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German Pages 419 [426] Year 1978
LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH IM AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN VON HERMANN KUNISCH
NEUE FOLGE / NEUNZEHNTER BAND
1978
DUNCKER & HUMBLOT · BERLIN
LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH IM AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT H E R A U S G E G E B E N V O N PROF. DR. H E R M A N N
N E U E FOLGE / N E U N Z E H N T E R
KUNISCH
BAND
1978
Das ,L ite naturwissenschaftliche Jahrbuch* w i r d i m Auftrage der Görres-Gesellsdiaft herausgegeben v o n Professor D r . H e r m a n n Kunisch, Nürnberger Straße 63, 8000 München 19. Schriftleitung: Professor D r . Günter N i g g l , Löfftzstraße 1, 8000 München 19. Das ,Literaturwissenschaftliche Jahrbuch' erscheint als Jahresband jeweils i m U m fang v o n etwa 20 Bogen. Manuskripte sind an den Herausgeber zu senden. U n v e r langt eingesandte Beiträge können nur zurückgesandt werden, w e n n
Rückporto
beigelegt ist. Es w i r d dringend gebeten, die Manuskripte druckfertig, einseitig i n Maschinenschrift einzureichen. D e n Verfassern w i r d ein M e r k b l a t t für die t y p o graphische Gestaltung übermittelt. D i e E i n h a l t u n g der Vorschriften ist notwendig, damit eine einheitliche Ausstattung des ganzen Bandes gewährleistet ist. Besprechungsexemplare v o n Neuerscheinungen aus dem gesamten Gebiet der europäischen Literaturwissenschaft,
einschließlich Werkausgaben, werden
an die Adresse
der
Schriftleitung erbeten. Eine Gewähr für die Besprechung kann nicht übernommen werden. Verlag: Dunckcr & H u m b l o t , Dietrich-Schäfer-Weg 9, 1000 Berlin 41.
LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH NEUNZEHNTER
BAND
O s w a l d v o n Wolkenstein (1375 - 1445): Liederhandschrift B, Inhaltsverzeichnis, 1432 (vgl. S. 176).
LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH I M AUFTRAGE DER
GÖRRES-GESELLSCHAFT
HERAUSGEGEBEN VON H E R M A N N K U N I S C H
NEUE F O L G E / N E U N Z E H N T E R
BAND
1978
D U N C K E R
&
H U M B L O T
/
B E R L I N
Schriftleitung: Günter Niggl
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe und der "Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1978 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1978 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed i n Germany I S B N 3 428 04328 6
I N H A L T
AUFSÄTZE Max Müller (Freiburg i. Br.), Philosophische Reflexion auf das Phänomen des Tragischen
3
Otto Zwierlein
(Hamburg), D i e Tragik in den Medea-Dramen
27
Siegfried Sudhof (Bamberg), Der Begriff der Tragödie und des Tragischen bei Schiller 65 Günter Niggl
(Eichstätt), Tragik und Komik bei Friedrich Dürrenmatt
Robert Mühlher
(Wien), Tragischer Stil und Schauspielkunst
77 95
Ulrich Müller (Salzburg), „Dichtung" und „Wirklichkeit" bei Oswald von Wolkenstein. Aufgezeigt i m Vergleich mit Altersliedern von Walther von der Vogelweide und Hans Sachs 133 Anton Schwöb (Innsbruck), L y r i k i m Dienst der Politik? Oswald von Wolkenstein: Lebenszeugnisse und Selbstdarstellung 157 Walter
Salmen (Innsbruck), Oswald von Wolkenstein als Komponist?
179
Ignaz Zangerle (Innsbruck), Zeit und Stunde. D e r geistesgesdiichtliche Weg des , Brenner' 189 Walter
Methlagl
(Innsbruck), Theodor Haedter und ,Der Brenner'
Walter Pötscher (Salzburg), Person-Bereich-Denken und Personifikation
199 217
Margot Sdomidt (Regensburg), Identität und Distanz. Der Spiegel als Chiffre in der höfischen Dichtung des Mittelalters 233 Wolfgang Wittkowski (Albany, N e w Y o r k ) , Europäische Literaturrevolution ohne Büchner? Büdiners Christlichkeit im Licht der Rezeptionsforschung . . . 257 Roger Bauer (München), Grillparzers J ü d i n von Toledo* oder der verbotene Garten Eden
III
Jürgen Nieraad (Bielefeld), Subjektivität als Thema und Methode realistischer Schreibweise. Zur gegenwärtigen DDR-Literaturdiskussion am Beispiel Christa W o l f 289 Franz H. Link (Freiburg i. Br.), Idee und Wirklichkeit in den Gedichten Emersons 317
Inhalt
VI
BERICHT John Hennig
(Basel), Z u Goethes Kenntnis des französischen Schrifttums . . . .
359
BUCHBESPRECHUNGEN Helmut Gier, Die Entstehung des deutschen Expressionismus und die antisymbolistische Reaktion in Frankreich. D i e literarische Entwicklung Ernst Stadlers. ( V o n Julie Meyer) 399 Ernst Alker, Profile und Gestalten der deutschen Literatur nach 1914. M i t einem Kapitel über den Expressionismus von Zoran Konstantinovic. Hrsg. von Eugen Thurnher. (Von Günter Niggl) 403
Namen- und Werkregister
NACHWEIS DER
407
ABBILDUNGEN
Titelbild: Oswald von Wolkenstein, Liederhandschrift B, Inhaltsverzeichnis (1432). Universitäts-Bibliothek Innsbruck, ohne Signatur. D i e Reproduktion erfolgt mit freundlicher Erlaubnis der Universitätsbibliothek Innsbruck. Nach S. 160: Oswald von Wolkenstein, Denkstein von 1408 in Brixen (Alter Friedhof). Reproduktion nach Anton Schwöb, Oswald von Wolkenstein. Eine Biographie. Bozen 1977, S. 57. Nach S. 184: Oberes Bild: Votivtafel des Johannes Austrunk, anonym nach 1380, im Besitz des Städtischen Museums Bozen. Reproduktion nach W . u. E. Frodi, Kunst in Südtirol. München 1960, Abb. 37. Unteres Bild: Ausschnitt aus der Anbetung der Könige, Erasmus und Christoph von Bruneck (?), um 1410/20, Fresko in der 13. Arkade des Kreuzganges am D o m zu Brixen. Reproduktion nach E. Egg, Kunst in Tirol. Innsbruck 1972, Abb. 31.
Z U DIESEM BANDE Aufbau und Einrichtung des X I X . Bandes des Literaturwissensdiaftlichen Jahrbuchs erfordern einige Erläuterungen. Der Band umfaßt vier Teile, deren drei erste thematisch gebunden sind, während der letzte Aufsätze verschiedensten Inhalts enthält, die chronologisch angeordnet sind. Der erste Teil setzt die Diskussion über das Problem des Tragischen fort, das den Gegenstand der von den Abteilungen Klassische Philologie und Deutsche Philologie der Sektion für Sprach- und Literaturwissenschaft auf der Generalversammlung der Görres-Gesellschaft 1975 in Mannheim und der Abteilungen für Romanische und Deutsche Philologie 1976 in Koblenz durchgeführten gemeinsamen Vortragsreihe gebildet hat (vgl. dazu die Jahresberichte der G-G 1975, S. 71 f. und 1976, S. 138 - 140). Es war dem Herausgeber leider nicht möglich, die Vorträge in systematischer Folge in einem Band zu vereinen. So verteilen sie sich auf drei Bände: Die Beiträge zur antiken Tragödie (Sophokles und Seneca) von Joachim Dalfen und Walter Pötscher und der Vortrag über Bert Brecht, Die rote Messe. Liturgische Elemente in Brechts ,Maßnahmec von Klaus Lazarowicz sind im X V I . Band erschienen. Die romanistischen Beiträge zu Racine und Corneille von Albert Fuß und Winfried Kreutzer finden sidi in Band X V I I . Der vorliegende Band X I X bringt abschließend die philosophische Grundlegung von Max Müller, die aus äußeren Gründen erst in der zweiten Veranstaltungsreihe gehalten werden konnte, den Vortrag von Otto Zwierlein über die Medea-Dramen und die germanistischen Beiträge zu Schiller, Dürrenmatt und dem Verhältnis von Tragik und Schauspielkunst im 19. Jahrhundert von Siegfried Sudhof, Günter Niggl und Robert Mühlher. Im zweiten und dritten Teil werden die Vorträge zu den beiden Rahmenthemen der Innsbrucker Tagung (1977) zusammengefaßt: Oswald von Wolkenstein und ,Der Brenner' (vgl. dazu den Jahresbericht 1977, S. 110 bis 112). Die Beiträge zu Oswald behandeln biographische und zeitgeschichtliche Aspekte (Ulrich Müller und Anton Schwöb, z. T. mit neuen Materialien) und das problematische Verhältnis von Text und Melodie (Walter Salmen). Über die mit Innsbruck verbundene große kulturpolitische Zeitschrift ,Der Brenner* Ludwig von Fickers sprachen einer der frühesten Mit-
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Zu diesem Bande
arbeiter und Freunde Fickers, Ignaz von Zangerle, und der Leiter des Brenner-Archivs in Innsbruck Walter Methlagl. Dieser Vortrag bot dem Herausgeber des Jahrbuchs die seit langem erwünschte Gelegenheit, den unvergeßlichen, aber auch wiederzuentdeckenden Theodor Haecker unserer Gesellschaft ins Gedächtnis zu rufen.
H. K.
PHILOSOPHISCHE R E F L E X I O N A U F DAS P H Ä N O M E N DES TRAGISCHEN Von Max Müller Für Alois Halder zum 12. August 1978
Wenn ein Philosophierender versucht, das Phänomen des Tragischen zu deuten — und deutende Auslegung und Sinnbeschreibung (Interpretation also und Hermeneutik von Phänomenen) scheint mir eigentlichste Aufgabe des Philosophen zu sein und nicht wie bei den „natürlichen" Einzelwissensdiaften etwa eine feststellende Erklärung oder Hypothese, welche den Verlauf, die Entstehung und die Wiederherstellbarkeit von dadurch beherrschbaren Vorgängen zum Ziele hat —, wenn also eine Deutung des Phänomens des Tragischen versucht wird, dann muß die erste Frage sein: Wo wird das Tragische zum „Phänomen", d. h. zu einem sich Zeigenden, wo ist also gleichsam sein „Auftritt"? Zweifellos gibt es gewisse Vorgänge, Ereignisse, Tatsachen des Alltagtagslebens, die wir in einem für uns selbst noch ungeklärten Vorverständnis oft „tragisch" nennen. Es handelt sich dabei immer um Verknüpfungen von Gegensätzlichem; z.B.: Nicht den Tod schlechthin nennen wir tragisch, aber sehr oft, wenn er nicht eine Erlösung vom Leiden oder eine naturgemäße Folge des Alters ist, auch dann nicht, wenn er in der kriegerischen Auseinandersetzung „Opfer" für die kämpferisch vertretene Sache als gleichsam evtl. voraussehbare und einzukalkulierende Folge eines letzten und äußerst gewagten Einsatzes für solches ist, das diesen Einsatz verlangen kann; dann hat es selbst mit ihm, mit dem es dodi anscheinend kaum eine Übereinstimmung (Identifizierung) geben kann, irgendwie seine „Richtigkeit". Richtige, d. h. verantwortbare Identifikation mit sich, der Welt und Gott nennen wir aber „Sinn". Das Sinnhafte aber ist niemals in unserem Empfinden „tragisch" in der strengen Bedeutung dieses Wortes und Begriffes. Also hängt im Normal-Bewußtsein Tragik mit Unsinn zusammen. Aber dennoch sind beide nicht als dasselbe erfahren. Wann also spricht der Alltag, wann also sprechen wir in unserem allgemeinen „man"-Verständnis von einem „tragischen Tod"? l*
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Max Müller
Oft ζ. Β. dann, wenn ein vielver sprechen des Leben nahe seiner Höhe in voller Kraft und Schönheit dennoch dahinsinkt: Da sprechen wir dann in der Kraßheit der Gegenüberstellung oft von „Tragik". Oder dann, wenn gerade mitten im rauschenden Fest des Seins plötzlich der Umschlag zum Nichtsein und zur Vernichtung eintritt. Oder wenn ein einziger, der alle Erwartung und Hoffnung unvertretbar trägt, all' dies unerwartet mit sich ins Grab nimmt. Aber wenn wir dann unser eigenes Vorverständnis auf seine eigene Intention hin prüfen, dann sehen wir in dieser Reflexion als Prüfung bald, daß wir mit „tragisch" etwas ganz anderes meinen, als dieses bloße „Wiederspruchs-Nebeneinander und -Nacheinander", als dieses Zusammensein oder Aufeinanderfolgen, als dieses Umschlagen von größtem Glück zu tiefstem Unglück, von Seligkeit zu tiefstem Leid, von Größe zu Zerstörung, von Schönheit zu Untergang, von Blüte zu Verfall. Wir verstehen nämlich sehr wohl, daß Größe besonders gefährdet ist: „alles Große steht im Sturm" übersetzt Heidegger etwas eigenwillig eine Stelle aus einem sophokleischen Chorlied; und die Zartheit und Zerbrechlichkeit bestimmten Schönseins gehört in gewisser Hinsicht selbst zu seinem Wesen, so daß der Hervorgang des einen aus dem anderen sinnvoll und verständlich ist; damit aber wird, wenn wir uns prüfen, die Bedeutung dessen, was wir zutiefst mit „Tragik" intendieren, auch wenn wir es noch nicht bestimmt artikulieren können, nicht erfüllt. Denn diese Intention beruht augenscheinlich auf einer Erfahrung, der etwas anderes oder mehr widerfahren ist als in solchen geschilderten Umschlag-Ereignissen oder -Vollzügen zum Vorschein kommt. Was ist in „tragischer Erfahrung" also eigentlich erfahren und wo ist der Ort dieser Erfahrung? Zunächst aber: Wer erfährt? 1. „Wir" erfahren: das meint eben nicht ein geschichtsloses, überall vorkommendes „man erfährt". Es handelt sich vielmehr um unsere heutige Erfahrung, um eine Erfahrung, die wir selbst als Zugehörige zu unserem derzeitigen abendländischen Kulturkreis machen, d. h. das „ w i r " meint uns als Subjekte oder Personen europäischer Gegenwart. 2. Damit ist gesagt, daß das „heutig" und „jetzt" nicht punktuell und isoliert verstanden werden kann, sondern diese unsere „heutige" Erfahrung meint diese in ihrer Kontinuität und ihrer Stellung in einer Tradition. Griechenland hat die Tragödie und alles, was auf ihr aufbaut, also jedes „tragische Bewußtsein" gegründet und dieses Bewußtsein beruft sich immer auf diesen in ihm bewahrten Ursprung. Tragisches Bewußtsein ist also niemals ein „Bewußtsein überhaupt", es ist als Bewußtsein immer konkretes Bewußtsein innerhalb abendländischer Geschichtlichkeit.
Philosophische Reflexion auf das Phänomen des Tragischen
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3. So ergibt sich, daß, wenn wir also diese Erfahrung (die „tragische Erfahrung") aufsuchen, sie Gehalt und Sichtbarkeit nicht jederzeit und in jedem Leben hat; sie ist vielmehr „da" als überliefert und vollzogen immer dort, wo sie ihre Sprache und in der Sprache ihre Wirklichkeit gefunden hat: In der tragischen Dichtung. Unser „natürliches" wie „geschichtliches" Leben hat „tragische Momente"; nur wenn diese aber dargestellt, ausgesprochen in der gestalthaften Sprache in ihrem Zusammenhang sich selbst deuten, erfahren wir eigentlich Tragik. Sonst sind wir nur von ferne von etwas angerührt, das auf sie verweist. Das bedeutet aber: Tragik gibt es nur in der gestalthaften sich aussprechenden Selbstdeutung des Lebens, nie ohne dies. Diese Selbstdeutung erfolgt aber primär in der tragischen Dichtung, in der Tragödie. Der „Populär-Verstand" wird immer dagegen fragend einwenden: Liegt denn das Tragische nicht vor aller Dichtung und wird es in dieser nicht wiederholt, nachgeahmt, ist es (das Tragische) nicht ein ursprünglicher, sich zeigender Zug des Lebens selbst vor aller das Leben doch nur „nachahmenden" Dichtung? Hier wird es notwendig, kurz einige kunsttheoretische Grundsätze uns wiederum einzuprägen: „Mimesis" (μίμησις) als Ursprung der Kunst, wer denkt da nicht über Aristoteles hinaus an Erich Auerbach? „Wieder-Gabe" : Wer denkt da nicht heute an Realismus, primär sogar vielleicht an den „sozialistischen Realismus": an die abbildende Wiederholung des Lebens in der Kunst? Mimema (μίμημα) und Imago: Das ist aber zunächst, wie heute allgemein zugegeben ist, nicht „Nachahmung", sondern Dar-stellung; BildGewinnung als Antlitz-Gewinnung. Das „Bild" (Eidos) ist hier gefaßt als originäre Einbildung und nicht als Abbildung, als jenes Ins-Bild-bringen also, die Bildschaffung und Verbildlichung ist; die Darstellung ist Herstellung, Aufrichtung und Errichtung; so hat ja Piaton immer sein GrundPhänomen des Eidos verstanden als Urbild, d. h. als das eigentlich und ursprünglich Gesehene alles Sehens: als Paradigma (παράδειγμα). Denn vor der andrängenden, das Sehen eher verhindernden Vielfalt steht das eine, ordnende, alles Fluktuierende zum Stand bringende und sammelnde „Erstgesehene", das diesem vielfältigen und sich dauernd ändernden Andrang ein bleibendes Gesicht gibt, jenes grundlegende „Bild" als die allen einzelnen sinnlichen Sehensakten vorausgehende „Sicht". Es geschieht in diesem Erstgesehenen, Vor-Gesehenen und Ur-Sichtbaren die Gestaltwerdung als Präsenz. Hier erhält alles erst seinen Charakter (χαρακτήρ), seinen bleibenden Umriß (τύπος), seine ständige Gestalt (μορφή). Erst in dieser Ursicht und Vorsicht erhält das uns Widerfahrende jetzt Gegenwart und das heißt: Wirklichkeit für uns. Ein solches Sehen als Vor- und Urgabe und nicht als
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Max Müller
Wiedergabe erhält seine Sprachwirklichkeit in der Kunst, und so erscheint hier Kunst als ursprüngliches Leben und nicht als ein zweites wiederholendes Leben; vielmehr als jene primäre Lebendigkeit, wo diese sich in ihrer zusammenhängenden Gestalt erst selbst versteht. Weil ursprüngliches („originäres") Sehen schon Kunst ist und Piaton als Denker ein solcher „Seher" war: Darum achtete er die zeitgenössische Kunst gering und sah in ihr fälschlicherweise nur ein Derivat von schöpferischer Wahrheit und Wirklichkeit. Denn der Künstler und Seher ist dem anderen Künstler gegenüber meist ungerecht, zumindest ungerechter als es die anderen Menschen, welche durch ihn zur Erfahrung der Kunst gelangen, zu sein pflegen. Aber nun wieder zum sachlichen Kern unserer Überlegungen: Tragik ist also eine Weise der Verwirklichung (Sprachwerdung) des Selbstverständnisses, die ausdrücklich fast nur als Kunst geschieht und darum in die Geschichte der Kunst gehört. Es kann ja nicht unsere Absicht sein, eine „Theorie der Kunst" auch nur in wenigen Strichen zu entwickeln. Festzuhalten sind nur zwei (jetzt ganz dogmatisch hingestellte) weitere Grundzüge, ohne welche auch „tragische Kunst" als eine zur Sprache gekommene Weise unseres Selbstverständnisses sich nicht begreifen läßt. In Thesen formuliert stellen sich diese beiden Grundzüge dessen, was für uns Kunst ist, so dar: 1. Kunst ist immer „symbolische" Kunst, auch dort, wo sie sich „realistisch" sieht. D. h. zu ihr gehört oder in ihr geschieht immer ein Zusammenfall von Ganzem und Einzelnem, von übereinzelnem Horizont einer Handlung oder einer Sache und einzelner konkreter Handlung oder Sache selbst, die in den Horizont gehören; in jeder Kunst ist das Ding die Welt und die Welt das Ding, das Seiende ist das Sein und das Sein das Seiende. „Welt" bleibt im Kunstwerk nicht nur der unausdrückliche Hintergrund einer Erscheinung, sondern wird zum konkret Erscheinenden selbst. Heidegger 1 führt als Beispiel das Gemälde der Bauernschuhe des Vincent van Gogh an: Hier sind nicht Gebrauchs dinge wiedergegeben, sondern die Welt der bäuerischen Arbeit, ihrer Mühe und ihres Schweißes, ihrer Drangsal und der die Drangsal überwindenden Anstrengung werden sichtbar, und das heißt in die gegenwärtliche Ausdrücklichkeit zurückgebracht, d. h. echt präsent durch „Repräsentation" in einem sichtbaren Einzelnen in seiner dennoch allgemeinen Geltung. Auf dasselbe verweist die ganz andere Analyse Hans Sedlmayers 2, wo die Kathedrale (in der Wirklichkeit des in ihr vollzogenen Kultes) nicht ein einzelner Gegenstand (und 1 M a r t i n Heidegger, Holzwege, 1950; darin: ,Der Ursprung des Kunstwerks'; unsere Stelle auf S. 22/23. 2 Hans Sedlmayer, D i e Entstehung der Kathedrale, 1950.
Philosophische Reflexion auf das Phänomen des Tragischen
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dieser ein einzelner Vorgang in ihr) ist, sondern sie ihre Wirklichkeit hat als das Ereignis und der Vollzug der Einheit des himmlischen Jerusalems mit dieser Welt, als reale Gegenwart von „ille mundus" et „hic mundus". Genau dasselbe ist angezielt, wenn Helmut Kuhn 3 die griechische Tragödie als Teil jenes Festes begreift, das als Schauspiel = Kult und als Kult = Schauspiel ist und wo im realen Zueinander der Himmlischen und Irdischen die höchste Wirklichkeit antiker Welt sich vollzieht. Wenn wir wiederum einen Ausdruck Heideggers dazu heranziehen würden, müßten wir sagen: wo eine reale Präsenz des „Gevierts" zum „Ereignis" wird. Das Gefüge, durch das etwas seinen Sinn, seine Bedeutung erhält, wird hier nicht im abstrakten Gedanken erst ausdrücklich oder durch dialektische Verknüpfung präsent, sondern selbst sinnlich gesehen. Hegels Meinung, daß in der Kunst Idee = sinnlich, Gedanke zur Vorstellung wird, und Schillers These, daß in der Kunst Vorstellung = gedanklich und Sinnliches = ideal wird, betreffen dieselbe Bewegung von je anderem Ausgangspunkt her. I n dieser Doppelbewegung wird die höchste Lebendigkeit des Lebens erreicht; was sich vollzieht, ist, wiederum mit einem Ausdruck Hegels, das „Konkret-Allgemeine". Das Universale wird nicht (wie in der Philosophie) abstrakt gedacht, sondern tritt konkret vor uns hin; das Konkret-Einzelne, statt wie im Alltag nur einzeln zu sein, transzendiert seine Einzelheit ins Universale, und es geschieht das Wunder des Sinnlich-Allgemeinen. Diese Überwindung der Gegensätze von Logos und Aisthesis, von vernehmender Vernunft und wahrnehmender Sinnlichkeit konstituiert mittels der produktiven Einbildungskraft als schöpferischer Phantasie die reale Gegenwart des „Konkret-Allgemeinen". 2. Damit ist auch die Frage beantwortet, was in der Kunst nun dargestellt wird. Wenn das Konkret-Allgemeine in ihr seine Sprachwirklichkeit erhält, dann sind es weder äußere Vorgänge, äußere Ereignisse, Zustände und Gegenstände, die dargestellt und bedeutet werden; aber auch keine inneren Erlebnisse erhalten ihren äußeren Ausdruck. Kunst hat vielmehr schon immer die Differenz von Äußerlichkeit und Innerlichkeit, von Bedeutung und Ausdruck, von Natur und Seele, von Physis und Psyche, von „transzendent" und „immanent" überwunden; der Übergang, der Überschritt, die Transzendenz als Geschehnis, als Übersteigung und Überstieg vollzieht sich in ihr. In ihr stehen nicht mehr das Ich und das Es, der Mensch und seine Welt irgendwie noch sich gegenüber wie im immer „gegenständlichen" 3 H e l m u t Kuhn, Wesen und Wirken des Kunstwerks, 1960; Schriften zur Ästhetik, 1966.
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Alltagsbewußtsein und den zu ihm gehörigen Techniken und Wissensweisen, zu welchen auch die Einzelwissenschaften gehören. Sprache gewinnt vielmehr die Welt als Mensch und der Mensch als Welt, d. h. die Welt als Bestandteil des „In-der-Weltseins", und das ist dasselbe wie der Mensch als „Da-sein", d. h. als die Gegenwart des Ganzen. Es geht immer um die ausdrückliche Zusammengehörigkeit im Vollzug, also um den Weltvollzug als Selbstvollzug, den Selbstvollzug als Weltvollzug. „Da" ist Kunst im Vorgang der Objektivierung der Subjektivität zur Objektivität; und gleichzeitig „wird" im Ereignis der Subjektivierung die Welt = Handlung, d. h. subjektives Leben als Vorgang selbst. Das im Alltag gestaltlos bleibende „Zwischen" wird nun selbst Gestalt; jenes, das sonst in der positiven Aufteilung von Psychischem und Physischem, von Innerlichem und Äußerlichem, von Subjektivem und Objektivem untergeht, das gewinnt auf einmal und erstmals seine Wirklichkeit als Sprache: Die Sprache der Symbolik (des „Ineinsfalls") und der „Transzendentalität" (des „Überstiegs") spricht hier, und diese Sprache läßt nicht etwas anderes erscheinen, sondern sie erscheint selbst: Sie „ist" der Ineinsfall und der Überstieg; die Sprache spricht sich selbst und nichts anderes als sich; und überall wo das geschieht, ereignet sich Kunst. I n diesem Zusammenhang wird von Heidegger besonders auf Novalis 4 hingewiesen: Sprache dient nicht, hat keine Funktion, keinen Zweck, sondern, was fast niemand weiß, sie bekümmert sich nur um sich selbst, das heißt, sie ist um ihrer selbst willen da: „Sprache ist Dasein" sagt Rilke. Schon Aristoteles unterscheidet das agathon pros hemas (άγαfròv προς ήμας) und das agathon kath 5 hauto (αγαθόν καθ9 αυτό ) ; er unterscheidet das, was eine Funktion hat, und das, was rein es selbst und um seiner selbst willen ist. Was aber „Autarkie" (αυτάρκεια) hat, was um seiner selbst willen da ist, was „selig ruht in sich selbst" (vergleiche Mörike und die Differenz in der Auslegung solcher Verse Mörikes in dem Briefwechsel Emil Staigers mit Martin Heidegger), das ist das Kalon (καλόν ), das Schöne. „Schön": das ist nicht eine ästhetisch-subjektive Kategorie, sondern ein ontologischer Begriff, der alles meint, was um seiner selbst willen geschieht. Jeder Lebensvollzug, der seinen Sinn in sich trägt und real gestaltet und nidit funktionell für anderes da ist, ist schön. So ist jedes autarke Leben, als in sich schön, auch Dichtung; und jede gelungene Dichtung ist hohe Weise des Lebens als zweckloses Dasein. 4 M a r t i n Heidegger, Unterwegs zur Sprache, 1959; darin in ,Der Weg zur Sprache', S. 241 das Novalis-Zitat: „Gerade das Eigentümliche der Sprache, daß sie sich bloß um sich selbst bekümmert, weiß keiner". Vgl. auch Eckhard /fe/iricfr, Novalis. V o m Logos der Poesie, 1969.
Philosophische Reflexion auf das Phänomen des Tragischen
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II Aber wie steht es nun mit der Tragik und gerade mit der tragischen Dichtung? Nach dem eben Gesagten geschieht in ihr wie in jeder Dichtung ein Sprechen, ein Zur-Sprache-Kommen um seiner selbst willen. Und was da zur Sprache kommt, wird erst in der Sprache wirklich. Da nun das Tragische sich als Sprache und nur als Sprache ereignet, welche Sprache spricht nun hier wasf Aristoteles nennt in seiner berühmten, viel zitierten und viel umstrittenen Tragödiendeutung drei Elemente tragischer Sprachwirklichkeit. Zunächst Drama (δράμα), d. h. Handlung; dann eleos (ελεος), d. h. Mitleid; und schließlich Phobos (φόβος), d. h. Furcht; das Resultat dieser drei Elemente ist die Katharsis (κάθαρσις), d. h. die Reinigung. 1. Drama (δράμα) meint die Einheit einer Handlung; Handlung ist sonst ein Vorgang und Übergang, ein Werden und Zerfließen; der Logos hält das Geschehen aber zusammen, sammelt die sonst vergehend-untergehenden Momente. Er hat hier Gegenwart im Träger der Handlung, im Helden. Dieser ist es, der ihre reale Einheit verbürgt. „Held" kann sein eine Person oder eine personale Gemeinschaft. 2. Mitleid (ελεος): Es geschieht als Identifikation mit ihm bzw. ihr: Er, der Held, stellt nicht nur sich dar, dieser Mensch ist zugleich der Mensch, der auch wir sind. Der Zusammenfall von Einzelnem und Allgemeinen ist die Voraussetzung tragischen Mitleidens; Die Klage des Mitleids ist weder nur Klage um einen beliebigen anderen, noch auch nur Klage um unser zufälliges Selbst, ist weder bloßes Fremdmitleid noch auch nur Selbstmitleid, sondern beides zugleich, weil sie Klage um „den" Menschen ist. 3. Das führt zu Phobos (φόβος), Furcht: Wir fürchten in erster Linie nicht unmittelbar für uns jetzt, sondern für „ihn", aber für ihn wie schon gesagt nicht als diesen da; er ist ja nicht der andere Beliebige, der jetzt Spielende oder Gespielte; vielmehr ist die Furcht und das Mitleid die aus der Furcht um den Menschen aufsteigende Klage um ein Menschsein und die Sorge um die Welt des Menschen; jene Welt, die konkret und zugleich auch unsere Welt ist und die Welt aller Menschen mit uns und um uns. 4. A m schwierigsten war immer die Interpretation der Bestimmung der Katharsis (κάθαρσις). Das früher oft übliche Mißverständnis deutete sie als ethische oder moralische Besserung. Der Besserung und Belehrung in diesem Sinne sollten das Drama, Schauspiel und Tragödie, dienen. So war für Schiller die Schaubühne eine „moralische Anstalt". Was sollte denn
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Max Müller
sonst mit dieser „Reinigung" gemeint sein, wenn nicht dieses EthischMoralische? Seit dem alten Eduard Zeller und seiner heute noch lesenswerten ,Geschichte der griechischen Philosophie' wird der antik-medizinischen Bedeutung der Vorrang gegeben. „Reinigung" reinigt dort den Menschen als Leib-Seele-Wesen von der krankhaften extremen Leidenschaftlichkeit. Diese Leidenschaftlichkeit hat als Resultat ein Sich-gegenden-Gang-der-Welt-stellen und offenbart sich darin; es ist ein Angehen gegen dessen angebliche Ungerechtigkeit ; sie bewirkt ein Wollen, das eine andere Welt w i l l als die wirkliche Welt. Demgegenüber hat die Reinigung zur Folge ein Einschwenken in die Mitte, dieMesotes (μεσότης). Diese Mitte ist eine Mitte zwischen dionysischem Rausch der Welt- und Todesbejahung und dem verneinenden Widerstand gegen die Welt als Ganzes in ihrer Lenkung durch die Moira (μοίρα) in jenem verzweifelten Ankämpfen gegen das Gesamtgefüge als Unfug, welches sich für Selbstbehauptung hält. Es geht in der Katharsis um die Erlangung der menschlichen Mitte zwischen jubelndem Rausch und trauernder Verzweiflung, um die Mitte zwischen zustimmender Selbstpreisgabe an das Ganze und der Gegenaktion gegen dieses, die hybrid in die lenkende Moira selbst eingreifen und sie dirigieren will; es handelt sich also um jene „Einlassung", die als „Gelassenheit" frei die Welt-Übereinstimmung erreichen soll; um das wirkliche Fußfassen in der Menschlichkeit und Weltlichkeit, um das große nüchterne „Ja" als dem Resultat, zu dem Tragödie hinführt. Der Versuch, so die Katharsis zu sehen, würde die aristotelische Poetik in engsten Zusammenhang mit der aristotelischen Politik bringen, ja sie gleichsam als einen Teil dieser verstehen lassen. III Nach diesen allgemeinen Reflexionen wollen wir nun den in der abendländischen Tragödie zur Sprache kommenden Grundtatbestand in seinem Selbstverständnis zum Problem machen. Zunächst: Gibt es überhaupt so etwas wie ein einheitliches tragisches Welt- und Selbstverständnis, das sich in der europäischen tragischen Dichtung ausspricht? Wir sagten: Unser oberflächliches Vorverständnis sieht tragisches Erfahren im unmittelbaren Zusammenhang extrem menschlicher Situationen, im Umschlag also von Glück zu Unglück, von Höhe des Lebens zu Untergang im Tod, von einzigartig geprägter Unersetzbarkeit zur Vernichtung ins Anonyme des Nichtseins hinein. Die Peripetie von Akme(άκμή), Höhe, zu Zerfall und Schwund, Phthisis (φθίσις) als Phänomen des Rhythmus von Aufgang und Niedergang in aller Kultur wäre aber in sich und für uns völlig untragisch: Eine Wesensstruktur allen menschlichen
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Lebens, die als bejahbar und damit als sinnvoll erscheint. Ebenso ist der Gegensatz und die Doppelheit von apollinischer Gegenwart und FormWirklichkeit als Aussonderung der geprägten Individualität aus dem Ganzen im Umschlag zum dionysischen Rausch als der Aufgabe der Individualität in die Allgegenwart hinein, aus welchem Gegensatz nach Nietzsche die Tragödie ursprünglich hervorgeht, wiederum untragisch. Für Nietzsche ist Tragödie das Fest der Vernichtung idealer Gestaltwirklichkeit im Untergang als Übergang zur Todesrealität. Diese jubelnde Selbstpreisgabe der Individualität enthält keine der genannten aristotelischen Elemente und wird auch in der Tiefe unseres Tragik-Bewußtseins als untragisch erkannt und ist damit wohl auch historisch als „Geburt der Tragödie" nicht haltbar. Die Verbindung der gegensätzlichen Elemente im tragischen Phänomen ist weder real notwendig, und das heißt physisch erzwungen, und naturhaft unvermeidbar, noch aber ist sie ideal gefordert und in der Wesenskonstitution begründet, ebenso aber auch ist sie nicht rechtfertigbar durch eine ethisch-moralische Schuldhaftigkeit, die einen Mißbrauch der verantwortlichen Freiheit bedeutete. Hier wäre der Untergang als Buße und Sühne wiederum durchaus sinnvoll. Tragik erfahren wir aber nur, wo die Sinnwidrigkeit selbst das geschichtliche Band des Hervorgangs dieser gegegensätzlichen Elemente auseinander in der Handlung ist. Wenn also aus der guten Absicht gerade das Gegenteil hervorgeht und dies weder als Zufall geschieht, noch aus einem realen oder idealen Gesetz „folgt" und doch gleichsam folgen „muß": Dann wird in diesem kategorial zunächst unfaßbaren „Müssen" Tragisches erfahren. Aber was ist das für ein „Müssen"? Was ist das für eine Welt, in welcher es als grundlegender Zug dieser Welt vorkommt? Mit welchen Kategorien verstehen wir noch diese „tragische Welt", in welcher Zufall, Notwendigkeit und Freiheit sich nicht ausschließen wie in der Logik, sondern miteinander ein einziges unzerreißbares Geflecht bilden? Nennen wir nun einige berühmte Beispiele aus der Tradition: Zunächst yödipus c. Wo ist da Schuld? Das Unheil-vermeiden-wollen der Eltern führt das Unheil herbei. Und sein eigenes Sein in der Unwahrheit bringt dann ihm das Verhängnis. Aber Menschsein ist doch eben: Sein in Wahrheit und Unwahrheit. Bei ihm ist es gerade der Griff nach der völligen Wahrheit, nach Veränderung des nahen und doch sich entziehenden Ganzen, was als freie Hybris zum Untergang führt. „Freie Hybris": Goethe läßt Manto in der ,Klassischen Walpurgisnacht' sagen: „Den lieb' ich, der Unmögliches begehrt". Das führt aber zum Sich-nicht-bescheiden. Der Held ist aber nun einmal kein „Bescheidener". Die „Hybris" wird im Ausgang der Antike bei Augustinus zur „superbia" , zum Sichselbstübersteigen bis zur Größe des Gottes. Das ist als Möglichkeit ein Grundzug des Menschen, welcher seine
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bewunderungswürdige Großartigkeit ausmacht. Zum Helden, der also kein „Bescheidener" ist, gehört das Sich-nicht-fügen; nicht das Handeln-zwGanzen-im-stummen-Gehorsam, sondern ein Handeln, das schließlich zum Behandeln des Ganzen wird. Das ist dann jene Hybris, die sich nicht still einfügt, sondern zur Weltverfügung werden will, und wo die Welt gegen diesen über sie verfügen-wollenden Eingriff, Angriff und Zugriff nun doppelt ver-nichtend zurückschlägt. Der kleine Mensch duckt sich hier, der große aber ist der Wagende, und das Wagnis geht gerade aus dem menschlichen Verhältnis zum Göttlichen, dem „Göttlichen im Menschen", hervor, das seine Größe ausmacht und seinen Untergang bringt. Oder anders gewendet, aber wiederum an die Ödipus-Gestalt orientiert: Es gehört zur Menschlichkeit des Menschen, die gerade im großen Menschen, im Helden besonders sichtbar und gegenwärtig ist, daß er das Geheimnis der Welt wagend wissen soll und dodi nicht entschleiern darf (das „Bild von Sais"). Der Mensch soll die Wahrheit der Welt mitoffenbaren und mitgestalten, zugleich aber ihre Unwahrheit ( = das „Geheimnis") verehren und, um es wissend, sich ihm fügen. Nur der große Mensch wagt das und versagt zugleich in diesem Wagen: Er versucht den radikalen Zugriff und mit ihm die radikale Menschlichkeit. Menschlichkeit läßt sich aber nicht so radikalisieren: Radikale Menschlichkeit ist Unmenschlichkeit, verzehrt sich selbst, ruft ihren Untergang herbei. „Klein" ist die zu schnelle Einpassung, das stumme, sprachlose Sicheinfügen; „groß" dagegen jener Eingriff und Angriff, in dem wir uns ins Werk setzen und zum Wort bringen: Prometheus. Er ist der Mensch als wahrhaft „tragische Gestalt", als Transcendenz, die sich am Kosmos, der sich ihr fügen soll, vergreift. Aber der Kosmos zeigt seine Größe, Gewalt und Herrlichkeit gerade im Zerbrechen dieser menschlichen Transcendenz, ihrem Scheitern an ihm. Noch größer aber wäre eine letzte Transcendenz als Überwindung des Gegensatzes kosmischer und humaner Größe: Denn es geht ja nicht einfach darum, sich stumm in die Fuge der Welt einzugliedern oder andererseits aufbegehrend („revolutionär") das Gefüge, durch das wir doch nur sind, was wir sind, sprengen zu wollen, gegen die Welt also „anzugehen"; vielmehr ist jene „kathartische" Einfügung gemeint, welche das „Sich-zuwendende" frei sich zueignet und das „Sich-abwendende" in seiner Verhüllung (als Geheimnis) achtet und verehrt. In dieser Doppelheit erfolgt immer die Ahnung der je größeren Größe, wobei der sagend-wagende Angriff zum hörenden Aus griff wird; und wenn für diesen dann das Wort gefunden, geschenkt oder geschaffen wird, d. h. wenn dieses letzte hörende Sichfügen nach dem Scheitern des Zugriffs als Sprachwerdung gelingt, dann folgt auf die Tragödie die „Erlösung". Diese könnte es nicht geben, wenn es nicht den Abgrund des Tragischen als ihre Vorbedingung gäbe. Bei der Analyse
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äschyleischer und sophokleischer Tragik rührt Emil Staiger innerhalb seiner „Grundbegriffe der Poetik" 5 hieran. Tragödie ist oftmals präsent als Teil eines trilogischen Ganzen. Innerhalb der Trilogie der ,Orestie' ζ. B. folgt auf die Tragödie die Erlösung in den ,Eumenidenc; innerhalb der ödipusGesamtdichtung im ,ödipus auf Kolonos'; sie zeigt sich aber auch im ,Philoktet c . Daß hier, um später noch auszuführende Typisierung an dieser Stelle unserer Ausführungen schon vorwegzunehmen, es sich um „kosmische Tragik" handelt und nicht um eine metaphysisch-ethische-anthropologische zeigt sich daran, daß Erlösung in einer Welt-Ablösung geschieht, wobei sichtbar wird, daß die Tragik hervorging aus einer Zweideutigkeit der Welt selbst. Neue Götter lösen die alten ab; der Held, der gegen die alten Götter stand wie diese gegen ihn, kann nur in seinem Untergang die NochGeltung der alten Welt aufzeigen und damit diese im ganzen sichtbar machen. Die „Erlösung" ist niemals Selbsterlösung, sondern geschieht als Ablösung der alten Welt; die Heraufkunft der neuen Götter erst bringt Erlösung; aber auf diese Heraufkunft weist bereits der Kampf des Helden, der sie gleichsam erwartet und in ihrem Advent steht, hin. Diese neue Welt erlaubt nun eine Identifikation, einen „Sinn", der vorher verweigert war. Die Götter sind hierbei, wie Hölderlin sie schon begriff, Boten, Engel (angeloi = άγγελοι), deren Sinn und Sein ganz und gar ihre Botschaft, ihr „Zu-uns-gewandt-sein" ist; Antik sind es die Boten der Moira und ihrer Welt-Fügung und Verfügung; für das Christentum aber ist Christus „der" Bote des Vaters, der die Botschaft der neuen Welt und der neuen Erde uns zubringt. Und um das Nicht-Beisammensein der antiken Götterboten mit diesem letzten „Engel des Vaters" trauern und klagen die hölderlinschen letzten Fragment-Hymnen. Denn „Erlösung" wäre für Hölderlin nicht bloße Welt-Ablösung, sondern die letzte Synthese dieser differenten Welten würde erst das tragische Bewußtsein überwinden können.® Im Untergang (und der eventuellen Erlösung) des Helden, in der Tragödie also und ihrer vielleicht erfolgenden Oberwindung, kann in einzigartiger Weise Welt-Gegenwart gelingen, gelingt vielleicht ein tragisches und Tragik überwindendes Bewußtsein, in welchem „Welt als solche" in ausgezeichneter Weise sich darzustellen vermag in der ihr eigenen Einheit von Offenbarkeit und Entzug („Geheimnis"), von Wahrheit und Unwahrheit, in der Doppelheit einer Bergung des Menschen und seiner Freiheit und von der die Freiheit zunichtemachender Überwältigung seiner und der Verfügung über ihn. s Emil Staiger, Grundbegriffe der Poetik, 1. Aufl. 1971; 3. Aufl. 1975; auch D T V , wiss. Reihe, 4090. 6 Bei Hölderlin vgl. bes. die H y m n e »Versöhnender, der du nimmer geglaubt.. / (Entwurf einer Christushymne) und ,Der Einzige' („Was ist es, das an die alten seeligen Küsten mich f ü h r t . . . " ) , aber auch jPatmos'.
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I m scheiternden Untergang 7 des Menschen an der bisherigen Welt und in der erlösenden Heraufkunft neuer Welt geschieht in unerhörter Weise wie sonst nie „Welt-Geschichte"; Hebbel hat in dieser „weit-geschichtlichen" Weise die Tragik seiner Tragödien verstanden. Entstehung und Uberwindung des tragischen Bewußtseins machen vielleicht den Kern dieser Bewußtseins-Denk-Darstellungs-Wahrheits-Geschichte unserer europäischen Welt aus. In der Geschichte der Tragödie ist beides, welches doch je ein „KonkretAllgemeines" ist, „da": Menschtum und Welt sind hier nicht als abstrakte Idee und Wesenheit gewußt, sondern als dieses Menschtum und diese Welt, für die wir konkret verantwortlich sind; aber andererseits sind es auch nicht Einzelfakten, die an unsere Verantwortung appellieren: Es geht nicht um diesen Menschen da, dem ich helfen muß, um diese weltliche Affäre, die ich bereinigen muß, sondern unser übereinzelnes Menschtum und unsere Welt sind trotz der Ubereinzelheit konkrete Aufgabe, in tragischer Gefahr und in Erlösungshoffnung bedrängen sie uns, sie warten auf uns und wir auf sie. Wie könnte Allgemeinheit und Konkretheit näher und unmittelbarer dasein als in solchem Bewußtsein, wobei die Vermittlung der Tragödie diese Unmittelbarkeit des Konkret-Allgemeinen ja gerade erst hervorgehen läßt. Nirgendwo sonst ist Welt als solche so bewußt wirklich: Als „wahre Wirklichkeit" und „wirkliche Wahrheit" des Menschen und seiner Welt. Und es sei wiederholt: Nur in der Möglichkeit und Wirklichkeit dem Ganzen sich nicht nur einzupassen, sondern ihm als Ganzes zu widerstehen, seiner Ganzheit, in der wir doch innestehen, trotzdem gegenüberzutreten und die schlichte Einfügung verweigernd hinter sich zu lassen, zeigt sich zunächst die ganze Weite und Größe des Menschseins gegenüber der Größe und Macht der Weltlichkeit der Welt, zeigt sich das Menschsein in seiner einzigartigen Unvergleichlichkeit prototypisch und doch konkret, nicht bloß ausgedacht: Der ganze Mensch in Wahrheit und Wirklichkeit. Dürrenmatt 8 hat daher Tragödie und Komödie danach unterschieden, daß die Tragödie die Kraft verlange, dieses aus der Größe der Welt und der Großheit des Menschen je und je entspringende Mißverhältnis des Menschen in der Ursituation abendländischer Mensch-Welt-Relation in wenigen überlieferten und sich wiederholenden Grundgestalten, diese übernehmend, neu zu gestalten; die Komödie dagegen verlange immer neue „Einfälle"; denn sie sei, im Gegensatz zur Totalität der Tragödie partial und verlange die Erfindung immer neuer Situationen, in denen ein behebbares Auseinanderklappen, eine mehr oder weniger zufällige Nicht-Übereinstimmung von Mensch und Welt durch Humor und Ironie jene tragische ι Vgl. K a r l Jasper s, V o n der Wahrheit, 1947; als Sonderdruck daraus erschien ,Über das Tragische', Pieper-Bücherei 1952. 8 Friedrich Dürrenmatt, Theaterprobleme, Vorträge aus den Jahren 1954/55.
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grundlegende Nichtidentität so spiegele, daß aus jenem Ernst der Trauer und des Mitleids, der Furcht und der Reinigung nun die Leichtigkeit eines Spiels sich erhebe, in welchem das grundlegende MißVerhältnis in eine Fülle mißlicher, aber doch prinzipiell beseitigbarer Verhältnisse sich verwandeln lasse. IV Wir sagten: Die Tragödie ist eine historische Erscheinung unserer europäischen Geschichte, sie ist ein Zursprachekommen eines bestimmten WeltSelbstverständnisses, das nur in diesem Sprechen seine Wirklichkeit erlangt. I n der Geschichte der Tragödie geschieht also zugleich in ausgezeichneter Weise die Geschichte der Tragik. Das heißt aber auch: Es gibt keine „Tragik an sich", keinen immer und überall gültigen Begriff von Tragik; es gibt vielmehr nur den Versuch, das historische Phänomen europäischtragischen Verstehens und Bewußtseins in einem analogen historischen Begriff zu fassen. Um dies tun zu können, gilt es, sich die geschichtlichen Grundzüge der abendländischen Tragödie vor Augen zu halten. Dies versuchen wir im folgenden Schluß-Abschnitt. Dabei muß allerdings bewußt bleiben, daß solche Typen immer „Ideal-Typen" (im Sinne Max Webers) 9 sind, d. h. daß die Wirklichkeit des tragischen Bewußtseins im Gegensatz zu aller typischen Reinheit immer schon auch andere Elemente und Annäherungen an andere Typen mit enthält, das wirkliche Bewußtsein also in gewissen, aber nicht überwiegenden Teilen, immer „unrein" ist, d. h. Mischcharakter zeigt. Die antike griechische Tragödie könnten wir, wie schon einmal vorausgreifend gesagt war, unter diesen Einschränkungen zunächst als Gestaltwerdung einer „kosmischen Tragik" zu begreifen versuchen. Was damit gemeint ist, zeigt sich vielleicht am besten, wenn wir die epochal sich verändernde Erfahrung des Tragischen und damit die epochal je andere Sprache in eine gewisse Parallele setzen zu bestimmten epochalen Veränderungen des allgemeinen abendländischen Seins-Bewußtseins und Seins-Verständnisses, also die Tragik jeweils diesen Epochen der grundlegenden Seins- und Denkgeschichte, wie sie ζ. B. in der Philosophie spricht, zuordnen. Nehmen wir einmal mit Heidegger drei große Epochen unserer bisherigen abendländischen Seins-Geschichte und Denk-Geschichte an. Wie zeigen sich diese? 1. In der Epoche der „Physio-Logie"-(Vor-Sokratik) wird das WeltGefüge als Natur-Fügung in seiner strengen, unveränderlichen Ganzheit und Unveränderlichkeit zum eigentlichen Thema des Denkens als Bedenkens und rühmenden Andenkens. • Vgl. Bernhard Ρ fister, D i e Entwicklung zum Idealtypus, 1928.
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2. Epoche der „Meta-Physik" : Sie ist gekennzeichnet durch die (nach dem Zerbrechen der alles bergenden Einheit) erfolgte Entdeckung des Wesens als Norm in seiner Gegenüberstellung zum „brutalen" Faktum; des Wesens als bleibender, ständig dauernder Gestalt im Gegensatz zum alles Bleiben verunmöglichenden und Gestalt auflösenden Werdefluß. Diese Gegenüberstellung bestimmt von nun an allen menschlichen Selbst- und Weltvollzug, indem diese Entdeckung des Wesens die Welt des Menschen und ihn selbst zerreißt in Vernunftwelt (mundus intelligibilis) und Sinnenwelt (mundus sensibilis) und damit ihn (den Menschen) zum Kampffeld der Widerspruchseinheit von Pflicht und Lust, von Allgemeinheit und Besonderheit, von Gebot und Trieb, von Geist und Instinkt macht und in dieser Dualität den Menschen als „Bürger zweier Welten" zeigt, der, wenn er diese doppelte Bürgerschaft wirklich ernst nimmt und kreativ austrägt (was gerade „der Held" tut), in diesem Austrag zugrunde geht. Der Mensch in seiner dualen Position und nicht mehr der Kosmos in seiner Ganzheit lenkt das Interesse auf sich. Welt und Mensch der Metaphysik sind von der Metaphysik her nicht nur im Bannkreis des Dualismus, sondern auch des Subjektivismus, und entsprechendes gilt für das tragische Bewußtsein dieser Epoche, das in Dualität und Subjektivität verstrickt bleibt. Die kosmische Tragik ist hier also abgelöst durch das metaphysische Tragikbewußtsein: Die geistige Wesensforderung erscheint in ihrer idealen Normatitivität als Überforderung der sinnlichen Natur des Menschen. Der Dualismus von Wesen und Faktum, von Vernunft und Sinnlichkeit, von Geist-Allgemeinheit und Trieb-Besonderheit verlangt nach einer darüberstehenden Regel der Ordnung ihres Verhältnisses, verlangt nach einer Ethik und Moral, die so notwendig aus metaphysischer Philosophie geboren werden. Die Gefahr der Ethisierung und Moralisierung des Tragischen, seine Reduzierung auf einen Pflichten-Konflikt wird unausweisbar. Die äschyleische Tragödie als kosmische steht vor dieser metaphysischen Ethisierung, die euripideische Tragödie dagegen hat den moralischen Dualismus und Subjektivismus ganz als ihr Element. Sophokles aber hält „die Mitte zwischen den Zeiten". 3. Eine direkte Folge der Metaphysik ist für Heidegger die Herrschaft des technischen Bewußtseins: In ihm geschieht die unverhüllte Prägung alles Seienden durch den Menschen im „Willen zur Macht". Hier, in der positivistischen „Welt", ist der Mensch nur noch ein Seiendes unter Seienden, welches sich (im „Willen zur Macht") gegenüber allen anderen Seienden durchsetzt. Diese positivistische „Welt" ist nur noch die Summe des Seienden und seiner „Zusammenstöße", und daher
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gibt es das Phänomen der „Welt als solcher" und des Mensch turns über dem einzelnen Menschen in diesem universalen „Aufprall" nicht mehr; daher kann es hier nun auch keine Tragik mehr geben: „Die" Welt und „der" Mensch können ja nicht mehr erscheinen, da es kein „Konkret-Allgemeines" mehr gibt, welches Aufgabe sein könnte. I m Positivismus ist die Technik als technische Manipulation und als Herrschaft von Seiendem über Seiendes in ihre höchste Perfektion gekommen, Kunst als Repräsentation hat in dieser Herrschaft und Gewalt von Einzelnen über Einzelnes keine Bedeutung mehr; denn „Repräsentation" ist Darstellung, Gegenwart von Übereinzelnem in der Gestalt der Individualität. 4. Es ist bekannt, daß Heidegger in der Vollendung dieser aus der metaphysischen Epoche hervorgehenden Epochalität des „Gestells", welches an die Stelle von dem tritt, was früher „Welt" war und geheißen hat, zugleich den „Advent" einer weiteren abendländischen Zeit sieht, nämlich das Heraufkommen der vierten Epoche des „Seinsdenkens" 10 , was nun bereits geahnt werden kann. I n diesem vierten Zeitabschnitt abendländischer Seinsgeschichte wird durch die „Kehre" vom Sein her neues Bewußtsein ermöglicht, das sich in seiner „Geschicklichkeit" („Geschick" als Name für die unverfügbare und unbeliebige Zu-Schickung) vom Sein verdankt weiß und sich und sein Menschtum und seine Welt als Gabe und Geschenk und nicht als Resultat des herrschenwollenden Zugriffs und seiner Macht erfährt. Aus dieser neuen Grund-Stellung heraus wäre dann auch „Tragik" und „Erlösung" ganz neu zu denken. V
So haben wir hier die Parallelität und Analogie von Seinsgeschichte und Tragikgeschichte innerhalb eines an Heidegger orientierten Entwurfes kurz angedeutet. Gehen wir nun noch einmal auf die Eigenart der Tragik ein, die wir die metaphysisch-ethische genannt haben, und die ja auch den längsten Zeitraum in der Geschichte unseres europäischen Tragik-Bewußtseins einnimmt. Wir zeigten bei ihr die Gefahr der „tragischen Veruneigentlichung" auf, die in der Ethisierung und Moralisierung liegt und die die Tragik auf einen Konflikt zwischen Pflicht und Neigung oder zwischen den Pflichten selbst zurückführt. Durch strenge Befolgung der Wertrangordnung müßte diese Tragik eigentlich auflösbar sein und bräuchte zu dieser „Lösung" keine „Erlösung" mehr. Es gehört aber zum Wesen echter Tragik, 10 M a r t i n Heidegger, des Denkens, 1969.
,Gelassenheit', 1959 sowie ,Zeit und Sein* in: Zur Sache
2 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 19. Bd.
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daß sie zwar auf Erlösung verweisen kann, niemals aber eine Lösung durch uns vorweist. Die Lösbarkeit, welche zur metaphysisch-ethischen Tragik gehört, müßte erfolgen durch eine höchste Anstrengung des Menschen, die ihn in seiner alltäglichen Menschlichkeit zwar transzendierte und doch zu seiner Menschlichkeit als Möglichkeit gehörte. Eine solche „Transzendenz" ist in voller Ausdrücklichkeit vielleicht erstmals bei Blaise Pascal ins Wort gekommen. Seine grundlegende These in diesem Zusammenhang wäre sein Satz: „L'homme surpasse infiniment l'homme „Der Mensch übersteigt ständig und in unendlidier Weise sich selbst." Entfaltet wird die Problematik dieses Satzes in dem berühmten ,Gespräch mit M. de Sacy über Epiktet und Montaigne', das heute Bestandteil des ,Pensées* genannten Fragment-Nachlasses ist. Der ethische Grundwiderspruch, der zu einer subjektiven (nicht mehr kosmischen, sondern anthropologischen) Tragik führt, kennt rein philosophisch zweierlei Lösungsmöglichkeiten dieses Paradoxes. Von dem Ansatz „Unser Sollen übersteigt unser Können" aus, in welchem ein pseudotragisches Dilemma für menschliches Handeln aufscheint, zieht Montaigne den Schluß des „ultra posse nemo cogitur", d.h. es gibt keine Verpflichtung, die unser Können übersteigt; wir selbst in unserem Können sind Maß und Grenze eines jeden an uns ergehenden Anspruchs. „Homo est judex sui veri et falsi " (Kant). Das dieses Maß und diese Grenze übersteigende („transzendierende") Sollen ist unedit und ungültig und muß in seinem Forderungscharakter herabgesetzt werden, bis es sich dem menschlichen Könnens-Spielraum fügt. Der Mensch selbst als Maß verhindert jede Escapade ins Tragische. Ganz anders Epiktet: Es ist nach seiner Einsicht nicht vom Können auszugehen, sondern die Primär-Erfahrung ist die des „Soll"; an ihm hat das Können sein Maß: Man kann, was man soll, weil man soll. Die Ubersteigung und Übersteigerung des Könnens ist möglich und daher verlangbar. Das Sollen darf nicht herabgesetzt, vielmehr muß das Können hinaufgesetzt werden, so schwierig dies auch sein mag; und wer dies nicht vermag, wird „schuldig". Das Zurückbleiben des Könnens hinter dem Anspruch des Sollens ist in aller Schwierigkeit des geforderten NichtZurückbleibens daher ethisch-moralische Schuld. I n beiden Deutungen dieses menschlichen Zwiespaltes zwischen Können und Sollen verschwindet die Erfahrung des Tragischen. Pascal aber hat sie gemacht und muß daher beide „Lösungen" ablehnen. I n der „Natur" des Menschen steckt ein echter Widerspruch, der den Menschen gegenüber der Eindeutigkeit des Tieres vieldeutig macht. „Natur" aber ist „Wesen", und Wesen schließt das Wesenswidrige aus, läßt den logischen und ethischen Widerspruch nicht zu. Daher gilt, daß der Mensch nur im analogen Sinne zur Natur gehört und keine geschlossene Wesenheit, aus der er und seine Handlungen konsequent erklärbar sind, besitzt. Der Widerspruch im Menschen ist nicht wie bei
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Montaigne und Epiktet lösbar durch Herabsetzung des Sollens oder Heraufsetzung des Könnens innerhalb derselben natürlichen Wesenhaftigkeit; er ist vielmehr in den Menschen hineingekommen durch die Geschichte (des freien Versagens in der ersten Begegnung mit Gott, welches Versagen alles weitere menschliche Geschehen nun historisch prägt: Geschichte der „ErbSünde"); und wie diese unbeseitigbare „tragische" Widersprüchlichkeit nur aus der Geschichte verstehbar (gerade aber nicht: „erklärbar") ist, so ist auch sie nur in der Geschichte und durch sie erlösbar (nicht einfach: „lösbar"). Die Tragik des Menschen ging hervor aus einer freien Begegnung (der Begegnung mit Gott) und kann wieder nur erlöst werden in einer zweiten freien Begegnung (der Begegnung mit Christus), in welcher der uns Begegnende hilft, die Begegnung auszuhalten, durchzustehen. Diese Hilfe heißt „Gnade" (gratia praeveniens). Die Tragik und die Erlösung der Tragik sind hier weder kosmisch noch metaphysisch-ethisch, sondern „historisch", geschichtlich. Nicht aus seiner Natur, nur aus seiner Geschichte ist der Mensch verstehbar: Nur in der Begegnung mit dem Größten, in dessen Anruf stehend, wird dieses Seiende = „Mensch" ; in dieser Begegnung ereignet sich allein der „Aufbruch" und „Durchbruch" zur menschlichen Größe und Wirklichkeit, im Mißglücken dieser Begegnung die Verdammnis zur unendlichen Nichtigkeit. Beides „folgt" nicht mit logischer „Notwendigkeit" aus irgend einem Seins- oder Wesensbestand, sondern ereignet sich als freier „Hervorgang" aus wirklich geschehener Geschichte. Die Kategorie des Hervorgangs, die im Gegensatz steht zu jedem Ursache-Wirkungsverhältnis (Kausalität), aber auch zu jeder Grund-Folge-Relation (Konsequenz), ist hier für das Phänomen der Tragik fundamental. Heinrich Rombach 11 hat in einem Freiburger Vortrag diese Kategorie wohl als erster in aller Schärfe herausgearbeitet. Mitten in der Blüte der metaphysisch-ethischen Epoche sowohl des Seinsverständnisses als auch des Tragik-Bewußtseins (Corneille und Racine sind prominenteste Vertreter eines solchen) geschieht der Aufbruch dieser neuen Erfahrung; sie ist aber nicht ohne Vorgänger, sie weist vielmehr gerade bei Pascal zurück auf Augustinus, vielleicht weist sie aber auch voraus auf die nachhegelsche und nachgoethische Zeit als Epoche nach dem erfolgten „Ende der Neuzeit", um Romano Guardini zu zitieren. Augustinus 12 versteht den Menschen als den Gerufenen und Berufenen. Sein Anfang ist als Anfang seiner Freiheit die Selbstwahl des Selbstseinwollens. Geglückt ist diese Selbstwahl aber nur im Selbstverzicht: I n der Antwort auf den Ruf der 11 Vgl. auch die Herausarbeitung ähnlicher und entsprechender Kategorien in: Heinrich Rombach, Strukturontologie, 1971. 12 Vgl. M a x Müller, Erfahrung und Geschichte, 1971; der Augustinus-Abschnitt dort auf S. 461/476.
