ist, k a n n auch keine Perspektive für ein wirklichkeitsbeherrschendes H a n d e l n eröffnet werden«. Der letzte Ausdruck u n d andere, wie »uneingeschränkt zu übernehmen«, belegen zur Genüge, daß der Dichter hier prüfend befragt wurde v o n einem Interpreten, der i m genauen Gegensatz zu Kleists »Liberalität« grundsätzlich zu Hardenbergs u n d Müllers Interesse an Theorie, A u t o r i t ä t u n d Herrschaft neigt. Es ist audi ein Interesse mehr an P o l i t i k u n d Geschichte denn an literarischer Kunst u n d dem Menschen Kleist. Das Wichtigste für Grathoff ist nämlich das F a z i t : »den desolaten Zustand u n d die Perspektivelosigkeit seiner [Kleists] politischen Theoriebildung« habe man zu bewerten als Ausdruck u n d Widerspiegelung »der geschichtlichen Situation des deutschen Bürgertums am A n f a n g des 19. Jahrhunderts« 2 4 . Das Interesse hat hier seinen Schwerpunkt jenseits v o n Text u n d Verfasser. Aus gleicher Richtung machte m i r kürzlich i m Zusammenhang m i t Kleists letzten Erzählungen Peter H o r n 2 5 den V o r w u r f , i d i hielte die »Verhüllung 23 D i r k Grathoff, »Beerben oder Enterben? Probleme einer gegenwärtigen A n eignung von Kleists Käthchen von Heilbronn, in Lesen 2. Der alte Kanon neu, hg. Walter Raitz, Opladen: Westdeutscher Verlag 1976, 1 3 6 - 175, hier 1 6 6 - 168. 24 (Anm. 23), 166 f. So weit Grathoff s und mein Standpunkt hier auseinandergehen, so nahe sind wir uns neuerdings im Fall des Zerbrochenen Krugs. W i t t kowski, »Der zerbrochene Krug: Gaukelspiel der Autorität, oder Kleists Kunst, Autoritätskritik durch Komödie zu verschleiern« Sprachkunst 12 (1981), 1 1 0 - 130. Eine englische Kurzfassung in Heinrich von Kleist Studien. ( N e w Y o r k : A M S und Berlin: Eridi Schmidt 1981, 69 - 79. Grathoffs Arbeit erscheint im Jb. d. H. v. KleistGesellschaft y Ν. F. 1, demnächst; am gleichen O r t setze ich die hier begonnene E r örterung der Abendblätter fort. 25 Peter H o r n , Heinrich von Kleists Erzählungen, Kronberg: Scriptor 1978, 212 f. D o r t S. 29 auch ähnlich wie bei Grathoff die Klage, Kleist habe, zwischen Adel und Bürgertum stehend, »für keine« »Klasse« »aus vollem Herzen Partei ergreifen [ . . . ] können« (29).

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seiner revolutionären Ideen i n die scheinbar harmlose Sklavensprache für entscheidender [ . . . ] als das, was Kleist da notgedrungen verhüllen mußte«. »Die ironische Verhüllung der eigenen Absicht bei Kleist« sei indessen nur »insofern v o n Bedeutung, als sie uns zeigt, gegen welche Gegenkräfte Kleist m i t seinen Auffassungen kämpfen mußte«. Es sei daher »ein Ablenkungsmanöver v o n dem Gehalt eines Kunstwerks«, also v o n jenen politischen K r ä f t e n samt ihren Wirkungen, u n d ferner eine »Heroisierung« auf G r u n d meiner falschen Auffassung v o m Künstler, wenn ich dem »Stil« eine so »übergroße Aufmerksamkeit« widmete, daß ich Kleists Selbstisolation, anstatt sie ihrer Ursachen wegen gebührend zu beklagen, beschriebe als menschlich tapfere u n d kunstvoll raffinierte Leistung, teils getragen v o n der »Heiterkeit beseligender Spiele«, teils erfüllt v o m »Zorn einer hoffnungslosen Resignation«, u n d stets i m »Exil einer Ironie, deren letzte Konsequenz der Selbstmord ist« 2 6 . H o r n , der meiner Darstellung weitgehend folgt, w i r f t m i r nicht Ignorierung der Außenkräfte vor, sondern Konzentration auf den Menschen u n d dessen A n t w o r t . Allerdings hat m. E. hier die Literaturwissenschaft i n einem Falle wie dem vorliegenden ihre Hauptaufgabe. D a ß man sie nur erfüllen kann, wenn man die Außenkräfte mitberücksichtigt, auf die der Dichter reagiert, erscheint m i r selbstverständlich, doch ebenso, daß sie dabei die Basis u n d nicht die Hauptsache abgeben. N i c h t jedermann teilt diese Ansicht. D i e Interessen u n d die Fähigkeiten sind verschieden. Ich begnüge m i t hier m i t dem Hinweis, daß die, von m i r geteilte, Ablehnung der ausschließlich immanenten Interpretation i n der literaturwissenschaftlichen Theorie u n d Praxis zu einer Überbetonung außerliterarischer Gegebenheiten führte u n d i m Zusammenhang damit zu einer Überschätzung der Zugänglichkeit der Texte. D i e Rezeptionstheorie hat vielfach die Vorstellung erweckt, es gebe keine Fehlrezeption, kein falsches Lesen. Das schmeichelt dem schlechten Leser u n d beruhigt den, der lieber das W e r k vor sein richterliches Forum ruft als sich auf das Abenteuer des Lesens oder gar auf die Provokation seines Standpunktes durch das W e r k einläßt 2 7 . Vielleicht w i r d man indessen zugeben: v o r Texten, die es gerade auf die partielle Fehlrezeption (durch Zensur u n d Gegner) absehen, gerät man damit i n Schwierigkeiten, j a womöglich i n die Rezeptionssituation eben der Zensoren u n d all derer, die getäuscht werden sollen nach dem M o t t o des Abendblatts v o m 31. Oktober 1810:

26 27

Wittkowski (Anm. 21), 54.

Vgl. Wittkowski, »Unbehagen eines Praktikers an der Theorie. Zur Rezeptionsästhetik von Hans Robert Jauß«, Colloquia Germanica (1979), 1 - 27.

8*

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Wolfgang Wittkowski N O T W E H R Wahrheit gegen den Feind? Vergib mir! Ich lege zuweilen Seine Bind um den Hals, um in sein Lager zu gehn.

Seit Sembdner ließ sich jede Untersuchung zu Kleists politischen A r t i k e l n hierdurch täuschen — u n d das i n der Überzeugung, methodisch auf unanfechtbarem Boden zu stehen u n d Steig schon wegen seiner politischen V o r eingenommenheit nicht weiter ernstnehmen zu braudien. Falls man nun d o d i einsieht, daß Steig die komplexen Texte manchmal verständnisvoller las u n d die verfügbaren Informationen zuweilen umsichtiger nutzte, verschärft sich das D i l e m m a der politisch engagierten Interpretation: w e n n die letzten krampfhaften Versuche, Kleist teilweise für die Progressivität zu retten, als gescheitert gelten müssen, w i r d man das Interesse an i h m noch mehr verlieren, nachdem die fortschrittlichen deutschen Bühnen i h n bereits auf »uninteressant« spielen i n der treuherzig reflektierten Überzeugung, m i t der Zerstörung anerkannt großer Literatur konservativer Couleur dem P u b l i k u m besonders gute Aufklärungs- u n d Bildungsdienste zu erweisen. Oder aber, man ändert seine Einstellung zu dem einsam-tapferen u n d raffinierten K a m p f , welchen ein hoffnungslos Vereinzelter aus edelsten M o t i v e n gegen die i n seinen Augen fragwürdig motivierten Worte u n d Taten aller Parteien, ob Freund ob Feind, aufnahm. Vielleicht ist dergleichen unsere Sache nicht. Kleist sagt i n seiner »Betrachtung über den Weltlauf* {BA 16. O k t . 1810) i m Anschluß an Fichte: m i t »Helden« i n der »menschlichen u n d [staats-]bürgerlichen Tugend« sei es vorbei. Trotzdem u n d gerade deshalb hätte ein solches allgemeinmenschliches Beispiel, wenn man das einmalige Wie betrachtet, mehr Leben und A k t u a l i t ä t , als wenn man das Was der daran wiedererkennbaren politisch-ideologischen Gesinnung und Position i m Koordinatensystem bestimmter Lehren zu Geschichte u n d P o l i t i k lokalisiert u n d kritisiert.

FONTANES WEIHNACHTSFESTE Eine M o t i v - u n d Strukturuntersuchung

V o n Werner

Kohlschmidt

Der Untertitel dieser Arbeit stellt v o n vornherein klar, daß es sich hier u m keine Analyse theologischer Aspekte handelt, trotz ursprünglich natürlich theologischen Hauptthemas. W a r u m die formal-ästhetische Seite die theologische bei weitem überwiegt, wäre zunächst allgemein zu begründen. Fontanes Verhältnis zum Christentum, wie es aus seinen persönlichen Äußerungen deutlich w i r d , ist das der Skepsis. V o r allem aus seinem Briefcorpus, aber auch aus seinen Selbstbiographien geht hervor, daß seine A b neigung gegen Theologie, Kirche u n d Klerus so ausgeprägt war, daß keine Zweifel über seine Einstellung aufkommen können; auch dem v o n Frankreich her angestammten Calvinismus gegenüber. N u n aber seine Pfarrgestalten? D i e Frage ist nur zu berechtigt u n d drängt sich geradezu auf. D e n n die Pfarrerfiguren gerade gehören zu den unvergeßlichsten Charakteren, die Fontanes E p i k überhaupt zu geben hat. Aber eben: Charaktere, u n d das gehört zur H u m a n i t ä t u n d zur I n d i v i d u a l i t ä t u n d sagt noch nichts (oder höchstens recht mittelbar) über eventuelle theologische Aspekte einer Dichtung aus, seien sie nun positiver oder negativer A r t . So muß man sich bei der Frage nach dem Gewicht v o n Fontanes Pfarrherren denn Rechenschaft geben, daß es eigentlich ganz i m H u m a n e n liegt. A l l e seine bedeutenden Pfarrgestalten sind zwar überlegene, j a begnadete Charaktere, aber mitnichten Glaubensrepräsentanten oder -zeugen. Sie sind meist souveräne, unpietistische »Stille i m Lande«, weise Sonderlinge u n d Eigenbrötler, m a l aggressiv liberal, mal liebenswürdig durch Bildung u n d Originalität. Sie vertreten etwas Unentbehrliches i n Fontanes W e l t - u n d Geschichtsbild: die gebildete M i t t e u n d V e r m i t t l u n g zwischen den Ständen u n d Volksschichten. Gerade die F u n k t i o n der Pfarrer u n d Lehrer (vor allem auf dem Lande) ist pädagogisch u n d damit auch gesellschaftlich eine Triebkraft ohnegleichen. Aber eben durchaus keine theologische Triebkraft, sondern eine der menschlichen Existenz, der Überlegenheit aus innerer Reife. Jedoch nach ihrem Verhältnis zu confessio u n d Kirche sollte man sie lieber nicht

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fragen, geschweige denn interpretierend beurteilen. D a sind sie m i t wenig Ausnahmen Freigeister, mindestens i m Lessingschen Sinne, w o nicht weitgehender. Dies ist vorauszuschicken, u m die gewisse Absurdität zu begründen, die zwischen Ober- u n d U n t e r t i t e l dieser Arbeit besteht. Es erklärt auch, daß i n der Mehrzahl der epischen Werke Fontanes, darunter einigen der bedeutendsten, trotz aller Reserviertheit gegen Kirche u n d irgendwie dogmatisches Christentum, das Weihnachtsfest als M o t i v u n d Strukturelement sich findet. M a n sollte dies eher nicht annehmen. Weihnachten k a n n eine A r t L e i t m o t i v sein; es k a n n Höhe- u n d Konzentrationspunkt der H a n d l u n g werden, aber auch Pointe des Abschlusses, je nachdem. Es k a n n zum Symbol des Familienfriedens oder -Unfriedens geraten (wobei die unerhörte Rolle der Familie i n Fontanes Prosaepik geltend gemacht werden muß), gesellschaftliches Ereignis, Schicksalsakzent, Psychologie des Volkes u n d der Stände, ja sogar Groteske. Bemerkenswert ist dabei ferner, daß der G r i f f nach dem Weihnachtsfest als M o t i v , das schließlich ein religiös bestimmtes ist, t r o t z aller Vorbehalte Fontanes gegen Christentum u n d Kirche, durch die ganze epische Schaffensperiode reicht, v o m Erstling Vor dem Sturm bis zum Stechlin. Das k a n n kein Z u f a l l sein. Aber es hängt i n allererster Linie m i t ästhetisch-formalen Prinzipien der Fontaneschen Prosaepik zusammen, wie sich erweisen w i r d .

I . D i e B e d e u t u n g d e s W e i h n a c h t s f e s t e s i n Vor S t u r m : W e i h n a c h t e n als L e i t m o t i v

dem

Das erste, was man sich verdeutlichen muß, ist, daß das gesamte prosaepische W e r k Fontanes m i t diesem historischen Roman einsetzt, u n d daß das i h n eröffnende u n d (als Erinnerung) i h n auch begleitende Weihnachtsfest k a u m zufällig Z e n t r a l f u n k t i o n hat. Das zweite zu Vergegenwärtigende ist seine Breiten- wie seine Tiefenwirkung. D i e drei Weihnachtstage des Schicksalsjahres 1812 reichen beinahe über ein D r i t t e l des U m f a n g des mehr als tausendseitigen Werkes hinweg (25 v o n 77 Kapiteln). Das ist natürlich nicht ein lässiges Sich-gehen-lassen i n die Breite hin, sondern episch wie strukturell w o h l bedacht u n d souverän konzipiert. D i e drei Weihnachtstage sind nicht ausgewucherte Erzählung oder Darstellung des festlichen Gegenstandes. Sie sind Dienst, M e d i u m der Gesamtkonzeption, konkret gesagt: sie haben eine Auffangsfunktion der H a n d l u n g überhaupt, die einer vollgültigen Exposition. Dienst u n d A u f fangen heißt i n diesem Falle: Wesen u n d Verhalten sämtlicher i n dem umfassenden Zeitgemälde angesprochenen Kreise u n d Gesellschaftsschichten

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werden sub sigillo dieser drei Weihnachtstage eingeführt u n d beschrieben. Aber nicht sie allein. Auch die Weltgeschichte, symbolisiert i m Untergang des napoleonischen Heeres i n Rußland, wetterleuchtet u n d dies auch existent i e l l i n die preußisch-märkische W e l t hinein. Nach den drei Festtagen ist uns zudem jede der tragenden Personen der sich später zum geschichtlichen großen Stils ausweitenden Erzählung als Charakter w o h l bekannt. U n d das bedeutet i n diesem Falle ziemlich viel. Der Beziehungsmittelpunkt der erzählten Z e i t : die drei Weihnachtstage 1812 faßt alles Geschehen u n d alle Hinführungen wie ein facettierender Spiegel zusammen. Zunächst atmosphärisch; ebensosehr aber auch descriptiv episch. Was die Fülle der auftretenden Personen unter dem Gesichtspunkt des nur einmal i m Jahre gegebenen Festlichen zueinander i n Beziehung setzt, das ist Atmosphäre u n d H a n d l u n g zugleich, u n d z w a r nicht nur umgreifende, sondern auch vorgreifende H a n d l u n g auf dem Hintergrunde v o n wirklichem Weltgeschehen. D a m i t ist es nicht nur persönliche Charakteristik, sondern v o n Anfang an preußische Sozialgeschichte. So wie damals die Stände m i t einander (nicht gegeneinander) i n festgefügter Ordnung, ungeachtet aller Unterschiede v o n hoch u n d niedrig, lebten, wie die repräsentativen Kreise sich berührten, voneinander unterschieden u n d ineinander übergingen. Das Ergebnis ist denn auch ein nahezu vollständiges K u l t u r b i l d v o n überzeugender Eindringlichkeit, i n eins gefaßt m i t der Fülle des Menschlichen, dessen M e d i u m es ist. Spiegelung u n d epische Darstellung also zugleich. W i r sind i n Berlin, u n d z w a r i m alten Berlin der Klosterstraße u n d der Parochialkirche m i t ihrer Singuhr. Gegeben ist damit nicht nur der eine Beziehungsort des ganzen Romans, sondern die Hauptstadt i n Weihnachtsstimmung. I n ihr verläßt die zentrale Figur des ganzen Romans, L e v i n v o n V i t z e w i t z , seine Studienstadt, u m das Fest noch auf dem väterlichen Sitz H o h e n - V i e t z begehen zu können. D i e Weihnachtsstimmung steigert sich stufenweise. D i e Fahrt i m Schlitten berührt noch gerade den Berliner Weihnachtsmarkt m i t seinem Gedränge u n d Waldteufelgebrumm, u m dann alsbald i n ein ländliches Familienfest einzutauchen. E i n K r u g unterwegs, der erst später eine entscheidende Bedeutung i n Levins Leben erweisen w i r d , findet sich leer, aber w e i l die Krügersleute ihr Familienweihnachten feiern. Wenige Stunden nur liegen zwischen dem lärmigen Weihnachtsbetrieb der Großstadt u n d dem äußersten I d y l l des Familien-Heiligabends i m ländlichen Krügerhause. Aber damit nicht genug. D e m Bilde, das L e v i n zu stören sich hütet, folgt noch ein sozusagen innerliches B i l d : das des alten Küsters u n d Organisten, der still für sich i n der alten Zisterzienserkirche der Orgel seine Weihnachtsfestlichkeit anvertraut: »Übte sich der A l t e für den kommenden Tag, oder feierte er hier sein Christfest allein für sich m i t Psalmen u n d

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Choral?« Dies ist keine bloße Episode, sondern i m Gegenteil die erste H i n führung auf ein Zentralmotiv des Ganzen. D e n n L e v i n liest hier i m H a l b dunkel der Kerzen auf einem Grabstein die fromme Strophe, die Fontane gleichsam als poetisches L e i t m o t i v den späteren Schicksalen des Junkers untergelegt hat. Es ist eine barocke oder doch pietistische Strophe: Sie sieht nun tausend Lichter D e r Engel Angesichter I h r treu zu Diensten stehn; Sie schwingt die Siegesfahne A u f güldnem Himmelsplane U n d kann auf Sternen gehn.

»Levin las zwei-dreimal bis er die Strophe auswendig wußte. D i e letzte Zeile namentlich hatte einen tiefen Eindruck auf i h n gemacht, v o n dem er sich keine Rechenschaft geben konnte.« Dieser weihnachtliche Eindruck ist zugleich eine Verinnerlichung des bisher v o n L e v i n Erlebten wie ein weltliches Symbol: die letzte Zeile bezieht sich nämlich immer wieder auf Levins spätere G a t t i n Marie. D e n n das M o t i v der irdischen Geliebten w i r d m i t der geistlichen Strophe sozusagen ins Sakrale gehoben. U n d dies geschieht sogleich am Weihnachtsabend. Fontane benutzt diesen u n d die folgenden Festtage aber zugleich, u m bei Gelegenheit der nun folgenden A n k u n f t Levins auf dem väterlichen Schloß, dessen u n d der Herrenfamilie Geschichte eingehend aufzurollen, so daß der Leser ein für allemal i m Bilde ist. Aber nicht allein das. Das K a p i t e l I I I : »Weihnachtsmorgen« verrichtet dasselbe für die gegenwärtigen Bewohner v o n Hohen-Vietz. Zunächst die Schwester Renate. M i t drei W o r t e n gibt Fontane den Charakter der einander so ähnlichen Geschwister? » . . . v o r allem dieselben Augen, aus denen Phantasie, Klugheit und Treue sprachen.« Das bewährt sich denn auch durch den ganzen Roman hin. Sodann das stets wache Gewissen der Familie, die eindrückliche Pietistengestalt der Tante Schorlemmer, der einstigen Erzieherin Renates, die für jeden Lebensaugenblick eine gute Gesangbuchstrophe oder ein Bibelzitat zur H a n d hat. U n d dann natürlich der alte V i t z e w i t z , der »zwischen Türe u n d Weihnachtsbaum« a u f t r i t t — es ist die große »Weihnachtsbescherung«, zugleich die traditionelle für A r m e u n d K i n d e r des Dorfes. Auch dies dient i n der Ökonomie des Ganzen der Darstellung v o n des alten Berndt Lebens- u n d Charaktergeschichte (»Weil er A u t o r i t ä t hatte, durfte er darauf verzichten, sie jeden Augenblick geltend zu machen«). M i t seiner Gestalt u n d Gesinnung schlägt aber die Weltgeschichte durch i n das bisherige, wenngleich so reich variierte

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Weihnachtsidyll. D e n n der alte M a j o r ist Napoleon-Hasser, der politische wie militärische Konsequenzen aus dem i n R u ß l a n d gerade stattfindenden Untergang der großen Armee ziehen möchte; selbst wider den W i l l e n seines Königs. So w i r d er später die allgemeine Volkserhebung (mit tragischen Folgen) organisieren. Alles dies w i r k t hinein i n die Weihnachtstage v o n Hohen-Vietz, bringt ihre I n t i m i t ä t m i t dem Hochgeschichtlichen i n K o n t a k t , so daß das Fest zugleich auch der Einführung der politischen Situation als Erzählzeit zu dienen hat. Dabei w i r d auch der politische Gegensatz (der A l t e ist für erbarmungslosen Guerillakrieg, L e v i n aber »für offenen K a m p f , bei hellem Sonnenschein u n d schmetternden Trompeten«) deutlich. Alles (auch den politischen Akzent) vereint dann der Weihnachtsgottesdienst: die epische Gelegenheit, die Familiensagen anhand der kirchlichen Denkmäler aufzurollen u n d die zentrale Figur des alten Pastor Seidentopf einzuführen, eine wohltuende Erscheinung »von würdiger H a l t u n g u n d m i l d i m Ausdruck seiner Züge«. (Die »Milde« ist das hervorragende Kennzeichen aller bedeutenden Pfarrergestalten Fontanes, auch der wenigen orthodoxen unter ihnen.) Es ist kein Zweifel, daß diese Weihnachtspredigt religiöse A n dacht u n d politische Verkündigung miteinander mischt. Ägyptens Pharao u n d Bonaparte werden bis ins D e t a i l miteinander verglichen. Das »christliche« Jahr, das anbricht, ist zugleich ein hochpolitisches Jahr: »und die Weihnachtssonne, die uns umscheint, sie w i l l uns verkündigen, daß wieder hellere Tage unser harren«. Der gute alte Pfarrherr, der es offenläßt, ob m i t »Psalmen« oder m i t »Schwerterklang«, t r i t t damit i n seinem ganzen Charakter hervor, sozusagen als Zeuge der halb konfessionellen, halb p o l i tischen Situation, i n der die Kirche zur damaligen romantischen Zeit überhaupt befangen w a r (Schleiermacher). Immer mehr, ein ganzes Bündel v o n Strahlen fängt so der epische M i t t e l p u n k t : das Weihnachtsgeschehen v o n 1812, i n sich auf. Es bindet, führt ein u n d erhellt Persönlichkeiten u n d ihre Charaktere, Gesinnungen, Institutionen, die Strukturen der damaligen Gesellschaft wie die Vorgeschichte der H a n d lung des ganzen Romans. Aber w i r sind damit noch lange nicht am Ende. D i e Häuslichkeit v o n Hohen-Vietz bedarf noch der Ergänzung v o n der Frauenseite her. Diese gibt das K a p i t e l » A m K a m i n « ; i n dem sowohl die Pietistin des Hauses (»Tante Schorlemmer«) w i e auch das dort m i t auf gewachsene K i n d , Marie Kniehase, des Schulzen Pflegetochter, eingeführt w i r d , die später Levins Frau werden w i r d . D i e alte Dame, Missionarswitwe aus G r ö n l a n d u n d Herrenhuterin v o n innen u r n d außen, begleitet die Romanhandlung als religiöses Hausfaktotum führend m i t , während Marie i n ihrer ganzen Lieblichkeit u n d A n m u t , halb noch spielerisch, schon hier symbolisch ihr besonderes, noch ganz geschwisterliches Verhältnis zu L e v i n bezeugt, die ihr

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i m Spiel zugeworfenen vergoldeten Nüsse des Christbaums auffangend. Aber audi i n diese Gespräche am weihnachtlichen Tisch schlägt mitten i m Geplauder unversehen die Weltgeschichte hinein m i t ihren Zeichen, W u n d e r n u n d Vorausahnungen. D e r w e i l finden auch i m Dorfkruge die führenden Dorfbauern zusammen zu einem Schwatz über die D o r f - u n d Weltverhältnisse. Dabei w i r d auch K r i t i k an Seidentopf laut, die Fontanes selbstgewählte Auffassung des Pfarrers an einem ganz bewußten Punkte trifft. Der altlutherische M ü l l e r bemängelt an des Pfarrers Weihnachtspredigt: » . . . trotzdem er nichts davon gesagt hat, daß uns an diesem Tage zu Bethlehem i m jüdischen Lande das H e i l geboren wurde. N o c h weniger hat er v o n dem »eingeborenen Sohne Gottes< gesprochen.« Der orthodoxe M ü l l e r vermißt also nichts weniger als das Kernstück der Weihnachtsbotschaft. Es ist dies i n der T a t Seidentopfs, der als milder Nicht-Pharisäer hochgelobt w i r d , pfarrherrliche Schwäche. Es ist erstaunlich, wie der Erzähler es fertig bringt, auf allen Gesellschaftsebenen u n d quer durch alle Schichten wirkliche Charaktere u n d nicht bloß Figuren zu bilden, ohne unverständlich oder langweilig zu werden. D a ß es i h m gelingt, verdankt er dem epischen Kunstgriff der Gleichzeitigkeit einer Fülle v o n Handlungsgängen nebeneinander. U n d diesen Kunstgriff findet und motiviert er durch den Zeitraum der drei Weihnachtstage. D e n n sie sind A n l a ß wie Ursache aller dieser Zusammentreffen, die ohne die zeitlich festliche Bindung immer der Gefahr eines trockenen Nebeneinanders ausgesetzt wären. Was noch aussteht v o m I n h a l t der drei Weihnachtstage, ist eine A r t Querschnitt durch vier Stände. Fontane läßt einen Blick zunächst auf die niederste Schicht, das Dorfproletariat, die Bewohner der H ü t t e n u n d Lehmkaten, fallen, dem eine Sdilüsselfigur des Ganzen, das Hoppenmarieken, als Repräsentant zu dienen hat. Sodann stellt sich das solide Bauerntum i m Hause des Schulzen Kniehase m i t der wirklichen Hauptfigur, seiner Pflegetochter Marie, dar. Weiter der bürgerliche akademische Mittelstand beim Besuch der beiden heiter konkurrierenden Altertumssammler, des Predigers Seidentopf u n d des Justizrates Turgany auf Hohen-Vietz. D e n breitgefächerten Schluß macht die Kapitelfolge über die Gräfin Pudagla, die Schwester des alten V i t z e w i t z , u n d ihren Kreis am dritten Weihnachtstage. Sie alle, v o n Hoppenmarieken bis zur höchsten Gesellschaftsschicht auf Schloß Pudagla, feiern Weihnachten i n dem ihnen zustehenden Rahmen. Hoppenmarieken, die unheimliche Z w e r g i n (und Postbotin des Dorfes) i n dem ebenso unheimlichen Interieur ihrer Lehmhütte m i t den zwanzig Vogelbauern m i t Eierpunsch u n d Napfkuchen u n d festlicher Herrichtung durch verstreute Tannenzweige. Kniehase u n d

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Marie auf dem Schulzenhof, i n offenbar gewolltem Gegensatz zur H ü t t e Hoppenmariekens, i n einer Atmosphäre v o n wohlhabender u n d behaglicher O r d n u n g zwischen jungen Kiefern und dem Mistelzweig bei Vorlesung des Weihnachtsevangeliums u n d des 8. Kapitels aus dem Buch Daniel. Diese zweite Vorlesung aus dem Propheten (»mit gutem Vorbedachte gewählt«) stellt die Beziehung zur A k t u a l i t ä t , dem bevorstehenden Untergang N a p o leons, her. Alles i n allem ist es ein häusliches Weihnachtsfest v o n Niveau, m i t evangelischem K e r n u n d i n bestem Frieden. H e i ß t es doch auch etwas später: »Kniehase hatte keinen Feind«. U n d das trifft den M a n n u n d Hausvater genau. Es w i r d sich auch bei der Volkserhebung bewähren, u n d zwar als echter Gewissenskonflikt, wie man i h n i h m zutrauen darf. Einen weiteren, diesmal mehr intellektuellen Kreis, lernt man i m »Besuch i n der Pfarre« kennen. Zuerst den Hausherrn Seidentopf. D i e Vitzewitzer feiern am 2. Weihnachtstage m i t dem einstigen Erzieher Levins. Das Studierzimmer des Pfarrherrn ist (symbolisch) zweigeteilt: die eine H ä l f t e gehört der Theologie, die andere Seidentopf großem H o b b y , seinen frühgeschichtlichen Sammlungen, U r n e n oder anderen Grabfunden. Das Symbolische ist, daß die Sammlungshälfte blank geputzt ist. A u f der theologischen Bibliothek aber liegt dichter Staub. Aus der Stadt hinzugeladen sind der Justizrat T u r gany, Seidentopfs Freund als Liebhaber u n d Sammler, u n d dessen »besonderer Freund« der K o n r e k t o r Othegraven. E r stellt einen bei Fontane seltenen T y p der »Strenggläubigkeit bei Freudigkeit des Glaubens« dar. U n t e r dem persönlichen Einfluß v o n Matthias Claudius u n d Claus Harms hatte er diese Glaubensvariante gewonnen: »Er sah alle Dinge i n ihrer Beziehung zu G o t t ; das gab i h m K l a r h e i t u n d Ruhe.« So ist der Rektor v o n besonderer menischlicher Bedeutung, w e i l i n i h m der Mensch v ö l l i g m i t dem Theologen sich deckt; wie gesagt, ein seltener F a l l bei Fontane. Aber der M i t t e l p u n k t des Besuches i n der Pfarre ist das humoristische D u e l l der beiden Sammler u m den »Wagen Odins«, Turganys »Christbescherung« für Seidentopf. A l t e r tümer sammeln sie beide. Aber der eine behauptet ihren germanischen, der andere ihren wendischen Ursprung. Das menschlich Schöne bleibt die völlige Unberührtheit ihrer Freundschaft trotz aller Leidenschaft u n d Angriffsfreude i n der Sache. Aber das Gespräch i m Pfarrhause schließt dennoch nicht ohne weihnachtlichen Aspekt. Es ist die Diskussion über den Dichter-Pfarrer Schmidt v o n Werneuchen, den Goethe epigrammisch sarkastisch abgefertigt hatte. D i e Tante Schorlemmer ergänzt das v o n der herrenhutischen Seite aus. Sie spricht dem Versifex die Würde ab u n d bezieht das auch auf Weihnachten: »Er mißfällt mir, w e i l er sein geistlich K l e i d ohne geistliche Würde trägt [ . . . ] Selbst das heilige Weihnachtsfest ist i h m kein Fest des Kindes Gottes, es ist i h m nur ein Fest für die eigenen Kinder.« Also: N u r Familienweihnacht? N e i n . Aber es ist die Pietistin, die das Fontane aussprechen läßt.

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Der dritte Feiertag dient einer A r t Rückblendung auf Berlin m i t einem Brief des jungen Grafen Tubal Ladalinski, dessen Schwester K a t h i n k a L e v i n bestimmt ist, i h n aber betrügen w i r d . T u b a l berichtet v o n seinem Weihnachten i n der Hauptstadt. Zunächst i m Elternhause: » I n einem Hause, i n dem die K i n d e r fehlen, w i r d das C h r i s t k i n d immer einen schweren Stand haben, so nicht etwas Kindersinn den Erwachsenen verblieben ist.« Daher hat denn auch der erleuchtete Saal u n d der flimmernde Baum nur den Charakter einer reichen »Dekoration«. Comme il faut, aber nichts Herzliches also an diesem Hausfest. Weihnachten als gesellschaftliches Ereignis aber, d. h. echter Spiegel der Berliner oberen Gesellschaftsschicht, ist die Weihnachtsbowle eines Kreises v o n Offizieren u n d Intellektuellen, die wiederum dazu dient, später akzentuiertere Gestalten, wie den Rittmeister v o n Jürgasz u n d den Dichter H a n sen-Grell einzuführen, zugleich den polnischen Grafen Bninski, der schließlich K a t h i n k a nach Paris entführen w i r d , sich charakterisieren zu lassen. H ö h e p u n k t des Abends w i r d eine Balladenlesung des Dichters u n d für T u b a l besonders der mitternächtliche Sternenhimmel. »Ich sah hinauf; m i r w a r zu Sinn, als steige das C h r i s t k i n d auf diesem Sternenglanz i n mein armes H e r z hernieder.« Dieser Nachklang der Weihnachtssitzung des literarischen K r e i ses Kastalia ist so stark, weil er auf geistigen Eindrücken beruht, nicht bloß auf Festbräuchen und -sitten. D i e nächsten K a p i t e l dienen am deutlichsten der V o r f ü h r u n g eines neuen Kreises, eines altadeligen, aber sehr aufgeklärten. Es ist der dritte Weihnachtstag, aber k a u m ein Hauch gerade v o n diesem Fest ist spürbar. Es ist der Kreis u m des alten V i t z e w i t z Schwester, der Gräfin Pudagla auf Schloß Guse. Eine breite Flucht v o n K a p i t e l n ist den Persönlichkeiten, die i h n bilden, gewidmet. Guse ist das Schloß des alten Derfflinger, das der verstorbene G r a f Pudagla seiner W i t w e »Tante Amelie«, Bernd Vitzewitz's älterer Schwester, hinterlassen hat. Tante Amelie hatte zu seinen Lebzeiten eine beherrschende Rolle am Rheinsberger H o f (des Prinzen Heinrich) gespielt, einem R o k o k o - H o f , freigeistig auch i n seinen Sitten, bildungsmäßig französisch bestimmt u n d dem großen K ö n i g wenig geneigt. Der Bruder Friedrichs hatte i n der sehr beweglichen Gräfin gesellschaftlich die große Dame für seinen Stil erkannt. N u n ist sie seit langem verwitwet, hat Schloß Guse energisch renoviert u n d eine Reihe v o n benachbarten I n d i v i d u a l i t ä t e n zu einem engeren Kreise u m sich vereinigt. Es sind dies der alte Husarengeneral v o n Bamme u n d der G r a f Drosselstein. Diese beiden sind die eigentlichen I n d i v i dualitäten des Guser Kreises. Bei der v o m alten V i t z e w i t z angezettelten Volkserhebung werden sie aber nicht unbedeutende Rollen spielen.

Fontanes Weihnachtsfeste Der dritte Weihnachtstag auf Fontane seine ganze Kunst des es nichts zu tun. D i e Personen v o r allem der K o b o l d Bamme.

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Guse ist ein Festdiner dieses Kreises, i n dem Causeurs spielen läßt. M i t Weihnachten hat haben sich i n ihrer Eigenheit zu entfalten, Es ist das Politische, das den Abschluß der

Festlichkeit bestimmt. Auch das letzte K a p i t e l v o m Abend: »Chez soi« hat nur der Vertiefung des Charakters der Gräfin zu dienen. Rekapitulieren w i r ; was das ausführliche Eingehen auf Vor dem Sturm für unser Thema erbracht hat! D i e drei Weihnachtstage 1812 haben ihre eigene formale Bedeutsamkeit innerhalb der Erzählzeit des ganzen Romans. Sie sind wie eine epische K l a m m e r u m sein erstes D r i t t e l gefügt. Jedoch, wie sich zeigte, nicht u m ihrer selbst w i l l e n , d. h. u m des christlich kirchlichen Festes willen. Sie haben vielmehr eine dienende F u n k t i o n v o n Seiten des Erzählers. D i e ganze vielfältig bunte Fülle der Gestalten i n Vertretung ihres Standes oder ihrer Schicht (deren eigentliches Schicksal sich erst später erfüllen w i r d ) w i r d eingeführt. Ohne die Bedeutung der drei Weihnachtstage als Z e i t k l a m mer wäre es ein Nebeneinander v o n ζ. T . recht ausladenden Biographien oder Geschichtsbildern: Weltgeschichte, preußische Geschichte, Ortsgeschichte, K i r chengeschichte, Familiengeschichte. E i n solches bloßes Nebeneinander k a n n sich aber ein Erzähler v o n Rang nicht leisten. Das Weihnachtsfest als Zeitm o t i v bietet Fontane die Gelegenheit, die unzähligen Einzelheiten zu subordinieren. D i e epische N o t w e n d i g k e i t dazu w a r i h m natürlich selber bewußt. Mehrere Wendungen ad lectorem i m Text zeigen das deutlich. D e n n man muß ja schon zugeben, daß es eher eine Uberfülle ist, die er zu bieten hat. Ohne die weihnachtlich festliche Zeitgrundlage wäre das trockene Nebeneinander unvermeidbar gewesen. Aber w a r u m hat er gerade diese gewählt anstatt einer anderen auch möglichen? Das ist die entscheidende Frage, auf die unsere Untersuchung gerade hinsteuert. N u n , soviel steht fest: U m den christlichen (reformatorischen) K e r n u n d Sinn des Weihnachtsfestes k a n n es i h m nicht gegangen sein. Sein Weihnachten ist ein Stimmungsmotiv, ein festlicher Brauch durch alle Schichten, selbst wenn es sich u m Hoppenmariekens proletisch genüßliche Festfreude handelt oder u m eine Bescherung für alle i n Hohen-Vietz, eine Familienfeier i m Haus oder, davon separiert, i n der Kirche. Seidentopfs Weihnachtspredigt w i r d sogar noch den politischen Zeitläufen integriert. So w i r d auch sie halb u n d halb z u m gesellschaftlichen Ereignis. D i e einzige Weihnacht m i t biblischer Betonung ist vielleicht die i m Hause Kniehase. U n d die einzige Figur, die den kirchlichen Sinn der Feier festhält, ist die v o n Fontane sympathisch, aber doch auch wieder m i t deutlicher Distanz geschilderte der Pietistin, Tante Schorlemmer. Jedoch, das Saeculare des Festmotives überwiegt bei weitem dessen christliche Herkunftssphäre.

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Werner Kohlschmidt II. Weihnachten

als

Katastrophe

Nicht i n der breit ausladenden Form wie i n Vor dem Sturm, aber m i t mehr Entscheidungscharakter sind die Weihnachtsfeste i n zwei Erzählungen Fontanes ausgestattet: i n Grete M inde u n d i n Unwiederbringlich. I n beiden Fällen bedeutet das hohe Fest den V o l l z u g einer Katastrophe. W e n n bedeutet gesagt w i r d , so w i l l das heißen, daß das M o t i v einen Symbolcharakter i m Handlungsverlauf wahrzunehmen hat, i n keinem der beiden Fälle aber jenen der Einführung und über weite Strecken h i n leitmotivischen Charakter, wie er i n Fontanes Erstling zu bemerken w a r . I n beiden Fällen vielmehr legt ein Weihnachten einen unheilbaren menschlichen Bruch offen, der dann zur Katastrophe führt, die i n beiden Erzählungen Selbstmord heißt. N a t ü r l i c h ist auch hier die Frage dringlich, w a r u m dies Symbolmotiv gerade Weihnachten sein muß? Sie zu stellen, ist aber erst nach genauerem H i n b l i c k auf Z u sammenhang u n d Bedeutung i n den N o v e l l e n möglich. Grete Minde ist, wie ihr unmittelbarer Vorgänger, Vor dem Sturm, historische Novelle. Unwiederbringlich dagegen ist zu gutem T e i l Gesellschaftsroman, dessen M o t i v Fontane der Chronique scandaleuse seiner Gegenwart entnommen hat. Natürlich hat er etwas anderes daraus gemacht, als er vorfand. Die C h r o n i k - N o v e l l e , der w i r uns zuerst zuwenden, gibt das tragische Schicksal einer Tangermünder Patriziertochter i m Barockjahrhundert wider, die zur Verzweiflung getrieben, ihre Heimatstadt einäschert u n d dabei m i t ihrem K i n d e mituntergeht. Was sie zu dieser Verzweiflungstat getrieben hat, ist der psychologische K e r n der Geschichte. Nach dem Tode ihres gütigen Vaters k o m m t das K i n d i n die H ä n d e ihres älteren Bruders, einer trockenen u n d hartherzigen Krämerseele, u n d dessen noch schlimmerer Frau T r u d , die n o d i dazu voller H a ß gegen das ihr unerwünschte Mädchen ist. Es k o m m t , wie es dabei kommen muß: das K i n d , kaum erwachsen, entflieht m i t einem Jugendfreunde zu den Puppenspielern, verliert ihren V a l t i n durch eine tödliche K r a n k h e i t u n d kehrt als Verzweifelte zu ihrem Bruder u n d dessen Frau zurück. V o n diesen u m ihr Erbe betrogen, gerät sie außer sich u n d legt i n einem A n f a l l v o n Wahnsinn Feuer i n der Stadt. Das Söhnchen ihres lieblosen Bruders reißt sie (als Rache an diesem) m i t sich u n d ihrem K i n d e ins Verderben unter den Trümmern des v o n ihr selbst zum Einsturz gebrachten Kirchturms. Dies kurz der Gang des Ganzen. Welche F u n k t i o n hat i n i h m Weihnachten? Das Fest i m Hause M i n d e ist ein ganz kurzes Kapitel, aber i m H e r z p u n k t der Erzählung, genauer i m 10. v o n 20 Kapiteln. Fontane faßt hier w i e i n einem Brennpunkt das Leiden des jungen Mädchens i m herzlosen Bruderhause, das vorherging und das nodi zu ahnen ist, zusammen. Gerade vorher

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hat eine Lebensentscheidung stattgefunden: nämlich die Verabredung m i t dem geliebten Jugendgespielen V a l t i n , zusammen aus dem Z w a n g i n ein freies gemeinsames Leben auszubrechen. Diese Entscheidung fällt Grete innerlich bei aller Anfechtung durch ihren »bösen Engel«, dem T r o t z , u n d den Schutz ihres »guten Engels«, die Demut. Zwischen ihnen steht sie i m K a m p f : »Ein solcher Tag, u n d der bittersten einer, w a r der Weihnachtstag, an dem auch diesmal ein Christbaum angezündet wurde. Aber nicht für Grete [ . . . ] nein, nur für das K l e i n e . . . « D i e Bescherung hat ausgesprochenen Symbolcharakter: Grete bekommt ein (bereits drittes) Gesangbuch, i n das die Schwägerin T r u d geschrieben hat: »Sprüche Salomonis, K a p . 16, Vers 18.« Der Vers lautet gar nicht weihnachtlich: »Wer zugrunde gehen soll, der w i r d stolz, und stolzer M u t k o m m t v o r dem Fall«. Grete begeht daraufhin auch eine impulsive Symbolhandlung. Sie streicht diese W i d m u n g dick durch u n d ersetzt sie durch die Prophetenstelle, m i t der der sterbende Vater der beiden Geschwister T r u d das K i n d Grete hinterlassen hatte: »Lasse die Waisen Gnade bei d i r finden«. M i t dieser Änderung legt sie das Gesangbuch allen sichtbar wieder unter den Weihnachtsbaum. W i r hatten dieses Weihnachtsmotiv als symbolisch für das Vorher u n d Nachher bezeichnet. Es weist, u n d zwar m i t Bedeutung am Heiligabend, auf den psychologischen K e r n der schließlich i m Makaberen endenden H a n d l u n g : auf die Lieblosigkeit der Älteren gerade am Fest der Liebe. D e r K o n f l i k t erweist sich als unheilbar, u n d die Unheilbarkeit dokumentiert sich i n der Symbolhandlung. Grete, noch K i n d , w i r d ihrem »bösen Engel« m i t konsequenter Herzlosigkeit zugetrieben. U n t e r welchen Vorzeichen sie nach der Flucht u n d Valtins Tode, m i t ihrem K i n d auf dem A r m , i m Vaterhause wieder empfangen w i r d (und zudem u m ihr Vatererbe betrogen), so daß sie den Verstand verliert, ist hier schon abzusehen. Die Katastrophe ist vorgeplant. W a r u m gerade an einem Weihnachtsfest als Symbol? Vielleicht sollte man die A n t w o r t erst suchen, wenn man sich die anderen Fälle, bei denen sich ein Heiligabend i n ähnlicher S y m b o l w i r k u n g abspielt, eingehender vergegenwärtigt hat. Unwiederbringlich, wie schon angedeutet, einem wirklichen, aber i n Mecklenburgischen passierten Gesellschaftséclat nachgebildet, spielt bei Fontane an der schleswig-holsteinischen Ostseeküste. D o r t sitzt G r a f H o l k m i t seiner Familie i n einem fast märchenhaft schönen Schloß am Meer. D i e Ehe ist t r o t z äußerster Verschiedenheit der Charaktere, bisher eine nicht unglückliche gewesen. Der Graf ist geistig ziemlich uninteressiert, auf das laissez faire, laissez passer eingestellt u n d deswegen ein ungeeigneter Erzieher für seine K i n d e r . Auch hat er eine dem Leben zugewandte Seite, ζ . B. dem Kopenhagener H o f e gegenüber, w o er Kammerherr ist. Das genaue, vielleicht allzu genaue Gegenteil ist die aus nächster Nachbarschaft stammende, aber bei den Herrenhutern

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i n Gnadenfrei aufgewachsene u n d erzogene Gräfin. Sie ist ein Mensch der Prinzipien, u n d z w a r der unerläßlich strengen des Zinzendorfschen Pietismus. K e i n Wunder, daß sie das Heft i n der H a n d hält. D i e Erziehung der K i n d e r ist ganz ihre Sache u n d H o l k renonciert da, audi als sie die v o n i h m sehr geliebten K i n d e r auf Internate fortgeben w i l l (Die Tochter natürlich nach Gnadenfrei). D i e herrenhutische Erziehung hat die Gräfin zu einem Charakter gemacht, den man nur brechen, aber nicht biegen kann. Gerade dies hat, bei dem leichten u n d läßlichen Charakter des Gatten, die Eheleute schon innerlich einander entfremdet oder doch voneinander distanziert, bevor die eigentliche Katastrophenhandlung einsetzt. N a t ü r l i c h verursacht sie der Graf, der am Kopenhagener H o f e i n die Netze einer m i t i h m spielenden Weltdame gerät, einem Hoffräulein, das einer geadelten schwedischen Hofbankiersfamilie entstammt. Z u dieser baronisierten Ebba Rosenberg faßt der G r a f während seiner Kammerherrenzeit i n Kopenhagen eine unüberwindliche Leidenschaft, die er zumal i n eine Ehe umzuverwandeln trachtet, seit er bei einem Schloßbrand i n Frederiksborg i n die Rolle eines Lebensretters des Fräuleins hineinversetzt w i r d . Dies alles spielt sich nicht lange v o r dem Weihnachtsfeste ab, dessen Bedeutung als Katastrophe sich damit abzeichnet. Er fährt nämlich m i t dem festen Entschluß, eine Scheidung zu erzwingen, u m die Rosenberg danach heiraten zu können (der er sich übrigens nicht erklärt hat). D a der Bruch i m Briefwechsel des Ehepaares zwischen Kopenhagen u n d Holkenaes längst vorbereitet ist, d. h. die Gräfin unterrichtet ist über die Affäre m i t der Rosenberg, trifft sie der Schlag des Scheidungsbegehrens bei der Heimkehr H o l k s ins weihnachtlich geschmückte Haus keineswegs unerwartet. Der G r a f k o m m t am Tag v o r Heiligabend an, als der Baum gerade geschmückt u n d die Weihnachtskrippe aufgebaut w i r d . »Ich [ . . . ] hätte gern einen anderen Tag gewählt als diesen. Aber ich bleibe nicht lange.« Das sagt er zu der alten Freundin seiner Frau (die k r a n k liegt) bei der A n k u n f t . Bis seine Frau geholt w i r d , spielt er gedankenlos m i t den Figuren der Weihnachtskrippe. Als sie eingetreten ist, n i m m t sie selber i h m das W o r t v o m M u n d e : »Was d u nicht sagen magst, ich w i l l es sagen. A n Silvester oder am Neujahrstage haben w i r dich erwartet, n u n kommst du zur Weihnacht. Ich glaube nicht, daß du der K r i p p e wegen gekommen bist, auch nicht des Christkindes wegen, m i t dem du spielst. Es liegt dir etwas sehr anderes am Herzen als das C h r i s t k i n d [ . . . ] Also sprich es aus, daß d u gekommen bist, u m m i t m i r v o n Trennung zu sprechen.« So leitet sich das entscheidende Gespräch v o r dem H i n t e r g r u n d v o n K r i p p e u n d Weihnachtsbaum ein, bitter u n d schicksalsträchtig, denn die Trennung realisiert sich i m Augenblick. H o l k bringt den Heiligabend u n d den ersten Feiertag i n einem Flensburger Gasthaus allein u n d bedrückt zu. »Welch Heiligabend! Aber er v e r g i n g . . . « Auch hier stellt sich die Frage, w a r u m Fontane gerade Weihnachten zur Zeit

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v o n Bruch u n d Katastrophe macht. I n Grete Minde hatten w i r gesehen, daß das fatale Weihnachten symbolisch den inneren Bruch m i t dem Bruderhause bedeutet u n d die spätere Katastrophe vorwegnahm. H i e r läßt der Dichter das Weihnachtsfest m i t der Katastrophe zusammenfallen. D e n n dies ist die eigentliche Trennung der Eheleute, u n d der freigewählte T o d der Gräfin i m Meer am Schluß der Erzählung ist nur eine Wiederholung. I n der M i t t e des Gesellschaftsromans L'adultera (als 13. v o n 22 Kapiteln) findet sich ein Weihnachten, das v o n besonderer Bedeutung ist für das Schicksal der beiden hervorstechenden Gestalten. Auch hier hat das Fest symbolischen u n d zugleich entscheidenden Charakter. Der Kommerzienrat v a n der Straaten u n d seine u m vieles jüngere Frau Melanie, eine Genferin, m i t der er bisher i n glücklicher Ehe lebte, haben ein schicksalsträchtiges Jahr hinter sich. Der joviale u n d m i t viel W i t z u n d H u m o r ausgestattete Berliner, die eigentliche Charakterfigur des Romans, hat symbolisch das Schicksal herausgefordert, als er sich für seine Bildersammlung sozusagen als memento eine K o p i e v o n Tintorettos berühmter L'adultera anfertigen läßt. D i e A n k u n f t des B i l des gibt den Schlüssel für das, was sich später ereignen w i r d . Er sieht nur das mahnende biblische Thema. Sie aber meditiert höchst bedenklich darüber. » U n d daß ich Dir's gestehe, sie w i r k t eigentlich rührend auf mich, es ist so viel Unschuld i n ihrer Schuld. U n d alles wie vorher bestimmt.« Diese Interpretation v o n seiten der jungen Frau entschlüsselt ihr eigenes späteres Schicksal. Sie w i r d über die M u s i k - und besonders Wagner-Schwärmerei einem i n die Hausgemeinschaft aufgenommenen Handelsfreunde ihres Mannes, namens Rubehn, sich zuwenden u n d so selber zur Ehebrecherin. Der v ö l l i g ahnungslos gebliebene van der Straaten erfährt v o n der Geschichte und ihren Folgen erst u n d ausgeredinet am Heiligabend. Der Abend hat große Gesellschaft gebracht, anstrengend natürlich für die Frau des Hauses. Aber als die Gäste gegangen sind, überfällt Melanie ein Schwindel. V a n der Straaten fängt sie auf. »Er w o l l t e klingeln u n d nach dem A r z t e schicken. Aber sie bat ihn, es zu lassen. Es sei nichts, oder doch nichts Ernstes, oder doch nichts wobei der A r z t ihr helfen könne. U n d dann sagt sie, was es sei.« Fontane bedient sich also hier des Weihnachtsfestes als M i t t e l , bisher verborgene Schuld aufzudecken u n d damit die Katastrophe der Ehe herbeizuführen. Der die Wahrheit enthüllende u n d damit das Auseinanderbrechen der Ehe besiegelnde Weihnachtsabend findet noch eine Ergänzung durch den nachfolgenden am Schluß der Erzählung, v o n dem noch eingehender an anderer Stelle die Rede sein w i r d . N a t ü r l i c h korrespondiert er i n fast künstlichem A u f b a u m i t dem eben beschriebenen ersten Fest. Aber er schließt die K a tastrophe endgültig ab, m i t eigenen Variationen, die nicht i n diesen Zusammenhang gehören. 9 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 23. Band

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Eine Parallele v o n zwei einander gegenüberstehenden Weihnachtsfesten findet sich auch i n Ellernklipp. D o r t geht es um das Schicksal eines illegitimen Grafenkindes, dessen heruntergekommene M u t t e r früh stirbt. H i l d e w i r d v o n dem strengen, sehr männlichen Heidereiter (Förster) an Kindesstatt angenommen als Geschwister für seinen mutterlos zurückgebliebenen gleichaltrigen Jungen. Sie w i r d der Liebling des v o n vielen gefürchteten Pflegevaters, und das erste Weihnachtsfest i m neuen Hause versieht Fontane m i t ganz besonderem Schwergewicht. Der Pflegebruder M a r t i n nämlich beschert ihr eine selbstgebastelte K r i p p e m i t allem D r u m u n d D r a n : Menschen, Tieren, Engeln u n d der ganzen farbig beleuchteten Heiligen Stadt i m H i n t e r grund. H i l d e ist wie verzaubert v o n dem Glanz u n d Gloria, freilich, ohne den Sinn des Weihnachtsgeschenkes zu verstehen. D e n n sie ist bei der liederlichen M u t t e r t o t a l unwissend auf gewachsen, m i t ihren 10 Jahren auch ohne Schule (so muß sie die alte Magd, i n deren Obhut sie steht, später fragen: »Wer ist Maria?«). D i e Erzählung der evangelischen Weihnachtsgeschichte durch die alte Grissel w i r k t i n erster Linie an- u n d aufregend auf Hildes Phantasie, deren sie die Fülle hat, während sie jeder Arbeit sofort müde w i r d . Es geht nach Fontanes epischem W i l l e n also noch nicht u m Glaubensfragen. D i e werden später v o r - u n d bei der K o n f i r m a t i o n akut. Aber dieser erste Weihnachtsabend, zuerst das Fest der Liebe u n d der Traulichkeit, gleitet auch i n die Katastrophe über. Nach seinem familiären Abschluß ertönt die Feuerglocke, u n d es erweist sich, daß am Waldrande das Haus v o n Hildes M u t t e r i n Flammen steht. Diese unvorhergesehene Weihnachtsschlußpointe, natürlich auch eine beabsichtigte künstlerische Kontrastwirkung, ist aber zugleich eine frühe Charakterprobe für das K i n d u n d auch als solche m i t Bewußtsein v o n Fontane gewählt. Für den Heidereiter, der ihr streng den Weg zur brennenden elterlichen H ü t t e verboten hat, ist es sozusagen eine sittliche Erfahrung daß die sonst so müde und träumerische H i l d e auch einen W i l l e n haben kann. D e n n sie geht trotz des Verbotes dennoch das Spektakel anschauen. Dies verschmilzt ihr aber i n ihrer Phantasie m i t dem weihnachtlichen Lichterwunder, das sie soeben i m Hause erlebt u n d v o n der alten Grissel vorerzählt bekommen hat. Bei aller Kindlichkeit bestätigt sich damit ein zweideutiger Charakter, der die ganze Erzählung bestimmen u n d tragen w i r d . Er w i r k t sich auch auf das zweite Weihnachtsfest der Geschichte aus. Jahre sind vergangen. Inzwischen hat sich die tragische Peripetie vollzogen. Der Heidereiter hat seinen Sohn M a r t i n aus Eifersucht u m H i l d e v o n Ellernk l i p p i n den T o d gestoßen, H i l d e geheiratet und sich aus schlechtem Gewissen am gleichen E l l e r n k l i p p gerichtet. U m diese Zusammenhänge aber weiß niemand, auch H i l d e nur ahnungsweise. Erst lange Zeit nach des Heidereiters Tode, als sie einen neuen Lebenssinn für sich i n christlicher Fürsorgetätigkeit gefunden hat, w i r d sie durch den Pfarrer darüber aufgeklärt. Aber

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es berührt sie nicht mehr. Sie w i r d schließlich durch ihre neue Arbeit aufgezehrt. A m A n f a n g dieser letzten Phase läßt Fontane wieder ein Weihnachtsfest stehen. Es findet bei der Gräfin (Hildes eigentlicher Großmutter) auf dem Schlosse statt u n d greift episch sehr geschickt auf das erste Weihnachtsfest m i t dem Geschenk der K r i p p e u n d der Lichtszene m i t den Engeln zurück. Die damalige Katastrophe, der Brand, fehlt natürlich. Aber ein wundervoller Anblick ist es auch: » . . . ein mächtiger, aber dunkler u n d nur m i t goldenen u n d silbernen Nüssen überdeckter Weihnachtsbaum, eine mehr als zehn Fuß hohe Tanne, während alles Licht, das den Saal füllte, v o n einer K r i p p e h e r k a m . . . « W i r können hier ganz allgemein sagen, daß das Zusammenwirken v o n Weihnachtsbaum u n d K r i p p e i n den Beschreibungen v o n Fontane eine öfters wiederholte Bedeutung hat, über die beiden Feste i n dieser Geschichte hinaus. Es findet sich auch zum Beispiel i n Unwiederbringlich, i m Quitt, i m Stechlin. Jedoch es hat auch dieses für Fontane selber keine eigentliche Bedeutung. Er braucht das Zusammenspiel beider M o t i v e als sinnliches Requisit, Symbol der Phantasie. Aber m i t einem Anflug v o n theologia crucis bei i h m selber hat es nichts zu tun. Was es aber i n Ellernklipp bewirkt, das ist i n erster Linie die epische K o n t i n u i t ä t der H a n d l u n g u n d des sie tragenden Charakters. Denn Fontane läßt jetzt H i l d e , wiederum v o r Weihnachtsbaum u n d K r i p p e , den großen Eindruck schildern, den das erste bedeutende Fest ihrer Jugend auf sie gemacht hatte: » U n d wie glücklich u n d wie benommen sie gewesen sei, denn sie habe den Lobgesang der Engel m i t leibhaftigem Ohre zu hören geglaubt.« Fontane m i ß t dieser Wiederholung (nicht lange vor Hildens Tod) eine für sie lebensentscheidende Bedeutung bei: » U n d v o n Stund an wandelte sich Hildens H e r z ; alle Schwermut fiel v o n ihr ab, u n d die Freude, so viel sie jemals davon besessen hatte, blühte wieder i n ihr auf.« N u n , das mußte nicht gerade Weihnachten sein, das diese V e r w a n d l u n g bewirkte; aber Fontane hat das zweite Fest, sicher nicht ohne künstlerische Absicht, als den Entscheidungspunkt bestimmt. I n Effi Briest kommen ebenfalls zwei Weihnachtsfeste vor, diesmal weder zu Beginn noch am Abschluß der Geschichte. Während das eine ziemlich bedeutungslos ist, auch für die Struktur des Romans, ist das andere v o n entscheidendem Gewicht für die schließlich einsetzende Katastrophe. M a n erinnere sich der Vorgänge bis dahin: Effi, ein verwöhntes K i n d v o n noch 16 Jahren, w i r d verständnislos v o n ihrer eigenen M u t t e r zu einer überschnellen Verlobung m i t deren früherem Liebhaber v o n Instetten überredet. Instetten ist ein sehr repräsentabler M a n n v o n hohen Charaktereigenschaften u n d überlegener Intelligenz. Er ist Landrat, ehrgeizig u n d bringt es nach einer Reihe v o n Jahren denn auch bis zum Ministerialadirektor i n Berlin. 9*

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Das Problem dieser Ehe ist nicht nur der Altersunterschied v o n über 20 Jahren, sondern v o r allem der Mangel jeglicher Tüchtigkeit i m Charakter Effis. Sie ist u n d bleibt v o r allem ein verspieltes K i n d , das sich weiterhin verwöhnen lassen w i l l . I m Geistigen bleibt sie substanzlos, i n erster Linie auf sich selbst gerichtet u n d Instettens taktvollen Versuchen, die versäumte Bildung nachzuholen, konsequent ausweichend. U m so mehr ist sie Gesellschaftsdame ohne jede Tiefe; und sie w i r d schließlich sterben an den Folgen einer Liebelei, die niemals Leidenschaft w a r ; u n d zwar i m Grunde am Bruch m i t der Gesellschaft, die ihr eigentlicher Lebensinhalt war. Als L a n d r ä t i n i n Pommern, der ersten Station v o n Instettens Karriere, ergibt sie sich sozusagen i n ein Verhältnis, das nach jeder Seite h i n unmöglich ist; ein Verhältnis zu einem m i l i tärischen Beau, dem M a j o r v o n Crampas, der, ein Frauenheld ohne sonstige Bedeutung, sie sich auf einer einsamen nächtlichen Schlittenfahrt erobert. D a ß dies überhaupt möglich werden kann, ist ein Zeichen nicht nur für den eben beschriebenen Oberflächencharakter Effis, sondern auch für das M i ß verständnis Fontanes, nun dem Roman eine Wendung ins Tragische geben zu können. Für T r a g i k langen nämlich die Substanzen beider miteinander Flirtenden i n keiner Weise aus. K o m m t noch hinzu, was Effi sehr w o h l weiß, daß der M a j o r Frau u n d K i n d e r hat u n d dadurch fest gebunden ist. Nichts davon w i r d bedacht u n d sogar i n Rücksicht genommen. So k o m m t es denn, wie es kommen mußte. Nach 6 Jahren i n Berlin, w o Instetten inzwischen i m Ministerium sitzt, läßt i h n ein purer Z u f a l l die billets doux u n d Rendezvous-Verabredungen zwischen Effi u n d Crampas auffinden. D i e Folge ist das D u e l l , i n dem Crampas fällt. D i e weitere Folge ist die Scheidung u n d Effis gesellschaftliche Trennung v o m Elternhaus u n d natürlich v o n der Berliner Gesellschaft. Auch das bei Instetten verbliebene K i n d sieht sie sich entfremdet. Ganz gebrochen u n d zu spät heimgeholt, siecht sie schließlich dahin. A u f das zweite Weihnachten i n Kessin läßt Fontane nun nicht den Beginn, der i n Effis Charakter liegt, sondern die Katastrophe selbst fallen. D i e nächtliche Schlittenfahrt durch den W a l d nach Hause, bei der Crampas es einzurichten weiß, m i t Effi allein i n einen Schlitten zu kommen, führt i m Walde zu folgender Situation: »Sie fürchtete sich u n d w a r doch zugleich wie i n einem Zauberbann u n d w o l l t e auch nicht heraus.« I n dieser Verfassung nähert sich ihr der Verführer : »Effi, klang es jetzt leis an ihr O h r , u n d sie hörte, daß seine Stimme zitterte. D a nahm er ihre H a n d u n d löste die Finger, die sie noch immer geschlossen hielt, u n d überdeckte sie m i t heißen Küssen. Es w a r ihr, als wandle sie eine Ohnmacht an.« V o n da an datiert ihre Schuld. N i c h t nur ist ihr Verhältnis zu sich selbst u n d zu ihrem M a n n gestört u n d v o n jetzt an ohne Arglosigkeit, sondern sie bricht etwa audi nicht m i t Crampas, ja setzt sozusagen bis z u m letzten Tage i n Kessin den F l i r t fort. Aber das Geschehnis selbst fällt auf Weihnachten, u n d das gleiche Kapitel, dessen

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Schluß es ausmacht, setzt m i t dem Satze m i t Betonung ein: »Gleich nach sieben ging man zu Tisch, u n d alles freute sich, daß der Weihnachtsbaum, eine m i t zahllosen Silberkugeln bedeckte Tanne, noch einmal angesteckt wurde.« A u f dem H i n t e r g r u n d dieses weihnachtlichen Ambiente entsteht die Schuld, die Effis Schicksal endgültig entscheiden soll. Es ist offensichtlich, daß es sich u m eine erzählerische K o n t r a s t w i r k u n g handeln soll. Der Lichterbaum ist hier nichts als ein gemütlich gesellschaftliches Dekor. Das Ereignis i m Walde ist alles andere als Dekor. Mehr als Vorausahnung hatte sich v o r her der Heiligabend unter dem Baum i m Instettschen Hause selber präsentiert. Unter i h m zeigt sich Effi bereits als v o n ihrem Gewissen bedrückt, u n d fällt das W o r t Instettens: »Zuletzt ist es doch so: was man empfängt, das hat man auch verdient. Effi hörte scharf hin, und ihr schlechtes Gewissen ließ sie sich selber fragen, ob er das absichtlich i n so zweideutiger F o r m gesagt habe.« D i e epische K o n t r a s t w i r k u n g erfolgt also nach zwei Seiten: 1. Lichterbaum am Heiligabend — Effis schlechtes Gewissen, Instetten w i r d zweideutig; 2. Brennender Lichterbaum am 3. Festtage i n der Försterei — D i e Szene auf der Rückfahrt m i t Crampas. Einsetzen der eigentlichen Schuld. Es ist dies nicht der einzige F a l l v o n sinnlich-eindrücklicher, künstlerisch durchaus beabsichtigter Kontrastierung zweier Weihnachtsfeste oder doch — Festtage bei Fontane. W i r werden darauf noch später zurückkommen. Symbolische Zusammenfassung, w e i l gesteigerte Entlarvung einer Schuld; die diesmal sogar k r i m i n e l l ist, ist das Weihnachtsmotiv i n Unterm Birnbaum. Es w i r d hier die Geschichte eines Mordes u n d dessen schließliche E n t deckung erzählt, den ein Händlerehepaar i m Oderbruch an einem polnischen Geschäftsmann verübt, dem es tief verschuldet ist. Es weiß für lange die Spuren zu verwischen, bis Hradsdiek schließlich bei verdichtetem Verdacht doch ins Gefängnis k o m m t . (Die Frau stirbt später an schlechtem Gewissen.) Hradsdiek wurde 10 Tage v o r Weihnachten verhaftet. »Heiligabend w a r ein Brief Hradsdieks bei Eccelius eingetroffen, w o r i n es hieß: >Es ging i h m gut, weshalb er sich auch freuen würde, wenn seine Frau z u m Fest herüberkommen u n d eine Viertelstunde m i t i h m plaudern wolle.« D i e A n t w o r t der Frau an den Pastor lautet dann: »Sie werde diese Reise n i c h t machen, w e i l sie nicht wisse, wie sie sich ihem Manne gegenüber zu benehmen habe. Wenn er schuldig sei, so sei sie für immer v o n i h m geschieden. [ . . . ] Sie wolle daher lieber zum Abendmahl gehen u n d ihre Sache v o r G o t t tragen u n d bei der Gelegenheit den H i m m e l inständigst bitten, ihres Mannes Unschuld recht bald an den Tag zu bringen.«

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Was sich i n diesen Botschaften ausdrückt, ist nicht mehr u n d nicht weniger als die Ballung der inneren Katastrophe des Mörderehepaares i n einem ZeitP u n k t : dem Heiligabend. Auch hier gewahrt man wieder die M i t t l e r - u n d Symbolfunktion des M o t i v s ; das heißt ihren Kunstcharakter. Fontane benutzt den festlichen H ö h e p u n k t Heiligabend, u m die tiefste Verdorbenheit u n d Heuchelei sowie die Gerissenheit der Mitschuldigen aufzudecken, i n ihrer äußersten Potenz die Lüge zu entlarven. K e i n Wunder, daß nicht Hradschek, sondern die Frau danach sich gebrochen zu Tode siecht. H a t sie doch für ihr Lügengewebe sogar das M o t i v des Abendmahls mißbraucht. Dies, v o n Fontane w o h l überlegt, auch unter Mißbrauch des Weihnachtsmotivs; u n d zwar ganz künstlich i n einem Augenblick, da gerade eine günstige Wendung i n dem Prozeß des Mörders sich andeutet, der ja dann tatsächlich noch einmal freikommt. So ist das Weihnachtsmotiv, i m Text i n wenigen Zeilen sozusagen nur so hingestrichelt, bei aller seiner K ü r z e zugleich eine A r t K u l m i n a t i o n s p u n k t der Selbstentlarvung, der Verlorenheit zum m i n desten der Frau.