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Berufung „wird" der Mensch. Für diese Antwort ist aber das Zugleich von „superbia" und „humilitas" charakteristisch. Superbia ist nicht einfach „Stolz", sondern schlicht die Selbstbehauptung als das Sich-auf-sich-selbststellen des Menschen in Freiheit: Ein Grundzug dieser Freiheit selbst also. Humilitas ist aber auch nicht einfach Demut, sondern Verzicht auf die Selbsterfüllung; sie ist Selbstpreisgabe und Selbsthingabe an den Höchsten, der allein die Lösung der Zwiespältigkeit des durch die Begegnung mit Ihm endlich-unendlich, kontingent-absolut gewordenen Menschen in der wiederum geschichtlichen Erlösung geben und schenken kann. Allein gelassen, nur auf sich gestellt, ist der Mensch tragisch von Grund aus, d. h. vom Anfang der Geschichte und seiner Herkunft her. Des Menschen Dasein ruft nach „Erlösung" und verweist auf sie. Aber: Ob sie kommt und ob sie, wenn sie kommt, auch akzeptiert wird, das ist die Frage unserer Existenz; jene Existenzfrage, die ihre Antwort auf jeden Fall nur in der Geschichte finden kann. Die kosmische Tragödie der Antike hat sich in diesem christlichtragischen Bewußtsein zur anthropologisch-historischen Tragödie gewandelt, und damit ist ein neues, unantikes Tragik-Verständnis entstanden. Dieses zeigt sich dann erst voll in den Werken des sog. „säkularisierten Christentums", bei denen die „Erlösung" der Tragik weithin ausbleibt. Vor dieser Säkularisierung ist Tragik primär die Tragödie Gottes: Er „muß" sein bestes opfern, wenn er auf seinem freien Entschluß der Erlösung besteht, d. h. aber der Ewige „muß" selbst Geschichte werden, in der „Kenosis" die volle Verzeitlichung auf sich nehmen, nicht nur als der Ewige in der Zeit „erscheinen", sondern selbst zeitlicher Mensch sein, um die Menschheit von Tragik zu befreien. Denn hier bei Augustinus ist primär nicht die Menschheit geschichtlich, sondern der Gott ist es. Die eigentliche Geschichte ist Gottesgeschichte; nur sie hat Kontinuität, Zusammenhang und Sinn, denn nur die Kontinuität Seiner Angebote an die Menschen als geschichtliche Offenbarung ist das Offenbare in der Geschichte und der Menschwerdung des Menschen; alles andere ^«r-menschliche Tun ist Chaos gegenseitiger Bekämpfung, Chaotik von Gründung und Zerstörung, die wir durcheinander wirbeln. Wie so der Gott in der Geschichte seiner Zuwendung und der von ihm ausgehenden Berufung allein Geschichte als Dialog des Unendlichen mit dem Endlichen „hervorgehen" läßt und darin „Er" der Geschichtliche kat 9 exochen ist, so ist auch „Er" primär „tragisch", und nicht wir sind es. Die Tragik des Menschen wird gegenüber diesem göttlichen Mysterium gleichsam sekundär, und rein menschliche Tragödie wird davor gleichsam überflüssig. Beispiele aus dem Mysterienspiel des Mittelalters wie der Neuzeit (Calderon) lassen sich leicht in Fülle beibringen.
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VI Nun noch ein Blick auf die moderne Tragödie, auf das neuzeitliche und nachneuzeitliche Tragikbewußtsein, wobei nur nodi kurze Hinweise möglich sind. Als Beispiel, wie schwer ein bestimmtes großes tragisches Dichtwerk auf einen „Typ" von Tragik überhaupt festlegbar ist, können die unzähligen Deutungen des Shakespearischen »Hamlet* gelten, eine Diskussion, die ja in Goethes ,Wilhelm Meister* ihren ersten großen Ausdruck fand. Entscheidend für das hier waltende Tragik-Verständnis könnte z. B. das Wort sein: „Die Welt ist aus den Fugen", mit der Folge, die Hamlet selbst zieht; Wehe ihm, daß er sie einrichten soll, was doch über eines Menschen Kraft geht. Hier wäre sowohl die „kosmische Tragik" der Welt, nach welcher man sich doch auszurichten hat, die man aber selbst nicht einzurichten und herzurichten vermag, angesprochen; aber was in der Antike gerade Hybris ist, ist hier auch Auftrag und Berufung geschichtlicher Art, womit die historische Tragik zum Vorschein kommt, die zugleich eine existenzielle ist: Hamlet wäre ein „typischer" Fall der tragischen Überforderung gerade des Auserwählten, des Gerufenen, des Ausgezeichneten, wobei dieser, wenn er „gnadenlos" auf sich selbst gestellt bleibt, von der Höhe der Berufung ins Verhängnis des Versagens geschleudert werden „muß". Gestaltet wäre hier die hohe Berufung, die zum Untergang führt, die Auserwählung wäre als jenes Verhängnis gesehen, das im Subjekt selbst seinen Ort hat, und die kosmisch-ontologische Tragödie ist zur subjektiv-anthropologischen Tragödie geworden. Eine metaphysisch-ethische Deutung fällt aber hier aus, weil geschichtliche Berufung nichts mit Moral und ihren Forderungen an alle zu tun hat. Von Heidegger 13 her könnte diese Deutung als historische Tragik noch einmal differenziert werden zu einer sog. „seinsgeschichtlichen Tragik", die hier ins Wort käme; hier wären die großen Zeitalter unserer abendländischen Seins- und Denkgeschichte unterschieden voneinander durch den Wandel von der „Wahrheit" zur „Richtigkeit" und zur „Gewißheit". Dem Zeitalter der Wahrheit als der offenbaren festen Weltverfügung war primär die kosmische Tragödie zugeordnet. Das Zeitalter der Richtigkeit richtet sich nach dem metaphysischen Eidos, und die sinnliche Welt steht unter dem Richtspruch des idealen Wesens: ethische Tragödie. Seit dem Anbruch der Neuzeit tritt an die Stelle der Richtigkeit, sie verschärfend, der Anspruch der Gewißheit, der certitudo. Gewißheit vergewissert sich kritisch der Richtigkeit. Der Abfolge von Physiologie-Metaphysik zur Kritik entspricht die Abfolge des kosmisch-tragischen Bewußtseins, des 13
M a r t i n Heidegger,
D i e Zeit des Weltbildes in: Holzwege, Seite 69/104.
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ethisch-tragischen Bewußtseins und der tragisch-kritisch-existenziellen Selbstvergewisserung. Hamlet kann der geschichtlichen Berufung nicht gewiß sein; je gewissenhafter und redlicher er ist, desto handlungsunfähiger wird er. Nur der Gewissenlose scheint voll und ganz Täter sein zu können; und hier in der Situation Hamlets ist die volle Tat verlangt. Verantwortbar und übernehmbar ist die geschichtliche Aufgabe nur dort, wo in „claritas" und „distinctio" (in Klarheit und Unterschiedenheit) — Descartes — die von der „intellektuellen Redlichkeit" geforderte volle Gewißheit erreichbar ist. Diese intellektuelle Redlichkeit und Verantwortbarkeit eines jeden Tun ist die Grundtugend dieser Epoche, die wir die moderne-wissenschaftliche nennen. Daß dies so ist, und daß dies seine Grenzen hat, ist eine nachneuzeitliche Einsicht. Neuzeitlich ist: Aus Gewißheit und Theorie folgt verantwortbare Handlung und Praxis. Uns gilt aber heute das, was schon die Antike gewußt hat, daß nämlich die Tat ihre eigene Gewißheit und Wahrheit über sich selbst beibringt und diese nicht vorher erlangbar und zur Sicherung beibringbar ist. Hamlet stünde nun weder mehr in Antike und Mittelalter, noch schon in der Nach-Neuzeit, sondern in jener „Zwischenzeit" des Zeitalters des absoluten Vorrangs der Gewißheit und der Vergewisserung; er ginge also an seiner „Modernität" zugrunde: Ein Vorläufer der Neuzeit im noch bestehenden Mittelalter, der dennoch nicht weit genug vorläuft, um auch noch die Neuzeit hinter sich zu bringen; denn da erst wäre Lösung und Erlösung zugleich. Das Zögern Hamlets, da er die Tat erst dann tut, als der Kairos für sie vorbei ist, weil er die Fesseln der „certitudo" nicht sprengt, sondern neu in sie sich hineinbegeben hat, weil er seine Zeit als die neue Zeit der Gewißheit nicht noch einmal transzendieren konnte, das ist seine (Hamlets) Tragik: Er geht zugrunde als der große Repräsentant seiner Epoche, der Neuzeit als einer Zwischenzeit, die als diese Zwischenzeit selbst tragisch genannt werden könnte, weil ihre großen Menschen an ihr zugrunde gehen. Nicht daß dies Skakespaere so gewollt und gewußt hätte: Der Dichter ist keineswegs in der Reflexion und Bewußtheit über seine Zeit hinaus; er ist über sie hinaus, indem er sie zur Gestalt bringt, zu Wort kommen läßt, sie im Wort „erledigt". Und dies geschieht auch hier: Hamlet ist gerade in seinem neuzeitlich geprägten Antlitz tragisch, und so geschieht ein Urteil über diese ganze Epoche, für welches man sie bereits auch wieder unter sich gelassen haben muß. Hier wird schuldlos die je eigene Gewißheit und Wahrheit der Praxis verfehlt, und gerade darin ist Hamlet großer Exponent dieser Epoche. Diese vormoralische Schuld des Verfehlens ist nicht kosmisch gefaßt; die Schuld ist Schuldigsein als Zurückbleiben hinter der höchsten Möglichkeit. Diese höchste Möglichkeit wäre der Ausbruch aus seiner Zeit, der „Durchbruch" des letzten Aufschwungs als Ereignis. Dieser Durchbruch kann nicht verlangt werden, denn dort, wo
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er versucht wird und aus seiner Macht heraus höchste Gewalt entfaltet, da „kann" es sein, daß die bisherige Zeit zurückschlägt und den Vorläufer vernichtet. So ist in der Geschichte Untergang wie Erlösung weder Zufall nodi Notwendigkeit, weder strenge Kausalität noch sinnlose Beliebigkeit, denn beide sind immer untragisch. Aber aus der Schärfe der Geschichte kann Tragik wie Erlösung „hervorgehen". Für den „Hervorgang" führt Rombach einmal folgendes Beispiel an: Eine Diskussion z. B. ist veranstaltbar, machbar, ja sogar berechenbar, aber audi verpfuschbar. Ein Gespräch dagegen „geht hervor", „ergibt" sich, glückt oder mißglückt. Und so kann aus der Größe der Berufung an der Schwelle der Zeiten für den Helden der erlösende Durchbruch wie der vernichtende Tod hervorgehen. Diese Ambiguität liegt in dieser Weise des Tragischen, und sie verweist je und je auf die Zweideutigkeit dessen, was hier „Können" besagt, wenn man davon spricht, „beides kann sich ereignen". Damit ist das Tragische (und die Tragödie) gerade auch dort sichtbar, wo es „verwunden", überwunden wird und als Boden solcher Uberwindung dennoch gegenwärtig bleibt. Emil Staiger 14 zeigt dies in seiner Analyse von Kleist 9s „Schauspiel", welches zwei Helden hat: I m ,Ρήηζ Friedrich von Homburg c ist der Prinz Held und ebenso der Kurfürst. Kleists Leben selbst ist tragisch ohne Erlösung: Der Größe seiner Existenz entsprach ihre Kompromißlosigkeit. Damit wird in wahrhaft „heroischer" Weise aber die Menschlichkeit des Menschen verfehlt. In dieser „tragischen" Verfehlung wird aber gerade der Kompromiß als Ubereinkunft des Entgegengesetzten als Erlösung der Tragik sichtbar. Indem der ,Prinz von Homburg* das, was dem Menschen Kleist im Leben nicht gelang, im Drama gelingen läßt, hebt er die Tragik des Kleistschen Lebens in der Kunst (als „hohem Leben") ebenso hervor, wie aber auch auf. Man könnte das so sagen: Die Welt des Prinzen ist utopisch 14 E. Staiger, . G r u n d b e g r i f f e . . . ' DTV-Ausgabe S. 130/138; hier wäre audi auf Grillparzers »König Ottokars Glück und Ende' hinzuweisen, dessen Tragik ebenfalls eine „Tragik der freien Begegnung" genannt werden könnte. Dies D r a m a Grillparzers kennt ebenfalls zwei Helden: Ottokar und Rudolf von Habsburg. D i e dialogische Versöhnung zwischen der natürlichen K r a f t und Vitalität einer in Ottokar präsenten Struktur von Gewalt und Staatlichkeit einerseits und der ihr in Rudolf entgegentretenden Macht des Reichs, das eine andere Welthaftigkeit darstellt, geht gerade aus der freien Begegnung ihrer nicht hervor. D i e Größe Ottokars macht ihn zu einem echten „Prätendenten" für das Reich; die fehlende letzte Selbstüberwindung macht den Schritt zum Reich hin aber tragisch zum Schritt in den Abgrund. Aus dem „ D i e n - M u t " Rudolfs geht aber seine Erhebung hervor (geschichtliche Transzendenz), seine Erhebung zum Reich. Ottokar dagegen kann seine und seiner Sache „ N a t u r " nicht durchbrechen, nicht aufsprengen. D i e Geschichte beruft und verwirft ihn zugleich.
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und trotzdem real; die Realität ist die Realität der Traumwelt, der Intuition, des Charisma, der Genialität, des Charmes der ungewöhnlichen Individualität des ausgezeichneten Menschen. Die Welt des Kurfürsten ist die der Rationalität, der festen Institutionalität, des wirklichen und wirkenden Gesetzes, der Willentlichkeit und klaren Zielbestimmtheit, der tatsächlichen Beherrschbarkeit aller „Fälle", wobei diese Welt der Fälle" und Tatsachen oft mit der wirklichen Welt schlechthin gleichgesetzt wird, obwohl sie doch für das, was nicht zum „Fall" gemacht werden kann, unzuständig bleibt. Der Zusammenstoß dieser zwei Welten erfolgt „dramatisch", d. h. konkret in einmaliger Handlung und als diese Handlung. Der Prinz geht unter, er erleidet den Tod voraus, er übernimmt ihn frei und sinnlich zugleich, und in der freien Annahme dieses Todes wird er zugleich frei für die „andere" Welt: die Welt der Regel. Der Kurfürst aber transzendiert in entgegenkommender freier Bewegung, die sich mit jener des Prinzen nun dialogisch eint, seine Welt, die Welt der allgemeinen Institution, die er trotzdem „ist", die er präsent macht und repräsentiert, er transzendiert sie zur Ausnahme hin, zur Welt des Prinzen in der „Gnade". Beide lassen gegenseitig sich und die je andere Welt gelten und fügen sich und sie zu einer Einheit. Die „Erlösung" geschieht als Lösung aus der „„normalen" Verhaftung in jeder der beiden Welten, als Gewinnung einer neigen zusätzlichen Identität. Nur den Helden ist dieser „Durchbruch" möglich; wem er aber möglich ist, der ist auch „Held"; nur dem Helden aber wird auch die Doppelheit dieser Welten zur Gefahr, weil er eben nicht nur in der Welt ist, sondern Welt selbst „ist" und er daher den „Austrag" der Welten selbst „leisten" muß. Aber wiederum: Dieser Austrag ist, wenn er gelingt, nie Leistung eines Einzelnen, sondern das Gelingen geht frei hervor aus gelungener Begegnung, aus Geschichte also und nicht aus „Natur" oder „Wesen". I m ,Prinz von Homburg' gelingt die Tragik überwindende „Erlösung". Sie kann aber nur gelingen, wenn sie hervorgeht aus einer freien Doppeltranszendenz, aus der freien Übereinstimmung zweier in dialogischer Situation, aus einer Doppeltranszendenz also, die zugleich selbst- und welttranszendent ist. Die Unerzwingbarkeit dieses erlösenden Vorgangs aus doppelter Freiheit zeigt, wie nahe hier die geschichtlich-existenzielle Tragik ist, und vielleicht ist sie niemals sichtbarer und erfahrbarer als dort, wo sie in solcher Weise überwunden wird. Wenden wir uns zum Beschluß uns nochmals den Thesen Dürenmatts über Tragödie und Komödie zu. Dürenmatt sagt, daß Tragödie heute kaum mehr möglich sei. Das ist auch leicht einzusehen. Denn eine „kosmische Tragik" kann es ja nicht mehr geben, da unsere Welt weder Fügung noch Gestalt und daher auch keine Forderung zu Einfügung und Gehorsam mehr kennt; sie kennt auch kein Geheimnis der Verbergung mitten in der Wahrheit mehr
Philosophische Reflexion auf das Phänomen des Tragischen
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und kann somit auch die Ehrfurcht davor nicht mehr kennen und damit audi keine diese verletzende Hybris mehr. In diesem Welt- und Seinsentzug, wie Heidegger dieses Phänomen benennt, hat Welt in ihrer Antlitzlosigkeit ihren Weltcharakter verloren, und an ihre Stelle ist ein quasi technisch zu manipulierender Gesamtverbund getreten. Dieser Gesamtverbund kennt wohl noch „Entwicklung" zu weiterer Perfektion in Beherrschung und Beli errschbarkeit, nicht aber mehr „Geschichte" als unwiederholbarer und unberechenbarer Hervorgang aus der geglückten oder mißglückten Begegnung zweier Freiheiten. Diese Begegnung führt zum Glücken als Erlösung nur, wenn der doppelte Durchbruch geschieht, während das Vereinzeltbleiben eines solchen Durchbruches im tragischen Scheitern das Ganze in seiner nicht überwundenen Zwei-Einheit gegenwärtig sein läßt. Aber wie so durch diese Antlitzlosigkeit und Geschichtslosigkeit von Welt sowohl die kosmische als auch die geschichtlich-existenzielle Tragik nicht mehr sich ereignen können, so ist auch sogar die metaphysisch-ethische (Pseudo-) Tragik verunmöglicht, wenn, wie im Zeitalter des Positivismus nur noch das „ist" gilt, und das Sollsein und Kannsein verschwindet. Nur noch „Komödie" ist jetzt möglich: Welt, die nicht ist, kann doch noch mit-gezeigt werden in der Groteske partialen Mißlingens, über das gelacht werden kann, weil es nur partial und behebbar wäre, aber wo dieses Lachen des Spiels doch auf den Ernst der Trauer hinzeigt, welcher Ernst und welche Trauer im Hintergrund als totale Nichtübereinstimmung der Welt- und Existenztragödien steht. Nur so wird, meint Dürenmatt, in der Möglichkeit von Komödie die fehlende Wirklichkeit von Tragödie noch sichtbar. Aus der Ironie der weltlichen Unstimmigkeiten steigt die Ahnung der Tragik der Weltlosigkeit als vielleicht künftige Weise tragischen Wissens auf: Denn wie soll „Sinn" als gelingende oder mißlingende Ubereinstimmung mit sich und der Welt denn in der antlitzlosen, alles mit allen „in commercio " bringenden „one world " noch möglich sein? Dies wäre die Tragik der Tragiklosigkeit reibungslos klappender, universal-absoluter Geschäftigkeit; vorausgesetzt allerdings, daß über dem Pseudoglück dieses geschäftigen Glückens noch das Bewußtsein dessen, was uns hier fehlt und wie hier das Menschsein den Menschen genommen ist, zumindest als melancholische Ahnung in komödiantischer Ironie sich noch ereignen kann. VII, Zum Beschluß noch eine formal-logische Überlegung, die aber nicht nur formal-logisch bleiben kann: Tragik ist nach dem hier Gesagten kein eindeutiger, „univoker", vielmehr ein „analoger" Begriff. Welche von den vielen Arten der Analogie einigt aber die Begriffe kosmischer, metaphysisch-ethischer, christlich- wie säkular-geschichtlicher und historisch-existenzieller Tragik, die wir als Grundtypen unserer tragischen Erfahrung hier
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herausarbeiteten? Es ist nun gerade keine formale-logische Analogie, wie es die „anologia attributionis* oder „proportionis" oder „proportionalitatis" es sind. Unsere Analogie sprengt gerade diesen Bereich. Sie ist eine historische Analogie, um die sich die Logik bisher zu wenig gekümmert hat, d. h. eine geschichtlichepochal je andere Weise des Bandes zwischen Größe und Untergang, Glück und Zerstörung, Berufung und Scheitern, des „Hervorgangs" des einen aus dem anderen und dadurch eine je andere Weise der dadurch geschehenden Präsenz des Konkret-Allgemeinen in bestimmter Handlung. Die historische Analogie ist Wesensanalogie. I n der klassischen Logik und Ontologie ist „Wesen" und Wesensbegriff immer univok. Sie besagen die eindeutige Grundstellung im Ganzen der Welt. Wenn in der historischen Analogie nun auch das Wesen analog wird, so besagt das, daß in je anderen Welten bzw. Weltepochen die Selbigkeit der Grundstellung nicht mehr dieselbe bleiben kann. Das schwere Problem der „Ubersetzung" von Welt zu Welt und von Epoche zu Epoche und der Erhaltung der analogen Selbigkeit in dieser Traduktion und Transposition taucht auf 15 . Ohne Anerkennung dieses welthaften oder epochalen Wesenswandels kann es kein Verständnis der von uns entwickelten geschichtlichen Typik des Tragikbewußtseins geben. Der Hervorgang dieser Synthese des Differenten hängt von der historischen Möglichkeit und Wirklichkeit je anderer Welt oder anderer Epochalität des je anderen Daseins ab; daher können unsere Typen dieses Hervorgangs weder deduziert werden von einem Prinzip her noch als eine apriorische Typik konstruiert werden. Die Weisen des tragischen Bewußtseins in ihrer typischen Ausgestaltung können nur in der Geschichte der Tragödie als faktische gefunden werden und aufgrund dieser faktischen Vorgefundenheit erst gedeutet werden; gedeutet und ausgelegt als Ereignisse des Zusammenfalls (der symbolischen Einheit also) von Einzelnem und Obereinzelnem, als weltgeschichtliches Schicksal des europäischen Menschen, an welchem er zugrunde geht oder in welchem er Erlösung findet,
15 Z u m Problem einer solchen analogen Traduktion und Transposition gerade als Problem einer christlichen geschichtlichen Tradition vgl. meine 3 Salzburger Vorlesungen „Weisen der Sinnerfahrung des Menschen von heute" in Ansgar "Paus, Suche nach Sinn — Suche nach Gott, 1978, S. 9 - 45.
D I E T R A G I K I N D E N MEDEA-DRAMEN Von Otto Zwierlein Zusammenfassung Die bis in jüngste Zeit verdächtigten Verse 1012713 der senecanischen Tragödie werden vor dem Hintergrund der antiken Topik von der verlassenen Heroide als echt erwiesen. Sie fügen sich organisch in das gegenüber Euripides veränderte Medeabild Senecas, dessen H e l d i n sich in eine leidenschaftliche, maßlos wütende Rachewollust hineinsteigert. D i e Tragik im euripideischen Stück läßt sich — bei vorausgesetzter Athetese der Verse 1 0 5 4 - 1080, die gegen neueste Rettungsversuche verteidigt w i r d — wie folgt bestimmen: Medea, durch Jasons Treubruch in dem fremden Korinth in ihrer E x i stenz getroffen, muß sich nach antikem Ehrenkodex im Interesse ihrer Selbstachtung rächen. Zureichende Rache bietet neben der Vernichtung der Nebenbuhlerin nur die Ermordung der Kinder, durch die Jasons Hoffnungen auf Fortbestehen seines Stammes zerstört werden. D e r M o r d an den eigenen Kindern stürzt aber zugleich sie selbst, die liebende Mutter, in tiefstes Leid. Bei Seneca sind die eigentlich tragischen Züge auf die Figur des Jason verlagert, der im Gegensatz zu Euripides in den Grundlinien positiv gezeichnet ist — was auch durch die Parteinahme des Chores für Jason (während der euripideische Chor auf Seiten Medeas steht) zum Ausdruck kommt: I m Konflikt zwischen Treue zur Gattin und Fürsorge für das Leben der Kinder entscheidet er sich für die Kinder, die er innig liebt, löst aber damit eine Rachehandlung der verstoßenen Gattin aus, die ihn eben dieser Kinder beraubt. Medeas Rache an Jason mag subjektiv gerechtfertigt erscheinen, da sie verstoßen wurde, obgleich sie alles für den Geliebten aufgeopfert hat, objektiv ist sie es nicht, da Jason — dem Willen und der Reditsgewalt des Creo Untertan — keine Handlungsfreiheit besaß. Dies hatte Medea selbst anfänglich, da sie noch Liebe empfand und weiter um den Geliebten warb, anerkannt. Später, nach dem Scheitern ihrer aus Jasons Sicht nicht realisierbaren Bemühungen, lebt sie nur noch ihrem H a ß : aus der menschlich gezeichneten Medea des Euripides ist wieder die dämonische Zauberin geworden, die in der Pose des senecanischen Tyrannen ihre diabolische Rache sadistisch auskostet und einen M e n schen zurückläßt, der an der Verbindung mit diesem dämonischen Wesen zerbrochen ist. Corneille vereinigt die beiden unterschiedlichen Konzeptionen seiner antiken Vorbilder miteinander — zum Schaden der Einheitlichkeit seiner Charaktere — und verquickt sie mit Motiven preziös-galanter Liebesromantik. Grillparzer leitet die tragischen Verwicklungen Medeas aus ihrer barbarischen H e r k u n f t ab.* * Der folgende Aufsatz ist die erweiterte Fassung eines Vortrages, den idi am 3 . 1 0 . 1 9 7 7 auf der Generalversammlung der Görres-Gesellsdiaft in Innsbruck vor der Abteilung für Klassische Philologie gehalten habe.
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Ich beginne mit einer umstrittenen Textstelle aus dem S c h l u ß d i a l o g zwischen Medea und Jason bei S e n e c a : Creusa und Creo sind ein Opfer der verzauberten Geschenke geworden, das erste Kind durch Medeas Hand getötet; Jason bittet die auf dem Dach des Hauses unnahbar Triumphierende, wenigstens den zweiten Sohn zu schonen: der Tod eines Sohnes sei Strafe genug. Darauf Medea 1 : „Wenn meine Hand durch einen Mord gesättigt werden könnte, hätte sie keinen begehrt. Selbst wenn ich beide vernichte, ist die Zahl doch allzu begrenzt für meinen Zorn 2 . Wenn in der Mutter jetzt noch ein Liebesunterpfand sich birgt, so w i l l ich mit meinem Schwert die Eingeweide durchwühlen und es mit dem Eisen herausreißen." Die beiden letzten Verse: in matre si quod pignus etiamnunc latet, / s er utabor ense viscera et ferro extrajoam sind von Friedrich Leo ( I 208) als interpoliert verworfen worden; sein Rezensent Tachau3 pflichtet ihm bei, Peiper-Richter haben sie demzufolge in ihrer Teubner-Ausgabe der Dramen in Klammern gesetzt, und G. Müller hat dieses Verdikt im letzten Gnomon-Band4 bekräftigt mit den Worten: „Diese Verse sind von Leo [ . . . ] mit so zwingenden Gründen getilgt worden, daß sie nicht mehr im Text belassen werden dürfen." Leo hält es für unangebracht, daß Medea ihre eigenen Eingeweide mit dem Schwert durchwühlen wolle: dies könne Jason nur willkommen sein; hätte er doch durch Medeas Tod wenigstens eine gewisse Genugtuung. Da sich die Verse jedoch aufgrund des Stichwortes mater auch nicht auf die virgo Creusa beziehen ließen, die ja überdies schon in den Flammen umgekommen war, bleibe nur die Annahme, ein Interpolator habe sie hinzugefügt — angeregt durch den Hinweis, zwei tote Söhne seien allzu wenig für ihren Zorn —, wobei er sich von Deianiras Worten in H O 345 f. habe leiten lassen: „Wenn Iole von meinem Hercules ein Kind empfangen hat, so werde ich es mit meinen Händen herausreißen." 5 1
M e d 1009 si posset una caede satiari manus, nullam petisset. ut duos périmant , tarnen nimium est dolori numerus angustus meo. in matre si quod pignus etiamnunc latet, scrutabor ense viscera et ferro extraham.
2 Dolor hat bei Seneca in der Mehrzahl der Fälle aktive K r a f t , bedeutet also meist ,Zorn', und nicht (passiven) Schmerz. D e r Titel von Regenbogens bekannter Schrift »Schmerz und T o d in den Tragödien Senecasc, der aus der mangelnden begrifflichen Durchdringung der von ihm aufgeführten i/o/or-Stellen erwachsen sein dürfte, erweckt also im Leser falsche Vorstellungen. Auch in jüngster Zeit hat man dieses auf der H a n d liegende sprachliche Faktum (der Thesaurus [ T h L L V 1, 1841, 25 ff.] bietet eine lange Rubrik für dolor i. q. tra) mit recht schädlichen Folgen für die inhaltliche Interpretation der Dramen mißachtet. 3 L. Tachau, D i e Arbeiten über die Tragödien des L. Annaeus Seneca in den letzten Jahrzehnten, Philol. 48, 1889, 725. 4 I n seiner Rezension von Costas kommentierter Medea-Ausgabe, Gnomon 48, 1976, 785.
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Dagegen spricht aber — von anderem abgesehen — der Umstand, daß ich sonst keine eingeschwärzte Stelle in den Tragödien nennen könnte, die vom unechten ,Hercules Oetaeus' gespeist wäre, während umgekehrt die ausgiebige — leider oft stümperhafte und das Original pervertierende — Übernahme von senecanischen Motiven, Vers- und Wortreminiszenzen charakteristisch für den Epigonen ist, der den monströsen ,Hercules Oetaeus* gedichtet hat 6 . Gerade die in ihrer ehelichen Liebe tief verletzte Medea aber hat bei der späteren Ausgestaltung der von Hercules mit einer jugendschönen, königlichen Geliebten konfrontierten, eifersüchtigen Deianira immer wieder Pate gestanden, so z. B. ist die Beschreibung der Eifersuchtssymptome durch die Amme in H O 233 - 255 ein mit vielen wörtlichen Reminiszenzen durchsetzter Aufguß der Schilderung, die Medeas Amme in 380 ff. von ihrer leidenschaftlich rasenden Herrin gibt; und wenn in H O 278 Deianira fragt: „die gefangene Iole soll meinen Kindern Brüder gebären?"7 und dabei seltsamerweise voraussetzt, sie habe neben Hyllus noch weitere Kinder, während sie sonst im ganzen Stück immer nur von Hyllus als ihrem einzigen Kind spricht, so resultiert dies — wie Axelson 94 festgestellt hat — „aus der medianisch übernommenen Frage einer ebenfalls eifersüchtigen Mutter mit zwei Kindern", nämlich Medeas: „Meinen Kindern soll Creusa Brüder gebären?"8 Ganz entsprechend ist also auch das Verhältnis zwischen der racheheischenden Deianira in H O 345 und der rächenden Medea in unseren Versen zu beurteilen: Deianiras Wunsch, zu den Schatten zu gehen, freilich erst nach vollzogener Rache (zuvor wolle sie die Leibesfrucht, die Iole etwa von Hercules empfangen hat, mit ihren Händen herausreißen), dieser Wunsch ist gestaltet nach Medeas Ausruf, sie wolle — wenn jetzt noch ein Liebespfand in ihrem Leibe sich berge — dieses mit dem Schwert herausreißen, bekräftigt also die Echtheit der Verse Med 1012 f. Auch stilistisch tragen sie ganz die Handschrift Senecas: Für das Wiederaufgreifen von ens e durch ferro und die damit verbundene Zweiteilung des Verses hat dies Carlsson® dargetan, für Wortwahl und Satzstruktur verweise ich auf Tro 811 f. (Andromache) si quid hic cineris la t e t, / 5
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si quid e nostro Hercule concepii Iole , m a nib us e ν e II am m e is. 6 D a ß dieses Machwerk aus Senecas Feder geflossen sei, liest man zwar noch allenthalben, neuerdings auch wieder in dem mehr dickleibigen als gedankenschweren Senecabuch von Rozelaar, der neben dem ,Hercules Oetaeus' auch noch die ,Octavia* für echt erweisen w i l l ; die Frage ist aber längst anders entschieden — es mag genügen, auf Axelson, ,Korruptelenkult 4 zu verweisen. 7 H O 278 Iole mets captiva germanos d ab it natisi 8 M e d 508 mets Creusa liberis fratres dabitf » G. Carlsson , Die Überlieferung der Seneca-Tragödien, Lund 1926, 74 f. (vgl. 63).
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s er ut ab or ore, eine bis in die Wortstellung im Vers übereinstimmende Parallele 93-. Der Gedanke kehrt ähnlidi in Oed 965 wieder, wo der Bote anläßlich der Selbstverstümmelung des Oedipus berichtet s er ut a tur avidus manibus uncis lumina . M i t der grausigen Schilderung von Oedipus' Selbstblendung hat denn auch Carlsson zu Recht unsere Medea-Verse verglichen (74) und an beiden Stellen die gleiche makabre Phantasie am Werke gesehen: hier auf dem Höhepunkt ihrer wilden Leidenschaft lasse Seneca seine Heldin den in aller Absurdität psychologisch doch motivierten Gedanken aussprechen, sie sei — um noch etwa vorhandene Bande, die sie mit Jason verbinden, abzuschneiden, und alles, was ihm teuer sein könnte, mit ihrer Rache zu treffen — bereit, sogar Hand an sich selbst zu legen. Diese Formulierung darf freilich nicht mißverstanden werden: es geht hier nicht um die Bereitschaft zum Selbstmord. Dieser Gedanke wäre im Zusammenhang tatsächlich so unerträglich, daß man Leos Athetese, die auf dieser Interpretation der Verse gründet, versteht. Medeas Aggression richtet sich vielmehr allein gegen die möglicherweise in ihr verborgene Leibesfrucht, um auch noch die letzte Bindung zu Jason zu zerreißen. Zum medizinischen Aspekt der senecanischen Formulierung s er ut ab or en s e viscera et ferro e χ t r ah am (sc. pignus) verweise ich auf Ovids Schelte an die puellae, die suis patiuntur vulnera te li s ! et caecas armant in sua fata manus (am. 2,14, 3 f.), insbesondere auf seine entrüstete Frage (v. 27) vestra quid effoditis subiectis viscera te lis , die er durch die abschreckenden Exempla der Medea und Procne erhärtet. Daß Medea in der verborgenen Leibesfrucht das Unterpfand der gemeinsamen Liebe treffen will, dürfte aus dem Stichwort p i g n u s hervorgehen: in der ,Octavia* (591) schneidet Nero Senecas Vorhaltungen mit der Bemerkung ab, es werde nun Zeit, die Hochzeit mit Poppaea zu begehen, „da sie in ihrem Schoß ein Liebesunterpfand trägt, das ein Teil von mir ist." 1 0 Andromache nennt ihren kleinen Sohn ο dulce pignus (Tro 766), und bei Ovid, der schon Hypsipyle (epist. 6, 122. 130) ihre Kinder von Jason als pignora bezeichnen ließ, bittet Medea den Geliebten per... natos, pi gnor a nostra, duos (epist. 12, 192). Senecas Medea genügen also für ihre Rache an dem verhaßten Gemahl nicht die beiden lebenden Kinder: selbst die Leibesfrucht würde sie sich ausreißen, um ihn bis ins Innerste zu treffen, um alles, was sie noch mit ihm verbindet, zu vernichten. Die Trennung von Jason soll 'vollkommen sein: ihre Antwort auf seine Bitte per(que) communes fugas torosque (1002 f.) ist also die Ermordung auch noch des zweiten Kindes, ja die AnSie ist — wie ich nachträglich sehe — schon von Axelson ( S I F C 1956, 14 A n m . 1) angeführt worden. 10 Oct 591 cum portet utero pignus et partem mei.
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drohung, selbst die in ihr noch verborgene Leibesfrucht zu vernichten, die ja ein fortdauerndes pignus dieser Ehe wäre. Diese Exzessivität des Hasses und der Racheleidenschaft unterscheidet unsere Stelle von der Imitation im ,Hercules Oetaeus': Deianiras Rache besteht darin, die etwa vorhandene Leibesfrucht der Iole zu treffen und so die Gemeinschaft der verhaßten Nebenbuhlerin mit ihrem rechtmäßigen Gatten zu zerstören — Medeas Haß geht tiefer: er richtet sich gegen das mögliche Liebesunterpfand im eigenen Leib, gegen ihre eigene Bindung an den Gatten, die sie mit rächender Hand zerschneiden will. Um das Ungeheuerliche dieses Rachewahnes recht zu erfassen, muß man sich vergegenwärtigen, daß sonst in der antiken Topik die v e r l a s s e n e H e r ο i d e das Liebesunterpfand auch noch des nach ihrer Wertung „treulosen" Geliebten zärtlich hegt. Als Dido dem Aeneas, der auf Weisung Jupiters heimlich seine Abreise betreibt, zur Rede stellt, endet sie ihre Abschiedsklage mit den Worten: „Hätte ich doch wenigstens noch einen Sohn von dir empfangen vor deiner Flucht, spielte mir in dem Palast ein kleiner Aeneas, der immerhin in seinem Gesicht deine Züge widerspiegelte, dann erschiene ich mir nicht so gänzlich betrogen und verlassen" 11 — ein zärtlicher Ausdruck ihrer tiefen Liebe, ihrer Verbundenheit auch noch mit dem — wie sie sagt — treulosen Aeneas. Ein Kind, das die Erinnerung an den Geliebten wachhält, das ein Stück von ihm verkörpert, wenn er längst von ihr geschieden ist, würde ihren bitteren Schmerz lindern helfen. Vergil hat dabei wahrscheinlich einen Zug aus der Abschiedsszene zwischen Hypsipyle und Jason weiterentwickelt, wie er sie bei Appollonios Rhodios las (1,897 ff.). Dort sind Hypsipyles letzte Worte an den Geliebten, der nach Kolchis ausfährt: er möge sie im Gedächtnis bewahren und ihr Anweisungen hinterlassen für den Fall, daß ihr die Götter gewähren, Mutter zu werden 12 , während Val. Flaccus (2,423) wiederum seine Abschiedsszene eng nach Vergil gestaltet hat und dementsprechend Hypsipyle 11
Verg. Aen. 4,327 saltem si qua mihi de te suscepta fuisset ante fugam suholes, si qui s mihi parvolus aula luderet Aeneas, qui te tarnen ore re ferret, non equidem omnino capta ac deserta viderer.
12 Vgl. dazu Pöschl, D i d o und Aeneas, Festschrift Κ . Vretska, Heidelberg 1970, 154; zuvor schon Heime, Virgils epische Technik, 134,1. K a u m von Belang ist wohl die Szene auf der Phäakeninsel, w o der König Alkinoos entscheidet: wenn Medea noch Jungfrau ist, soll sie zurück zu ihrem Vater gebracht werden; wenn sie aber bereits das Bett eines Mannes geteilt hat, soll sie nicht von ihrem H e r r n getrennt werden und nicht Feinden ausgeliefert werden, wenn sie ein K i n d unter ihrer Brust trägt: γενέ ΰλην / ε ΐ τ t v ' υπό σπλάγχνοισι φέ ρει.
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in ihren Schlußworten Didos parvulus Aeneas variieren läßt: refer et domitis a Colchidos oris / vela per h une utero quern linquis I as on a nostro : sie trägt einen kleinen Jason unter ihrem Herzen, das Unterpfand ihrer Liebe 13 . Bei Ovid (epist. 6,59) hatte Jason selbst zum Abschied ewige Treue geschworen und Hypsipyle aufgetragen, das Kind, das sie von ihm unter dem Herzen trage, aufzuziehen: beide wollten sie Eltern der gleichen Frucht sein. Das Ungeborene ist also Unterpfand der gegenseitigen Verbindung. Ovid variiert dieses Motiv wieder im Dido-Brief 14 (7,135 ff.). Dido hält dort dem Aeneas vor Augen, daß sie möglicherweise schwanger ist und er sich nicht nur mit ihrem Tod belaste, sondern darüber hinaus mit dem Tod eines noch ungeborenen Kindes, des Bruders seines Sohnes Julus. Auch hier ist die Leibesfrucht Ausdruck des Bundes mit dem Geliebten, ein Teil seiner selbst, dessen Tod zu verursachen Frevel bedeutet. Vor dem Hintergrund dieser Abschiedsszenen wird deutlich, wie abgrundtief hassend Seneca seine Medea gezeichnet hat, wie sehr er sie von brennendem Verlangen erfüllt sein läßt, alle Fäden zu dem einst Geliebten zu zerreißen, wie sehr er ihren Rachedurst ins Unmenschliche gesteigert hat, daß er sie ihren Haß gegen Jason auf die Kinder, ja selbst auf das ungeborene Leben in ihrem Schoß übertragen läßt 1 5 .
13 A u f den Spuren Vergils läßt er auch Clite an der Leiche ihres toten Gatten Cyzicus klagen (3, 316 ff.) primis coniunx ereptus in annis J cuncta trahis ; needum suboles nec gaudia de te J ulla mihi, quis maesta tuos nunc, optime y casus I per peterer tenui luctum solamine fallens. Ο ν . epist. 7, 131 ff. forsitan et gravidam Didon, scelerate, relinquas, parsque tut I at e at corpore clausa meo, accedei fatis matris miserabilis infans et nondum nati funeris auctor eris , 135 cumque parente sua f rater morietur luli , poenaque connexos auferet una duos. 15 Es scheint mir nicht ausgeschlossen, daß bei der Gestaltung dieser hassenden Medea die Dido-Figur eine gewisse Rolle gespielt, daß also Seneca in der Medea, die sich selbst an der Leibesfrucht zu vergreifen gewillt ist, ein Gegenbild zu der noch im Abschied das Abbild des „treulosen" Gatten liebenden D i d o geschaffen hat. Die Technik der imitatio und aemulatio war ja in der Antike weit entwickelt. Seneca selbst hat davon ausgiebig Gebrauch gemacht, wie w i r nicht nur anhand der Vergil- und Ovid-Reminiszenzen, die uns auf Schritt und T r i t t bei ihm begegnen, nachweisen können, sondern auch aufgrund seiner bekannten theoretischen Äußerung zu dieser Frage i m 84. Brief, die übrigens auch die häufige Tendenz des Imitators belegt, sein Vorbild so weit umzuwandeln, daß es durch die neue Form mehr oder weniger verdeckt wird. Einige knappe Andeutungen über die Beziehungen zwischen Vergils D i d o und Senecas Medea finden sich bei W . - L . Liebermann ) Studien zu Senecas Tragödien, Meisenheim 1974, 165, Anm. 0.
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Bevor wir Senecas Gestaltung der Medea- und (damit eng verbunden) der Jason-Figur weiter verfolgen, müssen wir einen Blick auf E u r i p i d e s werfen. Für ihn ist von dem Augenblick an, da Medea die Bühne betritt, ihre enge Verbindung mit den Kindern charakteristisch 16. Dies kommt schon äußerlich zum Ausdruck: die Kinder sollen ja bei ihm mit der Mutter in die Verbannung gehen (70 f. 271 ff. 342 - 347. 461 f. 513. 610. 620), während bei Seneca Medea allein des Landes verwiesen wird, die Kinder aber beim Vater Jason bleiben dürfen (der sie zärtlich liebt). Auch als sie dem Chor ihren Mordplan eröffnet, spricht sie liebevoll von τέκν α . . . ταμ' (792) und macht deutlich, wie schwer ihr das Vorgehen gegen die φίλταται παίδες fällt (795): als die unglücklichste Frau bezeichnet der Chor sie (818), daß sie ihre eigene Saat töten müsse (816). Zärtlich ruft sie ihre Kinder im Dienste ihrer List heraus zu Jason, ihn freundlich zu umarmen ώ τέκνα τέκνα (894, vgl. 901. 969. 1021), und Tränen rollen ihr (und dem Chor) über die Wangen eingedenk des künftigen Loses der Kleinen (903. 922 ff.). Später beklagt der Chor mit der unglückseligen Mutter das Leid, das sie sich selbst durch den Kindermord zufügen wird (996 ff.), und als der Bote die scheinbar frohe Kunde von der freundlichen Aufnahme der Kinder im Königshaus bringt, ist sie bestürzt — und neue Tränen brechen aus ihr hervor (1012), denn nun gilt es, das grausige Werk in Angriff zu nehmen. Bitter beklagt sie im ersten Teil des Abschiedsmonologs (1021 ff.) die bevorstehende Trennung von den Kindern, die ihrerseits „der Mutter beraubt" (1023) sein werden. Unerträglich ist ihr der zutrauliche Blick und das freundliche Lachen der Kleinen (1040 ff.), die sie nun töten soll. Ihre Mutterliebe macht sie wankend im Entschluß; sie w i l l ihren früheren Plan aufgeben und ihre Kinder mit sich aus dem Lande führen: „Was soll ich, daß ihr Vater um ihr schlimmes Los sich härme, doppelt bittres Leid mir selbst antun?" (1046 f.). Nur der Gedanke, sie würde so zum Gespött ihrer Feinde, kann ihre Mutterliebe bezwingen : τολμητέον τάδ9 (1051): es muß gewagt sein. Im Interesse ihrer Selbstachtung muß sie die ernste Anfechtung durch die Mutterliebe bestehen: mit feierlichem Ernst bekräftigt sie am Ende ihren früheren Entschluß. Nach dem Tode Kreusas und Kreons wird die rasche Ausführung der Untat zum Gebot der Mutterliebe (1236 ff.), damit die Kinder nicht von einer feindlicheren Hand fallen; denn es steht zu befürchten, daß die Korinther sich an den Kindern rächen werden (vgl. 1303 ff.). So nimmt sie denn all ihren Mut zusammen (1244 ff.), das Werk zu tun, das ihr Leben künftighin in Trauer hüllen wird (1245): „Denke nicht" — so spricht sie zu sich selbst — „denk' nicht, wie die Kinder dir das liebste waren, wie du sie geboren hast: Diesen einen kurzen Tag nur vergiß' sie, die deinen, und dann weine. Denn auch wenn du sie töten wirst, ιβ Uber die Expositionsszenen bitte ich den Anhang zu vergleichen. 3 Literatuiwissenschaftliches Jahrbuch, 19. Bd.
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so waren sie dir doch teuer — ich aber bin ein unglückselig Weib." 1 7 Nach der Tat bringt das Streitgespräch mit Jason zum Ausdruck, daß sie selbst leidet und teilhat am Schmerz um die toten Kinder (1361 f.). Ihr — nicht Jason — waren sie das liebste (1397); sie — und nicht Jason — wird die Toten mit eigener Hand bestatten, dafür sorgen, daß kein Feind ihr Grab schändet, und ihnen in Korinth einen Kult stiften (1377ff.), ein sinnträchtiges Symbol ihrer Mutterliebe, die für die Ihren über den Tod hinaus sorgt, mit ihnen — im Gegensatz zu Senecas Heldin, die dem Jason am Ende die beiden Leichen als Ausdruck seiner völligen Vernichtung vor die Füße wirft — über den Tod hinaus verbunden bleibt. Dieses liebende Verhältnis bildet die Grundlage für die T r a g i k des Stückes. Sie setzt sich — wenn man eine gewisse Schematisierung zugesteht — aus folgenden Komponenten zusammen: 1. Medea ist durch den Treubruch Jasons und ihre Verstoßung zugunsten der neuen königlichen Ehegefährtin in ihrer Existenz getroffen 18 . 2. Für dieses Unrecht muß sie sich rächen a) aufgrund ihrer Wesensart 19, b) im Interesse ihrer Selbstachtung und Würde 20 . 3. Ziel der Rache muß sein die Vernichtung von Jasons Existenz 21 . 4. Dieses Ziel ist nur zu erreichen a) durch Vernichtung seiner lebenden Kinder, die ihm den Weiterbestand seines Hauses verbürgen 22 , b) durch die Vereitelung künftiger königlicher Kinder aus dem Schöße Kreusas 23 (mit der Tochter muß zugleich Kreon sterben als Strafe für die Verbannung, 1356 f.). 17 Eur. Med. 1246 μηδ 9 άναμνησθης τέ κνων, ώς φίλταθ', ώς 'έτικτες- άλλα τήνδε γε λαθοΰ βραχεΐαν ήμέραν παίδων σέ θεν καπειτα θρήνει* και γαρ ει κτενεϊς σφ', δμως φίλοι γ* εφυσαν δυστυχής δ 9 έ γώ γυνή. 18 Die soziale Entwurzelung Medeas in dem fremden Korinth, die labile Situation der Heimatlosigkeit hat Diller ( K l . Sehr. 338 f., vgl. E. Christmann, Bemerkungen zum Text der Medea des Euripides, Diss. Heidelberg 1962, 39 ff.) treffend charakterisiert. io Vgl. 104. 133 f. 176. 266. 911. 1265. 1373. 20 Vgl. z . B . 383. 404 ff. 797. 807 ff. 1049 f. 1354 ff. 1362. Ihre Rache w i r d 267 und 1232 vom Chor als gerechtfertigt beurteilt (vgl. 578. 692. 695. 1351 ff.: Jason ist im Unrecht); vgl. aber 812 f. 2 1 Vgl. 114 (dazu 139. 490). 163 ff. 794. 803 ff. 1310. 1326. 1398. 2 2 Vgl. 114. 803. 817. 1310. 1326. 1349 f. 2 3 Vgl. 163 ff. (597). 804 f. 1348.
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5. Der unausweichliche Mord an den eigenen Kindern trifft sie selbst in der Seele, denn die Kinder sind das Liebste, was sie besitzt 24 . So ergibt sich denn der folgende unauflösliche tragische Konflikt: Die Rache ist im Interesse der Selbstachtung unausweichlich; zureichende Rache bietet nur die Ermordung von Jasons Kindern. Dieser Mord stürzt sie, die liebende Mutter, selbst in tiefstes Leid, das sie ein Leben lang beweinen wird. Voraussetzung für diese Interpretation ist — das sei nachdrücklich vermerkt — die Athetese der Schlußpartie des großen Medea-Monologes (1054 - 1080), die nach anderen schon Jachmann gefordert hatte und die dann besonders von G. Müller und M. Reeve näher begründet worden ist 2 4 a . Denn wenn man sich bei der Bestimmung des tragischen Gehaltes von den berühmten Versen 1078 ff. leiten lassen müßte 24b , wäre man gezwungen, einen Widerstreit zwischen Leidenschaft und besserem Wissen in das Stück hineinzutragen, der dort sonst keine Rolle spielt — und der auch in seiner sprachlichen Ausgestaltung höchst verdächtig ist 2 4 0 . 24 Siehe oben (S. 33) und vgl. 795 f. 816. 818. 899 f. 996. 1013 f. 1016. 1032 - 37. 1245 f. 1361 (1371). 1397. 24a G. Müller, S I F C 25, 1951, 65 ff.; M . Reeve , Cl. Qu. 22, 1972, 51 ff. Z u vergleichen ist jetzt auch C. Zintzen, Griechische Tragödie in römischer Gestalt, in: Festschrift des Kaiser-Karls-Gymnasium Aachen, Aachen 1976, 198, Anm. 73. Als echt interpretieren diese Verse wieder Knox (s. Anm. 25) 201 f. und Easterling 188 f. 24b M e d 1078 και μανθάνω μέ ν οία δραν μέ λλω κακά· θυμός δέ κρείσσων των έ μών βουλευμάτων, δσπερ μεγίστων αίτιος κακών βροτοϊς. 24c Der letzte Versuch, dieser Aporie zu entrinnen, stammt von A . Dihle (Euripides* Medea und ihre Schwestern im europäischen Drama, Antike und Abendland 22, 1976, 180 f.). Er nimmt die sprachlichen Argumente ernst, die βουλεύματα auf den Begriff „Racheplan" festlegen, versteht aber θυμός nicht im herkömmlichen Sinne als „Leidenschaft", sondern als „(Mutter-)Gefühle" und übersetzt demnach: „Mein θυμός, meine Gefühle, sind stärker als der Plan (βουλεύματα), die Kinder umzubringen." Er faßt also diese Verse als retardierendes Moment, als Eingeständnis der Medea, zur geplanten T a t unfähig zu sein. Dagegen scheint der Umstand zu sprechen, daß in dem abschließenden Relativsatz 1080, der den θυμός-Begriff näher charakterisiert, dieser gerade nicht als retardierendes, sondern als verursachendes Prinzip definiert wird, und zwar als Urheber nicht etwa von Menschlichkeit, sondern von größtem Unheil ( μ ε γ ί σ τ ω ν . . . κακών). — Η . Dillers Interpretation („die Leidenschaft ist H e r r über meine Pläne") hat R. Kassel, Rhein. Mus. 116, 1973, 102 mit Anm. 21 widerlegt. Korrekturzusatz: Inzwischen ist Dihles Akademie-Abhandlung „Euripides' Medea" erschienen (Sitzber. A k a d . Wiss. Heidelberg, Phil.-hist. Klasse, Abh. 5, Heidelberg 1977). H i e r verdeutlicht der Verfasser seine Konzeption (vgl. bes. 13 ff.), indem er sein „ »mildes' Wortverständnis von θυμός" (29) im Sinne von „Muttergefühle" (30), „weiblich-mütterliches Fühlen" (32) oder „mütterlich-weiche Gefühle" (36) ergänzt durch weitere Präzisierungen: 1. Nach 1075 sei ein erneuter Umschwung der Stimmung und Absichten anzusetzen: „wenn sie jetzt die Kinder fortschickt und sich außerstande erklärt, ihren A n -
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blick zu ertragen (1076/77), so nicht mehr, weil sie in ihrer Entschlossenheit nicht wankend werden w i l l wie in 1053;" vielmehr sei das Fortschicken der Kinder jetzt damit zu erklären, „daß in und um Medea nunmehr unter der Last des Unglücks alles zusammenbricht (νικώμαι κακοΐς 1077)" [S. 33]. 2. Δραν bezeichne oft gerade nicht das aktive Tun, sondern das Verhalten, das durchaus in Passivität, im Vermeiden der T a t bestehen könne: v. 1078 w i r d demnach folgendermaßen wiedergegeben: „ich realisiere, wie schimpflich zu verhalten ich mich anschicke, sc. indem ich den Mordplan zur Wiederherstellung meiner Ehre nicht ausführe" (14); die κακά des Verses 1078 seien „strikt in moralischem Sinn" aufzufassen und nicht — etwa mit Steidle — als „Schlimmes im Sinn von Unheil" (36). 3. I n 1080 werde „vom Ubergewicht des θυμός als Ursache großer — moralischer und außermoralischer — Übel gesprochen" (35). Hiergegen erheben sich folgende Bedenken: 1. D a das Fortschicken der Kinder in 1053 unbestritten den Entschluß zur M o r d tat besiegelt, müßten gewichtige Beweise vorgebracht werden, wenn man die gleiche A k t i o n (durch das gleiche χωρείτε wiedergegeben) in 1076 plötzlich als Indiz der gegenteiligen Gefühlshaltung werten wollte. ( M a n hat zu beachten, daß der Leser durch 1044b u n d 1048b darauf eingestimmt ist, daß der gleiche Ausdruck den gleichen Gefühlsumschwung anzeigt — wie es ja nur natürlich ist.) V o n einer Medea, die von Mutterliebe überwältigt die geplante T a t fahren lassen will, erwartet man nicht, daß sie ihre Kinder ebenso aus ihren Armen fortschickt wie jene Medea in 1053, die sich ihrer weichen Gefühle schämt und sich zur unausweichlichen T a t ermannt. Wenn Medea aber in 1076 ihre Kinder fortschickt, weil sie — wie sie selbst hinzufügt — ihren Anblick nicht mehr ertragen kann, so ist hier die Situation von 1040 ff. wieder aufgenommen. Der Zusammenhang jener Szene zeigt aber m. E. klar, daß das M o t i v von der Medea, die ihre Kinder nicht länger zu sehen vermag, nur für die Mutter sinnvoll ist, die weiterhin an ihrem Mordplan festhalten, nicht aber für jene, die ihn aufgeben und ihren weichen Muttergefühlen folgen will. Demgemäß macht es große Schwierigkeiten anzunehmen, im folgenden Vers (1078) sei „mit δρανκακά gerade nicht Tätigkeit, sondern Untätigkeit gemeint" (36). 2. Der abschließende Relativsatz 1080, der den θ-υμος -Begriff näher charakterisiert, lautet nach bisherigem Verständnis: „die Leidenschaft ist Urheber größten U n heils für die Sterblichen." Dies ist eine fraglos zutreffende, allgemeingültige Sentenz. Schwerlich aber kann der Schluß einer Rede in der Feststellung gipfeln: „Muttergefühl" oder „weiblich-mütterliches Fühlen ist Urheber größten Unheils für die Sterblichen." Eine solche Behauptung liefe der allgemeinen Erfahrung eines antiken Hörers zuwider. 3. Es stimmt nachdenklich, daß sich in der von Dihle aufgeführten eindrucksvollen Reihe griechischer und lateinischer Dichter und Philosophen in der Nachfolge des Euripides nicht einer findet, der die Abschlußverse des Medea-Monologes (in seiner m. E. durch eine Schauspielerinterpolation erweiterten Fassung) im Sinne Dihles verstanden hat, und daß die Entscheidungsmonologe der ovidischen Frauengestalten Medea, Scylla, Byblis, Althaea, die deutlich auf Euripides zurückweisen (wenn auch möglicherweise über hellenistische Zwischenglieder), jeweils mit einem Entschluß zur T a t enden und nicht etwa mit einer Absage an die geplante Tat. (Zu den Entschluß-Monologen Ovids vgl. R. Heinze, D i e Monologe der Metamorphosen, in: V o m Geist des Römertums, 3 Darmstadt 1960, 398 f.; verwiesen sei ferner auf die Kommentare zu O v . met. 7, 19 ff. und L. Wilkinson , Greek Influence on the Poetry of Ovid, in: L'influence grecque sur la poésie latine, Entretiens Fondation H a r d t 2, 1956, 232.) 4. Während Dihle der Auffassung ist, das folgende Chorlied 1081 ff. sei als Reaktion auf eine Ankündigung, die Kinder töten zu wollen, „ganz und gar unverständlich" (15, vgl. 32.34.39), möchte ich meinen, daß jedenfalls die SchlußPartie dieses Liedes, die den Gipfel des Leidens um die Kinder in der Trauer
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Diese Konzeption der Tragik im euripideisdien Stück (wie ich sie oben formuliert habe) finden wir bei S e n e c a stark verändert. Ich nenne die wichtigsten Abweichungen und gebe anschließend die nähere Ausführung: 1. Medea liebt zwar ihre Kinder auch hier, wie am deutlichsten in dem Kampf ihrer Seele zwischen dem Haß der verschmähten Gattin und der Mutterliebe zum Ausdruck kommt (926 ff.) — aber sie tötet Kinder, die sie nicht mehr besitzt, die man ihr weggenommen und von denen sie sich selbst losgesagt hat und über den Tod hinaus lossagen wird, da es nunmehr die Kinder Jasons und Creusas sind, denen sie dieses Gut mißgönnt. Das gibt ihrer Tat einen boshaft niederträchtigen Zug. 2. Während sie bei Euripides durch den Tod der Kinder die soziale Existenz des Jason, seine — wie man sagen könnte — dynastischen Hoffnungen, also das Fortbestehen seines Stammes treffen will, geht es ihr bei Seneca darum, mit dem Lebensfaden der Kinder das letzte Band zu zerschneiden, das sie mit Jason verbindet, d. h. die Trennung von ihm bis auf den Grund, bis zur Leibesfrucht und bis zu den weggeworfenen Leichen der Kinder durchzuführen. 3. Während Euripides die Gestalt seiner Medea möglichst aufhellt, die Hinweise auf frühere Untaten möglichst beiseite läßt oder nur eben andeutet, alle Spuren ihres traditionellen Zauberwesens möglichst retouchiert und sie ganz als Mensch agieren läßt, dem schlimmes Unrecht zugefügt worden ist 25 , erleben wir bei Seneca die gewalttätige, maßlose, dämonische Zauberin, deren Macht und Leidenschaft kosmische Ausmaße hat, deren Weg durch Blutspuren gezeichnet ist, die von Creo und den korinthischen Bürgern, ja von Jason selbst (112 ff.) gefürchtet wird, die sich zu immer neuen unerhörten Bluttaten aufstachelt und sich schließlich in eine unmenschliche, alles Maß vergessende Rachewollust hineinsteigert. Die Hilflosigkeit und soziale Labilität der euripideischen Medea über ihren von einem Dämon verhängten T o d sieht, eher zu einem vorausgegangenen Entschluß zum Kindermord denn zu einer voraufliegenden Aufgabe dieses Planes paßt. Eine direkte, an den Handlungspartner Medea gerichtete Entgegnung des Chores darf man hier schwerlich fordern. Denn gemäß der Konvention verläßt der Chor in diesem lyrischen ^ m b o l i m o n ' die konkrete Handlungsebene, nimmt sie zum Ausgangspunkt für allgemeine Reflexionen. Sie führen zu der Frage nach dem N u t z e n der Kinder, wenn zu dem anderen Ungemach die Götter noch das Leid über ihren Verlust fügen. „Entsetzlichen Schmerz über den Verlust der Kinder" zu tragen, w i r d aber gerade das Los der Medea nach dem Kindermord sein (s. o. S. 35, Punkt 5). 25 Vgl. Christmann a.a.O. 4 ff. 59 ff. Medeas Flucht auf dem Drachenwagen am Ende des Stückes kann hier beiseite bleiben. Z u r unterschiedlichen Bewertung dieser schon von Aristoteles getadelten Schlußszene vgl. H . Rohdich, Die Euripideische Tragödie, Heidelberg 1968, 67 ff.; zuletzt ferner B . M . W . Knox, The Medea of Euripides, Yale Class. Stud. 25, 1977, 206 ff.; P . E . Easterling, The infanticide in Euripides' Medea, ebenda S. 190 f.