III. Weihnachten

als

Steigerung

Ausgesprochenen Steigerungscharakter hat das Fest i n der K r i m i n a l novelle Quitt u n d i m Stechlin. I m Stechlin hat es, ähnlich wie i n V o r dem Sturm, Einführungscharakter, jedoch erst gegen Schluß der Geschichte. Der Sohn des alten Stechlin, Woldemar, führt an einem Weihnachtstag seine Braut, die Komtesse Armgard, seinem Vater u n d der Familie zu. Das heißt, das Fest hat den Charakter einer die Zukunft entscheidenden H a n d l u n g . I m Grunde genommen dient es aber v o r allem dem Kennenlernen zweier Adelsfamilien, die das Schicksal nunmehr verbindet. Jedoch hat dieser Festtag noch seine eigene Bedeutung darüber hinaus. Der Heiligabend zwar verläuft i m Hause des Brautvaters, des alten Grafen Barby, konventionell nobel, gewissermaßen typisch für Fontane, da sein H ö h e p u n k t sich wieder u m die Krippenfiguren konzentriert, die der Kunstprofessor eigenhändig u n d porträtähnlich geschnitzt hat. Es ist noch einmal zu betonen, daß geschnitzte Krippenfiguren bei Fontane ein Weihnachtstopos sind. W i r sind ihnen ζ. B. i n Ellernklipp u n d Unwiederbringlich, auch i n Vor dem Sturm und jetzt hier begegnet. W i r werden ihnen auch i m Quitt nochmals begegnen. Ich glaube, daß auch dies M o t i v keinen theologischen Sinn hat, also kein echtes Symbol für das Weihnachtsgeschehen i m biblischen Sinne ist u n d sein soll. Ich werde darauf noch bei der Erörterung v o n Quitt zurückgreifen. Es ist ein konventionelles Requisit, K i n d e r t r a u m u n d E r wachsenenfreude, auch Erinnerungsmotiv. V i e l bedeutender aber für die Gesamthandlung ist der zweite Feiertag. Er dient, wie schon angedeutet, der

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Einführung der Braut A r m g a r d u n d ihrer Schwester Melusine auf Schloß Stechlin (Woldemar an seinen V a t e r : »Armgard ist i n Furcht u n d Aufregung wie vgr einem Examen«). Das Schwierige dabei ist die notwendige Bekanntschaft m i t des alten Stechlin Schwester, der D o m i n a v o n Kloster W u t z , Erbtante u n d Seniorin der Familie Stechlin, die ein Unmaß v o n märkischer Xenophobie, Derbheit u n d U n b i l d u n g verkörpert. D i e Begegnung geht dann auch nicht ohne manche Spitzen v o n Seiten der alten Dame ab, die alles Mondäne, wie die Barbys es für sie darstellen, weit v o n sich weist. Die Brücke w i r d dann hier auch nur unvollkommen geschlagen. Doch ist dies nicht das Handlungsbestimmende. Das Wichtige liegt beim dritten Feiertag, bei der Besichtigung des geheimnisvollen See's Stechlin u n d dem Besuch der Gräfin Melusine bei Woldemars gütigem Erzieher Pastor Lorenzen, einem außergewöhnlich liberalen Theologen u n d weisen Menschen. Bei i h m läßt Fontane das wichtige Gespräch stattfinden, i n dem er Gelegenheit n i m m t , seine eigene Altersweisheit über die Geschichte i m Munde seiner Romangestalt laut werden zu lassen. Ausgehend v o n dem Thema eines dogmatisch freien, aber ganz praktisch dem Nächsten zugewendeten Christentums (diesmal sogar v o n theologischem Gewicht) äußert die Gräfin: »Ich respektiere das Gegebene. Daneben aber freilich auch das Werdende, denn dieses Werdende w i r d über k u r z oder lang abermals ein Gegebenes sein. Alles Alte, soweit es Anspruch darauf hat, sollen w i r lieben, aber für das Neue sollen w i r recht eigentlich leben. U n d v o r allem sollen w i r , wie der Stechlin uns lehrt, den großen Zusammenhang der Dinge nie vergessen. Sich abschließen heißt sich einmauern, und sich einmauern ist Tod. Es k o m m t darauf an, daß w i r gerade das beständig gegenwärtig haben.« Unzweifelhaft, daß Fontane hier der überaus gescheiten jungen Frau einen E x t r a k t seiner eigenen Geschichtsphilosophie (oder wenn nicht Philosophie, so doch Geschichtsanschauung) i n den M u n d legt. Diese ist, wie man sieht, auf ein Gleichgewicht v o n Konservativem u n d Fortschrittlichem aus. Es ist kaum ein Zweifel möglich, daß er die Erzählzeit dieser Darlegung nicht zufällig m i t dem Weihnachtstopos verbindet. W i r kennen ja schon zahlreiche Beispiele soldier bedeutungsvollen Zeitbeziehungen bei ihm. Jedenfalls liegt hier bei Weihnachten ein Steigerungs- u n d Konzentrationspunkt, der mehr als nur ein strukturelles Moment bedeutet. Eine andere A r t v o n Steigerungsfunktion hat das Weihnachtsfest i n der Kriminalnovelle Quitt, auch hier gegen Schluß, oder doch den A k z e n t v o r den Schluß setzend. Was das K r i m i n a l m o t i v angeht, so handelt es sich auch hier u m eine Totschlagsgeschichte, ebenso wie Unterm Birnbaum u n d i n Ellernklipp. U n d i m Grunde geht es weltanschaulich i n allen drei N o v e l l e n u m das gleiche Grundprinzip, das L e i t m o t i v v o n Ellernklipp: »Ewig u n d unwandelbar ist das Gesetz«. Wenn es »Gesetz« ist, so doch kaum das alt-

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testamentliche v o n Annettes Judenbuche, sondern eher ein fatalistisches m i t mystischer Beimischung. Dies w i r d , wie man w a h r n i m m t , besonders deutlich i n Quitt. D e n n diese Interpretation v e r t r i t t hier ein decidierter Atheist. U n d er soll recht behalten. Doch zunächst die z u m Verständnis des Weihnachtsmotivs nötigen Zusammenhänge: Lehnert Menz, ein schlesischer H a n d w e r k e r i m Gebirge, zugleich aber auch passionierter Wilderer, lebt i n Zerwürfnis m i t einem Nachbarn, dem sehr berufsstrengen Förster. Eines Tages schießt Lehnert i h n i m Hochwalde über den Haufen. Aber schlimmer noch: der Förster ist nicht gleich tot, sondern muß sich, m i t Wissen des Mörders noch lange hinquälen, bis er stirbt. E i n Kapitalverbrechen also. Es gelingt Lehnert, vor der Verhaftung spurlos zu verschwinden. U n d v o n da an w i r d die Erzählung ihr Schwergewicht nicht mehr i m K r i m i n a l f a l l finden, sondern i m Bekehrungsmotiv. Sie w i r d dabei auch den Schauplatz wechseln. D e n n Lehnert baut sich i n A m e r i k a eine neue Existenz auf, zunächst noch abenteuernd, dann durch ehrliche Arbeit. Er gerät dabei zugleich durch Z u f a l l , wie durch eigene Entscheidung i n eine Mennonitensiedlung mitten i m Indianerterritorium. Deren Vorsteher u n d Patriarch ist der alte Obadja, dessen jüngste Tochter R u t h Lehnert allmählich still und leidenschaftlich zu lieben beginnt. Aber er ist inzwischen »erweckt« worden, hat dem A l t e n seine Vergangenheit gebeichtet, u n d sein nun waches u n d reuiges Gewissen steht zwischen i h m u n d der E r f ü l l u n g seiner Wünsche. Gleichwohl wagt er schließlich die Werbung beim Vater. Sie geschieht an einem denkwürdigen Weihnachtstag i n Nogat-Ehre, dem gewisse Ereignisse vorangegangen sind. E i n m a l das völlige Einwachsen Lehnerts i n die fromme Gemeinde. V o r allem aber wächst er i n die Familie Obadjas hinein u n d w i r d der Gegenliebe v o n R u t h gewiß. Doch weiterhin belastet i h n der Gedanke an den verjährten M o r d i n seiner Jugend. Sodann die Einholung des Tannenbaums zum Fest. Dieser Tannenbaum w i r d den Bewohnern v o n Nagat-Ehre gleichsam z u m Symbol einer deutschen Weihnacht. M a n holt i h n nicht ohne Gefahr wegen eines plötzlichen Schneetreibens (Gefahr für R u t h ! ) v o n ziemlich weit her. D a z u sorgt man sich u m alle Requisiten eines norddeutschen Weihnachtsfestes: Christbaumschmuck, Festgebäck, natürlich Geschenke auch für die Indianerkinder, natürlich auch eine K r i p p e m i t der Porträtähnlichkeit zu Obadja (wie i m Stechlin!). N a t ü r l i c h hat dieses exceptionelle Weihnachtsfest auch seine liturgische Seite, die dem alten Obadja obliegt. U n d hiernach ist es, daß Lehnert seine Werbung u m R u t h bei diesem anbringt. Fontane hebt das Entscheidende dieses Schrittes ganz ausdrücklich hervor. A u f dem Wege zu Obadja trifft er R u t h v o r dem Weihnachtsbaum. Er fragt sie nach dem Vater: »Willst du zu

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dem?« »Ja«. » U n d das heut' am Weihnachtstag u n d gleich nach der Predigt? Ei, das muß etwas Großes sein.« »Ist es auch. Ich w i l l i h n u m etwas bitten. U n d höre, Ruth, dabei fällt m i r ein, du könntest m i r Glück dazu wünschen.« »Wenn es etwas Gutes ist.« »Ich glaube, daß es etwas Gutes ist.« » N u n denn v o n ganzem Herzen.« Lehnert erhält v o n Öbadja keine Absage, w o h l aber die Aufforderung zu Geduld: »Es ist Rahel, u m die du wirbst. Ich werde dir A n t w o r t sagen.« Es ist ein gutes väterliches W o r t . Es entscheidet i m Grunde schon über Lehnerts Zukunft, das heißt die i h m zugedachte, jedoch nicht vorherbestimmte. Die Geduldsprobe, an der er leidet, scheint zu Ende, als er bald darauf Ruth, die v o n einer Schlange gebissen w i r d , unter eigenem Lebenseinsatz rettet. Aber bei dem Versuch, auch noch ihren Bruder zu retten, k o m m t er i m Gebirge zu Fall, k a n n sich nicht weiter bewegen u n d stirbt unter ähnlich qualvollen Umständen wie sein einstiges Opfer, wie der Förster i m Riesengebirge. U n t e r Weglassung einzelner, auch gewichtiger Handlungsgänge ist das Weihnachtsfest i n Nougat-Ehre als ein Konzentrations- u n d H a u p t z e i t p u n k t des Lehnertschen Schicksals dargestellt worden. D i e Struktur der Novelle findet i n dem Fest eine Steigerungskomponente, da es bei i h m u m das k ü n f tige Glück Lehnerts geht. Es darf nicht verschwiegen werden, daß auch der Novellentitel Quitt als Vorahnung einige Schatten auf das kurze Glück w i r f t . Aber das unzweifelhafte Fehlen einer Abweisung der Werbung ist angesichts v o n Lehnerts belasteter Vergangenheit (um die der A l t e ja weiß) schon sehr viel. M a n muß dabei noch einiges berücksichtigen, das Fontane zu dem epischen Gewicht dieser Weihnachtsdarstellung bestimmt. Es soll ein ausgesprochen deutsches Weihnachten inmitten eines amerikanischen Indianerterritoriums werden. Daher die nicht ungefährliche Suche nach dem Tannenbaum. Daher auch die v o n einem wichtigen Hausgenossen, dem französischen ehemaligen Communard u n d noch jetzigen Atheisten L ' H e r m i t e gleichwohl selbstgefertigte K r i p p e m i t dem Porträt Obadjas. Daher auch die große Feier m i t den Indianerkindern. Es ist das einzige missionarische u n d zugleich innig familiäre Weihnachtsfest Fontanes. D i e Bindung der Entscheidung über Lehnerts Schicksal, so weit es voraussehbar scheint, an dieses m i t viel Genuß ausgemalte Weihnachtsfest, w i r d — auch v o n der Struktur des Ganzen her gesehen — nicht abgewertet durch das Illusionäre, das i n der weiteren Entwicklung bis z u m unerwarteten eigenen T o d Lehnerts führt. V o n da an ist auch sein Schicksal auf Hoffnung gestellt, obwohl diese schließlich sich als trügerisch erweisen w i r d . Dieses Illusionäre der nicht abgewiesenen weihnachtlichen Werbung führt aber doch zugleich m i t zur Einsicht i n das i h m zustehende Ende eines v ö l l i g Bekehrten. Er ist nicht »quitt« m i t dem v o r langen Jahren erschossenen Förster, sondern

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m i t dem v o n i h m anerkannten Gott. D i e Erzählung hätte ebensogut nach Dostojewski Schuld und Sühne heißen können. A u f diesem H i n t e r g r u n d aber bedeutet der Weihnachtstag das kurze Glück. IV. W e i h n a c h t e n als

Parodie

Schließlich muß man erkennen, daß Fontane i n mehreren Fällen (dreimal) das Weihnachtsmotiv auch ironisch parodierend behandelt: nämlich i n L'adultera, i n den Poggenpuhls u n d i n seiner posthum erschienenen N o v e l l e Mathilde Möhring. I n den Poggenpuhls ist es nur ein freilich an den Anfang gelegtes Begleitmotiv, noch dazu ein indirekter Nachspiegel i m Briefe des lustigen Leo an seine M u t t e r , die alte M a j o r i n , pointiert ironisierend: » . . . u n d ich habe unten bei Schlächtermeister Funke, wie ihr w i ß t , die Weihnachtsbescherung m i t angesehen. Alles w a r sehr gerührt, auch Funke. M a n sollte es nicht für möglich halten. D e n n gerade i n der Weihnachtszeit wurde wieder geschlachtet [ . . . ] U n d nun doch gerührt. Übrigens w a r die frische Wurst u n d besonders der Presskopf ganz vorzüglich.« Der W i l l e Fontanes ist v ö l l i g klar, das Fest als sentimentale bürgerliche Familienfeier m i t H a u p t wert auf den materiellen Genüssen gleichsam zu parodieren. Es darf hier daran erinnert werden, daß Fontane i n seinem »autobiographischen Roman« Meine Kinderjahre i n dem K a p i t e l »Wie w i r i n unserem Hause lebten« zwar die Jahreszeiten durchgeht, aber die Weihnachtszeit m i t der Schlacht- u n d Backwoche zusammenfallen läßt, ohne des Festes selber auch nur i m geringsten zu gedenken außer als Überfüttertheit der ganzen Familie m i t fetten u n d süßen Dingen. Bei dem Leutnant v o n Poggenpuhl gelt es nicht ganz so weit. Aber die Ironie auf den bürgerlichen Festmaterialismus ist dieselbe. Weitgehendere Bedeutung für die H a n d l u n g , jedoch auch i m ironisch parodistischen Sinne, hat das Festmotiv i n L'adultera. Das nicht ironisierende erste Weihnachtsfest wurde schon i m Zusammenhang m i t der Katastrophe interpretiert. Es bezeichnete das Ende einer intakten Ehe u n d den Beginn der späteren gesellschaftlichen Ächtung des Paares Melanie-Rubehn. Das andere Weihnachtsfest als letztes W o r t der H a n d l u n g ist insofern kontrastierend u n d damit auch strukturell m i t dem ersten verbunden, als es die Versöhnung der beim früheren Weihnachten aufgebrochenen Gegensätze symbolisiert. A l l e i n , es besteht außerdem auch noch (infolge des W I E ) der Kontrast zwischen Ernst u n d Scherz. Das Julklapp, das der verlassene einstige Eheherr van der Straaten am Heiligabend absendet, ist ein »Bild« i m zweideutigen Sinne: die winzige M i n i a t u r des Tintoretto, dessen Anschaffung ahnungsvoll bedeutsam die Novelle u n d ihre H a n d l u n g einleitet. D i e M i n i a t u r am Heiligabend ist gewiß ein Symbol der Versöhnung, i n erster Linie aber Parodie bzw. Selbstparodie. Dies ist der Schlußpunkt, der die

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(übrigens höchst fragwürdige) T r a g i k oder doch quasi T r a g i k aufhebt, allerdings i n der Form der Groteske. Freilich enthält diese doch auch i n dem Selbstzitat Melanies: »Sieh, Ezel, sie hat geweint. Aber ist es nicht, als begriffe sie kaum ihre Schuld?« das L e i t m o t i v des Ganzen. Grotesk, und zwar auf durchaus naturalistische Weise, i n die kleinbürgerliche Sphäre der H a n d l u n g eingebettet, sind auch die beiden Weihnachtsfeste i n Mathilde Möhring. Es sei hier nicht darauf eingegangen, daß Fontane, den die Naturalisten selber als ihren Lehrmeister anerkannten, sich i n diesem seinem nachgelassenen Alterswerk umgekehrt als deren Schüler erweist, da es v o m Thema ablenken würde. Genug, daß es i n dem (redit kurzen) Roman, der schon beinah die Grenze der naturalistischen Skizze berührt, zwei ausgesprochen parodistische Weihnachtsfeste gibt. D a z u das N ö t i g e : Schauplatz Berlin und das polnisch bevölkerte östliche Preußen. E i n Bürgermeisterssohn aus einer Kleinstadt dort k o m m t nach Berlin, u m dort (endlich) seinen Referendar zu machen. Er n i m m t Wohnung bei einer geradezu fürchterlichen alten Kleinbürgerin, deren niedriges N i v e a u Fontane m i t sichtlicher Wonne ausmalt. Sie hat aber eine über ihren Stand intelligente u n d willensstarke Tochter M a t h i l d e (mit Recht die Titelfigur). Was diese an berechnender W i l lensstärke zu viel hat, das hat H u g o , der angehende Referendar, zu wenig. I n der Begegnung dieser Menschen stellt Fontane eine psychologische Studie ganz i m Sinne des Schulnaturalismus dar. Dies bezeugt sich i n der Entwicklung der H a n d l u n g : D e n weichen, bequemen u n d arbeitsscheuen jungen Mietsherrn zieht u n d erzieht M a t h i l d e m i t berechnendem K a l k ü l nach ihrem Willen, der dem Hugos weit überlegen ist. So k o m m t es schließlich zu der »Verlobung unterm Weihnachtsbaum«, die Fontane als repräsentativ für diese Schicht des Kleinbürgertums symbolisch herausstellt. Der Preis ist freilich die eiserne Erzwingung des Examens, das H u g o denn schließlich auch unter weise dosierten Arbeitsbedingungen besteht, über seine eigenen Willenskräfte hinaus. Das Weihnachtsfest unter dem Tannenbaum, das die Verlobung bringt, ist gleichsam die K r ö n u n g v o n Mathildens wohlberechneten Bemühungen u m H u g o , den sie vorher gesundgepflegt hat. Ihre I n i t i a t i v e führt dann auch zu dem kleinen Bürgermeisterposten i m preußischen Osten, der ihrem Ehrgeiz genügt. N u r erweist sich dies als auch schon zuviel, da ihr M a n n schließlich (bald nach dem zweiten Weihnachten) physisch den geselschaftlichen Anforderungen seines Amtes unterliegt. Eingerahmt w i r d diese H a n d l u n g durch die beiden Weihnachtsfeste. Beide sind der reine H o h n , o b w o h l das zweite zeitlich unmittelbar auch hier v o r der Katastrophe, d. h. v o r der tödlichen E r k r a n k u n g des Mannes seine Stellung hat. H o h n auf die Familienfeste des petit bourgeois , v o n denen »die Verlobung unter dem Weihnachtsbaume« geradezu Modellcharakter hat; gestellt wie für den Fotografen v o n damals. Auch das Erscheinen der Anzeige am dritten Feiertag

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gehört dazu. Der Heiligabend ist v o n T h i l d e so vorgeplant: »Ich denke so Heiligabend. U n t e r m Christbaum, das hab ich m i r immer gewünscht. Das hat dann so seinen Schick. U n d is auch so'n bißchen w i e kirchliche H a n d l u n g . U n d is schon so'n Vorgeschmack, das heißt, ich meine v o n der T r a u u n g . . . « Dementsprechend ist dann auch die Weihnachtsverlobungs-Gesellschaft m i t »Bedienerin«. Also alles so, wie kleine Leute sich Weihnachten m i t Verlobung denken. Weihnachten als Kulisse. Dies ist auch das zweite Weihnachtsfest v o r dem Schluß der Geschichte. Es w i r d geradezu zur Groteske durch das Gespräch der Eheleute über die nicht stattfindende Einladung der M u t t e r z u m Fest u n d deren Dankbrief für die Geschenke. Niedrigeres N i veau k a n n man sich schlecht vorstellen. Beide Feste sind Parodie, haben jedoch ihre Bedeutung für die Struktur der Novelle. Es verhält sich seltsam m i t dem, wie w i r sahen, so häufigen u n d für die H a n d l u n g größtenteils bedeutenden Weihnachtstopos bei Fontane. N i m m t man i h n v o m Autobiographischen oder Epistolarischen, so bleibt er unergiebig, ja nicht selten kritisch i n Hinsicht auf das Weihnachtsfest. I n dem, zwar i m A l t e r geschriebenen, aber seine frühen Jahre schildernden Erinnerungsbuch Meine Kinderjahre, bei dem man es doch am ehesten erwarten sollte, f ä l l t die Weihnachtszeit materialistisch m i t der winterlichen Schlacht- u n d Backzeit zusammen, ohne irgendwie als sie selbst gewürdigt zu werden. D a z u noch die skeptische Bemerkung des alten Fontane (67jährig) am 13. Dezember 1886 an seinen Sohn Theo: »Strengt Euch nur nicht m i t Weihnachtsgeschenken an, jede M a r k ist weggeworfen; man muß m i t solchen alten Geschichten brechen, wenn man nicht H a r u n al Raschid oder Bleichröder ist.« Es erhebt sich die Frage, ob diese abwehrende Bitte nicht eher den i h m überflüssig scheinenden Betrieb galt, als dem Fest selbst, u n d ein Licht auch auf die Erwähnung der Weihnachtsfeste der K i n d h e i t w i r f t . I n beiden Fällen vielleicht doch nur Bloßstellung der Veräußerlichung einer Tatsache, v o n der er, der Verschwiegene, doch i m Geheimen mehr Achtung habe, als er wahrhaben wollte. Immerhin bleibt es bemerkenswert, wie oft der Epiker Fontane Gebrauch v o n ausgerechnet diesem M o t i v macht, dessen Bedeutung für sein privates Leben so schwer zu deuten ist. Als Erzähler aber hat es i h n auf seltsame Weise immer wieder gereizt. Jedoch, wie sich zeigte, auf ästhetisch symbolische Weise u n d nicht i m Sinne eines wie auch immer gearteten theologischen Interesses. Dieses scheidet vielmehr durchaus aus. Er packt es beim Menschen an, nicht als Heilsgeschehen i m Sinne der kirchlichen T r a d i t i o n . Das heißt, er gebraucht das Fest als episches Kunstmittel, aber da wie fasziniert, wenn auch durchweg säkularisiert. I n diesem Sinne kann, wie aufgezeigt wurde, Weihnachten eine ergiebige u n d breite Eröffnungsfunktion erhalten wie in

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Vor dem Sturm. Es kann eine Krisis oder Katastrophe ausdrücken oder anzeigen oder mehr vorahnen lassen, wie i n V adulter α, Unterm Birnbaum, Grete Minde, Unwiederbringlich, Ellernklipp u n d Effi Briest. Es kann aber auch Steigerungschrakter haben wie i n Quitt u n d Stechlin. Es k a n n schließlich auch Parodie oder Groteske sein wie am Schluß v o n L'adultera, zu Beginn der Poggenpuhls u n d geradezu repräsentativ i n Mathilde Möhring (wo es zugleich Parodie der Steigerung ist). H a t Fontane hiermit ein M o t i v so oft u n d i n so vielfachen Variationen i n den Dienst seiner Erzählkunst gestellt, w e i l es sich für i h n als Dichter i m Sinne seiner Soziologie der Stände, v o r allem seiner Bourgeois-Kritik, als besonders geeignet darbot? Oder w a r sein überaus geprägtes Traditionsbewußtsein m i t i m Spiele? Oder w a r es seine differenzierte Psychologie, deren humane Grundlage das Verstehen des Menschlich-Allzumenschlichen ist? A u f alle diese Fragen kann die Interpretation v o n Fontanes Weihnachtsfesten keine k l i p p u n d klare A n t w o r t e n ergeben. Diese Untersuchung w o l l t e sie stellen. Stellen, w e i l es sich denn doch hier u m ein Symptom für geistesgeschichtliche Vorgänge v o n Bedeutung handelt. Fontanes Dichtung ist die eines Bürgers u n d dabei zugleich heftigen Bourgeois-Kritikers. Er ist damit Repräsentant einer Obergangsepoche, der T r a d i t i o n verhaftet, aber auf der Suche nach einer neuen, möglichst liberalen Weltordnung. E i n Lieblingsmotiv wie Weihnachten spiegelt eben diese Suche, Bürgerliches u n d auch schon Nachbürgerliches miteinander zu vereinen. Kritische K o n t i n u i t ä t könnte man es nennen.

D I E EXPRESSIONISTISCHEN D R A M E N GEORG KAISERS U N D DER LITERARISCHE SYMBOLISMUS

V o n Robert Kauf

t

Absicht dieses Versuches ist es, an H a n d v o n Georg Kaisers expressionistischen Dramen zu zeigen, wie typisch Expressionistisches aus NeuromantischSymbolistischen entspringen kann. Z u diesem Zwecke soll v o r allem ein typisch neuromantisch-symbolistisches Dramolett herangezogen werden, das Kaiser i m Jahre 1896, also als erst Achtzehnjähriger schrieb, u n d das in nuce bereits Züge aufweist, die i n Kaisers späterer expressionistischer Dramat i k eine bedeutende Rolle spielen u n d als typisch expressionistisch angesehen werden. Das kleine Dramolett, ein ungefähr zwanzig Druckseiten langer u n d i n Blankvers verfaßter Einakter m i t dem T i t e l »Schellenkönig« lehnt sich i n Stil u n d Atmosphäre an Hofmannsthals lyrische Dramen an. Es w a r zu Lebzeiten Kaisers nicht i m Drucke erschienen u n d ist erst aus dem Nachlaß bekannt geworden. D i e H a n d l u n g ist kurz folgende: (Ich folge der m i r v o n der W i t w e des Dichters, Frau Margarethe Kaiser, freundlich zur Verfügung gestellten Abschrift der Handschrift u n d nicht der i n den Werken abgedruckten). I n einer Atmosphäre betonter Künstlichkeit — »das goldne Dämmer stäubt v o m Kronleuchter auf dem die Kerzen ununterbrochen brennen; schultertiefe Allongeperücken auf den H ä u p t e r n des Hofstaats«, heißt es i n den Szenenanweisungen — übt der K ö n i g i m großen O r n a t m i t dem Zeremonienmeister das H o f zeremoniell. D a w i r d er plötzlich durch einen kleinen Zwischenfall an das Künstliche seiner Existenz erinnert. D i e Sehnsucht nach einem natürlicheren Menschentum ergreift ihn. T r o t z der Warnungen des Zeremonienmeisters legt er sein königliches Kostüm ab, das sein wahres Menschentum v e r h ü l l t : aus dumpfen Räumen und beklommener Luft fand ich ins Freie und idi taumelte von Düften trunken, die das T a l mir trug, daran das Menschtum und die Wahrheit münden. Tand, Flitter, diesen Mantel, diese Krone hub auf ein Wind, der riß mir keck ins H a a r , entwirrte Gurt und Schnallen der Gewandung,

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Robert Kauf bis nackt ich stand und da berührte mich zaubrischen Strichs mit einer Kinderhand grad auf die H a u t vorm Herzen sanft ein Druck, der sich sogleich ins Innerste mir pflanzte und wie den Nußkern aus erstarrter Schale das warme H e r z in die Befreiung hob.

Der K ö n i g öffnet die Fenster, »ein Schwall grellste Sonne schießt herein, dem der K ö n i g i n Verzückung die A r m e öffnet«. Er t r i t t ans Fenster u n d zeigt sich dem V o l k ohne sein königliches Kostüm, als Mensch u n d nichts als Mensch. Doch das V o l k erkennt i h n so nicht, w i l l i h n nicht erkennen. D e r Zeremonienmeister hatte recht: es braucht seinen K ö n i g m i t Krone und Szepter. U n d der K ö n i g sieht seinen Fehler ein. Er wollte v o m Mensch zum Menschen sprechen, er w a r f das K l e i d ab, u m dem Menschenbruder näher zu sein, und mußte entdecken, daß er gegen etwas, was der Menschheit heilig ist, verstoßen hat durch Stören ihrer Träume, Illusionen, Hoffnungen: . . . und trachte nicht das Kleid, das deines Nächsten Sehnsucht wirkte für deine Schultern und zu seiner Lust, da er schweißtriefend schreitet hin durch Qualen und Werktag wie durch Schlamm, dir abzutun, weil du dich klein und völlig unwert fühlst solcher Verehrung und des Opferdiensts, mit dem er Blut dir spritzt, sich flagelliert, Schreie stößt, wallfahrt, und vom Liebsten läßt um deinetwillen — reiß aus seiner Wollust der Geißelhiebe den Beseligten, zeig deine Nacktheit hüllenlos und frank dem Andachtsvollen, der ihr Schleier wob und Gloriolen gab und eine Wandrung nach seiner Träume Weisung gehn dich hieß — kurz : offenbare wie du dürftig selbst und um dich ist's gesdiehn!

Der K ö n i g w i r d wieder i n die königlichen Gewänder eingekleidet, »der Leibarzt schließt Zug u m Z u g die Flügel der Portiere — wie sich die Flügel eines Nachtraubvogels über seine Beute schließen«, die künstliche Kerzenlichtatmosphäre w i r d wiederhergestellt, »die unterbrochene Zeremonie n i m m t ihren Fortgang«. Die Hoffnung, aus dem verkünstelten Leben auszubrechen u n d ein natürliches Dasein zu führen, ist gescheitert. H ä t t e Georg Kaiser später keine expressionistischen Dramen geschrieben, könnte man »Schellenkönig«, v o n stilistischen Eigenwilligkeiten und H ä r t e n der Sprache abgesehen, als typisches lyrisches Dramolett der N e u r o m a n t i k lesen. D e r i m Künstlichen Befangene, der sich aus seinen engen Mauern

Die expressionistischen Dramen Georg Kaisers

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hinaussehnt zu seinen natürlicher u n d einfacher lebenden Mitmenschen ist eine häufige Erscheinung des Symbolismus, eine Reaktion auf seine ätherisierenden Tendenzen. M a n denke, als ein Beispiel für viele, an Claudio i n »Der T o r u n d der Tod«, dessen N a m e n j a schon auf Eingeschlossensein hindeutet, der sein Leben erlebt »wie ein Buch« u n d sich wegsehnt aus seinem m i t Kunstobjekten gefüllten Haus, oder, wie er es nennt, aus »der Rumpelkammer voller totem Tand« 1 , weg aus der Einsamkeit zu eine Im-Leben-Stehen: »Ich w i l l die Treue lernen, die der H a l t v o n allem ist.« »Schellenkönig« gehört also der Gestalt u n d dem Gehalt nach zum Symbolismus; zugleich deutet er aber auf manche wichtigen Züge in Georg Kaisers expressionistischen Dramen voraus. Auch i n ihnen muß das K l e i d , insbesondere das Berufskleid, abgelegt werden, damit der Mensch i n seinem Wesenskern enthüllt werde — ein gleichsam rousseauistischer Zug, der vielen, — nicht allen, — der kaiserschen expressionistischen Erneuerungsdramen eignet: D e r dem Bankbeamtenberuf entkommene Kassierer i n »Von morgens bis mitternachts« knöpft sich auf dem Schneefeld die Manschetten ab u n d schleudert sie weg. I n »Gas« bittet der Milliardärssohn seinen Schwiegersohn, den Offiziersberuf aufzugeben u n d sein Offizierskleid abzulegen, damit der Mensch i n i h m hervortreten könne: »Streife dein prächtiges K l e i d v o m Leibe u n d lege die Waffe dabei. Bester Mensch bist d u — [ . . . ] makellos ist der Kern. [ . . . ] Reiße die Blicke nach d i r — u n d mache deine Stimme dröhnend: unerfüllt blieb ich, wie ich verkleidet b i n fürs Leben i n diesen Rock — « 2 . Später w i r d der Milliardärssohn die Arbeiter auffordern, die entseelende Fließbandarbeit aufzugeben, das Gewand ihres vereinseitlichenden Berufs abzulegen und zu einer Lebensweise als Siedler zurückzukehren, die den ganzen Menschen ausbildet. N i c h t mehr H a n d am Hebel, Auge am Sichtglas, Fuß am Schaltblock sollen sie sein — spezialisiertes, zerstückeltes Menschent u m — sondern wieder Menschen i n ihrer Gesamtheit. D i e Bemühungen des Milliardärssohns bleiben jedoch erfolglos. Was i n diesen expressionistischen Dramen gezeigt u n d gepredigt w i r d u n d i m neuromantischen »Schellenkönig« schon vorausgeahnt w a r , ist der seines Berufs entkleidete Mensch, der Mensch jenseits des Berufs, der Mensch an sich: »Jeder Mensch ist nicht mehr I n d i v i d u u m , gebunden an Pflicht, M o r a l , Gesellschaft, Familie«, heißt es i n Kasimir Edschmids expressionistischem Manifest. »Er w i r d i n dieser Kunst nichts als das Erhebendste u n d K l ä g 1

H u g o von Hofmannsthal, Gesammelte Werke, Berlin: S. Fischer, 1924, I , 136.

2

Frankfurt a. M . : Ullstein, 1971, I I , 30. Meine H e r v o r -

Georg Kaiser, Werke, hebung.

10 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 23. Band

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liebste: er wird Mensch« 3. D i e falsche H ü l l e muß fallen, auf daß sich das Wesentliche i m Menschen offenbare. Dies ist die Richtung z u m Neuen M e n schen. D e r alte Mensch des kaiserschen expressionistischen Dramas, z. B. der H a u p t m a n n Dugusclins i n den »Bürgern v o n Calais«, trägt andererseits schwarzen Harnisch u n d läßt i m K a m p f e das Visier herab, er versteckt sich gleichsam hinter seiner Rüstung; u n d der K a p i t ä n i n »Gats« ein gescheiterter Weltverbesserer, erscheint i m letzten A k t des Dramas i n schlottrigen, kleinbürgerlichen Kleidungsstücken. D i e Beispiele ließen sich fortsetzen. D i e Kleidersymbolik i m neuromantischen »Schellenkönig« hat vielfache Nachfolge gefunden. Ä h n l i c h groß ist die expressionistische Nachkommenschaft der symbolischen Öffnung nach außen. I m »Schellenkönig« läßt das aufgerissene Fenster Sonne u n d Licht i n den R a u m der Künstlichkeit u n d Beengtheit strömen. E i n Erneuerter t r i t t der Schellenkönig ans Fenster; ein Erneuerter ist der Kassierer i n »Von morgens bis mitternachts«, als er aus dem engen Kassenraum aufs weite Schneefeld flieht; erneuern sollen sich die Arbeiter i n »Gas«, indem sie aus den Fabriken ziehen, u m auf dem offenen Lande zu siedeln. Endlich gebraucht Kaiser i n »Gas I I « fast genau den gleichen szenischen Effekt wie i m »Schellenkönig«. D i e Arbeiter w o l l e n aus der entmenschlichenden Atmosphäre der Fabriksbetonhalle m i t ihrem Bogenlampenlicht ausbrechen. D i e K u p p e l der H a l l e w i r d freigerollt — u n d nun die Szenenbeschreibung: »Ein breiter Lichtbaum senkt m i t Sturz sich aus der K u p p e l u n d steht wie eine funkelnde Säule v o m Boden der H a l l e . I n Blendung Stille — alle Gesichter hinauf« 4 . Oberhaupt ist bei Kaiser der visuellen Symbolik ein äußerst weites Feld eingeräumt, was den Leser seiner theoretischen Schriften überraschen mag. D o r t heißt es nämlich u. a.: »Das D r a m a Piatons legt Zeugnis ab. Es ist über alle Dramen. Rede stachelt Wiederrede — neue Funde reizt jeder Satz, und weiter unten i m selben Aufsatz: »Ins Denk-Spiel sind w i r eingezogen u n d bereits erzogen aus karger Schau-Lust z u glückvoller Denk-Lust« 5 . Aber trotz dieser Proklamationen u n d trotz der Verehrung des Expressionismus für Schiller finden w i r bei Kaiser keine Rückkehr z u m D r a m e n t y p der Klassik, der sich fast ausschließlich des künstlerischen Mittels des Wortes bediente. ( M a n vergleiche etwa die Behandlung des Maria-Stuart-Stoffes bei 3 »Expressionismus in der Dichtung«, in: Die neue Rundschau, 29 (1918), wieder abgedruckt in 20. Jahrhundert: Texte und Zeugnisse, 1880 - 1933, ed. Walther K i l l y , München: C. H . Beck'sche Verlagsbuchhandlung, 1967, p. 557. Meine Hervorhebung. 4

Werke, I I , 75.

5

»Das D r a m a Piatons« [1917], Werke, I V , 544, 545.

Die expressionistischen Dramen Georg Kaisers

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Schiller und bei seinen Vorläufern, u m zu erkennen, wie sehr Schiller das blutige Schauspiel ins Sprachliche vergeistigt hat.) Der G r u n d ist geistesgeschichtlich. D i e Klassik glaubte an den göttlichen Ursprung der Sprache. I m Laufe des neuzehnten Jahrhunderts verlor die Sprache i m D r a m a ihre Vorherrschaft; andere künstlerische Ausdrucksmittel traten seit dem der Barocktradition verpflichteten österreichischen Dramen (Grillparzer bis H o f mannsthal) u n d dem Naturalismus gleichberechtigt neben sie: stummes Spiel, Gebärde, musikalische Untermalung, Tableau, Kostüm, Kulisse. E i n Stud i u m des naturralistisdien Bühnenbildes, der naturalistischen Theorie nach eine genaue A b b i l d u n g der Wirklichkeit, w i r d i n den meisten Fällen seinen symbolischen Charakter erweisen. I n der Anwendung nichtsprachlicher künstlerischer Ausdrucksmittel steht also das expressionistiche D r a m a Kaisers i m Strom einer künstlerischen Entwicklung, die i m Neunzehnten Jahrhundert begann, sich i m Naturalismus und Symbolismus fortsetzte, und sich bis ins heutige Drama, das sich vieler nichtsprachlicher M i t t e l bedient, weiterentwickelt. N i c h t nur künstlerische Ausdrucksmittel, auch zentrale geistige Anliegen des kaiserschen expressionistischen Dramas finden sich bereits i n Kaisers »Schellenkönig«, i m Symbolismus, j a w o h l auch bereits i m Naturalismus, i m Ansatz vorgebildet. So ζ . B. das Bewußtsein der unglaubwürdigen Existenz u n d die Sehnsucht nach wirklichem Leben, die dann i m Aufschrei nach dem neuen Menschen i m Expressionismus gipfeln. Hans Schwerte hat recht, wenn er den visionären Ausruf aus den »Bürgern v o n Calais«, »Ich habe den neuen Menschen gesehen!« [ . . . ] Wunsch, Sehnsucht, u n d T a t w i l l e n zugleich — [ . . . ] die zusammenhaltende Achse« der deutschen Literatur seit 1889 nennt®. Was drückt denn das Abwerfen des königlichen Kleiderstands u n d das ö f f nen des Fensters i m »Schellenkönig« anderes aus als das Verlangen nach echtem Sein? U n d sehnt sich nicht auch Hofmannsthals T o r danach, u n d nicht auch die geknechteten Menschen i n Hauptmanns »Webern«, w o die Stelle steht: »A jeder Mensch hat halt c ne Sehnsucht« 7 . Fast immer i n Kaisers expressionistischen Dramen gerät der Visionär, der die A n t w o r t auf das Problem der unauthentischen Existenz sucht, oder weiß, oder zu wissen glaubt, i n K o n f l i k t m i t der trägen Masse. Meistens zerbricht er an i h r : der Idealist scheitert an der D u m p f h e i t des Durchschnittsmenschen, der A l t r u i s t am Egoismus der Vielzuvielen. Oder so w i l l es scheinen. D e n n trotz des optimistischen Tons der meisten expressionistischen Manifeste, auch β »Der Weg ins zwanzigste Jahrhundert: 1889 - 1945«, in Annalen der deutschen Literatur: Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, hg. H e i n z O t t o Burger, Stuttgart 1952, p. 720. 7

10*

Ende des dritten Akts. Gesammelte Werke, Berlin: S. Fischer, 1921,1, 348.

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Robert Kauf

der v o n Kaiser, w a r man sich seiner Sache keineswegs so sicher. Es w i r d durchaus i n Kaisers expressionistischen Dramen für den Visionär nicht eindeutig Partei ergriffen. (Ausnahmen bilden das rein wunschbildhafte Stück » H ö l l e Weg Erde« und »Die Bürger v o n Calais«, i n dem sich die Bürger durch langsame, schwere, opferbereite Arbeit, die, wie Ernst Schürer gezeigt hat, dem mühsamen Bau des Hafens gleicht, zur Erneuerung durchringen 8 .) Ist es möglich, daß die Masse i n ihrer Lethargie doch zuweilen instinktsicherer ist, oder recht hat wenigstens insofern, daß sie eine nichtwünschenswerte Situation akzepiert, w e i l sie sie eben als die m i t dem menschlichen Leben gegebene, dem menschlidien Leben adäquate Situation erkannt hat? Diese Möglichkeit w i r d v o n Kaiser zuweilen, meist allerdings nur implicite, zugestanden. Auch hier folgt Kaisers D r a m a t i k vorexpressionistischen Modellen. Sie ist, wie diese, nicht Lösungs- sondern Problemdramatik. D e r Schellenkönig erkennt am Ende des Dramoletts resignierend, daß er dem V o l k e i n seiner alten Rolle als K ö n i g besser dienen könne, während er, wie w i r oben sahen, als Mitmensch u n d Menschheitsbeglücker nur Konfusion und U n h e i l gestiftet hätte: . . . jede Last verlangt nach Händen sie aufzustützen. Alles w i l l getan sein : die Brücke w i l l gebaut sein und das Haus, der K a h n gesteuert und das Gold gemünzt, Straßen gezogen, jedes Pferd beschlagen, der Zoll gesammelt und der Biene H o n i g — nicht alles seines Schweißes wert und plagt außer Gebühr, doch greifen Arme braun und rüstig tapfer zu und also wird's getan. — W a r u m soll ich nicht König sein?

Schon vorher, i m Naturalismus, erweisen sich die Vertreter naturwissenschaftlichen Denkens, die gegen die allgemeinen Vorurteile ankämpfen, selbst vielfach als problematische Gestalten, wie etwa L o t h i n Hauptmanns »Vor Sonnenaufgang«. I m Symbolismus, w o sich der K o n f l i k t zwischen dem auserwählten I n d i v i d u u m u n d der Masse meist i n der Verkleidung des Künstler-Bürger-Konflikts präsentiert, ist der Künstler allzuoft, u m Thomas M a n n zu zitieren, ein »Bürger m i t schlechtem Gewissen«. Problematisch wie die Künstlergestalten des Symbolismus sind auch Kaisers Visionäre u n d Propheten. W e n n Kaiser seinen ersten expressionistischen Helden, den Kassierer i n »Von morgens bis mitternachts«, etwas extravagant eines symbolischen Kreuzestods sterben läßt, so k a n n sich dies lediglich auf das Leiden, das er v o n der W e l t erfährt, beziehen u n d keineswegs auf ein etwaiges 8

Georg Kaiser, N e w Y o r k : Twayne Publishers, 1971, p. 101, passim.

Die expressionistischen Dramen Georg Kaisers

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Mitleiden m i t der Menschheit, das i h m v ö l l i g abgeht. D e m Visionär, der i n »Gas« der Richtigkeit seiner Idee — der Rückkehr zur Scholle — so sicher war, daß er die Menschheit »zu ihrem Glück zwingen« 9 wollte — w i r d von seinem Enkel i n »Gas I I « vorgeworfen, daß er die Mitmenschen auf falsche Wege leiten w o l l t e : »Uber T r i f t e n v o n Grüne lockte euch einer v o r m i r — ihr verwiest i h n recht. Nichts u m euch schont i n euch das Beträchtliche — « 1 0 . Dieser Enkel predigt innere W a n d l u n g statt äußerer Reform, doch ist gerade er derjenige, der, als die Menschheit seinen R a t nicht befolgt, die Giftgasphiole w i r f t und somit die Zerstörung der Erde einleitet. I n seinem letzten expressionistischen Stück, »Gats«, hat sich Kaiser deutlich v o n dem expressionistischen Propheten u n d Visionär, hier der K a p i t ä n genannt, der der Uberbevölkerung der W e l t u n d dem daraus resultierenden Elend durch Zwangssterilisierung steuern w i l l , distanziert. Die v o n dem Plan betroffenen Massen leisten Widerstand; es k o m m t zu Blutvergießen; des Kapitäns Plan scheitert. »Eine Idee fiel pomphaft«, kommentiert eine Gestalt des Dramas den Vorgang, die w o h l für den A u t o r spricht. » I n einem Meer v o n B l u t versinkend, wie Ideen das m i t sich bringen« 1 1 . Dieses letzte expressionistische D r a m a Kaisers drückt auch i n K o s t ü m u n d Bühnenbild das Ende des Expressionismus aus. M i t der Flucht des Kassierers aus dem engen Kassenraum eines kleinbürgerlichen Städtchens aufs weite Schneefeld u n d dem symbolischen Wegwerfen der Manschettenknöpfe hatte es begonnen. Es endet i n »Gats« m i t der Rückkehr ins kleinbürgerliche M i lieu. Das Bühnenbild der ersten zwei A k t e ist noch typisch expressionistisch. 1. A k t : »Glasspitzraum i m B l a u l i c h t . . . « 2. A k t : »Zur Pyramide der T r i büne Schichtung breiter Betonstufen«. 3. A k t jedoch: »Möbliertes Zimmer m i t schäbiger vernutzter Einrichtung« 1 2 . Der K a p i t ä n , der weiland expressionistische H e l d des Stückes, erscheint »hemdärmelig, i n Pantoffeln — Weste u n d Hose sind schlottrige kleinbürgerliche Kleidungsstücke«. Rückkehr aus dem expressionistischem R a u m ins kleinbürgerliche Dasein. Kaisers expressionistisches D r a m a hat seinen E n d p u n k t erreicht. D a ß seine Ausstrahlungen auf die nachfolgende Literatur weitergewirkt haben, ist so oft festgestellt worden, daß es keiner weiteren Erwähnung bedarf. D a ß es i n wesentlichen Punkten der vorhergehenden literarischen Richtung des Symbolismus verpflichtet ist, sollte i n diesen Ausführungen erhärtet werden. 9 10 11 12

Werke, Werke, Werke, Werke,

I I , 27. I I , 86. I I , 441. I I , 411, 425, 443.

SPAZIERGANG A M STRAND Z u r Proteus-Episode i n James Joyces Ulysses V o n Willi

Erzgräber

Obgleich bisher eine Fülle v o n Arbeiten über James Joyces Ulysses u n d die einzelnen Episoden dieses Romans veröffentlicht wurde, liegt — soweit ich die Sekundärliteratur überblicke — keine Interpretation vor, die die dritte Episode, das Proteus-Kapitel, unter strukturellen Gesichtspunkten analysiert 1 . Auch die v o n C l i v e H a r t u n d D a v i d H a y m a n unter dem T i t e l James Joyce's Ulysses 1974 veröffentlichte Sammlung kritischer Essays2, i n der jeder Episode ein Essay gewidmet ist, enthält nur einzelne Beiträge, die v o n einem strukturanalytischen Interesse geleitet sind, so ζ . B. den Essay H u g h Kenners über die Circe-Episode 3 oder den Essay v o n Father Robert Boyle zur Penelope-Episode 4 . J. Mitchell Morses gedankenreiche A b h a n d lung über die Proteus-Episode 5 läßt jedoch Fragen des Aufbaus w e i t h i n außer acht. Z i e l der folgenden Analyse ist die Erschließung struktureller Eigenheiten der Proteus-Episode, die sich allerdings nur dann deuten lassen, wenn die vielfältigen Themen m i t berücksichtigt werden, die Joyce i n einem N e t z w e r k v o n Korrespondenzen aufeinander bezogen hat. — Z u r Situation des Protagonisten Stephen Dedalus sei hier folgendes bem e r k t : Stand Stephen am Ende v o n A Portrait of the Artist as a Young Man unmittelbar v o r der Flucht nach Paris, so setzt der Roman Ulysses seine Rückkehr aus Paris voraus. Das erste K a p i t e l zeigt, wie er sich v o n Buck Mulligan, einem irischen Medizinstudenten, u n d Haines, einem englischen Studenten aus O x f o r d , m i t denen er bisher i m M a r t e l l o Tower zusammenlebte, verabschiedet; das zweite K a p i t e l schildert seinen Abschied 1 Bemerkungen zur Struktur der Proteus-Episode finden sich in M a r i l y n French, The Book as World: James Joyce's Ulysses (Cambridge, Mass., London 1976), S. 74 - 82. 2 Clive H a r t u. D a v i d H a y m a n (edd.), James Joyce* s Ulysses: Critical Essays (Berkeley, Los Angeles, London 1974). 3

Ebd., S. 341 - 362.

4

Ebd., S. 407 - 433.

5

Ebd., S. 29 - 50.

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Willi Erzgräber

v o n M r . Deasy, i n dessen Schule er bisher lehrte. D a m i t befindet er sich erneut i n einer Situation des Aufbruchs: Ähnlich wie i m Portrait macht er sich auf, die komplexe Realität, i n der er lebt, zu durchforschen u n d zu entdecken. Für den philosophisch geschulten Künstler, als der er dem Leser präsentiert w i r d , heißt dies zunächst, über die Bedingungen der Möglichkeit, Realität überhaupt erkennen zu können, nachzudenken. M i t einer solchen Reflexion beginnt das Proteus-Kapitel. Kennzeichnend für Stephens Stil des Reflektierens i m inneren M o n o l o g ist das spielerische, stichwortartige Aneinanderreihen v o n Gedankensplittern u n d Bildern, die ihrerseits gedankliche Z u sammenhänge konkretisieren u n d exemplifizieren. A u f diese Eigentümlichkeit des Proteus-Kapitels machte i n der vorliegenden Forschung bereits John K i l l h a m aufmerksam, der i n seiner A b h a n d l u n g » »Ineluctable Modality< i n Joyce's Ulysses« schreibt: H i s mind flows from association to association as freely and fondly as the waves of the sea mix and merge near at hand. A l l this must be admitted. Nevertheless, although his thoughts have this in common w i t h the protean element, they differ in one important respect. H i s thoughts may freely flow, but they flow from point to point. His reflections may take odd turns, but one knows, or can find out, where one is®.

Das erste Stich w o r t »Ineluctable m o d a l i t y of the visible« (45) 7 leitet eine Gedankenkette ein, die sich m i t dem Ursprung menschlicher Erkenntnisse i m Bereich des Visuellen befaßt; der zweite Absatz dagegen ist auf das Stichw o r t »ineluctable m o d a l i t y of the audible« (45) bezogen 8 . Beide Abschnitte zeugen v o n der philosophischen Erziehung, die Stephen (wie Joyce) bei den Jesuiten i n Clongowes W o o d u n d i m Belvedere College zuteil geworden war, denn er n i m m t i n seinem inneren M o n o l o g Ideen auf, die Aristoteles i n Buch I I u n d I I I seiner Schrift De anima entwickelte 9 . A u f Aristoteles weist auch das italienische Z i t a t hin, das Joyce i n diesen Abschnitt eingeflochten h a t ; die Wendung »maestro d i color che sanno« entstammt einem Passus der Divina Commedia 10, w o v o n Aristoteles gesagt w i r d : »Nachdem ich mehr 6 John Killham, »»Ineluctable Modality< in Joyce's Ulysses« University ronto Quarterly , Bd. 34 (1964/65), S. 269 - 289; hier: S. 268.

of To-

7 Es w i r d durchgehend nach folgender Ausgabe zitiert: James Joyce, Ulysses, The Bodley H e a d (London, Sydney, Toronto 1967). 8 Vgl. in diesem Zusammenhang die Abhandlung von Joseph E. Duncan, »The M o d a l i t y of the Audible in Joyce's Ulysses«, Publications of the Modern Language Association , Bd. 72 (1957), S. 286 - 295. Duncan bemerkt u. a.: » . . . the guiding influence on Stephen's thought is not Berkeley, but Aristotle.« (S. 287). 9 Vgl. hierzu u. a. E r w i n R . Steinberg, The Stream of Consciousness and Beyond in Ulysses (Pittsburgh 1973), S. 66 f. 10 Vgl. Weldon Thornton, Allusions in Ulysses: An Annotated List (Chapel H i l l 1961, 1968), S. 42. D i e Kommentare zur Proteus-Episode, insbesondere die Angaben zu den literarischen, philosophischen und historischen Anspielungen, die sich in diesem Buch (S. 41 - 67) finden, sind für jede Interpretation unentbehrlich.

Spaziergang am Strand

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die Augen nun erhoben, / Sah i d i den Meister jener, die durch Wissen / Berühmt, i m Kreis der Philosophen sitzen, / I h n , die Bewunderung, die Verehrung aller.« (Inferno,

Canto I V , 130 - 33) 1 1 .

I m Sinne der aristotelischen Psychologie u n d Erkenntnistheorie ist auch die Formel »thought through m y eyes« (45) z u verstehen, die Stephen i m A u f t a k t seines inneren Monologs verwendet und m i t der er auf den sinnlichen Ursprung aller menschlichen Erkenntnis hinweist. M i t Aristoteles ist Stephen der Auffassung, daß die Sinne eine Vorstellung v o n den Dingen vermitteln, daß sie Anstöße z u m Erkenntnisprozeß liefern, daß sich das Erkennen der Wirklichkeit aber i m menschlichen Geist vollzieht. Wenn Stephen Dedalus für seine geistige A k t i v i t ä t weiterhin die Wendung gebraucht: »Signatures o f a l l things I am here to read« (45), so folgt er dabei einem Gedanken der thomistischen Erkenntnislehre, die ihrerseits auf die aristotelische Erkenntnistheorie aufbaut. Thomas v o n A q u i n unterscheidet i n Summa theologica , I , q. 8 4 - 88, zwischen der ersten Materie, »die das gänzlich Unbestimmte, aber i n vieler Hinsicht Bestimmbare ist« 1 2 , und der zweiten Materie, »die bereits irgendwie geformt ist, mindestens durch quant i t a t i v e Bestimmungen« 1 3 ; diese Materie nennt Thomas auch »materia signata« 1 4 , woraus der Sinn v o n Stephens Feststellung »Signatures of a l l things I am here t o read« einsichtig werden dürfte. Einige Interpreten haben den Satz »signatures o f a l l things I am here to read« dahingehend ausgelegt, daß sie darin eine Anspielung auf eine der Schriften Jakob Boehmes sahen, die i m Englischen den T i t e l »The Signature o f A l l Things« trägt (der O r i ginaltitel ist De Signatura Rerum) 15. Wenngleich v o n der sprachlichen K o inzidenz her ein derartiger Zusammenhang naheliegend erscheint, widerspricht einer solchen Interpretation die Einstellung zur Realität, die sich i m inneren M o n o l o g Stephens beobachten läßt. D i e Dinge erscheinen bei Stephen nirgendwo als mystische Symbole; sein .Blick ruht ständig auf dem »konkret, i n d i v i d u e l l Seienden, dem i n R a u m u n d Zeit Stehenden« 18 . W i e 11 Zitiert nach Dante Alighieri, Die göttliche Komödie, (München o. J.), S. 19.

übers, von Philalethes

12 Johannes Hirschberger, Geschichte der Philosophie, Bd. I : Altertum alter (Freiburg i. Br. 2 1953), S. 403. 13

und Mittel-

Ebd., S. 403.

14

Vgl. dazu u. a. Thomas von Aquin, Summa theologiae , I , 75, 4 c; I , 76, 4 ad 4; I , 78, 2 ad 3; I , 85, 1 ad 2. 15 Vgl. z . B . W i l l i a m Y o r k Tindall, A Reader's Guide to James Joyce (London 1959), S. 146. 16 W i r übernehmen diese Formulierung von Johannes Hirschberger, a.a.O., S. 397. Was nach seinen Darlegungen für die »Eigenart des thomistischen Realitätsbegriffes« (S. 397) gilt, trifft auch für die Wirklichkeitsauffassung des Stephen D e dalus zu.

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i n der späteren Scylla u n d Charybdis-Episode bekennt sich Stephen auch i n der Proteus-Episode zur aristotelischen und nicht zur platonisch-neuplatonisch-mystisdien T r a d i t i o n . Was Stephen, der künstlerisch begabte Protagonist, zunächst w a h r n i m m t , ist Sichtbares, sind farbige K ö r p e r : »seaspawn and seawrack, the nearing tide, that rusty boot. Snotgreen, bluesilver, rust: coloured signs« (45). U n d wiederum rekurriert er auf Aristoteles, wenn er feststellt: »Limits of the diaphane. But he adds: i n bodies. Then he was aware of them bodies before of them coloured«. (45), denn auch Aristoteles reflektiert i n De anima, I I , 7, i n Verbindung m i t seinen Äußerungen über den Gesichtssinn zugleich über die Eigenart und Grenzen des Durchsichtigen (»limits of the diaphane«). Wenn Aristoteles weiterhin dem Tastsinn bei der Erörterung der Wahrnehmungsvermögen i n De Anima I I , 3 eine zentrale Rolle zuweist u n d bemerkt: »Weiterhin gibt es ohne das Tastvermögen keine der übrigen Wahrnehmungen, der Tastsinn aber besteht ohne die anderen« 17 , dann n i m m t Stephen auch diese Problematik i n seinem inneren M o n o l o g auf: A u f die Frage, wie Aristoteles denn w o h l die massive Dinglichkeit erfahren habe, lautet seine A n t w o r t : »By knocking his sconce against them, sure«(45). Folgt man den quellengeschichtlichen Kommentaren z u m Ulysses 18, so muß man zu diesem Satz feststellen, daß er auf einen D i a log D r . Johnsons m i t Boswell zurückzuführen ist, i n dem sie sich über Berkeleys Philosophie, insbesondere über die These der Nicht-Existenz der Materie unterhielten u n d D r . Johnson ebenfalls m i t einer Gebärde den Gegenbeweis führte; Boswell bemerkt (in Life, 6. August 1763): » I never shall forget the alacrity w i t h which Johnson answered, striking his foot w i t h m i g h t y force against a large stone, t i l l he rebounded f r o m it, >1 refute i t thus< «. Daraus ist zu folgern: Stephen distanziert sich prinzipiell v o n der idealistisch-spiritualistischen These, daß das Sein nur i m Wahrnehmungsakt enthalten sei und daß es keine materielle Wirklichkeit gäbe. Wenn der erste Absatz, der v o n der M o d a l i t ä t des Sichtbaren handelt, m i t der Wendung: »Shut y o u r eyes and see« endet, so bereitet diese paradox anmutende Formulierung auf ein Experiment vor, das sogleich f o l g t : Stephen schließt die Augen, u m sich v o n der M o d a l i t ä t des visuell W a h r nehmbaren wenigstens für kurze Zeit zu lösen; sein Z i e l ist es, die M o d a l i t ä t des H ö r b a r e n z u testen u n d zu beobachten, wie sich die Wirklichkeit i n seinem Bewußtsein darstellt, wenn er sich nur auf akustische Eindrücke verläßt. (Dabei setzt er stillschweigend voraus, daß zuvor bereits eine W i r k l i c h keitserfahrung stattfand, die durch den Gesichtssinn vermittelt wurde.) D i e 17 Vgl. hierzu Aristoteles, Über die Seele, übers, von W i l l y Theiler, zweite, durchgesehene Auflage (Berlin 1966), S. 29. 18

Vgl. Weldon Thornton, Allusions , S. 42.

Spaziergang am Strand

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beiden kursiv gesetzten, aus dem Deutschen, möglicherweise aus Lessings Laokoon, entnommenen Begriffe »the nebeneinander« u n d »the nacheinander« beweisen, daß es Joyce u m die innere Wahrnehmung v o n Zeitlichem u n d Räumlichem geht 1 9 . Indem Stephen auf das Geräusch hört, das er selbst b e w i r k t , als er durch den Sand an der Küste schreitet, d. h. sich i m Raum vorwärtsbewegt, gewinnt er zugleich eine elementare Vorstellung v o n aufeinanderfolgenden Ze/iphasen. A n Stephens sprachlichen Formulierungen ist abzulesen, wie sich i n seinem Bewußtsein die Kategorie des Zeitlichen u n d die des Räumlichen durchdringen: »A very short space of time through very short times of space« (45); Wollschläger übersetzt treffend: »Einen sehr kurzen Zeitraum lang durch sehr kurze Raumzeiten« (53) 2 0 . Wenn bei der Interpretation des Bewußtseinsromans gesagt wurde, er biete eine »Verräuml i d i u n g der Zeit« u n d eine »Verzeitlichung des Raumes« 21 , dann liefert Joyce m i t dem Beginn des Proteus-Kapitels dafür ein konkret-anschauliches, aber audi ein theoretisch fundiertes Beispiel. D i e Grunderfahrung, auf die Stephen den Bereich des Hörbaren reduziert, ist der Rhythmus. Rhythmus zeichnet sich i m Geräusch seiner Stiefel ab: »Crush, crack, crick, crick« (45), u n d sogleich denkt er an den Rhythmus, der i n den beiden Zeilen: » W o n ' t y o u come to Sandymount, / Madeline the mare« (46) steckt, die offenbar aus einem Volkslied oder einer Parodie auf ein Volkslied stammen 2 2 . Wenn Stephen nach diesem Experiment die Augen wieder öffnet, faßt er seinen Eindruck i n die knappe Feststellung zusammen: »See now. There a l l the time w i t h o u t y o u : and ever shall be, w o r l d w i t h o u t end«. (46) M i t der letzten Formel: » A n d ever shall be, w o r l d w i t h o u t end« (aus dem Gloria Patri) 23 lehnt er sich an den vorgeprägten theologischen Wortschatz an; i m K o n t e x t der beiden ersten Absätze des Proteus-Kapitels bedeutet die zitierte Feststellung: Stephen sieht sich einer raum-zeitlichen Wirklichkeit gegenüber, deren Grenzen, deren Ende er nicht zu fassen vermag, u n d weiterhin: einer W e l t , die offenbar an ihn, an seinen A k t des Wahrnehmens v o n Wirklichkeit nicht gebunden ist: »There a l l the time w i t h o u t you« (46). Während die Studenten zu Beginn v o n E. M . Forsters Roman 7he Longest Journey darüber diskutieren können, ob eine K u h tatsächlich existiert, auch wenn nie19 Vgl. hierzu Fritz Senn, »Esthetic Theories«, James Joyce Quarterly , Bd. 2 (1965), S. 134 - 136. 20 James Joyce, Ulysses, übers, von Hans Wollschläger (Frankfurt malige Sonderausgabe 1979). Nach dieser Ausgabe die deutschen Zitate.

1975; ein-

21 Ich übernehme diesen Terminus von Ernst Leisi, »Der Erzählstandpunkt i n der neueren englischen Prosa«, Germanisch-Romanische Monatsschrift, Bd. 37 (1956), S. 48. 22

Vgl. Weldon Thornton, Allusions , S. 43.

23

Ebd., S. 43.

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m a n d da ist, der sie w a h r n i m m t , gibt es für Stephen Dedalus diese v o n der berkeleyschen D e n k t r a d i t i o n her verständliche Problematik nicht. D i e Abschnitte über die unausweichliche M o d a l i t ä t des Hörbaren u n d des Sichtbaren bilden i n Stephens innerem M o n o l o g die Voraussetzung für seine weiteren Reflexionen über sein Verhältnis zur Realität. W a r sein Blick zunächst auf die Frage des sinnlichen Ursprungs aller Erkenntnis der Realität gerichtet, so reflektiert er i n dem nächsten größeren Abschnitt seines inneren Monologs, der seiner Wanderung entlang des Strandes zugeordnet ist, über den Ursprung u n d die Entfaltungsmöglichkeiten der menschlichen Existenz, wie sie i n seinem bisherigen Leben angelegt waren 2 4 . Es ist für die erzählerische Darbietung des Stoffes charakteristisch, daß Joyce v o n Zeit zu Zeit den komplexen inneren M o n o l o g Stephens unterbricht u n d die Bewegungen, die Gebärden Stephens beschreibt; die Orientierung an der äußeren W i r k lichkeit geht weder bei Joyce noch Stephen verloren. Einige Belegstellen seien zitiert. Z u Beginn der Wanderung heißt es beispielsweise: »His pace slackened. Here. A m I going to A u n t Sara's or not?« (47). D i e Stelle zeigt, wie eng der erzählerische Bericht über die Bewegungen des Protagonisten u n d der innere M o n o l o g miteinander verzahnt sind. D e r Autor-Erzähler verweist zum einen aus der Außensicht auf das Tempo der Bewegungen, der Protagonist z u m anderen aus der Innensicht auf die Unsicherheit i n der Zielrichtung. E t w a zwei Seiten weiter berichtet der Autor-Erzähler wiederu m die äußeren Bewegungsvorgänge, und er stellt dabei u. a. fest: The grainy sand had gone from under his feet. H i s boots trod again a damp crackling mast, razorshells, squeaking pebbles, that on the unnumbered pebbles beats, wood sieved by the shipworm, lost Armada. Unwholesome sandflats waited to suck his treading soles, breathing upward sewage breath. H e coasted them, walking warily. (50)

I m gleichen Zusammenhang w i r d eine Veränderung der Bewegungsrichtung konstatiert: H e halted. I have passed the w a y to aunt Sara's. A m I not going there? Seems not. No-one about. H e turned northeast and crossed the firmer sand towards the Pigeonhouse. (50 - 51)

Der erste T e i l der Proteus-Episode endet damit, daß Stephen anhält, umkehrt u n d auf einen Felsschemel zugeht, w o er Platz n i m m t u n d seinen Eschenstock i n einem Gesteinsriß abstellt. Turning, he scanned the shore south, his feet sinking again slowly in new sockets. . . . The flood is following me. I can watch it flow past from here. Get back then by the Poolbeg road to the strand there. H e climbed over the sedge and eely oarweeds and sat on a stool of rock, resting his ashplant in a grike. (55) 24

Vgl. hierzu auch M a r i l y n French, The Book as World , S. 75 ff.

Spaziergang am Strand

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D i e Begebenheiten u n d Themen, über die Stephen während des ersten Teiles seines Spazierganges am Strand reflektiert, ergeben zusammengenommen ein Portrait des Stephen Dedalus, das sich m i t dem i n Stephen Hero u n d i n A Portrait of the Artist as a Young Man entworfenen Charakterportrait vergeichen läßt. E i n solcher Vergleich ergibt, daß Joyce das Material, das seine V i t a i h m bot, i n jedem Fall anders gestaltete. Folgte Joyce i n seinem ersten, nur fragmentarisch erhaltenen autobiographischen W e r k dem V o r b i l d des realistischen Romans, konzentrierte er i n A Portrait das Material auf einen f ü n f K a p i t e l umfassenden Bewußtseinsroman, der i m Wechsel der Stilarten die Entwicklungsphasen der kindlichen u n d jugendlichen Psyche des Stephen Dedalus nachbildet, so w i r d i m Proteus-Kapitel i n der Form eines inneren Monologs u n d i n stenogrammartiger Verkürzung eine V i t a des Helden geboten, die den proteischen Charakter seiner bisherigen Existenz faßbar werden läßt. Für Stephens Selbstdarstellung i m ersten T e i l des Proteus-Kapitels ist kennzeichnend, daß Joyce z u m einen eine chronologische u n d systematische O r d n u n g einhält, zum anderen, daß er bei jedem neuen chronologischen Abschnitt den Leser auch erkennen läßt, wie vielfältig die Möglichkeiten der Darstellung u n d Deutung eines Lebensabschnittes sind 2 5 . Dieses Bewußtsein w i r d dem Leser durch eine Fülle v o n religiösen u n d mythologischen Allusionen sowie autobiographischen u n d literarischen Reminiszenzen vermittelt. D e r erste T e i l v o n Stephens innerem Monolog, der die Rückschau auf sein bisheriges Leben enthält, ist so strukturiert, daß sich zwei Phasen unterscheiden lassen: die erste bezieht sich auf sein Leben i n D u b l i n , die zweite auf sein Leben i n Paris u n d seine Beschäftigung m i t Frankreich. Den äußeren Anstoß für diese Rückschau auf seine Vergangenheit geben zwei Frauen, die am Strand auftauchen u n d die er für Hebammen hält. Diese Frauen lösen i n i h m Gedanken an seine eigene Geburt (»One of her sisterhood lugged me squealing into life«, 46), aber auch an den Anfang des Menschengeschlechtes aus (»Spouse and helpmate of A d a m K a d m o n : H e va, naked Eve.«, 46). A d a m K a d m o n ist die Bezeichnung für den Urmenschen i m Sinne der Kabbala. Joyce scheint dabei unmittelbar v o n Blake beeinflußt gewesen zu sein, der kabbalistisches hermetisch-theosophisches Gedankengut verarbeitete u n d bei dem sich auch die Namensform H e v a für Eva findet 26. Wenn Stephen über seinen eigenen Anfang, den A n f a n g des M e n 25 Vgl. zu dieser Problematik die eindringliche Untersuchung von Eckhard Lobsien, Der Alltag des Ulysses. Die Vermittlung von ästhetischer und lebensweltlicher Erfahrung (Stuttgart 1978). 2e Vgl. Weldon Thornton, Allusions , S. 44. — Zur Frage, inwiefern Joyce in der Proteus-Episode Anregungen von Blake aufnahm und verarbeitete vgl. auch E r w i n R . Steinberg, »The Proteus Episode: Signature of Stephen Dedalus«, James Joyce Quarterly , Bd. 5 (1967/68), S. 189 ff.

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sdiengesdilechtes u n d schließlich — m i t einer Anspielung — auch über die Empfängnis u n d die Geburt Christi spricht, ist er sich ständig der Differenz zwischen menschlichem u n d göttlichem Sein bewußt. Ist die Schöpfung eine »creatio ex nihilo«, so ist das menschliche Wesen, das die Hebammen nach seiner Vermutung i n ihrer Tasche verbergen, möglicherweise »A misbirth w i t h a t r a i l i n g navelcord« (46); heißt es v o n Christus i m Nizänischen Glaubensbekenntnis (in der englischen Fassung): »He was begotten not made, consubstantial w i t h the father«, so sagt Stephen v o n sich: »Wombed i n sin darkness I was too, made not begotten« (46). Dennoch begreift er sich, auch wenn er alle menschliche Sexualität v o n der »concupiscentia carnis« gezeichnet sieht, zugleich als ein Geschöpf Gottes: »From before the ages H e w i l l e d me and n o w m a y not w i l l me away or ever« (46 - 47). Wenn Stephen daher auf sein Leben i n D u b l i n zurückschaut, muß er sich fragen, wie er m i t dieser Doppelnatur seiner menschlichen Existenz bisher fertig geworden ist, wie er die Möglichkeiten, die i n i h m angelegt sind, bedingt durch äußere Umstände, zur Entfaltung gebracht hat u n d welche Irrwege er bei dem Versuch zur Selbstentfaltung gegangen ist. Aus den Erinnerungsfragmenten, die sich auf Stephens Leben i n D u b l i n , auf sein früheres Verhältnis z u Vater u n d M u t t e r u n d auf seine jetzige Einstellung z u O n k e l u n d Tante beziehen, geht hervor, daß er sich gerne, wenn er v o n seiner Abstammung zu sprechen hatte, einem trügerischen Rollenspiel überließ u n d sich dabei — wie i h m nun selbst erscheinen w i l l — i n arroganter Weise stilisierte. I n seinem inneren M o n o l o g hört er eine Stimme, die i h m v o r h ä l t : » Y o u t o l d the Clongowes gentry y o u had an uncle a judge and an uncle a general i n the army. Come out of them, Stephen. Beauty is not there.« (49). I n gleicher Weise stellt er i n seinem inneren Monolog seine theologischen u n d priesterlichen A m b i t i o n e n i n Frage. E r wertet sie als Ausdruck eines übersteigerten Geltungsbedürfnisses. D i e Bemerkung Drydens: »Cousin Swift, y o u w i l l never be a poet« f o r m t sich i n Stephens Bewußtsein u m i n »Cousin Stephen, y o u w i l l never be a saint.« (49) 2 7 . I n der ironisch-kritischen Selbstanalyse geht der innere M o n o log Stephens mehrfach i n einen inneren D i a l o g über: die kritische Stimme, die i n i h m die Erinnerung an die eigene Vergangenheit wachhält, entlarvt nicht nur die Fragwürdigkeit seiner religiösen Lebensform, sondern deutet auch auf den ständigen K o n f l i k t zwischen seinem religiösen Anspruch u n d seiner sexuellen Begierde h i n : Y o u were awfully holy, weren't you? Y o u prayed to the Blessed Virgin that you might not have a red nose. Y o u prayed to the devil in Serpentine avenue that the fubsy widow in front might lift her clothes still more from the wet street. (49 - 50) 27

Vgl. Weldon Thornton, Allusions , S. 49.

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Schließlich richtet sich i n der Proteus-Episode die Selbstironie Stephens auch gegen die Existenzform des Künstlers u n d Ästheten, für die er sich i m Portrait am Ende des I V . Kapitels entschied. Bildete die Entscheidung für die Kunst u n d gegen die Theologie i m Portrait die Vorstufe für die ekstatische Epiphanie, die durch das >Vogelmädchen< am Strand ausgelöst w u r d e 2 8 , so hat Stephen Dedalus i m Ulysses nur kritische Worte für seine früheren künstlerischen Absichten u n d Pläne. Sah Stephen i n Stephen Hero noch die Aufgabe des Künstlers darin, die visionären Erlebnisse, die Epiphanien, die i h m i m A l l t a g oder i m T r a u m zuteil werden, zu sammeln u n d w a r James Joyce selber nach diesem Programm verfahren, indem er i n den Jahren 1901 bis 1903 ungefähr 70 solcher Momentaufnahmen notiert u n d darauf seinen autobiographischen R o m a n aufgebaut hatte, so spöttelt Stephen nun über diese literarische Manier und läßt das andere, kritische Ich i m inneren D i a l o g feststellen: Remember your epiphanies on green oval leaves, deeply deep, copies to be sent if you died to all the great libraries of the world, including Alexandria? Someone was to read them there after a few thousand years . . . (50)

Dieser literarischen Selbstkritik ist eine Passage vorausgeschickt, die zeigt, daß Stephen Dedalus sich nun auch über die narzißtische Selbstbezogenheit, die Überheblichkeit und den mangelnden K o n t a k t m i t der U m w e l t mokiert, die für seinen früheren Lebensstil als Künstler und Ästhet charakteristisch waren: Reading two pages apiece of seven books every night, eh? I was young. Y o u bowed to yourself in the mirror, stepping forward to applause earnestly, striking face, H u r r a y for the Goddamned idiot! H r a y ! No-one saw: tell no-one. (50)

A u f f a l l e n d ist, daß i n den Erinnerungen an Paris, der zweiten Phase des ersten Teiles v o n Stephens innerem Monolog, die Reflexionen über seine künstlerischen Pläne v ö l l i g zurücktreten. Als Stephen an Pigeonhouse v o r beigeht, erinnert i h n der N a m e an eine Stelle aus Léo Taxils blasphemischem Buch La Vie de Jésus, die er i n seinem inneren M o n o l o g zitiert: »— Q u i vous a mis dans cette fichue position? — C'est le pigeon, Joseph.« (51) 2 9 . M i t diesem Buch assoziiert er sodann Patrice Egan, den er u m Leo Taxils W e r k bitten möchte u n d der sich offenbar i n der Rolle des Freigeistes, des Sozialisten u n d Atheisten gefiel. E r bestärkte Stephen i n seinen Neigungen zur Häresie u n d Blasphemie, i n der kritischen Distanz zur religiösen T r a d i tion, i n der Stephen aufgewachsen war. Breiteren Raum als die Erinnerung 28 Vgl. hierzu W i l l i Erzgräber, »>The Moment of Vision< im modernen englischen Roman«, Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, Neue Folge, 21. Bd. (1980), S. 283 301, insbesondere S. 298. 29 Vgl. hierzu M a r v i n Magalaner, Time of Apprenticeship; James Joyce ( N e w Y o r k 1959), S. 5 0 - 7 1 .

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an Patrice Egan n i m m t die Erinnerung an dessen Vater K e v i n Egan ein, der als Rebell u n d Emigrant i n Paris lebt. K e v i n Egan, der sidi v o n allem trennte, was i h n äußerlich m i t I r l a n d verbinden konnte — er w i r d m i t den A d j e k t i v e n »loveless, landless, wifeless« (54) charakterisiert — läßt Stephen erkennen, was es heißt, auf die Dauer ins E x i l zu gehen. K e v i n Egan steht jedoch nicht nur für ein Einzelschicksal, sondern zugleich für eine bestimmte politische T r a d i t i o n , für die Freiheitsbestrebungen der Iren i m 19. u n d 20. Jahrhundert. N a m e n wie M a u d Gonne, jene Frau, die Yeats vergeblich u m w a r b und die sich leidenschaftlich für die irischen Unabhängigkeitsbestrebungen einsetzte, oder A r t h u r G r i f f i t h , der 1905 die Sinn-Fein-Bewegung gründete, zuvor aber bereits für die Idee eines irischen Freiheitsstaates eintrat, erinnern an die politischen A k t i v i t ä t e n der Iren zu Beginn dieses Jahrhunderts 3 0 . M i t der Bemerkung: » H o w the head centre got away, authentic version. G o t up as a young bride, man, veil orangeblossoms, drove out the road to Malahide« (54) spielt Stephen auf die Flucht v o n James Stephens an, der i m 19. Jahrhundert als »head centre« der Fenier galt u n d der — nach einer phantasievoll ausgeschmückten Version des Fluchtberichtes — am 24. November 1865 nur dadurch aus dem Gefängnis i n D u b l i n entkommen konnte, daß er sich (angeblich) als Braut verkleidete. D i e Erwähnung v o n Colonel Richard Burke u n d des Clerkenw e l l Gefängnisses i n L o n d o n gehört i n den gleichen Zusammenhang; Stephen bezieht sich hier auf Ereignisse am 13. Dezember 1867, als der vergebliche Versuch unternommen wurde, Colonel Richard Burke u n d einige seiner Gesinnungsfreunde aus dem Gefängnis zu befreien. Selbst eine Feststellung wie »He takes me, N a p p e r T a n d y , b y the hand« (54) enthält eine politische Allusion, die Joyce wiederum einer irischen Ballade entnahm. N a p p e r T a n d y ist eine historische Figur; er lebte v o n 1740 bis 1803 u n d gehörte m i t Wolfe Tone zu der 1791 gegründeten »Society of U n i t e d Irishmen«. Wie i n der ersten Phase (des ersten Teiles) des inneren Monologs lassen sich auch i n der zweiten Phase Passagen nachweisen, die zeigen, daß Stephen i n der Rückschau auf jene Zeit, i n der er sichtlich v o m Lebens- u n d Denkstil der nach Paris emigrierten Iren beeinflußt w a r , ein deutliches V e r d i k t f ä l l t . So heißt es beispielsweise: »Proudly w a l k i n g . W h o m were y o u t r y i n g to w a l k like? Forget: a dispossessed.« (51). U n d weiterhin bemerkt Stephen einmal sehr sarkastisch: » Y o u were going t o do wonders, what? Missionary to Europe after fiery Columbanus.« (52). Beide Stellen weisen auf den gleichen Habitus Stephens h i n : Auch i m E x i l i n Paris — so erkennt er i n der 30 Z u den Anspielungen auf historische Ereignisse vgl. Weldon Thornton, sions, S. 53 - 56.

Allu-

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Rückschau — begegnete er seiner Umgebung i n hochmütiger Weise, u n d er imitierte dabei lediglich Rollen, d. h. er handelte nicht aus innerer Übereinstimmung m i t seiner individuellen Eigenart oder aus einer uneingeschränkten, entschiedenen H i n w e n d u n g zu einer bestimmten Existenzweise. Bei diesem Rollenspiel durchlief er ständig Metamorphosen u n d entdeckte dabei an sich u n d i n sich das proteische Prinzip. Während Proteus i n der homerischen Vorlage ein mythisches Wesen ist, das durch Menelaus gebändigt w i r d 3 1 , ist i m R o m a n des 20. Jahrhunderts die mythische Gestalt zu einem abstrakten Prinzip geworden, das i m Meer sein symbolisches K o r r e l a t hat. D i e Szenerie, i n der sich der Spaziergang des Stephen abspielt, u n d seine Bewußtseinsvorgänge sind also Erscheinungsformen ein und desselben proteischen Prinzips. Der fragmentarische Rückblick auf das eigene Leben des Protagonisten, d. h. der erste T e i l des Proteus-Kapitels, schließt m i t einem kurzen H i n w e i s auf die gegenwärtige Situation des Stephen Dedalus: Er lenkt seinen Blick nach dem Süden u n d w i r d daran erinnert, daß er den M a r t e l l o Tower u n d seine bisherigen Freunde Buck M u l l i g a n u n d Haines verlassen u n d Buck M u l l i g a n den Schlüssel übergeben hat. »He has the key. I w i l l not sleep there when this night comes. A shut door of a silent tower entombing their b l i n d bodies, the panthersahib and his pointer.« (55). I n der Chronologie seiner V i t a ist Stephen damit zu dem Augenblick zurückgekehrt, v o n dem er ausging 32 . D a m i t setzt der zweite T e i l des Proteus-Kapitels ein, der dadurch gekennzeichnet ist, daß Stephen nun nicht mehr den Strand entlang wandert, sondern v o n einem Felsschemel aus die Umgebung beobachtet. Waren zunächst die äußeren Bewegungen Stephens u n d seine Bewußtseinsvorgänge auf das dynamische Prinzip abgestimmt, so verharrt er nun äußerlich i n einer statisch-kontemplativen H a l t u n g , während sich die seelischen Vorgänge i n i h m m i t der gleichen Intensität abspielen wie i m ersten Teil. Innerhalb des zweiten Teiles ist ähnlich wie i m ersten insofern eine Zweigliederung zu beobachten, als zunächst die Wiedergabe v o n Vorgängen am Strand m i t der Wiedergabe v o n Stephens innerem M o n o l o g alterniert: Stephen sieht einen H u n d auf sich zukommen, er beobachtet weiterhin wie zu Beginn v o n 1,1 zwei Frauen, die er für Hebammen hält u n d v o n denen er nun annimmt, 31 Vgl. dazu auch Stuart Gilbert, James Joyce's Ulysses, ( N e w Y o r k , London 1930; second revised edition 1952), S. 119 ff. 82 Wenn Stephen bemerkt: »A shut door of a silent tower entombing their blind bodies . . . « , dann markiert er damit zugleich die innere Distanz zu seinen beiden ehemaligen Gefährten und der eigentümlichen Existenzweise, die sie repräsentieren und von der er sich gelöst hat: sie leben in der Abgeschlossenheit des Turmes, setzen sich nicht in derselben Weise der Erfahrung aus, wie er dies jetzt versucht.

11 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 23. Band

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daß sie eine Fehlgeburt i m Gebüsch am Strand versteckten; er sieht schließlich einen M a n n u n d eine Frau, die Muscheln sammeln (vgl. 57). I n der zweiten Phase des zweiten Teils ist Stephen allein am Strand, u n d er erlebt einen Augenblick der schöpferischen Inspiration. Das K a p i t e l endet m i t einem kurzen Abschnitt, i n dem geschildert w i r d , wie Stephen diese Szene verläßt und zurückblidcend einen Dreimaster wahrnimmt, der still flußaufwärts i n den H a f e n v o n D u b l i n fährt. Dieser epiphanieartige Ausklang läßt sich als eine symmetrische Entsprechung z u m einleitenden Abschnitt verstehen, i n dem Stephen über die M o d a l i t ä t des Sichtbaren u n d Hörbaren reflektiert (vgl. dazu den Aufbauplan i m A n h a n g dieser Abhandlung). D e r A u f b a u der Episode — das kann an dieser Stelle schon konstatiert werden — entspricht den ästhetischen Theorien, die Joyce i m Portrait Stephen i n den M u n d legt. Wenn Stephen über die zweite Stufe der W a h r nehmung eines Kunstwerkes ausführt: » . . . y o u apprehend i t as a balanced part against part w i t h i n its limits; y o u feel the r h y t h m of its structure« (216 - 17) 3 3 und weiterhin: »You apprehend i t as complex, multiple, divisible, separable, made up of its parts, the result of its parts and their sum, harmonious.« (217), so zeichnet sich i n der Proteus-Episode eine deutliche Tendenz ab, den äußerlich scheinbar so irregulären Bewußtseinsstrom, die manieristische T e x t u r auf ein klares strukturelles Grundmuster zu beziehen, so daß sich das K a p i t e l insgesamt nicht nur durch das harmonische Zusammenspiel der Teile ( = »consonantia«), sondern auch durch seine »claritas« auszeichnet u n d i m Betrachter den Eindruck einer überlegen durchkomponierten »integritas« hinterläßt. Über die Kompositionsweise i n 11,1, die Darstellung der äußeren V o r gänge u n d den A u f b a u des damit koordinierten inneren Monologs des Stephen sei folgendes bemerkt: Wenn Stephen die Bewegungen des Hundes audi aufs genaueste notiert, so durchläuft der H u n d sogleich i n Stephens Bewußtsein eine Reihe v o n Metamorphosen. Ist er zunächst nicht mehr als ein H u n d , der überall herumschnüffelt, so w i r d er, als er plötzlich dem Schatten einer M ö w e nachjagt, m i t einem tollenden Hasen verglichen (»like a bounding hare«, 57), dann wiederum m i t einem Bock ohne Geweih u n d gehobenem Lauf. Später, als er sich den Muschelsammlern wieder nähert, heißt es v o n ihm, daß er sich an ihnen »in stummem, bärenplumpen Schmeicheln« ( » w i t h mute bearish fawning«, 58) aufrichtet; aus seinem Rachen hängt »ein Fetzen Wolfszunge rotlechzend« (»a rag of w o l f s tongue redpanting from his jaws«, 58) heraus. D a n n trottet er i m Galopp eines Kalbs davon (»and then loped off at a calf's gallop«, 58). Weiterhin w i r d er einem Fuchs, einem Parder u n d einem Panther gleichgesetzt. 33 Zitate aus dem Portrait nach: James Joyce; A Portrait Young Man (London, Jonathan Cape 1958).

of the Artist

as a

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D i e psychischen Reaktionen Stephens auf die Bewegungen des Hundes lassen sich an jeweils knappen Angaben ablesen: A u f die erste Wahrnehmung des Hundes folgt unmittelbar Stephens Frage: »Lord, is he going to attack me?« (56). A l l e Abwehrreaktionen Stephens spiegeln sich i n den beiden knappen Sätzen: » I have m y stick. Sit tight.« (56). Als der H u n d sich i h m nähert, stellt Stephen fest: »Dog of m y enemy. I first simply stood pale, silent, bayed about.« (56). Stephen spielt m i t dem zweiten Satz auf die Erzählung des Actaeon an, der v o n D i a n a i n einen Hirsch verwandelt u n d v o n seinen eigenen H u n d e n zerfleischt w u r d e 3 4 . U n d schließlich muß sich Stephen i n einem Augenblick der Selbstkritik vorwerfen: » . . . y o u shake at a cur's yelping« (57). Der H u n d ist für i h n offenbar nicht nur der Inbegriff des Animalischen, sondern auch ein Repräsentant feindlicher Mächte, die Stephen fürchtet u n d v o r denen er angstvoll zurückweicht. Diese Reaktion auf das Animalisch-Bedrohliche i n der Wirklichkeit w i r d i n der ersten Phase des zweiten Teiles des Proteus-Kapitels m i t Reflexionen über die Geschichte Irlands u n d Stephens eigener Situation innerhalb eines übergreifenden geschichtlichen Prozesses gekoppelt, die ebenfalls durch visuelle Wahrnehmungen beim Strandspaziergang ausgelöst werden. A u f dem Felsschemel am Strand sitzend meditiert Stephen über Sand u n d Steine u n d sagt v o n ihnen, daß sie »vergangenheitsschwer«, »heavy of the past« (56) seien. D i e Felsen sind »Steinmale toter Erbauer« (»the stone heaps of dead builders«, 55); sie gleichen i n seiner Phantasie einem Riesenspielzeug, so daß er i n seinem inneren Monolog einen Riesen sagen lassen kann: » I ' m the bloody w e l l giant rolls all them bloody w e l l boulders, bones for m y steppingstones« (56). I n der N a t u r n i m m t Stephen also zunächst Spuren einer mythischen Geschichtsepoche wahr. D e r Strand v o n D u b l i n weckt i n i h m dann Reminiszenzen an die frühmittelalterliche, an die spätmittelalterliche u n d an die frühneuzeitliche Epoche. Er denkt an das Eindringen der Dänen und Norweger (er spricht von den »Danevikings«, 56) i m ausgehenden 8. Jahrhundert, an Malachi I I . (948 - 1022), der das L a n d v o n N o r w e gern befreite, an E d w a r d Bruce, der z u m K ö n i g v o n I r l a n d emporstieg u n d 1318 erschlagen wurde, an L o r d Thomas Fitzgerald, dessen Rebellion gegen England scheiterte u n d der 1537 hingerichtet wurde, an Perkin Warbeck, der behauptete, H e r z o g v o n Y o r k zu sein, an Lambert Simnel, der vorgab, E d w a r d , Earl of Warwick, zu sein, bis er 1487 v o n Heinrich V I I . bezwungen wurde u n d für den englischen K ö n i g erniedrigende Dienste leisten mußte. Stephen f ü h l t sich m i t seinen Vorfahren i n I r l a n d auf doppelte Weise verbunden: Z u m einen durch die Bande des Blutes: »Their blood is i n me, their lusts m y waves« (56); z u m andern betrachtet er sich wegen seines 34 Vgl. Weldon Thornton, Allusionsy S. 59; zu den im folgenden genannten Begebenheiten aus der irischen Geschichte vgl. ebd., S. 57 - 59.

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Rollenspiels — » Y o u t o l d the Clongowes gentry y o u had an uncle a judge and an uncle a general i n the army« (49) — selber als einen Prätendenten. I r l a n d ist für i h n ein »Paradise of pretenders then and n o w « (57); alle Iren, so müssen w i r einer seiner kryptischen Bemerkungen entnehmen, halten sich für Königssöhne, » A l l kings' sons« (57). U n d dennoch muß Stephen einen wesentlichen Unterschied konstatieren, der zwischen i h m u n d den historischen Gestalten aus der Zeit v o n Malachi I I . bis zu L o r d Thomas Fitzgerald besteht: sie waren alle, jeder auf seine Weise, heroische Figuren. E r dagegen hat v o r einem H u n d Angst u n d hat nicht einmal M u t genug, u m wie Buck M u l l i g a n einen Menschen v o r m Ertrinken zu retten. »He saved men f r o m d r o w n i n g and y o u shake at a cur's yelping« (57). I n den historischen Reminiszenzen, die i n der ersten Phase des zweiten Teils der Proteus-Episode nachgewiesen werden können, läßt sich eine deutliche Dreigliederung beobachten. Der kurzen Anspielung auf das göttlichmythische Zeitalter folgen Anspielungen, die dem heroischen Zeitalter zuzuordnen sind, das i n seiner Sicht v o m Frühmittelalter bis z u m Beginn der Neuzeit reicht. Stephen selbst erscheint i n seiner Selbstcharakteristik als Vertreter des menschlichen, des allzu menschlichen Zeitalters. M i t anderen W o r t e n : das Dreierschema »göttlich-mythisch«, »heroisch«, »menschlich«, das der Geschichtsphilosophie Giambattista Vicos 3 5 zugrunde liegt u n d das James Joyce durchgehend als Strukturschema für Finnegans Wake benutzte, zeichnet sich auch i n dieser Passage des Ulysses ab 3 6 . Indem Stephen sich v o n den Figuren der heroischen u n d erst recht der mythischen Vergangenheit absetzt, definiert er seine Existenz historisch. Stephen ist nicht die ahistorische, rein psychologische Verkörperung des Proteischen, sondern das Proteische, das sich ständig wandelnde u n d intellektuell-kreative Prinzip i n einer bestimmten Geschichtsphase. D i e zuvor schon mitgeteilte Beobachtung, daß Proteus nicht mehr eine mythologische Gestalt, sondern ein abstraktes Prinzip ist, bestätigt diese These. E i n thematischer Zusammenhang zwischen den Reflektionen Stephens über die Geschichte Irlands u n d den äußeren Wahrnehmungen, die er gleich35 Vgl. Giambattista Vico , Die Neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker, nach der Ausgabe von 1744 übersetzt und eingeleitet von Erich Auerbach (München 1924). 36 Über Joyce und Giambattista Vico vgl. u. a. Margret Church, Time and Reality: Studies in Contemporary Fiction (Chapel H i l l , Ν . C . 1963), insbesondere S. 44 - 53 sowie H u g h Kenner, Dublin's Joyce, S. 321 - 336. Α . Μ . Klein hat zu zeigen versucht, daß die zweite Episode, das Nestor-Kapitel, in dem Stephen in M r . Deasys Schule Geschichte unterrichtet und zugleich über Geschichte reflektiert, durchgehend auf Vicos Scienza Nuova bezogen ist; vgl. Α . M . Klein, »A Shout in the Street: A n Analysis of the Second Chapter of Joyce's Ulysses«, New Directions , Bd. 13 (1951), S. 327 - 345.

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zeitig registiert, besteht insofern, als i n jedem Bereich das Thema der V e r gänglichkeit u n d des Todes berührt w i r d . Ehe der H u n d auftaucht, n i m m t Stephen bereits den Kadaver eines Hundes wahr, u n d als der H u n d , der dem Musdielsammler gehört, v o m Strand zurückspringt, steuert er auf eben diesen Kadaver z u ; die Beschreibung dieses Vorgangs gipfelt i n folgenden Sätzen: The carcass lay on his path. H e stopped, sniffed, stalked round it, brother, nosing closer, went round it, sniffing rapidly like a dog all over the dead dog's bedraggled fell. Dogskull, dogsniff, eyes on the ground, moves to one great goal. A h , poor dogsbody. Here lies poor dogsbody's body. (58)

U n d der Satz, i n dem v o n der Metamorphose des Hundes i n einen Parder u n d einen Panther berichtet w i r d , schließt m i t der Bemerkung: »vulturing the dead« (58). D i e Allusionen, die i n der zitierten Stelle enthalten sind, sind vielfältig. M i t dem K o m p o s i t u m »dogsbody«, das Stephen i n seinem inneren M o n o l o g für den Hundekadaver gebraucht, knüpft er an eine Wendung an, die zuvor, nämlich i n der ersten Episode, Buck M u l l i g a n auf i h n angewandt hatte (vgl. 5: »— A h , poor dogsbody, he said i n a k i n d voice. I must give y o u a shirt and a few noserags.«). Stephen sieht sich auf diese Weise m i t dem toten Tier verbunden, oder anders ausgedrückt: die Spur des Todes f ü h r t v o n dem toten Tier audi i n sein eigenes Ich. D a m i t jedoch nicht genug. Wenn gesagt w i r d : »Dogskull, dogsniff, eyes on the ground, moves to one great goal« (58), so erscheint die letzte Wendung »moves t o one great goal« i m H i n b l i c k auf die Bewegung u n d das Bewegungsziel des Hundes ein wenig großspurig u n d unangemessen. Aber auch hier ist z u bedenken, daß diese Wendung zuvor, nämlich i n der zweiten Episode, v o n M r . Deasy sdion gebraucht wurde, als er feststellte: » A l l history moves towards one great goal, the manifestation of God.« (42). Es liegt hier offenbar ein ironischer Kontrast v o r : Ist das Ziel der Menschheitsgeschichte nach M r . Deasy »the manifestat i o n o f God«, so ist das Ziel, dem der H u n d zustrebt: »the manifestation of death«, genauer gesagt: die Manifestation des Todes i n einem Tier, »in a dog«. Das bedeutet: Untergründig läuft hier das Wortspiel »dog« — »God« m i t , das Joyce i n der Circe-Episode A d o n a i i n den M u n d legt 3 7 . Untersucht man jedoch Stephens Anspielungen auf die verschiedenen Geschichtsepochen, so w i r d deutlich, daß für Stephen i n dieser Situation auch die verschiedenen Phasen der Menschheitsgeschichte eine Manifestation des Todes, nicht aber Gottes sind, denn die Todesthematik läßt sich durch alle Phasen der Geschichte verfolgen, ohne daß dazu ein thematischer K o n 87

Vgl. hierzu auch M a r i l y n French, The World as Book, S. 79.

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trast geschaffen würde. A u f die mythische Epoche bezieht sich der Satz: » A n d there, the stoneheaps o f dead builders, a warren of weasel rats« (55 - 56). A u f das heroische Zeitalter weist die Anspielung an Guido Cavalcanti, bei der Joyce die fragmentarische Wendung »House o f . . . « (52) verwendet, die, wie aus der 9. Geschichte des 6. Tages des Decamerone hervorgeht, zu »House of Death« zu ergänzen ist. A u f die Gegenwart bezieht sich die Feststellung: »The man that was drowned nine days ago off Maiden's rock. They are w a i t i n g for h i m now.« (57). Wenn Stephen am Schluß des gleichen Absatzes feststellt: » I could not save her. Waters: bitter death: lost« (57), dann ist diese Bemerkung ein Ausdruck für seine ganz persönliche gegenwärtige Situation. I n verschlüsselter Weise spielt er m i t diesen fragmentarischen Bemerkungen auf den T o d seiner M u t t e r an, die er nicht zu retten vermochte u n d deren T o d i n i h m ein Gefühl der Bitterkeit u n d ständige Gewissensbisse hinterläßt, w e i l er es nicht über sich brachte, an ihrem Totenbett niederzuknien u n d für sie zu beten, so daß sich das »Agenbite of I n w i t « leitmotivisch durch alle A u f t r i t t e des Stephen i m Ulysses verfolgen läßt. D i e Beschreibung der vorbeiziehenden, muschelsammelnden Frau, i n der Stephen eine Zigeunerin sieht, leitet über zur zweiten Phase des zweiten Teiles des Proteus-Kapitels. Diese Frau w i r d i n seiner Vorstellungswelt z u m Symbol faszinierender Weiblichkeit, zum Inbegriff des weiblichen Wesens überhaupt, dessen Lebensrhythmus m i t dem Rhythmus der N a t u r , den Phasen des Mondes koordiniert ist 3 8 . Liebe u n d T o d werden i n dieser Phase ständig aufeinander bezogen. Als Beleg dafür sei folgende Stelle zitiert: »Bridebed, childbed, bed of death, ghostcandled. Omnis caro ad te venìet. H e comes, pale vampire, through storm his eyes, his bat sails bloodying the sea, mouth to her mouth's kiss.« (60). D e r Weg allen Fleisches führt zum T o d , der hier i n Vampirgestalt zugleich als Liebhaber der Zigeunerin erscheint. Diese Vorstellung des sich küssenden Paares ist der Ausgangspunkt für einen poetischen E i n f a l l Stephens, den er auf einem Fetzen Papier festzuhalten versucht, einem Fetzen Papier, abgerissen v o n M r . Deasys A b handlung über M a u l - u n d Klauenseuche. »His lips lipped and mouthed fleshless lips of a i r : m o u t h to her womb. Oomb, allwombing tomb.« (60). I n den durch den Endreim verbundenen Substantiven »womb« u n d »tomb« treffen die thematischen G r u n d Vorstellungen dieser Passage erneut zusammen. I m Prozeß des Dichtens werden das kreative u n d das destruktive Prinzip, Liebe u n d T o d , gleichermaßen thematisiert. D i e folgenden Abschnitte der zweiten Phase des zweiten Teiles enthalten eine Reihe v o n Variationen über dieses Grundthema. So denkt Stephen an eine Frau, die er am Schau38

Vgl. in diesem Zusammenhang auch H u g h Kenner, Dublin's Joyce, S. 248.

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fenster eines Dubliner Buchladens beobachtet, wobei er es offen läßt, ob es sich dabei u m eine gebildete Dame, »a l a d y of letters« (61), oder u m eine Prostituierte, »pickmeup« (61), handelte. Der lyrische Einschub: »Touch me. Soft eyes. Soft soft soft hand. I am lonely here. Ο , touch me soon, n o w . W h a t is that w o r d k n o w n t o all men? I am quiet here alone. Sad too. Touch, touch me,« (61) beweist, daß für Stephen i n diesem Zusammenhang die M o dalität des durch den Tastsinn Erfahrbaren i m M i t t e l p u n k t steht. A u f die Bedeutung des Tastsinns weist — wie schon dargelegt 3 9 — i m ersten Absatz des Proteus-Kapitels bereits der Satz h i n : »By knocking his sconce against them, sure« (45). D a ß Stephen audi hier m i t der Bewertung des Tastsinns den v o n Aristoteles vorgezeichneten Bahnen folgt, läßt sich m i t einer Stelle belegen, die sich i n De anima, I I , 11, findet: »Dinge, die auf das Sinneswerkzeug gelegt werden, n i m m t es nicht wahr, w o h l aber, wenn sie auf das Fleisch gelegt werden. So ist das Fleisch das M e d i u m des Tastvermögens 40 .« Stephen überläßt sich der durch die Erinnerung heraufbeschworenen Vision und erlebt einen epiphaniehaften Augenblick, i n dem sich alles Sein zu verwandeln scheint; es ist ein Augenblick der Stasis, der K o n t e m p l a t i o n ; es ist, wie er selbst i n seinem inneren M o n o l o g bemerkt, die Stunde Pans — jene Stunde, i n der Menelaus den Meeresgott Proteus bezwang 4 1 . Schließlich ist es der Augenblick, i n dem der Künstler dem Schöpfergott gleich m i t ruhigem Blick auf alles Geschaffene schaut; deshalb taucht i n Stephens innerem M o n o l o g auch das Z i t a t aus der Vulgata, Gen. 1, 31 auf: »Et v i d i t Deus. E t erant valde bona.« (61). Stephen verharrt allerdings nicht i n der Stasis: I n den Bewußtseinsvorgängen k o m m t das kinetische Prinzip zur Geltung, als er die Bewegungen des Meerwassers, m i t dem sich sein U r i n vermischt, beschreibt. Diese Bewegungen des Wassers werden onomatopoetisch nachgeahmt, u n d zugleich werden die Naturerscheinungen metaphorisch verwandelt: Vehement breath of waters amid seasnakes, rearing horses, rocks. I n cups of rocks it slops: flop, slop, slap: bounded in barrels. And, spent, its speech ceases. I t flows purling, widely flowing, floating foampool, flower unfurling. (62)

Stephen liest nicht nur die Signaturen der Dinge, sondern vernimmt auch deren Sprache u n d übersetzt sie i n seine Sprache. Das Wechselspiel v o n Liebe u n d T o d w i r d i n diese kinetische Sicht der Meereslandschaft insofern m i t einbezogen, als sich die Wellen u n d der Seetang i n seiner Phantasie i n menschliche Gestalten verwandeln: »lascivious men, a naked w o m a n shining 39

Siehe oben S. 154.

40

Aristoteles, Über die Seele, S. 46.

41

Vgl. Odyssee, I V , 385.

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Willi Erzgräber

i n her c o u r t s . . . « (63), u n d andererseits davon gesprochen w i r d , daß ein Ertrunkener v o n den Wellen ans L a n d gespült werde. I n diesem Zusammenhang erschließt sich Stephen das Gesetz proteischen Wandels, der permanenten Metamorphose allen Seins, das er auf folgende Formel b r i n g t : »God becomes man becomes fish becomes barnacle goose becomes featherbed mountain« (63). D e r Weg f ü h r t v o n G o t t über den Menschen zu den Tieren u n d schließlich zur leblosen Materie. M a n k a n n darin geradezu eine neuplatonische Stufenfolge, eine Emanationsfolge v o m Göttlichen z u m rein Stofflichen erkennen. I m Menschen spielt sich jedoch ein Kreislauf der Metamorphosen ab, insofern i n i h m Leben ständig zerfällt und aufgelöste Materie wiederum i n Leben zurückverwandelt w i r d : »Dead breaths I l i v i n g breathe, tread dead dust, devour a urinous offal from a l l dead« (63). Zugleich gehen i m proteischen Wesen des Menschen Formen des Göttlichen u n d des Widergöttlichen ineinander über 4 2 . Stephen wechselt aus der C h r i stus-Rolle i n die Luzifer-Rolle hinüber. A u f das » I thirst« (63) folgt bereits i n der nächsten Zeile: »Allbright he falls, proud lightning of the intellect, Lucifer , dico, qui nescit occasum« (63). I n seinem geistigen Hochmut versteht sich Stephen als ein Übermensch i m Sinne Nietzsches, der sich allerdings auch seiner physischen Gebrechlichkeit u n d H i n f ä l l i g k e i t bewußt ist. Wenn er sich i n den letzten Zeilen seines inneren Monologs m i t Selbstironie als »Toothless Kinch, the superman« (64) bezeichnet, w i r d deutlich, daß Stephen i m Ulysses gleichzeitig die Fähigkeit zur scharfen Selbstkritik besitzt, die jenem Stephen fehlt, den das Portrait i m 5. K a p i t e l schildert. D i e Proteus-Episode schließt m i t folgendem Abschnitt: Behind. Perhaps there is someone. H e turned his face over a shoulder, rere regardant. M o v i n g through the air high spars of a threemaster, her sails brailed up on the crosstrees, homing, upstream, silently moving, a silent ship. (64)

Stephen erblickt den Dreimaster Rosevean, der — wie der Leser i n anderem Zusammenhang erfährt — Backsteine nach D u b l i n bringt. Folgende Angaben sind bemerkenswert: 1. Das Schiff fährt nach Hause; es ist ein schweigendes Schiff, das ebenso still flußaufwärts fährt. Also: kein »bateau ivre« i m Sinne v o n Rimbaud, kein Symbol für die Seele eines Dichters, der trunken ist v o n der sinnlichen Fülle der Wirklichkeit u n d deshalb aus der engen H e i m a t ausbricht. 2. D i e Bezeichnung »crosstrees«, Kreuzhölzer, enth ä l t symbolische Konnotationen. Kreuz u n d Kreuzholz erinnern an die religiöse Symbol weit, die das Leben der Dubliner Bürger i n mannigfacher Weise bestimmt. Stephen n i m m t dieses Schiff wahr, indem er über die Schulter zurückblickt. O b w o h l er i n D u b l i n zu Hause ist, hat er sich an diesem 42 Uber die Verwandlungen des Stephen Dedalus vgl. audi J. Mitchell Morse, »Proteus«, in Clive H a r t u. D a v i d H a y m a n , James Joyce's Ulysses, S. 38 ff.

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Tag — wie eingangs schon hervorgehoben — erneut von seiner H e i m a t gelöst; er schreitet i n eine unbekannte, offene Z u k u n f t u n d schaut noch einmal zurück auf das allzu vertraute D u b l i n . Er ist ein moderner Telemach, der sich v o n seinem leiblichen Vater u n d seinen geistlichen Vätern gelöst hat u n d nun auf der Suche ist nach einem geistigen Vater. A u f diesen Vater aber weist der erste Satz des folgenden Kapitels h i n : »Mr. Leopold Bloom ate w i t h relish the inner organs of beasts and fowls.« (65). Der Leser erkennt sehr bald, daß Leopold Bloom i n diesem R o m a n ein moderner Everyman ist, eine Verkörperung des Menschlich-Allzumenschlichen i m gegenwärtigen Zeitalter. E r ist ein moderner Odysseus u n d zugleich ein Gegenbild z u m Odysseus der heroischen Epoche. I n Bloom begegnet Stephen der humana natura, deren proteische Wandlungsfähigkeit, insbesondere i m künstlerischintellektuellen Bereich, er i m Proteus-Kapitel an sich erfährt. Das Proteus-Kapitel des Ulysses läßt sich m i t dem Ende des I V . Kapitels aus dem Portrait ebenso vergleichen wie m i t dem Nausicaa-Kapitel oder dem Circe-Kapitel 4 3 . Z u den Verbindungslinien, die zwischen der Szene am Strand i m Portrait u n d i m Proteus-Kapitel des Ulysses gezogen werden können, sei i n diesem Zusammenhang nur folgendes ausgeführt: I m Portrait geht dem Spaziergang am Strand innerhalb des I V . Kapitels der D i a l o g Stephens m i t dem D i r e k t o r des Jesuitenkollegs voraus, auf G r u n d dessen Stephen sich entscheidet, nicht die Priesterlaufbahn zu ergreifen, sondern Künstler zu werden. D i e Begegnung m i t dem >Vogelmädchen< gleicht einer I n i t i a t i o n i n die neue Daseinsform. Das Mädchen, dessen Anblick eine künstlerische Ekstase i n i h m auslöst, ist ein Bote aus den Bereichen des Lebens, v o n denen er sich bisher ausgeschlossen fühlte u n d denen er sich nun auf seiner künstlerischen Entdeckungsfahrt zuwenden möchte. D i e Prosa, i n der dieses Erlebnis wiedergegeben w i r d , verrät den Einfluß der fin-desiècle Kunst, insbesondere der Prosa Oscar Wildes, auf James Joyce, der selbst innerlich diese Entwicklungsphase bereits überwunden hatte, als er dieses K a p i t e l ausarbeitete. V o n Stephens Standpunkt aus gesehen ist die Epiphanie i m 4. K a p i t e l des Portrait ein Beleg für sein esoterisches Kunstverständnis, für die Selbstbespiegelung eines Künstlers, der seine Erlebnisfähigkeit genießt. I m Gegensatz z u m Portrait strebt Stephen i n der Strandszene i m Ulysses auf eine Ü b e r w i n d u n g der egozentrischen H a l t u n g h i n ; er sieht i n der Realität nicht mehr nur das Versucherisch-Schöne, sondern auch das Häßliche, den Zerfall, den T o d 4 4 . Auch wenn er am Ende der 48 Parallelen zwischen der Proteus- und der Lästrygonen-Episode hat E r w i n R . Steinberg aufgezeigt; vgl. E r w i n R . Steinberg, »>Lestrygoniansschöne Ungeordnetheit< zu schaffen 18 . Boileau leistet zweierlei. E r faßt den pindarischen u n d den horazisch-anakreontischen Odentypus zu einer Gattung zusammen, und er stellt diese Gattung an die Spitze einer Hierarchie der lyrischen Gattungen, die neben i h r die Ekloge u n d die Elegie umfaßt. D e n drei Gattungen ordnet er die rhetorischen Stillagen z u : der Ode den hohen Stil, der Ekloge — oder I d y l l e — den niedrigen, der Elegie den mittleren. Musikalische Embleme bezeichnen die Stillage u n d edn dazugehörigen Ton — der Ode w i r d die Trompete, den beiden anderen Gattungen die Flöte u n d die Oboe zugeteilt 1 7 . D a m i t macht sidi Boileau anheischig, die pindarischen Sprünge u n d Digressionen, die er der Ode konzediert, als regelgerechte Anwendungen des hohen Stils u n d seines audacior ornatus auszuweisen. Es ist die W a h l des Dekorums, die über die Schönheit des lyrischen Werks entscheidet 18 . Doch Boileau behauptet mehr. Sich nachdrücklich auf Pindar beziehend, setzt er die beau désordre der pindarischen Ode zu einer neuen Größe i n 13

Vgl. Janik.

14

Übersetzt von Klopstock in: ders., Ausgewählte (Darmstadt, 1969), S. 1205.

Werke,

hg. Κ . A . Schleiden

15 Quintus Horatius Flaccus, Oden und Epoden, hg. Kiessling/Heinze (8. Aufl., Berlin, 1955), S. 393. 16 Gertrud Otto, Ode, Ekloge und Elegie im 18. Jahrhundert. Zur Theorie und Praxis französischer Lyrik nach Boileau (Diss. Konstanz, 1971), S. 40. Longin-Einfluß ebd. 17

Otto, S. 5.

18

Otto, S. 19.

Odenform und freier Vers

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Bezug: dem Erhabenen Longinscher Provenienz 1 9 . Rhetorische Figuren wie die Metapher, die Apostrophe, Metonymie u n d Periphrase bekommen als erhabene Figuren eine gleichsam überrhetorische Bedeutung. Sie werden zu Ausflüssen einer ekstatischen Wirkungskraft 2 0 . Neben den rhetorischen sermo sublimis t r i t t , als äußerste dichterische Möglichkeit, das sublime simple, die erhabene Einfachheit, die durch die Stillagen der Rhetorik nicht tangiert w i r d . D e r Dichter verdankt sie nicht der Kunst, sondern dem Enthusiasmus, dem Quell des Erhabenen 2 1 . M i t der Auszeichnung der Ode als höchster lyrischer G a t t u n g u n d der Zweigesichtigkeit dieser Gattung, ihrer Bestimmtheit einerseits durch den audacior ornatus des hohen Stils, andererseits durch den aus dem Enthusiasmus entspringenden Ausdruck des Erhabenen i m sublime simple sind die Weichen für die folgende Entwicklung gestellt. D e r Theoretiker der raison u n d des bon sens weist die Ästhetiker des je ne sais quoi u n d des génie auf eine nach dem V o r b i l d Pindars gleichsam neu zu schaffende Gattung hin, die ihre Grenzen nach der Ausdruckskraft des aus dem Enthusiasmus schaffenden Dichters bemißt.

2. D i e Neuerung Klopstocks, aus der sich alle weiteren gesetzmäßig ergeben, ist die A r t u n d Weise, auf die er m i t dem dichterischen Enthusiasmus Ernst macht. Bei Boileau ist das sublime simple noch m i t der A u r a des Verblüffenden, des Paradoxen behaftet. Es bezeichnet eine äußerste Möglichkeit der poetischen Sprache u n d ist daher vornehmlich geeignet, i n den Werken solche Stellen zu rechtfertigen, an denen sich — für den H ö r e r — gleichermaßen poetische Ausdruckskraft und Verstöße gegen die Regeln des hohen Stils finden. Für Klopstock w i r d es z u m Grundzug der poetischen Sprache schlechthin. Seine Äußerungen sind eindeutig: »Der Gegenstand ist vornehmlich alsdann darstellbar, w e n n er erhaben ist« 2 2 , die Darstellung selbst w i r d hervorgebracht »durch Einfachheit u n d Stärke« 2 3 . Das bedeutet nicht, daß Klopstock dem sermo sublimis abschwören würde. Weder i n den Versen noch i n den theoretischen Schriften Klopstocks findet man einen antirhetorischen Affekt. D i e Lösung des Rätsels liegt darin, daß er das Einfache ebensowenig wie das 19

Jules Brody, Boileau and Longinus (Genève, 1958). Vgl. Otto, S. 36 ff.

20

Otto, S. 39.

21

Otto, S. 41.

22

Klopstock, »Von der Darstellung« in Ausgewählte Werke, S. 1033.

23

Klopstock, S. 1034.

13*

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Ulrich Södlbauer

Erhabene rhetorisch begreift. N i c h t der einfache Stil, sondern das einfache, starke Gefühl des Erhabenen, gleich wirksam i n Dichter u n d H ö r e r — oder Leser — , soll den Duktus der dichterischen Sprache bestimmen. D i e beau désordre der pindarischen Ode, v o n Boileau für die ganze Gattung verbindlich gemacht, w i r d bei Klopstock i n den Dienst einer neuen Psychologie des Erhabenen gestellt. Sie bedeutet nicht länger eine planvolle Ungeordnetheit der Gedankenführung, durch die der Dichter dem furor poeticus huldigt, sondern verweist auf eine L o g i k der emotionalen Verknüpfung. D i e erhabene Passion geht ihren v o n rationaler Gedankenführung abweichenden, gleichwohl gesetzmäßigen Gang. D a traditionelle Z i e l des hohen Stils, das movere, w i r d durch die für die Ästhetik des 18. Jahrhunderts so wichtige Psychologie des Erhabenen neu interpretiert. Eine Neueinschätzung der T r a d i t i o n ist die Folge. D i e klassischen Muster der Odendichtung, allen v o r a n die des H o r a z , liest Klopstock gleichsam m i t neuen Augen: Dissertationen verfassen in singenden Strophen H a t von der Ode T o n auch nicht den leisesten Laut. Rousesau, Flaccus hat dich vergebens gelehrt; denn du sahst nicht, Welchen Weg sein Entwurf nahm auf der lyrischen Bahn 2 4 .

N i c h t mangelnde Kenntnis der Muster macht Klopstock Jean-Baptiste Rousseau, dem französischen Odendichter, zum V o r w u r f , sondern das Verfehlen des Zwecks, der den Einsatz der rhetorischen M i t t e l der A l t e n erst legitimiert: die Erzeugung einer nicht abreißenden emotionalen Bewegtheit durch eine Sprache der Emotion. Klopstock hat klare Vorstellungen davon, wie diese Sprache der E m o t i o n beschaffen sein muß. Er spricht v o n den Grundsätzen der »Leidenschaft«, der »Erwartung«, des »Unvermuteten« u n d der »Nebenausbildung«, nach denen der Dichter die Wortfolge i n den Perioden einzurichten habe. Nach dem Grundsatz der Leidenschaft rücken die affektiv am stärksten besetzten W o r t gruppen an den A n f a n g des Satzes. D e m Grundsatz der E w a r t u n g trägt die Fernstellung zusammengehörender Satzteile Rechnung, dem des Unvermuteten das H i n z u t r e t e n v o n Wortgruppen über die »gewöhnliche Wortfolge« hinaus. Der Grundsatz der Nebenausbildung schließlich sorgt für die »letzten Ründungen des Perioden«; er verlangt v o m Dichter »viele kleine, aber genaue u n d wahre Unterschiede« und sprachliche Stärke 2 5 . Der unbestrittene Meister der Ode ist für Klopstock H o r a z . 24

Klopstock, »Der epikuräische Leser« in Ausgewählte Werke, S. 193.

25

Klopstock, » V o n der Wortfolge« in Ausgewählte Werke, S. 1031.

Odenform und freier Vers

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H o r a z hat den H a u p t t o n der Ode, idi sage nicht des Hymnus, durch die seinigen, bis auf jede seiner feinsten Wendungen, bestimmt. Er erschöpft alle Schönheiten, deren die Ode fähig ist 2 ·.

Das L o b hat Nuancen. Es ist, auf den kürzesten Ausdruck gebracht, der H o r a z der P i n d a r - O d e 2 7 — der, bewundertes V o r b i l d , die Verse des thebanischen Dichters einem reißenden Strom vergleicht und, scheinbar u n w i l l k ü r lich, i n Wahrheit kunstvoll arrangierend, dieses Strömen der Sprache syntaktisch imitiert, ohne jedoch aus dem strengen Gleichmaß der äolischen Liedf o r m herauszufallen 2 8 — , den Klopstock i n seinen eigenen Dichtungen kanonisiert. Das D e k o r u m t r i t t zurück; es herrscht die Sprache des Enthusiasmus, welcher die Gegenstände, die er ergreift, nicht i n ihrem natürlichen Rang beläßt, sondern dem Erhabenen anbildet. Diese Sprache w i r k t i n sich stabil; ihre Kennzeichen sind eine weitgefächerte, vielgliedrige Syntax, abundanter Gebrauch der exclamatio, Inversionen, Fernstellungen, Metaphern, M e t o nymien, Anaphern etc. I n ihr eignet sich Klopstock die strömende Sprachform zu u n d er bringt sie, dem V o r b i l d H o r a z folgend, i n einen kalkulierten Gegensatz zu den aus der A n t i k e übernommenen Formen, die Klopstock wie k a u m ein deutschsprachiger A u t o r v o r u n d neben i h m k u l t i v i e r t . M a n muß diesen Gegensatz begriffen haben, wenn man verstehen w i l l , was i n den freirhythmischen Gedichten Klopstocks vorgeht. H i e r findet sich, legt man die verstechnischen Möglichkeiten der deutschen Sprache zugrunde, der Schlüssel zum freien Rhythmus. 3. Für den — scheinbar — gesetzlos dichtenden Pindar bemüht H o r a z ein zweites B i l d : das des Dirkeischen Schwans, der sich zu fernen W o l k e n emporhebt 2 9 . Für das 18. Jahrhundert ist hier das B i l d für die enthusiastische Bewegung, den dichterischen Aufschwung, vorgeprägt. Bei Klopstock findet es sich i n einem signifikanten Zusammenhang wieder — dort nämlich, w o er die »klassischen« Odenmaße beschreibt. Klopstocks energisches Insistieren auf den antiken Odenmaßen w i r d i n seinen M o t i v e n verkannt, wenn man nur auf den unmittelbaren Ertrag sieht, die Erweiterung der formalen Möglichkeiten des zeitgenössischen Verses. Sie ist eher eine Folge, nicht der G r u n d für die Übernahme der antiken Metren. D e r G r u n d liegt i n dem durch Boileau fixierten, v o n Klopstock m i t Verve aufgegriffenen Dogma, die Ode, als die hierarchisch höchste unter den l y r i 28

Klopstock, »Gedanken über die N a t u r der Poesie« in Ausgewählte

S. 995. 27

Vgl. Anm. 15.

28

Vgl. Kommentar Kiessling ebd.

29

H o r a z , S. 394.

Werke,

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Ulrich Södlbauer

sehen Gattungen, sei die Gattung des Enthusiasmus u n d damit der dem Erhabenen verpflichteten Emotion. Folgerichtig schreibt er dem Odenvers eine doppelte Bewegtheit zu. So, wie die strömende Sprachform die emotive Bewegtheit verwirklicht, so tragen die Odenmaße den Aufschwung des dichterischen Gemüts. Beides muß zusammenkommen, u m der Gattung Genüge zu tun. A u f die selbstgestellte Frage : » U n d w i r können, ohne die Silbenmaße der alten Ode, pindarisch oder horazisch sein?« antwortet Klopstock: Ich gebe zu, daß unsre lyrischen Verse einer größern Mannigfaltigkeit fähig sind, als die andern 8 0 , daß w i r einige glückliche Arten gefunden haben [ . . . ] Aber daraus folgt nicht, daß sie die horazischen erreicht haben, daß es unsern Jamben oder Trochäen möglich sei, der mächtigen alkäischen Strophe, ihrem Schwünge, ihrer Fülle, ihrem fallenden Schlage gleich zu tun; mit den beiden choriambischen zu fliegen; mit der einen im beständigen schnellen Fluge; mit der andern, mitten im Fluge, zu schweben, dann auf einmal den Flug wieder fortzusetzen . . . 3 1 .

Das spannungsreiche Gegeneinander v o n Syntax u n d M e t r u m — bei H o r a z das Ergebnis einer rhetorischen Handhabung der Liedformen — prägt nach Klopstock das poetische Erscheinungsbild des Enthusiasmus. Gleichwohl findet man eine Fülle Klopstockscher Odenverse, i n denen diese Spannung allenfalls latent besteht. V o n der Musikalität solcher — gelungener — Verse, die sich verstechnisch v o n denen eines H ö l t y oder M ö r i k e kaum unterscheiden, führt kein Weg zum freien Rhythmus — » A n Fanny« : Rinn unterdes, ο Leben. Sie kommt gewiß Die Stunde, die uns nach der Zypresse ruft! I h r andern, seid der schwermutsvollen Liebe geweiht! und umwölkt und dunkel! 3 2

Ganz anders der Eingang desselben Gedichts: H i e r »strömt« die Sprache nach enthusiastischer M a n i e r 3 8 . L . L . Albertsen hat m i t H i n b l i c k auf die antikisierende Verslehre u n d -techn i k bei Klopstock v o n »quasimetrischen«, »nichtmetrischen« u n d »pseudometrischen« Gebilden gesprochen. Quasimetrisch seien die Verse, i n denen sich Klopstock der tradierten antiken Versmaße bediente, nichtmetrisch die freien Rhythmen u n d pseudometrisch die Versuche i n selbstentworfenen Odenmaßen 3 4 . Der i n dem Ausdruck >quasimetrisch< liegende, latente V o r w u r f 80

Gemeint sind die ep/ic&e« Verse.

81

Klopstock, »Von der Nachahmung des griechischen SyIbenmaßes im Deutschen« in Die Lehre von der Nachahmung der antiken Versmaße im Deutschen, hg. H . - H . Hellmuth/J. Schröder (München, 1976), S. 32. 32 Ausgewählte Werke, S. 40. Vgl. Klopstock, Oden, hg. F. Muncker/J. Pawel, 2 Bde. (Stuttgart, 1889), 1. Bd., S. 64. 38 34

Vgl. die Strophen 1 - 5 : ein durchgehender Satz!

L . L . Albertsen, Die freien Rhythmen, Rationale Bemerkungen im allgemeinen und zu Klopstock (Aarhus, 1971), S. 34 (nichtm.), 45 (quasim.), 106 (pseudom.).

Odenform und freier Vers

199

lautet ausformuliert, Klopstock habe versucht, i n einer akzentuierenden Sprache die quantitierenden griechisch-römischen Metren nachzubilden, ohne Blick für die Unvergleichbarkeit der Ergebnisse. D e m ist nichts hinzuzufügen. Klopstock, wie nach i h m K a r l P h i l i p p M o r i t z u n d Johann Heinrich Voss, hält nichts v o n der Opitzschen Regel, nach der i m Deutschen für eine antike Länge eine betonte, für eine antike Kürze eine unbetonte Silbe einsteht 35 . Diese Regel w a r k o m p r o m i t t i e r t durch die m i t i h r bei O p i t z einhergehende Kanonisierung des alternierenden Verses; diese galt es gerade abzuschaffen. Allenfalls als Faustregel z u m Auffinden deutscher »Längen« schien die alte Formel noch zu gebrauchen 36 . M a n kann, wie w e i t h i n üblich, Klopstocksche Längen als Hebungen — bzw. als betonte Taktteile — lesen; die Versuchung ist vielleicht übermächtig. D a n n allerdings erübrigt sich die These v o n der Ubergänglichkeit seinesOdenverses zum freien Rhythmus; diese gründet — wie nun zu zeigen ist — auf der Beobachtung, daß gerade der Versuch, metrische, das heißt quantitierende L y r i k i n einer akzentuierenden Sprache wie dem Deutschen zu schaffen, die formale Möglichkeit zu freirhythmischen Versen eröffnet hat. M a n muß sich darüber i m klaren sein, daß es auch i m Deutschen nicht gleichgültig ist, ob die metrische Stilisierung — nämlich die Einrichtung eines gewissen hörbaren Gleichmaßes — die Silbendauer oder -betonung betrifft. Klopstock lehnt die Skansion ab. Sein G r u n d dürfte v o n dem moderner Verslehrer 3 7 charakteristisch unterschieden sein: Er lehnt damit das akzentuierende Gleichmaß, den stilisierten Wechsel der Hebungen u n d Senkungen ab, auf den i n einer akzentuierenden Sprache die Skansion zwangsläufig aus ist. Das bedeutet: über einem relativen Gleichmaß der Längen u n d Kürzen, das für die festen Längen u n d K ü r z e n des antiken Verses einstehen soll 3 8 , läßt K l o p stock den Bereich wechselnder Akzentuierungen frei — eingeschränkt zwar durch die Faustformel, nach der die Betonung eine Silbe längt, doch frei nach dem G r a d ihrer Intensität. Ganz entsprechend der Crescendo-DecrescendoTechnik, die seine hohe L y r i k beherrscht, n i m m t Klopstock v o n einer Reglementierung des Betonungsspektrums Abstand 3 9 . Anders als etwa der akzentuierende Blankvers, i n dem die graduelle Abstufung der Hebungen als A b weichung v o n einem durch die Skansion dem O h r vermittelten Grundmaß wahrgenommen w i r d , kennt der Odenvers Klopstocks kein Umspielen eines akzentuierenden Grundmaßes. 35 M a r t i n Opitz, Buch von der deutschen Poeterei, Abdr. d. ersten Ausg. 1624 (4. Aufl., Halle, 1913), S. 40 f. 36

Vgl. Klopstock, »Von der Nachahmung . . . «

37

Vgl. Wolfgang Kayser, Kleine deutsche Versschule (6. Aufl., Bern, 1958).