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ist also weitgehend ersetzt durch dämonische Zaubermacht. Neben diesen dämonischen Zügen verblassen menschliche Regungen, wie jene der noch fortdauernden Liebe zu Jason im ersten Teil des Stückes und die Äußerungen der Mutterliebe vor dem Kindermord (928 ff.). Ein Charakter von so übermenschlichem Zuschnitt konnte nicht menschlich-leidvolle Tragik verkörpern. 4. Die Tragik des Stückes ist bei Seneca vielmehr auf die Person des Jason verlagert, den schon G. Müller m. E. zu Recht als eine tragische Figur bezeichnet hat, freilich nur in einer knappen Anmerkung, die in der weiteren Diskussion nicht zur Geltung gekommen ist 26 . Diese Tragik ließe sich etwa folgendermaßen umreißen: Jason im Konflikt zwischen Treue zur Gattin, die den sicheren Tod beider samt ihrer Kinder bedeutet hätte, und der Fürsorge für das Leben der Kinder entscheidet sich für die Kinder, die er innig liebt — und löst damit eine Rachehandlung der verstoßenen Gattin aus, die ihn eben dieser Kinder beraubt. Der ihm von Creo aufgezwungene Konflikt muß ihm unlöslich erscheinen, da er den vom menschlichen Standpunkt aus utopischen Ausweg der Medea, sich gemeinsam gegen Creo und Acastus zu stellen, nicht für gangbar halten kann. So zerbricht er letztlich an der ungleichen Verbindung mit der übermächtigen, dämonischen Zauberin aus Kolchis, deren die kosmischen Gesetze sprengenden Maßstäben er als Mensch nicht genügen kann. Diese Thesen habe ich im folgenden zu begründen. Daß S e n e c a s J a s o n p o s i t i v e r gezeichnet ist als sein euripideisches Gegenbild, hat neben G. Müller auch K. v. Fritz 2 7 hervorgehoben. Er stützt sich dabei mit Recht auf Jasons Auftrittsmonolog in 431 ff., in dem dieser seine Situation folgendermaßen charakterisiert: „Wollte ich die Treue halten den Verdiensten meiner Gattin, so mußte ich das Haupt dem Tode darbieten; wollte ich nicht sterben, so mußte ich Unglückseliger die Treue aufgeben. Nicht Furcht besiegte die Treue, sondern besorgte Vaterliebe; denn die Kinder würden ja ihren Eltern in den Tod folgen. Heilige Gerechtigkeit, wenn du im Himmel wohnst, so rufe ich deine Gottheit zum Zeugen an: die Kinder haben den Vater besiegt" 28 — und er gibt seiner 26 Hermes 81, 1953, 4; vgl. dazu K . Heldmann y Untersuchungen zu den Tragödien Senecas, Wiesbaden 1974 (Hermes-Einzelschriften 31), 178 f. 2 7 D i e Entwicklung der Jason-Medeasage und die Medea des Euripides, in: ,Antike und moderne Tragödie', Berlin 1962, 377 ff. 2 8 M e d 434 si vellem fidem praestare meritis coniugis, leto fuit caput offerendum; si mort nollem, fide misero carendum. non timor vicit fidem ,
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Hoffnung Ausdruck, daß auch Medea selbst trotz der unbändigen Wildheit ihres Herzens die Rettung ihrer Kinder über ihre Redite als Gattin setzen wird. Dieser von Creo ihm aufgezwungene Konflikt also zwischen ehelicher Treue (die seinen, Medeas und der Kinder Tod bedeutet) und Vaterliebe bestimmt Jasons Handeln. K. v. Fritz hat zu Recht diese monologische Äußerung als objektiv und wahrheitsgetreu interpretiert: jeder Gedanke an Heuchelei, selbst in dem Sinne, daß Jason sich selbst zu belügen versucht, müsse hier ferngehalten werden 29 . Dies ergibt sich m. E. zwingend aus dem Tenor dieses von jeglichen Rücksichten auf mithandelnde Personen freien Monologes, insbesondere auch durch den emphatischen Anruf an die Göttin Iustitia, schließlich durch Jasons Beteuerung in 1002: „bei allen Göttern, bei unserer gemeinsamen Flucht und bei dem gemeinsamen Ehebett, das nicht meine Treue verletzt hat." 3 0 Denn daß er dort inmitten der Katastrophe, da sein erstes Kind bereits dem Schwertstreich Medeas zum Opfer gefallen ist und er verzweifelt um das Leben des anderen ringt, nicht durch den Hinweis auf eine erfundene oder eingebildete Zwangslage die Gnade der rächenden Medea erwirken kann, dürfte einleuchten. Noch wichtiger aber ist der Umstand, daß Medea selbst ihm schon lange vor seinem Auftrittsmonolog indirekt mildernde Umstände eben wegen dieser Zwangslage, in der er sich befindet, zugebilligt hat: Als sie in 116 ff. als Reaktion auf den soeben vom Chor gesungenen Hymenaeus nach Wegen sucht, wie sie sich rächen könne, hält sie plötzlich inne und fragt: „Doch was wäre denn in der Macht des Jason gelegen, da er fremden Willen und fremder Verfügungsgewalt zugeeignet war?" 3 1 Und bald fährt sie fort: „Die ganze Schuld liegt bei Creo, der maßlos in seiner Herrschergewalt Ehen löst, die Mutter von den Kindern wegreißt und die durch dieses eng verbindende Unterpfand festgefügte eheliche Treue zerbricht: auf ihn soll der Angriff sich richten, er allein soll die Strafe zahlen, die er schuldet."32 sed trepida pietas : quippe sequeretur necem proles parentum. sancta si caelum incolis 440 iustitia, numen invoco ac testor tuum: nati patrem vicere. 29 D i e Einwände Hempelmanns und Maurachs hat Heldmann a.a.O. 175, Anm. 498 m. E. überzeugend zurückgewiesen; anders wieder Liebermann a.a.O. 180, Anm. 98. 30 M e d 1002 per numen omne per que communes fugas tor ο s que , quo s non nostra viol αν it fides. 3 1 M e d 137 quid tarnen Jason potuit alieni arbitri iurisque f a c tu s ? 3 2 M e d 143 culpa est Creontis tota , qui sceptro impotens coniugia solvit quique genetricem abstrahlt 145 gnatis et arto pignore astrictam fidem dirimit: petatur , solus hie ρ ο e η a s lu at qu as debet.
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Also audi nach Medeas Urteil ist Jason fremder Macht und Rechtsgewalt Untertan: er kann nicht frei über sich und seine Handlungen verfügen, sondern muß dem Creo gehorchen. 32a Allein bei diesem liegt alle Schuld. Wie wir wenig später aus Creos Mund selbst vernehmen, hat er sich den niedergeschlagenen und in tiefer Angst vor Acastus lebenden Fremdling Jason (der wegen des Mordes an Pelias von dem Thessalierkönig mit dem Tod bedroht wird) als Schwiegersohn ausgesucht (255 generum exulem le gen do) und muß nun Medea, die tatsächliche Mörderin des Pelias, außer Landes verweisen, wenn er nicht einen kriegerischen Angriff des Acastus auf Korinth riskieren w i l l (274). Und wiederum bescheinigt Medea ihrem Gemahl in 415 ff. selbst indirekt, daß er aus Furcht vor Creo und den Waffen des Acastus gehandelt habe, unter Zwang zurückgewichen sei und sich gefügt habe, und schließlich in 460, daß sein neuer Schwiegervater Creo ihre Ausweisung befohlen habe. Damit steht fest, daß Jason tatsächlich in einen tiefen Konflikt zwischen zwei widerstreitenden Prinzipien verstrickt war. Wie sehr dem Dichter daran gelegen war, die von der verstoßenen Medea ausgesprochenen Vorwürfe der Feigheit 33 zu entkräften, zeigt sich darin, daß er Jason später diese Vorwürfe ausdrücklich zurückweisen läßt: Hatte sie 138 gefordert: „er hätte dem Schwert die zugewandte Brust darbieten müssen"34, und 416 kategorisch festgestellt: „wahre Liebe kann niemanden fürchten" 35 , so argumentiert er 434 f.: „wollte ich den Verdiensten der Gattin die Treue wahren, so mußte ich mein Haupt dem Tode darbieten" 36 und beteuert dann 437 f.: „Nicht Furcht besiegte die Treue, sondern ängstliche Vaterliebe." 37 Und wenn sie 417 f. klagt, er hätte — wenn er schon dem Zwang sich fügen mußte — wenigstens die Gattin aufsuchen und ein letztes Mal mit ihr reden können — auch davor habe sich der sonst so wilde Held gefürchtet, so wird sie wenig später eines Besseren belehrt: denn er kommt tatsächlich zu 32a i n diesen bei Seneca gegenüber Euripides veränderten, nachdrücklich hervorgehobenen Umständen spiegelt sich möglicherweise die für die Römer charakteristische Bewertung des hospitium, wie sie von O . Hiltbrunner auf der gleichen Tagung in Innsbruck eindringlich dargelegt worden ist (,Hostis/hospes. Geschichte eines Wortpaares', erscheint demnächst als Aufsatz in der Zeitschrift Glotta); vgl. jetzt auch O . Hiltbrunner, Hostïs und ΞΕΝΟΣ, in: Studien zur Religion und K u l t u r Kleinasiens (Festschr. F . K . Dörner) Bd. 1, Leiden 1978, 424 ff. 33 Sie werden bis in die jüngste Zeit wiederholt, vgl. zuletzt Liebermann a.a.O. 180 f. (mit Anm. 98. 100). 183. 84 M e d 138 debuit ferro obvium ο f f e rr e pectus 35 M e d 416 amor timer e neminem verus potest. 36 M e d 434 si vellem fidem praestare meritis coniugis, leto fuit caput offerendum; 37 M e d 437 non timor vicit fidem, sed trepida pietas.
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ihr und sucht sie mit Bitten von ihrem Zorn abzubringen (444) und sie trotz ihres rasenden Herzens und der mangelnden Bereitschaft, sich zu fügen, zur Einsicht zu bewegen, daß das Leben der Kinder über die eheliche Treue zu stellen sei 38 . Sollen wir es angesichts dieser Äußerungen tatsächlich als „eine gewisse Brüchigkeit im Heldentum Iasons" empfinden (wie K. v. Fritz 379 meint), „wenn er immer wieder auf die Übermacht der Gegner hinweist, mit denen er sich nicht zu messen wagt"? Die Grundsatzentscheidung für das Leben der Kinder zwang ihn ja aus seiner Sicht zu einem Verhalten, das Creo genehm war. Deshalb also seine Aufforderung an Medea, die Fluchtmöglichkeit, die er ihr durch seine Bitten geschaffen habe, rechtzeitig wahrzunehmen, denn „schwer trifft immer der Zorn der Könige" 30 , deshalb in 513 f. seine erneute Bitte: „Was reißt du, Elende, mich und dich ins Verderben? Verlaß' das Land, ich bitte dich" 40 , deshalb sein Bescheid in 529: „ich fürchte erhabene Szepter" 41 und sein Drängen auf ein Ende der Unterredung in 530: „Damit es nicht Verdacht erregt, brich' das lange Gespräch ab" 4 2 . Und wenn er auf Medeas leidenschaftliches Werben, er möge sich zusammen mit ihr gegen Creo und Acastus stellen, antwortet: „ich weiche zurück, erschöpft von dem Ungemach" 43 und sie auch selbst auffordert, die Wechselfälle des unsteten Schicksals in Rechnung zu stellen, und stereotyp auf die Übermacht der beiden Könige gegenüber den flüchtigen Fremdlingen verweist, so mag man dies „Erschlaffung" nennen, man trifft aber damit nur die halbe Wahrheit. Denn Jasons Reaktion entspricht einer durchaus realistischen Sicht der Dinge, wie die gleichgeartete Reaktion der Amme beweisen kann: Auch für die Amme ist die flüchtige, von all ihren Möglichkeiten in Kolchis getrennte Medea ohne Chance gegen Creo und Acastus und deren Waffen (164 f.), auch sie ist der Überzeugung, daß man sich den Mächtigen fügen müsse („niemand vermag die Mächtigen ungefährdet anzugreifen" 44 ) — eine Auffassung, die implizite auch durch Creos Ausruf, Medea solle endlich lernen, königlichen Befehl zu ertragen 45, als 38 Auch der letzte V o r w u r f aus ihrer Klagerede (420), er hätte wenigstens von seinem Schwiegervater eine Verlängerung der Abschiedsfrist erreichen können, erscheint in einem anderen Licht, wenn wir hören, daß sie es nur ihm zu verdanken hat, daß sie überhaupt in die Verbannung gehen, also dem Todeslos entrinnen kann (490. 183 ff.). ^ 39 M e d 493 gravis ira regum est semper. 4 0 M e d 513 quid, misera , meque teque in exitium trahis ? abscede, quaeso. 41 M e d 529 alta extimesco sceptra. 42 M e d 530 suspecta ne sint, longa colloquia amputa . 43 M e d 518 cedo defessus malis. 44 M e d 430 nemo potentes aggredt tutus potest , vgl. 175. 45 M e d 189 regium Imperium pati
aliquando discat.
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gültig bestätigt wird. Jason reagiert also in dem Konflikt zwischen zwei Prinzipien, in den er geraten ist, gemäß den anerkannten Normen seiner Zeit und Umgebung — man könnte auch sagen vernunftgemäß: sana meditavi incipe ruft er seiner Gegenspielerin in 537 zu 4 5 a . Was man ihm vorwerfen könnte, ist meines Erachtens allein dieses Verharren in den gängigen Vorstellungen angesichts der Zauberfähigkeiten Medeas, die er in Koldiis doch erlebt hatte (vgl. 120), also seine Kleingläubigkeit, sein mangelndes Vertrauen in das dämonische Wesen der Zauberin, die Creo und Acastus, ja selbst die vereinten Kräfte der Kolcher, Skythen und Pelasger zu überwinden verspricht (527 f.) — so wie sie sich auch vor der Amme ihrer kosmischen Macht gerühmt hatte: „Noch bleibt übrig Medea: hier siehst du Meer, Land, Schwert, Feuer, Götter und Blitze.* 4 6 So wäre denn die Figur des Jason nicht — wie Maurach w i l l 4 7 — ein dichterisches Bild für Senecas Meinung, „daß der Mensch seit seiner Geburt, belastet mit seiner difficilis materia (ep. 52,4), ständig schlechter wird (ep. 22,15), daß Verfehlung sich an Verfehlung reiht (ep. 8,4) und so den Menschen in die Not treibt (ep. 44,7) und zum Verluste seiner selbst (ep. 42,7)" (wie ich überhaupt wenig halte von einer so trivial-moralistischen Ausdeutung tragischer Dichtung, noch dazu von einer so willkürlichen Konfrontation des angeblichen Sinngehaltes eines Stückes mit verstreuten Lehrsätzen des Moralphilosophen Seneca48) — vielmehr hätten wir in ihr die Tragik eines Menschen verkörpert zu sehen, der den alles menschliche Maß übersteigenden Anforderungen und utopischen Zielen einer dämonischen Frau nicht gewachsen ist, sondern in den Grenzen irdischer Realitäten und 4 5 a H . Cbantraine erinnert an die K r i t i k , die Tacitus an der allzu kompromißlosen H a l t u n g des Paetus Thrasea unter N e r o übt, weil sie ihn selbst unnötig in Gefahr bringe, anderen aber keinen Weg zur Freiheit eröffne (ann. 14, 12, 1). D a zu ist der Lobpreis auf die kluge Mäßigung des Agricola zu stellen (42,3 f.), der nicht durch trotzigen Eigensinn und eitles Sidi-Brüsten den Ruhm freiheitlicher Gesinnung und damit seinen T o d herausforderte. „Es sollen jene wissen", so schließt Tacitus diesen Passus ab, „die gerne das Unerlaubte bewundern, daß auch unter schlechten Kaisern große Männer leben können, und daß Fügsamkeit und Bescheidenheit, wenn Fleiß und Energie hinzutreten, zu solchem Ruhm emporführen können, wie ihn viele durch gefahrvolle Verwegenheit — ohne N u t z e n für das Gemeinwesen — in einem ehrgeizigen T o d errungen haben." Vielleicht darf man sagen, daß Sencas Jason eine A r t reduzierten, auf Mäßigung bedachten, sich in die Notlage schickenden Heldentums verkörpert, wie es der Wertskala entspricht, die sich unter der leidvollen Willkürherrschaft der römischen Kaiserzeit herausgebildet haben mag. 46 M e d 166 Medea super est, hic mare et terras vides ferrumque et ignes et deos et fulmina. 47 G . Maurach, Iason und Medea bei Seneca, zitiert nach der erweiterten Fassung in der von E. Lefèvre herausgegebenen Aufsatzsammlung zu Senecas Tragödien, Darmstadt 1972 ( W d F 310), 317. 4 8 H i e r i n stimme ich mit Heldmann a.a.O. 178 ff. und Liebermann 182, A n m . 0 überein.
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menschlicher Vorstellungen verhaftet bleibt. Dies verweist ihn auf eine Lösung seines Prinzipienkonfliktes nach rein menschlichen Kategorien, d. h. er kann seine Kinder nur retten, wenn er die Gattin preisgibt. Diese aber wird die Verstoßung durch den Mord der Kinder rächen. Eine moralische Schuld Jasons wollte der Dichter damit schwerlich begründet sein lassen; denn allein die Tatsache, daß er Jason und Medea gemäß dem Mythos als Flüchtlinge einführt, die nach Korinth verschlagen worden sind, zeigt, daß Jason sein Leben nicht auf Wundertaten seiner Zauberin gründen konnte (sonst wäre ihm ja das Los eines Flüchtigen erspart geblieben), sondern es selbst in die Hand nehmen und nach menschlicher Einsicht gestalten mußte. Allenfalls also wollte der Dichter aufzeigen, wie eine solche ungleiche Verbindung zwischen dämonischer Zauberin und realitätsverhaftetem Menschen notwendig zu tragischer Verkettung führen mußte. Der gleiche Dialog zwischen Medea und Jason, aus dem die zuvor behandelten Äußerungen stammen, enthält nun allerdings Passagen, die ein s c h i e f e s L i c h t a u f J a s o n zu werfen scheinen und deshalb bisher audi immer im Sinne einer mehr oder weniger ausgeprägten Selbstgerechtigkeit Jasons interpretiert worden sind 49 . In der Tat erscheint es uns wenig edelmütig, wenn Jason jegliche Verantwortung für die Untaten, die Medea um seinetwillen begangen hat, ablehnt (497 ff.). Man muß dies aber wohl im Zusammenhang des gesamten Redeagons beurteilen: Jason hatte Medea mit dem Vorsatz aufgesucht, die Erzürnte durch Bitten zur Einsicht zu bewegen, daß er in seiner Zwangslage nicht anders konnte, als die Treue zur Gattin für das Leben seiner Kinder aufs Spiel zu setzen (444). Bei seinem Anblick springt sie rasend auf und führt ihm voller Haß und Zorn (446) all ihre Verdienste um ihn vor Augen, durch die sie sich selbst jeder Möglichkeit zur Umkehr beraubt habe, und bestürmt ihn leidenschaftlich, ihren bedingungslosen Einsatz für ihn, dem sie alles aufgeopfert habe, zu vergelten. Er hat dem nur das eine Verdienst entgegenzusetzen, ihr bei Creo die Umwandlung des Todesurteils in einen Verbannungsspruch erwirkt zu haben (490 f.). Daß dies nicht leere Worte sind, weiß der Hörer aus dem Auftrittsmonolog des Creo, der — wie er dort ausführt — das verhaßte Scheusal, von dem er Anschläge befürchtet, schnell vernichten wollte, aber durch die Bitten des Schwiegersohnes sich davon abbringen ließ. Medea freilich reagiert voller Hohn auf Jasons Hinweis. Jason bleibt sachlich und mahnt zur Flucht, solange noch Zeit ist, denn gravis ira regum est semper — 49 Vgl. z. B. A . Hempelmann, Senecas Medea als eigenständiges Kunstwerk, Diss. K i e l 1960, 98 f.; Maurach a.a.O. 305 f.; K . v. Fritz 378 f.; W . H . Friedrich, Medeas Rache, in: W . H . F., Vorbild und Neugestaltung. Sechs Kapitel zur Geschichte der Tragödie, Göttingen 1967, 18; Heldmann a.a.O. 176 f.; Liebermann 180 f.
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was der Hörer wiederum auf dem Hintergrund der Creo-Szene billigen wird. Dodi Medea unterstellt ihm unlautere Motive: er rate ihr nicht ehrlichen Herzens zur Flucht, sondern mache sich nur zum Sprecher Creusas, die sich die Nebenbuhlerin vom Halse schaffen möchte. Damit verschärft sie den Ton der Auseinandersetzung ein zweites Mal, und der Hörer wird es dem angegriffenen Jason nachsehen, wenn auch er nun die sachliche Ebene verläßt und mit einem wenig galanten Hinweis auf ihre eigene Liebesleidenschaft kontert. Als nun Medea ihm auch Mord und List vorwirft und alle Verbrechen, die sie für ihn begangen hat, in pointiert-sophistischer Formulierung s e i n e Verbrechen nennt, zieht er (der im Auftrittsmonolog 435 ihre merita durchaus anerkannt hatte) sich wie zuvor Creo (262 ff.) auf die formal-juristische Position zurück und bestreitet seine Verantwortung für diese Taten. Dabei rekurriert er — worauf K . v. Fritz (378 f.) hingewiesen hat — auf das in der stoischen Philosophie anerkannte Prinzip, wonach ein Leben, das angenommen zu haben man sich schämen muß, d. h. das durch Mittel erhalten worden ist, deren man sich schämen muß, kein erstrebenswertes Gut sei und somit auch nicht verpflichte. Bei diesen Äußerungen muß man jedoch m. E. die rhetorische Zuspitzung im Agon, die dem Wortgefecht eine gewisse Eigengesetzlichkeit verleiht, und die Vorliebe Senecas für geschliffene Sentenzen und geistreiche Pointen gerade in der Stichomythie in Rechnung stellen. So wirkt denn der Vers 506 auch, als wolle Jason die ausufernde Redeschlacht auf den sachlichen Kern zurückführen: „bändige lieber dein zornerregtes Herz", so ruft er Medea zu, „und laß dich versöhnen um der Kinder willen." Placare η a ti s : hier ist er nun endlich an dem Punkt angelangt, weswegen er Medea aufgesucht hat. Doch sie weist diese Zumutung emphatisch zurück: wenn das Wohl der Kinder an Creusa gebunden ist, die ihnen Brüder gebären soll, dann sagt sie sich von ihren Kindern los, schwört ihnen ab, verleugnet sie — und in der Tat wird sie dann 921 ff. die Kinder töten als ihr fremd gewordene, als Creusas Kinder. Ihr eifersüchtiges (und stolzes 511 f.) Herz kann kein Zugeständnis an Jasons Zwangslage machen — und als Jason dann ihren Vorschlag, sich gegen die beiden Könige zu stellen oder auch gemeinsam zu fliehen, wegen der aussichtslosen Lage ablehnt, gibt sie ihr Werben um ihn endgültig auf und ruft in 531 ff. Jupiters Strafe auf ihn herab. Wieder mahnt Jason zur Vernunft und Mäßigung 50 . Ihre geheuchelten Worte, mit 50 Wenn er ihr 537 ff. anbietet, sie möge sich aus dem Hause seines Schwiegervaters erbitten, was ihr die N o t der Verbannung lindern könne, so darf man dies nicht mit Maurach (a.a.O. 306) von vornherein als „häßlidi und verständnislos" interpretieren, nur weil bei Euripides dieses M o t i v zur Charakterisierung des leichtfüßigen, nur auf seinen eigenen Vorteil bedachten Jason verwendet ist, der seine Gattin und die Kinder mit Geld abspeisen und sich so bequem ein ruhiges Gewissen erkaufen w i l l (461. 611). Auch sonst hat ja Seneca Motive des euripideischen Dramas mit neuer Sinngebung wiederverwendet — um nur ein Beispiel zu
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denen sie sich (im Gegensatz zu 282 ff.) die Kinder als Gefährten für die Flucht ausbittet, nimmt er für bare Münze: Gerne würde er, so sagt er (544), ihrer Bitte willfahren — audi dies wiederum Beweis für sein gutes Herz, seinen positiven Charakter —, aber die sorgende Vaterliebe verbiete es ihm: zum Verzicht auf die Kinder könne ihn selbst der König und Schwiegervater nicht z w i n g e n (wobei möglicherweise anklingt, daß er die Ehe mit Medea nur gezwungenermaßen aufgegeben hat): sie seien ihm der Sinn seines Lebens, Linderung in den Kümmernissen des Versehrten Herzens, teurer als der Hauch seines Atems, seine Glieder, das Lebenslicht51 — und in der Tat wird er ja dann der rasenden Mörderin sein Leben anbieten, um das des letzten Sohnes zu retten (1005). Mit diesem eindrucksvollen Zeugnis seiner Vaterliebe schließt er den Dialog mit Medea, den er ebenso (in seinem Auftrittsmonolog) begonnen hatte. Gerade durch diese rahmende Stellung wird deutlich, daß die Sorge für das Wohl der Kinder auch in der Auseinandersetzung mit Medea sein leitendes Motiv ist. Um so mehr wird unser Abscheu gegen Medea geweckt, wenn sie in satanischer Bosheit gerade das Vaterherz, das Jason ihr arglos geöffnet hatte, zum Ziel ihrer Rache bestimmt (549 f.). Das Eingeständnis seiner innigen Liebe zu den Kindern, das von Medea skrupellos und kalt berechnend als Hinweis auf seine Verwundbarkeit vermerkt wird, und ebenso sein argloses Eingehen auf die darauf folgenden, geheuchelt versöhnlichen Töne Medeas verleihen der Figur des Jason zum Ende dieser Szene einen deutlich tragischen Zug. Dieser wird dann gesteigert zum Abschluß des Stückes, wo Jason trotz seiner inständigen Bitten, trotz seiner Bereitschaft, selbst stellvertretend in den Tod zu gehen (1002 ff.), nicht die Ermordung seines letzten Kindes durch die im Racherausch rasende Mutter verhindern kann und ohnmächtig ertragen muß, wie Medea die Untat genüßlich in die Länge zieht und ihm dann die Leichen der Kleinen, auf die er seine ganze Hoffnung gesetzt hatte, vor die Füße wirft. Bei Euripides war der Kindermord vollendet, als Jason die Bühne betritt, bei Seneca wird der Vater Zeuge der Ermordung seines letzten Sohnes; diese Änderung ist bedeutsam: sie schafft die Möglichkeit, dem Hörer ein letztes Mal und in gesteigerter Form die selbstlose Liebe des Vaters zu seinen Kindern, die nennen: bei Euripides empfindet es Medea nicht als M u t und Kühnheit, sondern als Unverschämtheit, daß sich Jason nach seinem schnöden, feindseligen Verhalten nochmals bei ihr blicken läßt (465 ff.), bei Seneca kreidet sie es ihm als Feigheit an, daß er sie nicht wenigstens ein letztes M a l aufgesucht habe (s. o.). 51 M e d 544 parere precibus cupere me fateor tuis, pietas vetat; namque istud ut possim pati, non ipse memet c ο gat et rex et socer. haec causa vitae est, hoc perusti pectoris curis levamen. spiritu citius queam carere, membris, luce.
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sogar zur Selbstaufopferung bereit ist, daneben aber auch sein ohnmächtiges Leid zu veranschaulichen, dem er durch die in Rachewollust schwelgende Dämonin ausgesetzt ist. Das rohe recipe iam natos parens der rasenden Furie bedeutet die Vernichtung seiner Existenz, denn die Kinder waren ihm causa vitae, teurer als Atem, Glieder und Lebenslicht (547 ff.). Sein abschließender Fluch symbolisiert denn auch seine völlige Verzweiflung, das Zusammenbrechen seines Weltbildes: wo ein Dämon wie Medea wüten darf, da gibt es keine Götter 52 . 5 2 U m diese in den Grundzügen positive Einschätzung des senecanischen Jasonbildes nicht zu gefährden, muß ich mich noch kurz mit R a m b a u x's Interpretation dieser Tragödie (Latomus 31, 1972) auseinandersetzen: Rambaux hat in W e i terführung einer Bemerkung von John C. Lapp Senecas Medea in erster Linie als das Drama eines allzu disproportionierten Paares gedeutet (1027): „die Gattin verfügt über Macht, über zuviel Macht im Verhältnis zu ihrem Ehemann, und sie ist es in der Tat, die alles schenkt. Der M a n n kann nicht mehr mit der Frau leben; die Frau kann den M a n n nicht mehr verstehen. Medea kann die Furcht nicht verstehen, ja selbst in dem Augenblick, da ihr der Gatte die seine gesteht, hält sie ihn für einen Lügner und ist überzeugt, daß sie ihn definitiv verloren hat: dies ist der Augenblick, da sie den T o d auf sich selbst und Jason herabruft (v. 529 - 537)." Diese modern anmutende, psychologisierende Interpretation w i r d vorbereitet durch eine ganz entsprechende Deutung der Jason-Gestalt (1024 f.): Jason habe — wie aus v. 103 f. hervorgehe — als Gatte einer Medea niemals ganz der M a n n sein können, d. h. der wirkliche H e r r gemäß den okzidentalen Sitten, und das habe ihm um so unerträglicher sein müssen, als er ein Grieche sei. V o n diesem Gesichtspunkt aus sei die Realität für ihn so unangenehm, daß es ihm schwerfalle, sie sich einzugestehen. Er erkenne an, daß seine Gattin Dienste erwiesen hat (v. 435), jedoch nachdem er erklärt habe, daß die G o t t h e i t H e i l mittel gefunden hat (v. 433). Er gehe nicht so weit wie der euripideische Jason, der Medea nur den verlängerten A r m der Göttin Kypris sein lasse, die ihn habe retten wollen, doch auch er könne sich nicht eingestehen, daß er alles Medea verdanke — und wenig später: „er fühlt sich schuldig wegen so vieler Verbrechen, die für ihn begangen worden sind." Auch hier weigere er sich zunächst, diese Schuld anzuerkennen (497 ff.), aber als ihn seine Gattin zwinge, die Wirklichkeit zu sehen, könne er nicht mehr widerstehen: E r bekenne, daß er sich schäme, pudet (v. 504, cf. 1004 - 1 0 0 5 ) . Es sei offenkundig, daß Medea hier die verborgene Wunde ihres Gatten berührt habe. Wenn sie ihm seine Scham nicht glaube, weil er nicht Selbstmord begehe, so täusche sie sich: als Frau, die sich in der Liebe hintergangen fühlt, glaube sie nicht mehr an die Aufrichtigkeit Jasons. — H i e r sind zwei falsch verstandene Textstellen psychologisierend ausgedeutet: 1. D i e H e i l mittel, die die Gottheit gefunden hat, sind nicht identisch mit den merita der Medea: Rambaux hat den sentenzhaften, generalisierenden Charakter des Verses remedia quo tiens invenit nobis deus J periculis peiora (433 f.) verkannt, möglicherweise weil er invenit unter Mißachtung der metrischen Gesetze für eine Perfektform gehalten hat. Jason eröffnet vielmehr seinen Monolog mit der Feststellung, daß das Schicksal gegen ihn immer hart und bitter ist und immer in gleicher Weise schlimm, ob es nun wütet oder ihn schont, und fügt daran den allgemeingültigen Erfahrungssatz, daß ein Gott den Menschen oftmals Heilmittel erfindet, die schlimmer sind als die Gefahren. Dies konkretisiert er im folgenden durch sein eigenes Geschick: die Heilmittel der Götter sind für ihn Creos Bereitschaft, ihn und die Kinder vor dem Zugriff des Acastus zu schützen, wenn er sein Schwiegersohn w i r d ; diese remedia sind aber insofern für ihn periculis peiora, als er dafür die Ehe mit Medea aufgeben und sich so an ihr, die so viel für ihn getan hat, un-
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Selbst wenn sich die oben vorgetragene Deutung der bedenklichen Züge im Redeagon zwischen Jason und Medea als Ausfluß einer rhetorischen Zuspitzung, die in der sich verschärfenden Auseinandersetzung eine gewisse Eigendynamik entwickelt, nicht in allen Punkten halten lassen sollte und man doch der These von K. v. Fritz (380) eine gewisse Berechtigung einräumen müßte, wonach Seneca „die negativen Züge, die Euripides dem Charakter des Jason gegeben hatte, nicht mehr auszumerzen imstande war" 5 3 , so wird man jedenfalls anerkennen müssen, daß Seneca die Grundzüge seines Jasonbildes positiv gezeichnet hat. Menschliche Schwächen aber billigt Aristoteles auch dem tragischen Helden zu; denn nur mit einem Charakter, der eine Art moralischer Mittellage repräsentiert, könne sich der Zuschauer identifizieren. Daß der Dichter aber das Mitgefühl auf Jason (und nicht etwa auf Medea) konzentrieren wollte, macht er uns unmißverständlich deutlich durch die P a r t e i n a h m e seines C h o r e s f ü r J a s o n (während der euripideische Chor auf Seiten Medeas gestanden hatte). Schon im H y menaeus singt er nicht nur das Lob des neuen Brautpaares, sondern er beglückwünscht Jason auch, daß er nun dem Hochzeitsgemach der schrecklichen Phasistochter entrissen sei (102 ff.); denn er habe die Brüste der wilden, zügellosen Gattin immer nur zitternd und mit widerstrebender Hand pressen dürfen, habe in einer Ehe leben müssen, die gegen den Willen der Schwiegereltern zustande gekommen war, und er schließt seinen Gesang mit einer Verwünschung der Flüchtigen, die sich einem fremden Manne vermählt dankbar erweisen muß. — 2. Vers 504 ingrata vita est cuius acceptae pudet bedeutet nicht, daß sich Jason tatsächlich seines Lebens schämt, weil es durch Freveltaten gerettet worden ist, vielmehr antwortet er auf Medeas Argument, alle Verbrechen, die sie begangen habe, seien letztlich seine Verbrechen, denn für ihn seien sie begangen worden, wieder mit einer allgemeinen Sentenz, die im konkreten Zusammenhang den bereits oben (S. 44) ausgeführten Gedanken umschreibt: „wenn ich mein Leben tatsächlich solchen Freveltaten verdanke, so wäre es ein Leben, das erhalten zu haben ich mich schämen müßte; es wäre also ein nicht erstrebenswertes, unwillkommenes Gut, das du dir nicht als Verdienst anrechnen kannst und das keine dankbare Gesinnung wecken kann." — D a m i t erledigen sich auch die Spekulationen Maurachs über einen Jason, der sich zwar schämt, der zwar Reue empfindet, aber sich nicht zur wirklichen Umkehr erheben kann, einen Jason, der als Beispiel stehe für eine Abkehr vom falschen Leben nicht aus Erkenntnis und Stärke, sondern ohne Selbsterkenntnis und aus Schwäche (310 f.). — A u d i wenn Rambaux die Echtheit der Kinderliebe Jasons psychologisierend relativieren w i l l (1025), verkennt er die klaren Äußerungen des Textes, wie w i r sie oben herausgestellt haben. Jason entscheidet sich in einem Konflikt zweier Prinzipien für das W o h l der Kinder, die er innig liebt, die er mehr liebt als sich selbst. A n dieser grundlegenden Änderung der senecanischen Konzeption gegenüber Euripides läßt sich nicht deuteln. 53 D a ß derlei Widersprüchlichkeiten bei Seneca nicht selten anzutreffen sind, habe ich in meiner Dissertation (Die Rezitationsdramen Senecas, Meisenheim 1966) dargelegt; vgl. auch Gnomon 49, 1977, 565 f.
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habe — sie so der verrufenen Helena an die Seite stellend 54 . Hier scheint deutlich das Motiv der leidvollen Verbindung Jasons mit der dämonischen, leidenschaftlichen Barbarin angeschlagen, das wir schon aus der späteren tragischen Verwicklung kennen. Die Schilderung von der Seefahrt der Argonauten schließt der Chor wiederum mit einem Seitenhieb auf Medea: „Was war der Gewinn dieser ersten Seefahrt? Ein goldenes Vlies und Medea, ein größeres Übel als das Meer, ein Lohn würdig des ersten Schiffes" (360 ff.). Im nächsten Lied (579 ff.) verbindet er die Schilderung der vor Haß und Eifersucht rasenden Frau mit der Bitte an die Götter, sie möchten den Bezwinger des Meeres verschonen und ihn in Sicherheit leben lassen (595 ff.), eine Bitte, die er zum Ende des Liedes wiederholt, erweitert durch die Begründung, daß er ja zu dieser abenteuerlichen Fahrt übers Meer gezwungen worden sei: farcite iusso (670). Im letzten Lied schließlich beschreibt er das von wilder Liebesleidenschaft und zügellosem Zorn geprägte Gebaren der blutgierigen Mänade 55 und wünscht, daß die frevlerische Kolcherin endlich das Pelasgische Land verläßt und Königreich und Könige von Furcht befreit — ein Wunsch, den der Dichter in tragischer Ironie konfrontiert mit dem unmittelbar folgenden Bericht vom ersten Teil der Katastrophe. Die Sympathie des Chores ist also von Anfang an auf Seiten Jasons, so wie sein ganzer Abscheu ebenfalls von Anfang an die frevelhafte, in Liebe und Haß gleich leidenschaftliche, furchterregende Medea trifft. Dies mag verwunderlich erscheinen, denn Senecas M e d e a ist ja nicht von Anfang an nur auf Rache gegen Jason bedacht, sondern zunächst auch von ihrer noch fortdauernden Liebe zu Jason mitbestimmt, hin- und hergerissen also von zwei Affekten: amor und ira (dies hat zuletzt Heldmann 164 ff. gut gezeigt). Aber wir haben gesehen, daß der Chor auch die Liebe der zügellosen Barbarin zu Jason nicht gebilligt hat, weil schon aus ihr, aus der ungleichen Verbindung, dem Jason Leid erwuchs. Um so mehr muß er ihren Haß verurteilen, der sich bis zu sadistischer, unmenschlicher Rachewollust am Ende des Stückes steigert. Der Weg ihrer f o r t s c h r e i t e n d e n L o s l ö s u n g v o n J a s o n bis zu ihrer ekstatischen Racheorgie am Ende läßt sich kurz wie folgt umreißen: Zunächst wird sie äußerlich von Jason getrennt: das Stück beginnt mit dem Tag, da Jason sie endgültig verlassen und eine neue Gattin heiraten wird 5 6 . Unmittelbar anschließend erlebt sie dann den Hochzeitszug mit: sie 54 Darauf macht Costa in seinem Kommentar aufmerksam; er vergleicht H ö r . carm. 3,3,20; O v . epist. 5,91. Verwiesen sei auf die verwandten Überlegungen der Medea bei O v i d (met. 7,21 ff.). 55 Sie hatte sich soeben in der Zauberszene selbst als Mänade die Arme mit dem Messer aufgeritzt und ihr Blut auf den Altar fließen lassen (805 ff.). 56 Dies machen schon die ersten Worte des Prologes deutlich, der A n r u f an die di coniugales, dann die Bitte an Proserpina, verbunden mit dem Hinweis, daß sie
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hört den Hymenaeus (116) und kann es noch nicht fassen, daß Jason sie trotz ihrer Verdienste um ihn und trotz ihrer verbrecherischen Fähigkeiten, die auch er — wie er doch wissen muß — zu spüren bekommen kann, im Stich gelassen hat (117-121). Aber noch ist die Trennung bloß äußerlich — innerlich liebt sie ihn noch: sie gesteht ihm mildernde Umstände zu, da er unter fremdem Zwang stehe, und wünscht, daß er, wenn es möglich ist, weiter als der ihre lebe 57 oder — wenn dies nicht möglich sein sollte — trotzdem weiterlebe eingedenk, daß sie ihn gerettet hat (141 f.). Dieses vivat meus oder vivat tarnen ist in deutlichem Kontrast zu dem vivat per urbes erret ignotas egens etc. des Prologs gesetzt. Dort sollte ein elendes Leben die äußerste Form der Rache bezeichnen, hier ist das vivat Ausdruck ihrer fortdauernden Liebe, die den unter Zwang Handelnden aus ihrer Rache ausnehmen und nur Creo, den Alleinschuldigen, bestrafen will. Creo ist es, der ihre Ehe aufgelöst und die Mutter von den Kindern getrennt hat. Damit ist ihre äußere Trennung ein weiteres Stück verdeutlicht: sie ist vom Gatten und von den Kindern geschieden, und aus dem Dialog mit der Amme (170. 172), vor allem aber aus Creos Auftrittsmonolog, der in einen Redeagon mit Medea führt, erfahren wir, daß zusätzlich auch ihre Ausweisung aus dem Lande verfügt ist. Durch listige Verstellung erreicht sie einen Tag Aufschub. Ihre Trennung von Jason wird aber ein weiteres Stück vertieft durch die formaljuristische Argumentationsweise Creos in 262 ff. : Während Medea ihre Verbrechen als merita , als Verdienste um Jason interpretiert, die sie und den Gatten, für den sie ja all ihre Taten vollbracht hat, aufs engste verbinden müssen, begründen sie in den Augen Creos gerade ihre Scheidung: Jason selbst hat mit den Verbrechen nichts zu tun; er kann sich vor Acastus rechtfertigen, wenn nur Medea ihre Sache von der seinen abtrennt. Als dann auch Jason im Verlaufe der sich erhitzenden Auseinandersetzung, in der er Medea zur Einsicht in seine Zwangslage bewegen wollte, sich diesen Standpunkt zu eigen macht, er ferner ihr Werben, er möge sich zusammen mit ihr gegen die Könige stellen oder zusammen mit ihr fliehen, als unrealistisch verwirft, da vollzieht sie auch innerlich die Trennung von ihm, bekräftigt dies mit einem Anruf an Jupiter (531 ff.) und sinnt fortan nur darauf, sich an ihm zu rächen. Dieser Rachewunsch mag subjektiv gerechtfertigt erscheinen, da fide meliore geraubt wurde (11 f.), ferner das Stichwort thalamis... quondam mets (16), der Todeswunsch für die neue Gattin und den Schwiegervater (17 f.), die Überlegung, daß sie den Feinden die Hochzeitsfackeln aus den Händen schlagen könnte (27), die Vorstellung, daß sie selbst etwa gar noch Brautführerin spielen sollte (37 ff.), schließlich der Vorsatz, daß man über ihre Verstoßung gleich Schlimmes erzählen solle wie über ihre Heirat (52 f. paria narrentur tua / repudia thalamis), daß die Trennung von ihrem Manne ebenso von Verbrechen begleitet sein solle wie einst ihre Verbindung (53 ff.). 57 M e d 140 si potest , vivat meus, / ut fuit, Iason. 4 LiteratunvL&senschaftlidies Jahrbuch, 19. Bd.
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sie verstoßen wurde, obgleich sie alles für den Geliebten aufgeopfert hat, objektiv ist er es nicht; denn (um es nochmals hervorzuheben) Jason — dem Willen und der Rechtsgewalt des Creo U n t e r t a n — besaß keine Handlungsfreiheit, wie sie selbst in einer früheren Phase des Stückes zugestanden hatte (s. o.). Jetzt vermag sie dieser Einsicht keinen Raum mehr zu gewähren: sie wird getrieben von wildem Haß, den sie auf diabolische Weise sättigen wird: durch den Mord der Kinder, die ihr genommen sind, die Jason aber aufs innigste liebt — mehr als sich selbst. Ihr eigenes V e r h ä l t n i s z u d e n K i n d e r n hat schon im Prolog eine merkwürdige Färbung bekommen: ihr schlimmster Rachewunsch für Jason sind dort Kinder, die ihrem Vater und ihrer Mutter gleichen58, und da sie — so fährt sie fort — ja bereits geboren hat, ist ihre Rache bereits Wirklichkeit. Also: bereits im Prolog sind ihr die Kinder Mittel zur Rache, freilich in einem vordergründigeren Sinne: dadurch daß sie mit Gewißheit den frevelhaften Eltern nachschlagen und sich somit also auch gegen ihren Vater wenden werden. Bereits im Prolog zeigt sich somit eine gewisse innere Distanz zu den Kindern, die sie als künftige Verbrecher sieht. Diese innere Distanz scheint im Dialog mit der Amme bekräftigt zu werden: als die Amme ihr rät, sich zu fügen und dies unter anderem mit dem Hinweis mater es (171) unterbaut, was doch nur bedeuten kann, daß sie Rücksicht auf die Kinder nehmen soll, weist sie dies zurück mit der Bemerkung: „bedenke, wem ich Mutter bin" 5 9 , eine deutliche Anspielung — wie ich meine — auf Ovids Procne, die angesichts des kleinen Itys, der sie zärtlich Mutter nennt, und der entehrten Philomela, die sie nicht Schwester nennen kann, ausruft: „Bedenke, du Tochter Pandions, mit wem du vermählt bist! Du entartest, bist deiner edlen Abkunft nicht würdig, wenn du bei einem Gatten Tereus Mutterliebe nicht für Verbrechen hältst" 60 . Wie Procne w i l l also auch Medea ihre Kinder nicht schonen, wenn dies auf Kosten ihrer Rechte als Gattin geht. Demzufolge lehnt sie Jasons Bitte, sie möge sich um der Kinder willen besänftigen (507), entrüstet ab: wenn Creusa ihren Kindern Brüder gebären soll, dann sagt sie sich von ihren Kindern los, schwört ihnen ab, verleugnet sie 61 . Wenig später kommentiert 58
M e d 24 liberos similes patri / similesque matri. » M e d 171 cui s im vide (so Ν . Heinsius 121; vides codd.). 60 Ο ν . met. 6,634 cui sis η u ρ t a , vide , Pandione nata , marito ! dégénéras ; scelus est pietas in coniuge Tereo. Natürlich könnte auch ein hellenistisches Vorbild zugrunde liegen, das letztlich auf die Prokne des Sophokles zurückgeht. Denn auch Euripides ist wahrscheinlich bei seiner Konzeption des Kindermordes durch Medea von dem Tereus-Prokne-Mythos angeregt worden; und O v i d selbst parallelisiert Medea und Procne z. B. am. 2,14, 29 f.; ex Pont. 3,1,119 f.; vgl. luv. 6,643 f. 6
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sie Jasons Offenbarung seiner tiefen Liebe zu den Kindern wiederum mit einer auffälligen Distanz (549): „so liebt er die Kinder?", sic natos amati — und kühl berechnend erkennt sie in ihnen das Medium, ihn zu verwunden. Als sie dann den Entschluß faßt, die Kinder zu ermorden, hat sie sich innerlich bereits ganz von ihnen gelöst — so wie sie sich von Jason gelöst hat: es sind nicht mehr ihre Kinder, sondern Jasons Kinder und damit Creusas Kinder: „Ihr Kinder, e i n s t die meinen", so ruft sie aus, „ihr sollt für die Verbrechen des Vaters Strafe zahlen." 62 Das Gefühl, trotz allem die leibliche Mutter zu sein, bäumt sich zwar gegen den Entschluß auf, die Mutterliebe kämpft noch einmal gegen den Rachezorn der verletzten Gattin an (927 ff.) — aber der Gedanke daran, daß sie, die Verbannte, die Kleinen in jedem Falle verlieren muß, festigt in ihr den Entschluß, sie zu töten und sie so auch dem Vater zu nehmen: „Den Küssen des Vaters sollen sie verloren gehen, denen der Mutter sind sie verloren." 63 Bei Euripides tötet sie die innig geliebten, mit ihrem eigenen 61
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abdico eiuro abnuo: meis Creusa liberis fratres dubiti quidquid ex ilio tuum est, Creusa peperit; liberi quondam mei vos pro paternis sceleribus poenas date.
63 M e d 950 osculis pereant patris , / periere matris. So ist hier zu schreiben, vgl. G. Müller, Gnomon 48, 1976, 784; seine Konjektur matris (die ich auch selbst gemacht hatte) steht jedoch schon im cod. e. I n 950 ist Gronovs ο scelus für osculis E unnötig (oculis A , eine triviale Verschreibung angesichts der häufigen Vertauschung von s/sc/ss; dafür hat A das richtige patris bewahrt) : denn auch bei Euripides begehrt der Vater (allerdings zu spät) seine Kinder zu küssen (Med. 1399 f.); vgl. T h y 145 dum currit ρ atrium natus ad o s c ul um ; cons. H e l v . 2,5; M e d 289 (von der Mutter). — Zur Interpretation der Stelle vgl. audi Liebermann a.a.O. 191. — Merkwürdig berührt es, daß selbst in diesem Entscheidungskampf zwischen coniunx und mater , zwischen ira und amor nicht die vorbehaltlose Mutterliebe der Rache an dem ungetreuen Gatten gegenübersteht, sondern daß auch hier wieder der Gedanke aus dem Prolog (24) auftaucht, daß die Kinder aufgrund ihrer Abkunft von dem Vater Jason und der noch schlimmeren Mutter Medea verderbt sind und deshalb den T o d verdienen (933 ff.). M a g dies occidant, non sunt mei; / pereant, met sunt auch zu einem Gutteil auf Senecas Vorliebe für geistreiche Pointen und geschliffene Sentenzen zurückzuführen sein, so dürfen w i r darin — zumal im Hinblick auf das gleiche M o t i v im Prolog — doch auch ein Indiz für das geänderte Verhältnis zwischen Mutter und Kindern bei Seneca gegenüber Euripides erblicken. Korrekturzusatz: Dies gilt um so mehr, als der eigentliche Entscheidungskampf wahrscheinlich durch eben dieses M o t i v abgeschlossen w i r d : H . Grotius hat — wie ich aus dem bisher offenbar nicht voll ausgewerteten Originalmanuskript seiner ,Notae in Senecae atque aliorum Tragoedias' entnehme — in v. 955 sehr geistreich fr atri zu m atri abgeändert, unter Hinweis auf 933 f., denn „nullus hic Absyrto locus, cuius mox meminisse incipit* (936 ist ja keine wirkliche Gegeninstanz) — und, so darf man hinzufügen, ein Hinweis auf Medeas Vater (der sich bei der überlieferten Lesart hinter patrique verbergen müßte), über dessen weiteres Schicksal wir im ganzen Stück nichts erfahren, scheint in diesem
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Schicksal fest verbundenen Kinder, die ihr einziger Besitz sind — bei Seneca tötet sie die Kinder des liebenden Vaters, die äußerlich von ihr getrennt worden sind, von denen sie sich aber auch innerlich losgesagt hat — weil sie Kinder des verhaßten Gatten und seiner neuen Braut sind. Noch die Leibesfrucht würde sie sich ausreißen, um die Trennung von allem, was sie mit ihm verbunden hat, vollkommen zu machen, selbst die Leichen der beiden Kinder noch wirft sie ihm zu (recipe iam gnatos parens ), um für immer in den Lüften zu entschwinden — wieder in bezeichnendem Gegensatz zu Euripides, wo Medea den Kindern über den Tod hinaus die Treue hält, sie selbst bestattet und einen Kult stiftet. Schon Friedrich (25) hat darauf hingewiesen, daß Medea im lateinischen und allgemein im abendländischen Drama (Dolce und Lapéruse ausgenommen) etwas, das sie nicht besitzt, einem anderen raubt, der es ihr weggenommen hat. Seine Folgerung allerdings, daß dadurch ihr Verhalten mit einem Schlage so begreiflich werde, daß man es ihr beinahe verzeihen kann, gilt doch wohl in nur sehr eingeschränktem Sinne: es ist das Verhalten, wie man es von einer kleinlich-eifersüchtigen, boshaften Frau erwarten mag. Dadurch, daß sich Medea — wie wir gesehen haben — auch innerlich von den Kindern gelöst hat, sie nicht als die ihren, sondern als Jasons und Creusas Kinder tötet, das heißt aber letztlich, sie wegen Jason haßt, geht der Tat die erschütternde Tragik verloren, die sie bei Euripides hatte, wo nämlich Medea aus Gründen der Selbstachtung gezwungen war, die Kinder zu töten, die sie innig liebt, und sich so in der Rache selbst den bittersten Schmerz zuzufügen, an dem sie ein Leben lang zu tragen hat. An die Stelle tiefer Tragik ist der unersättliche R a c h e d u r s t einer r a s e n d e n D ä m ο η i η getreten. Schon gleich nach der endgültigen Preisgabe des eifersüchtig Geliebten und heiß Umworbenen hat sie drohend — wie schon einmal in 122 — an ihre Freveltaten erinnert. Mit Hilfe dieser Fähigkeiten w i l l sie sich dem — aus ihrer Sicht — Treulosen ewig einprägen (560 ff.). Die Frucht ihrer früheren Verbrechen ist es, daß sie nichts mehr für ein Verbrechen hält (563). Demgemäß wird sie später, nachdem die vor Angst bebende Amme ihre furchtbare Zauberkraft geschildert, sie selbst diese in aller Exzessivität vordemonstriert, der Chor ihre rasende Wut beschrieben und der Bote dann den ersten Teil der durch ihren Zauber ausgelösten Katastrophe berichtet hat, triumphierend ausrufen Medea nunc sum; crevit ingenium malis (910): „jetzt bin ich Medea; meine Erfindungskraft ist durch Zusammenhang schwerlich am Platze, während die Kombination mater-pater (,genitor, sc. Iason) geradezu leitmotivisch in diesem Monologteil wiederkehrt (933 f., 947 f., 950.). I n einer raffinierten Pointe würden so die Stichworte parta iam, parta ultio est: J peperi von 25 f. und pro paternis sceleribus p ο e na s date bzw. scelus luent von 925.932 f. wieder aufgenommen — hier wie dort bezogen auf die »verbrecherischen' Eltern.
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die früheren Verbrechen 64 (die im folgenden nochmals aufgezählt werden) gewachsen". Sie alle genügen ihr nicht, auch der Mord an Creusa und Creo genügen ihr nicht: hier stehen zu bleiben müßte bedeuten, daß sie Jason noch liebt 65 . So wird sie schließlich zum Kindermord getrieben. Auch die beiden Söhne sind ihrer Rache noch nicht genug: sie wünscht sich die 14 Kinder Niobes und übertrifft damit die Kindsmörderin Pontia aus Neronischer Zeit, die auf den Vorwurf, sie habe mit e i n e r Mahlzeit ihre beiden Kinder vergiftet, ausruft: „Sieben hätte ich vergiftet, wenn es etwa sieben gewesen wären." 66 Beim Vollzug des zweiten Mordes weidet sie sich an dem Schmerz des Vaters, gewaltige Wonne nimmt sie gefangen, da sie den gequälten Vater als Zuschauer hat 6 7 . Jasons Bitte, den letzten Sohn zu schonen, an seiner Statt ihn selbst zu töten, weist sie in der Pose des sadistisch-bösartigen senecanischen Tyrannen zurück: „Dort, wo du es verweigerst, wo es dich schmerzt, da w i l l ich das Schwert hineinstoßen" 68 ; man vergleiche Aegisths Antwort auf Electras Todeswunsch: „Wenn du ihn verweigertest, würde ich ihn geben. Ein einfallsloser Anfänger ist der Tyrann, der seine Strafe mit dem Tode eintreibt" 69 , oder den Bescheid des Atreus, nachdem der Satelles Tod durchs Schwert vorgeschlagen hatte: „über das Ende der Strafe sprichst du; ich w i l l die Strafe. Hinrichten mag ein milder Tyrann: in meinem Reich wird der Tod erbeten" 70 , schließlich die Antwort des Lycus, als Amphitryon bittet, er möge ihn zuerst töten: „Wer alle ihre Strafe mit dem Tod büßen läßt, versteht nicht, Tyrann zu sein: erkenne verschiedene Strafen zu: dem Unglücklichen verbiete, dem Glücklichen befiehl zu sterben." 71 Bezeichnend ist das Stichwort satiari marins (1009): ihr Rachedurst kann durch den Tod eines Kindes nicht gesättigt werden, auch zwei Morde sind 64 So ist malis — trotz anderslautender Interpretationen auch wieder in jüngerer Zeit — zu fassen, vgl. Liebermann a.a.O. 189, Anm. 120. Z u ingenium vgl. Oed 947. es M e d 897 amas adhuc, furiose, si satis est tibi caelebs Iason. 66 l u v . sat. 6,641 tune duos una, saevissima vipera, cena? tune duosì »Septem, si septem forte fuissent 67 M e d 991 voluptas magna me invitam subit, et ecce crescit. derat hoc unum mihi, spectator iste; vgl. 1001 te vidente. 6 8 M e d 1006 hac qua récusas , qua doles, ferrum exigam. 69 A g 994 si reçus ares, darem. rudis est tyrannus morte qui poenam exigit. 70 T h y 246 de fine poenae loqueris, ego poenam volo. périmât tyrannus lents : in regno meo mors impetratur. 7 1 H f 511 qui morte cunctos luere supplicium iubet, nescit tyrannus esse: diversa inroga; miserum veta perire , felicem tube.
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noch zu wenig für ihren Zorn; selbst die Leibesfrucht würde sie sich mit dem Schwert herausreißen, um ihren Haß zu stillen — eine gewaltige Steigerung ihres „Rachepathos", die freilich ganz organisch aus dem Vorhergehenden herauswächst. Nicht einmal der Bitte des Vaters, seine Qualen abzukürzen, kommt sie nach: genießen w i l l sie die Rache: das ist ihr Tag, ihre Stunde 72 — ein genüßliches Auskosten der Rache, das später Lessing in deutlicher Anlehnung an Seneca auf seine Figur der Marwood in Miß Sara Sampson übertragen hat 7 3 . Schließlich führt sie den letzten Streich und wirft dem gebrochenen Vater von ihrem Drachenwagen die Leichen zu: eine rasende, unmenschliche Furie, bis sie sich in die Lüfte erhebt. Es ist die böse, dämonische Medea des Mythos, die sich hier in der Wollust der Grausamkeit und Rache austobt — und einen verzweifelten Menschen zurückläßt, der an der Verbindung mit diesem dämonischen Wesen zerbrochen ist.
Die beiden verdächtigten Verse, von denen wir ausgegangen waren, haben uns also zu einer Interpretation des Grundgehaltes dieser Tragödie geführt. Es hat sich dabei gezeigt, daß sie sich organisch in das Bild der maßlos wütenden, von Rachewollust fiebernden Medea einfügen und ein sinnträchtiges Indiz für das gegenüber Euripides veränderte Medeabild Senecas abgeben. In der Umgestaltung und moralischen Neubewertung der überkommenen dramatischen Figuren liegt ja eine schon von den antiken Dichtern gerne wahrgenommene Möglichkeit, dem freien Spiel der Phantasie im Wettstreit mit den Vorgängern auch innerhalb der relativ eng abgesteckten Grenzen des Mythos einen Weg zu bahnen. Ich erinnere nur an die recht unterschiedlich gezeichneten Klytaemnestra-Figuren der drei großen Tragiker, an die unterschiedlichen Charakterzüge der Agamemnon-, Aegisth-, Atreus- oder Thyestes-Gestalten bei Aischylos, Livius Andronicus 74 , Accius 75 und Seneca oder an die von Euripides vorgenommene Umbewertung der beiden feindlichen Brüder Eteokles und Polyneikes des Aischylos — ein Motiv, das D. Beyerle über Seneca, Statius bis zu Garnier, Racine und Alfieri eindrucksvoll weiterverfolgt hat. I n diese Reihe gehören also — wie wir gesehen haben — auch die Jason- und Medeagestalten, wie sie uns bei Euripides und Seneca vorliegen — und wie sie dann weiter variiert werden durch die Jahrhunderte: ich nenne stellvertretend Corneille, Grillparzer, Anouilh, Jeffers 76. 72
M e d 1016 per fruer e lento scelere , ne propera, dolor : meus dies est; tempore accepto utimur. 73 Vgl. W . Barner, Produktive Rezeption. Lessing und die Tragödien Senecas, München 1973, 48 f. 74 Vgl. W . H . Friedrich a.a.O. 142 ff. 75 Vgl. O . Ribbeck, Die Römische Tragödie i m Zeitalter der Republik, Leipzig 1875 (Nachdruck: Hildesheim 1968), 447 ff.
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Auf die beiden erstgenannten möchte ich abschließend einen kurzen Blick werfen. Für C o r n e i l l e s Darstellung ist charakteristisch, daß er die beiden unterschiedlichen Konzeptionen von Euripides und Seneca miteinander vereinigt und gemäß dem Geschmack seiner Zeit mit Motiven preziös-galanter Liebesromantik verquickt hat. Sein Jason übertrifft einerseits den leichtfertigen, seichten Charakter des euripideischen Vorbildes noch, indem er vor dem Freund schnöde über Medea redet (9 ff.), sich seines neuen Liebesabenteuers mit Creusa rühmt (8.29, vgl. 19 ff.), das er — wie schon im Falle Hypsipyles und Medeas — mit schlauer Berechnung seines Vorteils eingeht (29 - 44), andererseits w i l l er uns in Worten, die getreu aus Seneca übersetzt sind, glauben machen, er handle nur aus Zwang (131 ff.), verstoße Medea nur aus sorgender Liebe für die Kinder (138 ff. 823 ff.), ja, die Trennung von der Gattin zerreiße ihm selbst das Herz (731). Er, der Medeas Bitte um die Kinder abgewiesen hatte mit den Worten: „die Kinder mir entreißen heißt mein Herz mir aus dem Leibe reißen" 77 , w i l l am Schluß (1529 ff.) die Kinder, „die Werkzeuge der Wut dieser vom Wahn erfaßten Mutter, unwürdige Sprößlinge meiner einstigen Liebe", „die kleinen Dankvergessenen" (E. M. Landau) über dem Grab Creusas und Creos opfern, damit in ihnen die Zauberin ihr erstes Leid erfahre, voller Qual mitansehe, wie sie sterben. Ein einheitlicher Charakter ist Corneille in dieser Figur gewiß nicht gelungen. Auch seine Medea vereinigt verschiedene Züge in sich, die nicht leicht harmonieren: Wie bei Seneca ist sie die mächtige Zauberin, die sogar im Stück ihre Künste zeigt, indem sie mit dem Zauberstab das Tor des Verließes öffnet, in dem Aigeus gefangen liegt, mit einem weiteren Schlag ihn von den Fesseln befreit, ihm einen Ring gibt, der ihn unsichtbar macht, und ein Gespenst schafft — ihm an Antlitz und Gestalt gleich —, das seinen Platz im Gefängnis einnehmen wird. Wenig später bannt sie einen Boten Jasons an den Boden und löst ihn dann wieder 78 . Trotzdem ist sie ohnmächtig den Beschlüssen Creos ausgeliefert. Sie muß die Kinder bei Jason und Creusa zurücklassen, obwohl sie diese so sehr liebt, daß sie Creos Befehl mit den Worten kommentiert: „unmenschliche Menschlichkeit, die mich 7 6 Vgl. K . Heinemann, Tragische Gestalten der Griechen in der Weltliteratur, Leipzig 1920 (Nachdruck: Darmstadt 1968, Bd. 2, 1 ff.); A . Block, Medea-Dramen der Weltliteratur, Diss. Göttingen (masch.) 1957; K . v. Fritz (oben S. 38, Anm. 27); W . H . Friedrieb (oben S. 43, Anm. 49) ; J. L. Sanderson — E. Zimmermann, Medea. M y t h and dramatic Form. Five plays by Euripides, Seneca, Jean Anouilh, Robinson Jeffers, M a x w e l l Anderson, Boston 1967. 77 V . 924: m'enlever mes enfants, c'est m'arracher le coeur. 7 8 V g l . Christiane Wanke, Seneca Lucan Corneille. Studien zum Manierismus der römischen Kaiserzeit und der französischen Klassik, Heidelberg 1964 (Studia Romanica 6), 19 f.
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mir selbst entreißt und Sanftmut heuchelt, um mir zu rauben, was idi liebe!"7® Diese tiefe Mutterliebe paßt zur Medea des Euripides, Senecas Medea dagegen steht — wie wir gesehen haben — ihren Kindern distanzierter gegenüber. Trotzdem sind es — wie bei Seneca — in der Mordszene Jasons Kinder, die sie tötet: „von seiner Seite kommen sie, gehören mir nicht mehr 80 ; . . . zu groß ist ihr Verbrechen, daß Jason sie zum Vater haben; . . . er raubt euch mir und idi w i l l euch ihm rauben, euch verliere ich, meine Kinder, doch Jason verliere euch ebenfalls." Auffällig ist, daß Corneille an die Stelle der geheuchelten Bitte Medeas bei Seneca, ihr die Kinder mit auf die Flucht zu geben, damit sie sich in ihrem Schöße ausweinen könne, eine von tiefer Zuneigung zu Jason geprägte Bitte gesetzt hat: „Gewähre, daß meine Kinder mich begleiten auf der Flucht, auf daß ich noch in jedem ihrer Züge dich bewundere, daß ich dich liebe, dich umarme in diesen kleinen Bildern, daß meine Leidenschaft an diesem Unterpfand sich nähre, dich meinen Augen, meiner Seele ständig zeige." 81 Man möchte meinen, daß sich Corneille dabei an die oben zitierten Abschiedsworte Didos erinnert hat. Den Mord auf offener Bühne erspart Corneille seinen Zuschauern, auch die qualvolle Aufteilung des Doppelmordes und das wollüstige Auskosten der zweiten Tat, folgt hier also der euripideischen Dezenz, aber auch bei ihm trifft der rächende Dolch nicht so sehr — wie bei Euripides — die dynastischen Hoffnungen Jasons, den Fortbestand seines Hauses, sondern zerschneidet im Sinne Senecas das gemeinsame Liebesband: „der Dolch, den du hier siehst, hat ihre Seelen jäh verjagt, in ihrem Blut die Reste unserer Liebesglut ertränkt... die Bürgen unserer Liebe sollen für dich nicht mehr geheimer Vorwurf sein, daß du dein Wort gebrochen." 82 G r i l l p a r z e r s Leistung besteht vor allem darin, daß er seine Medea bewußt als Barbarin darstellt 83 und von diesem Zuge aus auch das Verhältnis der Kinder zu ihr neu deutet: Schon bei der ersten Begegnung (345 ff.) fassen die Kinder Zutrauen zur griechisch-anmutigen, sanften Kreusa, die 79
V . 497:
barbare humanité , qui m'arrache à moi-même , et feint de la douceur pour m'ôter ce que j'aime. 81° V . 1336: ils viennent de sa part , et ne sont plus à moi. 81 V . 918: souffre que mes enfants accompagnent ma fuite ; que je t'admire encore en chacun de leurs traits , que je t'aime et te baise en ces petits portraits; et que leur cher objet , entretenant ma flamme , te présente à mes yeux aussi bien qu'à mon âme. 82 V . 1541: ce poignard que tu vois vient de ihasser leurs âmes, et noyer dans leur sang les restes de nos flammes . V . 1547: ces gages de nos feux ne feront plus pour moi de reproches secrets à ton manque de foi. 88 Vgl. R . Backmann in: Fr. Grillparzer, Sämtl. Werke, historisch-kritische Gesamtausgabe, herausgegeben ν. Α . Sauer , 1. Abt., Bd. 2 (bearbeitet von R . Backmann), Wien 1913, S . X I I .
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in ihnen des Vaters Züge erkennt, sie küßt und für sie wie eine Mutter und Schwester zu sorgen verspricht. Schon hier bedarf es zweier Ermahnungen, daß die Kinder wieder zu ihrer Mutter zurückgehen. Später, als Jason ihr nach langem Drängen — unter Abwandlung des ursprünglichen Beschlusses, daß beide Kinder in Korinth beim Vater bleiben und in hellenischer Gesittung erzogen werden— doch zugesteht, einen Knaben mit in die Verbannung zu nehmen (1598), muß sie eine erschütternde Entdeckung machen: die beiden Kinder, an Kreusas Brust geschmiegt, folgen ihrem Zuruf nicht. Sie flucht (1667): H ö r t ihr mich nicht? — Verruchte! Gräßliche! D e r Mutter Fluch, des Vaters Ebenbild!
Selbst als Kreusa die Szene verlassen hat, kann Medea keines der Kinder zu sich locken, und als sie einige Schritte auf sie zugeht, fliehen die Kinder zu Kreusa zurück. Kniefällig fleht sie Absyrtus an, nachdem ihr Liebling Äson sich bereits abgewendet hat — umsonst: „auch du nicht?", schreit sie auf; „wer gibt mir einen Dolch? Einen Dolch für mich und sie!" Kreon fordert Kreusa auf, die Kinder ins Haus zurückzuführen: „nicht hassen sollen sie, die sie gebar." Medea wirft sich zur Erde: Ich bin besiegt, vernichtet, zertreten! Sie fliehn mich, fliehn! Meine Kinder fliehn! Laß mich sterben! Meine Kinder!
Zu Beginn des nächsten Aufzuges vergegenwärtigt sie sich diese Szene noch einmal (1731 ff.): So kniet' ich, so lag ich, So streckt* ich die Hände aus, Aus nach den Kindern und bat U n d flehte: Eines nur, E i n Einziges von meinen Kindern — Gestorben wär' ich, müßt' ich das zweite missen — Aber auch das eine nicht! — Keines kam, Flüchtend bargen sie sich im Schoß der Fremden.
Dieses unglaubliche Geschehnis trifft sie so sehr, daß sie von nun an in ihren Kindern nur noch Jasons Kinder sieht (1775 ff.), „ihm gleich an Gestalt, an Sinn, ihm gleich in meinem Haß" — und sie würde nicht zögern, sie zu töten. Ihr Herz erglüht in Rache: D i e Kinder liebt er, sieht er doch sein Ich, Seinen Abgott, sein eigenes Selbst Zurückgespiegelt in ihren Zügen. Er soll sie nicht haben, soll nicht! Ich aber w i l l sie nicht, die Verhaßten! (1810 ff.)
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Während Senecas Medea sich gegen die Kinder allein aus ihrem Racheverlangen gegen Jason wendet, haßt Grillparzers Heldin die Kinder sowohl aus Eifersucht auf Jasons Verhältnis zu Kreusa als auch um ihrer selbst willen; denn sie haben sich selbst von der Mutter losgesagt und sie so zutiefst ernierigt (vgl. auch 1911, bes. 2034 ff.: Wenn ich bedenk, daß es mein eigen Blut, Das K i n d , das ich im eignen Schoß getragen, Das ich genährt an dieser meiner Brust, D a ß es mein Selbst, das sich gen midi empört, So zieht der G r i m m mir schneidend durch das Innre, U n d Blutgedanken bäumen sich empor.
Freilich ist beides miteinander verknüpft, denn die Furcht der Knaben resultiert aus dem barschen Wesen Medeas, die in den Kindern schon früher einmal das Ebenbild Jasons mißhandelt hat: „Einst warfst midi auf den Boden, weil dem Vater ich ähnlich bin" — sagt der eine Knabe; „allein er liebt mich drum. Ich bleib bei ihm und bei der guten Frau." Medea: „Du sollst zu ihr, zu deiner guten Frau! — Wie er ihm ähnlich sieht, ihm, dem Verräter; wie er ihm ähnlich spricht. Geduld! Geduld!" Doch auch diese hassende Medea wird nach der Tat — anders als Senecas Heldin — um die Kinder leiden: 2318 ff. sagt sie zu Jason: W ä r ' dir mein Busen nicht auch jetzt verschlossen, Wie er dir's immer war, du sähst den Schmerz, Der, endlos wallend wie ein brandend Meer, D i e einzeln Trümmer meines Leids verschlingt U n d sie, verhüllt in Greuel der Verwüstung, M i t sich wälzt in das Unermeßliche. Nicht traur* ich, daß die Kinder nicht mehr sind,
Und kurz vor dem Ende des Stückes: Ich traure, daß sie waren und daß w i r sind. Ich geh hinweg, den ungeheuren Schmerz Fort mit mir tragend in die weite Welt. Ein Dolchstoß wäre Labsal, doch nicht so: Medea soll nicht durch Medeen sterben (2348 ff.)
— und über die antiken Vorgänger hinaustretend läßt Grillparzer, der Dichter der Resignation und Weltflucht (wie man ihn genannt hat), sie nach Delphi ziehen und sich dort der Sühne unterwerfen, die die Priester ihr bestimmen werden.
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A n h a n g
Das Verhältnis der Expositionsszenen zum Gesamtwerk der euripideischen Medea Aus den Szenen, die vor Medeas Auftritt auf der Bühne (v. 214) liegen, könnte man den Eindruck gewinnen, als spiele in dem Verhältnis der Mutter zu ihren Kindern auch so etwas wie Haß oder Abneigung eine Rolle: I n ihrem Eingangsmonolog sagt die Amme v. 36 στυγεί δέ παΐδας ούδ3 όρώσ' ευφραίνεται, in 90 ff. mahnt sie nach der Aufforderung an die Kinder, ins Haus zu gehen, den Pädagogen: „Doch du halte diese möglichst für sich abgeschlossen und bringe sie nicht der Mutter nah, der wütenden. Denn schon sah ich, wie sie diese mit grimmigem Blick anstierte, als wollte sie ihnen etwas antun; und nicht eher wird ihr Zorn ruhn, das weiß ich gewiß, bis er gegen jemanden losgebrochen ist. Doch möge sie sich gegen Feinde, nicht gegen Freunde wenden." I n 100 ff. fordert sie dann die Kinder nochmals auf, ins Haus zu gehen, schärft ihnen aber ein, sich von der wilden Leidenschaft und dem furchtbaren, trotzig hochfahrenden Sinn der Mutter fernzuhalten; denn das Gewölk ihres Jammerleides, das aufzusteigen begonnen habe, werde sie schnell mit heftigem Zorne entzünden. „Was aber wird ein leidenschaftliches Gemüt, dem nicht Einhalt geboten werden kann, von Leiden gefoltert, beginnen?" I n 111 ff. schließlich schleudert Medea hinter der Bühne einen Fluch über ihre Kinder, über Jason und sein ganzes Haus: „Weh, ich erlitt, ich unglückliche, ich erlitt unsägliches Leid, nachhaltiger Bejammerung wert. Ihr verfluchten Kinder der unseligen Mutter, mögt ihr zugrunde gehen mitsamt dem Vater, und das ganze Haus verderbe." Man muß aber berücksichtigen, daß es sich dabei nicht um eine feste, dauerhafte Abneigung handelt, sondern um sporadische, impulsive Äußerungen und Gesten des Unmuts, die Ausdruck ihrer Verzweiflung sind, die sich zudem nicht ausschließlich gegen die Kinder richten: So sind die wilden Blicke in 90 ff. Symptome ihres leidenschaftlichen Zornes, der jeden treffen kann, der ihr in dieser Gemütserregung in die Quere kommt. Das Ziel ihres drohenden Unmuts-Ausbruches ist ja bezeichnenderweise unbestimmt gehalten: πριν κατασκήψαί τ t ν α , ist also keineswegs auf die Kinder festgelegt. Die Dienerinnen im Hause werden ganz ähnlich von Medeas zorniger Erregung in Mitleidenschaft gezogen: auch von ihnen berichtet die Amme in 187 ff., Medea stiere wild mit dem Blick einer Löwin, die Junge gebar, auf sie, sobald sich eine naht und ein Wort vorbringt 1 . An beiden Stellen begegnen die Stichworte πελάζειν / πέλας und ταυρουμένην / άποταυροΰται. Wie die Dieκαίτοι τοκάδος δέ ρνμα λεαίνης άποταυρουται, δηωσίν, δταν τις μΰθον προφέ ρων πέ λας δρμηϋη.
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nerinnen sind also — nach Ansicht der Amme — auch die Kinder dadurch gefährdet, daß sie die in wildem Schmerz leidende unvorsichtig stören und so möglicherweise von dem blind losschlagenden Jähzorn getroffen werden. In diesem Sinne sind auch die Verse 100 ff. zu verstehen und die Aufforderung des Chores an die Amme, sie möge hineingehen und der Herrin seine freundlichen Sympathiebekundungen überbringen, bevor sie denen drinnen (τους εΐσω), womit die Kinder und Dienerinnen gemeint sein können, etwas Böses antut (173 ff.). Denn auch hier ist nicht etwa eine feste Abneigung Medeas gegen die Kinder, sondern der Gram, der gewaltig ihr Herz bestürmt (183), Ursache für die Befürchtung des Chores. Bei dem Fluch aber, den Medea hinter der Bühne auf die Kinder, Jason und sein ganzes Haus ausstößt, handelt es sich um den von der Amme in 90 ff. und 100 ff. befürchteten punktuellen Zornesausbruch Medeas, der in dem Augenblick erfolgt, da sie der ins Haus eintretenden Kinder gewahr wird. Dies hat schon der Scholiast zutreffend bemerkt (zu 112): εωρακυία τους παίδας είσιόντας αμα τφ παιδαγωγω άναβοφ2. Es sei hier an die bekannte These erinnert, daß Euripides bei der Konzeption seines Kindermordes durch Medea von dem Tereus-Prokne-Mythos angeregt worden ist 3 . In Ovids Gestaltung dieses Mythos (die zweifellos von griechischen Quellen gespeist wird, die ihrerseits auf das Tereus-Drama des Sophokles zurückgehen dürften), besonders in seiner Darstellung der Genese von Procnes Racheplan, spielt — darauf hat Friedrich a.a.O. 26 f. hingewiesen — das unverhoffte Auftauchen des kleinen Itys eine besondere Rolle (met. 6,614 ff.): „ ,Zu jeglichem Frevel habe ich mich, Schwester, gerüstet: entweder werde ich den Königspalast mit Fackeln in Brand setzen und den Ränkeschmied Tereus mitten in die Flammen stoßen oder ich werde ihm Zunge oder Augen und das Glied, das dir die Keuschheit nahm, mit dem Schwerte rauben oder ihm durch tausend Wunden die schuldige Seele austreiben. Gewaltig ist, wozu ich mich gerüstet habe, was immer es sein mag. Noch schwanke ich, was es sein soll/ Während Procne solches sprach, kam Itys zur Mutter. Er gab ihr ein, was sie vermöge, und mit grimmigen Augen auf ihn blickend rief sie aus: ,Oh, wie siehst du doch dem Vater 2 A u f ähnliche Beispiele abweisenden (vgl. v. 28 f.) oder erregt-feindseligen Verhaltens scheint sich die Amme in v. 36 zu beziehen: στυγεΐν heißt — wie mich R. Kassel belehrt — oft „ H a ß zeigen", muß also hier ebensowenig ein festgewurzeltes, fortdauerndes Verhältnis der Abneigung oder des Hasses zum Ausdruck bringen wie z . B . in M e d 220. T r o 710. Z u r stilistischen Form des Verses, den ich zu tilgen erwogen hatte, verweist midi Kassel auf Wilamowitz, K l . Sehr. I 57 f. (vgl. zu Herakl. 238) und Vahlen opusc. acad. I I 265 f. Die von Vablen aufgeführten Beispiele für odisse neque videre velie zeigen, daß man auch an unserer Stelle davon ausgehen kann, daß e i η Tatbestand („sie mag die Kinder nicht sehen") positiv und negativ vorgestellt wird. 3 Siehe oben S. 50 mit Anm. 60.
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ähnlich!' und ohne ein weiteres Wort zu verlieren geht sie an das finstere Werk und schäumt in schweigendem Zorn." Auch bei Ovid ist gleichwohl vorausgesetzt, daß Procne ihr Kind liebt, dessen Geburtstag als Festtag gefeiert wird (6,437), dem der Großvater Pandion nebst seiner Mutter eindringlich Grüße entbietet (507 f.), und das arglos seine Mutter umarmt und küßt. Auch bei ihm bringt Mutterliebe den grausamen Entschluß ins Wanken — und nur der Blick auf das der Schwester zugefügte Unrecht, das nach Rache ruft, hilft ihr, die zärtliche Regung zu überwinden (624 - 635)4. Auch Procne fügt sich durch den Mord des eigenen Kindes tiefes Leid zu (654 suae ... cladis), das sie nach ihrer Metamorphose als Nachtigall ewig beklagen wird (Horn. Od. 19, 518 ff.; Prop. 2,20,5)5. Beide dramatischen Erfindungen sind so eng miteinander verwandt, daß ich annehmen möchte, in dem plötzlichen Fluch Medeas auf ihre Kinder bei deren unverhofftem Eintritt ins Haus spiegele sich der plötzliche Entschluß Procnes, sich an ihrem Gatten Tereus durch den Tod des kleinen Itys zu rächen, als dieser unverhofft unter ihre Augen kommt und sie wegen seiner großen Ähnlichkeit an den Vater erinnert. Dafür dürfte Medeas παίδες... σ υ ν π α τ ρ ί sprechen; diese Formulierung deutet darauf hin, daß sie in diesem kurzen Moment die Abkömmlinge des Vaters in ihnen erblickt, den sie mit seinem ganzen Stamm verflucht. Wie Ovids Procne entwirft auch sie in dieser Szene in ihrer vor Leid und Zorn fiebernden Phantasie wechselnde Pläne, wie sie sich von der Schmach ihrer Erniedrigung befreien könne: Zunächst klagt sie über ihr Leid und wünscht sich selbst den Tod (96 ff.), dann schleudert sie — beim Anblick der Kinder — den Fluch gegen diese samt ihrem Vater Jason und dessen ganzes Haus (111 ff.); danach wünscht sie, ein Blitz möge ihr Haupt spalten und ihr verhaßtes Leben enden (131 ff.), schließlich möchte sie den treulosen Eidbrecher und seine neue Braut samt dem Palast vernichtet sehen (163 ff.). Es handelt sich jeweils um Augenblickseinfälle 6, der eine davon hervorgerufen durch das plötzliche Auftreten der Kinder. Damit haben denn in diesen erregten, lyrischen Klageanapästen — die sich von dem ruhig und sachlich gesprochenen Auftrittsmonolog Medeas 4 Übrigens handelt es sich auch hier um eine einmalige Anfechtung; danach steht Procnes Entschluß fest — auch dies ein Argument zugunsten der Athetese der Verse 1056 - 1080 in Eur. ,Medea* (zum berechnenden, konsequent planenden Charakter der euripideischen Heldin, wie sie uns auf der Bühne entgegentritt, paßt ein mehrfaches Schwanken schwerlich). δ A u f die enge Verwandtschaft der programmatischen Reden über das Los der Frau, die Procne bei Sophokles und Medea bei Euripides halten, macht Knox a.a.O. 220 f. aufmerksam. β Ähnlich urteilt auch A.Dihle a.a.O. 182.
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(214 ff.) ähnlich abheben, wie die durch den unruhigen Wechsel immer neuer Wunschvorstellungen gekennzeichneten Anapäste der liebeskranken Phaedra (198 ff.) von ihrem späteren Monolog in 373 ff. — die beiden Grundkomponenten des späteren Racheplans in einer Art spontanem, unreflektiertem Vorentwurf schon einmal für einen kurzen Augenblick Gestalt gewonnen. Sie werden dann von der überlegt planenden Medea, die gemäß dem Wunsche des Chores (176 ff.) und seinem freundlichen Zuspruch, den die Amme ihr übermittelt (180 ff. 184 ff.), ihren Zornesausbruch gedämpft hat und gefaßt die Bühne betritt, in die Tat umgesetzt werden. Dabei bedarf es zielstrebiger Findigkeit und nüchterner Abwägung der zu Gebote stehenden Mittel und Wege (313 ff. 340. 366 ff. 374 f. 376 ff.), bevor schließlich in 772 ff. der Plan in seinen Einzelheiten konzipiert ist. Beide spontan hingeworfenen Verwünschungen aus der Klageszene hinter der Bühne spielen im späteren Verlauf des Stückes noch ihre Rolle: I n 287 fF. sagt Kreon, er höre, sie drohe Vater, Bräutigam und Braut etwas anzutun, und in 607 wirft ihr Jason vor, sie habe ruchlose Flüche gegen das korinthische Königshaus ausgestoßen. Beides dürfte auf 163 ff. zielen. Medea erwidert in 608 — offenbar im Hinblick auf 112 ff.: και σοις άραία γ 9 οίσα τυγχάνω δόμοις: „auch dein Haus habe ich verflucht." Bezeichnenderweise ist hier nur die Generallinie von Medeas Fluch (πας δόμος ερροι) ins Auge gefaßt; ein spezieller Hinweis auf die Verwünschung der Kinder wird geflissentlich vermieden — eben weil seit v. 214, seit Medeas Auftritt auf der Bühne, nicht mehr die über ihre Schmach leidenschaftlich erregte, sondern die besonnen planende Frau vor Augen geführt wird, deren Tragik gerade darin bestehen wird, daß sie sich um der von ihrem Ehrgefühl geforderten Rache willen selbst der innig geliebten Kinder berauben muß. Waren die im exponierenden Teil des Stückes geäußerten Andeutungen und Befürchtungen der Amme und auch der in leidenschaftlicher Erregung gesprochene, punktuelle Ausbruch Medeas hinter der Bühne geeignet, eine bedrohliche Stimmung im Hörer zu wecken und ihn (gegebenenfalls aus seiner Vorkenntnis des Mythos) 7 auf das gräßliche Ende vorzubereiten, so hat doch der Dichter alles darangesetzt, mit dem Auftritt Medeas all jene Äußerungen vergessen zu machen und seiner Heldin Verhältnis zu den Kindern von innigster Mutterliebe geprägt erscheinen zu lassen. Ihr Haß auf Jason bleibt streng getrennt von ihrer Einstellung zu den Kindern, für die sie in dem Augenblick, da sie zur Tat schreitet, nichts als Liebe empfin7 I n diesem Punkte ist die Forschung kontrovers, vgl. Wilamowitz, K l . Sehr. I 20 ff.; Lesky, Trag. Dichtg. d. H e l l . 3 301. Ich neige aber zu der Auffassung Steidles (Studien zum antiken Drama, S. 154, Anm. 16), wonach die Anspielungen von Prolog und Parodos nur sinnvoll und für den Zuschauer voll verständlich sind, wenn ihm der Kindermord als Faktum oder mindestens als Möglichkeit des Mythos bekannt war.
Die Tragik in den Medea-Dramen
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det: darauf hat Friedrich (a.a.O. 28 f.) mit vollem Redit insistiert. Denn nur wenn ihre Tat allein dem harten Zwang des Ehrgebotes entspringt und nicht etwa — wie bei Grillparzer — von einer Anwandlung des Hasses gegen die Kinder mitbestimmt ist oder — wie bei Seneca — an Kindern vollzogen wird, von denen sie sich aus Eifersucht auf Jason und seine Nebenbuhlerin losgesagt hat, gewinnt sie das erschütternde Ausmaß an Tragik, das Euripides ganz offenbar an seiner Medea exemplifizieren wollte: um bei der gebotenen Radie den schnöden Eidbrecher in seiner Existenz zu treffen, muß sich die liebende Mutter selbst das bitterste Leid zufügen: die Ermordung der geliebten Kinder, die ihr einziger Besitz geblieben sind.
DER BEGRIFF DER TRAGÖDIE U N D DES TRAGISCHEN BEI SCHILLER 1 Von Siegfried Sudhof
Das Thema „tragisch" und „Tragödie" ist in bezug auf das Werk Schillers so zentral wie umfassend. Dies liegt hauptsächlich daran, daß hier sowohl die Bemühung Schillers um theoretische Fundierung und Fixierung deutlich wird, als auch das Experiment im dramatischen Schaffen. Es empfiehlt sich, in einer knappen und — notwendigerweise verkürzten — Betrachtung eine besondere Epoche des größeren Themenbereichs auszuwählen und exemplarisch vorzustellen. — In einer weiter angelegten Untersuchung ,Schiller, ein Meister der tragischen Form* hat Ilse Graham — in erster Linie die Dramen zugrunde legend — dies ausführlich für ,Fiescoc getan. Diese Untersuchung hat sie dann auf andere Werke ausgedehnt und entsprechend vertieft. I n einem dritten Teil zog sie auch die theoretischen Schriften Schillers heran 2. Bei aller Anerkennung für die Einzelanalyse, gerade dieses Buch beweist, was es eigentlich nicht will: den engen Zusammenhang von poetischem und theoretischem Werk bei Schiller. Dabei dürfte es selbstverständlich sein, daß in einem speziellen Werk jeweils nur bestimmte Kategorien zum Zuge kommen, die in die vorgegebene Handlungsführung passen. Der Beweis ist mit dem umgekehrten Schluß deutlich gegeben: es dürfte unmöglich sein, eine Verkehrung der eigenen Theorie in Schillers Tragödien anzutreffen. — Auf das Historische gewendet hat Thomas Mann Schiller vorgestellt als einen „Mann, gestählt vom Studium der Geschichte, aufs Praktische verwiesen durch das Theater, dessen Forderungen als Meister nachzukommen er, wenigstens der eigenen Meinung nach, spät erst gelernt" habe3. Bei einem Blick auf das Leben und das Werk Schillers fällt auf, daß er sich in den Jahren vor der Jahrhundertwende — vornehmlich in der 1 Diese Arbeit ist meinem Sohn Klaus gewidmet zur Erinnerung an seine erste Schiller-Lektüre, die stattfand, als diese Thesen geschrieben wurden. — A u f eine (verbale) Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur wird im folgenden weitgehend verzichtet; sie ist einer späteren umfassenderen Studie vorbehalten. 2 Darmstadt 1974. Titel der englischen Originalausgabe: Schiller. A Master of the tragic Form. H i s Theory in H i s Practice, Pittsburgh 1973. 3 Versuch über Schiller; in: Nachlese. Prosa 1951 - 1955, Frankfurt a. M . 1967, S. 73.
5 Literaturwissenschaftlidies Jahrbuch, 19. Bd.
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Diskussion mit Goethe — intensiv um die Tragödie bemüht hat. Die erste Arbeit aus diesem Zusammenhang ist der Aufsatz ,Ueber den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen', der 1792 in der ,Neuen Thalia' erschien. Dieser Artikel entstand noch vor der Zusammenarbeit mit Goethe. Ein gewisses Ende erreichte die spätere gemeinsame Bemühung mit dem Aufsatzfragment ,Ueber epische und dramatische Dichtung' aus den Jahren 1797 und 1798, das Goethe 1827 in ,Kunst und Altertum' veröffentlichte. Als dramatisches Hauptwerk Schillers aus diesen Jahren kann sein ,Wallenstein' angesehen werden. Eine Untersuchung der Position des Tragischen wird beide Bereiche, den der Theorie und den der Praxis, zugrunde legen müssen. Gerade das Wechselspiel, die künstlerische Ausführung des abstrakt Vorgestellten, ist ein wesentliches Element der gedanklichen und poetischen Konzeption Schillers. Die Poetik des Aristoteles, die Voraussetzung wesentlicher neuerer Diskussionen um den Begriff der Tragödie, ist Schiller erst relativ spät bekannt geworden. Goethe meinte zwar am 6. Mai 1797, es sei „grade zur rechten Stunde" gewesen4. Für Schiller war Aristoteles in diesem Moment jedoch kein absoluter Lehrmeister mehr, sondern eher ein Gesprächspartner, dessen Meinung interpretiert werden konnte. Schiller, im Brief an Goethe vom 5. Mai 1797, erkennt in Aristoteles zwar den „nüchternen Kopf und kalten Gesetzgeber"; er glaubt aber auch, daß „seine ganze Ansicht des Trauerspiels" auf „empirischen Gründen" beruhe. Aristoteles habe „eine Masse vorgestellter Tragödien vor Augen" gehabt; „aus dieser Erfahrung heraus" habe er „räsonniert". Der eigenen Zeit fehle „die ganze Basis seines Urteils". I m weiteren Verlauf des Briefes kommt Schiller zu Formulierungen, die seinem eigenen Werk ebenso gelten könnten, wie der von Aristoteles geäußerten Ansicht: „Nirgends beinahe geht er von dem Begriff, immer nur von dem Faktum der Kunst und des Dichters und der Repräsentation aus; und wenn seine U r t e i l e . . . echte Kunstgesetze sind, so haben wir dieses dem glücklichen Zufall zu danken, daß es damals Kunstwerke gab, die durch das Faktum eine Idee realisierten oder ihre Gattung in einem individuellen Falle vorstellig machten."5 Schiller gibt hier die Maxime seines Urteils genau an, das nur die Summe praktischer Erfahrung widerspiegeln kann. Naturgemäß vollzieht sich die Tragödie auf dem Theater, d. h. in einem Spiel. Die Grundvoraussetzung des Schillerschen Dramas — im besonderen der Tragödie — ist es nun, das vorgestellte Thema und die Akzentuierung des Verfassers in Obereinstimmung zu bringen mit den Gesetzen des Theaters. Dies bedeutet, daß selbst das erschreckende Ereignis „schön" 4 Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, hrsg. v. H . G . Graf mann, Leipzig 1955, 1. Bd., S. 335. ß Ebda, S. 331 f.
u. A .
Leitz-
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darzustellen sei. So muß uns — wie Schiller in dem genannten Essay „Ueber den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen" ausführt — die Tragödie „durch den Schmerz ergötzen". Das Geschehen auf der Bühne, das seit dem naturalistischen Theater, aber auch in mehreren Dramen Shakespeares, wörtlich verstanden werden kann, ist bei Schiller Abbild eines gedanklichen Vorgangs: „Uebereinstimmung im R e i c h d e r F r e y h e i t ergötzt uns unendlich mehr, als alle Widersprüche in der n a t ü r l i c h e n W e l t uns zu betrüben vermögen." 6 Es ist nicht von ungefähr, daß in den Dramen Schillers kein Schauspiel im Schauspiel vorkommt. I n seinen historischen Dramen ist der Unterschied zwischen dem „Reich der Freiheit" und der „natürlichen Welt" schon in den auftretenden Personen so groß, daß eine Identifizierung zwischen ihr und dem Zuschauer ohnedies nicht stattfindet. Bei der Charakterisierung der Personen Wallensteins etwa hat ihn das Typische stärker bestimmt als das Faktische. Die Schiller vorliegenden historischen Fakten haben ihn, einen Meister der Psychologie, in die Lage versetzt, das Typische der Gestalt Wallensteins so herauszuarbeiten, daß sie — historisch korrekt — den neueren Historikern wiederum zum Maßstab wurde. Der soziale Unterschied zwischen der auftretenden dramatischen Gestalt und dem Zuschauer bzw. dem Leser soll anderseits auch eine moralische Veränderung oder zumindest Erkenntnis bewirken. Wenn Schiller im Prolog zu ,Wallenstein4 den Zuschauer „aus des Bürgerlebens engem Kreis / A u f einen höhern Schauplatz"7 versetzt, so mit einem bestimmten Ziel: Denn nur der große Gegenstand vermag D e n tiefen Grund der Menschheit aufzuregen, I m engen Kreis verengert sich der Sinn, Es wächst der Mensch mit seinen größern Zwecken.»
Dennoch soll der auftretende Herzog von Friedland und kaiserliche Generalissimus Wallenstein durch die Kunst der Bühne den Augen und audi den Herzen der Zuschauer „menschlich näher" 9 gebracht werden. Wallenstein wird von Schiller innerhalb seiner Familie gezeigt, sowie in den Vorstellungen seines Glaubens und seiner Hoffnungen, die für den Zuschauer nachvollziehbar sind. I n bezug auf ,Don Carlos' hat Schiller von einem „Familiengemählde in einem fürstlichen Hauße" gesprochen10. Die Macht der Kunst, die mit der göttlichen Kraft begabt ist, alles zu begrenzen und 6 Philosophische Schriften 1. Teil. Schillers Werke. Nationalausgabe, 20. Bd., 1962, S. 140 f. 7 Schillers Werke. Nationalausgabe, 8. Bd., 1949, S. 4. 8 Ebda. » Ebda, S. 6. 16 I m Brief an W . H . von Dalberg vom 7. Juni 1784. Schillers Werke. Nationalausgabe, 23. Bd., 1956, S. 144.
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zu binden, kann hier anderseits eine neue Wirklichkeit, eine ursprünglichere Natur schaffen, eine moralische Instanz: in der Gestalt des als historisch vorgestellten Helden wird gleichsam „das Große aller Zeiten" 1 1 gezeigt. Seine Anfechtung, die „unglückseligen Gestirne", und sein „Verbrechen", die Verführung durch die Macht, können dann allerdings durch eine vollkommene Darstellung zu einer „ästhetischen Stimmung des Gemüts" führen. Wenn Schillers Beweisführung im 22. Brief über die ästhetische Erziehung des Menschen hier bemüht werden darf, erklärt er diesen „ästhetischen Zustand für den fruchtbarsten in Rücksicht auf Erkenntniß und Moralität." 1 2 Hiermit ist ein hohes Ziel der Tragödie umschrieben. M i t dem Schlußsatz des Prologs zum ,Wallenstein', „Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst" 1 3 wird vordergründig auf die komödienhafte oder opernartige Ausstattung von ,Wallensteins Lager' hingewiesen; angespielt wird hier aber auch auf den tragischen Ausgang des Gesamtwerks. Zwei Beispiele mögen noch verdeutlichen, in welcher Weise Schiller seine Ansicht der Tragödie verstanden wissen wollte. M i t dem Beispiel von Shakespeares ,Coriolan c zeigt Schiller auf, wie Coriolan „die Frucht aller bisherigen Siege" verlierend „vorsätzlich seinem Verderben" entgegenrennt. Schiller teilt die Ansicht Shakespeares; er weiß, daß „jede Aufopferung des Lebens... zweckwidrig" ist, „denn das Leben ist die Bedingung aller Güter." Die Tragödie aber, das dramatische Spiel, kann absolut entscheiden, ohne Rücksicht auf Zweckmäßigkeit und Billigkeit; allein unter diesem Aspekt ist die „Aufopferung des Lebens in moralischer Absicht und in hohem Grad zweckmäßig, denn das Leben ist nie für sich selbst, nie als Zweck, nur als Mittel zur Sittlichkeit wichtig." 14 — Das zweite Beispiel ist Schillers ,Maria Stuart'. I n seinem Brief an Goethe vom 18. Juni 1799 zieht Schiller — deutlich wie sonst nirgends — die Vorstellung der antiken Tragödie (wie er sie sieht) heran. Unter die „eigentlich tragische Qualität" dieses Stoffes gehöre besonders, „daß man die Katastrophe gleich in den ersten Szenen sieht und, indem die Handlung des Stücks sich davon wegzubewegen scheint, ihr immer näher und näher geführt wird." Die dadurch von Beginn an feststehende und unausweichliche Vernichtung hat die Erinnerung an die antike Tragödie geweckt: „ A n der Furcht des Aristoteles fehlt es also nicht, und das Mitleiden wird sich auch schon finden". Von der Konzeption des Stückes an hat Schiller als Ziel wiederum die Spiegelung des Allgemeinen und Einzelnen vor Augen. Maria Stuart w i l l er — trotz aller Erhebung der Gestalt in eine heiligmäßige Dimension — „immer als ein physisches Wesen 11
Vers. 44 aus Schillers Gedicht , A n die Freunde' aus dem Jahre 1802. Philosophische Schriften (s. o. Anm. 6) S. 379. i» Schillers Werke. Nationalausgabe, 8. Bd., 1949, S. 6. 14 I n seinem Aufsatz ,Ueber den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen*. Philosophische Schriften (s. o. Anm. 6) S. 141. 12
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halten, . . . das Pathetische muß mehr eine allgemeine tiefe Rührung als ein persönlich und individuelles Mitgefühl sein. Sie empfindet und erregt keine Zärtlichkeit, ihr Schicksal ist nur heftige Passionen zu erfahren und zu entzünden." 15 Diese gesuchte Distanz zeigt sich vorzüglich im 5. Akt, in der großen Abschiedszeremonie Maria Stuarts. Der moralische Sieg Maria Stuarts wird noch deutlicher durch die Reaktion ihrer Gegenspielerin. Nach dem Gesagten dürfte es jedoch nicht erlaubt sein, hier auch von einer Tragödie Elisabeths zu sprechen. In ihrer Isolierung wird vielmehr die moralische Position Marias auch für sie deutlich. Schiller hat die Möglichkeit einer solchen Deutung auch abstrakt formuliert: „Ein heller Verstand und eine von jeder Naturkraft also auch von moralischen Trieben . . . unabhängige Vernunft wird erfodert, die Verhältnisse moralischer Pflichten zu dem höchsten Princip der Sittlichkeit richtig zu bestimmen."16 Im gleichen Moment hat sich Schiller gegen Kritik verwahrt. Durch Thomas Manns SchillerRede wurde das Goethewort seiner Schwiegertochter Ottilie gegenüber, als sie sagte, Schiller langweile sie oft, wieder allgemeiner bekannt. Goethe soll ihr gesagt haben „Ihr seid alle viel zu armselig und irdisch für ihn." 1 7 Schiller hat dies — deutlicher — bereits vorweggenommen: „Aber auch das wahrste und höchste Erhabene ist, wie man weiß, Vielen Ueberspannung und Unsinn, weil das Maaß der Vernunft, die das Erhabene erkennt, nicht in allen dasselbe ist. Eine kleine Seele sinkt unter der Last so großer Vorstellungen dahin, oder fühlt sich peinlich über ihren moralischen Durchmesser auseinander gespannt."18 — Hierbei bleibt noch zu bemerken, daß diese Äußerungen keiner direkten Polemik entstammen; sie wurden lange vor der Auseinandersetzung mit den Romantikern formuliert. — Die zitierten Texte sollten hauptsächlich zu einer »Theorie der Tragödie' verwandt werden, die Schiller zu Beginn der neunziger Jahre plante. Über Präliminarien hinaus ist dieser Plan allerdings nicht gediehen. Vor allem ist es noch nicht zu einer klaren Definition der Tragödie gekommen. Neben einer schweren Krankheit Schillers im Jahre 1791 und dem Vordringen anderer Pläne war hier vielleicht auch die Bindung an Goethe hinderlich. Bei aller gegenseitigen Anregung, die nicht hoch genug veranschlagt werden kann, spielte aber wohl auch die Abneigung Goethes gegen alles Unausweichliche, gegen eine nicht aufzuhaltende Vernichtung eine Rolle. So kann festgestellt werden, daß Goethe in seinem Briefwechsel mit Schiller — etwa in bezug auf Wallenstein — viele Einzelzüge beschrieb oder erläuterte, doch kaum die Gesamttendenz des Stücks. Vom „Tragischen" 15 Briefwechsel (s. o. Anm. ie Philosophische Schriften 1 7 V e r s u c h . . . (s. o. Anm. Philosophische Schriften
4), 2. Bd., S. 225. (s.o. Anm. 6) S. 144. 3) S. 135. (s. o. Anm. 6) S. 144 f.
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oder von der „Tragödie" ist dabei so gut wie nie die Rede. Als Erklärung mag dienen, was Goethe am 9. Dezember 1797 an Schiller schrieb: „Ich kenne mich zwar nicht selbst genug, um zu wissen, ob ich eine wahre Tragödie schreiben könnte, ich erschrecke aber bloß vor dem Unternehmen und bin beinahe überzeugt, daß ich mich durch den bloßen Versuch zerstören könnte." 19 Schiller hat dem widersprochen. Aus seiner Antwort ist eine Skizze der Maßstäbe eines Tragödiendichters erkennbar, dessen Werk indes nicht auf das Theater beschränkt zu bleiben braucht. Am 12. Dezember 1797 schrieb er an Goethe: „ I n allen Ihren Dichtungen finde ich die ganze tragische Gewalt und Tiefe, wie sie zu einem vollkommenen Trauerspiel hinreichen würde, im Wilhelm Meister liegt, was die Empfindung betrifft, mehr als Eine Tragödie; ich glaube, daß bloß die strenge gerade Linie, nach welcher der tragische Poet fortschreiten muß, Ihrer Natur nicht zusagt." Einen weiteren Hinderungsgrund glaubt Schiller auch darin sehen zu können, daß Goethe die „Berechnung auf den Zuschauer" fremd sei. Schließlich erkennt er in Goethe den „Dichter in seiner generischen Bedeutung" überhaupt. In ihm findet er „alle p o e t i s c h e n Eigenschaften des Tragödiendichters in reichlichstem Maß." Eine Hinderung könnte höchstens „ i n den nicht poetischen Erfordernissen liegen". 20 Eine Interpretation dieser Stelle müßte den Aufsatz ,Über naive und sentimentalische Dichtung' zu Rate ziehen. Dies ist in diesem Rahmen nicht möglich. — Goethe besaß — was er dem Freund verschwieg — nicht den Glauben an die Macht der Tragödie. In seiner ,Nachlese zu Aristoteles Poetik', die 1827 in ,Kunst und Altertum' erschien, bemerkte er dazu: „ H a t nun der Dichter an seiner Stelle seine Pflicht erfüllt, einen Knoten bedeutend geknüpft und würdig gelös't, so wird dann dasselbe in dem Geiste des Zuschauers vorgehen; die Verwicklung wird ihn verwirren, die Auflösung aufklären, er aber um nichts gebessert nach Hause gehen: er würde vielmehr, wenn er ascetischaufmerksam genug wäre, sich über sich selbst verwundern, daß er eben so leichtsinnig als hartnäckig, eben so heftig als schwach, eben so liebevoll als lieblos sich wieder in seiner Wohnung findet wie er hinausgegangen."21 — Diese Meinung Goethes stimmt indes nicht mit der Forderung Schillers überein. Für ihn ist die Tragödie nicht nur Anlaß, sondern die volle Substanz seines Werkes. Sowohl der Inhalt, d. h. der Stoff, als auch selbst die Sprache eines Werkes sind sekundär, untergeordnet; in seinem Essay ,Ueber die tragische Kunst' aus dem Beginn der neunziger Jahre empfiehlt er daher: „Ein Dichter, der sich auf seinen wahren Vortheil versteht, wird das Unglück nicht durch einen bösen Willen, der Unglück beabsichtigt, noch viel 19 Briefwechsel (s. o. A n m . 4) S. 444. 20 Ebda, S. 446. 2 1 Goethes Werke, hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. 1. Abt., Bd. 41, 2 (1903), S. 251.
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weniger durch einen Mangel des Verstandes, sondern durch den Zwang der Umstände herbeiführen." 22 Neben dieser mehr technischen Anweisung skizziert Schiller die Struktur der Tragödie als eine „dichterische Nachahmung einer zusammenhängenden Reihe von Begebenheiten . . . welche uns Menschen in einem Zustand des Leidens zeigt, und zur Absicht hat, unser Mitleid zu erregen." 23 Von den sechs Möglichkeiten der Nachahmung soll hier die der „mitleidswürdigen Handlung" besonders hervorgehoben werden. Hier ist auch die Geschichte als Vorwurf der Tragödie zu subsumieren. I m Falle eines Widerstreits der historischen und poetischen Wahrheit gibt Schiller der letzteren den Vorzug. Selbst bei „grober Verletzung der historischen" Wahrheit könne die „poetische nur um so mehr gewinnen". 24 I n seinem Fazit ist nun d i e „Tragödie . . . vollkommen, in welcher die tragische Form, nehmlich die Nachahmung einer rührenden Handlung am besten benutzt worden ist, den mitleidigen Affekt zu erregen. Diejenige Tragödie würde also die vollkommenste seyn, in welcher das erregte Mitleid weniger Wirkung des Stoffs als der am besten benutzten tragischen Form ist." 2 5 Es ist nicht ganz deutlich, was Schiller unter der „tragischen Form" versteht. I n dem etwas späteren Aufsatz ,Über das Pathetische' wird dies eingehender erklärt. Schiller folgt hier vornehmlich den Ansichten Lessings, Winckelmanns und Kants (,Theorie des Erhabenen'). Den Begriff des „Pathos" versteht Schiller weithin als die Übersetzung der griechischen Vokabel: „Leiden". Das Pathetische ist identisch mit Schillers Prinzip der Freiheit und mit dem Begriff der Würde (in ,Anmut und Würde'). Dies zum Verständnis vorausgesetzt, führt Schiller aus: „P a t h o s ist also die erste und unnachläßliche Foderung an den tragischen Künstler, und es ist ihm erlaubt, die Darstellung des Leidens so weit zu treiben, als es, o h n e N a c h t h e i l f ü r s e i n e n l e t z t e n Z w e c k , ohne Unterdrückung der moralischen Freyheit, geschehen kann." 2 6 — Schillers Aufsatz gliedert sich in zwei Teile, den Gesetzen „der tragischen Kunst" entsprechend: 1. in die Darstellung der leidenden Natur, 2. in die Darstellung des moralischen Widerstandes gegen das Leiden. — Die Kunst hat — im Sinne Schillers — die Aufgabe, den Menschen „moralisch auszubilden". Dies ist im weitesten Sinne zu verstehen. Die Dichtkunst ist hier eingeschlossen. Ihre Zuordnung kann vielleicht am besten das Ziel des Tragischen verdeutlichen, dem Schiller ein solch großes Gewicht zumißt: „Die Dichtkunst führt bey dem 22 Philosophische Schriften (s.o. Anm. 6) S. 155. 23 Ebda, S. 164. 24 Ebda, S. 167. 25 Ebda, S. 169. 26 Ebda, S. 196.
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Menschen nie ein besondres Geschäft aus, und man könnte kein ungeschickteres Werkzeug erwählen, um einen einzelnen Auftrag, ein Detail, gut besorgt zu sehen. Ihr Wirkungskreis ist das Total der menschlichen Natur, und bloß, insofern sie auf den Karakter einfließt, kann sie auf seine einzelnen Wirkungen Einfluß haben. Die Poesie kann dem Menschen werden, was dem Helden die Liebe ist. Sie kann ihm weder rathen, noch mit ihm schlagen, noch sonst eine Arbeit für ihn thun; aber zum Helden kann sie ihn erziehn, zu Thaten kann sie ihn rufen, und zu allem, was er seyn soll, ihn mit Stärke ausrüsten." 27 Hiermit ist der Kreis zu ,Wallenstein' wieder geschlossen; das Ziel des Dramas ist damit ebenso bezeichnet. — Die erste wichtige Arbeit war, das Sujet zu entstofflichen. Die Charaktere von Schillers ,Wallenstein' und die anderen Gestalten des Dramas mußten hervortreten — unabhängig von ihrer historischen Existenz oder von ihrer Bindung an den Autor. Am 28. November 1796 schrieb er bereits darüber an Goethe: „Es w i l l mir ganz gut gelingen, meinen Stoff außer mir zu halten und nur den Gegenstand zu geben. Beinahe möchte ich sagen, das Sujet interessiert mich gar nicht, und ich habe nie eine solche Kälte für meinen Gegenstand mit einer solchen Wärme für die Arbeit in mir vereinigt." 28 — Christian Gottfried Körner gegenüber drückt sich Schiller noch deutlicher aus (28. November 1796): Wallensteins „Character . . . ist niemals edel und darf es nie seyn, und durchaus kann er nur furchtbar, nie eigentlich groß erscheinen. Um ihn zu erdrücken, darf ich ihm nichts großes gegenüber stellen; er hält mich dadurch nothwendig nieder. Mit einem Wort, es ist mir fast alles abgeschnitten, wodurch ich diesem Stoffe nach meiner gewohnten Art beykommen könnte, von dem Inhalte habe ich fast nichts zu erwarten, alles muß durch eine glückliche Form bewerkstelligt werden, und nur durch eine kunstreiche Führung der Handlung kann ich ihn zu einer schönen Tragödie machen." Die Schwierigkeit der Aufgabe hat Schiller in besonderem Maße gereizt. „Gerade so ein Stoff mußte es seyn, an dem ich mein neues dramatisches Leben eröfnen konnte. Hier, wo ich nur auf der Breite eines Schermessers gehe, wo jeder Seitenschritt das Ganze zu Grunde richtet, kurz, wo ich nur durch die einzige innere Wahrheit, Nothwendigkeit, Stätigkeit und Bestimmtheit meinen Zweck erreichen kann, muß die entscheidende Crise mit meinem poetischen Character erfolgen." 29 Die weitere Entstehungsgeschichte des ,Wallenstein' ist bis in Einzelheiten bekannt, vornehmlich durch die Korrespondenzen mit Goethe, Körner und 27 Ebda, S. 219. 28 Briefwechsel (s. o. Anm. 4) S. 265. 20 Schillers Briefe, hrsg. u. mit Anmerkungen versehen v. F. Jonas, 5. Bd. (1895), S. 121 f.
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Wilhelm von Humboldt. Dem soll hier nicht weiter nachgegangen werden. — Es wäre sinnvoll, das Stück hier in seinem Aufbau und in der Konfrontation der Figuren zu untersuchen. Dies kann indes aus zeitlichen Gründen nicht geschehen. Festgehalten werden soll jedoch die besondere Position Wallensteins. Im Drama ist er stets gegenwärtig, auch wenn er nicht auftritt (wie in ,Wallensteins Lager' und im l . A k t der jPiccolomini') bzw. die Bühne verlassen hat. Um so auffallender ist der einzige große Monolog Wallensteins im 4. Auftritt des 1. Aktes von ,Wallensteins Tod c . — Wallenstein ist hier noch im Glauben, er habe die Zügel fest in der Hand. Zu Beginn der ,Piccolominie, als Wallenstein noch nicht auf der Bühne erschienen ist, stand sein Untergang jedoch bereits fest. Schiller hat dies durch eine Reihe wörtlicher Entsprechungen begreiflich gemacht. Besonders das Wort Octavios dem Sohn gegenüber ist hier etwa anzuführen: M e i n Sohn! Laß uns die alten, engen Ordnungen Gering nicht achten! Köstlich unschätzbare Gewichte sinds, die der bedrängte Mensch A n seiner Dränger raschen Willen band; Denn immer war die W i l l k ü r fürchterlich — Der Weg der Ordnung, ging er auch durch Krümmen, Er ist kein Umweg. . . . Des Eigentums gemeßne Grenzen ehrend — . 3 0
Wallensteins Ansinnen dagegen, nach fünf Akten dramatischen Spiels, formuliert er selbst als Frage und Antwort: U n d was ist dein Beginnen? Hast du dirs Auch redlich selbst bekannt? D u willst die Macht, D i e ruhig, sicher thronende erschüttern, D i e in verjährt geheiligtem Besitz, I n der Gewohnheit festgegründet ruht, D i e an der Völker frommem Kinderglauben M i t tausend zähen Wurzeln sich befestigt. 31
Die wörtlichen Entsprechungen lassen weitergehende Schlüsse zu, als dies zunächst einzuleuchten scheint. Das Ergebnis des Dramas ist bereits festgelegt, wenn die handlungsführenden Personen noch nicht ganz die Wege beschreiten, die die Tragödie auslösen. — I n bezug auf die Geschichte ist es selbstverständlich, daß das Stück des 30jährigen Krieges in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts geschildert wird. — A m Ende seines Monologs erklärt Wallenstein die Grenzen seiner historischen Bindung und spricht ihre fast unumgängliche Sprengung aus. Hier wird das Drama um Wallenstein zu einem Drama um menschliche Geschichte überhaupt. Wallenstein ist es nicht so Schillers Werke (s. o. Anm. 13), S. 77. 31 Ebda, S. 185.
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gelungen — obschon er es anstrebte —, das objektive Recht so zu ändern, daß er selbst König sein könnte. Die Geschichte gibt manches Beispiel für eine ähnliche Änderung. Man könnte direkt an einen Rückgriff auf Tacitus denken, der im 11. Buch seiner Annalen erklärt: „Alles, was man heute für uralt hält, ist einmal eine Neuerung gewesen. . . . Auch die jetzige Neuerung wird zu etwas Altem werden, und was wir heute durch Beispiele aus der Vergangenheit zu verteidigen suchen, wird eines Tages selbst als Beispiel angeführt werden." 32 I n Schillers Text klingt dies zwar anders; der geheime Wunsch Wallensteins ist jedoch nicht überhörbar: . . . Das ganz Gemeine ists, das ewig Gestrige, Was immer war und immer wiederkehrt, U n d morgen gilt, weils heute hat gegolten! W e h dem, der an den würdig alten Hausrat I h m rührt, das teure Erbstück seiner Ahnen! Das J a h r übt eine heiligende K r a f t , Was grau für Alter ist, das ist ihm göttlich. Sei im Besitze und du wohnst i m Recht. 3 3
Für den späteren Leser blickt deutlich das ausgehende 18. Jahrhundert durch. Die Veränderbarkeit des Rechts, nach der französischen Revolution ein immer selbstverständlicher werdendes Element der menschlichen Gesellschaft, wäre für Wallenstein vielleicht durch eine geglückte Empörung erreichbar gewesen. Wallenstein wird zur unauflösbaren Tragik des zu falscher Zeit Geborenen. Neben der historischen Tragödie soll ein Beispiel der moralisch-persönlichen angeführt werden, im Verhältnis Wallensteins zu Max Piccolomini. Max Piccolomini hatte Wallensteins Gattin und seine Tochter Thekla von Wien in das böhmische Lager begleitet. Die Reise war für ihn die erste Erfahrung des Friedens. Diese Erfahrung geht einher mit der aufkeimenden Liebe zu Thekla. — Die Ankündigung des Verlobungswunsches hatte bei Wallenstein nur eine Abweisung zur Folge: Für Theklas Heirat hatte er „königlichen Schmuck"34 vorgesehen. — I m Verlauf des Dramas wird das Verhältnis Wallensteins zu Max geändert. Max betonte zwar zu Beginn des 2. Teils, daß er „zeitlebens . . . ein Gefangner" des Namens Friedland bleiben wolle 3 5 ; dies wurde in ganz anderem Sinn auf die Probe gestellt. Max muß sich vom Verrat Wallensteins überzeugen. Da er die Pläne seines Vaters Oktavio ebenso kennt, ist der gesuchte Tod die einzige Lösung, die s2 33 34 35
Lateinisch-deutsch, ed. C. Hoffmann, München 1954, S. 493. Schillers Werke (s.o. Anm. 13), S. 185. Ebda, S. 89. Ebda, S. 91.