38

Klopstock, a.a.O.

39

Vgl. Albertsen, K a p . 6: Klopstock u. d. Musik.

Ulrich Södlbauer

200

D a m i t erfüllt er aber bereits eines der entscheidenden K r i t e r i e n des freirhythmischen Verses. Auch dieser hält i n der kontrastierenden oder übergänglichen Fülle der V o l l - , H a l b - u n d Nebentöne kein zu skandierendes Grundmaß fest. D i e Skansion zerstört den freien Vers, so wie sie den K l o p stocksdien Odenvers verfälscht. Der verstechnische Anstoß zum freien R h y t h mus stammt aus dem Zusammenspiel der metrischen Besonderheit des K l o p stockschen Odenverses m i t der enthusiastischen, strömenden Sprachform. Dadurch, daß Klopstock die metrische Ausprägung der z w a r eingängigen, doch deshalb nicht einfachen Odenmaße, die ihre Rundung, ihre Gleichform erst durch die Strophe erhalten, auf den Nebenschauplatz der Silbenquantitäten verlegt und zugleich die liedhafte Strophenfassade syntaktisch konterkariert, erhält er lyrische Gebilde, die zwar metrisch streng sind — wenn auch nicht i m antiken Sinn — , jedoch unvergleichlich freier w i r k e n als die L y r i k , die ihnen, jedenfalls i m deutschen Sprachgebiet, vorausgeht. D e n n i n ihnen bestimmt nicht die metrische Gleichform die Gedichtwahrnehmung, sondern die Echowirkung metrisch imprägnierter syntaktischer Einheiten. Klopstock gilt m i t seiner Lehre v o m » W o r t f u ß « 4 0 — ob zu Recht, sei dahingestellt — als der Entdecker des »Verskolons«, des Kolons als versstrukturierender Einheit. Fraglos entdeckt er i n seinen Oden u n d H y m n e n das Eigengewicht des versbauenden Kolons. Es t r i t t i n den Oden dort hervor, w o sich metrische u n d syntaktische Einheit gegenseitig neutralisieren. D e r Schritt h i n zum freien Rhythmus liegt i n dem Entschluß, K o l o n - u n d Versgrenze zusammenfallen zu lassen. Er bestimmt die Erstfassungen der sieben Gedichte, m i t denen Klopstock erstmals als Dichter i n freien Rhythmen an die Öffentlichkeit t r i t t : Nicht in den Ozean D e r Welten alle W i l l ich mich stürzen! 4 1

I n diesen Gedichten ist die strömende Sprachform v ö l l i g verwirklicht. So sind sie gern gelesen worden: als die Erzeugnisse eines hymnisch gesteigerten Gefühlsüberschwangs. Doch genügen sie des Autors eigenen Anforderungen an das enthusiastische Gedicht? W o h l kaum. Es fehlt die Spannung v o n M e t r u m u n d Syntax; die syntaktische Bewegung hat die metrische aufgesogen. D e r entscheidende erste Schritt zum freien Rhythmus zieht, die Umarbeitungen der Gedichte zeigen es 42 , den zweiten notwendig nach sich: die freie Verschiebbarkeit der Zeilen- u n d Strophenenden innerhalb des syntaktischen 40 Hans-Heinrich Hellmuth, Metrische Klopstoék (München, 1973), S. 70 ff.

Erfindung

41

»Das Landleben« in Ausgewählte Werke, S. 85.

42

Vgl. Albertsen, K a p . 8.

und metrische Theorie

hei

Odenform und freier Vers

201

Gef liges, den gegensyntaktischen Versbau. So wie Klopstocks Odentechnik am metrischen Gebilde syntaktische Einheiten als rhythmische hervortreten läßt, so kehrt nun der gegensyntaktische Versbau die asyntaktische, metrische Komponente des Rhythmus am freien Vers hervor und stellt so den intendierten Spannungszustand wieder her. U n d jetzt erweist sich der freie Vers als dem Odenvers überlegen. D e n n es stellt sich heraus, daß die Grundsätze des emotiven Sprachbaus nicht unbedingt syntaktisch interpretiert werden müssen; daß bisweilen ein Zeilenschnitt genügt, u m dem Grundsatz der E r w a r t u n g Genüge zu tun, daß wechselnde Zeilenlängen u n d prägnante Gruppierungen Effekte hervorrufen können, die den Grundsätzen der Leidenschaft, des Unvermuteten, u n d selbst der Nebenausbildung entsprechen. Was immer Klopstock bewogen haben mag, zum gebundenen Vers zurückzukehren — mindestens dort, w o er die Technik der Zeilengruppierung konsequent i n den Dienst des emotiven Sprachbaus stellt, fallen i n seinen freien Versen ästhetisches Programm u n d poetisches Gelingen zusammen. 4. D i e enthusiastische Dichtungslehre bestimmt das Erscheinungsbild der G a t tung Ode i m 18. Jahrhundert. Sie ist gleichermaßen verantwortlich für die Übergänglichkeit dieser Form, für ihre Tendenz zum freien Rhythmus. D e u t lich w i r d dieser Zusammenhang noch einmal i n der L y r i k Hölderlins, i n der an die Stelle des Klopstockschen Suchens nach klangvollen Füllungen des quantitierenden Schemas — sie liegen dem Jüngeren v o n Beginn an v o r — ein Denken i n rhythmischen K u r v e n t r i t t , i n dem das metrische Problem v o n vornherein gelöst erscheint. D i e Gedichtform Ode w i r d nicht mehr durch das metrische Schema bestimmt, sondern durch die Summe seiner möglichen Realisierungen. Dieses Verfahren setzt die rhythmischen Errungenschaften Klopstocks an jeder Stelle voraus; die Frage nach der metrischen Korrektheit macht es gegenstandslos. Klopstocksche »Freiheiten« gelten nun als »Varianten«, Tonbeugungen sind nicht mehr möglich; das ist die Technik, die alles bei Klopstock i n Oden u n d freien Versen Geleistete i n den Schatten stellt 4 3 . I n dem Ausmaß, i n dem die enthusiastische Dichtungslehre an Boden verliert, schwindet auch der Zusammenhang der Ode m i t den Möglichkeiten des freien Rhythmus. W o zwischen Klopstock u n d H ö l d e r l i n ein D e t a i l ins andere greift, da ergibt sich langsam ein Ensemble technischer Möglichkeiten, die nur i n Ausnahmefällen die Merkmale ihrer gemeinsamen H e r k u n f t offen zur Schau tragen. 43

Dietrich Sedtel, Hölderlins

Sprachrhythmus (Leipzig, 1937).

Ulrich Södlbauer

202

A n drei Beispielen sei die Situation zu Beginn dieses Jahrhunderts erläutert. Das erste stehe für den Wandel, den die metrisch strenge Odenform dort erfährt, w o ihre Rückbindung an die Dichtungslehre des Enthusiasmus aufgegeben wurde. D i e beiden anderen mögen zwei grundlegende Varianten des freien Versbaus charakterisieren, die sich einstellen, sobald er nicht länger der strömenden Sprachform der erhabenen Dichtart verpflichtet ist. Das erste Beispiel ist R u d o l f Bordiardts »Ode m i t dem Granatapfel« 4 4 . Zunächst das Metrische: Es handelt sich u m eine dreizeilige sapphisdie Ode 4 5 . Jede Erinnerung an den quantitierenden Vers Klopstocks ist getilgt; wie R u d o l f Alexander Schröder oder Josef Weinheber interpretiert Borchardt das metrische Schema nach der Opitzschen Regel, nämlich rein akzentuierend. Es fehlt auch die v o n H ö l d e r l i n überkommene Pastiche-Technik, die i n desselben Autors »Klassischer Ode« so hörbar dominiert. M a n vergleiche die E i n gangsstrophen: Klassische Ode Ich bin gewesen, wo ich schon einmal war: M a i und der Juni waren mein Weggeleit; A n ihren Händen bin ich wieder Zwischen die Hügel hinein gekommen U n d kannte fast die Wege nicht mehr; doch ging M i r untern Füßen, wie sich durch Morgenrauch D e r Bau der Landschaft unerschüttert Gegen den scheinbaren Aufruhr herstellt, Der Trost der stillen Erde im Herzen auf [ . . . ] 4 6 Ode mit dem Granatapfel Diese Frucht der Persephoneia, Gastfreund, Schont ich dir und mir in Gedanken herbstlang — M i r und mir vor Nacht, da das erstemal Orion im Osten Groß mit Hunden hinter dem Jahr heraufkommt, Brach ich heut die zeitige Last: nicht klagend, W o h l nicht klagend; aber der alten Totenklage gedenkend 47 .

D i e Strophen der »Ode m i t dem Granatapfel« sind metrisch weitaus durchsichtiger gearbeitet. Syntaktische u n d metrische F o r m laufen nicht gegen44 Rudolf Borchardt, Gesammelte (Stuttgart, 1957), S. 174 ff.

Werke

in Einzelbänden,

Bd. I I I ,

Gedichte

45 Die vierte Zeile der Strophe ist, entsprechend dem antiken Vorbild, weder im Schriftbild noch im rhythmischen Gang des Gedichts abgesetzt. 46

Borchardt, S. 159.

47

Borchardt, S. 174.

Odenform und freier Vers

203

einander, sondern ergänzen sich: die Zeilenenden sind zugleich K o l o n - oder Satzgrenzen. D i e Satzfolge unterstreicht die strophische Form des Gedichts. So umspannen die ersten drei Sätze jeweils zwei Strophen. D i e folgende Strophe steht, ihrem I n h a l t entsprechend u n d den Gesetzen der Symmetrie folgend, für sich isoliert. Sie vereint — dies ist ihre Besonderheit — zwei höchst unterschiedliche Techniken des Zeilensprungs: Alle, die w i r wurden und da sind, wohnen A n der Grenze. Jede Sekunde stößt an Reifes Jenseits, draus keine H a n d mehr Händen Wirkliches abnimmt 4 8 .

Das erste Enjambement folgt den Klopstockschen Prinzipien der Fernstellung bzw. der Nebenausbildung. Das zweite hingegen ist das v o r allem v o n R i l k e Versen wohlbekannte gleitende Enjambement, das seinen Reiz daraus zieht, daß es die Versschwelle senkt. D a r a n w i r d deutlich, wie Borchardt die Sprachform der enthusiastischen Ode verwendet: als verstechnisches Z i t a t . Das Gedicht ist v o r allem eines — gemeisterte metrische Form. Die etwas affektierte Eleganz dieser Verse spielt nicht allein die tradierte Sprachform der Ode ins Zitathafte hinüber, sondern auch inhaltliche Valeurs. So t r i t t die Totenklage, eines der großen Themen der Gattung, ins B i l d : [ . . . ] nicht klagend, W o h l nicht klagend; aber der alten Totenklage gedenkend.

Odenverse, »nicht klagend«, doch »der alten Totenklage gedenkend«, sind zugleich Verse, die in der Gattung, sie modifizierend, das Gedenken der G a t tung zum Gedichtziel erhöhen. D i e Ode w i r d Odenreminiszenz. Gleichwohl: I n der Form der Klage scheint i n diesem Jahrhundert Odenhaftes am ehesten zu überdauern. Der pathetische Oberernst der enthusiastischen Ode, der unverwechselbare Odenton, w i r d herabgestuft zu einem gewissen feierlichen oder gemessenen Ernst, der die Skala v o m heroischen A p p e l l à la Benn bis zum »dunkelen Schluchzen« der Rilkeschen Elegie 4 9 durchmißt. D i e rhythmischen Extreme des v o n der Sprache des Enthusiasmus entbundenen freien Verse sind der Satzvers u n d der freimetrische Vers. I n ihnen treten die i n der enthusiastischen Ode verschränkten Formkomponenten auseinander. Das schafft Probleme; der Reiz ihrer Lösung liegt immer weniger bei der Gattung als beim einzelnen Gebilde. 48 49

Borchardt, S. 175.

Rainer M a r i a Rilke, Söimf/ic^e Werke 1975), Bd. 2, S. 685.

in zwölf

Bänden

(Frankfurt/Main,

204

Ulrich Södlbauer I n den einsamen Stunden des Geistes Ist es schön, in der Sonne zu gehn A n den gelben Mauern des Sommers hin. Leise klingen die Schritte i m Gras; doch immer schläft Der Sohn des Pan im grauen M a r m o r 6 0 .

Der Satzvers prägt Georg Trakls »Helian« wie die meisten freirhythmischen Gedichte dieses Autors. D i e Eingangsstrophe ist charakteristisch. Ihre metrische Analyse wäre zwecklos. D e r metrische Befund würde keinen Vers, sondern Eigentümlichkeiten der poetischen Sprache Trakls beschreiben. Signifikant für den Versbau des »Helian« ist etwas anderes. Es ist das Wägen des Eingangssatzes. D i e einzige »metrische« Stilisierung, die sich der Dichter erlaubt, ist die Isolierung des Satzes. D a r i n liegt sein versbildendes Prinzip. Aus der Isolierung gewinnt er die K o l a u n d damit die rhythmischen Leitmotive des Gedichts: nicht metrische Schemata, sondern signifikante Klangfiguren, i n denen, anders als bei Klopstock, dem kontinuierlichen Spektrum der Akzentuierungen keine stilisierten Längen u n d Kürzen, sondern ein ebensolches K o n t i n u u m der Silbenlängen zur Seite gegeben w i r d . Eine extrem reduzierte Syntax scheint der Preis des Verfahrens zu sein. D i e Monotonie, zu der eine solche weiche L y r i k neigt, kann durch verschiedene M i t t e l aufgehoben werden. Das erste ist die relative K ü r z e der Strophen, bei längeren Gedichten ihre A u f t e i l u n g i n rhythmisch selbständige Gruppen. I n zusammenhängenden Gebilden bedient sich T r a k l einer M ö g lichkeit, die bei Goethe u n d H ö l d e r l i n vorgebildet ist, doch erst hier zum integralen Bestandteil der Verstechnik w i r d . M a n kennt die Trakl-Verse, die i n ihrer Umgebung wie eingesprengte Prosa wirken. E i n Beispiel aus »Grodek«: Doch stille sammelt im Weidengrund Rotes Gewölk, darin ein zürnender Gott wohnt Das vergoßne Blut sich, mondne Kühle; Alle Straßen münden in schwarze Verwesung. 5 1

Was i n der letzten Zeile stattfindet, ist nichts anderes als ein abrupter Wechsel des rhythmischen Leitmotivs. Derselbe Satz, als A n f a n g der folgenden Reihe gelesen, verliert seinen prosaischen Charakter v ö l l i g : Alle Straßen münden in schwarze Verwesung. Unter goldnem Gezweig der Nacht und Sternen Es schwankt der Schwester Schatten durch den schweigenden H a i n , Z u grüßen die Geister der Helden [ . . . ] 5 2 50 Georg Trakl, Dichtungen 1969), Bd. 1,S. 69. 61

Trakl, S. 167.

62

Ebd.

und Briefe, hg. W . K i l l y / H . Szklemar (Salzburg,

Odenform und freier Vers

205

Anders als T r a k l geht R i l k e i n seinen freirhythmischen Gedichten stets v o m Vers als einem metrisch strukturierten Gebilde aus: Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens. Siehe, wie klein dort, siehe: die letzte Ortschaft der Worte, und höher [ . . . ] 5 3

Offensichtlich knüpft R i l k e an Klopstocks nachlässige Behandlung des H e x a meters an. Z u m freien Vers schafft er i h n um, indem er nicht nur die Zäsuren, sondern auch die Zeilenenden nach Gutdünken verschiebt. Doch erst ein weiterer Kunstgriff läßt daraus freimetrische Verse hervorgehen: die — gew o l l t e — metrische Mehrdeutigkeit der entstehenden Gebilde. Mehrdeutigkeit, eine oft gerügte Schwäche des Klopstockschen Verses — sie hat ihren G r u n d i n der quantitierenden Behandlung des Verses — w i r d i n Rilkes L y r i k zum differenziert gehandhabten M i t t e l einer hohen Kunst des In-derSchwebe-Lassens, die artifiziellste Möglichkeit, freie, ametrische L y r i k zu erzeugen, — u n d eine C r u x für den eingefleischten M e t r i k e r 5 4 : Verweilung, auch i m Vertrautesten nicht ist uns gegeben; aus den erfüllten Bildern stürzt der Geist zu plötzlich zu füllenden; Seen sind erst im Ewigen. 5 5

5. Ich fasse zusammen. D i e Gattungspoetik des ausgehenden 17. Jahrhunderts schreibt der Ode als höchster lyrischer Gattung den sermo sublimis der Rhetorik verbindlich vor, konzediert zugleich die Möglichkeit eines sublime simple als Ausdruck dichterischen Enthusiasmus. Klopstock kanonisiert die erhabene Einfachheit der enthusiastischen Dichtart u n d unterwirft die G a t tung den Grundsätzen des emotiven Sprachbaus sowie dem quantitierenden Odenvers der A n t i k e . Es k a n n gezeigt werden, daß Klopstocks »enthusiastische« Lesart der Gattung, verbunden m i t den Besonderheiten seines quantitierenden Verses, jene Übergänglichkeit der metrisch strengen Odenformen i n den freien Rhythmus hervorbringt, die für die Entwicklung des freien Verses R a u m schafft. D e r Geltungsschwund der enthusiastischen Dichtungslehre i m 19. und 20. Jahr53

Rilke, Bd. 3, S. 94.

54

Vgl. die abfälligen Bemerkungen über die »gallertige«, weil nicht rubrizierbare Struktur Rilkescher L y r i k bei Fritz Sdilawe, Die deutschen Strophenformen. Systematisch-chronologisches Register zur deutschen Lyrik 1600 -1950 (Stuttgart, 1972), Einleitung. 55

Rilke, Bd. 3, S. 93.

206

Ulrich Södlbauer

hundert drängt die Ode, nun der erhabenen Rhetorik ledig, auf die strengen metrischen Formen zurück. D i e Gattung w i r d zur Gattungsreminiszenz. I m freien Vers f ä l l t die syntaktisch-metrische Einheit der enthusiastischen Verssprache auseinander. Satzvers u n d freimetrischer Vers markieren die extremen Möglichkeiten.

P A U L C L A U D E L S F Ü N F T E GROSSE O D E : LA MAISON V o n Albert

FERMÉE

Fuß

Z u r Stellung v o n L a m a i s o n f e r m é e innerhalb der C i n q grandes Odes La maison fermée wurde v o n Paul Claudel i m Februar 1908 abgeschlossen1. D i e Erstveröffentlichung erfolgte 1910, zusammen m i t den vier voraufgegangenen Oden u n d dem Processional pour saluer le siècle nouveau , einer »espèce de poème assonance dans le rythme des anciennes séquences«, wie Claudel i n einem Brief an Gabriel Frizeau v o m 20. Okober 1907 angibt 2 . Der Dichter hat i n seinen Briefen an Suarez, Gide, Frizeau u n d Rivière aus den Jahren 1907 u n d 1908 wiederholt die Oden als Sammlung angekündigt u n d dabei deren Zusammenhang u n d innere Einheit unterstrichen. So heißt es i n einem Brief an Frizeau aus dem Jahr 1907 über die Oden: Elles sont toutes composées des mêmes thèmes diversement unis, une exhalation lyrique de la pensée, souvenirs de la vie passée, espérances et liberté du chrétien, l'art et la vocation du poètre, etc. 3

D i e K r i t i k hat sich lange dagegen gesperrt, die v o n Claudel behauptete Einheit der Oden zu akzeptieren u n d genauer zu definieren. Der über weite Strecken hermetische Charakter der Oden mochte i m übrigen eine Gesamtinterpretation als überaus risikoreiches Unternehmen erscheinen lassen. So spricht Hans Urs v o n Balthasar noch 1963 i m Nachwort zu seiner Ubersetzung der Oden v o n »einem rational schwer aufhellbaren poetischen Kosmos, der v o n verwandten Gedanken durchzogen ist, aber nicht auf einen einzigen Nenner gebracht werden kann« 4 . D a ß dieser gemeinsame Nenner dennoch 1 Vgl. zu Fragen der Entstehungsgeschichte die Anmerkungen von Jaques Petit in Paul Claudel, Œuvre poétique. Introduction par Stanislas Fumet. Textes établis et annotés par Jacques Petit (Bibliothèque de la Pléiade), Paris 1967, S. 1073 f. (Hinfort zitiert als Po). 2 3

Zitiert in Po, S. 1076.

Zitiert Volker W . Kapp, Poesie und Eros. Zum Großen Oden von Paul Claudel, München 1972, S. 154.

Dichtungsbegriff

der Fünf

4 Hans Urs von Balthasar, »Nachwort« in Paul Claudel, Gedichte, Heidelberg, Einsiedeln, Zürich, K ö l n 1963, S. 577.

Albert Fuß

208

gefunden werden kann, beweist die eingehende Untersuchung v o n V o l k e r W . K a p p aus dem Jahre 1972, deren T i t e l Poesie und Eros schon angibt, w o K a p p fündig geworden ist. K a p p faßt die Ergebnisse seiner Untersuchung wie folgt zusammen: Die Oden sind so miteinander verknüpft, daß die Position der früheren in den späteren jeweils dialektisch übernommen ist. I n diesem dialektischen Prozeß kristallisiert sich eine christliche Poetik heraus, die sich in der fünften Ode »La Maison fermée« letztgültig so artikuliert, daß alles Vorausgehende von diesem Ende her seinen Sinn erhält [ . . . ] . I m Mittelpunkt der Sammlung steht die Bekehrung des Dichters. D i e thematische Einheit der Oden kommt aus der sich vom Anfang bis zum Ende durchhaltenden Wechselwirkung von Poesie und Eros 5 .

I n Anschluß an Spitzer definiert K a p p die Oden als eine »Psychomachie«, insofern sie die »innere Zerrissenheit des Dichters nach außen projezieren«® u n d aufzeigen, wie die i m dichterischen Ich widerstreitenden K r ä f t e allmählich miteinander versöhnt werden u n d i n der fünften Ode zur Ruhe kommen 7 . Neuere Studien zur den Oden, etwa die zweibändige Veröffentlichung v o n Alexander Maurocordato ergeben, soweit w i r sehen, keine nennenswerten weiterführenden Einsichten 8 . Überblick

über den I n h a l t

der F ü n f t e n G r o ß e n

Ode

La maison fermée ist wie die vorangegangenen vier Oden i n freien Versen abgefaßt u n d i n insgesamt 14 Strophen v o n sehr unterschiedlicher Länge gegliedert. Das Gedicht beginnt m i t einem V o r w u r f der Leser an den Dichter: »Poëte, t u nous trahis!« (Po, S. 278). Der Dichter hat sein Versprechen aus der vierten O d e : »Je chanterai le grand poëme de l'homme soustrait au hasard« (Po, S. 267) bisher noch nicht eingelöst; es ist i h m noch nicht gelungen, seinen Mitmenschen die Geheimnisse u n d Gesetzmäßigkeiten der Schöpfung zu verdeutlichen, eine »grande Voie triomphale au travers de la Terre réconciliée« (Po, S. 267) aufzuzeigen, die der Mensch ohne Angst beschreiten könnte. Der Dichter schreibe, so lauten die V o r w ü r f e seiner Leser weiter, auf 5

V . W . Kapp, a.a.O., S. 155.

β

Ebd., S. 141.

7

Vgl. zur Problematik der Einheit der Oden: A . Fuß, »Gedanken zur Zweiten Ode P. Claudels« in Zeitec&ri/? für französische Sprache und Literatur LXXXIII (1973), S. 20 - 28. 8 A . Maurocordato, L'Ode de Paul Claudel I . La grande vendange de paroles, Archives des Lettres Modernes, Paris 1974 und Ders., L'Ode de Paul Claudel I I . Thèmes et structures des Cinq Grandes Odes, Archives des Lettres Modernes, Paris 1978.

Paul Claudels Fünfte Große Ode: La maison fermée

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weißem Papier unverständliche Runen; er sei inzwischen verheiratet, lebe w e i t weg u n d dick geworden, w i e ein Baron i n einer »grande maison carrée aux murs épais« (Po, S. 278). D i e A n t w o r t auf die Vorhaltungen der Leser liefert die zweite Strophe, aber nicht der Dichter selbst ergreift das W o r t , sondern die »gardienne du poëte«, die Ehefrau des Dichters. Sie geht allerdings nur sehr kurz — i n den ersten neun Zeilen der zweiten Strophe — u n d nicht sonderlich direkt auf die gegen den Dichter i n der langen ersten Strophe vorgebrachten Argumente ein: D i e u m'a posée sa gardienne, A f i n qu'il rende à chacun ce qui lui est dû, L'homme à l'homme, à la femme ce qu'il tient de la femme, Et à D i e u seul ce qu'il a reçu de D i e u seul, qui est un esprit de prière et de parole. Ce qu'est la clotûre pour un moine, est le sacrement pour lui qui fait une seule chair de nous (Po, S. 279).

Diese Rechtfertigung gerät nicht sehr überzeugend, denn es w i r d zwar nicht grundsätzlich i n Abrede gestellt, daß der Dichter den Menschen — u n d G o t t — etwas schuldet, aber es bleibt offen, was dies konkret heißt. D a m i t aber bleibt ebenso offen, inwieweit die i n der ersten Strophe vorgebrachten Forderungen an den Dichter zurückgewiesen werden müssen. Das entscheidende Argument der G a t t i n des Dichters gegen die K r i t i k des Publikums scheint i n dem Hinweis auf das Ehesakrament zu liegen, das den Dichter w i e einen Mönch i n Klausur n i m m t . Dieser Befund bedarf offensichtlich einer Erläuterung, die tatsächlich v o n der »gardienne du poëte « i n den verbleibenden 37 Zeilen der zweiten Strophe gegeben w i r d . Erstaunlicherweise wendet sich die Ehefrau aber nicht an das Publikum, sondern an den Dichter selbst, so als ob dieser den Sachverhalt noch nicht begriffen hätte. Bemerkenswert erscheint weiterhin die belehrende, u m nicht zu sagen schulmeisterliche H a l t u n g dieser Ehefrau. I n der T a t häufen sich i n ihrer Rede die I m perative, die Vorschriften u n d die rhetorischen Fragen, die dem A n t w o r t e n den keine Alternative offen lassen: Mais goûte l'ombre, mon mari, de la demeure bénite entre ces murs épais qui nous protègent de l'air extérieur et du froid. T o n intérêt n'est plus au dehors, mais en toi-même là où n'était aucun objet. [ . . . ] Que te font les hommes vagues autour de nous? Qu'as-tu à recevoir d'eux? Et qu'aurait-il à donner qui a à demander encore? (Po, S. 279)

D i e abschließende Aufforderung an den Dichter: 14 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 23. Band

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Albert Fuß T u as donné ta parole. Garde-là pour qu'elle te garde et ne va pas en faire commerce comme du vieux vêtement que Ton vend au diananéen (Po, S. 280).

erinnert, trotz des deutlichen Bezugs auf die Ehe, eher an die mahnenden Worte einer Mutterfigur, die bemüht ist, u m ihr K i n d einen Schutzwall zu legen. I n einem Text über C o v e n t r y Patmore weist Claudel der Ehe z w a r einen sehr hohen Rang zu, aber deren Bedeutung ergibt sich aus der Tatsache, daß dieses Sakrament den Zugang zu einem noch höheren Wert schafft, nämlich zur Vereinigung der Seele m i t G o t t : Ce n'est donc pas en vain que l'Apôtre a donné au mariage le nom de Grand Sacrement (magnum Sacramentum, Eph. 5, 32), puisqu'il est le symbole et l'image de l'union de notre âme avec Notre-Seigneur 9 .

Diese Auffassung belegt auch der Text unserer Ode. D i e Rede der »gardienne d u poëte« führt lediglich das i m T i t e l der Ode aufgerufene H a u p t thema ein u n d weist den beschützenden u n d geschlossenen Raum der Ehe als den idealen R a u m für das Zusammenleben der Seele m i t der göttlichen Weisheit u n d dem göttlichen W o r t aus. I n der 3. Strophe stellt sich der Dichter selbst den V o r w ü r f e n seiner Leser u n d weist diese schroff zurück: Je n'ai pas à faire de vous, à vous de trouver votre compte avec moi, Comme la meule fait de l'olive et comme de la plus revêdie racine le chimiste sait retirer l'alcaloïde (Po, S. 280).

D i e »gardienne du poëte« w i r d nicht angesprochen u n d auch ihre Argumente werden nicht direkt aufgegriffen, wenn es heißt: Je sais que je suis ici avec D i e u et chaque matin je rouvre mes yeux dans le paradis. Jadis j'ai connu la passion, mais maintenant je n'ai plus que celle de la patience et du désir D e connaître D i e u dans sa fixité et d'acquérir la vérité par l'attention et chaque chose qui est toutes les autres en la récréant avec son nom intelligible dans ma pensée (Po, S. 280).

D e r i n den voraufgegangenen Oden übermächtige W i l l e zur Eroberung, das Bestreben, räumliche u n d zeitliche Grenzen aufzuheben, das prometheische Rivalisieren m i t G o t t scheinen zur Ruhe gekommen zu sein. 9 Paul Claudel, Œuvres en prose. Préface par Gaétan Picon. Textes établis et annotés par Jacques Petit et Charles Galpérine, (Bibliothèque de la Pléiade), Paris 1965, S. 530.

Paul Claudels Fünfte Große Ode: La maison fermée

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D i e 4. Strophe vertieft die M e d i t a t i o n über das Thema der Eingrenzung u n d die vollkommene Figur der v o n G o t t erschaffenen Wirklichkeit, die sich für Claudel als Kreis darstellt. So möchte der Dichter ein zweiter Kolumbus sein, der den ewigen H o r i z o n t i n der »sphère calculée« seines Wortes vollendet einfängt: M o n désir est d'être le rassembleur de la terre de Dieu! Comme Christophe Colomb quand il mit à la voile, Sa pensée n'était pas de trouver une terre nouvelle, Mais dans ce cœur plein de sagesse la passion de la limite et de la sphère calculée de parfaire l'éternel horizon (Po, S. 281).

Dieser Gedanke w i r d i n der 5. Strophe weitergeführt. Der Dichter erlebt sich selbst als den P u n k t der Schöpfung, i n dem das Universum i n seiner unerschöpflichen, aber endlichen Perfektion, die ein A b b i l d der V o l l k o m m e n heit des Schöpfers ist, faßbar w i r d . Der auf das göttliche W o r t ausgerichtete menschliche "Mikro-Kosmos w i r d zu einem perfekten Spiegelrund, i n dem die Harmonie des Makro-Kosmos unverfälscht abgebildet erscheint. Claudel leitet die entscheidenden Verse m i t einem »O« ein, einem Buchstaben, den er i n den Idéogrammes occidentaux als »Spiegel« definiert h a t t e 1 0 : O point de toutes parts autour de moi ou s'ajustent les fins indivisibles! univers indéchirable! ô monde inépuisable et fermé! [ . . . ] O certitude et immensité de mon domaine! ô cher univers entre mes mains connaissantes! ô considération du nombre parfait à qui rien ne peut être soustrait ou ajouté! O Dieu, rien n'existe que par une image de votre perfection! (Po, S. 281)

D i e engen Wechselbeziehungen zwischen Mikrokosmos u n d Makrokosmos finden gegen Ende der Strophe einen pointierten Ausdruck: Je ne vous crains point, ô grandes créatures célestes ! Je sais que c'est moi qui vous suis nécessaire et je me tiens comme un pilote dans vos feux entre-croisés, E t je vous rie aux yeux comme A d a m aux bêtes familières (Po, S. 282).

I n der 6. u n d 7. Strophe konzentriert sich Claudel auf die Formulierung seiner Aufgabe als Dichter. Er n i m m t dabei stufenweise die schroffe Ablehnung, die er anfangs seinen Lesern entgegenbrachte, zurück u n d bekennt sich zur sozialen F u n k t i o n seiner Dichtung. So fleht er am Ende der 6. Strophe zu G o t t : 10

14*

Paul Claudel, Œuvres en prose , a.a.O., S. 100.

212

Albert Fuß Faites que je la (sc. la parole) produise de la meilleure substance de mon cœur comme une moisson qui va poussant de toutes parts où il y a de la terre (Po, S. 283).

Z u Beginn der 7. Strophe heißt es weiter: Faites que je sois entre les hommes comme une personne sans visage et ma Parole sur eux sans aucun son comme un semeur de silence, comme un semeur de ténèbres, comme un semeur d'églises, Comme un semeur de la mesure de Dieu. Comme une petite graine dont on ne sait ce que c'est Et qui jetée dans une bonne terre en recueille toutes les énergies et produit une plante spécifiée, Complète avec ses racines et tout, Ainsi le mot dans l'esprit (Po, S. 283).

D i e Bilder dieser Textstelle variieren das zentrale Thema der Ode, nämlich die Vorstellung des geschlossenen Raumes bzw. des Kreises oder des Zentrums. Das Verlangen des Dichters, Person ohne Gesicht zu sein, mag den Wunsch des Dichters ausdrücken, das Gedicht nicht zur Bespiegelung der eigenen Person zu mißbrauchen. Gleichzeitig dürfte aber auch auf den blinden Seher angespielt werden, der seinen »Blick« nach innen gerichtet hat u n d nicht mehr durch zufällige Sinneseindrücke aus der U m w e l t abgelenkt w i r d . Das W o r t ohne T o n wäre jenes W o r t , das nicht mehr z u m Hören, sondern z u m Erleben i m Innern des Menschen bestimmt ist. Das B i l d v o m Dichter als Sämann v o n Schweigen u n d Dunkelheiten erklärt sich aus dem parallel gesetzten B i l d v o m Dichter als Sämann v o n Kirchen u n d dem ausdrücklichen H i n w e i s auf das Bekehrungserlebnis des Dichters i n Notre Dame: Ο mon Dieu, je me rappelle ces ténèbres où nous étions face à face tous les deux, ces sombres aprèsmidi d'hiver à Notre-Dame. M o i tout seul, tout en bas, éclairant la face du grand christ de bronze avec un cierge de 25 centimes (Po, S. 283).

N o t r e - D a m e u n d die Kirche allgemein als steingewordenes M a ß Gottes u n d Corpus mysticum formen für Claudel den m i t Schweigen u n d D u n k e l gefüllten U r r a u m , den Mutterschoß, aus dem geistiges, inneres Leben emporwächst. Demzufolge w i r d man den beschützenden R a u m der Ehe als sekundäre Ausformung des Notre-Dame-Erlebnisses interpretieren müssen. Eine Reihe biographischer Indizien, die v o n M . F. G u y a r d zusammengetragen wurden, bestätigen diese These 11 . Claudels Bilder illustrieren eine fundamen11 M . - F . Guyard, Recherches Claudéliennes. Paris 1963, S. 75 - 98.

Autour

des Cinq

Grandes

Odes,

Paul Claudels Fünfte Große Ode : La maison fermée

213

tale psychologische Einsicht: N u r wer sich schweigend, einsam u n d ohne durch störendes Licht abgelenkt zu werden, lange genug auf sich selbst konzentriert hat, k o m m t zur Erfahrung dessen, was er ist. D a ß der Rückzug auf einen innersten Bereich keineswegs Verarmung, Ausschluß u n d Regression bedeuten muß, veransdiaulicht Claudel i n dem schon zitierten B i l d des Samenkorns, das er selbst sein möchte. I n einem weiteren Vers der gleichen Strophe heißt es: Et le réduit où nous recevons le Seigneur croît plus silencieusement en nous que le temple de Salomon [ . . . ] (Po, S. 284).

D i e 8. Strophe liefert weitere Bilder für den Gedanken der Unerschöpflichkeit des geschlossenen, runden Raumes, der nichts anderes ist als die Seele des Dichters: Claudel verweist auf den nie zur Neige gehenden K r u g der W i t w e v o n Sarepta u n d die japanische Schale, die, während man sie aust r i n k t , eine großartige Landschaft u n d einen »horizon complet« (Po, S. 285) sichtbar werden läßt. I n der 9. bis 13. Strophe behandelt Claudel eine neue Thematik, die i n den vorangegangenen vier Oden nur unterschwellig bzw. i n einer durch den K o n t e x t bedingten anderen Bedeutung anklingt. D e r Dichter geht daran, den Innenraum seiner Seele zu ordnen u n d zu befestigen: O cieux, laissez-moi reconnaître en moi comme en vous le N o r d et le Couchant, le M i d i et l'Est (Po, S. 285).

W i e i n einer befestigten Stadt w i l l der Dichter an den vier Himmelsrichtungen Tore aufrichten u n d v o n den vier Kardinaltugenden bewachen lassen. I n der sich über mehrere Seiten erstreckenden 14. u n d letzten Strophe Ode begrüßt Claudel das aufziehende neue Zeitalter. D a m i t öffnet sich Ode z u m Schluß der weltlichen Geschichte, die allerdings — ähnlich w i e biographische M o m e n t der Ehe am A n f a n g der Ode — umgehend v o n Heilsgeschichte umschlossen w i r d . So sieht der Dichter i n dieser neuen Zeit neues Haus des Gebetes u n d einen neuen Tempel entstehen:

der die das der ein

Voici de nouveau pour nous une maison pour faire notre prière, U n temple nouveau dont la rage de Satan n'éteindra point les lampes ni ne sapera les voûtes adamantines (Po, S. 288).

A n die Stelle der klösterlichen Klausur v o n Solesmes u n d Ligugé — i n die Claudel nicht aufgenommen wurde — t r i t t eine andere, deren Grenzen m i t den Grenzen des Universums zusammenfallen:

214

Albert Fuß Pour la clôture de Solesmes et de Ligugé voici une autre clôture! Je vois devant moi PEglise catholique qui est de tout l'univers (Po, S. 289).

Kolumbus u n d die anderen Entdecker hatten die Erde erobert u n d damit gezeigt, daß die Schöpfung endlich ist. Dieser Endlichkeit des Horizonts fügt Claudel nun noch die Endlichkeit i n vertikaler Richtung hinzu, w e n n er schreibt: Ainsi le ciel n'a plus pour nous de terreur, sachant que si loin qu'il s'étend Votre mesure n'est pas absente (Po, S. 289).

Schließlich grüßt der Dichter das Firmament der Toten, der glücklichen Seelen, die Gottes Glorie widerspiegeln »comme une planète qui est réduite pour nous à sa lumière et à son mouvement mathématique (Po, S. 289). Es ist nur logisch, wenn auf den Blick nach oben anschließend der Blick nach unten folgt. So wendet sich der Dichter den Toten zu, deren Seelen noch i m Feuer geläutert werden, bevor sie die Glorie Gottes schauen dürfen.

Eine psychoanalytische der

Interpretation

Ode

»Toute forme est une v a r i a t i o n dur cercle« (Po, S. 163) hatte Claudel i n seiner Art poétique geschrieben. E r erläutert diesen Satz wie folgt: J'entends par forme non seulement le tracé d'une certaine figure, mais, du fait de la fermeture qu'elle établit, la constitution d'un certain milieu, en tant qu'obéissant dans toutes ses parties au rythme qui les compose (Po, S. 163).

Georges Poulet 1 2 , Jacques Petit 1 3 , A n d r e Vachon 1 4 u n d eine Reihe weiterer Claudelforscher haben schon relativ bald auf das i m W e r k Claudels immer wiederkehrende Thema des Zentrums u n d des Kreises aufmerksam gemacht. Dabei konnte es nicht ausbleiben, daß man neben den theologischen Dimensionen dieser Bilder auch einige psychische I m p l i k a t i o n e n entdeckte. Jacques Petit wendet sich gegen den Versuch, Claudels Wunsch nach Eingrenzung, Schutz u n d Sicherheit i n einem geschlossenen R a u m lediglich als »réaction bourgeoise ou paysanne« abzutun u n d begründet dies, lapidar u n d richtig, 12 G. Poulet, »Claudel« in G . Poulet, Les métamorphes S. 477 - 499.

du cercle , Paris 1961,

13 J. Petit »A propos d'une fantaisie de Claudel: L'escargot, la coquille et la spirale«, Paul Claudel (3). Thèmes et images. La Revue des Lettres Modernes N r . 1 3 4 - 1 3 6 , 1966 (2). 14

A . Vachon, Le temps et l'espace dans l'œuvre de Paul Claudel , Paris 1965.

Paul Claudels Fünfte Große Ode : La maison fermée

215

m i t dem H i n w e i s : »Le mouvement est trop profond« 1 5 . D i e fünfte Ode verdeutlicht, daß der Kreis u n d das Zentrum keineswegs lediglich ein bloßes Sich-Zurückziehen auf das eigene Ich beinhalten, sondern i n gleichem Maße auch den R a u m u n d den P u n k t angeben, v o n dem der Dichter »um sich greift« m i t der Absicht, sich den gesamten Makrokosmos anzueignen. E i n ungehemmtes Aus-Sich-Herausgehen schließt aber die Gefahr ein, daß man sich an die Dinge verliert u n d seiner selbst verlustig geht. La maison fermée zeigt, wie dieser Verlust vermieden werden k a n n : dadurch nämlich, daß i n einer dem Expansionsdrang gegenläufigen Bewegung die Dinge der Außenw e l t v o r den Spiegel der eigenen Innenwelt gerückt u n d i n ein Ordnungsschema eingefügt werden, dessen Koordinaten nach dem M a ß u n d M e t r u m Gottes geeicht sind. Allerdings erkannte schon A n d r é Vachon hinter der Sehnsucht nach dem geschlossenen, ruhigen u n d dunklen R a u m ein tief i m Unterbewußten verankertes Geflecht v o n Antrieben u n d k a u m verhüllten Neigungen. U n t e r Bezugnahme auf die i n La maison fermée auftauchende Erinnerung des Dichters an die »sombres après-midi d'hiver à N o t r e Dame«, w o er m i t Christus ins Grab stieg, u m dann zu erleben, wie sich die Grenzen dieses Grabes bis zu den Grenzen des Universums ausweiteten (vgl. 7. Strophe, Po, S. 283 - 284), kommentiert Vachon: Sein maternel et sépulcre, la cathédrale parisienne est par excellence l'espace claudélien originel. Le poète n'aura pas à chercher hors de N o t r e Dame l'espace définitif de sa maturité 1 ®.

Vachon vermeidet es, i n den v o n Claudel verwendeten Bildern nach einer Regression i m Freud'schen Sinne zu suchen; er läßt auch Anklänge an m y thische Vorbilder n i d i t gelten, w e n n er f o r t f ä h r t : Ressuscité avec le Christ de Pâques, i l [sc. le poète] verra aussitôt le temple de pierre s'agrandir jusqu'aux limites de la totalité spatiale. Remarquons une fois de plus, combien cette imagerie dépasse le niveau mythique: les ténèbres originelles ont un rapport immédiat à celles de l'unique sépulcre susceptible d'être source de vie. En un mot, ces versets décrivent l'expérience baptismale, telle qu'elle peut être vécue à l'âge adulte 1 7 .

D i e v o n Vachon i n unserem Z i t a t nur angedeutete u n d sogleich wieder aufgegebene psychoanalytische Perspektive hat sich M i d i e l Malicet i n seiner jüngst erschienenen dreibändigen Lecture psychoanalytique de l'œuvre de Claudel 18 uneingeschränkt zu eigen macht. D i e vorwiegend auf das drama15

J. Petit, a.a.O., S. 19.

18

A . Vachon, a.a.O., S. 299.

17

Ebda.

18

M . Malicet, Lecture psychanalytique de l'oeuvre de Claudel , Bd. I Les structures dramatiques ou les fantasmes du fils; Bd. I I Le monde imaginaire; Bd. I I I Le premier théâtre ou le théâtre de l'interdiction , Annales Littéraires de l'Université de Besançon, Paris 1979, 1978 und 1979.

Albert Fuß

216

tisdie Schaffen des Dichters ausgerichtete Untersuchung basiert auf den psychoanalytischen Erkenntnissen Freuds u n d führt zu einer Vielzahl überraschender Ergebnisse. Malicet rechtfertigt seine Arbeit m i t dem Hinweis, daß es i h m gelingt, für viele »passages désespérés« 19 des Werkes eine einleuchtende Deutung anbieten zu können. Malicet faßt seine »Lesart« Claudels wie folgt zusammen: L'héroine est [ . . . ] essentiellement »la femme qui enfante« (1,157). Comme cette héroïne est en même temps et paradoxalement l'objet de l'amour le plus sensuel [ . . . ] et apparaît aussi comme une créature mythologique redoutable suscitant un réflexe de crainte, on peut tenter une hypothèse pour résoudre le problème que pose ce faisceau de traits contradictoires: qu'il s'agit dans ce théâtre du point de vue du Fils et que toutes les aventures amoureuses expriment la renaissance d'une situation enfantine: on a reconnu la situation incestueuse typique et l'ambivalence des sentiments qui en découle. O n voit tout de suite alors se profiler le problème essentiel qui s'exprime tout au long de ce théâtre: comment posséder la Femme (sentie comme la Mère) sans s'exposer aux remords ou au châtiment? [ . . . ] L a solution idéale [ . . . ] sera la transposition continuelle du problème dans la structure religieuse [ . . . ] . Le conflit œdipien ne trouvant pas de résolution au niveau d'une intrigue humaine est projeté au niveau cosmique et rejoué par les grandes forces naturelles [ . . . ] 2 0 .

Malicets Schlußfolgerungen, die m i t dem traditionellen Claudelbild nur schwer vereinbar sind, ergeben sich aus einer Argumentationskette v o n beeindruckender Geschlossenheit u n d einem eingehenden Textstudium. Der gemeinsame Nenner, auf den Malicet die F ü n f Großen Oden insgesamt bringt, lautet: H y m n u s auf die Rückkehr i n den Mutterschoß 2 1 . Dieser Befund ergibt sich nicht, wie man vielleicht vermuten könnte, i n Anlehnung an die 2. Strophe der fünften Ode, i n der die ausgesprochen mütterlich wirkende »gardienne d u poëte« zu W o r t k o m m t , sondern auf G r u n d einer Serie v o n eng aufeinander bezogenen Bildern, die allesamt den Mutterschoß meinen. D i e Vorstellung des geschlossenen Hauses werde auf das gesamte Universum ausgedehnt u n d führe zu einer »sensation de sécurité embryonnaire, de retour au sein maternel que donne la contemplation du ciel nocturne« 2 2 . D e r Dichter lenkt i n der 5. Ode mehrfach seinen Blick z u m Sternenhimmel. I n der 5. Strophe etwa heißt es: Vous avez posé chaque astre millénaire en son point pareil aux lampes d'or qui gardent votre sépulture à Jérusalem. Et moi, je vois tous vos astres qui veillent, pareils aux D i x Vierges Sages à qui l'huile ne fait pas défaut. "

A.a.O., Bd. I I I , S. 108.

20

A.a.O., Bd. I I , »Avertisement«.

21

A.a.O., Bd, I I , S. 214.

22

Ebda.

Paul Claudels Fünfte Große Ode: La maison fermée

217

Maintenant je puis dire, mieux que le vieux Lucrèce: Vous n'êtes plus, ô terreurs de la nuit! O u plutôt comme votre saint prophète: Et la nuit est mon exultation dans mes délices! (Po, S. 282).

Diese Textstelle, für sich alleine genommen, scheint Malicets These zunächst nur wenig oder überhaupt nicht zu stützen. Selbst die Nacht als »exultation dans mes délices«, v o n Claudel i m übrigen als Prophetenwort zitiert u n d i m Druck kursiv gesetzt, führt nicht notwendigerweise zur Assoziation m i t den Freuden des Kindes i m Mutterleib! Betrachtet man allerdings die 5. Ode nicht nur für sich alleine, sondern geht auf die Suche nach verwandten Bildern, entdeckt man etwa folgende Zeilen aus Tête d'Or: O N u i t , mère! Ecrase-moi ou bouche-moi les yeux avec de la terre! Mère [ . . . ] Mère, je suis seul! Mère [...] N u i t éternelle! 25

Solche Zeilen bedürfen keiner weiteren Interpretation. Es erscheint naheliegend, hinter verwandten Bildern, mögen sie i m Falle der 5. Ode auch stärker zensiert erscheinen, die gleiche psychische M o t i v a t i o n zu vermuten. Das Z i t a t aus Tête d'Or läßt den Muterschoß der Nacht nicht nur als O r t des behüteten Wohlbehagens erscheinen — dieser Aspekt scheint i n der 5. Ode i n den Vordergrund zu treten — , sondern die Rückkehr i n den Schoß der Nacht — oder den Schoß der Erde — birgt die Gefahr des Verschlungen- u n d Erdrücktwerdens u n d damit des Todes. Tatsächlich ist auch i n La maison fermée die Vorstellung der Nacht eng m i t der des Grabes gekoppelt, wodurch die Annahme erhärtet w i r d , daß i n der 5. Ode die gleichen unterschwelligen K r ä f t e am W e r k waren, die dem Dichter schon bei Tête d'Or die Feder führten. I n dem schon zitierten T e x t aus der 5. Strophe der Ode wurde der Sternenhimmel m i t den goldenen Lampen am Grab Christi i n Jerusalem verglichen. I n der 7. Strophe erinnert sich der Dichter, wie schon erwähnt, an die »sombres après-midi d'hiver de Notre-Dame« (Po, S. 283) u n d daran, daß er m i t Christus ins Grab gestiegen ist (»Je suis descendu dans votre sépulcre avec vous« (Po, S. 284). Freilich wandelt sich dieses B i l d des Sterbens m i t Christus i m Mutterschoß der Kirche sogleich i n ein positives E r lebnis: Je n'ai point bougé et les limites de votre tombeau sont devenues celles de l'Univers (Po, S. 284).

Malicet kommentiert diese Textstelle m i t der rhetorischen Frage: 23 Paul Claudel, Théâtre I . Edition revue et augmentée. Textes et notices établis par Jacques Madaule et Jacques Petit, Bibliothèque de la Pléiade, Paris 1967, S. 48.

Albert Fuß

218

Est-il possible de mieux définir le monde comme lieu clos que par l'évocation d'une tombe qui, étant celle du Christ, ajoute à l'idée de la fermeture celle d'une sécurité définitive et celle de renaissance, tout comme le ventre materne? 24

Malicet sieht i n diesem Text also eine Anspielung auf die Auferstehung bzw. Wiedergeburt, was dem Sinn nach sicher richtig ist, dem v o n Claudel verwendeten B i l d aber nicht i n vollem U m f a n g gerecht w i r d . Auferstehung u n d Wiedergeburt beinhalten das Heraustreten aus irgend etwas, aus dem Grab oder dem Mutterleib. W e n n Claudel aber davon spricht, daß sich die Grenzen des Grabes Christi bis zu den Grenzen des Universums ausweiten, kehrt er die landläufige Vorstellung v o n Auferstehung u n d Wiedergeburt um, w i r d doch die Außenwelt einem geschlossenen Raum einverleibt, der — wenn man Malicet folgt — immer noch m i t dem Mutterschoß identisch wäre. Dies würde allerdings bedeuten, daß w i r i n diesem Text die A t t r i b u t e der M u t t e r auf Christus übertragen müßten, eine ungewöhnliche Vorstellung zunächst, die aber einer v o n Malicet herausgestellten Tendenz Claudels, G o t t zu verweiblichen, entspricht 2 5 . E i n besonders eindrucksvoller Beleg für diese A u f fassung Claudels findet sich i n einem späten Kommentar des Dichters zu einer Bibelstelle: »Ses seins, Ses seins nourriciers, Son utérus, cet utérus où le Verbe a été engendré avant l'auore« 2 6 . D e m ist nichts hinzuzufügen, es sei denn eine weitere Bemerkung Malicets, die sich direkt auf unsere Ode bezieht: »La femme [ . . . ] apparaît [ . . . ] comme prodigieux personnage contenant le Monde ou mieux, constituant le Monde, l'Eglise catholique, à la fois édifice et femme« 2 7 . Malicet rechtfertigt diese Interpretation durch folgende Passage aus der 14. Strophe unserer Ode: Voici de nouveau pour nous une maison pour faire notre prière, U n temple nouveau dont la rage de Satan n'éteindra point les lampes ni ne sapera les voûtes adamantines. Pour la clôture de Solesmes et de Ligugé voici une autre clôture! Je vois devant moi l'Eglise catholique qui est de tout l'univers ! Ο capture! ô pêche miraculeuse! ô million d'étoiles prises aux mailles de notre filet, Comme un grand butin de poissons à demi sortis de la mer dont les écailles vivent à la lueur de la torche (Po, S. 288 - 289).

I m M i t t e l p u n k t dieser Zeilen steht die Vorstellung des geschlossenen Raumes. A m Ende des Textes werden allerdings Bilder eingeführt, die nicht ohne 24

M . Malicet, a.a.O., Bd. I I , S. 214.

25

Vgl. ebda., S. 213.

28

Zitiert ebda., S. 213.

27

Ebda., S. 214.

Paul Claudels Fünfte Große Ode : La maison fermée

219

weiteres i n diesen Zusammenhang zu passen scheinen. So ist übergangslos v o n einem wunderbaren Fischzug die Rede, bei dem M i l l i o n e n v o n Sternen gefangen werden. Der Zusammenhang ergibt sich erst, wenn man hinter diesen Bildern die L o g i k des Unbewußten erfaßt. Der nächtliche Sternenhimmel verweist, wie schon dargelegt, auf die Mütterlichkeit der Nacht. D a aber bei Claudel das Meer u n d das Wasser ebenfalls immer wieder als Symbole der Mütterlichkeit u n d der Frau verwendet werden — es sei i n diesem Zusammenhang auf die Ode L'Esprit et L'Eau verwiesen — bezeichnen Sternenhimmel u n d Meer die gleiche psychische Wirklichkeit, u n d beide können demzufolge als synonyme Symbole gegeneinander ausgetauscht werden. M a n kann also durchaus am nächtlichen Firmament Sterne fischen; Sterne können aus dem Meer hervorgetauchte Fische sein, deren Schuppen unter dem Licht der Fackel — gemeint ist w o h l das Licht des Mondes, der ebenfalls weibliche A t t r i b u t e hat — zu leuchten beginnen. Das v o n uns ausgewählte Beispiel zeigt, daß Malicets methodischer Ansatz bei der inhaltlichen K l ä r u n g schwieriger Passagen v o n unbestreitbarem N u t zen sein kann. Dennoch mag sich der Eindruck einstellen, eine Interpretation, die das dichterische Universum z u m Pandämonium der Sexualität erklärt, werde Claudel nicht i n vollem U m f a n g gerecht. D i e Theorie Freuds, auf die Malicet sich ausschließlich beruft, liefert kausale Erklärungen für die v o r gefundenen psychischen Phänomene; für Freud ist jedes psychische Gebilde »die Resultante vorausgegangener psychischer Inhalte« 2 8 . Freud erklärt also, woher bestimmte psychische Manifestationen kommen, er stellt aber nicht — wie dies C. G. Jung t u t — die Frage nach der Finalität der Vorgänge, die sich i n unserem Unterbewußtsein abspielen. Diese finale Betrachtungsweise spricht der kausalen Methode keineswegs ihre Berechtigung ab, schließt aber die Frage an: W o z u dient dieser Traum? Was könnte diese oder jene Manifestation des Unbewußten bewirken? I m Anschluß an Malicets Fragen nach dem »Woher?« der v o n Claudel verwendeten Bilder wäre also ergänzend zu fragen: »Welchen Zweck verfolgen sie?« D i e wichtigsten Bildgruppen der Ode beziehen sich, wie schon gezeigt, auf die Vorstellung des geschlossenen Raumes. Das kausale Erklärungsprinzip führt die vorgefundenen Bilder auf eine noch nicht v ö l l i g überwundene Verhaftung an einen sexuellen K o n f l i k t des Kindheits- u n d Jugendalter zurück. Sublimierungen ins Geistige bzw. Religiöse werden z w a r nicht geleugnet, aber das geistige P r i n z i p erscheint nichtsdestoweniger als Anhängsel, als Nebenprodukt 2 9 . So spricht Malicet v o n der »réduction de l'image de 28 C. G. Jung, Über psychische Energetik Stuttgart 1965, S. 103. 29

Vgl. ebda., S. 69.

und das Wesen der Träume,

Zürich—

Albert Fuß

220

l'église à celle de la grotte et de la femme« 3 0 u n d der geradezu zwanghaften Vorstellung, die Grotte i n eine Kirche verwandeln zu müssen: »il faut métamorphoser la grotte en église« 31 . D i e D y n a m i k der Bilder könnte aber durchaus auch anders gesehen werden. Sie lassen sich nämlich alle i n einer Figur der »göttlichen Geometrie« (Po, S. 281) — dem Kreis bzw. dem Zentrum — zusammenfassen. Bezeichnenderweise setzt sich Malicet m i t dieser Figur, die als Abstraktionsgebilde i n perfekter Form eine Vielzahl v o n akzidentellen Manifestationen der Geschlossenheit, des Eingegrenztseins, der Fülle, der Endlichkeit wie der Unendlichkeit synthetisiert u n d damit auch deren mögliche Gegensätzlichkeit aufhebt, nicht auseinander. Claudel hat i n die fünfte Ode eine bedeutsame Definition des Kreises eingeflochten: »O p o i n t de toutes parts autour de m o i où s'ajustent les fins indivisibles« (Po, S. 281), w o m i t er eine Formel des Augustinus wiederholt u n d abwandelt. »Deus est figura intellectualis, cuius centrum est ubique, circumferentia vero nusquam« 3 2 . Während die Formel Augustins die i n G o t t gegebene Aufhebung der Gegensätze veranschaulichen sollte, erfährt sich i n unserer Ode der Dichter selbst als O r t einer »coincidentia oppositorum«. Das v o n der »gardienne du poëte« gepriesene geschlossene Haus ist nur einen M o m e n t lang etwas Äußerliches, eine W o h n u n g i m konkreten Sinn, i n die der Dichter sich wie i n einen schützenden Mutterschoß zurückziehen kann. Schon i n der V o r rede zu La maison fermée hatte der Dichter ausdrücklich festgestellt: »Pour être capable de contenir, i l faut que le poëte luimême soit fermée [ . . . ] . Apprenez à être fermé comme moi« (Po, S. 227). Er selbst ist derjenige, der i n seinem Herzen R a u m geschaffen hat, R a u m für G o t t , dessen perfektes Ebenbild er ist, u n d für die Schöpfung, die er, wie der alte Noe, i n die Arche seiner Innerlichkeit aufnimmt. D i e Bilder der Mütterlichkeit sind geblieben (Arche), aber sie liegen nunmehr i m Dichter selbst. E r selbst w i r d n u n fähig, als Sämann v o n Schweigen u n d Dunkelheit anderen Schutz u n d Sicherheit durch sein W o r t zu gewähren. E r hat jene menschliche Reife (»maturité de mon âge«, Po, S. 285) erreicht, die i h n klarsichtig erkennen läßt, daß sein inneres Bedürfnis nach Sdiutz, Wärme, Sicherheit u n d vollständigem A u f gehen nicht durch eine Projektion auf eine M u t t e r - oder Frauenfigur bzw. deren Ersatzsymbole zu erfüllen ist, sondern daß diese Projektionen wieder i n die eigene Innerlichkeit hineingenommen u n d verarbeitet werden müssen. Der Weg zu diesem Zustand innerer H a r m o n i e w a r nicht einfach. D i e v o r aufgegangenen Oden schildern einzelne Stationen des Scheiters. I n der 2. Ode 30

Malicet, a.a.O., Bd. I I . S. 203.

31

Ebda., S. 202.

32

Zitiert in C. G. Jung, Psychologie und Religion, Olten-Freiburg i. Br., S. 67.

Paul Claudels Fünfte Große Ode : La maison fermée

221

»zerspringt« die Seele des Diditers, w e i l es i h r nicht gelingt, den Schmerz über den Verlust der geliebten Frau auszuhalten: Et je suis là comme quelqu'un qui meurt, et qui étouffe et qui a mal au cœur, et toute mon âme jaillit comme un grand jet d'eau claire! (Po, S. 246).

D i e 4. Ode k l i n g t aus i n einer verzweifelten Klage über den eigenen Selbstverlust: Q u i a aimé l'âme humaine, qui une fois a été compact avec l'autre âme vivante, i l y reste pris pour toujours. Quelque chose de lui-même désormais hors de lui vit au pain d'un autre corps (Po, S. 276).

D i e Psychomachie der Oden findet also i n La maison fermée ein Ende u n d eine Lösung, da es dem Dichter gelingt, das Haus der eigenen Psyche gegen das v o n außen andrängende Chaos abzusichern u n d den Kreis, den er u m sich zieht, m i t den L i n i e n der göttlichen Geometrie zusammenfallen zu lassen. M i t dem Bildgefüge v o n Kreis u n d Zentrum verbindet sich eine weitere geometrische Figur, die der Aufmerksamkeit Malicets weitgehend entgangen ist, o b w o h l die Strophen 9 m i t 13 der Ode ausschließlich dieser Thematik gewidmet sind. Es handelt sich u m das Quadrat, das der Dichter dem Kreis seiner Seele einbeschreibt, indem er i m N o r d e n , Süden, Osten u n d Westen die vier Kardinaltugenden als Wächter an den Toren seiner inneren Stadt aufstellt. A n d r é Vachon hat demgegenüber m i t Recht auf die Bedeutung der Vierzahl verwiesen: »C'est parce qu'elles sont quatre, et non parce qu'elles sont des vertus, que Claudel remplace les neuf Muses par la Force, la Prudence, la Tempérance et la Justice« 83 . D i e Vierteilung des Kreises stellt den R a u m unter die F o r m des Kreuzes. Allerdings vermerkt Claudel diese T a t sache nicht eigens. D i e Idee der Quaternität als solche scheint i h n gefesselt zu haben, so als ob die Kreuzesform lediglich eine der Quaternität inhärente, gewissermaßen sekundäre Figur sei. Tatsächlich hat die Quaternität, ähnlich wie Kreis u n d Zentrum, als Ausdruck einer psychischen Realität eine lange Gesdiichte, deren Spuren i n den verschiedensten M y t h e n , aber auch i n Architektur u n d Kunst nicht zu übersehen sind. Nach C. G. Jung gehört die Z a h l Vier zu den Archetypen, jenen »Formen oder Bilder(n) kollektiver N a t u r , welche ungefähr auf der ganzen Erde als Konstituenten der M y t h e n u n d gleichzeitig als autochthone individuelle Produkte unbewußten Ursprungs vorkommen« 8 4 . D a ß Claudel dem Gedanken der Quaternität i n seiner Ode i n nicht weniger als vier vergleichweise langen Strophen intensiv nachgeht, 83

A . Vachon, a.a.O., S. 300.

84

C. G. Jung, Psychologie und Religion, a.a.O., S. 64.

Albert Fuß

222

erscheint recht ungewöhnlich, wenn man bedenkt, daß nicht die Vier, sondern die D r e i das zentrale christliche M o t i v ist. Eine Anspielung auf die T r i n i t ä t ist zwar auch i n La maison fermée erkennbar, wenn die »gardienne du poëte« i n der 2. Strophe auffordert: »Entends, comme une vie qui souffre division, le battement de notre triple cœur« (Po 3 S. 279), aber dieser Gedanke des einen Lebens, das sich i n dem »triple cœur« v o n M a n n , Frau u n d K i n d ausformt, w i r d seltsamerweise nicht weiterverfolgt. Nach C. G. Jung symbolisiert die »Vier [ . . . ] die Teile, Qualitäten u n d Aspekte des Einen« u n d steht immer m i t der »Idee einer weltschaff enden G o t t h e i t « 3 5 i n Verbindung. Gérard de Champeaux u n d D o m Sébastien Sterckx sehen i m Quadrat »un symbole incomparable de plénitude, d'universalité, u n symbole totalisateur« 3 8 bzw. den Ausdruck einer »stabilisation dans la perfection« 3 7 , was u. a. an ikonographischen Darstellungen des himmlischen Jerusalem belegt werden kann. T r i n i t ä t u n d Quaternität verweisen also auf die Einheit i n der Vielheit; beide beziehen sich eng auf Gottesvorstellungen. Es überrascht daher, daß Claudel sich für die V i e r u n d nicht für die durch das katholische Dogma so nachdrücklich abgesicherte D r e i entscheidet. Folgt man den Beobachtungen C. G. Jungs, muß man allerdings die Quaternität u n d nicht die T r i n i t ä t als Formel des Unbewußten für die Ganzheit annehmen 38 . D i e auffallende V o r liebe Claudels für die Quaternität erklärt sich möglicherweise aus der T a t sache, daß die T r i n i t ä t v o n »ausschließlich männlichem Charakter« ist 3 9 , w o m i t das Weibliche, das E r d - u n d Naturhafte, bzw. i n einem weiteren Verständnis, die Verhaftung des Geistigen an die Materie, m i t der i n der T r i n i t ä t gegebenen Vorstellung v o n Vollkommenheit u n d Einheit nicht vereinbar wäre. Für Claudel gehört aber das Weibliche unbedingt m i t zur V o r stellung einer harmonischen Einheit u n d Ganzheit. I n der 2. Fassung v o n La jeune fille Violaine hat der Dichter Anne Vercors folgende Worte i n den M u n d gelegt: Je n'ai point eu de fils. Mais chacun dans sa poitrine contient un homme et une femme, et qu'es-tu, ô ma fille, que l'épanouissement de ce qu'il y avait en moi de féminin. M a gloire secrète, ma beauté intérieure, le jaillissement de la tendresse et de l'innocence, la joie d'au-dessous de mon cœur, cette chose en nous qui donne 4 0 .