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für ihn offensteht. Wallensteins Stellung zu Max ist inzwischen schon so verändert, daß er ihm nahesteht wie ein Freund. — Nach Max's Tod — der eigene Untergang steht kurz bevor — erkennt Wallenstein, was Max ihm wirklich bedeutete. I n einer fast traumartigen Vision erscheint Max ihm als ein Wunschbild, in dem sich Wallenstein gern selbst sehen möchte: Doch fühl ichs wohl, was ich in ihm verlor. Die Blume ist hinweg aus meinem Leben, U n d kalt und farblos seh ichs vor mir liegen. Denn er stand neben mir, wie meine Jugend, Er machte mir das Wirkliche zum Traum, U m die gemeine Deutlichkeit der Dinge D e n goldnen D u f t der Morgenröte webend — I m Feuer seines liebenden Gefühls Erhoben sich, mir selber zum Erstaunen, Des Lebens flach alltägliche Gestalten. — Was ich mir ferner auch erstreben man, Das Schöne ist doch weg, das kommt nicht wieder, Denn über alles Glück geht doch der Freund, Ders fühlend erst erschafft, ders teilend m e h r t . 8 6
Diese Trauerrede Wallensteins auf den Tod seines Freundes Max hat große Ähnlichkeit mit einem der bedeutendsten Schillerschen Gedichte, ,Nänie f : Auch das Schöne muß sterben! Das Menschen und Götter bezwinget, Nicht die eherne Brust rührt es des stygischen Zeus. Einmal nur erweichte die Liebe den Schattenbeherrscher, U n d an der Schwelle noch, streng, rief er zurück sein Geschenk. Siehe, da weinen die Götter, es weinen die Göttinnen alle, D a ß das Schöne vergeht, daß das Vollkommene stirbt. Auch ein Klaglied zu sein im M u n d der Geliebten, ist herrlich Denn das Gemeine geht klanglos zum Orkus hinab. 3 7
Die Nähe dieses Gedichtes zur Aussage im ,Wallensteinc ist symptomatisch für Schiller. Die Tragödie als Form ist zwar auf das Theater beschränkt; das Briefzitat Schillers an Goethe vom 12. Dezember 1797 sagt aber deutlicher, daß „tragische Gewalt und Tiefe" auch außerhalb des Theaters existieren könnten. Die Aussagen Schillers umfassen eine spezifische Ansicht des Autors von der Welt und ihre Darstellung durch die Kunst in einer bestimmten Epoche. Die angeführten Beispiele sind Muster zum Handeln. Sie fordern nicht direkt zur Nachahmung oder zur Ablehnung auf; sie zielen vielmehr auf eine Besinnung, was in diesem Augenblick recht zu tun sei. Ebda, S. 333 f. Schillers Werke, hrsg. v. L. Bellermann, S. 244. Das Gedicht entstand im Jahre 1799. 3 7
1. Bd., Leipzig und Wien (1895),
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In dieser Weise schließt sich der Kreis: die theoretischen Äußerungen, verdeutlicht durch Zitate aus der Korrespondenz Schillers (vornehmlich mit Goethe), führten zur Entstehungsgeschichte des Wallenstein und zum Text der Tragödie. Die tragischen Höhepunkte haben ihre Entsprechungen wiederum in philosophischen Texten, zu denen etwa auch das Gedicht ,Näniec zählt. Obschon Schiller keine Theorie der Tragödie geschrieben hat, ist aus seinem Werk dennoch zu erschließen, was er unter den Begriffen Tragik und Tragödie verstand.
TRAGIK UND KOMIK BEI F R I E D R I C H DÜRRENMATT* Von Günter Niggl
Es mag überraschen, in einer Vortragsreihe über die Tragik und das Tragische am Ende dem Namen Dürrenmatt zu begegnen, der unter allen zeitgenössischen Dramatikern vielleicht am heftigsten die Unmöglichkeit der Tragödie heute betont, ja gerade auf dieser These seinen Komödienbegriff gegründet hat. Weil aber Dürrenmatt diese seine Vorstellung von der Komödie in immer neuen Variationen mit dem Begriff des Tragischen konfrontiert, so daß erst der stete Antagonismus von Komik und Tragik die Theorie wie die Praxis seines dramatischen Schaffens erhellen kann, mag Dürrenmatt geeignet sein, die besondere Situation der Gegenwartsliteratur zum Problem des Tragischen stellvertretend zu charakterisieren. Es empfiehlt sich dabei, chronologisch vorzugehen und sowohl anhand wichtiger theoretischer Äußerungen des Autors als auch durch knappe Analysen seiner bedeutendsten Stücke eine Antwort auf die Frage nach dem wechselnden Verhältnis von Tragik und Komik auf Dürrenmatts Bühne zu finden 1. * I n einer ersten Fassung als Habilitations-Probevorlesung an der Universität München am 18. M a i 1973, in der vorliegenden Form als Vortrag auf der Generalversammlung der Görres-Gesellschaft in Koblenz am 27. September 1976 gehalten. Der Vortragsstil ist bewußt beibehalten, die Anmerkungen, auf das N o t wendigste beschränkt, wurden für den Druck hinzugefügt. 1 Zur Polarität von Tragik und K o m i k bei Dürrenmatt vgl. aus der neueren Forschungsliteratur vor allem Jacob Steiner, D i e Komödie Dürrenmatts. I n : D e r Deutschunterricht 15 (1963), H . 6, S. 81 - 98, und Beda Allemann, D i e Struktur der Komödie bei Frisch und Dürrenmatt. I n : Das deutsche Lustspiel I I . Hrsg. von Hans Steffen (Kleine Vandenhoeck-Reihe 277 S). Göttingen 1969, S. 2 0 0 - 2 1 7 . — Auch Ulrich Profitlich kommt in seiner Einführung ,Friedrich Dürrenmatt. Komödienbegriff und Komödienstruktur' (Stuttgart 1973) des öfteren auf das Begriffspaar K o m i k — Tragik bei Dürrenmatt zu sprechen (S. 33 f., 63 - 67, 79 f.), zeichnet dann aber stets seinen frühen Gegensatz-, nie seinen späteren Kongruenzcharakter. — Bei K a r l S. Guthke w i r d die Problematik dieser paradoxen Spannung durch die Übertragung des traditionellen Terminus „Tragikomödie" auf Dürrenmatt eher verwischt als verdeutlicht, zumal er ihn ausdrücklich von der „Groteske" unterscheidet ( K a r l S. Guthke, Geschichte und Poetik der deutschen Tragikomödie. Göttingen 1961, S. 364 ff., 379 ff.; OersDie moderne Tragikomödie. Theorie und Gestalt. Göttingen 1968, S. 80 - 82, 132 ff.).
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Eine erste Gruppe soldier dramaturgischen Überlegungen begegnet uns in der ,Anmerkung zur Komödie' (ursprünglich ein Artikel in der Züricher ,Weltwoche' 1952) und in mehreren Abschnitten seines berühmten großen Yortrags ,Theaterprobleme' (1954/55)2. Diese beiden Texte gehören deshalb zusammen, weil hier Dürrenmatt nach seinen Bühnenerfolgen mit,Romulus', der ,Ehe des Herrn Mississippi' und ,Ein Engel kommt nach Babylon' sich erstmals ausdrücklich zur dramatischen Spezies der Komödie bekennt und diese seine Entscheidung sowohl mit gattungstheoretischen als auch mit zeitgeschichtlichen Gründen zu erklären unternimmt. Die ,Anmerkung zur Komödie' liefert vor allem die gattungstheoretischen Argumente. Sie betont die Besonderheit des Aristophanes, der weder vergangene Mythen wie die Tragödie noch allgemeine Typen wie die neue attische Komödie, sondern erfundene Handlungen bringt, die in der Gegenwart spielen; und sie erklärt diesen Charakter der aristophanischen Komödie als eines Zeitstückes wie auch ihre daraus resultierende besondere Struktur zum Muster für die moderne Dramatik. Diese Struktur sei durch Einfälle bestimmt, die in die Welt der aristophanischen Stücke wie Geschosse einfallen und sie durch Auf werf en eines Trichters ins Komische umgestalten, und zwar im Sinne einer totalen, Gelächter erregenden Verfremdung, oder um Dürrenmatts zentralen Ausdruck dafür zu gebrauchen, einer Verwandlung ins Groteske. Darin sieht Dürrenmatt für Aristophanes wie für den modernen Dramatiker das einzige Mittel, die nötige künstlerische Distanz zum aktuellen Stoff zu gewinnen, wenn anders er es vermeiden will, in Tendenz oder Reportage zu verfallen. Wenn also Zeitstück — und nach dessen Möglichkeit fragt hier Dürrenmatt ja in erster Linie — dann nicht die Tragödie, die die Distanz gerade überwindet, um uns zu erschüttern, sondern nur die Komödie, die allein zur geforderten Distanz imstande ist. Warum freilich das einzige Mittel dafür das Groteske sei, warum also ein modernes Zeitstück auf Aristophanes zurückgreifen müsse und nicht auch an die neuere Gesellschaftskomödie (mit ihrer psychologischen Präzision) anknüpfen könne, diese Frage beantworten bald darauf die ,Theaterprobleme'. Dort findet sich die bekannte These, daß die heutige Welt, der heutige Staat unüberschaubar, abstrakt-bürokratisch geworden sei, und deshalb weder von der Dramatik Schillers noch von der Komödie Molières dargestellt werden könne, weil beide eine gestaltete Welt voraussetzen. „Aus Hitler und Stalin lassen sich keine Wallensteine mehr machen"3, die Kunst dringe heute nur noch zu den 2 Friedrich Dürrenmatt ( = F . D . ) , Theaterschriften und Reden. Zürich S. 1 3 2 - 137 (,Anmerkung zur Komödie'), S. 9 2 - 1 3 1 (,Theaterprobleme'). 3 Ebda., S. 119.
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Opfern vor, wenn sie überhaupt noch Menschen erreicht. Erst diese neue These von der anonym gewordenen Welt macht die groteske Komödie als einzigmögliche Weltgestalterin in der Kunst verständlich, wenn nunmehr das Groteske als die „Gestalt einer Ungestalt", als das „Gesicht einer gesichtslosen Welt" definiert wird 4 , womit zugleich Tragödie und Gesellschaftskomödie nicht nur von der Gegenwarts-, sondern von der Weltdarstellung überhaupt ausgeschlossen werden. Über dieses radikale Ergebnis seiner Schlußfolgerungen scheint Dürrenmatt selber etwas erschrocken zu sein, denn er versucht diesen Rigorismus dadurch wieder zu mildern, daß er nur die reine Ausprägung der Tragödie in der heutigen Dramatik für ausgeschlossen hält, hingegen an die Möglichkeit glaubt, aus der grotesken Komödie heraus das Tragische zu erzielen, es als einen schrecklichen Moment und Abgrund hervorzubringen 5; so zeichnet sidi am Ende in diesen frühen Überlegungen Dürrenmatts ein gegenüber Aristophanes neuer Spannungsbogen zwischen dem grotesken Einfall und einer tragischen Peripetie als Strukturprinzip der modernen Zeitkomödie ab. Der eigentliche Grund für diesen auffälligen Kompromiß liegt aber in Dürrenmatts unumgänglicher Auseinandersetzung mit einer damals in Theorie und Praxis übermächtigen Konkurrenz, mit Bertolt Brecht. Auch Brecht hatte Distanz von Stoff und Geschehen gefordert, nur hatte er die Tragödie mit dem Lehrstück und dem epischen, d. h. mit einem demonstrierenden und kommentierenden Theater vertauscht, weil er die Welt noch für überschaubar und also veränderbar hielt. Nicht gegen die praktische Dramatik Brechts, wohl aber gegen die sie begründende dialektische Philosophie polemisiert Dürrenmatt, indem er ihr die Chaos-These entgegenstellt; dennoch geht er damals noch mit Brecht einig über den Zweck der Bühne als einer pädagogischen Anstalt, da ja auch die groteske Komödie Dürrenmatts als ein politisches Theater ihr Publikum mit der Gegenwart konfrontieren will. Darum erklärt er in diesen Jahren so betont das Groteske für eine Kunst nicht der Nihilisten, sondern der Moralisten; die Komödie müsse keineswegs ein Ausdruck der Verzweiflung sein, vielmehr könne sich auch in ihr der Entschluß darstellen, die Welt zu bestehen; auch in ihr sei es immer noch möglich, den „mutigen Menschen" zu zeigen, ja dies — so betont Dürrenmatt — sei sogar eines seiner Hauptanliegen, und er nennt Romulus, Übelohe, Akki, alles Zentralfiguren seiner frühen Komödien, als Beispiele dafür 6 . Natürlich kann ihr Mut das sie umgebende Chaos nicht verständlich machen, doch werde allein schon durch die Musterung des anonymen Gegners die geforderte Distanz gewonnen und wenigstens in der eigenen 4 5 6
Ebda., S. 122. Ebda., S. 122 f. Ebda., S. 123.
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Brust die verlorene übersichtliche Weltordnung wiederhergestellt 7. Mit den Begriffen Mut, Kampfbereitschaft, ideelle Restitution der alten Weltordnung werden nun aber sogar von Dürrenmatt die Umrisse eines tragischen Helden gezeichnet, der ja auch noch bei Brecht anzutreffen ist — doch bleibt zu prüfen, ob und wieweit aus Dürrenmatts aristophanischer Komödie dieser tragische Held wirklich hervorgehen konnte. Als Beispiel dafür wähle ich das etwa gleichzeitig mit den ,Theaterproblemen' entstandene und 1956 uraufgeführte Stück ,Der Besuch der alten Dame' 8 ; Dürrenmatt hat es als einziges im Untertitel eine „tragische Komödie" genannt, was eine nachträgliche Anmerkung erläutert als „Komödie, die tragisch endet" 9 . Wieweit wird dieses Programm von der Gestalt des Stückes bestätigt? Der 1. Akt ist identisch mit dem grotesken Einfall: der überraschende Besuch einer Milliardärin in ihrer wirtschaftlich ruinierten Heimatstadt, die von ihr entscheidende finanzielle Hilfe erhofft. Grotesk ist dabei nicht nur die äußere Erscheinung der Besucherin und ihres Gefolges, sondern vor allem ihr Stiftungsangebot: eine Milliarde für die Gerechtigkeit, d. h. für die Ermordung des Mitbürgers Alfred 111, ihres einstigen Geliebten, der sie vor mehr als 40 Jahren durch Verleugnung seiner Vaterschaft ins Dirnenelend gestürzt hat. Damit ist die neue Situation gegeben, der Trichter aufgeworfen, der die Welt der Kleinstadt Güllen gleichfalls ins Groteske verwandelt. Wenn man unter diesem Begriff mit Dürrenmatt die Verkehrung der bisherigen vertrauten Weltordnung in eine völlig fremd- und andersartige versteht, so ist sie hier nahezu vollkommen geleistet. Denn die zwei übrigen Akte machen deutlich, wie es sich die alte Dame allein mit ihrer monströsen Finanzkraft leisten kann, die Begriffe Recht und Gerechtigkeit ins gleichfalls Monströse zu verkehren: wie eine Zauberin kann sie sich die Welt, in die sie einbricht und die sie — wie sich herausstellt — bereits total aufgekauft hat, ihren außer- und d. h. unmenschlichen Normen anverwandeln. Obwohl nämlich ihr Angebot zunächst entrüstet abgelehnt wird, sind zu Beginn des 2. Aktes der Bürgermeister und die Mehrzahl der Bewohner unbewußt der neuen Ordnung bereits erlegen, indem sie im Vertrauen auf eine gütliche Einigung allenthalben Kredit aufnehmen und sich den Wohlstand leisten; aber auch die Verfechter der christlich-humanen Tradition: der Pfarrer, der Arzt, der Lehrer, die den kommenden Verrat frühzeitig ahnen, werden nacheinander von der allgemeinen Atmosphäre erfaßt und in die Masse der übrigen aufgesogen; ebendarum aber kann ihr Schicksal 7 Ebda., S. 123. 8 F. D . , D e r Besuch der alten Dame. Eine tragische Komödie. M i t einem Nachwort. Zürich 1956. — Wieder in: F. D . , Komödien I . Zürich 1957, S. 253 - 349. 9 Ebda., S. 349.
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nicht tragisch heißen, weil sie nicht als Zeugen der Freiheit untergehen, sondern mit ihrem anfänglichen Widerstand nur um so furchtbarer die Radikalität ihrer Verzauberung zu willenlosen Werkzeugen der neuen Macht beweisen. Deshalb würden auch die der Tragödie geläufigen Begriffe der „inneren Entwicklung" oder „inneren Entscheidung" hier den Sachverhalt verfehlen. Die Verwandlung ins Groteske geschieht mit einem Schlage und der Verlauf der Szenen dient lediglich dazu, das bereits Geschehene nur noch zu enthüllen, indem ihre totale Abhängigkeit von der Besucherin sie vom wirtschaftlichen Leichtsinn zur moralischen Kritik an 111 bis zur offenen Drohung und Ausführung des Kollektivmordes führt. Wer dies am frühesten voraussieht, ist Alfred 111, weil er, als Tauschobjekt isoliert, sofort Distanz zur verfremdeten Umwelt gewinnt und schon in der Kreditaufnahme eine Spekulation auf seinen Tod erblickt. Seine Angst, seine Gegenanklage und Forderung an die Behörde, die Mordanstifterin zu verhaften, noch mehr aber sein aus innerer Ohnmacht scheiternder Fluchtversuch und die nach längerem Ringen getroffene Entscheidung, den Tod als gerechte Sühne für seine (nur juristisch) verjährte Tat anzunehmen, dieser Weg vom Protest zur Bußbereitschaft läßt nun aber doch in 111 jenen mutigen Menschen erscheinen, in dessen Brust die verlorene Weltordnung wiederhergestellt werden kann. I n einer Anmerkung zum ,Besuch der alten Damec (1957) hat Dürrenmatt Alfred III dadurch von allen übrigen Figuren abgehoben, daß er ihn als einen werdenden Helden charakterisiert, der an sich selber die Gerechtigkeit erlebe und groß werde durch sein Sterben 10. Arnold Heidsieck 11 hat energisch bestritten, daß diese Deutung Ills als eines tragischen Helden im Stück selbst verwirklicht sei. Er glaubt, daß die groteske Rächerlaune einer Einzelnen und die ungeheuerliche Bemäntelung des Kollektivmords den Gerechtigkeitsbegriff so sehr verzerre, daß eine sittliche Entscheidung in diesem Raum nicht mehr möglich sei, vielmehr auch die Selbsthingabe Ills der neuen grotesken Ordnung anheimfalle. Einen wesentlichen Umstand muß dabei Heidsieck freilich bagatellisieren: III will nämlich mit seinem Sühneopfer weder die Zachanassian noch seine Henker rechtfertigen — ausdrücklich läßt er es nur für sich als Gerechtigkeit gelten, weshalb er auch den ihm nahegelegten Selbstmord ablehnt. Durch solche radikale Distanzierung beraubt er aber gerade die alte Dame ihrer Bedeutung als unentrinnbarer Schicksalsgöttin, ja sein Entschluß degradiert ihren Besuch zum bloßen Anlaß, sich seinem Gewissen als der allein gültigen Instanz zu unterwerfen. 10
Ebda., S. 348. ^ Arnold Heidsieck, Das Groteske und das Absurde im modernen Drama. (Sprache und Literatur 53). Stuttgart 1969, S. 8 9 - 9 3 („Dürrenmatts D r a m a ,Der Besuch der alten Dame': tragikomisch oder grotesk?"). 11
6 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 19. Bd.
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Als einziger vermag er sich so dem drohenden Zugriff der grotesken Verfremdung zu entziehen, der das übrige Güllen um so rettungsloser verfällt. Am anschaulichsten wird dies gegen Ende in der Mordszene, wo sich das Kollektiv im genauen Bild eines Polypen über sein Opfer senkt, und im Schlußbild der endgültigen Wohlstandshölle, die mit der Kontrafaktur des Antigone-Chors: „Nichts ungeheurer als die Armut" besiegelt wird. Und doch kann diese starke Bildhaftigkeit des Grotesken nicht darüber hinwegtäuschen, daß seine Macht im Grunde gebrochen ist. Der groteske Einfall konnte hier die Welt noch nicht total verwandeln, gegen ihre Verführungsgewalt ist Widerstand noch möglich geblieben. Zugleich wird deutlich, daß in diesem Stück das Tragische nicht notwendig aus der Komödie hervorgeht, der Weg Alfred Ills ist keine folgerichtige Entwicklung aus dem Einfall heraus. Seine Entscheidung erscheint vielmehr als überraschender Gegeneinbruch, als eine freie, unvorhersehbare Tat, und weist so auf eine grundsätzliche Antinomie von grotesker Komödie und individueller Tragik, die den Sinn der Groteske im tiefsten angreifen, zumindest ihre extreme Gestalt verhindern muß. *
Der weitere Weg Dürrenmatts ist nun dadurch gekennzeichnet, daß er in seinen späteren Stücken die Konfrontation des tapferen Einzelnen mit einer monströsen Welt mehr und mehr aufgibt. Die Gestalt des Prokuristen Böckmann in ,Frank V. c (1958), sein Schuld- und Freiheitsbekenntnis 12 darf als vorläufig letztes Auftreten des mutigen Menschen auf Dürrenmatts Bühne gelten. Von nun an wird die gewünschte Verbindung des Komischen und Tragischen auf neuen Wegen angestrebt. Diese Neubesinnung Dürrenmatts um 1960 bedeutet zugleich eine entschiedene und endgültige Distanzierung gegenüber Brecht und damit eine wichtige Klärung des eigenen Standorts innerhalb der zeitgenössischen Dramatik. Die theoretischen Hauptzeugnisse für diese neue Phase sind die nachträgliche ,Standortbestimmung zu Frank V. e (I960) 1 3 und ein Werkstattgespräch mit Horst Bienek (1961) 14 . Sie stehen unter dem neuen antinewtonschen und zugleich anti-brechtschen Motto „Hypotheses fingo". Dürrenmatt will damit sagen, daß seine Dramatik inzwischen von der „Wiedergabe der Welt" zur Darstellung von „möglichen Welten", von „möglichen menschlichen Beziehungen" übergegangen sei, worin er eine neue Freiheit zu erreichen glaubt 15 . Von jetzt an sieht Dürrenmatt seine Aufgabe nicht mehr 12 F. D . , Komödien I I und frühe Stücke. Zürich 1959, S. 252 - 256. 13 F . D . , Theaterschriften und Reden, S . 1 8 4 - 189. 14 Horst Bienek, Werkstattgespräche mit Schriftstellern. München: dtv S. 1 2 0 - 136. 15 F . D . , Theaterschriften und Reden, S. 184 f.
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in mehr oder weniger unmittelbarer Didaktik, sondern in einem Spiel mit der Bühne. Er verbietet sich geradezu das bewußte Schreiben der Wahrheit, der Aussage, des Bekenntnisses, und er lehnt darum jetzt auch jede „Entwicklung" dramatischer Figuren ab, weil sich darin in der Tat die Probleme immer am deutlichsten aussprechen. Der Autor, so lautet der Widerruf einer früheren Maxime, sei weder Zyniker nodi Moralist; er vertraue vielmehr darauf, daß allein aus der präzisen Formung des Stoffes die Wahrheit unwillkürlich hervorspringe. Manfred Durzak 1 6 sieht darin einen Rückzug auf die artistische Trennung von Kunst und Leben, das ästhetische Glaubensbekenntnis eines Individualisten, das gegenüber Brecht wie gegenüber dem heutigen Dokumentartheater restaurativ erscheine. Er w i l l daher den weiteren Satz Dürrenmatts, daß die darzustellende „mögliche Welt" auch die „wirkliche Welt" mitenthalten müsse, nur mehr als Widerspruch zu jenem a priori angenommenen Ästhetizismus gelten lassen. Durzak übersieht dabei, daß Dürenmatt hier den Sinnbildcharakter der zu inszenierenden Weltmodelle betont; der aber schafft nur eine anders geartete Beziehung zur Realität und vor allem zum Publikum, dessen aktive Phantasie und instinktive Antwortsuche für Dürrenmatt jetzt die eigentlidie und hinreichende Verbindung von Theater und Wirklichkeit herstellt. Damit aber grenzt sich unser Dramatiker nun auch gegen die andere Seite, gegen das absurde Theater ab, das ja die völlige Isolation des Bühnengeschehens zu seinem Programm erklärt. In eigenwilliger Position zwischen Brecht und Beckett, bedeutet somit Dürenmatts Programm eines präzisen Spiels mit möglichen Welten nicht einen Rückzug in unverbindlichen Bühnenzauber, sondern die Einsicht in den besonderen Charakter der ihm gemäßen Kunstform, zugleich ihre Befreiung von allen störenden Anleihen, die sie bisher nodi bei Schiller oder Brecht gemacht hatte, um von nun an die eigene Art von Gesellsdiaftsbezogenheit desto reiner gestalten zu können. Die erste gelungene Probe aufs Exempel des neuen Programms bedeuten die ,Physiker* (1962) 17 , die schon in ihrem Uraufführungsjahr als eine Zurücknahme Brechts, insbesondere seines ,Galilei', erkannt worden sind 18 . Worin besteht diese Zurücknahme? Brechts Galilei hatte als einzelner im Ausweichen vor der gegnerischen Obrigkeit eine populär gewordene Wissenschaft vom Markt in die Klausur verbannt, damit aber nicht nur den 16 Manfred Durzak, Dürrenmatt, Frisch, Weiss. Deutsches D r a m a der Gegenwart zwischen K r i t i k und Utopie. Stuttgart 1972, S. 36 - 38. 17 F . D . , Die Physiker. Eine Komödie in zwei Akten. Zürich 1962. — Wieder in: F. D . , Komödien I I und frühe Stücke, S. 283 - 355. 18 Hans Mayer, Dürrenmatt und Brecht oder die Zurücknahme. I n : D e r unbequeme Dürrenmatt. (Theater unserer Zeit 4). Basel 1962, S. 9 7 - 116; wieder in: H . M . , Dürrenmatt und Frisch. Anmerkungen. (Opuscula aus Wissenschaft und Dichtung 4). Pfullingen 1963, S. 5 - 2 1 .
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Fortgang der Forschung, sondern auch das neue Lebensgefühl eines Zeitumbruchs vor dem Untergang gerettet — freilich um den Preis einer gefährlichen Entfremdung zwischen Volk und Wissenschaft. Im ganzen ein optimistisches Stück, das dem einzelnen eine weitreichende und noch dazu erfolgreiche Entscheidungsfreiheit für das Wohl der Menschheit zugestand. Selbst für die negative Auswirkung von Galileis Verhalten, nämlich die Atombombe als das klassische Endprodukt seiner wissenschaftlichen Leistung wie seines sozialen Versagens, wird von Brecht in einigen Nachworten 19 noch eine positive Lösung ganz im Sinne seines Helden hervorgehoben: Flucht der großen Physiker aus dem amerikanischen Regierungsdienst, Annahme geringer Lehrstellen, „nur um nicht unter dieser Behörde arbeiten zu müssen"20. Diese Bemerkung bei Brecht könnte der Ausgangspunkt gewesen sein für Dürrenmatts ,Physiker'-Stück, das ebendiese positive Lösungsmöglichkeit widerlegen will. Zunächst allerdings scheint sich auch hier ein wenn auch schwer erkaufter positiver Ausgang abzuzeichnen. Das makabre Satyrspiel des Anfangs: Drei Physiker als Patienten einer Irrenanstalt, die nacheinander ihre Krankenschwestern ermorden, weicht schrittweise der Entdeckung ihrer wahren Ziele und Motive unter freiwilliger Maske: Möbius, der geniale Physiker, ist analog zu Oppenheimer in die Verborgenheit gegangen, um nicht seine Weltformel den Großmächten zu möglichem Mißbrauch auszuliefern, die beiden anderen erweisen sich als Agenten zweier Geheimdienste, die Möbius jeweils für ihre Regierung gewinnen wollen; sie werden aber in einem langen ernsthaften Gespräch von Möbius dazu überredet, mit ihm im Dunkel des Irrenspiels lebenslang zu verharren, — zum Wohl der Menschheit, zur Rettung der eigenen Denkfreiheit und zur Rechtfertigung ihrer Morde, die — wie sich jetzt zeigt — notwendig gewesen waren, um das Geheimnis ihrer Rollen zu wahren. Damit scheint erneut aus der Komödie ein tragischer Schluß nicht ohne pathetisch-feierlichen Ton hervorzugehen. Diese uns schon vertraute Vorstellung wird nun aber in der darauffolgenden eigentlichen Schlußszene radikal zerstört und ins Unwirkliche verwiesen — im überraschenden Schlußauftritt der Irrenärztin Mathilde von Zahnd, die zuvor nur eine Nebenrolle zu spielen schien. In einem zynischen Monolog gibt sie sich als diejenige zu erkennen, die ihr Spiel von Anfang an durchschaut, die Manuskripte von Möbius kopiert und zum Aufbau eines Weltherrschaftsunternehmens verwertet hat und nun ihre Mitwisser wie in einem Gefängnis festhält, wozu sie auch die Morde zur bequemen Rechtfertigung 19 ,Schlußbemerkung zur amerikanischen Aufführung' und ,Preis oder Verdammung des Galilei?'. I n : Bertolt Brecht, Stücke V I I I . Frankfurt/Main 1964, S. 202 - 205. so Ebda., S. 203.
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nach außen gesteuert hat. Das bedeutet den Einfall des Grotesken diesmal erst am Ende des Stücks, der nun rückwirkend und also unangreifbar alle zuvor unternommenen Pläne, Taten, Entschlüsse, also jeglichen Ansatz zur Tragik, gleichfalls ins Bodenlose reißt. Das Groteske der Schlußszene wird vor allem daran erkennbar, daß Dürrenmatt es bewußt in der Schwebe läßt, ob die „alte Dame" dieses Stücks das Spiel des Möbius mit dem König Salomo nur ironisch weiterspielt oder ob sie die einzig wirklich Irre im ganzen Stück ist. Dieses Zwielicht, in das sich nun auch die drei Physiker bei ihrem Abschied vom Publikum zurückziehen, verbietet es zugleich, den Schluß als eine real denkbare Apokalypse, als einen pessimistischen, doch konkreten Gegenentwurf zu Brecht zu werten. Dürrenmatts Zurücknahme besteht vielmehr im Verzicht auf jeden positiven Entwurf und jede Prophétie, sie besteht darin, die paradoxe Herrschaft des Zufalls über alles Planen der Menschen an einem Beispiel sichtbar zu machen, wie es einige der ,21 Punkte zu den Physikern' erläutern, die der Autor seinem Stück als Thesenanhang beigegeben hat 2 1 . Er konkretisiert damit zugleich den Wirklichkeitsbezug der möglichen Welt in den ,Physikern': denn der Einbruch des Unberechenbaren und die absolute Ohnmacht des Menschen als Antwort darauf eröffnen letztlich einen religiösen Hintergrund für dieses Stück, das darum auch entgegen den gleichzeitigen Physikerdramen von Zuckmayer, Jahnn oder Kipphardt 2 2 die Diskussion über moralische Probleme der modernen Naturwissenschaft sich nicht zum Ziel setzt, sondern solche Gewissenskonflikte nur zum Ausgangspunkt nimmt, die Gebundenheit des Menschen an Schuld und Gnade in einem grotesken Bilde zu zeigen. Das aber bedeutet, daß hier Komik und Tragik nicht mehr nebeneinander stehen oder auseinander hervorgehen, sondern in dem durchgängig paradoxen Geschehen ohne Mischung oder gegenseitige Milderung wie die Seiten einer Münze zugleich erscheinen. Man kann auch sagen, für Dürrenmatt sei die einzig mögliche Erscheinungsform des Tragischen auf moderner Bühne die Groteskkomödie in ihrer reinen Ausprägung geworden — tragisch aber nicht mehr im klassizistischen oder idealistischen Sinne, sondern viel eher im Sinne der griechischen Tragödie, noch genauer: des Sophokles, und nicht von ungefähr kommt Dürrenmatt gerade im Zusammenhang mit seinen ,Physikern' wiederholt auf den Oedipus zu sprechen: einmal schon im Punkt 9 zu den ,Physikern', wo es heißt: „Planmäßig vorgehende Menschen wollen ein 21 F. D . , Komödien I I , S. 353 - 355, bes. die Punkte 7 - 9 . 22 Vgl. Carl Zuckmayer, Das kalte Licht. Frankfurt/Main 1955. — Hans H e n n y Jahnn, D i e Trümmer des Gewissens. D e r staubige Regenbogen. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Walter Muschg. Frankfurt/Main 1961. — Heinar K i p p hardt, I n der Sache J. Robert Oppenheimer. E i n szenischer Bericht. Frankfurt/Main 1964 (edition suhrkamp 64).
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bestimmtes Ziel erreichen. Der Zufall trifft sie dann am schlimmsten, wenn sie durch ihn das Gegenteil ihres Ziels erreichen: Das, was sie befürchten, was sie zu vermeiden suchten (ζ. B. Oedipus)." 23 Und erst kürzlich wieder in einem Gespräch mit Heinz Ludwig Arnold: „Nennen Sie es Zufall oder nennen Sie es Schicksal. Möbius nimmt den falschen Weg: Er wählt das falsche Irrenhaus, nämlich das Irrenhaus, in dem die Leiterin ebenfalls verrückt ist. Hätte er ein anderes gewählt, wäre das Ganze nicht passiert. Und so wählt Oedipus den falschen Weg; hätte er einen anderen Weg eingeschlagen, dann wäre das Ganze nicht passiert." 24 Die Parallelen, vor allem in der Rolle des ohnmächtigen Helden gegenüber seinem Geschick, das er planvoll zu vermeiden suchte, sind nicht zu übersehen, ebensowenig aber der entscheidende Unterschied: denn das „Schicksal" des Oedipus war von den Göttern geschickt, war Ausdruck und Vollzug einer göttlichen Weltordnung, der sich der Mensch zu fügen hatte, um in solchem Leiden zur Größe, zur Erhebung, vielleicht zur Versöhnung zu gelangen, und der Oedipus auf Kolonos deutet dies als eine wesentliche Ergänzung des Oedipus Rex zumindest an. Der „Zufall" dagegen ist nicht von Göttern geschickt, er ist eine blinde Macht, der der Mensch unterworfen ist, ohne daß sich die Möglichkeit einer Versöhnung zeigte. Dadurch, daß der Zufall an die Stelle des Schicksals tritt, wird die Geschichte „grotesk", zum radikalen Zerrbild eines „tragischen" Geschehens, so daß „tragisch" und „komisch" nicht mehr zwei Gegensätze bezeichnen, sondern in der neuen Vorstellungswelt des „Grotesken" und „Paradoxen" als zwei Namen ein- und derselben Sache zusammenfallen. Diese reine Groteske, wie sie in den ,Physikern' erstmals gelingt, ist freilich noch immer auf zwei Zentren gebaut, was sie noch mit allen früheren Stücken verbindet; doch wird die polare Struktur jetzt eigens dazu benutzt, sie am Ende als Scheinantagonismus zu entlarven. Mit dem Verzicht auf den bipolaren Grundriß kann nun aber das folgende Stück auch solcher Scheinmanöver und Zuschauertäuschungen entraten. ,Der Meteor' (1966) 25 bekennt sich schon in seinem metaphorischen Titel zum aristophanischen Prinzip des Einfalls und verspricht so die groteske Komödie schlechthin. I n der Tat erhält die Dürrenmattsche Spezies hier ihre extreme Form, weil diesmal die beiden Pole in der Titelfigur zusammenfallen, das einfallende Geschoß zugleich das eigentliche Opfer des Einfalls wird. Wolfgang Schwitter, berühmter Schriftsteller und Nobelpreis23 F. D . , Komödien I I , S. 354. 24 F. D . , Gespräch mit H e i n z Ludwig Arnold. Zürich 1976, S. 25. 25 F. D . , Der Meteor. Eine Komödie in zwei Akten. Zürich 1966. — Wieder in: F. D . , Komödien I I I . Zürich 1966, S. 7 - 75.
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träger, steht zur allgemeinen Bestürzung vom Totenlager auf und flieht vor der Öffentlichkeit in sein altes Atelier, um dort im vollen Genuß einer letzten Gegenwart sterben zu können. Aber gegen eigenen Wunsch und Willen erstarkt nur immer seine Lebenskraft, auch sein zweiter Tod zu Beginn des zweiten Aktes ist nur retardierendes Moment auf dem Weg einer unaufhaltsamen Lebenssteigerung bis zur verzweifelten Schlußerkenntnis seines Nicht-sterben-könnens. Alle Personen aber, die nacheinander in den Kreis dieses Unverwüstlichen treten, gehen an dieser Begegnung zugrunde, weil sie — wie Schwitter selbst bemerkt — „in sein Sterben geraten" 26 . Um freilich die ganze Paradoxie der besonderen Konstellation im ,Meteor' zu erkennen, ist es nötig, sich von der Perspektive der virtuosen und publikumswirksamen Inszenierungen in Zürich, Hamburg oder München zu befreien, und zum vollen Verständnis des Stückes die noch immer zu wenig beachteten Anmerkungen Dürrenmatts hinzuzuziehen, die er bald nach der Uraufführung in ,20 Punkten zum Meteor' formuliert hat 2 7 . Er definiert darin als Idee des Stückes „die Geschichte eines Mannes, der aufersteht und seine Auferstehung nicht glaubt." 28 Die Auferstehung Schwitters soll als tatsächliches, von außen in die Wirklichkeit einbrechendes Wunder verstanden werden. Denn nur so wird dieser Meteor für Dürrenmatt überhaupt zum Paradox und zum unausweichlichen Ärgernis: für die Ungläubigen als Auferstandener, für die Gläubigen als ein Nicht-glaubender 29 . Die Inszenierungen haben sich vor diesem Paradox durchwegs in eine verkürzende Eindeutigkeit geflüchtet, indem sie die Sichtweise Schwitters, nämlich die Umdeutung seiner Auferstehungen in ein zweimaliges Erwachen aus bloßem Scheintod, zur Auffassung des Stückes selbst erklärt haben. Mit Recht hat Hans Mayer bemerkt 30 , daß eine derart eindeutig-einseitige Perspektive die groteske Komödie in eine fade Posse einebnen muß; denn sie kann dann zwar die Gegenposition unschwer karikieren, muß dafür aber die Hauptgestalt ihrer paradoxen Einsamkeit berauben. Für Dürrenmatt ist der ,Meteor' kein Stück über das Nicht-sterben-können, sondern eines über das Nicht-glauben-können. Aus dem Unglauben an die eigene Auferstehung resultiert ein falscher Glaube an das eigene Sterben — und beides: sowohl das Mißtrauen gegenüber den fremden Auskünften wie die Absolutsetzung des Todes sondert Schwitter von den übrigen ab, für Dürrenmatt das Bild des totalen Individuums, des schrecklich Einzelnen, der nun auch für die Gesellschaft gefährlich wird, da er in vergeblicher Erwartung des Todes 26
Ebda., S. 58. Erstdruck in: Neue Zürcher Zeitung, 28. Febr. 1966; wieder in: F . D . , D r a m a turgisches und Kritisches. Theaterschriften und Reden I I . Zürich 1972, S. 1 5 6 - 161. 2 8 Ebda., S. 156 (Punkt 5). 2 » Vgl. ebda., S. 157 (Punkt 8). 30 Hans Mayer, Friedrich Dürrenmatt. I n : Z f d P h 87 (1968), S. 485. 27
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mit brutaler und zynischer Offenheit seine letzte Freiheit auskosten will. Damit hat Dürrenmatt mit zuvor nie erreichter Konzentration ein Beispiel für jene Komödie des Einzelnen geschaffen, für die er kurz darauf 31 die Figur des Clown zum Urbild erklären wird — den Clown als die komische Figur schlechthin, weil sie jedes tragische Mitgefühl beim Zuschauer von vornherein unterbindet, ihm vielmehr das eigene Ich in seiner Lächerlichkeit verfremdet gegenüberstellt. Um aber Schwitter als eine „in einem höheren Sinne komische Gestalt" nun doch vom Urbild des bloßen Clown zu unterscheiden, definiert er ihn als eine „Gestalt, die gleichzeitig tragisch und komisch ist", was nicht bedeute, „daß sich das Tragische und das Komische aufheben, sondern daß sich die Tragik und die Komik schroff gegenüberstehen" 32 , also gleichsam in einem ständigen Umschlagen ineinander begriffen sind. Damit kommt diese Komödie des totalen Individuums von allen Dürrenmattschen Formen dem sogenannten absurden Theater am nächsten, wo gleichfalls der Einzelne, entweder wie hier in einer Endsituation oder als Vereinzelter in der Masse verwandelter Gestalten, die Bühne beherrscht. Erst vor kurzem hat Dürenmatt selbst in einem theoretischen Fragment ,Aspekte des dramaturgischen Denkens' 33 die Verwandtschaft seiner Dramaturgie des Einzelnen mit Ionescos Theatertheorie betont, dessen Plädoyer für Groteske, Karikatur und Farce und gegen die herkömmliche Salonkomödie in der Tat genauso gut von Dürrenmatt stammen könnte, wenn es etwa heißt: „Man darf die Kunstgriffe nicht verstecken, sondern muß sie zur Schau stellen, sie rücksichtslos enthüllen und aufweisen. Die Groteske und die Karikatur waren radikal zu verstärken und in Gegensatz zur bloßen Geistreichelei der Salonkomödie zu setzen. Keine Salonkomödie mehr, sondern Farcen, äußerste parodistische Ubertreibung. Humor, ja! Doch mit den Mitteln des Burlesken. Das Komische hart, übertrieben, ohne Zartheit. Auch keine dramatischen Komödien mehr, sondern Rückkehr zum Unerträglichen. Alles bis zum Paroxysmus treiben, dahin, wo sich die Quellen des Tragischen öffnen. Ein Drama der ursprünglichen Mächtigkeit schaffen: ursprünglich mächtige Komik steht neben ursprünglich mächtiger Tragik." 3 4 Und doch bleibt ein bezeichnender Unterschied zwischen den Endmenschen des absurden Theaters und der Figur des Einzelnen bei Dürrenmatt. In Becketts ,Endspiel' etwa oder in Ionescos ,Der König stirbt' hüllen sich Dialog und Gestalten in ein rätselhaftes Dunkel, kreisen in sich und verharren schemenhaft in Traum und Nebel dank ihrer radikal be31 Dramaturgische Überlegungen zu den Wiedertäufern (1967). I n : F . D . , K o mödien I I I , S. 179. 32 F . D . , Dramaturgisches und Kritisches, S. 157 (Punkt 11 zum ,Meteor c ). 33 Ebda., S. 2 0 6 - 2 3 1 , bes. S. 2 1 9 - 2 2 8 (,Dramaturgie vom Einzelnen her'). 34 Zitiert von Dürrenmatt ebda., S. 221 f.
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ziehungslosen Vereinzelung. Schwitter hingegen ist nicht ein nur in sich verglühender, sondern auch ein zerstörerischer Meteor; seine Selbstisolation ist alles andere als beziehungslos, sie ist im höchsten Grade anstößig und empörend — und dies nicht nur für die Mitfiguren auf der Bühne, sondern nach dem Willen des Autors auch für das Publikum. Denn im Gegensatz zu den Dramatikern des Absurden hält Dürrenmatt auch bei diesem wilden Stück an der These vom Spiegelcharakter fest, wenn er im ,Meteor' sogar recht speziell ein ins Groteske verzerrtes und eben darum provokatives Sinnbild der heutigen Christenheit erblickt, die an das eigene Dogma der Auferstehung nicht mehr glauben kann. Immerhin bleibt es auffällig, daß in den sechziger Jahren, als das absurde Drama die deutschen Bühnen endgültig erobert, audi die Komödie Dürrenmatts sich auf die Dramaturgie des Einzelnen konzentriert und ebendamit ihre alten Ziele des möglichst wirksamen Einfalls und der möglichst umfassenden Weltspiegelung nur um so sicherer erreicht. I n diesen Zusammenhang ist auch die unmittelbar nach dem ,Meteor' unternommene Umarbeitung des Erstlingsdramas ,Es steht geschrieben' (1947) 35 in die Komödie ,Die Wiedertäufer' (1967) 36 einzuordnen. Der Erstling hatte sowohl im Reiche der Täufer wie im Lager ihrer siegreichen Gegner ein allseitiges Narrentum erscheinen lassen, indem er das nach Personen kaum differenzierte Pathos einer durchgängigen Parodie unterwarf. Beda Allemann hat in seiner Interpretation dieser Frühfassung mit Recht betont 37 , daß eine solche Parodie der Tragödie weder positive noch negative Helden zuläßt, und daß darüber hinaus nicht einmal mehr eine Einzelfigur vor den übrigen herausragen und Mittelpunkt des turbulenten Welttheaters sein kann. Wenn es nun Dürrenmatt nach 20 Jahren, wie er selbst bekennt 38 , verlockte, das alte Spiel, nur bewußter jetzt, nochmals durchzuspielen, so bedeutet dies in Wahrheit eine tiefgreifende Umgestaltung der Tragödienparodie in die groteske Komödie. Deren brillanter Einfall besteht darin, auf Grund einer Nebenbemerkung bei Ranke den Schneidergesellen Jan Bockelson zum Schauspieler zu machen. Damit wird jede, auch noch die parodistische Erinnerung an den historischen Bösewicht aufgegeben zugunsten einer fiktiven Bühne auf der Bühne, indem Bockelson den König im neuen Jerusalem nur mehr spielt — nicht mehr die Macht, sondern die 35 F . D . , Es steht geschrieben. Basel 1947. — Wieder u. d. T . : Es steht geschrieben. Ein Drama. I n : F . D . , Komödien I I und frühe Stücke, S. 9 - 1 1 5 . 36 F. D . , Die Wiedertäufer. Eine Komödie in zwei Teilen. Zürich 1967. — Wieder in: F . D . , Komödien I I I , S. 7 7 - 1 8 3 . 37 Beda Allemann, Friedrich Dürrenmatt ,Es steht geschrieben4. I n : Das deutsche Drama vom Barock bis zur Gegenwart. Interpretationen. Hrsg. von Benno von Wiese. Bd. 2. Düsseldorf 21960, S. 415 - 4 3 2 , hier S. 422. 3 8 F . D . , Komödien I I I , S. 183.
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Theatralik der Macht ist jetzt das Thema des Wiedertäuferstücks. Darum audi bleibt dieses Spiel im Spiel nicht inselhaft auf einige Szenen beschränkt, es wird thematischer Bezugspunkt auch aller übrigen Dialoge, nicht nur der Bürger in der eingeschlossenen Stadt, sondern auch der sie belagernden Fürsten des Reichs, die primär als Zuschauer die Kunst des sie alle imitierenden Schauspielers bewundern und ihn am Ende auch begnadigen, ja mit Stargage an eines ihrer Hoftheater verpflichten. Dürrenmatts ,Dramaturgische Überlegungen zu den Wiedertäufern', dem Stück als erläuternder Anhang beigegeben39, sehen darin den Typ der Komödie als Welttheater verwirklicht, in der allein noch die Handlung komisch zu sein braucht; zugleich bezeichnen sie aber den Schauspieler Bockelson als den komischen Sonderfall, als eine jener Clownsfiguren, die die Komödie des Einzelnen konstituieren 40 . Man kann in den »Wiedertäufern' wohl eine Kombination beider Typen erblicken, worin sich die Welt um eine Mittelpunktsfigur plötzlich wie in konzentrischen Ringen applaudierend gruppiert. Das Groteske erscheint dabei vornehmlich in der Gesamtanlage — der aufgeworfene Trichter als Amphitheater —, weniger in sprachlich-szenischen Einzelheiten, deren Phantastik gegenüber dem Erstling sogar deutlich gemildert ist. Wenn aber jetzt der ganze Höllenspektakel des Täuferreichs samt dem blutigen Strafgericht am Ende nicht mehr so sehr mittels der Sprachparodie, sondern als Inszenierung eines genialen Dilettanten vom Publikum weggerückt wird, so erreicht Dürrenmatt damit sogar eine doppelte Distanzierung: Die Zuschauer auf der Bühne fungieren wie von selbst als kommentierende Vermittler zwischen Bockelson und dem Parkett. Vor allem der Bischof von Münster erhält vom Autor die Aufgabe, dem Publikum eine bestimmte, halb resignierende, halb rebellierende Deutung des grotesken Geschehens nahezulegen. Mitspieler und Zuschauer zugleich, verkörpert er die Selbstreflexion der Komödie und ihres Autors, und stellt so auf eine raffiniert unauffällige Weise die gewünschte Verbindung zwischen Autor und Publikum her. Erst dieser Kunstgriff hat Dürrenmatt wohl dazu ermutigt, in den ,Dramaturgischen Überlegungen' die von ihm inaugurierte Komödie zur Vollenderin aller Brechtschen Versuche zu erklären, den Zuschauer durch Verfremdung der Szene zum Nachdenken zu bringen. Was Brecht mit der Mühsal ständiger Desillusionierung nur unvollkommen erreicht habe, werde hier wie von selbst geleistet, weil diese A r t Komödie die Illusion und Identifikation von vornherein erschwere 41. Allerdings auch nicht unbedingt verhindere. Denn bei aller Distanz könne sich der Zuschauer die Frage stellen, „inwiefern der Fall auf der Bühne auch sein Fall 39 40 41
Ebda., S. 175 - 183. Ebda., S. 180 f., 181 f. Ebda., S. 178, 180 f.
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sei, und sich so die Gestalten auf der Bühne wieder aneignen". Daraus folgt auch hier, daß der Zuschauer eine Komödie der Handlung „als eine reine Groteske oder als eine übersteigerte Tragödie" erleben kann 42 . Ausdrücklich überläßt Dürrenmatt hier dem Zuschauer die Entscheidung, ob er die Komödie als ein Theater der Nicht-Identifikation oder aber in der erneuten Aneignung ihrer Helden als die moderne, freilich übersteigerte Form der Tragödie erfahren will. Von daher wird audi ein Satz Dürrenmatts aus seinem Gespräch mit Heinz Ludwig Arnold verständlich, wo er sagt: „Das Tragische und das Komische sind für mich so hauchdünn getrennt, sind für mich nicht sachlich unterschieden, sondern rein im Bewußtsein, rein psychologisch." 43 *
Mit den »Wiedertäufern' schien bis vor kurzem der Variantenkreis der Dürrenmattschen Komödie durchlaufen, und die ausholende Zusammenfassung seines Gattungsverständnisses in den ,Dramaturgischen Überlegungen' wirkte wie Abschluß audi auf theoretischem Gebiet. Denn unter den anschließenden Bearbeitungen von Dramen Shakespeares, Goethes, Strindbergs, die Dürrenmatt im Rahmen seiner Regietätigkeit am Züricher Schauspielhaus in den späten sechziger Jahren unternommen hat, leistet eigentlich nur ,Play Strindberg' (1968) eine Verwandlung der Vorlage in die Komödie. Als dann 1970 mit dem ,Porträt eines Planeten' wieder ein eigenes Stück erschien, konnte man diese Kette kosmischer Momentaufnahmen der Menschheit kurz vor dem Weltuntergang, dieses politisch-kabarettistische Szenenarrangement als eine endgültige Absage Dürrenmatts an seine bisher bewährte Spezies deuten. Nun aber will uns sein vorerst letztes 44 , 1973 uraufgeführtes Stück ,Der Mitmacher' 45 wiederum eines Besseren belehren. Dürrenmatt nennt es im Untertitel ausdrücklich wieder „Komödie", und so könnte nachträglich die Zeit seit den ,Wiedertäufern' nur als ein dramaturgischer Umweg unseres Autors erscheinen, auf dem er zu einer neuen Spielart seiner alten Gattung gelangt wäre. Dieser Weg wird wesentlich bestimmt von Dürrenmatts intensiver neuer Erfahrung mit praktischer Theaterarbeit. Er kommt zu der 42
Ebda., S. 181. F. D . , Gespräch mit H e i n z Ludwig Arnold, S. 25. Inzwischen ist als neuestes Stück Dürrenmatts ,Die Frist. Eine Komödie 4 (Zürich 1977) erschienen, die hier unberücksichtigt bleiben muß. 45 D e m Vortrag lag das Bühnenmanuskript, Berlin o. J. (Felix Bloch Erben) zugrunde; inzwischen ist eine, vor allem auf Grund der Mannheimer Inszenierung revidierte Fassung mit umfangreichen Nachworten erschienen: F . D . , Der M i t macher. Ein Komplex. Text der Komödie, Dramaturgie, Erfahrungen, Berichte, Erzählungen. Zürich 1976. 43
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Auffassung 46, daß ein Dramentext lediglich die Partitur für die lebendige Aufführung darstellen könne. Wichtiger als die Sätze wird ihm die Spannung zwischen den Sätzen. Diese Spannung aber kann allein die Kunst des Schauspielers gestalten, dessen Wirkung Dürrenmatt jetzt mehr vertraut als der Literatur. Erklärtes Ziel dieser seiner jüngsten Dramaturgie ist es, die strenge Form des Werkes herauszuspielen, was nicht nur zahlreiche Fassungen bis zum vorläufigen Endtext, sondern eine ständige Veränderung des Manuskripts noch während der Proben mit sich bringt. Resultat dieses Arbeitsprozesses ist ein ins Extrem verdichteter und verknappter Text, mit dem die Schauspieler auf bilderloser Bühne, höchstens von einzelnen Requisiten unterstützt, die Geometrie des Stückes, seinen Schachspielcharakter, möglichst offenlegen sollen. So schon in ,Play Strindberg', dann im ,Planeten' und nun gesteigert im ,Mitmacher'. Die Lektüre dieses neuesten Stückes hinterläßt doch einen für den Autor etwas günstigeren Eindruck, als die Kritiken der Uraufführung zunächst erwarten ließen. I n Erinnerung bleibt vor allem der strenge Bau des Werkes, die Unerbittlichkeit des Handlungsverlaufs: es ist das bisher konsequenteste Beispiel Dürrenmatts für die „schlimmstmögliche Wendung", die — nach Punkt 3 zu den ,Physikern' — eine Geschichte nehmen muß, wenn sie zu Ende gedacht wird 4 7 . Hier ist es die Geschichte eines in der Wirtschaftskrise entlassenen Industriebiologen, der daraufhin einem Gangsterkonzern mit seiner höchst nützlichen Fähigkeit des Leichenverflüssigens dient. Die Logik seines Mitmacher-Schicksals besteht darin, daß jeder Versuch, aus der Unterwelt wieder aufzusteigen, nur mit um so heilloserer Verstrickung und Erniedrigung endet. Die Kraft zu einem Nein bringt er nicht auf. Als schließlich gar der totale Staat das Mordsyndikat übernimmt und immer mehr Leichen ins unterirdische Labor liefert, wäre Selbstopfer der einzig noch mögliche Weg zur Freiheit; der Wunsch zu überleben führt nur noch in unwürdiges Sklavendasein. Der Mitmacher wählt das letztere und bleibt am Ende als eine getretene Kreatur am Boden liegen. Das alte Motiv aus den ,Physikern': unentbehrlicher Wissenschaftler in der Hand eines monströsen Verbrechersystems soll hier nicht mehr die Unmöglichkeit verantwortlichen Handelns, sondern die unendliche Korrumpierbarkeit in einer moralisch anarchistischen Zeit vor Augen führen. Inwiefern ist das Stück vom ,Mitmacher' eine „Komödie"? Dürrenmatt bezeichnet es in dem schon mehrmals genannten Gespräch mit Arnold als „das Drama des Petrus" 48 . Auch Doc verleugnet sich dreimal: zuerst seine 46 Vgl. zum folgenden Dürrenmatts Vorwort zum ,Porträt (Zürich 1971), bes. S. 9 - 1 1 . 47 F. D . , Komödien I I , S. 353. 48 F. D . , Gespräch mit H e i n z Ludwig Arnold, S. 38.
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Geliebte, dann seinen Sohn, schließlich sich selbst. Dies sei das Urdrama, der Mythos des Menschen, der es nicht wagt, zu sich zu stehen. Durch solchen Selbstverrat, dem bei Dürrenmatt die befreienden Reuetränen des Petrus fehlen, isoliert sich der Mitmacher schrittweise immer mehr, so daß die groteske Komödie des Einzelnen wieder erfüllt scheint. Diesem „komischen" Helden hat Dürrenmatt nun aber einen von ihm selbst so genannten 49 „ironischen" Helden, den Polizeichef Cop, gegenübergestellt, der zum Schein Inhaber des Mordgeschäftes wird, um dann für einen Moment die fatale Maschinerie anzuhalten und dafür bewußt in den Tod zu gehen. Wozu? „ U m sich selbst noch achten zu können", lautet Cops Antwort, „sonst wäre die Situation allzu unwürdig und, offen gesagt, zu komisch." 50 Ein Nicht-Mitmacher also, der in einem langen Gespräch mit Doc unmittelbar vor dem eigenen Ende versucht, den grotesk-komischen Mitmacher auf seine Seite, auf die Seite der Freiheit zu ziehen. Auch wenn ihm dies nicht gelingt, zeigt er in seiner Entscheidung doch die Alternative und zerbricht so, wenigstens für sich selbst, den ehernen Ring dieser grotesken Welt. Im Grunde ist damit der „mutige Mensch" auf die Dürrenmattsche Bühne zurückgekehrt 51, komischer und tragischer Held stehen sich kontrapunktisch gegenüber und bekunden aufs neue die eigentümliche Spiegelbildlichkeit von Tragik und Komik in Dürrenmatts dichterischer Welt. *
Solche Korrespondenz, ja Koinzidenz ist freilich nur möglich geworden, weil dieser Autor radikal mit der klassizistisch-idealistischen Vorstellung von Tragödie und Komödie gebrochen und sich zu möglichst frühen und fremden Vorbildern bekannt hat. Aristophanes, Oedipus Rex, Petrus — das sind einige der Urmodelle, auf die Dürrenmatt mit Vorliebe zurückgreift, weil sie ihm dank ihrer Archaik am ehesten die Freiheit lassen, in immer neuen Experimenten eine moderne Tragödie in komisch-grotesker Gestalt zu wagen. 49 Ebda., S. 43. 50 F. D . , D e r Mitmacher. Ein Komplex, S. 72. 51 Diese Deutung w i r d jetzt von einigen Sätzen in Dürrenmatts umfangreichem F a c h w o r t ' (1976) zum ,Mitmacher' bestätigt. I m Abschnitt ,Cop, auf mein Schaffen bezogen' ordnet er diese Figur der Reihe seiner frühen „mutigen Menschen": Romulus, Übelohe, A k k i zu, ja sieht in Cop eine Wiederkehr dieser Gestalten: „Sie sind meine Träume, in denen immer wieder ein M o t i v auftaucht [ . . . ] : die Möglichkeit, an die ich glaube, an die ich mich anklammere, die Möglichkeit, ganz ein Einzelner zu werden, die Möglichkeit der Freiheit." (F. D . , D e r Mitmacher. Ein Komplex, S. 178). I m übrigen kommt auch Dürrenmatts Definition des „ironischen Helden" als eines nur noch „subjektiv", „für sich" Handelnden (ebda., S. 168 ff.) seinem Verständnis des „mutigen Menschen", d . h . der einzig noch möglichen Spielart des tragischen Helden in der grotesken Komödie, sehr nahe (vgl. oben S. 79 f.).
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„Der m a l a d e i m a g i n a i r e ist gewiß ergötzlich zum Lesen; aber man kennt ihn nicht, hat man ihn nicht darstellen sehen. D a n n w i r d das Spiel die Hauptschönheit, dem die Worte nur als Verzierungen dienen." (Börne: Briefe aus Paris, 15. Februar 1831). „Es ließe sich [ . . . ] ein Laokoon über die Grenzen der Dichtkunst und der Schauspielkunst schreiben, aus dem sich ergeben müßte, daß dem Dichter nur der mittelbare, dem Schauspieler allein der unmittelbare Ausdruck der Empfindungen und der Leidenschaften möglich ist. Ich wette hundert gegen eins, daß von tausend stillen Lesern sich neunhundert ein ganz leidliches Bild von König Lear entwerfen, daß aber nicht hundert bei der Lektüre ähnlich starke Empfindungen haben, als bei der A u f führung." (Jakob M i n o r : A d o l f Sonnenthal).
Es ist ein umfangreiches Gedankengewebe, aus dem hier nur einige Fäden herausgegriffen werden, um einen Beitrag zur Erkenntnis der tragischen Wirkung der Schauspielkunst zu geben. Wenn vom Tragischen gesprochen werden soll, dann muß, zumal bei den Deutschen, von Shakespeare ausgegangen werden. Lessing nennt ihn einen „tragischen Dichter", der den Zweck der Tragödie fast immer „erreiche, so sonderbare und ihm eigene Wege er auch wähle" 1 . Ober die Theorie des Tragischen gibt es eine reichhaltige Literatur. Die Betrachtung von „Theaterpoesie" 2 aus der Sicht gelehrter Ästheten des 19. Jahrhunderts wurde wiederholt als wenig ertragreich und den Gegenstand sogar verfehlend getadelt. Dieses Problem wurde deutlich, als, um nur ein 1 Z u Lessings Begriff des Tragischen und seiner Unterscheidung von dem der romantischen Epoche sei hier auf O t t o Manns kommentierende Anmerkungen zu seiner Ausgabe der ,Hamburgischen Dramaturgie' (Kröners Taschenausgabe, Bd. 267), besonders S. 452 ff., und auf die mit Fr. Schlegels frühen Griechenschriften einsetzende philosophische Begründung des „Tragischen" verwiesen. Desgleichen auf Joachim Dalfen: ,Gibt es Tragik in den Tragödien des Sophokles?', in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, Neue Folge X V I (1975), 9 ff. 2 Der Ausdruck vielfach zu belegen, ζ. B. in Goethes Aufsatz Shakespeare als Theaterdichter' (1816), aufgenommen in Shakespeare und kein Ende'.
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Beispiel anzuführen, Gervinus 1849/50 sein Buch ,Shakespeare' (1872 in vierter Auflage) veröffentlichte. Den lautesten, damals allerdings nur seinen Tagebüchern anvertrauten, Protest sprach Grillparzer aus. Er nennt Gervinus' Kommentar über Shakespeare „absurd" 3 . Heinrich Laube, die Geschicke des Burgtheaters lenkend, verwies auf den Unterschied zwischen Buch- und Theaterkritik, wobei er unter der letzteren jene des Dramaturgen meinte: „Buchkritik haben wir in fast argem Maße über Shakespeare, eine wahrhaftige Theaterkritik über die Shakespeare-Stücke haben wir in sehr geringem Maße." 4 Der große Erfolg der ,Dramaturgie des Schauspiels' (1880- 1901, 4 Bde) von Heinrich Bulthaupt (1849- 1905) war nicht zuletzt darin begründet, daß dieses Buch vermittelte, was in der philosophischen oder spekulativen Buchkritik nicht zu finden war. Der Ästhetiker, Philosoph und Theaterpraktiker Alfred von Berger (1853 - 1912), Verfasser eines Buches, das er ,Meine Hamburgische Dramaturgie' (1910) nannte, hat in einem Aufsatz über Bulthaupt den schon von Laube hervorgehobenen Unterschied in ähnlichem Sinne ausgesprochen5. 3 Grillparzer \ Tagebücher und literarische Skizzenhefte. Hist, kritische Gesamtausgabe, V , 202. 4 Heinrich Laube : Das Burgtheater. Ein Beitrag zur deutschen Theatergeschichte. 2 Leipzig 1891, S. 158: „Unsere Buchkritik über Shakespeare ist bekanntlich ein unerschöpflicher Born des Lobes, und ich w i l l gar nicht streitig machen, daß sie unserem literarischen Geiste reiche Hilfsquellen erschließen hilft, wie überschwenglich sie sich auch oft geberde, wie grundlos sie auch oft folgere und türme. Aber ich muß doch einmal darauf hinweisen, daß diese Shakespeare-Kritik uns meist ganz irrtümlich berichtet über die Wirkung der Shakespeare-Stücke auf dem Theater. Ich wüßte kaum einen der Shakespeare-Erklärer, welcher darin eine Bedeutung hätte. Gervinus am wenigsten. Er führt geradezu irre. Sein U r t e i l über Theaterwirksamkeit Shakespeare's ist eine völlige Merkwürdigkeit. Wenn er sagt: dies Stück empfiehlt sich ganz besonders für die Bühne, dann kann man sicher sein, es ist nicht aufführbar. U n d wenn er seine Bedenken äußert über die Aufführbarkeit, dann kann man sich getrost mit der scenischen Einrichtung des Stückes beschäftigen. Denn vom Talente des S c h a u s p i e l e r s Shakespeare weiß Gervinus kein Wort. Wie oft überrascht uns dies Talent bei der Inszenesetzung! Es hat kein dramatischer Autor so viel szenische Macht, die w i r heute noch nicht mit all' unserer Klassifizierung der Effekte hinreichend erklären können, als gerade Shakespeare. Er war auch darin ein Genie." 5 „Bulthaupts Dramaturgie gehört in der T a t zu den seltenen Büchern, aus welchen Schauspieler und Regisseure, die ihre Sache ernst und gründlich nehmen, etwas lernen können. Ein junger Schauspieler, der eine Shakespearerolle spielen soll, ein Regisseur, der ein Shakespearesches Stück zu inszenieren und seinen Leuten die von ihnen zu verkörpernden Charaktere zu erläutern hat, wird, wenn er Gervinus', Kreyssigs oder Ulricis Shakespearewerke zur H a n d nimmt, sich nur verwirrt fühlen. Er wird in diesen Büchern die tiefsinnigsten Theorien über die Ideen, welche Shakespeare in seinen Dramen und Gestalten angeblich versinnlichen wollte, vorfinden, aber sehr wenig, was er für seine Zwecke brauchen und ohne weiteres verwerten kann. Gehen doch fast alle Kommentatoren, entsprechend ihrem persönlichen Bildungszustande, von der vorgefaßten Meinung aus, daß Shakespeare (und ebenso natürlich alle übrigen Dramatiker) in erster Reihe für den Philosophen gearbeitet
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Die Mittlerstellung zwischen beiden Lagern kann an Heinrich Theodor Rötscher (1803 - 1871) gezeigt werden. Seines Zeichens Professor am Gymnasium zu Bromberg, war er Hegelianer und Anhänger des Hegelianers Eduard Gans. Er gelangte zu einer philosophischen Systematik der Schauspielkunst, die er in seinem Buch ,Die Kunst der dramatischen Darstellung' (3 Bde, 1841 - 46) verwirklichte: „Der Verfasser hat jüngst den ersten Versuch gewagt, die Schauspielkunst der wissenschaftlichen Erkenntnis zu vindiciren. Dieses Streben, den Organismus dieser größtenteils nur wie ein wilder Aufschößling betrachteten Kunst auseinander zu legen, hat sowohl von Seiten der Wissenschaft, als auch derjenigen darstellender Künstler, welche die rohe Willkür, der ihre Kunst, wie keine andere in der Ausübung preis gegeben ist, schmerzlich empfinden, die freundlichste Begrüßung erfahren. Aber dies Bewußtsein muß aufhören ein nur t h e o r e t i s c h e s zu bleiben, es soll in Fleisch und Blut übergehen und u m g e s t a l t e n d auf den Zustand der Kunst wirken." 6 Eduard Devrient hatte dann mit seiner ,Geschichte der deutschen Schauspielkunst' (5 Bde, 1848 - 75) die erste zusammenfassende geschichtliche Darstellung dieses Gebietes gegeben, in der er erklärte: „Shakespeare und Molière waren Schauspieler, das ist der Schlüssel zu ihrer alle andern dramatischen Dichter überragenden Wichtigkeit"; und: „ I n Shakespeare ist der alte Zwiespalt zwischen Dicht- und Schauspielkunst auf das vollkommenste aufgehoben, in ihm durchdringen sich beide." 7 hat, und daß die Bühne, mag sie auch für Shakespeare selbst während seines irdischen Lebensganges im Vordergrunde gestanden haben, für das Verständnis seiner Schöpfungen erst an allerletzter Stelle in Betracht kommt. Daher bemühen sie sich, das Philosophische und Ethische in den Shakespearedramen aufzuhellen, lassen aber gerade dasjenige, was der Schauspieler, was der Regisseur an ihnen verstehen und durchschauen muß, um spielen und inszenieren zu können, im D u n k e l liegen. Den Schauspieler und Regisseur aber interessieren weit weniger die entfernten Gedankenund Gefühlswirkungen, welche von den Dramen und den in ihnen auftretenden Gestalten ausstrahlen, als der pragmatische Körper der Handlung selbst, als der Charakter im ganzen und in seinen einzelnen Momenten, lediglich als Tatsache genommen, nicht ethisch oder metaphysisch ausgedeutet. D e r Schauspieler w i l l wissen, in w e l c h e m T o n , mit w e l c h e m A u s d r u c k er d i e s e n S a t z z u s p r e c h e n h a t , der Regisseur w i l l wissen, welches A r rangement den dramatischen Gehalt einer Szene am wirksamsten zur Geltung bringt. A u f derartige Fragen aber geben ethische und metaphysische Reflexionen keine Antwort. Ja, sogar die psychologischen Erklärungen, welche Autoren wie Gervinus, Kreyssig oder Ulrici gelegentlich bieten, sind für den Schauspieler fast immer unfruchtbar. Denn sie enthalten nicht Psychologie, die sich unmittelbar in Gebärde, Mienenspiel und Sprechausdruck umsetzen läßt, wie sie für den Schauspieler allein Wert hat, sondern tiefgründige Untersuchungen über den verborgenen Kausalnexus der seelischen Vorgänge, welche keinerlei leibliche, vom Schauspieler darstellbare Erscheinungsform besitzen. Ganz anders B u l t h a u p t . . A l f r e d v. Berger: Reden und Aufsätze, Wien u. Leipzig 1913, S. 138 f. 6 Heinrich Theodor Rötscher : Abhandlungen zur Philosophie der Kunst. 4. A b teilung, Berlin 1842, S. V I I . 7 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 19. Bd.
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Das bisher Vorgebrachte ist aber nicht in dem Sinne zu verstehen, daß einzig die Praxis des Theaters zu gelten habe und alle Bemühungen um eine denkerische Erfassung des Dramas vergeblich seien. Wie aktuell freilich selbst eine vom historischen Theateralltag ausgehende Darstellung sein kann, zeigt Ivor Browns 1963 erschienenes Buch ,How Shakespeare spent the day', (deutsch unter dem Titel Shakespeare hinter den Kulissen', Stuttgart 1964) in dessen Vorwort erklärt wird, an neuen Büchern über Shakespeare herrsche kein Mangel; der Verfasser wolle aber „den Schauspieler, den Theaterleiter" zeigen. Wenn Brown meint, „dieser Shakespeare ist völlig im Dunkel geblieben, ein Verschollener", so hat er den Theaterpraktiker im Auge und unterscheidet sich durch diesen nur empirischen Standpunkt von der im folgenden dargestellten Sicht des 19. Jahrhunderts, die, von der Schauspielkunst ausgehend, zu jener Philosophie führt, die Berger meinte, als er seinen kritischen Aufsatz ,Zur Philosophie der Duse'8 schrieb, aus dem zu ersehen ist, daß die Schauspielkunst auch philosophische Fragen aufzuwerfen vermag. Berger zeigt in seinem Aufsatz ,Der Hamletcharakter ein Erzeugnis der Schauspielkunst', daß Hamlets Hauptproblem der Verwirklichung eines Gedankens zugleich auch das aller neueren Schauspielkunst seit Shakespeare sei. Er sieht Shakespeare als Vereinigung des dichterischen und des schauspielerischen Elements an: „Als er den Hamlet schrieb, wurde das schauspielerische Element schöpferisch und erregte und entzündete das dichterische zu einem Gebilde, in welchem das innerste Bedürfnis des schauspielerischen Schöpfertriebes Stillung finden, das schauspielerische Talent all' seine Kräfte entladen konnte." 9 Daß eine solche Vereinigung möglich sei, hat keiner bestimmter ausgesprochen als Ludwig Tieck, der schon vor Laube auf den Gegensatz zwischen Buchstudium und Schauspielkunst hinweist, wenn er diese der philologischen Textemendation entgegensetzt. Lessing sagt von sich: „Ich bin weder Schauspieler noch Dichter", verrät aber in seiner Zusammenarbeit mit Konrad Ekhof (1720 - 1778) sein Wissen um einen Zusammenhang, den später E. T. A. Hoffmann ausgesprochen hat: „Dichter und Schauspieler stehen in beständiger Wechselwirkung". Das Grund- und Hauptbuch des ganzen Komplexes waren A. W. Schlegels Wiener ,Dramaturgische Vorlesungen' (1808). Es ist wohl überdacht, daß unmittelbar vor dem Hauptstück, in dem diese Vorlesungen ihren 7 Eduard Devrient: Geschichte der deutschen Schauspielkunst. I n zwei Bänden neu herausgegeben von R o l f Kabel und Christoph Trilse, München, Wien 1967, I , 468 f. 8 Alfred von Berger: Studien und Kritiken. Wien 1896, S. 271 ff. Wiederabdruck in der Anthologie ,Dichtung aus Österreich 4 , I I . Bd. Wien, München 1969, S. 47 f. 9 Berger a.a.O. S. 118.
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Höhepunkt erreichen, der Darstellung Shakespeares (und auch Calderons), von der Schauspielkunst der Franzosen gesprochen wird. Auch verweist Schlegel auf einen Aufsatz Wilhelm von Humboldts in Goethes ,Propyläen' zu diesem Thema 10 . Bergers Ahnherr als Vermittler zwischen Tieck und den Modernen ist Otto Ludwig, in dessen ,Shakespeare-Studien' (1871) zu lesen ist: „Shakespeare hat seine Stücke aus dem Herzen der Schauspielkunst herausgeschrieben." 11 Es war ein langer und nur mittels genialer Persönlichkeiten zu gestaltender geschichtlicher Prozeß, eine Dramatik und Schauspielkunst, die sich gehalten sah, die Wirklichkeit der Gegenwart und ihres bürgerlichen Alltags auf der Bühne nachzubilden, ja zu kopieren, mit dem Dramenstil Shakespeares zu verbinden. Die Aufgabe war: anstelle des rednerischen Pathos die tragischen Affekte der Leidenschaften und Charaktere Shakespeares aus der Natürlichkeitsschule heraus, diese überwindend, zu entwickeln. In einer der Sternstunden der deutschen Geistes- und Theatergeschichte erwarb Friedrich Ludwig Schröder (1744- 1816) Shakespeare der deutschen Bühne. Er war der Erste (als Konkurrent Ekhofs), der den Weg von der niederen Komik und vom Lächerlichen bis zur Ausbildung tragischer Rollen, ja bis zu ,König Lear' ausschritt, und der Erste, der die Aufgabe erkannte und löste, die naturgetreue Darstellung aller Leidenschaften mit „genauem Verständnis aller einzelnen Motive der Dichtung" aus einer „sicheren, ganz aus der Intention des Gedichtes geschöpften Auffassung" zu verbinden. Schröder war der erste große Schauspieler mit „genialer Schöpfungskraft, durch richtigen Verstand und besonnenen Geschmack" gezügelt12. Er war ein Einsatz, ein Beginn — und somit nur Durchgang zu weiterer Höherentwicklung und zur Ausbildung eines tragischen Stils, der die Schranken der bürgerlichen Sphäre durch eine großartigere Auffassung der Natur überschritt. Aber Schröders Ton des Trauerspiels war „der bürgerlichen Sphäre noch wenig enthoben", denn die Ideale dieser Periode standen „alle der Wirklichkeit viel näher [. . . ] als wir es heute ertragen würden." 13 — Ähnlich wie Schröder läßt auch August Wilhelm Iffland (1759 - 1814) den Kompromiß erkennen, den dieser, Lessings und des jungen Schiller Beispiel folgend, durch die Verknüpfung der Leidenschaften des Trauerspiels mit dem bürgerlichen Familienmilieu geschlossen hatte. 10 Wilhelm von Humboldt: Über die gegenwärtige französische tragische Bühne. I n : Propyläen. I X (1800). 11 O t t o Ludwig: Shakespeare-Studien. Hrsg. v. M o r i t z Heydrich, Leipzig 1874, S. 123. 12 E. Devrient a.a.O. I , 473. 13 A.a.O. S. 472.
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Es fragt sich, ob selbst beim deutschen Theater des frühen 19. Jahrhunderts im eigentlichen Sinne vom Tragischen gesprochen werden kann. So viel geht ζ. B. aus Tiecks dramaturgischen Arbeiten hervor, daß er, wenn er von Tragödie spricht, zumeist auch das Lustspiel erwähnt und beide Gattungen aus einer „Begeisterung des Lächerlichen oder Erhabenen" entspringen läßt. Die Deutschen, so Tieck, hätten im 18. Jahrhundert an der Stelle von Tragödie und Komödie eine zwischen beiden schwebende Gattung ausgebildet, die nicht in jener Begeisterung, sondern in einer „leicht zu gewinnenden Rührung" ihren Ursprung habe. Eine platte Natürlichkeit habe die Schauspielkunst fast überflüssig gemacht14, da sie, ohne „Kunstrahmen", grobe Naturnachahmung und Illusionismus gewesen sei. Schiller bemerkte, als er Friederike Bethmann-Unzelmann (1760- 1815) als Maria Stuart sah: es habe ihr „Schwung" und „tragischer Stil" gefehlt. Seine Worte zeigen, daß Ausdruck des Tragischen und „Konversationston" zwei verschiedene Bereiche waren. „Das Vorurteil des beliebten Natürlichen beherrscht sie noch zu sehr, ihr Vortrag nähert sich dem K o n v e r s a t i o n s t o n , und alles wurde mir zu w i r k l i c h in ihrem Mund; das ist I f f l a n d s Schule." Schiller bemerkt auch die Klippe dieser Schule, denn diese sieht sich ganz auf die edle Natur, das Naturell des Schauspielers verwiesen 15. Dieser Iffland-Stil ist dort zu ertragen, wo die Natur des Schauspielers zart, verständig, mit schöner Deklamation begabt ist; aber bei „gemeinen Naturen" sei dieser natürliche Ton „unausstehlich"16. Mittels der Natur und des Natürlichen ist demnach der wahre „tragische Stil" nicht zu gewinnen. Das bürgerliche Familienstück vom Schlage Schröders, Ifflands und Kotzebues war der Theaterpraxis entsprungen. Karl Philipp Moritz hat das durch Beobachtungen an seinem Mitschüler Iffland erklärt. Unter dem Eindruck von Goldsmiths ,The Vicar of Wakefield' (1765, deutsch 1776) habe sich dieser ein „reizendes Bild von der angenehmen Lage eines Landpredigers" entworfen. Er wollte Theologie studieren und unterhielt Reiser „fast beständig mit der Schilderung jener stillen, häuslichen Glückseligkeit, die er dann im Schoß einer kleinen Gemeinde, die ihn liebte, in seinem Dörfchen genießen würde." Reiser kannte solche „Spiele der Phantasie" und prophezeite ihm, „wenn er Prediger würde, so würde er wahrscheinlich ein großer Heuchler werden — er würde mit der größten Hitze des Affekts 14 Ludwig Tieck: Dramaturgische Blätter . . . Breslau 1826. Erstes Bändchen (fortan die Bändchen mit römischer Z a h l bezeichnet), S. V I I f. 15 So galt z . B . Schröder als „edle N a t u r " (Heinrich Laube: Das Burgtheater. Ein Beitrag zur deutschen Theatergeschichte, Leipzig 1868. S. 74). Schiller: Briefe. Hrsg. u. mit Anmerkungen vers, von Fritz Jonas. Kritische Gesamtausgabe, Stuttgart 1 8 9 2 - 9 6 . V I , 300 f.
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und mit aller Stärke der Deklamation doch immer nur eine Rolle spielen." Es ist der Psychologe Moritz, der jenes aus Goldsmith angelesene Ideal in Ifflands Stücken wiederfindet: „Iffland ist nun freilich nicht Prediger geworden — aber es ist doch sonderbar, jene Ideen von häuslicher stiller Glückseligkeit, [ . . . ] sind doch nicht verloren gegangen, sondern fast in allen seinen dramatischen Arbeiten realisiert, da er sie in seinem Leben nicht hat realisieren können." 17 Man vergleiche damit Ifflands Widmung der ,Hagestolzen': „Ihrer Majestät Friedrich Wilhelm dem Zweiten, König von Preußen, dem deutschen, dem tapfern, menschlichen Krieger, dem Vater seines Volkes, dem Verehrer sanfter Haustugenden, widmet diesen Versuch Hausglück zu befördern der Verfasser." Ebenso meint Clemens Brentano, Iffland wolle „alles in häusliche Zufriedenheit hineintrösten", er sei der „Philister oder Bürger." 18 Ein untrügliches Amzeichen für den bestimmenden Anteil des Verstandesgemäßen und besonders für die Beschaffenheit jenes Publikums, dessen Beifall Iffland stets gewiß sein konnte, war das Motivieren, das er und seine Schule jeder „Nuance" zu geben wußten. Laube erinnert: „Leute wie Schröder und Iffland verlangten auch für die Uberschwenglichkeit Erklärung, Motivierung und stufenweisen Gang." Damalige Schauspieler durften, meint Laube, einen „realen technischen Boden" trotz der Zeit einer „ideal auffliegenden Literatur" nicht verlassen 19. Was hier in Rede steht, konnte verschieden beurteilt werden. Jedenfalls betraf es das Verhältnis dieses „ideal auffliegenden" Elements zum „Boden". Sollte unter dem letzteren bloß das „technische Können" verstanden werden, war nichts dagegen einzuwenden, obwohl doch anderen, als überschwenglich denunzierten Schauspielern, dieses Können, je nach Einstellung, nicht abzusprechen war. Aber Ifflands räsonnierfreudiges Publikum, so schildert dies Tieck, sei eben wahrer Begeisterung nicht fähig gewesen, sondern hätte als halb philosophierend und gutmeinend von jeder Gebärde, jedem Übergang Rechenschaft gefordert. Das Tragische verliert seine elementare Wirkung, wenn es über den Umweg des einfühlenden und mitfühlenden Verstehens führt. Bemüht sich der Schauspieler allzusehr, dem Publikum das Tragische vorzubereiten und nahezubringen, so daß zwischen dem tragischen Schauspieler und der Fühlweise des Zuschauers kein wesentlicher Unterschied bleibt, so schwächt sich 17 K a r l Philipp Moritz: Anton Reiser. Hrsg. v. W . Martens, Stuttgart (Reclam) 1972. S. 346 f. 18 Clemens Brentano: [Rezension von Schillers ,Kabale und Liebe']. I n : D r a maturgischer Beobachter, hrsg. v. J. Carl Bernard, Wien 1814, N r . 17 vom 9. Februar. 19 Laube a.a.O. S. 103.
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die Wirkung ab und verliert an Terrain. Dies erstreckt sich bis auf den Unterschied des tragischen Tons vom Konversationston. Das Problem zeigte sich auch in der Lessing-Kritik. Der Eindruck, Lessings Werke seien Kombinationen des reinen Verstandes, entsteht „infolge der übersorgfältigen Motivierungen, die Lessing in seinen Stücken für die Wahrscheinlichkeit der Handlung aufwendet. Leser und Zuschauer werden aber durch allzu gedankliche Konstruktionen zur Überprüfung der Stichhaltigkeit solcher Motive angeregt; es mischt sich der Kalkül ein und mit ihm die verschiedenen Möglichkeiten einer Lösung. Dadurch verliert die dramatische Aktion die durchschlagende Wirkung, die von dem reinen Vollzug ausgeht — eine Beobachtung, die gerade Shakespeares Szenenführung oftmals überwältigend beweist." 20 A. W. Schlegel läßt sich im selben Sinn vernehmen: „Nichts ist dem Shakespeare jedoch fremder, als eine gewisse zergliedernde Darstellung, welche uns mühsam alle Beweggründe zuzählt, wodurch ein Mensch so oder anders bestimmt wird. Dieses Motivieren, die »Sucht mancher neueren Geschichtschreiber, immer weiter fortgesetzt, würde zuletzt alle Individualität aufheben, und den Charakter, der sich oft schon in der frühesten Kindheit entschieden kund gibt, aus lauter fremden Einflüssen zusammensetzen. Am Ende handelt ein Mensch doch so, weil er so ist. Und wie jeder ist, das offenbart uns Shakespeare auf das unmittelbarste: er fordert und erhält unsern Glauben auch für das Abweichende und Seltsame. Niemals hat es vielleicht ein so umfassendes Talent für Charakteristik gegeben als das seinige."21 Keine Frage, daß es eine Vielfalt von vermittelnden Übergängen gab. Hebbel hebt ζ. B. an Christine Enghaus die Fähigkeit solchen Vermitteins hervor: „Von den Leistungen der Rachel [1821 - 1858] unterschied sich das durch die zarte Motivierung und die naturgetreuen Übergänge: das fiel nicht plötzlich aus den Wolken oder schoß aus der Erde hervor, das entstand vor den Augen des Zuschauers, das steigerte sich auf kaum merkliche Weise". Hebbel sieht gerade darin den Grund, daß sich die Leistung allgewaltig aufdrängt. Das „Nuancenspiel" vermittelnder Einzelzüge hat seinen Antipoden in der Darstellungskunst von Tragöden, die ihr ganzes Spiel auf den unvermittelten und plötzlichen Ausbruch von Leidenschaften stellen. Das Problem läßt sich an Charlotte Wolter (1833 -97) beobachten, der wiederholt der Vorwurf gemacht wurde, sie werde nur den leidenschaftlichen Stellen ihrer Rolle gerecht, verstünde diese Höhepunkte aber nicht zu motivieren, zu entwickeln und durch allmähliche Steigerung vorzubereiten.
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E r w i n Laatbs: Geschichte der Weltliteratur. München-Zürich 1953, S. 469. A . W . Schlegel: Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur. S. 134. Kritische Ausgabe von G. V . Amoretti , Bonn u. Leipzig 1923. Dramaturgische Vorlesungen, 2. Teil. S. 134. 2 1
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Wenn die „Philisterästhetik" die tragische Schuld der Liebenden in einem Zuviel an Leidenschaft entdecken wollte, so hat schon E. T. A. Hoffmann darüber gespottet, als er die Philister die Sängerin der Donna Anna in ,Don Juan' tadeln ließ, das komme „von dem häßlichen Übertreiben!" „Man müsse [ . . . ] auf dem Theater sich hübsch mäßigen und das zu sehr Angreifende vermeiden." Das Vorbild dieser Auffassung war Iffland, der als den leitenden Gedanken seiner Darstellung des Franz Moor bezeichnet hat: „Es soll auf der Bühne das Grelle gemildert werden." Im Gegensatz dazu gibt der Menschendarsteller ein Äußerstes an Leidenschaft, das bis zum Wahnsinn gesteigerte Pathos oder — wie Laube sagt — den „Ausdruck und Ausbruch", den Lavastrom. Diese Art von Künstler besitzt Begeisterungsfähigkeit; jenen „holden Wahnsinn", mit dem der Phantasiemensch in „wonnevollen Schmerzen lebt". 2 2 Die höchste, letzte Übersteigerung wird gefordert, deren Quelle die Raserei der Liebesleidenschaft ist. Man denke an ,Othello'. Dem Anwalt des gesunden Menschenverstandes wird es ewig unbegreiflich bleiben, wieso der Mohr das Opfer von Jagos simpler Intrige wird. Jeder kalte Kopf ist Othello überlegen. Aber seine zuhöchst gesteigerte Leidenschaft läßt ihn für die einfachsten Argumente erblinden. In der Gewalt seines Empfindens erhebt er sich über das Treiben der Alltagswelt. Einsichtsvolle Kritiker haben, wie übrigens auch Tieck selbst, jedenfalls erkannt, daß auch die gemäßigte Haltung eine dem Publikum jederzeit willkommene Seelennahrung zu bieten hatte. Das zeigt die Geschichte des Burgtheaters zur Genüge, in der der entsprechende Schauspielertypus eine bedeutende Stellung einnimmt. Berger hat vom alten Burgtheater gesagt, seine stärkste Eigenschaft sei die „Innigkeit und die Kraft des Gefühlsausdruckes, den seine besten Künstler in die dramatische Rede zu legen wußten", gewesen23. Die Reihe der abgeschliffenen Charaktere im modernen Fach der Salonliebhaber mit ihrer Eleganz setzt mit Maximilian Korn (1782 - 1854) ein. Laube hat an ihm das Muster eines Schauspielers gezeigt, der unfähig war, tragische Rollen zu verkörpern. Sein Hauptmangel war, daß ihm „„Schwung und innere Begeisterung" fehlten. Auch Schloß ihn „eine feine, reservierte, moderne Haltung" von tragischen Rollen aus. Korn habe „keine Ader von einem Heroen der Vorzeit" gehabt. Im Schauund Lustspiel war er zuhause. „Das Vermeiden von Unschicklichkeiten und das weite Bereich der empfehlenden Negative, kurz Alles, was zum geselligen Takte gehört, war ihm von Natur eigen. Ein elegantes Äußere dazu, eine interessante Physiognomie und ein geschmackvolles Verständnis für alle Details szenischer Wirkung machten ihn zum angenehmsten Typus 22 Auguste Wilbrandt-Baudius: Aus Kunst und Leben. Zürich, Leipzig, Wien 1919, S. 16. 2 3 Berger: Meine Hamburgisdie Dramaturgie. Wien 1910, S. 85.
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einer Frackfigur [ . . . ] Geschmack war die Summe seines Wesens, Vorsicht und Behutsamkeit die Leiterin all* seiner Schritte." Er „erinnerte an einen Diplomaten, der einen charmanten Eindruck machte. So angenehm, so verbindlich, so bequem!" 24 Korns Eigenart setzte nach ihm Karl Fichtner (1843 - 1873; 1824 - 1865 am Burgtheater), das „Urbild ungesuchter Vornehmheit" 25 fort, dessen große Liebenswürdigkeit Ernst (1844- 1911) und Helene Hartmann (1843 - 1898) nach ihm repräsentierten, die auch J. Bab als „liebenswürdig" 26 bezeichnet. Fichtner hatte sich seinen Nachfolger Adolf von Sonnenthal (1834 - 1909; seit 1856 am Burgtheater) herangebildet. Dieser jugendliche Held und Salonliebhaber glänzte als Bonvivant in den Stücken von Bauernfeld, Freytag, Lindau, Scribe, Sardou usw. Berger erwähnt seine „weiche und vornehme A r t " und seine „liebenswürdigen, eleganten und gefühlvollen Qualitäten". 27 Man rühmte die „Herzlichkeit" seines Tonfalls, das beredte Spiel seiner Hände. Für einen Kritiker vom Range Ludwig Speidels wurde das Beiwort „liebenswürdig" geradezu zu einem Kriterium des Urteils über Schauspieler28. WilbrandtBaudius nennt Sonnenthal: „Unendlich sympathisch, weichstes liebenswürdigstes Lächeln. Vollendete Artigkeit, höchst zurückhaltend. Entzückender Salonliebhaber". Fichtners „Bescheidenheit, Reinheit der Seele" sei ihm Vorbild gewesen29. Derselbe Sonnenthal spielte aber auch Shakespeares Tragödien, so 1868 und später den Hamlet, über dessen Darstellung Jakob Minor urteilte: „Es war ungefähr das Niveau der Comédie larmoyante oder des bürgerlichen Trauerspiels oder eines Rührstücks der Birch-Pfeiffer, auf dem er sich bewegte: sein Hamlet war nicht tragischer als sein Mellefont. Wenn er nach den Monologen, in denen er nie mit sich selbst, sondern immer zum Publikum sprach, mit fliegendem Mantel und sich auf den Sohlen wiegend, in feschem und flottem Abgang die Szene verließ, dann wurde mein Glaube an die Melancholie dieses Dänenprinzen tief erschüttert. Noch mehr aber, wenn er ebenso fesch die lange Rede begann: ,Welch ein Meisterstück ist der Mensch' [ . . . ] eine Rede, die den ganzen Hamlet enthält, die Empfindung des Kranken für die Gesundheit, die aber bei Sonnenthal einen kerngesunden Ausdruck fand. Nein, in ihm steckt kein Hamlet." 3 0 Zur näheren Bestimmung des Tragischen im Drama kann gesagt werden, daß es jenseits der Grenzpfähle bürgerlichen Familienlebens angesiedelt ist. 2 4
Laube a.a.O. S. 108 f. Wilbrandt-Baudius a.a.O. S. 41. Julius Bab: Kränze dem Mimen. Emsdetten (Westf.) 1954, S. 248 f. Berger: Dramaturgie. S. 84. Schon bei Tieck a.a.O. I , 19. H e i n z Kindermann: Theatergeschichte Europas. Salzburg 1965. V I I , 246. 30 Jakob Minor: A d o l f Sonnenthal. I n : Biographische Blätter. Hrsg. v. Anton Bettelheim. I I (1896), 441 ff. Zitat S. 453. 25 26 27 28 29
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So urteilt z. B. C. L. Costenoble über „alle tragischen Rollen" Ludwig Lowes (1795 - 1871), sie seien alle „zu gemein-bürgerlich", es fehle in Ton und Vortrag „das Erhabene". Als Hamlet sei Löwe „nur ein als Hamlet verkleideter ehrenwerter Bürgersmann". 31 Darin besteht wohl Übereinkunft, daß die tragische Wirkung, der „Stil", einem aus den Niederungen des konventionellen Gesellschaftslebens erhebenden Aufschwung zu höherer Wahrheit mittels der schöpferischen Phantasie entspringe. Klingemann tadelte Iffland: „Sein astrologischer Wallenstein [. . . ] erschien durchaus maniriert und überkünstelt; indem es ihm an schöpferischer Phantasie mangelte, sich hier zu einer höhern Wahrheit selbst emporzuschwingen." 32 Ähnlich urteilt auch Tieck über Iffland, dessen Phantasie nicht schöpferisch, dessen Humor nicht poetisch gewesen sei. Solche Schöpferkraft bedeutet aber die Fähigkeit, Gestalten gleich einem zweiten Prometheus zu schaffen, die leben, obgleich sie nicht der Wirklichkeit nachgeahmt sind. Moritz Heydrich berichtet von Otto Ludwig: er „hatte ein tief eindringendes Verständnis der Schauspielkunst, wie ich es nur bei Tieck fand, alle seine dramatischen Pläne gingen von einem genialen Zusammenwirken dichterischer und schauspielerischer Phantasieanschauungen aus, das man auch in den kritischen Untersuchungen seiner Shakespeare-Studien überall finden wird." 3 8 Der Schauspieler bedürfe einer Eigenschaft, die Tieck, Klingemann, Rötscher, Otto Ludwig und Berger übereinstimmend „schöpferische (oder schaffende) Phantasie" nennen. Als Inbegriff solcher Schöpferkraft, als Herr einer schaffenden Phantasie erschien vielen Zeitgenossen der Schauspieler Ludwig Devrient (1784 bis 1832) 34 , von Iffland als dessen Nachfolger in Berlin erkoren und von diesem selbst als „Menschendarsteller" erkannt. Devrient kam, sah und siegte. Er hatte die Verwegenheit, in Berlin am 1. April 1815 als Antrittsrolle den Franz Moor zu spielen, in allen Zügen ein Gegensatz zu der von Iffland her gewohnten Auffassung. Den Gipfel seiner Laufbahn erreichte er im März 1817 mit der Darstellung des Falstaff im ersten Teil von Shakespeares ,Heinrich I V / Der zweite Teil (Januar 1820) war vom Stück her kein Erfolg, und 1820 hatte Devrient seinen größten Mißerfolg mit 31
Carl Ludwig Costenoble: Aus dem Burgtheater. Wien 1889. I I , 280. August Klingemann: Kunst und N a t u r . Blätter aus meinem Reisetagebuche. Braunschweig 1819. I , 405 f. 33 Heydrich a.a.O. I , 143. 34 Vgl. Georg Altmann: Ludwig Devrient. Leben und Werk eines Schauspielers. Berlin 1926. Ebenso Julius Bah: D i e Devrients. Geschichte einer deutschen Theaterfamilie. Berlin 1932. 32
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Calderons ,Der Arzt seiner Ehre'. M. Heydrich stellt eine Verbindung mit Devrient her. Man erzähle von ihm, „daß das Sicheinleben in die dargestellten, gleich Anfangs fest und klar geschauten tragischen Gestalten, besonders Shakespeare's, ihn Wochen lang so ausschließlich beschäftigte, daß er nichts Anderes sah, als immer neu auftauchendes Phantasiedetail, dieser lebendigst vor ihm stehenden Charaktere, daß dann bei der Bühnendarstellung eine tragische Wirkung mit so eigentümlich poetischer Wahrheit, mit so fesselnden individuellen Zügen erreicht wurde, daß sie die Darstellungen der anderen Schauspieler völlig verdrängte, weil sie mit der seinigen auch nicht entfernt zu vergleichen waren. In sehr ähnlicher Weise, mit durchaus schauspielerischem Instinkt, lebte Ludwig Devrient in stiller Isoliertheit mit den sich ihm in sinnlich-lebendiger Phantasieanschauung offenbarenden tragischen Charaktergestalten. Das gab auch den flüchtigsten Skizzen derselben eine fein detaillierte poetische Wahrheit, eine drastischtheatralische Geberde, die mit wenigen Zügen, aber wie mit Flammenschrift das Innere der Charaktere zeigen." 35 Schon Goethe sprach in ,Wilhelm Meisters Lehrjahren' von der produktiven Imagination oder Einbildungskraft. Der Entdecker der Psychologie des schöpferischen Elements in der Nachbildung war Karl Philipp Moritz, der selbst zeitweise Schauspieler war 3 6 . Goethe erklärte: „Zur Anschauung gesellt sich die Einbildungskraft, diese ist zuerst nachbildend, die Gegenstände nur wiederholend. Sodann ist sie produktiv, indem sie das Angefaßte belebt, entwickelt, erweitert, verwandelt." 37 Goethe setzte diesen Begriff sogar mit dem „Dämonischen" in Beziehung. Der Begriff begegnet auch bei dem durch die Deutschen angeregten Engländer Samuel Taylor Coleridge (1772- 1834) in dessen Vorträgen Shakespeare' (1818 - 19) 38 . Ein Zeugnis dafür, daß „schaffende Phantasie" ein für den Tragiker wesenhaftes Erfordernis ist, stellt ihre Erwähnung bei Otto Ludwig dar: „Es handelt sich hier von einer Welt, die von der schaffenden Phantasie vermittelt ist, nicht von der gemeinen; sie schafft die Welt noch einmal, keine sogenannte phantastische Welt, d. h. keine zusammenhanglose, im Gegenteil, eine, in der der Zusammenhang sichtbarer ist als in der wirklichen, nicht ein Stück Welt, sondern eine ganze, geschlossene, die alle ihre Bedingungen, alle ihre Folgen in sich selbst hat." Ludwig fügt auch die Merkmale der „Durchsichtigkeit" und der Totalität gegenüber bloß realen Gestalten hinzu: „Ein Stück Welt, solcher Gestalt zu einer ganzen gemacht, 35 Heydrich a.a.O. I , 142 f. 36 Vgl. dazu des Verfassers ,Karl Philipp M o r i t z und die dichterische Phantasie* in ,Deutsche Dichter der Klassik und Romantik'. Wien 1975, S. 79 ff. 37 Z u Knebel, 21. I I . 1821. 38 Shakespeare. Englische Essays aus drei Jahrhunderten zum Verständnis seiner Werke. Hrsg. v. Ernst Th. Sehrt, Stuttgart 1958, S. 92.
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in welcher Notwendigkeit, Einheit, nicht allein vorhanden, sondern sichtbar gemacht sind." 39 Mögen auch während des 18. Jahrhunderts vielerlei Gedanken über Schauspielkunst geäußert worden sein, so bedeutet es eine der bleibenden Neuerungen der romantischen Kritik, die Schauspielkunst in den Rang einer gleichberechtigten Kunst an die Seite der anderen Künste erhoben zu haben. Die Brüder Schlegel und Ludwig Tieck behandelten sie als eine selbständige Kunst. Tieck konnte meinen, nur das sei „wahres Theaterspiel, wenn selbst die schöpferische Phantasie des Zuschauers, der mit dem Gedichte innig vertraut zu sein wähnt, durch neue Entdeckungen überrascht wird, wenn das ganze, so wie einzelne Szenen und Stellen, dem Kenner in ein neues, überraschendes Verhältnis treten, wenn bei Wiederholung auch das Alte, vorher Unbeachtete in frischer Bedeutung sich erhebt, mit einem Worte, wenn das Spiel zu einem wahren, für sich lebenden Kunstwerk erhoben wird." 4 0 Er betonte, daß ihm das Spiel von Heinrich Anschütz (1785 - 1865) als Lear wie eine Erklärung der Dichtung erscheine. Als er Anschütz im Burgtheater sah, schrieb er: „Wahrhaft und unbedingt als großer Meister zeigt er sich aber in der letzten Hälfte der Tragödie. Es erfordert eine seltne schaffende Phantasie, um die sonderbaren Forderungen des Dichters in Wirklichkeit zu setzen, ihn zu erklären, und für alle jene kühnen Ubergänge in Stimme, Gebärde und Stellung einen poetischen Zusammenhang zu finden, und dabei doch alle bizarren Unterbrechungen, alle Annäherungen an das Komische und Lächerliche in ihrer ganzen Kraft stehen zu lassen. Wer mit dem Dichter innigst vertraut ist, immer und immer wieder diese Szenen seiner Phantasie vorgeführt hat und jedes Wort auswendig weiß, für einen solchen gibt es kein größeres Entzücken, als von einem wahren Schauspieler sich vieles in einem neuen Lichte vorstellen, gewissermaßen ganz neu erklären zu lassen, überrascht zu werden durch große poetische Wahrheit, die ganz nahe und in der Sache selber liegt. Dies ist die wahre Art, den einzigen Dichter zu verherrlichen und sich seinem Geiste nahe zu stellen, nicht aber jenes Jagen nach willkürlichen neuen Lesearten, das die Engländer auf einige Zeit so von der Bahn des Richtigen und Schönen entfernt hat." 4 1 So meint Tieck auch von J. Fr. Flecks (1757- 1801) Wallenstein: „Sein großartiges Ahnungsvermögen erklärte manche Stelle, und setzte sie in ein so helles Licht, in welchem sie dem Dichter vielleicht selbst nicht so deutlich vorgeschwebt hatte." 42 39
O t t o Ludwig a.a.O., Abschnitt ,Der poetische Realismus 4 . 40 Tieck a.a.O. I , 98. « Tieck a.a.O. I I , 249 f. 42 Tieck a.a.O. I , 98.
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In den Überlegungen und Theorien, worin der Ursprung der Tragödie wohl gefunden werden könnte, sei ein Gedanke hervorgehoben, nämlich was die Tragödie der Griechen wie auch die tragische Schauspielkunst der Neueren vom Ursprung her nicht waren: Nachahmung der Wirklichkeit ( μίμησις ). Jakob Burckhardt stellt diesen Gesichtspunkt an die Spitze des Tragödien-Kapitels seiner ,Griechischen Kulturgeschichte', daß nämlich „auf dem Boden der bloßen Lebensnachahmung keine Tragödie erwächst". Die griechische Tragödie zeige „so deutlich als möglich" auf einen „nicht mimischen" Ursprung hin. Eines der Merkmale der konventionellen und der tragischen Kunst liegt in der Unterscheidung von Wirklichkeit und Naturwahrheit. Schiller hatte festgestellt, die Bethmann habe keinen „tragischen Stil", es sei in ihrem Mund „alles zu wirklich" gewesen. Anders ausgedrückt, sie habe mit diesem Wirklichen eben nur das „Reelle", die Prosa, nicht aber das Ideelle oder das „Geistige" gegeben. Tieck wie Berger stimmen überein, daß hohe Schauspielkunst „Wahrheit" geben solle. Schauspieler sein, hieß — auf weite Strecken des 18. Jahrhunderts — die Fähigkeit besitzen, Wirklichkeit kopieren zu können, das heißt beliebige Mensdien täuschend nachzuahmen. So erklärt z.B. Moritz: „Iffland war zum Schauspieler geboren. Er hatte schon als ein Knabe von zwölf Jahren, alle seine Mienen und Bewegungen in seiner Gewalt — und konnte alle Arten von Lächerlichkeiten in der vollkommensten Nachahmung darstellen." 43 Solche Kopien riefen Lachen hervor, und gaben die nachgeahmte Person der Lächerlichkeit preis, was für die Menschen des 18. Jahrhunderts so gut wie zerstörtes Ansehen der Person bedeutete. Audi Anton Reiser sagt, er habe nichts so gefürchtet, wie lächerlich zu werden. Respektspersonen seien ernsthafte Personen. Es konnte kein Zufall sein, daß der junge Iffland gerade Prediger nachahmte. Devrient aber verfügte über die Mittel, eine Leistung zuwegezubringen, die sich dem die bloße Wirklichkeit kopierenden Schauspieler versagte. In der Schauspielkunst merkt man das Von- a u ß e n -Gestalten einer Figur daran, daß der Einzelzug — wie bei Iffland — die einzelne Einlage, die vereinzelte Geste zum Selbstzweck werden. Frau von Varnhagen, eine Verehrerin Flecks, konnte Ifflands „Nuancenspiel" kein Interesse abgewinnen. Sie hörte Ifflands wegen auf, Theater zu besuchen. Aber als sie Devrient sah, meinte sie, dieser spiele nicht wie Iffland, sondern „von innen her". Er sei von seinem Vorbild, nicht vom Parterre erfüllt. Hier war ausgesprochen, daß ein Zusammenhang zwischen dem Spielen für das Parterre und dem Zerflattern einer Rolle in eine Vielfalt von Nuancen bestehe. Der Gegensatz war jenes „Von innen her".
43
Moritz
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Im selben Sinne verurteilt ein Kritiker die Darstellung des Malvolio durch Theodor Döring: „Er tritt heraus mit der Forderung ,plaudite, amici', [. . .] er ist nicht der shakespearsche Malvolio, nicht der Malvolio, der wider Wissen und Willen nur für die übrigen Personen des Stückes, nicht aber in seinen eigenen Augen ein Narr ist; Dörings Malvolio kennt seine Narrheit, er führt sie mit Absicht und Behagen zum Ergötzen der Mitspielenden und des Publikums durch." 44 Wahre Darstellung dürfe nicht als ein „ad spectatores" wirken. Das hieße, eine Gestalt von außen her zusammenflicken. Dasselbe hebt A. W. Schlegel von Shakespeares Phantasieanschauung hervor: „Das Unbegreifliche und Unerlernbare dabey bleibt, daß die Personen scheinen müssen, nichts um des Zuschauers willen zu sagen oder zu thun, und daß der Dichter dennoch durch die Darstellung selbst, ohne hinzugefügte Erklärung, die Gabe mitteilt, sie bis ins Innerste zu durchschauen." 45 Die letzte Absicht der Tragödie, zumal der Engländer und Shakespeares, zielt ab auf die Darstellung des Wesens, im Gegensatz zum Konventionellen. „Leidenschaft, Wahrheit, Tiefe wollen erheben und erschüttern", weshalb denn auch das Erhabene für die Tragödie gefordert wird. Der Gegensatz dieses Tragischen ist die „schon fertige Phrase für Leidenschaft und Größe", ja die Rhetorik. Man könnte nicht einmal sagen, die Endabsicht ginge einzig darauf, das Wahre im Menschen auszudrücken im Gegensatz zu dessen konventionellen Ausdrucksformen. Dies war der Ursprung der englischen Tragödie, die nicht nur im Natürlichen, sondern selbst im Humor, ja zuweilen im Komischen Hilfe sucht, um das Gemälde recht treu und ergreifend zu machen. Aus diesem Bedürfnis nach Wahrheit, Leidenschaft, Tiefe und Größe waren in England wie später in Deutschland „die größten Tragödien-Spieler diejenigen, die auch im Lustspiel, in Charakter-Rollen als die vorzüglichsten erschienen." Tieck sieht es geradezu als notwendig an, denn es ist ihm unbegreiflich „ [ . . .] wie man einen tragischen Charakter des Shakespeare groß und wahrhaft darstellen kann, ohne eben so, wie der Dichter getan hat, hie und da, aus dem Schauspiele einen Ton, einen Anklang und Anhauch [ . . .] hinüber zu nehmen, [ . . .] auch waren Ekhof, Schröder, Reinicke, Bockmann, gerade wie Burbadge, Betterton und Garrick im Komischen, wie im Tragischen, große Künstler." 46 Die Frage, ob und wie weit Gestalten S h a k e s p e a r e s „tragisch" gedacht und darzustellen seien, war keineswegs eindeutig zu beantworten. Die allein tragische Auffassung der Hamlet-Figur entstand in Deutschland 44 O t t o Franz Gensichen: Berliner Hofschauspieler. S. 112. « Schlegel a.a.O. S. 133. 4® Tieck a.a.O. I , 92 f.
Silhouetten. Berlin
1872,
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erst im 18. Jahrhundert. Aber es gab ja noch eine andere Auffassung, die Hamlets gespielte Verrücktheiten als belachenswert empfand. Es muß eine Zeit gegeben haben, da man Hamlet in die Nähe des Hanswursts spielte, denn noch Adolf Müllner (1774- 1829) spricht vom „altherkömmlichen, aus bunten Lappen zusammengenähten Prinzen." 47 J. Fr. Schink berichtet über Brockmanns Hamlet, er habe in der Szene der Begegnung mit Ophelia nach „Sein oder Nichtsein" den „Ton des Hanswursts" gehabt und habe durch sein den Gecken Spielen die Rührung weglachen gemacht.48 Hamlet spielt den Narren, Brockmann aber war als Hamlet ein Narr. Die Mischung des Komischen und des Tragischen machte den Darstellern des Hamlet sehr zu schaffen. So sagt Tieck vom Engländer Kean: „Alles Heitere, alle witzigen Einfälle, die beißenden, bittern Stellen wurden von ihm im besten Ton des Lustspiels gegeben. Mit dem tragischen Teil seiner Rolle wußte er eigentlich nichts anzufangen." 49 Tieck spricht 1820 von „Humor" im ,Hamlet'. 50 Nennt doch noch Speidel den Hamlet Ferdinand Bonns einen „tragischen Clown". 5 1 Rötscher vermißt an Emil Devrients Hamlet den „Humor der Tollheit", der die „tragische Wirkung" erziele. Hamlet dürfe nicht nur Schwermut zeigen. Er spielt „in verstelltem Wahnsinn [. . .] jene Stimmung Hamlets, in welcher er sich durch den Witz Luft macht. Er zeigt den Spott, der sich gegen sich selbst wie gegen seine Umgebung richtet und überdeckt seine innere Zerrissenheit künstlich. Dies wirkt tragisch." 52 Schauspieler wie Ferdinand Esslair (1772- 1840) vermochten sogar König Lear „humoristisch" darzustellen 53. Der eigentliche Grund hiefür lag in der Nötigung der Erkenntnis, daß solche Wirkung gerade Schwermut, Hypochondrie und Melancholie zu vermeiden hatte, soweit solches der empfindsamen Epoche zugehörte. Ähnlich war es mit Shylock bestellt. Noch Iffland hatte diese Rolle mit vielen komischen Wirkungen ausgestattet, während Fleck daraus eine Tragödienfigur machte. Zelter sah die Rolle von Devrient als „rein tragische Figur" dargestellt. Aber August Haake meint: „Denkt man sich Shylock und den großen Prozeß als Mitte — und Zielpunkt der Handlung, so hat Devrient recht". Man könne sich aber Shylock auch denken „als den dunklen Hintergrund, auf welchem das bunte Farbenspiel aller Humorgattungen nur desto lebhafter hervortreten soll!" 5 4 Zelter berichtet, daß Ifflands Shylock 47 4 8 49
so 51 52 53 54
A d o l f Müllner im ,Morgenblatt für gebildete Stände'. 1818, N r . 240 ff. Johann Friedrich Schink : Über Brockmanns Hamlet. Berlin 1772. S. 56. Tieck a.a.O. S. 179. Tieck a.a.O. S. 361. Bab a.a.O. S.261. Rötscher a.a.O. S. 275. Costenoble a.a.O. S. 329. August Haake : Theater-Memoiren. M a i n z 1866.
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die Lacher zu gewinnen wußte und 2. Funck überliefert, Iffland habe in dieser Rolle „drastisch-komisch" auf den Zuschauer gewirkt, „während bei Devrient ein Schauer die Haut überlief." 55 Für Zelter war „die Rolle wahrhaft tragisch." 56 Bei Shakespeare erscheint das „Tragische" niemals isoliert. A. W. Schlegel hat schon auf die Stelle hingewiesen, wo Shakespeare „über die von dem bloß unglücklichen Ausgange hergenommene Bestimmung des Tragischen" scherzt: U n d tragisch ist es auch, mein gnäd'ger Fürst, Denn Pyramus bringt selbst darin sich um.
Der pedantische Polonius zählt die Gattungen auf, die die Schauspieler zu spielen vermögen: „Tragödie, Komödie, Historie, [. . . ] Tragiko-Historie, [. . . ] Tragiko-Komiko-Historiko-Pastorale, u.s.w." Schlegel meint, manche haben eingesehen, „daß Shakespeares Stücke im Grunde alle zu derselben Gattung gehören, wiewohl bald dieser, bald jener Bestandteil, das Musikalische oder das Charakteristische, die Erfindung des Wunderbaren oder die Nachahmung des Wirklichen, das Pathetische oder das Komische, Ernst oder Ironie in der Mischung vorwaltet." 5 7 Die an Shakespeare zu gewinnenden Einsichten in das Tragische wurden schon 1668 in Drydens ,Essay of Dramatic Poesie'58 dahin ausgesprochen, daß das Gegensätzliche der Menschennatur keine „anhaltende Ernsthaftigkeit" dulde. 59 Die hauptsächlichste Schwierigkeit lag im englischen Wort „humour" , in der Mischung des Tragischen und Komischen, welche nach Meinung jener Kritik, die diese Mischung verteidigt, der menschlichen Natur entspreche. Dryden erhebt sich bis zum Lobspruch der Tragikomödie, die er über alle Alten und Neueren als die beste Art, für die Bühne zu schreiben, preist. Lessing hat diesen Essay 1758 übersetzt und in seiner ,Theatralischen Bibliothek' veröffentlicht. So willkommen ihm die Hilfsmittel waren, die ihm Dryden in seinem Kampf gegen die französische Klassik an die Hand gab, so wenig mochte er sich dennoch mit dem englischen „Humor" als dem Wechsel des Tragischen und Komischen abfinden. Er verteidigte in der Tragödie die „anhaltende Ernsthaftigkeit". In der Natur der Erscheinungen finde zwar jener Wechsel statt, nicht aber in gleichem Maße „ i n der Natur 55 Z . Funck: Aus dem Leben zweier Schauspieler, A . W . Ifflands und Ludwig Devrients. Leipzig 1838. I , 250 f. 56 Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter. Hrsg. v. L. Geiger. Brief vom 13. M a i 1815. I , 416. 57 Schlegel: 2. Teil. S. 150. 58 Ed. by Thomas Arnold, O x f o r d 1889. 59 Vgl. Hans Wolff heim: Die Entdeckung Shakespeares, Deutsche Zeugnisse des 18. Jahrhunderts. Hamburg 1959, S. 19 ff.
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unserer Empfindungen und Seelenkräfte". 60 Die Auseinandersetzung darüber bildet einen der wichtigsten weiteren Anstöße, die schließlich zum Standpunkt der Romantiker und Skakespeare-Apostel führten. Tieck läßt zu Beginn seiner ,Verkehrten Welt' sagen: „Der Ernst sucht endlich den Scherz, und wieder ermüdet der Scherz und sucht den Ernst, doch beobachtet man sich zu genau, trägt man in beides zu viel Absicht und Vorsatz hinein, so ist es gar leicht um den wahren Ernst, so wie um die wahre Lustigkeit geschehen." Und E. T. A. Hoffmann meint in den »Seltsamen Leiden eines Theater direktors': „Wer mag denn die Ironie wegleugnen, die tief in der menschlichen Natur liegt, ja die eben die menschliche Natur in ihrem innersten Wesen bedingt und aus der mit dem tiefsten Ernst der Scherz, der Witz, die Schalkheit herausstrahlen." Und von Shakespeare: „Als laute Verkünder des eigentlichen Humors, der das Komische und Tragische selbst ist, hat er seine Narren aufgestellt." Seine „komischen Charaktere" seien „auf tragischen Grund basiert." Schlegel nennt das dem Tragischen beigemischte Komische im romantischen Drama des Shakespeare und Calderon ein in die Darstellung selbst hineingelegtes mehr oder weniger leise angedeutetes Eingeständnis ihrer übertreibenden Einseitigkeit in dem Anteil der Fantasie und Empfindung [ . . . ] wodurch also das Gleichgewicht wieder hergestellt wird." 6 1 Laube handelte richtig, als er die Rolle des Falstaff Anschütz, einem Meister von „tragischer Gewalt" 6 2 , einem Freunde Devrients, anvertraute. (Die literarische Welt kennt die Schilderung von Anschütz' Verkörperung des Königs Lear in Stifters ,Nachsommer'.) Laube begründet sein Verfahren — und gibt damit eine Charakteristik des Humors von Shakespeares A r t : Anschütz habe den der Rolle entsprechenden „Studentenhumor" besessen. „Es ist nicht der Humor des gewöhnlichen Komikers, welcher aus dem Falstaff spricht. Falstaff lebt und webt in humoristischen Folgerungen, nicht in unmittelbarer Komik. Ich habe die beste Gelegenheit gehabt, das am lebendigen Fleische zu studieren. Als der alte Herr von dannen ging und die Rolle an [Friedrich] Beckmann [1803 - 1866] kam, da zeigte sich's, daß dieser ratlos vor der Rolle stand. Das war nicht seine Komik, und mit aufgezogenen Stirnrunzeln sah er mich an. Das Naturell genügte hier nicht; bewußter humoristischer G e i s t war hierzu nötig. Nachdem Beckmann die Rolle gelernt — es war in Karlsbad —, verpuffte er sie im Vortrage wie zischende Raketen, die nicht in die Höhe gehen. Er 60 61 62
Hamburgische Dramaturgie, 70. Stück. Sòlegel a.a.O. S. 207 f. Wilbrandt-Baudius a.a.O. S. 15.