I n einem Text aus dem Jahre 1943 überträgt Claudel diese Auffassung audi auf die Person Gottes: 35

Ebda., S. 72.

36

G. de Champeaux, D o m S. Sterckx, Introduction Zodiaque 1956, S. 31.

au monde des symboles ,

37

Ebda., S. 30.

38

Vgl. C. G . Jung, Psychologie und Religion , a.a.O., S. 74.

39

Ebda., S. 78.

40

Zitiert bei Α . Vachon, a.a.O., S. 145 - 146.

Paul Claudels Fünfte Große Ode: La maison fermée

223

I l y a en Dieu, il y a dans l'infrangibilité divine quelque chose qui répond à Phomme et quelque chose qui répond à la femme [ . . . ] . Comme i l y a du mâle en Dieu, il y a aussi du féminin 4 1 .

André Vachon k a n n aus diesen u n d vielen anderen vergleichbaren Texten den Schluß ziehen: » I i existe pour l'homme une face de Dieu, qui est féminine. E t ensuite: i l existe une face cachée de l'homme — son âme — et celle-ci aussi est féminine« 4 2 . Es ist nicht auszumachen, inwieweit Claudel zu diesen Spekulationen durch die Lektüre mittelalterlicher oder noch älterer Philosophen angeregt wurde. Aus der Sicht des Psychologen hat C. G. Jung zur Frage der Quaternität u n d T r i n i t ä t überwältigendes Dokumentationsmaterial zusammengetragen, das i h n zu der Feststellung z w i n g t : »Es w a r i n der T a t ein großes Problem für das Mittelalter, dieses Mysterium der T r i n i t ä t einerseits u n d jene nur bedingte Anerkennung des weiblichen Elements, der Erde, des Körpers u n d der Materie schließlich, welche doch, i n Gestalt v o n Marias Schoß, die heilige Wohnstätte der Gottheit u n d das unerläßliche Instrument des göttlichen Erlösungswerkes waren« 4 3 . O b Claudel tatsächlich v o n diesen mittelalterlichen Diskussionen direkt beeinflußt w a r oder nicht, spielt i m übrigen nur eine untergeordnete Rolle, da es sich hierbei nicht nur u m längst überwundene theologische Spekulationen oder alchemistische Geheimniskrämerei handelt, sondern u m ein eminent aktuelles psychologisches Problem. Es geht u m die Anerkennung des anderen, unbewußten Teils der eigenen Persönlich-, keit, u m die Auseinandersetzung m i t der »Anima« oder dem »Schatten«, den, wie C. G. Jung meint, jeder i n sich trägt. Claudels Quadratur des Kreises zeichnet demnach eine heile, vielleicht geheilte, zumindest aber gereifte Persönlichkeit, die nicht nur ihre eigenen Spannungen auszuhalten versteht, sondern audi ihren Frieden m i t G o t t u n d dem Universum i m Bewußtsein einer maximalen Sinnfülle gefunden hat. A m Ende der Ode steht der Dichter wie ein Offiziant i n der M i t t e seines inneren Hauses, an dem P u n k t , i n dem der M i t t e l p u n k t des Kreises u n d des Quadrats zur Deckung gelangen u n d wendet sich an die Toten i m Fegfeuer, nachdem er vorher seinen Blick zu den Heiligen erhoben hatte. D i e Kommentierung dieser Stelle möchten w i r Gérard de Champeaux u n d D o m Sébastien Sterckx überlassen: Comme le cercle, le carré est une figure centrée. Et voici que le centre du carré coïncide avec le centre du cercle. Ce point commun est le grand carrefour de l'imaginaire. I l est le lieu favorable de toutes les ruptures de niveau, de tous les

41

Zitiert ebda., S. 142.

42

Ebda., S. 144.

43

C. G. Jung, Psychologie und Religion , a.a.O., S. 88.

224

Albert Fuß

passages d'un monde à un autre [ . . . ] . Par là on passe du ciel à la terre, et vice versa. Par là l'espace, le temps et l'éternité communiquent 44 .

D i e beiden Autoren beziehen sich allerdings m i t diesen Worten überhaupt nicht auf Claudel, sondern auf die mittelalterliche, insbesondere die romanische Symbolik, deren archetypischer Charakter durch das Gedicht Claudels eindrucksvoll illustriert w i r d . Auch die v o n Champeaux u n d Sterckx hervorgehobene Durchdringung v o n Raum, Zeit u n d Ewigkeit i m gemeinsamen Zentrum v o n Kreis u n d Quadrat läßt sich bei der angesprochenen Textstelle der Ode nachweisen. Der D i d i t e r - O f f i z i a n t zelebriert sein Opfer für die Toten »dans l'heure de M i d i « (Po, S. 291), jener Zeit also, die zwischen den Zeiten steht und, ähnlich wie die Ewigkeit alle Zeiten i n sich schließt. Claudels Ode mündet i n die Liturgie, die i n psychischer Hinsicht nichts Geringeres meint als die Feier einer seelischen H a r m o n i e unter dem V o r zeichen des Kreuzes, wobei der Mensch seine ganze N a t u r h a f t i g k e i t u n d Erdgebundenheit ebenso angenommen weiß wie seine Suche nach Sinn E r f ü l lung findet.

44

G . de Champeaux, D o m S. Sterckx, a.a.O., S. 31.

GEBET U N D A G I T A T I O N I N D E N P S A L M E N V O N ERNESTO C A R D E N A L

V o n Volker

Kapp

D i e Psalmen v o n Ernesto Cardenal sind politische u n d religiöse Dichtung zugleich. Sie benutzen die Gesänge des A l t e n Testaments als Waffe i m K a m p f für eine bessere O r d n u n g i n Lateinamerika. Sie beziehen sich auf die Verhältnisse i n Nicaragua v o r dem Sturz Somozas, aber sie haben auch nach der Revolution i m dortigen Lande nicht an Aussagekraft verloren u n d w i r k e n noch immer weit über die Grenzen dieses lateinamerikanischen Staates hinaus. H i e r i n erinnern sie an Dantes Divina Commedia , die ganz konkrete Situationen i m Italien des späten Mittelalters aufgriff u n d doch bis heute immer noch als Kunstwerk ersten Ranges gilt. Dantes Meisterwerk w i r d hier nicht erwähnt, u m die Gedichte des N i c a raguaners auf dieselbe Ebene zu stellen, sondern u m an allezu oft vergessene Maßstäbe zu erinnern. Es sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, daß der Rang v o n Dichtung nicht bloß an den Vorstellungen zu messen ist, die sie verbreitet. Leider ist diese Tatsache bei der Beurteilung v o n Cardenals Poesie immer wieder vergessen worden. Dantes W e r k läßt sich nicht auf die politischen und weltanschaulichen Ideen reduzieren, die zum Entstehen der Divina Commedia geführt haben. Ebensowenig darf man sich bei der Beurteilung v o n Cardenals Gedichten damit begnügen, deren theologischen oder politischen Aussagegehalt oder deren Zielsetzung zu bewerten. Eben dies t u n aber bis auf den heutigen Tag Befürworter wie Gegner v o n Cardenals p o l i tischen Ideen. Der Literaturwissenschaftler darf zwar die Aussage v o n Poesie nicht übergehen, d o d i darf er auch nicht die Form dieser Aussage vernachlässigen. Weltanschauliche Programme entscheiden nicht über den künstlerischen Wert v o n Dichtung. Dies sei hier Bewunderern wie K r i t i k e r n v o n Ernesto Cardenal gesagt. I m folgenden stehen die Psalmen als Dichtung zur Debatte. Dabei soll versucht werden, die Eigenart dieser Gedichte zu beschreiben u n d deren W i r k u n g zu verstehen. O b w o h l die Literaturwissenschaft heute w e i t h i n die literarische Wertung durch eine möglichst distanzierte u n d objektivierende Darstellung von Sachverhalten ersetzt hat, werden hier einige K r i t e r i e n genannt, mittels 15 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 23. Band

Volker Kapp

226

derer C a r d e n a l s D i c h t u n g bewertet w e r d e n k a n n . Solche B e w e r t u n g s m a ß stäbe sind z w a r anfechtbar, doch helfen sie, die Bedeutung dieser Poesie besser z u verstehen. Salmos

l a u t e t i m spanischen O r i g i n a l der T i t e l dieser Gedichtsammlung,

die z u den erfolgreichsten Büchern des A u t o r s u n d z u den a m meisten v e r breiteten W e r k e n zeitgenössischer religiöser L y r i k gehört. D e r B a n d erschien erstmals 1 9 6 4 u n d ist seither vielfach nachgedruckt w o r d e n . Übersetzungen i n mehrere Sprachen liegen v o r . D i e 1 9 6 7 erschienene deutsche Ausgabe t r u g den T i t e l Zerschneide

den

Stacheldraht.

D o r o t h e e Solle h a t t e ein V o r w o r t

beigesteuert, u n d sie w a r es w o h l auch, die z u s a m m e n m i t K u r t M a r t i den D i c h t e r bei uns lanciert u n d i n i h r e m eigenen Schaffen nachgeahmt h a t . I n zwischen t r ä g t die deutsche U b e r s e t z u n g ebenfalls den T i t e l Psalmen.

Sie ist

i n 2 2 1 0 0 0 E x e m p l a r e n v e r b r e i t e t , w i e m a n der 10. A u f l a g e v o n 1 9 8 0 entnehmen kann. Auflageziffern

sind k e i n K r i t e r i u m f ü r die Q u a l i t ä t , w o h l aber f ü r den

E r f o l g v o n Gedichten. Mussets L y r i k w a r i m F r a n k r e i c h des Second E m p i r e äußerst p o p u l ä r . Inzwischen ist sie v o n der m o d e r n e n Poesie eines B a u d e l a i r e v ö l l i g v e r d r ä n g t w o r d e n u n d gilt als T r i v i a l l y r i k . Religiöse K u n s t ist seit der H e r a u f k u n f t einer sich ihrer W e l t l i c h k e i t b e w u ß t w e r d e n d e n , p r o f a n e n W e l t i m 18. J a h r h u n d e r t zusehends v o m H a n g z u m T r i v i a l e n bedroht. D i e E h r lichkeit der E m p f i n d u n g u n d die d i r e k t e Ansprache des G l ä u b i g e n d r o h e n i m m e r w i e d e r die Suche nach einer f o r m a l e n B e w ä l t i g u n g der Aussage z u behindern, u n d so k o m m t es, d a ß die K u n s t v o n U n g l ä u b i g e n häufig religiös echter u n d w a h r e r als die gut gemeinte Bekenntniskunst v o n G l ä u b i g e n ist. D e s h a l b genügt es nicht, w e n n der Börsenverein des deutschen Buchhandels i n der U r k u n d e z u r V e r l e i h u n g des Friedenspreises i m Jahre 1 9 8 0 C a r d e n a l als "prophetischen Sucher nach W a h r h e i t " 1 lobt. D e n n dieses Suchen, dessen A t t r i b u t "prophetisch" überdies einer näheren K l ä r u n g bedürfte, m u ß z u r f o r m a l e n E r f i n d u n g führen, w e n n C a r d e n a l als D i c h t e r über den Augenblick hinaus w i r k e n soll. M a n h a t die religiöse L y r i k C a r d e n a l s z u Recht m i t der Theologie der R e v o l u t i o n i n V e r b i n d u n g gebracht u n d bei der W ü r d i g u n g des Friedenspreisträgers vielleicht noch m e h r seine politische als seine künstlerische A k t i v i t ä t hervorgehoben. Es ist bezeichnend, d a ß die L a u d a t i o nicht v o n einem Literaturwissenschaftler, sondern v o n einem T h e o l o g e n gehalten w u r d e .

In

der T a t f ü h r t e die A p o l o g i e der politischen T h e o l o g i e durch J o h a n n Baptist M e t z besser i n die programmatischen Bekenntnisse der D a n k e s r e d e des G e -

1 Ernesto Cardenal. Ansprachen anläßlich der Verleihung Deutschen Buchhandels, Frankfurt 1980, S. 5.

des Friedenspreises

des

Gebet und Agitation

227

ehrten ein als eine kritische W ü r d i g u n g der Poesie v o n C a r d e n a l durch einen Literaturwissenschaftler. G l e i c h w o h l k a m e n auch bei M e t z die Psalmen

zur

Sprache. E r meinte, i n i h n e n spreche C a r d e n a l "eine Gebetssprache, die die gesellschaftlichen K o n f l i k t e u n d L e i d e n g l a u b w ü r d i g i n sich a u f g e n o m m e n h a t u n d deutlich machen k a n n , was die Menschheit a n M ö g l i c h k e i t e n der Krisen-

u n d Leidenssprache

verlieren

würde,

wenn

die

jahrhundertealte

Sprache der Gebete aus ihr v e r s c h w ä n d e " 2 . D a s Defensive i n der A r g u m e n tationsstrategie dieser B e u r t e i l u n g ist ein beredtes Zeugnis für den desolaten Zustand

der Sprache religiösen Selbstverständnisses i n unserer Z e i t .

Der

Theologe M e t z scheint nicht e i n m a l i n der L a g e z u sein, den theologischen Ort

der v o n i h m b e w u n d e r t e n D i c h t u n g C a r d e n a l s einsichtig z u machen.

D a b e i ist dieser D i c h t e r durch seine politische U b e r z e u g u n g tatsächlich z u einer neuen F o r m religiösen Sprechens g e k o m m e n , die i n E u r o p a Aufsehen erregt h a t . D i e Psalmen

v o n C a r d e n a l b e n u t z e n die Gesänge des A l t e n Testaments

z u r Ü b e r m i t t l u n g einer politischen Botschaft. Sie sehen i n den U n t e r d r ü c k t e n v o n heute die Gerechten des A l t e n Bundes. D a s A l t e T e s t a m e n t v e r h e i ß t i n d e n Schriften aus der Z e i t v o r d e m E x i l den Gerechten G l ü c k u n d irdischen W o h l s t a n d . W e n n die Gerechten u m die Früchte ihres W o h l v e r h a l t e n s gebracht w e r d e n , so ist das die Schuld der F r e v l e r , die Jahwes O r d n u n g stören. Dementsprechend betet P s a l m 9 3 : Wie lange noch dürfen die Frevler, ο Herr, wie lange noch dürfen die Frevler frohlocken? Sie führen freche Reden, alle, die Unrecht tun, brüsten sich. (Ps 93, 3 - 4 ) D e r Psalmist ruft hier G o t t als A n w a l t der Gerechten an. E r f o r d e r t i h n a u f , endlich P a r t e i z u ergreifen u n d d e m Recht z u m Durchbruch z u verhelfen. C a r d e n a l n i m m t diese A u f f o r d e r u n g i n seinem Gedicht Dios

de las

venganzas

z u m T h e m a u n d deutet sie politisch. D a b e i w i l l er ausdrücklich, d a ß der Leser Bezüge z u m biblischen M o d e l l seines Gedichtes herstellt, denn er gibt hier w i e auch sonst i n den Salmos

i m U n t e r t i t e l die N u m m e r des Psalms der

V u l g a t a an, a u f d e n sich seine eigene Poesie jeweils bezieht. M a n c h e w ü r d e n i h m w o h l v o r w e r f e n , er verenge die Aussage des A l t e n Testamtents, w e n n er Gott

z u m politischen A n w a l t

der sozial Benachteiligten macht. D o c h er

w ü r d e dies sicher bestreiten, d e n n er sieht i n den O p f e r n unserer politischen Systeme die v e r f o l g t e n Gerechten, v o n denen die biblischen Schriften aus der Z e i t nach d e m E x i l h a n d e l n . Jesajas viertes L i e d v o m Gottesknecht ( I s 5 2 , 1 3 - 5 3 ) weist i n seinen A u g e n nicht nur a u f den Messias vergangener Z e i t , sondern auch a u f die Gerechten des Gottesreiches h i n , das nach d e m G l a u b e n 2

15*

Ebd., S. 26.

Volker Kapp

228

der C h r i s t e n i n Jesus Christus grundgelegt u n d a u f eine k ü n f t i g e V o l l e n d u n g h i n ausgerichtet ist. Stellt m a n zwischen den U n t e r d r ü c k t e n unserer Z e i t b z w . den

Opfern

heutiger politischer Systeme u n d den Gerechten i m Sinne der Bibel symbolische Bezüge her, so k a n n m a n m i t C a r d e n a l i n P s a l m 9 3 eine P r ä f i g u r a t i o n heutiger Verhältnisse sehen. A l l e r d i n g s braucht er d a z u keine " j a h r h u n d e r t e a l t e Sprache der G e b e t e " m e h r , w i e M e t z m e i n t , es sei denn, M e t z b e n u t z t das W o r t Sprache i n übertragenem Sinne. E r benötigt auch keine " K r i s e n - u n d Leidenssprache", sofern es so etwas ü b e r h a u p t gibt. E r begehrt m i t d e n F o r m e l n biblischen Betens u n d der Sprache politischer P r o p a g a n d a gegen p o l i tische U n t e r d r ü c k u n g u n d soziale Ungerechtigkeit a u f u n d v e r b i n d e t somit G e b e t u n d A g i t a t i o n . D a s Ergebnis dieses Prozesses sind d a n n überraschende Verse w i e die f o l g e n d e n : ^Hasta cuândo Senor? ^Hasta cuàndo Senor triunfara su Partido? Sus palabras son pura propaganda y no hablan sino slogans Defiende Senor a los explotados y a las clases oprimidas Los ateos dicen que no existes3 Dieses Beten erinnert peinlich a n die Schlagworte v o n Propagandisten. W i r d es dadurch besser, d a ß es P r o p a g a n d a durch G e g e n p r o p a g a n d a ersetzt? M u ß nicht P r o p a g a n d a i m m e r m i t echtem Beten u n v e r e i n b a r bleiben? H ä t t e n w i r es bei den Salmos

m i t tatsächlichen G e b e t e n z u t u n , so m ü ß t e m a n nach d e m

Bewußtseinszustand dieses Beters fragen. D e n n Beten ist f ü r einen religiösen Menschen etwas g a n z Persönliches, selbst w e n n er die ü b e r k o m m e n e n F o r m e l n liturgischen Sprechens b e n u t z t . Es ist aber k a u m a n z u n e h m e n ,

daß

C a r d e n a l Propagandaslogans denselben Status w i e der liturgischen Sprache der Kirche zuschreibt. Es ist auch recht unwahrscheinlich, d a ß er einen Beter v o r f ü h r e n möchte, der seine eigene Sprache v e r l o r e n u n d b l o ß noch die P r o pagandaformeln Salmos

der P o l i t i k e r

zur Verfügung

h a t . Folglich k ö n n e n seine

nicht als Ausdruck persönlichen Betens gedacht sein. Sie sind künst-

lerische G e b i l d e , die eine höchst k o m p l e x e sprachliche S t r u k t u r besitzen u n d nichts m i t religiöser S p o n t a n e i t ä t z u t u n haben. Es ist die Besonderheit der Salmos,

politische Schlagworte i n ein Geflecht

religiöser S y m b o l i k einzubetten u n d somit die religiöse B e d e u t u n g des p o l i tischen K a m p f e s w a h r n e h m b a r z u machen. D e r W i d e r s t a n d s k ä m p f e r u n d der Ausgebeutete k e n n e n lediglich ihre N o t u n d e m p ö r e n sich gegen die U n t e r 3 Ernesto Cardenal, Salmos, Cuadernos Latinoamericanos 1, Buenos Aires — Mexico «1974, S. 49.

Gebet und Agitation

229

drückung. Für sie hat also Empörung einen rein instrumentalen Charakter; sie dient zur Veränderung der Verhältnisse u n d ist nur insoweit v o n Bedeutung, als sie zur tatsächlichen Veränderung der bestehenden O r d n u n g beiträgt. Nicht so bei Cardenal. Er sieht i n diesem K a m p f einen Teil des Ringens zwischen dem Guten u n d dem Bösen. Er möchte die Leiden des Geknechteten als Teilhabe am Leiden Christi für die Erlösung der W e l t verstehen. Er sieht dieses Verständnis christlicher Existenz dadurch gerechtfertigt, daß Christus sich m i t den A r m e n dieser W e l t solidarisiert hat. Seine Salmos verdanken dieser theologischen Sicht politischen Kampfes ihre eigentümliche literarische Struktur. D i e Salmos lehren denen, die Revolution als ein rein politisches u n d profanes Ereignis verstehen wollen, daß der K a m p f für eine bessere W e l t eine Möglichkeit des M i t w i r k e n s an Christi Heilswerk für die W e l t ist. Der Dichter bedient sich der Sprache des politischen Kampfes, u m dessen religiösen Sinn aufzudecken. Für i h n ist dieses religiöse Verständnis der Revolution ein originaler Beitrag z u m Aufbau einer besseren Welt. Erst durch den Glauben w i r d nämlich bereits das Leiden der Geknechteten als Baustein für eine neue Welt verständlich. Das rechte Erfassen und Deuten der menschlichen N o t durch den Dichter w i r d zum Gebet, das G o t t zum Verbündeten der Geschundenen macht. Doch bleibt es A g i t a t i o n , w e i l diese Dichtung dem U n t e r legenen recht gibt u n d i h n zur Fortsetzung seines irdischen Kampfes ermuntern w i l l . Dies führt natürlich zu einer Einengung des biblischen Textes u n d zu einer Vereinseitigung der religiösen Aussage. Doch gewinnt dafür die Propagandaformel eine religiöse Suggestivkraft, die das religiöse Sprechen heute w e i t h i n verloren hat. Die Salmos sind Ausdruck der Krise religiöser Sprache i n der Literatur unserer Zeit u n d doch Zeugnis eines starken Glaubens. Sie stellen den Versuch dar, eine alte literarische T r a d i t i o n m i t neuen M i t t e l n weiterzuführen. D e n n Psalmenparaphrasen sind i n der Geschichte der Literatur häufig anzutreffen u n d werden erst i m 19. Jahrhundert seltener. Doch könnte man beispielsweise noch Ignaz Heinrich Freiherr v o n Wessenbergs deutsche Vespern u n d Metten zur Karwoche als solche bezeichnen. Sie wurden 1812 durch das Konstanzer Gesangbuch verbreitet u n d bis i n unsere Zeit nachgedruckt. Wessenbergs Texte sind auf die Bedürfnisse der Liturgie zugeschnitten. Cardenals Salmos nicht. Cardenal w o l l t e vermutlich der Tatsache Rechnung tragen, daß das Sakrale u n d seine Sprache i n Randzonen des öffentlichen Bewußtseins gedrängt worden sind. Deshalb reduziert er deren A n t e i l an seinen Gedichten auf ein M i n i m u m , u m v o n den negativ besetzten Konnotationen der Frömmigkeitssprache loszukommen u n d die K o n k r e t i o n der alttestamentarischen Aussage zurückzugewinnen. Dieses Konkrete k a n n einem Deutschen dann

230

Volker Kapp

zum Ärgernis werden, wenn er die Salmos zu einem universalen Ausdruck heutigen christlichen Dichtens u n d Denkens stilisiert. D i e eingangs zitierte Paraphrase v o n Psalm 93 meint m i t Partei, Propaganda, Atheisten die kapitalistischen D i k t a t o r e n Lateinamerikas u n d nicht die Machthaber der Ostblockländer, an die ein europäischer Christ zunächst hier denken würde. Cardenal geht davon aus, daß die kapitalistischen Ausbeuter genauso Atheisten sind wie die sie bekämpfenden Marxisten. Er ist überzeugt, daß man nicht soziale Ungerechtigkeit befürworten u n d dem Nächsten das i h m Zustehende vorenthalten kann, wenn man an die Gerechtigkeit Gottes glaubt u n d Christus für den Bruder der A r m e n hält. So paktiert er m i t den Marxisten, deren soziale Ideen er teilt, deren W e l t b i l d er jedoch für falsch hält. Er stellt sich bewußt zwischen die üblichen Fronten v o n Christen u n d Marxisten, was i m heutigen Lateinamerikas vielleicht weniger M u t erfordert als i m derzeitigen Europa. Dies bringt ihm Sympathie bei den einen, Ablehnung v o n den andern. Wer seinen Standpunkt nicht teilt, sollte i h m jedoch nicht leichtfertig Opportunismus oder politische Blindheit vorwerfen dafür, daß er die Propagandaformeln u n d -ideen der lateinamerikanischen Revolutionäre i n seine Salmos aufnimmt u n d gleichzeitig verschweigt, daß hinter dem Eisernen Vorhang i m N a m e n des Sozialismus ähnliche Unterdrückung praktiziert w i r d wie i n seinem L a n d u n d i n seinem K o n t i n e n t i m N a m e n der Freiheit des Individuums. Für i h n als Christen ist die Bedrohung der Menschenwürde durch die lateinamerikanischen D i k t a toren handgreiflicher als die Verfolgung der Christen i n den ferneren Ländern des östlichen Machtblockes. Als europäischer Christ w i r d man vielleicht m i t i h m über seine Darstellung Kubas 4 rechten und über seine Einschätzung des Marxismus streiten wollen. Doch sollte man sich klar machen, daß seine Salmos aus der konkreten politischen Situation eines lateinamerikanischen Landes entstanden u n d i n erster Linie für die dortigen Verhältnisse bestimmt waren. M a n darf diese Gedichte nicht v ö l l i g v o m dortigen politischen K o n text lösen, sonst n i m m t man ihnen ihre Konkretheit u n d verfälscht sie. Dies aber ist bei der ersten Cardenal-Rezeption i n Europa w e i t h i n geschehen. D i e Salmos haben i m Frankreich der M a i - U n r u h e n v o n 1968 u n d unter den deutschen Sympathisanten der dortigen Studentenrevolte offene Ohren gefunden. Eine Untersuchung der Zeugnisse über diese erste Lektüre der Gedichte könnte sicher zeigen, daß viele Mißverständnisse bei der Deutung dieses Dichters durch die europäischen Christen am Werke waren. Sie erkannten sich i n den v o n i h m benutzten Schlagwörtern wieder u n d vernachlässigsten dabei den K o n t e x t , auf den sich der Dichter bezieht. Er greift t a t sächliche Situationen auf u n d verliert sich nicht nur i n vagen politischen 4

Vgl. Ernesto Cadernal, En Cuba, Barcelona 1977.

Gebet und Agitation

231

Sympathien. Seine Solidarität m i t revolutionären Bewegungen ist mehr als intellektuelle Träumerei. D i e v o n i h m aufgegriffenen Schlagworte erhalten erst durch seine künstlerische Verarbeitung ihre konkrete Stoßkraft, doch diese Verarbeitung konnten alle jene gar nicht wahrnehmen, die die Salmos nur aus der deutschen Ubersetzung kannten. D i e deutsche Übersetzung der Salmos bemüht sich v o r allem u m die Übertragung der semantischen I n f o r m a t i o n syntaktischer Einheiten, während sie die sprachliche Faktur des Originals sträflich vernachlässigt. Z w a r ist L y r i k immer schwer zu übersetzen, doch ließen sich manche der v o m Übersetzer vernachlässigten Elemente mühelos übertragen. So ist beispielsweise nicht einzusehen, w a r u m der deutsche Text die Aussage durch korrekte Interpunkt i o n gliedert, während Cardenal i n den v o n m i r konsultierten Ausgaben der Salmos systematisch auf K o m m a u n d P u n k t verzichtet. Auch die A n o r d n u n g des Druckbildes hat der Übersetzer stark verändert. Cardenal spielt m i t leeren Räumen, der Übersetzer nicht. Er versucht selten die rhetorischen Figuren des Originals nachzubilden. Dadurch entsteht der Eindruck des Kunstlosen, der es verwunderlich macht, w a r u m sich Leser für diese Gedichte begeistern konnten. D i e deutsche Ausgabe der Psalmen hat etwas Antikünstlerisches an sich, das spanische O r i g i n a l ist hiervon jedoch weit entfernt. Es setzt gezielt sprachkünstlerische Techniken ein, u m bewußt den Eindruck des Spontanen zu erwecken, der jedoch ein Produkt künstlerischen Planens ist. Seine Verwendung abgegriffener Klischees aus dem politischen K a m p f ist mehr als bloße Propaganda. Cardenal erhebt den Anspruch, aus einer höchst kunstvollen Verschränkung einzelner Elemente der politischen Propaganda religiöse Aussage u n d Sprachkunst entstehen zu lassen. E i n Beispiel möge sein Vorgehen verdeutlichen. Psalm 129 ist i n der Bibel ein Wallfahrtslied, das die N o t des Menschen besingt u n d G o t t u m seinen Beistand bittet. D i e katholische Kirche betet diesen Psalm bei der Begräbnisfeier, w o sich die Gemeinde gleichsam m i t dem Verstorbenen identifiziert u n d i n seinem N a m e n G o t t u m Nachsicht für die menschlichen Schwächen bittet. Cardenal legt die Worte des Psalmisten einem Gefangenen i n den M u n d , der "en la noche en la camara de t o r t u r a " 5 klagt. W i e bedeutungsvoll dieser T i t e l ist, w i r d einem bewußt, sobald man i h n m i t der deutschen Übersetzung vergleicht, die " I c h flehe Dich an i m K o n zentrationslager"® lautet. Der Übersetzer hat die umständlich klingende 5 6

Cardenal, Salmos, S. 59.

Ernesto Cardenal, Psalmen. M i t dem Brief an das V o l k von Nicaragua. Deutsch von Stefan Baciu, Wuppertal 1 0 1980, S. 35. Der deutsche Ubersetzer fügt in der ersten Strophe erläuternd "und während des Kreuzverhörs" als Kommentar zu Vers 5 hinzu, macht dadurch die erste Strophe zu einem sechsversigen Stück und zerstört damit die Zahlensymmetrie des Gedichts.

Volker Kapp

232

Formulierung " i n der Nacht der Folterkammer" durch die griffigere Formel " i m Konzentrationslager" ersetzt. Er weckt damit bei seinem Leser Assoziationen an die Opfer des Nationalsozialismus, v o n denen i n diesem Gedicht nicht die Rede ist. D a f ü r unterschlägt er die Gleichzeitigkeit v o n konkreter u n d übertragener Bedeutung des Bildes der Nacht, das den ganzen Text durchzieht u n d sicher auch an die mystische Nacht erinnern soll, die einem Juan de la Cruz Gedichte eingab, deren Kenntnis man bei dem ehemaligen Mönch Cardenal voraussetzen kann. D i e religiöse Aussage des Gedichtes w i r d dadurch v o m Übersetzer abgeschwächt, während gleichzeitig die politische Tragweite des Textes verallgemeinert w i r d . Das Gedicht bekommt eine andere Richtung. D i e erste Strophe des Gedichtes lautet folgendermaßen : Desde lo profundo clamo a t i Senor! Clamo de noche en la prisión y en el campo de concentración E n la càmara de torturas en la hora de las tinieblas oye mi voz mi S. O . S. 7

Diese Strophe ist durch die A m p l i f i c a t i o n des ersten Verses des biblischen Psalms entstanden. Der erste Vers des Psalms bildet den ersten Vers der ersten Strophe des Gedichts, der zweite steht i n leicht gekürzter F o r m i m vorletzten Vers der Strophe. Der zweite Vers n i m m t das " c l a m o " des biblischen Textes auf u n d verdeutlicht, was m i t " l o p r o f u n d o " gemeint ist: " l a prisión" und "el campo de concentración". Vers 4 " E n la càmara de torturas" bildet die M i t t e der sieben Verse, aus denen die erste Strophe besteht. Er enthält zugleich die höchste Stufe der K o n k r e t i o n des biblischen Textes. D e r fünfte Vers ist dann gezielt polysem angelegt, u m v o m Konkreten zum Allgemeinen zurückzuleiten. D i e Wendung "en la hora de las tinieblas" benutzt "Finsternis" einerseits als Ausdruck für die Verlorenheit des Gemarterten u n d andererseits als Sinnbild für die N o t des Sünders, v o n der dann die zweite Strophe des Gedichtes handelt. H i e r zeigt sich, daß Cardenal zwar aus dem biblischen Text die Figur des Parallelismus übernimmt, daß er ihr jedoch eine neue F u n k t i o n zuschreibt: sie dient genauso wie die A m p l i fikation zur Transposition der biblischen Aussage i n die Gegenwart. Sie stellt Bezüge her, die erst durch das Z u t u n des Dichters erkennbar werden. Cardenal zieht alle Register künstlerischer Strukturierung, u m die Ebene des Profanen u n d die des Religiösen ineinanderzublenden u n d so miteinander zu verschränken, daß beide nicht ineinander übersetzt werden. Seine Salmos 7

Cardenal, Salmos, S. 59.

Gebet und Agitation

233

leben aus der Spannung zwischen diesen beiden Bestandteilen u n d sind nach meiner Meinung auch nur dann w i r k l i c h gelungen, wenn dieses fruchtbare Nebeneinander bestehen bleibt u n d eine Spannung erzeugt, die weder politiseli noch religiös aufgehoben werden kann. Würde das Politische ins Religiöse übersetzt, so entstünde das utopische Schwärmertum, das eine Gefahr seiner Prosaschriften ist. D i e Dankesrede bei der Verleihung des Friedenspreises zeigt, was herauskommt, wenn Cardenal politische Programme zu religiösen Konfessionen macht. Würde aber das Religiöse v o m Politischen vereinnahmt, dann blieben nur mittelmäßige Propagandaverse übrig. D i e besten Stücke der Salmos bewegen sich auf dem schmalen G r a d zwischen diesen beiden Versuchungen des literarischen Dilettantismus. Die kunstvolle Anlage der Salmos ist i n Gedichten wie dem zitierten am überzeugendsten, w o der Eindruck entsteht, die biblische Aussage sei unmittelbar auf die Situation des politischen Gefangenen gemünzt. Zeugnisse über die Qualen der Folter gibt es oft i n den Schriften der politischen Gefangenen 8 . Doch Cardenals Gedicht geht über das Episodische hinaus u n d sucht die erschütternde menschliche Q u a l i n ein Zeichen der Anklage u n d gleichzeitig i n einen Zuspruch v o n Trost zu verwandeln. Eines der Verfahren, m i t dem es dies erreicht, ist die Zahlenkombinatorik. Das Gedicht Clamo en la noche en la cimar a de tortura besteht aus 21 Versen, die auf f ü n f Strophen verteilt sind. D i e Strophen 2 - 4 sind i n 4 u n d 3 bzw. 3 u n d 4 Verse aufgeteilt. D i e Strophen 4 u n d 5 sind also spiegelverkehrt den Strophen 2 u n d 3 nachgebaut. Z w e i dieser Strophenpaare ergeben jeweils sieben Verse, wie sie audi die erste Strophe besitzt. Diese Zahlenkombinat o r i k bringt eine vielfache Verschränkung der Strophen hervor, die durch Spiegelungen der politischen u n d der religiösen Aussagen zu einer wechselseitigen Kommentierung v o n historischer Erfahrung u n d Schriftwort beitragen. A u f diese Weise gelingt es dem Dichter, politische A g i t a t i o n u n d Gebet miteinander zu verquicken, ohne daß die eine dem andern abträglich w i r d . N u r diese A r t v o n Symbiose beider Elemente macht die Salmos zu Kunst, wie umgekehrt gilt, daß nur durch die Kunst ein derartiges Ergebnis u n d eine so geartete Aussage möglich w i r d . Cardenals Psalmenparaphrase erinnert an die figurale Schriftdeutung, der sie allerdings eine neue Wendung gibt. D i e figurale Schriftlektüre verankerte die geistliche Erfahrung des Pneumatikers i n den biblischen Texten. Der v o m Geist erfüllte Mensch, so argumentierte etwa Origenes, sieht i n der Schrift mehr als der einfache Leser, der am Buchstaben kleben bleibt. Der Dichter 8 Vgl. Bernadette Morand, Les écrits des prisonniers S. 1 0 5 - 1 1 6 .

politiques , Paris 1976,

234

Volker Kapp

der Salmos spricht ebenfalls als ein Wissender, doch wendet er sich nicht dem religiösen, sondern dem profanen Bereich zu. Er möchte weder belehren noch bekehren, denn er fragt gar nicht nach der religiösen Gesinnung des Geknechteten. D i e Salmos sollen den Widerstand gegen das Unrecht bestärken, indem sie die Solidarität Gottes u n d der Gläubigen m i t dem Oppositionellen herausstellen u n d die Gemeinschaft der Gleichgesinnten an die Stelle der Gemeinschaft der Gläubigen setzen. Cardenal deutet z w a r die Situation des Geknechteten i m Lichte seiner eigenen religiösen Erfahrung, er fragt jedoch nicht nach der religiösen Uberzeugung des Adressaten seiner Gedichte. Dorothee Solle hat richtig gesehen, daß i n den Salmos die Solidarität an die Stelle der D o g m a t i k t r i t t 9 . H i e r i n unterscheidet er sich v o n B l o y u n d Péguy, die Solidarität m i t den A r m e n immer kirchlich dachten u n d christologisch fundierten 1 0 . M a n kann i n den Salmos zwar Bezüge zu Jesu Selbstverständnis als leidender Gottesknecht finden, doch sind die theologischen I m plikationen dieser Bezüge nirgendwo ausformuliert u n d geklärt. Dies hängt damit zusammen, daß diese L y r i k theologisch eher seicht ist, wenn man sie m i t der Tiefe religiösen Denkens vergleicht, die i n der sich christlich nennenden Literatur der ersten Jahrhunderthälfte anzutreffen w a r 1 1 . Doch ist diese Abstinenz ihrerseits eine Folge des neuen theologischen Verständnisses von Dichtung, das man vielleicht besonders gut durch einen Vergleich m i t Dantes Divina Commedia verdeutlichen kann. Dante wie Cardenal deuten Geschichte als Sinnbild des Heils, das ein Mensch i m Laufe seines Lebens erlangen, aber auch verspielen kann. Für beide entscheidet sich i m Gang der Geschichte je neu das D r a m a der Erlösung, das m i t der Menschwerdung Gottes eine entscheidende Wendung genommen hat. Die Divina Commedia deutet diesen Vorgang, wie Erich Auerbach ge9 "Nirgends taucht ein Trost auf, der die Getrösteten der Erde untreu machte. Denn zur Diesseitigkeit, wie sie hier jüdisch und christlich verstanden ist, gehört die Solidarität mit allen Rechtlosen, das Geschrei mit allen Leidenden [ . . . ] die Kategorie der Solidarität, die hier zu Wort kommt, läßt sich nicht historisch begründen, empirisch aufzeigen, rassisch oder völkisch festigen. Sie ist im strengen Sinne des Wortes eine mystische Kategorie : Die Solidarität des Leidens wird im Glauben ergriffen" ("Nachwort", in Ernesto Cardenal, Zerschneide den Stacheldraht, W u p pertal 1968, S. 66). 10 Vgl. Albert Béguin "La Pauvreté et l'Argent", in Léon Bloy. Pour le vingtsixième anniversaire de sa mort, Les Cahiers du Rhône 11, Neuchâtel 1944, S. 5 7 - 8 6 . 11 So schrieb Hans Urs von Balthasar über Péguy: "Vielleicht ist, nach der langen Geschichte der platonischen Variationen in der christlichen Geistesgeschichte die Kirche nie eindeutiger in die Welt eingewiesen worden, wobei doch die Weltidee von jedem Anflug ungeprüfter Begeisterung, von Mythologie und Erotik ebenso wie von Fortschrittsoptimismus freibleibt. Biblische Nüchternheit und Keuschheit des Denkens schenkt unbestechliche Hellsicht für die Welt, wie sie wirklich ist, grandeur et misère" (Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik, Band 2 Fächer der Stile, Einsiedeln 1962, S. 772 - 773).

Gebet und Agitation

235

zeigt hat, v o m Ziel der Geschichte her; damit erklärt sich Dantes kühner Anspruch: Die gesamte irdisch-historische Welt, die zu seiner Kenntnis gelangt war, als schon dem endgültigen Urteil Gottes unterworfen und somit an ihren eigentlichen, ihr nach der göttlichen Ordnung zukommenden Platz gestellt, als schon gerichtet vorzustellen, und zwar so, daß er die einzelnen Gestalten in ihrem eschatologischen Endgeschick nicht etwa ihres irdischen Charakters beraubt oder auch nur ihn abschwächt, sondern indem er die äußerste Steigerung ihres individuellen irdischhistorischen Wesens festhält und sie mit dem Endgeschick identifiziert. {Dante als Dichter der irdischen Welt, Berlin 1929, S. 108.)

Dantes Vision stellt das Äußerste dar, was der Christ i n der Deutung der Geschichte mittels literarischer F i k t i o n leisten kann. Wie bei i h m so w a r auch bei den sich christlich nennenden Dichtern u n d Schriftstellern seit dem Ende des letzten Jahrhunderts der Ehrgeiz vorhanden, Welt u n d Geschichte v o n der anderen Seite her zu zeigen u n d gleichsam m i t den Augen Gottes zu verstehen. Claudels Drama Le Soulier de Satin (1930) rollt i n diesem Sinne nochmals die totale Schau eines Stücks Geschichte auf, doch betont es die U n durchdringbarkeit des göttlichen Erlösungsmysteriums 12 . Schon v o r i h m hatte Péguy i n seinen Mysterienspielen Le porche du mystère de la deuxième vertu (1911), Le mystère des saints Innocents (1912) sowie i n seinem unvollendeten Stück Eve (1913) die H o f f n u n g als letzte Bastion für die umfassende Sinnstiftung beschworen, die einer heillosen W e l t entgegengehalten w i r d . Sie alle meinten noch, auf die Versöhnung der Gegensätze am Ende der Geschichte nicht verzichten zu können, weil sonst das v o m Dichter vorgestellte Exempel seine religiöse Aussagekraft verlieren würde. A u f diese Versöhnung durch eine wie immer geartete Vorwegnahme des Zustands am Ende der Zeiten verzichtet Cardenal ganz bewußt 1 3 . Es fragt sich jedoch, ob man diesen Verzicht als eine Schwäche ansehen muß. Der theologische Tiefgang der neueren christlichen Literatur hatte eine Kehrseite, auf die bereits 1956 Hans Egon Holthusen i n seiner Besprechung der Bernanos-Monographie v o n Hans Urs v o n Balthasar hingewiesen hat. Er warnte dort v o r der Gefahr, daß die Gedankenfracht das eigentlich Sprachkünstlerische erstickt 1 4 . I n jüngster Zeit hat Paul K o n r a d K u r z dieses Ubergewicht des Gedanklichen der allegorischen Dichtung v o n Silja Walter vorgeworfen 1 5 . Holthusen betonte seinerzeit, daß "dem Kunstwerk ein 12 Vgl. Verf., "Claudel und die Modernität", Literaturwissenschaftliches N . F. 14 (1973), S. 436 - 442.

Jahrbuch

13 Vgl. José Promis Ojeda, "Espiritu y materia. Los 'Salmos* de Ernesto Cardenal", in Ernesto Cardenal poeta de la liberación latinoamericana , Buenos Aires 1975, S. 3 0 - 3 1 . 14 15

"Bernanos als Dichter der Kirche", Hochland 48 (1956), S. 267 - 278.

Über moderne S. 245 - 250.

Literatur

IV.

Standorte

und Deutungen, Frankfurt

1973,

Volker Kapp

236

Wahrsein sui generis zu eigen ist, das durch den Wahrheitsbegriff der Theologie nicht erfaßt werden k a n n " (ebd., S. 278). Er meinte, Reinhold Schneiders L y r i k sei nichts als versifizierte Theologie. Doch w a r es ausgerechnet Schneider, der sich als erster v o n der so verstandenen K o n z e p t i o n einer christlichen Literatur abwandte und dabei den Bruch m i t seinem Freund u n d Interpreten Hans Urs v o n Balthasar i n K a u f nahm. I m Winter in Wien, dem bedeutendsten seiner Spät werke, vollzieht er "die Revision eines historischanthropozentrischen Weltbildes unter erd- u n d kosmosgeschichtlicher Perspektive" 1 6 . Schneider w ä h l t hierfür die "genau bedachte, nur scheinbar assoziative Tagebuchform " (ebd., S. 206), die schon bei Bernanos i m Journal d'un curé de campagne zur Hinterfragung einer schier selbstverständlichen V o r stellung christlicher Weltsicht gedient hatte 1 7 . Er ist nicht allein m i t seinem Zweifel an der v o n i h m selbst praktizierten Verbindung v o n theologischer Spekulation u n d dichterischer Fiktion. Pierre Emanuel hat sich unabhängig v o n Schneider ebenfalls v o m Programm einer christlichen Dichtung distanziert. Er schrieb i n Evangéliaire , man könne höchstens als Christ Dichter, aber keinesfalls ein christlicher Dichter sein 18 . I n diesem Sinne sieht Cardenal seine Salmos als poetischer Ausdruck eines Christen an, der als Priester m i t den A r m e n solidarisch sein w i l l und seine Sicht der Verhältnisse k u n d t u t , ohne bei seinem Leser das Einverständnis eines Glaubenden vorauszusetzen. Dieses Vorgehen bringt bei den politischen Gesängen neue, u n d teilweise überzeugende Ergebnisse. Bei den reinen Lobgedichten ist es jedoch eher problematisch. Der beste Lobpreis findet sich i n der Paraphrase v o n Psalm 150, m i t der die Sammlung schließt: Alabad al Senor en el cosmos Su santuario de un radio de 100.000 millones de anos luz Alabadle por las estrellas y los espacios inter-estelares alabadle por las galaxias y los espacios inter-gaUxicos alabadle por los dtomos y los vacios inter-atómicos 19 1β Wolfgang Frühwald, " I n der Finsternis des Griechenbeisels. Literarische Sprach- und Deutungstraditionen in Reinhold Schneiders 'Winter in Wien' 1957/58", in Widerruf oder Vollendung. Reinhold Schneiders "Winter in Wien" in der Diskussion, Freiburg 1981, S. 207. 17 Vgl. Verf., "Die Romanstruktur als Problem der Poetik des Christentums in 'Sous le Soleil de Satan' von Georges Bernanos", Literaturwissenschaflliches Jahrbuch N . F. 16 (1975), S. 2 3 7 - 2 4 2 . 18

Paris 1969, S. 16.

19

Cardenal, Salmos, S. 67.

Gebet und Agitation

237

Cardenal zitiert den Eingangsvers des biblischen Textes zu Beginn seines Gedichts, kürzt dessen zweiten Halbvers u n d kompensiert die Reduzierung des biblischen Parallelismus durch eine A m p l i f i k a t i o n m i t astronomischen Informationen über den Kosmos. Er hebt jedoch die Präzision der naturwissenschaftlichen Fachterminologie i m zweiten Lobpreis des Gedichts alsbald wieder auf, indem er jeweils den zweiten Halbvers m i t Derivationen u n d Komposita des terminus technicus i m ersten Halbvers bestückt. Dadurch entsteht Echowirkung u n d Assonanz. I m dritten Lobpreis verfährt er m i t Bildern aus der W e l t der M u s i k ganz ähnlich. D i e mißlungene deutsche Übersetzung offenbart die Schwäche dieses Verfahrens 2 0 . Doch ein wohlmeinender Bewunderer des Dichters findet sogar die Geschmacksverirrung noch gut, die durch die Unfähigkeit des Übersetzers entstanden ist. Paul K o n r a d K u r z schreibt nämlich i n seiner Besprechung der deutschen Übersetzung: " D e r letzte, Psalm 150, stimmt das Gotteslob aus der Kenntnis heutiger Astronomie u n d dem Gebrauch heutiger Musikinstrumente a n " 2 1 . M a n würde gerne wissen, was solche Kenntnisse m i t Dichtung zu tun haben sollen, doch darüber erfährt man v o m Rezensenten nichts. Das spanische O r i g i n a l gewinnt jedenfalls seinen künstlerischen Reiz nicht aus der bloßen Übertragung biblischer i n moderne Bilder, sondern aus deren kompositorischer Strukturierung. D e n n dort erhält das verwendete Wortmaterial erst durch die Parallelismen u n d Antithesen eine gewisse Aussagekraft. W o diese Strukturierung nicht erkennbar ist, treten künstlerische u n d religiöse Aussage i n Spannung zueinander. Dies ist i m vorletzten der Salmos der Fall, w o ebenfalls ein Lobpreis vorliegt. Das vorletzte Gedicht paraphrasiert Psalm 148. Wie i n den übrigen Psalmen sucht Cardenal auch hier die Distanz zwischen biblischer und moderner W e l t durch eine Analogie der Situation des Beters u n d durch Assoziation v o n verwandten syntaktischen, semantischen u n d phonetischen Mustern zu 20

Die deutsche Übersetzung lautet :

Lobet den H e r r n des Kosmos, das Weltall ist sein Heiligtum mit einem Radius von hunderttausend Millionen Lichtjahren, Lobt ihn den H e r r n der Sterne und der interstellaren Räume, Lobt ihn den H e r r n der Milchstraßen und der Räume zwischen den Milchstraßen, Lobt ihn den H e r r n der Atome und der Vakuen zwischen den Atomen, (Cardenal, Psalmen y S. 40). 21

Über moderne Literatur

I V , S. 260.

238

Volker Kapp

überbrücken 22 . Doch reduziert sich die Distanz i n diesem Fall auf etwas A b straktes: die F u n k t i o n des Mythos. A n die Stelle der kosmischen Mächte und K r ä f t e des biblischen Textes treten naturwissenschaftliche, technische und politische Größen. N u n sind dies zwar die modernen M y t h e n , doch entbehren diese Elemente der Anschaulichkeit des alten Mythos. Sie werden für die Verherrlichung Gottes beansprucht, obwohl sie einem Denken entspringen, das ihnen jeglichen Verweischarakter auf eine höhere, numinose Macht abspricht. M a n kann dieses Gedicht für den Ausdruck einer neuen, v o n keiner Gläubigkeit mehr abhängigen christlichen Schau des entgöttlichten Kosmos halten. M a n w i r dann betonen, daß der Dichter G o t t dort wahrnehmen möchte, w o i h n andere ausgeschlossen sehen wollen. Doch muß man zugeben, daß diese religiöse Absicht fatale dichtungstechnische Konsequenzen hat. D i e Bilder sprechen nicht mehr für sich selbst. Sie bekommen erst durch die serielle A n o r d n u n g ihre Bedeutung. Für den Leser bedeutet dies, daß eine A u f nahme der Intention des Textes nur über dessen sprachliche Strukturierung möglich, u n d daß die Thematik des Gedichtes nebensächlich w i r d . Der Verlust an Anschaulichkeit, der beim letzten der Salmos durch die Nähe zum biblischen M o d e l l ausgeglichen wurde, ist i m vorletzten nicht mehr überwunden. Die sprachliche Strukturierung des Textes w i r d dadurch zu einem Hindernis für die religiöse Aussage. Beim vorletzten der Salmos erkennt man besonders gut, daß Cardenal das mimetische Dichtungsverständnis zugunsten des Seriellen aufgegeben hat. Das Prinzip seiner L y r i k ist die Montage, die v ö l l i g heterogene Elemente zusammenordnet. Dieses Verfahren ermöglicht es, die Hoffnung u n d die N o t dessen, der für eine bessere Sozialordnung i n Lateinamerika kämpft, als eine der möglichen Weisen christlichen Selbstverständnisses zu deuten. D i e von 22

H i e r der Anfang des Gedichtes:

"Alabad al Senor nebulosas corno motitas de polvo en las plaças fotograficas Alabad al Senor Sirio y su compafiera y Arturo y Aldebaran y Antares Alabad al Senor meteoritos y órbitas elipticas de los cometas y planetas artificiales Alabad al Senor atmósfera y estratósfera rayos X y ondas hertzianas Alabad al Senor atomos y moléculas protones y electrones protozoarios y radiolarios Alabad al Senor cetaceos y submarinos atómicos" (Cardenal, Salmos , S. 65).

Gebet und Agitation

239

der abendländischen Theologie eschatologisch verstandene Heilserwartung des Volkes Gottes gewinnt hierbei eine Diesseitigkeit, die für einen Deutschen bedenkliche Assoziationen weckt. Albrecht v o n Raab-Straube hat i n Cardenals Dankesrede bei der Verleihung des Friedenspreises deutliche Parallelen zu den Vorstellungen des 'Deutschen Christentums* gefunden, "das seine Wurzeln bereits i n den Anfängen des 19. Jahrhunderts hat und zur vollen Blüte gelangte i m nationalsozialistischen Deutschland H i t l e r s " 2 3 . Er nennt drei Komponenten, die Cardenals Verbindung von Christentum u n d revolutionären Pathos kennzeichnen: "1. die völkisch-kulturelle K o m p o nente, 2. die sozialistisch-marxistische Komponente, 3. die religiös-christliche Komponente" (ebd., S. 204). D i e politische Vergangenheit des deutschen Volkes, so mahnt der A u t o r , sollte eigentlich ein warnendes Beispiel dafür sein, daß solche Spekulationen für die Religion wie für die P o l i t i k gleichermaßen gefährlich sind. Liegt es etwa an unserer n o d i immer nicht bewältigten Vergangenheit, daß derartige Gedanken des Lateinamerikaners bei uns lebhafte Zustimmung finden? Metz rühmte ihn i n seiner Laudatio als Inspirator u n d Zeugen "einer Basiskultur, i n der Menschen angesichts tiefster Erniedrigung u n d Bedrohung Ansätze u n d Perspektiven für eine neue solidarische Identität gewinnen" 2 4 . Uns fehlt diese Identität als Staatsbürger wie als Christen. Ist es mehr als ein schöner Traum, wenn die Leser Cardenals Schriften auf die deutschen Verhältnisse anwenden? Die A n t w o r t hierauf w i r d positiv oder negativ ausfallen, je nachdem welche politischen Ideen ein Interpret vertritt. Sicher trifft es jedoch zu, daß die vage Vorstellung v o n einer religiös u n d sozialistisch strukturierten A l t e r n a t i v k u l t u r einer der Schlüssel zum Geheimnis des Erfolgs der Salmos ist. Doch ist diese Vorstellung für den Lateinamerikaner wesentlich konkreter als für seine deutschen Bewunderer. Cardenals Versuch, völkisches u n d sozialistisches Denken zum Bestandteil eines politischen Katholizismus zu machen, hat sich als dichterisch fruchtbar erwiesen. Er lieferte die historische Basis für die serielle Verknüpfung v o n religiöser und politischer Erfahrungswelt. V o n H or a cero (1960) über El Estrecho dudoso (1966) bis zu Hommaje a los indios americanos (1970) trägt Cardenal Schicht u m Schicht der Vergangenheit ab, u m die Kolonisierung Lateinamerikas als Anfang u n d Somozas D i k t a t u r als E n d p u n k t eines Prozesses zu entlarven, der autochtone K u l t u r durch Habgier zerstört. I m U r b i l d des ursprünglich indianischen Gemeinwesens kommen bei i h m völkische u n d sozialistische Ideale zur Deckung. Das von der Offenbarung verheißene G o t 23 "Ernesto Cardenal, Prophet des Friedens und Charismatiker?", Internationale Zeitschrift für katholische Theologie 10 (1981), S. 206. 24

S. 26.

Ernesto Cardenal.

Ansprachen anläßlich

der Verleihung

des Friedenspreises,

Volker Kapp

240

tesreich w i r d zu einem i n mythischer Vorzeit besessenen Paradies, dessen Rückeroberung den augenblicklichen K a m p f legitimiert u n d die H o f f n u n g auf eine bessere Zukunft nährt. Dieser M y t h o s ist auch i n die Salmos eingegangen. A u f dem H i n t e r g r u n d der eben umrissenen historischen Analyse bekommen Passagen wie die folgende einen ganz konkreten Sinn: E l Senor es mi parcela de tierra en la Tierra Prometida M e tocó en suerte bella tierra en la repartición agraria de la Tierra Prometida 2 5

Solche Äußerungen haben nur i n der lateinamerikanischen Welt eine direkte Bedeutung. Sie zeigen, daß Dichtung dort eine politische F u n k t i o n besitzt, die sie i n Europa während der Freiheitskämpfe des 19. Jahrhunderts 2 6 und, wenn auch i n geringerem Maße, während der Zeit des Widerstands gegen den Nationalsozialismus besessen hat. E i n Pablo Neruda k a n n dort das Gehör breiter Volksschichten finden. Eine ganze Generation v o n Dichtern u n d Schriftstellern hat Somoza zu Fall gebracht u n d i n Nicaragua die Macht übernommen. Cardenals Salmos gehören i n diesen K o n t e x t als Ausdruck eines Christen, der seine religiöse Überzeugung i n das dichterische u n d p o l i tische Konzept seiner Umgebung einbringt. Als christliche Variante der dortigen L y r i k hat Cardenals Dichtung das unbestreitbare Verdienst, thematisch Neues aus der Verbindung v o n politischen u n d religiösen Argumenten u n d formal Neues aus der Verbindung alter Gebetsformen u n d -formein m i t der politischen L y r i k hervorgebracht zu haben. Dieses Neue ist aber nur aus dem K o n t e x t der dortigen Verhältnisse zu verstehen. N u r i m Rahmen der dortigen K u l t u r behalten die Salmos ihre Konkretheit, die das Äußerste ist, was an Konvergenz v o n religiösem u n d politischem Denken i n der Sprache eines zeitgenössischen Dichters denkbar ist. N u r solange diese Konkretheit erhalten bleibt, vermag diese Dichtung an die Sprache u n d die Gotteserfahrung des Psalmisten zu erinnern. Gebet u n d A g i t a t i o n gehen i n den Salmos eine Synthese ein, w e i l die serielle Technik eine Symbiose v o n revolutionärem u n d religiösem Pathos ermöglicht. Diese Symbiose spiegelt zwar die persönliche Uberzeugung des revolutionären Priesters Cardenal wider, sie ist jedoch i n den Salmos nur dadurch zu Sprachkunst geworden, daß eine fruchtbare Spannung zwischen beiden Elementen erhalten bleibt. N u r solange diese Spannung mitgedacht w i r d , sind diese Gedichte mehr als bloße Propagandaverse. Cardenal knüpft 25 26

Cardenal, Salmos, S. 23.

Vgl. Johannes Krogoll, Vestigia 1 (1979), S. 59 - 94.

"Religion

und

Staat

im

romantischen

Drama",

Gebet und Agitation

241

an die politische A k t i v i t ä t der Propheten des A l t e n Bundes an 2 7 , doch bleibt er hinter deren religiösem Anspruch zurück, w e i l er das Aussagespektrum der biblisdien Texte auf politische A g i t a t i o n reduziert. Diese Einseitigkeit ist dann kein Mangel, wenn man die Salmos n i m m t , wie sie w o h l gedacht waren : als das Bemühen, eine charakteristische Gegebenheit unserer Zeit m i t den M i t t e l n zeitgenössischen lateinamerikanischen Dichtens u n d m i t der religiösen Erfahrung eines Christen darzustellen. D i e Wahrheit dieser Darstellung, u n d nicht die persönliche Überzeugung des Dichters, ist also das M a ß , an dem die Qualität der Salmos v o n Ernesto Cardenal zu messen ist.

27 Vgl. Ernst Haag, "Jahwes Opposition oder die Autorität der Propheten Israels", Trierer Theologische Zeitschrift 90 (1981), S. 224 - 237.

16 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 23. Band

A L L E N TATES U N D ROBERT LOWELLS " C I V I L W A R ODES* LITERARISCHE T R A D I T I O N U N D MODERNES KRISENBEWUSSTSEIN

V o n Bernd Engler

Literatur als Dokument vergangener Wirklichkeitserfahrung u n d »interpretation erweist sich nicht nur als Möglichkeit, Zugänge zur Vergangenheit zu finden, w e i l sie uns das historisch bedingte Selbstverständnis u n d W i r k lichkeitsbewußtsein ihres jeweiligen Autors vermittelt, Literatur ist immer auch K o n f r o n t a t i o n m i t der Gegenwart. I n der Betrachtung des Vergangenen können w i r uns sowohl unserer Vergangenheit als dem unsere Gegenwart Begründenden als auch unserer Gegenwart als H o r i z o n t unseres Urteilens bewußt werden. Dies trifft besonders dann zu, wenn ein literarisches W e r k sich auf textexterne Bereiche (ζ. B. andere literarische Werke) explizit bezieht, sich selbst also als Element eines umfassenden Beziehungsgeflechts darstellt, wenn es nicht als singuläres Ausdrucksmoment eines individuellen historischen Bewußtseins erscheinen w i l l , sondern sich selbst als einer literarischen u n d kulturellen T r a d i t i o n zugehörig thematisiert. Für die Untersuchung des Wechselverhältnisses zwischen T r a d i t i o n u n d modernem Krisenbewußtsein erweisen sich A l l e n T a t es " O d e to the Confederate D e a d " (1925 - 1 9 3 7 ) u n d Robert Lowells " F o r the U n i o n D e a d " (1960) als paradigmatisdie Texte. Einerseits können beide Gedichte hinsichtlich ihres Bekanntheitsgrades u n d ihrer Aufnahme i n Anthologien der amerikanischen L y r i k des 20. Jahrhunderts Repräsentativcharakter beanspruchen, andererseits stehen sie i n einer besonders engen Beziehung zu einer vielschichtigen T r a d i t i o n , der der amerikanischen Bürgerkriegsode. I h r modernes Krisenbewußtsein manifestiert sich i n der A r t der Wiederaufnahme u n d A b w a n d l u n g dieser T r a d i t i o n . D i e Tatsache, daß A l l e n Tates " O d e to the Confederate D e a d " sich selbst i m T i t e l als Ode kennzeichnet, läßt auf der Seite des Autors auf eine bewußte Aufnahme einer langen T r a d i t i o n schließen, die beim Rezipienten spezifische Vorerwartungen hervorrufen soll. D i e Frage, ob u n d i n welcher Weise die angesprochene T r a d i t i o n u n d damit die mögliche Summe formaler u n d i n haltlicher Aspekte des Genres Ode — als hypothetisches K o n s t r u k t — tat16*

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Bernd Engler

sächlich i m Text aktualisiert w i r d , bleibt zunächst offen. Entscheidend ist die Intention des Autors, durch eine klassifizierende V o r i n f o r m a t i o n Beziehungsmöglichkeiten zu dem vielfältigen textexternen Bereich der Odentradition anzudeuten. Robert L o w e l l vermeidet i n seinem Gedicht " F o r the U n i o n D e a d " i m Gegensatz zu Tate eine gattungsmäßige Zuordnung; er sucht Konnotationen und Erwartungen, die der Begriff Ode beim Rezipienten hervorrufen könnte, nicht bewußt. Dennoch erweist sich bei genauer Analyse das Gedicht Lowells als ein Text, der stärker als Tates Ode Bezüge zur T r a d i t i o n (zu anderen literarischen Werken, zu historischen Personen, Ereignissen u n d Stätten) herstellt. A l l e n Tate knüpft i n seiner Ode nicht speziell an einzelne literarische Vorlagen u n d nur sehr pauschal an Ereignisse oder Personen aus der Zeit des Bürgerkrieges an; er zieht das i n ihnen generell formulierte Selbstbewußtsein einer vergangenen Epoche als H i n t e r g r u n d u n d Vergleichsbasis zu seinem W e r k u n d dessen Wirklichkeitsinterpretation heran. Beide Gedichte stellen i m T i t e l indes einen eindeutigen Bezug zu einer K u l t u r t r a d i t i o n — dem Gedenken der Toten — dar, die i m post-bellum A m e r i k a gerade der Ode zu größter literarischer u n d öffentlicher Bedeutung verhalf. Seit der Beendigung des Bürgerkrieges entstanden anläßlich v o n Feiern des Memorial Day Oden, die i n H i n b l i c k auf ihre Thematik civil war odes oder commemoration odes genannt werden können. A l l e n Tates " O d e to the Confederate D e a d " und Robert Lowells " F o r the U n i o n D e a d " ermöglichen i n exemplarischer Weise die Analyse der Wechselwirkungen zwischen dem, was Literatur uns als Bewußtsein u n d K u l t u r einer vergangenen Epoche überliefert, u n d dessen Aktualisierung i n Gedichten des 20. Jahrhunderts. Die Wiederaufnahme der Thematik der Bürgerkriegsode setzt beide Werke i n Beziehung zu einer U n z a h l v o n Gedenkoden, die oft i n Auftragsarbeit v o n lokalen poeti laureati verfaßt u n d vorgetragen w u r den, aber auch zu so berühmten Oden wie James Russell Lowells " H a r v a r d Commemoration O d e " oder zur " O d e Sung at the Occasion of Decorating the Graves of the Confederate D e a d " des Südstaatlers H e n r y T i m r o d . Die commemoration ode zählte i n der zweiten H ä l f t e des 19. Jahrhunderts zu den bekanntesten literarischen Genres der amerikanischen Literatur. Durch den meist öffentlichen V o r t r a g u n d die anschließende Publikation i n regionalen Magazinen erreichte sie einen weiten Leserkreis u n d wurde somit zu einer repräsentativen Form des sich neu bildenden amerikanischen Selbstbewußtseins. Nach Beendigung des Bürgerkrieges, i n der Phase der Neubelebung des Gedankens nationaler Einheit u n d des Traumes einer zukünftigen idealen N a t i o n , i n der U t o p i e Realität werden könnte, w a r die Ode Aus-

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drucksmedium gesellschaftlicher Zielvorstellungen. Sie w a r i n I n h a l t u n d Rhetorik kaum v o n der öffentlichen Rede zu unterscheiden. Bayard T a y l o r integrierte beispielsweise zu einem großen Teil Abraham Lincolns berühmte Gettysburg- Address i n seine "Gettysburg O d e " (1869), wobei das oratorische Pathos der Prosavorlage keine wesentlichen Änderungen erfuhr. Taylors Einbezug der Gettysburg- Address illustriert den politischen Anspruch der Bürgerkriegsode i m 19. Jahrhundert. "Let us, the Living, rather dedicate Ourselves to the unfinished work, which they Thus far advanced so nobly on its way, A n d save the perilled State! Let us, upon this field where they, the brave Their last full measure of devotion gave, H i g h l y resolve they have not died in vain! — That, under God, the Nation's later birth O f Freedom, and the people's gain O f their own Sovereignty, shall never wane A n d perish from the circle of the earth!" 1

V o n der Vielzahl der Oden gleicher Prägung konnten allerdings nur wenige bleibende literarische Bedeutung erlangen; diese stehen stellvertretend für das Selbstverständnis einer Epoche amerikanischer Geschichte, eines Wendepunktes der N a t i o n , an dem sich Wertsetzungen u n d Zukunftshoffnungen offenbarten, die ihre prägende K r a f t bis i n unsere Gegenwart hinein entfalten. Der Anschluß an die T r a d i t i o n der commemoration ode kann bei den Oden Tates u n d Lowells sicherlich nicht als Ausdruck ihres Interesses an den politischen oder militärischen Aspekten des amerikanischen Bürgerkrieges gelten, wie dies für die große Z a h l trivial-literarischer Werke zur Glorifizierung der Kriegsereignisse u n d ihrer Heroen zutrifft. Der Krieg, der die noch junge N a t i o n i n den Jahren 1861 - 1865 i n eine nie ganz überwundene Krise stürzte, dient beiden Dichtern als historischer Bezugspunkt für Reflexionen über ihre eigene Gegenwart, die gleichermaßen Fragen nach der Vergänglichkeit u n d dem Sinn des Lebens aufwirft. Waren die Oden, die i n zeitlicher Nähe z u m Bürgerkrieg entstanden, noch stark v o n politischen Interessens1 Zitiert nach The Poetical Works of Bayard Taylor , hg. Marie Taylor (Boston und N e w Y o r k , 1907), S. 331. D i e Passage aus Lincolns Address Delivered at the Dedication of the Cemetery at Gettysburg November 19, 1863 lautet: " I t is for us the living, rather, to be dedicated here to the unfinished work which they who fought here have thus far so nobly advanced. I t is rather for us to be here dedicated to the great task remaining before us — that from these honored dead we take increased devotion to that cause for which they gave the last full measure of devotion — that we here highly resolve that these dead shall not have died in vain — that this nation, under God, shall have a new birth of freedom — and that government of the people, by the people, for the people, shall not perish from the earth."