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gab sich und dem Zuhörer nicht die Zeit, des humoristischen Kernes, der darin ruht, inne zu werden. Dieser Kern braucht eine Geistes-Operation, und für diese muß man sich und den Zuhörern Zeit lassen. Es sind nicht komische Späße, es sind trockene Folgerungen einer humoristischen Lebensanschauung. Das trockene Wort muß Zeit haben, von der feuchten Unterlage des Geistes — Humor heißt ja Feuchtigkeit — getränkt zu werden, und erst wenn es vollgesogen ist, lacht der Zuhörer. Immer und immer wieder mußt' ich ihm in den Zügel fallen, und endlich mußt' ich's ihm vorlesen, weil er sich unsicher fühlte. Herr Verstl war der andächtige Zuhörer, auf welchen hin experimentiert wurde, und es war ihm strenge verboten, aus bloßer Gefälligkeit zu lachen. Hätte ich Beckmann eine eigentlich komische Rolle vorlesen wollen, er würde mich schön ausgelacht haben; denn das verstand er besser als ich. Dies Falstaff'sche Wesen aber verstand er sehr langsam — ein Zeichen, daß die Rolle nur mit Vorsicht einem eigentlichen Komiker überlassen werden darf." 6 3 Devrient war ein Meister solch „künstlerischen Humors" (Fr. G. Zimmermann). Tieck spricht vom „poetischen Humor" im Gegensatz zum „grobkomischen" des Kotzebue. 64 Er blieb stets beim feinkomischen Andeuten. Er wußte sich in dieser Richtung eines Sinnes mit seinem Freunde Ε. T. A. Hoffmann, dessen Anteil gerade am Falstaff sein Brief an Fouqué, den Bearbeiter des zweiten Teiles von ,Heinrich IV. C , verrät, in dem er ein Zusammentreffen des Darstellers mit dem Bearbeiter vermittelt. Die durchschlagende Leistung, in der er den Tragöden wie den Komöden, und damit den Geist Shakespeares, überzeugend auf der Bühne verwirklichte, war sein Falstaff, der „Gipfel seines Lebenswerks". „Der Erfolg übertraf alles Dagewesene besonders weil es überhaupt das erste Mal war, daß man Shakespeare's ,Heinrich IV. C in Berlin zu sehen bekam, denn Iffland hatte sich nie an diese Rolle herangewagt. So schrieb denn die ,Vossische Zeitung', daß die Größe dieses Erfolges „keinen Vergleich gestattete mit allem, was seit Ifflands Tode über unsere Bühne ging", und der Zuschauer Immermann nennt nach dem Falstaff Devrient „den größten Schauspieler, den es gibt, gegeben hat und geben w i r d . " 6 5 Die Durchdringung des Tragischen mit dem Komischen war nicht nur eine Eigenheit Shakespeares. Sie stellte sich auch bei der Darstellung Mo 1 i è r e scher Figuren wie die des Geizigen ein. Costenoble vermerkt 1806, Iffland habe den Geizigen „mit unendlicher Fülle der Komik" ausgestattet, aber Harpagon sei doch „ein ganz ernsthafter Mann". Ja er habe sogar einen 63
Laube a.a.O. S. 176 f. Altmann a.a.O. S. 186 nennt Kotzebue den „sicheren Herrscher im grobkomischen Reich". es Altmann a.a.O. S. 156. 64
8 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 19. Bd.
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„ganz tragischen Moment, wo er die Kassette vermißt, und in Verzweiflung sein Schmerz wie ein Gebirgsstrom alles um sich her vernichtet. Iffland ließ aber diesen großen Moment beinahe fallen, er hob nur das Komische darin stark hervor." 66 Es ist ein auffallendes Phänomen, daß, wie Paul Lindau bemerkt, im ,Geizigen' ein Riß in der Dichtung sei. I n Frankreich werde Harpagon von den „komischen Vätern" und nicht von den sogenannten Charakterdarstellern gespielt. Die Rolle ähnelt einer Shakespeare-Rolle, denn sie enthalte auch „Dämonisches und Unheimliches". Deshalb läßt sich aber volle Einheitlichkeit nur herstellen, wenn der Schauspieler ζ. B. das Komische allein darstellt, wie dies Iffland und Lewinsky taten. So wurde audi an Theodor Doerings Eingebildetem Kranken bemängelt, er habe nur einen „armen Tropf", nicht aber den „Narren des Todes" gespielt, „nidit ein einzigesmal" sei die Verrücktheit Argans zum Ausbruch gekommen.67 Wenn eingangs durch die beiden Motti angedeutet wurde, daß der unmittelbare Ausdruck der Empfindungen und Leidenschaften durch Mittel erfolge, über die einzig die Schauspielkunst gebiete, so soll dies nicht allein auf eine Gegenüberstellung von Dichtung und Kunst des Schauspielers hinweisen. Was gemeint ist, zeigen die Möglichkeiten der Schauspielkunst selbst, bedeutet es doch vielleicht überhaupt die entscheidende Frage, in welchem Ausmaß der Schauspieler den Bereich der Wortsprache zu durchstoßen und seine Worte durch andere Ausdrucksmöglichkeiten geistiger und seelischer Vorgänge mittels des Ausdrucksbereichs des Körperlichen zu erweitern vermag. Laube hat die modernen Realisten unter den Schauspielern daran erkannt, daß sie zwar vorzügliche Sprecher waren, aber dennoch nicht über Naturell und Organ verfügten, um „romantischen Aufschwung", Ausdehnung in Wärme und Glut darstellen zu können. So meint Laube, tragische Schauspieler seien „zum Teil schwächer in der Behandlung der rednerischen Form". 6 8 Dasselbe wurde auch schon an Devrient und seiner leisen Stimme wie auch an Mitterwurzer (1845 - 1897) beobachtet. Es soll im folgenden auf die Verbindung aufmerksam gemacht werden, die zwischen dem tragischen Ausdruck und den einzig dem Schauspieler zur Verfügung stehenden Möglichkeiten jenseits der Rede besteht. Tragödie und die ihr gemäße Darstellungskunst durchbrechen die Grenze der Wortsprache. Es ist eine weite Skala von Ausdrucksmöglichkeiten, die sich vom Tragischen aus beobachten lassen. Das deutsche Theater um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert läßt den Konflikt deutlich erkennen: 66 Carl Ludwig Costenoble: Tagebücher von seiner Jugend bis zur Übersiedlung nach Wien, hrsg. v. Alex. Weilen. Berlin 1912. S. 12. (Schriften der Gesellschaft für Theatergeschichte. Bd. 18. 19). 67 K a r l Frenzel: Berliner Dramaturgie. Erfurt 1877, I , 284. es Laube a.a.O. S. 373.
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je wirklichkeitsnäher, je mehr der gesellschaftlichen Konversation angeglichen, desto ferner steht die Sprache dem Ausdruck des Tragischen. Um 1800 hatten die besten Geister das Empfinden, daß es einen Gegensatz zwischen dem „Konversationston" und dem tragisch-ekstatischen Ausdruck gäbe. Die falsche Annäherung an den tragischen Ton ist die Deklamation, das sogenannte „hohle Pathos", im Gegensatz zur Rezitation. Natürlich stellen reiner Konversationston und tragischer Ausdruck nur Extreme dar. Der Ablauf eines Dramas zeigt eine sehr mannigfache Mischung beider. So wurde an der Orsina der Wolter gerühmt, sie habe Todesjubel unter der Maske des Konversationstons erkennen lassen. Tieck machte darauf aufmerksam, daß der Konversationston „überall die Basis jeder Kunstdarstellung" sein müßte. Man höre jetzt — 1829 — „oft die einfachsten Redensarten mit hohler, pathetischer Stimme sprechen." Schröders Einfachheit sei fast ganz von der Bühne verschwunden. 69 Ein Theaterleiter wie Laube, der, entgegen Fausts Bedenken, das Wort so hoch schätzte, verrät den aus der Literaturgeschichte geläufigen Parteigegensatz zwischen den Jungdeutschen und den Romantikern, wenn er in seinem Burgtheaterbuch nicht nur die dramatischen Schöpfungen der Romantiker abtut, sondern — trotz hellerer Einsicht, z. B. in das Wesen Shakespeares — sich auch in der Praxis der Schauspielkunst als ein Mann des goldenen Mittelweges zeigt. Er erzählt, daß ein Teil der älteren Künstlergeneration „gewissenhaftes Memoriren von Hause aus geringgeachtet" habe. „Diese Gruppe schließt echte Darstellungstalente in sich, Namen von bestem Klange in der Theaterwelt, Leute, welche sich auf ihr Genie verließen und verlassen, welche die notwendigen Hilfsmittel der Kunst geringschätzten und geringschätzen, direkte Erben der Extempore-Komödie." Dann nennt er den Namen: „Ludwig Devrient steht an der Spitze; er hat oft böse Dinge gesprochen, wenn er, der richtigen Worte unmächtig, im Drange der Schlacht eilig vorwärts mußte". Dies sei „die geniale Richtung" gewesen. Devrient habe das Beispiel gegeben, „ernste Studien gering zu achten". Anspielend auf die Weinstube von Lutter und Wegener, höhnt Laube, es sei zu Devrients Zeiten sogar die Bezeichnung „denkender Künstler" als Spottwort im Umlauf gewesen, womit man die nach Laube notwendige Vertiefung des Talentes durch Bildung meinte. „Die mit starkem natürlichen Talente Ausgerüsteten, wie La Roche, waren am ehesten in Gefahr, in diesem Fuselgeiste aufzugehen, sich um weitere Ausbildung nicht zu kümmern. Ihr Mutterwitz schaffte ihnen geistige Anerkennung in den Theaterkreisen, und mit dieser Aner»9 Friedrich Ludwig Schmidt: Denkwürdigkeiten des Schauspielers, Schauspieldiditers und Schauspieldirektors Fr. L. Schm. Nach hinterlassenen Entwürfen zusammengestellt u. hrsg. v. H e r m a n n Uhde. Hamburg 1875.
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kennung begnügten sie sich.* 70 Das sprach, wenn nicht im engeren Sinn der Jungdeutsche, so doch der Parteigänger der guten Sprecher und letzten Endes aller jener, die eine Verbindung der Schauspielkunst zur „Bildung" für förderlich hielten. Solche dem Realismus nahestehende Haltung läßt sich auch an Seydelmann und dem Kunstphilosophen Rötscher erkennen, den Hebbel mit einem spöttelnden Epigramm bedacht hat: E i n philosophischer Analytiker der Kunst Fangt ihm den Adler, er w i r d ihn zerlegen, wie keiner, doch leider Sieht er den hölzernen oft für den lebendigen a n . 7 1
Seydelmann erklärte Rötschers ,Kunst der dramatischen Darstellung' zur „Bibel" der Schauspieler und Rötscher wußte Seydelmanns Kunst gegenüber jener Devrients ins rechte Licht zu rücken. 72 Tieck hat auf die englische Unterscheidung zwischen player und mime aufmerksam gemacht, wobei er freilich den Mimiker mit dem Naturkopisten (und damit auch Nachspötter) gleichsetzt, während im folgenden im Gegenteil gerade der Mimiker in die Nähe des Tragikers gerückt wird. Ulricis Schilderung der Darstellung des Lear durch Devrient zeigt dessen reiche Skala von mimischen Ausdrucksmöglichkeiten: „Ludwig Devrient war nach dem Urtheil des grossen Publikums wie der Kenner und Kritiker einer der ausgezeichnetsten Shakespeare-Darsteller der neueren Zeit, zwar nicht aller Shakespeare'scher Heldenrollen, — zum Macbeth, Othello, Coriolan fehlte ihm die Leibeskraft und Leibesstatur, — aber den Lear, Richard I I I . , 7 0
Laube a.a.O. S. 329 - 333. Vgl. Walter Sdmyder: Hebbel und Rötscher unter besonderer Berücksichtigung der beiderseitigen Beziehungen zu Hegel. Berlin 1923 (Hebbel-Forschungen. 10. Bd.). 72 „Unter den Darstellern neuerer Zeit gab Ludwig Devrient vom Shylock ein entschieden großartiges Bild. D e r Charakter Shylocks gehört zu denjenigen extremen Gestalten, welche im ernsten D r a m a Devrients ganzer Geisteseigenthümlichkeit am meisten zugänglich waren und deren seine s c h ö p f e r i s c h e P h a n t a s i e sich mit wahrem Genuß bemächtigte. Leider hat die Ungunst der Verhältnisse den Verfasser bisher verhindert, Seydelmann als Shylock zu sehn. D a r i n sind übrigens Kenner wie Laien einig, daß die Darstellung dieses Charakters zu Seydelmanns vollendetsten Leistungen gehört. Eduard Gans hob es namentlich stets mit großer Wärme hervor, daß Seydelmann uns noch mehr als L. Devrient, im Shylock einen Gattungscharakter versinnliche und dadurch einen mehr weltgeschichtlichen Eindruck hinterlasse. D a ß das Bild Shylocks in Seydelmanns Phantasie in sehr großartigen und entschieden ausgeprägten Zügen steht, hat dem Verfasser selbst eine nur flüchtige Unterredung mit dem Künstler über die N a t u r dieses Charakters bewiesen. Möchte übrigens der berühmte Darsteller in dem von uns entworfenen Bilde und unseren Forderungen an die Versinnlichung des Charakters, seine eignen Intentionen ausgesprochen und durch die wissenschaftliche Entwicklung seine A n schauungen bestätigt finden." H . Th. Rötscher: Abhandlungen zur Philosophie der Kunst. Vierte Abteilung. Berlin 1842, S. 147 f. 71
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Mercutio, Jago, Hubert, Shylock, Falstaff hat er bis zum Tode seiner künstlerischen Laufbahn gespielt. I d i erinnere midi seiner von der Berliner Bühne her, also aus der spätem Zeit seines Lebens, sehr deutlich, der überaus hageren Gestalt von mittlerer Grösse, des geistreichen Gesichts mit der gebogenen, scharf zugespitzten Nase, dem feingeschnittenen Munde und den grossen feurigen Augen, der eigentümlichen Beweglichkeit des Körpers, der langen, mageren, aber so ausdrucksvollen Hände. Diese Hände und die mächtigen Augen, verbunden mit einem entsprechenden Mienenspiel, waren ihm die Hauptmittel, ja fast die alleinigen Mittel der Darstellung. Durch Haltung und Stellung des Körpers konnte er nicht imponieren, denn er besass keine imposante Körperlichkeit; durch Kraft und Fülle der Stimme konnte er keine Wirkung erzielen, denn er besass keine wohlklingende, metallreiche Stimme, der Ton derselben, obwohl mannichfaltiger Modulation fähig, hatte vielmehr stets etwas Scharfes und schlug daher, zu stark angeschaut, leicht in das Schneidende, Gellende, Kreischende um; und heftige, unmässige gewaltsame Bewegungen des Rumpfes wie der Arme und Beine brauchte er nie, wo sie nicht schlechthin nothwendig waren, — ohne Zweifel eingedenk der goldenen Regeln, welche Hamlet den Schauspielern erteilt. So blieben ihm nur diejenigen Organe des Leibes zur Benutzung übrig, die gleichsam in unmittelbarster Beziehung zur Seele und dem seelischen Leben stehen. Daher war sein Spiel ebenso eine Vergeistigung des leiblichen als eine Verleiblichung des geistigen Ausdrucks: auf diesem Uebergewicht, dieser Macht und Herrschaft des Seelischen, Geistigen über das Sinnliche der Erscheinung beruhte vornehmlich der eigentümliche Zauber seiner künstlerischen Produktion." 73 Vom Lear Devrients schrieb ein Kritiker: „Es sind Töne und Klänge, die sich von selbst dem wunden Herzen, dem zerrissenen Innern entringen und ihren Jammer ausstöhnen."74 Von Seydelmanns Mephisto wird überliefert: „Von nun an hörte man, wenn Mephistopheles allein war, oder wenn er fortging, seltsame Töne, hohl, kläglich, wie das Lachen der Turteltaube, mit dem Schalle des Unkengeheuls vermischt, ein-, zwei-, dreimal kurz nacheinander ausgestoßen. Diese Töne kamen aus keiner Menschenbrust; sie waren allen befremdlich, man wußte nicht, was es war." 7 5 An dem „Ton" läßt sich die angedeutete Entwicklung vom 18. Jahrhundert bis zu den späteren Shakespeare-Spielern gut verfolgen. Zunächst seien zwei Beispiele Lessings angeführt, die zeigen, daß die Schauspielkunst seit Ekhof solche Töne zu finden und auszudrücken gelernt hatte. Sein Odoardo erschien dem Zeitgenossen als ein Nonplusultra im Zusammenspiel von 7 3 Hermann Virici : Ludwig Devrient als König Lear. I n : Jahrbuch der deutschen Shakespeare-Gesellschaft, I I (1867), 292 ff. 7 * Altmann a.a.O. S. 226. 75 August Lewald: Seydelmann und das deutsche Schauspiel. Stuttgart 1841. S. 158 ff.
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Blick, Ton und Gestik. Es ist für die Mittlerstellung Lessings aufhellend, daß er in ,Emilia Galotti' eine klassisch zu nennende Stelle hat (III/8), in der die Gewalt des „Tones" — eines Sterbenden — jenseits aller Worte Wahrheit enthüllt: Claudia.
Marinelli.
Marinelli war — der N a m e Marinelli war — begleitet mit einer Verwünschung — nein, daß ich den edlen M a n n nicht verleumde! — begleitet mit keiner Verwünschung — die Verwünschung denk* ich hinzu — der N a m e Marinelli war das letzte W o r t des sterbenden Grafen. Des sterbenden Grafen? Grafen Apiani? — Sie hören, gnädige Frau, was mir in Ihrer seltsamen Rede am meisten auffällt. — Des sterbenden Grafen? — Was Sie sonst sagen wollen, versteh* ich nicht.
Claudia.
(Bitter und langsam.) D e r N a m e Marinelli war das letzte Wort des sterbenden Grafen! — Verstehen Sie nun? — Ich verstand es erst auch nicht, obschon mit einem Tone gesprochen — mit einem Tone! — ich höre ihn noch! W o waren meine Sinne, daß sie diesen T o n nicht sogleich verstanden?
Marinelli.
N u n , gnädige Frau? — Ich war von jeher des Grafen Freund, sein vertrautester Freund. Also, wenn er mich noch im Sterben nannte —
Claudia. M i t dem Tone? — Ich kann ihn nicht nachmachen; ich kann ihn nicht beschreiben: aber er enthielt alles! — alles! — Was? Räuber wären es gewesen, die uns anfielen? — Mörder waren es, erkaufte Mörder! — U n d Marinelli war das letzte W o r t des sterbenden Grafen! M i t einem Tone! Marinelli.
M i t einem Tone? — Ist es erhört, auf einen Ton, in einem Augenblicke des Schreckens vernommen, die Anklage eines rechtschaffenen Mannes zu gründen?
Claudia.
H a , könnt' ich ihn nur vor Gericht, ihn vor Gericht stellen, diesen Ton! —
Dem Ton gesellte sich die Ausdrucksgewalt des Blickes. „Wenn Ludwig Tieck, Heinrich Laube und all die Anderen von dem genialen Mimiker Devrient sprachen, der des Wortes nicht bedurfte, dann dachten sie nicht an den Mund, an die Stirn, an die Nase — dann sahen sie vor sich dies ganz einzigartige Auge, das das überhaupt stärkste Wirkungsmittel seines Trägers war und der sichtbare Ausdruck seiner Genialität." 76 In Devrient herrschte der „mimische Trieb" als „fast dämonischer Hang zur Selbstentäußerung" (R. Wagner). Tieck sagte von ihm: „Er besaß ein großes Talent für Mienenspiel und Maske, man könnte ihn daher eher einen ausgezeichneten Mimen als Schauspieler nennen." 77 Die ,Vossische Zeitung' schrieb über seinen Cromwell in Raupachs ,Royalisten': „. . . man konnte der Worte entbehren, denn in seinem Mienenspiele lasen wir die traurige Geschichte seiner Schicksale . . . " Bei Devrient drängte „sich die mimische Maske der Rolle mit 7
« Altmann a.a.O. S. 192 f. Tieck a.a.O.
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einer überraschenden Keckheit hervor." 78 Die Worte ertönten oft nur wie Begleitung dazu oder folgten als Anhängsel. „Der Charakter war schon durch Maske, Mimik und Hantierung fertig [ . . . ] , während Anschütz den Charakter erst in der Rezitation entwickelt..." Devrient besaß „von Natur ein großes, hervortretendes Augenpaar", wie auch dem Porträt von Theodor Hildebrandt zu entnehmen ist. Sogar Iffland meinte, als man ihm sagte, Devrient habe eine schwache Stimme gehabt: „Das tat alles nichts [ . . . ] sein Blick entschied" und „Sein Gesicht hätten Sie sehen müssen."79 Die Wahnsinnsszenen des Lear spielte er „fast nur mit den Augen, und unterstützte den Ausdruck des Blicks nur durch ein entsprechendes Mienenspiel.. . " 8 0 Aber — und dieses Aber kann nicht übersehen werden — eben dieser berühmte Augenausdruck, Hauptmittel des Mimikers Devrient, erzielte Wirkungen, die nicht allein jene des wahren Tragikers, sondern auch jene des mimischen Verwandlers und Naturkopisten waren. Dies ist an ihrer aggressiven, peinigenden, ja letzten Endes sogar zauberisch-tödlichen Wirkung abzulesen. Iffland hat dies angedeutet, wenn er von Devrients „Blick" sagte: „Wohin er den wandte, da erblindete man". „Louis Schneider erzählte, er habe als Partner in Raupachs ,Feindlichen Brüdern' vor den verwirrenden Blitzen dieser Augen mitten im Spiel Gedächtnis und Sprache verloren, und der Page, der Richard I I I . die Früchte zu reichen hat, soll durch den eiskalten Blick, von Grauen übermannt, auf offener Bühne ohnmächtig geworden sein." 81 Das war elementare, ja bewußt unmenschliche Naturkraft. Daß aber trotz aller elementarer Wildheit das Menschlich-Geistige nicht zu kurz kommen durfte, daß letzten Endes die vollkommene Durchdringung der elementaren Natur mit dem Geistigen die letzte zu erstrebende Wirkungsmöglichkeit, auch des Tragischen, das höchste Ziel des Menschendarstellers war und blieb, das zeigt das Beispiel Seydelmanns, dessen „Natur" mit einer realistischen Kopie verglichen werden könnte. Lessing hatte die isolierte anhaltende Ernsthaftigkeit aus einem Unterschied von Natur und Mensch, Natur und Geist, Natur und Kunst herleiten wollen. Nun zeigt sich aber, daß die großen Darsteller im Gefolge Devrients diese Grenzscheide durchbrechen konnten und in ihren Höhepunkten vielen Beobachtern den Eindruck entfesselter Naturkräfte machten. Dies geht so weit, daß sich Ludwig Gabillon (1828 - 1896) im nachfolgenden Brief in eine Vorexistenz als Elementargeist versetzt. Die Tragik aus Shakespeares 78 Altmann a.a.O. S. 192. ?» Schmidt a.a.O. I , 293. so Virici a.a.O. S. 297. 81 Altmann a.a.O. S. 194 f.
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Geist durchbricht die Schranke, die den Menschen von den Naturkräften trennt. Metaphernmächtige Schilderer dieser Art von Schauspielkunst haben für sie wiederholt und unabhängig voneinander das Bild einer gewitternden Nacht gebraucht. Laube vergleicht Devrient mit einer „Gewitternacht in all ihrer grellen Schönheit". J. F. Schink hatte schon von Ekhofs Worten, die er als Odoardo in ,Emilia Galotti c zu sagen hatte, „Doch, doch, meine Tochter", einen ähnlichen Eindruck empfangen: „Wie vom nächtlichen Gewitter die Erde bebt, so bebte des Zuschauers Herz, wenn er es sprach. Jeder fühlte den Todesstreich und krümmte sich zitternd unter dem Schmerz." 82 Es war die Zeit, da Herder Shakespeares Wesen bildhaft dergestalt schaute: „Hoch auf einem Felsengipfel sitzend! zu seinen Füßen Sturm, Ungewitter und Brausen des Meeres; aber sein Haupt in den Strahlen des Himmels!" In ,Macbeth' spricht Shakespeare von den Zauberinnen auf der Haide unter Blitz und Donner. Daß sich mit dem Namen Shakespeare die Vorstellung entfesselter Naturgewalten in einer Gewitternacht verknüpft, zeigt Bergers Versuch, sich die Jugendeindrücke Shakespeares vorzustellen: „Die Eindrücke, die ein Mensch solchen Schlages, im ländlichen Volksleben jener Tage existierend, empfängt, vermag sich ein gebildeter Stadtmensch von heute kaum vorzustellen. Was war damals das Land mit Wald und Haide! Ein heißer, leidenschaftlicher Kopf voll Phantasie oder Aberglaube, der naiv die Vorgänge seines mit Leben überfüllten Innern außerhalb seiner selbst schaut, was begegnet ihm nicht Alles draußen bei Tag und bei Nacht, bei Mondschein und Gewitter! Welche elfenhafte Lieblichkeit gaukelt über ihn, wenn er sich, durch den Wald vom Liebchen heimkehrend, ins taufeuchte Gras legt und ihm der Mond in das schlummernde Antlitz scheint! Welche hexenhafte Unheimlichkeit stiert ihm im Abendgrau auf menschenleerer Haide plötzlich ins Antlitz in bösen, wilden Stunden! Nur wer selbst auf dem urwüchsigen Lande gelebt hat, weiß, welche sonderbare Begegnungen man da oft hat. Vor Jahren ließ ich mich Abends auf einem Alpensee heimrudern. Schwarz und schwer drohte ein Gewitter, Blitze zuckten, die entfernten Bergwälder rauschten. Ich fuhr auf einer großen Zille mit einem Viehtreiber und drei Rindern, darunter ein Stier mit verbundenen Augen. Außerdem war ein verrückter Knecht an Bord. M i r selbst war nach einer Krankheit fieberisch zu Muthe. Das Ungewitter brach aus, die Wogen brausten, der Stier ward unruhig und brüllte und der Verrückte schwatzte laut wirre Reden in den Sturm. Da dachte ich: Shakespeare! I n einem Land, zu einer Zeit, da die Verwaltung noch nicht in Allem ihre ordnende Hand hat, da trifft man wohl, 82
Johann Friedrich Sdoinkx
Dramaturgische Fragmente. Graz 1781, S. 421 f.
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wenn man Nachts vor Blitz, Sturm und Gußregen in einer Scheune unterkriecht, bisweilen seltsame Schlaf gesellen und führt wunderliche Gespräche. Was denkt, fühlt, was sieht man nicht Alles, am Waldrand in der Abenddämmerung das Wild beschleichend, während die Krähen krächzend schwärmen und das Blut in den Ohren rauscht. Am hellen Tag, beim Tanz, beim Wein, eine hübsche Dirne im Arm, ist alP die Einsamkeit mit ihrem Spuk außen und innen verschwunden... Solche Eindrücke trank Shakespeare's Gemüth in seiner Jugendzeit." 88 Auch Heydrich gebraucht das Gewitterbild von Otto Ludwigs ErbförsterTragödie (1850): „Ein Werk, [ . . . ] einem langsam heranrollenden, majestätischen Gewitter gleich, plötzlich hervorbrechend, die Landschaft blitzschnell, seltsam beleuchtend, A l l ergreifend, erschütternd. Kein blauer Himmel nachher. Rätselhaft, geheimnisvoll. Vielen ein völlig unbegreiflicher Donnersturm der Phantasie D e r Verstand hält nicht Stand, Geht und spricht: Das mag ich nicht, D e n n das sieht wie ein Gedicht — .
Ein Waldtraumbild, und doch volle Wirklichkeit, echtes Leben. Ein Dichterton so neu, so ureigen, so anheimelnd, und doch auch so furchtbar und unheimlich, abstoßend und anziehend zugleich. Das Meteor war sichtbar. Was es war, die Sternkundigen wußten es." 84 Ludwig Gabillon, einer der Erben Devrients am Burgtheater, schrieb im Sommer 1870 aus Grundlsee: „Ich war diese Nacht im Kampf mit dem See und meine schönen, zarten Hände sind im Zustande vollständiger Fühllosigkeit. Erklären Sie mir diesen dummen, geheimnisvollen Zug in meiner Natur. Bei Sturm und Regen, bei Donner und Blitz zieht es mich mit magischer Gewalt hinaus auf den See. I n der größten Gefahr fühle ich mich berauscht von einer teuflischen Glückseligkeit. Schäumende Wellen, dunkle Nacht und zuckende Blitze spornen meinen Geist und meine Phantasie zu mächtigem Flug und könnte ich all die schönen und großen Gedanken, die mich da ungeordnet umsausen, fassen und ordnen, ich wäre ein Dichter. Aber wenn alles ruhig und die Sonne scheint, ist's mir wie ein schöner, gewaltiger Traum, den man nur noch ahnt, der uns lückenhaft andeutet, was wir gedacht, empfunden, gesehen! [ . . . ] Ich war gewiß einmal ein Wassergeist, der sich schlecht betragen und zum Menschen degradiert wurde. Nun tauchen noch dann und wann alte Erinnerungen in mir auf, oder meine früheren Kameraden führen aus Mitleid manchmal noch Konversation mit mir, die 83 8 4
Berger: Studien und Kritiken. S. 63 f. (,Der junge Shakespeare 1 ). Heydrich I , 77 f.
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ich aber leider nur halb verstehe.. . " 8 5 Dreizehn Jahre später schreibt er, er sei von den Schauspielen der Natur überzeugt, daß diese Herrlichkeit nur ihm zu Ehren entstehe: „Die Luft-, Erd- und Wassergeister lieben in mir den Geist, der sie begreift. Sie sind mir Freunde und Kameraden und lassen etwas draufgehn, wenn idi bei ihnen bin . . . " 8 e Durch Grillparzers ,Ottokar' brause „ein gewaltiger Sturm", hingegen wehe durch Ibsens K r o n prätendenten' „ Schneegestöber"87. Diese dämonische Kunst erscheint mehrfach charakterisiert als „wilde Naturkraft" 8 8 . Für Berger kann die Tragödie der äußersten Wirkungsmittel, die an der Grenze der Kunst „gegen die wilde Natur" hin liegen, nicht entbehren 89. Ebenso spricht J. Bab von Mitterwurzers „wilder Natur" 9 0 . Tatsächlich muß z.B. Sophie Schröder (1781 - 1868) den Eindruck entfesselter Naturgewalt gemacht haben, wie sie Grillparzer schildert: „Wenn man eine Medea erlebt, wie sie zu meiner Zeit gesehen wurde, eine Steigerung der Leidenschaft, welche bis zur Entmenschung, eine Wildheit und blinde Wut, welche bis zur viehischen Raserei ausartet, wo die Tigerin ihre Jungen zerfleischt und Medea ihre Kinder erwürgt, wo der Ton der menschlichen Stimme sein Ende hat und ein röchelndes Krächzen in fast unarticulierten Lauten bis an die äußerste Grenze des Entsetzlichen reicht, wie dies bei der Schröder der Fall w a r . . . " ö l Zu welchen Elementargewalten sich diese Darstellungsweise ausbilden kann, zeigt die Rachel. Karl Schurz hat sie eindringlich geschildert. Er nennt sie „eine geheimnisvolle Naturkraft". „Die elementaren Kräfte der Natur und alle Gefühle und Erregungen der menschlichen Seele schienen entfesselt in dieser Stimme, um darin ihre beredteste, ergreifendste, durchschauerndste Sprache zu finden". Als Gestirn erscheinen Schurz die Augen: „unter hoch geschwungenen gewitterdunklen Brauen zwei Augen, die wie schwarze Sonnen in tiefen Höhlen brannten und leuchteten". Da die Rachel zu sprechen beginnt, kommen die ersten Sätze „in tiefen Tönen, wie aus den innersten Höhlen der Brust, ja, wie aus dem Bauche der Erde" hervor. Die gesprochenen Töne fließen mit dem Eindruck der Natur zusammen: „Wie ein stiller Strom durch grüne Gefilde flöß die Rede dahin; oder sie hüpfte munter spielend wie ein Bach über Kieselgeröll; oder sie stürzte rauschend herab wie ein Bergwasser von Fels zu Fels. Aber wenn die Leiden85 Helene Bettelheim-Gabillon: I m Zeichen des alten Burgtheaters. Wien, Berlin 1921, S. 39 f. 86 A.a.O. S. 42. 87 A.a.O. S. 46. 88 Bab a.a.O. S.251. 89 Berger: Dramaturgie. S. 84. 90 Bab a.a.O. S. 262. 9 1 Auguste von Littrow-Bischoff: Aus dem persönlichen Verkehre mit Franz Grillparzer. Wien 1873, S. 118.
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schaft losbrach, wie schwoll und wogte und brauste diese Stimme gleich der vom Sturm gejagten Brandung der Meeresflut stürzend gegen den Strand; oder sie rollte und krachte und schmetterte wie der Donner nach dem Zischen des nah einschlagenden Blitzes, der uns in Schrecken auffahren macht. [ . . . ] Aber dann einer jener furchtbaren Ausbrüche der Leidenschaft, und man griff unwillkürlich nach dem nächsten Gegenstand um sich festzuhalten gegen den Orkan. [ . . . ] Es war in der Darstellung der bösen Leidenschaften und der wildesten Empfindungen, daß sie ihre ungeheuersten Wirkungen erreichte. Nichts Furchtbareres kann die Phantasie sich ausmalen, als ihren Anblick in den größten Steigerungen des Ausdrucks. Wolken von unheimlich drohender Finsternis sammelten sich auf ihren Brauen. Ihre Augen, von Natur tief liegend, schienen hervor zu quellen und funkelten und blitzten mit wahrhaft höllischem Feuer. Ihr Gesicht verwandelte sich in ein Gorgonenhaupt, und man fühlte, als sähe man die Schlangen sich in ihren Haaren winden. Ihr Zeigefinger schoß hervor wie ein vergifteter Dolch auf den Gegenstand ihrer Verwünschung. Oder ihre Faust ballte sich, als wolle sie die Welt mit einem einzigen Schlage zerschmettern. Oder ihre Finger krallten sich, wie mörderische Tigerklauen, um das Opfer ihrer Wut zu zerreißen, — ein Anblick so grauenvoll, daß der Zuschauer, schaudernd vor Entsetzen, sein Blut erstarren fühlte und, nach Atem ringend, unwillkürlich stöhnte: ,Gott steh uns bei!'." 9 2 Hebbels Kunst fand ihre beste Interpretation in Charlotte Wolter, deren Darstellung besonders der Kriemhild als neuartig empfunden wurde. Bettelheim berichtet: „Alle künstlerischen Schöpfungen der Wolter in diesem ersten Jahrfünft ihrer Burgtheaterzeit (1862 bis 1867) überglänzte [ . . . ] ihre Kriemhild in den beiden ersten Teilen von Hebbels Nibelungen-Trilogie. Laube hatte die mächtige Dichtung viel zu lange zurückgedrängt, angeblich, weil ihm die rechte Darstellerin für die Braut und Witwe Siegfrieds fehlte. M i t der Wolter errang Hebbels Werk nun endlich eine geradezu triumphale Aufnahme. Als Tochter Utens von gewinnender Sittsamkeit; vor dem Münster mit Brunhild, wo sich die Königinnen schalten, von einer im Burgtheater bis dahin unerhörten Wildheit; am Sarge Siegfrieds zusammenbrechend mit dem dazumal zum erstenmal vernommenen, theatergeschichtlich gewordenen ,Wolter-Schrei* überwältigte und überzeugte sie durch die Wahrheit dieser fessellos hinrasenden, dämonischen Naturkraft zumal das jüngere Geschlecht."93 Das schwierigste Problem für den Menschendarsteller und für die ihm folgenden Dramatiker war aber die Durchdringung elementarer Naturkraft 92
Carl Schurz: Lebenserinnerungen. Berlin 1906. I , 287 ff. Anton Bettelheim: Charlotte Wolter. I n : ,Wiener Biographengänge', Leipzig 1921, S. 139 f. 93
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und des aristokratischen Konversationstones. Die Schwierigkeit, Goethes Mephistopheles darzustellen, lag darin, daß die Darsteller entweder den Elementargeist oder aber den Kavalier und dessen Weltton allein spielten. Hinzu kam noch die Aufgabe, den Weltton nicht so zu bringen, daß er als „Wirklichkeit" im Gegensatz zu Phantasterei erschien, wie dies Schiller an Ifflands Schule bemerkt. Daß vielfältigste Brechungen beider Möglichkeiten begegneten, zeigt ζ. B. die Rachel, von der berichtet wird, daß sie die von den Franzosen so geschätzte brillante Konversation ebenso virtuos beherrschte wie die Töne wilder Naturkraft. Die poetisch-tragische Wirkung war, zumal am Beispiel des Mephistopheles, aber nicht allein dadurch zu erzielen, daß der Darsteller sich, wie etwa Seydelmann, aller Rücksichten auf gesellschaftliche Konvention begab. Er erklärt in einem Brief, die nach den Befehlen der k. k. Zensurbehörde gemodelte Aufführung von Teilen des ,Faust* sei sicherlich „eine den dortigen Wiener Verhältnissen möglichst gut angepaßte Versinnlichung des Teufels" gewesen. Dieser Teufel des Gedichts sei nicht nur zahm, sondern keck, frech und zotig, „brennend und versengend, eben wie der Teufel". Seydelmann faßt seine Art der Darstellung zusammen: „Entsetzt sich nun eine zarte vornehme Natur, eingehüllt in die Spinnwebenschleier der allersorgfältigsten Bildung, davor: nun, sie entsetze sich!" Die dämonische Kraft, die alle spüren, die mit Mephistopheles in Berührung kommen, „das sollte sich", meint Seydelmann, „dem Zuschauer vor der Bühne allein verbergen oder als etwas anderes, Höflicheres vielleicht darstellen, damit Papa Frau und Töchterchen den wirklichen Teufel doch auch einmal zum angenehmen Zeitvertreibe dürfe sehen lassen?" Mephisto sei „keine harmlose Erscheinung für junge Mädchen". Den „Vorwurf" „der sehr Glatten und Feinen, daß ich ihn nicht zahm, nicht gemäßigt und gesittet genug darstelle, nehme ich hin, und zwar im Namen des Urbildes, das in der Tat weder als zahm noch als gemäßigt gelten kann." 9 4 Gutzkow meinte, man wolle in Berlin „den Teufel so zivilisiert wie möglich haben, mehr den Junker Voland mit der Hahnenfeder, den ,Herrn Baron', als den furchtbaren Elementargeist, der nicht bloß der Teufel, sondern auch die Hölle ist". Seydelmann blieb aber dem tragischen Schauspieler entscheidende Züge schuldig. Gustav Kühne hat den Unterschied herausgestellt: „es gibt und gab tragische Schauspieler, die, wie Ludwig Devrient, wohltuend zu erschüttern wissen". Dies sei die „Poesie des Genius". Wenn aber das wesentliche Kennzeichen des Genies seine belebende, seine beseligende Kraft ist, so fehlt Seydelmanns „großartigem Talent" diese Poesie. Es muß Naturalismus gewesen sein, denn er „gefällt sich in zerstörerischen Wirkungen, er 94
H . Th. Rötscher: Seydelmanns Leben und Wirken. Berlin 1845, S . 2 1 1 f.
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geißelt, die Wahrheit seines Spiels erfüllt mit Furcht, er beschäftigt so lange, bis man sich gepeinigt fühlt". 9 5 Die Frage war, ob man mit den Mitteln der Naturkopie Seelisches darstellen konnte. Man spielte den Alltag und zeigte dessen Trivialität — etwas, was jedermann kannte oder dessen Wirklichkeit jedermann nachvollziehen konnte —, aber die Mittel des wahren Schauspielers waren es nicht. Dessen Aufgabe ist vielmehr, „erdichteten schauspielerischen Ausdrucksmitteln" den „Anschein" zu verleihen, „als seien sie der Wirklichkeit abgelauscht und entnommen". 96 Berger sieht die Kunst des Tragöden darauf angewiesen, das zu geben, was er in seiner Umwelt, wie etwa das Salonstück aus dem Salon, nicht kopieren konnte: „Er muß Töne finden, wie wir sie im Leben niemals hören." Dies ist die schöpferische Phantasie des Menschendarstellers: „Wenn es dem schauspielerischen Genie gelingt, für eine Rede Töne zu finden, welche die Fülle und Gewalt der sich kreuzenden und bekämpfenden Leidenschaften in der Brust des Redenden dem Ohr hell machen, Verzweiflung, Hohn, Verachtung, Zärtlichkeit in Einem, — so muß z.B. Hamlets berühmtes ,Geh in ein Kloster!' gesprochen werden —, so wirken diese Töne eben deshalb als naturwahr. ,Naturwahr' heißt nicht, daß die Natur derlei aufzuweisen hat, sondern daß derlei so wäre, wenn es überhaupt wäre. Der betreffende Schauspieler ist vielleicht der einzige Mensch in der Welt, der dieser Töne mächtig ist, und doch sind sie naturwahr." 9 7 Derselbe für das Wesen letzter Ausdrucksmöglichkeiten der Schauspielkunst aufschlußreiche Gedankengang begegnet schon bei A. W. Schlegel, der von Shakespeares Fabelwesen meint: „Gäbe es dergleichen, so würden sie sich so benehmen."98 Auch C. Schurz fragt sich, ob „solche Wesen, wie die Rachel uns vorführt, jemals wirklich gelebt" haben. Er muß sich antworten: „Wenn die Phädra, die Roxane je gelebt haben, so mußten sie so gewesen sein und nicht anders". Er versichert: „Die Rachel war mir ein Dämon, ein übermenschliches Wesen, eine geheimnisvolle Naturkraft, — nur kein Weib, mit dem man frühstücken, oder über alltägliche Dinge sprechen, oder im Park spazieren fahren könnte. Meine Bezauberung war von durchaus geistiger A r t " . Schurz gelangt zu der entscheidenden Erkenntnis: „Die Rachel stellt nicht nur individuelle Menschen dar; in ihren verschiedenen Charakteren w a r sie die ideale Verkörperung des Glücks, der Freude, des Schmerzes, des Elends, der Liebe, der Eifersucht, des Hasses, des Zornes,
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Gustav Kühne: Porträts und Silhouetten. Hannover 1843. I I , 334 f. Berger: Studien und Kritiken. S. 267 (,Über Schauspielkunst'). Berger a.a.O. S. 266. Schlegel a.a.O. S. 134.
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der Radie; und alles dies in plastischer Vollendung, in höchster poetischer Gewalt, in gigantischer Wahrheit." 99 Jeder Schauspieler, meint Berger, werde schon die Erfahrung gemacht haben, „daß er, wenn er sich anstrengte, für den entscheidenden Moment seiner Rolle den ihren seelischen Inhalt bloßlegenden, zum Herzen sprechenden Ton zu finden, er ihn unter den vielen Tonfällen, die sein Gedächtnis bewahrt, [nämlich aus der Erfahrung der Wirklichkeit] nicht zu finden vermochte. Er muß diesen Ton erfinden, erdichten. Glückt er ihm, so dankt er ihn der Phantasie, der schöpferischen Inspiration, nicht der nüchternen Beobachtung und Erfahrung. Daß die Inspiration, die Phantasie, im Verborgenen audi von der Beobachtung und Erfahrung gespeist werden dürfte, das ist nichts Neues." 100 Der wahre tragische Ausdruck mußte über alle Wortsprache hinaus liegen, und in den Bereich der Natur vordringen. Zugleich aber konnte er nicht der Natur abgelauschter Naturlaut sein. Die Lösung lag im musikalischtönenden Ausdruck des Tragischen. Es ist ein fesselndes Schauspiel, wie mit dem Streben, in die Tiefen des Inneren hinabzusteigen, an die Seite des Wortes der Gesang, der Ton der Stimme, das Musikalische treten. Johannes Brahms erfühlte die latente Musik in der Sprachkunst der Wolter. Bettelheim vermerkt, das Parzenlied in der Iphigenie' wirkte in ihrem Munde wie Musik (wohlgemerkt: nicht wie Gesang)101. Brahms empfing von der Darstellung der Wolter einen so hohen Eindruck, daß er 1882 sein op. 84, den ,Gesang der Parzen', in düsterem d-Moll, in dunklen Farben komponierte. Er glaubte herausgefunden zu haben, daß der WolterSchrei in d-Moll gestimmt sei. Dieses d-Moll war ja die tragische Ton-Art seit der Ouvertüre zu ,Don Giovanni', Beethovens ,Neunter Symphonie', Schuberts ,Der Tod und das Mädchen' und der Ouvertüre zum ,Fliegenden Holländer' über Brahms d-Moll Klavierkonzert, seinem Werther-Quartett bis zu Pfitzners Vorspiel zu galestrina' und dessen Kantate ,Das dunkle Reich'. Das Tragische erschien in Stimme, Klang, Gestus und Mimik. War Laubes Theater aufs Wort gestellt, so erschien das Theater der Tragiker durch alles, was Auge und Ohr dem Wort hinzufügen konnten. Karl Kraus hat die Schauspieler des Burgtheaters als Töne erlebt. Er spricht von der Glocke, die Charlotte Wolter hieß; dem „Hammer, der mit Lewinskys Rede das Gewissen schlug; und einer Brandung gleich die Stimme des Cyklopen Gabillon; Zerlinens Flüstern; und Mitterwurzers Wildstroms 99
Schurz a.a.O. S. 291 f. 100 Berger : Studien und Kritiken (,Über Schauspielkunst'), S. 264. ιοί Bettelheim a.a.O. S. 143.
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Gurgellauten; eine Tanne im Wintersturm jedoch war Baumeisters Ruf; und schwebend, eine Lerche, stieg des jungen Hartmann Ton, vermählt dem warmen Entenmutterlaut Helenens; und Hagel, der durch schwülen Sommer prasselt, Krastels Sang; und edlen Herbstes Röcheln Roberts Stimme. Und Sonnenthals: die große Orgel, die das harte Leben löst. Und all der Sänger Stimme und Manier, die noch verstimmt, von eindringlichem Geiste war, daß sie bewahrt sei gegen alles Gleichmaß, womit die Narren der Szene und der Zeit die lauten Schellen schlagen!" 102 Max Burckhard ließ sich am Grabe der Wolter ähnlich vernehmen: „Der Hauch des Odems sträubte sich, für immer diesem klassisch geformten Munde zu entschweben, der ihm tausend- und tausendmal ein wundervolles Instrument gewesen, das er bald in melodischen Glockenklängen erklingend, bald in mächtigem Orgeltone dahinbrausend mit den herrlichsten Symphonien belebte, jetzt alle Sinne zu begeistertem Jubel hinreißend, jetzt die Herzen der atemlos Lauschenden mit den Schauern heißester Leidenschaft erfüllend — das Leben floh nur zögernd aus der abgeklärten Harmonie, die inmitten des dissonierenden Weltgetriebes sich in dieser Künstlerbrust aufgebaut hatte." 1 0 3 Dieses „Tragische" kann mit der Stimmung eines Instrumentes verglichen werden. Ludwig Hevesi weiß von der Wolter zu berichten: „Der erste Laut von ihren Lippen fuhr elementar durch die tausend Herzen und, ehe man noch etwas gesehen, war man auf den tragischen Ton gestimmt. Durch alle Fibern rieselte der Schauer, den dieses Organ weckte, als eine Empfindung sinnlicher Wohligkeit, farbiger Wärme." Die Tragiker brauchten das „gestimmte Theater" 104 , das etwas anderes war als das Worttheater Laubes. Es war die Einheit des Tönenden mit dem Bildhaften. Auch Max Reinhardt hat von den „Sprecharien" der Burgtheaterstimmen Zeugnis hinterlassen. Und Karl Kraus hat von der Duse überliefert: „ I n ihrer zauberhaft verschleierten Stimme war ihre Macht zu lieben und zu leiden in eine einzigartige Musik gesetzt. Ich kenne keine Gesangsstimme, die mich mehr erschüttert und beglückt hätte, als wenn die Duse die zornige Anklage ihres Geliebten immer wieder mit dem heiseren, stillen, monotonen hervorgestoßenen ,Armando' unterbrach". Kraus berührt Gedanken, wie sie hier ausgesprochen wurden und die erkennen lassen, daß an der Schauspielkunst Züge festzustellen sind, über die verschiedene Autoren mehr oder weniger eines Sinnes sind. Die „große 102 K a r l Kraus: Denkmal eines Schauspielers. I n : ,Untergang der Welt durch schwarze Magie', Wien-Leipzig 1922, S. 387. (Wiederholt in Werke, V I I I , 355). 103 Bettelheim a.a.O. S. 146 f. i ° 4 Bettelheim a.a.O. S. 143.
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schauspielerische Generation", die die „Riesenleistung der Wolter" sah, werde „nie mehr eine Nachfolge finden". Er spricht von denselben Kriterien, die hier dargelegt wurden. Vor allem bekräftigt er, was über die wilde Naturkraft ausgeführt wurde, wenn er von jener Zeit sagt, daß diese „die Urkräfte auf der Bühne entfesselte". Wohl habe Sonnenthals Stimme nichts von der „feindlichen Urgewalt" gehabt, wie die Matkowskys, der Wolter und vielleicht jener Burgtheatergiganten, deren Art der junge Sonnenthal verzückt erlebt hat. „Dennoch hatte sie, wenn sie mit sanfter Überredung sich Eingang verschaffte, die Macht, uns bis zum Herzkrampf zuzusetzen, und wenn sie Goneril verfluchte, so klang sie, als würden Trümmer des Menschentums durch Tränen zerbröckelt." Von der Orgel seiner Stimme sagt Kraus: „Ertönte sie heute und später, sie wäre als Sturm geboren, der Schrecken verbreitet." Die Modernen seien „von einer wesenlosen Natürlichkeit bestochen", hätten die Bühne zum Hörsaal gemacht und ahnten nichts von der verflossenen Größe. Auch der Gegensatz zwischen Ton und Wort erscheint hier: „ I n Wahrheit lebt der Klang länger als das Wort". Kraus übersteigert noch das bisher Gesagte, wenn er sogar den Glauben hat, daß in der Schauspielkunst „die Quelle des Lebens" fließe und daß es der Sprechkunst, nicht der Sprachkunst vorbehalten sei, „uns selbst zu sagen, wie es um uns selbst bestellt ist". Er führt damit weiter in die Frage nach einer Beziehung der Schauspielkunst zur Existenzialität und somit über den Bereich dieses Aufsatzes hinaus. Ein vertieftes Verständnis des Tragischen ist dort zu gewinnen, wo beide Welten, die bürgerliche und das Ergriffensein durch andere Mächte, zusammenstoßen. Das läßt sich an keinem Theaterdichter deutlicher als an S h a k e s p e a r e zeigen. Dieser erweitert den Gegensatz und Konflikt beider Welten dadurch, daß es bei ihm die Natur selbst ist, an der jene Popularität sichtbar wird. Bei ihm wird hinter der Welt des Tages die Nachtseite sichtbar. Eine zweite, hinter der Menschengemeinschaft durchscheinende Welt wird hinter der transparent gewordenen kleineren und engeren Welt erkennbar und wirksam. Dies kann in verschiedenen Formen in Erscheinung treten: so ζ. B. in der zweifachen Liebe Romeos zu Rosalinde und Julia, oder im Naturbild eines sonnigen Tages und einer Gewitternacht. Dem modernen Tragiker werden in solchen blitzartigen Momenten seine — seiner jetzigen Existenz vorhergehenden — Daseinsstufen mehr oder weniger deutlich erkennbar werden. Shakespeares Humor — und diese Einsicht ist Tieck zu danken — stellt zwar einen plötzlichen Übergang der Empfindungen, einen Ausbruch dar, wie dies für die Leidenschaft der Liebe bei Shakespeare gilt, deutet aber auch auf einen vorhergehenden Zustand hin. Auf die Eigenart dieses H u -
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mors spielt Eduard Genast an, wenn er vom Mephistopheles des Bogumil Dawison (1818 - 72) sagt, er „kehrte mehr den lustigen, humoristischen Teufel heraus, der unsere Lachmuskeln in Bewegung setzt, statt uns das böse Prinzip vorzuführen, bei dessen Humor uns zugleich ein unheimlicher Schauder durchdringt." 105 Fritz Mauthner überliefert, Kainz habe 1896 in Berlin „den glücklichen Gedanken" gehabt, im „gekrönten Mörder" Richard I I I . „den Humoristen" hervorzuheben. Seinen Entschluß, ein Bösewicht zu werden, sprach er „mit übermütigem Lachen." 106 Joseph Kainz (1858 - 1910) machte das Tragische durch einen Kontrast sichtbar, in dem ein dem jetzigen Zustand einer Gestalt vorhergehender nachklingt. Tieck hatte solche Tragik an Shakespeares Darstellung der Liebe beobachtet, und über die Darstellung des Romeo durch Friedrich Julius bemerkt: „ M i t dem auffallenden ersten Teil der Rolle schien der Künstler in einiger Verlegenheit. Shakespeare gibt allen seinen Leidenschaften der Liebe plötzliche Entstehung, plötzlichen Ausbruch; allein untersuchen wir tiefer, so wird dieses Plötzliche des unbegreiflichen Gefühls immer nur Schein sein. [ . . . ] Hätte Romeo Julien schon längst geliebt, wäre er einer ruhigen Trauer, einer Resignation in die Zukunft, einer Ergebung in das Schicksal fähig, [ . . . ] so wäre sein tragisches Ende [ . . . ] durchaus unmöglich. Für den Schauspieler ist diese frühere Sinnesart darzustellen eine sehr schwierige Aufgabe." 107 Paul Schienther hat vom Romeo des Kainz gesagt, es sei seine „eigenste Entdeckung, den verliebten Rosalinden-Romeo der ersten Szenen vom liebenden Julia-Romeo des eigentlichen Dramas scharf zu unterscheiden. Jener spielt mit seinen Empfindungen, dieser fühlt sie. Während der Julia-Romeo [ . . . ] in seiner ganzen innigen Natur dastand, geriet der Rosalinden-Romeo durch eine überscharfe Herauskehrung des Seelengigerls zuweilen an die Grenze der Parodie." 108 Dieses — man wäre versucht zu sagen — Nachklingen eines vorigen Zustandes im jetzigen ist Alfred Kerr auch am Mephisto von Kainz aufgefallen: „Hinter allen Teufeleien lag etwas wie die Erinnerung an [ . . . ] einmal Geschehenes und an Verstoßensein. Ich kann es nicht vergessen. Ein Bedauern, daß ihm diese lieblichere Welt verloren blieb. Und als er Gretchen erblickte, brach es, für mein Gefühl, unauslöschbar durch — er sah sie an, es regte sich etwas, [ . . . ] ,als ich noch Prinz war von Arkadien f . [ . . . ] Ich war in diesem Augenblick erschüttert: als ob man jenseits, von einem Gestade, zurücksähe, plötzlich, auf etwas Nichtmehrzuerreichendes. Als ob 105 Eduard Genast: Aus dem Tagebuche eines alten Schauspielers. 4. Teil, Leipzig 1866. S. 196 f. i « Berliner Tageblatt. 1896, 19. M ä r z . 107 Tieck a.a.O. I , 253 ff. i ° 8 Paul Schienther in: Vossische Zeitung 1895, N r . 428 vom 12. September. 9 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 19. Bd.
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eine Hand, hast du nicht gesehen, an den Sitz der Seele gepackt hätte. Aus . . . ! Einst . . . ! (Byron)". 1 0 9 Daß dies eine bestimmende Idee von Kainz gewesen sein muß, zeigt die ausführliche Analyse, die er von der Darstellung des Falstaff durch Bernhard Baumeister gab: Dem „feineren Betrachter" sei ein „Zug der Selbstironie" aufgefallen, „der alle leidenschaftlich gesteigerten Repliken in Baumeisters Falstaff umspielt. Er ist starker Empfindung wohl noch fähig, aber die Erfahrung, daß man sie nicht mehr ernst nimmt, hat sie ihm selbst entwertet. Er gibt sie der Lächerlichkeit preis, indem er sie mit einer gewissen Absichtlichkeit, im Ausdruck übertrieben, aufputzt. So prostituiert er sie öffentlich und würde damit unsern Abscheu erregen, wenn diese Empfindungen selbst nicht ein Wort sprächen zugunsten ihres Herrn. Schon ihr bloßes V o r h a n d e n s e i n mildert unser Urteil, und daß sie grotesk ausgestattet in die Erscheinung treten, macht sie darum nicht unechter. Falstaff ist genötigt, sie als Konterbande über die Lippen zu bringen. Als Possen läßt man sie durch. I n ihrer reinen Gestalt würden sie mit Hohn zurückgetrieben werden. Das ist eigentlich tragisch, und Baumeisters Falstaff hat diesen tragischen Zug. Er ist eines Tages mit sich fertig geworden, und diese Resignation ist nicht zu verachten. Er hat mit Anstand verzichtet, anständig zu sein. Dazu gehört auch Charakter." 110 Am Schlüsse sei der Blick nodi einmal auf die eingangs erwähnte Unterscheidung zwischen dem Alltag, der Konversation der Gesellschaft, dem Salon, seiner theatralischen Spiegelung im Salonstück und der Unterscheidung des „Tragischen" gedacht. Der Tragöde Joseph Wagner (1818 - 1870) fühlte den Gegensatz so stark, daß er sich in Salonkleidung beengt fühlte. Solche Rollen waren ihm zuwider. Laube meinte: „ I m modernen Rock ist er wie die Fliege in der Buttermilch". Wenn Laube sich gezwungen sah, Wagner in solchen Rollen anzusetzen, sprach er geradezu von einem „Opfern" des Tragöden. Unter seinen modernen Rollen fand Wagner den Rochester in Birch-Pfeiffers ,Die Waise von Lowood* noch am erträglichsten, weil er da „den Harnisch unter dem modernen Rocke" tragen konnte. 111 — Ähnliches wird von dem französischen Tragöden Mounet-Sully (1841 bis 1916) berichtet: „ I m modernen Kostüm ist er beinahe so selten auf getreten wie Talma, und er hat mit rührender Naivität gesagt: ,Ich komme mir ganz lächerlich vor, wenn ich mich dem Publikum in Zivil zeigen soll/ "
io® Alfred Kerr in: ,Der Tag', Berlin 1907, N r . 113 vom 3. M ä r z . Joseph Kainz: Bernhard Baumeister: Falstaff. I n : Jahrbuch der deutschen Shakespeare-Gesellschaft, Bd. 41 (1905), S. 1 ff, i n Heinrich Laube: Joseph Wagner an Heinrich Laube. I n : Neue Freie Presse. 1870, N r . 2092. 110
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A n J. Wagner war etwas, von dem niemand sagen konnte, woher er es eigentlich hatte — der „tieftragische Ton" seines Hamlet kam aus Fernen, in die ihm niemand folgen konnte. Er hatte etwas, was nicht dem Alltagsleben der Gegenwart angehörte. J. Bab meint, das Athen des Sophokles sei „die eigentliche Heimat" von Mounet-Sullys Seele gewesen. Als er nach Athen kam, „kniete er nieder vor dem Tempel auf der Akropolis und küßte die Marmorschwelle zweimal und sprach dazu leise: ,Von meinem Bruder und von mir/ " 1 1 2 Einsichtige Kritiker spürten, daß in diesen Tragöden etwas zum Ausdruck kam, was nicht der Gegenwart angehörte. Man hatte das Gefühl, sie seien Wiederkehrer aus einer längst vergangenen Zeit. Manche ähnelten den Sehern und Propheten, ja Götterbildern. William Hazlitt schrieb über Sarah Siddons (1755 - 1831): „Die Begeisterung, die sie auslöste, hatte etwas von Götzenanbetung an sich. Man kann sich nichts Größeres vorstellen. Für unsere Phantasie verkörperte sie alle Heldensagen und alle göttlichen Menschen der alten Zeit. Sie war für uns nichts Geringeres als eine Gottheit oder eine von den Göttern begeisterte Prophetin. Macht saß auf ihren Augenbrauen, Leidenschaft strahlte aus ihrer Brust wie aus einem geweihten Schrein." 113 A l l dies faßt er als Wesen der Tragödie zusammen, das sich in der Siddons verkörperte. Dies bekräftigt nur wieder, daß die höchste Kraft des tragischen Schauspielers, sein „tieftragischer Ton", nicht der Nachahmung der Wirklichkeit abzugewinnen war. Die „überschwängliche Begeisterung" — so erzählt Laube von Joseph Wagner — konnte nichts „äußerlich Erlerntes" sein, zumal in einem bürgerlichen Zeitalter, das so oft der Meinung war, die Zeit der Tragödie sei vorüber. Die Kraft zum „Aufschwung" konnte der Kopie einer schwunglosen Umwelt gar nicht abgewonnen werden. Wenn der Realist nur innerhalb eines „mäßigen Kreises" verblieb, weil ihm Organ und Naturell „die Ausdehnung in Wärme und Glut" versagt hatten, so vermochte der echte Tragöde wie z. B. J. Wagner, mit seinem „Feuer ohne Gleichen", welches im Innern glühte und wie ein Lavastrom hervorbrach, die Zuhörer in einen Flammenkreis höherer Regionen emporzureißen, „der alle Bedenken irdischer Hindernisse verzehrte". Es mag schwer fallen, den Blick in jene Tiefen zu senken, denen einzig die Kraft des Tragischen entstammt, aber eine Ahnung verbleibt doch, daß es letzten Endes religiöses Pathos ist, das den Zuschauer der Tragödie ergreift. Berger meint, „daß die Stimmung", mit welcher uns eine Tragödie, die ihren Zweck voll erreicht, „überfällt", „eine mystische, tief religiöse" sei. „Ohne eine religiöse Weltanschauung, welche nicht nur die Tatsachen des i « Bab a.a.O. S. 136 ff. Bab a.a.O. S. 42.