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konflikten hinsichtlich der Einheit der N a t i o n u n d der Sklavenfrage geprägt u n d konnten diese somit als Formen der Parteinahme für das Lager der U n i o n oder Konföderation gelten, so fehlt bei den beiden Gedichten Tates u n d Lowells diese A r t der Parteilichkeit, obwohl sich i m T i t e l der historische Gegensatz anzudeuten scheint. Lowells Gedicht an die Toten der U n i o n kann zwar als Replik auf Tates Gedicht an die Toten der Konföderation gesehen werden, das Anliegen u n d die Methode beider ist jedoch — wie zu zeigen sein w i r d — eher identisch als gegensätzlich 2 . Bei den Oden v o n A l l e n Tate u n d Robert L o w e l l handelt es sich u m A k tualisierungen der Bürgerkriegsode, allerdings nicht i m Sinne einer bloßen Repetition des Schon-Dagewesenen. Literarische T r a d i t i o n u n d der i n ihr geleistete Ausdruck eines kulturellen u n d geistigen Erbes werden als unabdingbare Bestandteile modernen Krisenbewußtseins zu erkennen sein, das sich uns als ein "Zur-Krisis-B ringen", als ein Zur-Entscheidung-Bringen eines unauflösbaren Wechselverhältnisses v o n Vergangenheits- u n d Gegenwartsbewußtsein zeigt. I m folgenden w i r d ein Erkenntnisprozeß nachzuzeichnen sein, der nach der F u n k t i o n der T r a d i t i o n — besonders literarischer — fragt. T r a d i t i o n soll als ein Vermittelndes, als Ermöglichungsgrund eines vergleichenden, kritischen Bewußtseins verstehbar werden. Modernes Krisenbewußtsein w i r d sich sowohl auf die Krise historisch gesellschaftlicher Normsetzungen u n d Zukunftsutopien als auch auf eine davon abhängige Krise des Selbstbewußtseins des modernen Individuums beziehen lassen.

I n seinem Essay "Narcissus as Narcissus", der 1941 durch die Aufnahme i n den Sammelband Reason in Madness 8 einem weiten Lesepublikum zugäng2 I n der bisherigen Forschung liegen nur wenige Untersuchungen hinsichtlich eines detaillierten Vergleichs vor. Louis L . M a r t z bleibt in seiner Besprechung "Recent Poetry: The Elegiac Mode", Yale Review , Bd. 54 (1965), S. 285 - 298 an der Oberfläche und belegt seine These, " [ t h a t ] the two poems are utterly different in their implications and their poetical methods" (S. 291), nur mit offensichtlichen, aber nicht bedeutsamen Unterschieden. Jerome Mazzaro, The Poetic Themes of Robert Lowell ( A n n Arbor, 1965), S. 124 - 127, spricht einige Vergleichspunkte an (Ähnlichkeiten in der "opening description" und der Symbolik des "locked-in ego"). Seiner Folgerung, "the tensions of the poem remain identical w i t h those of Tate's poem [ . . . ] " (S. 126), ist eher zuzustimmen als E. T . Helmicks These in "The C i v i l W a r Odes of Lowell and Tate", Georgia Review , Bd. 25 (1971), S. 51 - 55. Helmicks nicht gerade fundierter Vergleich unterschlägt Unterschiede und streitet Lowell jegliche eigene künstlerisdie Aussage ab. Formulierungen wie " I found an influence like that of a master craftsman [Tate] on his apprentice" (S. 51) oder "Themes, structures, images are all too similar to enable us to find anything revolutionary in the later poem" (S. 54) entbehren jeder kritischen Auseinandersetzung. Μ . E. ist die Struktur, die "epische Situation" des lyrischen Ich und auch die Weise, wie sprachliche Bilder in beiden Gedichten verwendet werden, nicht identisch, was allerdings nicht eine Übereinstimmung i m thematischen Anliegen und in der Methode des ironischen Kontrastierens ausschließt.

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l i d i wurde, unterzog A l l e n Tate die amerikanische Gegenwart der 30er Jahre einer kritischen Beurteilung. D a der A u t o r i n diesen Essay zugleich eine ansatzweise Interpretation seiner " O d e to the Confederate D e a d " einschließt, kann das i n i h m i n essayistischer A r t formulierte Krisenbewußtsein zum Ausgangspunkt der Analyse des Gedichtes werden. Der A u t o r bezeichnet als zentrales Thema der Ode die "cut-off -ness of the modern 'intellectual man' from his w o r l d " ( Ν , S. 139), die i n seiner narzißtischen "preoccupation w i t h [ t h e ] self" ( Ν , S. 137) u n d i n der Fragmentarisierung seiner Weltwahrnehmung zutage trete. D i e "cut-off -ness" u n d deren solipsistische Erkenntnisposition 4 sind für i h n Resultat des kritischen Rationalismus, eines Denkens, das i n Descartes cogito ergo sum seinen Ursprung hatte u n d dem Menschen seine ganzheitliche Lebensauffassung entzog. I n der Wendung v o m theozentrischen zu einem anthropo-ego-zentrischen W e l t b i l d u n d dessen Erkenntnistheorie, die dem diskursiven Logos alleinige Erkenntnisgewißheit zubillige, sieht Tate die Ursache für "the extreme introspection of our t i m e " , für "the modern squirrel cage o f our sensibility" ( N , S. 137). Nach Tates Auffassung habe sich der Mensch m i t der Übernahme der Zentralstellung i m Kosmos, die i h n glauben mache, er könne sich die W e l t i m A k t seiner Perzeption selbst gottgleich erschaffen, der Möglichkeit beraubt, " t o function objectively i n nature and society" ( N y S. 136) 5 . D i e moderne Gesellschaft — wie der Mensch sie sich gestaltet habe — biete nur noch " l i m i t e d fields for the exercise of the whole man, w h o wastes his energy piecemeal over seperate functions that ought to come under a u n i t y of being" ( Ν , S. 136). Das Krisenbewußtsein, das hier zum Ausdruck k o m m t , ist durch einen "negativen" P o l der Fragmentarisierung der menschlichen Erlebniswelt, durch 3 Allen Tate, Reason in Madness: Critical Essays ( N e w Y o r k , 1941), S. 132 - 151; zuerst erschien "Narcissus as Narcissus" in Virginia Quarterly Review, Bd. 14 (1938), S. 108 - 122. Zitate daraus im folgenden als Ν mit den Seitenangaben aus Reason in Madness. 4 Als Solipsismus bezeichnet Tate in "Narcissus as Narcissus" jene philosophische Doktrin, "which says that we create the world in the act of perceiving it" ( Ν , S. 136). D e r "Begriff" unterscheidet in dieser Form allerdings nicht zwischen subjektivem und objektivem Idealismus und führt mitunter zu beträchtlichen Fehleinschätzungen der "rationalistischen" Erkenntnisposition. D i e Tatsache, daß Tate von einem A k t der Perzeption spricht, definiert das, was er als solipsistisch bezeichnet, als nicht-solipsistische Erkenntnis. D a aber diese Differenzierung in der weiteren Analyse von nur marginaler Bedeutung ist, kann auf eine eingehende K r i t i k verzichtet werden. 5 A u d i in dieser Zielforderung, "to function objectively ", tritt die Problematik der "Philosophie" Tates zutage: die geforderte Objektivität ist menschlicher Erkenntnis unmöglich, da Erkenntnis der Welt sich nicht anders als durch einen A k t der sythetisierenden "Aufhebung" des Perzipierten im Bewußtsein vollziehen kann. Das Bewußtsein ist Zentrum, imaginative, d. h. "in-Eins-bildende" Kraft jeder Erkenntnis.

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die Reduktion auf den rationalen Bereich des Erkenntnisvermögens gekennzeichnet. D e n "positiven" Pol bildet eine verlorene ganzheitliche Lebenserfahrung, eine "fullness of knowledge" ( Ν , S. 135), die zunächst jenem "active f a i t h " ( Ν , S. 140 f.) zugrunde zu liegen scheint, der beispielsweise die i m Bürgerkrieg kämpfenden Soldaten zu Heroismus u n d Opferbereitschaft für ihre Ideale anspornte. I n A l l e n Tates " O d e to the Confederate D e a d " ist dieses begrifflichabstrakt gefaßte Krisenbewußtsein i n dichterische Sprache u n d Struktur umgesetzt. Für den A u t o r bietet Dichtung eine Möglichkeit, die verlorene " f u l l ness of knowledge" zurückzugewinnen: [ . . . ] in poetry the disparate elements are not combined in logic, which can join things only under certain categories and under the law of contradiction; they are combined in poetry rather as experience, and experience has decided to ignore logic, except perhaps as another field of experience. Experience means conflict, our natures being what they are, and conflict means drama. Dramatic experience is not logical; it may be subdued to the kind of coherence that we indicate when we speak, in criticism, of form. Indeed, as experience, this conflict is always a logical contradiction, or philosophically an antinomy. ( N , S. 137)

D i e Interpretation des Gedichtes w i r d folglich dessen spezifische Aussageform, die Widersprüche u n d Paradoxien, als Zeichen einer "dramatischkonfliktären" Lebenserfahrung, als "fullness of knowledge", verstehen müssen, die die logische Rationalität, die "cut-off-ness of the modern 'intellectual man' f r o m his w o r l d " , zu überwinden sucht. I n der dichterischen Aussage vermag der Mensch die Krise seines Bewußtseins zu bewältigen, nicht indem er seine A n t i n o m i e n zu lösen vorgibt, sondern indem er Widersprüchlichkeit u n d K o n f l i k t als Wesen des Lebens u n d Denkens begreifen lernt. Das Gedicht w i r d sich uns also als eine F o r m — eine "coherence" — erstellen, die die Widersprüchlichkeit unseres Seins i n ihrer logischen Unauflöslichkeit offenbart. D i e Problematik der neuzeitlichen Erkenntnisposition zeigt sich dem Leser i n den Bildern u n d Symbolen der " O d e to the Confederate D e a d " . I n ihnen entwickelt der Dichter die den modernen Menschen kennzeichnende negative Weltsicht. I m B i l d des blinden Krebses, m i t dem die zweite Strophe endet, offenbart sich dem Menschen sein eigenes Sein als das einer Kreatur, die M o b i l i t ä t aber kein Ziel, die Energie aber keine sinnvolle Welt, diese einzusetzen, kennt®. D i e Blindheit illustriert die unauflösbare A n t i n o m i e des rationalistischen Denkens: Erkenntnis k a n n nie einen letzten Evidenzgrund außerhalb ihrer selbst finden. Gewißheit k a n n der menschliche Logos nur reflexiv, auf sich selbst zurückbezogen, erreichen; sie w i r d für A l l e n Tate ein β

Vergleiche Tates Erklärung des Bildes: Ν , S. 139.

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solipsistisch-narzißtisches Konstrukt. Diese kritische Sichtweise der Erkenntnisposition w i r d i n weiteren Bildern u n d Vergleichen fortgeführt : The gray lean spiders come, they come and go; I n a tangle of willows without light The singular screech-owl's tight Invisible lyric seeds the mind W i t h the furious murmur of their chivalry. (Z. 69 - 73 ) 7 [...] or like the jaguar leaps For his own image in a jungle pool, his own victim. (Z. 82 f.)

Wie eine Spinne vermag sich der Mensch, seine Welt ganz aus sich selbst zu "spinnen", ist wie sie Zentrum eines eigenen "Kosmos", zugleich aber auch Gefangener der eigenen Schöpfung. Wie die Eule i m lichtlosen Weidengewirr bringt der Mensch (hier besonders der Dichter) Erkenntnis i n die D u n k e l heit — die Eule kann i m D u n k e l n sehen — doch es ist die Erkenntnis des allgegenwärtigen Todes. Sie entstammt selbst dem Bereich der Erkenntnislosigkeit u n d der geistigen Verstrickung ("tangle of w i l l o w s w i t h o u t l i g h t " ) und ist dem Menschen als Botschaft nicht vollends ergründbar ("invisible l y r i c " ) . Gleich einem Jaguar, der nach seinem eigenen Spiegelbild i n einem Dschungelteich springt u n d damit Opfer seiner Selbsttäuschung w i r d , unterliegt der Mensch i n seiner Suche nach dauerhafter Erkenntnis der Täuschung seiner subjektiven Rationalität. Das lyrische Ich führt diese negative Weltsicht i n weiteren Bildbereichen fort. Es sieht den Menschen einem Gesetz absoluter Vergänglichkeit unterworfen, das i h n m i t der gleichen unabänderlichen Gewißheit dem T o d überantwortet, m i t der der H e r b s t w i n d die Blätter zu ihrem winterlichen Grab treibt. I n den fallenden Blättern w i r d der Mensch seiner Sterblichkeit inne: " T h e y sough the rumour of m o r t a l i t y " (Z. 9). M i t unerbittlicher H ä r t e w i r d dieses B i l d allumfassender Verwesung ausgemalt. D i e gefallenen Soldaten beschreibend stellt der Sprecher der Ode die Frage: W h a t shall we say of the bones, unclean Whose verdurous anonymity w i l l grow? The ragged arms, the ragged heads and eyes Lost in these acres of the insane green? (Z. 65 - 68)

I n einer Vision ewiger Nacht erreicht die "meditation on the ravages of time" ( Ν , S. 139) ihren H ö h e p u n k t : 7 Allen Tates "Ode to the Confederate Dead" w i r d zitiert nach: Allen Tate, Collected Poems 1919- 1976 ( N e w Y o r k , 1977), S . 2 0 - 2 3 ; in Klammern nach Zitaten jeweils die Zeilenangabe.

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Bernd Engler What shall we say of the leaves whispering I n the improbable mist of nightfall That flies on multiple wing; N i g h t is the beginning and the end A n d in between the ends of distraction Waits mute speculation, that patient curse That stones the eyes [ . . . ] . (Z. 76 - 82)

A n dieser Stelle der Interpretation drängt sidi ein Vergleich m i t einer M e d i tation über die Vergänglichkeit i n James Russell Lowells berühmter " H a r v a r d Commemoration O d e " auf. Der Sprecher dieser Ode, die bei einer Totengedenkfeier 1865 v o r nach H a r v a r d aus dem Krieg zurückgekehrten Studenten vorgetragen wurde, verfällt bei der Frage nach der Essenz des Seins, der Frage " W h a t is there that abides [ . . . ] ? " (§ I V ) , i n eine ähnliche H a l t u n g wie der Sprecher i n Tates Ode: The little that we see From doubt is never free; The little that we do Is but half-nobly true; W i t h our laborious hiving What man call treasure, and the gods call dross, Life seems a jest of Fate's contriving, O n l y secure in every one's conniving, A long account of nothings paid w i t h loss, Where we poor puppets, jerked by unseen wires, After our little hour of strut and rave W i t h all our pasteboard passions and desires, Loves, hates, ambitions, and immortal fires, Are tossed pell-mell together in the grave 8 .

Die Darstellung der scheinbaren Absurdität des Daseins zeigt i n der Übereinstimmung der gedanklichen Grundpositionen, daß die bei A l l e n Tate skizzierte negative Weltsicht nicht eine ausschließlich moderne Bewußtseinskonstruktion ist. Dichtung hat sich zu allen Zeiten der Problematik der Vergänglichkeit des Seins gestellt. Was Tate v o n dieser T r a d i t i o n teilweise trennt, ist, daß er nicht mehr m i t gleicher Selbstverständlichkeit wie James Russell L o w e l l die N e g a t i v i t ä t seines Denkens u n d die Krise der menschlichen Erkenntnisposition i n einen eschatologischen E n t w u r f des Seins umwandeln kann. D i e Erkenntnis, daß der Mensch nur ein Spielball der Götter sei 9 , w i r d bei James Russell L o w e l l noch durch die Gewißheit der Existenz des Absoluten aufgehoben. 8 J. R. Lowells "Ode Recited at the H a r v a r d Commemoration: July 21, 1865" wird zitiert nach: James Russell Lowell, The Works of James Russell Lowell (Standard Library Edition), 10 Bde. (Cambridge, Mass., 1890); hier: Bd. X , S. 17 - 31, Zitat S. 19 f. (entspricht Abschnitt I V der Ode). 9 Die aus James Russell Lowells " H a r v a r d Commemoration Ode" zitierte Passage erinnert in ihrer D i k t i o n und Bildlichkeit an Shakespeares "Life's but a w a l k -

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Ah, there is something here Unfathomed by the cynic's sneer, Something that gives our feeble light A high immunity from N i g h t , [...] A seed of sunshine that doth leaven Our earthly dulness w i t h the beams of stars, A n d glorify our clay W i t h light from fountains elder than the D a y ; A conscience more divine than we, [...]».

Das moderne I n d i v i d u u m — u n d stellvertretend für es das meditierende lyrische I d i i n Tates " O d e to the Confederate D e a d " — erfährt jedoch i n seiner K o n t e m p l a t i o n der W e l t nicht mehr jene Eingebundenheit i n einen göttlichen Heilsplan, der i m 19. Jahrhundert sowohl i n der christlichen als auch der pantheistisch-romantischen Weltdeutung begründet sein kann. D i e positive Deutung des Todes ist u. a. wesentliches M e r k m a l der T r a d i t i o n der romantischen Elegie, die beispielsweise i n W a l t Whitmans " W h e n Lilacs Last i n the D o o r y a r d B l o o m ' d " oder R a l p h W a l d o Emersons " T h r e n o d y " ihren Ausdruck findet. W i e das Leben ist auch der T o d Teil eines organischen Ganzen. G i l t das Leben als Emanation eines absoluten Seinsprinzips, so k a n n der T o d als Rückkehr aus der I n d i v i d u a t i o n i n ein "greater life of the universe" interpretiert werden. A l l e n Tate k a n n allerdings auch diese pantheistische Version christlicher Eschatologie nicht nadivollziehen 1 1 . E i n anderer Vergleichspunkt zwischen Tates Ode und der literarischen T r a d i t i o n läßt sich i m H i n b l i c k auf die "epische Situation" des lyrischen Ichs, seiner M e d i t a t i o n an den Toren eines Friedhofes, finden. Der Sprecher i n W i l l i a m Cullen Bryants " W a i t i n g b y the G a t e " 1 2 m a d i t ebenfalls die E r fahrung, daß das Leben ein Sein z u m Tode sei, aber für i h n ist dies eine Erkenntnis, die er durch den Glauben an G o t t u n d das ewige Leben gelassen

ing shadow; a poor player, / That struts and frets his hour upon the stage, / A n d then is heard no more" aus Macbeth , A k t V , Szene V , Ζ . 24 f. αPasteboard passions and desires" könnte eine Anspielung auf die erkenntnistheoretische Position darstellen, die Herman Melville in Moby-Dick vertrat. I n Moby-Dick (Chapter X X X V I , "The Quarter Deck") erklärt Kapitän Ahab, daß dem materiellen Sein keine eigentliche Wirklichkeit zukomme. Das unseren Sinnen Zugängliche sei "pasteboard mask" und habe lediglich emblematischen Charakter für das wahre Sein ideeller N a t u r . I n Tates Ode findet sich im Refrain (Z. 51 f.) eine Anspielung auf Shakespeares King Lear (Tempest-Szene) : "Cursing only the leaves crying / Like an old man in a storm". 10

James Russell Lowell, Works , a.a.O., S. 20.

11

Weitere Ausführungen dazu S. 254.

12

The Poetical Works of William Cullen Bryant , hg. Parke Godwin ( N e w York, 1967 [1883]), 2 Bde.; hier: Bd. I I , S. 83 - 85.

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aufnehmen kann. Das egozentrische W e l t b i l d der Moderne m i t dem Ego i m Zentrum des Kosmos versagt jedoch eine derartige Gewißheit. Der Meditierende i n Tates Ode erkennt, daß er sein Leben zwischen der absoluten Nacht, aus der es k a m u n d i n die es wieder mündet, nur i n stummer Spekulation erschöpfen kann, ohne jemals Seinsgewißheit zu erlangen. Seine k r i tische Rationalität erweist sich i h m als "patient curse / That stones the eyes [ . . . ] " (Z. 81 f.). Die Vergleiche m i t der literarischen T r a d i t i o n markieren das Gegenwartsbewußtsein als A b f a l l v o n der Eingebundenheit i n ein letztlich doch sinnvolles, da gottgegebenes Weltgebäude, als endgültige Vertreibung des Menschen aus dem Paradies. I n Tates Ode w i r d der Mensch i n Analogie zum Sündenfall der ersten Menschen als gefallener, der Vergänglichkeit preisgegebener "Engel" gezeichnet 13 . A u f der Suche nach gottgleicher Erkenntnis (der "fullness of knowledge") verlor der Mensch sein Paradies einer ganzheitlichen Lebenserfahrung, w e i l er das Ego an Gottes statt als Evidenzgrund des Seins setzte. Das Tor, das dem lyrischen Ich der Ode den Zugang zum O r t der Toten versperrt, enthüllt sich paradoxerweise als T o r , das den Menschen aus dem Garten Eden verbannt. Erst durch den T o d (des der Erbsünde u n d damit der Vergänglichkeit verfallenen materiellen Seins) ist dem Menschen die Rückkehr ins Paradies wieder möglich. D i e Schlange der Verführung zu gottgleicher Erkenntnis w i r d als "gentle serpent" begreifbar, da sie den Menschen als "sentinel of the grave w h o counts us a l l " (Z. 92) den T o d u n d damit die mögliche Rückkehr zum paradiesischen Sein nach dem T o d verheißt. D i e Erfahrung, an ein absurdes Sein verfallen zu sein, wäre zumindest relativiert. O b Tate eine positive Lösung der Sinnfrage anstrebt, bleibt allerdings fraglich, da für i h n gerade die Unauflösbarkeit der Widersprüche des Seins menschliche "fullness of knowledge" ausmacht. I n " N a r cissus as Narcissus" schreibt er: Serious poetry deals w i t h the fundamental conflict that cannot be logically resolved: we can state the conflicts rationally, but reason does not relieve us of them. Their only final coherence is the formal recreation of art, which 'freezes' the experience as permanently as a logical formula, but without, like the formula, leaving all but the logic out. ( Ν , S. 137 f.)

Neben der Beschreibung der neuzeitlichen Erkenntniskrise bezieht das Gedicht Gegenposition zu traditionellen Welterklärungsmodellen. Diese erweisen sich als verlorene Alternative zum modernen Krisenbewußtsein u n d darin als Grundlage für die kritische Beurteilung der Gegenwart. I n den ersten beiden Strophen versucht denn auch das lyrische Ich, eine Form des Weltbegreifens u n d eine positive Lösung des Todesproblems nach13

Vergleiche dazu die "Identifikation" mit den Grabengeln Zeile 14-20.

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zuempfinden, die A l l e n Tate i n "Narcissus as Narcissus" als romantisch -solipsistisches Denken bezeichnet 14 . D i e fallenden Blätter werden i n der Imagination des Sprechers zu Gefallenen des Krieges, das Treiben des Windes zu einem A k t göttlicher Auslese calvinistischer Prägung, zu einer "fierce scrutiny / O f heaven to their election i n the vast breath" (Z. 7 f.). Doch dieser A k t eines zur eigenen Lebenspraxis analogen Weltbegreifens offenbart sich als Projektion menschlicher Vorstellungen, Gefühle u n d Erwartungen i n die phänomenale Welt. I n solipsistischer Weise ist das Erleben der Welt subjektiven Selektions- u n d Interpretationszwängen unterworfen u n d v o n Wunschdenken geleitet. Der Sprecher der Ode projiziert seine Heilserwartungen i n das Treiben des Windes, das i h n an seine Vergänglichkeit erinnert. D i e Zeilen "The brute curiosity of an angel's stare / Turns you, like them [the angels that r o t ] , to stone" (Z. 19 f.) zeigen, daß der neugierig starre Blick der Engel "Aus-druck" der eigenen gefühllosen Neugier ist, m i t der der Mensch die Phänomene des Verfalls u n d der Verwesung zu verdrängen sucht. D i e Form der analogen Weltaneignung 1 5 , die sich i n einer Vielzahl anthropomorphisierender Bilder andeutet, setzt Tates Ode i n Beziehung zu einer Oden-Tradition, die sich i m Topos des antiken Rufhymnus 1 ® i n ähnlicher Weise das Numinose verfügbar machte. Anthropomorphisierung hat welterschließende Kraft, da sie das Fremde als ein dem Menschen Nahestehendes seinem unmittelbaren geistigen Zugriff eröffnet, da sie der W e l t "nach seinem Ebenbilde" Form gibt. Das dem Menschen i n seinen Ängsten, dem Unheimlichen, doch wesensmäßig Zugehörige (sein eigentlich Heimliches i m Sinne Freuds) w i r d als Verdrängtes wiederentdeckt u n d i m Mythos dem Bewußtsein indirekt — daher erst intelligibel — zugänglich gemacht. I m Benennen des Numinosen i m Rufhymnus — besonders i n der pars epica, i n dem dieses 14 Vergleiche dazu Tates Aussage: "The most that [the man at the gate] can allow himself is the fancy that the blowing leaves are charging soldiers, but he rigorously returns to the refrain [ . . . ] . I suppose it is a commentary on our age that the man at the gate never quite achieves the illusion that the leaves are heroic men, so that he may identify himself w i t h them, as Keats and Shelley too easily and too beautifully did w i t h nightingales and west winds. More than this, he cautions himself, reminds himself repeatedly of his subjective prison, his solipsism [ . . . ] " (AT, S. 140 f.). 15 Zur Bedeutung der "Analogie" und der "Imagination" für die Erkenntnis der Wirklichkeit siehe Franz H . Link, "Das Verhältnis der Dichtung zur Wirklichkeit bei Allen Tate und anderen new critics" , DVjS, Bd. 34 (1960), S. 554 - 580, bes. S. 566 ff. Beispiele der Anthropomorphisierung finden sich besonders in Fügungen wie: "The wind whirrs without recollection " ( Ζ . 3), "Ambitious November [ . . . ] w i t h particular zeal * (Z. 15 f.), "arrogant circumstance" (Z. 38), "immoderate past" (Z. 44), "crazy hemlocks" (Z. 53), "insane green" (Z. 68) u. a. m. 16 Zur Tradition des Rufhymnus in der englischen Ode: K u r t Schlüter, Die englische Ode: Studien zu ihrer Entwicklung unter dem Einftuß der antiken Hymne (Bonn, 1964).

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beschrieben w i r d u n d Momente früherer Begegnungen zwischen Mensch/ Dichter u n d dem Göttlichen evoziert werden 1 7 — zeigt sich diese VerfügbarMachung. I n Tates Ode läßt sich die A n r u f u n g und Beschwörung als A b wandlung des Hymnenschemas interpretieren, nämlich als beschwörendes Bannen, als Exorzismus des Dämons Zeitlichkeit. D e m G o t t Z e i t / T o d geben die Gräber ihre Identität h i n ( " y i e l d their names to the element" Z . 2), i h m sind die Jahreszeiten ("the humours of the year" Z . 15), speziell " A m b i t i o u s November" m i t W i n d u n d Regen, als Exekutivorgane der "fierce scrutiny", unterstellt. A n dieser mythologisierend verfahrenden Weltinterpretation k a n n aber der moderne Mensch ebensowenig teilhaben wie an den "consolations" früherer Zeiten. Der Refrain der Ode markiert ein "breaking off the half-illusion" ( Ν , S. 141), eine Rückkehr zu den "facts of l i f e " . D i e an W a l t W h i t m a n erinnernde U b e r w i n d u n g des Zweifels an der Unsterblichkeit i m B i l d der menschlichen Reinkarnationen i n der N a t u r ("the inexhaustible bodies that are not / Dead but feed the grass row after rich r o w " , Z . 12 f . ) 1 8 w i r d ebenso wie der i n früheren Zeiten scheinbar mögliche "active f a i t h " oder die calvinistische E r w a r t u n g der "election" desillusioniert. I n schärfster Weise w i r d diese Zerstörung der romantischen Vorstellungen i n H i n b l i c k auf die Verklärung des ritterlich kriegerischen Heroismus betrieben. Nachdem die Identifikation der gefallenen Blätter m i t den Toten des Bürgerkrieges u n d die Annahme des Weiterlebens der Toten i n der N a t u r (Whitmans "leaves of grass") als Illusion erkannt ist 1 9 , greift der Sprecher der Ode i n der dritten u n d vierten Strophe jene an, die glaubten, dem T o d der Gefallenen eine Sinngebung verleihen zu können. Jene, die den Heldent o d verklärten, sind die Oden-Dichter des 19. Jahrhunderts. Aber die glorifizierende Prämisse des heldenhaften freiwilligen Entschlusses, für die Ideale der N o r d - oder Südstaaten zu sterben, m i t der zum Beispiel James Russell L o w e l l i n seiner " H a r v a r d Commemoration O d e " die Apotheose der Gefallenen betreibt, m i t der er die elegische Totenklage i n einen Päan zu verwandeln vermag, ist für den Sprecher i n Tates Ode mehr als fraglich. D e r T o d der Krieger erweist sich i h m als ein "hurried beyond decision"; der

17 D i e Zeile "Think of the autumns that have come and gone!" ( Z . 14), aber besonders der Beginn der dritten Strophe "generalisieren" diese Begegnung mit dem Numinosen als eine nicht zeitlich/historisch gebundene. 18 Z u denken wäre beispielsweise an den 6. Abschnitt in "Song of Myself" oder das Gedicht "Scented Herbage of M y Breast", wo W a l t Whitman eine A r t "PanAnthropoismus" feiert.

19

Vergleiche hierzu Tates Aussage, Fußnote 14 dieser Arbeit.

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Kriegsverherrlichung w i r d der dämonische Charakter des Krieges gegenübergestellt: Y o u who have waited for the angry resolution O f those desires that should be yours tomorrow, Y o u know the unimportant shrift of death A n d praise the vision A n d praise the arrogant circumstance O f those who fall Rank upon rank, hurried beyond decision — [...] T u r n your eyes to the immoderate past, T u r n to the inscrutable infantry rising Demons out of the earth — they w i l l not last. (Z. 34 - 46)

M i t der Frage " W h a t shall we say of [ . . . ] / The ragged arms, the ragged heads and eyes / Lost i n these acres of the insane green?" (Z. 65 - 68) erreicht das Gedicht einen H ö h e p u n k t i m fortschreitenden Prozeß der Desillusionierung, der i m B i l d der ewigen Nacht, i n die unser kurzes Leben eingespannt ist, gleichermaßen seinen aphoristischen Abschluß findet. A l l e n Tates " O d e to the Confederate D e a d " zeigt sich als eine höchst komplexe u n d oft widersprüchliche "coherence", als Wechselspiel zwischen literarischer T r a d i t i o n u n d Neubeurteilung. Das moderne Krisenbewußtsein dient als Interpretationsgrundlage für den Sprecher der Ode, die Vorstellungen der Vergangenheit einer kritischen Beurteilung zuzuführen. Zugleich bildet dieses desillusionierte Vergangenheitsverständnis die Voraussetzung, sich der Erfahrung der Absurdität i n der Gegenwart als Moment einer überzeitlichen absurden Seinsverfassung zu vergewissern. Durch die wechselseitige Durchdringung der Bereiche gewinnt das Gedicht eine "coherence" konfliktärer Denkanstöße, Assoziationen u n d Bilder, die eine Interpretation nur annäherungsweise zu vermitteln vermag. Desillusionierung u n d neue I l l u sionsbildung halten sich die Waage; "active f a i t h " u n d Gegenwartspessimismus werden zur Krise gebracht, wobei die Paradoxie darin besteht, daß diese mittels unserer L o g i k nicht entscheidbar ist. Für A l l e n Tate ist menschliche Erkenntnis ihrem "subjective prison" verhaftet. O b der Weg zurück ins Paradies, den die letzte Strophe der Ode andeutet, als Illusion der Vergangenheit oder als Verheißung der Zukunft nach dem Tode zu verstehen ist, läßt Tate offen; endgültige Gewißheit ist nicht möglich — zumindest nicht i m Bereich menschlicher Rationalität.

Wie bereits erwähnt, vermeidet es Robert L o w e l l , sein Gedicht " F o r the U n i o n D e a d " als Ode zu klassifizieren. O b w o h l m i t nur wenigen Ausnahmen die K r i t i k e r sich einer Zuordnung enthalten u n d nur beiläufig auf Affinitäten

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m i t der Odentradition unter Hinweis auf Tates " O d e to the Confederate Dead" eingehen 20 , spricht diese Untersuchung v o n civil war ode. Diese Benennung zielt indes nicht auf eine nachträgliche K o r r e k t u r der Intention Lowells ab, sie möchte als Betonung der literarischen T r a d i t i o n gelten, i n der das Gedicht steht. Abgesehen v o n der i n diesem Rahmen nicht entscheidbaren u n d auch i n H i n b l i c k auf A l l e n Tates Ode bewußt ausgeklammerten Frage, welche K r i t e r i e n — ob überhaupt formale u n d welcher A r t — für die Zugehörigkeit eines Gedichtes zur Gattung Ode sprechen, läßt sich Lowells Gedicht nach formalen Definitionsmerkmalen nicht eindeutig zuordnen. Entscheidend für die kritische Beurteilung des Gedichtes scheint eher die Bestimmung der literarischen T r a d i t i o n , der es angehört u n d auf die es sich explizit bezieht, audi wenn der Dichter einen Aspekt der möglichen Bezeichnung ausspart. Sowohl der T i t e l als auch das Thema u n d die vielen Anspielungen v o n " F o r the U n i o n D e a d " weisen auf die T r a d i t i o n der Bürgerkriegsode hin. Lowells Bedenken u n d negative Konnotationen bei dem Begriff Ode vermag eine Äußerung des Dichters zu erklären, die auf den Einschluß persönlicher Kindheitsreminiszenzen Bezug n i m m t : " [ I added] early personal memories because I wanted to avoid the fixed , brazen tone of the 5ei-piece and official o d e " 2 1 . L o w e l l vermeidet den Gattungsbegriff nicht, w e i l er damit den Bezug seines Gedichtes zur Odentradition des 19. Jahrhunderts verneinen möchte. Er schreibt in der T r a d i t i o n , aber er bedient sich nicht der Konventionen der "official ode" und versucht folglich, sich von ihr abzugrenzen, u m falsche Erwartungshaltungen abzuwehren 2 2 . "For the U n i o n D e a d " schafft anders als Tates Ode eine starke zeitliche Differenzierung. Ereignisse des Jahres 1863, als der N a t i o n a l h e l d Colonel Shaw m i t seinem Infanterieregiment aus rekrutierten Schwarzen durch Boston i n den K a m p f zog, u m zwei Monate später seine Soldaten bei Fort Wagner i n den H e l d e n t o d zu führen, werden m i t einer Gedenkfeier anläßlich der E n t h ü l l u n g des Shaw-Denkmals i n Boston i m Jahre 1897 verbunden, bei der W i l l i a m James seine berühmte Festansprache hielt u n d Thomas Bailey A l d r i d i seine "Shaw Memorial O d e " vortrug. D i e öffentliche 20

Vergleiche Fußnote 2 dieser Arbeit; Heimick nennt beide Gedichte " C i v i l W a r

Odes". 21 Zitiert nach Steven Gould Axelrod, Robert Lowell: Life and Art (Princeton, N.J., 1978), S. 159. (Axelrod zitiert nach Lowell-Manuskripten der Universität Harvard.) Das vierte Kapitel dieser Monographie muß zu den informativsten und besten Ausführungen zu For the Union Dead gerechnet werden: ausführliche H i n weise zu Quellen 158 f., geschichtlichem Hintergrund 163, literarischer Tradition 164 - 169 und 268 f. Hervorhebungen im Zitat von mir. 22 I n "Narcissus as Narcissus" (S. 143 f.) äußert sich Allen Tate ebenfalls abgrenzend: " [ . . . ] a purely subjective meditation would not even in Cowley's age have been called an ode." Die Subjektivierung ist wie bei Lowell eine Reaktion gegen die Konventionen der "officiai ode".

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Lesung v o n " F o r the U n i o n Dead" am 5. Juni 1960 anläßlich des Boston Arts Festival auf dem Boston Common, dem Platz, auf dem das Shaw Memorial errichtet worden war, bildet für die Erinnerung an die historischen Ereignisse den gegenwärtigen Bezugspunkt 2 3 . Vergegenwärtigte Historie i n Lowells Gedicht ist somit die Geschichte des amerikanischen Bürgerkrieges u n d v o n 100 Jahren patriotischer Literatur zu Ehren Colonel Shaws, die Geschichte des 2. Weltkrieges i n Form eines zynischen Reklameposters zur Vernichtung Hiroshimas, die Geschichte v o n Lowells K i n d h e i t i n Boston u n d letztlich die politische Gegenwart der Vereinigten Staaten der 60er Jahre m i t der noch immer nicht erreichten Aufhebung der Rassendiskriminierung. Zeitliche Sprünge, freie Assoziation u n d Detailfülle, besonders aber K o n traste sind Charakteristika v o n " F o r the U n i o n D e a d " , ganz i m Gegensatz zu Tates Ode, die verhalten meditativ eher auf das Ideal-Typische abzielend die Bewußtseins- u n d Existenzkrise des modernen Menschen beschwört. Schlüpfte das lyrische Ich i n Tates Ode gleichsam i n die Rollenmaske des literarischen Topos " A man w a i t i n g b y the gate", wurde es z u m Typus des Menschen, der sich meditativ seiner Zeitlichkeit bewußt w i r d , so ist das Ich i n Lowells Gedicht nicht u m diese das H i e r u n d Jetzt des alltäglichen Lebens fliehende K o n t e m p l a t i o n bemüht. Lowells Gedicht bildet geradezu den größtmöglichen Gegensatz zu jenem odischen Sprechen, das der Dichter der official ode zugehörig sieht: Fülle rhetorischer Figuren, zielstrebig klare Gedankenführung, i n A l l e m sich des Öffentlichkeitscharakters bewußt u n d der T r a d i t i o n verpflichtet. Das lyrische Ich ist T e i l einer hektischen u n d v o n Geschäftstrieb entseelten Welt. Das Gedicht beginnt: " T h e o l d South Boston A q u a r i u m stands / i n a Sahara of snow n o w " ; es endet unvermittelt m i t den lakonischen W o r t e n : " T h e A q u a r i u m is gone." 2 4 D i e Zerstörung, die der Mensch bewerkstelligt u n d auch universell betreiben kann, ist längst seiner K o n t r o l l e entglitten, ist ein "Geschäft" v o n Sekunden 2 5 . D i e N a t u r vollzieht ihre Zerstörung dagegen i n einem scheinbar organisch regenerativen Rhythmus : 23 Ursprünglich hieß das Gedicht "Colonel Shaw and the Massachusetts 5 4 t h w . Unter diesem Titel wurde es zuerst am Ende von Life Studies (der Vintage Paperback Edition) abgedruckt. 24 Robert Lowells "For the Union Dead" w i r d zitiert nach For the Union ( N e w Y o r k , 1965), S. 70 - 72, jeweils mit Angabe der Strophe.

Dead

25 Vergleiche die Anspielung auf den Einsatz der Atombombe über Hiroshima und Nagasaki 1945 und Lowells Gedicht über die atomare Bedrohung "Fall 1961" in For the Union Dead , S. 11 f. D e r Sekundenschlag einer Zeituhr verdeutlicht dort die Unaufhaltsamkeit der Apokalypse. "Back and forth, back and forth goes the tock, tock, tock*.

17 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 23. Band

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The stone statues of the abstract Union Soldier grow slimmer and younger each year — wasp-waisted, they doze over muskets and muse through their sideburns [ . . . ] . (Str. 1 2 ) 2 β

Sucht man das zentrale Thema der Ode zu bestimmen, stößt man auf ähnliche Fragen wie bei Tates " O d e to the Confederate D e a d " . Geht es L o w e l l u m die "commémorâtion" der Gefallenen des Krieges, u m die Transformat i o n der Totenklage i n einen Preisgesang auf die Tapferkeit u n d die H o f f nung auf eine bessere Zukunft der res publica, also u m die Anliegen t r a d i t i o neller Bürgerkriegsoden des 19. Jahrhunderts? K a n n für Robert L o w e l l , der i m 2. Weltkrieg Kriegsdienstverweigerer w a r u n d i n den 60er Jahren m i t großem Engagement gegen das Damoklesschwert atomarer Vernichtung kämpfte, militärischer Heroismus als Tugend gelten? Robert G o u l d Shaw — obwohl nicht sieg- u n d ruhmreich aus der Schlacht für den N o r d e n zurückgekehrt — galt u n d gilt als Symbol des nationalen Helden, der, so das M o t t o auf Saint Gaudens Denkmal, " O m n i a Relinquit Servare Rempublicam". Preist L o w e l l diese Opferbereitschafl für das Gemeinwohl, die i m 19. Jahrhundert i n den meisten Oden i n Erinnerung Shaws, i n James Russell Lowells "Memoriae Positum R. G. Shaw" (1863) oder Thomas Bailey Aldrichs "Shaw Memorial O d e " (1897) besungen wurde 2 7 ? Einen wichtigen H i n w e i s auf die Einschätzung der Symbolfigur Shaw stellt die Änderung des Mottos i m K o n t e x t des Gedichtes dar. Lowells M o t t o "Relinquunt O m n i a Servare Rem Publicam" rückt ( i m Gegensatz zur Singularform) nicht den einzelnen Helden i n den Vordergrund, sondern verfolgt i n seiner U m f o r m u n g eine Position des Egalitarismus, der i n H i n b l i c k auf die Frage der Rassendiskriminierung auch heute nodi Bedeutung zukommt. Für den Dichter gilt die Hoffnung, die W i l l i a m James 1897 i n seiner Rede zur Einweihung des Shaw Memorial bezüglich der künftigen Gleichbehandlung der Schwarzen formulierte, als immer noch nicht eingelöste Verpflichtung. I m Gedicht spricht er die Probleme der Desegregationsbewegung der 60er Jahre an: When I crouch to my television set, the drained faces of Negro school-children rise like balloons. (Str. 15)

Das Denkmal, einst als Mahnung an künftige Generationen geschaffen, die Rassentrennung vollends zu überwinden, scheint 60 Jahre später als öffentliches Ärgernis empfunden zu werden: 26 27

Hervorhebungen von mir.

Einen vollständigen Uberblick der literarischen Werke in Erinnerung Shaws bietet Axelrod, a.a.O., S. 268 f., dort Fußnote 33.

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Their monument sticks like a fishbone in the city's throat. Its Colonel is as lean as a compass-needle. (Str. 8)

Der Weg, den Shaw als V o r b i l d (als "compass") einer ganzen N a t i o n zeigte, mündete i n selbstgefälligen Heroenkult. O n a thousand small town N e w England greens, the old white churches hold their air of sparse, sincere rebellion; frayed flags quilt the graveyards of the Grand A r m y of the Republic. (Str. 11)

Robert L o w e l l n i m m t i n seinen ironischen Anspielungen die literarische T r a d i t i o n v o n Werken über Colonel Shaw auf, die dessen H a n d e l n als Ausdruck einer künftigen demokratischen E t h i k verstanden. Er setzt die Reihe jener Autoren fort, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts auf die Diskrepanz z w i schen der Utopie v o n Gleichberechtigung u n d Demokratisierung u n d der desillusionierenden Realität hinwiesen. Für W i l l i a m Vaughn M o o d y i n seiner " O d e i n Time of Hesitation" (1900), Paul Laurence Dunbars "Robert G o u l d Shaw" (1900) u n d John Berrymans "Boston C o m m o n : A M e d i t a t i o n upon The H e r o " (1948) wie auch für Robert L o w e l l t r i t t die Klage i n den Vordergrund, daß die Zeitgenossen der M a h n u n g zu mehr H u m a n i t ä t u n d Demokratie nicht mehr Folge zu leisten gewillt sind. " W h o now cares how?" k l i n g t wiederholt i n Berrymans Gedicht "Boston Common"auf. I n Anspielung auf Shaw u n d sein Regiment zog D u n b a r schon 1900 das negative Fazit: * [ . . . ] thou and those w h o w i t h thee died for right / H a v e died, the Present teaches, but i n v a i n ! " 2 8 Shaws Vater, der seinen Sohn entgegen der öffentlichen Meinung zusammen m i t seinen schwarzen Truppen auf dem Schlachtfeld zur letzten Ruhe gebettet sehen wollte — Shaw's father wanted no monument except the ditch, where his son's body was thrown and lost w i t h his "niggers" (Str. 13) —

steht denn auch als Vertreter eines egalitären Humanismus, der den weißen Familienvätern heute fehlt, wenn sie gegen die Koedukation ihrer weißen K i n d e r m i t Negerkindern rebellieren. Vergangenheit u n d literarische T r a d i t i o n dienen i n " F o r the U n i o n D e a d " als Kontrast zu dem "waste l a n d " der Gegenwart. D i e Erinnerung an die 28 The Complete York, 1965), S. 360.

17*

Poems of Paul Laurence Dunbar,

hg. W . D . Howells ( N e w

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Gefallenen k a n n die Frage nach dem Sinn des "Relinquere O m n i a Servare Rem P u b l i c a m n nur noch negativ beantworten. Jene "peculiar power t o choose life and d i e " 2 9 , die Shaw als neuer Mensch einer noch zu erneuernden N a t i o n vorexerzierte, hat die desillusionierende Gegenwart ihres Sinnes beraubt. Das "Servare" des Mottos, der Dienst u n d das Opfer für das Gemeinw o h l , ist einer Unterwürfigkeitsideologie gewichen: "a savage servility / slides b y on grease" (Str. 17). D i e Krise, die L o w e l l eindringlich ins Bewußtsein seiner Hörer/Leser ruft, der V e r f a l l gesellschaftlich ethischer Werte, kennzeichnet das gegenwärtige Stadtbild Bostons: The in a The The

old South Boston Aquarium stands Sahara of snow now. Its broken windows are boarded . bronze weathervane cod has lost half its scales. airy tanks are dry. (Str. I ) 3 0

Jener O r t , der für L o w e l l i n seiner K i n d h e i t archetypisch verbrämtes Z i e l seiner Träume wurde, "the dark d o w n w a r d and vegetating k i n g d o m / of the fish and reptile", behält auch i n der Gegenwart seinen magischen Zauber. Er ist O r t der Rückkehr i n die (pränatale) Geborgenheit des Noch-nicht-(bzw. Nicht-mehr-)-in-der-Welt-Seins, O r t der Rückkehr i n einen verlorenen U r grund des Seins, ein Gegenbild zu der Großstadtwirklichkeit des Verfalls, der Unfruchtbarkeit, K ä l t e u n d D ü r r e 3 1 . Robert L o w e l l scheint sich die Geschichte der Menschheit als negative Evol u t i o n darzubieten, als unaufhaltsame Maschinerie der Selbstvernichtung. So ist es nicht mehr als konsequent, wenn die Wunschphantasie seiner K i n d h e i t eine regressive Entwicklungsrichtung einschlägt u n d Colonel Shaw auf jenen "blessed break" (Str. 16) der v o n Menschen inszenierten Apokalypse nur zu warten scheint. Boylston Street i m Herzen Bostons signalisiert v o l l Sarkasmus " H i r o s h i m a b o i l i n g " (Str. 14); bezeichnenderweise w i r d nicht der Mensch sondern das Symbol des Kommerz, der Mösl er Safe, "the 'Rock of 29 Philip Cooper, The Autobiographical Myth of Robert Lowell (Chapel H i l l , 1970), S. 82, interpretiert das "Peculiar" und die Motivation des Heroismus unter dem Aspekt des Suizidwunsches, der in Lowells Biographie eine bedeutende Rolle einnimmt. Cooper schreibt: "The poem, in its ambivalence, questions the fruits and questions the motive of the sacrifice. For the fruits are appalling: an arid, sterile waste land. The questionable motive seems thanatic. Patriotism and suicide compete — or collaborate." 30 31

Hervorhebungen von mir.

Μ . E. könnte man die immer wieder erwähnte Suizidtendenz Lowells auch — scheinbar paradoxerweise — als Ausdruck größter Lebensbejahung i m Sinne des Wunsches interpretieren, eine entfremdet wahrgenommene Welt zu einem ursprünglichen Eins-Sein hin zu überkommen. " I often sigh still / for the dark downward and vegetating kingdom / of the fish and reptile" bringt den Doppelcharakter des Todes-/Lebenstriebes zum Ausdruck. Das Königreich der Fische und Reptilien ist auch als ironischer Kontrast zu dem eschatologischen Reich christlichen Glaubens, dem zukünftigen "Königreich Gottes", zu sehen.

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Ages'" (Str. 15), die künftige Katastrophe überleben. E i n letztes Paradoxon dieses "waste l a n d " — u n d auch hier zeigt sich Lowells Meisterschaft i m A u f suchen ironischer Kontraste — entspringt der Bildschicht, die eine Gesellschaft demonstriert, die das regressive Stadium des Wunschtraums schon längst eingeholt hat. Die W e l t verwandelt sich zusehends i n eine U n t e r w e l t , i n ein urzeitliches Bestiarium. [ . . . ] Behind their cage, yellow dinosaur steamshovels were grunting as they cropped up tons of mush and grass to gouge their underworld garage. (Str. 4)

Das Gedicht, u n d damit indirekt auch die U t o p i e einer idealen Menschheitsgemeinschaft, die viele Odendichter des 19. Jahrhunderts feierten, endet i n einem B i l d tierischer Servilität; der Mensch ist depersonalisiert u n d auf sein Statussymbol reduziert: [ . . . ] Everywhere giant finned cars nose forward like fish; a savage servility slides by on grease.

" F o r the U n i o n D e a d " erweist sich somit als Totenklage i n zweifacher Hinsicht: als Elegie an die Gefallenen des Bürgerkrieges, als Klage über die letztlich sich offenbarende Sinnlosigkeit des Opfers für eine doch nicht realisierte Utopie, aber auch als Abgesang an die gegenwärtige res publica, als Klage u m die tote U n i o n ( N a t i o n ) 3 2 . D i e Zweideutigkeit des Titels liegt i m ironischen Gegenüber v o n Vergangenheit u n d Zukunft begründet. Der Kreis v o n der historischen Vergangenheit zur "waste land "-Gegenwart u n d wieder zurück i n ein Vorstadium des Menschseins schließt sich, w e i l der Mensch die Stufe des Tieres noch nicht überwunden h a t : homo homini lupus est. O b jene seltsame K r a f t des Menschen " t o choose life and die" eine progressivevolutionäre ist, bleibt ebenso dem Zweifel verhaftet wie Tates Identifikation v o n Leben u n d T o d i m B i l d des möglichen Paradieses jenseits der Zeitlidikeit. I n den beiden Oden Robert Lowells u n d A l l e n Tates sind Kontraste, Paradoxien u n d unauflösbare Widersprüche Strukturen des dichterischen Bewußtseins, w e i l sie Strukturen des Lebens sind; i m Gedicht vermag sich uns die "fullness of knowledge" darzustellen, die sich die kritische Rationalität versagt.

D i e Analyse der beiden Gedichte, A l l e n Tates " O d e to the Confederate D e a d " u n d Robert Lowells " F o r the U n i o n D e a d " , versuchte zu zeigen, daß D i d i t e n i n der T r a d i t i o n der Ode — i n unserem Falle der amerikanischen 32

Vergleiche Cooper, a.a.O., S. 73.

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Bürgerkriegsode — i m 20. Jahrhundert einen bedeutsamen Platz i m möglichen Spektrum literarischer Aussage u n d kritischer Gegenwartsbestimmung einzunehmen vermag. D i e T r a d i t i o n — sowohl die kulturelle des Gedenkens der Toten als auch die literarische, die sich bei L o w e l l speziell auf die Verarbeitung der historischen Figur Colonel Shaws bezieht — erweist sich als Kontrast zu unserer heutigen Lebens- u n d Bewußtseinspraxis. D e r Begriff "modernes Krisenbewußtsein" bezeichnet i n diesem Sinne außer der Krise des individuellen Selbstbewußtseins als Folge einer fortschreitenden Relativierung traditioneller N o r m e n u n d religiöser Sinngebung auch die Krise gesellschaftlicher Utopien. D i e literarische T r a d i t i o n dient als Gegenentwurf zu einer Existenzwahrnehmung i m Zeitalter der Angst, jedoch nicht m i t der Intention, frühere U t o p i e n als Lösung anzubieten. Utopische Vorstellungen v o m neuen Menschen u n d v o n einer menschlicheren Gesellschaft finden sich i n großer Z a h l i n der amerikanischen Geistesgeschichte seit dem T r a u m v o n einer neuen W e l t i m 16. Jahrhundert. Der amerikanische Bürgerkrieg bedeutete einen fundamentalen Angriff auf dieses utopische Potential. D i e vehemente Erneuerung der i m Kriege i n Frage gestellten Zukunftsvision, die die Stärke der Erschütterung widerspiegelt, w i r f t für die Generationen, die diese Zukunft als ihre jeweilige Gegenwart erleben, die Frage nach der Einlösung des Utopischen immer wieder neu auf. I n der Wiederaufnahme der literarischen T r a d i t i o n zeigt sich die Krise, i n die diese Zukunftsvisionen gekommen sind. D e r neue Mensch u n d die neue Gesellschaft, wie sie vielfach antizipiert worden waren, offenbarten sich selbst als Aspekte jenes American Dream , der i m 20. Jahrhundert vielen zum American Nightmare wurde. Der Glaube an die Zukunft, der es früher erlaubte, den Gegensatz zwischen Realität u n d Utopie, zwischen Totenklage ("elegy", " d i r g e " ) u n d h y m n i schem Preislied ( " p ä a n " ) an die Zukunft positiv zu entscheiden, ist scheinbar endgültig verloren. A l l e n Tate u n d Robert L o w e l l geben die gleiche A n t w o r t , wenn auch die Argumentation eine andere ist. Tates "cut-off-ness" begründet sich i m erkenntnistheoretischen D i l e m m a des rationalistisch-positivistischen Denkens, Lowells "cut-off-ness" i n dessen Erkenntnis einer auf Zerstörung ausgerichteten U m w e l t . Beide Dichter nehmen die T r a d i t i o n auf, u m sich davon zu distanzieren. L o w e l l lehnt i n der Benennung seines Gedichts die "offizielle" Form der Ode ab, weil er die mögliche Erwartungshaltung — beispielsweise die affirmative u n d zukunftorientierte H a l t u n g seines Ur-Großonkels James Russell L o w e l l — nicht mehr erfüllen kann. I n H i n b l i c k auf den öffentlichen Charakter seines Gedichtes steht L o w e l l der Odentradition näher als sein Vorgänger A l l e n Tate: " F o r the U n i o n D e a d " wurde wie die meisten Oden des

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19. Jahrhunderts anläßlich einer Feier öffentlich vorgetragen. Tate n i m m t zwar formal die Odentradition auf, die introvertiert-meditative Reflexion des Sprechers trennt i h n aber zugleich v o n der T r a d i t i o n der official ode des 19. Jahrhunderts. Tate bemerkt i n seinem Essay "Narcissus as Narcissus" zur Frage der Benennung: I have been asked w h y I called the poem an ode. I first called it an elegy. I t is an ode only in the sense in which Cowley in the seventeenth century misunderstood the real structure of the Pindaric ode. N o t only are the meter and rhyme without fixed pattern, but in another feature the poem is even further removed from Pindar than Abraham Cowley was: a purely subjective meditation would not even in Cowley's age have been called an ode. I suppose in so calling it I intended an irony. ( Ν , S. 143 f.)

D i e Bedeutung, die die beiden Oden innerhalb des Kanons der modernen amerikanischen Literatur erlangten, demonstriert hinlänglich, daß die Ode und ihre T r a d i t i o n i n der L y r i k des 20. Jahrhunderts eine zeitgenössische Aussage u n d Ausprägung gefunden hat. D i e nachhaltige W i r k u n g liegt i n der literarischen Vereinnahmung u n d ironisch distanzierenden Analyse provokativer gesellschaftlicher Bewußtseinsinhalte. I n der schonungslosen Desillusionierung jener Weltsicht, die die Bürgerkriegsoden des 19. Jahrhunderts noch propagierten u n d die auch das Bewußtsein eines großen Teiles der amerikanischen Bevölkerung heute noch prägt, liegt die Stoßkraft der modernen civil war odes. I n ihnen wenden sich A l l e n Tate u n d Robert L o w e l l gegen die Tradition, indem sie die Unmöglichkeit odischen Sprechens angesichts der fortschreitenden Werterelativität u n d des Transzendenzverlustes thematisieren. D i e beiden Oden sind Resultate der Krise ihrer eigenen Aussagetradition. I n ihrer kritischen Distanzierung haben sie sowohl am historischen Wandel der Gattungssysteme als auch an der diesem notwendig zugrundeliegenden K o n t i n u i t ä t teil.

TRANSZENDENZ U N D LYRISCHES I C H I N TED HUGHES' » G N A T - P S A L M « U N D G E O F F R E Y H I L L S MERCIAN

HYMNS

V o n Rüdiger Ahr ens 1. Tendenzen u n d Orientierungen i n der modernen L y r i k I n seinem Essay » O n Teaching the Appreciation of Poetry«, den er 1961 i n der amerikanischen Literaturzeitschrift The Critic veröffentlichte, schrieb T . S . E l i o t : »The teaching of contemporary poetry is a difficult task.« 1 Die hier aufgezeigte Schwierigkeit, zeitgenössische Dichtung zu lehren, gilt zweifellos nicht nur für den Lehrenden, sondern auch für den Interpreten u n d K r i t i k e r , denn die adäquate Analyse u n d das Verstehen moderner Dichtung geht dem Lehr- u n d Vermittlungsprozeß voraus. Sie resultiert aus der Aufgabe des Kritikers, die eigene Zeitgenossenschaft zu überspringen u n d eine Distanz zu der zu analysierenden Dichtung zu gewinnen, die es i h m erlaubt, eine objektive H a l t u n g zu seinem Gegenstand einzunehmen u n d zu gesicherten Erkenntnissen mittels literaturwissenschaftlicher Methoden zu gelangen. E l i o t weist selbst den Weg aus dieser Situation, wenn er die Dichtung der Vergangenheit als T e i l der Geschichte selbst, als festen Bestandteil des historischen u n d kulturellen Seins des Menschen begreift u n d diese als Wertmaßstab für die Beurteilung zeitgenössischer Literatur heranzuziehen wünscht. U m die Dichtung unserer Zeit zu verstehen, bedarf es also eines erfahrenen u n d durch historische Kenntnisse angereicherten Geistes, wodurch das M i ß v e r ständnis ausgeräumt w i r d , daß zeitgenössische Dichtung sich der interpretierenden Analyse eher erschließt als zeitlich weiter zurückliegende literarische Kunstwerke, weil der intendierte Aussagerahmen dieser Dichtung sich m i t dem Verstehenshorizont des Interpreten eher identifizieren ließe. Die Rekonstitution der Zeitgenossenschaft ist aber in dem analytischen Verstehensprozeß nur m i t denselben Anstrengungen zu erreichen und verlangt nach ebensolchen historischen u n d biographischen Kenntnissen wie die vergangener Epochen; sie k a n n sich nach Eliots W o r t e n nur einstellen, wie er i n seinem früheren Essay »Tradition and the I n d i v i d u a l Talent« (1919) betonte, wenn die Analyse sich i n den historischen Entwicklungsprozeß des Menschen einfügt u n d sich an der Beurteilung u n d Bewertung großer literarischer Werke der Vergangenheit geschult hat: 1 T . S. Eliot, » O n Teaching the Appreciation of poetry«, abgedruckt in Praxis , Bd. 4 (1961), S. 149 - 154, S. 150.

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N o poet, no artist of any art, has his complete meaning alone. His significance, his appreciation is the appreciation of his relation to the dead poets and artists. Y o u cannot value him alone, you must set him, for contrast and comparison, among the dead. I mean this as a principle of aesthetic, not merely historical, criticism 2 .

Diese durchaus nicht neue oder alleinstehende Auffassung setzt der Literaturk r i t i k u n d -Wissenschaft einen Bezugsrahmen v o n Fragen u n d Aufgaben, dessen sie sich nach der sich langsam vollziehenden U b e r w i n d u n g der werkimmanenten u n d durch den anglo-amerikanischen N e w Criticism geförderten Methodologie mehr u n d mehr bewußt w i r d . Wenn heute nicht nur nach der K o m p l e x i t ä t der artifiziellen Textur eines Gedichts, sondern wieder nach seiner Bedeutung für den Rezipienten aus der jeweiligen historischen Situat i o n seines Entstehens gefragt werden darf, so zeichnet sich damit »trotz ständiger Verfeinerung der kritischen Untersuchungsmethoden u n d trotz ständig fortschreitender Differenzierung v o n Lehrmeinungen u n d Schulen« ein Umdenken i n der angedeuteten Richtung auch i n der L y r i k d e u t u n g ab 8 . Eine derartige Orientierung würde auch rein qualifizierende, analytischstrukturelle oder textlinguistische Verfahrensweisen, wie sie heute als eskapistische Form literaturkritischen Bemühens i m Schwange sind, allenfalls als Vorstufe eines wissenschaftlichen Deutungsbemühens tolerieren, das sich auf den Sinn eines Gedichts u n d seine durchaus für den einzelnen Rezipienten variable Bedeutung konzentriert. D a m i t gewinnt die H i s t o r i z i t ä t des dichterischen Textes an zunehmendem Gewicht, die sich nicht allein m i t den chronologisch ordnenden Prinzipien der traditionellen Literaturgeschichtsschreibung einfangen läßt, sondern die nach einer K o n f r o n t a t i o n m i t der rezipierenden Modernität verlangt. Auch das moderne, zeitgenössische Gedicht läßt sich nur historisch begreifen, wenn i h m eine seine eigene, also unsere Zeit transzendierende Bedeutung zuerkannt werden kann, u n d zwar nicht nur i n seinem gattungstypologischen Interdependenzverhältnis zu vorausgehenden und nachfolgenden Texten, sondern auch i n seiner Bedeutung für den heutigen Leser u n d Interpreten. D i e i n diesem Sinne moderne Dichtung muß sich also dem historisch bewußten u n d damit nach den Maßstäben der Klassizität urteilenden Bewertungsanspruch der Interpretation stellen, u m ihre überzeitliche Relevanz nachzuweisen 4 . N u n ist schon viel über moderne Kunst i m allgemeinen u n d moderne Dichtung i m besonderen geschrieben worden. D i e durchgängigen Fragen nach der 2 T . S. Eliot, »Tradition and the Individual Talent«, in Selected Essays (London, 1932), S. 1 3 - 2 2 , S. 15. Vgl. audi W . Erzgräber, »Interpretation und K r i t i k moderner englischer Lyrik«, NM, Bd. 24 (1970), S. 9 - 18, S. 10. 3 Κ . H . Göller, »Lyrik und Lyrikdeutung«, in Die englische Lyrik, hg. Κ . H . Göller, 2 Bde. (Düsseldorf, 1968), Bd. 1, S. 11 - 32, S. 21. 4 Vgl. C. Uhlig, »Literatur als Geschichte statt Literaturgeschichte«, Arcadia , Bd. 3 (1977)» S. 227 - 244.

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modernen Kunst i m Vergleich zu ihren historischen Präzedenten führen aber immer wieder zu der seit der griechischen A n t i k e bekannten Dichotomie zurück, die i n der Kunst ein entweder v o n der Realität losgelöstes, rein inspiratorisches oder auf diese Bezug nehmendes, die Affekte des Menschen beeinflussendes u n d technisch organisiertes Ausdrucksvermögen des menschlichen Geistes nachweist, also aus den kunst- u n d literaturtheoretischen Prägungen v o n Piaton u n d Aristoteles ableitbar ist. Auch Dieter Henrich sieht heutige Kunsttheorien v o r diese Alternative gestellt, wenn er schreibt : Gegenwärtige Kunst kann entweder als Darstellung von Wirklichkeit und Vermittlung von Einsicht verstanden werden oder als eine Weise, Emotionen zu erregen und Verhaltensformen zu induzieren 5 .

Künstler und Dichter, sei es i n poetologischen Überlegungen, sei es i m praktischen V o l l z u g ihrer Kunst, haben sich m i t mehr oder minder ausgeprägter Eindeutigkeit seitdem der einen oder anderen Alternative verschrieben, obwohl sie sich auch immer nach dem universalen G r u n d des Menschseins u n d der W e l t zu streben bemüht zeigten. Schon Piaton sah sich veranlaßt, die Literatur, die diesem Anspruch nicht zu genügen vermochte, aus seinem ideal konzipierten Staat zu verbannen. Henrich hält es nun bei aller Abstraktheit der modernen Kunst als für diese gegeben, daß sie diesen universalen Zusammenhang, die metaphysisch-transzendente Dimension der Wirklichkeit nicht mehr wiederzugeben imstande ist u n d sich deshalb m i t einem partialen W a h r heitsausschnitt begnügen muß. Für i h n ist als Ergebnis seiner Auseinandersetzung m i t Hegel moderne Kunst nur n o d i als »Darstellung v o n gebundenen Bewegungen der Subjektivität« zu begreifen, w e i l sie nicht mehr auf einen explizierbaren G r u n d zurückführbar ist 6 . Aus der Perspektive einer philosophisch-ästhetischen Grundposition mag dieses D i k t u m nicht ohne Berechtigung sein, doch darf man den modernen Dichtern zumindest die Suche danach u n d das Streben nach der Wiedergabe eines universalen Seinsgrunds nicht m i t dieser Ausschließlichkeit i n Abrede stellen. A u d i Dichter unserer Zeit nehmen für sich i n Anspruch, Geist u n d Seele, animus u n d anima, Inspiration u n d techné , für sich u n d ihre Rezipienten zu verdeutlichen u n d darzustellen 7 . Es ist nicht zu übersehen, daß gerade bei der Abgrenzung der modernen L y r i k v o n vorausgehenden Epochen das Argument des Zerfalls der metaphysischen Einheit immer wieder herangezogen wurde. So erkennt etwa 5 D . Henrich, »Kunst und Kunstphilosophie der Gegenwart«, in Immanente Ästhetik — Ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne. H g . W . Iser. Poetik und Hermeneutik. (München, 1966), S. 11 - 32, S. 12. 6

Ebd., S. 23.

7

Vgl. K. H . Göller, a.a.O., S. 29.

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H u g o Friedrich i n seinem bekannten B u d i zur Struktur der modernen Lyrik i n der Aufgabe des metaphysischen Bezugspunkts u n d i m Verlust des Gemüts, der anima, die er m i t dem W e r k v o n Baudelaire, also u m 1850, als gegeben empfindet, die Ursachen für das Entstehen einer L y r i k , die durch Dissonanzen, Unverständlichkeit u n d Verfremdung gekennzeichnet ist 8 . Für i h n treten zu diesem Z e i t p u n k t negative Kategorien der Entpersönlichung, der A b n o r m i t ä t , des logisch Unvereinbaren, der Überraschung u n d des Grotesken i n die W e l t des modernen Dichtens ein, die sie v o n den Welten vorausgehender Zeiträume abhebt. Doch bleibt die Frage erlaubt, ob dadurch nicht die moderne Kunsttheorie eine Öffnung u n d Erweiterung ihres Gegenstandsbereichs inauguriert u n d festschreibt, den sie zu früheren Zeiten auch schon für sich requirierte, ohne i h n vielleicht m i t dieser E x p l i z i t h e i t zu benennen. D i e Einbeziehung des Nichts i n das Sein (esse) ist schließlich eine der traditionellen Metaphysik seit der A n t i k e nicht unbekannte Denkkategorie. M i t diesem Verlust der metaphysischen M i t t e wurden von der K u n s t k r i t i k unseres Jahrhunderts immer wieder die seitdem auftretenden Formbrüche u n d der hermetische Charakter der modernen Dichtung zu erklären versucht; doch darf deren Existenz zu früheren Zeiten u n d bei älteren Dichtern nicht übersehen werden. E i n i n diesem Sinne modernes Welt- u n d Kunstverständnis ist v o n Philosophen u n d H i s t o r i k e r n schon m i t der Epoche der Renaissance u n d des Humanismus i n Verbindung gebracht worden u n d dürfte einer Charakterisierung der modernen L y r i k als Ausdruck einer absolut neuen Weltdeutung nicht dienlich sein. So setzt zwar auch Michael Hamburger, als Dichtungstheoretiker wie als praktizierender Dichter gleichermaßen i n hohem Ansehen, eine Zäsur m i t Baudelaires W e r k i n der Geschichte der europäischen L y r i k ; seine K r i t i k an H u g o Friedrich bleibt aber nicht an dessen Beschränkung auf die französische Literatur stehen, sondern weist aus, daß die W a h r heit der Dichtung immer schon i n ihren programmatischen Schwierigkeiten, i n ihrem Schweigen u n d ihren Verkürzungen bestand, mögen diese nun auch i n der modernen Dichtung offener zu Tage treten: The truth of poetry, and of modern poetry especially, is to be found not only in its direct statements but in its peculiar difficulties, short cuts, silences, hiatuses and fusions 9.

W o l l t e man auf dieser Ebene weiterargumentieren, müßten alle Abgrenzungen u n d Kennzeichnungen v o n poetischen Schulen u n d Gruppierungen als auxiliare Konstrukte des Literaturhistorikers erscheinen, die i n Gefahr stehen, ihren Gegenstand, die moderne L y r i k des letzten Jahrhunderts, zu ver8 H . Friedrich, Die Struktur wart (Hamburg, 1956), S. 11.

der modernen Lyrik,

Von Baudelaire bis zur Gegen-

9 M . Hamburger, The Truth of Poetry , Tensions in Modern Poetry from Baudelaire to the I960 s (London, 1969), S. 41.

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fehlen. Doch bleibt ihnen ein heuristischer Wert unbestritten, der erst den E i n t r i t t i n eine Verständigung über die moderne Dichtung u n d ihre Erforschung i n historischer Dimension ermöglicht. Es fehlt dabei nicht an Versuchen, die Zäsuren unterschiedlich zu begründen u n d die programmatischen Äußerungen der Dichter u n d ihre Produkte je nach dem Verständnis ihres Interpreten zu ordnen u n d zu gewichten. Diese Versuche unterliegen angesichts der Fülle poetischer Produktionen i n der Gegenwart einer gewissen Vorläufigkeit, w e i l bei Aufrechterhaltung des eingangs erwähnten Anspruchs der historischen Relevanz für die Moderne sich noch nicht als modernistisch herausgestellt haben kann, was für unsere Zeit u n d m i t unserer Zeit verloren ist. So muß der L i t e r a t u r k r i t i k e r u n d -historiker wegen der i h m auferlegten Vorsicht auf die verschiedensten Stimmen hören u n d ihrer Deutung gerecht zu werden versuchen. Bei den K r i t i k e r n der englischen Dichtung besteht weitgehende Einigkeit darüber, daß das dichterische Werk v o n Gerald M a n l e y H o p k i n s am A n f a n g eines neuen dichterischen Empfindens steht, das durch die Erneuerung der dichterischen Sprache zu weiteren Tiefenschichten des Menschseins vordringt u n d damit die als flach u n d vordergründig erkannte viktorianische Geisteshaltung zu überwinden trachtet. Für R u d o l f Haas nehmen seine i n den 70er u n d 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts verfaßten, aber erst durch die Veröffentlichung seines Freundes Robert Bridges i m Jahre 1918 bekannt gewordenen Gedichte jene Stilzüge vorweg, »die später i n der gesuchten Schwierigkeit u n d Dunkelheit moderner englischer L y r i k deutlich werden« 1 0 . Z w e i fellos konnte H o p k i n s zu einem Symbol für die modernen Dichter werden, w e i l er durch unkonventionelle Sprachformungen, überraschende Metaphorik u n d Neologismen die Wesensmitte (inscape) auszumachen suchte, die dem principium individuationis eines jeden Geschöpfes zugrunde liegt. Als überraschend muß es aber empfunden werden, daß diese neuen Stiltendenzen bereits einige Jahre vorher i n der Dichtungsauffassung der Imagisten ihren Niederschlag gefunden hatten, die die romantischen u n d neoromantischen Stilideale des 19. Jahrhunderts abzulegen strebten. Z u ihrem Wortführer machte sich i n der Zeitschrift The New Age ab 1909 Thomas Ernest H u l m e , der i n seinen Aufsätzen u n d N o t i z e n einer neuen, klassisch-abstrakten, m i t trockenen u n d harten Bildern operierenden Dichtung das W o r t redete 11 . Dieser Dichtergruppe schlossen sich F. S. F l i n t , Ezra Pound, die amerika10 R. Haas, »Die moderne englische Lyrik«, in Epochen der englischen Lyrik. H g . Κ . H . Göller (Düsseldorf, 1970), S. 209 - 236, S. 214. 11 Vgl. M . Hansen und H . Viebrock, »Thomas Ernst Hulmes >Speculations< : Kunstphilosophie und Dichtungstheorie i m Dienste von Weltanschauung«, in R . A h rens und E. Wolff, Hrsg., Englische und amerikanische Literaturtheorie. Studien zu ihrer historischen Entwicklung, 2 Bde., Bd. 1 (Heidelberg, 1979), S. 281 - 311.

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nisdie Dichterin H i l d a D o o l i t t l e u. a. an. Ihren Gedichten ist eine unkonventionelle Sichtweise der Wirklichkeit zu eigen, die ihren Kristallisationspunkt i m dichterischen B i l d (image) gewinnt u n d auch nicht v o r der überraschenden, logisch dissoziierten Montage zurückschreckt. I h r Einfluß auf den frühen T . S. E l i o t äußert sich v o r allem darin, »daß die M o d a l i t ä t des Abbildens zum Thema der Dichtung i n den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts w i r d « 1 2 . Die damit thematisierte Auto-Reflexivität des Dichtens, die zu einem vorrangigen Gegenstand modernen poetischen Ausdruckswillens erhoben w i r d , soll für die gesamte Folgezeit bis zur Gegenwart konstitutiv werden; die sprachlich-stilistischen Neuerungen dieser Bewegung blieben den Georgian Poets allerdings verschlossen, zu denen E d m u n d Blunden, G o r d o n Bottomley, Rupert Brooke, Walter de la Mare u. a. zu zählen sind. Sie praktizierten, m i t ihren Schilderungen vornehmlich ländlich-idyllischer Welten den Stilidealen viktorianischer L y r i k folgend, trotz der existentiell bedrohlichen Ereignisse des 1. Weltkriegs einen kontrollierten und eingängigen »piain style«, der dem Ringen u m religiöse Bindungen u n d weltanschauliche Fragen v o n H u l m e u n d seinen Nachfolgern kaum Geschmack abgewinnen konnte 1 3 . D i e L y r i k nach dem 1. Weltkrieg w i r d aber v o n T . S. Eliots Waste Land (1922) beherrscht, das die Bilder einer zerstörten Z i v i l i s a t i o n heraufbeschwört : Son of man, Y o u cannot say, or guess, for you know only A heap of broken images, where the sun beats, A n d the dead tree gives no shelter, the cricket no relief, A n d the dry stone no sound of water. (Z. 20 - 24).

E l i o t verharrt nicht i m Pessimismus seiner »lost generation«, sondern sucht wie E d i t h Sitwell u n d Herbert Read, aus dieser Ausweglosigkeit herauszuführen. Die K r a f t seiner Bildersprache nährt sich aus der Dichtersprache der französischen Symbolisten u n d der »metaphysischen« Dichtung des 17. Jahrhunderts. Andere Dichter dieser Zwischenkriegsphase gehen m i t i h m diesen Weg oder suchen nach einer ihnen eigenen Stilrichtung wie Wystan H . Auden, 12 W . Iser, »Image und Montage. Zur Bildkonzeption in der imagistischen Lyrik und in T . S. Eliots >Waste LandWar-PoetryFlesh of Abnegationc The Poems of Geoffrey H i l l « , Southern Review , Bd. 15 (1979), S. 64 - 77, S. 64. 43 G. H i l l , Somewhere is Suât a Kingdom , Poems 1952 -1971, w i t h an Introduction by H a r o l d Bloom (Boston, 1975), S. X I I I . Viele Kritiker wie M . Brown (a.a.O., S. 64) unterstützten diese Ansicht. 44 W . Erzgräber, hg., Moderne englische Lyrik (Stuttgart, 1976) »Einleitung«, S. 56. Vgl. auch H . Melier, Das Gedicht als Einübung. Zum Dichtungsverständnis William Empsons (Heidelberg, 1974), S. 119.

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Geoffrey H i l l wurde am 18. J u n i 1932 als Sohn eines Polizisten i n einem kleinen O r t i n den West Midlands, u n d zwar i n Bromsgrove (Worcestershire), geboren. Er studierte wie Ted Hughes englische Philologie u n d ist auch heute noch i m akademischen Bereich tätig, nämlich als Professor für englische Literatur an der Universität Leeds, w o er seit 1976 als Nachfolger v o n A . N o r m a n Jeffares lehrt. Sein Leben scheint ohne Auffälligkeiten u n d i n großer, arbeitsintensiver Zurückgezogenheit zu verlaufen, denn ungleich anderen Autoren seiner Generation ist i h m eine publikumswirksame Selbstdarstellung i n Essays u n d Interviews weitgehend fremd. Nach ersten Gedichtveröffentlichungen, die noch i n seine Studienzeit zurückreichen (1952) erschienen bisher vornehmlich vier bedeutende Gedichtsammlungen, und zwar For the Unfällen (1959), King Log (1968), Mercian Hymns (1971) u n d als bisher letzte P u b l i k a t i o n der Sonettzyklus Lachrimae (1975). Z w e i Merkmale seines Lebens u n d Dichtens sind für die Interpretation der Mercian Hymns v o n hermeneu tischer Bedeutung: 1. Ebenso wie Ted Hughes mißt H i l l seiner K i n d h e i t u n d seinem Verhaftetsein m i t der ländlichen H e i m a t eine große Bedeutung zu. 1971 sagte er über seine früheste Kindheitsphase: I think the locality where I was born and brought up, where I lived for the first twenty-three years of my life must have had a strong basic influence on the natural images that I use. I was born and brought up in rural Worcestershire. M y father was a village police constable 45 .

I n diese Bildungsphase bezieht er also auch seine Studienzeit i n O x f o r d ein, die i h m zwar eine intensive Beschäftigung m i t der englischen Literatur ermöglichte, die er aber immer unter der prägenden K r a f t seiner H e i m a t gesehen hat. N i c h t der Landschaft, der N a t u r m i t ihrer Tierwelt, die die I m a gination v o n Ted Hughes faszinierte, gilt H i l l s Interesse, sondern vielmehr dem Menschen i n der Landschaft, seinen kulturellen Leistungen u n d Fehlgriffen, die sich i n Vergangenheit u n d Gegenwart manifestieren. W e n n Ted Hughes m i t der Anthropologie i n die entstehungsgeschichtliche U r z e i t seiner Welt zurückkehrte, so sieht H i l l seine H e i m a t aus der Perspektive der Gegenw a r t , i n der sich die Geschichte des Volkes m i t ihren politischen u n d geistigen Auseinandersetzungen präsentiert. I h m erscheint wie den meisten Bewohnern dieses Landesteils Mittelengland, das ehemalige Merzien m i t seinen Grenzen am H u m b e r i m N o r d e n u n d der Themse i m Süden, als der eigentliche Ge45 »G. H i l l talks to Peter Orr« (Tonbandinterview vom 10. 3.1971). British Council, Recorded Sound Section; zitiert nach H . W . Ludwig, »Geoffrey H i l l : >September SongMenace< and >AtonementMercian Hymns< by Geoffrey H i l l « , The Listener , 26. 8.1971, S. 274.

e r t u s f l

a r ,

.

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monarchistischen Herrschern v o n H e n r y V I I bis James I sehr gelegen gekommen sei. Für i h n besteht, wie er für unsere Gegenwart ebenso nachweist, ein Zusammenhang zwischen der den M y t h o s bildenden K r a f t der Poesie u n d der den M y t h o s nutzenden P o l i t i k , w e n n er v o n Shakespeares Zeit schreibt: Myths were things of utility to Tudor and Stuart politicians. They were also, though more sensitively, things of utility to the dramatist 5 9 .

H i l l verkennt nicht, daß diese W i r k u n g des Mythos, wie er i n einer A b h a n d lung über den v o n i h m verehrten Ben Jonson ausführt, vornehmlich v o n moralischer N a t u r ist 6 0 . D i e Überlagerung v o n verschiedenen Zeiträumen verbindet sich wie bei Shakespeare m i t dieser Intention, über deren nähere Bestimmung er sich allerdings ausschweigt. I n dem zehnten Gedicht seines Z y k l u s m i t dem T i t e l »Offa's Laws« beschreibt er diesen D i a l o g m i t der Geschichte: H e adored the desk, its brown-oak inlaid w i t h ebony, assorted prize pens, the seals of gold and base metal into which he had sunk his name. I t was there that he drew upon grievances from the people; attented to signatures and retributions; forgave the death-howls of his rival. A n d there he exchanged gifts w i t h the Muse of History. W h a t should a man make of remorse, that it might profit his soul? Tell me. T e l l everything to Mother, darling, and God bless. H e swayed in sunlight, in mild dreams. H e tested the little pears. H e smeared catmint on his palm for his cat Smut to lick. H e wept, attempting to master ancilla and servus.

Er umgibt den Monarchen, am Schreibtisch m i t gesetzgeberischen Arbeiten beschäftigt, m i t den Insignien der Macht, die seinen N a m e n tragen, u n d zeichnet das B i l d eines fleißigen, m i t M i l d e regierenden Potentaten, der die Mordgelüste seines Rivalen verzeiht. D e r Gedankenaustausch m i t der Muse der Geschichte, i n einer geschäftlich-nüchternen Atmosphäre der Isolation sich vollziehend, mündet i n der 3. Strophe i n eine v o m erhabenen biblischen Stil 59 G. H i l l , »>The True Conduct of H u m a n Judgement : Some observations on Cymbelinein The Morality of Art, Essays presented to G. Wilson Knight, hg. D . W . Jefferson (London, 1969), S. 18 - 32, S. 19: »To the medieval chroniclers Kymbeline was a man of peace whose reign coincided w i t h the birth of Christ.« V g l . dazu W . S. Milne, »Geoffrey Hill's Mercian H y m n s A r i e l , Bd. 10 (1979), S. 43 - 68, S. 46. 60 G. H i l l , »The World's Proportion: Jonson's Dramatic Poetry in Sejanus and Catiline*, in Jacobean Theatre, Stratford-upon-Avon Studies, Bd. 1 (London, 1960), S. 1 1 3 - 1 3 2 , S. 121.

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getragene Frage nach dem Sinn der m i t Reue betrachteten Geschichte. D i e Beschreibung des Königs am Pult weitet sich spontan zu einer allegorischen Darstellung aus, i n der die als M u t t e r personifizierte Historie i h n zweimal zur Beantwortung dieser Frage auffordert. M i t der ironisch eingefügten Alltagswendung »God bless« schafft der Dichter eine Distanz zu der Ernsthaftigkeit dieser Situation u n d entrückt i h n i n die kindliche Atmosphäre des harmlosen Spiels m i t der Katze. M i t dem H i n w e i s auf seine » m i l d dreams« w i r d der nun i n den Bereich der Imagination u n d der psychologischen D e u t barkeit verwiesene D i a l o g ohnehin seiner harten Substanz enthoben. I n der Retrospektive des Kindes verlieren die v o n i h m vorgenommenen V e r w a l tungstätigkeiten, m i t der romanischen W o r t w a h l »grievances«, »signatures« u n d »retributions« auch sprachhistorisch zutreffend belegt, an Brisanz u n d A k t u a l i t ä t , da sie unter Kindeshand verniedlicht u n d verharmlost werden. Das Schreiben a m P u l t ist aber auch die Situation des Dichters, der seine materiellen Instrumente einsetzt, u m die W e l t der Geschichte zu beschreiben u n d daraus moralische Schlüsse zu ziehen. D e r Dichter aber bleibt wie der Mächtige der Muse der Historie die A n t w o r t schuldig u n d flüchtet sich wie dieser i n das kommunikationslose Spiel m i t dem Tier. D i e letzte Zeile allerdings bricht m i t ihren Ambiguitäten die Ironie der vorhergehenden Situation auf: D e r i n die K i n d h e i t zurückversetzte Monarch versucht sich als Schüler vergeblich an den ersten beiden Deklinationsklassen der lateinischen Sprache (»ancilla«, »servus«). I n der Phase des Ubergangs v o n der römisch-heidnischen Welt i n die des Christentums bereitet i h m die historische Last einen sein Weinen auslösenden Schmerz. Diese Last beschreibt nicht nur die historische Aufgabe des Monarchen i n diachroner Perspektive; sie bürdet sich i h m auch i n seiner Regierungszeit als V e r m i t t l u n g zwischen den Gesetzen der Zeitlichkeit (»law of nature«) u n d denen der Offenbarung (»law of revelation«) auf, w i e H i l l i n dem einleitenden Epigraph schon andeutete. M i t »ancilla« assoziiert sich die gegenüber der Theologie dienende u n d vorausgehende F u n k t i o n der Philosophie, die die Deutung der W e l t zu ihrer A u f gabe erhebt 81 . Das lateinische »servus« deutet ebenfalls auf den Zwischenbereich v o n irdischer Natürlichkeit u n d geoffenbarter Gottheit, denn als Bestandteil der Devotionsformel »servus servorum Dei« beschreibt es i n Anlehnung an ein D i k t u m des Augustinus die singuläre Stellung des Papstes 82 . D i e auto-reflexive Komponente dieser H y m n e verweist auch auf die Vergeblichkeit des dichterischen Bemühens, i m D i a l o g m i t der Muse der Geschichte zu letztgültigen Wahrheiten u n d Erkenntnissen zu gelangen, zumindest aber auf den physischen Schmerz, den dieses Bemühen i m Dichter wie 61 82

Vgl. Lexikon des Mittelalters

(München, Zürich, 1980) Bd. 1, S. 578 f.

Vgl. J. Höfer und K . Rahner, H g . , Lexikon für Theologie und Kirche (Freiburg, 1964), Bd. 9, Sp. 695 f. 19

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i m Monarchen hervorruft. N i c h t die ironische Kommentierung der dritten Strophe prävaliert bis z u m Schluß dieser H y m n e , vielmehr setzt sich dem naiven Eskapismus die kreative K r a f t als Lösungs- u n d Erlösungsmöglichkeit für die condition humaine entgegen 63 . D a die mythisierende Verklärung des Königs u n d Herrschers Offa i h n dem Leser nicht als historische Gestalt entgegentreten läßt, muß zunächst nach dem historischen B i l d dieser Herrschergestalt gefragt werden. I h m w i r d das große Verdienst zugeschrieben, die Einigungsbewegung der verfeindeten Königreiche auf englischem Boden bereits i m 8. Jahrhundert, also v o r A l f r e d dem Großen, entscheidend vorangetrieben zu haben. Diesem Prozeß entsprechend entwickelte sich sein offizieller T i t e l auch von rex Merciorum über rex Anglorum zu rex totius Anglorum patriae, ein T i t e l , an den auch H i l l i n H y m n e X I I I erinnert 8 4 . Z u r Sicherung seines Reiches nach Westen gegenüber den kriegerischen Bergvölkern v o n Wales ließ er den gigantischen W a l l errichten, der heute noch als »Offa's D y k e « überliefert u n d bekannt ist. Winston S. Churchill schrieb zu diesem Zeichen seiner Hegemonie u n d Machtfüller I t conveys to us an idea of the magnitude and force of Offa's kingdom. Such works are not constructed except upon a foundation of effective political power 8 5 .

D i e Sicherheit nach innen stellte Offa durch eine rigorose Gesetzgebung her, deren Befolgung er durch despotische Maßnahmen bei seinen Untertanen erzwang. Außerdem schuf er einen florierenden Handel, dem er durch sein Münzsystem — alle M ü n z e n tragen sein Signum Offa Rex — eine innere Struktur verlieh. Dieses Münzwesen, dem das heutige Währungssystem Englands den »Penny« verdankt, w i r d v o n Geoffrey H i l l mehrfach i n seinen H y m n e n z y k l u s einbezogen ( H y m n e n X I , X I I , X I I I ) . Es erlaubte dem Monarchen, Beziehungen z u m europäischen K o n t i n e n t , v o r allem zu K a r l dem Großen, aufzunehmen, dessen Hochachtung sich i n einem regen Warenaustausch ausdrückte 88 . Das gute Verhältnis zum K o n t i n e n t äußert sich auch 83 Vgl. W . S. Milne, a.a.O., S. 59; A . K . Weatherhead, »Geoffrey H i l l « , Iowa Review, Bd. 8 (1977), S. 104 - 116, S. 112. 84 Siehe Chr. Brooke, The Saxon and Norman Kings (London, 1963), S. 217. R. H . Hodgkin, A History of Anglo-Saxons (Oxford, 1935, 2. Aufl. 1952) 2 Bde., Bd. 2, S. 386. 85

W . S. Churchill, A History 2 Bde., Bd. 1, S. 86.

of the English-Speaking

Peoples ( N e w Y o r k , 1956)

88 Vgl. F. M . Stenton, Anglo-Saxon England (Oxford, 1963), S . 2 1 3 : »Between 784 and 796 Offa was the only ruler in Western Europe who could attempt to deal on equal terms w i t l Charlemagne.« Sein Versuch allerdings, diese Bande durch die Heirat seines Sohnes mit Karls Tochter zu festigen, scheiterte an dessen Zurückhaltung und Mißtrauen.

Transzendenz und lyrisches Ich in Ted Hughes' »Gnat-Psalm«

293

i n seinem besonderen Engagement für die Belange Roms u n d des Christentums, weshalb er i m Jahre 787 die päpstlichen Gesandten empfing u n d K a r l dem Großen eine aktive Kirchenpolitik vorschlug 67 . Diese A k t i v i t ä t e n verfestigten die Meinung der Historiker, daß das Gottesgnadentum der englischen Monarchie, das erst durch die Revolutionen u n d Bürgerkriege der Neuzeit seine Erschütterung erlebte, i n K ö n i g Offas religiösen Auffassungen seinen Ursprung, zumindest seinen entschiedenen Förderer, fand. U m dieses B i l d des Monarchen beim Leser hervorzurufen, apostrophiert H i l l i h n i n H y m n e I , dem Topos der invocatio des altgriechischen H y m n u s folgend 6 8 , m i t diesen A t t r i b u t e n u n d Prädikationen: K i n g of the perennial holly-groves, the riven sandstone : overlord of the M 5 : architect of the historic rampart and ditch, the citadel at Tamworth, the summer hermitage in H o l y Cross: guardian of the Welsh Bridge and the Iron Bridge: contractor to the desirable new estates: saltmaster: moneychanger: commissioner for oaths: martyro/logist : the friend of Charlemagne. >1 liked that,< said Offa, >sing it again.
Not strangeness, but strange likeness. Obstinate, outclassed forefathers, I too concede, I am your staggeringly-gifted child.< So, murmurous, he withdrew from them. Gran lit the gas, his dice whirred in the ludo-cup, he entered into the last dream of O f f a the King. ( X X I X )

H i l l bezieht sein eigenes Ego m i t i n seine Dichtung ein, wie es sdion Ted Hughes getan hat. I h n zerstört diese Identifikation aber nicht, denn die mythologische Botschaft der Geschichte vermittelt i h m nur Ähnlichkeiten m i t der sich an ihr reibenden Gegenwart u n d versetzt i h n i n einen Zustand des Wartens, aus dem er noch nicht herausgefunden hat. W i r können uns bei dieser abschließenden Deutung v o n H i l l s mythologisierendem Dichten an T . S. Eliots Worte über James Joyce's Ulysses erinnert fühlen, m i t der dieser eine Aufforderung zur Nachahmung an junge nachfolgende Autoren verband: I n using myth, in manipulating a continuous parallel between contemporaneity and antiquity, M r . Joyce is pursuing a method which others must pursue after him. . . . I t is simply a way of controlling, of ordering, of giving a shape and a significance to the immense panorama of futility and anarchy which is contemporary history 6 9 .

69 T . S . E l i o t , »Ulysses, Order and M y t h zitiert nach W . S» Milne, a.a.O., S. 51.

The Dial,

Bd. 75 (1923), S. 480 - 483,

KLEINE

BEITRÄGE

» D E N N R A I N E R S T A R B >TROSTLOSerd-tief< schwarz war, u n d dem hohen, lichten G e w ö l k d r i n der Engel thront, bis zu dem hinauf menschlicher Schrei nicht reicht. I n dieser M i t t e zwischen tief u n d h o d i h a l f sich Rainer's grimmigste N o t , durch den G o t t Wandel, zu einer Bejahung des Tödlichen. Werkhaft vermochte das zu werden, weil es aus so innerster N o t k a m

aber es war sozusagen u m des Engels

w i l l e n gedacht u n d verklärt: es sang wundervoll, aber über einem Schweigen, das tief i n i h m selbst beruhen blieb — hilflos. Er betete zu zweien Herren \nad)träglich am Rand: wie i m Allerletzten der Künstler t u t ] u n d das ist jenes Paradoxale, was Sie gegen den Schluß Ihrer Arbeit so richtig herausfühlen, wie ein ungelöstes Stück Rainer (ζ. B. auch i m Kleinen des Daseins, wie Sie es vermerken, wenn er zu köstlicher N a h r u n g den Engel zugaste laden mag, doch eigentlich die gröbste N a h r u n g meint etc.). Ich k a n n einfach nicht weit er schreiben. Ich habe dennoch n o d i nichts abgeladen, — i n m i r sitzt es dick und will nicht leichter werden. D e n n Rainer starb >trostlos trostlos < «

301

sichert es, daß sein Gespräch m i t L o u A.-S. den angegebenen I n h a l t gehabt hat (auch m i r gegenüber hat L o u A.-S. selbstverständlich über den Besuch u n d dessen Zweck geschwiegen). Dies w i r d hier mitgeteilt, w e i l L o u A.-S. bei der Niederschrift des Satzes »Denn Rainer starb >trostlosvoraussetzentrostlosvalue< words« andererseits verfehlt ist: » . . . there is no one place at which a positivist could drive in the fact/value wedge, saying, >Ha! There! N o w you've made the i l l i c i t leap f r o m d e s c r i p t i o n

to

evaluations

and going on to add

that >brute< facts never lend conceptual support to commendatory verdicts.« 7 (d) Für Talmor

sind die meisten der Aussagen, die ästhetische Werturteile

begründen, »in forms which combine description and evaluation i n a single predicate — balance, brilliance, masterly performance, r h y t h m . . .« 8 W e r t urteil u n d begründende Aussage sind nicht v o n gleichem logischen T y p ; das ästhetische Argument ist deshalb nicht analytisch. Andererseits sind W e r t urteil u n d begründende Aussage miteinander v e r w a n d t insofern, als letztere keine »neutrale« Beschreibung ist; das ästhetische W e r t u r t e i l ist deshalb ab5

Th. Redpath, »Some Problems of Modern Aesthetics«. I n : C. A. Mace (Hrsg.),

British Philosophy in the Mid-Century , 2. Aufl, London 1966, S. 388.

® Siehe W . G. Lycan/P. Κ . Madiamer, »A Theory of Critical Reasons«. I n : B. R. Tilghman (Hrsg.), Language and Aesthetics , Kansas 1973, S. 103. 7 8

Ebd., S. 103.

S. Talmor, »The Aesthetic Judgement and its Criteria of Value«. I n : Mind 78 (1969), S. 107. ·— Vgl. audi V . C. Aldridge, Philosophy of Art , Englewood Cliffs, N . J . 1963. Aldridge sieht ein, daß die Äußerung von »Das ist zu dunkel« — um es in der traditionellen Terminologie zu sagen — weder eine bloß deskriptive noch eine bloß normative bzw. evaluative Aussage ist. Aldridge sagt von der Aussage »it is too dark«: »though it is a critical assessment, it also functions as a description« (a.a.O., S. 99). Aldridge spricht denn auch wiederholt von »normative description« (SS. 99, 100).

Sind normative ästhetische Aussagen in deskriptiven begründet?

315

leitbar, wenn man »ableitbar« nicht zu eng faßt: »>X is beautiful· by itself never e n t a i l s

or

is e n t a i l e d

a loose sense it implies

b y any special description, though i n

that there is some special description which fits X

and which serves as the ground for its aesthetic assessment as beautiful.« 9 A l l e vorgelegten Problemlösungen sind m. E. unzureichend. Sie werden dem Reichtum der ästhetischen Spradie, i m besonderen der V i e l z a h l typischer ästhetischer Wertäußerungen, nicht gerecht — u n d i m übrigen auch nicht der Mannigfaltigkeit

und

den Subtilitäten

ästhetischer

Argumentation 1 0 .

Sie

können dem Reichtum der ästhetischen Sprache nicht gerecht werden, w e i l sie stillschweigend v o n der Voraussetzung ausgehen, die i n ästhetischen Sprachspielen vorkommenden Äußerungen seien entweder normative Aussagen oder deskriptive oder allenfalls eine Mischung bzw. K o m b i n a t i o n aus beiden. — Ich selbst möchte einen Lösungsvorschlag (e) machen, der nicht auf syntaktisch-semantischer, sondern pragmatischer Basis erfolgt, genauer: der nicht v o n der D e s k r i p t i v - n o r m a t i v - D i c h o t o m i e ausgeht, sondern v o n der Voraussetzung, daß der Sprecher ästhetischer Sprache eine V i e l z a h l v o n Sprechakten unterschiedlichen Typs vollzieht. (e) Ich vertrete die These, daß es i n der ästhetischen Sprache — jedenfalls unter den Aussagen, die relevant sind i m H i n b l i c k auf eine ästhetische Wertung — keine normativen oder deskriptiven Aussagen gibt, diese W ö r t e r i n dem bekannten terminologischen Sinne genommen (»deskriptive Aussage« als Aussage i n F o r m eines I n d i k a t i v s , w a h r oder falsch, usf. 1 1 ). Z u m Nachweis dieser These möchte ich zuerst, ohne ins Einzelne zu gehen, auf eine Reihe ästhetischer Spradispiele u n d i n ihnen vorkommender Äußerungsarten hinweisen. Der

Kunstkritiker

spricht ein Einstufungs-

urteil aus (»Dies Gedicht Hagedorns ist i n seiner A r t gut«), nachdem er das •

Talmor, a.a.O., S. 107. Schaut man nicht »syllogistisch« auf die Struktur von Argumenten, sondern untersucht man pragmatisch den Gebrauch von Argumenten, so entdeckt man — gerade auch im Blick auf ästhetische Argumentationen — , daß es nicht nur eine A r t von Regeln des Argumentierens gibt. — R . M . H a r e wendet sich zu Recht gegen den »Irrtum [ . . . ] , es gebe n u r e i n e A r t v o n R e g e l n des Argumentierens«, und er weist unter Beziehung auf die Sprache der M o r a l auf mögliche fatale Folgen dieses Irrtums hin: »Als Folge dieses Irrtums haben die Leute manchmal angenommen, daß, wenn die Verfahren oder Regeln, die beim Argumentieren über das, was zu tun sei, befolgt werden, nicht genau dieselben seien, wie die in den Naturwissenschaften befolgten, dieses Argumentieren in Wirklichkeit überhaupt kein Argumentieren sei, d.h. daß, wenn nicht d i e s e Regeln befolgt werden, k e i n e Regeln befolgt werden und also auch kein Unterschied zwischen richtigen und falschen Argumentationen bestehe.« (»Wissenschaft und praktische Philosophie«. I n : L. Landgrebe, Hrsg.: Philosophie und Wissenschaft, Meisenheim 1972, S. 81). 10

11

Siehe Toulmin/Baier, »Beschreiben«. I n : E. v. Savigny (Hrsg.),

und normale Sprache, Freiburg/München 1969, S. 216 f.

Philosophie

Werner Strube

316

Gedicht entsprechend klassifiziert, die entsprechenden

Einstufungskriterien

festgelegt u n d nachgewiesen hat, daß das Gedicht eben diesen K r i t e r i e n genügt (»Dies Gedicht ist w i t z i g , k l a r , pointiert«). D e r ber

Kunstliebha-

gibt sein Gefallen k u n d (»Das ist schön, das gefällt mir«), u n d er be-

gründet diese Gefallenskundgabe, indem er die Wirkungsart des betreffenden Objekts dartut (»Das w i r k t leicht, locker, erheiternd«) u n d seine >persönliche< N e i g u n g expliziert (»Ich mag so etwas«). D e r S t i l k r i t i k e r

gibt

eine positive stilkritische Bewertung ab (»Das ist gut; das ist stilistisch einstimmig«), u n d er begründet diese Bewertung u. a. m i t wertrelevanten Feststellungen (»Die stimmhaften Laute überwiegen gegenüber den stimmlosen«) u n d wertrelevanten Charakterisierungen (»Das Gedicht hat einen weichen fließenden Rhythmus«). D e r

Ästhet

gibt einen beglückenden Gesamt-

eindruck wieder (»Das ist schön; da k l i n g t alles harmonisch zusammen«), den er gegebenenfalls i n Einzeleindrücke entfaltet (»Da ist das zornige tiefe Blau des H i m m e l s ; der Weizen, der sich aufbäumt

w i e ein wütendes

M e e r . . .«) 1 2 . — M a n w ü r d e den hier rekonstruierten ästhetischen Äußerungen offensichtlich G e w a l t antun, w e n n man sie der einen oder anderen Seite der D e s k r i p t i v - n o r m a t i v - D i c h o t o m i e zuschlüge 18 . D i e These, daß es i n der ästhetischen Sprache — zumindest unter den Äußerungen, die Wertäußerungen begründen — keine »rein deskriptiven Aussagen« gebe, möchte ich 2. durch die Analyse einer bestimmten Aussage stützen, die v o n I . H u n g e r l a n d als P r o t o t y p einer deskriptiven Aussage, nämlich als »N-ascription« (Zuschreibung eines nicht-ästhetischen Merkmals) genommen w i r d 1 4 . Es ist dies eine Aussage Arnheims über Cezanne's »Bildnis der Madame Cezanne« : »The picture has an upright format, the p r o p o r t i o n being approximately 5:4.« N i m m t man Arnheims Satz isoliert 1 5 , so ist er weder »deskriptiv« noch »nicht-deskriptiv«. O b er deskriptiv gebraucht w i r d oder nicht, u n d i n wel12 Eine ausführliche Analyse dieser und anderer ästhetischer Sprachspiele — der Sprechakte, die in ihnen vollzogen werden; der unterschiedlichen Strukturgesetze, denen sie gehorchen — habe ich durchgeführt in: Sprach analytisch e Ästhetik, München 1981. 18 Vgl. Toulmin und Baier, »Beschreiben«, a.a.O., S. 217: »Es mag gewisse Äußerungen [ . . . ] geben, die unter bestimmten Umständen in jeder Hinsicht auf die eine oder andere Seite der Großen Trennlinie fallen. Aber sicherlich ist dies nicht immer der Fall.« I n die »Klasse von Äußerungen, durch die diese Trennlinie mitten hindurchgeht«, fallen u. a. die ästhetischen Äußerungen (ebd.). 14

Siehe I . C. Hungerland, »The Logic of Aesthetic Concepts«. I n : Proceedings

and Addresses of the American Philosophical Association 36 (1962/63), S. 62, und: Once Again, »Aesthetic and Non-Aesthetic«. I n : H . Osborne (Hrsg.), Oxford 1972, S. 112. (Dort audi Zitat des Satzes Arnheims.)

Aesthetics ,

15 Ich beziehe mich einfachheitshalber nur auf den 2. Teil des Satzes, die Aussage über die Proportionen.

Sind normative ästhetische Aussagen in deskriptiven begründet?

317

chen Sprechakten er gebraucht w i r d , hängt v o m K o n t e x t ab, i n dem er v o r k o m m t . Folgende Gebrauchsweisen des Satzes sind vorstellbar: D i e Äußerung des Satzes ist Teil einer Beschreibung: D e r vorsichtige Museumsdirektor beschreibt Cezanne's B i l d , u m für den Fall, daß dies B i l d gestohlen oder beschädigt w i r d , ein M i t t e l zu dessen Wiedererkennung oder Restaurierung zu haben. — D i e Äußerung des Satzes ist eine Angabe: Jemand, der das B i l d verschicken möchte, gibt dessen Proportionen einem Packer an, damit dieser erfährt, w i e groß der K a r t o n sein muß, den er z u m Verpacken benötigt. — D i e Äußerung des Satzes ist ein Abschätzungsurteil, das i m Rahmen einer didaktischen Ü b u n g getätigt w i r d , die den N a m e n »Proportionsabschätzung« trägt. — D i e Äußerung ist eine Aussage, die jemand i m Rahmen eines Sehtests einem Augenarzt gegenüber macht. — I n a l l diesen Fällen werden Äußerungen gemacht, die »Fakten« betreffen 1 6 ; u n d man könnte den Satz, wie er i n den vorgestellten Situationen gebraucht w i r d , »deskriptiv ( i m terminologischen Sinne)« nennen. N i m m t man den Satz als T e i l des »Arnheim-Kontexts«, so ist offensichtlich, daß der Satz hier ganz anders gebraucht w i r d als etwa i n der für N o t fälle formulierten Beschreibung. D e r Satz, der i n Arnheims Buch dem zitierten Satz folgt, lautet nicht etwa: »To be exact, the proportions are 5.53:4.38«, sondern »This stretches the whole i n the direction of the vertical and reinforces the upright character o f the f i g u r e . . . « . U n d dies macht deutlich, daß der Satz über die Proportionen des Bildes keinem praktischen Zweck dient, sondern T e i l einer besonderen A r t v o n E r k l ä r u n g 1 7 ist: Das Format des Bildes steht insofern i n Frage, als es eine bestimmte »ästhetische Funktion« h a t 1 8 — u n d letzten Endes insofern, als es zur »Schönheit des Ganzen« beiträgt: Der Satz ist Teil einer »amplification and support of an aesthetic >This is goodKarolus magnus et Leo papa< (S. 34 ff. u S. 76 ff.) so zergliedert, daß man schließlich k a u m noch die Einstellung des Autors zu den einzelnen Problemen herausfindet. M a n lese daneben die straffe u n d k l a r gegliederte Abhandlung über diese Dichtung v o n Dieter Schaller (1976)! I h m soll denn auch die Auseinandersetzung m i t Ebenbauers N e i gung, das W e r k i n Anlehnung an die Thesen v o n K a r l Hauck als »zeremoniell gebundene Preisdichtung« anzusehen u n d der Dichtung dezidiert (S. 87) den Charakter des Epos abzusprechen, überlassen bleiben. »Geführt v o n der H a n d des Autors« (S. 214 bezüglich der Erzähltechnik) bzw. des Typographen kann sich der Leser dieser Habilitationsschrift nicht fühlen. So mag dieser 4. Band der Philologica Germanica für einen geduldigeren und genaueren Leser noch manche m i r entgangene inhaltliche Q u a l i t ä t b e r g e n . . . Sind die i m V o r w o r t enthaltenen Versprechungen erJobanne Autenrieth,

Freiburg i. Br.

Horst Wenzel, Frauendienst und Gottesdienst: Studien zur MinneIdeologie. Philologische Studien u n d Quellen, 74. B e r l i n : Erich Schmidt, 1974, 220 S. Die Untersuchung ist der frühmittelhochdeutschen Dichtung und der i n ihr feststellbaren Entwicklung der Minne-Vorstellungen gewidmet. Der Verfasser geht v o n der These aus, daß diese Literatur die F u n k t i o n habe, »gegen altüberlieferte sittliche Konventionen die christliche M o r a l durchzusetzen u n d zur Festigung des christlichen Ethos i n der sozialen Führungsschicht beizutragen« (S. 200) Dies war, so sieht es der Verfasser, das große Anliegen der Kirche und sie bediente sich, w e i l ihr die rechtlichen M i t t e l zur Durchsetzung nicht zur Verfügung standen, v o r allem auch der »Laienagitation« i n der Dichtung (S. 85). Dabei spielt minne schon i n der frühmittelhochdeutschen Dichtung eine gewisse Rolle. Minne als »unkontrollierte Libido« soll ebenso eingeschränkt werden wie die »aggressiven kriegerischen Energien« des Mannes (S.58). A n Textstellen aus der Wiener Genesis, der Millstätter Sündenklage, Heinrichs Litanei, der Kaisercbronik, dem Credo des armen Hartmann, dem Annolied, dem St. Trudperter Hohen Lied, den Gedichten der Frau Ava, der Jüngeren Judith w i r d gezeigt, wie ungebändigte Begierde negativ, gläubige Standfestigkeit gegenüber sexueller Versuchung u n d tiefe Gottesliebe positiv gewertet werden. Schon hier i n diesen frühen Texten, das vermag der Verfasser zu zeigen, ist die Frau als »vorbildliche Repräsentantin der Tugend« gesehen, wogegen die sittliche Disziplinierung des Mannes offensichtlich besonderer Anstrengungen bedarf. D i e Texte zeigen, daß das keineswegs — wie der Verfasser meint — nur für den adligen M a n n gilt. 2*

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Eine zweite Gruppe v o n Dichtungen — Scoph von dem lone, Das Recht, Kaiser chronik, Heinrich von Melk — w i r d herangezogen, u m zu demonstrieren, daß zunächst nur die Ehe als Rahmen für erotische Bindungen anerkannt w i r d . D a n n werden den geistlichen Dichtungen weltliche gegenübergestellt, i n denen sich die Entwicklung der Idee der hohen Minne abzuzeichnen beginnt: das mittelhochdeutsche Gedicht Rittersitte und die Szene v o n T o t i l a u n d Almenia i n der Kaiser chronik. H i e r finden sich erste Hinweise auf den Frauendienst. D a z u würden auch die bekannten Verse des Heinrich v o n M e l k über die Lebensart der Ritter gehören, die, wenn auch aus negativer Sicht, einen wichtigen Beleg für die Anfänge v o n Frauendienst u n d Minnewesen bilden. Aus der etwas jüngeren weltlichen Dichtung (um 1170/80) behandelt der Verfasser das Moralium dogma des Wernher v o n Elmendorf, das Büchlein vom heimlichen Boten, die L y r i k Meinlohs v o n Sevelingen und Friedrichs v o n Hausen u n d aus der frühhöfischen E p i k die Eneit des Heinrich v o n Veldeke sowie das Klage-Büchlein Hartmanns v o n Aue. A n all diesen Werken w i r d das Entstehen der Lehre v o n der höfischen M i n n e gezeigt. Der Verfasser beweist dabei interpretatorisches Geschick u n d vermag viel Uberzeugendes zur Einschätzung der Texte vorzubringen. D i e K r i t i k an der Untersuchung setzt an zwei Punkten an. Z u m einen ist die A u s w a h l der Texte nicht begründet. M a n hätte sie sich umfassender gewünscht. Ganze Gruppen, wie etwa die Spielmannsepen, werden überhaupt nicht behandelt, o b w o h l doch gerade hier die den Verfasser besonders interessierende Verflochtenheit v o n Kreuzzugsethos u n d Minneproblem a t i k zu finden ist. Gewichtiger noch erscheinen m i r Bedenken gegen die theoretischen Überlegungen des Verfassers, denen beträchtlicher Raum, mehr als ein Viertel des Buches, gewidmet ist. H i e r entwickelt der Verfasser ein Gesamt-Tableau der historischen Entwicklung i m frühen Mittelalter, die v o n bedenklichen Vereinfachungen geprägt ist und daher zurückgewiesen werden muß. Der Verfasser geht davon aus, daß sich die Moralvorstellungen der germanischen Völkerschaften vorwiegend am K a m p f orientierten. Wehrhaftigkeit, Kraft, M u t und Selbstbeherrschung werden als germanische Tugenden genannt, sowie Wahrung der Rechte, Gastfreundschaft, gegenseitige H i l f e , Klugheit u n d Redegewandtheit. Diese sittlichen Normen, so meint der Verfasser, bleiben prägend für die Laienaristokratie i m Hochfeudalismus (S. 34). D i e Uberwindung dieser M e n t a l i t ä t u n d die Verankerung der christlichen Werte (Demut u n d Nächstenliebe) i m Bewußtsein des Publikums soll direkte Zielsetzung der Kirche u n d ihrer Instrumente, darunter auch der frühmittelhochdeutschen Dichtung, sein. Christliche und frühfeudale Wertvorstellungen sollen sich gar »polar« entgegenstehen (S. 42). U n d i n simpler dialektischer Methode w i r d dann gefolgert, daß die Idee der hohen Minne m i t ihrem

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Verzicht auf Liebeserfüllung die Synthese aus der neuen christlich-kirchlichen E t h i k u n d der Liebesdichtung sei. »Wenn sowohl an der Liebesdichtung wie an dem neuen Ethos festgehalten werden soll, muß die Unvereinbarkeit von sinnlicher Liebe einerseits u n d dem W i l l e n zur Tugend andererseits als unauflösliche Spannung z u m W e r t erhoben werden« (S. 203). Bei seiner A u f zählung germanischer Tugenden hätte dem Verfasser auffallen müssen, daß sich darunter vornehmlich solche befinden, die unter dem N a m e n K a r d i n a l tugenden (fortitudo, prudentia, justitia y temperantia) auch i n der vorchristlichen A n t i k e u n d ebenso auch i m Christentum Anerkennung fanden u n d finden. Dies hätte i h n auf die allgemein bekannte Tatsache aufmerksam machen müssen, daß christliche E t h i k , w o immer es geht, auf gegebenen Voraussetzungen aufbaut, also auch bemüht w a r , die heidnische Weltordnung nicht abzulösen oder zu verdrängen, sondern sie i m christlichen Sinn zu erweitern u n d zu vervollkommnen. Schon A l c u i n wandte sich an den Comes W i d o m i t einer Lebenslehre, die durchaus die Notwendigkeiten kämpferischen Daseins i n der W e l t beachtete. Träger dieser v e r v o l l k o m m neten Wertordnung w a r offenbar, zumindest seit Karls des Großen Zeiten, ein nicht unerheblicher T e i l der Laien. M a n denke nur an Könige u n d Kaiser wie L u d w i g den Frommen oder die Ottonen oder die Stauf er, v o r allem aber auch an die u m die Entstehung der höfischen Literatur hochverdienten Fürsten i m französischen u n d — später — englischen Raum. A l l e n voran ist Eleonore v o n Poitou zu nennen u n d ihr Kreis. Neben der Kirche verdienen die Kultivierungsbestrebungen vieler hochstehender weltlicher Würdenträger durchaus Beachtung, und v o n polarer Spannung zwischen ihrem Ethos und dem der Kirche zu sprechen, erscheint unzulässig. D i e Erziehung zu sexueller Enthaltsamkeit und zur Treue gegenüber der Ehefrau w a r sicher ein namentlich v o n der Kirche vertretenes Anliegen — aber auch hier w i r k t e n weltliche K r ä f t e m i t . Es genügt auf Andreas Capellanus zu verweisen und seine Auftraggeber. Alles also, was der Verfasser zur polaren Spannung zwischen Feudalment a l i t ä t u n d Kirche sagt, muß wegen mangelnder Differenzierung m i t einem Fragezeichen versehen werden. Ebenso unzulänglich sind die vielen Aussagen, i n denen m i t einem offensichtlich unzureichenden Verständnis für christliche E t h i k operiert w i r d . N i c h t Unterdrückung u n d Ausrottung der Leidenschaften u n d Triebe, sondern ihre Zügelung u n d Lenkung ist eines der Grundziele christlicher E t h i k . Daraus erwächst auch ganz zwanglos die Vorstellung v o n einer hohen, nämlich auf sittliche Steigerung zielenden Minne N i c h t gegen, sondern innerhalb der nach größerer K u l t i v i e r u n g strebenden christlichen E t h i k dürfte diese Vorstellung entwickelt worden sein. D a r a u f deuten gerade auch die v o m Verfasser herangezogenen Belege i n frühmittelhochdeutscher Dichtung. Es leuchtet auch wenig ein, daß hinter dem Z i e l größerer K u l t i v i e r u n g des einzelnen und Humanisierung des sozialen Zusammenlebens — ein Ziel, das w o h l zu allen Zeiten und immer

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erneut von den verschiedensten Menschen u n d Gruppen erstrebt wurde — finsteres Machtstreben der Kirche als eigentlicher A n l a ß der Erziehungsarbeit stehen soll. Es ist wenig glaubhaft, daß »die Stabilisierung der kirchlichen Macht« v o n der »Monopolisierung des christlichen Ethos« abhängig sein soll (S. 82 — vgl. auch S. 110/111). Unterdrückungsstreben einiger herrschsüchtiger Geistlicher als letzte Ursache der abendländischen K u l t u r ? Es sind solche, aus ideologischen Vorurteilen stammenden Urteile, die die Lektüre des Buches bisweilen unerfreulich werden lassen. Roswitha

Wisniewski,

Heidelberg

Peter Jörg Becker, Handschriften und Frühdrucke mittelhochdeutscher Epen: Eneide, Tristrant, Tristan, Erec, Iwein, Parzival, Willehalm, Jüngerer Titurel, Nibelungenlied und ihre Reproduktion und Rezeption i m späteren Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Wiesbaden: Reichert, 1977, 283 S. Joachim Bumke, Mäzene i m Mittelalter: Die Gönner und Auftraggeber der höfischen Literatur in Deutschland 1150 - 1 3 0 0 . M ü n c h e n : Beck, 1979, 717 S., 4 Abb. Hans-Joachim Koppitz, Studien zur Tradierung der weltlichen mittelhochdeutschen Epik i m 15. und beginnenden 16. Jahrhundert. München: F i n k , 1980, 297 S. I m folgenden sollen drei Bücher rezensiert werden, die thematisch u n d methodisch eng zusammenhängen, u n d die sich i n ihren Vorüberlegungen auch auf dieselben (wenigen) Vorläufer u n d eine ähnlich unbefriedigende Forschungssituation berufen können. I n allen drei Fällen geht es nicht u m literarische Werke >an sichver-

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sorgt< gewesen, denn für das Mittellateinische w a r man mehr oder minder auf die Zusammenstellungen bei Manitius angewiesen, u n d Reto R. Bezzolas große Darstellung fürs Romanische, 1944 - 1963 erschienen, reichte >nur< bis zur Blütezeit der höfischen Literatur u m 1200. D e n ehrgeizigen Versuch, das Thema komparatistisch und systematisch zu behandeln, hatte die anglistische Diss, v o n K a r l Julius Holzknecht (1923) unternommen u n d w a r ehrenvoll gescheitert. Bumkes Buch, m i t Spannung v o n vielen erwartet, stellt sich m i t einem Zeitraum v o n 150 Jahren u n d der Beschränkung aufs Mittelhochdeutsche das M a x i m u m dessen z u m Ziel, was ein einzelner i m günstigsten F a l l noch bewältigen kann. Seine erklärte Absicht ist es, »Material . . . auszubreiten u n d zu ordnen«, »die faktischen Gegebenheiten herauszuarbeiten u n d die Grenzen unseres Wissens sichtbar zu machen«; er w i l l »kritische Bestandsaufnahme bieten, die hoffentlich geeignet ist, weiteren Forschungen als Grundlage zu dienen« (alles i m Nachwort, S. 674). U n d dies wurde v o l l erreicht. Der Stil der Darlegung zeigt sich deutlich i n der A u f t e i l u n g der 717 Seiten: D e r eigentliche T e x t der Untersuchung geht >nur< bis Seite 293. Das dort unter verschiedenen Gesichtspunkten Geordnete u n d Behandelte w i r d dann i n den folgenden Anmerkungen (S. 294 - 453) durch eine sorgfältige Dokumentation u n d weiterführende Diskussion der bisherigen Forschungsliteratur abgesichert. Anschließend folgt ein vollständiger Abdruck der zugrundegelegten Primärtexte (»Die Gönnerzeugnisse der höfischen Literatur i m 12. u n d 13 Jahrhundert«: S. 4 5 5 - 6 6 8 ) . Verblüffend ist dann das Fehlen dessen, was man nunmehr erwarten würde, nämlich ein irgendwie systematisches Verzeichnis der verwendeten L i t e r a t u r ; eine Begründung dafür habe ich nirgends finden können, sie hätte aber vielleicht so lauten können: >da es nur wenige übergreifende T i t e l z u m Thema gibt, genügte es, diese i n einer Liste der abgekürzt zitierten Literatur aufzuführen; die vielen anderen Forschungssplitter stehen sinnvollerweise über die vielen A n m e r kungen verstreut und sind über das Register auffindbar< (einleuchtend, aber mühsam!). Wie schon i m F a l l des Forschungsberichtes z u W o l f r a m (1970) u n d der kleineren Abhandlung zur Ministerialität (1976) zeichnet sich auch dieses Buch v o n Bumke aus durch den D r a n g zur Vollständigkeit (wobei es müßig ist, die v ö l l i g unvermeidlichen kleineren u n d sehr gelegentlichen Lücken i n der Dokumentation zu monieren), durch übersichtliche u n d klargegliederte Darstellung, sowie v o r allem durch eine kritische Nüchternheit u n d vorsichtige, aber dennoch unmißverständliche Urteile. M a n mag bedauern, daß Bumke seinen ausdrücklichen Vorsatz der Materialdarbietung u n d Materialdiskussion so asketisch durchführt; ebenso daß er sich fast jeden Ausblick auf die späteren Jahrhunderte verbietet, w o viele grundsätzlich wichtige Einsichten z u gewinnen sind, die auch für den v o n i h m behandelten Zeitraum ( 1 1 5 0 - 1 3 0 0 ) v o n Bedeutung sind. H i e r kann und muß die künftige Forschung weiterarbeiten. Was da alles noch zu holen

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ist, hat eben Bernd T h u m nach meiner Ansicht, ausgehend v o m Fall des Michel Beheim (15. Jahrhundert), vorbildlich u n d anregend vorgeführt. 1 Bumkes großes Verdienst ist es, ein grundlegend wichtiges Gebiet i n A r t eines Handbuches u n d Nachschlagewerkes erstmals vollständig erschlossen zu haben. I n der Geschichte der modernen Gönnerforschung spielt die Heidelberger Diss, v o n Werner Fechter (Das P u b l i k u m i n der mhd. Dichtung, 1935) eine A r t Pionier-Rolle. Bumke verweist auf diese Untersuchung immer wieder, u n d er bezeichnet ihre »Materialsammlung über Handschriftenbesteller u n d Leserzeugnisse« m i t vollem Recht als »bis heute unersetzt« (S. 36). Fechter hatte damals für seine Untersuchungen zwei Quellenbereiche verwendet: die aus den Texten selbst gewonnenen Zeugnisse über Mäzene u n d Publikum, sowie die aus der Geschichte der einzelnen Handschriften zu gewinnenden D a t e n über Auftraggeber u n d Besitzer. So gering das Interesse der Forschung an den Mäzenen bis zu McDonalds Dissertation (1972/73) u n d jetzt v o r allem Bumkes Darstellung war, so gering w a r es auch an der Überlieferungsgeschichte als einer sehr realen Quelle über das literaturrezipierende Publikum. Bumke geht darauf k u r z ein (S. 303, A n m 117), beläßt es aber bei der Feststellung, daß die »Gönnergeschichte der spätmittelalterlichen L i t e r a t u r . . . hier wichtige Informationen finden (kann)«; dieser Zeitraum liegt ja außerhalb seines Themas. D i e aus der Überlieferungsgeschichte z u gewinnenden Erkenntnisse über das >Leben< v o n Literatur v o r allem i m späteren M i t t e l a l t e r sind das Thema zweier Arbeiten, die dies — offenbar unabhängig voneinander — am Beispiel der mhd. E p i k untersuchen: die Dokumentationen u n d Studien v o n Peter Jörg Becker (1977) u n d Hans-Joachim K o p p i t z (1980). Beckers Arbeit, eine Trierer Dissertation, v o n Walter R ö l l angeregt u n d 1976 abgeschlossen, behandelt i n ihrem 3. T e i l auch den Mentelin-Druck v o n Wolframs Parzival und Titurel ausführlich. I n dem Buch v o n K o p p i t z , einer Kölner H a b i l i t a tionsschrift, stehen die Frühdrucke als Überlieferungsträger i m Zentrum, doch w i r d die Handschriften-Geschichte immer mitberücksichtigt. U m so mehr erstaunte es, daß K o p p i t z — o b w o h l er Literatur bis 1977 zitiert u n d auf künftige Erscheinungsdaten eigener Arbeiten bis 1980 vorausweist — Beckers Veröffentlichung nirgendwo erwähnt, nicht einmal i n einer K o r rekturnotiz ; noch auffälliger ist es, daß K o p p i t z auch v o n Joachim Heinzles umfangreichen Untersuchungen zur mhd. Dietrichepik ( w o die Uberlieferungsgeschichte eine dominierende Rolle spielt) keine Kenntnis zeigt: zwar ist Heinzles Buch erst 1978 erschienen, doch wurde sie schon 1975 v o n der Kölner ( !) Universität, also am gleichen O r t , als Habilitationschrift angenommen. 1 Bernd Thum, »Öffentlich-Madien, Öffentlichkeit, Recht. Z u den Grundlagen und Verfahren der politischen Publizistik im Spätmittelalter (mit Überlegungen zur sog. >RechtspracheA Farewell to Arms< (New Jersey, 1976) und Bernard Oldseys Hemingway's Hidden Craft: The Writing of >A Farewell to Arms< (Pennsylvania State University, 1979), zwei Spezialstudien, in denen exakte Quellenforschung und präzise Textanalyse geschickt miteinander verbunden werden, sowie Romeo Gigers Buch The Creative Void: Hemingway's Iceberg Theory (Bern, 1977), das den rezeptionsästhetischen und erkenntnistheoretischen I m plikationen des Eisberg-Prinzips nachgeht. D e n nicht zu unterschätzenden Einfluß der bildenden Kunst auf das künstlerische Schaffen Hemingsways untersuchen Emily Stipes Watts, Ernest Hemingway and the Arts (Urbana, 1971), und Raymond S. Nelson, Hemingway: Expressionist Artist (Ames, 1979). Gene D . Phillips' Hemingway and Film ( N e w Y o r k , 1980) und Frank M . Laurence* Hemingway and the Movies (Jackson, 1981) sind historisch orientierte Medienstudien, in denen die zahlreichen Verfilmungen Hemingwayscher Werke mit ihren literarischen Vorlagen verglichen werden. Eine vielleicht lohnenswerte Studie zum Einfluß des Films auf die ästhetischen Ausdrucksmöglichkeiten des Autors steht meines Wissens noch aus.

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(S. 7) u n d die »spezifischen Eigenschaften der v o n H e m i n g w a y gestalteten Wirklichkeit« (S. 7) aus dem Blick verliert. Demgegenüber sieht Nicolaisen seine Hauptaufgabe i n einer möglichst präzisen, textorientierten Beschreibung »der besonderen K o n t u r e n des i n den Erzählungen u n d Romanen sichtbar werdenden Bildes der Welt« (S. 143). Er geht dabei i n drei H a u p t schritten vor. Das erste K a p i t e l untersucht die erzählerische Gestaltung der »gegenständlichen Welt«, die den H i n t e r g r u n d des Geschehens bildet (S. 11 bis 43). D i e exemplarische Analyse einzelner Stadt- oder Landschaftsschilderungen oder der Darstellung v o n Innenräumen, einzelnen Gegenständen, sowie haptischen u n d geschmacklichen Eindrücken belegt eindrucksvoll die »unrealistisches auf ästhetische Stilisierung u n d »primär generische Erkenntnis« (S. 21) h i n angelegte Gestaltungsweise des Autors. Sie legt ein erzählerisches Bewußtsein offen, das — hierin deutlich der modernistischen Dichtungstheorie eines T . S. Eliot, der Imagisten, oder auch eines bildenden Künstlers wie Cezanne verpflichtet — nicht nur u m eine »Läuterung der Wahrnehmung« (S. 41) v o n allen subjektiven Qualitäten bemüht ist, sondern diese auch aus allen übergreifenden historischen, politischen oder geographischen Bezügen herauslöst. D i e Untersuchung des »Geschehens« i m zweiten K a p i t e l (S. 4 4 - 8 3 ) führt zu analogen Ergebnissen. D e m starren, leblosen Inventarcharakter Hemingwayscher Schauplätze entspricht die — i m paradoxen Begriff der »bewegten Ruhe< (S. 44) trefflich charakterisierte — Statik physischer HandlungsVorgänge, dem aperspektivischen Nebeneinander gegenständlicher Wahrnehmungsblöcke die zeitliche Diskontinuität und Akausalität der H a n d l u n g . Auch der D i a l o g weist nach Nicolaisen die Tendenz auf, sich v o m jeweiligen Sprecher und K o n t e x t abzulösen und zum anonymen Sprachritual zu verselbständigen. Diese spezifische Gestaltungsweise Hemingways sieht der Verfasser als formalen Ausdruck eines >sterilen< Wirklichkeitsverhältnisses (S. 43), i n dem sich »ein Rückzug vor der sinnlichen Fülle der W e l t bekundet, eine asketische Einstellung, die es dem Menschen versagt, sich i n Zeit u n d Geschichte zu entfalten« (S. 83). I m dritten K a p i t e l deutet er die u. a. i n der negativen Bewertung geschlechtlicher Liebe zum Ausdruck kommende Abneigung gegen das »Prinzip des Organischen« (S. 94), die Faszination des Autors für das Phänomen des gewaltsamen Todes sowie seine ästhetische Freude am Sport als einem Bereich zweckfreien, geschichtlich-gesellschaftlicher Verantwortlichkeit enthobenen Handelns als »inhaltliche Korrelate« (S. 9) dieser Einstellung. I m Spätwerk, das allerdings nur flüchtig gestreift w i r d , sieht N i c o laisen eine Tendenz Hemingways, die Begrenztheit seines Weltverständnisses u n d seiner poetischen Imagination aufzubrechen u n d »sich stärker als früher der Vielfalt der W e l t zu öffnen« (S. 121). Das abschließende vierte K a p i t e l schließlich k o m m t i n einem Vergleich zwischen dem jungen Hemingw a y u n d Dos Passos, Fitzgerald u n d Faulkner zu dem negativen Ergebnis, daß die vier literarischen Hauptvertreter der lost generation — abgesehen

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v o n gelegentlichen thematischen Parallelen und vagen Motivähnlichkeiten — nur wenig miteinander gemeinsam haben. Der Verfasser n i m m t zu Recht für sich i n Anspruch, daß der spezifische Erkenntniswert seiner Arbeit i n der präzisen Beschreibung der Darstellungstechnik des Autors liegt. D i e beiden ersten H a u p t k a p i t e l sind denn auch als der ertragreichste T e i l der Studie anzusehen, während das dritte K a p i t e l z w a r einprägsam die dialektische F o r m - I n h a l t - K o r r e l a t i o n des H e m i n g w a y schen Œuvre i n den Blick rückt, darüber hinaus aber keine wesentlich neuen Erkenntnisse zutage fördert. Bei einigen interpretatorischen Einzelfragen könnte man durchaus unterschiedlicher Meinung sein. So ist ζ . B. fraglich, ob H e m i n g w a y i n A Farewell to Arms — wie Nicolaisen meint — w i r k l i c h eine »Verklärung der Liebe« (S. 89) anstrebt, oder ob der Roman nicht vielmehr eine sarkastische Abrechnung m i t einem romantischen Liebesideal darstellt. Insbesondere erhebt sich die Frage, ob die Rolle des Dialogs (S. 73 - 80) zutreffend charakterisiert ist. D i e Sichtweise des Verfassers, die nur auf die formale Oberflächenstruktur und den I n h a l t der Dialoge abhebt, verstellt sich offenbar den Blick für die dort unterschwellig vermittelten Bedeutungen und subverbal ablaufenden Kommunikationsvorgänge. 3 Jürgen Peper, dessen Buch Bewußtseinslagen des Erzählens und erzählte Wirklichkeiten (1966) die vorliegende Studie ansonsten viel verdankt, hat am Beispiel einer längeren Passage aus A Farewell to Arms deutlich gemacht, wie sehr der D i a l o g einerseits durch den situativen K o n t e x t bestimmt ist, andererseits eine deutliche Charakterisierungsfunktion i m H i n b l i c k auf die jeweiligen Sprecher übernehmen kann. D a ß die scheinbar banalen Gespräche und Sprachrituale gerade das verschweigen, was die Charaktere zutiefst bewegt, ist ein bei H e m i n g w a y häufig konstatierbares Faktum, dem der Verfasser keinerlei Beachtung schenkt. Seine Analyse einer Dialogpassage aus »Cross-Country Snow« (S. 74 f.) ist dafür ein anschauliches Beispiel. D a ß »die Schwangerschaft Helens i n N i c k nicht nur Freude ausgelöst hat« (S. 75), ist eben nicht »nur aus dem Inhalt des Gesagten« (S. 75, Hervorhebung von mir) zu erschließen, sondern auch aus der »Gesprächshaltung« (um hier einen Begriff Pepers zu verwenden), wie sich gerade i n der lakonischen Kürze v o n Nicks Äußerungen und dem schleppenden, immer wieder ins Stocken geratenden Gang des Gesprächs manifestiert. I n der Frage des Dialogs t r i t t die methodische Begrenztheit der Arbeit vielleicht am deutlichsten zutage. Der Versuch, aus einer Analyse der bevorzugten Darstellungsweisen u n d Themenbereiche heraus eine A r t Bewußtseinsphänomenologie des Autors zu entwerfen, ist einer einseitig p r o d u k tionsästhetischen Position verpflichtet, die weder der künstlerischen K o m plexität des Werkes noch der auf eine aktive Leserbeteiligung abzielenden Literaturauffassung Hemingways gerecht werden kann. I m Grunde steht 3 Vgl. auch die Einleitung des Herausgebers in dem neuen Sammelband Hemingway, Wege der Forschung, Bd. 546, hg. Horst Weber (Darmstadt, 1980), S. 3, wo mit Recht auf die Affinität mit den Dialogstrukturen eines H a r o l d Pinter oder Edward Albee verwiesen wird.

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die Studie der biographisch-psychologischen H e m i n g w a y - K r i t i k näher, als sie zugibt, lassen sich ihre Ergebnisse doch zwanglos m i t der Youngsdien These v o m >Verwundungstrauma< Hemingways auf einen Nenner* bringen. Der Verfasser muß sich dessen w o h l auch bewußt geworden sein, bleibt er doch am Ende auf seine selbstgestellte Frage, »inwieweit es die erzielten Einsichten erlauben, das Werk des Erzählers i n anderer als der bisher akzeptierten Weise zu begreifen« (S. 142), eine dezidierte A n t w o r t schuldig. A n dererseits ist bezeichnend, daß die Arbeit m i t keinem W o r t auf die berühmte Eisberg-Theorie des Autors eingeht u n d auch Romeo Gigers 1977 dazu erschienene Studie The Creative Void: Hemingway's Iceberg Theory nicht zur Kenntnis n i m m t , sowie Versuche der bisherigen Forschung, die Kunstkonzeption Hemingways v o n T . S. Eliots Theorie des »objective correlative« her zu erklären, nur beiläufig erwähnt. Wer aber das für H e m i n g w a y zentrale Gestaltungsprinzip, das i m Text zuallererst ein Potential sieht, welches sich nur i n den kreativen Projektionsfähigkeiten des Lesers entfalten kann, außer acht läßt, k o m m t sowohl i m D e t a i l als audi i m Gesamtergebnis zu falschen oder zumindest schiefen Schlußfolgerungen. Dies geschieht ζ . B., wenn Hemingways Technik des Aussparens, etwa bei der Darstellung innerer Gefühlsvorgänge, als Ausdruck eines erzählerischen Desinteresses an diesem Wirklichkeitsbereich mißverstanden (etwa S. 34, 50) oder die künstlerische Askese des Autors generell als Ausdruck begrenzter Imaginationsfähigkeit und eines sterilen Wirklichkeitsverhältnisses gedeutet w i r d . I m Gegensatz zu Nicolaisen könnte man argumentieren, daß die ästhetisch begründete »Askese« des Autors es dem Leser gerade erst ermöglicht, die »Fülle« seiner sinnlichen, existentiellen u n d gesellschaftlichen Erfahrungen z u m Sprechen zu bringen. Der V o r w u r f begrenzter Einbildungskraft, den der Verfasser insbesondere dem Früh werk des Autors macht, richtet sich insofern an die falsche Adresse. Gegenüber diesem zentralen E i n w a n d sind andere K r i t i k p u n k t e eher zweitrangig. So ist ζ . B. fraglich, ob Begriffskomplexe wie »Fülle menschlicher Erlebnismöglichkeiten« (S. 43) oder »sinnliche Fülle der Welt« (S. 83) — abgesehen v o n ihrer vagen inhaltlichen Bestimmung — dem Genre der Short Story, i n dem der frühe H e m i n g w a y bekanntlich v o r allem hervorgetreten ist, überhaupt angemessen sind. Angesichts des offenkundig wertenden Charakters dieser Kategorien k l i n g t es überdies wenig überzeugend, wenn der Verfasser seine Entscheidung, Hemingways Spätphase aus der Betrachtung auszuklammern, einerseits — unter H i n w e i s auf einen allgemeinen Forschungskonsens — m i t der minderen Q u a l i t ä t der Werke begründet, ihnen aber andererseits eine stärkere Öffnung zur »Vielfalt der Welt« h i n bescheinigt (S. 121). Es stellt sich hier die Frage, ob eine Einbeziehung des Spätwerks nicht sinnvoller gewesen wäre als der notgedrungen kursorische Vergleich m i t anderen zeitgenössischen Autoren. Gleichw o h l stellt die Studie, gerade w e i l sie zu kritischen Fragen provoziert, einen verdienstvollen Beitrag zur neueren Hemingway-Forschung dar. Kurt Müller, 2

Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 23. Band

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Franz Κ . Stanzel, Theorie des Erzählens. Göttingen: Vandenhoeck Ruprecht, 1979 ( U T B 904), 333 S.

&

K n a p p ein Vierteljahrhundert nach der Veröffentlichung seiner einflußreidien Habilitationsschrift Die Typischen Erzählsituationen im Roman (1955), legt Franz Stanzel erneut eine Theorie des Erzählens vor, welche die 1955 entwickelte Typologie der Erzählsituationen auf eine breitere Textbasis stellt sowie theoretisch weiterentwickelt u n d differenziert. Ging es i n dem früheren W e r k noch vornehmlich darum, die V i e l f a l t der Erzählformen i n ein überschaubares Klassifikationsschema einzuordnen, so w i r d hier der Versuch gemacht, »der »Widerspenstigkeit des einzelnen Erzählwerkes etwas mehr [ . . . ] gerecht zu werden« (S. 13). Entsprechend sind auch gegenüber den Typischen Erzählsituationen deutlich neue Wertungsakzente gesetzt. I n Anlehnung an die Deviationstheorie der russischen Formalisten sieht der Verfasser nun gerade i n der Abweichung v o n einem gängigen Erzählmodell die poetische Q u a l i t ä t eines Textes potentiell begründet. Archimedischer P u n k t der Stanzeischen Erzähltheorie ist das — insbesondere i n der Auseinandersetzung m i t Käte Hamburgers Begriff der »Erzählfunktion< noch einmal ausführlich begründete — Gattungsspezifikum der Mittelbarkeit, das sich aus den drei Konstituenten Person, Perspektive und Modus zusammensetzt. U n t e r dem >Modus< einer Erzählung versteht Stanzel die A r t u n d Weise, i n der sich das Element des N a r r a t i v e n zwischen den beiden Gegenpolen eines persönlichen Erzählers u n d einer Reflektorfigur dem Leser kundgibt. Der Begriff >Person< kennzeichnet ebenfalls »ein Formenkontinuum v o n Möglichkeiten zwischen z w e i Gegensatzpolen« (S. 74), das durch die Opposition v o n Identität u n d Nichtidentität der Seinsbereiche des Erzählers u n d der Charaktere markiert ist, während die Kategorie der »Perspektive* sich auf die Realisationsmöglichkeiten zwischen den Gegensatzpaaren Innenperspektive u n d Außenperspektive bezieht. I n den drei Grundtypen des Erzählens erlangt jeweils »eine andere Konstituente bzw. ein Pol der ihr zuzuordnenden binären Opposition Dominanz« (S. 79). So dominiert i n der auktorialen Erzählsituation das Element der Perspektive (»Dominanz der Außenperspektive«), während i n der Ich-Erzählung das Element der Person (»Dominanz der Identität der Seinsbereiche v o n Erzähler u n d Charakteren«), u n d i n der personalen Erzählsituation das Element des Modus (»Dominanz des Reflektor-Modus«) Vorrang hat (S.79). A u f der Basis dieses Konstituentenmodells v o n drei »binären Oppositionspaaren< k o m m t Stanzel zu einer Differenzierung seines i n den Typischen Erzählsituationen entworfenen »Typenkreises« — einer theoretischen H i l f s konstruktion, die ein Formenkontinuum möglicher Erzählsituationen anschaulich machen soll, auf dem die drei G r u n d t y p e n gleichsam als idealtypische Polstellen eines triadischen Systems fungieren, v o n denen jeder nach beiden Richtungen, zu den jeweils benachbarten T y p e n hin, transformierbar

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ist. I m neuen M o d e l l treten zu den genannten drei weitere »potentielle«, d. h. historisch noch nicht oder noch wenig realisierte Typenstellen hinzu, die jeweils entweder durch eine Dominanz der Innenperspektive, der N i c h t identität der Seinsbereiche v o n Erzähler u n d Figuren oder des ErzählerModus charakterisiert sind. A l s Schnittpunkte der drei Oppositionsachsen ergeben sich also i n jeweils gleichem Abstand voneinander insgesamt sechs Polstellen, wobei unmittelbar anschaulich w i r d , »welches Element eine ES [Erzählsituation] dominant bestimmt u n d welche Elemente (repräsentiert durch die unmittelbar benachbarten Postellen) i n i h r subdominant enthalten sind« (S. 239). Stanzeis Kreismodell versteht sich einmal als ein ahistorisches System, das sämtliche denkbaren Erzählsituationen umfaßt, andererseits aber auch als ein historisches »Strukturprogramm [ . . . ] , das v o n der Geschichte des Romans [ . . . ] Z u g u m Z u g realisiert w i r d « (S. 87). Das System eignet sich daher nicht nur zur A n w e n d u n g auf Einzelwerke, sondern audi zur Beschreibung historischer Entwicklungslinien. So geraten neben bekannten T a t beständen — wie dem Vorherrschen des persönlichen Erzählers i m Ichu n d i m auktorialen Roman des 18. u n d 19. Jahrhunderts u n d seinem Z u rücktreten i m personalen Roman i n der ersten H ä l f t e dieses Jahrhunderts — auch neuere Entwicklungen ins Blickfeld. Verschiedene Beispiele aus der zeitgenössischen Erzählliteratur scheinen ζ . B. »eine deutliche Tendenz zur A u f füllung der zwischen den drei [ H a u p t - ] T y p e n s t e l l e n liegenden Zonen des Ubergang« (S. 240) zu signalisieren. Das neue W e r k stellt u. a. eine A n t w o r t auf die gegen die Typischen Erzählsituationen gerichteten kritischen Einwände dar, die sich einmal gegen eine zu statische Schematisierung der verschiedenen Erzählsituationen, v o r allem aber gegen den triadischen A u f b a u des Stanzeischen Typensystems richteten. D e m ersten V o r w u r f begegnet der Verfasser durch eine D y n a m i sierung des Typenkreismodells, das die vielfältigen Ubergangs- u n d Oberschneidungsmöglichkeiten eines i n sich geschlossenen Formenkontinuums audi optisch anschaulich macht. D e m zweiten, etwa v o n Käte Hamburger u n d Wolfgang Lockemann aus dichtungstheoretischer, v o n Johannes Anderegg aus kommunikationstheoretischer, oder v o n E r w i n Leibfried aus textwissenschaftlicher Sidit erhobenen grundsätzlicheren E i n w a n d gegen die Konstituierung der personalen Erzählsituation als einem eigenständigen Erzähltypus versucht Stanzel einmal m i t dem pragmatischen Argument der heuristischen Brauchbarkeit seiner Theorie, zweitens m i t dem H i n w e i s auf deren leseorientierten Ansatz zu entkräften. D e m pragmatischen Argument w i r d man sich kaum verschließen können. I n der T a t hat sich die Typologie — wie durch zahlreiche durch sie inspirierte Einzelstudien bestätigt w i r d — für die Interpretationspraxis als außerordentlich fruchtbar erwiesen. Problematisch scheint jedoch nach wie v o r der Anspruch auf einen speziell leseorientierten Theorieansatz zu sein, der auch i n einem V o r e n t w u r f zu 23*

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dieser Studie emphatisch betont w i r d . 1 Wie bereits i n den Typischen Erzählsituationen bleibt auch hier das Konzept des Lesers eine vage begriffliche Hilfskonstruktion, die bei der Argumentation eine recht unterschiedliche Gewichtung erhält. Dies führt stellenweise zu Unklarheiten u n d Widersprüchen. So w i r d einerseits eine Tendenz deutlich, i m Formenspektrum der typischen Erzählsituationen sozusagen objektiv gegebene Tatbestände zu sehen, die es i m Sinne einer exakten Faktenbeschreibung zu >vermessen< gilt, während andererseits betont w i r d , daß die Realisation einer Erzählhaltung wesentlich v o n der individuellen >Vorstellungsneigung< des einzelnen Lesers abhängig ist. D a diese jedoch sehr unterschiedlich sein kann, stellt Stanzel den Leser als »Unbestimmtheitsfaktor« (S. 94) i n Rechnung, der i m Einzelfalle einer exakten >Vermessung< i m Wege stehe. Dieses Problem w i r d jedoch theoretisch nicht vertieft. D e r Verfasser begnügt sich m i t dem lapidaren Hinweis, »daß w i r über das, was i n der Vorstellung des Lesers passiert [ . . . ] noch v i e l zu wenig wissen« (S. 96). I n den angesprochenen Fällen spricht er daher häufig v o n >ObergangszonenAnsteckung< der Erzählersprache durch die Figurensprache ein primär quantit a t i v bestimmbares Demarkationsproblem zwischen auktorialer u n d personaler Erzählhaltung. D i e Frage ist, ob es hier nicht entscheidend v o m Leser abhängt, ob er diese »Personalisierung der Erzählerfigur« (Kap. 6.4) als Verdrängung oder als ironische Maske des Erzähler-Ichs auffaßt. Eine ähnliche Frage ergibt sich, wenn der Verfasser eine Erzählung wie H e m i n g ways »Fifty Grand« durch das fast völlige Zurücktreten des Erzählers charakterisiert sieht (S. 269). D e m Leser, dessen Aufmerksamkeit sich — etwa auf G r u n d seines spezifischen Bezugsfeldes oder seiner Vorerwartung — auf diesen Aspekt konzentriert, erschließen sich durchaus die Konturen einer Erzählerpersönlichkeit, die sich u. a. durch eine lakonische W o r t w a h l , einen kolloquialen Erzählstil, u n d nicht zuletzt durch persönliche Kommentare u n d Wertungen zu erkennen gibt. Bei der K o n s t i t u t i o n der Begriffsopposition >Perspektive< k a n n die Differenzierung u n d Korrelation der beiden Begriffspaare Innenperspektive— Außenperspektive und Innensicht—Außensicht nicht ganz überzeugen. D a ß für die Innenperspektive generell eine »Tendenz zur Innensicht« (S. 169) kennzeichnend sei, scheint durch Romane wie A Farewell to Arms eher widerlegt zu werden. N i d i t einzusehen ist auch — insbesondere, wenn man mögliche Apperzeptionsvorgänge beim Leser i m Auge behält (vgl. S. 148) — die Behauptung, dem auktorialen Erzähler sei es »auf G r u n d seiner außenperspektivischen Position verwehrt, Innenwelt aus Innensicht darzustellen« (S. 170). W a r u m sollte nicht eine Innenweltdarstellung — eingeleitet etwa durch die Formel »Aus seiner Sicht erlebte er die Dinge so« o. ä. — v o m Leser eher als Innensicht denn als auktorialer Gedankenbericht aufgefaßt werden können? D i e Annahme, daß die übergreifende Erzählperspektive die Wahrnehmung des Lesers ausschließlich auf letzteren h i n orientiert, scheint der Geschlossenheit der gedanklichen K o n s t r u k t i o n eher Rechnung zu tragen als dem tatsächlichen Leser verhalten. Manche Aussagen bedürften vielleicht einer sorgfältigeren Differenzierung. Wenn Stanzel ζ . B. i n der körperlich-existenziellen Determiniertheit das entscheidende Differenzkriterium des Ich-Erzählers v o n einem Er-Erzähler sieht, so wäre zu fragen, wie etwa ein Roman wie W i l h e l m Raabes 2

Ebd., S. 572.

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Der Scbüdderump i n ein solches Klassifikationsschema hineinpaßt. Überspitzt erscheint auch die Behauptung »Eine Reflektorfigur [ . . . ] verbalisiert ihre Wahrnehmungen, Gedanken u n d Gefühle nicht, da sie sich i n keiner Kommunikationssituation befindet« (S. 193), denn immerhin ist es ja dem einzelnen möglich, i n eine K o m m u n i k a t i o n m i t sich selbst einzutreten u n d seine geistig-seelische >Innenwelt< auf diese Weise auch expressiv verbis zu formulieren. Ungeachtet der hier formulierten Einwände w i r d man der K o m p l e x i t ä t u n d dem Aspektreichtum des Buches i m vorliegenden Rahmen unmöglich gerecht werden können. Wie schon die Typischen Erzählsituationen formuliert auch das vorliegende W e r k eine Vielzahl v o n Forschungsanregungen u n d offenen Fragen, v o n denen zu erwarten ist, daß sie i n künftigen Studien aufgegriffen u n d weitergedacht werden. „ _ . _ w Kurt Müller y Freiburg ι. Br.

Günter Ahrends, Die amerikanische Kurzgeschichte: Theorie und Entwicklung. Sprache u n d L i t e r a t u r 107, S t u t t g a r t : K o h l h a m m e r , 1980, 282 S. T r o t z allen Interesses an der amerikanischen Short Story i n der Forschung u n d i m Lehrbetrieb v o n Schulen u n d Hochschulen fehlte lange Zeit eine neuere ausführlichere Gesamtdarstellung dieser i n der amerikanischen Literatur so bemerkenswerten Gattung. I n dem Bewußtsein, eine echte Lücke zu füllen, veröffentlichte A r t h u r Voss 1973 sein Buch The American Short Story: A Critical Survey ( N o r m a n : University of O k l a h o m a Press). Wenn n u n der Bochumer Amerikanist Günter Ahrends ebenfalls eine Monographie über die Entwicklung der amerikanischen Kurzgeschichte vorlegt, bedeutet dies jedoch keine Duplizierung. D e n n obschon Ahrends, der sich »primär an Lehrer u n d Studenten wendet« (S. 9), nicht den Anspruch erhebt, neue Sichten u n d Wertungen zu geben, unterscheidet sich sein Buch i n Darstellungsziel u n d Vorgehensweise deutlich v o n der sieben Jahre älteren amerikanischen Publikation. Es berücksichtigt jüngere u n d jüngste Entwicklungen, insbesondere den Postmodernismus, wohingegen Voss z . B . die Autoren Barth, P u r d y u n d Pynchon gar nicht, Barthelme, Coover u n d Oates lediglich durch Nennen der N a m e n i m vorletzten Satz seiner A r b e i t erwähnt. Während es Voss darauf ankommt, eine sehr große Z a h l v o n Texten u n d Schriftstellern anzuführen, u n d dies sehr oft ein bloßes title-dropping zur Folge hat, geht Ahrends den sinnvolleren u n d ergiebigeren Weg, jeweils eine oder mehrere repräsentative Kurzgeschichten v o n insgesamt etwa dreißig Autoren vergleichsweise ausführlich zu analysieren. Uberblicksdarstellung u n d Interpretationen wechseln einander i n einer Weise ab, die den behandelten Schriftstellern eher gerecht w i r d u n d bessere Einblicke verschafft. Die relative Häufigkeit u n d Breite der Analysen hat allerdings auch den Nachteil, daß eine nicht unbeträchtliche Reihe v o n Kurzgeschichtenautoren außer acht ge-

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lassen w i r d . M a n vermißt u. a. W . G. Simms, Jack London, Kate Chopin, Grace K i n g , W i l l a Cather, Erskine Caldwell, R i n g Lardner, John O ' H a r a , D o r o t h y Parker, James Thurber, Caroline Gordon u n d P h i l i p Roth, die allenfalls flüchtig genannt, i n der Mehrzahl aber nicht einmal erwähnt werden. I m Unterschied zu Voss bezieht Ahrends ferner Theoriegeschichte ein. D a hinter steht die Absicht, die Geschichte der Short Story m i t der Geschichte ihrer Theorie i n Verbindung zu bringen u n d Zusammenhänge aufzuzeigen. Es leuchtet dabei nicht ganz ein, daß sich der Verfasser auf theoretische Äußerungen v o n Kurzgeschichtenautoren konzentriert u n d lediglich am Anfang u n d am Ende seines theoriegeschichtlichen Überblicks, der nach einer kurzen Einleitung den zweiten Teil der Arbeit bildet (S. 11 - 52), einige wichtige neuere Untersuchungen v o n Literaturwissenschaftlern dem Leser vorstellt; denn die Theoriegeschichte ist, jedenfalls i m 20. Jahrhundert, v o n beiden Gruppen gemeinsam gemacht worden, u n d eine Rückwirkung der Literaturwissenschaft auf das Reflektieren der heutigen Schriftstellergeneration ist durchaus wahrscheinlich. Aus dem Lehrbuchcharakter der Ahrendsschen Arbeit ist w o h l zu erklären, daß die berücksichtigten literaturwissensdiaftlichen Untersuchungen durchweg bloß referiert werden u n d daß kritische Auseinandersetzungen m i t ihnen selten sind. Dies ist sicherlich auch der G r u n d für das Fehlen größerer Bemühungen u m die Definition der Kurzgeschichte u n d u m ihre Abgrenzung v o n anderen Formen erzählender Prosa. T r o t z der historiographischen Ausrichtung der Monographie hätte man sich jedoch für den intendierten Leserkreis statt der nur zwei Absätze umfassenden Bemerkungen über konstitutive Merkmale der Short Story am Ende des zweiten Teiles eine etwas ausführlichere Beschreibung gewünscht. E i n komplizierter Sachverhalt w i r d arg vereinfacht, wenn zur epischen Kategorie Zeit lediglich erklärt w i r d , die Kurzgeschichte enthalte sich meist der Beschreibung längerer Zeitverläufe; und die sich aus der W a h l der Erzählsituation ergebenden Möglichkeiten u n d Konsequenzen bleiben praktisch außerhalb der Betrachtung, wenn die einzige Aussage lautet, die Kurzgeschichte tendiere z u m Verzicht auf multiperspektivische Darstellung (S. 52). Für einen m i t der Spezialliteratur nicht Vertrauten werden auch die verkürzenden Hinweise auf Affinitäten zwischen Kurzgeschichte u n d R o m a n (S. 13) verwirrend sein. Gemeint ist hier der werkgenetische oder strukturelle Grenzbereich z w i schen Short Story u n d Roman; insbesondere sind Z y k l u s - u n d Sequenzbildungen, das Integrieren v o n Short Stories i n Romane und der gelegentlich postulierte »Kurzgeschichtenroman« angesprochen, u n d der Verfasser eröffnet sich so die Möglichkeit, i m dritten T e i l seines Buches Texte wie Winesburg, Ohio, die i n ihrer Gattungszugehörigkeit umstritten sind, sowie Kurzgeschichtenzyklen — ζ . B. v o n John Steinbeck — mitzubehandeln. Die Abschnitte über theoretische und definitorische Äußerungen v o n Kurzgeschichtenautoren befassen sich vorrangig m i t den zumeist auch i n

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den einschlägigen Sammelbänden zugänglichen, ζ. T . klassischen Aufsätzen u n d Aussagen v o n Poe, Bierce, Wharton, James, Howells, Anderson, W e l t y und anderen. Z u begrüßen ist die Berücksichtigung v o n Flannery O ' C o n n o r u n d Joyce Carol Oates, v o n der allerdings auch andere als die hier zitierte Äußerung vorliegen. D i e recht vage u n d letztlich gattungsunspezifische Bemerkung v o n Oates, die Short Story sei »a dream verbalized, arranged in space and presented t o the world«, w i r d erheblich überbewertet, wenn sie für geeignet gehalten w i r d , »markante Wesenszüge der zeitgenössischen amerikanischen Kurzgeschichte zu verdeutlichen« (S. 43). Zweifel lassen sich anmelden am Sinn der Unterscheidung zwischen normativen u n d deskriptiven Theorien, die denn auch S. 25 relativiert w i r d . Bret Hartes Aufsatz »The Rise of the »Short Storyblank< = leer, rein« zu erklären, bleibe dahingestellt. D i e Whigs (erwähnt ζ . B. unter »Blackwood's Edinburgh Magazine«) bleiben v ö l l i g unerklärt. U n d bei einer urenglischen Institution wie der »Music H a l l « wäre ein H i n w e i s auf weiterführende Literatur schon angebracht gewesen. U n k l a r schließlich auch das Auswahlkriterium für fiktive Figuren. Wenn schon Blifil genannt w i r d , w a r u m dann nicht auch Sophia Western? Trotz allem: das Werk enthält viele nützliche Informationen, die man i n vergleichbaren Lexika nicht findet. Die Chance freilich, ein der Zielsetzung entsprechend genau durchdachtes u n d damit konkurrenzloses Nachschlagewerk zu schaffen, wurde leider nicht konsequent genutzt. Kuno Schuhmann, Berlin

W a l t e r Pache, E i n f ü h r u n g i n die Kanadistik. D a r m s t a d t : Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1981, V I I I u. 169 S. » N o one reads a Canadian novel unless by mistake.« Ist diese sarkastische Sentenz eines kanadischen Literaturkritikers aus dem Jahre 1922 für das Ausland immer noch gültig? D i e auswärtige kanadische K u l t u r p o l i t i k bemüht sich seit etwa f ü n f Jahren jedenfalls intensiv u m die Förderung kanadischer Literatur i n Deutschland. Paches Buch kann als Frucht solcher Bemühungen angesehen werden. Insofern ist seine Arbeit auch keine »Einführung« i m herkömmlichen Sinn: der H a u p t t e i l (Kap. 3 - 5 ) bietet einen literaturgeschichtlichen A b r i ß der anglophonen u n d frankophonen Literaturen Kanadas, an den sich ein Uberblick über die noch unbekanntere deutsch-kanadische Literatur schließt (Kap. 8). D i e Existenz zweier Hauptsprachen u n d -kulturen ist für den Verfasser darüber hinaus A n l a ß zu einer Beschreibung der wichtigsten Merkmale des kanadischen Englisch und des kanadischen Französisch (Kap. 2) sowie der sich aus dem Umstand des bi-culturalism besonders anbietenden Methode der Komparatistik (Kap. 7). Z u den mehr erwartungsgemäßen Gegenständen eines Einführungsbandes zählen dagegen die Definitionen i n K a p . 1 (vgl. »Was bedeutet Canadian?«, »Wer ist kanadischer Autor?«), die methodischen Erörterungen der neuen Disziplin (Kap. 6 u. 8.3.) und die praktischen H i l f e n wie Bibliographie (Kap. 9), Zeittafel der Literatur u n d Geschichte Kanadas (S. 161 - 163) u n d Nachweis kanadistischen Materials i n der Bundesrepublik (Kap. 8.3.2.). Durch ihre sorgfältige Gliederung und ihre Kommentierung wichtiger T i t e l

366

Buchbesprechungen

n i m m t die 24seitige Bibliographie bewußt Rücksicht auf die Bedürfnisse eines Einzuführenden. Besonders nützlich empfindet man die Liste der Personalbibliographien (Kap. 9.1.6.). D i e Angaben zur Geschichte des Landes wünschte man sich allerdings u m Literatur zur Entwicklungsgeschichte des kanadischen Westens, speziell i m Vergleich zur amerikanischen u n d australischen frontier y bereichert. Z u den hier kurz umrissenen Schwerpunkten der Arbeit läßt sich i m einzelnen folgendes ausführen. 1. Bei der Darstellung der kanadischen Sprach Varianten beschränkt sich Pache auf einen Uberblick über deren wichtigste Abweichungen v o n den Standardformen der jeweiligen »Mutterländer«, bzw. des American English. Er zieht die Bezeichnung »Kanadismen« hierfür v o r u n d spricht nicht von einer eigenen Sprachvariante »Kanadisches Englisch« oder »Kanadisches Französisch«. Was den Einfluß des American English angeht so hat der Verfasser recht, wenn er feststellt, daß das i n Kanada gesprochene Englisch Züge des britischen u n d des amerikanischen Englisch vereinigt, ohne daß immer klare Grenzen zu ziehen wären (S. 21). Für das Entstehen der kanadischen Sprachvarianten macht Pache unter Zitierung neuerer Forschungen einen Zwiespalt zwischen überkommener Sprachform u n d eigenständiger Wirklichkeitserfahrung verantwortlich. Das Ergebnis dieses Zwiespalts sei »a k i n d of linguistic unreality through which the culture that has since emerged has repeatedly been t r y i n g to speak.« (W. H . N e w , S. 25). Es f ä l l t schwer, dieser Folgerung uneingeschränkt zuzustimmen. Z w a r schafft Wirklichkeit Sprache, aber umgekehrt gilt auch, daß Sprache Wirklichkeit schafft, konkreter: daß Sprache unser Bewußtsein formt, u n d das Bewußtsein unsere Sicht der Dinge. So gesehen kann man verstehen, w a r u m der kanadische myth criticism (Kap. 6.2.1.) Literatur als bewußte M y t h e n Schöpfung deutet, d. h. als Formulierung einer (subjektiven) Wirklichkeit, die für eine nicht beweisbare, andere (objektive) Wirklichkeit stehen soll. Wie Robert Kroetsch passend sagte: » I n a sense we haven't got an identity u n t i l somebody tells our story, the fiction makes us real.« ( Z i t a t bei Pache, S. 73). D a m i t w i r d natürlich der nationalistischen »Canadian voice« Vorschub geleistet (d. i. Behauptung v o n der Existenz einer spezifisch kanadischen Sensibilität, s. S. 25, 82 ff.). Aber solange diese nicht als Qualitätskriterium mißverstanden w i r d (vgl. S. 86 f.), mag sie ruhig weiterhin als Einstieg i n die Beschäftigung m i t kanadischer Literatur dienen (und A t w o o d s Survival k a n n überleben). Wieviel amerikanische Literatur wurde nicht unter das Stichwort »American Dream«, etc. reduziert! 2. I m Sinne einer Einführung besonders lobenswert ist Paches exemplarische, synchrone Darstellung der englischsprachigen Kolonialliteratur. A n H a n d v o n gattungsverschiedenen Textbeispielen des frühen 19. Jahrhunderts zeigt er das Form- u n d Funktionsproblem, denen sich britisch orientierte Autoren i n einer nicht mehr britischen U m w e l t ausgesetzt sahen.

Buchbespreungen

367

Typisch für alle »Commonwealth-Literaturen« dürfte auch eine Entwicklung v o n K o l o n i a l - zu Nationalliteratur sein, letztere gekennzeichnet durch das Bestreben, eine epigonale durch eine originale Literatur zu ersetzen u n d damit kulturell-künstlerische Eigenständigkeit, Selbstwertgefühl und nationale Unabhängigkeit zu demonstrieren. Das starke Interesse Quebecs an der Periodisierung seiner Literatur wertet Pache richtig als den Versuch, Literatur zum Spiegelbild signifikanter Entwicklungsstufen auf dem Weg zu staatlicher Souveränität (hier: Separatstaat Quebec) zu begreifen (vgl. K a p . 4). Schlüsselwörter dieser politisierenden Literatur sind patrie u n d race (S. 53), kennzeichnende Ausdrucksform das joual, eine kalkuliert literaturfähig gemachte Vulgärsprache Quebecs (S. 59). Diese Situation sowie die Existenz einer Fülle v o n Gebrauchsliteratur, die v o n der Erschließung des kanadischen Kontinents handelt, begründen das Plädoyer des Verfassers, beim Studium der kanadischen Literatur i n besonderem Maße den Bezug zwischen Literatur u n d außerliterarischer Realität zu berücksichtigen (S. 118). Uber die mosaikartige Q u a l i t ä t dieser außerliterarischen Realität ist viel geschrieben worden (vgl. z. B. John Porter, The Vertical Mosaic , Toronto, 12 1975). Das Mosaik-Konzept w i r d vor allem immer wieder zur Abgrenzung v o n der amerikanischen melting-pot- Ideologie bemüht. Für die kanadische L i t e r a t u r k r i t i k ergeben sich aus diesem Fehlen einer homogenen K u l tur allerdings große Schwierigkeiten bei der Bestimmung einer kanadischen Nationalliteratur. Einen v o n Pache nicht so bewerteten, aber zweifelhaften Ausweg gehen K r i t i k e r wie Moss, Mathews und Sutherland, wenn sie unter der Devise »Kolonialliteratur schafft Modelle« die frühen Texte als prototypische Gestaltungen einer eigenen Welt- u n d Wirklichkeitserfahrung aufwerten. Sie entheben damit die Kolonialliteratur jeglicher Vergleichsnotwendigkeit m i t der britischen Hochliteratur. Ohne Vergleich aber ist ein echtes Einschätzen, ein echtes Bewerten nicht möglich. Wie schwierig es ist, eine Nationalliteratur zu bestimmen, zeigt sich auch darin, daß selbst eine so urkanadisch erscheinende Literaturform wie der Prairieroman des frühen 20. Jahrhunderts nicht ohne weiteres als eine kanadische Sonderform angesehen werden k a n n : zum einen hat natürlich auch der amerikanische Westen seine Prairieromane hervorgebracht, beispielsweise W i l l a Cather m i t Ο Pioneers! und My Antonia, und zum anderen hat, wie Pache selbst anführt, die neuere Forschung glaubhaft gemacht, daß gerade der Vertreter des kanadischen Prairieromans, Frederick P h i l i p Grove, als gewandelter Felix Paul Greve nicht frei w a r v o m Einfluß europäischer Strömungen wie Naturalismus, Dekadenz und Symbolismus (S. 92). 3. V o n einem w i r k l i c h nationalistischen, aber auch experimentellen u n d innovativen Geist geprägt ist erst die »zeitgenössische« kanadische Literatur. Sie w i r d getragen v o n einem erstaunlichen kulturellen Aufschwung, der etwa u m 1960 einsetzt. Genaue Ursachen dieses Aufschwungs lassen sich natürlich nicht benennen; keinesfalls kann allein das Unbehagen gegen den

368

Buchbesprechungen

zunehmend dominierenden Einfluß der U S A als Erklärung herangezogen werden, wie dies z. B. S. M . Crean i n ihrer ζ . T . polemischen A b h a n d l u n g Who's Afraid of Canadian Culture ? ( D o n M i l l s , 1976) versucht. Leider w i r d dieser kanadische Bestseller v o n Pache nicht erwähnt, auch nicht i n seiner Bibliographie. Ebenfalls unbeachtet bleibt bei der Besprechung der kulturpolitischen Voraussetzungen dieses Aufschwungs der sog. SymonsReport. 1 D i e v o n T . H . B. Symons geleitete Kommission führte die Arbeit der »Massey Commission« aus dem Jahre 1949 praktisch fort u n d brachte u. a. wichtige Empfehlungen zum Ausbau der Canadian Studies an Schulen u n d Universitäten ein. D i e französisch-kanadische Literatur scheint eine parallele Zäsur zwischen Vergangenheit u n d Moderne aufzuweisen. Pache zitiert R . Sutherlands Behauptung aus dem Jahre 1976, wonach die Literatur Quebecs i n zwei Perioden zerfalle: eine statische, welche die ersten 350 Jahre, u n d eine dynamische, welche die letzten 15 Jahre umfasse (S. 57). Es ist sicher richtig, daß die herkömmliche Schema-Literatur m i t der Thematisierung der eigenen Vergangenheit u n d ihrer romantischen Verklärung einer kritischen Literatur i n neuem Formengewande (z. B. Gebrauch des Joual, Ästhetik der novel of ambiguity ) gewichen ist, (vgl. S. 59, 61); da sie aber nach wie v o r separatistische Tendenzen auf weist, genauer: ihre eigene, einheitliche K u l t u r zu bewahren trachtet (S. 53, 55, 57), hat sich i m Grunde genommen der programmatische Charakter der frankophonen Literatur seither nicht geändert, und der »grundlegende Wandel«, den der Verfasser sieht, ist nicht so recht zu erkennen. Der durch den literarischen Aufschwung freigesetzte nationalistische Geist manifestiert sich vor allem i n einer Suche n a d i der kanadischen Identität. D e n ursächlichen Zusammenhang zwischen Literatur u n d Nationalgefühl sieht Pache darin, daß das erstere das letztere schaffen soll, w e i l ein gewachsenes Staatsbewußtsein i n dem künstlich geschaffenen Staatsgebilde fehle (S. 66). I n der T a t scheint auch die kanadische K u l t u r p o l i t i k seit 1960 diese Auffassung v o n der F u n k t i o n und Möglichkeit der Literatur i n einer Gesellschaft zu teilen. D i e durch große staatliche Institutionen — wie das Canada Council, die N a t i o n a l F i l m Board of Canada oder die A r t s Councils der Provinzen — unterstützten K u l t u r a k t i v i t ä t e n lassen sich auf identitätsfördernde Zwecke wie »To K n o w Ourselves« u n d »Seeing Ourselves« bringen. 2 Angesicht des v o m Verfasser offensichtlich auch so gesehenen Z u sammenhangs (S. 66 u n d 11) bleibt jetzt allerdings unklar, wie er wenig später zur gleichen Situation sagen kann, es bestünde eine »offenkundige 1 T . H . B. Symons, To Know Ourselves: Canadian Studies , A U C C : Ottawa, 1975.

The Report

of the Commission

on

2 So die bezeichnenden Titel zweier Bestandsaufnahmen zeitgenössischen kanadischen Kulturschaffens: T . H . B. Symons: To Know Ourselves, a.a.O., und James E. Page, Seeing Ourselves: Films for Canadian Studies , N a t i o n a l F i l m Board, ο. Ο . , 1979.

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369

Diskrepanz zwischen nationalem Selbstbewußtsein u n d dem Fehlen einer literarischen T r a d i t i o n « (S. 70). 4. Der Textteil des Buches schließt m i t einem Abschnitt über die Kanadistik i n Deutschland. Was die Position dieser jungen D i s z i p l i n neben der schon etablierten Amerikanistik angeht, so macht der Verfasser hier eine unterkühlte Empfangsbereitschaft auf seiten der Amerikanisten aus: » D i e . . . scharf abgegrenzte Amerikanistik s t e h t . . . Versuchen, neue anglistische Teilbereiche zu begründen, skeptisch gegenüber« (114). Aber auch die t r a d i t i o nelle A n g l i s t i k »tut sich schwer m i t neuen Teilgebieten, die als Emporkömmlinge den Frieden des Faches stören« (117). Also Unbehagen überall? Grundsätzlich w o h l nur dann, wenn die Kanadistik z u m jetzigen Z e i t p u n k t institutionalisiert werden w i l l . Der Verfasser wünscht sich i n seiner E i n leitung denn auch, daß seine Leser nicht Studenten der Kanadistik seien, sondern Leser i n Schule und Universität, die sich für die zweite große Literatur Nordamerikas interessieren. Was die v o m Verfasser gesehenen Schwierigkeiten curricularer A r t angeht, so sind diese freilich nur durch eine aufgeschlossene Kultusbürokratie zu vermeiden, die die Universität auch das prüfen läßt, was sie lehrt. Alles i n allem leistet Pache m i t seiner Arbeit eine gewinnbringende V o r stellung der Gegenstände, die aus deutscher Sicht i m Augenblick die sprachu n d literaturwissenschaftliche Teildisziplin Kanadistik innerhalb der Canadian Studies begründen. D i e klare Sprache, die übersichtliche Stoffgliederung u n d das angemessen eingesetzte Prinzip der Wiederholung verbürgen auch i n didaktischer Hinsicht den erhofften Zweck des Buches, nämlich Interesse an der Literatur Kanadas zu wecken. . . _ . TT Hansjorg Gebring, Regensburg

2

Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 23. Band

N A M E N - U N D WERKREGISTER von K u r t Müller

(Die Zahlen bedeuten die Seiten, kursive Zahlen die Hauptstellen, A = kung. Das Register wählt aus.)

Abbos v. St. Germain-des-Prés

Andreas Capellanus

— »Bella Parisiacae urbis«

Andreas-Salomé, Lou

Aelred von Riedval Aiken, Conrad in

Angelomus

distinctionibus

dictionum

33 A . 54, 55 A . 99

— Liber poenitentialis

von

175, 175 A . 4,

Luxueil

Luxoviensis]

9 - 5 6 passim

theologicalium

325

297 - 304

66

361

Alanus von Lille — Liber

321

Anmer-

10 A . 3, 11 A .

Annolied

323

Anselm von Laon [Anselmus Lauduensis]

63, 63 A . 30

5, 12 A . 8, 15 A . 15, 21 A . 24, 21 A .

Aristoteles

25, 23 A . 28, 23 A . 29, 26 A . 35,

— De anima

27 A . 39, 28 A . 41, 33 A . 54, 46 A .

Arndt, Ernst Moritz

78, 47 A . 80, 47 A . 81, 48 A . 82, 48

Artaud, Antonin

A . 83, 48 A . 84, 50 A . 87, 50 A . 88,

Auden, Wystan H u g h

51 A . 89, 51 A . 90

Augustinus

— Summa de arte praedicatoria

34 A .

[Angelomus

60

152, 154 152, 154, 167 338

349 270

19, 48 A . 84, 220

— Bekenntnisse

81

57 Aicher von Clairvaux Alcuin

53 A . 94

Baader, Franz von

325

Bacon, Francis

Aldridi, Thomas Bailey 256

— » O f Studies«

— »Shaw Memorial Ode«

— » O f Truth«

Alexis, Willibald

256

339

Allerleirauh

88 88

Bainbridge, Beryl

— Ruhe ist die erste Bürgerpflicht 177

339

Baker, Paul -Hamlet

97

88, 92

364

349

ESP

349

Altes Testament

179, 225, 227, 306

Balthasar, Hans Urs von

Alvarez, Alfred

271

Balzac, Honoré de

— »Beyond the Gentility Principle« 271

Barth, John

— The New Poetry Ambrosius, Aurelius Amis, Kingsley

— Winesburg, Ohio

24»

319

271 65, 65 Α . 37

271

Anderson, Sherwood Andreas

Barker, George

363

358

Barthelme, Donald Barton, John

358

347

Bates, Herbert Ernest 360 359, 360

235, 236

345

Baudelaire, Charles Beaumont, Francis Beckedorff, Ludolph

363 268

364 99-101

Namen- und Werkregister

372 — »Ständische Commission«

99, 108,

Bond, Edward — Lear

111 Becke«, Samuel

Borchardt, Rudolf

179 A . 19

— Dante and the Lobster Beckford, W i l l i a m

179 Α . 19

361

Benjamin, Walter

270

Bottrall, Ronald

363

Boucicault, D i o n

364

Bourdaloue, Louis

176 A . 9

335

Bennett, Arnold

364

Bowdler, Thomas

Bentley, Richard

364

Bradbury, Malcolm

Beowulf

319

Bragg, M e l v y n

Berkeley, George

154, 156

Berliner Abendblätter 106, 111, 112, 113 Bermange, Barry Bernanos, Georges

Brooke, Peter

236

Bernhard von Pavia

236

10 Α . 2, 14, 20

— Summa Decretalium

10 A . 2

259, 271

252 324

87

— The Pilgrim's Progress

360, 361 Magazine

63,

251

— »Waiting by the Gate« Bunyan, John

Blackwood's Edinburgh Blair, H u g h

335

Bruno von Asti [Bruno Signiensis]

Büchlein vom heimlichen Boten

364

Bierce, Ambrose

270, 270 A . 13, 363

Brunetière, Ferdinand

Bryant, W i l l i a m Cullen

259

Betjeman, John

269, 364 276

63 A . 32

— »Boston Common: A Meditation upon The Hero«

173, 349

Brooke, Rupert

— Journal d'un curé de campagne

363

344 - 346

Brecht, Bertolt Bridges, Robert

364

Berryman, John

365

363

Brandes, Georg

95, 96, 99, 101,

202

333 - 336

154

Bottomley, Gordon

364

364

Bellow, Saul

Bossuet, Jacques Bénigne Boswell, James

34, 65, 65 A . 39 Belloc, Hilaire

202

— »Ode mit dem Granatapfel«

48 A . 84, 63, 64 A .

Beerbohm, Sir M a x

202, 203

— »Klassische Ode«

364

Beda Venerabiiis

348, 349

348, 349

87

365

365

Csedmon

92

Blake, W i l l i a m

280, 285

Caldwell, Erskine

— »The Tyger«

280

Campbell, Roy

359 271

Büxen, Tania Karen

179 A . 19

Cardenal, Ernesto

— Babettes Gastmahl

179 Α . 19

— »Clamo en la noche en la camara de

Bloy, Léon

234

tortura«

225

-241

233

Blumenberg, Hans

342

— »Dios de las venganzas«

Blunden, Edmund

270, 363

— El Estrecho dudoso

Blunt, Wilfried Blyton, Enid

363

— Hommaje

364

a

los indio s americano s

239

Bobrowski, Johannes

192

— Hora cero

— »Ode an Thomas Chatterton«

192

— Salmos

239

225 - 241

Boccaccio, Giovanni

Carlyle, Thomas

— Il Decamerone

Carmen

Böhme, Jakob

166 153

— De Signatura Rerum Börne, Ludwig

227

239

153

338

Boileau-Desperéaux, Nicolas

193-197

338

de conversione Saxonum

Cassirer, Eva

297 - 304

Cather, W i l l a

359, 367

— My Antonia

367

— Ο Pioneers!

367

321

Namen- und Werkregister Cézanne, Paul

Creuzer, Georg Friedrich

351

Chastellain, George

343

Cummings, Edward Estlin

57 - 70

270 A . 13

— Entrée du roys Loys en nouveau règne 57, 58

Dante Alighieri

Chopin, Kate

359

179 A . 19, 1 8 0 - 1 8 1 ,

187, 225, 2 3 4 - 2 3 5

Claudel, Paul

207-224

— Art poétique

214

— Divina

Commedia

— Cinq grandes Odes

— Inferno

207

— L'Esprit et L'Eau

— La jeune fille Violaine

211

222

180-181

Davie, Donald

271

207 - 224

Davies, Andrew

— Processional

saluer

D a y Lewis, Cecil

pour

le siècle

— Le Soulier de Satin

De«iic/?e

217

Coleridge, Samuel Taylor

288

Conquest, Robert 271

271

Coover, Robert

358 82 - 93 passim

— »Against Hope«

84

— »Life«

351

Dostojewski, Fjodor

138



138

und Sühne

Corbeiensis]

87

82

91 136

136

62, 62 A . 25 158

Dunbar, Paul Laurence

259

— »Robert Gould Shaw«

259

357

— »The Open Boat«

360

Eberhart, Richard

— The Red Badge of Courage Crashaw, Richard

357

81 - 93 passim

— Carmen Deo Nostro — Delights of the Muses Sacra

— »Musick's Duell« — »On Hope«

270

D r y den, John

— » O n the Death of M r . Crashaw«

— Epigrammata

Doolittle, H i l d a

Druthmar [Christianus Druthmarus

88

82, 87, 88

Crane, Stephen

82

— Die Judenbuche

83

— Lives of the Poets - » O f Wit«

82

— Holy Sonnets

Droste-Hülshoff, Annette

83 - 84, 87

— The Mistress

81, 82, 88, 89, 92

— Divine Poems

Dowsing, W i l l i a m

92

345

346

Dos Passos, John

Cowley, Abraham

— »For Hope«

Rundschau

Donne, John

271

— New Lines II

270

247

Dilthey, Wilhelm

90

— Davideis

271, 364

Descartes, René

235

Clemens von Alexandrien

— New Lines

348

De la Mare, Walter

207

d'Or

225,

306

— Vita nuova

— La maison fermée

-Tète

180,

153

— Purgatorio

219

— Idéogrammes occidentaux

nouveau

152,

234

285

348

Eleonore von Poitou Eliot, George

81

325

287, 288

Eliot, Thomas Stearns

92

81, 90, 92, 265,

270, 271, 285, 296, 351, 353

81

— Four Quartets

82, 92

90

— » O n Teaching the Appreciation

85 - 91

— Steps to the Temple

Edgar, D a v i d

Poetry«

82, 89

— »Wishes to his Supposed Mistress* Credo des armen Hartmann

— »Tradition and the Individual ent«

92 323

of

265

265

— The Waste Land

270

Tal-

Namen- und Werkregister

374 Emanuel, Pierre

236

Garland, H a m l i n

—- Evangéliaire

236

— »The Return of a Private«

Emerson, Ralph Waldo — »Threnody«

nensis]

—De

Genesis

18 A . 20

ortu et fine Romani

imperii

18

Α. 20 271

George, Stefan

338

von

Reichersberg

Reichers bergensis]

Ermoldus Nigellus Exodus [ A E ]

270 A . 13, 271

59, 60, 65

Gerhoh

Enright, D . J.

66, 66 A . 44

Gascoyne, D a v i d

285

Engelbert von Admont

Gesta Berengarii

321

Gide, André

319

[Gerhohus

66, 66 A . 43

321

207

Gilbert, W i l l i a m Schwenk Farrell, James T .

Fielding, H e n r y

126 - 127, 129, 141

Möhring

138,139,141

138, 141

131, 134, 135 - 138, 141

-Stechlin

118, 131, 134-135,

141

— Unterm Birnbaum

133 - 134, 141

— Unwiederbringlich

126, 127 - 129,

131, 141 -

Vor dem Sturm

118 - 125, 126, 134,

141 Forster, Edward Morgan — The Longest Journey Foucault, Michel François de Sales Frau Ava

155 155

334

268

— Die Struktur der modernen Lyrik Friedrich von Hausen 207

Gratiani

324

19 A . 22, 28 A .

43, 29 A . 44, 31 A . 48, 45, 46, 48, 49 Graves, Robert

19

271

Gregor der Große [Gregorius Magnus] 48 - 50, 55, 58 A . 8 — Homiliae

XL in Evangelia

— Homiliae

in Ezechielem

— M or alia in Job — Regula pastoralis Grillparzer, Franz Grimm, Jacob Grove,

Greve]

48, 49 49

49, 55, 58 Α . 8 48, 49 147

340 - 344

Frederick

Philip

[Felix

Paul

367

Gryphius, Andreas

333

Guardini, Romano

81, 282

Novigento]

216, 219, 349

Frizeau, Gabriel

— Decretum

333

Guibert [Guibertus abbas S. Mariae de

323

Friedrich, H u g o

359

1 9 - 4 9 passim

Günther, Johann Christian

340, 341

Freud, Sigmund

111,

309

— Tractatus de poenitentia

130 - 131, 134, 135, 141

— Boggenpuhls Quitt

183, 188

131 - 133y 141

Grete Minde

- Mathilde -

269

129, 138, 141

Briest

- Ellernklipp -

Gratian

117-141 ,

338, 343

W o l f gang von

Gordon, Caroline

188

Flint, Frank Stewart

Johann

— »Ganymed«

351

Fontane, Theodor

von

184, 204, 309

188

Flaubert, Gustave

Effi

Goethe,

116, 182

Fitzgerald, F. Scott

-

Görres, Joseph von

81

Fichte, Joh. Gottlieb

349

96

334, 336

Ferrar, Nicholas

349

and Guildenstern

Gneisenau, Aug. Graf Neidhardt

351, 360

Fénelon, François

-L'adultera

— Rosencrantz

361

Faulkner, W i l l i a m

362

Garnier von Langres [Garnerius Lingo-

251

251

Empson, W i l l i a m

360, 362

Gunn, Thom

268

60, 60 A . 17 271

Gunn, N e i l l Miller

364

— Butcher's Broom

364

Hacks, Peter

346, 347

Hansel und Gretel

177

Namen- und Werkregister H a i m o von Auxerre H a l l , Peter

[Haymo

Halber-

— King Log

286

65, 65 A . 40

— Lachrimae

347

— Mercian Hymns

statensis]

Hamburger, Michael

268

286 285

-296

— »The Naming of Offa«

Hardenberg, K a r l August von

96, 99,

— »Offa's Laws«

100, 101, 101 A. 16, 102, 108, 111,

— »Redeeming the Time«

113, 114

Hölderlin, Friedrich

Hartley, Anthony

271

Hartmann von Aue — Klage-Büchlein — Iwein

13 A . 11

Hoggart, Richard

329

Weher

H o l z , Arno

148 357, 360, 361

357 174,

der

Wissenschaften

philosophischen

des Geistes

180

— Crave Birds

— How

324

Hemingway. Ernest to Arms

the Whale

— »Fifty Grand« Herbert, George — The Temple

— »Tiger-Psalm«

81, 82, 89, 92

Hibernicus exul

274 276

— »The Thought-Fox«

360

— Wodwo

81,89

Heusler, Andreas

276

— Season Songs

— The Old Man and the Sea

284

277

276

Hulme, Thomas Ernest

192

27 G

277

— »The Scream«

352

357

274, 276

Became

276

— Moortown

352, 357

— »Cross-Country Snow«

273 - 285

in the Rain

— Meet My Folk

350 - 353

278

274

278

— Lupercal

324

361, 362

273-285

— »A Childish Prank«

— The Hawk

324

Heinrich von Veldeke

271,

— »Gnat Psalm«

191, 344

Heinrich von M e l k

92, 269, 288

193, 194, 196, 197, 198

— Crow

179

— A Farewell

Hopkins, Gerald Manley

Hughes, Ted

188

über die Ästhetik

Heine, Heinrich

54 A . 97, 55 A .

Howells, W i l l i a m Dean

174

— Vorlesungen über die Philosophie der

— Eneit

— Speculum Ecclesiae

H o r a z [Quintus Horatius Flaccus]

179, 180, 182, 188, 267, 345

— Vorlesungen

269, 270

321

Hieronymus, Sophronius Eusebius

19,

Iff land, August Wilhelm

98, 99, 107

48 A . 84, 60, 61, 61 A . 21, 64, 64 A .

Irving, Washington

360, 361

35

Isidorus Hispalensis

58 A . 8

H i l l , Geoffry

285 - 296

— For the Unfällen — »Genesis«

97,

99

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich

— Phänomenologie

54 A .

55 A . 99

Hawthorne, Nathaniel

— Enzyklopädie

235

192

Honorius Augustodunensis

147

— The Scarlet Letter

Religion

271

Holthusen, Hans Egon 147

147 145

363

H o l l o way, John

— Vor Sonnenaufgang -Die

— Der Tor und der Tod

324

Hauptmann, Gerhart

288

201, 202, 204

Hofmannsthal, Hugo von

13 A . 11, 324

— Der arme Heinrich

293 - 296

290 - 293

286

287

— »History as Poetry«

287

James, H e n r y

357, 360

— The Portrait

of a Lady

357

Namen- und Werkregister

376

der Musik

James, W i l l i a m

256

Jarrell, Randall

270 A . 13

Jean Paul [Jean Paul Friedrich Richter]

98,112

— Michael Kohlhaas

338 - 340

— Penthesilea — Prinz

Jennings, Elisabeth 271

101

177, 184

Friedrich

von

Homburg

Johannesevangelium

61, 63, 74

das hiesige Theater betreffend«

Johnson, D r . Samuel

88, 154

111

— Vanity

of Human

Jonson, Ben

Wishes

88

151-171

— A Portrait

of the Artist

chen Verhältnisses«

— Stephen Hero — Ulysses

as a Young

gierung" — »Über

164

95, 105 - 110 die

Luxussteuern«

157, 159

— Der zerbrochene Krug Kleist, Marie von

Die jüngere Judith

323

Jung, Carl Gustav

219, 221, 222, 223

117, 178, 188, 189, 190

A . 47 — Das Urteil

-Gats

177, 189

König, Josef

198 303

Kops, Bernard

349 of Stepney Green

Lachmann, K a r l 146 - 148

146,148

66

Lardner, Ring

359

Larkin, Philip

271

Lassalle, Ferdinand

146,149

345

— Hölle Weg Erde

148

Lawrence, D a v i d Herbert

Die Kaiserschronik

323, 324

Lessing, Gotthold Ephraim

Kanne, Johann Arnold Kant, Immanuel — Mutmaßlicher geschichte

343

Kierkegaard, Sören

338

349 262

244, 250, 254 Lowell, Robert

359

— »For 95- 116,

175,

— »Allerneuester Erziehungsplan«

109

177, 184 - 187 — Amphitryon

340, 343

— » H a r v a r d Commemoration Ode«

345 von

243 - 263, 271, 288

the Union

Dead«

111

Lukdcs, Georg Lukasevangelium

—- »Betrachtung über den Weltlauf « — Familie S òro ff enstein

116

184

oder die

243,

244,

255 - 261, 262 Ludwig X I . von Frankreich

— Die heilige Cäcilie

155

359

Lowell, James Russell

175, 338

— Der grüne Heinrich

Heinrich

London, Jack Lorenz, Konrad

321

280

155

Lévi-Strauss, Claude

der Menschen-

177

Keller, Gottfried

Kleist,

— Laokoon

177, 178, 182 Anfang

Karolus magnus et Leo papa

King, Grace

349

341

Langton, Stephan

145 II

193, 195 -

201, 202, 203, 205

— The Hamlet

143 - 149

— Die Bürger von Calais -Gas

114 A . 24

190 A . 47

Kaiser, Georg -Gas

96,

175

Klopstock, Friedrich Gottlieb — » A n Fanny«

— »Der Hungerkünstler«

95,

101, 103 - 105

151 - 171, 296

Kafka, Franz

95, 97, 101 - 103

— Über die Finanzmaßregeln der Re-

151, 152, 157, 159, 162, 169

— Pinnegans Wake

98,

— »Über die Aufhebung des laßbäuerli-

82, 92, 288, 290

Joyce, James Man

109

— »Schreiben eines redlichen Berliners,

57

95 57, 58, 63, 63 A . 33,

66 Lupus von Ferneres [Lupus abbas Fer-

Gewalt

rierensis]

65, 65 A . 41, 68, 69

Namen- und Werkregister MacNeice, Louis

Neues Testament

271

Malamud, Bernard Mann, Thomas

361

Oates, Joyce Carol

81

Marguerite de Navarre

de Marsan

Marx, Karl

Opitz, M a r t i n Origines

91

Matthäusevangelium

— William

Melville, Hermann

let

324

Metz, Johann Baptist

Péguy, Charles

Michelet, Jules

— Eve

343

Middleton, Christopher

277

vertu

66, 67 A . 47 Petrus Chrysologus

187

Petrus Comestor

187

Moody, W i l l i a m Vaughn Moritz, K a r l Philipp

259

Phoebus

9 5 - 1 1 6 passim

— Elemente der Staatskunst

100 Α . 15,

Pindar

Platen-Hallermünde, August Graf von

— Lehre vom Gegensatze

100 Α . 15

Plath, Sylvia

— »Sdireiben aus Berlin«

108, 109

Piaton

— »Vom Nationalcredit«

96, 99, 108,

271

58, 146, 267, 337

— Kratylos

58

Poe, Edgar Allan

109, 110, 112 Muggeridge, Malcolm

363

Pound, Ezra

347 16

321

269

Purdy, James

358 358, 361

226 Raabe, Wilhelm

Neruda, Pablo

360, 361

321

Pynchon, Thomas

364

Musset, Alfred de

Poeto Saxo

— Gesta Caroli Magni

271

Murbacher Hymnen Murdoch, Iris

81

193 - 195, 197

191

109

Muir, Kenneth

14 A . 14, 52 A . 93

96, 111

Pieper, Josef

199

65, 65 Α . 38

53 Α . 94

Petrus Lombardus

259

— »Ode in Time of Hesitation«

Muir, Edwin

56 A . 102

Petrus von Capua [Petrus Capuanus]

323

87

Mombert, Alfred — Der Glühende

235

235

Peter von Poitiers

277

Müller, A d a m

235

— Le porche du mystère de la deuxième

277

Sündenklage

62, 63 A. 29

234, 235

— Le mystère des saints Innocents

343

— »Five Psalms of Common Man«

Milton, John

359

306

Paschasius Radbertus

226, 227, 239

60, 61

Ham-

349

Pascal, Blaise

360

— »Origines du droit français«

Millstätter

349

Shapespeare's >Naked