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Lebens zur Kenntnis nimmt, sondern die dunkle Runenschrift der Mensdienschicksale zu enträtseln strebt, den Sinn von Glück und Unglück zu deuten sucht, ist das, was wir bisher Tragödie genannt haben, nicht denkbar. Wer da glaubt, daß sie dauern wird, wenn auch die religiöse Weltanschauung aus der Welt verschwunden ist, der glaubt, daß sein Schatten den Baum überleben w i r d . " 1 1 4
114 Berger: Dramaturgische Vorträge. Wien 1890, S. 74 und 78.
„DICHTUNG" UND „WIRKLICHKEIT" BEI OSWALD V O N WOLKENSTEIN Aufgezeigt im Vergleich mit Altersliedern von Walther von der Vogelweide und Hans Sachs* Von Ulrich Müller Das Jahr 1977, mit der mutmaßlich sechshundertsten Wiederkehr seines Geburtstages, hat den spätmittelalterlichen Dichter, Komponisten1 und Politiker Oswald von Wolkenstein in den Mittelpunkt eines so breiten Interesses gerückt, wie es eigentlich in der Neuzeit keinem anderen Dichterkomponisten dieser Epoche — mit Ausnahme Walthers von der Vogelweide — widerfahren ist: die österreichische Post legte eine Sondermarke auf; zur gleichen Zeit erschienen zwei umfangreiche Biographien — eine von Anton * Der Vortragscharakter des Textes wurde beibehalten; hinzugefügt sind lediglich einige bibliographische Hinweise und Anmerkungen (Abschluß des M a n u skriptes: M i t t e Oktober 1977 [Nachträge 1978]). 1 I n einem anschließenden Vortrag auf der Generalversammlung der GörresGesellsdiaft in Innsbruck (1977) hat Walter Salmen (s. unten S. 179 ff.) ausgeführt, daß aus seiner musikwissenschaftlichen Sicht der Begriff „Komponist" auf Oswald von Wolkenstein nicht zutreffen würde. I d i möchte daher kurz begründen, warum ich dennoch den Terminus weiter verwende: I m Sinne der Neuzeit und auch im Sinne der hochentwickelten mehrstimmigen Musik des Mittelalters ist Oswald gewiß kein Komponist. Er steht vielmehr in der Tradition der volkssprachigen M o nodie des Mittelalters, und er versucht erst zaghaft (aber immerhin doch als erster im deutschsprachigen Raum), die Mehrstimmigkeit der Franzosen und Italiener nachzuahmen (weitgehend offenbar durch Kontrafakturen). M a n könnte Oswald mit einem modernen Ausdruck vielleicht (wie es auch Dieter Kühn getan hat) als „Liedermacher" bezeichnen. Zur Beurteilung des „Komponisten" Oswald von W o l kenstein im Sinne von „Liedermacher" darf man aber als Vergleich nicht Madiaut, Landini und D u f a y heranziehen, sondern die überlieferten Melodien der Trobadors, Trouvères, der sog. ,Minnesinger' und ,Spruchdichter', aber auch der späteren M e i stersänger; aus dem deutschsprachigen Raum also etwa: Waither von der Vogelweide (dessen sämtliche erhaltenen Melodien jetzt erstmals gesammelt von Horst Brunner y in: Litterae 7, Göppingen 1977), Neidhart, Tannhäuser (sämtliche Melodien, mit Überlieferung, in: Litterae 13, Göppingen 1973, hsg. von H e l m u t Lomnitzer), dem Wilden Alexander, Rumelant, Frauenlob, W i z l a w von Rügen, dem Mönch von Salzburg, H u g o von Montfort, Muskatblüt, Michel Beheim u. a. U m noch einen modernen Vergleich zu verwenden: M a n kann doch etwa Bob D y l a n , Leonhard Cohen, W o l f Biermann oder Reinhard M e y durchaus zubilligen, daß sie (gelegentlich!) „komponierend" tätig sind, ohne daß man sie deswegen sofort mit Stockhausen, Penderecki oder Haubenstock-Ramati vergleicht.
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Ulrich Müller
Schwöb im Athesia-Verlag, Bozen, die andere von Dieter Kühn im Frankfurter Insel-Verlag; in Seis am Schiern fand ein wissenschaftliches Symposion über den Wolkensteiner statt 2 ; und Rundfunk und Fernsehen brachten umfangreiche Gedenksendungen3. Was liegt hier vor? Nostalgie, die jetzt — wie etwa die Babenberger-Ausstellung in Lilienfeld (1976) und die Stauf erAusstellung in Stuttgart (1977) mit ihrem alle überraschenden und alle überrollenden Erfolg nahelegen können — auch auf das Mittelalter, die eigene Geschichte, übergreift; oder der Versuch von bildungsbeflissenen Mediävisten, die der Öffentlichkeit (mit Erfolg) weismachen wollen, daß es hier eine kulturelle „Leiche" wiederzubeleben gäbe; oder ist die Wiederentdeckung eines tatsächlich zu Unrecht in Vergessenheit geratenen genialen Künstlers im Gange? Ich vermute, daß sich dies alles mischt, und ich w i l l auch gar nicht versuchen, die einzelnen Begründungsmöglichkeiten gegeneinander aufzurechnen — sicher ist nur eines: aus welchen Motiven heraus all diese Wolkenstein-Aktivitäten auch geschehen sein mögen, sie wurden und werden vom lesenden, zusehenden und zuhörenden Publikum rezipiert. Das zeigen nicht nur die Auflagezahlen und Verkaufszahlen der beiden genannten Biographien, nicht nur die Reaktionen von Presse und Publikum auf die Sendungen und das Symposium, das beweisen seit einigen Jahren auch Textausgaben, Melodieausgaben4 und Schallplatten5 zu Oswald von Wolkenstein, die nicht nur produziert, sondern auch verkauft 6 , gelesen und gehört werden. 2 Anton Schwöb, Oswald von Wolkenstein. Eine Biographie, Bozen 1977; Dieter Kühn, Ich Wolkenstein. Eine Biographie, Frankfurt 1977. — Die Seiser Symposiumsvorträge sind erschienen in: ,Dem edeln unserm sunderlieben getrewn H e r r n Oswaltten von Wolkchenstain*. Gesammelte Vorträge der 600-Jahrfeier Oswalds von Wolkenstein in Seis am Schiern 1977. Hsg. von Hans-Dieter Mück und Ulrich Müller, Göppingen 1978 ( = Göppinger Arbeiten zur Germanistik 206); vgl. dort bes. S. 483 ff. * Fernseh-Sendungen brachten 1977: der O R F (2 X ) , die A R D , das Z D F (2 X ) , die RAI/Bozen. A n Rundfunksendungen sei vor allem verwiesen auf Programme von Dieter Kühn ( W D R ; SFB) und Monika Marsmann (Deutschlandfunk). Weiteres hat es wahrscheinlich gegeben, ohne daß mir das im Einzelnen alles bekannt wäre. 4 Textausgaben: K . K . Klein (1962, 2. Aufl., bearbeitet von Hans Moser, N o r bert Richard Wolf und Notburga Wolf, 1975; Tübingen, A T B 55); B. Wacbinger (1964; 1967 in Reclams Univ.-Bibl. 2839/40: Textauswahl mit Übersetzung). Übersetzung: Hubert Witt, U m dieser weiten lust. Leib- und Lebenslieder des Oswald von Wolkenstein, Leipzig 1968. Ausgewählte Texte samt den zugehörigen Melodien: O . v. W . Fr obliò geschray so well wir machen. Melodien und Texte ausgewählt, übertragen und erprobt von Johannes Heimrath und Michael Korth, erläutert von Ulrich Müller und Lambertus Okken; weitere Melodienausgaben werden vorbereitet von Ivana Pelnar (mehrstimmige Lieder) und Hans Ganser, Peter Herpidböhm [erschienen 1978 = G A G 240]. 5 Abgesehen von Einzelaufnahmen auf Sammelplatten gibt es insgesamt bisher 4 Langspielplatten, die ausschließlich Lieder Oswalds enthalten: Deutsche Grammophon Gesellschaft, Archiv Produktion 13042 (1956); E M I Electrolal C 063-30101
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Betrachtet man die an eine breitere Öffentlichkeit gerichteten Publikationen zu Oswald von Wolkenstein, so kehren vor allem drei Punkte darin wieder, die als außergewöhnlich für ihn angeführt werden: 1. Oswald habe in seinen Liedern ungewöhnlich vieles über sich erzählt, bei ihm finde man erstmals in großem Umfang „autobiographische Lyrik" ; 2. Uber ihn sei ungewöhnlich viel aus historischen Urkunden bekannt — es sind insgesamt einige hundert, was eine Einmaligkeit für einen Dichter des deutschen Mittelalters darstellt; 3. seine Werke seien durch Kraft und Originalität auszeichnen, die ihn aus seiner Zeit und der ganzen Epoche hervorstechen lassen; und seine Werke drückten in Inhalt und Form ein Lebensgefühl und eine Auffassung von Lyrik aus, die unserer Gegenwart besonders gemäß seien, die heutzutage besonders gut verstanden würden. Dabei scheinen mir Punkt 1 und 3 beweiskräftig zu sein, weniger Punkt 2 : Denn wenn man sich heute noch mit Oswald von Wolkenstein beschäftigt, so nur wegen seiner Dichtungen und Melodien, nicht aber wegen seiner breiten Bezeugtheit als Politiker in Tirol und — in geringerem Umfang — im deutschen Imperium Romanum. Da Oswald heute als Dichter und Komponist rezipiert wird, hat alle historische und biographische Forschung der Erklärung seines Werkes zu dienen; allein darin findet sie ihre Berechtigung. Was nun also ist —und damit komme ich zum eigentlichen Thema meines Vortrages — genau das Faszinierende im Werk des Wolkensteiners? Läßt sich das an irgendwelchen Punkten zeigen und vorführen? Ich meine: Ja! Und idi w i l l versuchen, Ihnen das an dem interpretatorischen Kernproblem, vor dem man als Literaturwissenschaftler bei seinem Werk immer wieder steht, zu demonstrieren, nämlich an dem Verhältnis von „Dichtung" und „Wirklichkeit". Dabei verstehe ich unter „Wirklichkeit" hier die historisch faßbare, biographische Realität, unter „Dichtung" die autobiographische Ausformung dieser Realität, ihre Stilisierung in den einzelnen Gedichten. Als Textgrundlage greife ich das berühmte Lied Es fuegt sich heraus, dessen Eigenart und Einmaligkeit ich im Kontrast zu zwei inhaltlich vergleich(1972); Telefunken S A W T 9625-B (1974); F S M Aulos 53516 (1977). Weitere A u f nahmen sollen sich in Vorbereitung befinden [eine Wolkenstein-Platte von HeimrathJKosth u . a . erscheint 1978 bei „Pläne"]. 6 Bis Ende September 1977 (!) wurden von der Biographie Schwöbs (erschienen: Ende M a i 1977) die gesamte 1. Auflage ( = 4 000 Exemplare), von Kuhns Buch (erschienen: Ende Juni 1977; 1. Auflage: 20 000 Exemplare) 14 000 Stück verkauft [die Auskünfte verdanke ich den beiden Autoren]; Kuhns Biographie erschien als teil weiser Vorabdruck in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" ( F A Z ) und brachte ihrem Verfasser den Hermann-Hesse-Preis ein.
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baren Gedichten von Walther von der Vogelweide und Hans Sachs herausarbeiten möchte. Der biographische Ort des Liedes7 ist ziemlich genau fixierbar: Es entstand nach der Teilnahme Oswalds am Konstanzer Konzil (1415) und einer großen diplomatischen Reise nach Südfrankreich (1415/16), sowie vor seiner Verheiratung mit Margarethe von Schwangau, die — wie ich der Biographie von Anton Schwöb entnehme — „im Frühsommer 1417" stattgefunden haben dürfte; übereinstimmend wird das Lied auf Mitte/Ende 1416 datiert. Uberliefert ist es in den drei großen Wolkenstein-Handschriften — zwei davon übrigens werden in Innsbruck aufbewahrt — und zwar in einem bis direkt auf den Verfasser zurückgehenden, also weitgehend authentischen Wortlaut; zwei der Hss., der Wiener Codex 2777 und die signaturlose Hs. der UB Innsbruck, beide im Auftrag und sozusagen unter den Augen Oswalds geschrieben, überliefern auch die Melodie des Liedes8. Die sieben Strophen des Liedes zerfallen jeweils in 2 + 2 Teile, haben also die Form AABB; die einzelnen, in den Teilen Β mit Binnenreimen versehenen Verse haben jeweils 6 Hebungen, sind also ungewöhnlich ausladend. Die Melodie kann man als episch-rezitativ kennzeichnen. A l l dies paßt zum Inhalt des Liedes: Denn hier wird nicht eine Stimmung dargestellt, wird nicht reflektiert, sondern der Dichter erzählt sein Leben — dabei stellt er sich in die 7 Die folgende Interpretation des Liedes (bei K . K . Klein: N r . 18) hat in Z u stimmung, Weiterführung und auch Ablehnung folgende Untersuchungen zur Grundlage: Fritz Martini, Dichtung und Wirklichkeit bei O . v . W . , in: Dichtung und Volkstum ( = N . F. Euphorion) 39 (1938), S. 3 9 0 - 4 1 1 . — Norbert Mayr, D i e Reiselieder und Reisen O.s v. W . , Diss. Innsbruck 1959, Druck: Innsbruck 1961 ( = Schlern-Schriften 215). — Ulrich Müller, „Dichtung" und „Wahrheit" in den Liedern Oswalds von Wolkenstein: D i e autobiographischen Lieder von den Reisen, Diss. Tübingen 1967, Druck: Göppingen 1968 ( = Göppinger Arbeiten zur Germanistik 1). — Ulrich Müller, „Lügende Dichter?" (Ovid, Jaufre Rudel, O . v. W . ) , in: Gestaltungsgeschichte und Gesellschaftsgesdiichte, Fs. Fritz Martini, hsg. von Käte Hamburger und H e l m u t Kreuzer, Stuttgart 1969, S. 32 - 50. — Ulrich Müller, Beobachtungen und Überlegungen über den Zusammenhang von Stand, Werk, Publikum und Überlieferung mittelhochdeutscher Dichter: Oswald von Wolkenstein und Michel Beheim. Ein Vergleich, in: Egon Kübebacher, O . v . W . , Beiträge der philologisch-musikwissenschaftlichen Tagung in Neustift bei Brixen 1973, Innsbruck 1974 ( = Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft, Germanistische Reihe 1), S. 1 6 7 - 1 8 1 . — Stephen I . W ailes, Oswald von Wolkenstein and the „Alterslied*, in: The Germanic Review 50 (1975), S. 5 - 1 8 . — Walter Roll, D e r vierzigjährige Dichter. Anläßlich des Liedes ,Es fuegt siàf Oswalds von Wolkenstein, in: Z f d P h 94 (1975), 377 - 394. — D e n Text des Liedes s. i m Anhang. 8 D i e drei Wolkenstein-Handschriften sind jetzt in folgenden Faksimile-Ausgaben zugänglich: Hs. A (hsg. von Ulrich Müller und Franz V . Spec&i/er), Stuttgart 1974; ferner als Farbfaksimile, eingeleitet von Francesco Delbono, Graz 1977 (= Codices selecti 49). — Hs. Β (hrsg. von Hans Moser und Ulrich Müller), Göppingen 1972 ( = Litterae 12). — Hs. c (hsg. von Hans Moser, Hans-Dieter Mück, Ulrich Müller und Franz V . Spechtler), Göppingen 1973 ( = Litterae 16). — Faksimile-Bände zur Streu-Überlieferung sowie zu den Kontrafakturen werden in der Reihe *Litterae" vorbereitet von Hans-Dieter Mück und Ivana Pelnar.
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Situation dessen, der als „alter Mann" auf sein Leben zurückblickt und sozusagen Rechenschaft ablegt. Diese Ausgangssituation bestimmt und definiert die Gattung und damit die Tradition, in der das Lied steht: es handelt sich um ein rückblickendes Alterslied. Was erzählt der Dichter nun? Er erzählt nicht genau chronologisch, sondern systematisiert nach bestimmten Leitthemen. Der Leser bzw. Hörer — vor allem der moderne — erhält den Eindruck, daß er ungeheuer viele Einzelheiten aus dem Leben des Verfassers erfährt; die wichtigsten sind: 1. Strophe: Aufbruch in die Welt im Alter von zehn Jahren, notvolles Dasein in der Fremde, Rückkehr nach vierzehn Jahren, vielerlei niedere Tätigkeiten, also insgesamt eine durchaus harte Jugend. 2. Strophe: Viele Reisen, Dienste bei zwei Königen, Kenntnisse von zehn Sprachen und allen Spielmannskünsten; ein gefährlicher Schiffbruch, aus dem es nur mit Mühe Rettung gibt. 3. Strophe: Auszeichnung durch die (genauer: „eine") Königin von Aragon, die vor einem höchsten Publikum von Königen und vor einem der Päpste den Dichter in Perpignan auszeichnet — und zwar mit Ringen in die Ohren und den Bart. 4. Strophe: Versuch einer geistigen Umkehr, Dasein als frommer Landstreidler; unfrommes Ende dieser Bemühungen durch Liebesabenteuer, die durch die Pilgerkutte erleichtert werden. 5. und 6. Strophe: Nöte durch die Liebe zu einer ungenannten Dame (die bereits an dem Beghardendasein von Str. 4 schuld war); genaues Register dieser Liebesqualen. 7. Strophe: Resumé und Versuch einer Schlußabrechnung: Ein Leben von fast vierzig Jahren in der Welt in Ehren, aber ohne rechten Sinn; als Ausweg bieten sich an: die Ehe (das wird abgelehnt), stattdessen das Bekenntnis der Sündenhaftigkeit und die Hoffnung auf die Gnade Gottes. A l l das wird berichtet mit vielen Details, mit Zahlenangaben und Nennung von Orten und Personen. Der Hörer und Leser erhält den — wie gesagt — Eindruck von Fülle und Genauigkeit, und entsprechend hat die Wolkenstein-Forschung das Lied lange Zeit als die wichtigste und ergiebigste Quelle seiner Biographie betrachtet und daraus — zusammen mit einigen Urkunden — die Lebensgeschichte Oswalds zusammengebaut. Erste Zweifel an der Richtigkeit einer solchen Vorgangsweise9 hat dann 1938 Fritz Martini geäußert, 1961 untersuchte Norbert Mayr in einer richtungs9
Z u den hier genannten Untersuchungen vgl. die Angaben oben in Anm. 7.
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weisenden Innsbrucker Dissertation erstmals den möglichen biographischen Hintergrund einiger dieser Strophen, und ich selbst habe schließlich in meiner eigenen, 1968 veröffentlichten Dissertation versucht zu zeigen, daß in diesem Lied biographische Realität und poetische Stilisierung so vermischt sind, daß beides für den heutigen Interpreten untrennbar miteinander verbunden ist; daß man also — vom Standpunkt des Historikers aus und sehr überspitzt formuliert — dem Dichter Oswald von Wolkenstein in diesem Lied nichts so genau glauben kann, wie er es erzählt. Obwohl diese Interpretation weitgehend, wenn auch nicht von jedem und immer vollständig akzeptiert worden ist, hat sich die Forschung seither immer wieder mit diesem Text beschäftigt. I n Aufnahme und Auseinandersetzung damit möchte ich hier vor Ihnen versuchen, das zentrale Problem dieses vieldiskutierten und von allen hoch eingeschätzten Liedes, eben das Verhältnis von Dichtung und Wirklichkeit, unter Zuhilfenahme eines bisher noch nicht angewendeten Interpretationsansatzes zwar nicht zu lösen (es ist unlösbar!), aber doch zumindest möglichst scharf zu beleuchten. Dieser Ansatz besteht im Vergleich mit gleichgerichteten Texten anderer Verfasser; und mit einer solchen kontrastiven Interpretationsmethode habe ich bisher nur gute Erfahrungen gemacht. Wie erwähnt, ordnet sich Oswald von Wolkenstein in die Tradition des sog. Altersliedes ein, einer lyrischen Untergattung, die sich zwar in den verschwindend wenigen poetologischen Äußerungen des Mittelalters nicht formuliert findet, die sich aber dem unter dem Erkenntniszwang einer Systematisierung und Klassifizierung stehenden Literaturwissenschaftler eindeutig als klar umrissene Gruppe darstellt. Gedichte, in denen ein mittelalterlicher Verfasser im Alter, im Rückblick von bzw. aus seinem Leben berichtet, sind uns in den verschiedensten Sprachen erhalten; aus den deutschsprachigen greife ich zwei Beispiele heraus: das fälschlicherweise und ganz irreführend als ,Elegie* bezeichnete Lied Owe war sind verswunden des Walther von der Vogelweide, ferner die Ζ al und sum meiner gedieht auf dise zeit, die im Jahre 1554 — aber noch durchaus in der Tradition des Mittelalters stehend — Hans Sachs verfaßt hat 1 0 . Vergleichbar und identisch ist in allen drei Liedern die Situation des lyrischen Ichs (hier: des jeweiligen Dichters), das im Alter und im Rückblick berichtet; unterschiedlich — und damit den Vergleich für unsere Zwecke erst sinnvoll machend — ist der Inhalt und vor allem die Art und Weise des Erzählens, ferner der gesellschaftliche Standort der Verfasser. Dabei sei ausdrücklich betont, daß ein mittelalterliches Alterslied wenig oder nichts mit der sog. Altersdichtung der Neuzeit, etwa Goethes ,Marienbader Elegie', zu tun hat — diese müssen Sie für das Folgende sozusagen vergessen! 10
Vgl. die Textabdrucke im Anhang.
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Das Lied Walthers von der Vogelweide, dessen Überlieferung und genaue Textgestalt den Germanisten einige Schwierigkeiten bereitet hat und noch bereitet, besteht aus 3 Strophen, deren Melodie leider nicht erhalten ist; die Form der mutmaßlichen vierteiligen Strophe (16 Verse!) und die langen, sedishebigen oder adittaktigen Verse, erinnern in ganz überraschender Weise an Oswalds Gedicht. Aufgrund einiger Andeutungen und aufgrund der sonstigen Lieder Walthers wird es in der Zeit vor dem Kreuzzug Kaiser Friedrichs II., also vor 1228 datiert — eine genaue Einordnung ist nicht möglich. Das Lied, zu dem es fast eine Bibliothek von Untersuchungen gibt — einmal wurde es sogar trotz seiner eindeutigen Zuweisung in den Handschriften von einem scharfsinnigen Philologen Walther abgesprochen11 — und bei dessen folgender Interpretation ich mich hinsichtlich eines möglichen zeitgeschichtlichen Gehaltes auf eine eben erschienene Untersuchung von Bernd Thum stütze 12 , besitzt einen klaren und zielgerichteten Aufbau. In der 1. Strophe zeigt sich das lyrische Ich (das wir hier wohl zumindest vorerst mit dem Verfasser Walther identisch setzen können) als jemand, dem sein Leben wie ein Traum vorkommt, der sich in der Welt fremd und desorientiert vorkommt; es ist eine persönliche Klage dessen, dem als alter Mann all das unverständlich geworden ist, was er als Kind kennengelernt hat. Die zweite Strophe weitet die persönliche Altersklage zu einer Zeitklage über die geänderte Gesellschaft und die schlechte politische Lage: die Sitten der Jungen seien jammervoll und freudlos, aus Rom kämen böse Botschaften (des Papstes und der Kurie), es gäbe nur noch Grund zum Weinen — nicht mehr zum Lachen. Zum Ende der Strophe bezeichnet sich der Dichter als tumber, d. h. als Unerfahrener, als Narr, und er richtet den Blick aufs Jenseits. Unter diesem Aspekt, also sub specie aeternitatis, weitet sich die Klage in der folgenden, 3. Strophe abermals: sie wird jetzt zur allgemeinen Weltklage. Der Dichter verwendet die bekannte Allegorie der „Frau Welt", die eine verlockende Fassade, jedoch einen bösen und verderbenbringenden Kern besitzt. Doch 11 Alfred Mundhenk, Ist Walther von der Vogelweide der Verfasser der ,Elegie'? I n : D V j s 44 (1970), S. 613 - 654. 12 Bernd Thum, D i e sog. „Alterselegie" Walthers von der Vogelweide und die Krise des Landesausbaus im 13. Jahrhundert, unter besonderer Berücksichtigung des Donau-Raumes ( Z u L 124,1; 84,14; 35,17), in: Literatur, Publikum, historischer Kontext. Beiträge zur Älteren Deutschen Literaturgeschichte 1 (1977), S. 205 - 239. — I n der Textfassung folge ich der handschriftennahen Version von Roswitha Wisniewski (ZfdPh 87, 1968, Sonderheft S. 9 1 - 1 0 8 ) , in der „so viel wie unbedingt nötig und so wenig wie irgend möglich" an der Überlieferung geändert wird. — Eine etwas anders akzentuierte Interpretation gab zuletzt W o l f gang Haubrichs, Grund und Hintergrund in der Kreuzzugsdichtung. Argumentationsstruktur und politische Intention in Walthers' ,Elegie 1 und ,Palästinalied', in: H e i n z Rupp (Hrsg.), Philologie und Geschichtswissenschaft ( = Medium Literatur 5), Heidelberg 1977, S. 1 2 - 6 2 .
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der Dichter verharrt nicht in dieser Klage, er weist vielmehr einen Ausweg auf: man könne als Waffenfähiger, also als Ritter und Soldat ewigen Lohn und Rettung erwerben, wenn man die „liebe reise" übers Meer anträte, also an einem Kreuzzug nach Palästina teilnähme; dort würde man die Märtyrerkrone der ewigen Glückseligkeit erringen können, die ja viel mehr wert sei als Grundbesitz und Gold. Zwar ist der Dichter nicht sicher, ob er „Armer" (wohl im doppelten Sinne von pauper und miser) an einem solchen Zug teilnehmen kann oder nicht, dennoch besteht angesichts dieses möglichen Ausweges für ihn jetzt kein Grund mehr zur Klage: niemer
mer
ouwe/
13
Das Lied, das als persönliche Klage begann, sich dann zur gesellschaftlichen und politischen Zeitklage weitete und schließlich in einer allgemeinchristlichen Klage über die nichtige und böse Welt zu enden schien, erweist sich schließlich als ein raffiniert gebautes Propagandagedicht, als Aufruf für einen Kreuzzug. Der Dichter verwendet die Form des Altersliedes, gibt diesem aber einen politischen Zweck. Bernd Thum hat glaubhaft gemacht, daß Walther dabei von ganz speziellen, in einem bestimmten regionalen und gesellschaftlichen Kontext stehenden Gegebenheiten ausgeht, nämlich der schwierigen Lage des niederen Adels in Österreich. Und nur daraus könnte man evtl. Informationen über den Dichter selbst erschließen — wenn auch wohl nur sehr hypothetisch. Denn wenn man fragt, was man aus diesem Alterslied eigentlich direkt über den Verfasser erfährt, stellt man — vielleicht etwas erstaunt — fest: so gut wie nichts! Das persönliche Erleben, die persönliche Gestimmtheit wird formuliert durch eine Reihe von literarischen Motiven und Topoi: Das Leben als Traum (Str. 1.), Zeitklage und laudatio temporis acti (Str. 1 und 2), die Allegorie der Frau Welt (Str. 3), der Lohngedanke der Kreuzzugsbewegung (Str. 3), alles formuliert mit Ausdrücken und Bildern, die zwar von einem Individuum gesprochen scheinen, jedoch keinerlei individuelle Information über den Sprecher enthalten. Man erfährt weder etwas Präzises über die Heimat des Dichters, seine genaue Umgebung, seine Erlebnisse, seine wirklichen persönlichen Absichten. Walther macht hier vielmehr etwas, was auch sonst seiner poetischen Arbeitsweise entspricht: Er stilisiert sich in eine Rolle, hier des rückblickenden alten Mannes, die jedoch so allgemein gehalten ist, daß sie einen jeden Hörer zur Identifikation einladen konnte. Das eigene, persönliche Schicksal steht stellvertretend für jeden Standesgenossen zu dieser Zeit, das Persönliche wird ganz unindividuell, ganz entpersönlicht, in allgemeinen Gedanken und Bildern vorgeführt — dies geht soweit, daß man überlegen kann, 13 Ladmann hatte diese Verse als Refrain (125,11) wiederholt; gegen diese Konjektur, der man weitgehend gefolgt ist, vgl. Wisniewski (vgl. oben Anm. 12), S. 102.
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ob hier tatsächlich (wie ich oben behauptete) wirklich lyrisches Ich und Verfasser-Ich identisch sind, ob der Dichter nicht völlig hinter seiner Rolle verschwindet, es sich bei dem Lied nicht um ein reines Rollengedicht handelt. Diese mögliche Konsequenz hat bisher — soweit ich weiß — niemand in dieser Radikalität gezogen, und auch ich möchte sie hier nicht ziehen; der Grund dafür liegt in der eindrucksvollen, aus persönlichem Erleben anscheinend lebenden poetischen Gestaltung, ferner in der Tatsache, daß Walther in anderen Liedern einen ähnlichen, persönlich wirkenden AltersStil zeigt. 14 Die besondere Eigenart dieser poetischen Gestaltung hat aber für das damals zuhörende Publikum zur Folge gehabt, daß das Unindividuell-Persönliche für jeden gültig war, von jedem verstanden werden konnte, keine besonderen Informationen voraussetze, daß das Lied also vielfältig verwendbar war. Etwas genau Umgekehrtes findet sich in dem Lied 1 5 des Hans Sachs. In dessen 3 Strophen berichtet der Dichter mit genauer Datierung (1554), also exakt im Alter von 60 Jahren (V. 2) von seinem Leben als Dichter. Dessen Beginn ist gleichfalls genau datiert (1514), das poetische Dasein dauerte also bisher 40 Jahre. Sachs zählt präzise auf, was er in dieser Zeit alles verfaßt hat, mit genauen Zahlenangaben und Gattungsbezeichnurigen — schließlich heißt es, er solle auch sein weiteres Leben dieser poetischen Tätigkeit widmen. Wenn das ganze Lied auch eingefügt ist in den stilisierenden Rahmen eines Traumes, in dem dem alternden Dichter die neun Musen erscheinen und er ihnen Rechenschaft ablegt, so ist das Berichtete doch von klarer Nüchternheit und unstilisiert wie eine Abrechnung — man kann alles nachrechnen und nachzählen. Daher, weil eben alles so unstilisiert ist, bot und bietet auch das Lied des Hans Sachs dem Leser und Hörer keine Verständnisschwierigkeiten. Vergleicht man die beiden Alterslieder des Walther von der Vogelweide und des Hans Sachs im Prinzipiellen, in der Art ihrer poetischen Formulierung, und läßt man dabei alle inhaltlichen Unterschiede, die Dominanz bzw. das Fehlen der Transzendenz beiseite, so läßt sich folgendes feststellen: Walther von der Vogelweide stilisiert seinen Bericht völlig ins Allgemeine, er verwendet gängige literarische Muster, er erzählt nichts Individuell-Autobiographisches; Hans Sachs hingegen zählt nur das RealistischAutobiographische im allerengsten Sinne, nämlich Werkzahlen und Datie14 Zur Altersdichtung Walthers vgl. insbesondere Wolfgang Mohr, Altersdichtung Walthers von der Vogelweide; in: Sprachkunst 2 (1971), S. 3 2 9 - 3 5 6 . 15 U m in der gleichen „Gattung" zu bleiben, ziehe ich hier ausdrücklich das autobiographische L i e d des Hans Sachs heran und nicht die inhaltlich vergleichbare, umfangreiche R e i m - R e d e ,Summa all meiner gedieht' vom 1. Januar 1567; in der Rede ließe sich das für das Lied Festgestellte noch viel eindeutiger beobachten.
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rungen auf, er gibt der eigentlichen Abrechnung keine Stilisierung. Überspitzt formuliert: Läßt sich für den heutigen Interpreten bei Walther nur poetische Stilisierung, keine biographische Wirklichkeit feststellen, so besteht das Lied des Hans Sachs im Grunde nur aus dem Gegenteil, nämlich aus nackten biographischen Zahlen. D. h. also: das Problem von Dichtung und Wirklichkeit stellt sich für uns in diesen Liedern nicht oder nicht mehr, weil wir bei dem einen nur Dichtung, bei dem anderen nur Wirklichkeit finden. Genau in der Mitte liegt das Lied Oswalds von Wolkenstein. Die Kenntnis der beiden Lieder von Walther und von Sachs, die ich als Extremtypen hinsichtlich der Gestaltung eines autobiographischen Inhalts in der lyrischen Gattung des Altersliedes verstehe, macht es nun möglich, die poetische Eigenart des Wolkenstein-Liedes schärfer und präziser zu erkennen und zu formulieren. Unter dem Blickwinkel des bisher Festgestellten möchte ich nun das Wolkensteinsche Alterslied nochmals, und eingehender, betrachten. Das Lied ordnet seinen Erzählinhalt — wie schon erwähnt — nicht chronologisch an, sondern nach bestimmten Themen. Dasjenige Thema, das das gesamte Lied bis zur Schlußabrechnung zusammenhält, ist das der Not; dasjenige Erzählmittel, das sich gleichfalls durch das gesamte Lied zieht, ist die Kontrastierung von Ankündigung und Durchführung — dem Hörer werden zu Anfang der Strophe bestimmte Erwartungen vermittelt, denen dann im folgenden widersprochen wird bzw. die im folgenden nicht erfüllt werden. Der Inhalt einiger, leider nicht aller Strophen läßt sich mithilfe von historischen Dokumenten und aus Oswalds Biographie überprüfen, es läßt sich also Wirklichkeit und poetische Darstellung direkt vergleichen: dies ist der Fall bei Str. 3 und 7, teilweise auch bei 2, sehr viel weniger bei 1 und 4, überhaupt nicht bei 5 und 6. Gehen wir also den Text des Liedes nochmals durch: S t r o p h e I : Sie enthält Oswalds Jugendgeschichte — aus Neugier behauptet der Dichter, sein Zuhause verlassen zu haben, um die Welt zu erfahren. Was er aber dann erfuhr, das waren Nöte und Beschwernisse: Fußmärsche, Pferdediebstahl mit schnellem Verlust, Tätigkeiten als Laufbursche, Küchenjunge, Pferdeknecht und sogar als Ruderknecht; schlechte Kleidung. Zahlen und Einzelheiten vermitteln den Eindruck von genauer Erzählung. Aus urkundlichem Material läßt sich das Berichtete nicht beurteilen, da es über Oswalds Jugend keine Dokumentation gibt — ganz verständlicherweise! Doch gibt es eine andere Möglichkeit, der poetischen Stilisierung auf die Spur zu kommen: Nämlich die Suche nach literarischen Topoi, nach Erzählschemata, nach immer wiederkehrenden Erzählinhalten innerhalb Oswalds Werk und zwar in verschiedener Darstellungsweise. Norbert Mayr, in der erwähnten Innsbrucker Dissertation, hat als erster die wörtliche
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Glaubwürdigkeit der Erzählung bezweifelt; nimmt man weiteres, was man dazu mittlerweile feststellen konnte, hinzu, ergibt sich folgendes Bild: Die Trennung von zu Hause war offenbar kein Weglaufen (dies ist ein literarisches Muster, man denke etwa an den jungen Parzival!), sondern dahinter verbirgt sich die übliche Erziehung eines jungen Adligen in der Fremde; die geographische Angabe in V. 4 (cristen, kriechen, haiden) ist eine feste Formel; die ärmliche Ausstattung mit drei Pfennigen und einem Brotstück ist entweder eine symbolische, aus dem Volksglauben erklärbare Gabe, oder aber es handelt sich hier um die Konkretisierung von Sprichwörtern; die erwähnten Tätigkeiten entsprechen dem, was ein adliger Jungknappe während seiner Ausbildung tun mußte, die schlechte Kleidung ist wiederum ein alter Topos. Individuell sind: der Pferdediebstahl, die Rückkehr aus der Fremde nach dem Tod des Vaters (nach vierzehn Jahren), das Rudern bei Kandia = Kreta. Der erzählte Inhalt der Strophe ist also ganz ungeeignet, um eine zuverlässige Jugendgeschichte des Dichters zu entwerfen — gerade viele der Details entsprechen gängigen literarischen Mustern, sind also zumindest verdächtig, vom Dichter nach bestimmten überlieferten Erzählmustern stilisiert zu sein. Nun kann man zwar sagen: Wenn jemand Topoi, literarische Traditionsmuster verwendet, so heißt das keineswegs und unbedingt, daß er in seiner Erzählung lügt, die Unwahrheit berichtet 16 ; es bedeutet jedoch, daß er das Erzählte aufgrund bestimmter Traditionen auswählt und formuliert, daß er also die erlebte Wirklichkeit umformt, sie stilisiert. Das Ergebnis ist aber, daß der Leser bzw. Hörer später nicht mehr genau feststellen kann, wo die Realität endet und wo die poetische Formung beginnt; es ist nicht von ungefähr, daß Goethe für seinen eigenen Lebensbericht den Titel ,Dichtung und Wahrheit' verwendet hat 1 7 — der Titel weist auf eben dieses Problem hin, das bei jeder poetischen Formulierung eines Lebenslaufes entsteht. S t r o p h e I I steht unter dem Thema R e i s e n / E r f a h r u n g e n : In der ersten Hälfte zählt der Dichter katalogartig die bereisten Länder, seine königlichen Herren, die von ihm beherrschten Sprachen und musikalischen Künste auf — all dies läßt sich wenigstens teilweise nachprüfen. Im Kern sind die Angaben sicherlich richtig. Dann kommt der Umschlag in die Not: A l l die berichteten Erfahrungen nützten nichts, als der Dichter einen Schiffbruch erlitt — er verlor alles und kam nur mit Mühe davon! Den Schiffbruch hat Oswald ca. zehn Jahre später in einem anderen Lied 16 Vgl. dazu grundsätzlich: Wolfgang Mohr, Tanhusers Kreuzlied, in: D V j s 34 (1960), S. 338 - 355, bes. S. 347 f. 17 Der Haupttitel lautet: ,Aus meinem Leben'. D e r Untertitel wurde von Riemer vorgeschlagen und dann von Goethe übernommen; er lautete ursprünglich W a h r heit und Dichtung' und wurde dann aus Gründen des Wohlklangs, nicht aus inhaltlichen Erwägungen umgestellt.
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(23,49 ff.) nochmals erzählt, jetzt mit deutlichen Ausschmückungen: Er behauptet nämlich später, er habe sich auf einem Weinfaß ans Ufer gerettet, und er gibt sogar die Weinsorte — „Malvasier" — an! Diese spätere Präzisierung ist stilisierungsverdächtig, zumal wenn man weiß, daß die Rettung auf einem Alkoholfaß ein Schwankmotiv darstellt — es kommt etwa noch in Shakespeare ,Sturm' vor. Oswald hat die Geschichte nicht nur zweimal in seinen Liedern erzählt, sondern er hat sie — wohl schon früher — auch in einem (heute nicht mehr erhaltenen) Wandbild in der von ihm gestifteten Oswald-Kapelle des Brixener Domes darstellen lassen. Auch hier gilt: das Erzählte ist im Kerne sicher wahr, doch den Grad der poetischen Umformung kann man nicht mehr eindeutig feststellen, gerade die besonders realistisch erscheinenden Einzelheiten wirken verdächtig. S t r o p h e I I I besteht aus keinem Katalog, sondern berichtet ein einzelnes Ereignis. Oswald hat es mehrfach erzählt und erwähnt, und daraus — sowie aus der Stellung in dem vorliegenden Lied — kann man eindeutig erfahren, daß er das Erzählte als Höhepunkt seines Lebens betrachtet hat. Was steckt aber hinter der clownhaften Szene, über die allerhöchste Personen lachen und sich amüsieren? Meiner Meinung 18 nicht anderes als diejenige aragonesische Auszeichnung, die auch die beiden Bilder der WolkensteinHandschriften zeigen: nämlich die Aufnahme in den aragonesischen Kannenoder Greifenorden, die ausdrücklich durch die dortige Königin geschehen mußte. Warum Oswald diese Ehrung jedoch auf die vorliegende Weise darstellt, ist nicht sicher zu erklären: das literarische Motiv des Minnedieners, der von seiner Herrin ausgezeichnet wird, spielt sicherlich mit; dazu kommt die literarische Verwendung einer zu jener Zeit individuellen Eigenart Oswalds, nämlich seines damals unmodischen und daher auffälligen Bartes; und wahrscheinlich kommen irgendwelche, uns heute unbekannten Gesellschaftsspäße und Neckereien hinzu. Das Ergebnis dieser Darstellung ist aber: auch eine hohe Auszeichnung hat wenig Wert, sie wirkt komisch und die Zuschauer lachen darüber. 18 Ohne weitere Begründung trennt Sdowob (Anm. 2; S. 115 f.) zwischen der hier erzählten Szene und der Ordensverleihung und sieht darin zwei verschiedene Ereignisse; aus der Stellung, die Oswald hier und in K l 19 (Str. X X ) dem Ereignis gibt, zeigt sich aber zweifelsfrei, daß er es als d e n Höhepunkt seiner bisherigen Karriere ansah: das kann sich dann aber nur auf die Aufnahme in den hochangesehenen aragonesischen Orden beziehen, dessen Zeichen Oswald ja ausdrücklich auf seinen beiden Bildern in Hs. A und Β abmalen ließ. D i e gleiche Identität nimmt auch Roll (Anm. 7; S. 384) an; gegen Roll ist allerdings zu bemerken, daß die Sache als solche natürlich hochwichtig und ehrenvoll war, die Darstellung bei Oswald aber in Richtung K o m i k und Narretei stilisiert ist — warum sollte denn Oswald sonst die Reaktion Sigmunds so ausführlich beschreiben und sogar ausdrücklich sagen, alle hätten ihn mit lachen (18,111,13) angeschaut. Es ist Röll y der hier nicht richtig den Text liest und dadurch „völlig in die Irre" geht!
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Besonders deutlich sind die poetische Stilisierung und die Kontrastierung von Ankündigungen und Durchführung in S t r o p h e I V : Dem Entschluß einer Besinnung folgen Minneabenteuer als fahrender Begharde, d. h. als Laienbruder. Fast alles besteht aus literarischen Mustern, bekannt vor allem aus Schwank und Fastnachtsspiel: der Minnesklave, dem seine Dame ein Mönchsdasein o. ä. auferlegt; der buhlerische Mönch; der Liebestor (V. 8 bedoret/), der unsinnige Aufgaben erfüllt. Allgemein behauptete und behauptet man, hinter der Erzählung stehe eine Pilgerfahrt ins Heilige Land, die Oswald übrigens nachweislich unternommen hat — und man hat sogar aus der Strophe herausgesponnen, er habe diese Fahrt auf Aufforderung seiner Minnedame gemacht und sei von ihr nach seiner Rückkehr betrogen worden. A l l davon, weder von einer Palästina-Reise, noch vom Betrogenwerden steht etwas in der Strophe — allein biographisch verwertbar ist vielleicht die Zahlenangabe in V. 2; alles andere sind zusammenmontierte literarische Motive, deren erlebter Untergrund überhaupt nicht mehr sichtbar ist. Noch deutlicher — wenn dies überhaupt möglich ist — wird dies in den nächsten S t r o p h e n V und V I : Sie bestehen, in ihrer pedantisch vollständigen Aufzählung von Liebesnöten überhaupt nur aus literarischen Bildern und Mustern — für jede Einzelheit (abgesehen der „Insel Nio" in Str. V I ) lassen sich Vorbilder und Traditionen feststellen. Das meiste gehört in das Motivarsenal des von Ovid dem Mittelalter vermittelten Bildes von der Liebe als Krankheit, der man wehrlos ausgeliefert ist. Der ganze Katalog wirkt aber in seiner Pedanterie fast komisch, und die Komik wird verstärkt durch die Ankündigung, das Leid der Liebe sei zu groß, als daß es der Dichter erzählen könne. Und was tut er? S t r o p h e V I I wiederholt aus Strophe I V das Motiv der Besinnung, jetzt kombiniert mit einer ironisch gebrochenen Altersangabe: im fast, aber eben nicht genau 40. Lebensjahr 19, der sprichwörtlichen Schwelle ins eigentliche Alter. Als erster Ausweg aus dem bisherigen Leben bietet sich dem Dichter die Ehe an — doch sie wird sofort abgewertet; und zwar mit drastischen Bildern! Nun weiß man aber sicher, daß Oswald eben zu dieser Zeit sich um eine Verheiratung bemüht haben muß; er hat zur selben Zeit feurige 19 D i e auch von Schwöb übernommene Deutung der Zahlenangabe durch Roll (vgl. Anm. 7) scheint mir unrichtig: Minnerlminnist bedeutet im klassischen M h d . fast immer etwas Quantitatives (vgl. Lexer I 2152 f. und 2155 f.), nichts Qualitatives, also: »weniger*, nicht aber: ,minderwertiger'; ebenso ist es bei Oswald (101,17/ 112,64/32,18/6,27/8,22/105,83). Die Angabe ist sehr ironisch zu verstehen: „Ich bin 40 Jahre — vielleicht etwas weniger, also 38 Jahre — alt"; der Dichter spielt hier mit dem Topos des Vierzigjährigen, zu dem Roll viel Material gesammelt hat, den O . aber mit der den Zuhörern natürlich bekannten Tatsache kontrastiert, daß er damals eben erst ungefähr, noch nicht genau 40 Jahre alt war. M a n mißversteht die Stelle (und das Lied), wenn man hier (wie im ganzen Lied) die ständige Ironie nicht wahrnimmt und goutiert.
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Liebes- und Werbelieder an seine künftige Gattin, Margarethe von Schwangau, verfaßt. Was bedeutet also hier die (scheinbare) Abwertung der Ehe? Sie darf wiederum nicht autobiographisch verstanden werden, sie ergibt sich vielmehr aus dem Aufbau und Ziel eines Altersliedes: Die Besinnung im Alter hat nicht mit etwas Weltlichem zu enden, einen Ausweg allein bietet das Denken an Gott; außerdem wird die Abwertung der Ehe durch den in Str. V / V I dargestellten und in V I I V. 5 f. ausdrücklich nochmals wiederholten Minnedienst gesteuert: Aus dem Gesetz der Liedgattung heraus, im Kontrast zur Minnedame, wird die Ehefrau nach dem literarischen Muster des „übelen wîbes" , der keifenden Frau abgewertet. Nach diesem abgewiesenen Ausweg folgt dann das, worauf der literarisch bewußte und eingeweihte Hörer und Leser von Anfang an sicher warten konnte und wozu er bereits zweimal enttäuscht worden ist: die geistige Besinnung, die Ausrichtung aufs Jenseits. Sie geschieht jedoch wieder in gebrochener Weise, nicht als Sicherheit, sondern im zweifelnden Konjunktiv. Außerdem signiert der Dichter sein Lied zum Abschluß, auch hier wieder vielerlei Traditionen verbindend: die Namensnennung der Urkundensprache (wie erst kürzlich Anton Schwöb20 herausgestellt hat); die Sünderformel eines Sündenbekenntnisses; die im Spätmittelalter immer üblicher werdende Schlußsignatur einer Dichtung. Das gesamte Gedicht schillert also, oszilliert zwischen den Polen der nachprüfbaren biographischen Realität und der mehr oder minder starken poetischen Formung, der Stilisierung. Letzteres wird erreicht durch die Montage einer Vielzahl literarischer Bilder, Motive, Erzählschemata — in sie wird das Erlebte gegossen, so daß es seine ursprüngliche Form verliert und neue Gestalt annimmt. Es entsteht ein Alterslied, das sozusagen auf zwei Schichten berichtet: auf der Oberfläche vom Leben des einen Oswald von Wolkenstein, in der Tiefe, verursacht durch die Mittel der literarischen Verallgemeinerung, vom Leben eines Menschen im späten Mittelalter überhaupt. Was wirklich war und was poetisch geformt wurde, läßt sich heute nicht mehr auseinander halten — möglich, daß damalige, eingeweihte Hörer das literarische Verformungs- und Versteckspiel des Dichters durchschauen und dann genießen konnten; der heutige Interpret ist mangels präziser und intimer Informationen dazu nicht mehr in der Lage, und mancher damaliger Hörer wird es wohl auch nicht gewesen sein. Was bleibt, das ist die eindrucksvolle Darstellung des Lebens, das von Not, von Unsicherheit, von Unberechenbarkeit geprägt ist; in dem alle Künste und Erfahrungen nichts nützen, und in dem man trotz all dem Erreichten nur vorsichtige Hoffnung auf ein Jenseits, auf einen Sinn haben kann. I n einem solchen Lebensgefühl, 20 Anton Schwöb, O . v . W . — Selbstbenennungen, Titel, Ämter und Würden, in: Der Schiern 51 (1977), S. 331 - 349.
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einer solchen Weltschau liegt sicherlich einer der Gründe für den heutigen Erfolg der Wolkensteinschen Werke — denn gibt es hier nicht heute Ähnliches, Vergleichbares? I m Kontrast zu den vorher behandelten, hinsichtlich ihrer völlig bzw. überhaupt nicht durchgeführten Stilisierung gegensätzlichen Liedern des Walther von der Vogelweide und Hans Sachs erwies sich das Gedicht des Wolkensteiners als genau in der Mitte stehend. Dies ist nicht entwicklungsgeschichtlich aufzufassen, als ob hier also von Walther über Oswald bis zu Sachs eine gerade Linie zu einem immer stärkeren Realismus verlaufen würde; denn nähme man Altersgedichte des Neidhart, des Wilden Alexander, des Tannhäuser, des Hugo von Montfort oder etwa des Michel Beheim hinzu, würde sich ein differenziertes und kompliziertes historisches Entwicklungsbild ergeben; die Mittelstellung des Wolkenstein-Liedes ist vielmehr literaturtypologisch, als realisierte Möglichkeit der Form „Alterslied" zwischen den Extremen der völligen Stilisierung und des völlig realistischen Berichts zu verstehen — der Vergleich mit den Liedern Walthers und des Hans Sachs sollte zeigen, daß die Gattung Alterslied auch völlig anders zu realisieren war, er sollte den Blick für die Eigenart des Wolkenstein-Liedes schärfen. Inwieweit die unterschiedlichen Realisierungen mit dem sozialen Stand des Verfassers, also dem unadligen oder (höchstens!) niederen Adligen Walther, dem bürgerlichen Stadthandwerker Sachs, sowie dem doch recht mächtigen und einflußreichen, wenn auch damals noch im politischen Aufstieg befindlichen Vertreter des gehobenen Tiroler Landadels zusammenhängen, und inwieweit sich daraus sicherlich andere Publikumsschichten erschließen lassen, darüber habe ich zwar einige Vermutungen, doch würde deren Ausführung eine umfangreiche und materialreiche Darlegung erfordern, für die ich hier keinen Raum habe. Daher zurück zu Oswald von Wolkenstein! Die Literarisierung, die poetische Formung, die er im Jahre 1416 mit dem hier interpretierten Gedicht unternommen hat, hat er selbst später zitathaft weiterverwendet: I n vielen späteren Liedern hat er Inhalte und Darstellungsweisen daraus wieder aufgenommen, und er hat damit sozusagen selbst bestätigt, daß es sich hier um poetische Formungen handelt, die man später verwenden und auf die man sich berufen kann. Die eindrucksvollste Wiederaufnahme, ja fast die Fortsetzung zu diesem Alterslied hat Oswald — evtl. im Winter 1 4 2 6 / 7 — mit dem Lied Durch Barbarei, Arabia 21 verfaßt: Er nimmt die für ihn typische Form des Länderkataloges, Zeichen seiner glanzvollen Zeit, wieder auf und übersteigert sie fast in Selbst21 Zur genauen Bedeutung und Schwierigkeit des Liedes vgl.: Lambertus Okken, O . v . W . : Lied 44. Wortschatz-Untersuchung, in: Egon Kühebacher (vgl. Anm. 7), S. 1 8 2 - 2 1 8 . — Text im Anhang: N r . 4.
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parodie; er kontrastiert diesen Glanz mit der Gegenwart auf seiner Burg Hauenstein, und ausgeführt wird diese üble Gegenwart vor allem mit einer Familienszene, die genau das als eingetroffen darstellt, was in dem früheren Alterslied als Furcht formuliert war: mit der schimpfenden Frau, den brüllenden Kindern. Das ganze Lied folgt dem Schema der Zeitklage plus laudatio temporis acti y und der Zweck dieser Darstellung ist am Schluß formuliert: der Dichter bittet mit dem Lied um Unterstützung, um Hilfe beim Landesherren. Durch diesen Zweck wird auch die vorige Darstellung gesteuert — und all das darf also wiederum nicht genau autobiographisch auf gefaßt werden („So ging es im Winter auf Hauenstein bei den Wolkensteins zu"!), sondern es muß erkannt werden als bestimmte poetische Stilisierung, verursacht durch den Zweck des Liedes, formuliert mithilfe literarischer Muster und ausgebauter, übersteigerter Selbstzitierungen. Anstelle einer nochmaligen Zusammenfassung möchte ich Ihnen zum Abschluß Teile des Altersliedes bzw. das ganze spätere Bittlied in Aufnahmen vorführen, in denen mithilfe der überlieferten Melodie und aufgrund von neuen Erkenntnissen über mittelalterliche Aufführungspraxis versucht wird, die ursprüngliche Lebensweise dieser Lieder, nämlich den Vortrag im Gesang, wenigstens annähernd zu rekonstruieren. Und ich bitte Sie, beim Zuhören die Wolkenstein-Texte nochmals mit den hinsichtlich „Dichtung" und „Wirklichkeit" sehr viel eindeutigeren Texten Walthers und des Hans Sachs zu vergleichen, und ich bitte Sie außerdem zu versuchen, das von Wolkenstein durchgeführte Vexierspiel mit „Realität" und „Stilisierung" aufgrund meiner interpretatorischen Andeutungen und Hinweise zu durchschauen — und zu genießen!22 2 2 Zur Vorführung gelangten 2 Ausschnitte aus den in Anm. 5 genannten Schallplatten: K l 18 I / I I I / V I I aus der E M I - A u f n a h m e , K l 44 I - I I I aus der TelefunkenAufnähme. Als „Ersatz" dafür sei auf die Textabdrucke verwiesen. — Zu^ den Gründen für den ungewöhnlichen »Erfolg* des Wolkensteiners in unserer unmittelbaren Gegenwart sei es mir erlaubt, als Nachtrag aus meinem Nachwort zu dem demnächst erscheinenden Band „Oswald von Wolkenstein. Wege der Forschung" (Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt) zu zitieren; dort finden sich auch die genauen Nachweise: „Meiner Meinung nach liegen die Gründe zum einen in der Affinität zwischen seiner und unserer Zeit, beides Zeiten des Umbruchs, der geistigen, politischen und wirtschaftlichen Wirren und Veränderungen, der Identitätskrisen von Individuum und Gesellschaft. Z u m anderen liegen die Gründe — und dies ganz besonders — in der A r t und Weise, wie er auf die Probleme und Fragen seiner Epoche reagiert hat: M i t großer sprachlicher, rhythmischer und klanglicher Begabung ausgestattet, hat er in einer Mischung aus Kompensationsbedürfnis, Rechtfertigungsdrang, Exhibitionismus und — Angst sich und seine Umgebung dargestellt, pessimistisch und illusionslos zugleich. Er stammte zwar aus einer angesehenen Landadelsfamilie, er besaß wenigstens die unbedingt notwendigen w i r t schaftlichen Voraussetzungen zur Entfaltung seiner Persönlichkeit und seiner großen Begabung; getrieben wurde er aber vom sozialen Erfolgs-Ehrgeiz des Zweitgeborenen, vom Anerkennungsdrang des körperlich Benachteiligten. Er zeigt in seinen Liedern ein zwischen Sinnlichkeit und Schuldgefühlen schwankendes, gleichzeitig
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Es fuegt sieb, do ich was von zehen jaren alt, ich wolt besehen, wie die weit war gestalt. mit eilend, armuet mangen winkel haiss und kalt hab ich gepaut pei cristen, kriechen, haiden. Drei pfenning in dem peutel und ain stücklin prot das was von haim mein zerung, do ich lo ff in not. von fremden, freunden so hab ich manchen tropfen rot gelassen seider, dass ich want verschaiden. Ich loff ze fuess mit swärer puess, pis das mir starb mein vater zwar, wol vierzen jar, nie ross erwarb, wann ains raubt, stai ich halbs zumal mit valber varb und des geleich schied ich davon mit laide. Zwar renner, koch so was ich doch und marstallär, auch an dem rue - der zoch ich zue mir, das was swär, in Kandia und anderswa auch wider här. vil mancher kitel was mein pestes klaide. Gen Preussen, Littwan, Tartarei, Türkei, über mer, gen Lampart, Frankreich, Ispanien mit zwaien küngesher traib mich die minn auff meines aigen geldes wer, Rueprecht, Sigmund, paid mit des adlers streiffen. Franzoisch, mörisch, kationisch und kastilian, teutsch, latein, windisch, lampertisch, reuschisch und roman , die zehen sprach hab ich gepraucht, wann mir zeran; auch kund ich vidlen, trummen, pauken, pfeiffen. Ich hab umbvarn insel und am, manig lant auff sehe ff en gross, der ich genoss von sturmes pant, des hoch und nider meres gelider vast berant; die Swarze Se lert mich ain vass begreiff en, Do mir zerprach mit ungemach main wargatin. ain kauffman was ich, doch genas ich und kam hin, ich und ain Reus s; in dem gestreuss haubtgnet, gewin das suecht den grund und swam ich zue dem reiffen. Ain künigin von Arragun was schon und zart, dafür ich kniet zu willen raicht ich ir den part,
sensibles und gewalttätiges Ich, das sich in einem stetigen aufreibenden K a m p f mit einem mächtigen Über-Ich und einem ebenso mächtigen Es befindet. Seine Lieder erweisen deutlich, daß ihr Autor einen Drang zur vollständigen künstlerischen Erprobung aller sich bietenden thematischen und formalen Möglichkeiten hatte, dem er ohne Rücksichten auf die Wünsche und Empfindlichkeiten eines zahlenden Publikums nachgeben konnte, gesteuert und gehemmt nicht vom Zwang des täglichen Broterwerbs eines Berufskünstlers, sondern allein zum Zweck der möglichst wirkungsvollen, Erfolg und Anerkennung verschaffenden Selbstdarstellung. Dies alles hat er in W o r t und Musik umgesetzt, seinen Zuhörern und späteren Lesern dabei den Eindruck vermittelnd, als würde er in ganz ungewöhnlichem Umfang aus seinem eigenen Leben und von seinen eigenen Problemen erzählen, und damit zur Identifizierung einladend."
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mit hendlein weiss pand si darin ain ringlin zart lieplich und sprach: «non maiplus disligaides.» Von ir en handen ward ich in die or en mein gestochen durch mit ainem messin nädelein, nach ir gewohnhait sloss si mir zwen ring darein, die trueg ich lang, und nent man si racaides. Id sue cht ze stunt künig Sigmunt, wo ich in vant. den mund er spreutzt und macht ain kreutz, do er mid der rueft mir schier: