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German Pages 460 Year 2003
STUDIEN UND TEXTE ZUR SOZIALGESCHICHTE DER LITERATUR
Herausgegeben von Wolfgang Frühwald, Georg Jäger, Dieter Langewiesche, Alberto Martino, Rainer Wohlfeil
Band 99
Literaturwissenschaft und Nationalsozialismus Herausgegeben von Holger Dainat und Lutz Danneberg
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2003
Redaktion des Bandes: Georg Jäger
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.ck abrufbar. ISBN 3-484-35099-7
ISSN 0174-4410
© M a x Niemeyer Verlag G m b H , Tübingen 2003 http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Toni Bernhart Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen Einband: Buchbinderei Geiger, Ammerbuch
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis Holger Dainat (Magdeburg) Erinnerungsarbeit. Ein Vorwort
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Michael Grüttner (Berlin) Die nationalsozialistische Wissenschaftspolitik und die Geisteswissenschaften
13
Lutz Danneberg (Berlin) und Wilhelm Schernus (Hamburg) Der Streit um den Wissenschaftsbegriff während des Nationalsozialismus Thesen
41
Holger Dainat (Magdeburg) Zur Berufungspolitik in der Neueren deutschen Literaturwissenschaft 1933-1945
55
Wolfgang Höppner (Berlin) Das Berliner Germanische Seminar in den Jahren 1933 bis 1945. Kontinuität und Diskontinuität in der Geschichte einer wissenschaftlichen Institution
87
Andreas Pilger (Düsseldorf) Nationalsozialistische Steuerung und die >Irritationen< der Literaturwissenschaft. Günther Müller und Heinz Kindermann als Kontrahenten am Münsterschen Germanistischen Seminar
107
Burkhard Stenzel (Weimar) Goethe. Schwierigkeiten bei der Umwandlung einer literarhistorischen Zeitschrift im Nationalsozialismus
127
Bettina Goldberg (Flensburg/Berlin) Politisch nie beeinflußt? Anmerkungen zum Deutschunterricht an höheren Schulen in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus . . . .
147
Bettina Hey 7 (Stuttgart) Hans Friedrich Blunck, Mitläufer und Romancier
167
VI
Literaturwissenschaft und Nationalsozialismus
Ralf Klausnitzer (Berlin) Umwertung der deutschen Romantik? Aspekte der literaturwissenschaftlichen Romantikrezeption im Dritten Reich
185
Petra Boden (Berlin) Stamm - Geist - Gesellschaft. Deutsche Literaturwissenschaft auf der Suche nach einer integrativen Theorie
215
Rainer Rosenberg (Berlin) Von deutscher Art zu Gedicht und Gedanke
263
Klaus Weimar (Zürich) Literaturwissenschaftliche Konzeption und politisches Engagement. Eine Fallstudie über Emil Ermatinger und Emil Staiger
271
Gilbert Merlio (Paris) Die französische Germanistik und ihr Verhältnis zum nationalsozialistischen Deutschland
287
Elisabeth Decultot (Paris) Politische und hermeneutische Positionen der französischen Germanisten zwischen Hitlers Machtübernahme und dem Kriegsausbruch
301
Johannes Volmert (Magdeburg) »Die Krone der Gelehrtenrepublik« - jenseits von Politik und Geschichte. Vergleich zweier Universitätsreden von Jost Trier aus den Jahren 1938 und 1947
321
Gunter Schändern (Magdeburg) Diktaturenvergleich: Die politische Steuerung der literaturwissenschaftlichen Germanistik im Nationalsozialismus und in der DDR
345
Holger Dainat (Magdeburg) Literaturwissenschaftliche Selbstthematisierungen 1915-1950. Eine Bibliographie
369
Holger Dainat (Magdeburg), Lutz Danneberg (Berlin) und Wilhelm Schernus (Hamburg) Geschichte der Kultur- und Sozialwissenschaften in der NS-Zeit. Auswahlbibliographie
387
Personenregister
445
Abkürzungsverzeichnis
ASI Aufl. BA BA Β Bay BBF BDC Bl. DAAD Diss. DLA DNVP DuV DVjs DVP FNS GBl. GG GHO GHOA GLA GR GRM GSA GStA H. Hdf. HJb Hrsg. HStA HTS HUB HZ IASL Jb. KDGK
Adalbert-Stifter-Institut des Landes Oberösterreich Auflage Bundesarchiv Bundesarchiv Berlin Bayerisches Bibliothek fiir Bildungsgeschichtliche Forschung des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung, Berlin Berlin Document Center Blatt Deutscher Akademischer Austauschdienst Dissertation Deutsches Literaturarchiv Deutschnationale Volkspartei Dichtung und Volkstum Deutsche Vierteljahrsschrift fiir Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Deutsche Volkspartei Friedrich-Nietzsche-Schule Gesetzblatt Goethe-Gesellschaft Georg-Herwegh-Oberschule Archiv der Georg-Herwegh-Oberschule, Berlin Generallandesarchiv The Germanic Review Germanisch-Romanische Monatsschrift Goethe- und Schiller-Archiv Weimar Geheimes Staatsarchiv Heft Hermsdorf Historisches Jahrbuch Herausgegeben bzw. Herausgeber Hauptstaatsarchiv Hans-Thoma-Schule Humboldt-Universität zu Berlin Historische Zeitschrift Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur Jahrbuch Kürschners Deutscher Gelehrtenkalender
VIII KPD LA LAB Lyz. MdF MS N.F. ND NSDAP NSDDB NSDSt NSLB NSV ÖGL ÖStA PA PBB Phil.Fak. PK PMLA RELV REM Rep. RG Rg· RKK RLB RZLG SAPM SD SEG SPD StA TS u.d.T. UA UB Uli ULB verm. ZfdB ZfDk ZfdPh ZfG ZK
Abkürzungsverzeichnis Kommunistische Partei Deutschlands Landesarchiv Landesarchiv Berlin Lyzeum Mercure de France Münster Neue Folge Neudruck Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Nationalsozialistischer Deutscher Dozentenbund Nationalsozialistischer Deutscher Studentenbund Nationalsozialistischer Lehrerbund Nationalsozialistische Volkswohlfahrt Österreich in Geschichte und Literatur Österreichisches Staatsarchiv Personalakte Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur Philosophische Fakultät Preußischer Kulturbesitz Publications of the Modern Language Association Revue de l'enseigement des langues vivantes Reichsminister(ium) für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung Repositorium Revue Germanique Realgymnasium Reichskulturkammer Reichsluftschutzbund Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der ehem. DDR Sicherheitsdienst Societe des Etudes Germaniques Sozialdemokratische Partei Deutschlands Staatsarchiv Typoskript unter dem Titel Universitätsarchiv Universitätsbibliothek Untersekunda Universitäts- und Landesbibliothek vermehrte Zeitschrift für deutsche Bildung Zeitschrift fur Deutschkunde Zeitschrift fur deutsche Philologie Zeitschrift für Germanistik Zentralkomitee
Holger Dainat (Magdeburg) Erinnerungsarbeit Ein Vorwort
Unser Wissen über den Nationalsozialismus verändert sich. Es nimmt zu; davon zeugt die steigende Zahl einschlägiger Publikationen gerade in den letzten Jahren.1 Doch dieser Gewinn ist mit Verlusten verbunden. So sehen etwa Aleida und Jan Assmann einen Grund für diesen »Schub schriftlicher Erinnerungsarbeit« darin, daß die Zeitzeugen als die unmittelbar Betroffenen der größten Katastrophe dieses Jahrhunderts allmählich aussterben. Mit diesem Generationenwechsel vollziehe sich ein Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis. Während das kommunikative Gedächtnis jene Erinnerungen umfaßt, »die der Mensch mit seinen Zeitgenossen teilt«, so daß es an den unmittelbaren Erfahrungshorizont weniger Generationen gebunden bleibt, stellt das kulturelle Gedächtnis »eine Sache institutionalisierter Mnemotechnik« dar.2 An die Stelle einer (eher diffusen) Generation treten Experten als Träger der Erinnerung. Die Partizipation an der Vergangenheit erhält asymmetrische Züge: auf der einen Seite »die Wissensbevollmächtigten«, auf der anderen das Publikum - Gedenkfeiern mit geladenen Gästen. »Mit dem Generationswechsel ändert sich auch der Gegenstand der Betrachtung. Aus der erfahrungsgesättigten, gegenwärtigen Vergangenheit der Überlebenden wird die reine Vergangenheit, die sich der Erfahrung entzogen hat.«3 Reinhart Koselleck stellt hier »persönlich leibhaftige Erinnerung und wissenschaftlich abstrakte Geschichtsforschung einander gegenüber«, und Aleida Assmann folgt ihm, wenn sie die historischen Wissenschaften als »Speichergedächtnis« beschreibt, als »ein Gedächtnis der Gedächtnisse, das in sich aufnimmt, was seinen vitalen Bezug zur Gegenwart verloren hat.«4 Der Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis steigere zwar die Menge der Gedächtnisinhalte, trenne aber radikal Vergangenheit von Gegenwart und Zukunft ab, um sich wahllos fur alles >Tote< interessieren zu können.5 Mit der Verschriftlichung, mit der Übersetzung in körperexterne Speichermedien gehe der Verlust eines >vitalen Bezuges
Generationen< kam es nicht. Wer bei Fachkollegen konkret nachfragte, was sie zwischen 1933 und 1945 getan hatten und wie sie heute darüber dächten, der mußte weiterhin damit rechnen, daß die Kommunikation sofort abgebrochen wurde. 9 Daß ein germanistischer Hochschullehrer in der Universität vor den Studierenden Rechenschaft über seine eigene nationalsozialistische Vergangenheit ablegte, blieb die Ausnahme. 1 0 Häufiger dagegen waren apologetische oder ver-
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Vgl. zum Folgenden die beiden Forschungsberichte: Wilhelm Voßkamp, Zur Wissenschaftsgeschichte der deutschen Literaturwissenschaft in der Bundesrepublik; Rainer Rosenberg, Zur Geschichte der literaturwissenschaftlichen Germanistik in der DDR, beide in: Wissenschaft und Nation. Studien zur Entstehungsgeschichte der deutschen Literaturwissenschaft. Hrsg. von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp, München 1991, S. 17-28 und S. 29-41. Vgl. z.B. Rainer Gruenter, Erinnerung an Richard Alewyn, in: Merkur 34 (1980), S. 453465; Otto Gerhard Oexle, Die Fragen der Emigranten, in: Deutsche Historiker im Nationalsozialismus. Hrsg. von Winfried Schulze und Otto Gerhard Oexle, Frankfurt/Main 1999, S. 51-62, S. 58f. Hartmut Gaul-Ferenschild, National-völkisch-konservative Germanistik. Kritische Wissenschaftsgeschichte in personengeschichtlicher Darstellung, Bonn 1993, S. 40ff. Vgl. dazu Karl Otto Conrady, Miterlebte Germanistik. Ein Rückblick auf die Zeit vor und nach dem Münchner Germanistentag von 1966, in: Diskussion Deutsch 19 (1988), S. 126-143; zur Romanistik vgl. Frank-Rutger Hausmann, »Aus dem Reich der seelischen Hungersnot«. Briefe und Dokumente zur Fachgeschichte der Romanistik im Dritten Reich, Würzburg 1993, S. 41f. Rede Gerhard Frickes vor seinen Studierenden zu Beginn des Sommersemesters 1965 in Köln, in: Deutsche Literaturwissenschaft 1945-1965. Fallstudien zu Institutionen, Diskursen, Personen. Hrsg. von Petra Boden und Rainer Rosenberg, Berlin 1997, S. 85-95;
Erinnerungsarbeit
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harmlosende Töne zu vernehmen. Das mag auch an einer historisch bedingten >getrübten< Wahrnehmung und damit Erinnerung der Beteiligten liegen, wie sie Bettina Goldberg in ihrem Beitrag zu diesem Band konstatiert. Ein >entspannterer< Umgang mit der heiklen Fachgeschichte zeichnete sich erst seit den späten 1980er Jahren ab. Deutlich spürbar war das etwa auf den Kolloquien des Marbacher Arbeitskreises zur Geschichte der Germanistik, die sich 1991 mit der Geistesgeschichte 1910-1925 und 1993 mit dem »Zeitenwechsel« 1945 beschäftigten. Allerdings zählten hier die >Jungen< des Münchner Germanistentages bereits zu den >Altem. Zeitpunkt und Generationenwechsel sprechen für Assmanns These, daß das kommunikative Gedächtnis, das einen Erinnerungsraum von ungefähr 80 Jahren abdeckt, nach etwa 40 Jahren »eine kritische Schwelle« erreiche, wo »der Wunsch nach Fixierung und Weitergabe« der »lebendige[n] Erinnerung« zu einer Verschriftlichung führe." Damit wird die Erfahrung in ein anderes Medium transformiert, ja nur noch »über Medien vermittelt«. Das Modell beschreibt das Verhältnis von kommunikativem und kulturellem Gedächtnis als Abfolge. Zum einen betrifft das den Übergang von mündlichen zu schriftlichen Kulturen, eben das spezifische Arbeitsgebiet des Ägyptologen Jan Assmann. Zum anderen wird dieses Modell auf gegenwärtige Verhältnisse übertragen. Hier bedarf es aber einiger Modifikationen. Denn seit den frühen Hochkulturen dürfte es zu einer beständigen Überlagerung von kommunikativem und kulturellem Gedächtnis gekommen sein. Wo sich die Gesellschaft in »Wissensbevollmächtigte« (Assmann) und Publikum differenziert, da ist damit zu rechnen, daß die Vergangenheit zum Objekt der herrschenden Politik wird. Für die Moderne sind die Verhältnisse insofern noch komplizierter, als sich die Differenzierungsform der Gesellschaft verändert hat. Lassen sich die frühen Hochkulturen durch Politik oder Religion integrieren, so zeichnet sich die Moderne durch das Fehlen eines solchen Mittelpunkts aus. Eine primär funktionale Differenzierung fuhrt zu einer Dezentralisierung auch der kollektiven Gedächtnisse. Hält man an der engen Verbindung von Gedächtnis und Gruppenidentität fest, wie sie die Assmanns in der Nachfolge von Maurice Halbwachs herstellen, so fragt sich jetzt, auf welcher Grundlage sich diese durch ein gemeinsames Gedächtnis bildenden Gruppen konstituieren. Man kann weiterhin an Politik und Religion denken, etwa an nationale Erweckungsbewegungen, an Nationalstaaten, an ein nationales Gedächtnis. 12 Die Germanisten, die sich 1933 offen zum Nationalsozialismus bekannten, standen in dieser Tradition. Man kann aber ebenso die nationale Ebene unterlaufen, indem man an regionale, lokale, konfessionelle oder schichtenspezifische Identitäten anknüpft. Es lassen sich jedoch auch Gruppenbildungen vornehmen, die sich an den (anderen) funktionalen Teilsystemen der Gesellschaft orientieren. Die Wirtschaft, das Recht, die Wissenschaft samt ihren Disziplinen
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vgl. Gudrun Schnabel, Gerhard Fricke. Karriereverlauf eines Literaturwissenschaftlers nach 1945, in: ebd., S. 61-84, S. 80ff. J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis (Anm. 2), S. 51. Vgl. Aleida Assmann, Arbeit am nationalen Gedächtnis. Eine kurze Geschichte der deutschen Bildungsidee, Frankfurt/Main und New York 1993.
Holger Dainat
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besitzen dann ihre j e eigenen Gedächtnisse, fur die politische Eckdaten keineswegs zäsurierende Kraft entfalten müssen. Ihre Aufgabe wäre es, die »historische Identität« (Wolf Lepenies) der Disziplin oder Wissenschaft zu sichern. Spätestens hier stellt sich aber ein prinzipielles Problem, dessen sich die Assmanns sehr wohl bewußt sind. Denn eine solche Identitätsstiftung, ein solches Bereitstellen von Orientierungswissen, verstößt gegen die »Identitätsneutralität wissenschaftlicher Geschichtsschreibung.« 13 Aus diesem Grund betont Jan Assmann, »daß Erinnerung nichts mit Geschichtswissenschaft zu tun hat«, weil das soziale Gedächtnis auf die Funktion festgelegt wird, »Vergangenheit in fundierende Geschichte, d.h. in Mythos« zu transformieren.' 4 Deshalb kann Aleida Assmann die historischen Wissenschaften mit dem Speichergedächtnis identifizieren, »das in sich aufnimmt, was seinen vitalen Bezug zur Gegenwart verloren hat«, und das sie dem Funktionsgedächtnis gegenüberstellt, das sie durch die Merkmale »Gruppenbezug, Selektivität, Wertbindung und Zukunftsorientierung« charakterisiert. 15 Um der paradoxen Zwangslage zu entgehen, die historischen Wissenschaften aus dem kollektiven Gedächtnis auszuschließen, empfiehlt es sich, von Identität auf Differenz umzustellen, d.h. Identität auf Differenz zu fundieren. Da kulturelle Identität immer aus einem Vergleich mit Anderen hervorgeht, befindet der oder die oder das Andere sich immer schon im Zentrum dieser Identität, und genau daran wäre zu erinnern. Das kulturelle Gedächtnis hätte dann die Funktion, Ambivalenz oder Zweideutigkeit sicherzustellen, also für eine mitlaufende Beobachtung zu sorgen, »die zu jedem Wert den möglichen Gegenwert bereit hält.« 16 Bei allen Errungenschaften der Moderne wäre zugleich an ihre Kehrseiten zu denken, oder in unserem Falle bei der Literaturwissenschaft an ihren langen nationalsozialistischen Schatten, um zu erkennen, was es sich zu verteidigen lohnt. Eine solche Auffassung von kollektivem Gedächtnis, das nicht vorschnell auf Identitätsstiftung setzt, scheint mir zudem eine realistischere Beschreibung der Lage zu liefern. Denn vielfaltige Netzwerke von Gruppen und Instanzen leisten derzeit Erinnerungsarbeit. Sie benutzen dabei unterschiedliche Medien. Sie reagieren aufeinander, interagieren miteinander, ignorieren oder bekämpfen sich. Unter diesen Bedingungen ist es ratsam, Gedächtnisse mit Adressen oder Systemreferenzen zu versehen, um sie identifizieren zu können. Wichtiger noch: Man muß nach 13 14
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J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis (Anm. 2), S. 43 Anm. 24. Ebd., S. 77. Wo das soziale Gedächtnis, das Assmann im Unterschied zum Geschäft der Historiker als »eine anthropologische Grundtatsache« (ebd.) begreift, auf die Herstellung von Verbindlichkeit festgelegt wird, kann die Polemik gegen den »>Relativismus< einer >wertfreien Wissenschaft (Max Weber)« nicht überraschen; siehe ders., Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: Kultur und Gedächtnis. Hrsg. von Jan Assmann und Tonio Hölscher, Frankfurt/Main 1988, S. 9-19, S. 15. A. Assmann, Erinnerungsräume (Anm. 3), S. 134. Diese klare Trennung von Funktionsund Speichergedächtnis scheint A. Assmann später wieder aufzugeben, wenn sie im Gespräch mit Krzysztof Pomian einräumt, »daß sich die memoriale und die szientifische Dimension der Geschichtsschreibung nicht ausschließen, sondern auf komplexe Weise miteinander verbinden« (ebd., S. 145). Grundlegend dazu jetzt: Dirk Baecker, Wozu Kultur?, Berlin 2000, S. 9.
Erinnerungsarbeit
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der spezifischen Art und Weise fragen, wie sie selektiv und konstruktiv mit Vergangenheit umgehen. Diese Eigenlogik bestimmt die Resonanzfähigkeit für Beiträge aus anderen Bereichen. Und man muß nach den Funktionen fragen, die das vergegenwärtigte Wissen in verschiedenste >vitale Bezüge< einbetten. Selbst bei einer Fachgeschichte leisten viele Instanzen Erinnerungsarbeit. Im Fall der Germanistik und fur die NS-Zeit ist z.B. an die Politik und die Justiz zu denken, die besonders in den ersten Jahren nach 1945 im Zuge einer Entnazifizierung des Hochschulbereichs die Vergangenheit der betroffenen Wissenschaftler aufzuhellen versuchten oder sich im Rahmen von Wiedergutmachung mit der Zerstörung oder Beeinträchtigung wissenschaftlicher Karrieren beschäftigten. Ohne den Frankfurter Ausschwitzprozeß hätte in den sechziger Jahren die Thematisierung des Nationalsozialismus wohl kaum eine vergleichbare Virulenz für die innerfachlichen Diskussionen erhalten. Man müßte auch die - (nicht mehr) schöne - Literatur in Betracht ziehen, die den wissenschaftlichen Umgang mit Literatur in der NS-Zeit zum Gegenstand von Erzählungen, Gedichten oder Dramen gemacht hat. Mit gewichtigeren Beiträgen und wohl auch beständiger haben sich einerseits die Massenmedien, andererseits die Fachgeschichtsforschung dieser germanistischen Vergangenheit angenommen. Bevor sich die Germanistik ihrer Rolle im NS-Regime zuwandte, war diese schon lange Gegenstand der Berichterstattung in Presse und Rundfunk. Von den Massenmedien gingen die Auseinandersetzungen aus, die zum Münchner Germanistentag führten. An den hier stattfindenden Diskussionen beteiligten sich auch Fachwissenschaftler, aber es war deshalb eben noch lange keine Fachöffentlichkeit. Diese Vorreiterrolle hatten die Massenmedien selbst noch im Fall Schwerte inne, dessen frühere Identität als SS-Mann Schneider von Journalisten und nicht von Fachhistorikern enthüllt wurde. Das spricht zweifelsfrei für den Journalismus, doch deswegen nicht unbedingt gegen eine Fachhistorie, sofern man einen Unterschied in Fragerichtung und Umgangsweise zwischen beiden Bereichen zugesteht. Worin besteht nun das Spezifische dieser massenmedialen Erinnerungsarbeit? Zunächst einmal gelten hier die für diesen Bereich üblichen Regeln: Es geht um die Neuheit der Information, d.h. Vergangenheit/Geschichte muß in eine Nachricht mit Aktualitätsanspruch verwandelt werden. Dafür bieten sich Jubiläen und Gedenktage an. In solchen Fällen liegt die Initiative gewöhnlich bei der Fachwissenschaft, die als Veranstalter der Vergegenwärtigung von Vergangenheit auftritt; so geschehen etwa 1983, als >Machtergreifling< und Bücherverbrennung sich zum fünfzigsten Male jährten und eine ganze Serie von Ausstellungen, Reden und Publikationen veranlaßten. Das setzte allerdings voraus, daß sich die Literaturwissenschaft zu dieser Vergangenheit bekannte. Darin ist eine Errungenschaft zu sehen, die dem Fach eine positive Selbstdarstellung ermöglichte, weil es frühere Verfehlungen einräumte und sich zum Bruch mit dieser Tradition bekannte. Wo ein solches Eingeständnis nicht stattfindet, eröffnen sich einem kritischen Journalismus Chancen, sich durch die Aufklärung der >dunklen Kapitel< zu profilieren. Weil man unterstellen darf, daß bestimmte Tatsachen der Öffentlichkeit gezielt vorenthalten werden sollen, legt man den Finger auf die Wunde. Es kommt zum Skandal, der die Funktion hat, zum einen weitere Recherchen in Gang zu
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setzen und zum anderen die zugrundeliegenden Normen an diesem Fall zu bestätigen. Moralisierung und Personalisierung gehen dabei Hand in Hand. Der Skandal und die Story, das Geschehen und seine Darstellung benötigen nämlich Akteure, und dafür eignen sich Personen gewöhnlich besser als (anonyme) Institutionen. Der Skandal bekommt einen Namen, ein Gesicht. Dabei lenkt die Personalisierung die Aufmerksamkeit ab von anderen Strukturen, die als undeutlicher Kontext oder verschwommener Hintergrund für das Agieren eines Schneider/Schwerte oder Heidegger dienen. Für Disziplinen, die ihre Erinnerungsarbeit über ihre >großen weißen Männer< organisieren, bieten die Massenmedien daher einen vorzüglichen Resonanzraum. Für die Philosophie mit Heidegger und für die Romanistik mit Klemperer, Curtius, Krauss und Jauß scheint mir das in besonderem Maße zuzutreffen. Die Selektivität der Massenmedien orientiert sich an den Brüchen. »Konformität und Einvernehmen, Wiederholung immer derselben Erfahrungen und Konstanz der Rahmenbedingungen bleiben entsprechend unterbelichtet.« 17 Diese Präferenz für Unruhe, für >actionmoral intelligence< bezeichnet. Das schließt die Aufforderung ein, sich gegen die Verhältnisse zu wehren, Schwierigkeiten standzuhalten und notfalls Regeln zu brechen. Aber es muß letztlich erkennbar bleiben, wer die Guten und wer die Bösen sind.« 20 Mit den Gefahren einer solchen Personalisierung und Polarisierung wurden die Germanisten konfrontiert, als sie die in den Medien behandelte NS-Verstrickung namhafter Fachvertreter zum Thema innerfachlicher Auseinandersetzungen machten. 21 Liest man unter diesem Gesichtspunkt die Vorträge des Münchner Germanistentages von 1966, dann wird eine Strategie der Deeskalisierung erkennbar: Es sollte nicht um die Verfehlungen einzelner Personen gehen, die allerdings keineswegs verschwiegen wurden, sondern die Gesamtdisposition des Faches rückte in den Vordergrund: Der »Sündenfall der Germanistik« (Rudolf Walter Leonhardt) wurde als katastrophaler End- bzw. Höhepunkt einer Tradition behandelt, die weit ins 19. Jahrhundert zurückreichte. Indem sie derart die Personen in größere Zusammenhänge einbettete, radikalisierte eine solche Auffassung die Kritik an der Disziplin und forderte zum Bruch mit dieser Kontinuität auf. Sie erzwang ge-
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Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien, 2., erw. Aufl., Opladen 1996, S. 141. Ebd., S. 142. Ebd., S. 143. Ebd., S. 142. Vgl. dazu K.O. Conrady, Miterlebte Germanistik (Anm. 9); Petra Boden, Probleme mit der Praxis. Hochschulgermanistik zwischen Wissenschaft, Bildung/Erziehung und Politik, in: Der Geist der Unruhe. 1968 im Vergleich: Wissenschaft - Literatur - Medien. Hrsg. von Rainer Rosenberg u.a., Berlin 2000, S. 181-225, S. 186ff.
Erinnerungsarbeit
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wissermaßen eine neue disziplinare Identität in Opposition zur katastrophalen Vergangenheit. Zugleich diente sie einer Versachlichung der Debatte, die somit in ein Forschungsprogramm überführt werden konnte, das darauf zielte, die Ursprünge und die Entwicklung dieser fatalen Tradition aufzudecken. Das Problem wurde einer spezifisch wissenschaftlichen Bearbeitung zugeführt. Die Fachhistoriographie wandte sich vorrangig dem 19. Jahrhundert zu, das immer auch als Vorgeschichte des Nationalsozialismus betrachtet wurde. 22 Eine zentrale Rolle in der Argumentation spielte seit den sechziger Jahren die These, daß die besondere Gefahrdung der Germanistik für nationalsozialistische Ideologeme auf ihre Funktion als >NationalwissenschaftDeutschwissenschaftbürgerlicher< Wissenschaft ausdrückte. Gegenüber diesem an einer politischen Geschichte ausgerichteten Konzept werteten seit den achtziger Jahren die Forschungen zum 19. Jahrhundert die Eigengesetzlichkeiten des Wissenschaftssystems auf. Demnach erfolgte die Etablierung als akademische Disziplin weniger wegen eines besonderen nationalen Engagements als vielmehr aufgrund einer Philologisierung, also einer Anpassung an die von der Klassischen Philologie gesetzten Standards im Umgang mit Texten. Die Frage nach den Erfolgsbedingungen wissenschaftlicher Geltungsansprüche lenkte die Aufmerksamkeit stärker auf die institutionelle Infrastruktur der Wissenschaft, auf die Universitäten, die Institute, die Zeitschriften, die Gruppen- und Schulbildungen. Schließlich wies die Einsicht in die relative Marginalität der Deutschen Philologie bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts auf den Zusammenhang hin, der zwischen der Relevanz einer Disziplin, ablesbar an den Ressourcen, die sie für sich zu mobilisieren vermag, und ihren Leistungsbeziehungen zu anderen Sozialsystemen besteht. Zusammenfassend kann man von einem Wechsel im fachhistorischen Forschungsprogramm sprechen: von der Ideologiekritik zur Mehrfachperspektivierung. Dabei meint Mehrfachperspektivierung im
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Vgl. nur: Franz Greß, Germanistik und Politik. Kritische Beiträge zur Geschichte einer nationalen Wissenschaft, Stuttgart - Bad Cannstatt 1971; Germanistik und deutsche Nation 1806-1848. Zur Konstitution bürgerlichen Bewußtseins. Hrsg. von Jörg Jochen Müller, Stuttgart 1974; Eine Wissenschaft etabliert sich. 1810-1870. Mit einer Einfuhrung hrsg. von Johannes Janota, Tübingen 1980; Rainer Rosenberg, Zehn Kapitel zur Geschichte der Germanistik. Literaturgeschichtsschreibung, Berlin 1981; ders., Literaturwissenschaftliche Germanistik. Zur Geschichte ihrer Probleme und Begriffe, Berlin 1989; Sprachwissenschaftliche Germanistik. Ihre Herausbildung und Begründung. Hrsg. von Werner Bahner und Werner Neumann, Berlin 1985; Jürgen Fohrmann, Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und deutschem Kaiserreich, Stuttgart 1989; Klaus Weimar, Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, München 1989; Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Hrsg. von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp, Stuttgart und Weimar 1994.
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Holger Dainat
engeren, präziseren Sinne das Zusammenspiel von Wissen, Organistation und Leistung, wie es als Konzept dem Forschungsprojekt von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp zugrundeliegt, 23 und im weiteren Sinne die Anerkennung jenes Pluralismus', dem man auf allen Untersuchungsebenen begegnet und dem sich die Fachhistoriker selbst nicht entziehen können. 24 Dieser >Paradigmenwechsel< fällt mit dem genannten Wechsel der Generationen zusammen. Für die >neue< Generation gehört die nationalsozialistische Vergangenheit der Germanistik ebenso zu den unbestrittenen Tatsachen wie die vielfältigen Kontinuitäten weit über das Jahr 1945 hinaus in beiden deutschen Staaten. 25 Sie will es allerdings genauer wissen. Sie interessiert sich stärker für die Grautöne zwischen den Extremen, fur die kleinen Übergänge, die aus normalen Professoren Stützen eines verbrecherischen Regimes und danach einer parlamentarischen Demokratie bzw. einer anderen Diktatur machten. Das Erkenntnisinteresse verlagert sich damit von den generellen Aussagen zu empirischen Analysen literaturwissenschaftlicher Strukturen und Entscheidungsprozesse. Diese Zielrichtung und die Mehrfachperspektivierung begünstigen sich wechselseitig. Das für den Erkenntnisgewinn produktive Zusammenwirken zeigt sich vielleicht am auffälligsten im Bereich einer Institutionengeschichte, wo die Auswertung bislang unveröffentlichten Archivmaterials der Erforschung einzelner Institute und Zeitschriften zugute gekommen ist. In der Sphäre kognitiver Prozesse gilt das Interesse weniger der Ideologie als einzelnen Forschungsprogrammen (>MethodenDichtern< dominiert wurde, die den meisten Fachvertretern deutlich näherstanden als die verfemten und vertriebenen Schriftsteller. So sehr sich die Perspektiven vervielfältigt und verschoben haben, die Forschung bewegt sich in gewisser Hinsicht noch weitgehend in jenem Rahmen, den die These von der Germanistik als Nationalwissenschaft und ihrer besonderen Anfälligkeit für den Nationalsozialismus abgesteckt hat. Die Gründe dafür liegen
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Wilhelm Voßkamp, Für eine systematische Erforschung der Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, in: DVjs-Sonderheft 1987, S. l*-6*; Jürgen Fohrmann, Organisation, Wissen, Leistung. Konzeptuelle Überlegungen zu einer Wissenschaftsgeschichte der Germanistik, in: IASL 16 (1991), S. 110-125. Wolfgang Höppner, Mehrfachperspektivierung versus Ideologiekritik. Ein Diskussionsbeitrag zur Methodik der Wissenschaftsgeschichtsschreibung, in: ZfG N.F. 5 (1995), S. 49-54. Zur Dominanz dieser Kontinuitätsannahmen vgl. Marcus Gärtner, Kontinuität und Wandel in der neueren deutschen Literaturwissenschaft nach 1945, Bielefeld 1997.
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in einer Fachgeschichtsforschung, die sich an der Struktur des Wissenschaftssystems ausrichtet. Das bestätigt nachdrücklich die Bedeutung disziplinengeschichtlicher Konzepte, begünstigt aber zumeist eine isolierende Betrachtung der Untersuchungsobjekte, so daß Forschungsresultate zu und aus anderen Disziplinen allzu oft nicht wahrgenommen werden. Das ist keine Spezifität der Germanisten. Besonders in drei Hinsichten erweist sich die Fixierung auf die These von der Nationalwissenschaft als problematisch: Erstens betrifft es die Einheit einer Disziplin, die sich als Nationalphilologie einer Differenzierung in Linguistik und Literaturwissenschaft (und Mediävistik) widersetzt, die aber zunehmend Probleme hat, ihre Identität anders als historisch zu begründen. Nicht zufallig sind es vor allem institutionengeschichtliche Beiträge, die noch den gesamten Bereich der Germanistik behandeln. Ansonsten konzentrieren sich die meisten Beiträge auf das Gebiet der Neueren deutschen Literaturwissenschaft, so daß dieser Teilbereich vielfach als Repräsentant für die gesamte Germanistik fungiert, während etwa die kognitive Entwicklung der germanistischen Linguistik oder auch der Mediävistik bislang zu wenig berücksichtigt wurden. Zweitens fehlt es bislang an vergleichenden Untersuchungen verschiedener Disziplinen. So ist z.B. die These nie überprüft worden, ob Germanisten nationalistischer bzw. völkischer und für den Nationalsozialismus anfälliger waren als etwa Anglisten, Historiker, Juristen, Chemiker oder Mediziner, obwohl diese Behauptung zum Kern germanistischen Selbstverständnisses seit dem Münchner Germanistentag gehört. Auch die Romanistik kann, wie Frank-Rutger Hausmann nachgewiesen hat, 26 zu Recht als nationale Wissenschaft bezeichnet werden. Wenn dem so ist, dann muß über die Funktion des Nationalen in den Disziplinen und für die Disziplinen neu nachgedacht werden. Es wäre jedenfalls nicht länger als das Spezifikum der Germanistik anzusehen, sondern als das Allgemeine, das sie mit allen anderen Disziplinen im deutschen Wissenschaftssystem und mit der deutschen Gesellschaft verbindet. In diesem Sinne fungiert es als Integrationsideologie oder als »Scharnierbegriff« (Georg Bollenbeck), der die Kluft zwischen Wissenschaft und >Leben< symbolisch zu überbrücken verspricht, dessen Rückwirkungen auf die Forschung aber nicht zu unterschätzen sind. Diese vergleichenden Untersuchungen sollten sich nicht länger auf die Kulturwissenschaften beschränken. Vielmehr bleibt zu untersuchen, ob und wie sich Geistes- und Naturwissenschaften im Hinblick auf ihre politische Verführbarkeit und ihr politisches Engagement unterscheiden. Drittens wäre hier an den Wunsch zu erinnern, den Jan-Dirk Müller anläßlich einer Besprechung zur Fachgeschichtsforschung zum 19. Jahrhundert äußerte, nämlich »daß die Geschichte der Germanistik vor dem Hintergrund paralleler und divergenter europäischer Entwicklungen profiliert und die angebotenen Er-
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Frank-Rutger Hausmann, Auch eine nationale Wissenschaft? Die deutsche Romanistik unter dem Nationalsozialismus, in: RZLG 22 (1998), S. 1-39 und S. 261-313.
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klärungsmuster vor diesem Hintergrund überprüft würden.« 27 Ein Vergleich der (Mutter- und Fremdsprachen-)Philologien oder Literaturwissenschaften im Kontext ihrer jeweiligen nationalen Wissenschaftskulturen wäre erforderlich, um zu klären, ob und inwieweit die Germanistik bzw. die Nationalphilologien in Deutschland (im deutschsprachigen Raum) überhaupt einen >Sonderweg< eingeschlagen haben. Hier ergeben sich Beziehungen zur Exilforschung, 28 deren Erträge die Wissenschaftsgeschichte noch stärker nützen könnte. Doch nicht nur nationale Wissenschaftskulturen, auch die politischen Rahmenbedingungen wären zu vergleichen. Gerade der Diktaturenvergleich zwischen dem NS-Regime und der DDR zeigt Ähnlichkeiten und markante Unterschiede in dem Versuch, die (Literatur-) Wissenschaften politisch zu instrumentalisieren. 29 Im Rahmen der so skizzierten Forschungslandschaft sind die Beiträge des vorliegenden Bandes zu lokalisieren. Sie lassen sich sechs Problemkomplexen zuordnen. Der erste Teil behandelt den wissenschaftspolitischen und wissenschaftstheoretischen Kontext, in dem sich die deutsche Literaturwissenschaft bewegte. Während der Beitrag von Michael Grüttner sich auf die Geisteswissenschaften und die Praxis nationalsozialistischer Wissenschaftspolitik konzentriert, unternehmen es Lutz Danneberg und Wilhelm Schernus, die zahlreichen Kontroversen in den Natur- und Geisteswissenschaften zu analysieren, bei denen es um die Frage ging, ob es einen spezifisch deutschen oder gar nationalsozialistischen Wissenschaftsbegriff gibt und wie er, wenn es ihn denn gibt, zu bestimmen sei. In dem zweiten Teil geht es vor allem um Fragen germanistischer Institutionengeschichte. Holger Dainat hat die Berufungsverfahren in der Neueren deutschen Literaturwissenschaft zwischen 1933 und 1945 untersucht, mit dem Ergebnis, daß zunächst, wie zu erwarten war, nach eindeutig politischen Kriterien die Lehrstühle vergeben wurden, dann aber wieder - unter einem >gesäuberten< Bewerberkreis fachliche Gesichtspunkte dominierten, so daß sich Listenvorschläge aus den späten dreißiger oder früher vierziger Jahren kaum von solchen aus den fiinfzigern unterschieden. Wolfgang Höppner und Andreas Pilger analysieren die beiden einzigen Germanistischen Seminare, an denen in der NS-Zeit gleich zwei Neugermanisten nebeneinander lehrten, wobei der eine sich vorrangig fachwissenschaftlich, der andere stärker politisch profilierte. Mit dem gebildeten Publikum, dem Erziehungs- und Literatursystem wendet sich der dritte Teil exemplarischen Kontexten der germanistischen Literaturwissen-
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Jan-Dirk Müller, Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert, in: Mitteilungen des Marbacher Arbeitskreises für Geschichte der Germanistik 9/10 (1996), S. 1-10, S. 9. Vgl. Modernisierung oder Überfremdung? Zur Wirkung deutscher Exilanten in der Germanistik der Aufnahmeländer. Hrsg. von Walter Schmitz, Stuttgart und Weimar 1994; Deutsche und österreichische Romanisten als Verfolgte des Nationalsozialismus. Hrsg. von Hans Helmut Christmann und Frank-Rutger Hausmann, Tübingen 1989. Vgl. Gunter Schandera, Autoritäres System - Autorität der Wissenschaft? Bemerkungen zur Rezeptionsästhetik in der DDR, in: Euphorion 92 (1998), S. 361-374, sowie seinen Beitrag in diesem Band.
Erinnerungsarbeit
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schaft zu. Welche Schwierigkeiten der Versuch einer Zeitschriften-Gleichschaltung aufwirft, zumal wenn es sich um das Organ der international renommiertesten deutschen Literaturgesellschaft handelt, beschreibt Burkhard Stenzel am Beispiel des Goethe-Jahrbuchs. Dient dieses Periodikum bereits der Vermittlung literaturwissenschaftlichen Wissens über den engen Kreis der Fachleute hinaus, so gilt das umso mehr noch für den Deutschunterricht. Am Beispiel zweier Berliner Gymnasien stellt Bettina Goldberg auf der Grundlage archivalischer Quellen dar, was sich in der Schulerziehung nach 1933 geändert hat und wie unzutreffend die Richtlinien auch hier die Realität abbilden. Eine andere Gelenkstelle zwischen Wissenschaft und Literatur behandelt Bettina Hey'l in ihrem Beitrag über die Karriere von Hans Friedrich Blunck. Der erfolgreiche Autor und nationalsozialistische Literaturfunktionär bot sich einer politisch interessierten Germanistik geradezu als Gegenstand an, doch der Versuch, einen neuen Kanon gegenwartsnaher Literatur zu begründen, scheiterte hier letztlich ebenso wie eine Umwertung der Romantik. In seiner materialreichen Studie zeichnet Ralf Klausnitzer die Entwicklung dieses Forschungsfeldes nach, das seit den zwanziger Jahren für das Fach zentrale Bedeutung besaß. Der gleichen Frage nach Innovationen kognitiver Art gehen auch die folgenden drei Studien in diesem vierten Teil nach. Zunächst untersucht Petra Boden, warum literatursoziologische oder sozialgeschichtliche Forschungsprogramme in der Literaturwissenschaft sich nicht durchsetzen konnten, obwohl es für ihren möglichen Erfolg sowohl fachinterne wie politische Gründe gab. Mit dem Übergang von der Geistesgeschichte zur Werkimmanenz beschäftigen sich Rainer Rosenberg und Klaus Weimar. Für zwei Gemeinschaftswerke, dem Beitrag zum >Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften< und dem ersten Sammelband von Gedichtinterpretationen, gelangt Rosenberg zu einem eher skeptischen Befund, während Weimar für Emil Ermatinger und Emil Staiger, die neben- und nacheinander in Zürich lehrten, die Divergenz von fachwissenschaftlicher Konzeption und politischem Engagement betont und in Staigers Arbeiten ein beeindruckendes Maß an methodischer Reflektiertheit nachweist. Die vergleichende Perspektive bestimmt auch die Arbeiten des fünften Teils. Dabei stehen nationale Unterschiede im Vordergrund. Gilbert Merlio und Elisabeth Decultot behandeln die französische Germanistik, die sich weit stärker als ihr deutsches Pendant mit der gesamten deutschen Kultur und Politik ihrer Gegenwart beschäftigt. Zumal nach 1933 erzeugt das erhebliche Spannungen zwischen Patriotismus und wissenschaftlichen Objektivitätsansprüchen, zwischen Mißtrauen gegenüber dem Nachbarland und Verständigungsbemühungen, die angesichts der politischen Lage alles andere als unproblematisch sind. Dabei übernimmt die französische Germanistik, wie Merlio zeigt, ein Bild von Deutschland, das dem Selbstverständnis der Deutschen (Germanisten, Historiker, Schriftsteller) entspricht - allerdings mit umgekehrten Vorzeichen: Die geschätzte deutsche Kultur steht einer preußischen Zivilisation gegenüber, die für die unerwünschten Effekte der Moderne und die ungeliebten Eigenschaften der Deutschen zuständig ist. Decultot beschreibt mit der Differenzierung der französischen Germanistik in ein konservatives und ein eher linkes Lager ein Phänomen, dessen Fehlen in Deutschland die Gleichschaltung wesentlich erleichterte. Die Auseinandersetzung mit dem Natio-
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Holger Dainat
nalsozialismus verstärkte die Unterschiede in den politischen Einstellungen und in den mit ihnen verbundenen wissenschaftlichen und hermeneutischen Prinzipien. Der sechste Teil widmet sich dem Übergang von der NS-Zeit in die deutschdeutsche Nachkriegsrealität. Johannes Volmert vergleicht zwei Reden, die der germanistische Linguist Jost Trier 1938 und 1947 vor Studenten in Münster gehalten hat, um die verwendete Sprache auf ihre wissenschaftlichen und politischen Implikationen zu analysieren. An diese exemplarische Mikroanalyse schließt Gunter Schanderas systematischer Vergleich der beiden Diktaturen an, die im östlichen Teil Deutschlands aufeinander folgten und die auf verschiedene Weise Herrschaft über die Fachwissenschaft ausgeübt haben. Ein umfangreicher bibliographischer Anhang beschließt den Band. Zum einen werden die zahlreichen Versuche einer Selbstthematisierung bzw. Selbstreflexion der germanistischen Literaturwissenchaft von 1915 bis 1950 erstmals dokumentiert, zum anderen die umfangreiche Forschung über Kultur und Wissenschaften in der NS-Zeit, wobei der Schwerpunkt bei der Germanistik und ihren Nachbarfachern liegt, um auf diese Weise das Material für eine breitere interdisziplinär anschlußfähige Fachgeschichtsforschung zu erschließen. Der größte Teil der Beiträge dieses Bandes geht auf Vorträge zurück, die im Dezember 1996 auf einer von der DFG und dem Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt geförderten Tagung über »Literaturwissenschaft und Nationalsozialismus« in Magdeburg gehalten wurden. Daß die Publikation der Aufsätze erst jetzt erfolgt, ist u.a. auf teilweise sehr lange Bearbeitungszeiten für (vergebliche) Anträge auf Druckkostenzuschüsse zurückzuführen. Auch dafür übernehmen die Herausgeber dieses Bandes die Verantwortung. Sie danken den Kolleginnen und Kollegen fur ihre Geduld, Wilhelm Schernus fur die Erstellung des Registers, dem Max Niemeyer Verlag, namentlich Frau Cornelia Saier, für die gute verlegerische Betreuung und für die Aufnahme in die Reihe »Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur«. Besonderer Dank gilt Herrn Dr. Toni Bernhart, der auf ebenso kompetente wie freundliche Weise die Herstellung einer Druckvorlage besorgte.
Michael Grüttner (Berlin)
Die nationalsozialistische Wissenschaftspolitik und die Geisteswissenschaften
Als die Nationalsozialisten nach der Machtübernahme die Eroberung der Hochschulen in Angriff nahmen, formulierten sie mit einer gewissen Selbstverständlichkeit auch die Forderung nach einer neuen nationalsozialistischen Wissenschaft. Unmißverständlich postulierte etwa der Leiter des NS-Dozentenbundes, Walter Schultze, die Universität müsse »getragen sein von dem Bewußtsein, daß ihre ganze Arbeit bis in die kleinste Disziplin hinein einen gemeinsamen Urgrund hat, nämlich die nationalsozialistische Weltanschauung. Das Wissen um diesen alles umfassenden Nährboden, auf dem jede Disziplin wachsen muß, das Wissen um eine für alle verpflichtende Weltanschauung ist das Lebensprinzip unserer deutschen Hochschulen«.1 Obwohl diese Forderung im Prinzip für sämtliche Fächer galt, betraf sie besonders jene Disziplinen, die ihre Aufgabe nicht nur darin sahen, Wissen zu erwerben und zur Verfugung zu stellen, sondern auch Orientierung zu geben, Wertvorstellungen zu vermitteln, an der Sinngebung menschlicher Existenz teilzuhaben. Dies waren vor allem - aber sicher nicht ausschließlich - die Geisteswissenschaften. In diesem Aufsatz geht es zunächst darum, wie die Nationalsozialisten sich eine Nazifizierung der Geisteswissenschaften vorstellten und mit welchen Mitteln dieses Ziel erreicht werden sollte. Daran schließt sich die Frage an, wie erfolgreich diese Bemühungen waren. Abschließend wird untersucht, welchen Stellenwert die Geisteswissenschaften im NS-Staat hatten. Als Geisteswissenschaften werden im folgenden die klassischen Fächer der alten Philosophischen Fakultät bezeichnet: Philosophie, Geschichtswissenschaften, die sprach- und literaturwissenschaftlichen Disziplinen (Germanistik, Anglistik, Romanistik usw.) sowie Psychologie, Kunstgeschichte, Volkskunde etc.
I. Auf die selbst gestellte Aufgabe, die Wissenschaft im Sinne der NS-Ideologie umzugestalten, waren die Nationalsozialisten 1933 denkbar schlecht vorbereitet. Die offiziellen Texte der Partei (das Parteiprogramm von 1920 und Hitlers Mein Kampf) enthielten praktisch keine Aussagen über eine künftige Wissenschaftspolitik. Auch gab es im Frühjahr 1933 noch keine Organisation nationalsozialistischer
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Rede vom 21. Januar 1938 in Kiel, abgedruckt in: Dokumente der Deutschen Politik. Reihe: Das Reich Adolf Hitlers, Bd. 6, Teil 2, Berlin 1941, S. 634.
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Wissenschaftler, die in der Lage gewesen wäre, programmatische Vorstellungen für eine Wissenschaftspolitik im Dienste der sich etablierenden Diktatur zu entwikkeln. Obwohl die - überwiegend nationalkonservativ eingestellten - Hochschullehrer der Weimarer Republik kritisch oder ablehnend gegenübergestanden hatten, waren nur wenige vor 1933 der NSDAP beigetreten, hauptsächlich Assistenten oder Privatdozenten, aber nur vereinzelte Lehrstuhlinhaber. Die wichtigsten für Wissenschaftspolitik zuständigen Institutionen, entstanden erst 1934/35 oder noch später: das Reichserziehungsministerium (REM), der Nationalsozialistische Deutsche Dozentenbund (NSDDB), die Hochschulkommission der NSDAP und das Amt Wissenschaft in der Dienststelle des Parteiideologen Alfred Rosenberg. Da jede dieser Institutionen zumindest zeitweise versuchte, sich als die zentrale Schaltstelle nationalsozialistischer Wissenschaftspolitik zu etablieren, entwickelte sich ein ständiger Machtkampf aller gegen alle, aus dem kein eindeutiger Sieger hervorgegangen ist. Dieser Kompetenzwirrwarr resultierte nicht zuletzt aus der Gleichgültigkeit Hitlers, der einer Beschäftigung mit wissenschaftspolitischen Fragen nach Möglichkeit auswich und dazu neigte, anstehende Entscheidungen - etwa die Entlassung des allgemein als unfähig angesehenen Reichserziehungsministers Rust - auf unbestimmte Zeit zu verschieben. 2 Das Ergebnis dieser Konstellation war ein Zustand der gegenseitigen Blockade und eine Fragmentierung der Hochschul- und Wissenschaftspolitik: Unabhängig voneinander und in Konkurrenz miteinander versuchten die verschiedenen Machtzentren des NS-Staates, ihr eigenes wissenschaftliches Imperium aufzubauen. Das Amt Wissenschaft des REM dominierte in der Forschungsförderung; es übernahm 1936 die Kontrolle der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und spielte darüber hinaus eine zentrale Rolle im 1937 gegründeten Reichsforschungsrat. 3 Demgegenüber konzentrierte Alfred Rosenberg sich auf die Geisteswissenschaften und auf die Gründung einer Parteiuniversität, der »Hohen Schule«, die allerdings trotz offizieller Unterstützung durch Hitler nie über erste Institutsgründungen hinauskam. 4 Parallel dazu baute die SS ihre eigene Forschungsgemeinschaft auf, das »Ahnenerbe«. s Neben dem »Ahnenerbe« entstanden weitere SS-Institute mit
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Vgl. Michael Grüttner, Wissenschaftspolitik im Nationalsozialismus, in: Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Bestandsaufnahme und Perspektiven der Forschung. Hrsg. von Doris Kaufmann, Göttingen 2000, Bd. 2, S. 557-585, S. 557ff. Vgl. Notker Hammerstein, Die Deutsche Forschungsgemeinschaft in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, München 1999. Vgl. Christian Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, Berlin 2002, Bd. 2, S. 935ff.; Reinhard Bollmus, Zum Projekt einer nationalsozialistischen Alternativ-Universität: Alfred Rosenbergs »Hohe Schule«, in: Erziehung und Schulung im Dritten Reich. Hrsg. von Manfred Heinemann, Teil 2, Stuttgart 1980, S. 125-152. Vgl. Michael H. Kater, Das »Ahnenerbe« der SS 1935-1945. Ein Beitrag zur Kulturpolitik des Dritten Reiches, Stuttgart 1974.
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Spezialaufgaben, darunter das für »Ostforschung« zuständige »Wannsee-Institut«. 6 Einzelne Gauleiter der NSDAP - etwa Fritz Sauckel in Jena - verhielten sich gelegentlich so, als handele es sich bei den Hochschulen um ihr Privateigentum. 7 Manche Autoren vertreten daher die Meinung, eine nationalsozialistische Wissenschafts- oder Hochschulpolitik habe es eigentlich gar nicht gegeben. Es ist jedoch unbestreitbar, daß die Universitäten und andere wissenschaftliche Einrichtungen seit 1933 durch politische Maßnahmen, die sich an den Grundprinzipien der NS-Ideologie orientierten, so tiefgreifend verändert wurden, wie nie zuvor seit mehr als einem Jahrhundert. 8 Dazu gehörte u.a. die Entlassung Hunderter hochqualifizierter Wissenschaftler (insgesamt etwa 20 % der Hochschullehrer), ein erheblicher Verlust an institutioneller Autonomie, die partielle Entmachtung der Ordinarien zugunsten der Staats- und Parteibürokratie, die Einführung des »Führerprinzips« 9 sowie der starke Druck auf die Wissenschaftler, sich in ihrer Arbeit den Vorstellungen des Regimes unterzuordnen. Ich sehe keinen Grund, warum man diese und ähnliche Maßnahmen nicht als nationalsozialistische Wissenschaftspolitik bezeichnen sollte. Jene Wissenschaftler, die das ablehnen, gehen offenbar von der Vorstellung aus, man könne nur dann von einer nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik sprechen, wenn die N S D A P 1933 ein präzises wissenschaftspolitisches Konzept besessen hätte, das nach der Machtübernahme Schritt für Schritt in die Praxis umgesetzt wurde. Dies ist jedoch eine realitätsferne Vorstellung über den Ablauf politischer Prozesse - nicht nur im NS-Staat, sondern auch in anderen politischen Systemen.
II. Die Entlassung von Juden und politischen Gegnern, die Einfuhrung des »Führerprinzips« und die starke Einschränkung der Hochschulautonomie waren durch die allgemeine Politik der NSDAP gleichsam vorgegeben. Darüber hinaus herrschte jedoch bei den zuständigen Stellen erhebliche Unsicherheit über den einzuschlagenden Kurs. Unklar war insbesondere, wie die künftige nationalsozialistische Wissenschaft aussehen sollte. Nach der »Machtergreifung« versuchten daher einige
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Vgl. Gideon Botsch, »Geheime Ostforschung« im SD. Zur Entstehungsgeschichte und Tätigkeit des »Wannsee-Instituts« 1935-1945, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 48 (2000), S. 509-524. Vgl. Susanne Zimmermann, Die Medizinische Fakultät der Universität Jena während der Zeit des Nationalsozialismus, Berlin 2000, S. 52ff. und S. 84ff. Neuere Überblicksdarstellungen: Ulrich Sieg, Strukturwandel der Wissenschaft im Nationalsozialismus, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 24 (2001), S. 255-270; Klaus Fischer, Repression und Privilegierung: Wissenschaftspolitik im Dritten Reich, in: Im Dschungel der Macht. Intellektuelle Professionen unter Stalin und Hitler. Hrsg. von Dietrich Beyrau, Göttingen 2000, S. 170-194; M. Grüttner, Wissenschaftspolitik (Anm. 2). Vgl. Hellmut Seier, Der Rektor als Führer. Zur Hochschulpolitik des Reichserziehungsministeriums 1934-1945, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 12 (1964), S. 105-146.
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nationalsozialistische Professoren und Wissenschaftsfunktionäre, dieses offenkundige Manko zu beseitigen. In den von Ernst Krieck, Alfred Baeumler, Erich Rothacker, Alfred Rosenberg und anderen publizierten Versuchen, Konzepte für eine nationalsozialistische Wissenschaft zu entwerfen, lassen sich in sechs Schwerpunkte erkennen: 1. Die vehemente Ablehnung der Idee einer »voraussetzungslosen Wissenschaft«, wie Theodor Mommsen sie einst in seinem Protest gegen konfessionell gebundene Professuren vertreten hatte.10 Aus der - für sich genommen durchaus diskussionswürdigen - Behauptung, Wissenschaft sei nie frei von außerwissenschaftlichen Voraussetzungen oder Bindungen, zogen die akademischen Vordenker des Nazismus die Schlußfolgerung, dem NS-Staat gebühre das Recht, diese Voraussetzungen oder Bindungen in verbindlicher Weise festzulegen. Von diesem argumentativen Gewaltakt war es dann nicht mehr weit bis zu der Forderung, Wissenschaft müsse »notwendigerweise Dienst am Nationalsozialismus sein.«" 2. Die Trennung von Wissenschaft und Leben müsse aufgehoben werden. Wissenschaft dürfe künftig kein Selbstzweck mehr sein: »Wir anerkennen künftig keinen Geist, keine Kultur und keine Bildung, die nicht im Dienste der Selbstvollendung des deutschen Volkes stünde und von da aus ihren Sinn empfinge«, verkündete Ernst Krieck 1933.12 Die Wissenschaft stand dadurch sehr viel stärker unter dem Druck, ihre Nützlichkeit für den Staat unter Beweis zu stellen. In dieser Forderung lag ein deutlicher Bruch mit dem traditionellen Selbstverständnis der deutschen Universitäten, die stets betont hatten, ihre Aufgabe sei das »zwecklose Suchen nach der reinen Erkenntnis«.13 3. Der Rassenbegriff als Kernstück der NS-Ideologie sollte künftig in das Zentrum wissenschaftlicher Forschung rücken: »Das Ordnungsprinzip für alle Bereiche des geistigen Lebens entsteht für uns aus der Biologie, aus der Erkenntnis der Rasse«, erklärte Reichserziehungsminister Rust: »Von der Entdeckung der Rasse [...] erhält auch die Wissenschaft ihren entscheidenden revolutionären Anstoß«.14 4. Im Gegensatz zur wachsenden Spezialisierung der Wissenschaft stand der Ruf der Nationalsozialisten nach einer »ganzheitlichen« Wissenschaft, deren Aufgabe darin bestehen sollte, die Grenzen zwischen den verschiedenen Disziplinen zu überwinden. Die Überwindung der Fachgrenzen sei, so verkündete etwa Reichsdozentenführer Schultze, »das radikale Mittel im Kampf gegen jüdischen
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Vgl. Jürgen von Kempski, »Voraussetzungslosigkeit«. Eine Studie zur Geschichte eines Wortes, in: Archiv für Philosophie 4 (1952), S. 157—174; Holger Dainat, Voraussetzungsreiche Wissenschaft. Anatomie eines Konfliktes zweier NS-Literaturwissenschaftler im Jahre 1934, in: Euphorion 88 (1994), S. 103-122. Hans Frank, Der Nationalsozialismus und die Wissenschaft der Wirtschaftslehre, in: Schmollers Jahrbuch 58 II (1934), S. 641-650, 646. Ernst Krieck, Die Erneuerung der Universität, Frankfurt/Main 1933, S. 8. Vgl. Carl Heinrich Becker, Vom Wesen der deutschen Universität, Leipzig 1925, S. 8f. Bernhard Rust, Reichsuniversität und Wissenschaft, Berlin 1940, S. 9.
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Geist und für deutsches Wesen«.15 Abgesehen von der antisemitischen Einfarbung dieses Konzeptes, handelte es sich keineswegs um eine originär nationalsozialistische Vorstellung. »Ganzheit« war schon in der intellektuellen Diskussion vor 1933 ein Schlüsselbegriff gewesen, der wie kein anderer das allgemeine Unbehagen über eine immer komplexer und undurchschaubarer gewordene Welt zum Ausdruck brachte.16 5. Der internationale Charakter der Wissenschaft wurde von führenden Nationalsozialisten grundsätzlich in Frage gestellt. Eine internationale Wissenschaft gebe es nicht und habe es auch nicht gegeben, erklärte Alfred Rosenberg 1934 apodiktisch.17 Wissenschaft wurzele im Volkstum, in der Rasse. Dahinter stand letztlich die Überzeugung, allein die Angehörigen der »nordischen« bzw. »arischen Rasse« seien zu produktiven wissenschaftlichen Leistungen fähig. 6. Gefordert wurde auch, »das Volkstum« stärker zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung zu machen. Die »Volksforschung« sollte zum einen die Verbindung mit dem »Grenz- und Auslandsdeutschtum« politisch-wissenschaftlich verstärken und dadurch den Anspruch auf von Deutschen bewohnte Territorien außerhalb der Reichsgrenzen bekräftigen. Zum anderen bildete die »Volksforschung« gleichsam das wissenschaftliche Pendant zum ideologischen Konstrukt der »Volksgemeinschaft«. Die praktische Relevanz solcher Konzepte darf allerdings nicht überschätzt werden. Da diese Vorstellungen nie offiziell sanktioniert worden sind, waren sie unter den nationalsozialistischen Wissenschaftspolitikern nicht unumstritten. Beispielsweise lehnte Alfred Baeumler, der Leiter des Amtes Wissenschaft in der Dienststelle Rosenberg, es ausdrücklich ab, die Wissenschaft nach ihrem Nutzen für die »Volksgemeinschaft« zu beurteilen.18 Die Idee einer ganzheitlichen Wissenschaft, welche die Grenzen zwischen den verschiedenen Disziplinen überwinden sollte, war viel zu vage, als daß sich daraus relevante Schlußfolgerungen für die Tätigkeit der geisteswissenschaftlichen Institute hätten ergeben können. Auch die Polemik gegen den internationalen Charakter der Wissenschaft hatte wohl keine substantiellen Konsequenzen für die Geisteswissenschaften. Selbst die scheinbar unmißverständliche Forderung nach Integration der nationalsozialistischen Rassenlehre in die wissenschaftliche Arbeit führte in der Praxis mitunter zu erheblichen Problemen. Diese Erfahrung mußte sogar ein führender nationalsozialistischer Hochschulreformer wie Ernst Krieck machen, der stolz von sich behauptete, in »jahrelanger Arbeit [...] die Tatsache der rassischen Bestimmt-
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Zit. in: Frankfurter Zeitung, Nr. 565/566 vom 5.11.1940. Vgl. Fritz K. Ringer, Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 18901933, Stuttgart 1983, S. 344ff.; Christian Jansen, Professoren und Politik. Politisches Denken und Handeln der Heidelberger Hochschullehrer 1914-1935, Göttingen 1992, S. 83. Alfred Rosenberg, Freiheit der Wissenschaft, in: ders., Gestaltung der Idee. Reden und Aufsätze von 1933-1935, 2. Aufl., München 1936, S. 197-218, S. 203. Vgl. Alfred Baeumler, Wissenschaft und Hochschule, in: Völkischer Beobachter (Berlin) vom 31.1.1934.
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heit weiter Strecken der Geistesgeschichte« nachgewiesen zu haben. 19 Als Krieck 1940 in einem Aufsatz den Einfluß »asiatischer Ideen« auf Lessing und Herder kritisierte und mißbilligend feststellte, Kant habe sich lobend über einen jüdischen Philosophen geäußert, 20 erhielt er vom Reichspropagandaministerium eine Rüge. Es sei nicht angängig, so hieß es dort, »bei der Beurteilung der kulturellen Leistungen großer Persönlichkeiten der Vergangenheit ausschließlich Maßstäbe zu Grund zu legen, die erst in der Gegenwart gewonnen werden konnten.« Von Kant zu verlangen, sich gemäß den »modernen Erkenntnissen der Rassenkunde« zu verhalten, könne »nur zersetzend wirken«. 21 Es sollte noch schlimmer kommen für Krieck. 1942 wurden gegen sein geplantes Buch Das Reich als Träger Europas vom Auswärtigen Amt und vom Propagandaministerium mehr als 140 Einwände erhoben, die einen Druck praktisch unmöglich machten. In einem bitteren Beschwerdebrief an das REM erklärte Krieck resignierend: »Nachdem ich nun [...] nicht mehr weiß, was Wissenschaft kann, darf und soll, auch [...] die allgemeine Sprachregelung nicht verstehe, kann ich mit der wissenschaftlichen Arbeit Schluß machen.« 22 Damit ist ein Grundproblem der nationalsozialistischen Hochschulpolitik angesprochen: Ohne eine Institution, die in der Lage gewesen wäre, bestimmte Positionen für verbindlich zu erklären und anpassungswilligen Wissenschaftlern klare Vorgaben zu machen, war eine durchgreifende Nazifizierung von Forschung und Lehre kaum vorstellbar. Eine solche Instanz existierte jedoch nicht, obwohl es seit 1933 verschiedene Versuche gegeben hatte, Organe der Wissenschaftslenkung einzurichten. So plante das R E M 1935 die Gründung einer »Reichsakademie der Forschung«, die nach Aussage des Leiters der Hochschulabteilung im Ministerium als »Generalstab der Wissenschaft« agieren sollte. 23 Diese Absicht mußte aber wieder aufgegeben werden, nachdem der DFG-Präsident Johannes Stark eine Protestkampagne gegen diese Pläne inszeniert hatte. 24 Einen weiteren Anlauf unternahm 1938 der NSDDB. Der NSDDB-Führer, Walter Schultze beantragte beim Stab Heß eine Neudefinition seines Aufgabenbereiches. Nach dem von Schultze vorgelegten Entwurf sollte dem N S D D B künftig die »Neugestaltung der deutschen Wissenschaft und der deutschen Hochschulen auf nationalsozialistischer Grundlage« übertragen werden, außerdem die »zweckmäßige Zusammenfassung und der planmäßige Einsatz der nationalsozialistischen Wissenschaft für das Volksganze«. 25 Dieser Vorstoß provozierte aber den entschiedenen Protest des Parteiideologen Rosenberg, der darin eine Gefahrdung seiner eigenen wissenschaftspolitischen
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Ernst Krieck an den Reichserziehungsminister, 26.6.1940, in: GLA Karlsruhe 235/2245. Ernst Krieck, Das manichäische Fünfblatt: Juden, Jesuiten, Illuminaten, Jakobiner und Kommunisten, in: Volk im Werden 8 (1940), S.122-136. Reichsministerium fur Volksaufklärung und Propaganda an die Schriftleitung der Zeitschrift »Volk im Werden«, 21.6.1940, Abschrift in: GLA Karlsruhe 235/2245. E. Krieck an den Reichserziehungsminister, 6.10.1942, in: GLA Karlsruhe 235/2245. Franz Bacher an den Präsidenten des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands, Walter Frank, 31.12.1935 (Durchschrift), in: BA Berlin 4901 Nr. 11887/2 Bl. 72. Vgl. Kurt Zierold, Forschungsforderung in drei Epochen, Wiesbaden 1968, S. 194fF. Vgl. den Text des Entwurfs in: BA Berlin NS 8/180 Bl. 4.
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und die Geisteswissenschaften
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Pläne sah. 26 Schultzes Vorschläge wurden daraufhin vom Stab Heß abgelehnt. 27 Rosenberg selber bemühte sich 1939/40 ebenfalls darum, von Hitler ein generelles Weisungsrecht auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Forschung und Lehre zu bekommen. Rosenbergs Anliegen stieß aber sowohl in der Partei als auch in der Ministerialbürokratie auf Unbehagen und Kritik. Diese Kritik überzeugte am Ende auch den zunächst unschlüssigen Hitler. Rosenbergs Wunsch wurde zurückgewiesen. 28 Damit war der letzte Versuch einer gezielten weltanschaulichen Lenkung der Wissenschaft an für das Dritte Reich typischen Kompetenzkonflikten und an der Gleichgültigkeit Hitlers gescheitert. Ein Mann wie Ernst Krieck konnte 1939 nur noch mit Wehmut auf die Aufbruchsstimmung unmittelbar nach der »Machtergreifung« zurückblicken: »1933 war die unerhörte Möglichkeit, einer schöpferischen [...] Ziele zeigenden, bahnbrechenden Führung gegeben. Das ist inzwischen auf der ganzen Linie gründlich versiebt. Von sämtlichen an der Kulturpolitik Beteiligten. Darüber könnte man ein Buch schreiben, wahrscheinlich mit dem Erfolg, daß der Verfasser um der Wahrheit willen eingesperrt würde. Führung auf dem Gebiet der Wissenschaft und der Literatur ist annähernd Anarchie«, klagte Krieck in einem vertraulichen Schreiben an den Reichsstudentenführer. 29 Für die Wissenschaftler ergab sich daraus eine verwirrende Situation: Einerseits sahen sie sich starkem Druck ausgesetzt, das Weltbild der Nationalsozialisten auch in ihrer wissenschaftlichen Arbeit zu übernehmen. Vor allem Nachwuchswissenschaftler, die bei der Besetzung von Assistentenstellen, bei der Verleihung der Dozentur oder bei Berufungen stets politisch überprüft wurden, hatten ohne Zugeständnisse an die Machthaber nur geringe Aufstiegschancen. Wer seine Distanz zum Regime ungeschminkt zum Ausdruck brachte, mußte alle Hoffnungen auf einen Lehrstuhl begraben oder sogar mit dem Entzug der Lehrbefugnis rechnen. 30 Andererseits zeigte sich die Partei nicht imstande, klare Vorgaben für eine nazistische Umgestaltung der Wissenschaft zu machen. Dies führte mitunter zu beträchtlicher Konfusion wie das Beispiel der nationalsozialistischen Nietzsche-Rezeption zeigt: War Friedrich Nietzsche ein geistiger Wegbereiter des Nationalsozialismus? Diese nach dem Zweiten Weltkrieg intensiv diskutierte Frage war schon vor 1945 heftig umstritten. Einige Nazi-Philosophen, allen voran Alfred Baeumler, der 1930 eine sechsbändige Nietzsche-Ausgabe publiziert hatte, sahen in Nietzsche in der Tat einen Ahnherren des Dritten Reiches und verwiesen in diesem Zusammenhang
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Vgl. Rosenbergs Schreiben an Rudolf Heß, 23.12.1938 (Durchschrift), in: BA Berlin N S 8/180 Bl. lf. Vgl. Martin Bormann an Walter Schultze, 20.1.1939, in: BA Berlin NS 8/181 Bl. 186. Vgl. BA Berlin R 43 II 1200 und 1200a. Außerdem: Reinhard Bollmus, Das Amt Rosenberg und seine Gegner. Zum Machtkampf im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, Stuttgart 1970, S. 128ff. Ernst Krieck an Gustav Adolf Scheel, 8.5.1939, S. 3, in: StA Würzburg RSF/NSDStB I* 06 φ 123. Exemplarisch zeigt dies der Fall des Berliner Historikers Carl Erdmann. Vgl. Gerd Teilenbach, Aus erinnerter Zeitgeschichte, Freiburg 1981, S. 82ff.
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auf seine Ablehnung von Demokratie, Christentum und Liberalismus, seine »heroische« Lebensauffassung und seinen »Aristokratismus der Starken und Gesunden«.31 Eine solche Vereinnahmung Nietzsches funktionierte freilich nur, wenn andere Elemente seines Weltbildes ausgeblendet wurden - insbesondere seine Ablehnung des Antisemitismus.32 Verschiedene nationalsozialistische Geisteswissenschaftler waren sich dieser Tatsache durchaus bewußt. Der Historiker Christoph Steding beispielsweise schmähte Nietzsche als einen bindungslosen Philosemiten, und Ernst Kriecks süffisantes Urteil lautete: »Nietzsche war Gegner des Sozialismus, Gegner des Nationalismus und Gegner des Rassegedankens. Wenn man von diesen drei Geistesrichtungen absieht, hätte er vielleicht einen hervorragenden Nazi abgegeben.«33 Kein nationalsozialistischer Parteiführer außer Hitler konnte sagen, welches dieser Urteile die »wahre« nationalsozialistische Position darstellte. Hitler hat sich jedoch nie öffentlich über Nietzsche geäußert. In Mein Kampf wird der Name des Philosophen nicht einmal erwähnt.34 Unter solchen Umständen war es unmöglich, eine verbindliche Antwort auf die Frage zu geben, wie eine nationalsozialistische Literaturwissenschaft, eine nationalsozialistische Philosophie oder eine nationalsozialistische Geschichtsschreibung auszusehen habe. Die Hochschulpolitik des Regimes konzentrierte sich daher notgedrungen auf das Terrain der Personalpolitik, während der Kernbereich geisteswissenschaftlicher Forschung an den Hochschulen von direkten Eingriffen der Partei weitgehend verschont wurde: Die Wahl der Arbeitsschwerpunkte, Forschungsmethoden und Publikationsthemen blieb im Regelfall weiterhin den Hochschullehrern überlassen.
III. Eine Beantwortung der Frage, wie stark die Geisteswissenschaften nazifiziert waren, ist mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Die Forschungen des letzten Jahrzehnts haben gezeigt, daß die Anpassung an nationalsozialistische Positionen in den Geisteswissenschaften stärker war als lange Zeit angenommen wurde.35 31
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Vgl. Alfred Baeumler, Nietzsche und der Nationalsozialismus, in: ders., Studien zur deutschen Geistesgeschichte, 3. Aufl., Berlin 1943, S. 28Iff. Vgl. Robert C. Holub, Nietzsche and the Jewish Question, in: New German Critique Nr. 66(1995), S. 94-121. Zit. in: Hans Langreder, Die Auseinandersetzung mit Nietzsche im Dritten Reich, Diss, phil. Kiel 1970, S. 132. Zu Stedings Position vgl. ebd., S. 11 Iff. Der einzige in Mein Kampf erwähnte Philosoph war Arthur Schopenhauer. Vgl. Hans Sluga, Heidegger's Crisis. Philosophy and Politics in Nazi Germany, Cambridge, Mass. 1993, S. 179f. Vgl. Lutz Raphael, Radikales Ordnungsdenken und die Organisation totalitärer Herrschaft: Weltanschauungseliten und Humanwissenschaftler im NS-Regime, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), S. 5-40; Otto Gerhard Oexle, »Zusammenarbeit mit Baal«. Über die Mentalitäten deutscher Geisteswissenschaftler 1933 - und nach 1945, in: Historische Anthropologie 8 (2000), S. 1-27.
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In der Endphase des Dritten Reiches gehörten etwa zwei Drittel aller Hochschullehrer der NSDAP an, 36 und auch diejenigen, die sich von der Partei fernhielten, waren häufig Mitglieder anderer NS-Organisationen. Andererseits blieb die Annäherung an das Regime aber deutlich hinter den Erwartungen der nationalsozialistischen Wissenschaftspolitiker zurück. Reichserziehungsminister Rust behauptete 1936 sogar, »was heute noch in der Geisteswissenschaft lebe, das sei von gestern und vorgestern«. 37 Heinrich Härtle vom Hauptamt Wissenschaft in der Dienststelle Rosenberg konstatierte 1941: »Es ist bisher nur gelungen, die Universitäten von Juden und Staatsfeinden zu reinigen, aber es gelang nicht eine wirkliche nationalsozialistische Durchdringung unserer Universitäten«. 38 Noch im März 1944 kam man bei einer »Wissenschaftsbesprechung« in der Parteikanzlei zu dem Ergebnis, »daß die weltanschauliche Erneuerung der Universität nur durch einen langwierigen Prozeß der inneren Umformung und der inneren weltanschaulichen Durchdringung der einzelnen Fachgebiete zu erreichen ist«.39 Auch die zeitgenössischen Analysen des Sicherheitsdienstes (SD) der SS über die Entwicklung einzelner geisteswissenschaftlicher Disziplinen fielen aus der Sicht des Regimes eher enttäuschend aus. 40 Diese Befunde formen sich nicht ohne weiteres zu einem kohärenten Gesamtbild. Offenbar haben wir es in den Geisteswissenschaften mit einer begrifflich schwer faßbaren Mischung von Anpassung und Beharrung, von Kontinuität und Diskontinuität zu tun. Um diese Aussage weiter konkretisieren zu können, ist es sinnvoll, einen Blick auf die wichtigsten geisteswissenschaftlichen Disziplinen zu werfen, soweit zu deren Geschichte seriöse Publikationen vorliegen: Die Forschung zur Entwicklung der Geschichtswissenschaft im Dritten Reich hat sich in den letzten Jahren vor allem mit einer Gruppe von Nachwuchshistorikern beschäftigt, die in der »Ostforschung« tätig waren. Historiker wie Theodor Schieder oder Werner Conze, die sich während des Krieges mit Vorschlägen für antijüdische Maßnahmen im besetzten Polen exponierten, waren damals noch relativ unbekannt. Nach dem Zweiten Weltkrieg gehörten sie indes zu den führen-
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Vgl. Michael Grüttner, Die deutschen Hochschullehrer und der Nationalsozialismus, in: Völkische Bewegung - Konservative Revolution - Nationalsozialismus. Aspekte einer politisierten Kultur. Hrsg. von Walter Schmitz und Clemens Vollnhals, Bd. 1, Dresden 2003 (im Erscheinen). Zit. in: »Die totale geistige Umgestaltung«, in: Berliner Tageblatt, Nr. 102 vom 29.2.1936. Heinrich Härtle, Entwurf einer Denkschrift an den Reichsmarschall, 17.6.1941, in: BA Berlin NS 15/297 Bl. 172. Bericht über die Wissenschaftsbesprechung in der Parteikanzlei am 17.3.1944, 20.3.1944, S. 3, in: BA Berlin NS 8/241 Bl. 167. Vgl. Germanistik in den Planspielen des Sicherheitsdienstes der SS. Ein Dokument aus der Frühgeschichte der SD-Forschung. Hrsg. von Gerd Simon, Teil 1, Tübingen 1998; Joachim Lerchenmueller, Die Geschichtswissenschaft in den Planungen des Sicherheitsdienstes der SS. Der SD-Historiker Hermann Löffler und seine Denkschrift »Entwicklung und Aufgaben der Geschichtswissenschaft in Deutschland«, Bonn 2001.
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den Repräsentanten der westdeutschen Geschichtswissenschaft. 41 Conze und Schieder bilden gewissermaßen den Gegenbeweis zu der weitverbreiteten Annahme, nur Wissenschaftler minderen Ranges hätten sich dem Nationalsozialismus zugewandt. Unabhängig von dieser manchmal etwas schrillen Diskussion sind in den letzten Jahren mehrere Arbeiten entstanden, die einzuschätzen versuchen, wie weit sich die deutsche Geschichtswissenschaft insgesamt gegenüber dem Nationalsozialismus geöffnet hat. So hat Ursula Wiggershaus-Müller die in der Historischen Zeitschrift (HZ), dem führenden Fachorgan der deutschen Historikerzunft, publizierten Arbeiten auf ihre Affinität zum Nationalsozialismus untersucht. 42 Sie kommt zu dem Ergebnis, daß von den zwischen 1933 und 1943 in der HZ publizierten Aufsätzen 44 (15,6 %) eindeutig nationalsozialistische Positionen vertraten. Damit sind Aufsätze gemeint, in denen die Rassenideologie vertreten und die Geschichte zur Legitimation nationalsozialistischer Politik eingesetzt wurde. Weitere 80 Aufsätze (28,9 %) zeichneten sich laut Wiggershaus-Müller durch eine »partielle Identität« mit dem Nationalsozialismus aus. Dabei handelt es sich um Arbeiten, die nationalsozialistische Leitbegriffe und Interpretationsmuster in die geschichtswissenschaftliche Analyse integrierten, ohne dabei aber - im Gegensatz zur ersten Gruppe - auf die nationalsozialistische Rassendoktrin zu rekurrieren. Mehr als die Hälfte der //Z-Aufsätze zeigte keine Spuren der NS-Ideologie, einige (etwa 5 % laut Wiggershaus-Müller) offenbarten sogar oppositionelle Tendenzen. Allerdings nahm die Zahl der vom Nationalsozialismus nicht beeinflußten Arbeiten ab, nachdem 1936 mit Karl Alexander von Müller ein dem Regime nahestehender Historiker die Redaktion der Zeitschrift übernommen hatte. Etwa die Hälfte aller zwischen 1936 und 1943 publizierten Aufsätze zeigte daher zumindest eine »partielle Übereinstimmung« mit dem Nationalsozialismus, obwohl die Zahl der Beiträge, die sich an einem »rassischem Geschichtsbild« orientierten, weiterhin relativ klein blieb 43 In der Neueren Geschichte waren diese Tendenzen zur Politisierung der Historiographie stärker ausgeprägt als in der Alten und Mittelalterlichen Geschichte, wie Ursula Wolf in einer anderen Untersuchung gezeigt hat.44
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Vgl. Deutsche Historiker im Nationalsozialismus. Hrsg. von Winfried Schulze und Otto Gerhard Oexle, Frankfurt/M. 1999; Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der »Volkstumskampf« im Osten, Göttingen 2000. Ursula Wiggershaus-Müller, Nationalsozialismus und Geschichtswissenschaft. Die Geschichte der Historischen Zeitschrift und des Historischen Jahrbuchs 1933-1945, Hamburg 1998, S. 95fT., S. 141 f f , S. 203ff„ S. 2 2 I f f . und S. 265ff. Die Zurückhaltung gegenüber einer rassistisch orientierten Geschichtsschreibung wird auch in anderen Arbeiten konstatiert. Vgl. Klaus Schreiner, Führertum, Rasse, Reich. Wissenschaft von der Geschichte nach der nationalsozialistischen Machtergreifung, in: Wissenschaft im Dritten Reich. Hrsg. von Peter Lundgreen, Frankfurt/Main 1985, S. 163-252, 182ff.; Karen Schönwälder, Historiker und Politik. Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus, Frankfurt und New York 1992, S. 113ff.; Ursula Wolf, Litteris et Patriae. Das Janusgesicht der Historie, Stuttgart 1996, S. 388ff. U. Wolf, Litteris (Anm. 43), S. 98f.
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Für die Altertumswissenschaften (Alte Geschichte und Klassische Philologie) hat Volker Losemann schon vor einigen Jahren eine Monographie vorgelegt. Losemann stieß - auch bei prominenten Wissenschaftlern - auf »eindeutige Bekenntnisse zum Nationalsozialismus« und andere »Spuren der Anpassung«. Ebenso unverkennbar war eine gewisse »Konzessionsbereitschaft der jüngeren Althistorikergeneration«, die sich vor allem in terminologischen Veränderungen äußerte. Insgesamt kam Losemann aber zu dem Ergebnis, daß die »Bereitschaft, mit der Konzeption einer nationalsozialistischen Altertumswissenschaft ernst zu machen«, sich auf einen »relativ kleinen Kreis« von Wissenschaftlern beschränkt habe. 45 Ausschlaggebend für dieses dezidierte Urteil war vor allem die geringe Bereitschaft, der nationalsozialistischen Rassenlehre eine zentrale Rolle in der Altertumsforschung einzuräumen. 46 Die Germanistik gehört zu den Fächern, die schon früh angefangen haben, sich selbstkritisch mit ihrer Vergangenheit während der NS-Diktatur auseinander zu setzen 47 Wie auch in anderen Fächern liefert die Forschung kein einheitliches Bild von der Geschichte dieser Disziplin im Dritten Reich. Einige Autoren sind hauptsächlich daran interessiert, die Exzesse nationalsozialistischer Germanisten zu dokumentieren. 48 Die meisten neueren Arbeiten betonen aber in Anlehnung an einen einflußreichen Aufsatz von Wilhelm Voßkamp 49 die Kontinuitäten in der Entwicklung des Faches. Damit werden die Reden prominenter Germanisten bei den Bücherverbrennungen, die »Bekennerschreiben« von 1933/34 und die Aktivitäten regimetreuer Fachvertreter wie Franz Koch, Karl Justus Obenauer oder Heinz Kindermann nicht geleugnet. Vertreter der Kontinuitätsthese wie Holger Dainat und Ralf Klausnitzer heben aber hervor, daß die nach der »Machtergreifung« entwickelten Programme für eine »neue« Germanistik weitgehend Theorie blieben, obwohl »kaum eine Publikation« von Zugeständnissen an das Regime völlig frei geblieben sei. 50 Beide verweisen auf den fortbestehenden Methodenpluralismus in der Germanistik und betonen, daß der Rassenbegriff auch nach 1933 nur eine geringe Rolle gespielt habe. 51
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Volker Losemann, Nationalsozialismus und Antike. Studien zur Entwicklung des Faches Alte Geschichte 1933-1945, Hamburg 1977, S. 84, S. 175, S. 179 und S. 181. Antisemitische Arbeiten aus dieser Periode analysiert Christhard Hoffmann, Juden und Judentum im Werk deutscher Althistoriker des 19. und 20. Jahrhunderts, Leiden 1988, S.253ff. Vgl. Eberhard Lämmert u.a., Germanistik - eine deutsche Wissenschaft, Frankfurt/Main 1967. Peter Sturm, Literaturwissenschaft im Dritten Reich, Germanistische Wissensformationen und politisches System, Wien 1995. Vgl. Wilhelm Voßkamp, Kontinuität und Diskontinuität. Zur deutschen Literaturwissenschaft im Dritten Reich, in: Wissenschaft im Dritten Reich (Anm. 43), S. 140-162. Vgl. Holger Dainat, Germanistische Literaturwissenschaft, in: Die Rolle der Geisteswissenschaften im Dritten Reich 1933-1945. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann, München 2002, S. 63-86, S. 67. Vgl. Ralf Klausnitzer, Blaue Blume unterm Hakenkreuz. Die Rezeption der deutschen literarischen Romantik im Dritten Reich, Paderborn 1999, S. 251 ff.; H. Dainat, Germani-
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Auch fur die Germanistik liegt ein Versuch vor, die Kontamination des Faches durch den Nationalsozialismus zu quantifizieren: In einer 1997 publizierten Studie untersucht Birgitta Almgren die Germanisch-Romanische Monatsschrift (GRM), eine seit 1909 erscheinende germanistische Traditionszeitschrift, die sich an Hochschullehrer und Gymnasiallehrer gleichermaßen richtete. Die dort publizierten Aufsätze wurden vier verschiedenen Kategorien zugeordnet: 1. neutrale Texte, die vom Nationalsozialismus nicht beeinflußt waren, 2. polyphone Texte, deren politische Botschaft mehrdeutig oder widersprüchlich war, 3. geprägte Texte, die durch den Gebrauch nationalsozialistischer Schlüsselbegriffe auffielen, und 4. kritische Artikel, in denen direkt oder indirekt Vorbehalte und Distanz gegenüber dem Nazismus oder bestimmten Elementen der NS-Ideologie artikuliert wurden. Almgren kommt zu dem Ergebnis, daß von den insgesamt 374 Aufsätzen, die zwischen 1929 und 1943 in der GRM publiziert wurden, 59 % »neutral« und 12 % »kritisch« waren, während sie 21 % als »geprägt« und 8 % als »polyphon« charakterisiert. Schaut man auf einzelne Jahrgänge Ende der 30er oder Anfang der 40er Jahre, als die Nationalsozialisten auf dem Höhepunkt ihrer Macht waren, dann verschiebt sich der Anteil der verschiedenen Kategorien zugunsten der »geprägten« Arbeiten. 1937 waren laut Almgren 50 % der Aufsätze »neutral« und 7 % »kritisch«, dagegen 40 % »geprägt« und 3 % »polyphon«. Aus dem Jahrgang 1942 charakterisiert Almgren 50 % der Artikel als »neutral«, und 19 % als »kritisch«, während 25 % als »geprägt« und 6 % als »polyphon« eingestuft werden. 52 Almgrens Untersuchung bestätigt insgesamt die Kontinuitätsthese, verdeutlicht aber auch, daß die »geprägten« Arbeiten zeitweise durchaus einen beträchtlichen Teil der GRM-Aufsätze ausmachten. Neuere Arbeiten zur Geschichte der Romanistik heben hervor, daß »mehr Fachvertreter als gemeinhin angenommen« sich die Rassenideologie zu eigen gemacht haben. Auf diese Weise entstand, wie Frank-Rutger Hausmann, der beste Kenner der Materie, hervorhebt, seit 1937/38 eine nationalsozialistische Romanistik, zu deren exponierten Vertretern Männer wie Edgar Glässer, Kurt Wais oder Walter Mönch gehörten. 53 Hausmann macht aber auch klar, daß nur der kleinere Teil der von Romanisten verfaßten Arbeiten als nationalsozialistisch bezeichnet werden kann: Nach seinen Angaben waren ungefähr 10-15 % der romanistischen Bücher und etwa ein Sechstel oder ein Fünftel sämtlicher nach 1937 erschienenen Publikationen eindeutig vom Nationalsozialismus geprägt. 54 Der überwiegende Teil des zwischen 1933 und 1945 publizierten Schrifttums hätte »genauso gut vor oder nach
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stische Literaturwissenschaft (Anm. 50), S. 73. Vgl. Birgitta Almgren, Germanistik und Nationalsozialismus: Affirmation, Konflikt und Protest. Traditionsfelder und zeitgebundene Wertung in Sprach- und Literaturwissenschaft am Beispiel der Germanisch-Romanischen Monatsschrift 1929-1943, Uppsala 1997, S. 23ff. und S. 105f. Frank-Rutger Hausmann, »Vom Strudel der Ereignisse verschlungen«. Deutsche Romanistik im »Dritten Reich«, Frankfurt/Main 2000, S. 323ff. Ebd., S. 360f.
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dieser finsteren Epoche« publiziert werden können. 55 Romanistische Großordinarien wie Karl Vossler oder Ernst Robert Curtius, die über eine relativ unangreifbare Position verfügten, sowie die katholischen Fachvertreter seien gegen das Eindringen von NS-Ideologemen am ehesten resistent geblieben. Die Forschung zur Geschichte der Philosophie während der NS-Diktatur hat sich lange Zeit nur für die Person Martin Heideggers interessiert. 56 Breiter angelegte Arbeiten, die auf einer Kenntnis der relevanten Quellen beruhen, liegen erst seit Anfang der 1990er Jahre vor. Claudia Schorchts Studie über die Philosophischen Seminare der Universitäten München, Würzburg und Erlangen, kommt zu dem Ergebnis, »daß die an den bayerischen Universitäten betriebene Philosophie zum großen Teil tatsächlich nicht nationalsozialistische Philosophie war.« 57 Schorcht weist aber auch darauf hin, daß es neben einer relativ kleinen Gruppe von Hochschullehrern, die eine explizit nationalsozialistische Philosophie betrieben hat, eine Reihe weiterer Wissenschaftler gab, in deren Arbeiten der Einfluß der NS-Ideologie zwar nicht dominierte, aber doch unverkennbar vorhanden war. 58 Seit kurzem liegt außerdem die umfangreiche Studie von Christian Tilitzki vor, eine ungewöhnlich kenntnisreiche und gut geschriebene Arbeit, die aber in ihren an Ernst Nolte orientierten Interpretationen auch höchst problematisch ist.59 Ähnlich wie schon Hans Sluga betont Tilitzki, daß die meisten Philosophieprofessoren den biologischen Rassismus der Nationalsozialisten aufgrund ihrer idealistischen Tradition nur schwer oder gar nicht akzeptieren konnten. 60 Dies Schloß freilich eine Annäherung an den Nazismus in anderen Bereichen (Eugenik) ebenso wenig aus wie antisemitische Ressentiments. Zudem zeigt Tilitzkis Arbeit, daß eine Reihe von Philosophen durchaus mit dem nationalsozialistischen Rassenbegriff ernst gemacht hat - unter ihnen Außenseiter wie Hans Alfred Grunsky oder Ernst Krieck, Parteifunktionäre wie Alfred Baeumler und ehrgeizige Nichtordinarien wie Hermann Noack, der mit wüsten Tiraden gegen »das internationale Judentum« offenbar versuchte, den Makel des Cassirer-Schülers loszuwerden. 61 In der Psychologie62 gab es nach der »Machtergreifung« starke Bemühungen um eine Ausrichtung der Disziplin im nationalsozialistischen Sinne. Fachvertreter wie Erich Rudolf Jaensch und Gerhard Pfahler versuchten - meist in Fortfuhrung 55
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Frank-Rutger Hausmann, »Aus dem Reich der seelischen Hungersnot«. Briefe und Dokumente zur Fachgeschichte der Romanistik im Dritten Reich, Würzburg 1993, S. VII. Zu Heidegger vgl. vor allem Hugo Ott, Martin Heidegger. Unterwegs zu seiner Biographie, Frankfurt/Main und New York 1988. Claudia Schorcht, Philosophie an den bayerischen Universitäten 1933-1945, Erlangen 1990, S. 26. Ebd., S. 318fF. Vgl. Chr. Tilitzki, Universitätsphilosophie (Anm. 4). Vgl. Η Sluga, Heidegger's Crisis (Anm. 34), S. 103f.; Chr. Tilitzki, Universitätsphilosophie (Anm. 4), Bd. 2, S. 104Iff. und S. 1145ff. Vgl. Chr. Tilitzki, Universitätsphilosophie (Anm. 4), Bd. 1, S. 680ff. und Bd. 2, S. 1147f. Vgl. Ulfried Geuter, Die Professionalisierung der deutschen Psychologie im Nationalsozialismus, Frankfurt/Main 1984. Neuester Überblick: Mitchell G. Ash, Psychologie, in: Rolle der Geisteswissenschaften (Anm. 50), S. 229-264.
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früherer Arbeiten - die Rassentheorie in die psychologische Theoriebildung zu integrieren. Am weitesten ging dabei Erich Rudolf Jaensch, der beispielsweise in einem 1937 publizierten Aufsatz »die krankhafte, von der Norm der Gesundheit und damit zugleich von der des Richtigen und Wahren abweichende jüdische Geistesart« geißelte.63 Solche Hetzpropaganda erschien charakteristischerweise nicht in einer wissenschaftlichen, sondern in einer politischen Zeitschrift, wurde aber gleichwohl mit professoraler Autorität vorgetragen. Die Arbeiten von Nationalsozialisten wie Jaensch oder Pfahler bestimmten in den ersten Jahren zwar das äußere Erscheinungsbild der Psychologie, konnten sich aber letztlich nicht entscheidend durchsetzen. Dominant blieb vielmehr, wie Ulfried Geuter und andere gezeigt haben, eine traditionelle Psychologie, deren fachliches Profil aber zunehmend durch eine enge Zusammenarbeit mit der Wehrmacht geprägt wurde.
IV. Dieser kurze Überblick ergibt kein einheitliches Bild, zumal der Grad der Politisierung in den einzelnen Disziplinen unterschiedlich war. Ein traditionell politiknahes Fach wie die Neuere Geschichte entwickelte stärkere Affinitäten zum Nationalsozialismus als die Romanistik. Erkennbar ist aber, daß sich im Bereich der Geisteswissenschaften sehr unterschiedliche Formen der Anpassung an das Regime herauskristallisiert haben: 1. Anpassung durch Ausblenden. Diese mildeste Variante der Anpassung bestand darin, bestimmte heikle Themen nicht mehr anzusprechen, Namen von Emigranten und anderen Unpersonen nicht länger zu erwähnen, jüdische Kollegen nur noch selten oder gar nicht zu zitieren.64 2. Politisierung nach dem Sandwich-Prinzip. Anpassung beschränkte sich in diesem Fall auf gelegentliche politische Botschaften in Vorworten, Einleitungen oder Zusammenfassungen, ohne daß sich an der Substanz der Arbeit etwas änderte. So konnte Hermann August Korff den 1940 erstmals publizierten 3. Band seines Monumentalwerkes Geist der Goethezeit 1949 erneut in Leipzig publizieren. Getilgt werden mußte allerdings die Widmung der Erstauflage (»Den Helden unseres Freiheitskampfes«) sowie die Datierung des Vorworts: »Leipzig, am Tage der Einnahme von Paris, 14. Juni 1940«.65 3. Begriffliche Anpassung an die LTI {Lingua Tertii Imperii), die von Victor Klemperer so eindringlich analysierte Sprache des Regimes. Dazu gehörte das Einsickern von Leitbegriffen wie »artfremd«, »Führer«, »Gefolgschaft«, »hel-
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Erich Jaensch, Vom Geiste des Judentums in der Wissenschaft, in: Ziel und Weg 7 (1937), S. 210-214,211. Zur Veränderung des Zitierverhaltens vgl. exemplarisch: M. Stadler, Das Schicksal der nichtemigrierten Gestaltpsychologen im Nationalsozialismus, in: Psychologie im Nationalsozialismus. Hrsg. von C. F. Graumann, Berlin/Heidelberg 1985, S. 150f. Vgl. H. Dainat, Germanistische Literaturwissenschaft (Anm. 50), S. 68.
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disch«, »Volkstum« oder »völkisch« in wissenschaftliche Publikationen. 66 Eine Beurteilung solcher Prozesse ist oft schwierig, weil sie, wie man von Klemperer lernen kann, keineswegs immer bewußt verliefen. 67 4. Anpassung im außerwissenschaftlichen Bereich, durch Parteieintritt oder gelegentliche Zeitungsartikel, bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung traditioneller Methoden und Standards in wissenschaftlichen Publikationen. 68 Ein solches Verhalten reagierte auf die Erwartungen des Regimes und folgte gleichzeitig dem Grundsatz, Wissenschaft und Politik voneinander zu trennen. 5. Anpassung als Paradigmenwechsel durch die Übernahme der nationalsozialistischen Rassenideologie. Ein solcher Schritt war dort, wo er gemacht wurde, ein Bruch mit der wissenschaftlichen Tradition. Exponierte Vertreter der Rassenkunde wie Hans F. K. Günther, Ludwig Ferdinand Clauss oder Adolf Bartels waren während der Weimarer Republik Außenseiter des Wissenschaftsbetriebes gewesen. 69 Zwar existierte ein Rassismus mit antisemitischer Stoßrichtung an den Hochschulen auch schon vor 1933, dabei handelte es sich aber um ein Ressentiment, nicht um ein wissenschaftliches Konzept. 6. Eine bewußte Unterordnung der Forscher unter die Politik des Regimes. Hierzu gehörten jene Teile der »Ostforschung« 70 oder »Westforschung«, 71 die darauf gerichtet waren, die expansionistische Politik des Regimes mit wissenschaftlichen Mitteln zu unterstützen, sowie Publikationen, die darauf abzielten, den Krieg zu legitimieren und den Kriegsgegner moralisch zu diskreditieren. Auch im Rahmen der auswärtigen Kulturpolitik, später der Besatzungspolitik 72 und
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Vgl. Semantischer Umbau der Geisteswissenschaften nach 1933 und 1945. Hrsg. von Georg Bollenbeck und Clemens Knobloch, Heidelberg 2001. Vgl. Victor Klemperer, LTI. Notizbuch eines Philologen, 3. Aufl., Leipzig 1968, S. 232ff. Vgl. Ulrich Hunger, Germanistik zwischen Geistesgeschichte und »völkischer Wissenschaft«: Das Seminar für deutsche Philologie im Dritten Reich, in: Die Universität Göttingen unter dem Nationalsozialismus. Hrsg. von Heinrich Becker u.a., 2. erw. Auflage, München 1998, S. 365-390, 373f. Vgl. Chr. Hoffmann, Juden (Anm. 46), S. 278; R. Klausnitzer, Blaue Blume (Anm. 51), S. 253ff.; Chr. Tilitzki, Universitätsphilosophie (Anm. 4), Bd. 1, S. 430ff. Zur »Ostforschung« liegen verschiedene neuere Arbeiten vor, deren Ergebnisse teilweise erheblich voneinander abweichen: Michael Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die »Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften« von 19311945, Baden-Baden 1999; I. Haar, Historiker (Anm. 41); Martin Burkert, Die Ostwissenschaften im Dritten Reich, Teil I, Wiesbaden 2000; Philipp-Christian Wachs, Der Fall Theodor Oberländer (1905-1998), Frankfurt/Main 2000. Zur »Westforschung« vgl. Peter Schettler, Die historische »Westforschung« zwischen »Abwehrkampf« und territorialer Offensive, in: ders. (Hg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918-1945, Frankfurt/Main 1997, S. 204-261; Karl Ditt, Die Kulturraumforschung zwischen Wissenschaft und Politik. Das Beispiel Franz Petri, in: Westfälische Forschungen 46 (1996), S. 73-176; F.-R. Hausmann, Strudel (Anm. 53), S. 520ff.; M. Fahlbusch, Wissenschaft (Anm. 70). Vgl. etwa: Joachim Lerchenmueller, »Keltischer Sprengstoff«. Eine wissenschaftsgeschichtliche Studie über die deutsche Keltologie von 1900 bis 1945, Tübingen 1997, S. 383ff.
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bei der Plünderung von Bibliotheken, Museen oder Archiven 73 in den von der Wehrmacht eroberten Teilen Europas haben Geisteswissenschaftler ihr Fachwissen zur Verfügung gestellt. Schon jetzt kann als gesichert gelten, daß es kaum einen Geisteswissenschaftler gab, der sich nicht in der einen oder anderen Weise dem Regime angenähert hat. Lassen sich doch sogar in den Veröffentlichungen von Hochschullehrern wie Werner Krauss oder Kurt Huber, die aktiv am Widerstand gegen die Diktatur beteiligt waren, Zugeständnisse an das Regime auffinden. 74 Offenkundig ist aber auch, daß die verschiedenen hier skizzierten Spielarten von Anpassung differenziert beurteilt werden müssen. Das vorsichtige Ausblenden anstößiger Themen oder Namen war in einer Diktatur wie der nationalsozialistischen wohl unvermeidlich. In einigen Fällen blieb Anpassung ein Oberflächenphänomen, in anderen war zumindest das Bestreben spürbar, den Kernbereich geisteswissenschaftlicher Forschung von Zugeständnissen an das Regime freizuhalten. In vielen Fällen ging die Mitwirkungsbereitschaft von Geisteswissenschaftlern jedoch eindeutig an die Substanz. Erkennbar ist außerdem, daß die Anpassung an die nationalsozialistische Ideologie und Praxis zumeist selektiv erfolgte. Häufig handelte es sich um Versuche, Theorien, die bereits vor 1933 entwickelt worden waren, so zu verändern, daß sie als regimekonform präsentiert werden konnten. 75 Die Bereitschaft zur Anpassung konzentrierte sich daher hauptsächlich auf jene Bereiche, wo die Gemeinsamkeiten zwischen Nationalsozialisten und Nationalkonservativen besonders ausgeprägt waren. Dazu gehörte eine erhebliche Bereitschaft, die aggressive Expansionspolitik des Regimes zu rechtfertigen und zu unterstützen. 76 Hier befand man sich auf vertrautem Terrain, da solche Arbeiten an die chauvinistische Professorenliteratur des Ersten Weltkriegs anknüpfen konnten. 77 In massierter Form äußerte sich diese Bereitschaft im sog. »Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften«, den der Jurist Paul Ritterbusch seit 1940 im Auftrag des REM organisierte. 78 Hauptaufgabe des
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Vgl. Anja Heuss, Kunst- und Kulturgutraub. Eine vergleichende Studie zur Besatzungspolitik der Nationalsozialisten in Frankreich und der Sowjetunion, Heidelberg 2000. Vgl. etwa: Kurt Huber, Der künftige Aufbau der Volksmusikforschung, in: Deutsche Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, 1937, S. 127*—132*. Siehe auch: Peter Petersen, Wissenschaft und Widerstand. Über Kurt Huber (1893-1943), in: Die dunkle Last. Musik und Nationalsozialismus. Hrsg. von Brunhilde Sonntag u.a., Köln 1999, S. 111129. Zu Krauss vgl. Peter Jehle, Werner Krauss und die Romanistik im NS-Staat, Hamburg 1996, S. 135ff. Vgl. M. Ash, Psychologie (Anm. 62), S. 244. Dazu die materialreiche Fallstudie von K. Schönwälder, Historiker (Anm. 43). Vgl. Klaus Schwabe, Wissenschaft und Kriegsmoral. Die deutschen Hochschullehrer und die politischen Grundlagen des Ersten Weltkrieges, Göttingen 1969; Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg. Hrsg. von Wolfgang J. Mommsen, München 1996; Hermann Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland, Basel und Stuttgart 1963, S. 173ff. Zum Kriegseinsatz der Geisteswissenschaft vgl. Frank-Rutger Hausmann, »Deutsche Geisteswissenschaft« im Zweiten Weltkrieg. Die »Aktion Ritterbusch« (1940-1945), Dresden und München 1998.
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»Kriegseinsatzes der Geisteswissenschaften« war nach den Worten Ritterbuschs, die »geistige Auseinandersetzung mit der geistigen und Wertwelt des Gegners«. 79 Anders formuliert: Mit dem »Kriegseinsatz« sollten die Geisteswissenschaften in den Dienst der Kriegspropaganda gestellt werden. Die Einladungen zur Teilnahme am »Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften« waren relativ breit gestreut. Neben profilierten Nationalsozialisten wurden auch Hochschullehrer zur Mitarbeit aufgefordert, die nicht als Parteigänger des Regimes galten. 80 Bereits 1941/42 erschien eine ganze Reihe von dickleibigen Sammelbänden unterschiedlicher Disziplinen, u.a. von Germanisten, Philosophen, Historikern, Anglisten, Romanisten, Geographen und Staatsrechtlern. Allerdings haben viele Teilnehmer sich nicht den offiziellen Zielen des »Kriegseinsatzes der Geisteswissenschaften« untergeordnet. In der bislang einzigen umfassenden Untersuchung zum »Kriegseinsatz« wird hervorgehoben, »daß grobe Verstöße gegen Gebote der Objektivität und Neutralität« in den meisten Beiträgen vermieden worden seien. Deutliche Bekenntnisse zum nationalsozialistischen Staat blieben in der Regel auf Vorreden und Zusammenfassungen beschränkt. 81 Während die Unterstützung der deutschen Kriegsanstrengungen vielen Hochschullehrern offenbar als patriotische Pflicht erschien, herrschte andererseits eine merkliche Zurückhaltung gegenüber der Forderung, die wissenschaftliche Arbeit an den Dogmen der nationalsozialistischen Rassenideologie auszurichten. Eine Übernahme der nationalsozialistischen Rassendoktrin mit ihrem manichäischen Antisemitismus bedeutete einen Bruch mit der wissenschaftlichen Tradition, zu dem offenbar nur eine Minderheit bereit gewesen ist. Diese Zurückhaltung läßt den Schluß zu, daß niemand dazu gezwungen war, wissenschaftliche Publikationen mit rassisch-antisemitischen Inhalten anzureichern. Auf die Existenz gewisser Freiräume verweist auch die Analyse einiger zeitgenössischer Periodika, die deutlich gemacht hat, daß es durchaus möglich war, geisteswissenschaftliche Fachzeitschriften zu publizieren, ohne dem Nationalsozialismus größere Konzessionen zu machen. 82 Der vor 1933 allgemein akzeptierte Grundsatz, daß Wissenschaft und Politik voneinander getrennt werden sollten, blieb auch nach der »Machtergreifung« in Teilbereichen des wissenschaftlichen Lebens lebendig. Diese Einstellung erwies sich als Hemmnis fur eine durchgreifende Politisierung der Geisteswissenschaften, darf aber nicht mit einer Ablehnung des Nationalsozialismus gleichgesetzt werden. Wie der Romanist und Wider-
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Vgl. Paul Ritterbusch, Wissenschaft im Kampf um Reich und Lebensraum, Stuttgart und Berlin 1942, S. 16. In der Partei war der »Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften« deshalb scharfer Kritik ausgesetzt. Vgl. etwa den Bericht über die Zusammenkunft der Dozentenführer [...] beim Reichsdozentenfuhrer in München am 3. und 4. August 1942 (10.8.1942), S. 8, in: BA Berlin NS 15/330. Vgl. F.-R. Hausmann, »Deutsche Geisteswissenschaft« (Anm. 78), S. 275. Vgl. Holger Dainat, »Wir müssen ja trotzdem weiter arbeiten«. Die Deutsche Vierteljahrsschrift vor und nach 1945, in: DVjs 68 (1994), S. 562-582, 562ff.; F.-R. Hausmann, »Hungersnot« (Anm. 55), S. 7Iff.
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standskämpfer Werner Krauss in seinen Aufzeichnungen über die Universität Marburg betont, erfolgte »eine grundsätzliche Ablehnung« der politischen Ansprüche des Regimes »stets nur auf dem jeweiligen fachlichen Sondergebiet und nicht dadurch, daß man das politische System selbst als eine untragbare Grundlage für alles geistige Leben brandmarkte.« 83 Daraus konnte auch eine publizistische Arbeitsteilung resultieren: Während wissenschaftliche Veröffentlichungen politisch weitgehend farblos blieben, publizierten dieselben Autoren parallel dazu politische Artikel in der Tagespresse oder in populären Zeitschriften. Solche Tendenzen beobachtete 1939 auch Ernst Krieck: »Ganz gewiß sind viele aus vollem Herzen weltanschaulich-politisch bei der Bewegung, viele auch durch die Leistungen des Führers widerstrebend überzeugt worden. Aber auch die Gutwilligen können die Brücke von der politischen Haltung zur Wissenschaft und zum Beruf oft nicht schlagen [...] Es gibt die alte Zweiteilung: Hie politische Haltung - dort Wissenschaft um ihrer selbst willen (wenn auch oft getarnt) [...] Ja, es gibt bei vielen sogar eine Dreiteilung: Politische Haltung dem Nationalsozialismus, Weltanschauung der Kirche und Wissenschaft der Wissenschaft.« 84 Vor allem jene Hochschullehrer, die sich als Teil eines internationalen Netzwerks von Wissenschaftlern empfanden, versuchten in der Regel, Zugeständnisse an die NS-Ideologie in ihren Arbeiten zu vermeiden, weil diese zu einem Prestigeverlust bei ausländischen Kollegen führen mußten. 85 Dieses Gefühl der Zugehörigkeit zu einer internationalen Gemeinschaft war freilich unter den Geisteswissenschaften schwächer entwickelt als in den naturwissenschaftlichen und technischen Disziplinen - Folge einer intellektuellen Selbstgenügsamkeit, die sich von Ignoranz nicht grundlegend unterschied. 86 Auch vor 1933 wurde in manchen geisteswissenschaftlichen Instituten keine einzige Fachzeitschrift in englischer Sprache gehalten. 87 Verstärkt wurde diese Tendenz durch die internationale Isolation der deutschen Wissenschaft nach dem Ersten Weltkrieg. 88
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Vgl. Werner Krauss, Marburg unter dem Naziregime, in: Sinn und Form 35 (1983), S. 941-945, S. 943. E. Krieck an G. A. Scheel, 8.5.1939, S. 2f., in: StA Würzburg RSF/NSDStB I* 06 φ 123. Vgl. H. Dainat, »Wir müssen ja trotzdem weiter arbeiten« (Anm. 82), S. 565f. Vgl. Wolfgang Trillhaas, Aufgehobene Vergangenheit. Aus meinem Leben, Göttingen 1976, S. 171 f. Vgl. Hans-Joachim Dahms, Aufstieg und Ende der Lebensphilosophie: Das philosophische Seminar der Universität Göttingen zwischen 1917 und 1950, in: Universität Göttingen (Anm. 68), S. 287-317, 293. Vgl. Brigitte Schroeder-Gudehus, Internationale Wissenschaftsbeziehungen und auswärtige Kulturpolitik 1919-1933, in: Forschung im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft. Geschichte und Struktur der Kaiser-Wilhelm-/Max-Planck-Gesellschaft. Hrsg. von Rudolf Vierhaus und Bernhard vom Brocke, Stuttgart 1990, S. 858-885.
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V. Eine spezielle Gruppe von Geisteswissenschaftlern bildeten jene Hochschullehrer, die bestrebt waren, sich als professorale Vordenker des Nationalsozialismus zu profilieren. Allerdings stießen solche Bestrebungen auf wenig Gegenliebe. Die meisten dieser Hochschullehrer mußten sich schließlich enttäuscht zurückziehen oder sie wurden zurückgestoßen. Fast alle prominenten Geisteswissenschaftler, die 1933 in das nationalsozialistische Lager übergegangen waren, spielten schon wenige Jahre später keine Rolle mehr in der politischen Öffentlichkeit. 89 Martin Heidegger war bereits im April 1934 als Rektor der Freiburger Universität zurückgetreten und trat danach auf der politischen Bühne kaum noch in Erscheinung. 90 Hans Freyers anfangliche Begeisterung über das neue Regime hatte sich seit 1935 merklich abgekühlt. Einige seiner in den folgenden Jahren publizierten Arbeiten lassen sich durchaus als Kritik am Nationalsozialismus interpretieren. 91 Der Philosoph Erich Rothacker, der sich bereits vor der »Machtergreifung« öffentlich zum Nationalsozialismus bekannt hatte, 92 versuchte 1933/34, mit einer Flut von Briefen, Denkschriften und Aufsätzen Einfluß auf die Hochschulpolitik zu gewinnen, mußte aber bald feststellen, daß seine Vorschläge in Staat und Partei überwiegend auf taube Ohren stießen. Bereits im März 1934 sprach er in einer Denkschrift für das Reichsinnenministerium vom »sinkenden Schiff unserer wissenschaftlichen Kultur« und beklagte die »verheerenden Folgen« nationalsozialistischer Hochschulpolitik. 93 In den folgenden Jahren verhielt Rothacker sich politisch weitgehend abstinent, und die Partei beobachtete ihn mit zunehmendem Mißtrauen. 94 Selbst Ernst Krieck verlor seit 1938 seinen wissenschaftspolitischen Einfluß und zog sich mehr und mehr ins Privatleben zurück. 95 Ähnliche Entwicklungen lassen sich auch
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Zum folgenden vgl. Michael Grüttner, Das Scheitern der Vordenker. Deutsche Hochschullehrer und der Nationalsozialismus, in: Geschichte und Emanzipation. Festschrift für Reinhard Rürup. Hrsg. von Michael Grüttner u. a., Frankfurt/Main und New York 1999, S. 458-481. Vgl. H. Ott, Heidegger (Anm. 56); Martin Heidegger und das »Dritte Reich«. Ein Kompendium. Hrsg. von Bernd Martin, Darmstadt 1989; Helmut Heiber, Universität unterm Hakenkreuz, Teil II, 1, München 1992, S. 480ff. Vgl. Jerry Z. Muller, The Other God That Failed. Hans Freyer and the Deradicalisation of German Conservatism, Princeton, New Jersey 1987, S. 267ff. Vgl. Hans-Paul Höpfner, Die Universität Bonn im Dritten Reich. Akademische Biographien unter nationalsozialistischer Herrschaft, Bonn 1999, S. 334ff. Erich Rothacker, Vertrauliche Denkschrift vom 15.3.1934, S. 1 und S. 6, in: BA R 18/5445 Bl. 69 und S. 79. Vgl. den differenzierten Bericht der »Nachrichtenkommission« der Universität Bonn über die Philosophische Fakultät, o. D. [Sommer 1945], S. 3ff., in: UA Bonn Rektorat Nachrichtenkommission WA 4. Zu Rothackers Wandel siehe auch: Paul E. Kahle, Bonn University in Pre-Nazi and Nazi-Times (1923-1939). Experiences of a German Professor, London 1945, S. 10. Vgl. Gerhard Müller, Emst Krieck und die nationalsozialistische Wissenschaftsreform, Weinheim und Basel 1978; H. Heiber, Universität (Anm. 90), II, 1, S. 450ff.
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bei anderen renommierten Wissenschaftlern feststellen, die 1933 fur das Regime eingetreten waren, etwa bei Werner Sombart, dessen Versuche, Einfluß auf die NSPolitik zu nehmen, schon 1934 scheiterten, 96 oder bei Carl Schmitt, der 1936 nach einer Kampagne der SS kaltgestellt wurde. 97 Warum scheiterten diese Wissenschaftler bei ihren Versuchen, sich als akademische Vordenker des Nationalsozialismus zu etablieren? Ein wichtiger Grund war die andauernde Unsicherheit, welche Art von Wissenschaft die wahre nationalsozialistische Wissenschaft war. Professoren, die versuchten, sich als nationalsozialistische Denker zu profilieren, stießen in der Regel sehr rasch auf die Konkurrenz anderer Professoren, die ähnliche Ambitionen verfolgten. Die Frage, welche dieser Theorien im nationalsozialistischen Sinne richtig oder falsch war, ließ sich in der Regel nicht klären, weil es an eindeutigen Entscheidungskriterien ebenso wie an Entscheidungsinstanzen fehlte. Öffentliche Kontroversen über unterschiedliche Interpretationen und Spielarten des Nationalsozialismus durfte es nicht geben, weil sonst der monolithische Charakter der NS-Ideologie mit ihrem absoluten Wahrheitsanspruch in Frage gestellt worden wäre. 98 Derartige Meinungsverschiedenheiten wurden daher bevorzugt auf dem Wege politischer Diffamierung ausgetragen. Charakteristisch war in dieser Hinsicht der Konflikt zwischen Otto Höfler und Bernhard Kummer. Beide hatten Bücher über die Welt der Germanen publiziert und waren dabei zu höchst unterschiedlichen Ergebnissen gekommen. Höfler berichtete in seinem Buch Kultische Geheimbünde der Germanen von geheimen Männerbünden, die einem ekstatisch-religiösen Wodankult verpflichtet gewesen seien und eine fuhrende Rolle im Leben der Germanen gespielt hätten. In Kummers Arbeiten wurden die Germanen dagegen als eine - stark idealisierte - bäuerliche Sippengemeinschaft beschrieben. Sowohl Kummer als auch Höfler versuchten diese Auseinandersetzung fur sich zu entscheiden, indem sie ihrem Gegenspieler mangelnde Linientreue vorwarfen. Höfler warf Kummer vor, er stütze sich auf jüdische Autoren, vertrete ein »pazifistisches Weltbild« und habe sich vor 1933 mehrfach vom Nationalsozialismus distanziert. Für Kummer waren Höflers Positionen dagegen »Verunglimpfungen germanischen Freibauerntums« oder schlicht »wissenschaftliche Reaktion«. 99 Zwar sorgten Höflers ekstatische Geheimbünde auch im Amt Rosenberg für Unbehagen. Dennoch war Kummer letztlich der Hauptleidtragende dieser Affäre. Seine Berufung auf einen Lehrstuhl an der Universität Jena verzögerte sich bis in das Jahr 1942 hinein, obwohl Gauleiter Fritz Sauckel persönlich für ihn eintrat. Höfler arbeitete nämlich mit dem »Ahnenerbe«
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Vgl. Friedrich Lenger, Werner Sombart 1863-1941, München 1994, S. 358ff. Vgl. Andreas Koenen, Der Fall Carl Schmitt. Sein Aufstieg zum »Kronjuristen des Dritten Reiches«, Darmstadt 1995. Dies verdeutlicht etwa die Kontroverse zwischen Ernst Krieck und Wilhelm Hartnacke, die 1937 von Heydrich »im Interesse der Staatssicherheit und der Geschlossenheit der Bewegung« unterbunden wurde. Vgl. G. Müller, Ernst Krieck (Anm. 95), S. 134-140. Vgl. zu dieser Kontroverse das Material in: UA Jena BA 505 und 505a.
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der SS zusammen und genoß dadurch die Protektion Himmlers, der gegen eine Berufung Kummers Einspruch erhob. 100 Der Aufbruch zur nationalsozialistischen Wissenschaft endete daher vielfach in einer Schlammschlacht aus Denunziationen, Intrigen und Schnüffeleien, aus der viele beteiligte Wissenschaftler nicht unbeschädigt herausgekommen sind.101 Das Schwarze Korps der SS sprach 1941 ebenso abfällig wie zutreffend von einem »hundertköpfigen, sich gegenseitig auffressenden Professorennationalsozialismus.« 102 In der Führung der NSDAP war man 1933 sehr interessiert an prominenten Professoren, die das Regime mit der Autorität des international bekannten Wissenschaftlers stützten. Auch in den folgenden Jahren benötigte der NS-Staat Wissenschaftler, die ihr Expertenwissen für den Vierjahresplan, für die Entwicklung neuer Waffen, für die Durchführung der Euthanasiepolitik oder für die »Neuordnung« der im Krieg eroberten Territorien (»Generalplan Ost«) zur Verfügung stellten. Was man nicht brauchte, waren eigenständige Denker, welche die NS-Ideologie unnötig komplizierten oder gar versuchten, ihre privaten Theorien in das nationalsozialistische Weltbild einzuschmuggeln. Hinzu kam ein erhebliches Mißtrauen gegenüber jenen Intellektuellen, die in ihrer großen Mehrzahl erst nach den Märzwahlen von 1933 den Weg zur NSDAP gefunden hatten. Unter solchen Umständen erwies sich die Hoffnung, als unabhängiger Wissenschaftler durch die Überzeugungskraft der eigenen Ideen das geistige Profil des NS-Staates mitprägen zu können, als groteske Illusion. Die gelehrten Theorien, die nach 1933 von eifrigen Professoren entwikkelt wurden, stießen daher in der Parteipresse nicht selten auf Hohn und Spott: »Der Aufbau des Reiches blieb unberührt von allen diesen Theorien«, schrieb Das Schwarze Korps in einem Artikel über »Professorentheorien« im Staatsrecht: »Was der Staat ist, wissen wir vom Führer, was andere darüber schreiben, betrifft uns nicht. Der Führer braucht keine Professoren, um das auszuführen, was er vorbedacht hat.« 103
100 Ygi Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar Reichsstatthalter in Thüringen 372. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat Kummer sich deswegen als Opfer des Nazi-Regimes dargestellt. 101 Vgl. exemplarisch H. Ott, Heidegger (Anm. 56), S. 240ff.; Helmut Heiber, Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands, Stuttgart 1966; Gunter Schöbel, Hans Reinerth. Forscher - NS-Funktionär - Museumsleiter, in: Prähistorie und Nationalsozialismus. Die mittel- und osteuropäische Ur- und Frühgeschichtsforschung in den Jahren 1933-1945. Hrsg. von Achim Leube in Zusammenarbeit mit Morten Hegewisch, Heidelberg 2002, S. 321ff. 102 »Politik den Berufenen!« in: Das Schwarze Korps, Nr. 31 vom 31.7.1941, S. 4. 103 Ebd.
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VI. Zu den lange Zeit populären Vorstellungen über den Nationalsozialismus gehört die Idee, der NS-Staat sei »wissenschaftsfeindlich« gewesen. Diese These wurde jedoch in neueren Untersuchungen zu Recht in Frage gestellt. 104 Zwar hat die deutsche Wissenschaft durch die 1933 einsetzenden Massenentlassungen irreparable Schäden erlitten. Diese Wissenschaftler wurden jedoch nicht vertrieben, weil sie Wissenschaftler waren, sondern weil es sich um »Nichtarier« oder um politische Gegner der NS-Diktatur handelte. Ebenso eindeutig ist die ausgeprägte Feindseligkeit, die der Nationalsozialismus gegenüber »den Intellektuellen« an den Tag legte. Durch diese Ressentiments haben die Universitäten als Institution und die Hochschullehrer als Berufsgruppe ohne Zweifel erheblich an Prestige verloren. 105 Von einer grundsätzlichen Feindschaft gegenüber der Wissenschaft läßt sich jedoch nicht sprechen. Hitler selber hatte keine Probleme, gelegentliche Ausrottungsphantasien gegenüber den »intellektuellen Schichten« mit einer gewissen Hochachtung vor der Wissenschaft und einem persönlichen Interesse an manchen Resultaten naturwissenschaftlicher Forschung zu vereinbaren. 106 Der Blick auf die Ausgaben, die von staatlicher Seite fur wissenschaftliche Zwecke getätigt wurden, zeigt ebenfalls, daß es nicht gerechtfertigt ist, von einer generell wissenschaftsfeindlichen Einstellung der NS-Diktatur auszugehen. Etwa seit 1935 stiegen die staatlichen Wissenschaftsausgaben, die während der Weltwirtschaftskrise stark geschrumpft waren, wieder deutlich an.107 Die Philosophischen Fakultäten haben von dieser Entwicklung jedoch nicht profitiert. Nur einzelne Disziplinen wurden von den Machthabern deutlich gefördert, insbesondere die Ur- und Frühgeschichte sowie die Volkskunde. Beide Fächer verdanken ihre Institutionalisierung an den Universitäten weitgehend dem Nationalsozialismus und waren deshalb wohl auch stärker politisiert als andere. In der Förderung der Ur- und Frühgeschichte sahen einflußreiche Parteiführer wie Heinrich Himmler oder Alfred Rosenberg die Möglichkeit, eine angeblich seit Jahrtausenden bestehende Vorrangstellung der »nordischen Rasse« unter Beweis zu stellen. Obwohl Hitler als ausgesprochener Bewunderer der Antike für die Germanenschwärmerei seiner Gefolgsleute wenig übrig hatte, 108 erfuhr die Prähistorie seit 104
Vgl. Peter Chroust, Gießener Universität und Faschismus. Studenten und Hochschullehrer 1918-1945, Münster und New York 1994, S. 61ff. 105 Vgl. Michael Grüttner, Die deutschen Universitäten unter dem Hakenkreuz, in: Zwischen Autonomie und Anpassung: Universitäten in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Hrsg. von John Connelly und Michael Grüttner, Paderborn 2003, S. 66-100, S. 89f. 106 Die Ausrottungsphantasien sind dokumentiert in: Max Domarus, Hitler. Reden und Proklamationen 1932-1945, Bd. I, München 1965, S. 975f. Zu Hitlers Verhältnis gegenüber der Wissenschaft vgl. beispielsweise: Adolf Hitler, Monologe im Führerhauptquartier 1941-1944, Hamburg 1980, S. 84f.; Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Hrsg. von Elke Fröhlich, Teil II, Bd. 8, München 1993, S. 282. 107 Vgl. Frank R. Pfetsch, Die säkulare Entwicklung der staatlichen Wissenschaftsausgaben in Deutschland 1870-1975, in: Historical Social Research, Nr. 28 (1983), S. 3-29. 108 Vgl. V. Losemann, Antike (Anm. 45), S. 17ff.
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1933 eine erhebliche Aufwertung. Ende der 1920er Jahre verfugte das Fach nur über sechs ordentliche und außerordentliche Lehrstühle; 1942 waren es bereits 25 Lehrstühle und 23 Institute. 109 Die Volkskunde als akademische Disziplin profitierte nach 1933 von den vielfach formulierten Forderungen nach einer neuen »Wissenschaft vom Volke«. Während vor 1933 an allen Hochschulen des Deutschen Reiches nur zwei planmäßige Professuren fur Volkskunde bestanden hatten (in Hamburg und Dresden), 110 wurden zwischen 1933 und 1945 an etwa der Hälfte aller Universitäten neue Lehrstühle in dieser Disziplin geschaffen. 111 Andere Disziplinen hatten zunächst mit erheblichen Problemen zu kämpfen. An den Philosophischen Fakultäten war dies vor allem die Psychologie, die anfangs mit großem Mißtrauen betrachtet wurde. Eine der ersten öffentlichen Verlautbarungen des neuen preußischen Kultusministers Bernhard Rust (des späteren Reichserziehungsministers) enthielt die Ankündigung, man werde die Psychologie in Zukunft »zurückdrängen«. 112 Tatsächlich konnte sich die Psychologie als akademische Disziplin nach 1933 aber nicht nur behaupten, sondern ihre institutionelle Position an den meisten deutschen Universitäten sogar verbessern. Ausschlaggebend für diese Entwicklung war, daß es den Fachvertretern gelang, dem Regime ihre Nützlichkeit vor Augen zu fuhren, indem sie ihr Fachwissen für den Aufbau der Wehrmacht einsetzten. Nach der »Machtergreifung« war die überwiegende Zahl der von den Universitäten ausgebildeten Psychologen in der Wehrmacht tätig und wurde dort bei der Auswahl von Offiziersbewerbern eingesetzt. 113 Damit ist ein grundsätzliches Problem angesprochen: Wie legitimierte sich die Wissenschaft gegenüber dem Staat, der sie alimentierte? Die Repräsentanten des Regimes forderten eine Wissenschaft, die für die »Volksgemeinschaft« von Nutzen sein sollte. Wer als Wissenschaftler seine Nützlichkeit unter Beweis stellen wollte, konnte dies prinzipiell auf zwei Wegen tun: als Ideologe oder als Experte. Während der Weg der ideologischen Anpassung, d.h. der Politisierung der Wissenschaft im Dienste der Parteiideologie, dem herkömmlichen Selbstverständnis der Wissenschaftler widersprach, erschien es den meisten Hochschullehrern offenbar unproblematisch, wissenschaftliches Expertenwissen als Naturwissenschaftler, Techniker oder Mediziner für den Vierjahresplan, für die Kriegsforschung oder fur die Wehrmacht zur Verfugung zu stellen, jedenfalls so lange dabei die professionelle
109 Ygi Wolfgang Pape, Zur Entwicklung des Faches Ur- und Frühgeschichte in Deutschland bis 1945, in: Prähistorie und Nationalsozialismus (Anm. 101), S. 163-226, S. 167ff. 110
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Vgl. Hannjost Lixfeld, Institutionalisierung und Instrumentalisierung der Deutschen Volkskunde zu Beginn des Dritten Reiches, in: »Völkische Wissenschaft«. Gestalten und Tendenzen der deutschen und österreichischen Volkskunde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Hrsg. von Wolfgang Jacobeit u.a., Wien u.a. 1994, S. 139-174, S. 139. Vgl. Esther Gajek, Volkskunde an den Hochschulen im Dritten Reich. Eine vorläufige Datensammlung, vervielfältigtes Typoskript, Institut für deutsche und vergleichende Volkskunde, München 1986. Genaue Zahlenangaben sind schwierig, weil die Grenzen zu benachbarten Disziplinen fließend waren. Zit. in: »Lehren und Lernen«, in: Berliner Tageblatt, Nr. 184 vom 21.4.1933. Vgl. U. Geuter, Professionalisierung (Anm. 62), S. 255ff.
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Autonomie der Forscher respektiert wurde. 114 Naturwissenschaftler und Techniker hatten daher keine Schwierigkeiten, gegenüber dem NS-Staat die Notwendigkeit ihrer Existenz unter Beweis zu stellen. Demgegenüber war die Lage der meisten geisteswissenschaftlichen Disziplinen viel schwieriger. In ideologischer Hinsicht galten die Geisteswissenschaftler als unsichere Kantonisten. Zudem verfügte die Partei über ihren eigenen Apparat zur Propaganda der NS-Ideologie. Dafür brauchte man keine Professoren, zumal die Ansprüche, die diese Ideologie an den Intellekt stellte, eher bescheiden waren. Es kam hinzu, daß der klassische Aufgabenbereich der Philosophischen Fakultäten, die Ausbildung künftiger Gymnasiallehrer, in den 1930er Jahren aufgrund der massiven Überfüllungskrise 1 1 5 erheblich an Relevanz verlor. Daraus resultierte ein weit überproportionaler Rückgang der Studentenzahlen in den Philosophischen Fakultäten. Hatten 1932 noch fast 19 % der Studierenden an den deutschen Universitäten ein geisteswissenschaftliches Studium absolviert, so waren es 1939/40 nur etwa 11 %. 116 In einem Regime, das sich durch massive Intellektuellenfeindlichkeit auszeichnete, hatten die Philosophischen Fakultäten daher erhebliche Legitimationsprobleme. Das Ergebnis war ein sichtbarer Bedeutungsverlust der Geisteswissenschaften. Bereits 1938 sprach das Sicherheitshauptamt der SS in einem internen Lagebericht von einer »Zurückdrängung der Geisteswissenschaften«, die sich aus der Konzentration auf den Vierjahresplan und auf »wehrtechnische Aufgaben« ergeben habe. 117 Blickt man auf die Zahl der Professoren an den Universitäten, dann bestätigt sich diese Aussage. Zwischen 1931 und 1938 sank die Zahl der planmäßigen Professoren in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen von 486 auf 439. Das war immerhin ein Rückgang von 9,7 %, während die Zahl der planmäßigen Professoren an den medizinischen Fakultäten nur um 2,6 % zurückging, in den naturwissenschaftlichen Fächern um 4,2 %. 118 Besonders hart traf es die Philosophie, die von 67 Lehrstühlen 31 verlor; das war ein Verlust von 46,3 %. 119 Dieser Rückgang reflektierte nicht zuletzt die Politik des Amtes Wissenschaft im REM, das unter der Leitung von Otto Wacker (1937-1939) hauptsächlich daran interessiert war, die medizinischen und naturwissenschaftlichen Fächer auszubau-
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Vgl. Herbert Mehrtens, Das »Dritte Reich« in der Naturwissenschaftsgeschichte: Literaturbericht und Problemskizze, in: Naturwissenschaft, Technik und NS-Ideologie. Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte des Dritten Reiches. Hrsg. von Herbert Mehrtens und Steffen Richter, Frankfurt/Main 1980, S. 56ff. Vgl. Axel Nath, Die Studienratskarriere im Dritten Reich, Frankfürt/Main 1988. Vgl. Michael Grüttner, Studenten im Dritten Reich, Paderborn 1995, S. 490. Erst ab 1940 nahm die Zahl der Studierenden in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen wieder zu. Vgl. Jahreslagebericht des Sicherheitshauptamtes 1938, in: Meldungen aus dem Reich. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS. Hrsg. von Heinz Boberach, Herrsching 1984, Bd. 2, S. 89. Errechnet nach: Christian von Ferber, Die Entwicklung des Lehrkörpers der deutschen Universitäten und Hochschulen 1864-1954, Göttingen 1956, S. 195ff. Vgl. Chr. Tilitzki, Universitätsphilosophie (Anm. 4), S. 849ff.
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Wissenschaftspolitik und die Geisteswissenschaften
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120 Wackers N a c h f o l g e r , R u d o l f M e n t z e l ( 1 9 3 9 - 1 9 4 5 ) , der auch in der Fors c h u n g s f ö r d e r u n g ( D F G u n d Reichsforschungsrat) eine entscheidende Rolle spielte, m a c h t e in internen G e s p r ä c h e n ebenfalls keinen H e h l aus der Tatsache, daß die Geisteswissenschaften ihm persönlich »gleichgültig« waren. 1 2 1 en
W ä h r e n d des Krieges hat sich diese Tendenz zur A b w e r t u n g der Geisteswissenschaften, bei gleichzeitiger A u f w e r t u n g der militärisch relevanten Fächer, also v o r allem der naturwissenschaftlich-technischen Disziplinen, weiter verstärkt. 1 2 2 Hatten die Geisteswissenschaften E n d e der 1920er Jahre noch etwa 30 % der v o n der D F G bewilligten Fördermittel erhalten, so w a r e n es 1943/44 w e n i g e r als 15 %. 1 2 3 Ergebnis dieser E n t w i c k l u n g e n w a r ein allgemeines Krisenbewußtsein in den Philosophischen Fakultäten, das sich zeitweise bis zur Existenzangst steigerte: »Weithin ist heute d e r G l a u b e verbreitet, daß die G e i s t e s w i s s e n s c h a f t e n z u g r u n d e gehen«, klagte Ernst K r i e c k 1940 in einem Schreiben an den Reichserziehungsminister. 1 2 4 U n d der nationalsozialistische Historiker Walter Frank glaubte ein Jahr später feststellen zu k ö n n e n , »daß die Geisteswissenschaften heute eine geschichtliche Schuld büßen, die sie durch die eigene L e b e n s s c h w ä c h e a u f sich geladen haben«. 1 2 5 D e r »Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften« läßt sich auch als ein Versuch interpretieren, dieser Tendenz zur Marginalisierung e n t g e g e n z u w i r k e n , indem m a n d e n Geisteswissenschaftlern die Gelegenheit gab, ihre Nützlichkeit f u r das R e g i m e unter B e w e i s zu stellen. D e n n o c h hielt das G e f ü h l vieler Geisteswissenschaftler, sich im N i e d e r g a n g zu b e f i n d e n , a u c h in den f o l g e n d e n Jahren an. Z w a r k a m es seit 1942 zu einer A u f w e r t u n g der W i s s e n s c h a f t durch f ü h r e n d e Repräsentanten des R e g i m e s . I m Juni 1943 w u r d e die deutsche Presse v o m R e i c h s p r o p a g a n d a m i nisterium a n g e w i e s e n , »die wichtige Rolle zu b e d e n k e n , die der deutsche Wissenschaftler als Forscher u n d als Techniker spielt. Sein Einsatz ist i m m e r w i e d e r d e m Leser positiv nahe zu bringen.« 1 2 6 E n d e 1943 ordnete das O b e r k o m m a n d o der W e h r m a c h t an, 5.000 Wissenschaftler aus der W e h r m a c h t zu entlassen, u m sie w i e d e r der F o r s c h u n g zuzuführen. 1 2 7 D a v o n profitierten j e d o c h im wesentlichen nur die naturwissenschaftlichen u n d technischen Disziplinen, deren Potential n u n mit verstärkter E f f i z i e n z für die Z w e c k e des Krieges genutzt w e r d e n sollte. W ä h rend im L a u f e des Jahres 1944 zahlreiche Physiker u n d C h e m i k e r wieder in ihre
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Vgl. den vervielfältigten Aktenvermerk von Otto Wacker betr. den Ausbau der Universität Rostock, 5.4.1939, in: BA Berlin 4901 Nr. 2130 Bl. 235. [Walter] Gross, Vermerk für Stabsleiter Dr. Stellrecht, 13.4.1943, in: BA Berlin NS 8/241 Bl. 81. Vgl. Meldungen aus dem Reich (Anm. 117), Bd. 4, S.1102 (6.5.1940). Vgl. U. Sieg, Strukturwandel (Anm. 8), S. 265. E. Krieck an den Reichserziehungsminister, 4.9.1940, in: GLA Karlsruhe 235/2245. Walter Frank, Wesen und Aufgabe der Geisteswissenschaften im deutschen Leben, in: Der Deutsche Hochschulführer. Lebens- und Studienverhältnisse an den Deutschen Hochschulen 23 (1941), S. 7-11, S. 9. Deutscher Wochendienst, Nr. 8961 vom 18.6.1943. Vgl. die geheime Anordnung des Oberkommandos der Wehrmacht (Wehrersatzamt), 18.12.1943, in: BA Berlin R 26 III Nr. 108 Bl. 2.
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Forschungsinstitute zurückkehren konnten, blieb die Zahl der Geisteswissenschaftler, die in den Genuß einer Uk-Stellung kamen, unbedeutend. 128 Im März 1944 konstatierte ein Bericht des Frankfurter SD, »im Vordergrund aller Erwägungen« stehe bei den Hochschullehrern der Philosophischen Fakultät »die allgemein große Sorge um das Schicksal der Geisteswissenschaften überhaupt. Es ist nicht zu leugnen, daß viele [...] Hochschullehrer in dieser Hinsicht von einem schweren Pessimismus erfüllt sind.« 129
VII. Abschließend lassen sich die Ergebnisse dieses Aufsatzes in drei Punkten zusammenfassen: 1. Anpassung an den Nazismus war in den Geisteswissenschaften keine Randerscheinung. Nahezu alle im Dritten Reich lehrenden Geisteswissenschaftler haben dem Nationalsozialismus in der einen oder anderen Weise ihre Reverenz erwiesen. Dennoch erfolgte eine Nazifizierung der Geisteswissenschaften nur in Teilbereichen. Vor allem das Kernstück der NS-Ideologie, die Rassentheorie, wurde nur von einer Minderheit der Wissenschaftler übernommen. Neben einer vielfach zu beobachtenden Annäherung an das Regime finden sich daher in den Geisteswissenschaften auch starke Elemente von Kontinuität. Dies ist freilich eine ambivalente Aussage. Sie bezieht sich einerseits auf innerwissenschaftliche Beharrungskräfte und auf die Probleme des Regimes, effektive Lenkungsmechanismen zu schaffen. Andererseits verweist sie aber auch darauf, daß die Geisteswissenschaften, so wie sie sich bis 1933 entwickelt hatten, über weite Strecken durchaus kompatibel waren mit dem, was die Nationalsozialisten wollten. Zudem zeigt das Beispiel der Psychologie, daß auch eine traditionelle, nicht nazistisch deformierte Wissenschaft für das Regime, in diesem Falle für die Wehrmacht, durchaus von Nutzen sein konnte. 2. Wie vor allem die Analyse von zeitgenössischen Fachzeitschriften offenbart hat, waren die Handlungsspielräume für Wissenschaftler während der NS-Diktatur größer als die programmatischen Äußerungen von Parteifunktionären vermuten lassen. Verantwortlich dafür war vor allem die polykratische Struktur nationalsozialistischer Wissenschaftspolitik, die dazu führte, daß miteinander konkurrierende Staats- und Parteistellen sich in vielen Fällen gegenseitig neutralisierten. Aus diesem Grunde konnte in den zwölf Jahren der Diktatur trotz mehrfacher
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Die mit Wissenschaftspolitik befaßten Parteistellen hofften im März 1944, daß »für die Geisteswissenschaft insgesamt mindestens 100 Uk-Stellungen möglich werden« würden. Vgl. Bericht über die Wissenschaftsbesprechung in der Parteikanzlei am 17.3.1944 (Anm. 39), S. 2. Bericht des SD-Abschnitts Frankfurt/M. betr. Stimmung und Haltung der Hochschullehrer, 8.3.1944, in: Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden 483/11269. Als weitere zentrale Probleme benennt der Bericht die Sorge um den wissenschaftlichen Nachwuchs und um die kriegsbedingte Zerstörung der Bibliotheken.
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Anläufe kein effektives System der Wissenschaftsfuhrung und Wissenschaftskontrolle aufgebaut werden. 3. Obwohl viele Geisteswissenschaftler die nationalsozialistische »Machtergreifung« begrüßten, haben die Geisteswissenschaften in ihrer Gesamtheit davon nicht profitiert. Eine Ausnahme bildeten einzelne Fächer wie die Prähistorie oder die Volkskunde sowie zahlreiche Nachwuchskräfte, deren Karrierechancen sich aufgrund der Massenentlassungen von 1933-1935 und aufgrund der 1936 einsetzenden Nachwuchsknappheit deutlich verbesserten, sofern sie keine gravierenden Zweifel an ihrer »politischen Zuverlässigkeit« aufkommen ließen. 130
BO vgl. Michael Grüttner, Machtergreifung als Generationskonflikt. Die Krise der Hochschulen und der Aufstieg des Nationalsozialismus, in: Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Hrsg. von Rüdiger vom Bruch und Brigitte Kaderas, Wiesbaden 2002, S. 339-353.
Lutz Danneberg (Berlin) und Wilhelm Schernus (Hamburg)
Der Streit um den WissenschaftsbegrifF während des Nationalsozialismus - Thesen
Wissen ist besser als Besserwissen. Besserwissen ist leicht, Wissen zu tragen ist schwer. Reinhart Koselleck Obwohl die Vorarbeiten zur Diskussion des Wissenschaftsbegriffs während des Nationalsozialismus nicht sonderlich zahlreich sind und wir nur in geringem Maße darauf zurückgreifen können, haben wir das Thema weit gefaßt; gleichwohl werden wir uns in diesem Vortrag aber nur auf einige Aspekte konzentrieren und nur an wenigen Stellen zu Illustrationen greifen. 1 Der Titel scheint auf den ersten Blick eher einen Teil denn das Ganze des Themas zu bezeichnen. Unsere erste These jedoch lautet: Letztlich war dieser Streit um den Wissenschaftsbegriff das Ganze. Daß es in unserem Titel »während« und nicht »im« Nationalsozialismus heißt, führt zur zweiten These. Wir wollen den Eindruck vermeiden, es habe einen nationalsozialistischen Wissenschaftsbegriff gegeben, der sich inhaltlich einigermaßen präzise charakterisieren ließe. In der Zeit selbst wurde zu keinem Zeitpunkt ein Wissenschaftsbegriff inhaltlich bestimmt, der aufgrund seiner Herkunft oder seiner Anerkennung auch nur zeitweilig autoritativen Status genossen hätte. Wichtiger noch ist die zweite Beobachtung. Seine inhaltlichen Merkmale wurden durch Ausgrenzung gewonnen und benannt. Das Schloß nicht aus, daß in verschiedenen Phasen unterschiedliche Wissenschaftskonzepte um einen beherrschenden Status konkurrierten. Eine dritte Beobachtung schließt sich direkt an. Für die Konkurrenz um diesen Status gab es ein neues Muster der Auszeichnung: Die Behauptung der Übereinstimmung mit dem, was man als nationalsozialistisch relevant erachtete. Dieses Muster besaß zwar allgemeine Geltung und war etwas Neues, doch wurde es ganz entscheidend durch den politischen Rahmen konstituiert. Zum stärksten Argument wurde mithin die Insinuierung der Übereinstimmung mit einer hypothetischen Größe, die aus der >neuen Bewegung< hervorgegangen war: nämlich das Wissenschaftsbedürfnis des Nationalsozialismus. Theoretisch war dieses Muster allen zugänglich (auch wenn es nicht von allen genutzt wurde), denn es gab nicht
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Eine ausführliche Darlegung, Präzisierung und Exemplifizierung der Thesen erfolgt im Rahmen einer umfangreicheren Untersuchung zum Wissenschaftsbegriff während des Nationalsozialismus, die 2004 im Verlag de Gruyter erscheint. Der Vortragsstil ist daher beibehalten worden, und die Anmerkungen wurden auf ein Minimum beschränkt.
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Lutz Danneberg,
Wilhelm Schemus
das inhaltliche Gütekriterium, anhand dessen die behaupteten Übereinstimmungen hätten rektifiziert werden können. Einige Differenzierungen des Wissenschaftsverständnisses sind erforderlich, um die entscheidenden Aspekte des Streites zwischen 1933 und 1945 deutlich werden zu lassen. Der ursprüngliche Wissenschaftsbegriff, dessen Wurzeln sich bis in die Antike zurückverfolgen lassen, bezieht sich auf Sätze, die als uneingeschränkt wahr oder als probabel gelten. Eine etwas andere Ausrichtung erfährt dieser traditionelle Wissenschaftsbegriff, wenn Wissenschaft als mittel- und zielorientierter Handlungszusammenhang aufgefaßt wird. Er bezieht sich dann nicht mehr allein auf Sätze, sondern auf Handlungen menschlicher Akteure im Zusammenhang mit Sätzen. Welche Regulierung Wissenschaft als Handlungszusammenhang auch immer erfahren mag, sie gilt im Hinblick auf das gegebene Handeln immer in zweifacher Hinsicht als unterbestimmt: In einigen wissenschaftlichen Situationen fehlt die Angabe passender Handlungen, und nicht in jeder Situation erlauben es die bereitgestellten Identifikatoren, zwischen vorgesehenen Handlungsmöglichkeiten eindeutig zu wählen. In den hier zur Diskussion stehenden wissenschaftlichen Handlungsprozessen erscheinen solche Handlungslücken dagegen als geschlossen. Es gibt mithin - so ließe sich schließen - etwas, das dem Akteur eigen ist, aber über die Mittel-Zweck-Regulierung der Wissenschaft hinausweist. Die Anerkennung von Wissensansprüchen ist immer an Voraussetzungen gebunden. Im Zuge der Auffassung von Wissenschaft als Ergebnis menschlicher Handlungen können diese Voraussetzungen als mit dem menschlichen Akteur verbunden gesehen werden. Unsere dritte These besagt, daß hier der systematische Anknüpfungspunkt für die Diskussion des Wissenschaftsbegriffs während des Nationalsozialismus liegt. Diese Anknüpfung ist in den zwanziger Jahren längst vorbereitet, und der Streit greift hierauf auch zurück. Doch gibt es ein Moment, das den radikalen Bruch mit der Tradition markiert. Es liegt nicht in erster Linie darin, daß dieses Voraussetzungssystem im menschlichen Akteur verankert wird, auch nicht darin, daß es rassenbiologisch aufgefaßt wird, sondern es hängt entscheidend an dem Status, den diese Fundierung zugewiesen erhält: Es ist die Bindung der Geltungsfrage von Wissensansprüchen an diese Voraussetzungen. Um diese Bindung an etwas, das außerhalb der Wissenschaft zu liegen scheint, kreisen die zahllosen Beiträge zur »wahren« Freiheit, zur »wahren« Objektivität, zur »wahren« Voraussetzungslosigkeit bzw. Voraussetzungshaftigkeit von Wissenschaft in ihrem Verhältnis zur »Weltanschauung«. Im Titel unseres Vortrages fehlt die vielleicht erwartete Einschränkung im Blick auf die vor 1933 so oft behandelte Unterscheidung zwischen Natur- und Geistesbzw. Kulturwissenschaften. Unsere vierte These besagt, daß von dem Streit um den Wissenschaftsbegriff zwar alle Disziplinen betroffen waren, jedoch quantitativ und qualitativ in ungleicher Weise. Eine stützende Beobachtung fugen wir hinzu. Nach 1933 kommt es in allen Disziplinen zu so etwas wie dem Versuch, einen Paradigmawechsel zu initiieren. Er konnte beispielsweise darin bestehen, bereits vorhandene Ansätze auszubauen und ihnen Dominanz zu verschaffen. Die Grundlage bildet ein verändertes Natur- und Menschenverständnis. Diese Versuche sind nicht nur im Hinblick auf die beiden Gruppen von Disziplinen unterschiedlich, sondern
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auch innerhalb dieser Gruppen selbst. Im Blick auf die Physik handelt es sich im Kern um die Aufnahme der Theorienkonkurrenz, die zu Beginn des Jahrhunderts entsteht. Sie zu schlichten, fuhrt nicht nur zur Etablierung der modernen Wissenschaftstheorie, sondern ist auch Ausdruck eines disziplinaren Differenzierungsprozesses, den sie zugleich weiter forciert. Im Rahmen dieser Auseinandersetzung dient ein veränderter Wissenschaftsbegriff dazu, bestimmte Entscheidungen in dieser Konkurrenz zu rechtfertigen. Bei der Abwehr mißliebiger Theorien über die Umdeutung des wissenschaftlichen Selbstverständnisses wird immerhin noch auf zwar umstrittene, aber in ihrer Leistungsfähigkeit weiterhin bewunderungswürdige Theorien wie die klassische Mechanik zurückgegriffen. Gleichwohl wurde hier wie in den naturwissenschaftlichen Disziplinen, in denen der Rückgang auf eine bereits formulierte Theorie nicht möglich war, die Abwehr durch den Mangel an theoretischer Innovation begleitet. Teile der Relativitätstheorie, die als akzeptabel angesehen wurden, mußten wegen fehlender potenter theoretischer Alternative in ihrer Entstehung Einstein abgesprochen und >germanischem< Einfluß zugesprochen werden - wie etwa durch den Hinweis auf den im Ersten Weltkrieg gefallenen Friedrich Hasenöhrl. In der Mathematik hat die kreative Forschung die Umdeutungen durch einen neuen Wissenschaftsbegriff weitgehend ignoriert; in der Chemie ist man über vage Äußerungen, die um den Gestaltbegriff kreisen - ein programmatisches Schibboleth der Zeit - nicht hinausgekommen. Eine letzte Beobachtung zum Interesse an der Geschichte der Naturwissenschaften schließt sich an. Sie wird zum Feld der Verifizierung des neuen, des »deutschen« Wissenschaftsbegriffs. Gegen das abgelehnte Wissenschaftsverständnis wird die in der Geschichte realisierte Alternative als »deutsche Linie« aufgesucht. Eine mitunter heftig torquierte Wissenschaftsgeschichte wird Fundus und Rechtfertigungsquelle fur alternative Auffassungen. Anders sah es bei denjenigen Disziplinen aus, die sich mit dem Menschen beschäftigen. Hier bestanden schon längere Zeit Forschungstraditionen, etwa hinsichtlich der Rassenbiologie, an die man zunächst anknüpfen konnte. Es wäre allerdings etwa im Blick auf die Rassenbiologie im weiteren Sinne kurzschlüssig, sie direkt in den Nationalsozialismus münden zu lassen, oder bei ihrer Entwicklung nach 1933 nur eine Ausrichtung zu vermuten. Wichtig ist, daß die Durchsetzung dieses Menschenbildes in der Psychologie und in anderen Kulturwissenschaften weitaus erfolgreicher als in den Naturwissenschaften betrieben werden konnte. Niederschlag findet das nicht zuletzt in der Schaffung und Propagierung neuer Fächer und in der Veränderung von Fächerkonstellationen, die direkt auf diesen Wandel des Menschenbildes abheben. Hier sind die Vorgaben und Einflußnahmen politischer Stellen weitaus intensiver; allerdings wird ein solcher Wandel auch von Vertretern der Universität gefordert. Ohne auf die Einzelheiten einzugehen, läßt sich gleichwohl resümieren, daß die politischen Instanzen mit dem >Paradigmenwechsel< in diesen Disziplinen unzufrieden waren. Das betrifft sowohl die Intensität, mit der dieser Wechsel betrieben wurde, als auch die Ergebnisse, welche die so ausgerichtete Forschung zeitigte. Das erklärt unter anderem, weshalb ein beträchtlicher Teil der Forschungen zur Stützung des neuen Menschenbildes außerhalb der
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Universität angesiedelt war, in Einrichtungen etwa des Amtes Rosenberg oder der SS, oder daß solche Institutionen zur Diskussion standen. Die Entwicklung des Streites um den Wissenschaftsbegriff läßt sich in verschiedene Phasen gliedern. Hier besteht weitgehend Übereinstimmung in der Forschung; und ganz ähnlich haben das auch schon die zeitgenössischen politischen Stellen gesehen. Wir wollen daher nur einige Akzente setzen. Diese Sicht drückt sich auch in der Ansprache des damaligen kommissarischen Leiters des Preußischen Kultusministeriums und späteren Reichserziehungsministers Bernhard Rust in der Berliner Universität vom 6. Mai 1933 aus. Hier hält er den Professoren im Blick auf den Mathematiker Theodor Vahlen, der wegen seiner nationalsozialistischen Aktivitäten in der Weimarer Republik seines Amtes enthoben wurde, vor: »Die Jugend marschierte, aber, meine Herren, Sie waren nicht vorn. [...] Meine Herren Professoren, hätten Sie doch damals den Anschluß gefunden und sich an seine Stelle [gemeint ist Vahlen] gestellt, wir hätten heute kein Hochschulproblem.« 2 Trotz der brutalen Maßnahmen, die zur Homogenisierung des universitären Lehrkörpers unternommen wurden, blieb das Problem virulent. Denn dieser >Körper< wurde keineswegs so homogen, wie man es nach der Begeisterung fur die >neue Bewegung< und der biologistischen Begründung erwarten konnte. Unsere fiinfte These besagt daher, daß fur die Anfangsphase der Neuordnung der Universitäten und für den Wissenschaftsbegriff, der die Grundlage bilden sollte, eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Vorschläge gemacht wurden. Viele fühlten sich berufen, in dem Vakuum der Enthaltsamkeit offiziöser nationalsozialistischer Programmatik die eigenen Vorstellungen zur Geltung zu bringen. So bunt wie die Gründe und die intellektuellen Hintergründe sind dann auch die Vorschläge geraten und so unterschiedlich die Karrieren ihrer Verfasser. Einige, wie Hans Freyer oder Erich Rothacker, beteiligen sich nur kurzfristig an der Diskussion, andere, wie Heidegger, ziehen sich mehr oder weniger mißverstanden zurück, wieder andere, wie der Naturphilosoph Hugo Dingler und der Psychologe Erich Rudolf Jaensch, sind unablässig bemüht, mit ihren Ansichten in die Diskussion einzugreifen, noch andere schließlich, wie Ernst Krieck oder Alfred Baeumler, gewinnen über einen längeren Zeitraum tatsächlich an Einfluß. Ein Beispiel erlaubt es, die zentralen Aspekte dieser Phase der Diskussion des Wissenschaftsbegriffs zu beleuchten. Zu den neuen Aufgaben der Wissenschaft äußert sich 1934 auch Rothacker. 3 Er spricht explizit als Nationalsozialist und vergißt auch nicht, auf die Nachteile hinzuweisen, die ihm früher wegen seines Antisemitismus erwachsen seien. Das gehörte zum typischen Szenario der Anfangszeit. Es sind die Signale der Zugehörigkeit und der Legitimation, in dieser Frage das Wort zu ergreifen. Sein Vorschlag ist von erstaunlicher Schlichtheit: Sachfragen lassen sich beantworten. Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaft 2
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Zitiert nach Reinhard Siegmund-Schultze, Theodor Vahlen, Zum Schuldanteil eines deutschen Mathematikers am faschistischen Mißbrauch der Wissenschaft, in: NTM 21 (1984), S. 17-32, hierS. 17. Vgl. Erich Rothacker, Neue Aufgaben der Wissenschaft, in: Deutsches Bildungswesen 2 (1934), S. 644-650.
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bedeutet nach Rothacker nichts anderes als »Sachlichkeit«; man lasse »die Sache sprechen«, wie er sagt. Anders sieht es hingegen bei den »Fragestellungen« aus, die aus einer unbegrenzten Zahl möglicher Fragen gewählt werden. Während die wissenschaftliche Antwort auf eine Frage durch die »Sachlichkeit« beschränkt sei, sei für den »Nationalsozialisten« darüber hinaus auch die »Freiheit« der Fragestellung nicht ohne Einschränkung, nicht ohne »Bindung«: Die »Freiheit der Fragestellung [ist] Volksverbundenheit«; und wenn alle Wissenschaftler »als Menschen nationalsozialistisch sind«, dann wird »die Wissenschaft mit ihnen volksverbunden sein«. Man kann Rothackers Beitrag so charakterisieren: Bei tadelloser politischer Akzeptanz wird durch sein Wissenschaftskonzept ein Maximum an Kontinuität der Wissenschaft zu bewahren versucht. Weitere zentrale Aspekte dieses Beitrages und der Diskussion seien genannt. Der erste bezieht sich auf das Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften. Das Erfordernis der Veränderung, die »Not« - wie er es nennt - , liegt fur Rothacker nicht bei den Naturwissenschaften. Hier arbeiteten alle Völker »jeweils im eigenen Interesse« an den gleichen Fragestellungen, und er sagt: »Wenn es eine internationale Wissenschaft gibt, dann sind diese, im modernen Existenzkampf >lebenswichtigen< Fächer international.« Ihm geht es um die sog. Geisteswissenschaft. Diese sollte sich der zahlreichen Fragestellungen annehmen, die etwa in den Schriften Walter Darres, Paul Schultze-Naumburgs oder Alfred Rosenbergs aufgeworfen werden, und er schließt mit der Forderung nach neuen Disziplinen wie der einer »neuen Wissenschaft vom Deutschtum«. Die hier erfolgte Ausgrenzung der Naturwissenschaften ist in der ersten Phase der Vorschläge üblich. Ein zweiter Aspekt findet sich ebenfalls bei zahlreichen Beiträgern der Zeit. Bei ihm kommt vor allem zum Tragen, daß die Beiträger sich aus der >alten< Universität rekrutieren oder in ihr entscheidend wissenschaftlich sozialisiert wurden. Für sie stellt sich die Auseinandersetzung als ein Zweifrontenkonflikt dar. Die eine Front repräsentieren radikale Forderungen, die auf eine grundsätzliche Umgestaltung der Universität nach bestimmten nationalsozialistischen Gruppeninteressen zielen oder gar die gesamte Einrichtung in Frage stellen. Hiergegen wird auf Kontinuität und fachliche Kompetenz als universitäres Depositum insistiert. Die andere Front resultiert aus dem Schnitt 1933 und wird durch die >alte< Universität des »Liberalismus«, des »Verfalls«, der »Systemzeit« repräsentiert, der gegenüber die Abgrenzung obligatorisch ist. Ein dritter Aspekt betrifft nur vordergründig die Terminologie. Es ist eine Begrifflichkeit, die wesentlich auf der Entgegensetzung von organisch bzw. gestalthaft und mechanisch oder bindungslos beruht. Wissenschaft ist hiernach z.B. ein Teilorganismus eines umfassend gegliederten Gebildes. Wie bei allen wertüberformten Distinktionen läßt sich auch diese vortrefflich in eine gewünschte Handlungs- und Forderungssprache einfügen. Als Teil eines Organismus kann die Universität lebenswichtig sein; als Organismus kann sie von Krankheitssymptomen befallen werden, die den mehr oder weniger heftigen chirurgischen Eingriff verlangen. Bei der Konzeptionalisierung der Universität als Organismus in einem übergreifenden Gebilde sind drei Momente erwähnenswert. Das erste ist eine veränderte organisatorische Form innerhalb der Universität selbst - die »Zerschlagung des Massenbetriebs«, die »Auflösung abstrakter Massen in konkrete
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Arbeitsgemeinschaften«, wie Benno von Wiese 1933 formuliert 4 , die »Gemeinschaft von Student und Hochschullehrer«, wie es bei Gerhard Fricke heißt. 5 Das zweite Moment ist die Kritik an der Ausdifferenzierung der Wissenschaft. Postuliert wird bei der vermeintlichen Unüberschaubarkeit der von >bindungslosen Individuen< gestalteten Wissenschaft die Zurücknahme von Komplexität; vereinfacht und übersichtlich soll der Wissenschaftsorganismus - ein einheitlich durchgegliederter Zentralbau< sein, bei dem die Wissenschaft »aus der Vielheit zur organischen Einheit gekommen ist«, wie es Ernst Krieck formuliert. 6 Das dritte Moment betrifft den Austauch der Wissenschaft mit dem Gesamtorganismus, hypostasiert als das >Völkischem Diese Beziehung ist nicht auf den input der Fragestellungen beschränkt, sie steuert auch den für den Gesamtorganismus lebenswichtigen output. Die zu erbringende Leistung besteht nur sekundär in der Erörterung und Fortentwicklung von Wissensansprüchen, primär in einem Erziehungsauftrag. Auch dieses Moment kann in der Frühphase des Streites genutzt werden, um Wissenschaftskontinuität zu wahren. So gibt der Philosoph Hermann Glockner 1933 die Parole aus: »Die Forschung ist international; die Lehre ist frei. Die Bildung jedoch ruht auf nationalem Grund; die Erziehung sei völkisch gebunden.« 7 Hierfür nun sei in die Universität eine »deutsche Körperschaft« für »deutsche Bildung und Erziehung« zu implementieren. Diese Zurücksetzung von Forschung begleitet zumeist auch ein ausgeprägter Antiintellektualismus - gegen die »Denkakrobatik«, für Anschaulichkeit und Beispiel. Doch auch hier hat die Universität als ganze diese Aufgabe aus der Sicht nationalsozialistischer Stellen nur unbefriedigend erfüllt. Deutlich wird das, wenn ihr dieser Auftrag im Zweiten Weltkrieg explizit entzogen wird und sie sich weitgehend auf die Wissenschaft beschränken soll. Zwar wird das nur als Übergangszeit gesehen. Doch bereits seit Mitte der dreißiger Jahre verbreitet sich die Einsicht bei politischen Instanzen, daß die Universität die erwartete Erneuerung aus sich heraus nicht zu realisieren vermochte. Mitte der dreißiger Jahre ebbt die Flut von Vorschlägen zur Gestaltung der deutschen Wissenschaft ab. Verstärkt melden sich politische Instanzen mit programmatischen Stellungnahmen zu Wort. Zwei Aspekte sind in dieser Phase wichtig. Der erste richtet sich nach außen, d.h., man setzt sich verstärkt mit der Kritik im Ausland an der deutschen Wissenschaftspolitik auseinander, man wirbt, wenn man so will, um Verständnis. Der zweite Aspekt zielt auf die Einheit der Programmatik und betrifft in besonderer Weise die Naturwissenschaften. Beides steht in einem engen Zusammenhang. Den alles überragenden Bezugstext, der dem Vorschlags-
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Benno von Wiese und F.R. Scheid, 49 Thesen zur Neugestaltung deutscher Hochschulen, in: Volk im Werden 1 (1933), Heft 2, S. 13-21. Gerhard Fricke, Über die Aufgabe und die Aufgaben der Deutschwissenschaft, in: ZfdB 9 (1933), S. 494-501. Ernst Krieck, Die neuen Aufgaben der Universität, in: Volk im Werden 1 (1933), Heft 4, S. 24-29. Hermann Glockner, Gedanken über den Einbau einer Deutschen Körperschaft in unserer Universität, in: Volk im Werden 1 (1933), Heft 2, S. 8-10.
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wirrwarr ein Ende bereiten soll, bietet die Rede des Reichserziehungsministers Rust anläßlich der 550. Jahresfeier der Universität Heidelberg 1936.8 Rusts Rede ist explizit über die anwesenden auswärtigen Gäste an das Ausland adressiert, und seine Ausführungen ruhen auf der zentralen, schon lange vorformulierten Annahme einer Standortgebundenheit des Denkens. Doch nicht das, sondern zwei Besonderheiten sind wichtig: Das als Wissenschaftler agierende Individuum wird in ein konstruiertes Kollektiv versetzt - nach dem Selbstverständnis dieser Auffassung ist dabei das Individuum ein Abstraktum, während das Kollektiv ein Konkreten ist. Die Zugehörigkeit eines Individuums zu einem Kollektiv beruht auf mehr oder weniger äußerlichen Merkmalen. Diese Zugehörigkeit ist unhintergehbar, und das gilt auch für die dispositionellen Eigenschaften, die von den Eigenschaften des Kollektivs auf das Individuum transferiert werden. Das ist die allgemeine Beschreibung der bekannten Annahme der rassenbiologischen Determination kognitiver Produkte. Die Pointe indes liegt in einer zweiten Besonderheit. Rust spricht diese Besonderheit explizit an, wenn er das »Fundament des Nationalsozialismus« mitteilt. Dieses liegt in der - wie er sagt - »Gewißheit, daß alle geistigen Bewegungen ebenso wie politische Gründungen nur insoweit auf dauernden Bestand rechnen dürfen, als sie sich auf ein in ihrer Grundrichtung ihnen entsprechendes Menschentum als Träger stützen können.« Das Schlüsselwort ist der Ausdruck »dauernder Bestand«. Die Vorstellung, in der Wissenschaft - auch in den Naturwissenschaften - gebe es nationale Eigentümlichkeit, so etwas wie nationale Stile, ist ein schon im 19. Jahrhundert verbreiteter Gedanke. Er findet sich bei einem so bedeutenden Wissenschaftsphilosophen und -historiker wie Pierre Duhem oder wie bei dem wohl bedeutendsten Mathematiker der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, Henri Poincare. Doch das, was sich nicht findet, ist die Verknüpfung mit dem Geltungsanspruch von Wissen. Erst das macht die Radikalität des Bruchs mit traditionellen Varianten des Wissenschaftsbegriffs aus. Die von Rust betonte Verknüpfung von Herkunft und Geltung bricht mit einem Wissenschaftsbegriff, der seit dem 16. und 17. Jahrhundert seine explizite Formulierung gefunden hatte. So sehr sich auf der einen Seite wissenschaftsphilosophische Überlegungen in den vergangenen dreihundert Jahren uneins darin waren, welche Merkmale relevant sind für die Beurteilung von Wissensansprüchen, welches Gewicht jedem einzelnen von ihnen zukommt und wie sie sich präzise und zugleich anwendungssicher formulieren lassen, so groß ist auf der anderen Seite die Einmütigkeit im Hinblick auf zahlreiche Merkmale gewesen, die auszuschließen seien. Zu diesen fur die Evaluation von Wissensansprüchen definitiv ausgeschlossenen Merkmalen gehören alle diejenigen, die sich auf die personellen Träger von Wissensansprüchen beziehen. Der Hinweis auf die religiöse Überzeugung, die Zugehörigkeit zu einer >Rasse< oder zu einem >Geschlecht< gilt aufgrund dieses Ausschlusses nicht als zulässiges Argument, um Wissensansprüche zu bestreiten, 8
Bernhard Rust, Nationalsozialismus und Wissenschaft, in: ders. und Ernst Krieck, Das nationalsozialistische Deutschland und die Wissenschaft. Heidelberger Reden [...]. Hamburg 1936 (= Schriften des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands), S. 9-22.
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anzuerkennen oder zu ignorieren. Wissenschaft ist zweifellos ein soziales Unternehmen, Träger von Wissensansprüchen sind zweifellos auch biologische Einheiten. Wissenschaft kann daher Gegenstand entsprechender Untersuchungen werden. Entscheidend ist die Auszeichnung solcher Beziehungen als geltungsrelevant. Die nationalsozialistische >Entlarvung< von Wertfreiheit und Voraussetzungslosigkeit besteht in nicht mehr als dem Hinweis auf die Leugnung dieser Bindung als geltungsrelevant - einer Bindung, die, nach Rust, »unser Schicksal« sei, »zu dem wir uns demütig und stolz zugleich bekennen«. Unsere sechste These lautet: Im Hinblick auf die Geltungsfrage stellt das, was während des Nationalsozialismus in vagen Umrissen konturiert wird, tatsächlich einen neuen Typ von WissenschaftsaufFassung dar. Seine spezifische Prägung erhält er durch die Wahl bestimmter personaler Eigenschaften als geltungsrelevant. Die Redenschreiber von Rust müssen die Diskussion in den zwanziger Jahren gut gekannt haben. Das Konstrukt des >freischwebenden Intellektuellem, der als >Gegentyp< des Wissenschaftlers immer wieder beschworen wird, wird ersetzt durch die wahre Freiheit und die wahre Voraussetzungslosigkeit als Bindung der Wissenschaftsakteure an ihre >eigentliche< Natur. Es ist keineswegs so, daß die theoretischen Probleme eines solchen Wissenschaftsbegriffs zwischen 1933 und 1945 nicht gesehen worden wären. Unsere siebte These betrifft die philosophischen Probleme, die eine solche Bestimmung des Wissenschaftskonzeptes aufwirft. Mit ganz wenigen Ausnahmen vermied man es, das Thema direkt philosophisch zu behandeln. Man behandelte es indirekt. Der Clou der indirekten Auseinandersetzung bestand darin, eine tatsächliche oder vermeintliche Konsequenz anzusprechen. Ein Beispiel ist die Konsequenz des Relativismus, und das wohl demonstrativste Beispiel war die Preisaufgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften von 1936: »Die inneren Gründe des philosophischen Relativismus und die Möglichkeit seiner Überwindung.« Ein zweiter Problemkomplex resultiert aus dem disziplinübergreifenden Charakter dieses Wissenschaftsbegriffs und bildet das Zentrum der Auseinandersetzung um den Wissenschaftsbegriff während des Nationalsozialismus überhaupt. Karl Mannheims soziologischer Griff auf das Wissen hat explizit vor den Naturwissenschaften und der Mathematik haltgemacht. Unsere achte These besagt: In den Naturwissenschaften bestand für den bezeichneten Wissenschaftsbegriff die eigentliche Nagelprobe, die sie zwischen 1933 und den vierziger Jahren nach eigenem Eingeständnis nicht bestanden hat. Der Streit selbst erscheint als Überformung der Theorienkonkurrenz von Relativitätstheorie und Quantenmechanik der zwanziger Jahre, die intensivste, die die Naturwissenschaften erlebt haben. Entscheidend dabei ist, daß die moderne Physik in ihren wissenschaftstheoretischen Grundlagen von einem großen Teil ihrer Verteidiger wie ihrer Kritiker als eine Art Positivismus begriffen wurde. Dieses Junktim zwischen physikalischer Theoriebildung und philosophischer Wissenschaftsauffassung hat die theoretische Physik in der Zeit immer wieder in Bedrängnis gebracht, zugleich hat es die Durchsetzung des neuen Typs der Wissenschaftsauffassung verhindert. Auch wenn die Diskussion in den zwanziger Jahren vorbereitet war, findet sie nach 1933 besondere Breite und Unterstützung.
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Symptomatisch dafür ist die 1935 gegründete Zeitschrift für die gesamte Naturwissenschaft. Mit ihrem kleinen wissenschaftlichen Beirat, dem auch so bedeutende Naturwissenschaftler wie Martin Heidegger und Hans-Georg Gadamer angehörten, war es das Ziel, den Positivismus einzudämmen - wie der Herausgeber Kurt Hildebrandt dann auch in einem programmatischen Leitartikel die moderne Physik ob ihres Positivismus heftig tadelte. Die Replik auf diesen Beitrag hätte in der Zeit kaum härter ausfallen können. Pascual Jordan, anerkannter Theoretiker der Quantenmechanik, untadelig in seinen politischen Äußerungen, überzeugt von der positivistischen Grundlage der Theorie, wirft diesem Angriff auf die moderne Physik explizit Wehrkraftzersetzung vor, mit dem entsprechend zu verfahren sei. Das ist auch ein Beispiel, wie durch die politischen Rahmenbedingungen die Hierarchie von Argumentationen für den Wissenschaftsbegriff mitstrukturiert wird, an der zumindest theoretisch - alle partizipieren konnten. Kurze Zeit später wird die Zeitschrift der Reichsstudentenfuhrung unterstellt. Der Ton wird militanter, der Diskurs rassenbiologischer; offen wird das Programm der »deutschen« oder »arischen« Naturwissenschaft verfolgt. Erläuterungsbedürftig ist die Behauptung, daß dieser Wissenschaftsbegriff die Nagelprobe der Naturwissenschaften nicht bestanden hat, daß dies eingeräumt wurde, die politischen Stellen gleichwohl an diesem Wissenschaftskonzept festhielten. 1937 wird die moderne Physik und die damit verbundene Wissenschaftsauffassung in der SS-Zeitschrift Das Schwarze Korps angegriffen, wobei unter anderem insinuiert wird, Heisenberg sei ein »Ossietzky der Physik«. Vornehmlich der Kontakt seiner Familie sowie die Fürsprache einflußreicher Vertreter der angewandten Physik bei Himmler haben 1938 zur Zurückweisung des Artikels geführt. In einem Brief Himmlers an Heisenberg verspricht jener nicht nur, Heisenberg vor weiteren Angriffen zu schützen. Erstaunlich ist auf den ersten Blick, daß er explizit von Heisenberg eine Wissenschaft ohne politische Beimengung erwartet. Heisenberg solle »die Anerkennung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse von der menschlichen politischen Haltung des Forschers klar« trennen. 9 Das ist allerdings kein Bekenntnis zur Neutralität von Wissenschaft. Es ist Ausdruck einer situativen Entscheidungsunfahigkeit im Rahmen des favorisierten Wissenschaftskonzepts. Die Aufforderung an Heisenberg ist erforderlich, um einem drohenden Umkehrschluß vorzubeugen: von der Überlegenheit der modernen Physik im Vergleich zu ihren Alternativen auf die Überlegenheit ihrer biologischen Träger. Eine solche Befürchtung setzt voraus, daß die Verknüpfung der Trägerschaft von Wissensansprüchen mit ihrer Geltung nicht nur normativ festgeschrieben ist, sondern noch immer empirische Züge aufweist. Die Möglichkeit besteht mithin, daß beides nicht übereinstimmt - mit der Voraussetzung, daß noch immer an Geltungskriterien appelliert werden konnte, die von der Trägerschaft des Wissensanspruchs unabhängig sind. Daß solche Kriterien noch eine Rolle spielen,
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Als Faksimile ist der Brief Himmlers an Heisenberg abgedruckt in Samuel A. Goudsmit, ALSOS [1947], With an Introduction by David Cassidy, Woodbury/NY 1996, S. 119. Die zitierte Stelle ist als Postskriptum neben die Unterschrift Himmlers gesetzt.
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hat wesentlich mit dem Schutz zu tun, den ihnen die an der Universität institutionalisierte Wissenschaft noch bieten konnte. Er verhinderte das Zusammenfallen von Herkunft und Geltung per decisionem. Doch schon vorher, am 7. Dezember 1937, ist es zu einer situativen Neutralitätserklärung gekommen. Rosenberg, oft Patron der Angriffe auf die moderne Physik, hält in einer öffentlichen Verlautbarung zu drei umstrittenen Feldern der Wissenschaft - »Kosmophysik«, »experimentelle Physik« und »vorzeitliche Erdkunde« - ausdrücklich fest, daß es sich vom »nationalsozialistischen Standpunkt« aus um »naturwissenschaftliche Probleme« handle, deren »ernste Prüfung und wissenschaftliche Untersuchung jedem Forscher frei« stehe. 10 Und er fahrt fort: »Die NSDAP, kann eine weltanschauliche dogmatische Haltung zu diesen Fragen nicht einnehmen; daher darf kein Parteigenosse gezwungen werden, eine Stellungnahme zu diesen Problemen der experimentellen und theoretischen Naturwissenschaften als parteiamtlich anerkennen zu müssen.« Damit war die Auseinandersetzung um die moderne Physik, um das ihr zugeordnete Wissenschaftsverständnis keineswegs beendet. Geändert hat sich nur etwas am politischen Rahmen der Argumentationshierarchie. Die Erläuterung unserer achten These beenden wir mit einem Blick auf das zehnjährige Reichsjubiläum. Anfang 1943 erscheint der Grundsatzbeitrag von Walter Groß, der zu seiner Leitung des rassenpolitischen Amtes gerade die Leitung des Bereichs Wissenschaft in der Dienststelle des Reichsleiters Rosenberg übernommen hat.11 Sein Beitrag beginnt mit einem großangelegten historischen Szenario, in das auch die Begegnung von Politik und Wissenschaft in Deutschland seit 1933 eingebettet wird. Mehr Auszeichnung war wohl zur damaligen Zeit nicht möglich, wenn es vom »Typus des echten Gelehrtentums« heißt, daß dieser »vollgültig« neben dem »Offizier« stehe. Vieles von dem, was in der Zwischenzeit formuliert wurde, taucht hier wieder auf und kulminiert darin, daß sich die »Rechtfertigung« des »Totalitätsanspruchs der nationalsozialistischen Revolution«, der sich auch auf die Wissenschaft erstreckt, sich nicht »irgendwelchen Theorien« verdanke, sondern »der tödlichen Gefahr der geschichtlichen Epoche - und unserem beispiellosen Erfolg«. Doch gleich im nächsten Satz kommt die Ernüchterung: Die Wissenschaftler standen abseits, und daran hat sich zunächst wenig geändert. Fehler werden in der Retrospektive auf beiden Seiten eingeräumt. Obwohl Besserung eingetreten sei, müsse man sich indes über zwei »Gesichtspunkte« im klaren sein - und dies ist der eigentliche Punkt der Ausführungen. Der erste ist der »Primat der Politik«. Reduziert wird dieser Primat auf den direkten Konflikt von Politik und >reiner< Wissenschaft. Hier habe sich die Politik durchzusetzen. Doch dürfe es keine fachlichen Begrenzungen, keine methodischen Einschränkungen geben. Vöraussetzungslosigkeit ist für Groß eine Haltung: »Nur dort ist Wissenschaft, wo der Forscher mit allen Kräften des Erkennens und aller Gewissenhaftigkeit des Wahrheitssuchers die
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Zit. n. dem Abdruck bei Walter Groß, Nationalsozialismus und Wissenschaft, in: Nationalsozialistische Monatshefte 14 (1943), S. 5-23, hier S. 17-18. Vgl. ebd.
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Ergebnisse seiner Arbeit ohne jede vorgefaßte Meinung hinnimmt.« Diese Freiheit werde auch dadurch nicht grundsätzlich berührt, daß die Partei die Erforschung bestimmter Fragen besonders nahelege oder fördere. Nach der Freiheit der Wahl des Gegenstandes wird die der »Methodik« behandelt, wobei vor allem auf die Auseinandersetzungen im Rahmen der Physik angespielt wird. Groß druckt Rosenbergs Neutralitätserklärung ab und verstärkt sie mit der Bemerkung, daß es sich um »eine innerwissenschaftliche Entwicklung« handle und daß »ihre Kämpfe [...] ausschließlich mit Grund und Gegengrund, Beweis und Widerlegung, mit Ergebnis oder Versagen auszutragen [sind], niemals aber durch einen von außen kommenden politischen Machtspruch«. Dieses Zugeständnis an Freiheit bei der Wahl des Gegenstandes und der Auseinandersetzung um die Methodik ist allerdings mit einer klaren Begrenzung verbunden, die die Wissenschaft auf sich selber zurückfuhrt: Ihre Aufgabe ist nicht »die Erziehung der Nation und ihrer einzelnen Mitglieder«, sondern die Erziehung »im weitesten Sinne« ist allein Aufgabe der »politischen Bewegung«, die »einen neuen Typus des deutschen Menschen zu prägen und zu formen hat«. Der Beitrag von 1943 nähert sich gleichermaßen dem Beginn wie er sich von ihm entfernt. In der Bestimmung von Wissenschaft findet sich vieles von dem, was z.B. auch Rothacker vertreten hat. Es kann zu Konflikten kommen, aber die Einflußnahme bezieht sich ausschließlich auf die Fragestellungen. Aufgegeben hingegen ist der vehemente Anspruch der frühen programmatischen Konzepte, die Universität verstärkt auf die Erziehung zum Ziele der politischen Bewegung auszurichten. Der Erziehungsauftrag - abgesehen von dem engeren des universitären Studiums - wird ihr entzogen. Klarer wird nun auch, welche Rolle der Betonung des politischen Primats zukommt. Es kompensiert das vorübergehende Scheitern der Biologie. Die Homogenisierung des Lehrkörpers, die Veränderungen in den Formen der Institution haben nicht zu der erwarteten Homogenität der wissenschaftlichen Arbeit und Einstellung gefuhrt. Der Konflikt erscheint in der Situation als unlösbar. Die Lösung wird an die Prägung eines >neuen Menschentyps< geknüpft, die allerdings weitgehend außerhalb der Universität zu vollziehen ist - ein Menschentyp, der dann die Universität im Sinne des Nationalsozialismus in Besitz nehmen wird. Wir kommen zum letzten Problem, das sich aus der Verknüpfung von Herkunft und Geltung ergibt. Unter »Internationalität« von Wissenschaft wird verschiedenes verstanden. 12 Wichtig zu unterscheiden sind im vorliegenden Zusammenhang drei Verwendungsweisen. Die erste bezieht sich auf die Wissenschaft als Institution und meint ihre Organisation und Kooperation auf nationaler und internationaler Ebene. Die zweite bezieht sich auf den geographischen Bereich anerkannter Wissensansprüche, Forschungsthemen und -Verfahrensweisen und meint ihre Verbreitung. Die dritte bezieht sich auf die Bewertung von Wissensansprüchen und meint diejenigen Merkmale, die geltungsrelevant sind. Das erste kann man als »Internatio-
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Zum Hintergrund Lutz Danneberg und Jörg Schönert, Zur Transnationalität und Internationalisierung von Wissenschaft, in: Wie international ist die Literaturwissenschaft? Hrsg. von Lutz Danneberg und Friedrich Vollhardt, Stuttgart/Weimar 1996, S. 7-85.
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nalisierung« von Wissenschaft, das zweite als »Universalismus« der Geltung ihrer Ergebnisse und das dritte als »Transnationalität« von Wissensansprüchen bezeichnen. Wichtig ist, daß es keinen direkten Zusammenhang zwischen diesen drei Phänomenen gibt. Die Transnationalität des Wissens hat die Internationalisierung von Wissenschaft stark gefördert, aber das muß nicht so sein, da sie von zahlreichen weiteren gewichtigen Faktoren abhängt. Der Kern der Auffassung von Wissen als transnational besteht im Ausschluß bestimmter Eigenschaften der Träger von Wissensansprüchen fur ihre Geltung. Das Charakteristikum des traditionellen Wissenschaftsbegriffs ist genau diese Transnationalität, und genau sie ist die Bruchstelle, den der während des Nationalsozialismus propagierte Wissenschaftsbegriff markiert. Die spannende Frage ist nun, wie man es bei einem Wissenschaftsbegriff, der nicht transnational ist, mit der Internationalisierung von Wissenschaft und den raumzeitlich unbeschränkten Geltungsansprüchen von Wissen hält. Oder anders gefragt: Wie kann man mit einem solchen Wissenschaftsbegriff übernationale Wissenschaftspolitik betreiben? Seit dem 19. Jahrhundert findet eine erstaunliche Entwicklung bei der Internationalisierung der Wissenschaft statt, die selbst durch die gegenseitigen Boykotterklärungen nach dem Ersten Weltkrieg nicht nachhaltig beeinträchtigt wurde. Man konnte sich im Rahmen eines nichttransnationalen Wissenschaftsbegriffs vom internationalen Austausch ausschließen oder an ihm in qualifizierter Weise partizipieren. Obwohl man auch von offiziöser Seite partizipieren wollte, bestanden bei einer solchen wissenschaftspolitischen Konzeption in der Hauptsache zwei Schwierigkeiten: Die erste resultiert daraus, daß die Partizipation in einer Umwelt transnationalen Wissenschaftsverständnisses zu erfolgen hat; die zweite daraus, daß ein wesentlicher Teil der deutschen Wissenschaft, der internationale Anerkennung genoß, sich außerhalb der nationalen Grenzen angesiedelt hat. Zwei Elemente besitzt die nationalsozialistische Konstruktion einer Lösung: Zum einen wird ein übergreifender Relativismus angenommen, der sich nicht auf die jeweilige Anbindung der Geltung an die Herkunft bezieht, sondern übergreifend die verschiedenen Herkunftskollektive betrifft. Wissensansprüche unterschiedlicher Herkunft gelten in bestimmtem Umfange als - wie man heute sagen würde - unvergleichbar, man beharrte zudem darauf, daß ein wirkliches gegenseitiges, interkulturelles Verstehen aufgrund dieser Bindung nicht möglich sei, womit situative >Verständigungen< nicht ausgeschlossen wurden. Zum anderen sollte die Repräsentation der Wissenschaftsauffassung »vollgültig« sein. Das hieß, etwas verklausuliert, nichts anderes, als daß die politischen Einheiten des Reiches bestimmten, wer deutsche Wissenschaft vertrat; die war gegen die Emigranten gerichtet - ein anhaltendes Moment der auswärtigen Kultur- und Wissenschaftspolitik. Konsequent wurde eine internationale Begegnung von Wissenschaft abgelehnt. Statt dessen plädierte man für eine »übervölkische Aussprache« oder »zwischenvölkische Zusammenarbeit«, welche die jeweiligen nationalbestimmten Wissenschaften in ihrer »vollgültigen« Art unverstellt in Kontakt treten lassen sollte. Liest man die Beiträge aus den dreißiger Jahren, dann erregt die Strategie noch heute Mitleid. Man bittet die internationale Gemeinschaft um die Bereitschaft, auch das deutsche »vollgültige« Stimmchen anzuhören, man appelliert an Gleichbehandlungsgrundsätze, man
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nimmt in Anspruch, endlich für sich das erkannt zu haben, was die anderen großen Nationen längst praktizierten, es allerdings unter dem Mäntelchen der Transnationalität verschleierten. Betrachtet man hingegen die in dieser Zeit so reichhaltige Diskussion zum Thema in Deutschland, so fehlt ein solcher übergreifender Relativismus weitgehend. Immer wieder wird die Überlegenheit bestimmter Trägerkollektive von Wissensansprüchen angenommen - ja, man versteigt sich zu der Behauptung, jede kreative wissenschaftliche Leistung sei »nordischen« Ursprungs. Praktisch wird das dann in der intensiv betriebenen Europäischen Wissenschaftspolitik nach Beginn des Zweiten Weltkrieges. Den Ausgangspunkt bildet die behauptete Überlegenheit der deutschen Wissenschaft; Zielpunkt ist die Ausrichtung der Wissenschaft des Einflußbereiches auf diesen Fixpunkt. Ein Wissenschaftsbegriff, der Transnationalität ablehnt, ist theoretisch mit einem übergreifenden Relativismus vereinbar - doch nicht faktisch, wenn man seine Entstehungsbedingungen betrachtet. Die Zurückweisung des traditionellen Wissenschaftsbegriffs resultiert aus einer besonderen Problemsituation, die zwar in ihren konkreten Elementen variiert, bei der jedoch entscheidend ist, daß es zu einem Konflikt kommt zwischen stark empfundenen Einsichten und den Evaluationsbedingungen im Rahmen der institutionalisierten Wissenschaft. Dieser Konflikt wird durch einen veränderten Wissenschaftsbegriff zu lösen versucht, der die Quelle dieser Einsicht als Geltungskriterium relevant werden läßt. Wir beenden unseren Vortrag mit einer letzten, zugestanden etwas spekulativen These: Bei einem Wissenschaftsbegriff, der die Geltung von Wissensansprüchen an personale Eigenschaften ihrer Träger bindet - in welcher Komplexion auch immer - , ist die Haltung eines übergreifenden Relativismus nur eine strategische Option, die den Weg für einen absolutistischen Geltungsanspruch bahnt. Bei der Verfügbarkeit entsprechender politischer und institutioneller Machtmittel legitimiert ein solcher Wissenschaftsbegriff, Wahrheit im Eigensinn durch den direkten Ausschluß aller Alternativen zu kreieren.
Holger Dainat
(Magdeburg)
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Berufungen, Personalentscheidungen, sind das zentrale Mittel zur Steuerung der Wissenschaft durch die Politik.1 Sie sind dies, solange Wissenschaft institutionell an staatliche Universitäten gebunden ist, solange also Wissenschaftler letztlich Professoren werden müssen, um ihren Beruf dauerhaft auszuüben. Das gilt in Deutschland bis ins späte 19. Jahrhundert für alle Disziplinen, für die Geistes- bzw. Kulturwissenschaften im allgemeinen und für die Neuere deutsche Literaturwissenschaft im besonderen sogar bis weit ins 20. Jahrhundert, ja eigentlich bis in die Gegenwart. Daß diese Wissenschaften »kaum je Gegenstand systematischer wissenschaftspolitischer Überlegungen, geschweige denn Maßnahmen geworden sind«, hat eine umfassende Untersuchung für die alte Bundesrepublik bestätigt.2 Das hängt mit dem besonderen Leistungsbezug3 dieser Wissenschaften zusammen. Ihre enge Anlehnung an das Erziehungssystem macht sie in besonderem Maße von der Bildungspolitik abhängig. Ja, ihr Größenwachstum gründet vorrangig auf dem Ausbau des Erziehungssystems; gerät dieses ins Stocken, ergeben sich hier Verwerfungen, beginnt sofort eine Ksisendiskussion, die nach den Leistungen der Geisteswissenschaften fragt. Anders als in den Naturwissenschaften kommt es um 1900 nicht zur Gründung spezifischer Forschungsinstitute, obwohl auch Literaturwissenschaftler früh solche gefordert haben. Am aussichtsreichsten war wohl der Plan, aus der 1902 an der Preußischen Akademie der Wissenschaften gebildeten »Deutschen Kommission« ein »Deutsches Institut« als »Mittelpunkt für die Erforschung des ganzen deutschen Lebens in Vergangenheit und Gegenwart«4 hervorgehen zu lassen. Der Ver1
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Vgl. Rudolf Stichweh, Differenzierung von Wissenschaft und Politik: Wissenschaftspolitik im 19. und 20. Jahrhundert, in: ders., Wissenschaft, Universität, Professionen. Soziologische Analysen, Frankfurt/Main 1994, S. 156-173, S. 157f. Peter Weingart u. a., Die sog. Geisteswissenschaften: Außenansichten. Die Entwicklung der Geisteswissenschaften in der BRD 1954-1987, Frankfurt/Main 1991, S. 38. Im Sinne von Jürgen Fohrmann, Organisation, Wissen, Leistung. Konzeptuelle Überlegungen zu einer Wissenschaftsgeschichte der Germanistik, in: IASL 16.1 (1991), S. 110— 125. Generalbericht über Gründung, bisherige Tätigkeit und weitere Pläne der Deutschen Kommission. Aus den Akten zusammengestellt, in: Sitzungsberichte der Kgl. Preußischen Akademie der Wissenschaften 1905, S. 694-707, S. 695. Vgl. dazu Holger Dainat, Die paradigmatische Rolle der Germanistik im Bereich der Philologien. Die Deutsche
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such scheiterte schon vor dem Ersten Weltkrieg, seine Neuauflage im Jahr 1930 ebenso. Dennoch ist die Deutsche Kommission an der Preußischen Akademie als das Zentrum außeruniversitärer germanistischer Forschung anzusehen. Hier wirkte von 1902 bis zu seinem Tod im Jahr 1936 mit Konrad Burdach der wohl einzige ausschließlich für Forschung fest angestellte Germanist; wie sehr es sich dabei um eine Sonderstellung handelt, verdeutlicht die Tatsache, daß es an der Berliner Akademie nur noch einen anderen Wissenschaftler in gleicher Position gab, nämlich Albert Einstein. Die Stelle Burdachs wurde nach seinem Tod nicht wiederbesetzt. In den Akademien dominieren also die Universitätsprofessoren, freilich unterstützt von etlichen wissenschaftlichen »Hilfsarbeitern« mit zeitlich befristeten Verträgen, die vor allem an den Langzeitprojekten wie Wörterbüchern, Sprachatlanten, Handschrifteninventaren und Editionen arbeiteten. 5 In diese Bereiche, die nicht gerade im Mittelpunkt der zeitgenössischen Literaturwissenschaft angesiedelt sind, flöß wohl auch der größte Teil der für die Germanistik verfugbaren Mittel der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft, der späteren DFG. 6 Projektforschung spielt bis in die sechziger Jahre so gut wie keine Rolle. Allenfalls der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses durch Stipendien kommt eine gewisse Bedeutung zu. An diesen Grundstrukturen hat sich in der NS-Zeit kaum etwas geändert. Zwar plädiert z.B. Erich Rothacker 1933/34 entschieden für die Gründung von Forschungsinstituten für Rassenkunde, Eugenik, Volkskunde und Volkstheorie, Deutschkunde und Vergleichende Kulturwissenschaft, um die verhältnismäßig geringen Kräfte in diesen für den Nationalsozialismus wichtigen Bereichen zu bündeln. 7 Zwar gibt es einzelne Gemeinschaftswerke wie den »Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften« 8 und Ansätze zur Auftragsforschung wie Stipendien für Dissertationen zum Thema »Wald und Baum in der arisch-
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Kommission im disziplinaren Kontext, erscheint in: Die Preußische Akademie der Wissenschaften ZU Berlin 1914-1945. Hrsg. von Wolfram Fischer, Berlin 2000, S. 169-196. Diese Wissenschaftler wurden bislang von einer an den Professoren orientierten Personalgeschichte weitgehend ignoriert, vgl. aber Hanne Knickmann, Der Jean-Paul-Forscher Eduard Berend (1883-1973). Ein Beitrag zur Geschichte der Germanistik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Jahrbuch der Jean Paul-Gesellschaft 29 (1994), S. 7 - 9 1 und 30 (1995), S. 7-104. Lothar Mertens, Der Primat der Ideologie im Nationalsozialismus. Die Forschungsförderung von Literaturwissenschaft/Germanistik im Dritten Reich durch die DFG, in: Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung. DFG-Symposion 1998. Hrsg. von Jörg Schönert, Stuttgart und Weimar 2000, S. 257-270. Rothacker leitet seine Vorschläge mit einer vernichtenden Kritik an der bisherigen NSWissenschaftspolitik ein, wofür er hauptsächlich die »mangelnde Ressortkenntnis fast sämtlicher neu eingestellter Beamten und Minister«, die »unausgesetzten Entehrungen und ehrwidrigen Beschimpfungen« der Hochschullehrer und das Fehlen auch nur von »Ansätze[n] zu positiven Leistungen eigentlich akademischer Art« verantwortlich macht (Erich Rothacker, Denkschrift vom 15.3.1934 [an den Staatssekretär Hans Pfundtner vom Reichsministerium des Inneren], in: BA Koblenz, R 018/005445, fol. l-69ff.). Vgl. den Beitrag von Rainer Rosenberg in diesem Band sowie Frank-Rutger Hausmann, »Deutsche Geisteswissenschaft im Zweiten Weltkrieg«. Die »Aktion Ritterbusch« (19401945), Dresden und München 1998.
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germanischen Geistes- und Kulturgeschichte«. 9 Zwar bilden sich staatliche und parteiliche Institutionen, die auch Forschung betreiben (wollen), und vor allem Instanzen, die sich mit der Gegenwartsliteratur und ihrer Steuerung beschäftigen. 10 Doch bleiben alle diese Ansätze fur die Neuere deutsche Literaturwissenschaft letztlich eher marginal. Das gilt nicht in gleichem Maße für die ideologisch relevanteren Forschungsfelder der Volkskunde und der Frühgeschichte.
2. Konzentrieren wir uns also auf die Hochschulen. An den Universitäten ist die Germanistik 1933 in der Regel mit zwei planmäßigen Professuren vertreten. 11 Nur in Jena und in Erlangen (bis 1936) gibt es lediglich einen Lehrstuhl; dagegen in Berlin kurzzeitig sogar vier Professuren, neben den beiden traditionellen für Altund für Neugermanistik ein Extraordinariat und den speziell für Werner Richter 1932 geschaffenen Lehrstuhl, der nach seiner Entlassung am 20. November 1933 nicht wiederbesetzt wird. Auch Leipzig verfugt neben den beiden Ordinariaten über ein Extraordinariat. Nicht an allen Universitäten sind die beiden germanistischen Professuren einander gleichgestellt. Gewöhnlich dominiert der ältere Lehrstuhl, also der Altgermanist, was daran abzulesen ist, daß die Neugermanistik nicht selten nur über ein Extraordinariat verfugt, dessen Inhaber allerdings häufig Titel und Rechte eines persönlichen Ordinarius innehat. In dieser Position befanden sich selbst so bekannte Literaturwissenschaftler wie Friedrich Gundolf und Richard Alewyn in Heidelberg, Günther Müller in Münster und Wolfgang Liepe in Kiel. Nur (persönliche) Ordinarien waren vollberechtigte Mitglieder der Fakultät mit dem Recht, akademische Prüfungen abzunehmen; nur sie verfügten über die Institutsmittel. Deshalb verdienen sie unsere besondere Aufmerksamkeit. Neben den Universitäten wären für die Neugermanistik noch die Technischen Hochschulen zu berücksichtigen. Zudem ist zu bedenken, daß das deutsch(sprachig)e Hochschulsystem nicht an den Reichsgrenzen endet: Ihm sind neben der TH Danzig und der deutschen Universität in Prag, später dann der Universität Straßburg und der Reichsakademie Posen auch die österreichischen und Schweizer Hochschulen zuzurechnen, wenngleich die Durchlässigkeit nationalstaatlicher Grenzen im Wissenschaftssystem im Laufe des 20. Jahrhunderts eher abzunehmen
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Vgl. Heinz Kindermanns Korrespondenz mit dem SS-Ahnenerbe, 7.11.1938, 2.12.1938 und 31.1.1939, in: BA Berlin, BDC: Heinz Kindermann. 10 Vgl. dazu Jan-Pieter Barbian, Literaturpolitik im »Dritten Reich«. Institutionen, Kompetenzen, Betätigungsfelder, Frankfurt/Main 1993. " Vgl. auch den detaillierten, wenngleich nicht fehlerfreien Überblick »Die Hochschulinstitute und Seminare« in dem umfangreichen Gutachten des Sicherheitsdienstes der SS: »Lage und Aufgaben der Germanistik und deutschen Literaturwissenschaft« in: Germanistik in den Planspielen des Sicherheitsdienstes der SS. Ein Dokument aus der Frühgeschichte der SD-Forschung. Teil 1: Einleitung und Text. Hrsg. von Gerd Simon, Tübingen 1998, S. 15ff.
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scheint. Früher als im Bereich der Publikationen zeichnet sich eine Nationalisierung bei der Berufungspolitik ab. Da zwischen 1933 und 1945 in Österreich keine und in der Schweiz lediglich zwei Wechsel 12 auf der Ebene der Ordinarien stattfinden, entfällt hier die Möglichkeit eines Vergleichs. Schließlich sei noch auf die beiden Professoren im Reichsdienst< Rudolf Fahrner in Athen (seit 193 9) 13 und Wolfgang Kayser (seit 1941) 14 in Lissabon hingewiesen; 15 beide fungierten übrigens auch als Leiter der dortigen Deutschen wissenschaftlichen Institute. Nach der von Christian von Ferber erstellten Statistik 16 sinkt die Zahl der Germanistikdozenten an deutschen Universitäten von 144 im Jahre 1931 auf 114 im Jahr 1938, ohne daß eine Aufschlüsselung nach den disziplinaren Abteilungen erfolgt. Dieser Rückgang um ca. 20 % liegt deutlich über dem Wert für die gesamten Geisteswissenschaften (9,5 %) oder dem der Historiker (5 %). Betroffen von dem starken Personalabbau in der Germanistik sind vor allem die Privatdozenten, also der wissenschaftliche Nachwuchs, während die Planstellen im großen und ganzen erhalten bleiben, wenngleich es im Untersuchungszeitraum des öfteren zu (befristeten) Rückstufungen von Ordinariaten zu Extraordinariaten kommt. 17 Andererseits werden in Rostock (1934), Kiel (1934) und Berlin (1935) die Extraordinariate in Ordinariate verwandelt. 18 Erlangen erhält 1936 erstmals ein Extraordinariat. Sowohl in Berlin wie zeitweise in Münster ist das Fach durch zwei Lehrstühle vertreten, wobei jeweils einer der beiden Vertreter sich durch 12
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In Zürich löst 1943 Emil Staiger Emil Ermatinger ab (die Akten sind noch gesperrt) und in Basel 1936 Walter Muschg Franz Zinkernagel, dort rangieren neben dem Berufenen primo loco auf der Liste: Wilhelm Altwegg, Max Kommereil, Walther Rehm und Karl Vietor, vgl. Karl Pestalozzi, Walter Muschg und die schweizerische Germanistik in Kriegs- und Nachkriegszeit, in: Zeitenwechsel. Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945. Hrsg. von Wilfried Barner und Christoph König, Frankfurt/Main 1996, S. 282-300, S. 284. Vgl. den Eignungsbericht von Erich Hofmann, REM, vom 13.2.1945, in: GStA BerlinDahlem, I. HA, Rep. 76, Nr. 1307, S. 30. Teresa Seruya, Germanistik in Portugal. Ein wissenschaftsgeschichtlicher Bericht, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 39 (1995), S. 391^117; dies., Wolfgang Kayser in Portugal. Zu einem wichtigen Kapitel der portugiesischen Germanistik, in: Zur Geschichte und Problematik der Nationalphilologien in Europa. 150 Jahre Erste Germanistenversammlung in Frankfurt am Main (1846-1996). Hrsg. von Frank Fürbeth u.a., Tübingen 1999, S. 715-725. Außerdem waren Hermann Schneider (Tübingen) in Bukarest und Karl Polheim (Graz) in Zagreb als Auslandsprofessoren tätig, allerdings ohne ihre Lehrstühle im »Großdeutschen Reich« aufzugeben. Christian von Ferber, Die Entwicklung des Lehrkörpers der deutschen Universitäten und Hochschulen 1864-1954; Göttingen 1956, S. 195ff. - Zur Zahl der Studierenden vgl. Hartmut Titze, Das Hochschulstudium in Preußen und Deutschland 1820-1944, Göttingen 1987, S. 124ff. Z.B. in Gießen 1938^10 und 1944-45, in Danzig seit 1939, in Stuttgart 1943-56. In allen drei Fällen sind die Lehrstühle mit aktiven Nationalsozialisten besetzt: Willi Flemming, Gerhard Fricke und Franz Koch. - Die für Heidelberg oder Erlangen nachweisbaren Bemühungen, die Extraordinariate in Ordinariate zu verwandeln, bleiben erfolglos.
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besonderes politisches Engagement auszeichnete. 19 Legt man die Entwicklung der Planstellen zugrunde, so kann nicht behauptet werden, daß das Fach von der NSDiktatur besonders profitiert habe. Auch die Einkommen dürften unter dem in der Weimarer Republik erreichten Niveau liegen, 20 da sich der massive Rückgang der Zahl der Studierenden auf die Hörergelder auswirkte, wovon wiederum der nicht durch entsprechende Garantien abgesicherte Nachwuchs besonders betroffen war. Da zwischen 1933 und 1945 also kaum neue Stellen geschaffen werden, kommt alles auf den Wechsel an. Nun gibt es aber bei mehr als einem Drittel der (reichs)deutschen Universitäten auf dieser Ebene keine Bewegung. Ernst Bertram in Köln, Willi Flemming in Rostock, 21 Paul Kluckhohn in Tübingen, Hermann August Korff in Leipzig, Leopold Magon in Greifswald, Paul Merker in Breslau, Robert Petsch in Hamburg, Ferdinand Josef Schneider in Halle, Franz Schultz in Frankfurt und Christian Janentzky in Dresden amtieren bereits vor der »Machtergreifung«, und sie tun dies immer noch, als das Dritte Reich in Schutt und Asche zerfiel. Diese Gruppe bleibt im folgenden außer Betracht. Ihr gehören sowohl aktive Nationalsozialisten wie Bertram und Flemming an wie nationalkonservative Professoren, die auf eine gewisse Distanz zur N S D A P wert legten, wie Kluckhohn, der zu Beginn der NS-Diktatur wie nach der Kapitulation jeweils zum Dekan gewählt wurde, um im Interesse der Mehrheit seiner Kollegen das Schlimmste zu verhüten. 22 Also an mehr als einem Drittel der Universitäten gab es keinen Wechsel des Fachvertreters, an den übrigen 14 reichsdeutschen Universitäten fanden zwischen 1933 und 1944 23 25 Berufungsverfahren statt. Hinzuzählen wäre noch die Versetzung von Heinz Kindermann nach Münster (1936), der kein Berufungsverfahren vorausging; es handelte sich nicht um eine Planstelle. 24 Zum Vergleich: Zwischen 1919 und 1932 lassen sich insgesamt 32 Berufungsverfahren nachweisen. Dabei ist zu berücksichtigen, daß sich in dieser Zeit ein Generationenwechsel vollzogen hat, als die Scherer- und Bernays-Schüler aus der Phase der akademischen Etablierung des Faches zumeist durch »Geistesgeschichtler« auf quasi-natürlichem Wege abgelöst wurden. Dieser »natürliche« Abgang durch Tod, (krankheitsbedingter) Emeritierung oder Universitätswechsel dominiert auch in der NS-Zeit, wenngleich es schwerfallt, die weltkriegsbedingt erhöhte Sterblichkeit als »natürlich« zu begreifen.
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Vgl. die Beiträge von Wolfgang Höppner und Andreas Pilger in diesem Band. Vgl. für die Weimarer Republik die Fallstudie von Christian Jansen, Vom Gelehrten zum Beamten. Karriereverläufe und soziale Lage der Heidelberger Hochschullehrer 19141933, Heidelberg 1992. Bei Flemming handelt es sich insofern um eine Ausnahme, als er infolge einer sonst unüblichen Hausberufüng den Lehrstuhl von Golther erhält; die Liste: 1. Willi Flemming, 2. Gerhard Fricke, 3. Paul Böckmann (UA Rostock, PA Willi Flemming, Bl. 109). Paul Kluckhohn an Erich Rothacker, 18.12.1933, in: DLA Marbach, A: DVjs-Kluckhohn 78.8031/20. Maßgeblich ist jeweils der Abschluß des Verfahrens, also die Entscheidung. Vgl. dazu den Beitrag von Andreas Pilger in diesem Band.
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Immerhin in knapp einem Drittel der Fälle (8 von 25) wurde das Berufungsverfahren aufgrund von politisch motivierten Entlassungen eingeleitet; das kam in der Weimarer Republik in der Germanistik kein einziges Mal vor, obwohl es in dem einen oder anderen Fall an guten Gründen für einen solchen Schritt nicht mangelte. Bei den von den Nationalsozialisten entlassenen (Extra-)Ordinarien handelt es sich im einzelnen um Richard Alewyn (Heidelberg), Max Herrmann (Berlin), Wolfgang Liepe (Kiel), Paul Hankamer (Königsberg), Walther Brecht (München), Karl Vietor (Gießen), Johannes Alt (Würzburg) und Günther Müller (Münster). Mit Ausnahme der beiden »Katholiken« Hankamer und Müller 25 sowie von Alt, der wegen »sittlicher Verfehlungen« (sprich: Homosexualität) zu Gefängnis verurteilt und dem 1940 der Doktorgrad aberkannt wurde, 26 waren alle anderen Entlassungen mehr oder minder rassistisch begründet. 27 Wichtig in unserem Zusammenhang ist der Zeitpunkt der Amtsvertreibung: Alewyn, Herrmann und Liepe traf es 1933, Hankamer, Brecht und Vietor 1936/37, Alt 1939 und Müller 1942. Bei genauerer Betrachtung fällt auf, daß 1933 - vielleicht mit Ausnahme von Werner Richter - kein einziger Ordinarius der Neueren deutschen Literaturwissenschaft entlassen wurde, sondern lediglich Inhaber von Extraordinariaten, wenngleich Alewyn und Liepe Titel und Rechte eines persönlichen Ordinarius besaßen. Erst die zweite »Säuberungswelle« von 1936/37 erreicht die Ordinarien des Faches, auch solche, die wie Vietor, Müller und wohl auch Brecht 1933/34 den Nationalsozialisten ihre Bereitschaft zur Mitarbeit signalisierten. Mit anderen Worten: Von den Entlassungen aufgrund des »Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« waren 1933 in der Neugermanistik mit ganz wenigen Ausnahmen die nicht-beamteten Lehrkräfte an den Hochschulen betroffen. Das unterscheidet dieses Fach von anderen Disziplinen wie etwa der Philosophie oder Romanistik. 28 Das deckt sich zudem mit dem Befund von Christian Jansen zur politischen Einstellung, demzufolge im Vergleich zu anderen Geisteswissenschaften »in der Germanistik führende gemäßigt-liberale und erst recht sozialistische oder pazifistische Hochschullehrer« fehlen. 29 Damit stellt sich umgekehrt die
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Wegen seines Katholizismus geriet auch Leopold Magon in Verdacht, vgl. das Gutachten von Dr. Brink, Leiter der Dozentenschaft, an Prof. Erich Leick, 1.4.1937, in: UA Greifswald. Universitätskurator PA Nr. 241: Prof. Dr. Leopold Magon. PA Johannes Alt, in: BayHStA MK 35350. Zur Überraschung des Ministeriums bescheinigt der Sachverständige für Rasseforschung beim Reichsministerium des Innern in seinem Gutachten vom 26.9.1933, daß Wolfgang Liepe »arisch im Sinne der ersten Verordnung zur Durchführung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 11. April 1933« sei; die am 24.11.1933 dekretierte Versetzung an eine andere Universität beruft sich dann auf § 5 eben dieses Gesetzes (GStA Berlin-Dahlem, I Rep. 76 V a . Sekt. 9 Tit. IV.22, Bll. 186il). Vgl. Frank-Rutger Hausmann, »Vom Strudel der Ereignisse verschlungen«. Deutsche Romanistik im »Dritten Reich«, Frankfurt/Main 2000, S. 14ff. Christian Jansen, Im Kampf um die geistig-ideologische Führungsrolle in Universität und Gesellschaft. Die zwischen 1910 und 1925 in Deutschland lehrenden germanistischen Hochschullehrer im politisch-wissenschaftlichen Spektrum, in: Literaturwissenschaft und
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Frage, welchen Kriterien die Rekrutierung des fachspezifischen Personals bereits in der Weimarer Republik gehorchte, daß der Übergang in die NS-Diktatur derart leicht fiel. Diese Verantwortung kann das Fach um so weniger nach außen abwälzen, als die staatliche Wissenschaftspolitik - abgesehen von ganz wenigen Einzelfallen - den Empfehlungen der Wissenschaftler folgte. Die Beantwortung dieser Frage, der hier nicht nachgegangen werden kann, dürfte zur Klärung beitragen, weshalb es so wenig Widerstand gegeben hat, als Kollegen nach z.T. jahrelanger Arbeit im gleichen Institut aus den Hochschulen verjagt wurden. Andererseits beschränkte die verhältnismäßig geringe Zahl entlassener Planstelleninhaber die Möglichkeiten der NS-Wissenschaftsadministration, eine umfassende personalpolitische Umstrukturierung zu betreiben. Neben den Extraordinariaten in Heidelberg, Kiel und Berlin hatten die Nationalsozialisten 1933 noch Zugriff auf das Bonner Ordinariat, das mit der Emeritierung Oskar Walzels frei wurde, und auf das Leipziger Extraordinariat, wo man sich seit 1930 um einen Nachfolger für Georg Witkowski bemühte. 1934 waren dann das Würzburger Extraordinariat neu und das Berliner erneut zu besetzen, 1935 schließlich der germanistische Lehrstuhl in Jena. In den ersten drei Jahren der NS-Herrschaft waren also lediglich 8 Professuren zu vergeben, davon zwei Extraordinariate an Instituten, wo so gewichtige Ordinarien wie Julius Petersen und Hermann August Korff wirkten. Wie ging die Besetzung dieser Stellen vor sich? Dazu ist ein Blick auf das bis dahin übliche und dann in der NS-Zeit modifizierte Berufiingsverfahren nötig.
3. Die Rollen zwischen Wissenschaft und Politik sind bis 1933 klar verteilt. Mittels einer Kommission erstellt die Fakultät eine Liste von gewöhnlich drei geeigneten Gelehrten, die über den Senat und/oder Rektor an das Ministerium gelangt, das aufgrund der Vorschläge einen Kandidaten auswählt, um ihn zu berufen und zu ernennen, wenn man die Modalitäten des »Arbeitsverhältnisses« ausgehandelt hat und der Ruf angenommen wurde. Das Ministerium kann die Fakultät um Ergänzungsvorschläge bitten bzw. selber Wissenschaftler benennen und die Universitätsgremien zur Stellungnahme zu diesen Vorschlägen auffordern. Das ist dann so zu verstehen, daß die Fakultät begründen soll, warum sie den Genannten nicht berücksichtigt hat, falls sie ihn nicht will. Anders als heute gibt es keine Ausschreibungen, daher auch keine Bewerbungen. Da zudem in den Kommissionen Vertreter anderer Disziplinen dominieren, besteht ein entsprechend großer Informationsbedarf über mögliche Interessenten und ihre Qualifikation, der dadurch gedeckt wird, daß man bei auswärtigen Fachleuten - besonders bei »Großordinarien« wie
Geistesgeschichte 1910 bis 1925. Hrsg. von Christoph König und Eberhard Lämmert, Frankfurt/Main 1993, S. 385-399, S. 394.
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Julius Petersen oder Paul Kluckhohn 3 0 - Auskünfte einholt. Dies geschieht meist in Form von Briefen, die sich oft von privaten Äußerungen kaum unterscheiden und selten als offizielle Dokumente in die Akten gelangen, gleichwohl des öfteren während der Kommissionssitzungen verlesen werden. 31 Ob in Reaktion auf die Politisierung ab 1933 das wissenschaftliche Gutachterwesen eine Aufwertung erfahrt, etwa indem der »Führer«-Dekan frühzeitig auswärtige Gelehrte um Stellungnahmen bittet und sie dann weiterleitet oder indem zahlreiche Gutachten mit den Listenvorstellungen eingereicht werden (s.u.), wäre einmal zu überprüfen. Die breite Streuung relevanter Quellen stellt ebenso wie die Praxis mündlicher Absprachen eine Rekonstruktion der Entscheidungsprozesse vor erhebliche Schwierigkeiten. Andererseits sorgt diese Verfahrensweise dafür, daß die vorgesehene Geheimhaltung nicht zu gewährleisten ist, also eine informelle Fachöffentlichkeit als wachsamer Beobachter fungiert. Das ausgeprägte Interesse an Personalnachrichten hat jedenfalls in der Korrespondenz der Wissenschaftler zahlreiche Spuren hinterlassen. 32 Das Ergebnis der Beratungen schlägt sich in der Vorschlagsliste nieder, die immer eine Begründung liefert, weshalb die Genannten besonders geeignet fur die Besetzung dieser Stelle erscheinen und zwar in drei Hinsichten (in der Rangfolge ihrer Relevanz): als Forscher, als Lehrer und als Mensch; 33 diese letzte Kategorie stellt das Einfallstor für politische und rassistische Diskriminierungen dar. Vor allem auf die Berufungsgutachten stützt sich meine Untersuchung. Obwohl die Ministerien stets betonen, daß es sich dabei nur um Vorschläge handelt und daß sie allein das Recht zur Entscheidung besitzen, pflegen sie in aller Regel den Vorgaben der Fachleute und damit des Wissenschaftssystems zu folgen. Das bestätigt eine Rundfrage des Preußischen Kultusministeriums von 1925 bei
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Die Bedeutung dieser »Knotenpunkte disziplinarer Kommunikation« beruht gerade darauf, daß sie gefragt werden und damit die Gelegenheit erhalten, sich über bestimmte Wissenschaftler zu äußern; ihren Einfluß sollte man jedoch nicht überschätzen. Nicht selten erwecken ihre Stellungnahmen den Eindruck, als wenn sie nur formulierten, was ohnehin Konsens ist. Gewichtiger als positive Urteile dürften die ablehnenden Voten sein. Eher eine bezeichnende Ausnahme bildet jener Brief, mit dem der Historiker Fritz Kern am 19.2.1933 sein Fernbleiben von der Kommissionssitzung entschuldigt und in dem er von ihm eingeholte Stellungnahmen Julius Petersens über die drei Kandidaten Karl Vietor, Paul Kluckhohn und Günther Müller zitiert, damit sie der Ausschußvorsitzende Hans Bonnet den anderen Mitgliedern mitteilt (in: UA Bonn, PA Oskar Walzel). Vgl. auch das Protokoll der Sitzung der Kommission fur die Neubesetzung des Lehrstuhls für neuere Sprach- und Literaturgeschichte vom 22.2.1933, ebd. Zum Wandel gelehrter Korrespondenz vom Gedankenaustausch zur kurzen Mitteilung von Ereignissen und Bewertungen vgl. auch Friedrich Neumann, Rezension: Werner Richter und Eberhard Lämmert (Hrsg.), Wilhelm Scherer - Erich Schmidt. Briefwechsel, in: Anzeiger für deutsches Altertum 75 (1964), S. 125-135. Vgl. Rainer Kolk, »Wissenschaftspolizei«? Gutachten und Bewertungssystem in der Germanistik, in: Geist, Geld und Wissenschaft. Arbeits- und Darstellungsformen von Literaturwissenschaft. Hrsg. von Peter J. Brenner, Frankfurt/Main 1993, S. 357-383.
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den anderen Länderministerien. 34 Zwei Ausnahmen lassen sich für die Neuere deutsche Literaturwissenschaft während der Weimarer Republik nachweisen. Gegen den erklärten Willen der Fakultäten wurden nämlich Günther Müller 1930 nach Münster und Friedrich Gundolf 1920 nach Berlin berufen. Gundolf lehnte diesen Ruf bekanntlich ab - unter anderem aus der prinzipiellen Erwägung, daß man »die Autonomie des Lehrkörpers gegenüber den Machtsprüchen des Staates« wahren müsse, selbst wenn »die Vernunft auf Seiten der Behörde« sei und die Fakultät sich von Antisemitismus leiten lasse. 35 Gundolf spricht in diesem Zusammenhang von »Pogromradau, der jetzt alle Hörsäle von Juden füllt beim geringsten Anlass, selbst den des Weltruhmphysikers Einstein.« 36 1933 ändert sich die Lage in zwei Hinsichten. 37 Erstens nimmt der Staat jetzt sein Vorschlags- und Entscheidungsrecht geradezu exzessiv in Anspruch, das zudem seit 1934/35 in einem einzigen Ministerium zentralisiert wird. Zweitens tritt mit der N S D A P und ihren Gliederungen ein dritter Akteur auf, der auf allen Ebenen bei der Vergabe von Ämtern beteiligt sein will. So verlangt im Oktober 1933 die Hamburger Studentenschaft eine Mitwirkung an den Berufungsverfahren, weil »ausgerechnet nationalsozialistische Dozenten und Assistenten in grösstem Maße benachteiligt werden und dadurch in finanzielle Schwierigkeiten geraten«. 38 Im Juli 1934 verfügt der Stellvertreter des Führers die Schaffung einer Hochschulkommission, die auch Einfluß auf anstehende Berufungen nehmen soll. Wo der Staat derart zum Beuteobjekt der Partei wird, mögen andere Ministerien nicht zurückstehen. Wenig später verlangt das Reichsinnenministerium eine Mitwirkung bei der Besetzung juristischer Professuren.
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Vgl. GStA Berlin-Dahlem, Rep. 76 V a . Sekt. 1. Tit. IV.58, Bl. 90ff. - Im einzelnen: Hamburg hat sich stets daran gehalten; Sachsen ist in 3 Fällen von den Listen abgewichen, Thüringen in 4 Fällen (von 44). Friedrich Gundolf an Stefan George, 17.3.1920, in: Stefan George, Friedrich Gundolf, Briefwechsel. Hrsg. von Robert Boehringer und Georg Peter Landmann, München und Düsseldorf 1962, S. 342. Fr. Gundolf an St. George, 12.3.1920, ebd., S. 340. - Vgl. Wolfgang Höppner, Eine Institution wehrt sich. Das Berliner Germanische Seminar und die deutsche Geistesgeschichte, in: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Hrsg. von Christoph König und Eberhard Lämmert, Frankfurt/Main 1993, S. 362-380. Vgl. zum Folgenden Volker Losemann, Nationalsozialismus und Antike. Studien zur Entwicklung des Faches Alte Geschichte 1933-1945, Hamburg 1977, S. 52ff.; Reece C. Kelly, Die gescheiterte nationalsozialistische Personalpolitik und die mißlungene Entwicklung der nationalsozialistischen Hochschulen, in: Erziehung und Schulung im Dritten Reich. Teil 2: Hochschule, Erwachsenenbildung. Hrsg. von Manfred Heinemann, Stuttgart 1980, S. 61-76; Frank-Rutger Hausmann, Die nationalsozialistische Hochschulpolitik und ihre Auswirkungen auf die deutsche Romanistik von 1933 bis 1945, in: Deutsche und österreichisches Romanisten als Verfolgte des Nationalsozialismus. Hrsg. von Hans Helmut Christmann und Frank-Rutger Hausmann, Tübingen 1989, S. 9-54; Helmut Böhm, Von der Selbstverwaltung zum Führerprinzip. Die Universität München in den ersten Jahren des Dritten Reiches (1933-1936), Berlin 1995, S. 426ff. GStA Berlin-Dahlem, Rep. 76 V a . Sekt. 1. Tit. IV.58 (1920-34), Bl. 199ff.
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Im Reichs- und Preußischen Ministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung (REM) stoßen solche Ansprüche auf Widerstand, zumal sich mancher Ministerialbeamte gezwungen sieht, »sich über die politische Einstellung des betreffenden [...] Kandidaten belehren zu lassen von einer Seite, die selbst unseren Grundsätzen für derartige Beförderungen nicht einmal voll entspricht und den Beweis fur eine gefestigte nationalsozialistische Weltanschauung noch zu leisten hat.«39 In der Tat wecken zahlreiche Stellungnahmen erhebliche Zweifel an der Kompetenz der Parteiinstanzen; das betrifft keineswegs nur die Gutachten über die fachliche Qualifikation. Zwar erklärt der Preußische Ministerpräsident auf der Ministerratssitzung vom 16. Oktober 1934 ausdrücklich, daß es unzulässig sei, wenn »von parteiamtlicher Stelle den Beamten des Wissenschaftsministeriums disziplinarische Verfolgung durch die Partei in dem Fall angedroht« werde, »daß die Ernennung von Hochschulprofessoren ohne Genehmigung der Hochschulkommission der NSDAP erfolge.« 40 Zwar sucht das REM mit allen Mitteln seine Rechte zu wahren, dennoch gibt es dem Druck immer wieder nach. Das führt zu immer neuen, zu immer detaillierteren Regelungen für das Berufungsverfahren. 1935 soll nach folgendem Schema verfahren werden: 1. Aufforderung des Ministeriums zur Einreichung von Berufungsvorschlägen. 2. Aufstellung der Liste durch die Fakultät und Mitteilung an den Rektor. 3. Stellungnahme des Rektors zu diesem Vorschlag und Weiterleitung an die Länderregierung (in Preußen an den Kurator). 4. Stellungnahme der Länderregierung (in Preußen Kurator) und Weitergabe an das Reichswissenschaftsministerium. 5. Vorschlag des Referenten für die Besetzung an den Abteilungsleiter W I (gegebenenfalls vorher nochmalige Rückfrage bei den betreffenden Hochschulen). 6. Mitteilung der Berufungsabsicht an den Führer des NS-Dozentenbundes zwecks Stellungnahme durch den Abteilungsleiter W I. 7. Eingang der Stellungnahme des Führers des NS-Dozentenbundes beim Abteilungsleiter W I. 8. Rückleitung der Vorgänge mit der Stellungnahme des Führers des NS-Dozentenbundes an den Referenten mit entsprechenden Weisungen fiir die weitere Bearbeitung durch den Abteilungsleiter W I. 9. Abschluß der unverbindlichen Berufungsvereinbarung mit dem zu Berufenden durch den Referenten. 10. Vorlage des Berufiingserlasses sowie - soweit erforderlich - des Erlasses betr. Einholung der offiziellen Stellungnahme des Stellvertreters des Führers mit allen Vorgängen und Eignungsbericht über Abteilungsleiter W I, Amtschef W, Staatssekretär an den Herrn Minister zur abschließenden Zeichnung.
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Anfrage der Abteilungsleiter an den Reichserziehungsminister, 2.11.1934, in: ebd., Bl. 233; vgl. auch die Stellungnahme Bachers vom 2.11.1934, ebd., Bl. 234, und die Entscheidung des Ministers vom 7.12.1934, »dass Voten der Hochschulkommission erst bei Besetzung von planmässigen Stellen einzuholen sind, nicht also z.B. bei Erteilung eines Lehrauftrags, bei Ernennung zum nichtbeamteten ausserordentlichen Professor oder zum Privatdozenten« (ebd., Bl. 235). Ebd., Bl. 229f.
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11. Nach Fristablauf betreffend Stellungnahme des Stellvertreters des Führers Vorlage der Ernennungsurkunde beim Führer.41
Daß es bei diesem Verfahrensablauf nicht zu schnellen Ergebnissen kommen konnte, war dem REM durchaus bewußt. Denn schon wenige Jahre später wurde ein neues Schema festgelegt, auch um »eine schnelle Durchführung des gesamten Berufungsverfahrens zu sichern«. 42 Die immer detaillierteren Vorschriften zielen hier nur auf die Universität, beschleunigen jedoch nicht den Gang der Dinge im Ministerium und in den Parteistellen. Gerade dort aber wird mit hohem Personalund Zeitaufwand gearbeitet. Das fuhrt dazu, daß »etwa 10 % aller Lehrstühle dauernd unbesetzt bleiben«. Diese Zahl stammt aus einem Brief, in dem das REM am 23. März 1945 - also nur wenige Wochen vor der Kapitulation - die Forderung der Partei-Kanzlei zurückweist, nicht nur bei Erstberufungen, sondern bei allen Berufungen eine politische Stellungnahme einzuholen, was »die Zahl der dauernd unbesetzten Professuren [...] mindestens auf 20 % aller Lehrstühle stiegen« ließe.« Die Vielzahl der Vakanzen beschert zunächst vielen (Privat-)Dozenten ein »Vagantenleben« (Lugowski) mit raschen Universitätswechseln von einem Ende des Deutschen Reiches zum anderen. Ob in solchen Lehrstuhlvertretungen »das Karrieresprungbrett für junge Privatdozenten« zu sehen sei, wie Thomas Laugstien für die Philolosophie behauptet, 44 wäre noch zu prüfen. Für die Betroffenen bedeutet es eine erhebliche Belastung, wie selbst der überzeugte Nationalsozialist Clemens Lugowski feststellen muß: »Ich habe ja in meiner ganzen Lehrtätigkeit bisher noch kein einziges einigermassen normales Dozenten-Semester ohne Gehetztheit erlebt«. »Es ist unglaublich, was uns jüngeren Dozenten zugemutet wird. Die Hälfte der grossen Ferien geht fur den Wehrdienst drauf. Wann ich in diesen Verhältnissen wieder zu wirklicher eigener Forschungsarbeit kommen werde, weiss ich nicht.« 45 Nach Vertretungen in Heidelberg, Göttingen und Königsberg kommt
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Der Leiter der REM-Hochschulabteilung Franz Bacher an die Herren Personalreferenten bei W I, 12.11.1935, in: GStA Berlin-Dahlem, 1. HA, Rep. 76, Nr. 262, Bl. 28f. REM, betr.: Verfahren bei Besetzung von Lehrstühlen, Gang des Berufungsverfahrens, 14.5.1938, in: GStA Berlin-Dahlem, I. HA, Rep. 76, Nr. 212, Bl. 21f. REM an den Leiter der Partei-Kanzlei, betr.: Berufung planmäßiger Hochschullehrer von einer Hochschule an eine andere, 23.3.1945, in: ebd., Bl. 54. Thomas Laugstien, Philosophieverhältnisse im deutschen Faschismus, Hamburg 1990, S. 100. Clemens Lugowski an Paul Kluckhohn, 6.10.1937 und 17.3.1938, zitiert nach: Matias Martinez, »Es ist unglaublich«. Ein Briefwechsel zwischen Paul Kluckhohn und Clemens Lugowski, in: Marbacher Arbeitskreis für Geschichte der Germanistik. Mitteilungen 5 (1993), S. 20-22, S. 22. - Auf die Folgen dieser Praxis fiir die Studenten weist der Heidelberger Dekan Hermann Güntert hin: »Das System fortwährender Vertretungen, dazu in so grundlegenden Fächern wie deutscher Philologie und Literatur, hat eine ständig zunehmende Abwanderung der Studierenden zur Folge, die nichtwissen [sie!], bei wem sie auf länger arbeiten können und wer sie bei Promotion und Staatsexamen prüft« (Güntert an den Heidelberger Rektor, 14.7.1936 [Abschrift], in: GLA Karlsruhe 235, No. 29881, unpag.).
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Lugowski im Sommersemester 1939 nach Kiel; hier verzögert sich die zugesagte Berufung, so daß sich sein Fachkollege Fricke am 2. September 1939 an das REM wendet, um für den mittlerweile zum Heeresdienst Einberufenen entweder die Verlängerung der Vertretung oder die Ernennung zu erreichen. 46 In den späten dreißiger Jahren scheint es zur Regel zu werden, die zu Berufenden ihre eigenen Stellen vertreten zu lassen, bis das Verfahren abgeschlossen ist, so z.B. Paul Böckmann in Heidelberg (1937-38), Heinz Otto Burger in Danzig (1937-39), Erich Trunz in Prag (1939 41), Fritz Martini in Stuttgart (1943-44), Friedrich Beißner in Gießen ( 1 9 4 3 ^ 4 ) . Diese Praxis dürfte auch finanzpolitisch motiviert gewesen sein, zumal des öfteren die Ordinariate zunächst zu Extraordinariaten herabgestuft wurden, um sie dann wieder aufzuwerten. Was das konkret bedeutet, sei an einem Beispiel erläutert: Nachdem Fritz Martini im Frühjahr 1943 seinen Probevortrag mit Erfolg absolviert hatte, ging Mitte September 1943 im REM das Formblatt für seine Ernennung zum a.o. Professor für »Deutsche Literatur und Ästhetik« an der TH Stuttgart ein. Zu diesem Zeitpunkt hätte er bereits seine eigene Stelle vertreten sollen, wenn er »u.k.« gestellt oder aus dem Wehrdienst entlassen worden wäre. Fünf Monate benötigte die Partei-Kanzlei für die Zustimmung, weitere drei Monate dauerte es, bis der Führer die Ernennungsurkunde unterschrieb. Dem inzwischen etwas beunruhigten Martini bestätigte ein Ministerialbeamter unterdessen, daß die Angelegenheit »laufend bearbeitet worden« sei und daß er sich keine Sorgen machen müsse, ja er wünsche dem Gefreiten - mit Datum vom 17. April 1944 - »für Ihren Osteinsatz alles Gute.« 47
4. Das erste Berufungsverfahren in der Neueren deutschen Literaturwissenschaft, das nach der NS-Machtergreifung abgeschlossen wird, kommt zu einem Ergebnis, das sich in fachlicher Hinsicht sehen lassen kann und das von den historischen Umständen unberührt scheint. Der Berliner Extraordinarius Max Herrmann, der nach seinem Protest gegen die antisemitische Hetze vorzeitig in den Ruhestand versetzt wurde, beteiligt sich in der Kommission an der Suche nach einem Nachfolger; 48 erst mit Rundschreiben vom 5. April 1934 wird eine solche Praxis offiziell
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Gerhard Fricke an den Kurator der Universität Kiel, 2.9.1939, in: GStA Berlin-Dahlem, I. HA, Rep. 76, Nr. 726, Bl. 248. Erich Hofmann, REM, an Fritz Martini, 17.4.1944, in: Universität Stuttgart, Rektoramt, PA Martini; dort auch die Belege für dieses Beispiel. - Frau Martini danke ich für die Erlaubnis, diese Quelle einsehen und benutzen zu dürfen. Der Dekan der Phil. Fak. der Universität Berlin an den Preuß. Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 1.8.1933, in: UA HUB, Phil. Fak., Nr. 1477, Bl. 352. Herrmann votierte übrigens für 1. Beutler, 2. Pongs, 3. Fricke, ebd., Bl. 330. - Zumindest Karl Vietor hat noch 1937 Einfluß auf die Berufung von Walther Rehm als seinem Nachfolger
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untersagt. 49 A u f der am 29. Juli 1933 erstellten Liste 50 rangieren auf Platz 1 Ernst Beutler, der 1937 seine Honorarprofessur in Frankfurt verlor, 51 und auf Platz 3 Richard Alewyn, der nicht einmal einen Monat später aufgrund des »Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« in Heidelberg entlassen wurde. 52 A m 18. Juli stand noch Hermann Pongs auf Platz 3 der Liste. 53 Ob diese überraschende Plazierung von A l e w y n als eine politische Stellungnahme zu deuten ist oder als Verkennung der nationalsozialistischen Politik, vermag ich nicht zu sagen; ich nehme jedoch an, daß letzteres der Fall gewesen ist. Berufen wird indessen der zweitplazierte Gerhard Fricke, der kurz zuvor in Göttingen mit der Rede zur Bücherverbrennung hervorgetreten ist. 54 Fricke wird damit nicht nur der erste unter dem N S - R e g i m e berufene Professor fur Neuere deutsche Literatur, sondern damit beginnt auch seine Karriere als der mit Abstand am häufigsten genannte Kandidat auf den Berufungslisten der NS-Zeit. 5 5 Nicht nur die Heidelberger Kommission ist der Meinung, daß »er die einzige Forscherpersönlichkeit ist, die z.Zt. restlos nach allen Seiten den augenblicklichen Anforderungen fur den Inhaber der literaturgeschichtlichen Professur [ . . . ] entspricht.« 56 1933 steht er auf Platz 1 bei der Witkowski-Nachfolge in Leipzig und auf Platz 2
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genommen; gleiches ist auch bei Walther Brecht zu vermuten, dessen Schüler Herbert Cysarz nach München berufen wurde. Rundschreiben des REM vom 5.4.1934, in: GStA Berlin-Dahlem, I. HA, Rep. 76 Va, Sekt 1, Titel IV, Nr. 58 (1920-34), Bl. 206: »Es erscheint nicht mehr angängig, die emeritierten nichtarischen Professoren zu den Fakultätssitzungen und Kommissionsberatungen (insbesondere Berufungskommissionen) sowie den Sitzungen des Großen Senats zuzulassen, da sich an verschiedenen Hochschulen erhebliche Schwierigkeiten ergeben haben.« Der Dekan der Phil. Fak. der Universität Berlin an den Preuß. Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 29.7.1933, in: UA der Humboldt-Universität Berlin, Phil. Fak., Nr. 1477, Bl. 345-352. Christoph Pereis, Ernst Beutler, das Freie Deutsche Hochstift und die UniversitätsGermanistik, in: Zur Geschichte und Problematik (Anm. 14), S. 579-590, S. 585f. Birgit Vezina, »Die Gleichschaltung« der Universität Heidelberg im Zuge der nationalsozialistischen Machtergreifung, Heidelberg 1982, S. 48. UA der Humboldt Universität Berlin, Phil. Fak., Nr. 1477, Bl. 330. Vgl. Albrecht Schöne, Göttinger Bücherverbrennung 1933. Rede am 10. Mai 1983 zur Erinnerung an die »Aktion wider den undeutschen Geist«, Göttingen 1983; Gerhard Sauder, Akademischer »Frühlingssturm«. Germanisten als Redner bei der Bücherverbrennung, in: 10. Mai 1933. Bücherverbrennung in Deutschland und die Folgen. Hrsg. von Ulrich Walberer, Frankfurt/Main 1983, S. 140-159, S. 149ff. Die Tatsache erwähnt das Heidelberger Gutachten: Der Dekan der Phil. Fak. an den Rektor der Universität Heidelberg, Wilhelm Groh, 1.3.1934, in: GLA Karlsruhe 235, Nr. 29881: »Die Studenten hängen sehr an ihm; schon als Göttinger Privatdozent hat er voriges Jahr die Rede bei der Verbrennung der Schundliteratur gehalten.« Vgl. Gudrun Schnabel, Gerhard Fricke. Karriereverlauf eines Literaturwissenschaftlers nach 1945, in: Deutsche Literaturwissenschaft 1945-1965. Fallstudien zu Institutionen, Diskursen, Personen. Hrsg. von Petra Boden und Rainer Rosenberg, Berlin 1997, S. 6 1 84, S. 62ff. Der Dekan der Phil. Fak. der Universität Heidelberg (Anm. 54). Dieser Satz schließt unmittelbar an das obige Zitat über die Bücherverbrennung an.
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in Rostock (Golther-Nachfolge). Im gleichen Jahr fuhrt er in Bonn (WalzelNachfolge) die Reihe jüngerer Dozenten an (Rudolf Fahrner, Benno von Wiese, Max Kommereil). 5 7 In Würzburg wird er 1934 nicht genannt, 58 weil er einen Ruf nach Heidelberg (Alewyn-Nachfolge) erhalten hat; er folgt jedoch dem nach Kiel (Liepe-Nachfolge). 1936 steht er erneut in Heidelberg auf Platz 1, 1938 in München auf Platz 2, 1939 in Königsberg auf der Liste (der Rang konnte nicht ermittelt werden). Bei der Petersen-Nachfolge in Berlin (1941/42) und bei der UngerNachfolge in Göttingen (1942/43) wird er nur deshalb nicht berücksichtigt, weil er gerade an die neue Reichsuniversität Straßburg (1941) gewechselt ist. 59 Der außergewöhnliche Erfolg von Fricke beruht zum einen darauf, daß er Stellen an Universitäten besetzt, die eine Verbesserung seiner Position erlauben. Das unterscheidet ihn etwa von Franz Koch, der mit einem Ordinariat in Berlin schnell eine Stellung innehat, die von anderen Hochschulen kaum überboten werden kann. Er steht für einen Wechsel im Grunde nicht mehr zur Verfugung. Zum anderen verbindet Fricke in besonderer Weise fachliche Leistungen mit politischem Engagement, so daß er sowohl in der scientific community wie in Partei und Ministerium Anerkennung findet. Das unterscheidet ihn etwa von Josef Nadler, dessen Name gewöhnlich fallt, wenn von NS-Literaturwissenschaft die Rede ist. Schon in den zwanziger Jahren wird Nadler (zusammen mit Fritz Strich) eher von den Ministerien in Betracht gezogen, die damit auf die öffentliche Resonanz seiner Publikationen reagieren, als von den Berufungskommissionen, die ihn fast ausnahmslos heftig ablehnen. 60 Daran ändert sich nach 1933 wenig, allenfalls der Ton fallt moderater aus. 61 Ebenfalls massive Vorbehalte gegen Nadler gibt es in der
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Protokoll der Sitzung der Kommission für die Nachfolge Walzel, 3.11.1934, in: UA Bonn, PA Walzel. Vgl. Joseph Vogt, Dekan der Phil. Fak. der Universität Würzburg, an Paul Kluckhohn, 2.4.1934, in: DLA Marbach, A: DVjs-Kluckhohn 78.9345/1. Ulrich Hunger, Germanistik zwischen Geistesgeschichte und »völkischer Wissenschaft«: Das Seminar für deutsche Philologie im Dritten Reich, in: Die Universität Göttingen unter dem Nationalsozialismus. Hrsg. von Heinrich Becker u.a., München u.a. 1987, S. 272-297, S. 285. Vgl. das ablehnende Votum der Breslauer Philosophischen Fakultät vom 12.5.1924, das nicht allein wissenschaftliche Bedenken vorträgt, sondern, was eher selten ist, auch politische: »Natürlich weisen wir jede Erwägung parteipolitischer Art bei Fragen der Besetzung wissenschaftlicher Lehrstühle weit von uns; Auffassungen jedoch wie die von Nadler gelegentlich vorgetragenen, z.B. über Fichtes, des Redners an die deutsche Nation, >slavische Verschlagenheit^ über Friedrich den Grossen als >einen französischen König, der seine deutsche Sendung auch nicht stützen konnte als auf die Siege seines Heeres über Kaiser und ReichsarmeeGeorgitenseinen Kräften entsprechend< im Sinne der Bewegung«, so der Münchner Gaudozentenfuhrer (Anm. 99), was von den Erlangern wiederum bestritten wird (ebd.). »Den letztgenannten [von Wiese] möchte ich hier von vorneherein ausschalten, da er von der Universität Erlangen für die dortige Literaturgeschichtsprofessur, die er zur Zeit vertritt, gewünscht wird«, so das Bayer. Staatsministerium für Kultus und Unterricht an das REM, 31.1.1936, in: BayHStA, Mk V vorl. Nr. 2558. Vgl. Karl Vietor an Erich Rothacker, 25.6. und 17.7.1933, in: UB Bonn, Handschriftenabteilung: Rothacker I; Benno von Wiese an Richard Alewyn, 31.1., 28.2. und 16.3.1935, in: DLA Marbach, A: Alewyn.
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ernstlich für die Stelle nicht in Frage komme. 104 Zuvor hatte übrigens eine Ministerialverordnung klargestellt: »Der Lehrstuhl Witkowski soll mit einem Forscher besetzt werden, der nicht nur Literarhistoriker oder Essayist, sondern Kämpfer für das Deutschtum gegen fremde Einflüsse ist.«105 Walther Linden kam 1934 in Heidelberg bei der Alewyn-Nachfolge nicht in Betracht, weil er »noch nicht habiliert [sie!] ist, ihm also die Lehrerfahrung mangelt, auf die es hier gerade besonders ankommt«. 106 Gegen Heinrich Kraeger, über den sich die Berliner Fakultät erneut anläßlich der Nachfolge von Gerhard Fricke 1934/3 5 äußern sollte, sprachen gleich mehrere Gründe. Es lasse sich »leider nicht leugnen, dass die im Sommersemester 1934 unter günstigsten Umständen aufgenommene Lehrtätigkeit Kraeger's zu einer in stetigem Besucherrückgang sich ausdrückenden Enttäuschung der Studierenden und zu einem sowohl für die Person als für die Sache höchst bedauerlichem [sie!] Misserfolg geführt hat. [...] Es ist anzunehmen, dass Professor Kraeger's schöner Enthusiasmus in diesen beiden Semestern sein Bestes gegeben hat; um so mehr muss bezweifelt werden, dass er im Stande sein würde, den grossen Umfang an wissenschaftlichem Stoff, den dieses Extraordinariat voraussetzt, zu beherrschen.« Zum Mißerfolg als Lehrer und Forscher komme hinzu, daß eine Entwicklung zum Besseren bei Kraeger nicht zu erwarten sei, da er »in diesem Jahr die gesetzliche Altersgrenze« erreiche: »Seine Ernennung würde also bereits mit seiner Emeritierung zusammenfallen.« 107 Gewisse Mindestanforderungen wie Habilitation, Publikationen, Lehrerfahrungen usw. müssen weiterhin erfüllt werden. Doch selbst wenn dies der Fall ist, muß es nicht zu einer Berufung kommen. In Kiel waren 1933/34 beide Lehrstühle wegen der Versetzung von Wolfgang Liepe und Carl Wesle neu zu besetzen.108 Für den Lehrstuhl für Neuere deutsche Sprache und Literatur wünschte das Ministerium, die Vorschlagsliste (Gerhard Fricke, Karl Justus Obenauer, Hermann Gumbel) um Max Kommereil zu erweitern. Die treibende Kraft dabei dürfte der Kieler Rektor Wolf gewesen sein.109 Dagegen wendet sich die Fakultät, weil sie auf
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Vorschlagsliste der Kommission vom 30.10.1933, in: UA Leipzig, Phil. Fak. B2 20/24 1930-1934. Vgl. auch ebd., die PA Phil. Fak. Alfred Hübner. 105 Ebd. 106 Der Dekan der Phil. Fak. an den Rektor der Universität Heidelberg, Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturgeschichte betr., 1.3.1934, in: GLA Karlsruhe, 235, No. 29881, unpag. 107 Vorschlagsliste für die Nachfolge von Gerhard Fricke vom 10.1.1935, in: UA der Humboldt-Universität zu Berlin, Phil. Fak., Nr. 1480, Bl. 75-83, 75ff.; vgl. auch das Kommissionsprotokoll vom 27.11.1934, in: ebd., Bl. 61. 108 v g l Erich Hofmann, Philologie: IV. Germanistik, in: Geschichte der Christian-AlbrechtsUniversität Kiel 1665-1965. Bd. 5: Geschichte der Philosophischen Fakultät. Teil 2. Bearbeitet von Karl Jordan und Erich Hofmann, Neumünster 1969, S. 183-235, S. 226ff. 109 Karl Lothar Wolf, Rektor der Universität Kiel, an das REM, 3.7.1934, in: GStA BerlinDahlem, 76 Va. Sekt. 9. Tit. IV, Nr. 726, Bl. 38: »Ich würde im Falle einer Ablehnung des bereits ergangenen Rufes durch Herrn Fricke eine Berufung von Herrn Kommereil dringend für erwünscht halten und würde meinerseits im Interesse einer einheitlichen Gestaltung der Kieler Universität darum bitten, daß Herr Kommereil den Herren Obenauer und
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keinen Fall die Berufung von Gerhard Fricke und ihre eigene Liste gefährden möchte: »Wenn keiner der vorgeschlagenen Herren für Kiel in Betracht kommen sollte, dann sieht die Fakultät allerdings in Herrn Kommerell einen fur den Lehrstuhl Nächstqualifizierten.«110 Kaum einen Monat später erscheint Kommereils Name auf der Liste für die Wiederbesetzung des altgermanistischen Lehrstuhls, die keinerlei Rangeinstufung der Vorgeschlagenen (neben Kommerell: Helmut de Boor, Otto Höfler, Jost Trier) vornimmt.111 Im beiliegenden Gutachten formuliert die Fakultät allerdings ihre Zweifel, ob Kommereil die Mediävistik überhaupt angemessen vertreten könne, obwohl er sich durch seine ungedruckte Habilitationsschrift über die Metrik des Hildebrandliedes auf diesem Gebiet ausgewiesen hat.112 Deutlicher noch ist in dieser Hinsicht das Separatvotum des Nordisten Walther Heinrich Vogt: »Die für das ältere Gebiet entstehende Lücke brächte einen nicht zu ermessenden Schaden, der umso empfindlicher, ja verhängnisvoll sein wird, da das Deutsche [sie!] Altertum mit neuer Liebe gesucht wird.« Zur Bekräftigung fügt Vogt schließlich jene mittlerweile zum Topos geronnene Unterstellung hinzu, die traditionelle Philologen gegen Wissenschaftler aus dem George-Kreis hegen: »Der Stil, den Kommerell in seinen letzten beiden Büchern schreibt, gibt nicht die Gewähr, dass er die Studenten in die rechte sprachliche und damit gedankliche Zucht nehmen wird.«113 Die Gründe, die gegen eine Berufung von Kommerell nach Kiel sprechen, machen deutlich, daß mit einer Änderung der Denomination allein die Binnendifferenzierung der Germanistik nicht rückgängig gemacht werden kann. Denn in Kiel wurde bewußt der Versuch gemacht, den »Lehraw/Zrag für beide Professuren auf das Gesamtgebiet der deutschen Philologie« auszudehnen, um dann konstatieren zu müssen, daß »mit einer solchen Beauftragung eine wirkliche Gesamt Vertretung noch in keiner Weise gewährleistet« sei.114 Die Spezialisierung der Wissenschaftler steht dem entgegen. Insofern kann die Entscheidung für bestimmte Personen einer
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Gumbel vorgezogen wird.« Vgl. auch K. L. Wolfs Brief an Theodor Vahlen, REM, 5.9.1934, in: ebd., Bl. 62. Der Dekan der Phil. Fak. an den Rektor der Universität Kiel, 2.7.1934, in: GStA BerlinDahlem, 76 Va. Sekt. 9. Tit. IV, Nr. 726, Bl. 39. Der Dekan der Phil. Fak. der Universität Kiel an den Preuß. Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 4.8.1934, in: GStA Berlin-Dahlem, 76 Va. Sekt. 9. Tit. IV, Nr. 1, Bd. 23, Bl. 563-573, Bl. 563. Ebd., Bl. 570f. Separatvotum von Walther Heinrich Vogt an den Preuß. Minister fur Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 31.7.1934, ebd., Bl. 574. Der Dekan der Phil. Fak. der Universität Kiel an den Preuß. Minister fur Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 4.8.1934, in: GStA Berlin-Dahlem, 76 Va. Sekt. 9. Tit. IV, Nr. 1, Bd. 23, Bl. 563-573, Bl. 570. - Eine solche Denomination gab es sonst nur in Tübingen. Vgl. dazu auch den Brief von Paul Kluckhohn an Carl Wesle vom 10.11.1933 (in: DLA Marbach, A: DVjs-Kluckhohn 78.9413/2), der eine Differenzierung in Sprach- und Literaturwissenschaft für sinnvoller hält. Für die Besetzung der Stelle schlägt er übrigens Gerhard Fricke vor, danach Franz Koch, Benno von Wiese, auch Karl Justus Obenauer; von Max Kommereil rät er eher ab wegen angeblich mangelnder Objektivität. In einem späteren Brief (15.11.1933, ebd., 78.9413/3) empfiehlt er noch Herbert Cysarz.
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Umwidmung der Stelle gleichkommen. Das passiert z.B. in Leipzig bei der Witkowski-Nachfolge, wo die Liste vom 30. Oktober 1933 platzt, weil Fricke nicht zur Verfügung steht und das Sächsische Ministerium Benno von Wiese und Karl Justus Obenauer ablehnt. Auf Vorschlag von Arthur Hübner wird mit Alfred Hübner ein Mediävist berufen (auf der Liste stehen außerdem Josef Quint und Hermann Gumbel); damit geht dieses Extraordinariat der Neueren deutschen Literaturwissenschaft verloren. Gleiches droht auch in Heidelberg, wo das Ministerium 1937 eine Berücksichtigung der Altgermanisten Hans-Friedrich Rosenfeld, Hennig Brinkmann und Richard Kienast fordert, was aber abgewendet werden kann. 115 Ob hinter solchen Vorschlägen ein Konzept gestanden hat, darf bezweifelt werden. Allerdings vergrößern sich mit der veränderten oder erweiterten Denomination die Spielräume bei der Besetzung der Stellen. Fricke konnte wohl nur deshalb für Kiel gewonnen werden, weil er dort ein Ordinariat erhielt, was durch die Herabstufung der Altgermanistik auf ein Extraordinariat ermöglicht wurde. Später dürfte die Denomination für die gesamte Germanistik die Besetzung des (altgermanistischen) Extraordinariats mit Clemens Lugowski ebenso erleichtert haben wie nach Frickes Weggang den Wechsel auf dessen Lehrstuhl." 6
7. Um 1936/37 ist das Scheitern der bisherigen Berufungspolitik, ja der gesamten nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik unübersehbar. Das konstatieren unabhängig voneinander gleich eine ganze Reihe unterschiedlicher Parteistellen in seltener Einmütigkeit. 117 Den programmatischen Ankündigungen folgten nicht die versprochenen Leistungen. Es dominierten weiterhin der alte Betrieb und die ältere Wissenschaftlergeneration. Die Versuche, durch Schulung und Auslese eine neue, nationalsozialistische Hochschullehrergeneration zu schaffen, erzeugten vielmehr einen Mangel an akademischem Nachwuchs, der in fast allen Disziplinen gegen Ende der dreißiger Jahre immer spürbarer wurde. Daher rückte man von den bis115
REM an den Badischen Minister des Kultus und Unterrichts, 29.7.1936 [Abschrift], in: GLA Karlsruhe, 235, Nr. 29881 unpag.; Günther Franz, Dekan der Phil. Fak., an den Rektor der Universität Heidelberg, 8.9.1936, ebd.; REM an den Badischen Minister des Kultus und Unterrichts, 28.9.1936, ebd.; Der Badische Minister des Kultus und Unterrichts an das REM, 13.10.1936, ebd.
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Vgl. Anm. 134; sowie H. Heiber, Universität unterm Hakenkreuz (Anm. 69), S. 238ff. Ernst Anrieh plante ursprünglich die »Gruppe Höfler-Lugowski-Fricke-GutenbrunnerRössner« als Germanisten nach Straßburg zu berufen (S. 238). Vgl. R. C. Kelly, Die gescheiterte nationalsozialistische Personalpolitik (Anm. 37); Aharon F. Kleinberger, Gab es eine nationalsozialistische Hochschulpolitik?, in: Erziehung und Schulung im Dritten Reich (Anm. 37), S. 9 - 3 0 , S. IlfT.; sowie für die Germanistik Holger Dainat, Anpassungsprobleme einer nationalen Wissenschaft. Die Neuere deutsche Literaturwissenschaft in der NS-Zeit, in: Atta Troll tanzt noch. Selbstbesichtigungen der literaturwissenschaftlichen Germanistik im 20. Jahrhundert. Hrsg. von Petra Boden und Holger Dainat, Berlin 1997, S. 103-126, S. 105f.
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herigen Grundsätzen der Wissenschaftspolitik ab. Das galt zum Beispiel für das »Prinzip« der Erstberufung. Als Heinz Kindermann 1936 von Danzig nach Münster und Herbert Cysarz 1938 von Prag nach München 118 »heim ins Reich« kehrten, dürfte - zumindest bei Kindermann - der akute Devisenmangel noch eine zentrale Rolle gespielt haben. Spätestens in den vierziger Jahren werden Universitätswechsel wieder üblich: Hans Pyritz geht von Königsberg nach Berlin (1942), Hermann Pongs von Stuttgart nach Göttingen (1943), Benno von Wiese von Erlangen nach Münster (1943), Walther Rehm von Gießen nach Freiburg (1943), außerdem Fricke von Kiel nach Straßburg (1941) an die neue Reichsuniversität und Kindermann von Münster nach Wien (1943) auf einen eigens für ihn geschaffenen Lehrstuhl für Theaterwissenschaft. 119 Mit dem Wechsel der Hochschulen kommt das Personalkarrussell in Bewegung, weil freigewordene Stellen neu zu besetzen waren. Jetzt erhalten - und das ist gravierender - die Vorschläge der Fakultäten und damit die fachliche Qualifikation wieder größeres Gewicht. 120 Als der Rektor der Universität Erlangen am 7. Oktober 1943 die Vorschläge zur Nachfolge von Benno von Wiese an das Bayerische Kultusministerium (1. Heinz Otto Burger, 2. Wolfgang Kayser, 3. August Langen) weiterleitet, liegt dem Fakultätsbericht ein ganzes Bündel von Stellungnahmen bei.121 Im Unterschied zum oben erwähnten Würzburger Verfahren von 1935 handelt es sich jetzt fast ausschließlich um fachwissenschaftliche Gutachten, während sich die politische Beurteilung auf einen einseitigen Bericht des Erlanger Dozentenschaftsleiters beschränkt. Daß der erstplazierte Heinz Otto Burger kein Mitglied der NSDAP ist (und dieser Partei auch später nicht beitritt), stellt keinen Hinderungsgrund für die Berufung (zum 1. Juli 1944) dar. Auf eine politische Überprüfung wird nicht verzichtet, aber die Ansprüche werden gesenkt. Zugleich nehmen die Interventionen der Ministerien tendenziell ab. Eine Ausnahme bildet die Berufung von Clemens Lugowski nach Kiel (HöflerNachfolge). Nach einem Gespräch von Heinrich Harmjanz (REM) mit Gerhard Fricke am 2. März 1939 ergänzt der Kieler Dekan Oskar Schmieder bereits am 10. März 1939 die von zahlreichen Fachgutachten begleitete Liste vom 10. Januar 118
Vgl. dazu auch den Brief von Herbert Cysarz an Paul Kluckhohn, 21.7.1938, in: DLA Marbach, A: DVjs-Kluckhohn 78.9418/1. 119 Mechthild Kirsch, Heinz Kindermann - ein Wiener Germanist und Theaterwissenschaftler, in: Zeitenwechsel (Anm. 12), S. 4 7 - 5 9 . 120 Yg] r Q Kelly, Die gescheiterte nationalsozialistische Personalpolitik (Anm. 37), S. 68 und S. 73. 121 Der Rektor der Universität Erlangen an den Bayer. Staatsminister für Kultus und Unterricht, 7.10.1943, in: BayHStA MK V vorl. Nr. 1904. - Es handelt sich im einzelnen um Gutachten über Burger von Paul Kluckhohn (15.7.1943) und Hermann Pongs (17.7.1943), über Kayser und Burger von Robert Petsch (23.7.1943) und Wolfdietrich Rasch (22.7.1943), über Kayser, Burger und Langen von Heinz Kindermann (17.7.1943), über Kayser von Harri Meier (18.7.1943), über Langen von Heinrich Hempel (11.8.1943) und Theodor Heinermann (17.7.1943) und erneut über Langen von Kindermann (21.7.1943).
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1939 (1. Franz Rolf Schröder - Carl Wesle, 2. Heinrich Hempel, 3. Kurt Halbach) um den Namen Lugowskis, der schon zum 1. April den Lehrstuhl vertritt, aber erst am 22. Januar 1940 rückwirkend zum 1. November 1939 berufen wird. Das REM konnte hier die im Fakultätsvorschlag erwähnte schlechte Nachwuchslage in der Germanistik sowie Unstimmigkeiten in den Fachgutachten dazu benutzen, um Probleme zu lösen, die sich bei der Ernennung von Lugowski als HankamerNachfolger in Königsberg ergeben hatten. 122 Dieses Beispiel zeigt auch ein reibungsloseres Zusammenspiel zwischen den beteiligten Instanzen. Das gemeinsame Interesse an ruhigen und zweckmäßigen Hochschulen - die Qualifikation Lugowskis 123 wie seine politische Einstellung unterliegen keinerlei Zweifel - mag zur Entpolitisierung beitragen, es steigert jedenfalls die Effizienz der Universitäten in der und fur die NS-Diktatur. Dies muß stets beachtet werden, wenn Eingriffe in das »Selbstergänzungsrecht« der Hochschulen abgewiesen werden. Bei der Nachfolge von Johannes Alt in Würzburg lehnt 1940 die Fakultät einmütig - und mit Erfolg - den vom R E M wiederholt genannten Hans Heinrich Borcherdt ab; 124 berufen wird der (zusammen mit Benno von Wiese) zweitplazierte Wolfdietrich Rasch, der die Stelle bereits vertreten hatte. Wenn der erstplazierte Walther Rehm wie schon zuvor nicht berücksichtigt wird und das Bayerische Kultusministerium dabei erneut auf die mittlerweile ausgeräumten (!) Zweifel verweist, 125 so haben sich doch die Lage und Rehms Verhalten erheblich verändert. Er ist nämlich mittlerweile Ordinarius in Gießen und steht in Marburg auf Platz 1 der Vorschlagsliste (unico loco). Zugleich bemüht er sich in Briefen an das Bayerische Kultusministerium (vom 22. August 1940) und an Heinrich Harmjanz vom R E M (vom 10. September 1940) um seine Wegberufung aus Gießen; sogar für Straßburg, so heißt es, habe er sich als »der richtige Mann« empfohlen. 1 2 6 Wegen dieses Vorgehens, das »unter Umgehung des Dienstwegs« erfolgt und »mit den akademischen Gepflogenheiten nicht in Einklang zu bringen« sei, habe »Professor Dr. Rehm mit einer Berufung an einen anderen Hochschulort nicht zu rechnen.« Keine drei Jahre später wird er zum Ordinarius in Freiburg ernannt.
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Zu diesem Vorgang vgl. Oskar Schmieder, Dekan der Phil. Fak. der Universität Kiel, an das REM, 10.1.1939; dass., 10.3.1939; Heinrich Harmjanz, Zu WP Lugowski, 13.3.1939; REM an Lugowski, Ernennung zum a.o. Professor, 22.1.1940, in: GStA Berlin-Dahlem, I. HA, Rep. 76, Nr. 726, Bll. 194-196, Bl. 221, Bl. 223 und Bl. 256. Zur gegenwärtigen Auseinandersetzung mit Lugowskis Theorie vgl. Formaler Mythos. Beiträge zu einer Theorie ästhetischer Formen. Hrsg. von Matias Martinez, Paderborn u.a. 1996. Vgl. das maßgebliche Gutachten von Franz Rolf Schröder vom 24.5.1940, in: BayHStA MK 44166. Das Bayer. Staatsministerium für Unterricht und Kultus an das REM, 10.8.1940, in: BayHStA MK 44166. Man beachte die Formulierung: »Die auf meine Veranlassung ergänzten Gutachten der Dozentenschaften lassen Rehm nicht als ungeeignet, die übrigen als geeignet erscheinen.« REM an das Bayer. Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 24.9.1940, in: BayHStA MK 44166. Dort auch das folgende Zitat.
Zur Berufungspolitik in der Neueren deutschen Literaturwissenschaft
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Mit dem Namen Rehms verbindet sich in der Neueren deutschen Literaturwissenschaft auch die Wende in der nationalsozialistischen Berufungspolitik, die mit der Vietor-Nachfolge 1937/38 in Gießen erfolgt. 127 Seitdem kommen nämlich auch diejenigen zum Zuge, deren Weiterkommen zu Beginn der NS-Herrschaft behindert wurde. Sowohl gegen den erstplazierten Rehm wie gegen den drittplazierten Max Kommerell wurden bislang starke politische Bedenken geäußert (s.o.). Das verschweigen die entsprechenden Gutachten auch jetzt nicht. Über Rehm heißt es: »Nach einigen Differenzen im Jahre 1933 hat er sich ehrlich und mit bestem Erfolg bemüht, sich auf den Boden des Nationalsozialismus zu stellen und positiv mitzuarbeiten. [...] Die Dozentenschaft hebt weiter hervor: Er hat sich Ostern freiwillig zur Dozentenakademie Darmstadt gemeldet und hat sich dort, körperlich im Waldlauf und geistig durch selbstsichere Standpunktverteidigung gut bewährt, sowie stets kameradschaftliche Gesinnung gezeigt.« 128 Sogar »kulturpropagandistisch« habe er sich betätigt. Und über Kommereil, dem Alfred Baeumler 1935 keinen »Lehrstuhl im Staate Adolf Hitlers« (s.o.) anvertrauen wollte, urteilt 1937 der Frankfurter Rektor: »Der Leiter der hiesigen Dozentenschaft [...] hat wegen dieser Vorfalle auch heute noch Bedenken. Von dem Studentenführer dagegen ist mir erklärt worden, dass Dr. K. sich in der letzten Zeit aktiv an der Fachschaftsarbeit beteilige, auch Lager mit Studierenden besucht und sich dort sehr kameradschaftlich gezeigt habe. Daraus geht hervor, dass er sich umgestellt hat. Ein homo politicus ist er nach meiner Meinung nicht. Seine Interessen liegen ganz in der Wissenschaft, in der Forschung und in dem Unterricht.« 129 Walther Rehm wird 1938 nach Gießen berufen und bereits 1939 unter Verzicht auf eine Liste auch in Marburg dem Ministerium vorgeschlagen. Dort kommt dann Kommerell zum Zuge; an 2. Stelle wird auf der Nachtragsliste (vom 3. Oktober 1940) Wolfgang Kayser genannt, dem 1936/37 noch in Berlin die Ernennung zum Dozenten verweigert wurde. 130 Auch hier finden die politischen Einwände in den Gutachten ihren Niederschlag, sie bleiben aber praktisch folgenlos: »Gegen eine Berufung von Prof. Kommerell - Frankfurt wird trotz vorhandener Bedenken kein Einspruch erhoben. Auf Grund seiner früheren Zugehörigkeit zum George-Kreis und zu dem bekannten liberal-reaktionären Kreis der Frankfurter Universität konnte eine Auslandstätigkeit, fur die K. noch vor kurzem vorgeschlagen war, vom Reichsdozentenführer nicht befürwortet werden. Nun kann aber K. seit 1933 auf seine Tätigkeit beim Studentenbund und bei einer SA-Reiterstandarte hinweisen.
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Vgl. Conrad Wiedemann, Walther Rehm, in: Gießener Gelehrte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, 2. Teil. Hrsg. von H. G. Gundel u.a., Marburg 1982, S. 745-754, S. 747. - Zu Rehm vgl. auch Hans Peter Herrmann, »Germanistik - auch in Freiburg eine deutsche Wissenschaft?«, in: Die Freiburger Universität in der Zeit des Nationalsozialismus. Hrsg. von Eckhard John u.a., Freiburg und Würzburg 1991, S. 115-149, S. 124ff. Der Rektor der Universität München an den Rektor der Universität Gießen, 21.6.1937 [Abschrift], in: UA Gießen, PrA Phil Nr. 23. Der Rektor der Universität Frankfurt am Main an den Rektor der Universität Gießen, 26.5.1937, in: ebd. T. Seruya, Wolfgang Kayser (Anm. 14), S. 716f.
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Auf Grund dieser Betätigung und mit Hinblick auf die tatsächliche wissenschaftliche Befähigung K.'s erscheinen die Bedenken nicht mehr von solchem Gewicht, dass sie den alleinigen Hindernisgrund für ein Vorwärtskommen K.'s im Inland bilden könnten.« 131 1937 warnt noch der Reichsdozentenbundsführer die »Deutsche KongreßZentrale« davor, Hans Heinrich Borcherdt eine Vortragsreise nach Österreich zu genehmigen; 132 1940 wird Borcherdt vom REM in Würzburg vorgeschlagen (s.o.) und 1943 zum Professor in Königsberg ernannt. 1940 scheitert noch die Aufnahme von Benno von Wiese in die Bayerische Akademie der Wissenschaften an einem negativen Gutachten des Gaudozentenführers; 133 drei Jahre später kann er sich aussuchen, ob er Ordinarius in Kiel (als Nachfolger des an der Ostfront gefallenen Clemens Lugowski) oder in Münster (als Nachfolger des zwangsemeritierten Günther Müller) werden möchte, und im gleichen Jahr rangiert er in Freiburg auf Platz 2 der Liste. Zwar gibt es in diesen beiden Fällen Gegengutachten, die jeweils darauf verweisen, daß die negative Bewertung auf veralteten Informationen beruhe, dennoch ist dieser Umschwung damit allein nicht zu erklären. Denn gewöhnlich führten einander widersprechende Gutachten zur Paralysierung des Entscheidungsvorgangs: Es geschieht nichts, weil man das Risiko scheut, das Falsche zu tun. So noch im Fall der Akademie-Mitgliedschaft von Wieses, die eben nicht zustandekam. Soweit mir bekannt ist - die Überlieferungslage ist für diesen Zeitraum schlechter als für die erste Phase - , gibt es keine gravierenden Eingriffe des Ministeriums bei der Besetzung der Lehrstühle, jedenfalls keine, die denen aus der Zeit bis etwa 1936 gleichen. Berufen werden zwischen 1938 und 1944 in der Neueren deutschen Literaturwissenschaft: Paul Böckmann in Heidelberg (1938), Herbert Cysarz in München (1938), Walther Rehm in Gießen (1938) und Freiburg (1943), Hermann Gumbel in Königsberg (1939), Gerhard Fricke und Friedrich-Wilhelm WentzlaffEggebert in Straßburg (1941), 134 Max Kommerell in Marburg (1941), Hans Pyritz
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Der Gaudozentenbundsfiihrer Theodor Bersin an den Rektor der Universität Marburg, 16.10.1940, in: StA Marburg, Best. 305a, Acc. 1978/15, No. 4054a, Bl. 4. - Ebd. heißt es über Kayser: »Gegen Kayser - Leipzig bestanden früher starke Bedenken in charakterlicher Beziehung, doch hat er in Leipzig in letzter Zeit einen wesentlich günstigeren Eindruck hinterlassen. Die politische Haltung Ka.'s gilt als einwandfrei; er gehört seit 1933 der SA. an und ist seit 1939 Ortsstellenleiter des Deutschen Volksbildungswerkes.« Der Reichsdozentenbundsführer an die Deutsche Kongreß-Zentrale, 5.3.1937 (Abschrift), in: BA Berlin, BDC: Hans Heinrich Borcherdt: »B. scheint charakterlich recht wenig erfreulich zu sein; ebenfalls dürfte er wahrscheinlich auch heute noch der Bayerischen Volkspartei verhaftet sein, da er doch mit der Tochter eines bayerischen Ministers der Systemzeit verheiratet ist. Allerdings muß gesagt werden, daß er in den letzten Monaten rein äußerlich nicht zu Klagen irgend welcher Richtung Anlaß gegeben hat.« Vgl. Anm. 99. Clemens Lugowski hat einen Ruf nach Straßburg abgelehnt, um in Kiel zu bleiben; das folgt aus einem Brief Oskar Schmieders, Dekan der Phil. Fak., an Paul Ritterbusch, Rektor in Kiel, vom 3.3.1941 (in: Schleswig-Holsteinisches LA, Abt. 47, Nr. 2057), in dem Lugowskis Ernennung zum Ordinarius erbeten wird. Das wird aber vom REM mit der
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in Königsberg (1941) und Berlin (1942), Wolfdietrich Rasch in Würzburg (1941), Erich Trunz in Prag (1941), Clemens Lugowski in Kiel (1942), Hans Heinrich Borcherdt in Königsberg (1943), Hermann Pongs in Göttingen (1943), Benno von Wiese in Münster (1943), Friedrich Beißner in Gießen (1944), Heinz Otto Burger in Erlangen (1944), Werner Kohlschmidt in Kiel (1944) und Fritz Martini in Stuttgart (1944). Aussagekräftiger als die Berufungen ist - immer unter dem Vorbehalt der etwas schlechteren Quellenlage - die Häufigkeit der Listenplazierungen. Auf die meisten Nennungen kommen neben Benno von Wiese Wolfgang Kayser (Platz 2 in Marburg 1940, Erlangen 1943 und Gießen 1943/44, Platz 3 in Münster 1942/43) und Paul Böckmann (Platz 2 in Gießen 1937/38 und Göttingen 1942/43, Platz 3 in Freiburg 1943). Die meisten Spitzenpositionen auf den Berufungslisten zwischen 1937 und 1944 (Platz 1 in Gießen 1937, Marburg 1939, Würzburg 1940, Freiburg 1943) dürfte allerdings Walther Rehm innegehabt haben, dem noch jüngst eine »politisch nonkonformistische Klassikkonzeption« bescheinigt wurde, die nach 1945 den »erhofften Wiederanschluß der Deutschen an die abendländische Kulturtradition« ermöglichte. 135 In der Tat finden zwischen 1938 und 1944 wichtige Weichenstellungen in der Personalstruktur der Neueren deutschen Literaturwissenschaft statt, die sich in der Bundesrepublik bis weit in die fünfziger Jahre auswirken. Die Initiative bei den Berufungen liegt eindeutig bei der scientific community, sie geht nicht mehr vom Ministerium oder von der NSDAP aus. Allerdings hat sich die disziplinare Gemeinschaft verändert. Die Ausgrenzungs- und Vernichtungspolitik, die Kontrollmechanismen und die politische Disziplinierung vor allem des Nachwuchses zeigen Wirkung. Schon die Idee, einen Fritz Strich oder Richard Alewyn, einen Martin Sommerfeld, Georg Stefansky oder Werner Milch, gar eine Käte Hamburger oder Melitta Gerhard in einem Berufungsgutachten auch nur in Erwägung zu ziehen, 136 erscheint völlig abwegig. Vor diesem Hintergrund sind aber solche Listen aus dem Jahre 1943 zu sehen, die wie die Freiburger mit Walther Rehm Benno von Wiese - Paul Böckmann 1 3 7 oder wie die Gießener mit Friedrich Beißner - Wolfgang Kayser - Heinz Otto Burger 138 so oder ähnlich auch zehn oder fünfzehn Jahre später hätten verabschiedet werden können. Auch die Liste fur die
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Begründung abgelehnt, »Anträge zur Förderung von Professoren mit einer Berufung nach Strassburg zu verquicken« (Dekan der Phil. Fak. an den Rektor, 16.4.1941, in: ebd.). Als Nachfolger von Fricke erhält Lugowski im Frühjahr 1942 das gewünschte Ordinariat. Ernst Osterkamp, Klassik-Konzepte. Kontinuität und Diskontinuität bei Walther Rehm und Hans Pyritz, in: Zeitenwechsel (Anm. 12), S. 150-170, S. 159 und 160. - Vgl. auch die kritischere Würdigung Rehms durch Michael Schlott, Wertkontinuität im Werkkontinuum. Die Funktion der »Klassik« bei Walther Rehm, in: ebd., S. 171-181. Erwähnt wird das rassistische Ausschlußkriterium wenigstens vom Schweizer Andreas Heusler, der auf Anfrage zwei Kandidaten als »würdig« für die Höfler-Nachfolge in Kiel erklärt, um dann einzuschränken: »Der eine käme, als nicht rein arisch, für Sie nicht in Betracht« (Andreas Heusler an den Dekan der Phil. Fak. der Universität Kiel, 7.9.1938, in: GStA Berlin-Dahlem, I. HA, Rep. 76, Nr. 726, Bl. 213). Η. P. Herrmann, Germanistik (Anm. 127), S. 140, Anm. 46. Laut Auskunft des UA Gießen vom 14.7.1992.
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Nachfolge von Günther Müller in Münster aus dem gleichen Jahre kann sich sehen lassen: an erster Stelle Benno von Wiese, an zweiter Stelle Erich Trunz und Willi Flemming, an dritter Stelle Wolfdietrich Rasch und Wolfgang Kayser. Auch diese Vorschläge wären in den fünfziger Jahren akzeptiert worden, nur hätte man jetzt jene Aussage vergeblich gesucht, die sich bei allen Genannten findet: »ist Mitglied der NSDAP«. Es gibt hier keine Ausnahme, nur Steigerungen: So ist Trunz »augenblicklich Stellv. Dozentenbundsfiihrer an der Prager Universität und Leiter des dortigen Amtes Wissenschaft«, und Flemming »gehört der Abt. Schrifttumspflege im Amt Rosenberg als Mecklenburgischer Landesleiter sowie als Lektor an«. 139 Wenn nach dem Ende des NS-Regimes in den Westlichen Besatzungszonen und dann in der Bundesrepublik unter Berufung auf die Idee der deutschen Universität gegen politisch motivierte Eingriffe die Autonomie der Wissenschaft verteidigt wird, 140 dann dient diese Strategie dazu, eine Personalstruktur zu zementieren, deren Fundamente in den dreißiger und vierziger Jahren gelegt wurden. 141 Zwar endete die Universitätskarriere nach 1945 immerhin für sechs Ordinarien, nämlich für Ernst Bertram, Herbert Cysarz, Franz Koch, Josef Nadler, Karl Justus Obenauer und Hermann Pongs, doch nicht einmal Franz Koch mußte auf eine ordentliche Emeritierung verzichten - bei vollem Ruhestandsgehalt. 142 Zwar kamen aus dem erzwungenen Exil Richard Alewyn, Wolfgang Liepe, Werner Milch und andere zurück, doch an den personellen Grundstrukturen der disziplinaren Gemeinschaft hat das wenig geändert. Hier markieren erst der Hochschulausbau und das Auftreten einer neuen Generation Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre eine Wende.
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Der Dekan der Phil, und Naturwiss. Fakultät der Universität Münster an den REM, 5.4.1943, in: UA Münster, Phil. Fak. 140. Vgl. den Beitrag von Johannes Volmert in diesem Band. Zu den Verhältnissen in Ostdeutschland vgl. Petra Boden, Universitätsgermanistik in der SBZ/DDR. Personalpolitik und struktureller Wandel 1945-1958, in: Deutsche Literaturwissenschaft 1945-1965 (Anm. 55), S. 119-159. Wolfgang Höppner, Franz Koch und die deutsche Literaturwissenschaft der Nachkriegszeit. Zum Problem von Kontinuität und Diskontinuität in der Wissenschaftgeschichte der Germanistik, in: Atta Troll tanzt noch (Anm. 117), S. 175-192, S. 186f. Die Emeritierung bestätigte übrigens der damalige Baden-Württembergische Ministerpräsident und spätere Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger, selber ein ehemaliges Mitglied der NSDAP.
Wolfgang Höppner
(Berlin)
Das Berliner Germanische Seminar in den Jahren 1933 bis 1945 Kontinuität und Diskontinuität in der Geschichte einer wissenschaftlichen Institution Mit der »nationalsozialistischen Revolution« im Jahre 1933 schien für die Mehrheit der Professoren des Germanischen Seminars der Berliner Universität die Welt wieder in geordnete Bahnen zu kommen. Arthur Hübner, seit 1927 Nachfolger von Gustav Roethe, gehörte mit zu den 300 deutschen Universitäts- und Hochschullehrern, die am 4. März zur Wahl der NSDAP aufriefen, weil auch er von der Reichsregierung unter Adolf Hitler eine »Gesundung unseres gesamten öffentlichen Lebens und damit die Rettung und den Wiederaufstieg Deutschlands« sowie den entschiedenen Kampf gegen die »marxistisch-bolschewistischen Einflüsse auf den Geist unseres Volkes«1 erwartete. In einer seiner Vaterländischen und politischen Reden vor Studenten 1933 ließ Hübner seine Zuhörer wissen: »Gleichschaltung ist das Wort unserer Tage, und wir erleben diese Gleichschaltung auf vielen Gebieten mit dem Gefühl tiefster Befreiung, wir empfinden sie auf dem Felde des Innerstaatlichen als eine geradezu geniale Lösung alter und schwerer deutscher Fragen.«2 Doch einschränkend dazu heißt es bei ihm weiter: »Überzeugungen lassen sich freilich nicht gleichschalten, auch wissenschaftliche nicht.«3 Julius Petersen, der vom Februar bis August 1933 zu Gastvorlesungen in den USA weilte, hat die Ereignisse des politischen Umbruchs in Deutschland nur aus der Ferne beobachten können, dies jedoch mit sichtlicher Sympathie. In seinem Bericht Amerikanische Reiseeindrücke für die Deutsche Allgemeine Zeitung brachte er unverhohlen seinen Unmut darüber zum Ausdruck, daß ihn die Journalisten der New York Times gleich unmittelbar nach seiner Ankunft voller Sorge nach dem Schicksal von Lion Feuchtwanger, Emil Ludwig und Jakob Wassermann in Deutschland befragt hatten. Viel bedeutsamer schien ihm doch, daß auf der Weltausstellung in Chicago nunmehr auch die Bücher von Hans Grimm, Will Vesper, Walter von Molo und Kasimir Edschmid präsentiert wurden, was er in dem kurzen Kommentar zusammenfaßte: »Wirklich, es ist keine Einbildung. Das neue Deutschland grüßt.«4 Nach seiner Rückkehr nach Deutschland veröffentlichte 1
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Die deutsche Geisteswelt für Liste 1. Erklärung von 300 deutschen Universitäts- und Hochschullehrern, in: Völkischer Beobachter. Berliner Ausgabe 46, 63. Ausg. vom 4. 3. 1933, S. 7. Mitunterzeichner aus dem Kreis der Germanisten waren Hans Naumann (Bonn), Erich Rothacker (Bonn) und Edward Schröder (Göttingen). Arthur Hübner, Kleine Schriften zur deutschen Philologie. Hrsg. von Hermann Kunisch und Ulrich Pretzel, Berlin 1940, S. 286. Ebd. Let's go Chicago! Amerikanische Reiseeindrücke von Prof. Dr. Julius Petersen, in: Deutsche Allgemeine Zeitung 72, Nr. 257 vom 22. 6. 1933, S. 2.
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Wolfgang Höppner
Petersen den Aufsatz Die Sehnsucht nach dem Dritten Reich in deutscher Sage und Dichtung, der im ersten Heft 1934 des inzwischen in Dichtung und Volkstum umbenannten Euphorion erschien, als dessen Mitherausgeber Petersen fungierte. In dieser umfänglichen Stoff- und motivgeschichtlichen Untersuchung zur deutschen Geistes- und Literaturgeschichte kommt der Verfasser zu dem Schluß: »Der Führer ist gekommen, und seine Worte sagen, daß das Dritte Reich erst ein werdendes ist, kein Traum der Sehnsucht mehr, aber auch noch keine vollendete Tat, sondern eine Aufgabe, die dem sich erneuernden Menschen gestellt ist.« 5 In der Zeitschrift für deutsche Bildung ließ der Nordist Gustav Neckel seinen am 7. Juni 1933 gehaltenen Vortrag Der Wert des altnordischen Schrifttums für die Erkenntnis des germanischen Wesens abdrucken, in dem er quasi den prähistorischen Kontext der neuen zeitgeschichtlichen Entwicklung freizulegen versuchte, und zwar mit Blick auf die Haupttugenden der Germanen (»Tapferkeit, Treue und Ritterlichkeit« 6 ), die er »als Träger ererbter Volksgesittung und edlen Bluterbes« 7 von den Römern unterschied. Was bei Petersen noch als vage Hoffnung und Sehnsuchtserfüllung reflektiert wird und sich bei Hübner als Genugtuung über die Chance zur Überwindung der politischen und sozialen Konflikte in Deutschland sowie des »wurzellosen Allerweltsparlamentarismus« 8 der Weimarer Demokratie und des Pluralismus in den Geisteswissenschaften ausspricht, das erfährt bei Gerhard Fricke in dem Aufsatz Die Aufgabe und die Aufgaben der Deutschwissenschaft eine mehr wissenschaftsprogrammatische Begründung. Fricke, der Petersen in der Zeit seines USAAufenthaltes in Berlin vertrat, sieht mit der »Bewegung Adolf Hitlers« 9 die Zeit endlich gekommen, in der auch die Germanistik den Weg »von der Buch- und Kathederwissenschaft zu einer volkverbundenen und volksdienenden Lebenswissenschaft« 10 gehen, sich die deutsche Literaturwissenschaft »zu einer Nationalwissenschaft von der Nationalliteratur« auf der Grundlage »volksverbundenen Erlebens und Glaubens« 11 entwickeln und namentlich die Deutschkunde »wieder
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Julius Petersen, Die Sehnsucht nach dem Dritten Reich in deutscher Sage und Dichtung, in: Dichtung und Volkstum 35 (1934), S. 182. - Bei den Lektoren der Bücherkunde der »Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums« stieß Petersens Studie auf wenig Gegenliebe. In der Kritik dazu heißt es: »Wer annimmt, daß uns der Nationalsozialismus aus bloßen allgemeinen und unoriginellen Kombinatiönchen geschenkt wurde, steht abseits und macht in Konjunktur« (Bücherkunde 1 [1934], Folge 8-10, S. 166). Gustav Neckel, Der Wert des altnordischen Schrifttums für die Erkenntnis des germanischen Wesens, in: ZfdB 9 (1933), S. 359. Ebd., S. 362. - Vgl. auch Hermann Engster, Germanisten und Germanen. Germanenideologie und Theoriebildung in der deutschen Germanistik und Nordistik von den Anfangen bis 1945 in exemplarischer Darstellung, Frankfurt/Main u.a. 1986, insbes. S. 69-93. Arthur Hübner, Arndt und der deutsche Gedanke, Langensalza 1925, S. 15. Gerhard Fricke, Über die Aufgabe und die Aufgaben der Deutschwissenschaft, in: ZfdB 9 (1933), S. 496. Ebd. Ebd., S. 499.
Das Berliner Germanische Seminar in den Jahren 1933 bis 1945
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einmal den Anspruch auf die >Kernwissenschaftlrritationen< der
Literaturwissenschaft
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Ruhestand,101 dem das Ministerium, wie abgesprochen, »mit Ablauf des Monats März 1943« entsprach.102
4. Was lehrt die Münstersche Skandalgeschichte um Günther Müller und seinen Kontrahenten Heinz Kindermann? Zunächst: Die politischen Steuerungsinstrumente der Nationalsozialisten drangen trotz weitreichender Zugriffsmöglichkeiten auf die wissenschaftlichen Organisationen nicht ins Zentrum des Wissenschaftssystems vor, weil sie bis auf oberflächliche Anpassungen keine durchgreifenden Änderungen im theoretisch-methodischen Diskurs der Disziplinen veranlassen konnten.103 Müllers anhaltender Erfolg und Kindermanns Erfolglosigkeit sind deutliche Zeichen für das Scheitern des totalitären Staates an der Autonomie des Wissenschaftssystems. Das heißt natürlich nicht, daß der Nationalsozialismus ohne Einfluß auf die Literaturwissenschaft geblieben ist; der Einfluß ist ideologiekritisch zur Genüge nachgewiesen.104 Aber nicht nur die Tatsache, daß nationalsozialistische Ideologeme Eingang in die Literaturwissenschaft gefunden haben, verdient wissenschaftsgeschichtliche Aufmerksamkeit, sondern auch die Frage, wie die Literaturwissenschaft die vom Nationalsozialismus ausgehenden Impulse mit der Eigendynamik ihres Diskurses koordiniert hat. In diesem Zusammenhang kann Luhmanns Begriff der Irritation105 und eine schärfere Unterscheidung zwischen Variation und Selektion106 weiterhelfen. Wie gesagt: Es kann kein Zweifel bestehen, daß der Nationalsozialismus Spuren in der Literaturwissenschaft hinterließ. Er unterbrach und störte oder irritierte den Fortgang wissenschaftlicher Arbeit und provozierte die Frage, wie man unter den veränderten Umweltbedingungen weitermachen
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Vgl. UA Bonn, PA Günther Müller, Bd. 1, Nr. 69. Ebd., Nr. 73. 103 Vgl. H. Dainat, Anpassungsprobleme (Anm. 50). 104 Zu Möglichkeiten und Grenzen des ideologiekritischen Ansatzes in der Wissenschaftsgeschichte der Germanistik vgl. Wilhelm Voßkamp, Zur Wissenschaftsgeschichte der deutschen Literaturwissenschaft in der Bundesrepublik, in: Wissenschaft und Nation. Studien zur Entstehungsgeschichte der deutschen Literaturwissenschaft. Hrsg. von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp, München 1991, S. 17-28, hier S. 19-22; Jürgen Fohrmann, Organisation, Wissen, Leistung. Konzeptuelle Überlegungen zu einer Wissenschaftsgeschichte der Germanistik, in: IASL 16 (1991), S. 110-125, S. 112f., und Wolfgang Höppner, Mehrfachperspektivierung versus Ideologiekritik. Ein Diskussionsbeitrag zur Methodik der Wissenschaftsgeschichtsschreibung, in: ZfG N. F. 5 (1995), S. 624— 633. 105 Vgl. Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankftirt/Main 1992, S. 40f., S. 307 und S. 564. 106 Yg] Stephen Toulmin, Menschliches Erkennen, Bd. 1: Kritik der kollektiven Vernunft. Übers, von Hermann Vetter, Frankfurt/Main 1978, S. 236-283; N. Luhmann, Wissenschaft (Anm. 105), S. 549-615. 102
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Pilger
sollte. Da diese Frage in der Germanistik unterschiedlich beantwortet wurde, 107 entstand nach 1933 eine Vielzahl von Varianten im Ideenvorrat der Literaturwissenschaft. Kindermanns volkhafte Lebenswissenschaft war dabei ein Extremfall. Als ernsthafte Theorievariante ist sie damals in der Literaturwissenschaft kaum diskutiert, schon gar nicht selektiert worden. Andere Varianten haben (erst recht nach 1945) das Rennen gemacht, und zwar solche, die ihre Neuerungen nicht einseitig am politisch-ideologischen Imperativ, sondern vor allem an der Problemlage der Literaturwissenschaft selbst orientierten. Gleichwohl sind auch in diesen Konzeptionen die Irritationen wirksam geworden, die der Nationalsozialismus als Herrschaftssystem und Staatsideologie in der Wissenschaft ausgelöst hat. Dies läßt sich gerade an Günther Müllers Hinwendung zur morphologischen Poetik 108 beispielhaft ablesen. Müller hat sich seit Ende der 30er Jahre, wie er selbst schrieb, zunehmend »nicht nur von allem Kirchentum, sondern auch von allem konfessionellen Christentum abgewandt«. 109 Dafür waren allem Anschein nach nicht so sehr die eigenen Erfahrungen der Schikanierung oder das antikatholische Vorgehen der Nationalsozialisten im allgemeinen verantwortlich, sondern in erster Linie eine »persönliche weltanschauliche Wendung«, 110 die, wenn man so will, seit langem vorbereitet war. Wie viele Hochschullehrer in Deutschland ist auch Günther Müller von jenem Krisenbewußtsein eingeholt worden, das spätestens seit der Jahrhundertwende als Folge fortschreitender Pluralisierung und Relativierung des Wissens und der Werte das gesamte Bildungsbürgertum ergriff. 111 Geplagt von dem Gefühl, daß im 20. Jahrhundert scheinbar »alle äußeren Normen und Kontrollmaßstäbe fraglich geworden sind«, 112 suchte Müller nach dem Dauernden im Wechsel der Zeiten, der vermeintlichen Einheit in der Vielfalt der Erscheinungen. Lange Zeit erfüllte fur ihn die Glaubensordnung der katholischen Kirche diese Funktion. In den 30er Jahren jedoch empfand Müller das aristotelisch-thomistische Schichtenmodell zunehmend als »viel zu trennend«, 113 was wohl der Grund dafür war, daß auch er schließlich der Faszinationskraft des »eigentümlich deutschen organi-
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Vgl. H. Dainat, Voraussetzungsreiche Wissenschaft (Anm. 17). 108 Ygi z u m Folgenden Rainer Baasner, Günther Müllers morphologische Poetik und ihre Rezeption, in: Zeitenwechsel (Anm. 51), S. 256-267. 109 So in einem Brief an den Dekan vom Januar 1942, UA MS, Phil. Fak., Pers.-Akten Nr. 2. Ganz ähnlich schrieb Müller im Februar 1942 an Rothacker, er habe »den ganzen kirchlichen Betrieb verabscheuen gelernt« (Müller an Rothacker, 19.2.1942, ULB Bonn, Nachlaß Rothacker I, Brief Nr. 21). 110 So Fritz Martini in seinem Gedenkwort fiir Günther Müller, in: Jahrbuch der Deutschen Akademie fiir Sprache und Dichtung (1957), S. 147-155, S. 152. 111 Vgl. Konrad H. Jarausch, Die Krise des deutschen Bildungsbürgertums im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, in: Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Teil 4. Hrsg. von Jürgen Kocka, Stuttgart 1989, S. 180-205. 112 G. Müller an E. Rothacker, 4.6.1939, ULB Bonn, Nachlaß Rothacker I, Brief Nr. 9. 113 Ebd.
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sehen Weltbild[s]«" 4 erlag und in seiner metaphysischen Theorie die vormals »unerschöpflich reiche[...] Stufung des Seins« 115 zunehmend einebnete. Beeinflußt vom Biologismus der nationalsozialistischen Ideologie, ersetzte er darüber hinaus den göttlichen Seinsgrund durch einen mütterlichen »Lebensborn«, dem »alles Dasein« in einem »Fluß der Verwandlungen« entquillt. 116 Die Wende zum lebensphilosophischen Monismus war längst vollzogen, als Müller mit dem »tiefere[n] Eindringen in Goethes Morphologie« 117 seit 1939 sozusagen die literarische Autorität entdeckte, die seine Konzeption auch in der Germanistik bezugsfahig machte. Schon Goethe, so liest man bei Müller, habe »[j]ede Einzelwirklichkeit«, gleich welcher Art, als besondere Metamorphose »der einen und ganzen Natur« 118 interpretiert. Diese Auffassung schien wenigstens prinzipiell auch auf den Bereich der Dichtung anwendbar zu sein. So konnte Goethes Maxime »Kunst: eine andere Natur« 119 zur Legitimationsformel für eine morphologische Literaturbetrachtung werden, die unter Berufung auf die »biologische Grundrichtung unserer Zeit« und den »neue[n] Aufbruch biologischen Denkens [...] in den Geisteswissenschaften« 120 auch die »dichterische Gestalt« als eine »Erscheinung des Lebendigen« 121 untersuchte. Eine systematische Ausarbeitung dieses Ansatzes lieferte Müller 1944 in seiner Schrift Die Gestaltfrage in der Literaturwissenschaft und Goethes Morphologie. Obwohl diese »Gründungsschrift der morphologischen Methode« 122 mit ihrer Konzentration auf die Gestalt des literarischen Werks Fragestellungen aufgriff, die schon Müllers frühere, von der Phänomenologie Husserls beeinflußten formanalytischen Arbeiten 123 bestimmt hatten, entstand doch in der konsequenten
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G. Müller, Die Grundformen der deutschen Lyrik, in: ders., Morphologische Poetik (Anm. 23), S. 105-145, S. 106. Günther Müller, Die katholische Dichtung der Gegenwart, in: Z f D k 4 4 (1930), S. 6 0 9 630, S. 629. Günther Müller, Schicksal und Saelde. Der Mensch im irdischen Geheimnis, Salzburg und Leipzig 1939, S. 83 und S. 241. G. Müller an H. Pyritz, 11.7.1942, in: Briefwechsel zwischen Günther Müller und Hans Pyritz. Mit einer Vorbemerkung von Rainer Gruenter, in: Euphorion 54 (1960), S. 170— 185, S. 171. Günther Müller, Einleitung, in: Johann Wolfgang von Goethe, Maximen und Reflexionen. Neu geordnet, eingeleitet und erläutert von Günther Müller, Stuttgart 3 1949, S. X V LXXV, S. LXVII. Goethe, Maximen und Reflexionen (Anm. 118), S. 87 (Nr. 541). G. Müller, Die Gestaltfrage in der Literaturwissenschaft und Goethes Morphologie, in: ders., Morphologische Poetik (Anm. 23), S. 146-224, S. 151 und S. 147f. Ebd., S. 154. Hans-Egon Hass, Günther Müller zum Gedächtnis, in: Bonner Gelehrte (Anm. 4), Bd. 7, S. 137-150, S. 148. Vgl. Pierre Deghaye, De Husserl ä Günther Müller, in: Etudes Germaniques 20 (1965), S. 3 6 6 - 3 6 9 . - Bereits in seiner Dissertation über Brentanos Romanzen vom Rosenkranz hatte Müller gefordert, neben den großen ideengeschichtlichen Linien auch das einzelne »Werk als selbständige Wirklichkeit, als eigenen Mikrokosmos« in den Blick zu nehmen, um zu erkennen, »welche Bestandteile dieser Organismus« aufweise und »was für Gesetze und Kräfte seinen Bau regeln« - Günther Müller, Brentanos Romanzen vom Rosen-
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Orientierung am Paradigma des Lebens eine völlig neue Ideenvariante. Müllers morphologische Poetik betrachtete die Literatur in Anlehnung an das »In-eins von Typus und Metamorphose« unter der doppelten Perspektive von »Einheit und Entfaltung«. 124 Sie untersuchte das einzelne Werk als eine »alle Teile [vom Wortklang [...] bis zur Idee]« 125 integrierende organische Einheit, die mit der »Abfolge von Worten« und Sätzen »Zug um Zug gebildet, ausgebildet, umgebildet« 126 wird, und das nicht zufällig, sondern entsprechend dem »gesetzliche[n] Walten der ewigen Naturkräfte«. 127 Wenn auch die praktische Umsetzung dieses Programms gelegentlich, um im Bild zu bleiben, wunderliche Blüten trieb, so formulierte doch die morphologische Poetik im Diskurs der Literaturwissenschaft Reformvorschläge von grundsätzlicher Bedeutung, die zugleich die etablierten Paradigmen von Geist und Geschichte unter Druck setzten und der werkimmanenten Interpretation der 50er Jahre vorarbeiteten. Zwei Aspekte sind besonders hervorzuheben: 1. Indem die morphologische Poetik nicht im »Gedanken- oder Stimmungsgehalt« allein, sondern in der Einheit der literarischen Gestalt »das eigentümlich Dichterische« erkannte, 128 setzte sie sich kritisch vom Idealismus einer einseitig auf den »Sinngehalt^..] der Dichtungen« 129 fixierten Geistesgeschichte ab. 2. Indem die morphologische Poetik Goethes »ewige Formel des Lebens« 130 zum Prinzip ihrer Gestaltbetrachtung erhob, konzentrierte sie sich fast automatisch auf das Konstante und Gesetzmäßige im Bereich der Dichtung. 131 Insofern war die morphologische Poetik das Gegenprojekt zu einer Literaturwissenschaft, die, wie Müller schrieb, seit Friedrich Schlegel und Georg Gottfried Gervinus den »historische[n] Zug ganz überwiegend ausgebildet« 132 hatte.
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kränz. Magie und Mystik in romantischer und klassischer Prägung, Göttingen 1922, S. 1 und S. 3. G. Müller, Gestaltfrage (Anm. 120), S. 182. Ebd., S. 176. Ebd., S. 182. Ebd., S. 156. G. Müller, Goethes Elegie »Die Metamorphose der Pflanzen«. Versuch einer morphologischen Interpretation, in: ders., Morphologische Poetik (Anm. 23), S. 356-387, S. 357. So die >klassische< Formulierung von Rudolf Unger, Literaturgeschichte und Geistesgeschichte, in: ders., Gesammelte Studien, Bd. 1, Berlin 1929 (ND Darmstadt 1966), S. 212-225, S. 215. Müller, Gestaltfrage (Anm. 120), S. 183. - Vgl. Johann Wolfgang Goethe, Zur Farbenlehre, in: ders., Werke. Hamburger Ausgabe. Hrsg. von Erich Trunz, Bd. 13, München 10 1989, S. 337. Horst Oppel hat dies später deutlich erkannt, wenn er schrieb: »Die Schwierigkeit für die Übernahme biologischer Kategorien< in die Dichtungskunde liegt offensichtlich darin, daß diese allerhöchstens gestatten, am Kunstwerk das Konstante zu erfassen: das regelmäßig Wiederkehrende an der Einzelerscheinung als dem Träger allgemeiner Gesetzmäßigkeiten« (Horst Oppel, Morphologische Literaturwissenschaft. Goethes Ansicht und Methode, Mainz 1947, S. 101). G. Müller, Gestaltfrage (Anm. 120), S. 146.
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Wenn Günther Müller zu Beginn der 40er Jahre im Namen des Lebens die Paradigmen von Geist und Geschichte in Frage stellte, so stand er mit seiner Kritik nicht allein. Auch der Lebenswissenschaftler Kindermann wollte bekanntlich die Dichtung »von der einseitigen Bindung an den >GeistFronde< kamen nicht zum Müdesein, sie mußten vor der Literaturkritik und vor der Politik sich unablässig erweisen, und so haben wir ein junges Schrifttum, das, im Widerstand gegen die früheren Gewalten gewachsen, einen schier unübersehbaren Reichtum auf allen Gebieten aufweist.« 19 Gegen die Selbstinterpretation der Autoren, die sich mit dem Dritten Reich identifizierten, sind einige Bedenken geltend gemacht worden, ebenso gegen die Literaturgeschichtsschreibung, die die Epoche seit dem Ersten Weltkrieg gewissermaßen auf das beherrschende politische Datum der Jahre 1933-1945 zustürzen ließ. Wie Uwe-K. Ketelsen wiederholt und bündig erläutert hat, 20 ist die Annahme einer nationalsozialistischen oder faschistischen Literatur als solcher schon problematisch. Die wichtigsten Bedenken seien benannt und sogleich auf den Fall Blunck angewendet: Unter den nach 1933 kanonisch gewordenen lebenden Autoren gehört er zu den Älteren, deren erste Erfolge schon in die frühen zwanziger Jahre zurückreichen und deren (Euvre größtenteils schon vor der »Machtergreifung« entstanden war. Was spricht, außer der engen Bindung Bluncks an die Institutionen des Dritten Reiches, dafür, seine Produktion seit dem Ersten Weltkrieg fast ausschließlich im Final- oder Kausalzusammenhang mit der Herrschaft der Nationalsozialisten zu beschreiben? Gibt es nicht Diskontinuitäten im Werk, Mehrdeutigkeiten und Linien, die auch in andere Richtungen weisen? Zweitens: Ist die Überschrift »Nationalsozialismus« der einzig mögliche Ausgangspunkt, um die Literatur in zwei oder drei Gruppen von Autoren einzuteilen (Faschismus, Exil, Innere Emigration)? Blunck könnte doch auch, und zwar vor wie nach 1933 und 1945, im Kontext einer umfassenderen deutschsprachigen oder europäischen Literatur der Epoche gesehen werden. Die kritische Rede von der maßlosen Überschätzung eines Autors, die sein Werk tendentiell zu einer bloßen Funktion des historischen Jahres 1933 macht, ist am Ende nicht erschöpfend. Es könnte sich lohnen, nach der »Substanz« eines Werkes zu fragen, das in der Literaturkritik und -geschichtsschreibung seit den zwanziger Jahren durchaus als substantiell angesehen wurde, wobei sich das Inhaltliche womöglich nicht als letztes Kriterium erweist. Zu korrigieren ist zunächst die Legende von der »Opposition« oder »Fronde«, die die Stellung der Schriften Bluncks im Kontext der Weimarer Republik charak-
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ähnliche Reihen, die auf die Gegenwart zuliefen, her: P. Kluckhohn, Die konservative Revolution in der Dichtung der Gegenwart, in: ZfdB 9 (1933), H. 4, S. 177-190. H.F. Blunck, Deutsche Literatur der Gegenwart, in: Wille und Macht. Führerorgan der nationalsozialistischen Jugend 2 (1934) H. 9, S. 15-17, S. 15. Völkisch-nationale und nationalsozialistische Literatur in Deutschland 1890-1945, Stuttgart 1976. Siehe auch U.-K. Ketelsen, Literatur und Drittes Reich (Anm. 10) und ders., Probleme der gegenwärtigen Forschung (Anm. 17).
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terisieren soll.21 Schon in den zwanziger Jahren gehört er zu den auflagenstärksten Romanciers. 22 1922 ist er im Literarischen Echo mit einer kurzen autobiographischen Skizze vertreten, 23 seit Mitte der zwanziger Jahre erscheinen regelmäßig Feuilletons über den Schriftsteller. Die von Will Vesper herausgegebene Schöne Literatur druckt 1926, die Neue Literatur 1931 eine Bibliographie der bis dahin publizierten Werke und Sekundärliteratur.24 Die erste Monographie erscheint bereits 1929, Otto Ernst Hesses Hans Friedrich Blunck. Ein Beitrag zur nordischen Renaissance bei Diederichs in Jena. Ihr folgt 1932 die von Oskar Walzel herausgegebene Dissertation von Lisel Etscheid Das Gotterlebnis des Germanischen Menschen.25 Die Verlage, in denen Bluncks Werke erscheinen, 26 und die Rezensionsorgane, die sich seiner annehmen, repräsentieren ein nationalkonservatives bis völkisches, bisweilen christliches, insgesamt aber durchaus bürgerliches Denken. Programmatische oder politische Appelle fehlen im Werk - wenn man von Bluncks vorübergehendem Engagement für eine niederdeutsche Sprach- und Kulturgemeinschaft absieht.27 Angesprochen ist ein Publikum, das unterhaltende historische und Zeitromane sowie niederdeutsche Märchen- und Balladendichtung schätzt. Tragende Elemente in Bluncks Büchern bieten sich zwar fur eine Indienstnahme durch den Nationalsozialismus an: die antimodernen Züge, die Verherrlichung des Landlebens, ein tragisches, ganz auf die Kategorie des Volkstums bezogenes Geschichtsverständnis, die Heroisierung einsamer Führergestalten, der Versuch, eine ständische Gesellschaft zu restituieren, die Thematisierung des Grenzland- und Auslandsdeutschtums. So fungibel diese Merkmale in der faschistischen Ideologie sein mögen, so sind sie ihm doch nicht exklusiv zu eigen. Zum Schriftsteller des Nationalsozialismus wird Blunck erst, indem er einige der Botschaften im Werk, die zuvor von einer deutlichen Disponibilität für den Faschismus sprachen, dem Regime tatsächlich zur Verfugung stellt. Einige Umdeutungen oder Radikalisierungen sind bezeichnend: So begreift Blunck das Volkstum
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Außer Blunck unterstützte vor allem sein Biograph und Interpret Emst Adolf Dreyer die Sage vom früheren Aschenputteldasein des Schriftstellers. E.A. Dreyer, Hans Friedrich Blunck. Sicht seines Werkes, Stuttgart 1938, S. 13 (Erstausgabe Berlin 1933). Vgl. Donald Ray Richards, The German Bestseller in the 20th Century. A Complete Bibliography and Analysis 1915-1940, Bern 1968. H.F. Blunck, Autobiographische Skizze, in: Das literarische Echo 25 (1.12.1922), Sp. 262-263. Mally Behler-Hagen, Hans Friedrich Blunck. Mit einer Bibliographie von Wilhelm Frels, in: Die schöne Literatur 27 (1926), S. 245-251. Ernst Metelmann, Bibliographie Hans Friedrich Blunck, in: Die neue Literatur 32 (1931), S. 310-312. Die Dissertation erschien in der Reihe Mnemosyne. Arbeiten zur Erforschung von Sprache und Dichtung, Bonn 1932. Weitere Dissertationen erschienen dann erst wieder in den vierziger Jahren. Es handelt sich um Diederichs, Jena; Georg Müller bzw. Langen & Müller, München; die Hanseatische Verlagsanstalt, Hamburg; Reclam, Leipzig; Kösel und Pustet, München; Paul Francke, Berlin; Alfred Janssen, Hamburg; Propyläen, Berlin; Insel, Leipzig; Westermann, Braunschweig u.a. H.F. Blunck, Belgien und die niederdeutsche Frage, Jena 1915 (Tat-Flugschriften Nr. 9).
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zunächst vor allem als sprachkulturelle Einheit im Gegensatz zum Staatlichen, 28 ebenso ist das Ständische spätromantisch als Alternative zum Staatsbegriff gesetzt. Der Begriff »Reich« bleibt für ihn lange ein ideelles Konzept, 29 freilich verschwommen genug, um durch Imperialistisches unterhöhlt und nach 1933 mit dem Staatsbegriff zunehmend identisch zu werden. 30 Nicht ganz eindeutig ist auch Bluncks Sympathie mit dem Gedanken einer niederdeutschen Sprach- und Volksgemeinschaft sowie sein Engagement fur Europa vor dem Hintergrund einer Propagierung der deutschen Literatur im Ausland und der Förderung auslandsdeutscher Literatur. Der Schritt von der Völkerverständigung zur aggressiven Propagierung der deutschen Kultur ist in den Schriften weniger vollzogen, als daß er dem Leser anheimgestellt wird. 31 Zur Klärung der Positionen trägt Bluncks ausgedehnte Nutzung eines religiösen (heidnischen oder christlichen) Themenfeldes wenig bei. Die religiösen Thematiken sind zwar geeignet, ein Publikum zu interessieren, das Blunck nicht überwiegend oder nur unter dem Aspekt des Völkisch-Nationalistischen liest, sie vermögen aber durchaus nicht eine Alternative oder gar Opposition zum staatlicherseits Erwünschten darzustellen, dazu sind sie zu schwach motiviert und zu wenig konkret. Abgesehen von einem sehr frühen Roman 3 2 wird man bei Blunck keinen Antisemitismus finden, doch auch dieses Merkmal kennzeichnet eher die auffallige Passivität des Werkes im Kontext des Jahres 1933. Insgesamt entsteht der Eindruck, daß Blunck nicht etwa gezielt ideologische Programme in die Politik des Nationalsozialismus einbringt, vielmehr nimmt er durchaus in Kauf und begrüßt es, daß ein wenig definiertes Konglomerat von Werthaltungen und Stimmungen in seinen Erzählungen und Romanen durch die eingetretene politische Lage noch stärker in den Vordergrund gestellt wird. Ohne wirklich Neues in seine Romanproduktion einzuführen, versteht es Blunck doch nach der »Machtergreifung«, propagandistisch wirksame Themen herauszustellen: in Die große Fahrt (1934) die Entdeckung Amerikas nicht etwa durch Kolumbus, sondern, man ahnt es schon, durch einen Deutschen, in König Geiserich (1936) die Eroberung weiter Teile Nordafrikas durch die Vandalen und die Errichtung eines neuen Imperiums, in Wolter von Plettenberg (1938), einem Roman über den Deutschen Orden, den »Lebensraum im Osten«. Das »Religiöse« spielt in den drei genannten Romanen nach wie vor seine Rolle, die unverfängliche Sagen-, Legenden- und Märchenproduktion hält Blunck weiterhin aufrecht.
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H.F. Blunck, Volkstum und Dichtung (Anm. 6). Vgl. auch Klaus Vondung, Völkischnationale und nationalsozialistische Literaturtheorie, München 1973, S. 15. H.F. Blunck, Über allem das Reich! Hansadeutsche Aufgaben. Eine Rede an die niederdeutsche Jugend, Hamburg 1930. So heißt es 1934: »Ziel aller fruchtbringenden Kulturpolitik muß die Übereinstimmung von staatspolitischem und volkspolitischem Wollen sein.« H.F. Blunck, Deutsche Kulturpolitik, in: Das Innere Reich 1 (1934), 1. Halbbd., S. 114-144, S. 118. H.F. Blunck, Der Einfluß des deutschen Buches im Ausland, in: Der Hochwart 3 (1933) H. 6, S. 284-285. H.F. Blunck, Ritt gen Morgen, Hamburg 1914.
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Bei allen Affinitäten zur Ideologie des Faschismus - der Erfolg Bluncks vor wie nach 1933 ist einer seiner intellektuellen und politischen »Schwäche«, ist der eines inhaltlich wie formal wenig dezidierten und konturierten Erzählwerkes. In der Wahrnehmung des Autors war der Nationalsozialismus, sein Programm und seine Machtpolitik, durchaus nicht die bestimmende Kategorie. Vordringlich scheinen dagegen die Chancen für einen größeren schriftstellerischen Erfolg gewesen zu sein, und zwar durchaus in den Grenzen einer national-konservativen bürgerlichen Kultur. Diese Kultur sieht Blunck durch die eingetretenen politischen Verhältnisse offenbar nirgends gefährdet; im Gegenteil wird das neue Regime begrüßt, weil es eine bessere Repräsentation und Förderung der längstgehegten bürgerlichkonservativen Überzeugungen versprach. Dieses Mißverständnis, dem ein großer Teil der nationalkonservativen Autoren erlag, setzt voraus, daß zwischen einer nationalsozialistischen Literatur und einer Literatur im Nationalsozialismus unterschieden wird. Die institutionelle Karriere Bluncks bestätigt, daß die neuen Machthaber als Förderer eines längst ausgeprägten, im Kern noch völlig bürgerlichen Kunstverständnisses mißverstanden wurden. U m die Aufnahme in die Sektion Dichtkunst der Berliner Akademie der Künste bemühte sich Blunck schon 1926, als er sich ohne Bedenken in dieser Angelegenheit an das Gründungsmitglied Ludwig Fulda wandte. 33 Kurz darauf setzte sich E.G. Kolbenheyer fur seine Aufnahme in die Akademie ein. Blunck zählte sich in diesen Jahren keineswegs zu einer konservativen »Fronde«, sondern ärgerte sich höchstens darüber, trotz seiner Popularität nur zur »zweiten Garnitur« gezählt zu werden. 34 Bluncks Traum war es wohl vor allem, zusammen mit den bedeutendsten Repräsentanten der deutschen Literatur historisch zu werden, etwa mit Thomas Mann, mit dem er seit den zwanziger Jahren eifrig korrespondierte. 35 Sein Ehrgeiz erfüllte sich gewiß nur halb, als er nicht etwa an die Seite, sondern an die Stelle Manns in die völlig umstrukturierte Sektion Dichtkunst gewählt wurde und dort die Funktion eines Senators der Akademie ausübte. Thomas Mann nahm dieses Ereignis jedenfalls nicht zum Anlaß, die Korrespondenz mit seinem Kollegen abzubrechen. In den ersten Monaten der NS-Herrschaft trat Blunck nicht mit programmatischen Erklärungen hervor; auch scheint es keine Absprachen mit Vertretern der Regierung oder der Partei gegeben zu haben. 36 Seine privilegierte Stellung innerhalb der Akademie wie auch die Präsidentschaft der Reichsschrifttumskammer scheint daher eher (Popularität und ideologische Eignung einmal vorausgesetzt) die Folge persönlicher Zurückhaltung gewesen zu sein. Die ehrgeizigeren und aktiveren Münchhausen und Kolbenheyer wurden von Partei- und Regierungsstellen weniger bedacht als ihr
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H.F. Blunck an Ludwig Fulda, 29.11.1926, in: Ludwig Fulda, Briefwechsel 1882-1939. Zeugnisse des literarischen Lebens in Deutschland. Teil I. Hrsg. von Bernhard Gajek und Wolfgang Ungern-Stemberg, Frankfurt/Main u.a. 1986, S. 526-527. Ebd. Vgl. den Briefwechsel (Anm. 14). W. Mittenzwei, Der Untergang einer Akademie (Anm. 3), S. 302.
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jüngerer Konkurrent, der bis 1937 der Partei übrigens nicht angehörte. 37 Auch die Präsidentschaft der Reichsschrifttumskammer scheint Blunck durchaus im Sinne einer bürgerlichen Kulturpolitik verstanden zu haben - ein Irrtum, der insofern nahelag, als Goebbels zumindest in der ersten Zeit an einer Institution interessiert war, die europäisches Ansehen genießen könnte. Unüberhörbar ist Bluncks Stolz auf eine Position, die ihn gleichrangig neben Richard Strauss und andere bekannte Repräsentanten des deutschen Kulturlebens stellte. 38 Sicherlich war der Romancier aus Opportunismus fur viele alarmierende Erscheinungen innerhalb der Institution, der er vorstand, zunächst blind. Die wiederholten Beschreibungen der Aufgaben der Reichsschrifttumskammer durch ihren Präsidenten in den Jahren 1933 und 1934 beschönigen die autoritären Maßnahmen der Kammer immer wieder als ständische »Selbstbestimmung« der Autoren. 39 Immerhin scheint Blunck zunächst noch an den Übergangscharakter des Regimes bis zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung geglaubt zu haben. 40 Aus dem Amt schied er offenbar aus, als er einen Skandal um die Einbindung jüdischer Autoren in Einrichtungen der Reichsschrifttumskammer provozierte, 41 und - so stellt er es zumindest in der Autobiographie dar - den Eindruck gewann, daß die ursprünglichen Intentionen des »armen Goebbels« allmählich unterwandert wurden. 42 Es scheint, daß die seit 1934 zunehmend totalitäre Verfassung der Kammer, wie sie sich in der neuen Satzung vom 15. September manifestiert, 43 mit einer Präsidentschaft Bluncks nicht mehr vereinbar war. Seiner autobiographischen Darstellung, wonach er versuchte, die Einflußnahme der Partei und Regierung in der Kammer zu umgehen, wird man ein Stück weit folgen können. Wo in Bluncks öffentlichen Äußerungen dieser Zeit Opportunismus und Zynismus enden, Naivität und Dummheit anfangen, lavierendes oder taktierendes Verhalten verborgen wurde, ist im Nachhinein gewiß schwer zu bestimmen. Insgesamt entsteht der Eindruck, daß die Charakterisierung Bluncks als Vorreiter des Nationalsozialismus nicht zutrifft, das Urteil der Richter, die ihn 1949 als Mitläufer einstuften, dagegen der Sache nahekommt. Nach Kriegsende versuchte Blunck die Leitbegriffe der Kultur, des Dichtens, des Künstlertums, der nationalkonservativen Werte, die er jahrelang in der nationalsozialistischen Politik gut vertreten glaubte, während sie doch mehr von ihr usurpiert wurden, aus ihrer Kompromittierung in den Jahren 1933 bis 1945 herauszulösen. In der Autobiographie sind individulle Äußerungen und Beziehungen in den Vordergrund gestellt, 37 38 39
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J.-P. Barbian, Literaturpolitik (Anm. 5), S. 197. H.F. Blunck, Unwegsame Zeiten (Anm. 12), S. 207f. H.F. Blunck, Deutsche Kulturpolitik (Anm. 30), S. 134f.; H.F. Blunck, Gliederung der Reichsschrifttumskammer, in: Der Schriftsteller. Zeitschrift des Reichsverbandes Deutscher Schriftsteller e.V. 1934, Η. 1, S. 2-4; H.F. Blunck, Schrifttum und Schrifttumskammer, in: Der Schriftsteller 3 (1935), 5. Heft, S. 201-211. H.F. Blunck, Mein Leben. Einige Aufzeichnungen, Berlin 1934 (= Die Lebenden. Hrsg. von Hellmuth Langenbucher). Vgl. Briefwechsel Thomas Mann und H.F. Blunck (Anm. 14), S. 90-102; vgl. auch J.-P. Barbian, Literaturpolitik (Anm. 5), S. 203. H.F. Blunck, Unwegsame Zeiten (Anm. 12), S. 208 und S. 242. Vgl. J.-P. Barbian, Literaturpolitik (Anm. 5), S. 200.
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die für die Integrität der moralischen Person und des Künstlers Blunck sprechen. Wie konsequent, daß er nach dem Krieg über einen in den USA lebenden Bruder an Thomas Mann appellierte, ihn vor den Richtern zu entlasten, ein Ansinnen, dem sich Mann begreiflicherweise verweigerte. 44 Die Absicht war offenbar, zu einer repräsentativen bürgerlichen Nationalliteratur gezählt zu werden, neben der nunmehr die Herrschaft des Nationalsozialismus zu einer ephemeren Erscheinung werde. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß fur die institutionelle Karriere ähnlich wie für den literarischen Erfolg nach 1933 weniger die Stärke des nationalsozialistischen Standpunktes als die Schwäche eines bürgerlich-konservativen verantwortlich war, die hinter dem völkisch-nationalistisch-ständischen Denken Bluncks stand. Ein kurzer Blick über die Abhandlungen zu Blunck und seine Behandlung in den Literaturgeschichten der Zeit - womit wir endlich beim Thema Literaturwissenschaft und Nationalsozialismus wären - zeigt, daß es jeweils um selektive Lektüren eines Werkes geht, das inhaltlich und ideologisch nicht klar definiert ist. Die Oberfläche der Romane und Erzählungen ließ eben Zuordnungen zu unterschiedlichen konservativen Gruppen und Interessen zu. Ein Werk, das in einzelnen Werthaltungen eindeutig, in seiner Gesamtheit aber nicht auf einen Nenner zu bringen ist - schon gar nicht auf einen politischen oder sonst programmatischen - , erlaubt die Identifizierung des Autors einmal als national-konservativ, dann als dem Nationalsozialismus nahestehend. Die Kontinuität der Rezeption über 1933 hinaus ergibt sich aus der Unauffalligkeit, mit der verwandte weltanschauliche Zuordnungen einander ablösen oder weiter nebeneinander existieren. Freilich sind die Methoden der vorliegenden Deutungen und Literaturgeschichten wenig geeignet, die Gründe für die divergierenden Einvernahmen oder Akzentsetzungen dort zu suchen, wo sie zu suchen sind: nämlich in einer Erzählweise, die Themen und Normen eher unreflektiert kumuliert, statt sie einander logisch zuzuordnen oder auseinander zu motivieren. Nicht mit Problem-, Mentalitäts- oder Motivgeschichte, mit Struktur- oder Stilanalyse hat man es in den Texten über Bluncks Texte zu tun, sondern mit einer Rezeptionshaltung, die hauptsächlich auf Weltanschauliches setzt. Durchaus charakteristisch daher eine Rezension von 1926, die in Bluncks Romanen »wuchtige Weltanschauungsdichtungen, wie sie im heutigen Deutschland auf dem Gebiet der Epik kaum einem anderen gelungen sind«, 45 erkennt. Der Schlüsselbegriff in einer ganzen Reihe von Darstellungen des Blunckschen Werkes ist seit den zwanziger Jahren »Weltinnigkeit«: »Der Ursprung der dichterischen Welt Bluncks ist Weltinnigkeit und Welteinigkeit, das Urgefühl ist mythisch«. So steht es 1927 in Die Tat.46 Aber auch der vom Nationalsozialismus begeisterte Christian Jenssen stellt Bluncks Gesamtwerk 1935 unter das Leitwort »Weltinnigkeit« 47 Die Methodik der Darstellungen und das aufs Ganze gehende, dafür wenig präzise Vokabular der Auslassungen (von Interpretationen kann kaum die Rede 44 45 46 47
Briefwechsel Thomas Mann und H.F. Blunck (Anm. 14), S. 118. M. Behler-Hagen, Hans Friedrich Blunck (Anm. 24), S. 246. Paul Wegwitz, Hans Friedrich Blunck, in: Die Tat 19 (1929), Nr. 1, S. 21-30, S. 24. Christian Jenssen, Hans Friedrich Blunck. Leben und Werk, Berlin 1935, S. 73.
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sein) erlauben keinen Rückschluß darüber, ob nun von einem wie auch immer konservativen oder protofaschistischen Autor gesprochen wird. Das Jahr 1933 löst nicht etwa die Kategorien oder Wertungen der älteren Sekundärliteratur zu Blunck ab; sie werden höchstens der Zeitlage stärker angepaßt. Bluncks Romane seien, so schreibt Albert Soergel in Dichter aus Deutschem Volkstum 1937, »ein Kampf mit dem Ursinnbild und um das Ursinnbild der Einheit des Ewigen, Unsinnlichen, Unsichtbaren, ein Kampf mit und um Gott.« 48 Bei Josef Nadler heißt es, die Urvätersaga zeige »aus nordischer Menschwerdung und nordischer Landschaft das Seelenwunder germanischen Glaubens.« 49 Selbst Christian Jenssen und Ernst Adolf Dreyer, die sich in ihren Gesamtdarstellungen von 1935 am entschiedensten durch nationalsozialistische Ideologie bestimmen lassen und der universitären Literaturwissenschaft nicht angehören, bringen dem Inhalt nach nichts Neues. Die aktuelle Diktion überlagert sich mühelos Wertungen und Beschreibungskriterien, die schon längst eingeführt sind; wirklich neu ist allenfalls die Polemik, das Kämpferische des Stils, etwa bei Dreyer, der sichtlich zwischen Bluncks »Dichtung« und einer kritisch-liberalen Literatur polarisiert: »Das Gesamtwerk Bluncks unterscheidet sich von aller tendenziösen Dichtung dadurch, daß es nicht Dogma, sondern Haltung, nicht Zeitgespräch, sondern Sittum, nicht Problematik, sondern Führung, nicht Stil, sondern Formfülle in sich trägt.« 50 Hier gehe es um die »Aufrichtung eines geistigen Mythos, einer totalen Dichtung als Wortwirklichkeit der Inneren Wahrhaftigkeit.« 51 Der modische Jargon, den Dreyer vorführt, steht dem Nationalsozialismus nahe; er legt sich jedoch nur oberflächlich über eine längst eingeführte Weise der Literaturbetrachtung. Selbst die antithetischen Zuordnungen wiederholen Assoziationen, die aus der Weimarer Zeit und aus den Debatten um »Schriftstellerei und Dichtung« bekannt sind.52 Dreyers Buch, das sich so nachdrücklich zum Nationalsozialismus bekennt, kann nur die Person und das Werk Bluncks dem Standpunkt der Partei naherücken, an keiner Stelle jedoch einsichtig machen, daß es sich um ein nationalsozialistisches Werk handelt. Selbst für einen überzeugten Parteigänger wie Dreyer scheint nationalsozialistische Literatur keine eigene Kategorie zu bilden. So ergibt sich für die frühe Rezeption Bluncks über die Grenze des Jahres 1933 hinaus, daß die inhaltliche Unbestimmtheit seiner Werke, die ihre Lektüre zwar nicht in völlig konträre, aber doch in weit gefacherte Richtungen erlaubt, ihr Pendant in einer Unbestimmtheit der literaturwissenschaftlichen Begriffe hat, mit denen dieses Werk beschrieben wird. Auch sie sind unscharf, schwach und - die konservative Tendenz einmal vorausgesetzt - in bürgerlicher wie in faschistischer Ideologie zu gebrauchen.
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Albert Soergel, Hans Friedrich Blunck, in: Ders., Dichter aus deutschem Volkstum. Dichtung und Dichter der Zeit. Eine Schilderung der deutschen Literatur der letzten Jahrzehnte, 3. Folge, Leipzig 1934, S. 185-206, S. 187. Josef Nadler, Literaturgeschichte des deutschen Volkes. Dichtung und Schrifttum der deutschen Stämme und Landschaften, 4. Bd.: Reich (1914-1940), Berlin 4 1941, S. 250. E.A. Dreyer, H.F. Blunck (Anm. 21), S. 30. Ebd., S. 55. Vgl. I. Jens, Dichter zwischen rechts und links (Anm. 3), S. 98ff.
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Der Gestus des Existentiellen, der die meisten Kommentare zu Bluncks Werk beherrscht, verdeckt die Verschiebungen und Differenzen, die durch unterschiedliche Rezeptionshaltungen oder durch die gewaltsamen Erscheinungen im Umfeld der »Machtergreifung« auftreten könnten. Ein Beispiel ist die annähernde Austauschbarkeit zweier Wertkomplexe in den Romanen: dem des »nordischen« oder »germanischen Menschen« und des »Gottsuchertums«. Nur scheinbar weisen die beiden ersten Monographien über Blunck, Otto Ernst Hesses Hans Friedrich Blunck. Ein Beitrag zur nordischen Renaissance von 1929 und Lisel Etscheids Dissertation Das Gotterlebnis des germanischen Menschen von 1932 in unterschiedliche Richtungen. Gemeint ist in beiden Fällen eine existentielle Gestimmtheit, ein Gefühl des Schicksalhaften, das beliebig im Gewand des Mythischen, Heidnischen, Christlichen, Germanischen, Nordischen, Völkischen auftreten darf. Das reibungslose Nebeneinander von Religiösem und Völkischem setzt sich in der Sekundärliteratur bis in die Kriegsjahre fort. Einzig Adolf Bartels moniert schon 1928 Bluncks Anfälligkeit für Religiöses, seine Sympathie mit dem Judentum und last but not least den Entwurf einer Romanheldin, der es in den Augen Bartels' gar nichts hilft, auf den schönen Namen Trade zu hören, da sie doch schwindsüchtig ist.53 Bartels' entschiedene Scheidung der weltanschaulichen Komplexe, die man sonst in Darstellungen zu Blunck durchaus vermißt, zeigt, worin ein dezidiert faschistischer Standpunkt besteht. Er hebt sich in auffalliger Weise von der Passivität einer Romanliteratur und Literaturwissenschaft ab, die die Vertauschbarkeit der Wertsphären überall begünstigt. Interessant ist daher, daß Blunck sich in einem Brief an Thomas Mann von den ihn betreffenden Passagen in Bartels' Literaturgeschichte distanzierte: »Da Adolf Bartels in einer Beschreibung seines dritten Bandes der Literaturgeschichte mich zu den völkischen (er meint wohl volkhaften) Dichtern rechnet und dieser Bericht, in einem Buchhändlerprospekt aufgenommen, jedermann in Schriften zugeschickt worden ist, möchte ich, damit es nach Gesprächen, die wir führten, nicht nach einem Doppelgesicht aussieht, Ihnen einen späteren Artikel von Bartels zugänglich machen, der zugleich als Richtigstellung erscheint. Dies zur Vorbeugung und fur Sie, weil wir Weggenossen aus einer Landschaft sind und beide die ausgleichende Aufgabe dieser Landschaft aus ihrer Tradition heraus empfinden und verfolgen.« 54 Welche Wichtigkeit Thomas Mann Bluncks Anbiederung beimißt, erhellt aus dem kurzen Antwortschreiben, in dem Bartels kurz, knapp und ironisch als »Leuchte« abgetan wird.55 Auf Bluncks Seite ist dagegen bezeichnend, wie er sich den Weg zur Anerkennung in allen Kreisen offen zu halten müht, wie er Bartels nicht als Person und tendenziösen Literarhistoriker ablehnt, sondern nur wegen einer für sich selbst wenig günstigen Darstellung, die zugleich den buchhändlerischen Erfolg bedroht. Thomas Mann gegenüber versucht er, das Landschaftliche im eigenen Werk so weit wie möglich zu verbürgerlichen. Blunck war wohl sehr daran interessiert, seine Roma53
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Adolf Bartels, Geschichte der deutschen Literatur. 3. Bd.: Die neueste Literatur, Leipzig 1928, S. 1187-1190. Briefwechsel Thomas Mann und H.F. Blunck (Anm. 14), S. 37. Ebd.
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ne für die Identifikation mit unterschiedlichen ideologischen Sphären offen zu halten, und rückte gerade deswegen in die Nähe jenes »Doppelgesichtes«, von dem er sich im Schreiben an Mann distanziert. An der zum Teil kalkulierten »Passivität«, d.h. mehrfachen Deutbarkeit der Werkoberfläche wird es liegen, daß Blunck den Ausstieg aus den nationalsozialistischen Institutionen ohne größere Schäden überstand, so wie zuvor schon den Einstieg. Für den ideologisch kompromittierten Autor sind Zweideutigkeiten von Vorteil. Nur selten liegen die gleichzeitig befahrenen Wege säuberlich getrennt nebeneinander wie in den beiden während der Kriegsjahre erschienenen Lyrikbänden, von denen das eine von 1940, Mahnsprüche, Durchhalteparolen in Versform enthält, das andere von 1943 Andachtsbüchlein heißt. 56 Was verbirgt sich wirklich hinter dem »Glauben des nordischen Menschen«? Ein nordischer Mensch, der gläubig ist, oder ein Mensch, der an das Nordische glaubt? Wem gilt das Bekenntnis des Opferwilligen, dem Herrn oder dem Führer? Dergleichen Blickwendungen vollziehen sich in den Romanen nicht markiert, sondern unauffällig und scheinen mehr der Disposition der Leser als dem Telos der Erzählung zu entspringen. Nach dem Krieg unterstützte die Unverfanglichkeit der Märchen- und Balladenproduktion, die Blunck in allen Jahren weiterverfolgte, sicherlich eine bürgerliche Verschleierung des Standpunktes, den der Autor während des Dritten Reiches eingenommen hatte, eine Unauffalligkeit, die in den Ambivalenzen seiner Erzählungen von Gott und der nordischen Welt schon angelegt war. Die methodische Schwäche der Literaturkritik und -geschichtschreibung jener Jahre, und auch nach 1945, zeigt sich darin, daß sie auf einer Klärung der narrativen Motivierungen, die Religiöses und Völkisches verbinden, nicht genau bestanden hat. Wie steht es zum Beispiel um die Heiligkeit jener Maria, die in Wolter von Plettenberg, einem Roman von 1938, den Deutschen Orden durch Wundertätigkeit länger als die Helden hoffen durften gegen »den Russen« widerstehen und am Ende die Belagerten im Feuerbrand einer Kapelle Nibelungennot und -tod erleiden läßt? Daß der Roman in »konstruierten Analogien zur Gegenwart« die »Expansionsabsichten« des Deutschen Reiches unterstützte, ist schon beobachtet worden. 57 Eine Untersuchung wäre es wohl wert herauszufinden, wie ein umfangreicher literarischer Apparat das Christliche zur Legitimation und zugleich Verschleierung eines machtpolitischen Standpunkts heranzieht. 58 Die Anfänge der schwachen Romanästhetik und der ebenso schwachen literaturwissenschaftlichen Begrifflichkeit, denen die Inhalte von Wertsphären zweitran-
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Beide bei Diederichs in Jena erschienen. Erwin Rotermund und Heidrun Ehrke-Rotermund, Literatur im »Dritten Reich«, in: Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 3, 19181980. Hrsg. von Viktor Zmegac, Königstein 1984, S. 318-384, S. 337f. Dabei ginge es um mehr als den Nachweis einer »Kombination der einzelnen Ideologeme«, die Wolfgang Wippermann in seinem Beitrag zum historischen Roman des Dritten Reiches am Beispiel von Wolter von Plettenberg vornimmt. W. Wippermann, Geschichte und Ideologie im historischen Roman des Dritten Reiches, in: Die deutsche Literatur im Dritten Reich (Anm. 16), S. 183-206, S. 194.
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gig und weitgehend vertauschbar sind, soweit nur ihre Funktion als existentielle Geste und weltanschauliche Orientierung aufs Ganze sicher scheint, stammt nicht aus der Ideologie des Nationalsozialismus, sondern aus der Zeit, in der der Erste Weltkrieg für die Deutschen keinen Triumph und Sieg mehr versprach. Die Ausweitung der Germanistik zur »Deutschwissenschaft«59 und die Festlegung der Literatur auf das Existentielle60 sind in der Weimarer Republik mühsame Kompensationsarbeit, bei der über die Substanzlosigkeit vieler der beschworenen Werte hinweggesehen wurde. Auch die literarischen Anfange Bluncks liegen in Weltkriegslyrik, seine historischen Romane sind ihrem Ansatz nach Versuche zu einer »anderen« Nationalgeschichtschreibung nach Versailles. Die Trilogie der Urväter,61 später ein Lieblingsbuch des Dritten Reiches, ist historisch zunächst ein Beitrag zu jener umfangreichen Produktion von Geschichtsromanen, die nach dem Ersten Weltkrieg zur »Überwindung des Historismus« ansetzt.62 Blunck verdient in diesem Zusammenhang durchaus das Interesse des Literarhistorikers, wenn er auch künstlerisch nicht überzeugt und sich später durch seine Kollaboration mit dem Nationalsozialismus kompromittiert hat. Zunächst aber bemüht er sich um Alternativen zur herkömmlichen Geschichtschreibung. Der Weg in die Prähistorie ist zugleich eine methodische Neuorientierung. Bluncks Urväter sind ein Volk ohne Staat, die Subjekte der Geschichte nicht in der bekannten Weise mit dem Telos der Historie verbunden. Nicht um Repräsentanten einer bürgerlichen Gesellschaft geht es hier, sondern um Epiphanien kulturanthropologischer Entwicklungsschübe, Episoden statt Handlungszusammenhänge, expressionistische Animation der Umwelt und Astralmythologie statt psychologische Entwicklung. Die Nationalgeschichte wird mit einem kollektiven Zivilisationsprozeß identisch. Bluncks intellektuelles und sprachkünstlerisches Vermögen ist nicht sehr groß. Vor dem Hintergrund einer doppelten Krise, der des realistischen Romans und der des Historismus, sind die Urväter jedoch ein charakteristisches Kind ihrer Zeit, so wie - man erschrecke nicht - Thomas Manns Josephstetralogie in ihrem Ursprung. Der Vergleich zwischen den beiden mehrbändigen Romanprojekten der beiden korrespondierenden Kollegen macht deutlich, daß nicht die Prähistorie, nicht der Mythos, nicht der Nachhistorismus das Problem sind, sondern die unterschiedlichen Funktionalisierungen dieser Aspekte, die im literargeschichtlichen Kontext hier wie da legitim und interessant sind. Thomas Manns aus einem Brief an Karl
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Vgl. Eberhard Lämmert, Germanistik - eine deutsche Wissenschaft, in: Nationalismus in Germanistik und Dichtung. Dokumentation des Germanistentages in München 1966. Hrsg. von Benno von Wiese und Rudolf Henß, Berlin 1967, S. 15-36. Vgl. Wilhelm Voßkamp, Kontinuität und Diskontinuität. Zur deutschen Literaturwissenschaft im Dritten Reich, in: Wissenschaft im Dritten Reich. Hrsg. von Peter Lundgreen, Frankfurt/Main 1985, S. 140-162, S. 147. Erstausgaben: H.F. Blunck, Kampf der Gestirne, Jena 1926; ders., Streit mit den Göttern, Die Geschichte Welands des Fliegers, München 1926; ders., Gewalt über das Feuer, Jena 1928. Erste Gesamtausgabe als Trilogie: H.F. Blunck, Urvätersaga, Jena 1934. Vgl. von der Verfasserin, Geschichtsdenken und literarische Moderne. Zum historischen Roman der Weimarer Republik, Tübingen 1994.
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Kerenyi vom Februar 1942 bekanntes Diktum von der Umfunktionierung des Mythos, den er den »fascistischen Dunkelmännern aus den Händen [...] nehmen« wolle, 63 zeugt jedoch von einem methodischen Blick auf das eigene Werk und auf die Bedeutung seiner Ästhetik im politischen Kontext, der Blunck fremd ist. Über die Funktion von literarisiertem Mythos im historischen Kontext legt er sich kaum Rechenschaft ab. Die ideologische Position seiner Urväter ist denn auch durchaus nicht eindeutig. Sie sind keine positive Gründung eines germanischen Großreiches in der Frühgeschichte. Wer sie dazu macht, liest sehr viel hinein. Die Trilogie suggeriert dem Leser Fremdheit, die kaum mit der spätbürgerlichen Gegenwart zu vermitteln ist. Etwas, was als »geschlossenes Weltbild«, als »germanisch«, als »Tragik« und als »Geschichte« suggestiv, aber unbestimmt den Leser anspricht, wird erst in der Rezeption, die ganz unter dem Zeichen der krisenhaft erlebten Diskontinuität von 1914/18 steht, zur literarischen Beglaubigung nationaler Kontinuität. Das Interesse an dem dichterischen Nachweis einer solchen Kontinuität scheint der Literaturgeschichtschreibung der zwanziger Jahre die Frage nach der differenzierten Funktionalisierbarkeit historischer Narration im nachhistoristischen Kontext überflüssig gemacht zu haben. Sie wurde jedenfalls kaum gestellt. Dagegen fragte Julius Petersen rhetorisch: »Wo können führerlos wir besser leitende Kräfte hernehmen als aus der vaterländischen Geschichte und aus dem Nacherleben großer Persönlichkeiten unserer Vergangenheit?« 64 und erklärte »die Dichtung [zur] Erzieherin des Volkstums«. 65 Exemplarisch fur den volkspädagogischen Auftrag, der nunmehr an den historischen Roman erging, ist eine Bibliographie von Hermann Bock und Karl Weitzel Der historische Roman als Begleiter der Weltgeschichte von 1920, der 1925 eine Erweiterung folgte. 66 Sie macht sich ausdrücklich zur Aufgabe, die orientierungslose Jugend der Weimarer Republik durch geeignete Romanlektüre an die Nationalgeschichte zurückzubinden. Ein großer Teil der Literaturgeschichtschreibung der zwanziger und frühen dreißiger Jahre kann einem umfassenden Unternehmen mit ähnlichem Ziel zugerechnet werden. Immer wieder sind empfohlene Autoren enzyklopädisch aufgelistet, ihre erzählende Prosa dem Inhalt nach Epochen und Regionen zuordnet. Literatur wird tendenziell zur lebhaft illustrierenden Volkskunde und Geschichte. Dabei erklärt die nationale Literaturgeschichtschreibung die nationale Geschichtschreibung zu ihrem Hauptanliegen. Die Dynamik einer spezifischen, die Gegenwartserfahrung kompensierenden Rezeption macht produktionsästhetische und problemgeschichtliche Aspekte der empfohlenen oder auch nur erwähnten Literatur zweitrangig. Ausreichend ist zumeist die pauschale Zuordnung eines Textkorpus zu einem bevorzugten Genre: dem Heimat-, Reise-, Gesellschafts- oder Arbeiterroman, besonders aber
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Thomas Mann - Karl Kerenyi, Gespräch in Briefen, Zürich 1960, S. 98. Julius Petersen, Literaturwissenschaft und Deutschkunde, in: ZfDk 38 (1924), S. 4 0 3 415, S. 415. Ebd., S. 413. Leipzig: Hachmeister und Thal 1920.
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zum Geschichtsroman. Nach 1933 kann der eingeschlagene Weg ohne weiteres fortgesetzt werden. Nichts, nur die Unterdrückung der Namen inzwischen exilierter Autoren, unterscheidet die 1940 erschienene Bibliographie Arthur Luthers Deutsche Geschichte in deutscher Erzählung1 von dem verwandten Unternehmen Bocks und Weitzels aus den zwanziger Jahren. Die Literaturgeschichten, die sich mit Vorliebe des historischen Romans annehmen, bilden in den ihn betreffenden Passagen lediglich eine prosaische Erweiterung dieser Bibliographien.68 Die volkspädagogische Absicht ist geblieben, neu ist nach 1933 lediglich das Selbstbewußtsein, mit dem deutsche Geschichte wieder als eigene, nicht nur den Siegermächten zum Trotz behauptete, gefeiert wird. Die wenigen eingängigeren Auseinandersetzungen mit den Werken Bluncks aus der Zeit der Weimarer Republik zeigen, daß er sehr wohl als Vertreter einer nachhistoristischen und nachrealistischen Romanliteratur erkannt wurde und insofern auch als Vertreter der zeitgenössischen Literatur. Was fehlt, ist jedoch ein kritisches Vokabular, mit dem es schon den Zeitgenossen möglich gewesen wäre zu beobachten, wo der Repräsentant der Literatur der Weimarer Republik es verfehlte, zu einem »Klassiker der Moderne« zu werden, und statt dessen erst zu einem Wegbereiter des Faschismus und dann zu seinem Instrument wurde. Dergleichen Überlegungen liegen außerhalb des Horizontes der Epoche. Für spätere Literarhistoriker ist mit der Reduktion der literargeschichtlichen Stellung Bluncks auf seine Sympathie mit den Institutionen der nationalsozialistischen Herrschaft darüber ebenfalls kein Aufschluß zu erlangen. Eher schon mit der Analyse jenes Lektüreverhaltens, bei dem es mehr um die Befriedigung eines frustrierten Nationalgefuhls als um die Wahrnehmung undeutlicher Handlungsmotivationen, austauschbarer und unterschiedlich funktionalisierbarer Wertsphären ging. An abwertenden Urteilen über das schriftstellerische Vermögen Bluncks hat es im Nachhinein nicht gefehlt. Doch droht die Identifikation von Inhalten, die dem Nationalsozialismus affin sind, zu schnell mit der Abfertigung der Romane als künstlerisch unbedeutend in eins zu fallen. Vielleicht aber gibt es, so wie es eine nachvollziehbare und keineswegs einsinnige Zeitgenossenschaft Bluncks zur Epoche der Weimarer Republik gibt,
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Arthur Luther, Deutsche Geschichte in deutscher Erzählung. Ein literarisches Lexikon, Leipzig 1940, 2 1943. Zu Blunck in unterschiedlicher Breite, aber meist doch Knappheit: Guido K. Brand, Werden und Wandlung. Eine Geschichte der deutschen Literatur von 1880 bis heute, Berlin 1933, S. 268-270; Paul Fechter, Geschichte der deutschen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Berlin 1941, S. 433-435; Heinz Kindermann, Das literarische Antlitz der Gegenwart, Halle 1930; Franz Koch, Geschichte deutscher Dichtung, Hamburg 1937, S. 340f.; Hellmuth Langenbucher, Volkhafte Dichtung der Zeit, Berlin 6 1941, S. 410-415; Norbert Langer, Die Deutsche Dichtung seit dem Weltkrieg. Von Paul Ernst bis Hans Baumann, Karlsbad und Leipzig 2 [1940], S. 156-159; Franz Lennartz, Die Dichter unserer Zeit. 275 Einzeldarstellungen zur deutschen Dichtung der Gegenwart, Stuttgart 1938, S. 24-26; Walther Linden, Geschichte der deutschen Literatur von den Anfangen bis zur Gegenwart, Leipzig 1937, S. 461; Arno Mulot, Die deutsche Dichtung in unserer Zeit, Stuttgart 2 1944, S. 260, S. 314 und S. 526-531; Hans Naumann, Die deutsche Dichtung der Gegenwart (1885-1933), Stuttgart 6 1933, S. 247.
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auch eine Deutung seiner späteren Romane, die sie mehr der Zeit der faschistischen Herrschaft in Deutschland als unmittelbar der nationalsozialistischen Ideologie zuordnet. Eine Interpretation der Großen Fahrt z.B. könnte auf eine Aporie, eine Widersprüchlichkeit des Romans stoßen, die mit Blick auf die Entstehungszeit um 1933 überaus aufschlußreich ist, auf die Tatsache nämlich, daß dieser Roman den Gedanken der Nationalgeschichtschreibung ad absurdum führt. Diderik Pining, Seemann aus Hildesheim, Statthalter des dänischen Königs in Norwegen, entdeckt auf einsamer Fahrt Amerika und findet dann ein Leben lang niemanden, soweit er auch sucht, der ihm hülfe, an der grünen Küste des fruchtbaren Landes eine Kolonie zu gründen. Die Zeit ist wider ihn und sein Projekt. Der Leser soll wohl glauben, daß die Nationalsprache Amerikas nur einer Verkettung unglücklicher Zufälle in der Vergangenheit wegen heute nicht die deutsche ist, und erfahrt doch im Grunde nur, daß Deutschland im ausgehenden 15. Jahrhundert keine »Nation« war, sondern militär- und wirtschaftspolitischen, dynastischen und konfessionellen Mächten bis zur Nichtigkeit unterworfen. Dem deutschen Volk begegnet der Leser in diesem Roman in der Weise, daß es entweder Volk oder deutsch ist, kaum jedoch beides zugleich. Blunck glaubt, eine Ironie des Schicksals zu schildern, aus der ein deutsches Publikum des zwanzigsten Jahrhunderts Mut zur Korrektur der Geschichte, zu neuem Selbstbewußtsein und glücklicher Selbstverwirklichung finde. In Wirklichkeit stellt der Roman selbst eine Ironie des ideologischen Standpunktes dar, der seinen Verfasser beherrscht: nämlich die Gegenstandslosigkeit jener konzeptuellen Einheit von »Volk«, »deutsch«, »Expansion« und »historischer Kontinuität«, die hier beschworen wird, doch nirgends in der geschilderten Vergangenheit konkret gezeigt werden kann. Wieder ist eine Wertsphäre, hier die des Deutschen, auf die Verworrenheit der Assoziationen und Hierarchisierungen im Roman angewiesen, um den Leser in den Bann zu schlagen. Der zeitgenössischen Literaturwissenschaft fehlte wohl das Instrumentarium, um auf dergleichen Aporien und Unscharfen aufmerksam zu machen; vielleicht war aber auch dort, wo sie zu unterscheiden vermocht hätte, ein Autor wie Blunck nicht wichtig genug. Wie nahe Einsicht und Überdruß beieinander liegen, zeigt wenigstens Arthur Eloesser, der 1931 an Blunck vor allem künstlerische Überzeugungskraft vermißte. Er ertappt den Verfasser der Urvätersaga bei einem Satz wie »Auch der Haarpelz wich nur langsam...«, und bemerkt zu Recht: »das [...] ist von keinem Dichter gesagt.« Die »vielen Erklärungen ex cathedra« kritisiert er bei Blunck, »die trotz manchen balladesken Ausschmückungen keine Dichtung ergeben.« 69 Mit den narrativen Strukturen der Romane verhält es sich ähnlich: Sie brechen unter der Last der wechselnden Botschaften zusammen. Nur im Schatten einer habituellen Unaufmerksamkeit auf ähnliche Brüche zwischen literarischem Text und Weltanschauung war der erfolgreiche Einzug des Schriftstellers Blunck in die Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft - und sein verhältnismäßig unbeschädigter Auszug aus dieser Epoche möglich. Kein Grund, es bei der pauschalen
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Arthur Eloesser, Die deutsche Literatur. Von der Romantik bis zur Gegenwart, Berlin 1931, S. 6 1 7 - 6 1 8 .
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Rede von zweitrangiger Literatur bewenden zu lassen und sofort auf die Kritik der bloßen Ideologie überzugehen. Denn nicht die Beschäftigung mit dem Nazi Blunck wird seine schriftstellerische Karriere im Dritten Reich verständlich machen, sondern nur die mit dem Romancier.
Ralf Klausnitzer (Berlin)
Umwertung der deutschen Romantik? A s p e k t e d e r l i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n R o m a n t i k - R e z e p t i o n im Dritten Reich.*
A l s O s k a r Walzel, » D o y e n der d e u t s c h e n R o m a n t i k - F o r s c h e r « , 1 d e r Vierteljahrsschrift
für Literaturwissenschaft
und Geistesgeschichte
Deutschen
im J a n u a r 1935
eine umfangreiche Abhandlung über poetologische Differenzen zwischen Jenaer u n d H e i d e l b e r g e r R o m a n t i k a n b o t , f ü h l t e sich H e r a u s g e b e r Paul K l u c k h o h n n a c h e i g e n e n W o r t e n »in e i n e p e i n l i c h e L a g e versetzt«. 2 Seine a b l e h n e n d e
Haltung
g e g e n ü b e r Text u n d Verfasser, die K l u c k h o h n u n m i ß v e r s t ä n d l i c h d e m H e r a u s g e b e r k o l l e g e n Erich R o t h a c k e r mitteilte, e n t s p r a n g n i c h t - w i e d i e s e r s o f o r t v e r m u t e te -
d e m g e k r ä n k t e n Stolz, bei d e r N a c h f o l g e des
1933 e m e r i t i e r t e n
Walzel
ü b e r g a n g e n w o r d e n z u sein. 3 Sie w a r a u c h nicht - z u m i n d e s t nicht p r i m ä r - d u r c h Walzeis o f f e n k u n d i g e M i ß a c h t u n g d e r v o n K l u c k h o h n h e r a u s g e g e b e n e n Reihe
i n n e r h a l b d e s R e c l a m - P r o j e k t s Sammlung
denkmäler
in Entwicklungsreihen
Kunstanschauung
der jüngeren
literarischer
Kunst-
und
RomantikKultur-
diktiert, in d e r e n R a h m e n g e r a d e erst der B a n d Romantik
mit e i n e r N e u b e w e r t u n g d e r h o c h r o m a n -
* Für hilfreiche Hinweise danke ich Holger Dainat. - Zahlreiche Beobachtungen und Aussagen dieses für die Magdeburger Tagung im Herbst 1996 angefertigten Beitrags erfuhren durch zwischenzeitlich veröffentlichte Forschungsbeiträge ihre Präzisierung und Vertiefung. Neben zahlreichen Aufsätzen von Holger Dainat sind hier zu nennen die Dissertationen von Marcus Gärtner (Kontinuität und Wandel in der neueren deutschen Literaturwissenschaft nach 1945, Bielefeld 1997), Birgitta Almgren (Germanistik und Nationalsozialismus: Affirmation, Konflikt und Protest. Traditionsfelder und zeitgebundene Wertung in Sprach- und Literaturwissenschaft am Beispiel der GermanischRomanischen Monatsschrift 1929-1943, Uppsala 1997) und Ralf Klausnitzer (Blaue Blume unterm Hakenkreuz. Die Rezeption der deutschen literarischen Romantik im Dritten Reich, Paderborn u.a. 1999) sowie die Literatur- und Wissenschaftsgeschichte verschränkende Habilitationsschrift von Rainer Kolk (Literarische Gruppenbildung am Beispiel des George-Kreises 1880-1945, Tübingen 1998). 1 Erich Rothacker an Paul Kluckhohn, 22.2.1935, in: ULB Bonn, Nachlaß Rothackerl, Bl. 7. 2 P. Kluckhohn an E. Rothacker, 19.2.1935, in: ebd., Bl. 24. 3 Vgl. P. Kluckhohn an E. Rothacker, 5.3.1935, in: ebd., Bl. 25: »Es ist eine Unterstellung, gegen die ich mich verwahren muss, wenn Du schreibst, Du hättest den Eindruck, ich schöbe Walzel die Schuld zu, dass ich nicht sein Nachfolger geworden und sei daher gereizt gegen ihn.« - Tatsache war, daß Kluckhohn im Berufungsverfahren den ersten Listenplatz inne hatte, jedoch am neuen hochschulpolitischen Grundsatz, keine Ordinarien zu berufen, gescheitert war; vgl. dazu E. Rothacker an P. Kluckhohn, 2.2.1935, in: ebd., Bl. 6.
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Klausnitzer
tischen >Volkstums-Entdeckung< erschienen war.4 Kluckhohns Verweigerungshaltung hatte mehrere Beweggründe, die ein bezeichnendes Licht auf Brüche und Kontinuitäten der Romantik-Forschung im Dritten Reich werfen. Sie illustrieren, wie die Neuere deutsche Literaturwissenschaft auf die 1933 artikulierte Forderung nach einer Umwertung der deutschen Romantik reagiert, und machen damit die veränderten Bedingungen wissenschaftlicher Kommunikation nach der nationalsozialistischen Machtergreifung deutlich. Die Debatte um eine Umwertung der deutschen Romantik, seit Mitte der 20er Jahre virulent und durch Walther Lindens programmatische Forderung vom Frühjahr 1933 mit pronocierter Schärfe erneut auf die Tagesordnung gesetzt, schien in Walzeis länger angekündigter Wortmeldung ihren Abschluß gefunden zu haben. Sein Text - nach Kluckhohns Sträuben, Rothackers Intervention und mehrfachen Korrekturen im Romantik-Biedermeier-Themenheft der DVjs 1936 doch noch abgedruckt 5 - markierte den vorläufig letzten Versuch, Friedrich Schlegel und die ästhetischen Projekte der Frühromantik als die eigentlich schöpferischen Kräfte der Romantik zu retten und die Einheit der romantischen Bewegung in ihrer poetologischen Geschlossenheit zu erweisen. Noch Hans Pyritz' forschungsgeschichtliche Rückschau im Rahmen seiner Romantikvorlesung 1942 erkannte in Walzels Verteidigung der Jenaer Romantik die Apologie einer auf Poesie und Ästhetik fokussierten Rezeptionshaltung, die den neuen Tendenzen zuwiderlaufe: Die spätestens nach 1933 einsetzenden Verschiebungen in Gegenstandsbestimmung und Thematisierungsweisen der Romantikforschung richteten sich, so Pyritz, vorrangig auf »die neuen Werdekräfte jenseits des ästhetischen Bereichs (für die uns heute der Sinn aufgegangen ist)« - und dafür mangele Walzel »das Organ«. 6 Mit den hier angedeuteten Differenzen sind Grundlinien der intensiven und facettenreichen Romantikrezeption in der Zeit des Nationalsozialismus umrissen. Nachfolgend versuche ich, dieses Diskursfeld zu ordnen. Dabei konzentriere ich mich auf die kognitiven Aspekte der Forschung; institutionelle Rahmenbedingungen werden ebenso vernachlässigt wie weitere Aspekte dieses brisanten Kapitels
4
Kunstanschauung der jüngeren Romantik. Bearb. von Andreas Müller, Leipzig 1934 (= Deutsche Literatur in Entwicklungsreihen. Reihe [17] Romantik Bd. 12). - Müller, der im DVjs-Band Romantikforschungen von 1929 mit einem umfangreichen Beitrag über die Auseinandersetzung der Romantik mit den Ideen der französischen Revolution vertreten war (Romantikforschungen, Halle/Saale 1929, S. 243-333), kennzeichnete nun die ästhetischen Betrachtungen der Jüngeren Romantik gegenüber den philosophischen Spekulationen der älteren Romantik als »Einordnung gestaltender Handlung in ein kulturpolitisches Programm, das aus eindeutig nationalem und christlichem Geiste gebildet ist und auf eine Lösung der in der geschichtlich erwachsenen Volksgemeinschaft gegebenen schöpferischen Kräfte zielt« (Einfuhrung, S. 10).
5
Oskar Walzel, Jenaer und Heidelberger Romantik über Natur- und Kunstpoesie, in: DVjs 14 (1936), S. 325-360. Hans Pyritz, Vorlesung Deutsche Romantik (SS 1941, SS 1942). DLA Marbach, A. Pyritz, ohne Sign., Bl. 36. - Zur grundsätzlichen Differenz zwischen Walzels und den an Alfred Baeumler anknüpfenden Romantikdeutungen vgl. auch Benno von Wiese, Forschungsbericht zur Romantik, in: DuV 38 (1937), S. 65-85, hier S. 68f.
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deutscher Wissenschafts- und Kulturgeschichte, zu denen neben der problematischen und widerspruchsvollen Integration romantischer Theoreme in weltanschauliche und ideologische Diskurse im Dritten Reich auch die Repräsentation der Romantik in Schule, Medien und inszenierten Jubiläumsfeiern zählt. Ohne an dieser Stelle detailliert auf die vielfältigen Romantikforschungen der deutschen Literaturwissenschaft nach der >geistesgeschichtlichen Wende< einzugehen, möchte ich zuerst kurz den Methodenpluralismus der universitätsgermanistischen Romantikrezeption vor 1933 skizzieren. Die von beteiligten Akteuren als krisenhaft empfundene Dissoziation der Konzepte und Methoden - mehrfach in Analogie zu einer entzweiten gesellschaftlichen Wirklichkeit gesehen - bildete 1933 einen Bezugspunkt für die Zustandsbeschreibungen einer Disziplin, deren kognitive Einheit durch eine beschworene Neuausrichtung an >Volk< und >Volksganzem< - wiederum in Analogie zur politisch praktizierten Einebnung von Widersprüchen und Konflikten - restituiert werden sollte. Die von Walther Linden im Juni 1933 erhobene Forderung nach einer Umwertung der Romantik und die daraufhin einsetzende Debatte, so versuche ich im Anschluß deutlich zu machen, bedeutete eine Applikation der in Reaktion auf die Machtergreifung entstandenen Programmentwürfe auf die Romantikforschung ohne jedoch zu einem Paradigmenwechsel innerhalb der Forschungslandschaft zu führen. Anhand der Verschiebungen in Gegenstandsbereich und Thematisierungsweisen ist in einem dritten Schritt die Spezifik der konzeptionellen Neuansätze zu klären, ehe in einer kursorischen Übersicht die weiterhin divergierenden Zugänge auf methodischer Ebene umrissen werden.
1. Als Paul Böckmann in der Zeitschrift fiir deutsche Bildung im Frühjahr 1933 Ein Jahrzehnt Romantikforschung resümierte, begann er seinen Literaturbericht mit der Feststellung, daß die Beschäftigung mit der romantischen Literaturepoche »zu einem der lebendigsten Bereiche der neueren Literaturwissenschaft« avanciert sei.7 Diese Diagnose traf sich mit Julius Petersens bereits 1926 getroffener Aussage, daß »die heutige Literaturgeschichte beinahe mit Romantikforschung gleichgesetzt« werden könne. 8 Nach Hegels Kritik, Heines Spott und einem Schattendasein in den Literaturgeschichten des 19. Jahrhunderts erfuhr die Romantik seit ihrer neuromantischen Wiederentdeckung und mit der >geistesgeschichtlichen Wende< eine Aufmerksamkeit und Neubewertung, die sie zu einem der wichtigsten Gegenstände der Neugermanistik werden ließ. Noch 1942 erklärte Hans Pyritz, daß die Romantik als »das vieldeutigste und schillerndste Phänomen der deutschen Geistesgeschich-
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Paul Böckmann, Ein Jahrzehnt Romantikforschung, in: ZfdB 9 (1933), S. 47-53, S. 47. Julius Petersen, Die Wesensbestimmung der deutschen Romantik. Eine Einführung in die moderne Literaturwissenschaft, Leipzig 1926, S. 2.
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te« der »Zentralpunkt aller literaturhistorischen Bemühungen; Prüfstein und Kampfplatz aller wissenschaftlichen Methoden; ja schließlich Anlaß zu grundsätzlichen Fragen der geschichtlichen Erkenntnismöglichkeiten überhaupt« sei.9 Seit Ricarda Huchs und Wilhelm Diltheys Wiederentdeckung der Romantik im Zeichen des >Lebensproblemgeschichtlicheideengeschichtliche< und >generationsgeschichtliche< sowie formanalytisch-stilkundliche Betrachtungsweisen, die die von Dilthey vorgeführte Auflösung literarischer Werke und Epochen in Objektivationen des >Geistes< und
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Zur positivistischen Romantikforschung und Jakob Minors Verdiensten um die Edition der Werke von Novalis, A.W. und F. Schlegel vgl. Siegbert Elkuß, Zur Beurteilung der Romantik und zur Kritik ihrer Erforschung. Hrsg. von Franz Schultz, München und Berlin 1918, S. 24if. Oscar Ewald, Romantik und Gegenwart. Bd. 1: Die Probleme der Romantik als Grundfragen der Gegenwart, Berlin 1904; Karl Joel, Nietzsche und die Romantik, Jena 1905; ders., Der Ursprung der Naturphilosophie aus dem Geist der Mystik, Jena 1906; Marie Joachimi, Weltanschauung der Romantik, Jena und Leipzig 1905; Ferdinand Josef Schneider, Die Freimaurerei und ihr Einfluss auf die geistige Kultur in Deutschand am Ende des 18. Jahrhunderts. Prolegomena zu einer Geschichte der Romantik, Prag 1909; Waldemar Ohlshausen, Friedrich von Hardenbergs (Novalis) Beziehungen zur Naturwissenschaft seiner Zeit, Leipzig 1905; Heinrich Simon, Der magische Idealismus. Studien zur Philosophie des Novalis, Heidelberg 1906; Richard Benz, Märchendichtung der Romantiker, Gotha 1908; Oskar Walzel, Deutsche Romantik, Leipzig 1908. Rudolf Unger, Hamann und die Aufklärung, Jena 1911; Friedrich Gundolf, Shakespeare und der deutsche Geist, Berlin 1911; Fritz Strich, Die Mythologie in der deutschen Literatur von Klopstock bis Wagner, München 1910; Josef Nadler, Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften, 3 Bde., Regensburg 1912-18. Rudolf Unger, Philosophische Probleme in der neueren Literaturwissenschaft, München 1908, wieder in: ders., Gesammelte Studien. Bd. 1: Aufsätze zur Prinzipienlehre der Literaturgeschichte, Berlin 1929, S. 1-32, hier S. 4f.
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seiner jeweiligen Entwicklungsstufen realisierten.' 9 Diltheys Baseler Antrittsvorlesung von 1867 enthielt auch die Überzeugung von der inneren Einheit der geistigkulturellen Entwicklung zwischen 1770 und 1800, die von der geistesgeschichtlichen Romantikforschung unter konzeptuellen Modifikationen auf den Begriff >Deutsche Bewegung< gebracht wurde. 20 Als Derivate der Geistesgeschichte entstanden seit Beginn der 1920er Jahre formanalytisch-stilkritische Zugänge zur Romantik, die sich sich auf Impulse aus der Kunstwissenschaft, speziell auf Heinrich Wölfflin, beriefen. 21 Unter dem programmatischen Titel Vollendung und Unendlichkeit oder Deutsche Klassik und Romantik hypostasierte Fritz Strich die romantische Bewegung zum Ausdruck eines anthropologisch begründeten Unendlichkeitsstrebens, das entgegen klassischer Entsagung zu ruheloser Bewegung und ewigem Werden verurteilt sei und sich in entsprechenden poetischen Gestaltungsprinzipien manifestierte. 22 Auf Überlegungen Diltheys zurückgehend, formierte sich die >geistesgeschichtliche GenerationentheorieAnlage< und >Bildungserlebnissen< der um 1770 geborenen Generation zu erklären suchte und verschiedene Romantiker-»Typen« kategorisierte, 23 war es vor allem Alfred Baeumlers umfangreiche Einleitung in eine Bachofen-Auswahlausgabe von 1926, die nachdrücklich zwischen zwei inkompatiblen Phasen der Romantik unterschied und dabei die >erdeigentliche< Repräsentanten des romantischen Geistes herausstellte. 24 Während Baeumlers rigide Trennung durch Fachvertreter und liberale Öffentlichkeit in den 1920er
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Vgl. Rainer Rosenberg, Zehn Kapitel zur Geschichte der Germanistik. Literaturgeschichtsschreibung, Berlin 1981, S. 182-253. Herman Nohl, Die deutsche Bewegung und die idealistischen Systeme, in: Logos IV (1911), S. 356-364; wieder in: ders., Die Deutsche Bewegung. Vorlesungen und Aufsätze zur Geistesgeschichte von 1770-1830, Göttingen 1970, S. 78-86. - Nohls Terminus, als epochenübergreifende Bezeichnung auf die kulturgeschichtliche Mannigfaltigkeit zwischen 1770 und 1830 ausgeweitet, avancierte in literaturgeschichtlichen Darstellungen der Romantik vor und nach 1933 zu einem Zentralbegriff, gewährte er doch die Möglichkeit, die Romantik als Höhepunkt des deutschen Einspruchs gegen die westeuropäische Moderne von allen Verbindungslinien mit Aufklärung und Rationalismus abzutrennen und zur geistigen Antizipation eines deutschen Sonderweges< zu stilisieren. Vgl. Heinrich Dilly, Heinrich Wölfflin und Fritz Strich, in: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (Anm. 14), S. 256-286; Michel Espagne, Kunstgeschichte als europäische Wahmehmungsgeschichte. Zum Beitrag von Heinrich Dilly, in: ebd., S. 286-290. Fritz Strich, Vollendung und Unendlichkeit oder Deutsche Klassik und Romantik. Ein Vergleich, München 1922; 2., verm. Aufl. 1924. Vgl. J. Petersen, Wesensbestimmung (Anm. 8), S. 132-170; ders., Die deutsche Romantik. Vorlesung WS 1930/31, Nachschrift von Annemarie Schmidt, DLA Marbach, A: Schmidt/Petersen, 87.16.66, Bl. 6-10. Alfred Baeumler, Bachofen der Mythologe der Romantik. Einleitung zu: Der Mythos von Orient und Occident. Eine Metaphysik der alten Welt. Aus den Werken von Johann Jakob Bachofen. Hrsg. von Manfred Schroeter, München 1926, S. XXIII-CCXCIV.
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Jahren weitgehend zurückgewiesen wurde, 25 fand sie nach 1933 unter veränderten Rahmenbedingungen neue Akzeptanz. Als für die Romantikrezeption nach 1933 ebenfalls zu berücksichtigendes Forschungsprogramm etablierte sich die an August Sauers Rektoratsrede Literaturgeschichte und Volkskunde von 1907 anschließende stammeskundliche Literaturgeschichtsschreibung Josef Nadlers. Dessen voluminöse Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften brachte mit ihrer Deutung der Romantik als der »Krönung des ostdeutschen Siedelwerks« einen sofort nach Erscheinen von Fachgenossen scharf kritisierten Beitrag in die Debatte um die Romantik ein.26 Auch wenn Nadlers Konzept einer stammesgeschichtlichen Literaturwissenschaft den Intentionen der nationalsozialistischen Ideologie nahezukommen schien und er sein Opus 1933 als Antwort auf die Herausforderung der »nationalen Revolution« herausstellte, 27 blieb sein Einfluß auf die Romantikforschungen im Dritten Reich eher marginal. Unmittelbar flöß Nadlers Romantikerklärung allein in die 1937 erstmals erschienene und bis 1944 siebenmal aufgelegte Geschichte deutscher Dichtung Franz Kochs ein. Unter explizitem Verweis auf Nadlers Scheidung von ostdeutscher Romantik und westdeutscher Restauration vollzog Koch hier die Trennung von artistisch-individualistischer Frühromantik und wirklichkeitszugewandter, >volkhafter< Hochromantik nach.28 Stärker wirkten vermittelte Anstöße, die Nadlers Literaturgeschichte seit ihrer ersten Auflage gegeben hatte, so sein methodisches Programm, Literaturgeschichte in eine umfassende Kulturgeschichte des Schrifttums aufzulösen, und der an Herder und romantischen Vorbildern orientierte Ableitungsmodus, einen »Stammes-« oder »Volksgeist« aus der schriftlichen Überlieferung zu destillieren. Die von ihm demonstrierte Erklärung von Literatur aus »überindividuellen Gegebenheiten« - für Nadler Stamm, Landschaft, geistige Überlieferung - bot diverse Anschlußmöglichkeiten. 29 25
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Vgl. u.a. J. Petersen, Wesensbestimmung (Anm. 8), S. 134-136; Thomas Mann, Pariser Rechenschaft (1926), in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 12, Berlin 1955, S. 7-97, hier S. 47-50. - Zur Rezeption der Bachofen-Einleitung durch Thomas Mann vgl. Thomas Mann und Alfred Baeumler. Eine Dokumentation. Hrsg. von Marianne Baeumler u.a., Würzburg 1989; Hubert Brunträger, Der Ironiker und der Ideologe. Die Beziehungen zwischen Thomas Mann und Alfred Baeumler, Würzburg 1993. Vgl. u.a. Josef Körner, Metahistorik des deutschen Schrifttums, in: Deutsche Rundschau 180 (1919), S. 466-468; Hermann August Korff, Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften, in: ZfDk 34 (1920), S. 401^108; J. Petersen, Wesensbestimmung (Anm. 8), S. 18-24. Josef Nadler, Wo steht die deutsche Literaturwissenschaft, in: Völkische Kultur 1 (1933), S. 307-312. Vgl. Franz Koch, Geschichte deutscher Dichtung, Hamburg 1937, hier S. 167-194. Nicht zu unterschätzen ist Nadlers Anteil an der für die Romantikrezeption nach 1933 signifikanten »Umwertung der deutschen Romantik«, die mit der Trennung von »liberalindividualistischer« Frühromantik und »gemeinschaftsgebundener« Hoch- und Spätromantik Gegenstand, Thematisierungsweisen und Wertungsprinzipien der Romantikforschung verschob. Der nach 1933 verstärkten Konzentration auf die weltanschaulichen und politisch-religiösen Bezüge hatte Nadlers Romantikdeutung ebenso vorgearbeitet wie der Erforschung untergründiger Verbindungen von romantischem und präromantischem
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Anfänge einer sozialgeschichtlich und soziologisch orientierten Romantikforschung, die in den 1920er Jahren vor allem aus der Wirkung von Karl Lamprechts umfassender Kulturgeschichtsschreibung erwachsen waren, 30 versandeten nach 1933. Obwohl unmittelbar nach 1933 eine »volksbezogene Literatursoziologie« gefordert wurde, 31 kam es - zumindest auf dem Gebiet der Romantikforschung - zu keinen distinkten Ergebnissen. Die 1933 postulierte >Völkisierung< der Literaturwissenschaft verblieb zumeist in den Bahnen eines irrationalen, selten methodisch durchsichtig gemachten Völkstums-Kultes. Beschwörung von Werten des Volkes, des Volkstums, des Blutes ersetzte methodische Explikationen. Literatursoziologische Forschung wurde nicht zuletzt dadurch unmöglich, daß die projektierte >völkische Literaturwissenschaft auf einem Volksbegriff basierte, der nur selten auf empirische Parameter zurückging bzw. deskriptive Verfahren einbezog. Der Rückgang auf einen immer stärker mythologisierenden Begriff des Volkes nicht mehr Sprach- oder Kulturgemeinschaft, sondern vorsprachliche Einheit des Blutes - mußte reale soziologische und sozialwissenschaftliche Forschungen zum literarischen Leben und Produktionsprozeß ausschließen. Hans Pyritz konnte 1942 deshalb nur noch feststellen, daß sozialliterarische Methoden in der Romantikforschung »erledigt« seien. 32
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Im Frühjahr 1933 veröffentlichte die Zeitschrift für Deutschkunde Walther Lindens programmatische Forderung Umwertung der deutschen Romantik,33 An Topoi einer seit der Jahrhundertwende geführten Diskussion anknüpfend, griff der akade-
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Denken. Deutlich ablesbar waren diese Einflüße an den im Dritten Reich entstandenen Arbeiten zur Vorgeschichte der Romantik, die den von Nadler hochgeschätzten Herder zum Vordenker der »deutschen Bewegung« im allgemeinen und der Romantik im besonderen schabionisierten, wie die am Berliner Germanischen Seminar entstandene und von Franz Koch betreute Dissertation von Gustav-Adolf Brandt, Herder und Görres 17981807. Ein Beitrag zur Frage Herder und die Romantik, Würzburg 1939 (= Stadion 3). Fritz Brüggemann, Der Kampf um die bürgerliche Welt- und Lebensanschauung in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts, in: DVjs 3 (1925), S. 94-127; Fritz Lübbe, Die Wendung vom Individualismus zur sozialen Gemeinschaft im romantischen Roman, Berlin 1931 (= Literatur und Seele 2). - Vgl. Wilhelm Voßkamp, Literatursoziologie: eine Alternative zur Geistesgeschichte? »Sozialliterarische Methoden« in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, in: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (Anm. 14), S. 291-303. Georg Keferstein, Aufgaben einer volksbezogenen Literatursoziologie, in: Volksspiegel 1 (1934), S. 114-123; vgl. auch Karl Vietor, Programm einer Literatursoziologie, in: Volk im Werden 2 (1934), S. 35-^14; K. Rauch, Neue Literaturkritik: Forderung und Beginn, in: Die Tat 25 (1933), S. 630-639. H. Pyritz: Vorlesung Deutsche Romantik (Anm. 6), Bl. 13. Weiter heißt es: »Ob bürgerliche (Carl Schmitt) oder antibürgerliche Bewegung (Brüggemanns Arbeiten) entscheidet sich unter umfassenderen Gesichtspunkten: Ergebnis wiederum komplex.« Walther Linden, Umwertung der deutschen Romantik, in: ZfDk 47 (1933), S. 65-91.
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mische Außenseiter Linden vehement die bisherige »liberal-individualistische« Romantikforschung an und verlangte eine neue Ausrichtung der disziplinaren Beschäftigung mit der Romantik. Dieser Entwurf eines neuen Romantikbildes, der rasch auf den Widerspruch etablierter Fachvertreter stieß, wäre unter anderen Umständen sicher weniger beachtet worden - im Frühjahr 1933 jedoch ließ er sich als eine am konkreten Gegenstand praktizierte Umsetzung der nach der Machtergreifung vorgelegten germanistischen Programmentwürfe lesen. Denn die Zustandsbeschreibungen des Faches, die Hermann August Korff, Karl Vietor, Gerhard Fricke, aber auch Nachwuchswissenschaftler wie Günther Weydt und der universitär nicht verankerte Walther Linden in Reaktion auf die Veränderungen des politischen Systems geliefert hatten, trafen sich in Krisendiagnose und der Hoffnung, die als chaotisch empfundene Situation der Neugermanistik durch paradigmatische Setzung neuer >völkischer< Deutungs- und Wertungsperspektiven zu beheben. 34 Die in Ergebenheitsadressen manifestierte Bereitschaft zur »Selbstgleichschaltung«, die sich in der Denkfigur einer postulierten, methodisch jedoch nicht begründeten >Völkisierung< kognitiver Parameter aussprach, schien zum ersten methodische Innovation und öffentlichen Reputationsgewinn zu verbinden. Die Einführung neuer, >völkischer< Deutungs- und Wertungsperspektiven und der bewußte Abschied von >Wertfreiheit< und >Voraussetzungslosigkeit< versprach, die methodische und konzeptionelle Zersplitterung der Literaturwissenschaft durch Einigung auf ein Paradigma zu beenden und eine deutschkundlich ausgerichtete Germanistik als »Kerngebiet der Bildung« mit neuer gesellschaftlicher Akzeptanz zu etablieren. Zum zweiten sollte die rasche, von der Disziplin selbst vollzogene »Gleichschaltung« die Beibehaltung professioneller Standards und wissenschaftlicher Autonomie bewahren helfen - was zumindest partiell gelang. Das Beharrungsvermögen des Faches, das die Bindung an Traditionen und erworbene Standards auf institutioneller wie kognitiver Ebene gewährleistete, sicherten bei verbaler Gleichschaltung und der erklärten Bereitschaft zu »loyalem Mittun« (Vietor) relative Eigenständigkeit. Die teils auf der konservativen Haltung der Gelehrten und der Eigengesetzlichkeit des Systems Wissenschaft, teils auf der weitgehenden Konzeptionslosigkeit der neuen Machthaber gründende Resistenz gegenüber restlosem Aufgehen in Ideologie bedeutete jedoch nicht, daß sich die Disziplin Forderungen der politischen Umwelt verweigert hätte. 34
Vgl. die Beiträge der Sonderhefte der Zeitschrift für deutsche Bildung mit den Stellungnahmen der Herausgeber Ulrich Peters (Deutsche Bildung gestern und heute, in: ZfdB 9 [1933], S. 337-341); Karl Vietor (Die Wissenschaft vom deutschen Menschen in dieser Zeit, ebd., S. 342-348) und Wilhelm Poethen (Deutschunterricht und Nationalsozialismus, ebd., S. 349-352) sowie des späteren ZfDk-Herausgebers Gerhard Fricke (Über die Aufgabe und die Aufgaben der Deutschwissenschaft, ebd., S. 494—501). Die Zeitschrift fiir Deutschkunde publizierte ebenfalls Ergebenheitsadressen der Herausgeber Hermann August Korff (Die Forderung des Tages, in: ZfDk 47 [1933], S. 341-345) und Walther Linden (Deutschkunde als politische Lebenswissenschaft - Das Kerngebiet der Bildung!, ebd., S. 337-341). Vgl. auch Günther Weydt, Die germanistische Wissenschaft in der neuen Ordnung, in: ZfdB 9 (1933), S. 638-641, und Walther Linden, Aufgaben einer nationalen Literaturwissenschaft, München 1933.
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Wie subtil sich die Internalisierung wissenschaftsexterner Imperative in theorieinterne Parameter vollzog, belegen die mit Lindens Revisionsforderungen katalysierte Debatte um die Umwertung der Romantik und die sich rasch vollziehenden Veränderungen innerhalb der Romantikforschung. Der programmatische Text Lindens und die sich anschließenden Veränderungen in Gegenstandsbereich, Thematisierungsweise und Wertung markierten einen Einschnitt in der Forschungslandschaft, der spätestens ab 1937 von Repräsentanten des Fachs wahrgenommen und unmittelbar auf den politischen Umbruch zurückgeführt wurde. Nicht zufallig begann Linden seinen Programmentwurf mit einer scharfen Kritik der bisherigen Forschung, deren »bis in unsere Zeit« beobachtbare, »kaum verständliche Einseitigkeit« an zwei Parametern besonders signifikant sei: zum einen an der durchgehenden Konzentration auf die Frühromantik, zum anderen an der fast ausschließlichen Thematisierung ihres modern-subjektivistischen Charakters. Symptomatisch für die Irrwege der literaturwissenschaftlichen Romantikrezeption seit der geistesgeschichtlichen Wende sei, wie Linden in Anlehnung an Baeumlers BachofenEinleitung feststellte, die Überschätzung Friedrich Schlegels, die nicht nur die Wiederentdeckung der Romantik geprägt, sondern auch die Deutungen der 1910er und 1920er Jahre bestimmt habe. Gegen diese »Falschwertung« stehe eine neue Evaluierung der Romantik auf der Tagesordnung. In Ablehnung formanalytischer oder sozialgeschichtlicher Zugänge müsse die Romantik als »ernsthafte, lebensgegründete Welthaltung«, »geschlossene Geist- und Lebenswelt« und nicht als »Bündel poetischer Affekte« beurteilt werden. 35 Lindens Entwurf einer neuen, »den innersten Stebungen der Romantik wesensverwandt nachfühlenden Forschung« 36 suchte in der Verschiebung des Schwerpunkts von der Früh- zur Hochromantik den Gegenstand der literaturwissenschaftlichen Romantikrezeption neu zu zentrieren. Die »Hochromantik«, als deren zeitlichen Rahmen Linden die Jahre zwischen 1802 und 1816 festsetzte, sei als »Überwindung des frühromantischen Subjektivismus« und »Periode des reifen Gleichgewichts objektiver und subjektiver Strebungen« die »reinste Ausprägung« der Romantik. 37 Die als »eigentliche Erfüllung des romantischen Hauptstrebens« gewürdigte Hochromantik gründe auf dem »machtvollen Gefühl für alles Gewachsene und Gewordene«, 38 das sich vor allem in den »organisch-naturhaften« Ideen Adam Müllers und Josef Görres' niedergeschlagen habe. Die Erforschung der bisher als repräsentativ geltenden Friedrich Schlegel und Ludwig Tieck sowie der poetischen Gewinne der Romantik mit ihrer Entdeckung der Subjektivität und des Phantastischen sei zugunsten der Erkenntnis der »organisch-konservativen Hochromantik« zurückzustellen, um so
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W. Linden, Umwertung der deutschen Romantik (Anm. 33), S. 68. Ebd., S. 70. Ebd. - Das hochromantische Streben nach der »inneren Verlebendigung der großen objektiven Gemeinschaftsformen: Natur, Geschichte, Staat« habe die romantische Natur-, Geschichte- und Staatsphilosophie begründet und mit der »Anerkennung des objektiven Lebens und seiner Gemeinschaftsformen« den verhängnisvollen Subjektivismus Schlegels verabschiedet. Ebd., S. 74f.
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»das synthetisch-idealistische, organisch-konservative Streben der Romantik, d.h. letzten Endes ihre Sendung im Wirkungsbereich des deutschen Geistes, wieder zur Anerkennung zu bringen und für die Gegenwart fruchtbar zu machen.« 39 Mit der der »Hochromantik« zugeschriebenen Entdeckung des >Volkstums< hatte Linden ein Thema angeschlagen, das in der bereits vor 1933 beobachtbaren >Völkisierung< der Neueren deutschen Literaturwissenschaft Konjunktur hatte. Der emphatische Verweis auf die hochromantische Erkenntnis der »tiefbegründeten und unzerstörlichen Gegebenheit des volksmäßigen Zusammenhanges« 4 0 und die an sie anschließenden Explikationen des von der Romantik entwickelten d e u t s c h e n Sonderweges< bildeten die Vorlage fur vielfache Würdigungen der Romantik als Entdeckerin von Volk und Volkstum. Für seine »Umwertungs«-Forderungen berief sich Linden auf Vorgänger, von denen zumindest Nadler und Baeumler in der Disziplin bislang eher kritisch beurteilt wurden. Nadlers stammeskundliche Trennung von Romantik als der >Krönung des ostdeutschen Siedelwerks< und altdeutscher Restauration< lehnte er zwar als »einseitig landschaftliche und mit den Tatsachen im Widerspruch stehende These« 41 ab. Dessen »entscheidende Neuwertungen« - vor allem die Zurückstellung der Frühromantik und Friedrich Schlegels zugunsten Adam Müllers und aller »volksverwurzelten und landschaftsgebundenen Strömungen« - begrüßte Linden jedoch ebenso wie Erich Rothackers Einleitung in die Geisteswissenschaft von 1920, der die Leistungen der spätromantisch inspirierten Historischen Schule ins rechte Licht gerückt hätte. 42 Neben Bemühungen um das romantische Staatsdenken und der von Günther Müller repräsentierten katholischen Literaturwissenschaft, die den späten Friedrich Schlegel rehabilitiert habe, sei es vor allem der radikale Schnitt zwischen früher Jenaer Romantik und e i g e n t l i c h e n Heidelberger Romantik in Alfred Baeumlers »hochbedeutsamer, geistig überragender« BachofenEinleitung von 1924 gewesen, der »die eigentlich religiöse Romantik, im besonderen Görres, in ihrer gewaltigen Seelentiefe und Lebensverwurzelung in den Vordergrund gerückt und damit das Romantikbild am entscheidendsten umgestaltet hat.« 43
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Ebd., S. 91. Ebd., S. 75. Ebd., S. 69. Ebd. - Nadlers Romantikkonzept beinhaltete nicht nur die Differenzierung zwischen dem »lehrhaften ostdeutschen Kunstschulmeister« Friedrich Schlegel einerseits und dem »Gedanken einer persönlichen und völkischen Wiedergeburt« (Josef Nadler, Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften, 2. Aufl., Bd. 3, S. 252) andererseits, sondern nahm auch die nach 1933 signifikante Gegenstands- und Wertungsverschiebung vorweg. Bereits für Nadler bildeten nicht mehr genuin poetische oder poetologische Texte den Gegenstand literarhistorischer Vermittlungsbemühungen, sondern vor allem politische Manifestationen, weltanschauliche und philosophische Traktate bzw. nationalgeschichtlich relevante Dichtungen, aus denen der Stammes- oder Volksgeist herausdestilliert werden konnte. Ebd., S. 69f. - Baeumlers Separation von »individualistischer« Frühromantik und »erdgebundener« Hochromantik aus dem Jahr 1926 erlebte im Rahmen der veränderten
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Diese Absicherungsbemühungen belegen, daß Lindens Umwertungs-Initiative durchaus nicht die Qualität eines Paradigmenwechsel hatte. Außer den von ihm erwähnten Bestrebungen drängten seit längerem weitere Tendenzen auf eine Korrektur der vornehmlich die individualistischem Züge der Frühromantik fokussierenden Forschung. Bereits 1925 konstatierte Paul Kluckhohn die Neigung, »den Gemeinschaftswillen der Romantik stark zu unterstreichen, wobei die sogenannte jüngere Romantik und besonders die Spätromantik mehr in den Vordergrund gerückt werden.« 44 Galt das primäre Interesse an der Frühomantik zu Beginn des Jahrhunderts vorwiegend »den individualistischen Eigenheiten dieses Kreises, wie das der eigenen Lebenseinstellung der Zeit entsprach«, so finde man in den 1920er Jahren »das eigene Erleben in der Romantik wieder und sieht in dieser dann wohl eine Entwicklung von schroffsten Individualismus zum Gemeinschaftsempfinden hin, j a geradezu eine >Umkehrdeutschem Wesen< und seiner ersten Reflexion in der Romantik, aus der die Germanistik geboren worden sei, hatte nicht nur Petersen
politischen Umwelt des Faches ihren Durchbruch: Seit 1933, als Baeumler kurzzeitig neben Krieck als Kandidat für das Amt des preußischen Kultusministers gehandelt und zum 1. Mai 1933 als Professor für Politische Pädagogik an die Berliner Universität berufen wurde, nahmen zahlreiche Romantikdarstellungen auf seine Bachofen-Einleitung Bezug. Signifikant wurde die gewandelte fachinterne Bewertung von Baeumlers Romantikkonzeption in den Rezensionen, die in Reaktion auf die Neuauflage der Bachofen-Einleitung in den 1937 veröffentlichten Studien zur deutschen Geistesgeschichte erschienen. Jetzt zählte der abgedruckte Abschnitt Jenenser und Heidelberger Romantik »ebenso wie das Ganze, aus dem er herausgelöst ist, bereits schon zu den klassischen Stücken geistesgeschichtlicher Darstellung und eindringender Wissenschaftsgeschichte«, so Walther Rehm, Rezension Alfred Baeumler, Studien zur deutschen Geistesgeschichte, Berlin 1937, in: HZ 159 (1939), S. 163f„ hier S. 164. 44
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Paul Kluckhohn, Persönlichkeit und Gemeinschaft. Studien zur Staatsauffassung der deutschen Romantik, Halle/Saale 1925, S. 1. Ebd., S. 1. Vgl. Ernst Troeltsch, Die Restaurationsperiode am Anfang des 20. Jahrhunderts. Ein Vortrag, Riga 1913. Vgl. J. Petersen, Wesensbestimmung (Anm. 8), S. 138.
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ausgesprochen und damit einem später virulenten Argumentationsstrang vorgegriffen. 48 Die von Linden vor allem in Anschluß an Nadler und Baeumler postulierte Umwertung der deutschen Romantik setzte sich nicht sofort durch. Vorerst reagierten mit Oskar Walzel und Josef Körner zwei exponierte Romantikforscher, die sich durch die Vorwürfe einer einseitigen Überhöhung Friedrich Schlegels besonders getroffen fühlen mußten. Der ausgewiesene Schlegel-Experte Körner monierte die »vielen kühnen Behauptungen, mit denen Walther Linden seine >Umwertung der deutschen Romantik< vollzieht«, vor allem aber die problematische Überbewertung Adam Müllers auf Kosten Friedrich Schlegels. Er verwies auf eine bisher unverstandene Stelle in Adam Müllers 1812 in Wien gehaltenen Zwölf Reden über die Beredsamkeit, mit der Müller dem »verehrten Meister und Freund« Friedrich Schlegel gehuldigt habe. 49 - Walzel legte 1934 unter dem Titel Romantisches zwei Untersuchungen der Kunsttheorien Friedrich Schlegels und Adam Müllers vor, in denen er die weitgehende Abhängigkeit Müllers von Schlegel konstatierte. 50 1 93 5 publizierte er, den Titel der Abhandlung Walther Lindens von 1933 aufnehmend, seine Entgegnung Umwertung der deutschen Romantik.5I Die Wege der Forschung seit Haym und Dilthey resümierend, bekannte er sich erneut zu seiner bereits 1908 vertretenen Meinung, kein anderer habe so wie Friedrich Schlegel das Lebensgefühl der deutschen Romantik erfaßt und ausgesprochen. Der von Baeumler und seinen Adepten vertretenen >Umwertung< des Romantikbildes, die Görres und die objektivierende Hochromantik als eigentliche Romantik bezeichnete, billigte Walzel einen »richtigen Kern« zu, dennoch sei die Überbetonung des Gegensatzes von Jenaer und Heidelberger Romantik sowie die Überschätzung Adam Müllers zurückzuweisen. 52 Die von Baeumler ausgehende und durch Linden 1933 erneut erhobene Forderung nach einer »Umwertung der Romantik« stellte Walzel explizit in einen zeithistorischen Zusammenhang. Die Absicht einer »Umwertung der Romantik« sei »Ausdruck ihres Zeitalters, der unmittelbaren Gegenwart. Sie wirft alles Licht auf die Seiten der vielseitigen Romantik, die um 1900 am wenigsten beachtet wurden, uns heute indes am verwandtesten erscheinen. Die Heidelberger Romantik hat unbedingter als andere deutsche Romantik das deutsche Mittelalter verklärt, sein Leben und seine Kunst; sie hat das Reich des deutschen Kaisers des 48
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Vgl. Julius Petersen, Das goldene Zeitalter bei den deutschen Romantikern, in: Die Ernte. Abhandlungen zur Literaturwissenschaft. Franz Muncker zu seinem 60. Geburtstag. Hrsg. von Fritz Strich und Hans Heinrich Borcherdt, Halle 1926, S. 117-175, hier S. 175: »Die Wissenschaft vom deutschen Volkstum ist eine Geburt der Romantik, und die Romantik war die goldene Zeit ihrer glücklichen Kindheit.« Josef Körner, Adam Müller und Friedrich Schlegel, in: ZfdPh 60 (1935), S. 415. Oskar Walzel, Romantisches, Bonn 1934 (= Mnemosyne 18). Oskar Walzel, Umwertung der deutschen Romantik, in: Literatur 37 (1935), S. 437 440. Walzel bezog sich dabei sowohl auf Carl Schmitts Politische Romantik und auf Lindens »noch vor kurzem« publizierte Behauptung, »jetzt sei vollends Adam Müller an der Tagesordnung; und überwunden sei eine Schau, die den romantischen Ironiker Friedrich Schlegel zum Führer der deutschen Romantik erheben wolle«.
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Mittelalters den Deutschen, die nach einem neuen deutschen Reich strebten, zum Vorbild gemacht.« 53 - In einem weiteren Beitrag zu Adam Müllers Ästhetik relativierte der Bonner Emeritus die zuletzt von Linden herausgestellte überragende Bedeutung Adam Müllers innerhalb der Romantik. 54 Zwar habe Müller Wegweisendes, so u.a. den Gedanken des Gesamtkunstwerks und des Volksschauspiels hervorgebracht, doch sei er wie Schlegel und die frühe Romantik als romantischer Ironiker mit dem >rationalen< 18. Jahrhundert eng verwandt. Seine umfassende Antwort auf die Umwertungs-Bemühungen formulierte Oskar Walzel in einem umfangreichen Beitrag, den er im Mai 1935 in der Literatur angekündigt hatte 55 und der Paul Kluckhohn in die erwähnte »peinliche Lage« brachte. Denn als Walzel Anfang 1936 der DVjs einen umfänglichen Text über die Divergenzen zwischen Jenaer und Heidelberger Romantikern in Fragen von >NaturKunstpoesie< übermittelte, stellte Kluckhohn vor allem wegen des harschen Affronts gegen Alfred Baeumler eine Publikation in Frage: Er befürchtete Kollisionen mit dem zum Leiter des Hauptamts Wissenschaft in der Dienststelle Rosenberg aufgestiegenen Philosophen. 56 Rothacker, der seinen alten Bonner Kollegen nicht verärgern wollte, 57 intervenierte gegen die Taktik, durch Umarbeitungsforderungen eine Publikation zu hintertreiben, woraufhin Kluckhohn noch einmal seine Bedenken artikulierte. Problematisch sei der Aufsatz Walzeis für ihn »insofern, als mir die behandelte Materie allzu vertraut ist, die naheliegenden Einwände gegen Bäumler oder der starke Gegensatz zwischen Jakob Grimm und Arnim in der Frage Natur- und Kunstpoesie Dinge sind, über die ich im Kolleg oft gesprochen habe und die für mich also selbstverständlicher Wissenschaftsbesitz sind, über den
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Ebd., S. 439. Oskar Walzel, Adam Müllers Aesthetik, in: Gral 29 (1935), S. 58-61. O. Walzel, Umwertung der deutschen Romantik (Anm. 51), S. 440. P. Kluckhohn an E. Rothacker, 19.2.1935 (Anm. 2), Bl. 24. »So erwünscht mir eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Bäumlers [sie] Romantikauffassung scheint, wie ich sie im Kolleg wiederholt gegeben habe, so möchte ich diese Ausfalle gegen ihn doch nicht drucken. Und auch die Herabwürdigung Adam Müllers zu Gunsten Friedrich Schlegels kann ich so nicht mit machen. Für die romantische Mittelalter-Auffassung wäre mein Buch Persönlichkeit und Gemeinschaft nicht zu übergehen, und auch Band XII meiner Romantikreihe >Kunstanschauung der jüngeren Romantik< von Andreas Müller wäre heranzuziehen. [...] Meine Meinung würde also dahin gehen: wir können den Aufsatz in dieser Form nicht nehmen, würden uns aber bereit erklären, ihn zu veröffentlichen, wenn der Verfasser ihn ganz wesentlich kürzt und der Auseinandersetzung mit Baeumler eine andere Form gibt. Sollte Walzel dazu nicht bereit sein: umso besser!« Vgl. E. Rothacker an P. Kluckhohn. 22.2.1935. ULB Bonn, Nachlaß Rothacker I, Bl. 7. Bereits in seinem ersten Brief bezüglich des Manuskripts hatte Rothacker auch persönliche Gründe für eine Annahme ins Feld gefuhrt, vgl. E. Rothacker an P. Kluckhohn, 2.2.1935, ebd., Bl. 6: »Er [Walzel, R. K.] hat sich grosse Mühe gegeben und furchtbare Angst, dass wir ihn Kritik oder gar Abweisung kränken. Ich fände das aber auch sehr ungerecht und würde das dem alten Herrn, der manches von mir erduldet hat sehr ungern antun. [...] Zudem hat er im Ausland einen so grossen Anhang, dass der Aufsatz schon darum der Vj. ganz nützlich sein könnte.«
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noch einen Aufsatz zu veröffentlichen mir kaum nötig scheint.« 5 8 Darüber hinaus jedoch betreffe eine Publikation des Textes die DVjs generell - und deshalb seien mögliche Konflikte mit wissenschaftspolitischen Institutionen und veränderten Forschungslagen auszuschließen bzw. zu mildern: Ich bin darum auch nicht grundsätzlich gegen einen Aufsatz über dieses Thema, finde aber Walzeis Ausführungen gegen Bäumler in dieser Form einen Missgriff, weiss auch nicht[,] ob es für die Vierteljahrsschrift ratsam ist, diesen doch immerhin einflussreichen Mann zu verschnupfen - ein nicht ganz sachlicher Gesichtspunkt, der mindestens so berechtigt sein dürfte wie der Gedanke an Walzels Bauch voller Orden. Ferner kann ich nicht mit, wenn Walzel immer wieder sein Paradepferd Friedrich Schlegel gegen Adam Müller anreiten lässt; schliesslich war doch Novalis ein ungleich originalerer Geist als jeder dieser beiden. [...] Ich kann also nur meine Stellungnahme meines Briefes vom 19. Februar wiederholen und darf ja nach Deinem Briefe auch annehmen, dass Du inzwischen zu Walzel gegangen bist, damit er kürzt und die Polemik gegen Baeumler mildert. Wenn das geschehen ist, will ich mich nicht mehr gegen eine Aufnahme des Aufsatzes sperren. Wenn Du übrigens meinst, wir brauchen Walzel als Mitarbeiter, weil er >ein Prominenten sei - ein Begriff übrigens, der meines Erachtens in das heutige Deutschland nicht passt - so muss ich doch verwundert fragen, warum Du bei Gründung der Vierteljahrsschrift nicht dafür warst, ihn zum Mitherausgeber zu machen, obwohl Du und ich damals gewiss nicht prominent waren, sondern Privatdozenten? 59 Nach zweifacher Umarbeitung stimmte Kluckhohn der Drucklegung des Textes zu, der in einem Romantik-Biedermeier-Themenheft erscheinen sollte. 6 0 In seinem im Herbst 1936 endlich gedruckt vorliegenden Aufsatz verglich Walzel die Anschauungen der Jenaer Frühromantiker mit denen der in Heidelberg versammelten Brüder Grimm, Achim von Arnim und Görres zum Problem des >bewußten< und >unbewußten< Kunstschaffens, um den Gegensatz, den Baeumler zwischen Jenaer und Heidelberger Romantik konstatiert hatte, innerhalb der Heidelberger Romantik selbst nachzuweisen. A m Beispiel differierender Standpunkte in bezug auf die Sammlung von Überlieferungen machte Walzel nachdrücklich deutlich, »daß der bloße Gegensatz individualistischer und kollektivistischer Schau nicht ausreicht, den Gegensatz zwischen Schlegel und Grimm zu erfassen.« 61 Der von den Heidelbergern präferierte >unbewußtekollektivistische< Dichtungsbegriff sei Resultat eines Prozesses, der seinen Ursprung in der Frühromantik habe. 62 Die abschließende Würdigung der Romantik als »Abrechnen mit der Aufklärung und mit ihrer
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P. Kluckhohn an E. Rothacker, 5.3. 1935, ebd., Bl. 25. Ebd. Vgl. P. Kluckhohn an E. Rothacker. 20.5.1935, ebd., Bl. 30: »Ich bin jetzt mit der Aufnahme einverstanden und behalte das Manuskript hier. Ich habe es vorgemerkt für das erste Heft des nächsten Jahrgangs, das wir ganz mit Beiträgen zur Romantik und zum Biedermeier füllen können.« O. Walzel, Jenaer und Heidelberger Romantik (Anm. 5), S. 350. Die »hohe Bewertung des unbewußteren und naturhafteren Menschen« (S. 354) sei von Schelling und von Baader ausgegangen; den Schritt »vom Individuum zum Volk« habe »als einer der ersten« Fichte vollzogen (S. 355). Die »Bahn kollektivistischer Auffassung und Wertung« (S. 355) habe der Gentz-Schüler Adam Müller beschritten und dabei den Begriff des »Organischen« auf »Volksgeist« und »Volksgeschichte« angewandt.
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Abkehr von Tradition«, 63 die vor allem die gegen Rousseau gerichtete Stoßrichtung romantischen Denkens artikulierte, reihte sich in die nachfolgend immer häufiger anzutreffende Gegenüberstellung von westeuropäischer Emanzipation und d e u t schem Sonderweg< ein.
3. Auch wenn kompetente Fachvertreter wie Walzel und Körner - unterstützt durch Vertreter der Geschichtswissenschaft 6 4 - Lindens UmwertungsAmlmlwe und seine einseitige Überschätzung der späteren Romantiker rasch kritisierten, bildeten dessen Verdikte gegen die Frühromantik und ihren Wortführer Friedrich Schlegel erste Indizien für Veränderungen in der universitätsgermanistischen Romantikforschung. Ergänzt durch die emphatischen Hymnen auf die hochromantischen Entdeckungen von >Volkstum< und >organischen Gemeinschaftsformen< markierten sie Leitdifferenzen der künftigen Rezeption. Bereits zahlreiche 1934/35 erschienene Editionen und Forschungsbeiträge offenbarten, wie rasch sich die Disziplin auf die neuen Umstände einstellte. 65 Auch wenn weiterhin Zeugnisse einer beachtlichen Frühromantikforschung publiziert wurden, 66 war eine Veränderung im Gegenstandsbereich unübersehbar. Die jüngere, von Linden als »Hochromantik« bezeichnete Phase der romantischen B e w e g u n g wurde bevorzugtes Objekt. Politische, weltanschaulich-religiöse und geschichtsphilosophische Texte dieser Zeit
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Ebd., S. 356. Vgl. Karl Wolff, Staat und Individuum bei Adam Müller. Ein Beitrag zur Erforschung der romantischen Staatsphilosophie, in: Historische Vierteljahresschrift 30 (1935), S. 59-107, hier S. 105 der Befund, »daß Lindens Romantikwertung Müller entschieden überschätzt«. Die Idee des Volkes im Schrifttum der deutschen Bewegung von Moser und Herder bis Grimm. Hrsg. von Paul Kluckhohn. Berlin 1934 (= Literaturhistorische Bibliothek 13); Kunstanschauung der jüngeren Romantik (Anm. 4); Rudolf Fahrner, Die religiöse Bewegung in der deutschen Romantik, Halle/Saale 1934; Deutsche Vergangenheit und deutscher Staat. Bearb. von Paul Kluckhohn, Leipzig 1935 (= Deutsche Literatur in Entwicklungsreihen, Reihe [17] Romantik, Bd. 10). - Als Beispiel fur die Aufnahme der Baeumlerschen Separation von >ästhetischer< und >religiöser< Romantik in der Romanistik vgl. Kurt Wais, Volksgeist und Zeitgeist in der vergleichenden Literaturgeschichte (am Beispiel der Romantik), in: GRM 22 (1934), S. 291-307. Friedrich Schlegel, Neue philosophische Schriften. Erstmals in Druck gelegt, erläutert und mit einer Einleitung in Fr. Schlegels philos. Entwicklungsgang versehen von Josef Körner, Frankfurt/Main 1935; Josef Körner, Fr. Schlegels erstes philosophisches System, in: Forschungen und Fortschritte 10 (1934), S. 382; ders., Fr. Schlegel und Madame de Stael, in: Preußische Jahrbücher 236 (1934), S. 221-235; Otto Rothermel, Friedrich Schlegel und Fichte, Gießen 1934 (= Gießener Beiträge 36); Margaret Groben, Zum Thema: Friedrich Schlegels Entwicklung als Literarhistoriker und Kritiker. Ein Beitrag zu einer künftigen Biographie, Essen 1934 (= Diss. Köln); Otto Zeller, Bildung, Universalität und verwandte Begriffe in Fr. Schlegels Jugendschriften, Limburg a.d. Lahn 1934 (= Diss. Frankfurt); Krisenjahre der Frühromantik. Briefe aus dem Schlegelkreis. Hrsg. von Josef Körner, 2 Bde., Brünn u.a. 1937.
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avancierten zum präferierten Material literaturwissenschaftlicher Vermittlungstätigkeit. Mit der Verschiebung der Aufmerksamkeit von poetischen und poetologischen Werken zu philosophisch-reflexiven Texten verband sich ein Wechsel in der Thematisierungsweise. Nicht mehr poetische Gewinne individueller Subjektivität standen im Zentrum der Aufmerksamkeit, sondern der von der Romantik entdeckte »Volks-« und »Volkstumsbegriff« sowie die romantische Erkenntnis »deutschen Wesens«, der deutschen Geschichte und des »deutschen Bewußtseins«. 67 Auch in der intensivierten Beschäftigung mit Heinrich Steffens, dessen dänische Herkunft als Indiz fur »die uns heute besonders wichtigen Probleme deutsch-nordischer Blutmischung und geistigen Austausches« 68 besonderes Interesse verzeichnete, wurden »Volkstumsentdeckung« und »Volksbewußtsein« thematisiert. 69 Die von Josef Nadler und Alfred Baeumler vertretene radikale Separierung von Früh- und Hochromantik erlangte jedoch auch nach Lindens programmatischer Forderung und unter den veränderten politischen Bedingungen keine paradigmatische Geltung. An der Frage nach der Einheit der romantischen Bewegung schieden sich weiterhin die Geister - wobei die Einnahme eines die Romantik in disparate Bewegungen teilenden Standpunktes zumeist mit einem Werturteil zugunsten der Hochromantik und Disqualifikation der zunehmend zurückgedrängten Frühromantik verbunden war. 70 Die deutlichen Verschiebungen auf der Gegenstands- und Wertungsebene blieben den beteiligten Wissenschaftlern nicht verborgen. 1937 konstatierte Rudolf Unger in seinem Literaturbericht das schwindende Engagement fur die Frühromantik und deutete es als »kennzeichnend für die Wandlung des Interesses an den einzelnen Richtungen und Phasen der Romantik, j a in gewissem Maße wohl auch
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Hermann Meyer, Frühromantische Ursprungsformen des deutschen Bewusstseins, in: ZfDk 50 (1936), S. 520-528; Gerhard Fricke, Die Entdeckung des Volkes in der deutschen Geistesbewegung von Sturm und Drang bis zur Romantik, Hamburg 1937 (= Kieler Universitätsreden N.F. 8), wieder in: ders., Vollendung und Aufbruch. Reden und Aufsätze zur deutschen Dichtung, Berlin 1943, S. 88-110; Benno von Wiese, Volk und Dichtung von Herder bis zur Romantik, Erlangen 1938 (= Erlanger Universitätsreden 1938). Rudolf Unger, Schrifttumsbericht Deutsche Romantik, in: ZfDk 55 (1941), S. 82-87, hier S. 83. Elisabeth Achterberg, Heinrich Steffens und die Idee des Volkes, Würzburg 1938 (= Stadion 2 = Diss. Berlin); Viktor Waschnitius, Henrich Steffens. Ein Beitrag zur nordischen und deutschen Geistesgeschichte, Neumünster 1939 (= Veröffentlichungen der Schleswig-Holsteinischen Universitätsgesellschaft 49). Vgl. dazu die Reaktion Kluckhohns auf Rothackers Vorschlag, eine Geschichte der jüngeren Romantik zu schreiben, P. Kluckhohn an E. Rothacker, 18.5.1936. ULB Bonn, Nachlaß Rothacker I, Bl. 61: »Du schreibst, Du bedauerst >dass nicht einmal Du den Mut zu einer Spätromantik findestGeschichte einer geistigen Bewegung* zu erweitern und neben der romantischen Malerei auch deren musikalisches und musikästhetisches Erbe einzubeziehen, 86 führte zu einer neuen Wertschätzung Wackenroders, die sich in vermehrten Editionen seines schmalen CEuvres niederschlug. 87 Einen Ausbruch aus dem Kanon probten auch die außerhalb der disziplinaren Forschung operierenden, publizistisch äußerst aktiven Schüler und Anhänger des Philosophen Ludwig Klages. Im Bemühen um eine geistesgeschichtliche Legitimation der extrem rationalitätsfeindlichen Lehre ihres Meisters lenkten sie bereits in den 1920er Jahren die Aufmerksamkeit auf die Errungenschaften der romantischen SeelenkundeAtom< und >GeistOrganismus< und >Unbewußtes< die Grundlage eines Denkens bildeten, das in der Gegenwart des Dritten Reiches endlich adäquat rezipiert werden könne. 94 Sein >organisches< Denken ließ Carus zum geeigneten Gegenstand organologisch ausgerichteter Wissenschaftskonzepte aufsteigen und sicherte seinem Werk Aufmerksamkeit von Seiten verschiedener geisteswissenschaftlicher Disziplinen. 95 Nicht zuletzt trug die Vielzahl von Editionen seiner Werke zu einer
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Nietzsche als Vorläufer unserer Tiefenpsychologie, Leipzig 1941 (= Beiheft des Zentralblattes für Psychotherapie 3). Vgl. u.a. Alfred Rosenberg, Vom Wesensgefüge des Nationalsozialismus. Rede auf dem Parteikongreß am 21. August 1929 zu Nürnberg, in: NS Monatshefte 1 (1930), S. 12-29, hier S. 17; ders., Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit, 67~70München 1935, S. 140f.; Alfred Baeumler, Fichte und wir, in: NS Monatshefte 8 (1937), S. 482^89. Carl Alexander Pfeffer, Venus und Maria. Eine Eichendorff-Studie als Beitrag zur Wesenerkenntnis des Dichters, Berlin 1936 (= Das deutsche Leben 3); Hans Kern, Die Seelenkunde der Romantik, Berlin 1937 (= Das deutsche Leben 5); Hans Eggert Schröder, Eichendorff und die deutsche Romantik, in: Rhythmus 16 (1938), S. 153-157; Geheimnis und Ahnung. Die deutsche Romantik in Dokumenten. Hrsg. von Hans Kern, Berlin 1938; Hans Kern, Vom Genius der Liebe. Frauenschicksale der Romantik, Leipzig 1939, 3 1941. Vgl. die Kritik an der »biozentrischen« Schiller-Deutung Walter Deubels durch Gerhard Fricke, Vom Nutzen und Nachteil des »Lebens« für die Historie, in: ZfDk 50 (1936), S. 433-437. - Aufnahme fanden Klages' Konstruktionen eines Geist-Seele-Dualismus allenfalls in Dissertationen, so bei Gerhart Werner, Die romantische Geistlehre des Novalis in ihren Beziehungen zur Klagesschen Problematik, Bleicherode a.H. 1938 (= Diss. Leipzig); Walter Hildenbrandt, Eichendorff. Tragik und Lebenskampf in Schicksal und Werk, Danzig 1937 (= Diss. ΤΗ Danzig). Johann Jakob Bachofen, Versuch über die Gräbersymbolik der Alten. Mit einem Vorwort von C.A. Bernoulli und einer Würdigung von Ludwig Klages, Basel 1925; Carl Gustav Carus, Psyche. Ausgewählt und eingeleitet von Ludwig Klages, Jena 1925 (= Gott-Natur 3); Naturphilosophie der Romantik. Ausgewählt und eingeleitet von Christoph Bernoulli und Hans Kern, Jena 1925 (= Gott-Natur 2). Vgl. u.a. Hans Kern, Carl Gustav Carus als Erforscher der Seele, in: Völkische Kultur 2 (1934), S. 155-164; ders., Carl Gustav Carus als Erforscher der Seele, in: Zeitschrift für Menschenkunde 13 (1938), S. 170-182; Carl Haeberlin, C.G. Carus als Meister der Lebenskunst, in: Rhythmus 17 (1939), S. 2-15. Erwin Wäsche, C. G. Carus und die romantische Weltanschauung, Düsseldorf 1933 (= Diss. Köln 1932); Käte Nadler, Die Erkenntnislehre des C. G. Carus, in: Die Tat-
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wachsenden Popularität bei. 9 6 Hans Kern, aktiver Klages-Jünger und einer der >biozentrischen< Initiatoren der Carus-Renaissance, kommentierte 1942 die Erweiterung der Forschungslandschaft als »das wahrhaft erstaunliche Ereignis einer echten geistigen Wiedergeburt dieses großen deutschen Denkers und Forschers«, die »die unablässigen Bemühungen der wenigen, die damals mit und im Anschluß an Klages immer wieder in Veröffentlichungen aller Art auf die grundsätzliche Bedeutung von Carus hinwiesen«, in »reichstem Maße belohnt« habe. 97
4. Trotz der Hoffnungen des Jahres 1933, durch die Beschwörung nationaler Werte und die Absage an >Wertfreiheit< und >Voraussetzungslosigkeit< zu einer monoparadigmatischen Einigung von Konzepten und Methoden zu gelangen, gewann die Neuere deutsche Literaturwissenschaft auch im Dritten Reich keine homogene Gestalt. Sichtbares Indiz auf dem Gebiet der Romantikforschung war das weiterhin beklagte Defizit eines konsensfahigen Deutungsmusters, dessen Konstruktion angesichts differierender Konzepte und Methoden nicht gelang. 9 8 Die in der Universitätsgermanistik weiterhin dominierende Geistesgeschichte, weder von stammeskundlichen Erklärungen noch von Anläufen zu einer rassen-
weit 12 (1936) S. 79-85; dies., Das Goethebild C. G. Carus', in: DVjs 14 (1936), S. 462 - 472; Hans Wilhelmsmeyer, C. G. Carus als Erbe und Deuter Goethes, Berlin 1936 (= Neue deutsche Forschungen, Abt. Neuere deutsche Literaturgeschichte. Bd. 8 = Diss. Kiel); Fritz W. Müller, Die Anthropologie des C. G. Carus, Berlin 1937 (= Neue deutsche Forschungen 150, Abt. Charakterologie 4 = Diss. Tübingen); Johannes Müller, Das Bild vom Menschen bei C. G. Carus, Köln 1938 (= Diss. Köln); Arthur Krewald, C. G. Carus, seine philosophischen, psychologischen und charakterologischen Grundgedanken, Berlin 1939 (= Diss. Königsberg); Dietrich Kramer, Die Gottesvorstellungen C. G. Carus' und ihre Beziehung zu Herder, o.O. 1942 (= Diss. Göttingen 1939); Paul Stöcklein, C. G. Carus. Menschen und Völker, Hamburg 1943 (= Geistiges Europa). 96
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C. G. Carus, Briefe über Goethes Faust. Hrsg. von Hans Kern, Hamburg 1937; C. G. Carus, Gesammelte Schriften. Hrsg. von R. Zaunick und W. Keiper, Berlin 1938 (= Schöpferische Romantik); ders., Symbolik der menschlichen Gestalt. Ein Handbuch zur Menschenkenntnis, Radebeul 1938; ders., Gedanken über grosse Kunst, Leipzig 1943 (= Insel Bücherei 96); ders., Geheimnis am lichten Tag. Von der Seele der Menschen und der Welt. Hrsg. und eingel. von Hans Kern, Leipzig 1944; ders., Friedrich der Landschaftsmaler, Berlin 1944 (= Dokumente zur Morphologie, Symbolik und Geschichte). Hans Kern, C. G. Carus. Persönlichkeit und Werk, Berlin 1942, S. 204. Vgl. P. Kluckhohn, Ideengut der deutschen Romantik (Anm. 80), S. lf. - Ähnlich auch die Übersicht über die Forschungslandschaft nach 1933 bei H. Pyritz, Vorlesung Deutsche Romantik (Anm. 6), Bl. 9, mit der Klage über die »heutige Abkehr von philologischer Tatsachenarbeit«, das Fehlen kritischer Gesamtausgaben und detaillierter Biographien. Auch die »große tatsachenmäßige Gesamtdarstellung, der moderne >HaymWesen der Wissenschaft und dabei als Abgrenzung >der Jungen< von >den Altem. Was in der Germanistik am Streit um die Nachfolge Erich Schmidts in Berlin 1913/14 als Kluft zwischen traditioneller Philologie und den neuen Strömungen der >Geistesgeschichte< aufgebrochen war19 und mit der Berufung des Vermittlers Julius Petersen 1920 als einer Kompromißlösung überbrückt wurde, 20 läßt sich auch in der Romanistik beobachten. »Hatte der Krieg die >Erbstreitigkeiten< vorübergehend in den Hintergrund gedrängt, so traten nach dem Kriege die Gegensätze offen zutage. Auf dem 17. Allgemeinen Deutschen Philologentag im Oktober 1920 in Halle [...] fand eine erste Positionsbestimmung im >Kampf der Alten gegen die Neuen< statt.«21 Dieser Streit unter den Philologen drehte sich vor allem darum, ob die Beschäftigung mit neuerer Literatur überhaupt eine wissenschaftliche genannt werden könne, sobald sie sich anderer Methoden als der bislang bewährten bediene. 22 Während Anhänger der >altenPositivismus< und der >Scherer-Schule< zurückgreifen zu müssen? Welche Kategorien versprachen die größte Reichweite? Die Suche danach beschäftigt die deutsche Literaturwissenschaft verstärkt seit Beginn der zwanziger Jahre. »Besonders hoch im Kurs stehen diejenigen Kategorien, welche die Kraft zur angestrebten Synthese haben: Geist, Ideen, Probleme, Stil, Gestalt, Gattung, Stamm usw.« 27 Es geht dabei jedoch nicht nur um Auswahl und Zusammenfuhrung des auszuwählenden literaturhistorischen Materials, sondern auch um eine Synthese von Methoden, die in unterschiedlichen Disziplinen entwickelt wurden. Aus dieser Problemlage erwächst ein enormer Impuls für die Forschung: Barock, Romantik, Biedermeier und - wie man inzwischen weiß - auch die Aufklärung sind die bevorzugten neuen Gegenstände. 28 Mit gutem Grund wird also gesagt, »daß die Geistesgeschichte die weitgehende Vereinheitlichung der Epochen Vorstellungen in dem uns heute geläufigen Periodisierungsschema zustande gebracht hat.« 29
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Bindung an die Naturwissenschaften, die seit den 1880er Jahren die wissenschaftlichen Standards zu bestimmen beginnen; die einem Objektivitätsideal folgende Materialanhäufung sowie eine nur noch fur Fachleute interessante Spezialisierung. Vgl. Ders., Deutsche Literaturwissenschaft zwischen den Weltkriegen, in: ZfG N.F. 1 (1991), S. 600-608. Julius Petersen, Literaturgeschichte als Wissenschaft, Heidelberg 1914. Ebd., S. 42. H. Dainat, Deutsche Literaturwissenschaft (Anm. 24), S. 603. Vgl. hierzu Wilhelm Voßkamp, Deutsche Barockforschung in den zwanziger und dreißiger Jahren, in: Europäische Barockrezeption. Hrsg. von Klaus Garber, Wiesbaden 1991, S. 683-703; Julius Petersen, Die Wesensbestimmung der deutschen Romantik. Eine Einführung in die moderne Literaturwissenschaft, Leipzig 1926; Ralf Klausnitzer, Blaue Blume unterm Hakenkreuz. Die Rezeption der deutschen literarischen Romantik im Dritten Reich, Paderborn u.a. 1999; Petra Boden, Im Käfig des Paradigmas. Biedermeierforschung 1928-1945 und in der Nachkriegszeit, in: Euphorion 90 (1996), S. 432-^144; Holger Dainat, Die wichtigste aller Epochen: Geistesgeschichtliche Aufklärungsforschung, in: Aufklärungsforschung in Deutschland. Hrsg. von Dems. und Wilhelm Voßkamp, Heidelberg 1999, S. 21-37. Rainer Rosenberg, Literaturwissenschaftliche Germanistik. Zur Geschichte ihrer Probleme und Begriffe, Berlin 1989, S. 169.
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Unter der Vielzahl methodischer Entwürfe, die in diesem Kontext entwickelt wurden und - wie bekannt - in der Literaturwissenschaft bald für nachhaltige Krisenstimmung sorgten, weil sich Einheit in der erhofften Dimension nicht herstellen ließ, sind Strömungen auszumachen, die den Beckerschen Vorstellungen nahestehen. Hiermit sind Forschungsansätze gemeint, die Literatur im Kontext von Kultur, Geschichte und Gesellschaft, also im kultur- oder sozialgeschichtlich bzw. soziologisch begründeten Zusammenhang zu verorten suchen. Sie unterscheiden sich von anderen Ansätzen auch dadurch, daß sie das gesamte Gebiet literarischer Überlieferung erfassen wollen und darin der drohenden Abkoppelung des neueren vom älteren Gebiet entgegenarbeiten. Unter den die jeweilige Auswahl, Ordnung und Kontextualisierung steuernden Kategorien Stamm, Geist, Gesellschaft werden diese Entwürfe im Folgenden zusammengefaßt.
1. Mit Berufung auf die Arbeiten von Karl Lamprecht 30 und August Sauer hatte Josef Nadler bereits 1912 den Versuch unternommen, mit seiner Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften eine Synthese dieser beiden Konzepte herbeizufuhren. Sein erklärtes Ziel bestand darin, »aus der verwirrenden Vielfalt des Einzelnen das Typische zu erkennen, die sozialen und wirtschaftlichen Grundlagen des geistigen Lebens nach allen Seiten freizulegen«. 31 Auf der Suche nach Möglichkeiten einer Synthese geht Nadler vom Grundsatz aus, daß es eine Vielzahl nicht allein literaturwissenschaftlich zu klärender Umstände gäbe, durch die sowohl Produktion als auch Rezeption von Literatur gesteuert würden, so daß nur interdisziplinäre Forschung zum Ziel führen könne: Die »Geschichte des Schrifttums [muß] an die großen Ergebnisse verwandter, fördernder, vorausgesetzter Disziplinen« Anschluß finden.32 Zwei Jahre später veröffentlichte Nadler seinen Aufsatz über Die Wissenschaftslehre der Literaturgeschichte, in dem er die Grundlagen wissenschaftlicher Arbeit nicht nur für Literaturwissenschaft, sondern - im kritischen Bezug auf die Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften - für Wissenschaft überhaupt diskutiert. 33 Auf der rein epistemologischen Ebene will er keine Differenz gelten lassen. Interdisziplinäre Kooperation und Synthese erscheinen allein schon deshalb möglich. Unter der unbestrittenen Voraussetzung, daß der literarische Gegenstands-
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Vgl. hierzu die grundlegende Arbeit von Luise Schorn-Schütte, Kulturgeschichte zwischen Wissenschaft und Politik. Kulturgeschichte zwischen Wissenschaft und Politik, Göttingen 1984. Josef Nadler, Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften. I. Band: Die Altstämme (800-1600), Regensburg 1912, S. VIII. Ebd. Josef Nadler, Die Wissenschaftslehre der Literaturgeschichte. Versuche und Anfänge, in: Euphorion 21 (1914), S. 1-63.
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bereich als gewissermaßen >natürlich< gegebener existiere, 34 fragt Nadler nach den Möglichkeiten seiner Erkenntnis. Prinzipiell gelte, daß alle Wissenschaften ihre Gegenstände nach ihrem »zureichenden Grunde« 35 zu befragen hätten. Die Philologie als Textherstellung und -kritik sei aber damit noch keine historische Wissenschaft, die zu sein sie beanspruche. Dafür »muß sie [...], wenn sie die Denkmäler zeitlich und räumlich festlegen und die hinreichenden Gründe erkennen will [,] über die Texte hinausstreben.« 36 Angesichts unüberschaubarer Stoffmassen sei jedoch eine Auswahl nach bestimmten Kriterien nötig und zwar nicht aus logischen, erkenntnistheoretischen Gründen, sondern weil es »besondere Verhältnisse und das Gesetz der Trägheit auch in geistigen Dingen rätlich erscheinen« ließen. 37 Selektion ist für Nadler also kein Problem der Entscheidung zwischen verschiedenen möglichen Kategorien und ihren Reichweiten, sondern eine Strategie zur Bewältigung von Gedächtnis- und Darstellbarkeitsgrenzen. Zeitgenössische Versuche, der Literaturwissenschaft ein gegenstandskonstituierendes Profil in Richtung Psychologie, Sprachwissenschaft oder Semiotik zu geben, lehnt er ab, weil sie die Erkenntnismittel in den Vordergrund rückten und nicht das Erkenntnisziel. Ihnen wird der Status von Hilfswissenschaften zugewiesen. Auch eine ethische oder ästhetische Grundlegung sei verfehlt: »Eine Auswahl der literarischen Denkmäler unter dem Gesichtspunkte des Sittlichen wie des Schönen ist unwissenschaftlich«. 38 Für die Begründung seines Ansatzes interessiert Nadler nicht, warum Texte so sind wie sie sind - z.B. ihre ästhetische Beschaffenheit sondern warum Texte überhaupt sind. In dieser Logik folgert er schließlich: »Den zureichenden Grund fur das ganz bestimmte Vorhandensein der Denkmäler habe ich in den betreffenden Urhebern gefunden. Aber diese fordern doch auch Gründe für ihr Vörhandensein[,] und es ist doch Pflicht jeder wissenschaftlichen Tätigkeit, dem Bewirkenden, der Ursache solange nachzuforschen, als ich irgend etwas als bewirkt, verursacht erkenne.« 39 Von der Kooperation der beiden noch »jungen Wissenschaften« Familiengeschichte und Literaturgeschichte erwartet er Auskunft über »die letzten Gründe des geheimnisvollen Zusammenwirkens zwischen Körperlichem und Seelischem«. 40 Um den »deutsch schrifttümlich[en]« Text wissenschaftlich zu erkennen, entwirft er eine theoretische Grundlegung der Literaturgeschichte wie folgt: »Ihre Erkenntnismittel sind, ausgehend von den Denkmälern, fortschreitende Begriffsbildung, Quellendenkmäler, der Induktionsschluß und der Begriff der
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Dieser Bereich umfaßt bei Nadler, ganz dem alten Projekt verpflichtet, »alle erhaltenen schriftlichen Denkmäler in deutscher Sprache und alle Schriftmaler, die von Deutschen herrühren« (ebd., S. 5). Ebd., S. 6. Ebd., S. 13. Ebd., S. 27. Ebd., S. 29. Ebd., S. 41. Ebd., S. 47f.
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ursächlichen Abfolge. Ihre wesentlichen Hilfswissenschaften sind Sprachwissenschaft, Familiengeschichte, Ethnographie, Geographie, Volkskunde.« 41 Im Hinblick auf die obengenannten Begründungen, mit denen sich die >Neuerer< vom philologischen Wissenschaftsverständnis abzulösen suchten, verwundert es nicht, daß sich Nadler mit diesem Aufsatz »gänzlich unbeachtet« gefühlt hat.42 Seine vierbändige Literaturgeschichte wird jedoch beachtet und zwar äußerst kritisch. Für Paul Merker ist es »sehr zweifelhaft, ob man dem an sich gewiß beachtenswerten Rechnungsfaktor der Familiengeschichte und Stammeszugehörigkeit die starke, ja ausschlaggebende Bedeutung zumessen kann, die ihm Nadler geben möchte.« Es sei klar, daß sich auf dieser Grundlage keine »besondere literaturwissenschaftliche Methode und Grundauffassung [...] aufbauen läßt.« 43 Julius Petersen zeigt sich belustigt über Nadlers Unbesonnenheit und »jugendliche[n] Sturmlauf«, wodurch er »die Kausalität als eine unerbittliche« darstelle. Vor allem wirft er Nadler vor, daß er in seiner »Einseitigkeit« die zweifellos vorhandenen biologischen »Dispositionen« zu ursprünglichen Triebkräften aufwerte und damit die Koordinaten im literaturgeschichtlichen Kanon verschiebt 44 Doch Nadler zeigt sich seiner Sache sicher: »Merkwürdig bleibt, dass mir aus ganz anderen Fachgebieten in steigendem Maße Zuschriften und Arbeiten zugehen, die sich auf Anregungen durch mich beziehen. [...] Heute erhalte ich aus einem bakteriologischen Institut eine Abhandlung, in der auf biochemischem Wege an Blutuntersuchungen der verschiedene Typ rheinischer und ostdeutscher Stadtbevölkerung nachgewiesen wird. Darnach scheint in den anderen Disziplinen das Vermögen, fortschrittliche Leistungen zu erkennen und zu würdigen, grösser zu sein als in der deutschen Literaturwissenschaft. [...] Von den starken kulturpolitischen Auswirkungen meiner Arbeiten, die heute zu Tage treten, will ich gar nicht reden. Ich habe Zeit und kann warten.« 45 Die Skepsis, die Nadler im eigenen Fach entgegenschlägt, 46 läßt ihn auf bessere Chancen bei den Soziologen hoffen. Auf dem 7. Deutschen Soziologentag, der im Oktober 1930 in Berlin stattfindet, spricht er über Die literaturhistorischen
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Ebd., S. 51. Vgl. Josef Nadler, Das Problem der Stilgeschichte, in: Philosophie der Literaturwissenschaft. Hrsg. von Emil Ermatinger, Berlin 1930, S. 376-397, S. 391. Paul Merker, Neue Aufgaben der deutschen Literaturgeschichte, in: ZfDk 35 (1921), 15. Ergänzungsheft, S. 1-82, S. 38f. J. Petersen, Wesensbestimmung (Anm. 28), S. 9f. und S. 21. J. Nadler an J. Petersen am 25.4.1926, in: DLA, A: Petersen, Brief an ihn von, Nr. 72.40. Angesichts ablehnender Kommentare zu Nadlers Verfahren bildet die Einschätzung von Günther Müller, der in Nadlers Ansatz eine »fruchtbare Arbeitshypothese« sieht, eine Ausnahme. Vgl. Günther Müller, Bemerkungen zu Nadlers Literaturgeschichte, in: Schönere Zukunft 3 (1927/28), S. 929-931, S. 931. Über harsche Reaktionen von germanistischen Fachkollegen wie Josef Körner, Hermann August Korff, Rudolf Unger und Harry Maync vgl. Ralf Klausnitzer, Krönung des deutschen Siedelwerksl Zur Debatte um Josef Nadlers Romantikkonzeption in den zwanziger und dreißiger Jahren, in: Euphorion 93 (1999), S. 99-125, S. 103ff.
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Erkenntnismittel des Stammesproblems.47 Er bietet den Soziologen sein Konzept an, weil er sicher ist, daß es »ein Verfahren [gibt], das uns erlaubt, das literarische Beobachtungsmaterial soziologisch ziemlich restlos für die Erkenntnis der Stammeswesenheiten auszuwerten«. 48 Dieses Verfahren sei eine »vergleichende Literaturgeschichte«, die diesen Namen aber nur dann verdiene, wenn sie von einer Konstante, nämlich dem >Deutschen< in der deutschsprachigen Literatur, ausgehe und über »Strukturvergleichung« erforsche, wie diese Literatur von der Schweiz bis hin zu den »deutschen Siedlungsgruppen Nordamerikas« primäre Ähnlichkeiten und sekundäre Differenzen aufweise. Keine Frage: Nadler will diese vorausgesetzte abstrakte Konstante empirisch überprüfen und zwar weltweit. Von Deutschkundlern und anderen Anhängern des nationalen Projekts, die auf der Ebene der Werte - und dies verstärkt nach Ende des Ersten Weltkrieges - schon zu wissen vorgeben, was >deutsch< sei, unterscheidet er sich allein - oder doch immerhin - dadurch, daß er eine Definition dieser Art noch nicht formuliert und Synthesen fur verfrüht hält: »Vielmehr muß man jetzt Einzeluntersuchungen in Angriff nehmen«, und er setzt dabei auf das Interesse der Soziologie. 49 Dies allerdings vergeblich. In der dort permanent geführten Debatte um Wertfreiheit, die der noch jungen Disziplin wissenschaftliche Reputation verschaffen soll, setzt sich eine »naturwissenschaftlich-beziehungswissenschaftliche Richtung« durch. »Einer solchen Soziologie geht es um eine objektiv-empirische Kategorisierung, Beschreibung und Analyse als elementar definierter sozialer Prozesse mit dem Fernziel der Entwicklung von (Natur-)Gesetzen der Gesellschaft«. 50 Im Hinblick darauf erscheinen die Vorbehalte, auf die Nadler auch bei den Soziologen stößt, verständlich. Zentrale Annahmen von angeborenen Charaktereigenschaften und Zusammenhängen zwischen körperlichen und seelischen Dispositionen gelten als nicht bewiesen, »und eine große Mehrzahl der maßgebenden Ethnologen ist ganz und gar gegen diese Vorstellung« - so Friedrich Hertz in der Diskussion zu Nadlers Vortrag. Werner Sombart fragt nach dem »geistige[n] Band, das diese Gruppe [den Stamm, P.B.] zusammenhält und darum erst überhaupt einen Verband bildet und dadurch erst Gegenstand der Soziologie wird. [...] Wir müssen zwischen dem naturwissenschaftlich-biologischen Begriff Stamm und einem soziologischen
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Josef Nadler, Die literaturhistorischen Erkenntnismittel des Stammesproblems, in: Verhandlungen des Siebenten Deutschen Soziologentages vom 28. September bis 1. Oktober 1930 in Berlin. Vorträge und Diskussionen in der Hauptversammlung und in den Sitzungen der Untergruppen, Tübingen 1931, S. 242-257. - Während Nadlers Vortrag in der Untergruppe fur politische Soziologie Die deutschen Stämme (Leitung: Franz Eulenburg) gehalten wird, trägt der Philosoph Erich Rothacker seinen Vortrag Der Beitrag der Philosophie und der Einzelwissenschaften zur Kunstsoziologie in der von Leopold von Wiese geleiteten Untergruppe für Soziologie der Kunst vor (vgl. ebd., S. 132-156). J. Nadler, Stammesproblem (Anm. 47), S. 252. Ebd., S. 256f. D. Käsler, Frühe deutsche Soziologie (Anm. 10), S. 71.
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Begriff unterscheiden. [...] Blutsverwandtschaft, Ortszusammengehörigkeit usw. ergeben keine soziologischen Gruppen.« 51 In der eigenen Disziplin stößt Nadler zur gleichen Zeit auf eine neue Art von Kritik. Verübelt wird ihm nunmehr, daß es ihm nicht gelänge, die ermittelte Vielfalt der deutschen Literaturgeschichte nach einheitlichen Kriterien zu strukturieren. Franz Koch greift in seiner umfangreichen Besprechung von 1930 dies als das zentrale Problem heraus. Er hält Nadler entgegen, daß er literaturgeschichtliche Befunde zwar lebensgeschichtlich vertiefen, jedoch nicht streng hierarchisch zwischen biologischen, sozialen und geographischen Faktoren unterscheiden würde. Geistige Erscheinungen hätte Nadler nicht auf ein ihnen allen zugrundeliegendes Letztes zurückgeführt. »Dieser Pluralismus von Lösungsmöglichkeiten ist natürlich ein Unding, [...] das aus der Welt geschaffen werden muß, was sicherlich Nadler selbst als notwendig anerkennen wird.« »Der Nadlersche Bazillus sitzt, wie man sieht, im Blut, nur will man es noch nicht wahrhaben, wodurch der Wert der gründlichen Arbeit nicht gemindert wird.« 52 Betrachtet man die Vorworte der 1938 vorgelegten vierten Auflage seiner Literaturgeschichte, so scheint es, als hätte Nadler die Kritik Kochs beherzigt. Ein Bezug zu Karl Lamprecht, der in keiner Auflage bislang fehlte, findet sich hier nicht mehr. Der Stil weicht indessen so stark von dem der Vorworte in der ersten Auflage und anderen in den dreißiger Jahren verfaßten Texten Nadlers ab, daß Zweifel an der Verfasserschaft nicht unbegründet scheinen. Da ist die Rede von »Rassengemisch«: es »sickert nach«, »staut sich«, »ergießt sich«; Stämme »stießen vor«, »ergriffen« und »vertilgten«. 53 An der Schwelle zum 18. Jahrhundert sei »das jüdische Volk dem deutschen noch keine sichtbare Gefahr«, aber den »Widerwillen des Blutes« gegen die Juden habe es bald gegeben. 54 Und im vierten Band heißt es: »Wie in einem fremden Volkskörper, so konnten die Juden auch nur in einem fremden Sprachleibe leben.« 55 Solches Raunen und Schwelgen, diese mit Metaphern aus der Blut-und-Boden-Propaganda aufgeladene Sprache war sonst seine Sache nicht. 56
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Diskussion über Die deutschen Stämme, in: Verhandlungen des Siebenten deutschen Soziologentages (Anm. 47), S. 268-278, S. 269 und S. 272. Franz Koch, Stammeskundliche Literaturgeschichte. Versuche und Anfange, in: DVjs 8 (1930), S. 143-197, S. 158 und S. 164. Josef Nadler, Dichtung und Schrifttum der deutschen Stämme und Landschaften, Band I: Volk (800-1740), 4., völlig neu bearbeitete Auflage, Berlin 1938, S. 1. Ders., Band II: Geist (1740-1813), Berlin 1938, S. 5. Ders., Band IV: Reich (1914-1940), Berlin 1941, S. 2. Ralf Klausnitzer ist der Vermutung Dieter Kellings (Josef Nadler und der deutsche Faschismus, in: Brücken. Germanistisches Jahrbuch DDR-CSSR 1986/87, S. 132-147, S. 144), daß Nadler diese »Leitgedanken« nicht selbst verfaßt hat, nachgegangen: »Dieser Apologetik, die Nadlers Übernahme rassenkundlicher Erklärungsmuster als erzwungene Unterordnung unter parteiamtliche Stellen relativiert, stehen allerdings gewichtige Fakten entgegen.« Nicht zuletzt der, daß Nadler nach Kriegsende, hätte er dies beweisen können, entsprechende Belege beigebracht hätte. Vgl. R. Klausnitzer, Krönung (Anm. 46), S. 123. In einem sorgfaltigen Textvergleich hat Klausnitzer übrigens nachgewiesen, daß »der
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Aber selbst auf diese Neuauflage reagieren erklärte und engagierte Befürworter des Nationalsozialismus skeptisch. Über die ersten beiden Bände bemerkt Karl Justus Obenauer, daß man abwarten müsse, ob es Nadler gelänge, »eine Literaturgeschichte des deutschen Volkes« zu schreiben. »Diese Frage ist insofern berechtigt, als auch in dieser Neubearbeitung das Eigenleben der deutschen Stämme stärker hervortritt als die im Blut der Rasse gegründete Gemeinschaft.« Besonders für die Deutschlehrer bedauert Obenauer, daß Nadler die »Grundwerte des neuen großdeutschen Staates, die in der germanisch-nordischen Rasse liegen, noch immer nicht eindeutig in die Mitte rückt.« 57 Daß Nadlers programmatischer Aufsatz von 1934 Rassenkunde, Volkskunde, Stammes kunde5% in der Forschung häufig als ein für NS-Literaturwissenschaft repräsentativer Text bewertet wird, könnte an einer Lektüre aus der Perspektive der berüchtigten vierten Auflage, namentlich ihrer Vorworte, liegen. Sieht man sich nämlich diesen Text genauer an, wird man schnell feststellen, daß eine Gleichsetzung dieses Programms mit Nationalsozialismus nicht so ohne weiteres funktioniert. 59 Zwar ist Nadler nach wie vor der Auffassung, daß es zwischen >Rasse< und >Geist< Zusammenhänge gebe, dennoch distanziert er sich klar von der jetzt hoch im Kurs stehenden Rassenkunde. Es sei noch längst nicht festgestellt, welcher Art solche Zusammenhänge seien. 60 Die ideologisch erfolgversprechendste Gleichung, nach der künstlerische Höchstleistungen nur bei »rassisch reiner« Urheberschaft zu erwarten seien, hielt seinen empirischen Befunden nämlich nicht stand. »Die Annahme, daß nur der nordische Mensch in Deutschland Form habe und daß die nordischen Bestände im Deutschen der schöpferische Gärstoff seien, ist nicht bewiesen und nach der Art der Hilfsmittel auch nicht beweisbar. Sie kann nur ein Gegenstand des Glaubens sein und gehört daher in einen anderen Bereich als den der Wissenschaft.« 61 Nadler blieb Außenseiter. Sein nur interdisziplinär zu erfüllendes, auf Soziologie, Ethnologie, Geographie und Biologie angewiesenes, Differenzen und Bedeutungskonkurrenzen zutage forderndes Konzept lag in allen Punkten quer zur Disziplin. Bis auf einen: Er blieb überzeugt von einer allen Differenzen dennoch zugrunde liegenden Einheit >des< Deutschen und darin dem 19. Jahrhundert
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textliche Bestandteil des die Romantikteile beherbergenden zweiten Bandes gegenüber den bisherigen Auflagen nahezu unverändert« geblieben ist (ebd., S. 120). Von einer völligen Neubearbeitung der Bände, wie es die Titelseiten behaupten, kann also nicht unbesehen die Rede sein. Karl Justus Obenauer, Rezension: Josef Nadler, Literaturgeschichte des deutschen Volkes, in: ZfdB 15 (1939), S. 278-281, S. 281. JosefNadler, Rassenkunde, Volkskunde, Stammeskunde, in: DuV 35 (1934), S. 1-18. Zum Vergleich: Klaus Weimar hat anhand einer Auswahl literaturwissenschaftlicher Texte aus der NS-Zeit eine Bestimmung dessen unternommen, was an ihnen als spezifisch nationalsozialistisch zu gelten hat. K. Weimar, Deutsche Deutsche, in: Atta Troll tanzt noch. Selbstbesichtigungen der literaturwissenschaftlichen Germanistik im 20. Jahrhundert. Hrsg. von Petra Boden und Holger Dainat, Berlin 1997, S. 127-137. Vgl. hierzu auch R. Klausnitzer, Krönung (Anm. 46), S. 110. J. Nadler, Rassenkunde (Anm. 58), S. 11.
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verhaftet. Im Ergebnis, der Literaturgeschichte, die statt Einheit immer nur Differenzen zeigen konnte, ist er, sieht man von der Unhaltbarkeit seiner stammeskundlichen Prämissen ab, ein >ModernerEntwicklungsprinzip< bestimmt sei, mit dem deutsche [Literatur-jGeschichte als ein sinnvoll zusammenhängender Prozeß gedeutet werden konnte, ohne damit in Kausalitätsannahmen von Ursache-Wirkungsbeziehungen zurückzufallen. Die Vermittlung zwischen Umwelt, Individualpsyche und Kunstwerk, die als prinzipiell immer geltende Konstante angenommen wird, stellt Merker folgendermaßen her: »Am tiefsten, alle seelischen Äußerungen der Zeit in entscheidender Weise beeinflussend, liegt die Schicht der allgemeinen Weltanschauung und Kulturstimmung einer Epoche.« 71 Auf dieser Ebene sind dann die Deutungen solcher Vermittlungen jeglicher Überprüfbarkeit entzogen. Weltanschauung ist keine Kategorien-, sondern eine Wertebene, und in diesem Sinne sei, wie Merker erklärt, Literaturgeschichte »wie alle wahrhafte und große Geschichtsforschung für mich nicht nur eine Wissenschaft, sondern ein Können, eine Kunst.« 72 65 66
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Ebd., S. 38f. Ders., Individualistische und soziologische Literaturgeschichtsforschung, in: ZfdB 1 (1925) S. 15-27. In diesem Aufsatz, der profilanzeigend im ersten Heft des neugegründeten Organs des Deutschen Germanistenverbandes (ab 1920: Gesellschaft für deutsche Bildung) abgedruckt ist, heißt es: Obwohl Scherer erkennbar über seine Schule hinausrage, sei seine Literaturgeschichte von 1883ff. dennoch nur ein »interessantes Beispiel der naturwissenschaftlich-technischen Weltanschauung jener Epoche«, weil sie alles »erklären« wolle. Das »Kunstwerk« erscheine bei Scherer nur als eine »Folge von äußeren Eindrücken und Anregungen« (S. 18f.). Ebd., S. 23. Die »marxistische Umwelthypothese« steht für Merker »auf niedrigster Stufe«. - Vgl. dazu den Protest von Alfred Kleinberg, der Merker erstaunlicherweise zum »Führer [...] der bürgerlichen Literatursoziologen« erklärt. Alfred Kleinberg, Soziologische Literaturgeschichtsforschung, in: Die Gesellschaft 2 (1925), S. 573-578, S. 574. Vgl. weiterhin ders., Marxistische Literaturforschung, in: Die Literatur 34 (1931/32), S. 596-597. P. Merker, Neue Aufgaben (Anm. 43), Vorwort, S. IV. Ebd., S. 52. Ebd., S. 50. Ebd., S. 63. Ebd., S. 65.
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Vergleicht man diese umfangreiche Arbeit von 1921 mit dem Aufsatz von 1925, 73 läßt sich eine bemerkenswerte Verschiebung feststellen. Während Merker seine Überlegungen von 1921 damit einleitet, daß »alle Geschichte und also auch alle Literaturhistorie [letzten Endes] Geschichtsphilosophie« sei, 74 vertraut er 1925 massiv auf »Kultursoziologie«. 75 In allen historischen Wissenschaften sei neuerdings »das Interesse an höheren soziologischen Einheiten, die den nährenden Untergrund für die individuelle Betätigung bilden, gestiegen.« 76 Zwar besteht dieser Untergrund für Merker noch immer »in der allgemeinen Weltanschauung und gesamtseelischen Grundstimmung einer Zeit«, 77 jedoch werde die nur von »den empfanglichen Menschen [...] gespürt«, nicht von der »stumpfen[n] Masse der bloß vegetativ lebenden Individuen«. 78 Da Merker diese Sensibilität aber als eine von Stand und Herkunft unabhängige, also sozial nicht determinierte annehmen will, muß er sie anders herleiten. Wir lesen: »Wie die im Blute schwingende Erbmasse die äußere Erscheinung der Menschen oft in entscheidender Weise bestimmt, so scheint die Annahme begründet, daß auch für die besondere seelische Veranlagung und damit fiir das Kulturschaffen einer Menschengruppe diese erbtümlichen Voraussetzungen irgendwie mit in Frage kommen.« 7 9 Was die Geltungsannahmen betrifft, scheint Nadlers Ansatz - im Unterschied zu Merkers Ansichten von 1921, als er biologische und genealogische Faktoren noch fur ziemlich »sekundär« hält 80 - nun also doch anschlußfähig. Das Problem hat sich inzwischen darauf reduziert, daß mit Nadler kein Kanon hoher Dichtung begründet werden kann. Merkers Umorientierung von Geschichtsphilosophie auf Kultursoziologie könnte auch als Indiz für die Veränderung ihrer Erfolgsbedingungen in Deutschland gelten. Die Debatte über den Wert der Wissenschaft für das Leben, die akademische Außenseiter oder Künstler seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert geführt haben, wurde »seit dem Kriegsende [...] unmittelbar in die einzelnen kultur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen hineingetragen«. 81 In der Reaktion auf die sich vollziehende Ausdifferenzierung der Wissenschaften und die damit einhergehende Relativierung der Anwendbarkeit von disziplinenspezifischem wissenschaftlichen Wissen für die Begründung eines geschichtlichen und gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs wird »die Dringlichkeit einer neuen Kultursynthese deutlich«. 82 War es bis dahin Aufgabe der Philosophie, das gesamte Sein auszulegen, erhält sie jetzt Konkurrenz durch die »moderne Soziologie«, die sich zunehmend 73 74 75 76 77 78 79 80 81
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P. Merker, Individualistische und soziologische Literaturgeschichtsforschung (Anra. 66). Ders., Neue Aufgaben (Anm. 43), S. VI. Ders., Individualistische und soziologische Literaturforschung (Anm. 66), S. 25. Ebd., S. 23. Ebd., S. 25. Ebd. Ebd. Vgl. P. Merker, Neue Aufgaben (Anm. 43), S. 39. Klaus Lichtblau, Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende. Zur Genealogie der Kultursoziologie in Deutschland, Frankfurt/Main 1996, S. 418. Ebd., S. 419.
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als die zentrale Wissenschaft versteht, »welche die moderne Lebensbetrachtung beherrscht«. 83 Die Verbindung von Wissenschaft und Leben, die C.H. Becker im Interesse einer einheitlichen Bildung und Kultur als tragende Säule in das zu reformierende Hochschulwesen einziehen will, 84 stellt eine doppelte Herausforderung und Chance für die Literaturwisssenschaft dar. Erstens sind die Begriffe >BildungKultur< und >Leben< nicht eindeutig codiert. 85 Ihr unspezifischer Gehalt räumt der Literaturwissenschaft ohne den Druck einer erkenntnistheoretischen Rechtfertigung die Möglichkeit ein, sich - auf dem Weg ihrer Modernisierung - an anderen Disziplinen zu orientieren. Für die hier in Rede stehenden Forschungsansätze sind das vor allem Kulturphilosophie, Kulturgeschichte, Kulturwissenschaft und Kultursoziologie, über deren mögliches Profil zudem kein Konsens herrscht. 86 Dieser als unhaltbar geltende Zustand wirkt augenscheinlich gerade deshalb als Impuls für »Mut und Kraft zur Synthese, zum System, zur Weltanschauung. [...] Nur wo der Geschichtsschreiber - auch der der Dichtung - seine Aufgabe in dem Bewußtsein lebendiger Beziehung seiner Gesamtpersönlichkeit zu den kulturellen Kräften und Bewegungen der Zeit unternimmt, wird sein Werk vom Geiste wahrer Wissenschaft beseelt sein.« 87 Zweitens: Was in den Geisteswissenschaften als >wahre Wissenschaft gelten will, muß sich unterscheiden von dem Wissenschaftsverständnis, das mit dem 19. Jahrhundert in Verbindung gebracht wird, »als die quantitative Denkform der Naturwissenschaft [...] in die Geisteswissenschaft eingedrungen« war und »der Geistesforscher die Art der allmächtigen Naturforschung nachäffte].« 8 8
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Ebd., S. 530. Vgl. auch seine Schrift Vorn Wesen der deutschen Universität, Leipzig 1925. Mit diesen Begriffen zu arbeiten, um sie im Prozeß der Forschung zu spezifizieren, bleibt obendrein keine Domäne der Geisteswissenschaften. Besonders der Begriff »Leben« beschäftigte in dieser Zeit auch Physiker, Mediziner und Biologen. Vgl. dazu Erwin Schrödinger, What is life?, Cambridge 1944. Neuerdings unter E. Schrödinger, Was ist Leben? Die lebende Zelle mit den Augen des Physikers betrachtet. Hrsg. von Ernst Peter Fischer (4. Auflage der deutschen Übersetzung), München 1999. - Diese Begriffe sind nicht auf einen Nenner zu bringen, können daher keine Forschungsprogramme steuern. Aber das bietet auch Spielräume. Vgl. hierzu, neben der bereits zitierten Arbeit von K. Lichtblau, Kulturkrise (Anm. 81): Kultur und Kulturwissenschaften um 1900. Krise der Moderne und Glaube an die Wissenschaft. Hrsg. von Rüdiger vom Bruch u.a., Stuttgart 1989, darin bes. R. vom Bruch, Friedrich Wilhelm Graf, Gangolf Hübinger, Einleitung: Kulturbegriff, Kulturkritik und Kulturwissenschaften um 1900, S. 9-24; sowie Friedrich Tenbruck, Die Soziologie und die Krise der Geisteswissenschaften, und Michael Bock, Die Entwicklung der Soziologie und die Krise der Geisteswissenschaften in den 20er Jahren, in: Geisteswissenschaften zwischen Kaiserreich und Republik. Hrsg. von Knut Wolfgang Nörr, Stuttgart 1994, S. 36-45 und S. 159-185. Emil Ermatinger, Die deutsche Literaturwissenschaft in der geistigen Bewegung der Gegenwart, in: Ders., Krisen und Probleme der neueren deutschen Dichtung, Zürich u.a. 1928, S. 7-30, S. 29. Ebd., S. 11.
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Doch nicht nur um den Unterschied geht es, sondern um die Überbietung: Denn Wahrheit wird als >höhere< Ganzheit gedacht, die nicht von Natur- und Geisteswissenschaften in ihren spezifischen Diskursen unterschiedlich bestimmt werden könne. Zu einer Zeit, da kausale Erklärungsmodelle in den Naturwissenschaften 89 nicht mehr nur außerhalb ihres eigenen Kompetenzbereiches als untauglich für die Beschreibung anderer Phänomene - wie Geist, Psyche, Leben, Geschichte - verworfen werden, sondern auch unter Naturwissenschaftlern selbst90 eine »Bekehrungswelle zur Akausalität« um sich greift und die Lektüre von Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes auch bei ihnen Konjunktur hat, haben Geisteswissenschaften in der noch jungen Konkurrenz mit Naturwissenschaften bessere Aussichten auf Führungsrollen. 91 Diese wiederum verschaffen ihnen gesellschaftliche Reputation und statten ihre Vertreter mit dem Habitus von Weltdeutern und Sinnfindern aus. Wie Merker leitet auch Fritz Brüggemann aus Lamprechts kulturgeschichtlichem Konzept die Annahme einer für die gesamte Entwicklung zentralen Ursache ab, die in der »Psyche des Menschen liegen müsse [...]. Nicht Kunst, Religion, Philosophie, Recht, Sitte oder Wirtschaft hatten sich entwickelt, sondern der Mensch als seelisches Subjekt war und konnte allein Träger dieser Entwicklung sein in der ganzen Breite der Nation auf dem Grunde einer allen gemeinsamen Erbmasse.« 92 Kulturgeschichte, gedacht als die Geschichte des Seelenlebens, soll hier als Geschichte moralischer Haltungen geschrieben werden. Als Favoriten erscheinen »Aufrichtigkeit, Redlichkeit und Treue«, die in der Literatur des 18. Jahrhunderts als »die großen Ideale der neuen bürgerlichen Lebensanschauung« formiert worden seien.93 Verglichen mit Diskursen des 19. Jahrhunderts erscheint das, was Brüggemann unter >Seele< versteht, als »eine gewandelte Auffassung vom Geist. Nicht zuletzt unter dem Eindruck naturwissenschaftlicher Erfolge und dem neuen Verständnis [der Literaturwissenschaft, P.B.] als Geisteswissenschaft wird der Mensch jetzt als denkendes, wollendes und fühlendes Wesen begriffen.« In diesem Zusammenhang
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Hierbei wird in der Regel an die Newtonsche Physik gedacht. Mit der Relativitätstheorie und der Quantentheorie waren entscheidende Fundamente des disziplinaren Selbstbewußtseins erschüttert worden. Vgl. hierzu Quantenmechanik und Weimarer Republik. Hrsg. von Karl von Meyenn, Braunschweig, Wiesbaden 1994, S. 154. Nach den in diesem Band veröffentlichten Beobachtungen von Paul Forman kannte dieser in den dreißiger Jahren »nur einen deutschen Physiker, der es wagte, Machs Namen mit deutlicher Zustimmung in einer allgemeinen akademischen Ansprache zu erwähnen und sich selbst zu Machs erkenntnistheoretischen Ansichten zu bekennen. Nicht zufällig erfolgte diese mutige Tat Richard von Mises' erst gegen Ende der Weimarer Republik und als er sich weigerte, dem Drang nach Synthese nachzugeben. Er selbst >rechnet es sich zur höchsten Philosophie aneine unvollendete Weltanschauung zu ertragen«< (ebd., S. 104f.). Fritz Brüggemann, Literaturgeschichte als Wissenschaft auf dem Grunde kulturgeschichtlicher Erkenntnis im Sinne Karl Lamprechts, in: ZfdB 2 (1926), S. 4 6 9 ^ 7 9 , S. 476. Ders., Der Kampf um die bürgerliche Weltanschauung in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts, in: DVjs 3 (1925), S. 94-127, S. 99.
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wird »Dichtung neben Philosophie und Religion zum bevorzugten Organ des Lebensverständnisses, weil sich in ihr der >ganze Mensch< ausdrückt.« 94 Der >ganze Menschden< kulturellen Triebkräften in der Geschichte. Sie hantieren mit einem Literatur- und Kulturbegriff, der zwischen Leitkultur einer Führungsschicht als Norm und Richtungsanzeiger auf der einen Seite und Trivialkultur einer gesichtslosen breiten Masse auf der anderen unterscheidet. Erzieherischer Wert wird dabei allein der Leitkultur zugesprochen. An diesem Punkt erscheint eine Verkoppelung von Wissenschaft und Erziehung im Sinne des Kultusministers Becker möglich. Der Vermittlung und Popularisierung entsprechend zugeschnittener Bildungsbestände verschreibt sich die in der Nachkriegszeit erstarkende Deutschkundebewegung, die sich vor allem an die Lehrer wendet. 96 Zwischen 1927 und 1929 veröffentlicht die Zeitschrift für Deutschkunde eine Aufsatzreihe unter dem Titel Aufriß der deutschen Literaturgeschichte. In der »Vorbemerkung« wird das Unternehmen als ein Versuch angekündigt, bei dem je »ein berufener Vertreter der Wissenschaft [...] einen ihm besonders vertrauten Zeitraum der deutschen Literaturgeschichte auf knappen Räume mit scharfen Linien« so umreißt, »daß nur noch dasjenige hervortritt, was ihm als das wahrhaft Wesentliche und damit zugleich als das Bildungswichtigste erscheint.« Jeder Autor werde dabei »den lebendigen Bedürfnissen auch der Schule entgegenkommen, da
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H. Dainat, Die wichtigste aller Epochen (Anm. 28), S. 28. - Im Zusammenhang damit, daß Brüggemann sich viel stärker auf Lamprecht stützt als Merker und daß Lamprecht mit seiner These von einer gesetzmäßigen Entwicklung der Geschichte als zu >naturwissenschaftlich< verworfen wurde, ist Dainats Vermutung, Brüggemann sei es vielleicht wegen dieses Lamprecht Bezuges nicht gelungen, sich in einer Universität »fest zu etablieren«, sehr naheliegend. F. Brüggemann, Der Kampf um die bürgerliche Weltanschauung (Anm. 93), S. 127. Die 1887 gegründete Zeitschrift für den deutschen Unterricht wird 1920 umbenannt in Zeitschrift für Deutschkunde. 1925 wird die Zeitschrift für deutsche Bildung gegründet, in deren Editorial es heißt, daß sie sich »in erster Linie an die deutsche Lehrerwelt« wendet und dabei »der großen Fächergruppe [dient], die wir heute unter dem Namen Deutschkunde zusammenfassen.« Diese Fächergruppe umfasse »Sprache, Schrifttum, Volkskunde, die Geschichte mitsamt der Geistes-, Kultur- und Kunstgeschichte, der Gesellschaftskunde und der politischen Bildung, die Religionskunde und die Philosophie, die Erdkunde und die Wirtschaftslehre.« Die Erdkunde jedoch nur, »so weit sie nicht naturwissenschaftlich bestimmt ist.« Ulrich Peters, Geleitwort, in: ZfdB 1 (1925), S. 1-7, S. 6f.
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der Grundzug moderner Literaturauffassung eben darin besteht, die Literaturgeschichte in ihrer Lebensbedeutung und als das fortlaufende Zeugnis der deutschen Geistesgeschichte zu betrachten.« Die hier versammelten Autoren stimmen zwar darin überein, daß sozialgeschichtliche Faktoren in einer spezifischen, noch näher zu erforschenden Weise literaturgeschichtlich relevant seien und denken dabei an wirtschaftliche, politische und soziale Veränderungen, Fragen des Geschmackswandels und die jeweilige Rolle des Publikums. Aber das ist auch schon alles. Die Zusammenstellung der Verfasser 97 steht für eine Vielzahl unterschiedlichster Handschriften und Forschungsansätze, so daß kein interner Zusammenhang zwischen den Einzelbeiträgen, kein einheitliches Geschichtsbild, erzeugt werden kann. Als kognitiver Impuls für den innerdisziplinären Bereich erscheint die Orientierung auf Kulturphilosophie und Soziologie, wie Becker sich diese als Modernisierung dachte, schon inmitten der Reformdebatten der zwanziger Jahre als wenig attraktiv. Nicht Beckers Drängen auf eine erzieherische Funktion der Wissenschaft war das, was den geistesgeschichtlichen Methodenpluralismus hervorgetrieben hat. Seine Forderung nach staatsbürgerlicher, nach nationaler Charakterbildung hatte sich die an den Belangen der Schule ausgerichtete Deutschkunde auf die Fahnen geschrieben. Indem sich die literaturwissenschaftliche (Neu-)Germanistik der Nachkriegszeit als Wissenschaft zu begründen suchte, hielt sie sich eher an Orientierungen, wie sie z.B. Petersen mit seiner Programmschrift vorgeschlagen hatte. 98 Als eine Zurückweisung der Forderungen Beckers kann auch das Votum der Berliner Philosophischen Fakultät gelesen werden, die 1925 und 1926 Stellung zu dessen Reformprogramm nimmt. Wenn sich die Studierenden »mit dem Zusammenhang der modernen Kultur vertraut« machen sollten, so führe dies zu erheblichen Problemen: »Man kann ja nicht schlechtweg >Kultur< studieren, sondern man muß etwas Bestimmtes studieren.« 99 Inzwischen aber sei die Philologie längst aus dem Stadium trockener Textkritik heraus und mit »feingeschliffene[n] Instrumenten« zur sorgfaltigen »Kultur- und Geistesanalyse« ausgestattet. »Es muß
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Hans Naumann, Frühdeutsche Dichtung, in: ZfDk 41 (1927), S. 802-819; Friedrich Neumann, Ritterliche Dichtung, ebd. 42 (1928), S. 18-38; Günther Müller, Das Zeitalter der Mystik, ebd., S. 177-197; Paul Merker, Das Zeitalter des Humanismus und der Reformation, ebd., S. 337-358; Karl Vietor, Das Zeitalter des Barock, ebd., S. 385^405; Emil Ermatinger, Das Zeitalter der Aufklärung, ebd., S. 473-494; Hermann August Korff, Die erste Generation der Goethezeit, ebd., S. 625-647; Fritz Strich, Die zweite Generation der Goethezeit, ebd., S. 705-722; Hermann Pongs, Vom Naturalismus bis zur Gegenwart, ebd. 43 (1928), S. 258-274 und S. 305-312. Der Platz vor Pongs war ffir Julius Petersen vorgesehen, der einen Beitrag zum »Realismus« schreiben sollte [vgl. 41 (1927), S. 801], aber der Beitrag fehlt. Die Zeitschriftenaufsätze wurden auch als Buch publiziert: Aufriß der deutschen Literaturgeschichte nach neueren Gesichtspunkten. Hrsg. von Hermann August Korff und Walther Linden, Leipzig und Berlin 1930. - Kohärenz besteht lediglich in der Länge der Beiträge, was auch bedeutet, daß keiner der Epochen Vorrang vor einer anderen eingeräumt wird.
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J. Petersen, Literaturgeschichte als Wissenschaft (Anm. 25). Denkschrift der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin: Die Ausbildung der Höheren Lehrer, Leipzig 1925, S. 18.
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zugegeben werden, daß sich die Philosophie nach einem langen Stadium rein logischer und erkenntnistheoretischer Interessen erst jetzt den Problemen der Kulturphilosophie zuwendet, die man nicht einfach mit Soziologie identifizieren sollte.« 100 Selbst der Deutschkundler Friedrich Panzer verschiebt die Lösung des Problems in die Zukunft: Wenn dann dereinst zwischen den einzelnen Fächern »ein gemeinschaftlicher Mittelpunkt gefunden sei, fliesse aus Wissen Bildung, werde aus Unterricht Erziehung. Dieser Mittelpunkt müsse auf unserer Schule immer unser Deutschtum sein.« 101 Aber die germanistische Literaturwissenschaft der zwanziger und dreißiger Jahre hat sich nicht darauf einigen können, wie dieses >Deutschtum< zu spezifizieren sein und auf einen Nenner gebracht werden sollte. Auf die überragende Rolle der nationalen Bildung legt das preußische Kultusministerium den Akzent auch, als es sich 1917 an die Neuphilologien wandte, um dort, schon zwei Jahre vor Becker, eine Richtungsänderung einzufordern: »Auslandskenntnisse sind bei einem Weltvolk [wie den Deutschen, P.B.] ein unentbehrlicher Bestandteil der nationalen Bildung.« 102 Bisher hätten die neuen Philologien nur eine Bildung vermittelt, die »allzu einseitig literarisch-historisch-ästhetisch gerichtet ist«. 103 Darüber hinausgehende Kenntnisse sollten fortan in Studien vermittelt werden, die den Rahmen der Einzelphilologien übergreifen, denn »der Spezialist für ein bestimmtes Gebiet braucht nicht nur philologische Kenntnisse, d.h. hier sprachliche, sondern auch staatswissenschaftliche, historische und geographische Kenntnisse. Vor allem muß er das vielgestaltige Denken und Empfinden, die ganze soziologische Struktur des betreffenden Landes kennen und verstehen, wenn seine Arbeit einen Sinn haben soll.« 104 In die gleiche Richtung wiesen dann auch Beckers Vorstellungen von 1919. 105 Selbst wenn sich die Universität unter Berufung auf Lehrfreiheit »dem massiven Eingriff der Ministerialbürokratie« entziehen konnte 106 und es nicht dazu gekommen ist, daß diese facherübergreifenden Studien institutionalisiert wurden, 107 haben 100 101
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Ebd., S. 19f. Protokoll der Sitzung im Kultusministerium zur Reform des philologischen Studiums vom 22.7.1926 [anwesend waren u.a.: Wemer Richter, Julius Petersen, Gustav Neckel, Friedrich Panzer, Franz Schultz, Theodor Litt, Jonas Fränkl], in: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Rep. 76-VA, Sekt. 1 Tit. VII: Reform des philologischen Studiums, Oktober 1922-Dezember 1929, Bl. 40-56, Bl. 49. Denkschrift des preußischen Kultusministeriums über die Förderung der Auslandsstudien, in: Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 11 (1917), H. 5 (1. Februar), Sp. 513-531, Sp. 513. Ebd., Sp. 520. Ebd., Sp. 527. Dies bezog sich auf die Ausbildung von künftigen Mitarbeitern im auswärtigen Dienst. C.H. Becker, Gedanken (Anm. 1), S. 9. Emil Mihm, Die Krise der neusprachlichen Didaktik. Eine systeminterne Ortsbestimmung, Frankfurt/Main 1972, S. 48. Seit Ende des Ersten Weltkrieges gab es ein entsprechendes Institut in Stuttgart (außerhalb der Universität), das allerdings seine Hauptaufgabe zunehmend darin sah, mit der »Beibringung und Sichtung des gewaltigen Stoffes« die »Ausstrahlung und Auswirkung des deutschen Geistes in der Welt zu erforschen.« Aus der Differenz Deutsch/Fremd
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sich dennoch, begünstigt durch die ministeriellen Richtlinien, in der englischen und romanischen Philologie kulturkundliche Orientierungen stärker profilieren können als in der Vorkriegszeit. Für beide Philologien muß dabei mitgedacht werden, daß sie durch die veränderten weltpolitischen Konstellationen nach Ende des Ersten Weltkriegs in Isolation v o n ihren Bezugskontexten zu geraten drohten. 108 D i e e m p f o h l e n e Orientierung in Richtung einer Kulturkunde hat nicht unerheblich dazu beigetragen, daß auch in den N e u p h i l o l o g i e n die wissenschaftliche Beschäftigung mit neuerer Literatur die bisherige D o m i n a n z der Mediävistik zurückgedrängt hat. 109 Für streng philologisch orientierte Romanisten galt, daß die französische Literatur seit d e m Mittelalter, da der »>keltische Grundzug< des französischen Charakters« 110 seine Vorherrschaft angetreten habe, nur das zeige, w a s man ohnehin über diesen Charakter schon wisse: »>das sexuell Raffinierte, das auf die augenblickliche Wirkung berechnete, das Selbstbewußte, das Theatralische, die Pose, die AttitüdewesenskundlicheGeistesemanationen< im Mittelpunkt des Interesses, sondern die Differenz
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Ebd., S. 51. Vgl. E. Mihm, Die Krise der neusprachlichen Didaktik (Anm. 106), S. 50. Levin L. Schücking, Die Kulturkunde und die Universität. Ein Vortrag, in: Die neueren Sprachen 35 (1927) S. 1-15, S. 4. - Diese Zeitschrift war 1893 als »Organ der Reformer« gegründet worden. Vgl. Th. Finkenstaedt, Fach und Sprache (Anm. 109), S. 393. Die Unterscheidung von Kultur- und Wesenskunde wird von Emil Mihm vorgenommen: Wenngleich eine strikte Trennung schon wegen der »Verfilzung von Kultur- und Wesenskunde« schwierig sei, weil die jeweiligen Zuordnungen und Selbstzuschreibungen unter den Zeitgenossen nicht besonders eindeutig waren, werden bei Mihm unter den Kulturkundlern mehr jene erfaßt, gegen die unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg der Vorwurf stoffexpansiver Faktenhuberei erhoben wurde. Zwar nannten sich auch ihre Gegener »Kulturkundler« und stellten einen Ganzheitsbegriff ins Zentrum ihrer Versuche, der »als archimedische[r] Punkt [...] die Erkenntnis der Formen, Kategorien, der Gesetze und Ordnung verbürgen« sollte. »Andererseits entwickelte sich in den 20er Jahren zumindest im Ansatz ein Sonderbewußtsein der Wesenskunde«, die sich vor allem für >Geist< und Kulturphilosophie zuständig fühlte. Selbst wenn Mihm hinter beiden Richtungen die gleiche Zielstellung ausmacht, »hinter den Wesensäußerungen, hinter den Erscheinungsformen, die Wesensgründe, das Ding an sich« zu suchen, soll im hier darzustellenden Zusammenhang seine Unterscheidung aufgenommen werden, um die Veränderungen vom 19. zum Beginn des 20. Jahrhunderts zu betonen, die im Wechsel von Detailsammlung hin zur Suche nach Auswahl und Synthese mit der Entwicklung in der Germanistik vergleichbar sind. - Vgl. ders., Die Krise der neusprachlichen Didaktik (Anm. 106), S. 50f. und S. 79. - Gerhard Bott hält diese Unterscheidung unter Verweis auf die von Mihm selbst genannte Gemeinsamkeit fur überflüssig; vgl. G. Bott, Deutsche Frankreichkunde (Anm. 21), Anmerkungsteil S. 22, Anm. 4. Mihm unterscheidet fünf Schulen: »die physiognomische Wesenskunde [Eduard] Schöns, die biologische Wesenskunde [Eduard] Wechßlers, die ideologische Wesenskunde von [Ernst Robert] Curtius und die sozio-literarische Wesenskunde [Victor] Klemperers.« Vgl. E. Mihm, Die Krise der neusprachlichen Didaktik (Anm. 106), S. 80.
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zwischen dem >Eigenen< und dem >FremdenHeiligthümer< [...], bei der todsicher die Überlegenheit der deutschen Heiligthümer über die französischen herauskommt, wenn der Vergleich von einem Deutschen angestellt wird, die Überlegenheit der französischen über die deutschen, wenn von einem Franzosen (ein anderes Resultat müßte die betreffenden Kulturvergleicher ja um ihre Stellung bringen!), - daß diese Forscher die radikale und initiale Verschiedenheit des Dauerfranzosen von dem Dauerdeutschen als gegeben voraussetzen und einen spannungslosen Differenz-Dauerzustand erzeugen, der kein >Gespräch< mehr ermöglicht« [im Orig. gesperrt, P.B.]. Den Wechsel von einer nur sprach- und textgeschichtlichen Romanistik zu einer geistesgeschichtlichen, das Fremde verstehen wollenden, begrüßt Spitzer allerdings nachdrücklich und betont, daß die »Liebe« zur französischen Literatur, deren Behandlung noch immer unter der Würde mancher Kollegen liege, dafür eine unerläßliche Voraussetzung sei: »Mehr als Realienkunde und Kulturkunde eröffnet die Literatur den bequemsten Weg zur Seele des Fremdvolkes.«" 7 Aber der bequemste Weg kann eine Sackgasse sein. Und diese Gefahr wird gesehen. Zwar beurteilt der Anglist Schücking die Ansätze in der neuphilologischen Kulturkunde ähnlich wie Spitzer, weil ihre Zielvorgaben »gelegentlich darauf schließen [lassen], daß ihre Methoden praktisch zu einer gewissen gelehrten Untermauerung des Chauvinismus fuhren können.« 118 Aber er geht noch einen Schritt weiter als Spitzer, indem er den zugrundeliegenden Begriff von Kultur problematisiert. Die Gefahr eines die europäischen Kulturen trennenden Chauvinismus sei nicht einfach als Folge des Krieges zu sehen, sondern sie liege »im tiefsten Grunde an der Auffassung von Kultur selbst, die hier zutage tritt.« Man könne »grundlegende wissenschaftliche Leistungen aufweisen und doch ein Barbar sein. Kultur im höchsten Sinne ist eben nicht etwas Intellektuelles oder wie die Kunst im Phantasieleben Beheimatetes, sondern dasjenige praktische Verhalten von Mensch zu Mensch, das man als Humanität oder Menschlichkeit bezeichnet.« 119 Gleichzeitig warnt er vor der typologiensuchenden Naivität und dem Dilettantismus dieser Wesenskunde: Was Deutsche für einen typisch englischen Dichter halten und der englischen Literaturgeschichte einverleiben wollen, könne u.U. im Lande selbst ein völlig unbedeutender Autor sein. Auch könnten Neusprachler an der Universität nicht gleichermaßen für Literatur-, Sprach-, Geschichts-, Religions- und Geographieunterricht ausgebildet werden. 120 Daß Schücking auch ein wesenskundliches Programm des einfühlenden Verstehens in die Seele fremder >Nationalcharaktere< für problematisch hielt, geht aus einem erst jüngst veröffentlichten Vortragsmanuskript hervor: Prinzipiell gelte »that it is in itself a good thing to widen the range of your problems, and as regards the 117 118 119 120
Leo Spitzer, Der Romanist an der deutschen Hochschule (Anm. 108), S. 245 und S. 258. L. L. Schücking, Die Kulturkunde und die Universität (Anm. 114), S. 9. Ebd., S. 8. Ebd., S. 10.
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question of national peculiarities, national physiognomy, the national character, philology seems to me indeed to possess the strongest claim to deal with these things. The difficulty consists in the method. It may of course be objected that there is no such thing than a national character. [...] What is meant is the prevalence of a certain type. The prevalence need not even be in number. Now in trying to find out about the characteristics of such a type and its origin the foreign observer may of course easily fall in the fault of stressing points that are of minor importance, his chief weakness may be in the perspective. On the other hand our neighbour observes us sometimes more closely than we ourselfs. It is all the better if the two sorts of observation - self-observation and observation by our neighbours - may be combined.« 121 Der Widerstand gegen eine >den Nationalcharakter< suchende Kultur- bzw. Wesenskunde, der in der Romanistik im Ganzen gesehen viel massiver zum Tragen kam als in der Anglistik, 122 richtete sich im Falle Victor Klemperers gegen ihn als Wortführer der >literatursoziologischen WesenskundeDauerfranzosen< zu sein und unterstellte die Nähe zu rassenkundlicher Theorie: »Die Aufstellung eines Dauer-Franzosen oder Dauer-Deutschen ist wild gewordene Zoologie, sie ist ein Rest jener naturwissenschaftlich generalisierenden Betrachtungsweise in den Geisteswissenschaften, die wir immer noch nicht überwunden haben. Eine Nation ist nicht eine Rasse, ihre Angehörigen gehören gewöhnlich verschiedenen Rassen an, und was sie verbindet, ist nicht physische Gleichartigkeit sondern psychische.« 123 In diesem Bereich der Theoriedebatten, die den literaturgeschichtlichen Zusammenhang aus einer sinnbestimmten Gerichtetheit der jeweiligen nationalen Geistesverfassung, Weltanschauung, Kulturpsychologie oder -philosophie zu begründen suchten, wurde die Abwehr gegen konstitutive Theorie-Elemente aus den Bereichen Naturwissenschaft und Soziologie (Gesellschaftswissenschaft) vom Zuschnitt der eigenen Referenzebenen abgeleitet. Ihnen gemeinsam war die Annahme einer ebenso unergründlichen wie dennoch der Geschichte des Geistes zugrundeliegende Letztinstanzlichkeit, die aber dennoch auf einen höheren und zugleich umfassenden Begriff gebracht werden sollte. Gerade der Soziologie wurde deshalb - wie in der Debatte zwischen Karl Mannheim und Ernst Robert Curtius zwischen 1928 und 1932 zum Tragen kommt - angelastet, den Verfall der Werte lediglich wissenschaftlich zu bestätigen. Statt den Ungewißheiten und Turbulenzen der Zeit mit der »Einheit des Humanen« entgegenzutreten, laufe soziologische Forschung auf einen hemmungslosen »Rela121
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Levin L. Schücking, Das doppelte Gesicht des Puritanismus, Vortragsmanuskript [1929, England], zit. nach Th. Finkenstaedt, Fach und Sprache (Anm. 109), S. 395. Vgl. Th. Finkenstaedt, Kleine Geschichte der Anglistik (Anm. 18), S. 145. Eugen Lerch, Der Dauerfranzose, in: Frankfurter Zeitung vom 10.6.1925, zit. nach E. Mihm, Die Krise der neusprachlichen Didaktik (Anm. 106), S. 103.
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tivismus« und »Historismus« 124 hinaus, also wieder in Konzepte hinein, aus denen man sich gerade herausbewegen wollte. Für Curtius schien klar: »Der Aufweis aller Natur- und Geschichtsdeterminanten vermag dieses Reich [des Humanen, P.B.] nicht zu destruieren. [...] Zwar bejahen [wir] alle Formen dieser Analyse, [...] aber wir bestreiten ihre Letztinstanzlichkeit.« 125 »Die Philosophie allein« - so Curtius - »ist die Königin der Wissenschaften [...]. Die Philosophie allein kann jene >Totalorientierung< bieten, die Mannheim als Vorrecht der Soziologie betrachtet.« 126 Die gemeinsame Überzeugung, daß es solche letzten Gewißheiten gebe, ist aber auch das gemeinsame Problem in den auf Kulturphilosophie, -Soziologie und Geistesgeschichte zulaufenden, die >höhere Wahrheit< suchenden Forschungsansätzen in der Literaturwissenschaft dieser Zeit. In ihrer jeweiligen >Totalorientierung< steckt grundsätzlich die Suche nach einem >WesenskernUrsprüngliches< als totalisierendgeschichtsbildende Kraft voraus. Dieses Konstrukt, mit dem die Literaturwissenschaft der philosophischen Ästhetik verpflichtet blieb, war kein zu erklärendes, sondern - um so mehr in der Berufung auf Dilthey - ein zu verstehendes. Zwar bleibt das >Prinzip des Humanen< als einheitsstiftender Rahmen und als eine philosophisch begründete >letzte Gewißheit< zu unterscheiden von einer biologisch begründeten. Aber - und hier liegt das Problem - Literaturwissenschaft, die nach einer allen Differenzen zugrundeliegenden Ursprünglichkeit und letzten unteilbaren Gewißheit sucht, läuft in der Konsequenz Gefahr, zumal im Kontext der NSZeit, in ein Programm umzuschlagen, in dem das >Blut< die Rolle des >Geistes< als letzter Instanz übernimmt. Die Rhetorik von »Erbmasse« und »Veranlagung«, von der oben schon die Rede war, bildet eine entsprechende diskursive Brücke.
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Dirk Hoeges, Kontroverse am Abgrund: Ernst Robert Curtius und Karl Mannheim. Intellektuelle und >freischwebende Intelligenz< in der Weimarer Republik, Frankfurt/Main 1994, S. 179. Ernst Robert Curtius, Soziologie - und ihre Grenzen, in: Neue Schweizer Rundschau 22 (1929), Bd. 36/37, S. 727-736, S. 734. Ebd. Nachdem im 19. Jahrhundert der Glaube geschwunden war, daß alle »Wirklichkeiten [...] von ein und demselben Geist hervorgebracht wurden, [...] entstanden Leerstellen, die von den jeweils sich ausdifferenzierenden Einzelwissenschaften neu ausgefüllt werden mußten«. Diese wurden mit »einheitsstiftenden Prinzipien« gefüllt, wie »das Leben, die Gesellschaft, die Geschichte, die Sprache, die Erfahrung, das Erlebnis [...] und vieles andere mehr. Die auseinanderdriftenden Einzelwissenschaften beriefen sich auf eigene, aber gleichwohl gemeinsame Letztinstanzen«, die als »funktionale Äquivalente« für den >Geist< eingesetzt werden konnten, so Reinhart Koselleck, Wie sozial ist der Geist der Wissenschaften. Zur Abgrenzung der Sozial- und Geisteswissenschaften, in: Geisteswissenschaften heute. Hrsg. von Wolfgang Frühwald u.a., Frankfurt/Main 1991, S. 112-141, S. 122.
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Als exemplarisch fur ein solches Programm können Willi Flemmings Überlegungen zu Wesen und Aufgaben volkhafter Literaturgeschichtsschreibung gelten. Zu diesem Zeitpunkt, 1944, kann Flemming bereits auf eine Vielzahl von programmatischen Entwürfen zurückgreifen und ihre aus seiner Sicht jeweiligen Vorund Nachteile in Betracht ziehen. Er kommt zu dem Ergebnis, daß alle diese Versuche an eine Grenze stoßen, auf einen Rest, der weder philosophisch, kulturgeschichtlich noch soziologisch zu fassen sei. Dieses >Geheimnis< will nun er endgültig lüften. An bisherigen Versuchen soziologischer Forschung bemängelt Flemming, daß sie zur »Schilderung des literarischen Lebens« bis in die Niederungen herabgeglitten wären, wo keine repräsentativen großen Dichter mehr zu finden seien.128 An der kulturgeschichtlichen Diskussion vermißt er, daß der Zusammenhang zwischen »Volk«, »Mensch« und »Buch« zwar gesehen würde, aber die Frage nach »Lebenssinn und Kulturleistung« nicht bis in »die letzte Verflochtenheit« dringe. 129 Wolle man aber »die Totalität Volk auf ihre Komponenten ansehen, so kann es nur rassisch geschehen« und zwar anhand seiner »fuhrenden Männer«.130 Den Weg, der Nadler konsequent in Bereiche gefuhrt hat, wo sich keine der gesuchten Hierarchien und Dominanzen, keine kanonischen Ordnungen mehr begründen ließen, kürzt Flemming »instinktsicher«131 ab: Die »erbliche Anlage« der »Sprechwerkzeuge« forme den »innere[n] Sprachbau«. »Es spricht eben das Blut und kein davon abgetrennter abstrakter Geist. Blut wird Geist in der Sprache.«132 In den so gefundenen »repräsentativefn] Werke[n]« lasse sich die jeweilige, in allen Epochen zwar variierende »Sprachhaltung« aber dennoch eindeutig »heraushören«, 133 mit der die »Grundwerte« und »Leitgedanken« formuliert worden seien. Diese »Weltanschauung« wird »uns verständlich als organische Äußerung und notwendige Ausrichtung auf das vorgeschriebene Ziel hin«.134 Blut ist fur Flemming somit die letzte, strukturbestimmende Ursache einer kulturgeschichtlich zu erforschenden Literaturgeschichte, denn: »Kultur ist ihrem Wesen nach bezogen auf die Lebensgemeinschaft, auf die durch das Blut natürlich homogene Lebensgemeinschaft: das Volk.«135 Als Mitautor an einer populärwissenschaftlichen kulturgeschichtlichen Gesamtdarstellung hatte Flemming bereits vorgeführt, wie eine solche Kulturgeschichte auszusehen hätte, in der die Literatur ein - allerdings integraler - Teilbereich ist; integral, indem sie mehr oder minder direkt die Funktion erhält, Realität zu beschreiben. Es handelt sich hier um das Handbuch der Kulturgeschichte. Erste Abteilung: Geschichte des deutschen Lebens, das zwischen 1934 und 1939 von
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Willi Flemming, Wesen und Aufgaben volkhafter Literaturgeschichtsschreibung, Breslau 1944, S. 14. Ebd., S. 15f. Ebd., S. 18. Ebd., S. 20. Ebd., S. 23. Ebd., S. 53. Ebd., S. 62. Ebd., S. 125.
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Heinz Kindermann herausgegeben wird. 136 Ohne an dieser Stelle genauer auf dieses Unternehmen eingehen zu können, 137 seien jedoch einige knappe Beobachtungen angestellt. Die Reihe wird von einem umfangreichen Mitarbeiterkreis betreut, dem Historiker der verschiedensten Spezialgebiete ebenso angehören wie Ethnologen, Philologen, Linguisten, Kunst-, Kultur- und Religionswissenschaftler, so daß man sie wohl als ein interdisziplinäres Projekt ansehen kann. Daß mit zeitgenössischen politischen »Erfolgen« wie der »Überwindung aller völkischen Selbstentfremdung« und dem »Gelingen der nationalen Wiedergeburt«, die Gustav Neckel in seiner Einleitung so freudig begrüßt, 138 recht verschieden umgegangen wird, bestätigen zwei Stichproben: Willi Flemming, der in seinem Band ein Kapitel zum Thema Der gesellschaftliche Aufbau schreibt, teilt seinen Lesern darin folgendes mit: »Gleichsam an der Grenzmauer der fest umschränkten Gesellschaftsordnung des Barock war der Ort der Juden« [im Orig. gesperrt, P.B.]. Sie standen am Rande der Ordnung »wie in den vorangegangenen Jahrhunderten.« Aber selbst ohne »wirklich in die bürgerliche Schicht einzugehen, rücken sie ihr doch auch sozial bedenklich nahe.« Mit ihren »internationalen Beziehungen« seien sie wichtig gewesen, um »den Handel wieder auf die Beine zu bringen«, und man habe leichtsinnig geglaubt, sich »durch allerhand Verordnungen« vor den Gefahren, die von ihnen ausgegangen seien, »geschützt zu haben.« Noch sei das deutsche Volk stark genug gewesen, »um die Juden in Schranken zu halten. [...] Die grundsätzliche Stellung zu den Juden begann erst in der folgenden Epoche sich zu ändern, als durch die Weltanschauung der Aufklärung und ihre humanitätsselige Gefühligkeit eine andere Wertung sich zu verbreiten begann.« 139 Juden haben auf der Feindbildskala des Flemming'schen Geschichtsbildes ihren festen Platz hinter dem »fahrenden Volk«: »Im Unterschied zu den Juden brachte das Volk diesen Elementen 136
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Die einzelnen Bände erscheinen wie folgt: I. Band: Gustav Neckel, Die Kultur der alten Germanen, Potsdam 1939; II. Band: Paul Kletler, Deutsche Kultur zwischen Völkerwanderung und Kreuzzügen, Potsdam 1934; III. Band: Hans Naumann, Deutsche Kultur im Zeitalter des Rittertums, Potsdam 1938; IV. Band: Hermann Gumbel, Deutsche Kultur vom Zeitalter der Mystik bis zur Gegenreformation, Potsdam 1936; V. Band: Willi Flemming, Deutsche Kultur im Zeitalter des Barock, Potsdam 1937; VI. Band: Emil Ermatinger, Deutsche Kultur im Zeitalter der Aufklärung, Potsdam 1935; VII. Band: Franz Koch, Deutsche Kultur im Zeitalter des Idealismus, Potsdam 1935. - Zu zwei anderen Gesamtunternehmen in der NS-Zeit, die sich auf deutsche Literaturgeschichte beschränken, vgl. den Beitrag von Rainer Rosenberg in diesem Band. Das sollte Gegenstand einer eigenen Untersuchung sein, die vor allem deshalb interessant werden könnte, weil diese Reihe ab 1960 in Neuauflage erscheint. Die Frage nach Kontinuität und Wechsel in den Herausgeber-, Verfasser- und Mitarbeiterrollen und ein Vergleich der jeweiligen Fassungen lassen interessante Aufschlüsse darüber erwarten, wie sich bei unterschiedlichen politischen Kontexten Kulturgeschichte in der NS-Zeit zur Kultur- bzw. Sozialgeschichte in der Bundesrepublik verhält und dies unter dem Aspekt der Leistungen, die von der Wissenschaft einem nicht-wissenschaftlichen Zielpublikum angeboten werden. G. Neckel, Kultur der alten Germanen (Anm. 136), S. 7. W. Flemming, Deutsche Kultur im Zeitalter des Barock (Anm. 136), S. 46f. und S. 49.
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gegenüber Humor auf«, wie man an Grimmelshausens Dichtungen sehen könne. 140 Auf dem Gebiet der Kunstgeschichte werden die Leser darüber belehrt, wie sich die französische Seele von der deutschen unterscheide und wie man das an körperlichen Merkmalen bestimmter Herrscherskulpturen der beiden Nationen mit Hilfe »rassetypologischer Beobachtungen« 141 deutlich sehen könne. Was die deutsche Kulturgeschichte Flemmings also über die Jahrhunderte zusammenhält und trägt, sind ihre Feinde: >die Judenden Juden< gerade für diese Epoche zugedacht hat, erscheinen sie dort nicht. 143 Daß Carl Heinrich Becker Auslassungen Flemming'scher Lesart im Sinn gehabt hätte, wird man ihm nicht unterstellen können. Wohl aber entbehrt es nicht jeglicher Logik, daß die Suche nach einem Ursprung, einer Ursache und einer davon abgeleiteten Einheit, auf die sich deutsche Literaturwissenschaftler - und das nicht erst seit 1919 - so beharrlich begeben hatten, fatale Konsequenzen haben konnte. Im diskursiven Kontext einer sich durch Geltungen >des Anderem bedroht sehenden, einheitsbesessenen NS-Ideologie war Flemmings Antwort die richtige; wenn auch auf die falsche Frage.
3. Gab es Alternativen? 1913 erscheint Levin L. Schückings Aufsatz Literaturgeschichte als Geschmacksgeschichte. Eine entscheidende, die Literaturgeschichte als Kulturgeschichte formierende und dabei soziologisch operierende Frage ist hier: »Was wird zu einer bestimmten Zeit in den verschiedenen Teilen des Volkes gelesen, und warum wird es gelesen?« 144 Dieses Modell eines Zusammenhangs
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Ebd., S. 49. - Diese >Unterscheidung< hat allerdings in den Gaskammern keine Rolle gespielt. 141 Ebd., S. 18ff. 142 Ygj hierzu Holger Dainat, Anpassungsprobleme einer nationalen Wissenschaft. Die Neuere deutsche Literaturwissenschaft in der NS-Zeit, in: Atta Troll tanzt noch (Anm. 59), S. 103-126, S. 121: »Die neuere deutsche Literaturwissenschaft vollzieht die Anpassung an das NS-Regime vor allem über die Ebene der Werte. [...] Ihre Unbestimmtheit läßt sich über Gegenwerte kompensieren, über das, was man nicht will, was auszuschließen ist. [...] Es handelt sich hier um die Unterscheidung von Freund und Feind. Daraus resultiert die Endlosigkeit des Terrors; es stellen sich immer neue Feinde ein, weil man ohne sie nicht leben kann und mit ihnen nicht leben will.« 143 E. Ermatinger, Deutsche Kultur im Zeitalter der Aufklärung (Anm. 136). Auch dieser Band läßt in der Neuauflage von 1969 in der belassenen Verfasserschaft und in der Bearbeitung durch Eugen Thumer (den neuen Herausgeber) und Paul Stapf, mit einer Einleitung des Historikers Adam Wandruszka eine gewisse Kontinuität erwarten, die allerdings zu überprüfen ist. 144 Levin L. Schücking, Literaturgeschichte als Geschmacksgeschichte. Ein Versuch zu einer neuen Problemstellung, in: GRM 5 (1913), S. 561-577, S. 563.
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zwischen Literatur und Publikum konzentriert sich auf das rezipierende Publikum als historisch und sozial vielschichtige Gruppen von Geschmacksträgern, bezieht Institutionen als wertermittelnde und -vermittelnde, die Distribution von Literatur steuernde Instanzen ein, denn Geschmack sei »nicht ausschließlich [...] Kampf der Ideen, sondern auch [...] eine Konkurrenz sehr realer Machtmittel.« 145 Schückings Gegenstand ist der literarische Text und nicht sein Schöpfer. Für die Erkenntnis eines Werkes seien all die biographischen Einzelheiten, mit deren Erforschung ein Zusammenhang von Werk und Dichter/Leben belegt werden soll, nicht ausschlaggebend. Sehr viel weiter würden dagegen Forschungen über die Herausbildung des Publikumsgeschmacks und über den »Einfluß des Geschmacks auf die Entstehung der Literaturwerke« 146 fuhren. Man hat Schücking in der Regel vorgeworfen, daß er sich in den >Niederungen< der >Trivialliteratur< bewege. Erich Rothacker hält es zwar »ohne Einschränkung« für »eine bedeutende geistesgeschichtliche Aufgabe, neben der Geschichte der hohen Kunst [...] die zähen und langsamen Umgestaltungen des zur Popularität gelangenden Geschmacks, der Gesinnung, der allgemeinen Denk- und Fühlweisen, der jeweiligen Vulgäranschauungen zu erforschen«. 147 Aber es sei eines, »die Verschlingungen von Geist und Gesellschaft zum Gegenstand einer Untersuchung zu machen, ein anderes, die geistige Bedeutung dichterischer Werke in eine zu enge Beziehung zu ihrem Erfolg zu setzen.« Hinter Letzterem stehe nämlich eine »Verwechslung von Masse und Volkstum«. Das im Volkstum begründete große Werk als »schöpferisches Singen und Sagen hat aber weit objektivere Kriterien als spontane Publikums- und zahlenmäßige Massenerfolge«. 148 Mit der Frage, welche Gruppen auf welchem Wege ihren Geschmack durchsetzen können, gelangt Schücking zur Rolle der Institutionen. 149 In den zeitgenössischen Stellungnahmen zu seinem Ansatz blieb auffällig unbemerkt, daß er damit auch den Blick auf die Frage öffnet, wie überhaupt der Kanon der >hohen Dichtung< in der Wissenschaft zustande gekommen ist. Diese tendenziell selbstreflexive Dimension seines Ansatzes konnte nicht wirksam werden.
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Ebd., S. 570. Ebd., S. 571. Erich Rothacker, Zur Lehre vom Menschen. Ein Sammelreferat über Neuerscheinungen zur Kultursoziologie, in: DVjs 11 (1933), S. 145-163, S. 153. Ebd., S. 154f. - Auch Nadler lehnte Schückings Fragestellung zunächst ab, weil man über das Publikum und seinen Geschmack, seine tatsächlichen Interessen nichts empirisch Überprüfbares feststellen könne. Verkaufszahlen und Statistiken in Leihbüchereien wären keine dafür zuverlässigen Größen. Vgl. ders., Die Wissenschaftslehre der Literaturgeschichte (Anm. 33); vgl. aber auch ders., Das Problem der Stilgeschichte (Anm. 42) als Indiz dafür, daß Nadler im Publikum und den vermittelnden Institutionen später wichtige stilbildende Faktoren sieht. Vgl. Wilhelm Voßkamp, Literatursoziologie: Eine Alternative zur Geistesgeschichte? »Sozialliterarische Methoden« in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, in: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (Anm. 2), S. 291-303, S. 295. - Finkenstaedt rechnet Schücking zu den wenigen Anglisten, bei »denen sich Ansätze zur Schulenbildung feststellen« lassen, vgl. ders., Kleine Geschichte der Anglistik (Anm. 18), S. 158.
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Weil Schücking ein Programm entwickelt habe, das unter dem Aspekt der geschmacksbildenden Kräfte eine durchgängige Betrachtung der gesamten Literaturgeschichte erlaube, vom »altgermanischen Hofsänger bis zum modernen Literaten und seinem Publikum«, bezeichnet Gustav Hübner ihn als wegweisend; dies auch im Sinne der Forderungen C.H. Beckers. »Gegenüber dem herrschenden, schon journalistisch gewordenem Gerede von >ZeitgeistKulturwillen< etc. wird von Schücking die prinzipielle Möglichkeit der Unterscheidung verschiedener gleichzeitiger Trägertypen von Geschmacksrichtungen in einer kulturellen Gesamtheit herausgestellt und die Wichtigkeit der Erkenntnis von den soziologischen Bedingtheiten der Literatur für deren Verständnis überhaupt erwiesen.« 150 Soziale Differenzierung in der Gesellschaft und Differenzen zwischen Gesellschaft und Literatur macht Fernand Baldensperger gegenüber Versuchen geltend, Literatur in eine >realistische< Belegfunktion zu setzen. Literatur könne niemals Ausdruck einer ganzen Gesellschaft sein. Um Aussagen über das Verhältnis Gesellschaft und Literatur< machen zu können, empfiehlt Baldensperger eine Orientierung an Fragestellungen, die auch Schücking aufgeworfen hatte, um die vielfaltigen Vermittlungen sichtbar zu machen. 151 Auch Philipp Aronstein knüpft in einer Arbeit über das englische Renaissance-Drama an solche Fragen an. Diese Gattung verdanke ihre Entstehung besonderen Produktions- und Rezeptionsbedingungen, wie denen einer mehrfachen, um die Gunst des Publikums konkurrierenden Autorschaft, einer Art »Kompaniearbeit«, 152 und den Wünschen des Publikums, das vor allem unterhalten werden wollte. In dieser Perspektive bestimmt er das Renaissance-Drama als »das Produkt einer Gemeinschaft von Schaffenden und Genießenden«, 153 das allein »nicht von den Dichtern, den Schaffenden« aus erklärt werden könne. 154 Die Überlegungen, die von Erich Rothacker und Georg Keferstein über Wege einer Literatursoziologie angestellt werden, zielen in Richtung eines Anwendungsund Steuerungsprogramms. In seinen Vorträgen auf dem sechsten und siebenten Deutschen Soziologentag beschäftigt Rothacker jedesmal die Frage, in welcher Weise die Geisteswissenschaften zusammenwirken könnten. 1930 erklärt er gleich eingangs, »einer neuen bewußten und idealen Arbeitsgemeinschaft der jungen
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Gustav Hübner, Neue Anglistik und ihre Methoden, in: DVjs 2 (1924), S. 330-338, S. 331 f. Fernand Baldensperger, Ist die Literatur der Ausdruck der Gesellschaft?, in: DVjs 7 (1929), S. 17-29. Philipp Aronstein, Der soziologische Charakter des englischen Renaissance-Dramas, in: GRM 12 (1924), S. 155-171, S. 161. Ebd., S. 156. Ebd., S. 163. - E. Mihm rechnet Aronstein wortführend zu einer Richtung, die die »Soziologisierung der Belletristik« betrieben hätten. Aronstein habe »den klassischen Entwurf der Kulturkunde gefunden, so wie sie nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland in einer Unzahl von Schriften theoretisch ausgefaltet werden sollte«. E. Mihm, Die Krise der neusprachlichen Didaktik (Anm. 106), S. 40.
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Soziologie mit den traditionellen Geisteswissenschaften das Wort zu reden.« 155 Nachdem er ausführlich die Relationen beschrieben hat, die zwischen Literatur/Kunst und Wirklichkeit als einem Differenzverhältnis bestehen, schließt er mit der Forderung nach »einer unentbehrlichen Kooperation aller Geisteswissenschaften zur universalen Analyse der menschlichen Kultur«. 156 Unter den auf der Tagung versammelten Soziologen ist jedoch inzwischen das Interesse an einer »strengen >Grenzsicherung< der Soziologie« mehrheitsfähig. Demgegenüber »haben alle Forderungen, wie sie etwa von Erich Rothacker [...] erhoben werden, nach interdisziplinärer Öffnung und Zusammenarbeit keine Durchsetzungschancen.« 157 An seinem Kooperationskonzept hält Rothacker jedoch fest, indem er von der eigenen Disziplin, der Philosophie, aus sowohl Anschlußmöglicheiten in anthropologischer 158 als auch kultursoziologischer 159 Richtung aufzeigt. Literatur und Kunst sind dabei jedesmal wichtiger Gegenstandsbereich. Die von Rothacker zusammengeführten methodischen Optionen haben ein klares Erkenntnisinteresse: die Gesellschaft, und er hat einen speziellen Abnehmer im Blick: die Politik. In dieser Hinsicht zieht er im Januar 1933 eine positive Bilanz zur Entwicklung der Soziologie im vergangenen Jahrzehnt: »Der Favorit Marxismus ist von dem faschistischen Renner längst überholt. Unter den wirren Zusammenballungen der Masse ist das lebensvolle Gefüge des Volkes neu sichtbar geworden. Diese Grundkategorie und neben ihr manches andere, des Bundes, des Führertums, der Gefolgschaft, u.a. muß nun, gerade nach den von der siegreichen Demokratie aufgestellten Richtlinien folgerichtig zu den eigentlichen aktuellen Problemen der heutigen Soziologie werden.« Ihre Erkenntnisse sollen der »jungefn] stürmisch zum Siege eilenden Bewegung« bei der Überwindung von »Uebergangskrankheiten« helfen; Redner sollen ausgebildet werden und vor allem Verwaltungsbeamte. 160 Im neugegründeten offiziellen Organ der deutschen Soziologie 161 - die sich jetzt »Deutsche Soziologie« nennt 162 - wird 1934 der Aufsatz von Georg Keferstein
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Erich Rothacker, Der Beitrag der Philosophie und der Einzelwissenschaften zur Kunstsoziologie, in: Verhandlungen des Siebenten Deutschen Soziologentages (Anm. 47), 135156, S. 135. Ebd., S. 154. D. Käsler, Die frühe deutsche Soziologie (Anm. 10), S. 85. Erich Rothacker, Zur Lehre vom Menschen. Sammelreferat über Neuerscheinungen zur Philosophie des Organischen, zur philosophischen Anthropologie, zur Geisteswissenschaft, Geschichtsphilosophie, Kultursoziologie und Kulturphilosophie, in: DVjs 10 (1932), S. 173-184. Ebd. Ders., Nationale Soziologie, in: Westdeutsche akademische Rundschau. Amtliches Organ des Kreises V der Deutschen Studentenschaft 3 (1933), Nr. 1 (1. Januarfolge 1933), S. 2 3, S. 2. - Zur Soziologie in der NS-Zeit vgl. Otthein Rammstedt, Deutsche Soziologie 1933-1945. Die Normalität einer Anpassung, Frankfurt/Main 1986. Zu den Umständen der Gründung des »Volksspiegel. Zeitschrift für deutsche Soziologie und Volkswissenschaft« vgl. D. Käsler, Die frühe deutsche Soziologie (Anm. 10), S. 95, und O. Rammstedt, Deutsche Soziologie (Anm. 160), S. 113. Vgl. dazu O. Rammstedt, Deutsche Soziologie (Anm. 160), S. 70-76.
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über Aufgaben einer volksbezogenen Literatursoziologie veröffentlicht. Im Rückblick auf literaturwissenschaftliche Forschungsansätze, die bisher mit den Kategorien Volk und Gesellschaft operiert haben - Keferstein zieht die Linie zurück bis zu August Sauer - versucht er, Literatursoziologie und Volkskunde miteinander zu verbinden: »Fehler der marxistischen sowohl wie der bürgerlich-idealistischen Literatursoziologie war es, daß sie die reale Existenz des Volkes, die etwas anderes ist als ein Bezugspunkt materieller Interessen, etwas anderes aber auch als ein bloßes Ideal, nicht als eine der wichtigsten Voraussetzungen in ihre Untersuchungen einbaute.« 163 Die Unterscheidung von verschiedenen, gleichzeitig rezipierenden Geschmacksträgergruppen, die Schücking vorgenommen hatte, hebt Keferstein auf in einer »übersozialen (weil transzendenzbezogenen) Existenz des Volkes«,164 dessen Geschmack sicher zwischen Mode, flüchtigem Zeitgeist und der nur für eine aristokratische Bildungsschicht< geschriebenen Literatur und wahrer l e b e n diger Dichtung< unterscheiden könne. Aus der These Schückings, daß zwischen Literatur und Publikum kommunikative Relationen bestehen, in denen Verlage, Kritik, Zensur, Theater u.a.m. eine vermittelnde Rolle spielen, leitet Keferstein ein Programm ab, auf das sich Literatur- und Kulturpolitik im NS bequem hätten stützen können. 165 Für alle >Begründungenartfremdentartetdekadent< aus einer >volksverbundenen< aussortiert, liefert Keferstein Vorgaben. Die Vermittlung von Volkskunde und Literatursoziologie kann in dieser Angebotsgeste nur vorgenommen werden um den Preis, den auch schon in der Literaturwissenschaft eingeführten Begriff einer differenzierten Gesellschaft wieder in den einer symbolischen Gemeinschaft zurückzuübersetzen. Diesen Versuch unternimmt neben zahlreichen anderen Literaturwissenschaftlern 1944 auch Eugen Lerch, und das, obwohl er 1935 von den Nationalsozialisten amtsenthoben worden war.166 Lerch, der sich 1925 über naturwissenschaftliche »Reste« und »wildgewordene Zoologie« in Victor Klemperers Konzept so erbost hatte, spricht jetzt von der »Gemeinsamkeit des Blutes« und von »Instinkten«, die eine Gemeinschaft im Unterschied zur Gesellschaft zusammenhielten. 167 »In unseren Tagen hat das Erlebnis des Ersten Weltkrieges uns erneut zum Bewußtsein gebracht, daß wir in Gemeinschaften leben, nicht in >der< Gesellschaft. Aus der >Front-Gemeinschaft
gefühlt< wird. Den »gesellschaftlichen Grundcharakter [der Barockliteratur, P.B.] zu fassen«, ist für Karl Vietor169 von »entscheidender Bedeutung [...]. Die deutsche Barockdichtung ist zeitlich zunächst Gesellschaftsdichtung.«170 Im Gegensatz zur Germanistik bemühe sich die Anglistik bereits mit »großem Erfolg« um der Erforschung »soziologischer Probleme«. Vietor denkt dabei »an die Arbeiten von Schücking, Gustav Hübner, Schöffler«.171 Die Germanistik beginne jetzt »erst zu begreifen, daß die Literatur nicht nur von der Seite der Produktion, sondern auch von der des Konsums her systematisch gefaßt werden muß.« Sie müsse »die Dichtung schon im Stadium der Gestaltung als mitbestimmt« begreifen »durch die soziale Schicht, an die sie (durchaus auch ohne Bewußtsein des Produzierenden) sich richtet; wie sie aber auch selbst wieder auf das Leben zurückwirkt, die Ausbildung gesellschaftlicher Lebensformen und gesellschaftlicher Lebenswerte mitbestimmt«. Vor allem gehe es nun darum, die »Funktion« der Literatur »in der sozial differenzierten Gemeinschaft« zu bestimmen.172 Aber nicht nur die Differenzen in der Gesellschaft hat Vietor im Blick. Von Nadler angeregt, sucht er auch nach mentalen und regionalen Besonderheiten als Erklärungen für literarische Phänomene. Hier im Falle der »schlesischen Bauern«, einem »Stamm« mit »mystischer Anlage«, der in einer »Landschaft« gelebt habe, in der »die sozialen Verhältnisse besonders schlimm« gewesen seien.173 Die »entscheidenden Taten« in der Barockforschung seien »noch keineswegs getan«, und der Weg dahin könne nur sein, daß die »geistesgeschichtliche Betrachtung [...] durch soziologische und 168 169
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Ebd., S. 117. Vietor hatte mit der Arbeit Die Lyrik Hölderlins (Frankfurt/Main 1920) bei J. Petersen promoviert. Seine Geschichte der deutschen Ode (München 1923) erscheint mit einer gedruckten Widmung an den Lehrer. Karl Vietor, Vom Stil und Geist der deutschen Barockdichtung, in: GRM 14 (1926), S. 145-178, S. 152. Ebd., S. 152. - Herbert Schöffler war Assistent bei Karl Lamprecht und hatte sich 1918 für Englische Philologie habilitiert. Finkenstaedt rechnet ihn neben Schücking zu den wenigen Größen des Fachs; vgl. ders., Kleine Geschichte der Anglistik (Anm. 18), S. 143 undS. 158 K. Vietor, Vom Stil und Geist (Anm. 170), S. 152. Ebd., S. 160.
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landschaftliche Gesichtspunkte ergänzt und verfeinert werden« muß. 174 Auch in seinem 1934 vorgelegten Programm einer Literatursoziologie bekräftigt er, daß es »unerläßlich« sei, »geistes- und ideengeschichtliche Betrachtungsweisen mit ständigen entscheidenen Hinblicken auf die gesellschaftlichen Zusammenhänge zu verbinden, wenn man dem Ideal wirklichkeitshaften Verstehens und Urteilens näher kommen will.« 175 Sein Fragenkatalog umfaßt den Rezipientenbezug der Literatur und das lesende Publikum (Scherer, Schücking), die Rolle der Kritik (Rothacker) und der Zensur (Nadler), denn: wer die Literatur allein aus dem Geist zu erklären trachte, erliege einer »gefährlich lockenden Illusion«. 176 In Deutschland, dessen neue politische Verhältnisse auch Vietor 1933 hoffnungsvoll begrüßt hatte, 177 konnte er nicht mehr viel für die Literaturwissenschaft tun. 1937 emigriert er in die USA. 178 Auch Arnold Hirsch sucht nach Wegen, wie Erkenntnisse der Soziologie für literaturhistorische Fragestellungen fruchtbar gemacht werden können. In Auseinandersetzung mit den Argumenten, mit denen Heinrich Rickert die Soziologie den Naturwissenschaften zugerechnet hatte, weist er dessen auf erkenntnistheoretischen Annahmen des Neukantianismus basierende Zuordnung unter Berufung auf Wilhelm Dilthey entschieden zurück: »Soziologie hat als Material gesellschaftliche Tatbestände - das sind Gegebenheiten in einem ganz anderen [als naturwissenschaftlichen, P.B.] Sinne. Das soziale Handeln ist am Handeln anderer verständlich orientiert und deshalb für den Betrachter im eigenen Inneren (prinzipiell) verständlich reproduzierbar [...]. Die sozialen Formen (Stand, Klasse usf.) sind ihrem Wesen nach verständliche Ideenkomplexe, Wertungen, Ansichten, Verhaltungsweisen, Glaubenssätze [,] und als solche haben sie ihre Bedeutung, nicht als biologische Gruppen (die die Grundlage bilden können, auf der die soziologischen Gruppen ruhen; die Bedeutung des Blutes, der Rasse ist durch diese Betrachtung nicht etwa völlig ausgeschaltet, bedeutungsvoll werden diese Tatsachen, sobald sich aus solcher Grundlage eine bestimmte Denkungsart ableiten läßt).« 179 »Den Inbegriff
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Ebd., S. 177f. Karl Vietor, Programm einer Literatursoziologie, in: Volk im Werden 2 (1934) S. 35-44, S. 39. - Wie der Volksspiegel verkam diese von Emst Krieck herausgegebene Zeitschrift bald zu einem Schulungsorgan der NS-Ideologie. Ebd. Karl Vietor, Die Wissenschaft vom deutschen Menschen in dieser Zeit, in: ZfdB 9 (1933) S. 342-348. Zu den Einzelheiten vgl. Carsten Zelle, Emigrantengespräch. Ein Brief Richard Alewyns an Karl Vietor, in: Euphorion 84 (1990), S. 213-227. - Vietor hat im Exil seine Arbeiten fortgesetzt, u.a. mit dem Aufsatz Barockroman und Aufklärungsroman, in: Etudes Germaniques 9 (1954), S. 97-111. Arnold Hirsch, Soziologie und Literaturgeschichte, in: Euphorion 29 (1928), S. 74-82, S. 78f. - Vor der Ableitung ethischer Qualitäten aus einem vermuteten Zusammenhang von Rasse und Geist ist selbst Alfred Rosenberg gründlich gewarnt worden, wenngleich wie man weiß - ohne Erfolg. Vgl. Reinhard Bollmus, Zum Projekt einer nationalsozialistischen Alternativ-Universität: Alfred Rosenbergs »Hohe Schule«, in: Erziehung und
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dieser durch >Wertbeziehung< entstandenen >sinnjüdischjüdisch< versehen blieb. Wenn Hans Peter Hermann nun also - um Trunz gerechterweise von der Mehrzahl seiner dem NS dienstbaren Kollegen abzurücken - behauptet, daß Trunz sich in seinen Arbeiten bis 1945 keiner »politischen Selbstindienstnahme« schuldig macht, auch nicht in dem erwähnten Forschungsbericht, in dem er weder bei Alewyn noch bei Hirsch »das parteiamtlich erwünschte« Wort »Jude« hinzufugt, so ist das falsch. Alewyn geht so durch; Hirsch nicht. Aber das ist, wie Dainat zeigen konnte, nicht allein eine Entscheidung von Trunz gewesen. Hat Herrmann vor diesem komplizierten Hintergrund nun Recht?
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Richard Alewyn, Johann Beer. Studien zum Roman des 17. Jahrhunderts, Leipzig 1932. Beide Wissenschaftler führten eine umfangreiche Korrespondenz, aus der im Folgenden zitiert wird. Die Briefe befinden sich z.T. im Nachlaß von Richard Alewyn, der in Marbach (DLA) aufbewahrt wird; z.T. befinden sie sich im Besitz von Erich Trunz, der mir seine entsprechende Korrespondenzmappe in Kopie zur Verfugung gestellt hat. An dieser Stelle danke ich ihm und Herrn Dr. Michael Schröter, Rechtsinhaber des Alewynschen Nachlasses, für die Erlaubnis, aus diesem Briefwechsel zitieren zu dürfen.
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Alewyn antwortet am 27.6.1933: »[I]ch erkläre Ihnen [...] gerne zur Weiterverbreitung, dass meine Familie aus Holland stammt, sich dort >Halewijn< oder >Alewijn< schrieb und in den dort verbliebenen Zweigen noch schreibt, dass sie schon im 14. Jh. erwähnt wird, seit 1500 einen lückenlosen Stammbaum hat, im 17. Jh. geadelt wurde, und dass nur der deutsche Zweig, der um 1800 einwanderte, freiwillig den Adel niedergelegt hat. Ich habe mich nie politisch betätigt, lese ungestört und vor einer gegenüber dem W.-S. verdoppelten Hörerschaft, das Vertrauensverhältnis zu meinen Studenten[,] auch zu den neuen Amtsträgern ist ungetrübt, im Sinne des Beamtengesetzes halte ich mich fur einwandfrei [...] und mir ist nichts darüber bekannt, dass von ministerieller Seite an ein Einschreiten gegen mich gedacht würde.« Darauf erwidert am 3.7.1933 Trunz: »Ihre Angaben sind mir sehr wertvoll. Denn da ab und zu immer wieder der eine oder andere das Thema vorholt, kann ich nun mit wirklicher Sicherheit korrigieren, was zu korrigieren ist. Der Verleger, von dem ich Ihnen schrieb, ist Dr. Junker vom Junker und Dünnhaupt Verlag. Er sagte wörtlich zu mir[:] >Wenn ich doch bloß Alewyn los wäre mit seinem Band Barockprosa, der ist doch Jude.< Natürlich habe ich ihm energisch widersprochen und außerdem ihm klargemacht, eine wie gute Idee ein Band Barockprosa wäre, zumal da es nichts ähnliches gibt.« Alewyn wurde kurz darauf aus >rassischen< Gründen entlassen. Trunz äußert sich dazu am 2.9.1933: »[M]it Erschütterung habe ich die Nachricht gelesen, daß Sie nicht mehr von Ihrem Heidelberger Lehrstuhl aus deutsche Literaturgeschichte lesen sollen. Ich bin in völliger Unkenntnis betreffs der Gründe, aber welcher Art diese auch seien, ich bin traurig und fühle mich persönlich tief davon berührt, daß Sie der Heidelberger Hochschule genommen sind. [...] Wäre ich ein mächtiger und mit Verbindungen gesegneter Mann, so würde ich mich bemühen, Ihnen in Ihren realen Sorgen jetzt irgendwie behilflich sein zu können. Aber ich furchte, da kann ich nichts tun. Sollte es aber doch möglich sein, so bitte ich Sie, sich an mich zu wenden.« Alewyn antwortet Trunz am 6.9.1933: »Also man hat mich hier zur Ruhe gesetzt, obwohl meine mütterliche Großmutter, um die es sich dabei handelt, nur teilweise jüdischer Abstammung ist. 194 Ich kann das nicht für gesetzlich halten, und alle Juristen, die ich darüber gesprochen habe, sind der gleichen Meinung. [...] Inzwischen hat sich hier der Kurs verschärft. Ob damit causa finita ist, kann ich noch nicht sagen. [...] Das Schlimmste ist j a gar nicht, dass ich meine Stellung und meine wirtschaftliche Existenz verliere, sondern dass ich damit zum >Nichtarier< gestempelt bin, dass mir mein Deutschtum abgesprochen ist [...]. Mir war mein Deutschtum immer so sicher und selbstverständlich, dass ich es nicht nötig hatte, mich erst dazu zu >bekennenblutsbedingt< zu definieren. Grundsätze wissenschaftlicher Rationalität werden in solchen Fällen endgültig aufgegeben. Die Konzepte liegen dann programmatisch auf der Linie der NS-Ideologie. Ein vorläufiger Erfolg wäre - siehe III. - über die Kategorie Gesellschaft möglich gewesen in der Verbindung von Literaturwissenschaft und Soziologie/Sozialgeschichte, jedoch nicht in der Konstruktion eines homogenen Gegenstandes, sondern in der Anlegung rational plausibilisierbarer Fragestellungen an die Menge literarischer Überlieferung, die weder nationale noch soziale noch >rassisch< begründete Ausschließungen erzwungen hätten. Aber diejenigen, die an bzw. mit solchen Theorien arbeiteten, mußten ins Exil, 197 wurden im Lande ausgegrenzt, 198 einer ging in den politischen Widerstand, 199 andere brachen erfolgversprechende Wege ab.
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Es existiert ein Foto, das die drei zeigt, im Nachlaß von Petersen im DLA Marbach. Vgl. auch Klassiker in finsteren Zeiten 1933-1945. Hrsg. von Bernhard Zeller, Marbach 1983, Bd. 2, S. 270. 196 Biographische Angaben zu Alewyn sind zu finden bei Dorothee Mussgnug, Die vertriebenen Heidelberger Dozenten. Zur Geschichte der Ruprecht-Karls-Universität nach 1933, Heidelberg 1988. 197 In diesen Zusammenhang gehört auch der Romanist Erich Auerbach, vgl. Hans Ulrich Gumbrecht, »Pathos des irdischen Verlaufs«. Erich Auerbachs Alltag, in: Atta Troll tanzt noch (Anm. 59), S. 139-154. 198 Über Schücking teilt Finkenstaedt mit, daß ihn »die Machthaber gem entlassen [hätten], trauten sich aber angesichts seines internationalen Rufes nicht; so wird er aus dem Prüfungsausschuß entlassen, später wird ihm das Hörgeld gestrichen, schließlich das Gehalt.« Th. Finkenstaedt, Kleine Geschichte der Anglistik (Anm. 18), S. 166. 199 Yg[ K ar iheinz Barck, Werner Krauss vor dem Reichskriegsgericht, in: Lendemains 18 (1993), Heft 69/70, S. 137-150 sowie Redaktion Lendemains, Erinnerungen an einen
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4. Um zunächst bei der Barockforschung zu bleiben: Mit dem Ziel, Anschluß an in der NS-Zeit abgerissene Forschungen herzustellen, plant Richard Alewyn zu Beginn der sechziger Jahre die Veröffentlichung von Arbeiten aus den zwanziger und dreißiger Jahren. 200 An Erich Trunz schreibt er in dieser Angelegenheit am 19.2.1961: »Ich möchte dabei gern in den Abschnitt Gesellschaft < neben Günther Müller >Höfische Kultur< (gekürzt), einem Kapitel aus Hirschs >Bürgertum und Barock< (über den Politischen RomanGesellschaftsidealen< Ihren Aufsatz über den >Späthumanismus< wieder abdrucken. [...] Würden Sie Ihre Einwilligung zum Wiederabdruck geben? [...] Wenn der Raum reicht, möchte ich mit dem Abschnitt >Ergebnisse< aus Ihrem Sammelbericht in der DV 1940 den Band abschliessen. [...] Aber könnte ich auch dazu Ihre Erlaubnis haben? [...] Der Zweck des Bandes ist, eine abgeschlossene, aber noch keineswegs >bewältigte< Epoche der deutschen Literaturwissenschaft zu dokumentieren.« Am 26.2.1961 antwortet Trunz: »Den >Späthumanismus< können Sie haben. [...] Was den Forschungsbericht in der >Vierteljahresschrift< 1940 betrifft, so ist er offensichtlich stark beeinflußt von nationalsozialistischem Geiste. Er liegt also jenseits der >klassischen< Epoche der Barockforschung. Er wäre nur ein trauriges Beispiel dafür, wie die Forschung dann abglitt und wie ein junger Gelehrter sich von der Zeit beeinflussen ließ. Ich werde, solange ich lebe, diese Dinge nie loswerden. Sie sind nun einmal ein Makel und stehn gedruckt da. Wie man sich im praktischen Leben damals verhalten hat[,] ist eine andere Sache, und es fragt niemand mehr danach. Das Gedruckte liegt vor, ich suche es weder zu verhehlen noch zu überschreien: Lunding hat (mit Recht) eindeutig auf die ns. Züge in meinen Schriften zwischen 1934 und 1942 hingewiesen. Diese Dinge machen mir genug Kummer - noch einmal gedruckt möchte ich nichts davon sehn.« Dazu Alewyn am 5.3.1961: »Ich freue mich sehr, dass Sie mir die Erlaubnis geben, Ihrem >Späthumanismus< zu einer Auferstehung zu verhelfen, die er schon so lange verdient. Kein Mensch, weder im Inland noch im Ausland, kennt diesen grundlegenden Entwurf. [...] Die deutsche Barockforschung ist Torso geblieben, ihre Vertreter sind teilweise vertrieben, verdorben, gestorben, die Überlebenden eine lost generation - haben kaum Nachfolge gefunden [...] Der Abschnitt >Ergebnisse< aus Ihrem Forschungsbericht stellt eine so ausgezeichnete Zusammenfassung dar, dass er den idealen Epilog bilden würde. Er enthält auch, soviel ich sehe,
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anderen Krauss, in: Ebd., S. 151-156, und Werner Krauss, Bericht aus der Todeszelle, in: Ebd., S. 157-163. Da die Briefe, die sich Alewyn und Trunz in diesem Zusammenhang geschrieben haben, außergewöhnliche Briefe sind, soll aus ihnen im Folgenden ausfuhrlich zitiert werden. Es ist eine Korrspondenz zwischen einem Wissenschaftler, der Opfer des Nationalsozialismus wurde, und einem Wissenschaftler, der von diesem System profitieren konnte; wenn man so will: ein Täter-Opfer-Briefwechsel.
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nichts, was Sie nicht auch heute noch vertreten könnten. 201 Es sei denn, dass Sie nicht wünschten, dass damit überhaupt die Aufmerksamkeit auf den Bericht gelenkt würde, möchte ich ihn recht gerne bringen. Nachdem Sie selbst es so offenherzig ausgesprochen haben, darf ich wohl ebenso offen bekennen, dass einige Stellen dieses Berichts mich lange Zeit sehr geschmerzt haben, insbesondere die über Arnold Hirsch, der einer der redlichsten und nobelsten Menschen war, die ich j e gekannt habe. Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie mir die Gelegenheit gegeben haben, dies noch einmal zu sagen, um es damit zu begraben. Und das soll auch für alles andere gelten, was uns in jenen wirren Jahren getrennt hat.« Der Gegenbrief von Trunz vom 18.3.1961 fallt - wie zu sehen ist, nicht zufällig - ungewöhnlich lang aus. Darin heißt es: »[H]aben Sie herzlichen Dank für Ihren Brief vom 5. März, besonders für den persönlichen Teil dieses Briefes; er bereinigt ein lastendes Problem, jedenfalls soweit es den persönlichen Bereich betrifft. Was das Allgemeine betrifft, so komme ich natürlich von einem inneren Druck nicht los; was geschrieben ist, ist geschrieben. Für mich ist das fast zu einem >Komplex< geworden. Sie werden verstehen, daß es fast keinen Menschen gibt, mit dem ich darüber spreche, jedenfalls nicht in Deutschland. Nur zwei alte Freunde von mir, Richard Samuel in Melbourne und Charlotte Jolles in London wissen davon. 202 Natürlich denke ich darüber nach, was heute Kollegen und Studenten sagen, wenn sie meinen Forschungsbericht von 1940 lesen. Studenten von heute können sich doch in jene Situation nicht mehr hineindenken. Es gehörte freilich etwas dazu, vor einem Kollegsaal mit braunen Uniformen über das barocke Kirchenlied zu lesen. Sie, lieber verehrter Herr Alewyn, haben durch Ihre Briefe und die Frage nach dem Forschungsbericht einen ganzen Problemkreis in mir aufgerührt, der mich nun nicht mehr losläßt. Damals sah dieser Bericht ja so ganz anders aus als heute. Es war eine offizielle Weisung an alle Zeitschriftenherausgeber und alle Hochschuldozenten, daß die Erwähnung von Büchern von Emigranten >unerwünscht< sei. Schon im Interesse der DtVjs mußte man sich irgendwie absichern. 203 Deswegen kam z.B. in die Besprechung des Beer-Buches der Satz hinein, daß sogar Franz Koch Beer nenne (ohne zu sagen, woher er dieses Wissen habe). Wenn man den Bericht heute liest, ist er eindeutig engagierte Wissenschaft im Sinne jener Zeit. Aber für jene Zeit war er das wiederum zu wenig. Man denkt heute, ein gelehrter Forschungsbericht in einer Zeitschrift sei damals unbeachtet geblieben. Es war nicht so. Dieser Forschungsbericht wurde bald nach seinem Erscheinen tadelnd im
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Dieser Satz ist von Trunz unterstrichen und mit einem Fragezeichen versehen. Der Abschnitt Ergebnisse, den Alewyn wieder abdrucken will, enthält die Textstelle, in der auf die jüdische Herkunft Arnold Hirschs verwiesen wird, nicht. Charlotte Jolles und Richard Samuel gehörten ebenso zu den Schülern Petersens. Beide mußten in der NS-Zeit emigrieren. Vgl. dazu: Petra Boden, Charlotte Jolles über Julius Petersen. Zum wissenschaftlichen Leben am Germanischen Seminar in den 30er Jahren, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin. Gesellschaftswissenschaftliche Reihe 36 (1987) H. 7, S. 632-639, und Werner Herden, Zwischen Bücherverbrennung und Kriegseinsatz, in: Ebd., H. 9, S. 835-841. Vgl. hierzu H. Dainat, »wir müssen ja trotzdem weiter arbeiten« (Anm. 191).
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>Völkischen Beobachten erwähnt, das muß etwa 1942 gewesen sein. Andererseits erhielt der Bericht nach dem Krieg ein lobendes Wort von Josef Körner. Nach dem Krieg erfuhr ich - soweit ich mich entsinne, durch den kommunistischen Schriftsteller Louis Fürnberg in Weimar, der aus Prag stammte und mit einer Tschechin verheiratet war - daß Körner bis 1945 >untergetaucht< in Prag lebte und arbeitete 204 und genau über die >reichsdeutschen< Kollegen Bescheid wußte, die nach Prag abgeordnet waren. Ich habe damals nicht gewußt, daß er in Prag war, es wurde erzählt, er sei emigriert. - Für die Verwirrung jener Zeit noch eine Geschichte. Kurz bevor ich den Forschungsbericht fertig machte, kam ich einmal nach Reichenberg und besuchte den Verleger Kraus wegen einer geplanten SealsfieldAusgabe. Kraus wurde herausgerufen, ich sah sein Archiv durch und entdeckte, ganz versteckt, 6 Exemplare eines Buches: Kurt Fleischmann, Theobald Höck. Als K. zurückkam und das Buch in meiner Hand sah, erschrak er und sagte: das Buch wurde ausgedruckt, als die Deutschen einrückten, der jüdische Verfasser floh über die Grenze. Ich bekam Befehl, alle Exemplare einzustampfen und habe heimlich diese 6 zurückbehalten - bitte verraten Sie mich nicht. Ich sagte: Herr Krauss, schenken Sie mir 2 Exemplare. Er: Das darf ich nicht und wage ich nicht. Ich: Herr K. - wenn ich Ihnen nun 2 Exemplare stehle? Er: Lassen Sie mich mal einen Augenblick hinausgehen. Er ging hinaus, ich nahm die 2 Exemplare, er kam wieder. Ich erwähnte dieses Buch dann S. 25 in meinem Forschungsbericht, hoffend, daß der Verf. (der den Druck nie zu sehen bekommen hatte, wie mir K. sagte) irgend wann einmal davon erführe; an sich wars sonst Unsinn, ein Werk zu nennen, von dem es nirgendwo Exemplare gab und das in keiner Bibliographie stand. Als 1945 die Deutschen aus der Tschechoslovakei vertrieben wurden, fand man im Verlag Kraus Schulfibeln mit Hakenkreuzen und Hitlerbildern (die der Verleger zwangsweise gedruckt hatte) und vernichtete den ganzen Bestand einschließlich der 4 Exemplare des Buchs von Fleischmann. Ich rettete damals meine 2 Exemplare aus Prag nach Mitteldeutschland, dann sehr mühsam bei einem nächtlichen Grenzübergang nach dem Westen. Später schenkte ich ein Expl. der Bibliothek des Britischen Museums. Das andere habe ich noch. - Auch das ist eine Geschichte, die typisch ist für das Ende der damaligen Barockforschung.« Unter dem Titel Deutsche Baroclrforschung erscheint schließlich 1965 der von Richard Alewyn besorgte Band. In seinem Vorwort vermeidet er allerdings jeden Hinweis auf die politische Geschichte, unter deren Bedingungen diese Forschung abgebrochen worden und bis in die sechziger Jahre Torso geblieben ist. Fast scheint es, als habe es ihn schon große Überwindung gekostet, die zwanziger und
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Die Forschung geht bisher davon aus, daß Josef Körner in das KZ Theresienstadt deportiert worden ist. Nach einer Mitteilung von Ralf Klausnitzer, der sich mit Körner näher befaßt hat, schreibt Körner alle Briefe an Walter Küchler bis Ende 1945 unter der Ortsangabe Prag. - Über die skandalöse Ausgrenzung Körners in der deutschen Literaturwissenschaft bis 1945 und die Abwehr seiner Versuche, sich zu habilitieren, vgl. Petra Boden, Julius Petersen. Ein Wissenschaftsmanager auf dem Philologenthron, in: Euphorion 88 (1994), S. 82-102. Kömer wurde erst nach dem Ende der NS-Diktatur in einem Versuch der Wiedergutmachung habilitiert.
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dreißiger Jahre als eine Forschungsgeschichte zu beschreiben: »Wenn hier nicht vermieden werden konnte, eine Art System der Epoche zu entwerfen«, dann nur, »um den gesammelten Texten ihre Stellung zuzuweisen«. 205 Eine Erklärung für diese seltsame Zurückhaltung könnte der Nachruf auf Alewyn von Rainer Gruenter anbieten. Dort wird gesagt, daß Alewyn über die Umstände seiner Entlassung 1933 in Heidelberg »auch Vertrauten gegenüber, zu sprechen ablehnte. [...] Der Schnitt ging bis ins Mark. Er zerstörte etwas in ihm, das nicht mehr heilte.« Und: »Er versagte sich [...] jedes Verständnis der Beweggründe einer Generation, mit der Selbstgefälligkeit verschuldeter >Väter< abzurechnen, jener berüchtigten >PflegeväterentdecktZwischen Biedermeier und Bourgeoisie< [...] das 1954 in Leipzig und im gleichen Jahr in Göttingen erschien. Allerdings verlangte der westdeutsche Verlag die Tilgung des Namens Heine im Untertitel. Das Buch besteht aus den gedruckten Vorlesungen, die Greiner in Leipzig gehalten hat.« Hans Poser, Mein Leipzig lob' ich mir...? Erinnerungen an das Studium der Germanistik in Leipzig 1946-1951, in: Euphorion 91 (1997), S. 235-245, S. 242. - Es ist vielleicht kein Zufall, daß Greiner einen solchen Problemansatz entwickelt. Leipzig zeigt in der Topographie der Hochschullandschaft ein spezifisches Profil. Wenn auch die Leipziger literaturwissenschaftliche Germanistik lange Zeit fest in den Händen von Hermann August Korff lag: Lamprecht und Schücking haben auch an dieser Universität gelehrt. Und weiter: auch der von Erich Auerbach herkommende Romanist Werner Krauss lehrte in Leipzig. Zwischen der Leipziger Aufklärungsforschung um Krauss (später an der Akademie der Wissenschaften der DDR) und der Konstanzer Rezeptionstheorie um Hans Robert Jauß gab es frühe und langjährige Beziehungen. Wenn man außerdem bedenkt, daß Schücking diziplinengeschichtlich - so weit ich sehe - einer der ersten ist, dessen Konzept die nationalphilologische, an einen Begriff von >großer Dichtung< gebundene Literaturforschung überwindet in Richtung
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auf einer Tagung an der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1956 ein materialistisches Konzept der literaturwissenschaftlichen Germanistik vorstellte und damit seine in alter philologischer Tradition stehenden Kollegen faszinieren konnte, jedoch die kulturpolitische Bürokratie gegen sich hatte,215 blieb Greiner isoliert. 1958 wechselte er auf einen Lehrstuhl in Gießen. Trivialliteratur wurde sein Forschungsgegenstand. »Damit erweiterte er den Literaturbegriff zu einem Zeitpunkt, als die Literaturwissenschaft im allgemeinen von Dichtung als ihrem Gegenstand, nicht aber von Literatur sprach.«216 Auch Friedrich Sengle war mit seinen soziologischen Untersuchungen lange Zeit eher eine Ausnahme in der westdeutschen akademischen Germanistik. Fast wie eine Rechtfertigung mutet es an, wenn er sagt: »Um Mißverständnisse zu vermeiden, sei die persönliche Bemerkung gestattet, daß der Verfasser nicht durch losgelöste soziologische Interessen, sondern durch ein dichtungsgeschichtliches Anliegen zu dem Gang in die allgemeine Geschichte und speziell in die Wirtschaftsgeschichte Kölns veranlaßt wurde.«217 Sozialgeschichtlich, kulturgeschichtlich und soziologisch verfahrende Forschungen zur Literatur außerhalb des Kanons hat es in der Bundesrepublik neben immanenter Interpretation von >Dichtung< schon in den fünfziger Jahren gegeben. Daß die Trennung in große Dichtung und Trivalliteratur aber ein Forschungsproblem war und nicht in dieser Weise aufrechterhalten werden konnte, hat wohl
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Rezeptionstheorie, und daß die Rezeptionsästhetik von Jauß und Wolfgang Iser diese Grenze ebenfalls nicht akzeptiert (wie im Rhedaer Memorandum zur Trennung von Literatur- und Sprachwissenschaft von 1969 begründet wird), wäre es doch sehr interessant, den sich hier aufdrängenden Vermutungen über Querverbindungen zwischen Leipzig, Konstanz und Berlin einmal gründlich nachzugehen. Vgl. Protokoll der »Internationalen Arbeitstagung des Instituts für deutsche Sprache und Literatur«, Juli 1956, Deutsche Akademie der Wissenschaften (Berlin), in: Bundesarchiv, Stiftung Archive der Partei- und Massenorganisationen (Berlin), ZPA, Abt. Wissenschaften beim ZK der SED IV A2/9.04/243 (nicht paginiert). - Über Boeckhs Rolle an der Akademie vgl. Dorothea Dornhof, Von der »Gelehrtenrepublik« zur marxistischen Forschungsgemeinschaft an der Deutschen Akademie der Wissenschaften. Das Institut für deutsche Sprache und Literatur, in: Deutsche Literaturwissenschaft 1945-1965 (Anm. 207), S. 173-201, S. 184-188. - Unter dem Titel Literaturforschung vor neuen Aufgaben wurde der Vortrag von Boeckh gekürzt veröffentlicht in: Neue deutsche Literatur 8 (1956), S. 125-132. Eine scharfe Zurückweisung im Namen der »klassischen Ästhetik, deren Realistik und Elastizität doch allenthalben anerkannt worden ist«, erfuhr Boeckh durch seinen Jenaer Kollegen Joachim Müller, Zur Frage der Gattungen, in: Ebd. 10(1958), S. 141-143, S. 143. H. Poser, Mein Leipzig (Anm. 214), S. 242. Friedrich Sengle, Die Patrizierdichtung >Der gute Gerharde Soziologische und dichtungsgeschichtliche Studien zur Frühzeit Rudolf von Ems, in: DVjs 24 (1950), S. 53-83, S. 68. Dieser Aufsatz hat der DVjs bereits 1944 vorgelegen, vgl. H. Dainat, »wir müssen j a trotzdem weiter arbeiten« (Anm. 191), S. 81. - Zu den Biedermeierforschungen Sengles vgl. Dorothea Böck, Archäologie in der Wüste. Jean Paul und das »Biedermeier« - Eine Provokation für das Fach (ante portas), in: Atta Troll tanzt noch (Anm. 59), S. 241-269.
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Petra Boden
in erster Linie Helmut Kreuzer 1967 mit einem programmatischen, sich auch auf Greiner berufenden Aufsatz begründet: »Daß auf Grund historischer und geschmackssoziologischer Bedingungen ein Teilbereich der Literatur pauschal kanonisiert, ein anderer pauschal diskriminiert wird, daß und wie sich in einer zeitgenössischen Geschmacksträgergruppe oder -schicht ein Konsensus über die literarische Toleranzgrenze zwischen diesen Bereichen herausbildet, dies sind Phänomene von wissenschaftlichem Interesse.« 218 Man geht in der Regel davon aus, daß >Sozialgeschichte< ein Produkt der Studenten- und protestbewegten endsechziger Jahre ist. Diese Auffassung ist insofern berechtigt, als daß mit der in jener Zeit nachdrücklich gestellten Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz< von Literatur und Literaturwissenschaft sozialgeschichtliche Forschungsansätze das disziplinare Profil zunehmend bestimmten. Dennoch muß diese Auffassung in einem Punkt präzisiert werden: In jenem Kontext hatte eine spezifische Orientierung von Sozialgeschichte Konjunktur, 219 von der Erich Schön feststellt, daß unter ihrem »Etikett oft nichts anderes vorgenommen wurde, als eine - methodologisch gesehen - traditionelle Textexegese, deren Spezifik lediglich in ihrer politischen Einseitigkeit lag.« 220 Daß die Literaturwissenschaft mit dieser Orientierung auf ein ganzes Bündel von Problemen reagiert hat, die sich an den Schnittstellen von Wissenschaft, Erziehung und Politik spätestens seit Beginn der sechziger Jahre bemerkbar machten und an deren Ende zuspitzten, steht auf einem anderen Blatt. 221 Im Vergleich der zwanziger und dreißiger Jahre mit den Sechzigern, gibt es eine überraschende Parallele: Im Zuge der jeweiligen Reformdebatten richten sich jedesmal große Erwartungen an die Soziologie als Gesellschaftslehre, um mit ihr in Konkurrenz zur Philosophie - Zusammenhänge zwischen Wissenschaft und Gesellschaft herzuleiten und den Gegenstand Literatur in diesen Zusammenhang 218
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Helmut Kreuzer, Trivialliteratur als Forschungsproblem. Zur Kritik des deutschen Trivialromans seit der Aufklärung, in: DVjs 41 (1967), S. 173-191, S. 191 und S. 182. Wilhelm Voßkamp schreibt, daß Schücking 1913 zum ersten Mal die Problemfragen entwickelt hat, die von der Rezeptionsgeschichte und Literatursoziologie der sechziger Jahre aufgegriffen werden. Kreuzers Ansatz gehört in diese Linie. Vgl. W. Voßkamp, Literatursoziologie (Anm. 149), S. 295. Inwieweit hier auf Ansätze zurückgegriffen wurden, die in den zwanziger und dreißiger Jahren entwickelt worden sind, vgl. ebd., und Rainer Rosenberg, Die sechziger Jahre als Zäsur in der deutschen Literaturwissenschaft. Theoriegeschichtlich, in: Der Geist der Unruhe. 1968 im Vergleich: Wissenschaft - Literatur - Medien. Hrsg. von dems. u.a., Berlin 2000, S. 153-179. Erich Schön, Sozialgeschichtliche Literaturwissenschaft, in: Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Hrsg. von Helmut Brackert u.a., Reinbek 1992, S. 606-619, S. 606. Vgl. dazu Petra Boden, Probleme mit der Praxis. Hochschulgermanistik zwischen Wissenschaft, Bildung/Erziehung und Politik, in: Der Geist der Unruhe (Anm. 219), S. 181225. - Dazu, daß sich diese zur Lösung drängenden Probleme in beiden deutschen Staaten strukturell gleichen, weil die Wissenschaft vor allem unter dem Aspekt ihrer lehrerausbildenden Funktion modernisiert werden soll, vgl. Petra Boden, »1968« - Eine Krise mit Profil. Oder: Wieviel Einheit braucht das Fach?, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 46 (1999), Η. 1, S. 10-20.
Stamm - Geist -
Gesellschaft
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einzubinden. In den sechziger Jahren ist die Rezeption von Vorleistungen maßgeblich gesteuert vom zugrunde gelegten Geschichtsbild und Gesellschaftsmodell. Nicht ohne Grund wird am Ende der sechziger Jahre, nachdem in der Germanistik ein breiteres Interesse an der Rolle des Fachs in der NS-Zeit geweckt worden ist,222 vor allem an Konzepte angeschlossen, mit denen sich die Geschichte des Bürgertums als einer fortschrittsfahigen Klasse 223 und ihrer Kultur beschreiben läßt. Was Erich Schön in polemischer Zuspitzung als politische Einseitigkeiten kritisiert, ist Ergebnis einer Funktionsbestimmung der Literaturwissenschaft als bewußtseinsund schließlich gesellschaftsveränderader Kraft, von der aus in der Geschichte der Disziplin nach anschlußfahigen Konzepten Ausschau gehalten wurde. Hier richtete sich das Interesse vor allem auf solche Entwürfe, die auf geschichtsphilosophischen Rahmenorientierungen und Fortschrittskonzepten gründeten. Schon aus diesem Grund bot Nadler keine Alternative. Aber nicht nur deshalb: er vor allem schien sich als Sündenbock zu eignen. 224 Es steht außer Frage, daß er Texte zu verantworten hat, die ihm nicht nachgesehen werden dürfen, aber es dabei bewenden zu lassen, wäre zu einfach. 225 Vielleicht war es eine - im Falle Nadlers mit ihm in voreiligen Zusammenhang gebrachte - rassenkundliche Ausrichtung in der Literaturwissenschaft der NS-Zeit und die Tatsache, daß sich mit solchen Arbeiten der Holocaust begründen ließ,226 daß anthropologische Fragestellungen von Amerika aus in die deutsche Literaturwissenschaft gelangt sind. Eine Auseinandersetzung mit seinem Forschungsansatz, die sich nicht in einem falschen Vorwurf erschöpft, steht noch aus. 227
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Ein vergleichbar starkes Interesse von Romanistik und Anglistik an diesem Teil ihrer Geschichte ist in jener Zeit nicht vorhanden, auch später nicht. Die Forschungen, die Hausmann über die Romanistik und jetzt auch über die Anglistik betreibt, bilden eher eine Ausnahme. Für die DDR war es die Arbeiterklasse. Auch Franz Koch wird gern in dieser Rolle gesehen. Wie berechtigt und zugleich problematisch dies ist, zeigt Wolfgang Höppners Beitrag in diesem Band. Lämmert bezeichnete in seinem Eröffnungsvortrag des Münchner Germanistentags von 1966 Nadler immerhin auch als einen »Gelehrten, dem wir nicht nur den letzten großen Wurf zu einer Literaturgeschichte der Deutschen, sondern auch frühen Einfluß auf einen der fähigsten und edelmütigsten Gelehrten unseres Fachs, Werner Milch, danken.« Vgl. Eberhard Lämmert, Germanistik - eine deutsche Wissenschaft, in: Ders. u.a., Germanistik - eine deutsche Wissenschaft, Frankfurt/Main 1967, S. 7—41, S. 21. Dieser Blick auf Nadler differenzierte in einer Weise, in der es später sonst nicht üblich war. Für solche Vorarbeiten wird man aber wohl eher an Elisabeth Frenzel denken müssen, deren in der Nachkriegszeit verfasste Nachschlagewerke allzu unbedenklich zum Standard empfohlen wurden. Daß ihre skandalöse Vergangenheit erst jetzt öffentlich wurde, gehört zu den ganz großen Peinlichkeiten der Fachgeschichtsforschung. Vgl. Florian Radvan, Schlag nach bei Frenzel. Zur Karriere einer deutschen Literaturwissenschaftlerin, in: Frankfurter Rundschau vom 3.9.1999, und Ders., Schlag nach bei Frenzel ... aber genau, in: Süddeutsche Zeitung vom 9./10.10.1999. Ralf Klausnitzer hat in seiner Dissertation einen Anfang gemacht (Anm. 28).
Rainer Rosenberg (Berlin)
Von deutscher Art zu Gedicht und Gedanke1
»Aber die Meinung, daß im Lautstaat die Vokale den Adel, die Konsonanten den Pöbel darstellen, ist ein Vorurteil aus romanischer und auch romantischer Gefühlswelt. [...] Tut irgendeinem Deutschen beim h die Brust weh? [...] Auf höhere Ebene dagegen gelangt man, wenn man zurücktragt: warum werfen wir Deutschen dem westlichen Nachbar so selten zur Vergeltung seine Nasenvokale vor?« [Ewald Geissler] 2 Jedenfalls, je mehr Konsonanten, desto deutscher. Der Mann fuhrt einen Zeugen an, der die Buchstaben bei George und bei Hofmannsthal gezählt und herausgefunden hat, daß letzterer viel konsonantenärmer war als George. Die Erklärung: Hofmannsthal war »ja auch nicht rein arischer Abstammung«. 3
Von deutscher Art in Sprache und Dichtung - Ein »Gemeinschaftswerk« sollte zeigen, wozu die deutsche Germanistik 1941 fähig war. Fünf Bände von zusammen über 1700 Seiten Geschichte des deutschen Geistes von den Anfängen bis zur Gegenwart - in der Rekordzeit von nicht mehr als zwei Jahren, das heißt: ohne die Einschaltung eines längeren Verständigungsprozesses, erstellt und nichtsdestoweniger von uniformierter konzeptioneller Ausrichtung. Wie war das möglich? Man kann natürlich sagen, daß zum Kreis der Autoren mit Franz Koch, Karl Justus Obenauer, Heinz Kindermann und Herbert Cysarz einige der exponiertesten Parteigänger des Nationalsozialismus in der »Zunft« gehörten. Aber es haben auch Germanisten mitgewirkt, die wir nicht zu diesen rechnen, und deren Beiträge fallen nicht aus dem Rahmen. Sicher, das intellektuelle Niveau der einzelnen Beiträge ist verschieden, doch sie stehen alle im Rahmen ein und desselben Diskurses. Es ist immer noch der Diskurs der deutschen Geistesgeschichte, der hier geführt wird mit einigen zeitgemäßen besonderen Akzentuierungen und Rückkoppelungen, die aber auch vor 1933 bereits anzutreffen waren. Man kann aus all dem nur schlußfolgern, daß es keines umständlichen vorherigen Verständigungsprozesses bedurfte, daß ein grundsätzliches, auf einem bestimmten allgemein akzeptierten älteren Deutungsmuster beruhendes Einverständnis in den Hauptfragen schon bestand und eine spezifisch nationalsozialistische Akzentuierung dieses Musters sicher erwünscht, aber nicht unbedingt
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Von deutscher Art in Sprache und Dichtung. Hrsg. im Namen der germanistischen Fachgruppe von Gerhard Fricke, Franz Koch und Klemens Lugowski, 5 Bde., W. Kohlhammer Verlag Stuttgart und Berlin 1941. Gedicht und Gedanke. Auslegungen deutscher Gedichte. Hrsg. von Heinz Otto Burger, Max Niemeyer Verlag Halle/Saale 1942. Ewald Geissler, Deutsches Wesen in Laut und Lautung, in: Von deutscher Art in Sprache und Dichtung (Anm. 1), Bd. I, S. 193/94. Vgl. ebd.
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Rainer
Rosenberg
erforderlich war (denen, die sich darauf einließen, jedoch offensichtlich auch nicht schwerfiel). Belege für diese Schlußfolgerung liefern die Veröffentlichungen der an dem »Kriegseinsatzprojekt« beteiligten Germanisten, und nicht nur dieser, aus der Zeit davor. Wie sah dieses Deutungsmuster aus? Grundlegend für das »Kriegseinsatzprojekt« ist die altbekannte Distanzierung von den Ideen der europäischen Aufklärung und der französischen Revolution, von naturrechtlichem und verfassungsstaatlichem Denken als dem Deutschen wesensfremd und die Identifikation des Deutschen mit einer am Leben gebildeten organischen Gesellschafts- und Geschichtsauffassung, mit Religiosität, Traditionsgebundenheit und freiwilliger Unterordnung. Dem entsprach die Opposition von Rationalität (»Intellektualismus«), Individualismus, Liberalismus auf der einen und deutscher Idealität, Seele (»Innerlichkeit«) und Gemeinschaftsgesinnung auf der anderen Seite. Wenn ich diese Denkstruktur als ein Deutungsmuster bezeichne, wird wohl erkennbar, daß ich den Begriff enger fasse als etwa Georg Bollenbeck, 4 der ihn für kollektiv wirksame »vorgefertigte Relevanzstrukturen« von der Größenordnung gebraucht, wie sie etwa der deutsche Bildungsbegriff umfaßt. Ich meine aber, daß die von Bollenbeck aufgestellten Kriterien der Wahrnehmungsleitung, Erfahrungsinterpretation und Verhaltensmotivierung darauf voll zutreffen und daß diese Denkstruktur auch die Verbindung von kognitiven und affektiven Dispositionen enthält, die Bollenbeck wie andere Autoren zur Begriffsbestimmung heranziehen. Diese Denkstruktur ist bekanntlich bereits in der Romantik entstanden, und die deutsche Germanistik hat seit ihren romantischen Anfangen darauf reflektiert. Sie hat ihr das ganze 19. Jahrhundert hindurch bei ihrem Identitätsbildungsstreben zu Grunde gelegen, das mit der Reichsgründung keineswegs befriedigt war und durch den Paradigmenwechsel vom Positivismus zur Geistesgeschichte sogar neuen Auftrieb erhielt. Denn die Geistesgeschichte eröffnete mit ihren Synthesen von Literatur, Philosophie, Religion und Kunst auch die Aussicht, den »deutschen Geist« »tiefer« zu erfassen. Die Ironie der Geschichte bestand nur darin, daß sie in ihrem organizistischen, ganzheitlichen Denken leicht dazu zu verführen war, den Raum des Geistigen zu überschreiten und die vertieften nationalen Identitäten unter dem Eindruck der Völkerkunde und der empirischen Psychologie und im Einklang mit der Entwicklung der modernen Körpertypologien an die Natur zurückzubinden. Aus einer solchen Verkupplung der Geistesgeschichte mit der Völkerkunde entstand jener Biogeist, wie ihn im Rekurs auf die natürlichen Stammeseigenschaften Josef Nadler destillierte und dessen Grundstoff selbstverständlich auch die Rassenideologie sein konnte. Das ist alles bereits mehrfach ausgeführt, kann als bekannt vorausgesetzt werden und ist hier also nicht der Rede wert. Worüber in diesem Zusammenhang nachzudenken sich m. E. allenfalls noch lohnen würde, was mir jedenfalls bei der selten erheiternden Lektüre immer wieder in den Sinn kam, war die Frage, warum
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Vgl. Georg Bollenbeck, Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt/Main und Leipzig 1994, S. 19.
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das skizzierte Deutungsmuster - einmal abgesehen von allen wissenssoziologischen und mentalitätsgeschichtlichen Gesichtspunkten - sich so lange hielt und ob die biologisch-deterministische Wendung in der Geistesgeschichte nicht vielleicht auch der Logik der Wissenschaft entsprach. Denn auch wenn man in Rechnung stellt, daß die deutsche Literaturgeschichtsschreibung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit einer Identitätsbildungsfunktion in die Welt kam, daß sie diese Identität von Anfang an in der geschilderten Opposition zu bilden versuchte und daß die politische Geschichte Deutschlands und die reguläre wissenschaftliche und politische Sozialisation der Germanisten Erklärungen dafür liefern können, warum diese Funktion wie diese Opposition so lange aufrecht erhalten wurden, bleibt doch verwunderlich, daß auch die besseren Köpfe kaum auf andere Gedanken kamen. Andererseits: Hat man wie es hier geschah - erst einmal vorausgesetzt, daß Literatur in Form von Nationalliteraturen existiert und daß ethnische Gruppen oder Verbände (Stämme, Völker) je eigene Mentalitäten aufweisen, unterscheidbare »Nationalcharaktere« ausgebildet haben, dann liegt die Annahme, daß letztere in der Literatur ihren Niederschlag finden und ihr abgelesen werden können, nahe, und der Zirkelschluß von der aus der Literatur extrapolierten nationalen Eigenart auf die erstere ist vorprogrammiert. Denn das Denken in Nationalliteraturen mußte letztlich zu der Frage fuhren, was denn nun eigentlich »das Deutsche« an der deutschen und »das Französische« an der französischen Literatur sei. Diese Denkvoraussetzungen waren in Deutschland seit Anfang des 19. Jahrhunderts vorhanden: Man konnte sich nicht nur auf Wilhelm von Humboldt berufen, berief sich jedoch vor allem auf ihn, um bereits die Sprache mit dem »Geist« zu besetzen, den die Literatur offenbaren sollte. Wenn aber schon die Sprache als Ausdruck der nationalen Eigenart genommen werden konnte, dann war man gehalten, auf die Annahme vorgeschichtlicher Prägungen, auf ethnisch angeborene natürliche Anlagen zurückzugehen. So weit der Ansatz und die aporetischen Konsequenzen, die in ihm lagen. Wir wissen, was aus ihm hauptsächlich geworden ist, kennen die Geschichte seiner Entwicklung, in der das »Kriegseinsatzprojekt« schwerlich als finale Aberration beiseite geschoben werden kann. Dennoch gibt es auch historische Belege dafür, daß dieser Ansatz nicht in den notorischen Eigenschafts- und Wertzuschreibungen des besprochenen Deutungsmusters gedacht werden mußte. Gerade die Geistesgeschichte verdient in dieser Hinsicht eine differenziertere Betrachtung. 5 Ich denke an Friedrich Gundolf, Oskar Walzel oder Fritz Strich, die die Stereotype aufbrechen oder zumindest die gängigen Bewertungen suspendieren. Es fragt sich, ob hier nicht vielmehr eigentlich in eine Richtung gedacht wurde, in der sich heutige mentalitätsgeschichtliche Forschungen bewegen, ob es nicht hinter den zu populären Vorurteilen erstarrten Selbst- und Fremdbildern erkannte wirkliche Forschungs-
5
Vgl. Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925. Hrsg. von Christoph König und Eberhard Lämmert, Frankfurt/Main 1993.
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Rainer Rosenberg
Probleme waren, die auch weniger konforme und beweglichere Geister in den Bahnen der Identitätsbestimmung hielten. Das Risiko, dabei wie diese mit der Biologie in Berührung zu kommen, besteht übrigens für die heutige kulturgeschichtliche Mentalitätsforschung ebenfalls. Die komparatistische Imagologie hat, indem sie Literaturen auf das »Bild des Anderen« hin untersucht und die »Fremdbilder« miteinander vergleicht, die im allgemeinen Bewußtsein stets präsent gebliebenen »Nationalcharakter«-Konstruktionen der wissenschaftlichen Kritik längst wieder zugänglich gemacht. Sie kann Stereotype benennen, die sich als Vorurteile durch die einzelnen Literaturen hindurchziehen, die »Fremdbilder« insgesamt in Vorurteile auflösen kann sie nicht (und will sie wohl auch nicht). Akzeptiert man aber die Möglichkeit, regionale oder nationale Mentalitäten zu abstrahieren, dann kann man ein biologisches Substrat nicht mehr ausschließen, wie gering man seine Bedeutung im Vergleich zu den historischen, religiösen und sozialökonomischen Komponenten immer veranschlagen mag. Das heißt: Alle regional oder national definierten Literaturbegriffe bleiben, auch wenn sie geschichtlich fundiert werden, für die Wiedereinführung einer biologischen Komponente geöffnet. Die nationalsozialistische Verabsolutierung dieser Komponente als einer rassenbiologischen hat seinerzeit selbst einen Germanisten vom Schlage Julius Petersens irritiert, der eben die Beantwortung der Frage nach dem »Deutschen« an der deutschen Literatur zu einer der vornehmsten Aufgaben der deutschen Germanistik erklärt hatte. (Nachzulesen noch in dem zwei Jahre vor dem »Kriegseinsatzprojekt« erschienenen ersten Band von dessen auf drei Bände berechneter Wissenschaft von der Dichtung.6) Mir geht es hier nicht darum, aus Übermut oder aus der Langeweile heraus, die einen heute bei der Lektüre von Deutscher Art ankommt, das allgemeine Urteil zu revidieren. Ich gebe aber zu: Das eigentliche Skandalon sehe ich nicht in der Tatsache an sich, daß der größte Teil der deutschen Germanisten bei dem traditionellen Denkansatz blieb, als vielmehr in der Fraglosigkeit, mit der das alte Deutungsmuster ausgefüllt, in der Bereitwilligkeit, mit der es der Rassenideologie entsprechend weitergebildet wurde, in dem Fehlen jeder Spur einer intentionalen Heuristik, wie sie auch damals schon zum Grundverständnis moderner Wissenschaft gehörte. Und der Wissenschaftshistoriker, der für diesen Sachverhalt nach Erklärungen sucht, wird allerdings psychologische und wissenssoziologische Gesichtspunkte einschalten müssen. Aufzuarbeiten wäre etwa - und damit bin ich bei einem weiteren Problem, für dessen Erörterung das »Kriegseinsatzprojekt« m. E. noch taugt - , wie die Ordnung des Wissens unverändert nach dem Deutungsmuster vorgenommen wurde, auch nachdem dieses die Wahrnehmung der Wissenschaft nicht mehr zu leiten vermochte. Und das könnte, müßte wahrscheinlich auch, Gegenstand komparatistischer Untersuchungen sein. Zum Beispiel lag die Auffassung von der All-Einheit von Gott, Natur und Geschichte als ursprünglich deutscher, im Glauben der alten
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Vgl. Julius Petersen, Die Wissenschaft von der Dichtung. System- und Methodenlehre der Literaturwissenschaft, Bd. I, Berlin 1939, S. 4 7 - 5 0 und S. 285-291.
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Germanen wurzelnder Weltanschauung auf dieser Linie. Obenauers Beitrag Die Naturanschauung der Goethezeit7 entdeckt in diesem Pantheismus den Kern von Goethes »Deutschheit«. Der Beitrag verrät so viel philosophiegeschichtliche und Goethe-Kenntnis, daß dem Autor die Ignoranz in bezug auf die Bedeutung Spinozas für Goethe wie fur die romantische Naturphilosophie, die er auch auf diese Linie bringt, einfach nicht zuzutrauen ist. Man dürfte also vielleicht gar nicht davon ausgehen, daß ein Deutungsmuster nur so lange Bestand haben kann, wie es von der Wahrnehmung nicht integrierbaren oder ihm widersprechenden Wissens abzulenken vermag, sondern müßte in Rechnung stellen, daß es auch in die Funktion der vorsätzlichen Legendenbildung, der bewußten Weiterbildung von Geschichtsmythen eintreten kann. Fragen wir nach dem sachlichen Gehalt des Projekts und schränken wir diese Frage auf das Bild der deutschen Literaturgeschichte ein, das sich daraus ergibt, so bietet sich im Vergleich zu der Zeit vor 1933 nicht viel Neues. Man kann es allerdings der auswählenden und ordnenden Hand der »Leiter« der einzelnen Projektteile zuschreiben - für die neuere Zeit waren das Benno von Wiese, Obenauer, Kindermann und Koch - , daß eine Geschichtserzählung zustandekam, die dem Deutungsmuster mit rigoroser Konsequenz folgte: die ganze deutsche Literaturgeschichte - eine Geschichte des Zu-sich-selbst-Kommens und der Selbstbehauptung des deutschen Geistes im jahrhundertelangen Kampf gegen lateinische bzw. französische Überfremdung und zuletzt gegen die zersetzende Wirkung des Judentums. Die einzelnen Kapitel: Die deutsche Seele des Barocks (Willi Flemming); Grimmelshausens Simplizissimus als deutscher Charakter (Julius Petersen); Die deutsche Leistung der Aufklärung (Benno von Wiese); Die Sturm- und Drangbewegung im Kampf um die deutsche Lebensform (Kindermann); Herders deutsche Weltanschauung (Wolfdietrich Rasch); Das Volks- und Nationalbewußtsein in der deutschen Bewegung (Paul Kluckhohn); Das Kunst- und Kulturideal der deutschen Klassik und seine deutschen Gegenkräfte (Franz Schultz); Die Naturanschauung der Goethezeit (Obenauer); Deutsche und skandinavische Romantik (Paul Merker); Goethes Faust, ein deutsches Gedicht (Ernst Beutler). Das 19. Jahrhundert wird von Franz Koch und Fritz Martini behandelt, die aussondern, was dem Verdikt gegen den »Liberalismus« unterliegt. Koch überrascht durch die Großzügigkeit seiner Integrationsbemühungen, die bis in das Junge Deutschland hineinreichen, und die wohl nur jemand wie er sich leisten konnte. Martini, der den letzten, bis in die Gegenwart reichenden Abschnitt übernommen hat, verfährt dagegen extrem restriktiv. Er läßt sich nur auf wenige Autoren ein: auf Grabbe, Hebbel, Otto Ludwig, Gustav Freytag, Fritz Reuter, Klaus Groth, Theodor Storm, Wilhelm Raabe, Theodor Fontane, Richard Wagner, Paul de Lagarde, Heinrich von Stein, Friedrich Nietzsche, Julius Langbehn, Ernst von Wildenbruch, Detlev von Liliencron, Friedrich Lienhard, Max Halbe, Fritz Stavenhagen, Karl Schönherr, Adam MüllerGuttenbrunn, Paul Ernst, Stefan George und Rainer Maria Rilke. Das ist alles, was er aus der deutschen Literatur der letzten hundert Jahre als »Erbe« anzubieten hat.
7
Vgl. Von deutscher Art (Anm. 1), Bd. IV, S. 157-204.
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Nur das, was - wie er meinte - auf die Dichtung des »neuen« Deutschland hinwies, für ihn repräsentiert durch Namen wie Hans Grimm, Erwin Guido Kolbenheyer oder Josef Weinheber - eine Dichtung, die er durch »die Hingabe an die natürlich gewachsenen Ordnungen« gekennzeichnet sah und in der »sich ein neues biologisches, rassisches Denken« offenbart, »ein Wissen um das bruchlose Gesamt des Lebens, das Erkennen und Dasein eint und das Bewußtsein in seine Natur zurückfuhrt«.8 Martini behandelt auch Thomas Mann - stellvertretend für die gesamte »Dekadenzliteratur« dieses Zeitraums, andere Namen werden nicht genannt, nicht einmal Gerhart Hauptmann. Wozu diese Aufzählung des - für den von Martini verantworteten Abschnitt freilich selbst über nationalsozialistische Gebühr ausgedünnten - Kanons? Sie ist für den Vergleich mit dem zweiten Gemeinschaftswerk von Bedeutung, zu dem Germanisten im Zweiten Weltkrieg zusammengefunden haben - der 1942 von Heinz Otto Burger herausgegebenen Interpretationssammlung Gedicht und Gedanke. Der Band ist verschiedentlich als ein wichtiger Beleg dafür genommen worden, daß der Paradigmawechsel von der Geistesgeschichte zur immanenten Interpretation in der deutschen Germanistik bereits während der Zeit des Nationalsozialismus stattgefunden habe,9 und fiir diese Auffassung spricht nicht zuletzt die Beteiligung eines der Promotoren des neuen Paradigmas - des Schweizers Emil Staiger. Unter den Beiträgern befindet sich abermals eine Reihe linientreuer Parteigänger des Regimes, so Friedrich Neumann, Cysarz, Lugowski, Hermann Pongs. Vertreten sind aber auch Max Kommereil, Friedrich Sengle und abermals Günther Müller. Darüber hinaus drei zeitgenössische Lyriker - Josef Weinheber, Hermann Claudius und Börries Freiherr von Münchhausen - mit Selbstinterpretationen. Was zunächst auffällt: Die Auswahl der Texte folgt - auf das deutsche Gedicht bezogen - dem im »Kriegseinsatzprojekt« festgeschriebenen Kanon. Interpretiert werden - ich beschränke mich wieder auf die Beispiele aus der neueren deutschen Literatur - Klopstock, Goethe, Schiller, Hölderlin, Novalis, Eichendorff, Mörike, Droste-Hülshoff, Storm, C. F. Meyer, George, Rilke und Weinheber. Daß auch ein Erzeugnis eines weithin unbekannten Zeitgenossen (Isemann) und eine anonym erschienene Ballade aus dem 19. Jahrhundert aufgenommen wurden, verstehe ich nicht als einen Versuch, den Kanon aufzubrechen, als vielmehr so, daß es hier nicht in erster Linie darauf ankam, den Kanon zu befestigen, sondern - wie der Herausgeber in seinem Vorwort kundtut - anleitende Beispiele für den sachverständigen Umgang mit literarischen Texten zu geben. Bleibt der Kanon also auch im wesentlichen unverändert, so ergibt eine nähere Besichtigung der einzelnen Interpretationen doch, daß die meisten Beiträger sich mit dem Herausgeber darin einig gewesen sein müssen, »der Interpretation des einzelnen Dichtwerks« sei in der Germanistik »nicht immer ganz ihr Recht gewor8 9
Von deutscher Art (Anm. 1), Bd. IV, S. 405. Vgl. Holger Dainat, »wir müssen ja trotzdem weiter arbeiten«. Die Deutsche Vierteljahrsschrift fiir Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte vor und nach 1945, in: Zeitenwechsel. Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945. Hrsg. von Wilfried Barner und Christoph König, Frankfurt/Main 1996, S. 76-100.
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den neben der Darstellung der großen, umfassenden Zusammenhänge«.10 Burger meint sogar, daß sie im Begriff sei, »heute wieder - bewußt oder unbewußt - die Richtung anzugeben«." Hat hier - vielleicht schon einige Zeit vorher - ein Sinneswandel stattgefunden? War das »Kriegseinsatzprojekt«, von den akademischen Erfüllungsgehilfen des Regimes wie Koch oder Obenauer und dem gläubigen, aber eben auch bedenkenlos zielstrebigen Nachwuchs der Lugowski, Fricke oder Martini abgesehen, fur die Germanisten nur noch eine Pflichtübung? Nachweislich stand die »Kunst der Interpretation« zu dieser Zeit in Fachkreisen bereits in höherem Ansehen als der bloße Umgang mit einem von der Literatur abgezogenen »deutschen Geist«.12 Ich spreche ausdrücklich von einer Kunst der Interpretation, weil in dem, was hier zu besichtigen ist, das Ingardensche Schichtenmodell zwar manchmal durchscheint, von ernsthaften Versuchen in Richtung auf eine Szientifizierung nach der Art der zu diesem Zeitpunkt bereits voll ausgebildeten strukturalistischen Textanalyse jedoch kaum die Rede sein kann. Etwas anderes ist erklärtermaßen beabsichtigt: eine von der künstlerischen Form ausgehende, Literaturkenntnis, Weltwissen und Intuition beanspruchende Erschließung des »Werks«, für die dessen »mechanische« Zergliederung nur die gleichwohl unverzichtbare Vorstufe bildet. Wer dieses Verfahren, weil es seinem Begriff von Literaturwissenschaft widerspricht, prinzipiell ablehnt, aber sich - wie ich - trotzdem einmal darauf einläßt, wird mir vielleicht zustimmen, daß es einigen seiner Anwender mit ihren Interpretationen besser gelungen ist, den Leser für den ästhetischen Reiz eines Gedichts zu sensibilisieren, als es die Strukturanalyse in der Regel vermocht hat. Ich möchte dieses Urteil beispielsweise für Staigers Interpretation von Hölderlins Heidelberg-Ode13 ebenso in Anspruch nehmen wie für Kommerells Interpretation von Novalis' Hymnen an die Nacht14 oder Sengles Interpretation dreier Gedichte von Stefan George15. Sofern die Interpretationen beim Text bleiben, sich allenfalls ins (Existenz-)Philosophische ausweiten, stehen sie zwar nicht im Widerspruch zu der geistesgeschichtlichen Projektion der Literatur auf den Nationalsozialismus nach der »deutschen Art«; aber sie haben sich dieser jedenfalls verweigert. Unverändert bleiben der rühmende Grundton, die Ehrfurchts- und Andachtshaltung, die sich einstellen, sobald man die Versmaße und Strophenformen bestimmt und die rhetorischen Figuren beschrieben hat. Und - welch ein Wunder - in den meisten Fällen bringt die werkimmanente Interpretation genau das heraus, was die geistesgeschichtlichen Epochenbildner an dem betreffenden Autor auch schon bemerkt hatten. Hält man sich dann noch an diejenigen Interpretationen, die letztlich doch auf die Zeitumstände der Entstehung des Gedichts zurückgreifen oder seinen Platz
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14 15
Gedicht und Gedanke (Anm. 1), S. 6. Ebd. Vgl. H. Dainat, »wir müssen ja« (Anm. 9). Vgl. Emil Staiger, Hölderlin: Heidelberg, in: Gedicht und Gedanke (Anm. 1), S. 169— 175. Vgl. Max Kommerell, Novalis: Hymnen an die Nacht, in: ebd., S. 202-236. Vgl. Friedrich Sengle, George: Vom Albagalgarten zum Land der Gnade, in: ebd., S. 308-317.
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in der Literaturgeschichte bestimmen wollen, dann kommt fast immer das besprochene alte Deutungsmuster zum Vorschein, von dem man nun annehmen kann, daß es auch in den meisten anderen Fällen der immanenten Interpretation - bewußt oder unbewußt - vorgeschaltet war. Eine Ausnahme: der Beitrag Kommereils. Der einzige Fall, indem der Interpret, bei aller Zuneigung zu seinem Gegenstand, auf der kritischen Funktion der Wissenschaft besteht, sich - auch im Verhältnis zu einem Autor vom Range Hardenbergs - nicht scheut, das in seinen Augen Problematische an ihm zu benennen. Nirgends sonst lesen wir, daß die Fähigkeiten des Dichters auch einmal versagen konnten, oder daß sein Unternehmen, ungeachtet seiner Kühnheit, für den Interpreten fragwürdig bleibt.
Klaus Weimar (Zürich)
Literaturwissenschaftliche Konzeption und politisches Engagement Eine Fallstudie über Emil Ermatinger und Emil Staiger
Die deutsche Schweiz, wie man diesen Landesteil nennt, steht zu Deutschland in einem nicht ganz einfachen Verhältnis, das sich wohl allgemein kennzeichnen läßt als die sowohl geforderte als auch gefährdete Balance von kultureller Zugehörigkeit (die eine tiefsitzende Antipathie gegen Deutsches nicht ausschließt) und staatlicher Nicht-Zugehörigkeit oder von kultureller Orientierung an einem Ausland und politischer Orientierung an einem Inland, welches wiederum die staatliche Einheit vierer Kulturen zu sein beansprucht. Die Schwierigkeiten, diese Balance zu halten, haben sich in unserem Jahrhundert zweimal erheblich verschärft, zuerst während des Ersten Weltkriegs und dann in der Zeit des Nationalsozialismus. Es waren Schwierigkeiten, die natürlich weit hinter denen innerhalb des Deutschen Reichs zurückstanden, aber eine Balance ist auch besonders empfindlich. Nach 1933 war in der Schweiz noch die entschiedenste Stellungnahme gegen den Nationalsozialismus durchaus nicht existenzgefahrdend, und von einer Stellungnahme für den Nationalsozialismus konnte sich sehr bald niemand mehr Karrierevorteile oder öffentlichen Applaus versprechen. Für die deutschschweizerische germanistische Literaturwissenschaft 1 (die nie die Rolle der Vermittlerin einer fremden Kultur hatte wie z.B. die französische Germanistik 2 ) bedeutet das, daß sie, vor dem subjektiven und objektiven Druck der Gleichschaltung geschützt durch ihre NichtZugehörigkeit bzw. durch die Grenze, Distanz zur politischen und zur Wissenschaftsentwicklung im Deutschen Reich halten konnte. Es steht außer Frage, daß die Distanz nicht immer und überall so groß und entschieden war, wie sie gefahrlos hätte sein können und hätte sein sollen; daß sie als solche vorhanden war, duldet allerdings auch keinen Zweifel. Ich werde das Faktum der Distanz zunächst als gegeben betrachten, am Schluß aber darauf und auch auf ihre Größe nochmals kurz eingehen. Unter den skizzierten Bedingungen hat sich in der deutschen Schweiz eine Wissenschaftskonzeption gehalten und weiterentwickelt, die in Deutschland schon in den 20er Jahren von der Geistesgeschichte zurückgedrängt oder abgelöst worden ist. Und wenn man in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg diese Konzeption aufgenommen hat, dann hat man, ohne es wohl zu wissen, Kontinuität bis zum Ende des 19. Jahrhunderts nicht eigentlich wiederhergestellt, sondern so übernommen, wie sie unter Umgehung der Geistesgeschichte im 1
2
Vgl. Max Wehrli, Germanistik in der Schweiz 1933-1945, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 37 (1993), S. 409-122. Vgl. dazu die Beiträge von Gilbert Merlio und Elisabeth Decultot in diesem Band.
Klaus
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deutschsprachigen Ausland bewahrt worden ist, eben: in der deutschen S c h w e i z , genauer: in Zürich, noch genauer: von Emil Ermatinger 3 und vor allem v o n seinem Schüler Emil Staiger. 4
1. Konzeptionen, w i e sie hier verstanden sein sollen, sind Bündel von Vorauss e t z u n g e n , v o n Setzungen, die im Voraus v o r g e n o m m e n werden und der literaturwissenschaftlichen Arbeit s o w o h l voraus- als auch zugrundeliegen. Sie betreffen den Status v o n literarischen Texten und konstituieren den Gegenstand der Literaturwissenschaft, insofern sie festlegen, als was ein literarischer Text grundsätzlich anzusehen sei. D i e s e Ansicht resultiert aus bis zu drei Entscheidungen, die in aller R e g e l weder explizit gemacht noch gar begründet werden. Es sind, w e n n mich nicht alles täuscht, Entscheidungen in Alternativen. D i e fundamentale Entscheidung ist diejenige, ob ein Text anzusehen sei entweder als Gegenstand
der Erkenntnis (1.1) oder als Mittel
der Erkenntnis (1.2),
also entweder als ein Etwas, das in seiner Positivität untersucht und erforscht sein will, oder als ein Etwas, das - als Dokument oder Quelle - Auskunft geben kann über anderes. 5 D i e Ansicht 1.1 ist zusammen mit der Disziplinenbezeichnung Literaturwissenschaft
erst in den 1920er Jahren endgültig aus der Phase der Latenz
herausgetreten, 6 die Ansicht 1.2 war die herrschende, solange das Fach noch raturgeschichte
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hieß, und ist auch nach d e m B e n e n n u n g s w e c h s e l nicht verschwun-
Emil Ermatinger (1873-1853) ist nach der Promotion in seinem Hauptfach Klassische Philologie (1897) ohne Habilitation Professor für deutsche Literatur an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich geworden (1901) und hat seit 1912 bis zu seiner Emeritierung (1943) zugleich auch an der Universität Zürich gelehrt, zuerst als Extraordinarius, seit 1920 als Ordinarius ad personam, seit 1922 (nach dem Weggang von Rudolf Unger) als etatmäßiger Ordinarius. Emil Staiger (1908-1987) hat unter Ermatinger in Zürich promoviert (1932) und sich habilitiert (1934) und ist 1943 dessen Nachfolger geworden; Emeritierung 1976. Die Ansicht >Text als Gegenstand< steht im Ruf, literarischen Texten angemessener oder allein angemessen zu sein. Aber das Modell der adaequatio intellectus ad rem taugt auch in diesem Falle nichts. Denn jede mögliche Erkenntnis vom Text und seiner >NaturText als Gegenstand^ und dahinter kommt man nicht zurück. Wollte man diese Ansicht als die einzig angemessene behaupten, so würde das eine einfache petitio principii darstellen, und wollte man umgekehrt die andere Ansicht >Text als Mittel< als einzig angemessene behaupten, so geriete man in das unauflösbare Dilemma, daß dann die Erkenntnis von der Natur des Textes eben derselben unangemessen gewesen wäre. Jeder Versuch also, eine Ansicht als verbindlich zu erklären, ist logisch defizient und seinerseits nicht verbindlich. Die Entscheidung für die eine oder die andere Ansicht des Textes läßt sich nur mit pragmatischen Argumenten der Zweckmäßigkeit, Fruchtbarkeit und dergleichen legitimieren. Aufschlußreich dafür sind die Untersuchungen eines Außenseiters: Karl Schultze-Jahde, Zur Gegenstandsbestimmung von Philologie und Literaturwissenschaft, Berlin 1928.
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den. Die Entscheidung zugunsten der Ansicht 1.1 ist bereits die Bestimmung des Wissenschaftsgegenstandes, während die Entscheidung zugunsten der Ansicht 1.2 erst noch dessen Bestimmung erfordert, die Bestimmung also jenes anderen, zu dessen Erkenntnis der Text Mittel sein soll. Die zweite Entscheidung ist demgemäß diejenige, ob (um der Einfachheit halber Bühler-Jakobsonsche Terminologie zu benutzen) entweder die referentielle bzw. denotative oder die expressive bzw. emotive Funktion des Textes als Sprache dominant gesetzt werden soll. Bei Dominantsetzung der referentiellen Funktion wird der literarische Text angesehen als (1.2.1) Mittel zur Erkenntnis von offen oder verschlüsselt thematischen historischen, biographischen, gesellschaftlichen, kulturellen Sachverhalten, bei Dominantsetzung der expressiven Funktion als (1.2.2) Mittel zur Erkenntnis des Autors. Wiederum bedarf nur die zweite Ansicht (1.2.2) noch einer weiteren Bestimmung, diesmal der Bestimmung dessen, als was der Autor angesehen werden soll. Die dritte Entscheidung ist eine über das allgemeine Autorkonzept, zu fassen als die Entscheidung, ob der Autor anzusehen sei entweder als individuelles Subjekt oder als repräsentatives Subjekt. Repräsentatives Subjekt< soll dabei heißen, daß der Autor angesehen wird als Repräsentant eines anderen: eines kollektiven oder un- bzw. überpersönlichen Subjekts, das sich durch den Autor kundgibt und hinsichtlich des Textes die Funktion eines Über-Autors hat. Es handelt sich, anders gewendet, um die Entscheidung zwischen den Konzepten autonomen oder heteronomen Redens. Das Resultat ist entweder die Ansicht (1.2.2.1) Text als Mittel zur Erkenntnis des individuellen Autors oder die Ansicht (1.2.2.2) Text als Mittel zur Erkenntnis eines Über-Autors. Übrig bleibt im letzten Falle nur noch die nähere Bestimmung des Über-Autors, aber das ist nicht mehr eine Entscheidung in einer Alternative. Zur Auswahl standen im ersten Drittel unseres Jahrhunderts Größen wie Geist, Leben, Nation, Stamm oder das Unbewußte, danach auch Blut und Boden oder Volkheit, später die soziale Klasse, der Diskurs, die Kultur oder Ähnliches. Eine Schwierigkeit, mit denen alle Filiationen der Ansicht (1.2) Text als Mittel der Erkenntnis konfrontiert sind, ist allerdings die Bestimmung von Relationen. Wie soll das Verhältnis zwischen Text und Autor und wie gegebenenfalls das zwischen Autor und Über-Autor gedacht werden? Eine befriedigende Antwort ist nach meiner derzeitigen Kenntnis noch nicht gefunden worden.
2. Ermatinger hat, wie die meisten germanistischen Literaturwissenschaftler in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts (und darüber hinaus), die Entscheidung für die Ansicht Text als Mittel der Erkenntnis (1.2) nicht eigentlich selbst getroffen. Sie war ihm längst abgenommen durch die Tradition des Faches >Literaturgeschichteherangezogender große Mensch< oder >der Führen seine eigenen Defekte als Aggressivität gegen diejenigen kehrt, die es durch ihre Existenz als Dichter in Frage stellen könnten. Emil Ermatinger, Das dichterische Kunstwerk. Grundbegriffe der Urteilsbildung in der Literaturgeschichte, Leipzig, Berlin 1921, S. viii.
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und in Relation zueinander Gesetztes sind bzw. daß in ihnen ununterschieden eines und dasselbe als am Werke gedacht ist.13 Die Entscheidung zwischen den allgemeinen Autorkonzepten hat Ermatinger je nach Zusammenhang unausdrücklich einmal so, einmal anders getroffen. Wo er theoretisch vom Autor handelt, bestimmt er ihn (den >Dichterindividuelles Subjekt< (1.2.2.1) durchgehend als »das schöpferische Ich«14, und seine bevorzugte Textsorte ist denn auch, mit einem treffenden Ausdruck seines Schülers Walter Muschg, das Dichterporträt.15 In quasimethodologischen Ausführungen über Wesen und Aufgabe der Literaturwissenschaft dagegen und in theoretischen Äußerungen über die Literaturgeschichte setzt er dagegen die Variante repräsentatives Subjekt< (1.2.2.2) voraus, etwa wenn er das Fach »Literaturgeschichte als Geistesforschung«16 bezeichnet und beanstandet, daß für Dilthey >Geist< »nur ein psychologischer, kein kosmischer Begriff« sei.17 Den Über-Autor belegt Ermatinger mit den zu seiner Zeit gängigen Namen wie >Geistdas Werkder Dichten), wie es zunächst nur der Titel des Buches anzeigt: Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters. Daß auf diese Weise die Ansicht Text als Mittel zur Erkenntnis des Autors (1.2.2) verbunden wird mit der Ansicht Text als Gegenstand der Erkenntnis (1.1), integriert zum einen die gängige literaturwissenschaftliche Praxis der (metrischen, stilistischen usw.) Textbeschreibung in den Erkenntnisprozeß und bildet zum anderen den Umstand ab, daß die literaturwissenschaftlich (u.a. auch von Ermatinger) intendierte Erkenntnis des Autors selbstverständlich durch die literarischen Texte und deren Erkenntnis vermittelt wird. Das beruht auf einem Argument, das im New Historicism wieder Karriere gemacht hat: historische Erkenntnis, worauf immer sie sich beziehen mag, ist stets mittelbare, durch Texte vermittelte Erkenntnis, und die Ableitung oder Erklärung literarischer Texte aus irgendwelchen historischen Sachverhalten ist nur eine nicht begründbare Subordination literarischer Texte unter andere (z.B. ökonomische). Staiger hält dieses Argument zunächst noch zurück, gewinnt ihm aber dann eine überraschende Pointe ab. In seiner kategorischen Ablehnung aller Ansätze, die den literarischen Text aus einem Kollektivsubjekt oder Über-Autor zu erklären suchen, 29 und das heißt: in seiner dezidierten Entscheidung gegen die Ansicht Text als Mittel zur Erkenntnis eines Über-Autors (1.2.2.2), steht ein anderes Argument im Vordergrund: »Hier verzichtet die Literaturgeschichte auf ihre Autonomie und begibt sich in den Dienst der Psychoanalyse und Ethnologie«. 30 Doch in seiner Demontage des Erlebnisbegriffs ist jenes Argument zentral. Staiger legt locker und brutal dar, »daß gerade der Grundbegriff >Erlebnis< überflüssig wird«, 31 derjenige also, über den sein Lehrer Ermatinger ein ganzes Buch geschrieben hat. 32 Der Begriff >Erlebnis< setzt
29 30
31 32
Ebd., S. 12f. Ebd., S. 13. Es sei ausdrücklich bemerkt, daß es Staiger stets um die Autonomie der Literaturwissenschaft, nicht etwa um die des Kunstwerks geht. Ebd., S. 15. Ermatingers Gutachten vom 4.7.1940 zur fälligen Erneuerung der venia legendi des Privatdozenten Staiger nach sechs Jahren Lehrtätigkeit hebt (mit unübersehbarem Ressentiment) die konzeptionellen Differenzen zu seinem Schüler und (unerwünschten) Nachfolger zuverlässig hervor; die Passage über die Vorträge Staigers bezieht sich auf dessen Aufsatz >Deutsch-Schweizerische Freundschaft im Geistesleben (vgl. Anm. 64). »Während der letzten Periode seiner Dozententätigkeit hat Herr Staiger eine Sammlung von Aufsätzen: >Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters< und ein paar Vorträge veröffentlicht. Die Aufsätze unternehmen es, den Zeitbegriff im Schaffen von Brentano, Goethe und Keller zu bestimmen. Der Versuch ist interessant, wenn auch seine Ergebnisse nicht so neu sind, wie der Verfasser meint, scharfsinnig durchgeführt und fesselnd geschrieben. Mit dem Selbstbewusstsein des Baccalaureus im Faust II will Staiger eine neue Methode der Literaturwissenschaft begründen. Er wendet sich sehr entschieden gegen die bisher hier geübte Methode, das Wesen des dichterischen Kunstwerkes aus den psychologischen und geistigen Voraussetzungen in der Persönlichkeit seines Schöpfers abzuleiten. Er spricht S. 195 von >all den aussichtslosen, das dichterische Schaffen gänzlich missverstehenden Versuchen, das >Formale< vom >Ideellen< abzuleiten^ Seine Methode will Gehalt und Form aus der blossen Analyse des Wortes gewinnen. Er löst also gewissermassen
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nämlich »ein Ich und eine Welt an sich« voraus und meint die A n e i g n u n g dieser durch jenes. Wenn nun das Ich und seine Welt als Erkenntnisgegenstand angesetzt wird, stellt sich die ganz und gar unlösbare A u f g a b e , einerseits »das reine Ich« vor allem Erleben zu erkennen und andererseits eine »Welt, die dem Erlebenden noch unerlebt g e g e b e n sein soll«. 3 3 Man erreicht das Ich durch Briefe, Tagebücher, Entwürfe immer nur als ein gerade nicht >reinesZeitText< gegebenen mittelbaren Gegenstandes, genau darauf bezieht sich die berühmte direkte Fortsetzung des zuletzt Zitierten: »daß wir begreifen, was uns ergreift [Individualität nämlich], das ist das eigentliche Ziel aller Literaturwissenschaft«. 42 Wenn Staiger im Anschluß daran die Literaturwissenschaft darauf verpflichtet, »kein Dichten« zu sein, sondern, »was zu sagen ist, auf eine begriffliche Einheit zu bringen«, 43 kündigt sich ein Rückfall hinter das Hegeische Individualitätskonzept an, der in den Interpretationen von Gedichten Brentanos, Goethes und Kellers zur Tatsache wird. Sie haben nämlich bekanntlich ihr Ziel darin, die vielfaltigen Textphänomene zurückzuführen auf eine je singulare Modifikation der transzendentalen Ausstattung des Menschen, der >ZeitZeit< ist vielmehr eine Neufassung des herkömmlichen poetologischen Begriffs schöpferisches Vermögen< und kann wie dieses nur im Autor situiert sein, in seiner Einbildungskraft nämlich, also doch wieder in einem >Dahinter< relativ zum Text. Es ist eine weitere Variation des modifizierten Geniebegriffs, wie er etwa von Ernst Elster 46 und Richard Maria Werner 47 umschrieben worden ist. Dichter (und man muß gleich hinzufügen: wahre Dichter) sind nach diesem Begriff ein besonderer Menschenschlag, vor anderen ausgezeichnet durch einen besonderen Blick auf die Welt, durch »die Gabe zu erleben«, 48 durch »Erlebniskraft der Individualität« »im Sinne des schöpferisch Einmaligen« 49 Das sind zwar Ermatingers Formulierungen, aber sie lassen sich problemlos vereinbaren mit dem, was Staiger bezeichnet als »Würde der schöpferischen Freiheit« 50 oder »das Dichterische« 51 oder als »Leistung des Genies, das eine neue Welt erschließt«. 52 Gemeinsam ist jedenfalls, daß der Hegeische Individualitätsbegriff ersetzt oder unterboten wird durch einen, der nicht mehr in sich relational ist, sondern wie seit jeher die isolierte Einmaligkeit meint. Staigers interpretatorische Praxis, die darauf als auf die begriffliche Einheit< zielt, ist wenigstens in diesem Punkt nicht kompatibel mit seinen konzeptionellen Erwägungen. Es liegt auf der Hand, daß sowohl unter diesem als auch unter dem theoretisch in Anspruch genommenen Hegeischen Individualitätsbegriff das Problem der Literaturgeschichtsschreibung sich gar nicht stellt oder doch deutlich an Dringlichkeit und Interesse verliert. Staiger spricht es denn auch nur kurz als das Problem der Stilgeschichte an, die er bezeichnenderweise (und historisch korrekt) als >Typologie< erläutert, 53 und hat es erst 1963 unter dem Titel >Stilwandel< aufgegriffen. 54 1939 hat er den zu erwartenden Einwand, was er biete, sei keine Literaturgeschichte, beiseite gewischt mit der imperial-flapsigen Bemerkung: »Schließlich kümmert uns aber der Name des Kindes nicht so sehr; wir wollen zufrieden sein, wenn es gesund ist«.55 Das Projekt, die Individualität eines Dichters als seine Welt, wie sie im Text da ist, zu begreifen und zu beschreiben, hat übrigens wenigstens den einen Vorteil, 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54
55
Ebd., S. 69. Ernst Elster, Prinzipien der Literaturwissenschaft. Erster Band, Halle 1897. Richard Maria Werner, Lyrik und Lyriker, Hamburg und Leipzig 1890. E. Ermatinger, Kunstwerk (Anm. 12), S. 38. E. Ermatinger, Die deutsche Lyrik (Anm. 24), Bd. 1, S. 50. E. Staiger, Zeit (Anm. 26), S. 14. Ebd., S. 17. Ebd. Ebd. Emil Staiger, Stilwandel. Studien zur Vorgeschichte der Goethezeit, Zürich und Freiburg 1963, S. 7 - 2 4 . E. Staiger, Zeit (Anm. 26), S. 19.
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daß es Werturteile Ermatingerscher Art ganz und gar entbehrlich macht (was nicht schon heißen soll, daß Staiger de facto darauf verzichtet hätte).
4. Ermatingers und Staigers Konzeptionen der Literaturwissenschaft halten eine Distanz zu denen der nationalsozialistischen Literaturwissenschaft, die größer kaum sein könnte. Bei Staiger gibt es keinen Punkt, an dem sich Politisches überhaupt und insbesondere nationalsozialistische Ideologeme hätten einnisten und die Konzeption alterieren können, und bei Ermatinger nur zwei: die Position eines übergeordneten Kollektivsubjekts, die z.B. mit >Deutschtum< oder >Blut und Boden< hätte besetzt werden können, und die Werturteile, die sich z.B. auch des Prädikats >deutsch< oder >undeutsch< hätten bedienen können,56 aber beide Möglichkeiten sind nicht realisiert worden. Die Resistenz der Konzeptionen war größer als oder jedenfalls nicht dieselbe wie diejenige der Literaturwissenschaftler, die sie entworfen haben. Ermatinger und Staiger scheinen zu denen gehört zu haben, die den Neuanfang, als den sich das >Dritte Reich< darstellte, als solchen für fällig und nötig gehalten und sich deshalb bemüht haben, mehr oder weniger lang in erster Linie das vermeintlich Positive zu sehen und hervorzuheben. Von dieser Ambivalenz am deutlichsten geprägt ist die früheste und bei weitem ausführlichste Stellungnahme eines der beiden Zürcher Germanisten: Staigers im Mai 1933 erschienener Versuch, Schillers Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen als Folie einzusetzen, vor der die Ereignisse der letzten Monate in Deutschland durchsichtig würden.57 Staiger eröffnet den Aufsatz mit Hegels als fremd geworden bezeichnetem Satz: »Die >Weltgeschichte ist der Fortschritt des Menschen im Bewußtsein der Freiheit«, und dem Kontrast, »daß heute ein ganzes Volk es als Größe erachtet, sich dieser gefährlichen Gabe zu entäußern«. Er erwähnt die Weimarer Verfassung als einen »plötzlichen Schritt« »auf der Bahn zu Freiheit und Gleichheit« und den >alten peinlichen AnblickGeschenk liberaler Grundsätze< zur >Verräterei am Ganzem anschlägt«. Nach einem SchillerZitat, daß der Staat in solchen Fällen »eine so feindselige Individualität ohne Achtung darniedertreten« müsse, stellt er fest: »Die Gründlichkeit, womit die Deutschen von jeher bei solchen Dingen verfahren, läßt uns in der Tat das Schauspiel erleben, daß der Geist sich entschließt, auf den Geist zu verzichten und die irrationalen Mächte, Kampf, Stammesehre, Blut und Boden als letzten Gehalt des Lebens preist«. Es folgen einige »typische Sätze« aus Hitlers Mein Kampf über 56
57
Vgl. Klaus Weimar, Deutsche Deutsche, in: Atta Troll tanzt noch. Selbstbesichtigungen der literaturwissenschaftlichen Germanistik im 20. Jahrhundert. Hrsg. von Petra Boden und Holger Dainat, Berlin 1997, S. 127-137. Emil Staiger, Dichtung und Nation. Eine Besinnung auf Schiller, in: Neue Schweizer Rundschau 1 (1933), S. 157-168. - Vgl. dazu die briefliche Diskussion vom Sommer 1967 in Peter Szondi, Briefe. Hrsg. von Christoph König und Thomas Sparr, Frankfürt/Main 1993, S. 219-232.
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»die fundamentale Notwendigkeit der Natur«, denen gegenüber »für den Menschen nicht Sondergesetze gelten können«, dann ein Hinweis auf »Sinn und Recht auch dieser Wendung« und ihre Vorgeschichte bei Nietzsche, Klages, Baeumler und Scheler, mit dem Resultat: »So darf sich die Ideologie des neuen Staates gewiß nicht minder als die des alten auf ein urtümliches Interesse des Daseins berufen. Wenn aber dort am Ende des Wegs eine reibungslose Maschinerie steht - die Utopie von A. Huxleys >Welt, wohin?< - so gelangt hier die unerschrockene Konsequenz, auch wenn es die Jünger nicht wahrhaben wollen, zur >blonden BestieNaturzustand< bezeichnen würde«. 58 Das Muster wiederholt sich, wenn Staiger anschließend vom >Umschlag der deutschen Literat u r handelt, davon, daß »nach den Unreinlichkeiten des Naturalismus eine neue lautere Schönheit« entstanden sei, allerdings »durch eine quälende Distanz vom Ganzen des Volkes teuer erkauft«, 59 und daß diese Zeit vorbei sei. Da das nunmehr »neu seiner Einheit bewußte Volk eine esoterische Dichtung aus respektvoller Ferne« nicht mehr gelten lassen könne, wäre eigentlich die Stunde Hofmannsthals gekommen, vermöchte man nur »über seine halbjüdische Abkunft hinwegzukommen«, die Stunde seiner »Münchner Verkündigung einer >neuen deutschen Wirklichkeit, an der die ganze Nation teilnehmen könnteNaturzustand< ganz klar gesehen wird; Verblendung, weil die auch schon unübersehbaren Momente von Gewalt und Unrecht konsequent ausgeblendet werden. Die gehörige Schärfe bekommt dieser Befund dadurch, daß Staiger in den Jahren 1933 und 1934, zur Zeit also, da er das geschrieben hat, zwischen Promotion und Habilitation, Mitglied der Nationalen Front war, 61 der erfolgreichsten unter den aktivistischen Rechtsgruppierungen, 62 die in ideologischer und teilweise auch in organisatorischer Hinsicht (das >Führerprinzip< allerdings wurde als unschweizerisch abgelehnt) der NSDAP in vielem nahestand. 58
59 60 61
62
Die bisherigen Zitate in dieser Reihenfolge aus E. Staiger, Dichtung (Anm 57), S. 157— 160. Ebd., S. 162. Ebd., S. 165f. Julian Schütt, Germanistik und Politik. Schweizer Literaturwissenschaft in der Zeit des Nationalsozialismus, Zürich 1996, S. 57f. und S. 64f. Beat Glaus, Die Nationale Front. Eine Schweizer faschistische Bewegung 1930-1940, Zürich u.a. 1969, S. 375, gibt als Schätzung des Mitgliederbestandes auf dem Höhepunkt um 1935 die Zahl von 9200 an, davon 2500 in der Stadt Zürich (knapp drei Prozent der Wahlberechtigten). Vgl. auch Klaus-Dieter Zöberlein, Die Anfange des deutschschweizerischen Frontismus. Die Entwicklung der politischen Vereinigungen Neue Front und Nationale Front, Meisenheim 1970.
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Nach dem Austritt aus der Nationalen Front hat Staiger am 9. Februar 1935 in seiner öffentlichen Antrittsrede als Privatdozent über Die deutsche Literaturwissenschaft und die Gegenwart gesprochen 63 und sich zu der Überzeugung bekannt, »daß die Literaturwissenschaft überhaupt eine praktische Sendung habe«: sie stehe im Dienst »des Geistes, der lebendig macht«. »Und ich glaube in der Tat, daß nur das Erlöschen dieses Bewußtseins, dieser Demut und dienenden Treue einen so katastrophalen Sturz ihrer Geltung zeitigen konnte, wie man ihn heute in Deutschland erlebt, daß man nur deshalb gezwungen ist, den verlorenen Anschluß nun hastig und würdelos wieder zu suchen, weil man das Ethos einer echten Verbundenheit gegenüber dem Ganzen verleugnet hatte«. Die Literaturwissenschaft erfülle ihre praktische Sendung nicht, wenn sie »die große Vereinfachung aller Probleme, wie sie das politische Leben braucht«, mitmache; vielmehr sei eine »Besinnung auf die unerschöpflichen Kräfte des Menschen, Arbeit an jenem Inventar seiner inneren Möglichkeiten« »heute mehr denn je gerade von schweizerischen Vertretern der deutschen Literaturwissenschaft zu erwarten. Denn wer soll den Dienst am ewigen Bilde des Menschen noch versehen, wenn nicht wir in der Schweiz es tun, die wir noch nicht gezwungen sind, nur auf das nächste beste zu starren und mit verkrampfter Energie die Last des Augenblicks zu stemmen?« Das »Element der Gegenwart« sei die Gefahr, und die Literaturwissenschaft könne ihre »Solidarität mit der Gegenwart« nicht besser bezeugen als dadurch, daß sie »in der deutschen Literaturgeschichte den Geist« aufsuche, »wo er bedroht ist, in den heißesten Zonen der Gefahr«, und der Gegenwart Lösungen zeige, die »tiefer und gültiger sind als die, die sie sich selbst zu geben vermöchte«. Dann werde »auch das Schöne« »in seiner lichten und stillen Ruhe nicht mehr als ruchloses Fest im krachenden Sturz einer Welt erscheinen, nicht mehr als subtile Flucht aus der Brutalität der Gegenwart, sondern als das, was es eigentlich ist, als einer der größten Siege des Menschen über die Angst und über die Not«. Ob der Versuch gelinge, auf diese Weise das »Reich des Geistes« vor dem Untergang zu retten, sei alles andere als sicher. »Nach wie vor bleibt der Erfolg unseres Tuns überaus fraglich. Die Zeichen des Himmels stehen böse, und die Hoffnung ist gering«. Dieses Programm, den lebendig machenden Geist stellvertretend für die (dazu unwilligen oder unfähigen) deutschen Kollegen außerhalb des Deutschen Reiches wach zu halten und »Forderungen an das gegenwärtige Leben« zu stellen, statt sich selbst »der Forderung des Tages gehorsam« zu beugen, - es weist unverkennbare Ähnlichkeiten auf mit den oppositionellen Proklamationen eines anderen, besseren, wahren Deutschland im ganzen politischen Spektrum der deutschen Exilliteratur, nicht zuletzt darin, daß es politische Ohnmacht (gegenüber den Ereignissen in Deutschland) zur Voraussetzung hat. Indem aber Staigers Programm eines für die deutschschweizer >deutsche< Literaturwissenschaft in ihrem Verhältnis zu Deutschland ist, hat es zugleich noch einen Inlandaspekt: es ist die Absage an das eigene politische Engagement in der Nationalen Front, die die Schweiz nach dem Vorbilde
63
Der bekenntnishafte, programmatische Schlußteil ist unter demselben Titel abgedruckt in der Neuen Zürcher Zeitung, Nr. 407 vom 10.3.193 5. Daraus die folgenden Zitate.
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Deutschlands umgestalten wollte, und also an die grundsätzliche Opposition gegen die Politik der etablierten Parteien. Schließlich wird es nicht verfehlt sein, in diesem Programm auch noch einen grundsätzlichen Verzicht darauf zu sehen, als Literaturwissenschaftler (und das heißt auch: mit der Autorität einer akademischen Stellung) direkt politisch Stellung zu beziehen. Jedenfalls hat Staiger sich als Literaturwissenschaftler zunächst zu aktuellen Ereignissen nur unter Protest gegen Politisches oder unter dessen entschiedener Ausklammerung 6 4 und nach 1937 gar nicht mehr geäußert. Während bei Staiger eine zunehmende Distanz zum Nationalsozialismus und zu Politischem überhaupt zu verzeichnen ist, wird man bei Ermatinger, der schon in den 20er Jahren den »Vorwurf des Unpolitischen« 65 von der Literaturwissenschaft abzuwenden versucht und unter anderem deshalb auf seinen Wertungen bestanden hatte, gerade umgekehrt von einer abnehmenden Distanz zum Nationalsozialismus sprechen müssen, ohne daß es Anhaltspunkte für die Entwicklung seines Verhältnisses zur schweizerischen Politik gäbe. Bei Gastvorträgen und als Mitglied der offiziellen Zürcher Universitätsdelegation an den Jubiläumsfeierlichkeiten der Heidelberger Universität (1936) 66 hatte er wiederholt direkten Einblick in die deutschen Verhältnisse, der ihn offenbar nicht davon abgehalten hat, 1937 als Gastredner an der Reichstagung der Deutschen Christen in Erfurt aufzutreten. Obwohl das einigen Wirbel in der Schweizer Presse verursacht und ihn die Wahl zum Rektor der Universität Zürich gekostet hat, 67 finden sich noch 1939 in der dritten Auflage seiner Poetik 68 Änderungen und Zusätze, die die frühere Staigersche Ambivalenz in die Nähe der Eindeutigkeit bringen. In einer Änderung hat er das Beispiel für einen Schaffenden (Karl Marx) ersetzt durch ein aktuelleres (Adolf Hitler), 69 in einer anderen einen negativ bewerteten expressionistischen Lyriker
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1936 hat Staiger dagegen protestiert, daß die Besprechung von Heideggers Zürcher Vortrag >Vom Ursprung des Kunstwerks< (Neue Zürcher Zeitung, Nr. 105 vom 20.1.1936) mit einem unmißverständlichen »politischen Steckbrief« begonnen habe (Neue Zürcher Zeitung, Nr. 125 vom 23.1.1936; vgl. Schütt, Germanistik [Anm. 61], S. 124-126). 1937 hat er auf Einladung der (nationalsozialistischen) Deutschen Studentenschaft in Zürich über >Deutsch-Schweizerische Freundschaft im Geistesleben gesprochen, sorgfaltig jede politische Stellungnahme vermeidend, vielmehr so, »wie wenn ein Deutscher und ein Schweizer sich von einer aufgeregten politischen Diskussion zurückziehen und in der Stille, am Ufer des Sees vielleicht bei einem Glase Wein von der alten Liebe sprechen, die ihre eigene, im tiefsten unanfechtbare Wahrheit hat« (Emil Staiger, Deutsch-Schweizerische Freundschaft im Geistesleben, in: Schweizerische Monatshefte 17 [1937/38], S. 132-141, S. 132).
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E. Ermatinger, Krisen (Anm. 8), S. 27. J. Schütt, Germanistik (Anm. 61), S. 74-77. Ebd., S. 78-81. Emil Ermatinger, Das dichterische Kunstwerk. Grundbegriffe der Urteilsbildung in der Literaturgeschichte. Dritte neubearbeitete Auflage, Leipzig und Berlin 1939. E. Ermatinger, Kunstwerk, 1. Aufl. (Anm. 12), S. 7: »So ist Karl Marx der Gesellschaftsordnung der Bourgeoisie entgegengetreten, indem er sie durch das sozialistische Weltbild seiner eigenen Seele abzulösen versuchte«. - E. Ermatinger, Kunstwerk, 3. Aufl. (Anm. 68), S. 7: »So hat Adolf Hitler aus der Not der Nachkriegszeit sein Weltbild des
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69
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ausgetauscht gegen einen zusätzlich als jüdisch markierten. 70 N o c h deutlicher wird in dieser Hinsicht ein Zusatz über die Literatur der Weimarer Republik, 71 am deutlichsten der neue Schluß des weitgehend umgearbeiteten Kapitels über die Gliederung der Weltanschauungen, der den »Sieg der nationalsozialistischen B e w e g u n g « ohne Zeichen einer Distanzierung als Wiederkehr des Glaubens »an die Macht der Idee« deutet. 72
5. Ermatingers Konzeption war schon 1933 längst abgeschlossen; seine Aktivitäten und Stellungnahmen mit politischen Implikationen waren auslandsbezogen und haben sich erst später angelagert, ohne von der Konzeption her gefordert zu sein und ohne in sie integriert zu werden. Staigers Engagement in der inländischen Politik und seine auslandsbezogenen ambivalent politischen Äußerungen dagegen gehen seiner Konzeption um mehrere Jahre voraus, jedenfalls ihrer elaborierten und gefestigten Form von 1939. 73 Bei allen Unterschieden ist die Relation von Konzeption und politischem Engagement doch dieselbe: Divergenz. Und das dürfte
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Nationalsozialismus geschaffen und in die Wirklichkeit umgesetzt, Vorhandenes zum Teil verneinend, zum Teil neu belebend«. E. Ermatinger, Kunstwerk, 1. Aufl. (Anm. 12), S. 15: »Es gibt dichterische Gebilde, in denen eine künstliche Unklarheit waltet, z.B. die Schöpfungen mancher expressionistischer Symbolisten, etwa des Lyrikers Albert Ehrenstein«. - E. Ermatinger, Kunstwerk, 3. Aufl. (Anm. 68), S. 15: »Es gibt - in Gebilden jüdischer Expressionisten, z.B. Franz Werfeis - eine bewußt erstrebte Unklarheit, die nicht Gefühl, sondern nur Aufhebung der Verstandesordnung, also auch rational ist«. E. Ermatinger, Kunstwerk, 3. Aufl. (Anm. 68), S. 143: »Etwas ganz anderes aber ist es, wenn seit dem Kriege der deutsche Roman wie die deutsche Lyrik durch jüdische Schriftsteller mit geschlechtlichen oder verdauungspsychologischen Unflätigkeiten aller Art beschmutzt worden sind - man denke etwa an Alfred Döblins >Berlin Alexanderplatz< (1930) - und nichtjüdische gar diese >Mode< mitmachten, um ja nicht rückständig zu bleiben«. E. Ermatinger, Kunstwerk, 3. Aufl. (Anm. 68), S. 128: »Der Sieg der nationalsozialistischen Bewegung löste dann, scheinbar über Nacht, wieder den Glauben an die Macht der Idee aus. Weltanschauung, vorher nur geistiger Besitz einzelner, wurde wieder stürmisch bekanntes Gut der Massen. Die Idee des Volkes, des Staates brach in den früher ängstlich gehüteten Bezirk des kirchlichen Lebens ein, erfüllte, im Zeitgeschehen erglüht, sich hier mit dem Glänze der Heiligkeit, durchdrang das kirchliche Leben mit neuer Triebkraft und erhob das Bewußtsein des Deutschtums zur Religion. So wandelte sich von Grund auf auch der Gehalt und die Form der Dichtung. An die Stelle der feinfingerig abtastenden, am Ort trippelnden, psychologischen Literatur trat die starkknochige, in derben Schuhen ausschreitende Weltanschauungsliteratur. Was sie zu leisten vermag, darüber zu urteilen, ist die Zeit noch nicht gekommen«. Staigers Dissertation (Annette von Droste-Hülshoff, Horgen-Zürich und Leipzig 1933) und Habilitationsschrift (Der Geist der Liebe und das Schicksal. Schelling, Hegel, Hölderlin, Frauenfeld und Leipzig 1935) stehen der Ermatingerschen Konzeption noch näher und weisen noch nicht die späteren konzeptionellen Differenzierungen und Pointen auf.
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als Ergebnis dieser Fallstudie verallgemeinerungsfähig sein: literaturwissenschaftliche Konzeption und politisches Engagement liegen durchaus nicht notwendigerweise auf einer Linie und divergieren nicht selten so entschieden, daß es sich verbietet, umstandslos von der einen auf das andere (oder umgekehrt) zu schließen. Kann angesichts dessen ein Manko oder Versagen auf der einen Seite die andere diskreditieren? Und wenn ja: warum eigentlich nur ein politischer Defekt die Konzeption und nicht auch umgekehrt ein konzeptioneller Defekt das politische Engagement? Es hat auch keinen Sinn, zur Abwehr einer solchen - wie auch immer zu beurteilenden - Divergenz eine Einheit der Person in allen ihren Werken und Taten zu fordern, da man ja mit dieser formalen Forderung allein nicht ausschließen kann, daß es eine nationalsozialistische Einheit wäre wie bei Leuten vom Schlage Franz Kochs oder Heinz Kindermanns. Es gibt keine konzeptionellen Sicherungen gegen unerfreuliches oder gar katastrophales politisches Verhalten und keine konzeptionellen Garantien für das Gegenteil. Die Maßstäbe zur Beurteilung literaturwissenschaftlicher Konzeptionen und politischen Engagements sind denn auch so evident unterschiedlich wie die Ausbildung zur wissenschaftlichen und politischen Verantwortlichkeit. Es sollte demgemäß nicht allzu schwer fallen, eine alte wissenschaftliche Tugend zu bewähren und Unterscheidbares unterschieden zu halten.
Gilbert Merlio
(Paris)
Die französische Germanistik und ihr Verhältnis zum nationalsozialistischen Deutschland
Es gehört zu den Merkmalen der französischen Germanistik, daß sie sich von Anfang an gleichsam als die Wissenschaft von Germanien betrachtet hat. Deshalb hat sie niemals mit der reinen Philologie, das heißt mit dem Studium der deutschen Literatur oder der deutschen Sprache fürlieb genommen, sondern hat sich ebenfalls der deutschen Geschichte, der deutschen Politik, der deutschen Wirtschaft und der deutschen Gesellschaft zugewendet. In einem gewissen Sinne ist die französische Germanistik die Erbin von Madame de Stael geblieben. Sie hat stets, wahrscheinlich in höherem Grade als ihr deutsches Pendant, die deutsche Romanistik, ihre Mission darin erblickt, den Franzosen Deutschland als Gesamtphänomen verständlich zu machen. Der historische Hintergrund hat sie selbstverständlich dazu angeregt. Das liebenswürdige Bild Deutschlands der Madame de Stael wurde spätestens nach der symbolischen und für Frankreich blamablen Reichsgründung in Versailles aufgegeben. Die deutsche Macht begann damals - und so ist es immer noch heute - den Franzosen zugleich Bewunderung und Angst einzuflößen. Wegen der schrecklichen deutsch-französischen Konflikte, die die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt haben, konnten die französischen Germanisten nicht umhin, engagierte Zuschauer zu sein. Fast jeder Germanist der Vergangenheit hat danach gestrebt, dem zeitgenössischen französischen Publikum sein De l'Allemagne zu liefern. In diesem Sinne erscheint das große Buch von Edmond Vermeil L'Allemagne. Essai d'explication {Deutschland. Versuch einer Erklärung), Anfang 1940 herausgekommen und gleich nach dem deutschen Einmarsch in Frankreich aus den Buchhandlungen zurückgezogen und eingestampft, als geradezu paradigmatisch für eine bestimmte Produktion der französischen Germanistik, deren Weg in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit immer neuen, immer aktualisierten Versuchen dieser Art abgesteckt ist. Daß solche Synthesen trotz ihres wissenschaftlichen Anspruchs allzusehr das politische Erkenntnisinteresse des Autors erkennen lassen und meistens in stereotype Darlegungen über das deutsche Wesen verfallen, ist wohl der Grund für ihr Verschwinden. Diese Gesamtdeutungen zeugen nicht nur von der Schwierigkeit, unter den gegebenen historischen Umständen eine wertfreie Wissenschaft zu betreiben, sondern auch davon, daß die Aussagen über Deutschland zugleich immer Aussagen der Franzosen über sich selbst gewesen sind. Das kann man bei den Gründervätern der französischen Germanistik schon feststellen. Die Niederlage des Jahres 1871 bedeutete für Frankreich ein unangenehmes Erwachen. Was ist denn dieses Deutschland, das uns eben so leicht besiegt hat? Damals begann Deutschland schon zum Vorbild zu werden. Man wollte seine Methoden studieren und nachahmen, um seine Macht zu überbieten und sich zu
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revanchieren. So wurde die französische Universität nach deutschem Muster umgebaut. In seinem Buch über Bismarck (1899) 1 kann sich der sozialistisch eingestellte Charles Andler nicht einer gewissen Bewunderung erwehren. Er zeichnet ein Bild von Bismarck, das in mancher Hinsicht das des »weißen Revolutionärs« von Lothar Gall vorwegnimmt. Er ignoriert selbstverständlich Bismarcks unsympathische Seiten nicht, seine »Philosophie der Stärke«, seinen Franzosenhaß, seine soziale und politische Demagogie. Schließlich drückt er aber doch die Hoffnung aus, daß ein »liberales« Einverständnis zwischen Deutschland und Frankreich entstehen könne. 2 Der eher konservativ eingestellte Henri Lichtenberger schildert in seiner Gesamtdarstellung L'Allemagne moderne (1907) ein Deutschland, wo militärische und zivile Tugenden eine glückliche und wirksame Ehe eingegangen sind. Hier schließen Disziplin und nationale Solidarität weder Initiativgeist noch individuelle Freiheit aus. Trotzdem bemerkt Lichtenberger angst- und sorgenvoll: »Der Wille zur Macht überwiegt allmählich in der deutschen Seele den Willen zur Kultur«. 3 In seiner Habilitationsschrift (1895) hatte Andler dem Ursprung des nationalen Sozialismus in Deutschland nachgespürt und seine Überzeugung mitgeteilt, daß Deutschland in den nächsten Generationen sozialistisch sein würde. Woran er aber gleich die bange Frage anknüpfte: Wird es auch dazu demokratisch sein? Es beginnt sich damals das abzuzeichnen, was Michel Espagne und Michael Werner eine »Germanistik des Verdachts« 4 genannt haben, eine Germanistik, die dann ab dem Ersten Weltkrieg zur vollen Entfaltung gelangen wird. Im Jahre 1914 stellt Andler fest, daß der deutsche Sozialismus ein imperialistischer geworden ist, und publiziert in vier Bänden die Dokumente des Pangermanismus.5 Dieser Rückgriff auf den Beginn der französischen Germanistik ist so unnütz nicht, wie es vielleicht den Anschein haben könnte. Denn er erlaubt die manchmal recht stereotypen Denkstrukturen im Keime zu erfassen, die den zukünftigen Analysen unserer Germanisten auch im Hinblick auf das nationalsozialistische Phänomen zugrundeliegen. Von zentraler Bedeutung ist in dieser Hinsicht die Unterscheidung zwischen einem guten und einem schlechten Deutschland. Das gute Deutschland ist das kosmopolitische Deutschland der Dichter und Denker, das Deutschland der humanistischen Bildung, der Literatur, der Philosophie, der Künste, insbesondere der Musik, das in Lehre und Forschung unserer Germanisten den größeren Platz einnimmt. Das schlechte Deutschland ist selbstverständlich die moderne nationalistische und imperialistische Großmacht. Diese Dichotomie hindert die französischen Germanisten nicht daran, immer wieder der Versuchung zu erliegen, gleichsam metaphysische Erklärungen zu geben. Auch der aggressive Imperialismus ist
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Charles Andler, Le Prince de Bismarck, Paris 1899. Ebd., S. 363. Henri Lichtenberger, L'Allemagne moderne, Paris 1907, S. 386. Les etudes germaniques en France (1900-1970).Hrsg. von Michel Espagne und Michael Werner, Paris 1994, S. 8. Collection de documents sur le pangermanisme, publies sous la direction de Charles Andler, Paris 1915-1919, 4 Bände.
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schließlich auf die deutsche Seele zurückzuführen, eine Seele, deren natürlichmystische Sentimentalität sich nun nicht mehr in naiv-romantischen Idyllen ausdrückt, sondern in der faustischen Romantik der Stärke und der Macht. Die französischen Germanisten geben sich manchmal einem negativen Germanenmythos hin, der an Agitprop grenzt. So zum Beispiel der Germanist aus Toulouse, Hippolyte Loiseau, der in einem kleinen Buch über den Pangermanismus 1921 schreibt: »Friedrich List, das ist der germanische Magen, der vor Freude schwillt vor verheißenen Beuten, die Zähne schleifend für zukünftige Beute, es ist der moderne Deutsche, der sich auf einmal des ganzen verlogenen idealistischen Flitterwerks entledigt, mit dem er, sich selber täuschend, seine uralte Raubgier verkleidete, es ist der Deutsche, der sich daran schickt, wieder zum Urgermanen zu werden, zum Germanen des freudigen Ansturms auf die fetten sonnigen Landstriche. Nun heißt er aber anders, er ist nicht mehr der Germane schlechthin, er ist der Pangermanist«. 6 Freilich lassen es unsere Germanisten bei solchen skurrilen, aber für die damalige Stimmung recht symptomatischen Auslassungen nicht bewenden. Gleich haben sie aber ein Erklärungsschema zur Hand: Das heutige Deutschland ist ein verpreußtes Deutschland. Deutschlands Weg in die Moderne ist charakterisiert durch den Sieg Potsdams über Weimar, des realistischen Nordens über den nicht zuletzt aufgrund des französischen Einflusses kultivierten Süden. Dieser Sieg Preußens ergibt sich aus geographischen und historischen Notwendigkeiten. Deutschland, dieses Land der Mitte mit fluktuierenden Grenzen, brauchte die preußische »disziplinierende Armatur« (so Edmond Vermeil), um zur modernen Staatsnation zu werden. Das militarisierte und bürokratisierte Preußen stellte außerdem ein System dar (die Idee ist schon im ersten Buch von Lichtenberger zu finden), das den Bedürfnissen der technischen Modernisierung ganz besonders angepaßt war. Dem Preußentum kam nun der Lutheranismus mit seiner Forderung des zivilen Gehorsams zu Hilfe. Friedrich II. und Luther erklären das moderne Deutschland. Hier ging die Modernisierung auf Kosten der Kultur und der Demokratie. Eine solche Beschreibung des deutschen Sonderwegs wird Edmond Vermeil, ein Schüler Andlers, in seinen großen Büchern der dreißiger Jahre am konsequentesten durchführen. Sie mag allzu systematisch und simpel vorkommen. Wenn man es wohl bedenkt, ist sie aber weitgehend nur das Negativ von Vorstellungen, die unsere Germanisten bei damaligen deutschen Historikern oder Ideologen vorfanden. Das Fremdbild entspricht hier unter umgekehrtem Zeichen dem Selbstbild der Deutschen. Vermeils Deutschland-Bild schöpft aus den Schriften Thomas Manns, Troeltschs, Pleßners, Rauschnings u.a. Charles Andler scheint zum Beispiel die Kategorien der deutschen Kulturpessimisten in sein Erklärungsmuster zu übertragen, wenn er die Gegenüberstellung von wahrer deutscher Kultur und preußischer Zivilisation folgendermaßen skizziert: »Aber die echt preußische Kultur hat mit der deutschen Kultur des Mittelalters nichts gemein, welche die großen mystischen Systeme hervorgebracht hat, aus Frankreich die Kunst der Kathedralen importiert
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Hippolyte Loiseau, Le pangermanisme. Ce qu'il est - Ce qu'il fut, Paris 1921, S. 295.
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hat und sich in dem angenehmen Leben der deutschen Städte der Renaissance, Nürnberg, Augsburg, Köln entfaltet hat, um dann in der deutschen Philosophie, in der deutschen Musik, im Humanismus der deutschen Klassik ihren Niederschlag zu finden. Preußen hat die wissenschaftlichen Methoden, die rationalistische Kritik, einen römisch-scharfen juristischen Geist, eine Sorge um die wirtschaftlichen, fiskalischen und sozialen Realitäten entwickelt, die das ganze Leben der Menschen mit größter Sorgfalt darauf ausrichtet, den größten Ertrag zu erbringen. Das ist die Mentalität von soldatischen Ansiedlern, die damit beschäftigt sind, unfruchtbares Neuland zu erschließen, die früheren Eigentümer zu verjagen und den einfachen, unraffinierten Wohlstand einer rohen Bevölkerung zu schaffen«. Die >Germanistik des Mißtrauens< weiß sich in eine Germanistik des (vorsichtigen und relativen)Vertrauens zu verwandeln. In den zwanziger Jahren setzen sich die französischen Germanisten, man möchte fast sagen: gemäß ihrer Berufung, fur die deutsch-französische Annäherung und Verständigung ein. Henri Lichtenberger ist Mitarbeiter der Carnegie-Stiftung und des französischen Vereins »Conciliation internationale«, deren Ziel die Völkerverständigung ist. Er steht in Kontakt mit deutschen Pazifisten wie Friedrich Wilhelm Förster. Frankreichs Politik zur Zeit der Ruhrkrise findet er ungeschickt. 1925 organisiert er den Besuch Thomas Manns in Paris, der seiner dann in der Pariser Rechenschaft mit einem freundlichen Porträt gedenkt. Ende der zwanziger Jahre unterstützt er als Germanist und durch seine zahlreichen publizistischen Tätigkeiten den »Geist von Locarno«. Er gehört zusammen mit Vermeil dem Comite franco-allemand d'Information et de Documentation (genannt Mayrisch-Komitee) an. Vor der sich zuspitzenden Krise richtet dieses Komitee im Jahre 1931 einen Appell zur Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich und zur Rettung des Friedens und der europäischen Zivilisation an die Öffentlichkeit. Vermeil hat seinerseits auch Poincare in den Verhandlungen mit Stresemann als Berater beigestanden. Er hatte in einem Buch über die Weimarer Verfassung im Jahre 19237 schon betont, das Gelingen einer deutschen Demokratie läge im Interesse Frankreichs. Nun ist Vermeil in dieser Hinsicht skeptisch. Die Weimarer Verfassung weise Mängel und Widersprüche auf, und, schlimmer noch, die politische Kultur Deutschlands sei durch ein demokratisches Defizit gekennzeichnet. Diese These nimmt Vermeil in einer kleinen Schrift wieder auf, die er im Jahre 1931 in der Schriftenreihe der Carnegie-Stiftung für internationalen Frieden Publications de la Concilisation internationale veröffentlicht: Deutschland und die westlichen Demokratien. Die allgemeinen Bedingungen der deutsch-französischen Beziehungen.8 Hier legt er dar, daß Deutschland ein politisch unvollendetes, ja ein politisch krankes Land sei (S. 46 und S. 64), das stets zwischen territorialem Partikularismus und Einheit schwanke und nie zum klaren inneren nationalen Willen gelangt sei. Die Einheit oder die Einigkeit, die die Deutschen im inneren nicht besäßen, suchten sie draußen, das heißt in einer 7
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Edmond Vermeil, La constitution de Weimar et le principe de la democratie allemande. Essai d'histoire et de Psychologie politiques, Paris 1923. Edmond Vermeil, L'Allemagne et les democraties occidentales. Les conditions generates des relations franco-allemandes, Paris 1931.
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aggressiven oder, wie zu jener Zeit, revisionistischen Außenpolitik. Dazu komme noch, daß das defekte System von Weimar ihnen nicht erlaube, zur Demokratie zu finden. In diesem Zusammenhang erklärt Vermeil die Krise von 1930 und den Aufstieg des Nationalsozialismus. In dieser Bewegung erblickt er nur eine vulgärdemagogische Variante des Pangermanismus, wie ihn sein Lehrer Charles Andler mit seinen Dokumenten dem französischen Publikum vorgestellt hat: »Sie popularisieren heute den Pangermanismus der Vorkriegszeit. A. Hitler nimmt als Schüler H. S. Chamberlains alle alten Thesen wieder auf, die den Geist Wilhelms II. beeinflußt haben« (S. 48). Um die Gegenwart zu erklären, holt Vermeil immer weit aus und entwirft gleichsam ideal-typische Interpretationsmuster, die manchmal recht klischeehaft daherkommen: hier der französische Geist, die französische Ratio, der französische Universalismus und Humanismus; dort die deutsche Seele, der deutsche Irrationalismus und Relativismus, der deutsche Wille zur Macht usw. usf. Vielleicht weil er einen so schroffen Gegensatz zwischen beiden Völkern bzw. Volksgeistern postulierte, gab Vermeil seine Mitwirkung an der Revue d'Allemagne schon 1929 auf. Diese von Germanisten geleitete Zeitschrift war 1927 im Geist von Locarno als Pendant der Deutsch-Französischen Rundschau gegründet worden, um zur deutsch-französischen Verständigung beizutragen. In einem Aufsatz über die Psychologie der deutsch-französischen Annäherung 9 kritisierte Henri Lichtenberger die systematische Gegenüberstellung der Nationalcharaktere und hob das Gemeinsame hervor. Was ihn aber nicht daran hinderte, gleich darauf in einer Psychologie des Faschismus im europäischen Zusammenhang nach einer deutschen Untersuchung 10 selbst den Gegensatz zwischen romantischem Kulturpessimismus und rationalistisch-aufklärerischem Optimismus zu unterstreichen, wobei er weitgehend die traditionelle Antithese zwischen Deutschland und Frankreich wiederfand. Mit Recht stellt Jacques le Rider in seiner Analyse der Zeitschrift Revue d'Allemagne fest, daß der Aufstieg des Nationalismus und die Machtergreifung hier nur mangelhaft kommentiert wurden. Das Problem des Rassismus und des Antisemitismus wurde kaum gestreift. Nicht nur die Verallgemeinerungen, sondern auch der Wille, in dieser Krisenzeit die deutsch-französische Zusammenarbeit aufrecht zu erhalten, verhindern eine hellsichtige Erfassung der spezifischen Gefahr, die der Nationalsozialismus darstellt. Bis zur Einstellung der Zeitschrift im Jahre 1933 wurde bis auf wenige Ausnahmen der Ton der Beschwichtigung angeschlagen. Als ehrliche Makler ließen sich auch einige Germanisten wie etwa Henri Lichtenberger mindestens eine Zeit lang in die Politik der deutsch-französischen Annäherung einspannen, wie sie ab 1934 in den Deutsch-französischen Monatsheften/ Cahiers franco-allemands unter der Leitung der nationalsozialistisch eingestellten 9
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Revue d'Allemagne 2 (1929), S. 769-784. Über die Revue d'Allemagne siehe den Aufsatz von Jacques le Rider, La Revue d'Allemagne: les germanistes franfais, temoins et interpretes de la crise de la Republique de Weimar et du nazisme, in: Entre Locamo et Vichy. Les relations culturelles franco-allemandes dans les annees 1930. Hrsg. von Hans Manfred Bock u.a., 2 Bde., Paris 1993, S.363-374. Revue d'Allemagne 2 (1929), S. 207-216.
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Fritz Bran und Otto Abetz ins Werk gesetzt wurde. In diesem vom Dritten Reich finanzierten Unternehmen galt es vor allem, den Nationalsozialismus und seinen angeblich »internen« Nationalismus in den Augen der Franzosen akzeptabel zu machen. Bis auf wenige Ausnahmen wie Ernest Tonnelat haben die meisten französischen Germanisten zur Zeit des Dritten Reichs ihre Beziehungen zu Deutschland nicht unterbrochen. Sie akzeptierten weiterhin Einladungen zu Vorträgen und Lehr- oder Studienaufenthalten in Deutschland, auf die Gefahr hin, von der deutschen Propaganda instrumentalisiert zu werden. Die Berichte, die sie darüber schrieben, fallen im Nachhinein dadurch auf, daß sie selten sind und daß sie neutral gehalten sind.11 Diese Zurückhaltung erklärt sich wahrscheinlich durch den Willen, »Schlimmeres zu verhüten«, sich die Möglichkeit von Reisen nach Deutschland nicht zu verbauen und die deutsch-französische Zusammenarbeit, die man sozusagen berufsmäßig zu fordern hatte, so gut und so lange wie möglich aufrechtzuerhalten. Daneben darf man die Hilfe oder die Unterstützung nicht übersehen, die französische Germanisten, nicht nur Felix Bertaux, dessen Freundschaft mit deutschen Schriftstellern wie Heinrich Mann wohlbekannt ist, sondern auch Vermeil, Lichtenberger und andere, manchmal in Zusammenarbeit mit Exilorganisationen wie der Freien Deutschen Hochschule oder dem Schutzverband deutscher Schriftsteller, deutschen Emigranten in Frankreich zukommen ließen. Der erste Versuch einer umfassenden Deutung des Dritten Reichs stammt aus der Feder von Henri Lichtenberger. 1936 will er seine Landsleute über das Neue Deutschland informieren.' 2 Hitler hat soeben den Vertrag von Locarno gekündigt und seine Truppen ins Rheinland einmarschieren lassen. Dennoch kann man noch glauben, er möchte nur die Folgen des Versailler Diktats rückgängig machen. Lichtenberger will immer noch an seine Friedensbereitschaft glauben. Er stellt fest, daß entgegen der Aussagen der Emigrierten die Mehrheit des deutschen Volkes hinter ihm steht, ohne jene Deutschen zu ignorieren, »die untergetaucht sind und schweigen oder aus praktischen Gründen ihr Einverständnis mit dem Regime vortäuschen«. 13 Aber man sollte nun die Hoffnung aufgeben, Hitler sei nur provisorisch an der Macht. Er habe sich sowohl die Masse als auch die Elite gefügig zu machen gewußt. Es bleibe nur eines möglich: eine Verständigung mit ihm zu erzielen, obwohl der nationalsozialistische Rassismus vom französischen Universalismus so weit entfernt sei. Agree to disagree: so lautet nun die Formel Lichtenbergers, der gleichzeitig zu unaufhörlicher Wachsamkeit vor der deutschen Macht mahnt. Das Buch liefert auch eine treffende Analyse des nationalsozialistischen Aufstiegs zur Macht: Schwäche der demokratischen Parteien, Ressentiment gegen Versailles, Weltwirtschaftskrise, Ruin des Mittelstands, Kollusion zwischen Konservativen und Nationalsozialisten, Intrigen in der Umgebung von Hindenburg usw. Lichtenberger verurteilt aufs schärfste die Gleichschaltung bzw. Säuberung der deutschen Universitäten. Aber vor dem »Spartanismus« d. h. der Militarisie11
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Siehe den Beitrag von Dominique Bosquelle, Voyages et sejours de germanistes franfais en Allemagne dans les annees trente, in: Les etudes germaniques (Anm. 4), S. 251-266. Henri Lichtenberger, L'Allemagne nouvelle, Paris 1936. Ebd., S. 83.
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rung Deutschlands kann er sich einer gewissen Bewunderung nicht erwehren. Eine solche Disziplin täte in Frankreich not (hier vernimmt man selbstverständlich ein Echo der politischen Unruhen oder Umwälzungen im Frankreich der Volksfront!). Trotz der Warnung, die es enthält, will das Buch schließlich beruhigend oder gar versöhnend wirken: Unter dem braunen Hemd des Hitlertums lebe das ewige Deutschland weiter. Und dann stößt man auf diese erstaunlichen Sätze: »Das Hitlertum verwirft insbesondere die cäsaristischen Ambitionen eines Spengler, es strebt nicht nach Weltherrschaft, schert sich nicht um die Sendung des weißen Menschen oder um die Einigung Europas; es interessiert sich für das Schicksal seiner Rasse; es arbeitet an dem Wiederaufstieg Deutschlands nach den Zerstörungen des Krieges und den Prüfungen der Nachkriegszeit«. 14 Der Pazifist und deutsch-französische Mittler Lichtenberger kann über seinen eigenen Schatten so schnell nicht springen! Robert d'Harcourt ist seinerseits kein Pazifist. Während Lichtenberger wie viele andere Germanisten im Ersten Weltkrieg in der Abwehr gedient hat, hat er an der Front gekämpft, wo er schwer verletzt wurde. Patriot und Katholik, oder genauer gesagt Katholik und Patriot: diese beiden Merkmale fassen seine Persönlichkeit und den Sinn seines Engagements zusammen. Nachdem er sich wie fast alle Germanisten über literarische Themen habilitiert hatte, wurde er Professor am »Institut catholique in Paris«. Die Endkrise der Weimarer Republik und der Aufstieg des Nationalsozialismus machen ihn zum Journalisten, der in konservativen Zeitungen und Zeitschriften regelmäßig und mit großem Scharfsinn über die Entwicklung in Deutschland berichtet. Im Jahre 1936 publiziert er Das Evangelium der Stärke. Das Gesicht der deutschen Jugend im Dritten Reich}5 D'Harcourt geht nicht so sehr von allgemeinen Interpretationsmustern aus. Er reagiert auf die Ereignisse, trägt Zeugnisse und Dokumente verschiedenster Art zusammen, um ein möglichst anschauliches Bild der totalitären Zustände im Dritten Reich zu vermitteln. Nichtsdestoweniger hat er eine Deutung des Nationalsozialismus, die in mancher Hinsicht die These der Revolution des Nihilismus von Hermann Rauschning vorwegnimmt. Der Nationalsozialismus sei die Inkarnation des Bösen, und sein Erfolg resultiere aus einer »Verzweiflungsneurose«, die sich mancher Intellektueller (Gottfried Benn wird zitiert) und der deutschen Jugend angesichts der machtlosen Anarchie der Weimarer Republik bemächtigt habe. Ihnen bietet nun der Nationalsozialismus einen neuen Glauben an, einen Glauben an den Führer, an das Blut und an den Boden. Gerade diese neuheidnische Religion, dieses »Credo der heldischen Tat«, diese Romantik des Todes und des Opfers, dieses Evangelium der Stärke macht den Nationalsozialismus gefährlich. Während sich J. F. Angelloz noch 1938 in seiner Beschreibung einer Ordensburg seiner Werturteilsfreiheit rühmt, 16 stellt d'Harcourt fest, daß in diesen nationalsozialistischen Erziehungsanstalten inner-
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Ebd., S. 133. Robert d'Harcourt, L'Evangile de la force. Le visage de la jeunesse du Troisieme Reich, Paris 1936. D. Bosquelle, Voyages (Anm. 11), S. 263.
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halb von wenigen Jahren »das herrlichste Kampftier« 17 ausgebildet wurde. Angesichts dieser Fanatisierung der deutschen Jugend prangert er den »weichen Patriotismus« seiner Landsleute an: »Die Sicherheit ist ein Gut, sie darf nicht zum Altar werden«. 18 Während Lichtenberger noch im selben Jahr 1936 trotz der Feststellung grundsätzlicher Divergenzen für eine Fortsetzung der Kontakte mit dem nationalsozialistischen Deutschland plädierte, überschreibt d'Harcourt einen seiner Aufsätze: Verständigung mit Deutschland? Nein.19 Er wird in seinen Zeitungsartikeln nie müde, die Weichheit, ja die Feigheit der westlichen Demokratien, an erster Stelle Frankreichs, vor Hitlers Unternehmungen zu denunzieren. Als Katholik ist d'Harcourt insbesondere um das Los der katholischen Kirche in Deutschland besorgt. Schon in seinem Buch über das Evangelium der Stärke hatte er die vollkommene Unvereinbarkeit des christlichen Glaubens mit dem nationalsozialistischen Neuheidentum hervorgehoben und den Zermürbungskrieg erwähnt, den das Regime gegen die christlichen Jugendorganisationen und die katholischen Anstalten führte. Im Jahre 1938 veröffentlicht d'Harcourt ein Buch über die Katholiken Deutschlands, 20 wo er die Entwicklung der Beziehungen zwischen der katholischen Kirche und dem Nationalsozialismus von 1930 bis zur Enzyklika Mit brennender Sorge vom März 1937 nachzeichnet. Gebrandmarkt werden hier nicht nur die Lüge vom positivem Christentum, die Doppelzüngigkeit und der Zynismus, mit denen das Regime die Gleichschaltung der Kirchen, insbesondere der katholischen Kirche, verfolgt. Bei aller Sorge um das Los der verfolgten Priester und Gläubigen werden auch die Illusionen und Feigheiten der offiziellen Kirche, die Servilität der katholischen Presse zur Zeit der Selbstauflösung des katholischen Zentrums, der unverantwortliche Leichtsinn des Franz von Papen zur Zeit des Konkordats aufs schärfste verurteilt. D'Harcourt versteht, wie viele Katholiken - aus Angst vor dem Bolschewismus - einen Kompromiß mit dem Nationalsozialismus eingegangen sind. Er skizziert eine Art Totalitarismustheorie, die eine Verwandtschaft zwischen dem »Klima« in Hitler-Deutschland und dem »Klima« in Moskau feststellt, wobei seines Erachtens die sowjetische »Widerlichkeit« der nationalsozialistischen »Heimtücke« noch vorzuziehen sei. D'Harcourt freut sich über die päpstliche Enzyklika, die fortan jede Zweideutigkeit und Kompromißbereitschaft beseitigen soll, muß aber am Schluß seines Buches voller Enttäuschung die »Kapitulation des österreichischen Episkopats« vor dem Einmarsch von Hitlers Truppen in Österreich zur Kenntnis nehmen. D'Harcourts Enttäuschung ist um so größer, als er lange Zeit Österreich als den letzten Zufluchtsort des wahren Deutschtums (»le germanisme authentique«) betrachtet hat: »Österreich, das ist das Deutschtum ohne das Preußentum, ohne die Sprechchöre und die Lautverstärker, ohne diese Mechanisierung der Körper und der Seelen, ohne diese Vermassung [auf deutsch im Text], die diesen Kollektivis17 18 19
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D'Harcourt, L'Evangile (Anm. 15), S. 246. Ebd., S. 247. Sept, 24. April 1936. Über d'Harcourt siehe Gilbert Merlio, Robert d'Harcourt ou l'esprit de resistance in: Les etudes germaniques (Anm. 4), S.445 462 Robert d'Harcourt, Catholiques d'Allemagne, Paris 1938.
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mus der Seelen sehr gut bezeichnet und charakteristisch ist fur das Dritte Reich, es ist das Deutschtum ohne die antichristliche Einstellung von Herrn Rosenberg und den Antiklerikalismus von Herrn Goebbels«. 21 Österreich ist also das letzte Bollwerk gegen den nationalsozialistischen Totalitarismus, und d'Harcourt, der sich als konservativer Katholik von der Lösung des christlichen Ständestaates angezogen fühlt, zelebriert Dollfuß und Schuschnigg als Helden des österreichischen Widerstands gegen Hitler. Der Anschluß entrüstet ihn, wobei sein Zorn sich gegen sein eigenes Land wendet: »Um den Anschluß Österreichs zu verhindern, hätte man am Rhein handeln müssen.« Aber leider: »Die Volksfront war wichtiger als der Rhein«. 22 Man sieht es. Zur Zeit der sich verschärfenden Krise und der wachsenden Gefahr fallt d'Harcourt in das übliche Schema zurück: die Unterscheidung zwischen einem guten und einem schlechten Deutschland, dessen Geschichte logischerweise in den Nationalsozialismus mündet: »Man muß wiederholen, daß das Deutschtum oder genauer gesagt: das Preußentum zum Nationalsozialismus wie zu seinem natürlichen Ziel fuhrt.« 23 Der Nationalsozialismus bedeutet den Sieg des schlechten Deutschlands über das gute Deutschland, d. h. des preußisch-lutherischen Deutschlands des Nordens oder des Nordostens über das gute, den zivilisatorischen romanischen Einflüssen offene Deutschland des Südens bzw. des Südwestens. In den französischen Geistern spukt immer wieder die preußische Pickelhaube, sobald der germanische Vetter jenseits des Rheins bedrohlich wird! Diese jetzt überholten stereotypen Vorstellungen verhindern jedoch nicht bei d'Harcourt eine Hellsichtigkeit, die uns heute noch imponiert. Entgegen vielen Vertretern seines eigenen konservativen Lagers hat er das Münchner Abkommen als »die Stunde der Demütigung« strengstens verurteilt und den Grund für Hitlers damalige Überlegenheit wohl erkannt: »Die große Stärke von Hitler ist, daß er sich bei nur fiinfzigprozentigen Erfolgsaussichten zum Handeln entscheidet, während die Demokratien auf ihrer Seite neunzigprozentige Sicherheit verlangen. Die Demokratien scheuen das Risiko.« 24 Der Vertreter der großen Erklärungshypothesen und der These vom deutschen Sonderweg ist aber in einem ganz besonderen Grade Edmond Vermeil. Er ist auch derjenige Germanist, der sich in Frankreich am konsequentesten im Kampf gegen den Nationalsozialismus bzw. gegen den Faschismus engagiert hat. Im Jahre 1937 untersucht Vermeil die intellektuellen Wurzeln des Nationalsozialismus in einem Buch über die Theoretiker »der deutschen Revolution«, 25 das gewissermaßen als die erste Darstellung des Komplexes der sogenannten »Konservativen Revolution« gelten kann. Zusammengefaßt werden hier die Ideen derjenigen, die von den Vertretern einer geistigen Renaissance wie Rathenau oder von dem Thomas Mann der Betrachtungen bis zu den nationalsozialistischen Ideologen Hitler, Rosenberg, 21 22 23 24 25
L'Epoque,l. September 1937. Ebd., 5. Mai 1938. Ebd., 24. September 1939. Ebd., 14. Oktober 1938. Edmond Vermeil, Doctrinaires de la Revolution allemande, Paris 1937.
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Günther, Ley, Goebbels, Darre über »konservative Revolutionäre« wie Spengler, Moeller van den Bruck und die 7ai-Gruppe eine sogenannte deutsche Revolution als Krisenlösung vorgeschlagen haben. Daß der Nationalsozialismus in der Kontinuität der deutschen Geschichte gesehen werden muß, wird hier wieder einmal betont: »Der Nazismus ist eine vereinfachte Theologie und eine große Karikatur der geistigen Tradition Deutschlands. Wie kann man der Gefahr vorbeugen«? 2 6 Die zwei wichtigsten Faktoren dieses Sonderwegs sind das Preußentum und das Luthertum. Dieses, erklärt der Calvinist Vermeil, hat nicht nur den Untertanengeist in Deutschland gezüchtet, nicht nur durch die territoriale Zerstückelung den Nachholbedarf der verspäteten Nation genährt, es hat auch ein Volk von Theologen herangebildet, das auf jede Heilslehre gerne hört. Im Nationalsozialismus läßt sich das deutsche Dilemma oder das deutsche Übel wieder erkennen: das Schwanken zwischen dem romantisch-faustischen Herumschweifen im geistigen, politischen und territorialen Bereich und der preußisch-disziplinierenden »Armatur«. Vermeil greift ein von Goebbels gebrauchtes Wort auf, um den Nationalsozialismus in der Kontinuität der deutschen Geschichte zu definieren: »organisierte Romantik«. Und er erklärt, daß hier die deutsche Geschichte einen Abschluß findet: »Eine territoriale, militärische und politische Kontraktion, die die Gesellschaft an den Staat bindet, hat den Prozeß vollendet, der seit langem Deutschland zum totalitärem Staat und zur Autarkie führte«. 27 Wenn es einen Bruch gibt, dann mit den Kompromissen, die zuerst Bismarck und nach ihm die Weimarer Verfassung mit der demokratischen Tradition des Westens eingegangen waren. So entsteht der Eindruck, daß fur Vermeil bei einem so autoritätsbedürftigen Volk, bei dem »die Regierenden ihre Befehle erlassen und die Regierten arbeiten«, die Demokratie zum Scheitern verurteilt war. Diese politische »Kontraktion« bedeutet einen kulturellen Rückgang: »Was die Deutschen an Kohäsion gewinnen, verlieren sie an Kultur«. 28 Diesen Willen, eine Erklärung zu finden, rechtfertigt Vermeil durch die anwachsende deutsche Gefahr. Die Franzosen müssen lernen, die »deutschen Gehirne« zu durchschauen. Und in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre wird Vermeil nie müde, das französische Publikum aufzuklären. In einem Aufsatz über den sozialen Ursprung der hitlerschen Revolution aus dem Jahre 1935 29 entwickelt er eine Mittelstandstheorie, die an die von Theodor Geiger anzuknüpfen scheint. Zur Zeit der Volksfront tritt er dem sogenannten Wachsamkeitskomitee der antifaschistischen Intellektuellen (»Comite de vigilance des intellectuels antifascistes«) bei. Er hört nie auf, in verschiedenen kleinen Publikationen dieses Komitees oder in einem Bulletin, das er selbst in Straßburg herausgibt, die Wirklichkeit des Dritten Reiches und seiner imperialistischen und rassistischen Politik darzustellen. Bei dieser Aufklärungsarbeit erhält er in dieser letzten Phase unmittelbar vor dem Krieg die Hilfe von Lichtenberger und d'Harcourt. Nach der Blomberg-Fritsch-Krise bedauert 26 27 28 29
Ebd., S. 387 (letzter Punkt des Inhaltsverzeichnisses). Ebd., S. 39. Ebd., S. 15. Edmond Vermeil, Essai sur les origines sociales de la revolution hitlerienne, in: L'annee politique franijaise et etrangere, April 1935.
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Lichtenberger in einem Aufsatz über die Psychologie der deutschen Wehrmacht, daß die Armee nicht gegen Hitler rebelliert hat, was »weniger Blut gekostet hätte, als es kosten wird, um im Deutschland von morgen eine vernünftige Ordnung wiederherzustellen«. 30 In der Schriftenreihe Dokumente über Deutschland, die vom Sorlot-Verlag in den letzten Jahren vor dem Krieg herausgegeben wurde, veröffentlicht d'Harcourt im selben Jahr einen Artikel über die deutschen Ambitionen und Methoden. Angesichts von Hitlers Annexionen ruft er aus: »Die einzige Wohltat der Härte ist die Verhärtung des Willens, der sich ihr entgegensetzt«. 31 Vor denselben Annexionen, die den historischen Irrtum von München beweisen, fragt Vermeil seinerseits: »Braucht man so viele Katastrophen, um einen Staatsmann von dem zu überzeugen, was ehrliche Intellektuelle schon lange wissen?« 3 2 Vor solchem klarsichtigen Engagement ist man wohl geneigt, unseren Germanisten ihre heute manchmal allzu verallgemeinernd vorkommenden Vorstellungen und ihre »Wesenskunde« zu verzeihen! Mit dem deutschen Sieg im Frühling 1940 schlägt für die französische Germanistik die Stunde der Gleichschaltung. 33 Die Bücher von Andler, Vermeil, d'Harcourt werden verboten. Auch ein kleines Buch wie die Geschichte der deutschen Literatur von J. F. Angelloz in der Sammlung Que sais-je? wird aus dem Handel zurückgezogen, weil die jüdischen Autoren darin nicht gesondert behandelt werden. Der Mediävist Ernest Tonnelat wird aus seinem Lehrstuhl im College de France entlassen. Genevieve Bianquis, die in Dijon tätig ist, bekommt vom VichyStaat unter dem Druck französischer rechtsextremistischer Gruppen ein Lehrverbot. Die Haltung der französischen Germanisten schwankt zwischen Widerstand, Anpassung und Kooperation, wenn nicht Kollaboration. Zur Resistance stoßen gleich zu Beginn Germanisten wie d'Harcourt, Pierre Bertaux und Pierre Grappin. Vermeil flieht nach London. Viele, wie zum Beispiel die Germanisten des wieder deutsch gewordenen Elsaß-Lothringens werden ins Gebiet des Vichy-Staates versetzt, nach Clermont-Ferrand oder nach Grenoble wie Robert Minder, der 1940 in dieser Stadt eine »Gastprofessur« bekommt. Minder, der wenig Sinn für den »Aktivismus« hatte, wie er es später Rita Thalmann anvertraute, leistete auf seine Weise Widerstand, indem er in seinen Veranstaltungen oft über Heine las oder Texte behandelte, die von der Französischen Revolution inspiriert waren. In Grenoble begann Minder die Arbeit an seinem erst 1948 erschienenen Buch Allemagnes et Allemands. Essai d'histoire culturelle, wörtlich übersetzt: Deutschländer und Deutsche. Versuch einer Kulturgeschichte, in dem er unter Beibehaltung des klassischen Deutschland-Bildes nach Nadlers Methode eine Kulturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften entwirft. Ist das der Grund, weshalb der vorgesehene zweite Band nie erschienen ist?
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Henri Lichtenberger, La Psychologie de l'armee allemande, in: L'Allemagne contemporaine, April 1939, S. 71. Robert d'Harcourt, Ambitions et methodes allemandes, Paris 1939. Edmond Vermeil, Doctrinaires, Vorwort zur 2. Auflage, Paris 1939. Siehe den Beitrag von Rita Thalmann, La germanistique fran9aise ä l'heure de la mise au pas, in: Les etudes germaniques (Anm. 4), S. 345-356.
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Gilbert
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Nur wenige zweitrangige Germanisten sind Kollaborateure und willige Helfer der nationalsozialistischen Instrumentalisierung der französischen Germanistik unter der Leitung des Botschafters Otto Abetz und des Direktors des Deutschen Instituts Karl Epting geworden. Unter den renommierten Germanisten ist der Fall Edouard Spenle am peinlichsten. Er hatte sich schon 1903 über Novalis habilitiert, hatte 1910 ein Buch über Rahel Varnhagen veröffentlicht und 1934 eine kleine Darstellung des deutschen Denkens von Luther bis Nietzsche 34 verfaßt, die heute noch immer wieder neu aufgelegt und in unseren germanistischen Instituten empfohlen und benutzt wird. Hat seine Tätigkeit als »recteur d'academie« von Dijon in den dreißiger Jahren diesen Ästheten, der sich wie sein Lehrer Lichtenberger von der Nachtseite der deutschen Seele angezogen fühlte, irgendwie pervertiert? Im Vichy-Staat übernimmt er wiederum offizielle Funktionen. Er zeigt sich fasziniert von der Aufbruchsstimmung und vom Erfolg des neuen nationalsozialistischen Deutschlands. In einem Vortrag in der Sorbonne zeichnet er 1941 die Entwicklung der deutschen Universität seit dem Mittelalter nach und schildert ohne ein einziges Wort der Kritik die rassistische und utilitaristische Ausrichtung des nationalsozialistischen Bildungssystems. Wiederum, wie nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71, sollte Frankreich vielmehr in diesem Bereich von Deutschland lernen und, ohne den »universalistischen Horizont« seiner traditionellen Bildung aufzugeben, eine Synthese anstreben, die den Anforderungen der Gegenwart gerecht würde. So könnte endlich der von Nietzsche angekündigte gute Europäer entstehen. 35 Auf den »guten Europäer« kommt Spenle erneut im Jahre 1943 in seinem Buch über Nietzsche und das europäische Problem zu sprechen. 36 Man kann nicht sagen, daß er dabei Nietzsches Botschaft verrät oder verzerrt. Indem er aber bejahend über Nietzsches Kritik der modernen Bildung und Buchgelehrsamkeit, über seinen heroischen Nihilismus und über die von ihm als Krisenlösung vorgeschlagene »Züchtung« einer neuen Rasse von Ausnahmepersönlichkeiten referiert, gelangt er in eine gefährliche Nähe zu allzu zeitgemäßen Theorien und Methoden. Es gibt mildere Fälle wie den von Maurice Boucher. Wiederum ein Ästhet, der selbst dichtet und musiziert. Während des Krieges leitet er das germanistische Institut an der Sorbonne und ist als solcher dem Druck der deutschen Kulturbehörden (Otto Abetz und Karl Epting) selbstverständlich in besonderem Maße ausgesetzt. Und so läßt er sich in Unternehmungen einspannen, die zweifellos propagandistische Ziele verfolgen. Man findet zum Beispiel seinen Namen unter den Autoren eines Sammelbands, der anläßlich des hundertsten Todesjahres Hölderlins 1943 in Paris erscheint 37 und insgesamt den Dichter als den antiaufklärerischen völkischen Propheten des nationalsozialistischen Deutschlands darstellt. Boucher unterzeich-
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Robert Spenle, La pensee allemande de Luther ä Nietzsche, Erste Auflage, Paris 1934. Robert Spenle, Les universites allemandes dans le passe, dans le present in: Esquisses allemandes, Cahiers de l'Institut d'Etudes germaniques, Paris 1942, S. 135-181. Robert Spenle, Nietzsche et le probleme europeen, Paris 1943. Friedrich Hölderlin 1770-1943. Textes reunis et presentes sur l'initative de l'Institut allemand par Johannes Hoffmeister et Hans Fegers pour commemorer le centieme anniversaire de la mort du poete, Paris 1943.
Die französische Germanistik
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nete andererseits einige Rezensionen in der Zeitschrift von Karl Epting Deutschland-Frankreich.is Aber die Zusammenarbeit geriet schnell in Schwierigkeiten. Das deutsche Institut hatte Vertretungen in verschiedenen französischen Städten eröffnet. Es fanden sich Germanisten, die sich, nur weil sie auf diese Weise eine gewisse soziale Rolle in den betreffenden Städten spielen konnten, der Zusammenarbeit mit diesen lokalen Instituten nicht entzogen. So ein gewisser Larose in Bordeaux. Im Jahre 1944 wegen Kollaboration entlassen, spezialisierte er sich nach dem Krieg auf den Export von Bordeaux-Weinen nach Deutschland und wurde reich! Die französischen Germanisten veranschaulichen die Schwierigkeit, in Krisenzeiten angesichts der Gefahr eines aggressiven nationalsozialistischen Deutschlands eine wertfreie Wissenschaft zu betreiben. Der politische Hintergrund zwingt sie, ihre natürliche Rolle als Mittler gegen die des Warners und Mahners einzutauschen. Daß einige dabei ihre Mittlerfiinktion nicht gerne aufgaben, hat sie manchmal zu ambivalenten, wenn nicht verdächtigen Positionen verleitet. In ihrem Willen, den Franzosen Deutschland verständlich zu machen, haben sie manchmal dem nationalsozialistischen Deutschland und seiner Literatur bzw. »Kultur« ein Verständnis entgegengebracht, das uns im Rückblick viel zu nachsichtig, wenn nicht wohlwollend vorkommt. Die persönliche bzw. politische Einstellung der einzelnen Germanisten wirkte sich dabei selbstverständlich besonders stark aus. Aufgrund ihrer detaillierten Recherchen, insbesondere über die fuhrende Zeitschrift Revue germanique und deren Herausgeber Felix Piquet, entwirft deshalb Frau Decultot in ihrem Beitrag ein Bild, das weniger positiv ausfallt als das hier vermittelte, welches sich hauptsächlich auf die großen Deutschland-Interpretationen der französischen Spitzengermanisten stützt. Der Beruf eines Germanisten war in Frankreich zur Zeit des Dritten Reiches nicht leicht. Die französischen Germanisten waren oft hin und her gerissen zwischen der patriotischen Pflicht, ihre Landsleute vor dem Nationalsozialismus zu warnen und der Notwendigkeit, möglichst wissenschaftlich-objektive Untersuchungen zu liefern, zwischen ihrer Liebe zu Deutschland und ihrer Abneigung gegen die rassistische Diktatur, zwischen ihrer Absicht, den Frieden zu bewahren und der immer deutlicher werdenden Unvermeidbarbeit des Krieges. Die Notwendigkeit, ihre Landsleute über die »deutsche Frage« - und somit auch die deutsche Gefahr - aufzuklären, hat sie zu Deutungsmodellen greifen lassen, die uns heute überholt vorkommen mögen. Sie dachten meistens in den Kategorien des Nationalcharakters. Sie erscheinen uns heute als »rückwärtsgewandte Propheten«, als Vertreter einer Theorie des deutschen Sonderwegs, die nun wegen ihres engen Geschichtsdeterminismus mit Recht umstritten ist. Daß sie andererseits die Polaritäten zwischen Frankreich und Deutschland derart hervorhoben, ist auf den damaligen
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Einer der ständigen Mitarbeiter dieser zweisprachigen Zeitschrift ist Andre Meyer, ein »agrege d'allemand« (Oberstudienrat), der wohl der schlimmste Kollaborateur der »Zunft« gewesen ist.
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deutsch-französischen Antagonismus zurückzuführen. Im Zeichen der Verständigung konnten übrigens diese Polaritäten zu Komplementaritäten umgedeutet werden. Ihre Darlegungen, die im Einklang mit damaligen Methoden stehen (man denke an die sogenannte »Wesenskunde« des deutschen Romanisten Eduard Wechssler oder der germanistischen »Deutschkunde«), entsprechen sehr oft ähnlichen Schilderungen bei deutschen Autoren. Die Langlebigkeit solcher stereotypen Bilder und Vorstellungen beweist übrigens, daß sie mindestens ein Quentchen Wahrheit enthalten. Was man auch immer von ihrer Wissenschaft halten mag: bis auf wenige Ausnahmen und trotz einiger dubioser Haltungen und Stellungnahmen, zu denen sich manche haben verleiten lassen: Sie haben den richtigen Kampf geführt.
Elisabeth
Decultot
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Politische und hermeneutische Positionen der französischen Germanisten zwischen Hitlers Machtübernahme und dem Kriegsausbruch
Drei Gründe sind es, die eine eingehende Analyse der französischen Germanisten für die Erkundung der Auslandsgermanistik in der Zeit des Nationalsozialismus besonders interessant erscheinen lassen. Zunächst setzt ihre Eigenschaft als Germanisten prinzipiell eine gute Kenntnis der deutschen Verhältnisse voraus. Die französische Definition der Germanistik, wie sie namentlich Charles Andler seit dem Ende des 19. Jahrhunderts festgelegt hatte, unterscheidet sich von der deutschen dadurch, daß sie über das rein Literaturwissenschaftliche hinaus auch die Bereiche der Geschichte, Philosophie, Landeskunde umschließt, kurzum die deutsche Kultur im weitesten Sinne des Wortes zu ihrem Studiengegenstand macht. In diesem Sinne stand die Analyse der Ereignisse, die sich seit 1933 in Deutschland abspielten, grundsätzlich nicht außerhalb ihres Bereichs. Zweitens muß man die besondere Entwicklung der französischen Universität seit dem Ende des 19. Jahrhunderts beachten. Nach der französischen Niederlage von 1871 wird das deutsche Universitätssystem als Muster für die Reform der französischen Universität benutzt, deren Mängel - besonders im Bereich der Geisteswissenschaften - als eine der wichtigsten intellektuellen Ursachen des nationalen Zusammenbruchs betrachtet werden. 1 Die französische Germanistik ist naturgemäß eines der Fächer, in denen die Vorbildfunktion des deutschen Universitätssystems am ausgeprägtesten ist. Drittens bilden die französischen Germanisten eine der bevorzugten Zielgruppen der nationalsozialistischen Propaganda. Vom Deutschen Akademischen Austauschdienst wurden nach 1933 Gruppen- oder Individuaireisen von französischen Germanistik-Professoren und -Studenten nach Deutschland organisiert, so ζ. B. die Reise, die die Germanisten Maurice Colleville, Professor an der Universität Caen, Jean Fourquet, Assistent an der Universität Straßburg, und Genevieve Bianquis, Assistentin an der Universität Dijon, unter der Führung des DAAD durch ganz Deutschland im Juli 1934 unternahmen. Eine Reise, die Fourquet und Colleville, zu naiven Wortführern des »neuen Deutschlands« geworden, im offiziellen Organ Hochschule und Ausland beschrieben. 2 Einen weiteren Beweis für das Interesse des nationalsozialistischen Regimes an den französischen Germanisten liefern auch die zahlreichen Aufsätze Karl Eptings, Leiter der Zweigstelle des DAAD in Paris
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Vgl. Christophe Charle, La Republique des Universitaires, 1870-1940, Paris 1994, S. 22ff.; Claude Digeon, La crise allemande de la pensee frangaise (1870-1914), Paris 1959, S. 365ff. Maurice Colleville, Jean Fourquet und Paul Heyler, Der akademisch-pädagogische Austausch, in: Hochschule und Ausland, Heft 10, Oktober 1934, S. 57-60.
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seit 1934, und Karl Heinz Bremers, Leiter der Wissenschaft-Abteilung des Deutschen Instituts in Paris, über die ideologische Ausrichtung der wichtigsten Germanistik-Professoren in Frankreich. 3 D i e französischen Germanisten befinden sich in den Jahren 1 9 3 3 - 1 9 3 9
im
Spannungsfeld v o n widersprüchlichen Tendenzen und Kräften. Von einem w i s s e n schaftlichen Standpunkt aus sind sie z w i s c h e n der althergebrachten Bewunderung für die deutsche Wissenschaft und der A b n e i g u n g g e g e n die Produkte der neuen deutschen Geisteswissenschaften hin- und hergerissen, und in politischer Hinsicht z w i s c h e n der Ablehnung des nationalsozialistischen R e g i m e s und einer g e w i s s e n Bewunderung für die grundlegende Veränderung des östlichen Nachbarn. M e i n e Untersuchung wird sich im folgenden insbesondere an z w e i Perspektiven ausrichten. Z u m einen werde ich die politische Bewertung des N S - R e g i m e s durch die französischen Germanisten verfolgen, z u m anderen die Wandlung der w i s s e n schaftlichen und hermeneutischen Prinzipien der französischen Germanistik als Reaktion auf die neue nationalsozialistische Wissenschaft. D i e Auseinandersetzung mit Deutschland hat in der Tat nicht nur politische Gegensätze, sondern auch starke
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Das nationalsozialistische Regime und insbesondere die Vertreter der deutschen Kulturpolitik in Frankreich, Karl Epting und Karl Heinz Bremer, verfolgten die französische Germanistik mit besonderer Aufmerksamkeit. 1938 veröffentlichte Karl Epting unter dem Pseudonym Friedrich Langmuth einen Artikel über die französische Germanistik. Vgl. Friedrich Langmuth [= Karl Epting], Politische Wissenschaft in Frankreich, in: Geist der Zeit. Wesen und Gestalt der Völker, Heft 9, September 1938, S. 577-590. Dieser Artikel wurde 1941 von Karl Heinz Bremer fortgesetzt: Κ. H. Bremer, Replique allemande ä la conception franfaise de l'Allemagne, in: Regards sur l'histoire, Paris 1941, S. 153-180 (in der Reihe »Cahiers de l'Institut allemand«. Hrsg. von Karl Epting, Nr. 2), siehe besonders S. 167, 169, 178. Ein ähnliches Bild der französischen Germanistik entwirft K.H. Bremer in den Cahiers franco-allemands des Sohlgerkreises: Karl Heinz Bremer, Connaissance du voisin et collaboration, in: Cahiers franco-allemands, Januar-Februar 1941, S. 27-31. Über die Rolle Karl Eptings und Karl Heinz Bremers im Deutschen Institut in Paris, vgl. Eckard Michels, Das Deutsche Institut in Paris 1940-1944. Ein Beitrag zu den deutsch-französischen Kulturbeziehungen und zur auswärtigen Kulturpolitik des Dritten Reiches, Stuttgart 1993. Im allgemeinen äußern sich die Nationalsozialisten sehr kritisch über die französische Germanistik, der eine deutschfeindliche Ausrichtung unterstellt wird. Zum nationalsozialistischen Urteil über die französischen Germanisten in der DAAD-Zeitschrift Hochschule und Ausland (ab 1937 Geist der Zeit) kann man auch folgende Texte anführen: [Anonym], Frankreich setzt sich mit Deutschland auseinander, in: Hochschule und Ausland, Heft 11, November 1935, S. 55-65 (Kritik an Edmond Vermeil und Paul Levy); Hermann Gmelin, Das Deutschlandbild der Franzosen, in: Geist der Zeit, Heft 9, September 1938, S. 621-625 (Kritik an Charles Andler). Interessant ist, wie die deutsche Kritik an der französischen Germanistik von einigen französischen, dem NSRegime freundlichen Germanisten im Sinne einer »mea-culpistischen« Selbstbezichtigung wiederaufgenommen wird. Vgl. dazu den Artikel eines französischen Kollaborateurs, der als Deutschlehrer am Gymnasium von Reims tätig war: Andre Meyer, Les germanistes franfais et l'Allemagne, in: Deutschland-Frankreich. Vierteljahresschrift des Deutschen Instituts Paris. Hrsg. von Karl Epting, Schriftleiter: Karl Heinz Bremer, Heft 1, 1942, S. 65-78.
Politische und hermeneutische Positionen
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Unterschiede in der wissenschaftlichen Selbstdefinition der französischen Germanisten aufgedeckt.
1. Um die politische Reaktion auf den Nationalsozialismus und die Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges besser einschätzen zu können, bietet sich die Gegenüberstellung der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg mit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg an. Nach 1918 war das Bild der französischen Germanistik im Selbstverständnis der Germanisten von einem starken Patriotismus geprägt. Viele unter den bekanntesten Germanisten hatten ihre Kenntnis der deutschen Sprache und Kultur in den Dienst der antideutschen Propaganda gestellt, und ihr Beitrag zum Sieg war in der Presse sowie in den politischen Kreisen offiziell gewürdigt worden. Charles Andler und Henri Lichtenberger von der Sorbonne, Joseph Dresch aus Bordeaux hatten unter anderen im sogenannten 2. Büro des Generalstabs gearbeitet - d.h. in der Propaganda-Abteilung des Geheimdienstes. In dem 1922 erschienenen Buch A trovers les lignes ennemies berichtete Ernest Tonnelat, Professor in Straßburg, zusammen mit dem elsässischen Karikaturisten Hansi von seinen geheimdienstlichen Aktivitäten in der anti-deutschen Propaganda-Abteilung.4 Nach 1945 ist das Bild der französischen Germanistik ganz anders geprägt. Zwar zählt man unter den Germanisten einige aktive Widerstandskämpfer Edmond Vermeil, Pierre Grappin, Pierre Bertaux - , aber die Haltung der großen Mehrheit läßt sich etwa als eher vorsichtig und zurückhaltend bezeichnen. In einem Artikel aus dem Jahre 1948, in dem er eine Bilanz der französischen Germanistik seit der Jahrhundertwende zieht, drückt Joseph Dresch das aus der Kriegszeit entstandene Unbehagen deutlich aus.5 Mit auffallender Detailfulle hebt Dresch die wissenschaftliche Leistung der Germanisten - vornehmlich der AndlerSchule - bis zur Schwelle der dreißiger Jahre hervor, sowie ihren Einsatz im Ersten Weltkrieg. Von der wissenschaftlichen Produktion der dreißiger Jahre selbst wird hingegen wenig gesprochen, und über die Haltung der Germanisten gegenüber Deutschland zwischen 1933 und 1944 herrscht tiefstes Schweigen. Dem selben Schweigen begegnet man 1946 in den einführenden Artikeln der neu gegründeten Zeitschrift Etudes Germaniques. Als zentrales, wissenschaftliches Universitätsorgan der Germanistik ersetzt diese neue Zeitschrift funktional die 1939 eingegangene Revue Germanique. Keineswegs wird sie aber als deren Fortsetzung dargestellt. Ganz im Gegenteil: die Begründer von Etudes Germaniques (Vermeil, Bianquis, Tonnelat, Rouge, lauter Mitglieder der Germanistenvereinigung SEG Societe des Etudes Germaniques) betonen ihre völlige Neuartigkeit. Die ehemalige
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Emest Tonnelat, A travers les lignes ennemies. Trois annees d'offensive contre le moral allemand, Paris 1922. Joseph Dresch, Les etudes germaniques en France, in: Etudes Germaniques, Januar-März 1948, S. 37-43.
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Revue Germanique, die sich in den dreißiger Jahren einer politisch zurückhaltenden, ja sogar manchmal Deutschland gewogenen Haltung schuldig gemacht hatte, wird erst gar nicht erwähnt.6 In Rückgriff auf die »Gründergeneration« und vor allem auf die Andlersche Auffassung der Germanistik wird die Periode der dreißiger Jahre wieder ausgeklammert.7 Nach der ruhmreichen Periode 1890-1930 hat für die Germanisten ein Zeitalter angefangen, das man als ein Zeitalter des Verdachts bezeichnen könnte. Gerade die hier ausgeklammerten dreißiger Jahre wollen wir jetzt näher untersuchen. Schon ein kurzer Überblick über die Reaktionen auf die Machtübernahme im Jahre 1933 erlaubt es, sehr unterschiedliche Tendenzen innerhalb der Germanistik zu unterstreichen. 1933 wird in der Revue Germanique8 die Machtübernahme als solche nicht erwähnt. Der 30. Januar 1933 bleibt im Bereich des Unsagbaren: Um die direkte Bezeichnung der Machtergreifung zu vermeiden, greift Felix Piquet - emeritierter Professor der Universität Lille und Herausgeber der Zeitschrift regelmäßig auf Umschreibungen zurück wie »ein gewisses Ereignis« oder »die neuen Ereignisse«.9 Erst ab Mitte 1934 liefert die Revue im Namen einer immer wieder heraufbeschworenen Neutralität sachliche, unkommentierte, aber auch sehr unvollständige Nachrichten über das intellektuelle Leben in Deutschland.10 1934 wird ζ. B. von der Gleichschaltung im deutschen Verlagswesen folgenderweise berichtet: Während gewisse Zeitungen und Zeitschriften verschwinden, die sich zwar als altehrwürdig, aber auch als unfähig erwiesen haben, sich zu verändern und an die neuen Tendenzen anzupassen, werden andere hingegen gegründet, die dazu bestimmt sind, das neue Reich in all seinen Aspekten dem Publikum nahezubringen. 11
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Jean-Franiois Angelloz, Presentation de la Societe des Etudes Germaniques, in: Etudes Germaniques, Januar-März 1946, S. 1-2. Bezeichnenderweise beginnt die erste Nummer der neugegründeteten Zeitschrift Etudes Germaniques mit einem Nachruf auf Charles Andler von Genevieve Bianquis. Vgl. G. Bianquis, Quelques souvenirs sur Charles Andler, in: Etudes Germaniques, JanuarMärz 1946, S. 3-25. In dem Nachruf auf Henri Lichtenberger von Julien Rouge, der in der zweiten Nummer derselben Zeitschrift erscheint, werden Lichtenbergers Aktivitäten in der anti-deutschen Propaganda-Abteilung während des ersten Weltkrieges eingehend beschrieben, seine eher deutschfreundliche - und allerdings damals viel markantere Analyse des NS-Deutschlands aus dem Jahre 1936, L'Allemagne nouvelle, hingegen kaum erwähnt. Vgl. Julien Rouge, Henri Lichtenberger, in: Etudes Germaniques, AprilJuni 1946, S. 97-113, s. besonders S. 104-105. Die Revue Germanique (im folgenden RG) wurde 1905 von Germanisten der Universität Lille und Nancy begründet. Als zentrales Universitätsorgan der Germanistik enthält sie wissenschaftliche Beiträge französischer Germanisten sowie sehr viele Rezensionen. Felix Piquet, Rezension: Paul Levy, Le germanisme ä l'etranger (Strasbourg 1933), in: RG 1933, S. 294-296, s. besonders S. 296. Ohne weiteren Kommentar empfiehlt nur einmal der anonyme Autor einer Notiz der Chronik - es handelt sich wahrscheinlich um Piquet - , Hitlers Programm zu lesen, in: RG 1933, S. 218-219. RG, Chronique, 1934, S. 102, 207. RG, Chronique, 1934, S. 311.
Politische und hermeneutische
Positionen
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Einen ganz anderen Eindruck erweckt die Revue de l 'Enseignement des Langues Vivantes, die ihren Lesern tiefschürfende Analysen über Deutschland zu bieten versucht. Schon im Februar 1934 erscheint ein Bericht Edmond Vermeils - Professor an der Sorbonne - über die sozialen Ursachen des Nationalsozialismus und im März ein Artikel über die deutschsprachigen Bewohner der Tschechoslowakei. 12 Diese differenzierte Sensibilität gegenüber den politischen Wandlungen des Jahres 1933 spiegelt grundsätzlich zwei traditionell entgegengesetzte Tendenzen der französischen Germanistik wider, die im Laufe der dreißiger Jahre mit zunehmender Deutlichkeit ans Licht treten: Während viele Germanisten eine vorsichtige, ja zum Teil mißtrauische Haltung gegenüber Deutschland einnahmen, gab es in einer anderen Traditionslinie Germanisten, die sich durch ihre Bewunderung und durch ihren unbedingten Willen zur Annäherung ans Nachbarland auszeichneten. Die beiden Traditionslinien folgen nicht den üblichen politischen Kriterien von rechts und links. Unter den NS-feindlichen Germanisten findet man zwar hauptsächlich links stehende, vom sozialdemokratischen Gedankengut durchdrungene Professoren (u.a. Vermeil, Tonnelat, - viele Vertreter der Andler-Schule), aber auch Wortführer eines eher konservativen Katholizismus (Robert d'Harcourt) und sogar einige nationalkonservative Persönlichkeiten wie Louis Reynaud, der sich vornehmlich auf den antirepublikanischen Nationalismus des Charles Maurras beruft. Die sehr unterschiedlichen Motivationen dieses antideutschen Engagements werden wir näher untersuchen müssen. Die entgegengesetzte Gruppe, die für eine unbedingte Annäherung an Deutschland plädiert, auch in der Form des Dritten Reichs, rekrutiert sich zwar einheitlicher aus konservativen Germanisten, aber diese Deutschfreundlichkeit hat sehr verschiedene Gründe und äußert sich auf vielfaltige Weise. Schon an den hermeneutischen Werkzeugen ihrer jeweiligen Geschichtsinterpretation lassen sich diese beiden Strömungen deutlich voneinander unterscheiden. In der Revue Germanique - vor allem in den Kommentaren Maurice Denis', Felix Piquets und Camille Schneiders 13 - werden die politischen Ereignisse des Jahres 1933 sehr oft auf die Freiheitskämpfe von 1813 zurückgeführt. 1933 bedauert Camille Schneider, daß die nationalsozialistische Revolution gegen alle Erwartung nicht dieselbe literarische Blüte nach sich gezogen habe wie ehemals die Befreiungskriege. 14 Hitler erscheint vielen Germanisten als eine die Tradition Jahns oder Arndts weiterführende Figur. Darin erkennt man die Prägnanz einer
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Bericht über Edmond Vermeils Vortrag vor der Societe des Etudes Germaniques (SEG): La collectivite allemande a la veille de la Revolution et le probleme des origines sociales du hitlerisme, am 13. 01. 1934, in: Revue de l'enseignement des langues vivantes (im folgenden RELV) Februar 1934, 2, S. 78-81; Bericht über Madame de Quirielles Vortrag vor der SEG: Les Allemands de Tchecoslovaquie, am 03. 02. 1934, in: RELV, März 1934, 3, S. 125-128. In den dreißiger Jahren ist Camille Schneider in der Revue Germanique zuständig für den Jahresbericht über die deutsche Gegenwartslyrik, während Maurice Denis den Jahresbericht über das Theatergeschehen in Deutschland schreibt. Camille Schneider, Revue annuelle. La poesie allemande, in: RG 1933, S. 335.
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historischen Bildung, die - an der Geschichtsschreibung des ausgehenden 19. Jahrhunderts geschult - vor allem das »Nationale« an dem Nationalsozialismus betont und es mit einer wohlbekannten Tradition deutschen Geistes zu verbinden versucht. Die zeitgenössische Geschichte wird mit Kriterien aus dem vorigen Jahrhundert analysiert. Noch deutlicher ist das Gewicht dieser alten historischen und philologischen Tradition in der Beschreibung Hitlers durch Piquet aus dem Jahre 1937: Von einem inbrünstigen Glauben beseelt, mit einem ehernen, vom Erfolg nicht berauschten und vom Mißerfolg nicht zu entmutigenden Willen begabt, der ihn die feindlichen Mächte überwinden ließ, grausam gegen die Gegner seiner Pläne, voller Geduld in der Vorbereitung und voller Kühnheit in der Vollstreckung seiner Vorhaben, in steter Ideenund Gefühlsharmonie mit seinem Volke war [Hitler] dazu auserwählt, der erhoffte Retter zu werden. 15
In dem rhetorischen Duktus dieser Beschreibung schwebt dem Autor das Modell Bossuets vor,16 und mehr noch in der typenhaften Stilisierung des dynamischen Helden das Modell des römischen Eroberers, wie es Caesar, Titus Livius oder Tacitus dargestellt haben. Für Piquet ist Hitler sozusagen der erste »reale« und lebende Führer, der die Geschichte macht, wie man sie bisher zu schreiben pflegte: d.h. mit epischem Schwung und heldenhafter Dynamik. Bei der Faszination, die Hitler auf einige Germanisten ausgeübt hat, spielt somit diese historiographische Illusion, diese in der klassischen Geschichtsschreibung wurzelnde Mythisierung des Staats- und Kriegsführers eine grundlegende Rolle. Zur Entzifferung der zeitgenössischen Ereignisse wird noch sehr oft neben den Freiheitskämpfen und den Glanzstunden der römischen Geschichte auf eine dritte Periode angespielt, und zwar auf die Reformation. Öfter noch als Jahn, Arndt oder die römischen Kaiser kommt die Figur Luthers in den Analysen vor: Spenle sieht 1935 eine eindeutige Ähnlichkeit zwischen Hitler, dem »Handwerker« und »einfachen Soldaten«, der »ohne jeden Titel, ohne jegliche Unterstützung es alleine unternimmt, ganz Deutschland wieder aufzurichten«, und dem »kleinen Mönch aus Wittenberg, der seinen Willen gegen alle Mächte der Erde und des Himmels durchgesetzt hat«.17 Diese Interpretationsform trägt dazu bei, den Nationalsozialismus auf eine wohlbekannte, vertraute Tradition zurückzuführen und ihm dadurch einen Teil seiner abschreckenden Neuartigkeit zu nehmen.
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Felix Piquet, Rezension: Henri Lichtenberger, L'Allemagne nouvelle (Paris 1936), in: RG 1937, S. 29-41. Es würde sich lohnen, diesen Text einer eingehenden stilistischen Analyse zu unterziehen. Vor allem müßte man dabei die Anwendung von feierlich-pathetischen Formeln (wie »cruel aux ennemis de ses projets«/»grausam gegen die Gegner seiner Pläne«) und den Rückgriff auf Vergangenheitsformen (Präteritum) hervorheben, die zur Mythisierung und »Derealisierung« der Figur Hitlers beitragen. Bossuet wird in der Tat einige Zeilen vorher zitiert, ebd., S. 30. Jean-Edouard Spenle, Les assises morales de l'Allemagne hitlerienne, in: Mercure de France (im folgenden MdF), 1. Februar 1935, S. 4 4 9 ^ 8 0 , hier S. 451, 466. Einen ähnlichen Vergleich findet man in Felix Piquets Rezension: Mein Kampf, in: RG 1938, S. 7 7 80, hier S. 77.
Politische und hermeneutische Positionen
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Einer ganz anderen Geschichtsinterpretation folgt Edmond Vermeil. In Anlehnung an Andlers Kritik des Pangermanismus vertritt Vermeil die Tradition der kritischen Auseinandersetzung mit Deutschland, j a des Mißtrauens gegenüber deutschen Positionen. Zwar unterstreicht auch er wie Piquet und Spenle die historische und kulturelle Kontinuität zwischen dem Dritten Reich und der tiefsten Vergangenheit Deutschlands (Luthertum, Nationaldenken der Romantik), in der umgekehrten Absicht aber, die zeitgenössischen Verirrungen mit einer tief verwurzelten, anti-humanistischen Tendenz der deutschen Kultur zu verbinden. 18 Dabei wird dem Leser das zeitgenössische Deutschland nicht vertrauter gemacht, in eine wohlbekannte, gemeinsame abendländische Kultur verankert, sondern umgekehrt als das notwendige Produkt einer anti-humanistischen, dem abendländischen Universalismus schon lange feindlichen Tradition verurteilt. Anders als Piquet greift Vermeil außerdem zu modernen, wirtschaftlich-soziologischen Kriterien, um die gesellschaftlichen Grundlagen des Dritten Reichs zu untersuchen. Schon im Januar 1934 hält er vor der Germanistenvereinigung einen Vortrag über die sozialen Ursachen der nationalsozialistischen Revolution. 19 1937 publiziert er einen Artikel, in dem er die besondere Rolle der Proletarisierung der Mittelschicht für Hitlers politischen Sieg unterstreicht. 20 Während Piquet, auf althergebrachte philologischhistoriographische Interpretationsmuster zurückgreifend, die Spezifizität des gegenwärtigen Deutschland zu ignorieren scheint, versucht Vermeil die zeitgenössische Entwicklung der deutschen Gesellschaft zu erkunden.
2. Wenn die hermeneutischen Werkzeuge der Geschichtsinterpretation starke Unterschiede unter den Germanisten ans Licht bringen, so weist die politische Analyse der Gegenwart noch größere ideologische Gegensätze auf. Für die meisten konservativen Germanisten ist die Position Felix Piquets besonders kennzeichnend. Seit den zwanziger Jahren tritt Piquet für eine deutsch-französische Annäherungspolitik ein, eine Position, die von den Ereignissen des Jahres 1933 keineswegs in Frage gestellt wird. Je mehr die politischen Ereignisse auf Krieg hindeuten, desto nachdrücklicher legt er pazifistische Glaubensbekenntnisse ab - und dies noch bis kurz vor dem Krieg, im Frühjahr 1939. 21 Hinter diesen wiederholten Friedensbeschwörungen, die allerdings den damaligen Tendenzen der französischen Außenpolitik
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Vgl. ζ. B. Edmond Vermeil, Coup d'ceil d'ensemble sur l'histoire des idees racistes en Allemagne, in: Races et Racisme, 1, Januar-Februar 1937, S. 2-3; 2, März-April 1937, S. 1-3; 3, Juni 1937, S. Vgl. den Bericht über den Vortrag Edmond Vermeils (Anm. 12), S. 78-81. Edmond Vermeil, Les problemes du Troisieme Reich. La situation des classes moyennes en Allemagne, in: L'Allemagne Contemporaine, 20. Juli-20. August 1937, 7, S. 125-127. S. insbesondere Felix Piquet, Rezension: Ewald Κ. B. Mangold, Frankreich und der Rassengedanke (München 1937), in: RG 1938, S. 55-56; Felix Piquet, Bulletin, in: ebd., S. 205; Bulletin, in: RG 1939, S. 94.
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entsprechen, steckt im Grunde eine deutliche Sympathie fiir das Dritte Reich. 1937 lobt er die Politik von Papens, der es zustande gebracht habe, »über angeblich unüberwindliche Hindernisse hinweg ein deutsch-österreichisches Abkommen zu schließen, das die Vorstufe zu dem von seinen Landsleuten so innig erwünschten Anschluß zu sein scheint und als einer der glänzendsten Siege Hitlers betrachtet werden muß«. 22 In einem Mein Kampf gewidmeten Kommentar aus dem Jahre 1938 drückt Piquet sein Vertrauen in Hitlers politische Klugheit aus, die ihn keineswegs zum »sturen, hartnäckigen Reformator« Deutschlands, sondern zu einem umsichtigen, wohl beratenen Staatschef mache. 23 Noch 1939 behauptet er, Hitler das ihm gebührende Lob nicht verweigern zu wollen. 24 Diese Gewogenheit gegenüber Deutschland läßt sich mit einem ausgeprägten französischen Patriotismus durchaus verbinden. Die autoritäre Behauptung der Lebensraumideologie in Deutschland wird als die natürlichste Erscheinung einer unantastbaren Realität wahrgenommen: die Nation. 25 In Piquets Auffassung bildet die nationale Zugehörigkeit den notwendigen Bezugsrahmen und die absolute Grundlage jeder intellektuellen Stellungnahme, so daß ihm von vornherein jede deutsche Kritik an Deutschland als verdächtig erscheint. Gegen Friedrich Wilhelm Foersters Buch L'Europe et la question allemande - vom »Sohne eines preußischen Lehrers« geschrieben, der dennoch den anti-humanistischen Imperialismus Deutschlands unerbittlich verurteilt - hegt er ein grundsätzliches Mißtrauen. 26 Diese Sympathiebekundungen steigern sich sogar bis zu einer gewissen ideologischen Kontamination. Zwar bleiben ihm einige Aspekte des Nazi-Regimes fremd so z.B. der Rückgriff auf die alt-germanische Religion oder die Idee der Herrenrasse 27 - , aber den Begriff der Rasse selbst stellt er nicht in Frage. 28 1939 werden
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F. Piquet, Rezension: Henri Lichtenberger, L'Allemagne nouvelle (Anm. 15), S. 30. Noch im Jahre 1939 verteidigt Piquet den Diplomaten von Papen: vgl. Felix Piquet, Rezension: Robert d'Harcourt, Catholiques d'Allemagne (Paris 1938), in: RG 1939, S. 54-55, hier S. 55, Fußnote 1. 1938, kurz vor dem Anschluß, wollte Piquet den franzosenfreundlichen Bekundungen Hitlers Glauben schenken (in der oben erwähnten Rezension: Mein Kampf [Anm. 17], S. 78): »Dans son discours au Reichstag de 1935, M. Hitler a declare que l'Allemagne a accepte et garanti les frontieres franco-allemandes telles qu'elles existent depuis le plebiscite de la Sarre. II ajoutait qu'il etait pret ä faire tout pour arriver ä une paix veritable et une vraie amitie avec le peuple fran^ais. Fait recent et significatif: on a interdit en Allemagne, il y a quelques semaines, le chant du lied: Siegreich wollen wir Frankreich schlagen.« Ebd., S. 79. Für Piquet ist Hitler ein Führer von »unbezwingbarer Energie«, dem die »außerordentliche Gabe zuteil wurde, die Massen zu faszinieren« (ebd., S. 77). Felix Piquet, Rezension: Alphonse de Chateaubriand, Geballte Kraft. Ein französischer Dichter erlebt das neue Deutschland (Karlsruhe 1938, Übersetzung des französischen Buches: Les Gerbes de la force), in: RG 1939, S. 56-57, hier S. 57. Vgl. Felix Piquet, Rezension: Robert Mielke, Siedlungskunde des deutschen Volkes (München 21936), in: RG 1937, S. 101. Felix Piquet, Rezension: F. W. Foerster, L'Europe et la question allemande (ins Französische übersetzt von H. Bloch und P. Roques, Paris 1937), in: RG 1938, S. 204-205. Vgl. F. Piquet, Rezension: Henri Lichtenberger, L'Allemagne nouvelle (Anm. 15), S. 32ff.; Felix Piquet, Rezension: Hermann Güntert, Altgermanischer Glaube nach Wesen
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die ideologischen Stellungnahmen noch deutlicher. Im Namen der deutschfranzösischen Freundschaft rezensiert er mit offensichtlicher Distanz das Buch des Germanisten Robert d'Harcourt Catholiques d'Allemagne, dem er polemische Voreingenommenheit gegen Deutschland vorwirft. 29 Les Gerbes de la Force hingegen, ein Werk des späteren Kollaborateurs Alphonse de Chateaubriand, welches von faschistischen Themen deutlich durchdrungen ist (völkisch-rassistische Ideologie, Antisemitismus, Neo-Paganismus, Führerkult usw.), findet seinen Beifall. 30 Chateaubriand, der zwei Jahre im nationalsozialistischen Deutschland verbracht hatte, wird als leidenschaftlicher Diener der deutsch-französischen Annäherungspolitik gelobt. Diese Sympathiebekundungen blieben auf deutscher Seite nicht unbeachtet. 1937 wird Piquet in die Göttinger Akademie der Wissenschaften aufgenommen, und die Universität Lille, wo er als Professor tätig war, wurde 1936 in Hochschule und Ausland gelobt. 31 Ähnlich gut schneidet die Revue Germanique ab, die 1942 in der Kollaborations-Zeitschrift Deutschland-Frankreich als eine leider nur im Germanistenkreis bekannte Vermittlerin der deutschen Kultur der Zeit nach 1933 dargestellt wird. 32 Piquets Gewogenheit gegen nationalsozialistische Ideen läßt sich zwar aus verschiedenen Bekundungen unwiderlegbar herleiten, wurde aber nie in theoretischen Schriften grundlegend dargelegt, ausformuliert und zusammengefaßt. Diese diskrete Art der Sympathiebekundung unterscheidet sich von der Jean-Edouard Spenles. Zuerst Professor für deutsche Literatur an der Universität Straßburg und ab 1933 Rektor an der Akademie von Dijon weist Spenle - ähnlich wie Piquet - übliche Züge des französischen Konservatismus auf: Patriotismus und Antimarxismus. 33
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und Grundlage (Heidelberg 1937), in: RG 1938, S. 277-280. Mit Vorliebe rezensiert Piquet Bücher, die die fruchtbare Durchdringung der Kulturen betonen. Vgl. seine Rezension: Gaston Zeller, La France et l'Allemagne depuis dix siecles (Paris 1932), in: RG 1933, S. 95. Vgl. Felix Piquet, Rezension: Ewald Κ. B. Mangold, Frankreich und der Rassengedanke (Anm. 21), S. 55-56; Felix Piquet, Rezension: Wilhelm Müller, Studien über die rassischen Grundlagen des Sturm und Drang (Berlin 1938), in: RG 1939, S. 283-284. Das Buch von Wilhelm Müller wird zwar wegen seiner Übertreibungen kritisiert, aber der zweite Teil des Werkes über die »rassische« Persönlichkeit von Lenz, Klinger und Goethe wird den Lesern ausdrücklich empfohlen (S. 284). F. Piquet, Rezension: Robert d'Harcourt, Catholiques d'Allemagne (Anm. 22), S. 55. Vgl. auch Felix Piquet, Rezension: Robert d'Harcourt, L'Evangile de la force. Le visage de la jeunesse du Troisieme Reich (Paris 1936), in: RG 1937, S. 191-192. F. Piquet, Rezension: Alphonse de Chateaubriand, Geballte Kraft (vgl. Anm. 24), S. 5 6 57. Vgl. außerdem die positive, ja sogar bewundernde Rezension Piquets von Joseph Goebbels Memoiren, Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei. Eine historische Darstellung in Tagebuchsblättern vom 1. Januar 1932 bis zum 1. Mai 1933 (München 1937), in: RG 1939, S. 184-185. Vgl. RG, Chronique, 1937, S. 445 und RG, Chronique, 1936, S. 108. Andre Meyer, Les germanistes fran^ais et l'Allemagne, in: Deutschland-Frankreich, Heft 1, 1942, S. 69. Vgl. Jean-Edouard Spenle, Les assises morales de l'Allemagne hitlerienne, in: MdF, 1. Februar 1935, S. 456, 472, 476. Zu J.-E. Spenle, vgl.: E. Decultot, Les metamorphoses du
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Zu diesen traditionellen Grundzügen kommen aber noch andere Komponenten hinzu, die ihn deutlich in die Nähe der faschistischen Ideologie rücken lassen. Ab 1933 veröffentlicht Spenle in der Zeitschrift Mercure de France eine Reihe von sehr positiven Artikeln über die Reform der deutschen Gesellschaft. Bis zur Karikatur zieht sich durch diese Beiträge das Bild einer gesunden, energischen, sporttreibenden, an der kraftvollen Nahrung der rassistischen, kollektiven und nationalistischen Bildung gespeisten deutschen Jugend, die zu der müden, individualistischen, auf bloß geistige Hochleistung bedachten französischen Jugend in krassem Gegensatz stehe. Das französische Erziehungssystem beruhe hauptsächlich auf Universalismus, Humanismus und Kosmopolitismus, lauter Werten, die Spenle mit den negativen Erscheinungen des Individualismus und des Intellektualismus in Verbindung bringt.34 Enthusiastisch wird die nationalsozialistische Erneuerung des deutschen Erziehungswesens gelobt. In einem Artikel aus dem Jahr 1938 über das deutsche Universitätswesen werden mit sichtbarer Bewunderung die sehr prunkvollen, von der NSDAP kontrollierten Feiertage zum 200. Gründungsjahr der Göttinger Universität geschildert. 35 Unverhüllt stimmt Spenle den nationalsozialistischen Angriffen gegen eine angeblich weltfremde und allzu spezialisierte Wissenschaft zu, die er im Typus des ausgetrockneten Philologen verkörpert sieht: Und jetzt können Sie das schönste Ergebnis dieses ganzen Systems [= der alten Universität] sehen: die eingebildetste und unangenehmste Menschenart, die es je gegeben hat, den deutschen Philologen mit seiner sprichwörtlich gewordenen, sowohl geistigen als auch optischen Kurzsichtigkeit und, als Folgeerscheinung, diesen gelehrten, entarteten, auf bloßem Buchwissen beruhenden Humanismus, der das Denken unter dem Gewicht einer immer zunehmenden Wissenschaftsproduktion ersticken läßt, eines gespeicherten, bloß historischen Wissens, das von vornherein durch die Anhäufung einer unaufhaltsamen Produktion jeden originellen, schöpferischen Syntheseversuch entmutigt. Soll das >Bildung< sein?36 Durch die vielfaltigen, vom Regime betreuten Jugendorganisationen (Hitlerjugend, Arbeitsdienst usw.) werden, so Spenle, die Jungen zu einem kollektiven, national-
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nietzscheisme fran^ais dans les annees 1930-1940. Le cas de Jean-Edouard Spenle, in: Nietzsche. Cent ans de reception fran^aise. Hrsg. von Jacques Le Rider, Saint-Denis, editions Suger/Universite de Paris VIII, 1999, S. 103-118. Ders., Le probleme de la jeunesse en Allemagne, in: MdF, 1. März 1933, S. 279-307; ders., Deux conceptions de l'education : humanisme et racisme, in: MdF, 15. Juni 1936, S. 486-513; ders., L'esprit nouveau dans l'universite allemande, in: MdF, 15. März 1938, S. 449^478; ders., Die neuere Entwicklung des französischen Unterrichtswesens, in: Cahiers franco-allemands, September-Oktober 1941, S. 285-290. Ders., L'esprit nouveau (Anm. 34), S. 449^458. Gerade diese Jubiläumsfeier wird in der von E. Vermeil unterstützten Zeitschrift Races et Racisme scharf kritisiert. Vgl. J.-E. Spenle, L'esprit des universites allemandes. A propos de la celebration du bi-centenaire de l'universite de Göttingen, in: Races et Racisme, März-April 1937, Beiheft Nr. 2, S. 1-5. Die Gleichschaltungspolitik an den deutschen Universitäten schildert Spenle mit sichtbarer Sympathie, vgl. ebd., S. 468. J.-E. Spenle, L'esprit nouveau (Anm. 34), S. 457.
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völkischen Arbeitsethos erzogen, das in der Auflösung jeder beschränkten Individualität und in der willigen Annahme einer strengen Disziplin und Führerschaft gipfelt. 37 Grundlage der körperlichen Vitalität und der moralischen Wiedererstehung der deutschen Jugend sei die völkische Ideologie, welche zwar durch die Rosenbergsche Theorie der rassischen Überlegenheit der Germanen verdreht worden, in ihrer »biologisch-moralischen« Bedeutung aber gültig sei.38 Als Antwort auf die sichtbaren Schwächen der krankhaften, dahinsiechenden westeuropäischen Kultur tritt Spenle fur eine Regenerierung des alten Humanismus durch das neue rassistische Denken ein. 39 Diese am Anfang der dreißiger Jahre von ihm gewünschte Annäherung an die deutsche Kultur hat Spenle im Sinne der »Kollaboration« im Krieg politisch fortgesetzt und in die Tat umgesetzt. Spenle gehört zu den wenigen französischen Germanisten, die sich aktiv und offiziell an den Veranstaltungen der deutschen Besatzungsmacht beteiligt haben. 40 1941 läßt er einen Artikel über Die neuere Entwicklung des französischen Unterrichtswesens in den Cahiers francoallemands erscheinen, 41 die auch regelmäßig Beiträge von Robert Brasillach, Marcel Deat, Alphonse de Chateaubriand, Friedrich Grimm, Karl Heinz Bremer usw. veröffentlichen. 1943 erscheint ein Artikel von ihm über Nietzsche in der von Karl Epting begründeten Kollaborationszeitschrift Deutschland-Frankreich,42 Obzwar Spenle als einer der wenigen aktiven Kollaborateure unter den französischen Germanisten betrachtet werden kann, muß man betonen, daß seine Ausführungen über das deutsche nationalsozialistische Erziehungswesen in den dreißiger Jahren einen nicht geringen Widerhall fanden. In der Zeitschrift Langues modernes äußern sich die beiden Germanisten Gaston Varenne und Louis Brun sehr positiv über seine Analysen, 43 und Xavier Heydet - ein dem Nazi-Regime wohl gewogener Deutschlehrer aus Mühlhausen - ergänzt sie durch eine detailreiche Schilderung der Erziehungsreform an den deutschen Gymnasien. 44 Unter den in den dreißiger Jahren deutschfreundlichen Germanisten nimmt Lichtenberger als zentrale Figur der institutionellen Germanistik 45 eine besondere Stelle ein. Sein Konservatismus läßt ihn zwar in die Nähe Spenles rücken -
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Ders., Les assises morales (Anm. 33), S. 473. Ders., Deux conceptions de l'education (Anm. 34), S. 499 und S. 501. Ebd. S. 50Iff.; J.-E. Spenle, L'esprit nouveau (Anm. 34), S. 453. Schon 1935 wird Edouard Spenle in Hochschule und Ausland ausdrücklich gelobt. Vgl. [Anonym], Frankreich setzt sich mit Deutschland auseinander, in: Hochschule und Ausland, Heft 11, November 1935, S. 62. J.-E. Spenle, Die neuere Entwicklung des französischen Unterrichtswesens, in: Cahiers franco-allemands, September-Oktober 1941, S. 285-290. J.-E. Spenle, Nietzsche ä Nice, in: Deutschland-Frankreich 1943, 3, S. 121-133. Gaston Varenne, »Deux conceptions de l'education: Humanisme et racisme«. Analyse d'un article de M. Spenle paru dans le Mercure de France, in: Langues modernes, Oktober-November 1936, 8-9, S. 472-476; Louis Brun, Le systeme d'education de lajeunesse hitlerienne, in: Langues modernes, März 1937, 3, S. 172-178. Vgl. L'Allemagne contemporaine, 20. Juni 1938, S. 125-132. Henri Lichtenberger war zwischen 1905 und 1934 an der Sorbonne tätig.
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welcher unablässig als sein Schüler dargestellt wird - , hat ihn aber zu einer viel nuancierteren Stellungnahme zu Deutschland gefuhrt. Vor 1914 und während des Ersten Weltkriegs hatte sich Lichtenberger als besonders strenger Richter Deutschlands ausgewiesen. So hatte er 1907 in seinem Buch L'Allemagne moderne die imperialistischen Tendenzen des Kaiserreichs beschrieben. In einem mit seinem Bruder Andre verfaßten Buch forderte er 1915 die Rückgabe Elsaß-Lothringens an Frankreich, die ohne vorhergehende Volksabstimmung zu erfolgen habe, 46 und 1918 veröffentlichte er mit Paul Petit (von der Universität Nancy) ein Buch mit dem bezeichnenden Titel L 'imperialisme economique allemand,47 In den zwanziger Jahren mutierte er aber zu einem eifrigen Verfechter der deutsch-französischen Annäherungspolitik - eine Wandlung, die Manfred Bock in seinem Lichtenberger gewidmeten Artikel beschrieben hat.48 Das Jahr 1933 hat diese politischen Bemühungen Lichtenbergers keineswegs erschüttert, sondern im Gegenteil eher noch verstärkt. 1936 veröffentlicht er ein Buch über das »neue Deutschland«, L'Allemagne nouvelle, in dem er zwar die Brutalität, die politische Intoleranz und die rassistische Grundlage des nationalsozialistischen Regimes verurteilt, gleichzeitig aber seine Bewunderung für dessen »Spartanismus« ausdrückt. Mit Sparta teile das Dritte Reich eine Organisationsform, die auf »einer engen nationalen Solidarität beruht, auf den rohen Tugenden des Bauern, des Handwerkers und des Soldaten, auf der strengsten Disziplin und der freiwilligen Opferbereitschaft des Einzelnen gegenüber der Volksgemeinschaft«. 49 Dieser spartanische Geist erscheint Lichtenberger als eine positive Antwort auf den übertriebenen Individualismus der Franzosen 50 - eine Thematik, die auch bei Piquet und Spenle zu finden ist. Ab Mitte der dreißiger Jahre behauptet Lichtenberger seine Deutschfreundlichkeit mit zunehmender Offenheit. 1936 nimmt er an einer Tagung der deutschfranzösischen Gesellschaft und des Comite France-Allemagne in Paris teil, auf der er neben Friedrich Grimm, Hans Friedrich Blunck und dem zukünftigen Kollaborateur Abel Bonnard einen Vortrag über die kulturellen Beziehungen zwischen
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Andre und Henri Lichtenberger, La guerre europeenne et la question d'Alsace-Lorraine, Paris 1915. Henri Lichtenberger, in Zusammenarbeit mit Paul Petit, L'imperialisme economique allemand, Paris 1918. Vgl. Hans Manfred Bock, Henri Lichtenberger, pere fondateur de la germanistique frangaise et mediateur entre la France et l'Allemagne, in: Les etudes germaniques en France. Hrsg. von Michel Espagne und Michael Werner, Paris 1994, S. 155-169. Hans Manfred Bocks Analyse der politischen Entwicklung Lichtenbergers in den dreißiger Jahren müßte in diesem Sinne vielleicht nuanciert werden. Wenn Lichtenbergers Stellungnahmen zu Deutschland nach 1933 von einem ausgeprägten Pazifismus zeugen, so muß man zugleich betonen, daß seine Analyse des zeitgenössischen Deutschlands (L'Allemagne nouvelle, Paris 1936) angesichts der damaligen Verschärfung der politischen Oppositionen zu einer gewissen Verharmlosung des NS-Regimes führt. Henri Lichtenberger, L'Allemagne nouvelle, Paris 1936, S. 153. Ebd., S. 268.
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Deutschland und Frankreich hält. 51 Zwar weist er mit Besorgnis in seinen damaligen Schriften auf die friedensbedrohende Außenpolitik des Dritten Reichs hin, 52 zieht aber 1938 eine positive Bilanz der nationalsozialistischen Politik: wachsende innenpolitische Einheit Deutschlands, die zwar eine systematische Verfolgung der politischen Gegner herbeigeführt habe, jedoch »ohne Blutvergießen« erfolgt sei, wirtschaftlicher Aufschwung, Abbau der Arbeitslosigkeit, Aufrüstung und Wiedererstarken auf der internationalen Ebene. 53 Charakteristisch für die politische Entwicklung Lichtenbergers von der pazifistischen Annäherungstheorie zu einer ideologisch viel weitgehenderen Konvergenz mit den Machthabern in Deutschland ist seine positive Rezension von Prinz Rohans erzkonservativem Buch Schicksalsstunde Europas,54 Dieser zunehmende Konservatismus wurde von den Zeitgenossen deutlich wahrgenommen. Diskreterweise übergeht Julien Rouge in seinem 1946 veröffentlichten Nachruf die politische Entwicklung Lichtenbergers während der dreißiger Jahre. 55 Von dem nationalsozialistischen Regime wurde sie hingegen nachdrücklich gutgeheißen. Kein Germanist hat so viel Beachtung im damaligen Deutschland gefunden wie Lichtenberger. Schon 1934 veröffentlicht Hochschule und Ausland anläßlich seiner Pensionierung ein sehr lobendes biographisches Porträt. Von Karl Epting wird er als »der letzte große Vermittler deutschen Geistes«, als »Mittler von unbestechlicher Gesinnung« gefeiert. 56 Immer wieder wird er gegen die Andlersche Schule der Germanistik und vor allem gegen Vermeil ausgespielt: »Seine Wirkung«, bedauert Epting, »ist da und dort überdeckt worden von der lauten politischen und propagandistischen Lehrweise Andlers und später Vermeils«. 57 Gegen ein »vergröberndes« Bild des deutsch-französischen Gegensatzes habe er
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Henri Lichtenberger, Die kulturellen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich, in: Cahiers franco-allemands 1937, S. 235-245. Henri Lichtenberger, Devant le plan quadriennal. Oü tend revolution economique du Reich, in: L'Allemagne contemporaine, 20. Januar 1937, S. 1-3; ders., La signification de la rencontre de Hitler et de Mussolini, in: ebd., 20. Oktober 1937, S. 173-175; ders., Sur le livre de Rauschning. La psychologie de l'armee allemande, in: ebd., 20. April 1939, S. 69-71. Henri Lichtenberger, Cinq ans de regime hitlerien en Allemagne, in: ebd., 20. Februar 1938, S. 21-23. Henri Lichtenberger, Rezension: Karl Anton Prinz Rohan, Schicksalsstunde Europas. Erkenntnisse und Bekenntnisse, Wirklichkeiten und Möglichkeiten (Graz 1937), in: RG 1938, S. 90-91. Vgl. Julien Rouge, Henri Lichtenberger, in: Etudes Germaniques, avril-juin 1946, S. 97 113, s. besonders S. 104-105. Friedrich Langmuth [=Karl Epting], Politische Wissenschaft in Frankreich, in: Geist der Zeit, Heft 9, September 1938, S. 584; Karl Epting, Henri Lichtenberger zum Gedächtnis, in: Deutschland-Frankreich 1 (1942), S. 130-131. Ebd. S. 131. Ähnlich findet man in den Cahiers franco-allemands einen lobenden Nachruf auf Lichtenberger: [O. W.], Henri Lichtenberger, in: Cahiers franco-allemands, Februar 1942, S. 64—65. Und der Kollaborateur Andre Meyer beruft sich auf die Figur Lichtenbergers, um Vermeil zu brandmarken. Vgl. Andre Meyer, Les germanistes fran9ais et l'Allemagne, in: Deutschland-Frankreich, Heft 1, 1942, S. 69, 76.
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mit L 'Allemagne nouvelle ein objektives Bild des Dritten Reichs entworfen, das als Muster des feinfühligen Verständnisses für das gegenwärtige Deutschland sehr oft zitiert wird. In einem krassen Gegensatz zu diesen deutschfreundlichen Stellungnahmen stehen diejenigen Reynauds und Vermeils. An diesen beiden Vertretern der NSFeindlichkeit lassen sich aber zwei sehr unterschiedliche Tendenzen des antideutschen Diskurses aufzeigen. Reynaud - Germanistikprofessor in ClermontFerrand und Lyon - ist der Vertreter einer französischen nationalistischen, an dem rechtsextremistischen Denken des Charles Maurras geschulten Tradition. Seine wissenschaftlichen Arbeiten hat er dem Problem der wechselseitigen kulturellen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich gewidmet. Hauptzweck dieser deutlich nationalistischen Studien ist es, die stets positive, zivilisierende Wirkung Frankreichs auf Deutschland und die negative, mit Verfall und Verwirrung verbundene Wirkung Deutschlands auf Frankreich nachzuweisen. 58 Unablässig wird die Opposition zwischen dem rationalistischen, auf Klarheit und Eleganz ausgerichteten französischen Geist und dem bloß intuitiven deutschen Denken variiert. Reynauds karikaturhafte Thesen gehören zu den Lieblingszielen von Eptings und Bremers Angriffen gegen die französische Germanistik. Immer wieder werden sie als mustergültige Beispiele für die grundlegende Deutschfeindlichkeit der französischen Germanisten angeführt 59 - obwohl Reynaud eine eher marginale Position innerhalb des Faches einnahm und von vielen bedeutenden Germanisten wie Lichtenberger heftig kritisiert wurde. Vermeils Kritik an dem nationalsozialistischen Deutschland geht von ganz anderen Voraussetzungen aus. Wie Spenle stellt er zwar zunächst die Opposition der deutschen nationalsozialistischen und der französischen demokratischen Kultur fest, postuliert aber keine mögliche Verbindung, versucht nicht, sie zu überbrükken. Immer wieder wird hingegen die grundlegende Unvereinbarkeit der individualistisch-humanistischen Tradition mit dem totalitären, national-völkischen Denken betont. 60 In dem Gegensatz von Deutschland und Frankreich spielt das religiöse Moment eine bedeutende Rolle. Im Luthertum wurzele, so Vermeil, die Idee einer absoluten Unterwerfung des Individuums unter die bestehende politische Ordnung, die dem Diktator den Weg bereitet habe, dem Calvinismus aber, d.h. dem französischen Reformationsgeist, fremd sei. Unablässig wird Deutschland als ein 58
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Louis Reynaud, Les origines de Pinfluence fran9aise en Allemagne. Etude sur l'histoire comparee de la civilisation en France et en Allemagne pendant la periode pre-courtoise (950-1150), Paris 1913; ders., Histoire generale de l'influence frangaise en Allemagne, Paris 1914; ders., L'influence allemande en France au XVIII e et au XIX e siecle, Paris 1922; L'äme allemande, Paris 1930; ders., Fran9ais et Allemands. Histoire de leurs relations intellectuelles et sentimentales, Paris 1939. Friedrich Langmuth [=Karl Epting], Politische Wissenschaft in Frankreich, in: Geist der Zeit, Heft 9, September 1938, S. 586. Reynaud versuche »in allen seinen Werken den Nachweis für die wesensmäßige Inferiorität des deutschen Geistes und Wesens und seiner grundsätzlichen Unzuverlässigkeit gegenüber dem französischen zu erbringen«. Edmond Vermeil, L'Allemagne et l'Occident europeen, in: Les langues modernes, Dezember 1935, 7, S. 622-627.
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»Fremdkörper« im europäischen Abendland dargestellt. 61 Dabei radikalisiert Vermeil eine Thematik, die schon ansatzweise bei Andler vorhanden ist. Während Andler es aber noch als möglich betrachtete, der natürlichen Neigung Deutschlands zur Abkapselung von der humanistischen Kultur entgegenzuwirken, ist für Vermeil diese Möglichkeit nicht mehr vorhanden. Spenles oder Piquets Wunsch nach Verständigung, ja nach Verschmelzung des französischen Humanismus und des deutschen Nationalismus setzt Vermeil das Bild einer frontalen, kriegerischen Opposition entgegen: die humanistische Tradition soll sich gegen den drohenden Ansturm des Totalitarismus wehren. Von uns erwartet Deutschland nur, daß wir auf unsere liberalen abendländischen Prinzipien verzichten, was uns dazu verurteilen würde, nur noch ein Schatten unserer selbst und für Deutschland eine leichte Beute zu sein. Uns obliegt es deshalb, den Deutschen das Unverrückbare unserer intellektuellen und moralischen Position zu zeigen, die sich aus unserer Tradition speist. 62
Aufgrund dieser offenkundigen Feindschaft gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland ist Vermeil zum Hauptziel der Angriffe der Vertreter deutscher Kulturpolitik in Frankreich geworden. Als »Epigone« Andlers wird er von Karl Epting beschuldigt, mit »jüdischer« Begabung - »obgleich er nicht einmal die Rechtfertigung des messianischen jüdischen Blutes hat« - das Schreckbild eines pangermanischen und aggressiven Deutschlands verbreitet zu haben, das sich in England, in den Vereinigten Staaten und in Mitteleuropa eingebürgert habe. 63 Mehr noch als irgendeine andere Frage bringt das Thema des Antisemitismus die Kluft ans Licht, die sich zwischen zwei unvereinbaren Strömungen der Germanistik auftut. 64 Bei den konservativen Germanisten herrscht tiefstes Schweigen über die Judenverfolgung in Deutschland. Niemals erwähnt Piquet die Nürnberger Gesetze und die Vertreibung der Professoren jüdischer Herkunft aus den deutschen Universitäten. Die spezifisch antisemitische Ausrichtung der Gleichschaltungspolitik wird in Spenles Artikeln über den »neuen Geist« der deutschen Universitäten
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Ebd., S. 626. Vgl. auch Edmond Vermeil, Doctrinaires de la Revolution allemande, Paris 1938. Edmond Vermeil, L'Allemagne et l'occident europeen, in: Les langues modernes, Dezember 1935, 7, S. 627. Friedrich Langmuth [=Karl Epting], Politische Wissenschaft in Frankreich, in: Geist der Zeit, Heft 9, September 1938, S. 587. Neben Vermeil werden auch Ernest Tonnelat, Andre Tibal, Paul Levy, Bertaux und Albert Beguin von Karl Epting gebrandmarkt. Im allgemeinen muß hervorgehoben werden, daß antisemitische Züge nur unterschwellig, sehr diskret und insgesamt selten ans Licht kommen. Spuren davon haben wir dennoch in folgenden Texten gefunden: A. Fournier, Rezension: Arnold Zweig, Junge Frau von 1914 (Berlin 1931), in: RG 1933, S. 32 und Henri Lichtenberger, Cinq ans de regime hitlerien en Allemagne, in: L'Allemagne contemporaine, 20. Februar 1938, S. 21: »Et par dessus tout, les confessions et les races creaient entre les citoyens des antagonismes redoutables : les juifs, en particulier, avaient suscite, par leur redoutable capacite d'assimilation et leur esprit envahissant, des haines feroces.«
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ebenfalls verschwiegen. 6 5 Wenn die jüdische Frage explizit behandelt wird, dann mit einer betonten Vorsicht und vorgeblichen »Neutralität«: Eine Reihe von gesetzlichen Vorschriften, von denen einige die Flucht einer nicht unbeträchtlichen Zahl von Juden (ca. 65 000) verursachten, regeln zur Zeit die Rechte und Pflichten der in Deutschland verbliebenen Juden (ca. 500 000). Wir wissen zu wenig von der Vergangenheit und stehen zu sehr unter dem Schock der Gegenwart, um ein unparteiisches Gericht halten zu können. Wenn die Flamme der von beiden Seiten angefachten Leidenschaften erloschen sein wird, wird in Zukunft ein Geschichtsschreiber den genauen Wert des jüdischen Einflusses auf die Entwicklung der deutschen Kultur bestimmen und den Schaden messen können, den sie der einheimischen Rasse zugefugt haben soll. Im Augenblick muß ein ausländischer Beobachter sich mit der Wiedergabe der Fakten begnügen. 66 Im Gegensatz zu diesem verlegenen Schweigen und Darüberhinwegsehen zeichnen sich Vermeil und seine Gruppe durch ihre deutliche Kampfansage gegen den Antisemitismus aus. 67 1937 trägt er zur Gründung der Zeitschrift Races et racisme68 bei, deren Zweck es ist, »das französische Publikum vor der Gefahr der rassistischen Theorien zu warnen«. 6 9 Mit erstaunlicher Detailfulle legt die Zeitschrift die antisemitischen Maßnahmen in Deutschland dar: rassistische Vorträge an der Universität Berlin, Gründung des Thüringischen Instituts zur Aufrechterhaltung der Rassenreinheit, Nürnberger Gesetze usw. Im Dezember 1938 werden sogar fotografische Aufnahmen der Judenverfolgung als unwiderlegbares Beweismaterial für die Brutalität des Regimes veröffentllicht: verbrannte Synagogen im Sudetenland, mißhandelte Juden auf der Straße und sogar abgemagerte, jüdische Gefangene aus dem KZ Sachsenhausen. 7 0
3. Die Geschichte der Germanistik als Fach läßt sich in den dreißiger Jahren nur zum Teil aus der politischen Entwicklung ihrer Hauptvertreter herleiten. Grundlegend für die wissenschaftliche Definition des Faches ist die Wandlung seiner
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Jean-Edouard Spenle, L'esprit nouveau dans l'universite allemande, in: MdF, 15. März 1938, S. 468. F. Piquet, Rezension: Henri Lichtenberger, L'Allemagne nouvelle (Anm. 15), S. 35. Vermeils Artikeln kann man auch Loiseaus Aufsatz über Goethes Beziehungen zu den Juden hinzufugen: Hippolyte Loiseau, Goethe et les Juifs, in: RELV, Dezember 1933, S. 4 4 1 ^ 5 2 . Die Zeitschrift Races et Racisme (mit dem Untertitel »Bulletin du groupement d'etude et d'information«) erscheint alle zwei Monate zwischen 1937 und 1939. Sie wird von Maurice Vanikoff herausgegeben. In ihrem Beirat findet man unter anderen: Edmond Vermeil, Celestin Bougie (Direktor der Ecole Normale Superieure in Paris), Pastor Pannier (Leiter der französischen Bibliothek des Protestantismus) sowie katholische Geistliche. Vgl. den Appell, der die erste Nummer der Zeitschrift eröffnet, in: Races et Racisme, 1, Januar-Februar 1937, S.l. Vgl. Races et racisme, Dezember 1938, Nr. 11-12.
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hermeneutischen Werkzeuge. Der Aufstieg des Nationalsozialismus hat in Deutschland eine wissenschaftliche Produktion bedingt, die, von französischen Germanisten rezipiert, auch in Frankreich zum Teil neue Interpretationsmethoden hervorgerufen hat. Auf diesem Gebiet lassen sich noch einmal zwei Grundtendenzen unterscheiden: eine konservative Germanistik, die das ideologische Moment obwohl dieses in den rezensierten Büchern meistens überwiegt - beiseitezulassen, ja zu ignorieren versucht, und eine von vornherein engagierte Germanistik, die die politische Komponente nicht nur bei der Rezeption deutscher Bücher, sondern auch aktiv bei der eigenen wissenschaftlichen Produktion in den Vordergrund stellt. Für die konservative Tendenz sind die meisten Rezensionen der Revue Germanique kennzeichnend. Hauptmerkmal dieser hermeneutischen Schule ist die Anwendung einer besonderen Rhetorik, welche von Felix Piquet virtuos vertreten wird. Piquets Rezensionen beruhen auch nach 1933 auf dem Prinzip der Empathie. Kongenial rezensiert er die engagiertesten völkischen Literatur- und Kulturwissenschaftler: 71 Ewald K.B.Mangold, 7 2 Hermann Günthert, 73 Hans F. K. Günther 74 usw. Charakteristisch für diese Rezensionen ist die Abwesenheit aller typographischen oder rhetorischen Zeichen, die es dem Leser ermöglichen würden, die Meinung des rezensierten Autors von der des Rezensenten zu unterscheiden - also den eigentlichen Sprecher mit Sicherheit zu bestimmen. 75 Diesem empathischen Prinzip fugt Piquet besondere stilistische Merkmale hinzu. Meisterhaft greift er beim Kommentar der nationalsozialistischen Literaturwissenschaft zur Kunst der Litotes und des Euphemismus. 76 Nur mit »geteilten Gefühlen« habe er Mangolds Buch Frankreich und der Rassengedanke gelesen, das er »ein bißchen weitschweifig, luftig und verschwommen« findet - dessen Lektüre er aber letztendlich empfiehlt. 77 Immer wieder wird das Ideal der absoluten Neutralität und Objektivität heraufbeschworen. Als »sachlicher Beobachter« 78 behauptet Piquet, sich jeder
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Auf dieselbe »kongeniale« Methode greift Spenle zurück, wenn er 1935 den deutschen antisemitischen Diskurs darstellt. Jean-Edouard Spenle, Les assises morales (Anm. 33), S. 471. F. Piquet, Rezension: Ewald Κ. B. Mangold, Frankreich und der Rassengedanke (Anm. 21), S. 55. Felix Piquet, Rezension: Hermann Günthert, Altgermanischer Glaube nach Wesen und Grundlage (Heidelberg 1937), in: RG 1938, S. 277. Vgl. auch die Erwähnung von Adolf Bartels in: RG 1937, S.433. Felix Piquet, Rezension: Hans F. K. Günther, Herkunft und Rassengeschichte der Germanen (München 1935), in: RG 1935, S. 256-257. In diesen Rezensionen finden sich keine Anfiihrungsstriche, keine oder höchst seltene Einschiebungen wie »sagt der Autor«, »so der Autor«, usw. Bekanntlich verfügt man im Französischen überdies über keinen Konjunktiv I, um die Distanz des Rezensenten zu markieren. Felix Piquet, Rezension: Hans K. F. Günther, Frömmigkeit nordischer Artung (Jena 1934), in: RG 1935, S. 47^18. Vgl. die oben erwähnte Rezension, in: RG 1938, S. 55. F. Piquet, Rezension: Robert d'Harcourt, Catholiques d'Allemagne (Anm. 22), S. 54.
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parteiischen Stellungnahme enthalten zu wollen. Virtuos beherrscht er die suspensive Rhetorik der Zurückhaltung (»Uns steht es nicht zu, über diese Ansichten zu diskutieren« 79 ) und der praeteritio (»Darüber könnte man viel sagen« 80 ). Diese rhetorischen Mittel werden in den Dienst einer immanenten Textanalyse gestellt, die besonders bei den Roman- und Theaterbesprechungen der Revue Germanique angewandt wird. Es gilt, den Inhalt, die Substanz, die Quintessenz des Werkes sozusagen von ihren ideologischen Schlacken zu säubern. Nur dies macht es möglich, die Thingspiele und propagandistischen Romane des Nationalsozialismus als eine der vor-nationalsozialistischen Produktion ebenbürtige Literatur weiter zu rezensieren. Schlageter,81 ein Adolf Hitler gewidmetes Theaterstück von Hanns Johst, die grobschlächtigsten Thingspiele wie Das Spiel von Job dem Deutschen von Kurt Eggers oder Hitler-Jugend marschiert von Walther Blachetta 82 werden ausschließlich anhand der wohlbekannten, neutralen, ästhetischen Kategorien der dramatischen Gestaltung, der gutgefügten Handlung und der überzeugenden Personencharakterisierung analysiert.83 Nach wie vor werden die neuen propagandistisch gefärbten Romane in die verschiedenen Kategorien der sentimentalen, sozialen, historischen Gattung eingeteilt, ohne dem Kriterium der Propagan-
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F.Piquet, Rezension: Robert d'Harcourt, L'Evangile de la force (Anm. 29), S. 191; Felix Piquet, Rezension: Henri Lichtenberger, L'Allemagne nouvelle (vgl. Anm. 15), S. 35; Felix Piquet, Rezension: Hans K. F. Günther, Frömmigkeit nordischer Artung (Vgl. Anm. 76), S. 48. Felix Piquet, Rezension: Hermann Günthert, Altgermanischer Glaube (vgl. Anm. 73), S. 280. Vgl. auch Felix Piquet, Rezension: Heinz Küpper, Französische Nibelungen-Forschung. Eine Studie zur französischen Germanistik und Literaturkritik (Köln 1934), in: RG 1935, S. 263-265, s. besonders S. 264-265. Felix Piquet, Rezension: Hans Naumann, Die deutsche Dichtung der Gegenwart (Stuttgart 61933), in: RG 1934, S. 293. Maurice Denis, Rezension: Hanns Johst, Schlageter (München 1933), in: RG 1934, S. 233. Ders., Rezension: Kurt Eggers, Das Spiel von Job dem Deutschen (Berlin 1933), in: RG 1934, S. 226; ders., Rezension: Walther Blachetta, Hitler-Jugend marschiert (Berlin 1933), in: RG 1934, S. 226-227. Über Hanns Johsts Schlageter schreibt ζ. B. Maurice Denis im Jahre 1934: »Nous avons aborde l'ouvrage, nous l'avons lu et relu avec un maximum d'impartialite, voire de Sympathie; nous nous sommes interdit toute reaction devant sa tendance nettement francophobe. Nous n'avons pas voulu rechercher dans quelle mesure le heros de Hanns Johst ressemble au franc-tireur fiisille dans la Ruhr ; le personnage dramatique, seul, nous interesse. L'auteur l'eleve ä la dignite d'un Symbole ; il est trop naturel qu'un Symbole soit d'une rayonnante purete, debarrasse de toutes les mesquineries, de toutes les arrierepensees, de toutes les faiblesses trop humaines.« (vgl. auch RG 1935, S. 233). A. Fournier ist der in der Revue Germanique zuständige Rezensent fur die gegenwärtige Romanliteratur in Deutschland. In seinen Rezensionen propagandistisch gefärbter Romane ist ebenfalls die Prägnanz althergebrachter, akademischer Interpretationsmuster zu bemerken. Vgl. RG 1935, S. 30: »Cependant nous nous garderons de trop insister sur cette division [ideologique], demeurant le plus possible fidele au classement par genres et appreciant chaque auteur, non selon ses tendances, mais d'apres ses dons et son art.« (vgl. ebd., 1938, S. 38ff.).
Politische und hermeneutische
Positionen
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da besondere Aufmerksamkeit zu schenken. 84 Immer wieder wird versucht, die verwirrendsten Erscheinungen der propagandistischen Literatur mit den Grundmustern der deutschen literarischen Tradition zu verbinden: In seiner nationalen und volkstümlichen Dimension ist das Theater des Dritten Reichs mit Lessings Theaterproduktion eng verwandt; durch seinen rhetorischen Schwung und seinen moralischen Anspruch gehört es in die Tradition Schillers; die ihm zugrundeliegende patriotische Begeisterung erinnert an gewisse Aspekte von Kleists Werken. All die Tendenzen, die durch die Jahrhunderte hindurch das deutsche Theater charakterisiert haben, findet man in ihm wieder,
schreibt Maurice Denis 1935.85 Manchmal verstecken sich hinter diesen empathischen, textimmanenten und apolitischen Bekundungen deutliche politische Werturteile. »Wenn man die Hitlerdeutsche Theaterproduktion liest, kann man sich nicht der Bewunderung fur eine solche Willensstärke, eine solche Disziplin und einen solchen Glauben erwehren«, schreibt derselbe Rezensent 1934. »Daß ein Volk in den Schätzen seiner Geschichte bedeutende Beispiele sucht, welche die sittliche Kraft des Vaterlandes heben und ein gesundes Nacheifern hervorrufen, ist durchaus verständlich«. 86 Diese ideologische Annäherung gipfelt in der Wiederaufnahme der in Deutschland offiziell ausgesprochenen Bannsprüche gegenüber verfemten Autoren. Eines fällt in der Revue Germanique auf: Sehr selten wird die Exilliteratur deutscher Sprache erwähnt. Von Thomas und Heinrich Mann, Döblin, Brecht - lauter Autoren, die in den zwanziger Jahren regelmäßig rezensiert wurden - ist nicht mehr die Rede. Anscheinend hat sie ihre Vertreibung aus Deutschland auch gleichzeitig aus der Revue Germanique vertrieben - was um so paradoxer ist, als einige dieser Autoren sich gerade auf französischem Boden befanden. Implizit wird hier eine national und geographisch durchaus eng gezogene Definition der Germanistik entworfen: Als »rezensionsfahig« und vielleicht auch als »deutsch« gelten nur die in Deutschland publizierten und dadurch auch vom deutschen Regime anerkannten Werke. Dieser Definition der literaturwissenschaftlichen Hermeneutik steht eine viel engagiertere Auffassung der Germanistik gegenüber. 87 Bei den Tagungen der von Andler begründeten, später von Lichtenberger und Vermeil geführten Germanistenvereinigung 88 wird der Exilliteratur große Bedeutung beigemessen. Vor der SEG 84
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Die Revue Germanique zählt nur einen Rezensenten, der eine Umwandlung der üblichen Klassifizierungskriterien vornimmt, und zwar Camille Schneider, der 1937 die zeitgenössische Poesie in zwei Kategorien einteilt: eine propagandistische, über die er sich kurz faßt, und eine »unpolitische«, die er eingehend analysiert (vgl. RG 1937, S. 378). Maurice Denis, Revue annuelle. Le theatre allemand, in: RG 1935, S. 233. Vgl. auch dazu Felix Piquet, in: RG 1939, S. 57 und A. Fournier, in: RG 1937, S. 175. Maurice Denis, in: RG 1934, S. 225-227. Dieses politische Engagement findet man sowohl in der Zeitschrift Races et Racisme, als auch (wenn auch in einem geringeren Maße) in der RELV und in der Zeitschrift Langues Modernes. Die Berichte über die Tagungen der SEG erscheinen regelmäßig in der RELV. Nach dem Krieg gründet die SEG ihre eigene Zeitschrift: Etudes Germaniques. Ganz anders als in
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schildert Alfred Döblin im Dezember 1937 sein früheres Leben in Berlin89 und hält im Februar 1939 einen Vortrag über die deutsche Kritik an der Psychoanalyse,90 Im März 1936 behandelt Vermeil in diesem Rahmen das höchst politische Thema der Beziehungen Gottfried Benns zum Nationalsozialismus. 91 Neben diesen offenkundigen politischen Stellungnahmen ist auch eine viel indirektere Form des Engagements zu finden, die mit rein wissenschaftlich-philologischen Mitteln die ideologischen Grundlagen des Regimes angreift, ohne den Nationalsozialismus explizit zu thematisieren. Ein kennzeichnendes Beispiel dafür bietet ein philologischer Beitrag Paul Levys aus dem Jahre 1933, in dem mit wissenschaftlicher Strenge die widersprüchlichen Bedeutungen des Begriffs »deutsch« ans Licht gebracht werden. Schließlich wird dieser Kernbegriff der nationalsozialistischen Lehre völlig dekonstruiert. 92 Dadurch, daß sie zur Enthüllung und Verschärfung politischer und hermeneutischer Gegensätze gefuhrt haben, haben die dreißiger Jahre vielleicht indirekt zur Entstehung der Fachgeschichte beigetragen. Nicht zufallig hat sich Paul Levy kurz nach dem Krieg mit der Geschichte der Germanistik in Frankreich zu beschäftigen begonnen. Schon 1947 und 1948 erscheinen seine ersten Arbeiten über die französischen Germanisten im 19. Jahrhundert, 93 welche 1952 mit einer eingehenden Untersuchung in seinem Buch La langue allemande en France abgeschlossen werden. 94 Der Nationalsozialismus und die Kriegserfahrung haben bei den französischen Germanisten eine historische Selbstbestimmung, eine Rückschau auf die eigene Fachgeschichte notwendig gemacht. Daß diese fruchtbaren Untersuchungen lange Zeit nicht wirklich aufgegriffen wurden, kann hier nicht analysiert werden, muß allerdings als Aufforderung angesehen werden, der Fachgeschichte in Zukunft die ihr gebührende Aufmerksamkeit zu widmen.
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der Revue Germanique nehmen die Rezensenten der RELV deutlich Stellung zu den ideologischen Voraussetzungen der behandelten Bücher. Frankreich, ein 1936 erschienenes Werk des Romanisten Otto Maulls, das von Piquet trotz aller Neutralitätsbekundungen in der Revue Germanique positiv bewertet wurde (RG 1936, S. 208), wird in der RELV (April 1939, S. 172) verrissen. Bericht über Alfred Döblins Vortrag, Literarische und politische Erinnerungen aus Berlin, am 12. Dezember vor der SEG gehalten, in: RELV, Februar 1938, S. 78-81. Bericht über Alfred Döblins Vortrag, Eine deutsche Kritik an der Psychoanalyse, am 11. Februar 1939 vor der SEG gehalten, in: RELV, April 1939, S. 177-179. Bericht über Edmond Vermeils Vortrag, Gottfried Benn et les tendances antiintellectualistes du Nationalsocialisme, in: RELV, März 1936, S. 128-130. Paul Levy, Le germanisme ä l'etranger, Strasbourg 1933, besonders S. 28-51; La notion »deutsch« et ses composes, in: RG 1933, S. 221-230. Paul Levy, Professeurs d'allemand d'autrefois, in: Les langues modernes, NovemberDezember 1947, Heft A, S. 574-579; Les professeurs de langues vivantes au XIXe siecle, ebd., Mai, Juni, Juli 1948, S. 353-357, Heft B. Paul Levy, La langue allemande en France, 2 vol., Paris, Lyon 1952.
Johannes Volmert (Magdeburg)
»Die Krone der Gelehrtenrepublik«1 jenseits von Politik und Geschichte Vergleich zweier Universitätsreden von Jost Trier aus den Jahren 1938 und 1947
1. Jost Trier als Hochschullehrer: Vom Promovenden (Freiburg 1923) zum Dudenpreisträger (Mannheim 1968) Die Vita von Jost Trier zeigt - oberflächlich betrachtet 2 - die bruchlose Karriere eines Wissenschaftlers, der als Indogermanist, als Volkskundler, Sprachhistoriker und Mediävist noch die Einheit von Literatur- und Sprachwissenschaft unter dem Signum einer »Deutschen Philologie« vertritt. Das im I. Weltkrieg unterbrochene Studium schließt er 1920 in Marburg durch die »Prüfling für das Lehramt an Höheren Schulen« ab, und bereits 1922 legt er in Freiburg/Br. eine aufwendig recherchierte, materialreiche Dissertation vor: Der Heilige Jodocus. Sein Leben und seine Verehrung, zugleich ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Namengebung eine sowohl kirchen- und kulturhistorische wie auch namenkundliche Arbeit. 3 Nach Marburg zurückgekehrt, habilitiert er sich 1928 mit der Untersuchung Der deutsche Wortschatz im Sinnbezirk des Verstandes,4 Hier entwickelt Trier einen sowohl vom theoretischen Zugriff als auch in den Methoden neuartigen Forschungsansatz, der sich für die sprachwissenschaftliche, insbesondere die sprachhistorische Disziplin in Deutschland für mehr als drei Jahrzehnte als äußerst folgenreich erweisen soll. Vor allem diese Arbeit begründet Triers Ruf und seine führende Rolle in der »Wortfeldforschung«, und sie wird den Ausschlag gegeben haben bei seiner Berufung auf den Lehrstuhl fur Deutsche Philologie an der Universität Münster im Jahre 1932.
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Nach der Formulierung von Friedrich Ohly »Am Grab einen Kranz niederlegend«, in: Gedenkschrifi fur Jost Trier. Hrsg. von Hartmut Beckers und Hans Schwarz, Köln und Wien 1975, S. IX. Vgl. Kürschners Deutscher Gelehrten-Kalender [KDGK] 1961, S. 2117f.; 1966, S. 2517; 1970, S. 3069f. - Vgl. Festschrift fiir Jost Trier zum 70. Geburtstag. Hrsg. von William Foerste und Karl Heinz Borck, Köln und Graz 1964; Gedenkschrifi: Trier (Anm. 1), Vorwort. Von der Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg i.Br. im Januar 1923 angenommen; 1924 bei Μ. & H. Marcus, Breslau, publiziert; fotomech. Nachdruck bei G. Olms, Hildesheim und New York 1977. Erst 1931 in einer um ca. 150 Seiten längeren Fassung bei C. Winter, Heidelberg, publiziert, erweitert um die Kapitel »Der Wortschatz der Ritterepen der Blütezeit« und »Der Wortschatz der Ritterepen in vergleichender Darstellung«; fotomechan. Nachdruck bei C. Winter, Heidelberg 1973.
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Johannes Volmert
D i e Habilitationsschrift wird zunächst angekündigt als Teil I eines großen Forschungsprojekts zur Geschichte des sprachlichen Feldes (»im Sinnbezirk des Verstandes«); dennoch kommt es trotz vieler Einzeluntersuchungen - Triers sowie seiner Schüler und Nachfolger - nicht zu einer konsequenten Fortsetzung der geplanten sprachgeschichtlichen Quer- und Längsschnittstudien. Zwischen 1928 und 1934 publiziert Trier außerdem einige Zeitschriftenbeiträge, die das Konzept des sprachlichen Feldes (bzw. »Wortfeldes«) in kompakter Form vorstellen und an neuem Material erproben, auch weiterentwickeln vor dem Hintergrund des vielfachen wissenschaftspublizistischen Echos. Auffallend ist jedoch das Verstummen der Publikationstätigkeit zwischen 1934 und 1938; es erscheint schwierig, die Hintergründe dieses »Einbruchs« wissenschaftlicher Arbeit genauer zu erkunden. Eine Ursache liegt sicher in den schon 1933 einsetzenden Versuchen der politischen Gleichschaltung und Instrumentalisierung von Wissenschaft; insbesondere die (vom Fachverband programmatisch als »Deutschwissenschaft« geforderte 5 ) Germanistik gerät unter ideologischen Anpassungsdruck - soweit sie nicht dem »nationalen Aufbruch« bereitwillig oder gar begeistert Tür und Tor öffnet. 6 Offenkundig ist, daß wortkundliche, etymologische und vergleichende Forschungen (wie die von Trier) auch inhaltlich hohen Erwartungen ausgesetzt sind: Die indogermanische und vergleichende Sprachwissenschaft wird der Germanistik wichtigste Hilfsdienste zu leisten haben [...] Eine Hauptaufgabe der sprachwissenschaftlichen Germanistik muss dabei sein, die von der Germanenkunde erarbeiteten Grundwerte und Entwicklungslinien nun durch die Sprache und ihre Literatur in einem Jahrtausend der deutschen Volksgeschichte zu verfolgen und zu einem einheitlichen Gesamtbild germanistischer Kontinuität zusammenzufassen. Eine entscheidende Aufgabe fällt dabei vor allem der Sprachgeschichte und Dichtungsgeschichte zu [...] gerade die Dichtung ist für sie [die Germanistik, J.V.] geformter Ausdruck des germanisch-deutschen Menschentums, bezw. seiner Gegner und Zersetzungen. 7
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Vgl. Gerhard Fricke, Über die Aufgabe und die Aufgaben der Deutschwissenschaft, in: ZfDB 9 (1933), S. 494-501. Vgl. Holger Dainat, Anpassungsprobleme einer nationalen Wissenschaft. Die Neuere deutsche Literaturwissenschaft in der NS-Zeit, in: Atta Troll tanzt noch. Selbstbesichtigungen der literaturwissenschaftlichen Germanistik im 20. Jahrhundert. Hrsg. von Petra Boden und Holger Dainat, Berlin 1997, S. 103-126. Vgl. Helmut Heiber, Universität unterm Hakenkreuz, Bd. 1: Der Professor im Dritten Reich. Bilder aus der akademischen Provinz, München u.a. 1991; Bd. 2: Die Kapitulation der Hohen Schulen. Das Jahr 1933 und seine Themen, München u.a. 1994; Germanistik in den Planspielen des Sicherheitsdienstes der SS. Ein Dokument aus der Frühgeschichte der SD-Forschung. Hrsg. von Gerd Simon. Teil 1, Tübingen 1998, S. 9f.; vgl. H. Dainat, Anpassungsprobleme (Anm. 5), S. 103f.; Wilhelm Voßkamp, Kontinuität und Diskontinuität. Zur deutschen Literaturwissenschaft im Dritten Reich, in: Wissenschaft im Dritten Reich. Hrsg. von Peter Lundgreen, Frankfort/Main 1985, S. 140-162. - Vgl. die rigorose Position von Klaus Briegleb, Unmittelbar zur Epoche des NS-Faschismus. Arbeiten zur politischen Philologie 1978-1988, Frankfurt/Main 1989, besonders das Kapitel »Deutschwissenschaft 1933«, S. 103-138. Germanistik in den Planspielen (Anm. 6), S. 6.
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Aber der »rassenkundliche« Auftrag der neuen Machthaber, die Forderung nach propagandistischer Umsetzung wissenschaftlicher Arbeit im Sinne von Partei und Staat ist mit Triers Selbstverständnis als Sprachwissenschaftler, als Forscher und Hochschullehrer offensichtlich nicht vereinbar - obwohl er dem »nationalen Aufbruch« (nach Auskunft der Quellen) durchaus positiv gegenübersteht. Trier ist zwar Parteigenosse, tritt aber als solcher wenig hervor; bei der »Gleichschaltung« und »Eroberung« der »erzkatholischen Universität« Münster durch die »Bewegung« hat er keine prominente Rolle gespielt. 8 Nach einer vierjährigen Pause finden wir erst 1938/39 eine erneute Publikationstätigkeit. 9 Für Trier hat inzwischen eine Umorientierung stattgefunden; obwohl er methodisch die Arbeit von Anfang der dreißiger Jahre fortsetzt, konzentriert er sich jetzt auf volkskundliche Themen, auf Wort- und Sachgeschichte im Bereich des bäuerlichen Lebens (bereits seit 1932 ist er Mitglied der »Volkskundlichen Kommission« Münster; seit Mitte der dreißiger Jahre entsteht eine Vielzahl von Dissertationen zu wortgeschichtlichen, volks- und »germanenkundlichen« Themen unter seiner Betreuung). 10 Auch nach Kriegsende bleibt er eine hochgeschätzte, in seinen wissenschaftlichen Arbeiten vieldiskutierte Forscherpersönlichkeit; die höchsten Ehrungen erfahrt Trier allerdings erst mit Beginn der fünfziger Jahre. 1951 bis 1956 ist er Erster Vorsitzender des Deutschen Germanistenverbandes, ab 1962 sein Ehrenmitglied. 1956/57 wird er Rektor der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Ab 1952 ist er als ordentl. Mitglied der »Arbeitsgemeinschaft fur Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen« maßgeblich beteiligt an der Entwicklung von Leitlinien fur Forschung und Lehre. 1968 krönt der Konrad-Duden-Preis der Stadt Mannheim die wissenschaftliche Laufbahn, und in seinem letzten Lebensjahr ernennt ihn das Institut für deutsche Sprache zum Ehrenmitglied. Es ist schwer, für den Sprachhistoriker und Hochschullehrer Trier, dem in der ausgehenden Weimarer Republik, während der gesamten NS-Zeit und in zweieinhalb Nachkriegsjahrzehnten ein gleichbleibend hoher Rang als Forscherpersönlichkeit zugeschrieben wird, Maßstäbe der Einordnung und Bewertung zu finden. Während seine Arbeiten - aus heutiger Sicht - wichtige Zulieferdienste fur die wissenschaftliche, d.h. sprachhistorische und volkskundliche »Fundierung« der Volkstums- und Rassenideologie zu liefern scheinen, wird seine politische »Zuverlässigkeit« Ende der dreißiger Jahre durch den Sicherheitsdienst der SS als fragwürdig eingestuft; er erscheint unter der Kategorie »Liberale und Reaktionäre«. 11 An seinen nationalkonservativen Überzeugungen kann allerdings kein Zweifel bestehen; seine sprachkonservativen, ja puristischen Einstellungen zum
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Vgl. H. Heiber, Universität (Anm. 6), Bd. 2, S. 676-726. Vgl. die Auflistung sämtlicher publizierter Äußerungen Triers, auch als Herausgeber, Referent, Betreuer, Rezensent, Verfasser von Arbeitsberichten u.ä. in: Gedenkschrift Trier (Anm. 1), S. 369-384. Vgl. die Titel aus dem Publikationsverzeichnis in: Gedenkschrift Trier (Anm. 1), S. 3 6 9 384; s. auch die Liste der von Trier betreuten Dissertationen, ebd., S. 385-391. Nach: Germanistik in den Planspielen (Anm. 6), S. 13; vgl. auch H. Heiber, Universität (Anm. 6), Bd. 2, S. 724ff.
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»Deutschtum« und zur Muttersprache dokumentieren alle publizistischen Äußerungen dieser Zeit.12 Gleichwohl bleiben seine wissenschaftlichen Standards, seine Prinzipien und Methoden geprägt vom Ethos einer Standestradition, die das philologische Erbe des 19. Jahrhunderts konsequent fortsetzt. Bei dem Versuch, aus wissenschaftspublizistischen Äußerungen Kriterien zur Einschätzung Triers als Forscher und Hochschullehrer zu gewinnen, kann es nicht darum gehen, den »Privatmann«, seine politischen, religiösen und sozialen Überzeugungen im einzelnen zu sezieren, aus den Quellen zu eruieren, wie er mit dem Amtseid (»Treueschwur«) des Hochschullehrers auf Hitler umgegangen ist,13 wie er sich zu (ehemaligen) jüdischen Kollegen, Freunden, Nachbarn verhalten hat, ob und wo er den »Deutschen Gruß« verwendete u.v.a.m. Viel eher könnte (und sollte) die Analyse Anhaltspunkte aufweisen, inwieweit der »Prof. Trier der Jahre 1938 und 1947« - als Phänomen eines deutschen Sprachwissenschaftlers der ersten Jahrhunderthälfte - Exponent eines wissenschaftlichen Systems gewesen ist, eines Systems, dessen Grundstrukturen hohe Stabilität und Resistenz gegen Eingriffe »von außen« zeigen; Strukturen, die historisch über die NS-Zeit und die Weimarer Republik weit hinausreichen und deren Kontinuität auch in den Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg keineswegs gebrochen ist. Dabei soll die mehr oder minder große »Nähe« der politisch-sozialen Einstellungen, des Weltbildes des überwiegenden Teils der germanistischen Professoren, zum Nationalsozialismus keineswegs bestritten werden. Ob man hier von »faschistoiden Dispositionen« einer bürgerlich-konservativen Zunft sprechen kann, ist sicher auch eine Frage des Standorts.14
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Vgl. Ruth Römer, Sprachwissenschaft und Rassenideologie in Deutschland, München 1985. Römer hat die Schriften aller im »Dritten Reich« im deutschen Sprachraum lehrenden Sprachwissenschaftler, Philologen (usw.) minutiös durchstöbert. Bei Trier findet sie nur wenig Anhaltspunkte, die Affinitäten zur herrschenden Rassenideologie zeigen; vgl. z.B. S. 67: »Der Germanist Jost Trier, einer der kenntnisreichsten deutschen Etymologen, nahm 1944 von der Verfälschung der Begriffe Arier und arisch keine Kenntnis.« Römer zitiert im folgenden aus Triers Aufsatz »Pflug« (in: PBB 67 [1944], S. 110-150; 114f): »Es war deshalb lebenswichtig, grade am Einzelnen die völkische Unterscheidung durchzufuhren, den Einzelnen durch Benennung einzuweisen. Diese völkische Einweisung war zugleich eine rassische und das hebt auf neue aryah hervor. Der Anaryah wurde vom Aryah als rassisch minderen Ranges erlebt. Aus dem Gegensatz (Abstandswert) erwächst das rassische Überlegenheitsgefühl, das Bewußtsein der eigenen Vorzüglichkeit, das zum Inhalt des Wortes und zum Gefühlswert des Namens Aryah gehört.«
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Vgl. H. Heiber, Universität (Anm. 6), Bd. 1, bes. S. 156-165, S. 319ff. et passim. Heiber hat dazu am gründlichsten das zur Verfügung stehende Material aufgearbeitet, »Psychogramme« zu einzelnen Hochschullehren erstellt und den Alltag »aus der akademischen Provinz« anschaulich vor Augen geführt. Wolfgang Fritz Haug, Der hilflose Antifaschismus, 4. Aufl., Köln 1977, besonders S. 5 4 81. In seinen »tiefenhermeneutischen Analysen« der Vorlesungsreihen über die Rolle der Hochschulen in der NS-Zeit kann Haug u.a. zeigen, wie konstitutiv für die deutsche Professorenschaft ihr ideologisches Selbstverständnis der »Ideologiefreiheit« von Forschung und Lehre gewesen ist: um die Universität als Schutzraum der scientific community zu behaupten, für die Konservierung der Standesethik und der »Freiheit« [Autonomie] der
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2. Rede zur Eröffnungsfeier der Münsterischen Hochschultage am 17.6.1938: Warum studieren wir die Geschichte unserer Muttersprache?15 Die Rede zur Eröffnung der Münsterischen Hochschultage ist ein Dokument: ein Dokument, das Aussagen enthält, wie man sie in keiner Publikation Triers während der NS-Zeit finden kann. Sie entwickelt Ansätze zu einer politisch-ideologischen Standortbestimmung seiner Zunft, zum gesellschaftlichen Auftrag von Wissenschaft allgemein und Sprachwissenschaft im besonderen. Allerdings sind viele Elemente dieser Standortbestimmung ohne Berücksichtigung des internen und externen hochschulpolitischen Diskurses (bis 1938) nicht leicht zu entschlüsseln. Triers Antworten auf die selbstgestellte Frage »Warum studieren wir die Geschichte unserer Muttersprache?« sind - auf den ersten Blick - von »lebensphilosophischer« Allgemeinheit, werden durch Metaphern und Bilder verkleidet und sind z.T. kryptisch formuliert. Es gilt, diese Formulierungen in ihrem Symptomcharakter vor dem seit 1933 schwelenden Konflikt zwischen etablierter (Geistes-)Wissenschaft und NS-Wissenschaftspolitik zu analysieren, Techniken der Selbstbehauptung zu zeigen, zugleich den Versuch zu machen, die pathetisch überhöhten Zielsetzungen von Wissenschaft als eine Möglichkeit zu interpretieren, dem NS-Staat formale und inhaltliche Konzessionen zu machen - und diese (vielleicht) gleichzeitig zurückzunehmen. Triers Eröffnungsrede zu den Münsterischen Hochschultagen ist auch als Pflichtübung zu verstehen: Der langjährige Dekan 16 steht unter starkem Erwartungsdruck. In den Akten des Sicherheitsdienstes der SS werden die - in Fachkreisen seit 1933 bekannten und diskutierten - Forderungen zu den »zentralen und lebenswichtigen Aufgaben« formuliert, die »der Germanistik heute [...] gestellt« sind: »Als Wissenschaft vom deutschen Wesen und Menschenbild, wie es in der deutschen Völksgeschichte seit ihren germanischen Anfängen sprachliche Gestalt
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Wissenschaft. - Allerdings ist in vielen neueren Untersuchungen kritisiert worden, daß mit der Elle einer ökonomistisch-materialistischen oder auch »nur« ideologiekritischen Theorie (die man Haug so nicht unterstellen kann) den komplexen Gesellschafts- und Herrschaftsstrukturen des Wissenschaftssystems nicht beizukommen ist. Ich zitiere nach dem Abdruck in: Die Welt als Geschichte. Eine Zeitschrift für Universalgeschichte 4 (1938), S. 347-357. Zitatangaben im folgenden im Text. - Nach dem Publikationsverzeichnis in der Gedenkschrift Trier (Anm. 1), S. 374, ist der Vortrag »entstellt wiederabgedruckt« in: Beiträge zum Neuen Deutschunterricht 1939, S. 3-10. Eine Synopse, die hier nicht vorgenommen wurde, könnte sicher interessante Einblicke in die »propagandistische« Verwertung (oder auch nachträgliche Retuschen?) des Vortragstextes gewähren. Bereits 1935 und 1936 war Trier zweimal Dekan der Philosophischen und Naturwissenschaftlichen Fakultät; als wissenschaftliche Autorität und Hochschullehrer mit besonderer »Standfestigkeit« scheint er der berufene Vertreter einer solchen Selbstdarstellung. - Zu den vorausgehenden Entwicklungen an der »Skandaluniversität Münster« vgl. den Beitrag von Andreas Pilger in diesem Band. Vgl. auch H. Heiber, Universität (Anm. 6), Bd. 2, S. 670-731.
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gewonnen hat, fallt der Germanistik heute ein wesentlicher Teil der Aufgabe zu, ein neues, die Jahrhunderte der eigenen völkisch-politischen Entwicklung übergreifendes Geschichtsbild zu erarbeiten.« 17 Die folgende Analyse will den Autor selbst beim Wort nehmen, möchte z.T. durch »mikroskopische Durchleuchtung« einzelner Formulierungen, Bildverknüpfungen und Argumentationsschritte herausarbeiten, wie Trier sich dieser Herausforderung stellt - und sich ihr doch, wie zu zeigen sein wird, in gewisser Weise entzieht. >Was ist Wissenschaft?< - das ist die implizite Eingangsfrage von Triers Ausführungen, und seine Antwort (Wissenschaft - »eine Weise des menschlichen Lebens«) ist eine Replik auf >UnterstellungenVerantwortung< der Geisteswissenschaften richtet sich natürlich in erster Linie an die Fachvertreter, und der Auftritt bei der »Eröffnungsfeier« bietet Trier die Gelegenheit (und Verpflichtung) zu einem ausführlichen Plädoyer, dessen Quintessenz sinngemäß lautet: Wissenschaftler leben auf eine besondere Weise diese besondere Weise des Lebens; in Triers Worten: Daß es Menschen gibt und immer geben wird, die ihre Erfüllung in der Wissenschaft suchen, das heißt in einem entsagenden und beglückenden Anschauen und Begreifen dessen was ist [...] man soll es freudig bejahen, man soll es wollen als eine Erscheinung des Lebensreichtums selbst [347].
»Erfüllung suchen, in einem entsagenden und beglückenden Anschauen und Begreifen« - das beschreibt in (fast mystischen) Begriffen der Innerlichkeit die Weise der Berufung zur Wissenschaft. Der Raum, in dem der Berufene tätig wird, stellt sich dar als organische, pandämonische Einheit von Wissenschaft und »reichem Leben«. Der »Wissenschaft« zu dienen - denn »um Dienst und nur um Dienst kann es sich handeln« (348) - ist Gnade / Begnadung, die nur fur wenige möglich ist. Trier geht hier anscheinend selbstbewußt und offensiv auf das Problem der Rechtfertigung seines »Amtes« und seiner Zunft gegenüber dem politischen Auftrag des NS-Staates ein. Die eingangs konstruierte - und »widerlegte« - Opposition von Wissenschaft und Leben wird hier noch erweitert bzw. im Sinne des NS-
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Germanistik in den Planspielen (Anm. 6), S. 61. Vgl. ebd., S. 61f.
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Staates ins >Grundsätzliche< überhöht: »Wissenschaft und Volksgemeinschaft eine Entgegensetzung«? »Vor dem Ernst der Frage«, so antwortet Trier, »die mit diesem Begriffspaar gestellt ist, gibt es kein Ausweichen, hier muß bekannt werden« (347). Indessen entledigt sich der Redner mit einer knappen, ja kategorischen Antwort der Verpflichtung zum »Bekenntnis«: »Die Volksgemeinschaft als urgegebene Größe trägt alle Weisen des Lebens, auch die, die wir Wissenschaft nennen« (ebd.). Offensichtlich wird diese Sentenz jedoch als unzureichend empfunden, um den als Begriffsgegensatz stilisierten Konflikt zu lösen; der Sprecher scheint an dieser Stelle nicht bereit (oder imstande?), die »bekennende« Stellungnahme auszuformulieren. Er befreit sich gewissermaßen aus dem Dilemma durch einen argumentativen Sprung - den man auch als rhetorische »Übersprungshandlung« deuten könnte: »Und selbst in den Wissenschaftsgebieten, auf denen eine fast nie unterbrochene Arbeit von Jahrtausenden die Dinge in die eisige Luft reinster Gedanklichkeit emporgetrieben hat, gibt es wechselnde Stile des forscherlichen Zugreifens, Stile des Fragens, die nicht vollkommen losgelöst sind von den Geistesarten der Volkskörper« (ebd.). 19 Der »heroische« Gestus dieser Passage spricht für sich; die Verve der Superlative entbindet von jeder weiteren Begründung. Die eigenartige Formulierung »Geistesarten der Volkskörper« scheint mir Triers Reaktion auf ein zentrales Postulat der Zeit an »deutschkundliche« Wissenschaft zu sein: den auf Rasse und Erbe beruhenden »Volksgeist« in Literatur und Sprache herauszuarbeiten, seine »Gestalten« und »Kräfte« - wie es bei Weisgerber heißt - sichtbar zu machen. 20 Im folgenden verengt Trier die pathetisch gestellte Frage nach dem Verhältnis der Wissenschaft zur Volksgemeinschaft auf den Aspekt der Partizipation. Dabei macht er einige feinsinnige Unterscheidungen: Ein Irrtum aber wäre es zu meinen, daß nun die Volksgemeinschaft auf die Art an der Wissenschaft teilhaben müßte, daß die Wissenschaft sich an jeden einzelnen Volksgenossen wenden könnte oder sollte, daß jedem einzelnen Volksgenossen unmittelbarer Zugang zur Wissenschaft eröffnet werden müßte. Und vollends verhängnisvoll wäre es, den Wert einer Wissenschaft nur so weit und nur da anzuerkennen, wo und wie sie noch einem jeden Volksgenossen zugänglich ist oder zugänglich zu sein scheint. So zu fordern und so zu werten ist ein Rest individualistischen Denkens, d.h. eines Denkens, das nicht sieht, daß die Volksgemeinschaft mehr und daß sie etwas anderes ist als die Summe ihrer Genossen [348],
Mit dieser Standortbestimmung zeigt sich Trier einerseits ausgesprochen politikkonform, andererseits auch realistisch. Wir finden eine deutliche Absage an alle demokratischen Ansprüche an und Legitimationsweisen von »Wissenschaft« gegenüber der »Masse der Volksgenossen«. Die »Teilhabe aller« sei eine ganz unsinnige Forderung, welche überholtes »individualistisches« (= demokratisches)
19 20
Die im Original gesperrt gesetzten Wörter werden hier kursiv wiedergegeben. Ausführlich dazu R. Römer, Sprachwissenschaft und Rassenideologie (Anm. 12), S. 153— 170.
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Denken offenbare. In einem auffallig belehrenden Exkurs expliziert der Redner sein Verständnis von der »Teilhabe« der Volksgemeinschaft an Wissenschaft: Weg und Art, auf welchen die Volksgemeinschaft teilhat an der Wissenschaft, fuhren nicht über die Masse der einzelnen Genossen, sondern sie fuhren über die Gruppe der wissenschaftlichen Arbeiter, über eine Gruppe also, welche die Volksgemeinschaft in ihrer Ganzheit und aus ihrer Ganzheit heraus als gliedhaften Teil entfaltet und mit den besonderen Aufgaben der Wissenschaft betraut hat [ebd.].
Die Argumentation verwendet hier wieder ein mystisches Paradoxon: Wissenschaftler (»wissenschaftliche Arbeiter«) sind zwar als gliedhafter Teil aus der Volksgemeinschaft hervorgegangen; zugleich trennt sie eine unaufhebbare Distanz von der »Masse der Volksgenossen«. Die Volksgemeinschaft, die ganz im Sinne des NS-Staates »etwas anderes und mehr ist als die Summe der Volksgenossen«, stellt sich in den Metaphern Triers dar als organisches Überindividuum, aus dem die Glieder herauswachsen, welche die Früchte der Wissenschaft hervorbringen. Mit diesem Bild ist eigentlich unvereinbar, daß die Volksgemeinschaft diesen »gliedhaften Teil« »mit den besonderen Aufgaben der Wissenschaft betraut«. Und wiederum unvereinbar mit der organischen Metapher ist, wie der Wissenschaftler diese Betrauung erfährt und sich ihr gegenüber bewährt: »Ob ich, der einzelne, zum Kreis dieser Betrauten gehöre, diese Frage beantwortet im Innern des einzelnen das Gewissen, im großen aber und nach außen die Zukunft« (ebd.). Die »Betrauung« muß also eher verstanden werden als Berufung, eine innere Berufung zur Führerschaft, verantwortlich nur vor sich selbst und vor der Geschichte, der »Zukunft«. Die Bilder verweisen zugleich auf die »Einsamkeit und Freiheit«, 21 die mit der geistigen Führerschaft verbunden sind. Ohne die »subtilen« Unterscheidungen von »Teilhabe« und »Teilnahme« weiter zu explizieren, statuiert Trier: »Die Teilhabe der Volksgemeinschaft an der Wissenschaft ist eine gliedhafte Teilhabe, die Teilnahme aller Volksgenossen an der Wissenschaft eine mittelbare Teilnahme« (ebd.). Im zweiten Teil dieses Abschnitts wird allerdings im Klartext ausgesprochen, welche Rolle der standesbewußte Wissenschaftler der Volksgemeinschaft und den Voksgenossen zugedacht hat: Das enthält in sich, daß - wie überall so auch hier - die Ganzheit für das Tun ihres Gliedes einzutreten hat, und es weiß jedermann, wie im Wettstreit der großen Kulturvölker wissenschaftliche Leistung und wissenschaftliches Versagen, Ruhm und Verachtung den Völkern als Ganzheiten zugewandt und angerechnet werden [348],
Anders gesagt: Die »Ganzheit« hat der Wissenschaft einerseits die Ressourcen zur Verfügung zu stellen, hat andererseits Verfügungsmasse zu sein, hat schließlich für die Konsequenzen und Folgen von Wissenschaft einzustehen - das erinnert an ein
21
Das Diktum Schelskys nimmt einen Topos auf, der bereits seit dem 19. Jahrhundert ein Gemeinplatz ständisch-wissenschaftlichen Selbstverständnisses ist; vgl. Einsamkeit und Freiheit. Zehn Vorträge der 5. Arbeitstagung des Amtes Schrifttumspflege beim Beauftragten des Führers für die gesamte geistige und weltanschauliche Erziehung der NSDAP. Hrsg. von Hans Hagemann, Stuttgart 1939.
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feudalistisches Treueverhältnis zwischen Führern und Gefolgschaft. Erfüllt sich hier der Wunschtraum des germanistischen Wissenschaftlers auf seinem »Weg zum Volk«: Wissenschaft zu betreiben als eine besonders innige Form des Gewaltverhältnisses?22 Das Bild der von der Volksgemeinschaft »Betrauten« und innerlich Berufenen wird im folgenden durch mystische, pathetisch überhöhte Formulierungen ausgeschmückt: Jene Gliedhaftigkeit und Mittelbarkeit der Teilhabe hat noch eine andere Seite. Es gehört zum Wesen der Wissenschaft, diejenigen, die ihr dienen [...] auf eine einzigartige Weise zu formen, und zwar in den besten Fällen so, daß das ganze Sein dieser Menschen von den Kräften der Wissenschaft durchtönt wird und sie auch da, wo sie ruhen oder ein Beliebiges tun, ob sie wollen oder nicht, ununterbrochen in ihrer Haltung Zeugnis von jener wissenschaftlichen Formung ablegen [348],
Das Amt / der Stand der Wissenschaftler ist also weit mehr als der eines besonderen »Gliedes der Volksgemeinschaft« bzw. der »Gruppe der Arbeiter«, die von der Volksgemeinschaft »mit besonderen Aufgaben betraut« werden. Der »Dienst« wird mit einer religiösen Aura umgeben: Wissenschaftler sind Menschen, die auf mystische Weise von den »Kräften der Wissenschaft durchtönt« werden. Und diese besonderen Weihen erfassen sie in der Totalität ihrer Person, »ihres ganzen Seins«, in der Weise, daß sie »ununterbrochen Zeugnis ablegen [...]«. Als Assoziationshintergrund kann der von Trier besonders geliebte (und nach Berichten von Zuhörern fast zeremoniell behandelte) Grals-Mythos im ParzivalEpos dienen: Der Wissenschaftler gehört »in den besten Fällen« zur Bruderschaft der Gralshüter, und in der Rolle einer solchen geistig-geistlichen Führerschaft kann er sogar Distanz zur politischen Führung entwickeln.23 Trier fahrt fort: Von solchen Menschen gehen Wirkungen aus, schon deshalb, weil sie anders sind, Wirkungen, die sich nach Art von Wellen verbreiten, Wirkungen, die nichts mit wissenschaftlichen Inhalten zu tun zu haben brauchen und die dennoch etwas vom Feinsten und Seelischen des wissenschaftlichen Menschen zart in die lebensmäßig umgebenden Teile der Volksgemeinschaft ausstrahlen [348].
Die Metaphorik konstruiert hier eine besondere Art des charismatischen Führertums: »etwas vom Feinsten und Seelischen des wissenschaftlichen Menschen zart
22
23
Vgl. Κ. Β riegleb, Epoche des NS-Faschismus (Anm. 6), bes. S. 112, S. 116, S. 118, S. 121 et passim. In der Festschrift Trier (Anm. 2) heißt es im Geleitwort (S. VIII): »Ein Sprachforscher, dem es vordringlich um die Erforschung der Inhalte geht, muß zugleich Philologe sein [...] Wenige dürften dazu berufener sein als Sie, verehrter Jubilar, dem nicht nur Lust und Begabung zur Sprachwissenschaft, sondern auch ästhetische Sensibilität und künstlerische Gestaltungskraft in die Wiege gelegt wurden. Das zeigt eindrucksvoll Ihr Aufsatz über Gotfrit von Straßburg. Und Ihre brillanten Vorlesungen über mittelalterliche deutsche Dichtung werden den Tausenden von Hörern, die seit mehr als dreißig Jahren in Münster gebannt zu Ihren Füßen sitzen, unvergessen bleiben.«
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[...] ausstrahlen«. Das Bild sagt ebensoviel über die unüberbrückbare Distanz des Wissenschaftlers zu den »Volksgenossen« wie über die Art, wie er auf sie einwirkt. Eigenartigerweise werden die Wertorientierungen der mystischen Führerschaft nun expliziert durch pragmatische, z.T. durchaus rationale Prinzipien, die zu den Leitlinien und zum Selbstverständnis etablierter Wissenschaft seit dem 19. Jahrhundert gehören: Eine Art, genau hinzusehen; eine gewisse Art, scharf zu fragen; ein bestimmter Widerwille gegen Aussagen, die zu schwebend oder zu schwammig sind, als daß man sie ergreifen und auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen könnte; eine unerbittliche Forderung nach Antworten, die auf die Frage, nur auf die Frage und auf die ganze Frage eingehen [348f.].
Das empirisch-rational begründete Programm wird jedoch wiederum eingebettet in ethische Imperative, die die quasi-religiöse Stellung der »Berufenen« begründen: der Wille zum Dienst an einem überpersönlichen Geistigen; Selbstkritik, Wahrheitsstreben, Ehrfurcht vor dem Seienden; Entschlossenheit, die eigene Kraft da einzusetzen, wo der Stand einer Frage diesen Einsatz fordert - das alles sind menschliche Züge, die da, wo es echte wissenschaftliche Menschen gibt, in sanften und eindringlichen Wellen auf die Volksgemeinschaft wirken [349].
Die Ortsbestimmung seines Standes (und des Sprachforschers im besonderen) bündelt Trier schließlich in der Sentenz: Sehen wir die Lage dessen an, der in wissenschaftlichem Bemühen sich seiner Muttersprache zu wendet. [...] er ist der Stellvertreter seiner Sprachgemeinschaft im Raum der Wissenschaft. In ihm als dem beauftragten Gliede des großen Ganzen gelangt dieses Ganze zu einem durchklärten Bewußtsein seiner Sprachlichkeit [ebd.].
Die aus heutiger Sicht mystisch-dunkle Formel läßt sich im Kontext des ganzen Textes leicht entschlüsseln: Die geistig-geistliche Führerschaft wird noch weiter erhöht, bekommt letztlich Eigenschaften eines Pontifikats. Die Volksgemeinschaft als Sprachgemeinschaft wird in diesem Bilde zur Kirche als mystische (organischleibliche) Gemeinschaft; der Pontifex / Wissenschaftler ist ihr »Beauftragter« und »Stellvertreter im Raum der Wissenschaft«; er wendet sich seiner »Muttersprache« - wie die »Volksgemeinschaft« eine »urgegebene Größe« - in wissenschaftlichem Bemühen zu, und er tut dies in einem abgeschirmten, besonders geweihtem Kultraum: »Wissenschaft«. Seine (nur vor ihm selbst und der »Zukunft« verantwortliche) Lehre verkündet Wahrheiten, noch mehr: Im »Stellvertreter« »gelangt dieses Ganze [die Volksgemeinschaft als Glaubensgemeinschaft] zu einem durchklärten Bewußtsein seiner Sprachlichkeit«, will sagen: seiner Identität; seiner Bestimmung vor der Geschichte - wie die folgenden Passagen näher ausführen. Allerdings wird bereits hier ein doppeltes Bild von »Muttersprache« deutlich: Sie ist einerseits Numinosum, eine quasi-göttliche Instanz, der mit Ehrfurcht zu begegnen und der zu dienen ist (vgl. das hymnische Gebet als Schlußmotto). »Muttersprache« ist andererseits ein Werk der »Volksgemeinschaft«, ein »Haus« (die beliebteste Metapher Triers, auf der die sprachwissenschaftlichen Ausführungen nicht nur dieses Vortrags aufbauen), zu dessen Pflege, Um- und Weiterbau gerade der Sprachforscher qua Amt besonders berufen ist. Im folgenden kommt Trier zum Kern seiner Themafrage »Wozu Geschichte der Muttersprache?«:
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Wir stehen in der Geschichte, weil wir in der gegenwärtigen Entscheidung und in der gegenwärtigen Verantwortung stehen. So wie Ahnenforschung erst wahrhaft sinnvoll wird für den, der Kinder hat und Kinder und Kindeskinder zu haben wünscht, so spürt nur das Volk den ganzen Sinn der Geschichte, das eine Zukunft hat [349],
Die Aporie der Zeitgeist-Sentenz: »so spürt nur das Volk den ganzen Sinn der Geschichte ...« geht dem »Meister der Sprache und Lehre« 24 offensichtlich nicht auf. Sinngemäß könnte es nur heißen: »So kann nur das Volk eine Zukunft haben, das den ganzen Sinn der Geschichte spürt«. Aber vielleicht handelt es sich nicht nur um eine Fehlleistung; denn in der völkisch-revolutionären Ideologie findet sich immer wieder der Anspruch, »die Bewegung« stehe nicht nur für den Aufbruch eines neuen Deutschlands, sondern sie selbst sei »die Zukunft«. Die in dieser Formulierung durchscheinende dezisionistische Auffassung von Geschichte entspricht präzise dem Selbstverständnis nationalrevolutionärer Eliten. Es lohnt sich, auch die »letztgültigen« Antworten Triers auf die Themafrage noch einer kurzen Betrachtung zu unterziehen: Zwischen der Vergangenheit und der Zukunft in den einmaligen geschichtlichen Augenblick der Entscheidung und der Verantwortung gestellt, klärt es [das Volk, J.V.] in der Geschichtswissenschaft seine Entscheidung fordernde Lage. Und so wollen auch wir Sprachgeschichte um der gegenwärtigen Entscheidungen willen und um der Zukunft der Muttersprache willen treiben.[...] es ist eine besondere Lage, seiner eigenen Sprache sich wissenschaftlich zuzuwenden [ebd].
Vor allem die metaphorisch gebrauchten Verben evozieren hier Bilder von Geschichtsmächtigkeit, Heroismus und Monumentalismus. Es ist eine der wenigen Stellen (in Triers publizistischen Arbeiten dieser Zeit überhaupt), in denen er sich emphatisch dem Tenor, dem rhetorischen Pomp der NS-Propaganda anschließt. (Zur Erinnerung: Der gerade gelungene »Anschluß« Österreichs wird von der NSPropaganda gefeiert als einer der »historischen« Erfolge des »Führers«, der Griff auf die sudetendeutschen Gebiete wird publizistisch bereits vorbereitet.) Die Formeln (»wir stehen in der Geschichte, weil wir in der gegenwärtigen Entscheidung und der gegenwärtigen Verantwortung stehen« und »in den einmaligen geschichtlichen Augenblick gestellt«) zeigen auch den Heros »Sprachforscher« im Strom der Geschichte und den Stürmen der Zeit, prätendieren selbstbewußt seinen Anspruch auf Klärung »der Entscheidung fordernden Lage«. Der Vergleich mit der »Ahnenforschung« unterstreicht hier - ostentativ im Hinblick auf die Parteiprominenz im Publikum - den Rang und die Würde des »geschichtlichen Auftrags« fur den Sprachforscher. Aus der Retrospektive wird allerdings immer wieder die (desavouierende) Diskrepanz deutlich zwischen den pathetischen Gesten, den hochgesteckten Ansprüchen und der bescheiden-biederen Kleinarbeit des wissenschaftlichen Alltags, von der Trier im Hauptteil seines Vortrags berichtet.
24
So Friedrich Ohly in seiner Grabrede (Anm. 1), S. XI; Ohly fährt fort: »Sein sachenvolles Wort wog schwer. Vom Geschliffenen bis ins Prächtige reichend, zog es funfundsiebzig Semester das Auditorium in Bann.«
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Die folgenden Passagen kreisen um einen neuen thematischen Schwerpunkt. Sie setzen sich polemisch mit dem »wachstümlichen Sprachbild« auseinander, wie es nach Trier - in der Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts vorherrscht, eine »Anschauung [...], die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr veräußerlicht und in dieser Veräußerlichung ihre volle Gefährlichkeit gewinnt« (350). Aber Muttersprache und Volksgemeinschaft sind auch nach Trier Wesenheiten, die am ehesten in organizistischen Bildern zu begreifen sind; denn wie wir oben gesehen haben, stehen Volksgemeinschaft, Volksgeist und Muttersprache in einem »urgegebenen«, quasi organischen Zusammenhang. Mit dieser Konzeption ist eigentlich unvereinbar, daß Einzelne (Wissenschaftler) in die Formung und Gestaltung eingreifen (sollen), und dieser versteckte innere Widerspruch wird deutlich, wenn Trier an einem bestimmten Punkt seiner Argumentation Mühe hat, die kritisierte Position (Irrweg der Sprachwissenschaft im 19. Jahrhundert) und seine eigene zu unterscheiden: Die Sprechenden ändern die Sprache, gewiß, diese Einsicht geht nie verloren, aber diese Sprechenden sind das Volk, tief unten, selbst naturhaft, den gleichen pflanzlichen Wachstumskräften unterworfen, wie sie auch in der Sprache wirken. Der Wissende, der Sprachwissenschaftler schwebt über dem allem, er sieht - immer nach dieser Meinung - dem allem nur zu, er hat kein Recht des Eingriffs, ja er hat als Wissenschaftler kaum ein Recht der wählenden Entscheidung zwischen mehreren Möglichkeiten sprachlicher Form, wenn solche ihm von der Sprache in ihrer vegetativ üppig treibenden Fülle dargeboten werden
[350], Hier stehen politische Sprachpflege, Spracherziehung und letztlich Sprachpolitik zur Debatte, und Trier bezieht in diesem Punkt eindeutig Position: »Der Wissende, der Sprachwissenschaftler«, hat ein »Richteramt« (351), und dies besonders als »Spracherzieher«. Der Sprachforscher reklamiert ganz entschieden seinen Anspruch auf die (verlorene) sprachlich-geistige Führerschaft, und er begründet dies mit seiner »besonderen Verantwortung in einer historisch entscheidenden Lage«. Dabei sind ihm die Grammatiken und Wörterbücher des 17. und 18. Jahrhunderts Vorbild darin, »zu werten und zu wählen, Formgebrauch und Wortgebrauch nach geistigen und gesellschaftlichen Schichten zu sondern, zu sagen: dies ist gut und dies ist schlecht, dies ist die Sprache der guten Gesellschaft und also nachahmenswert und dies ist eine pöbelhafte Ausdrucksweise« (ebd.). Auch diese Erläuterung des »Richteramtes« ist, wie die Passage über die ethischen Prinzipien des traditionsbewußten Wissenschaftlers, lesbar als Deklamation des inneren Widerstandes, der ideologischen Distanzierung gegenüber der Indienstnahme durch NS-Propaganda und NS-Wissenschaftspolitik. Das Verdikt »pöbelhaft« verweist unüberhörbar auf die Wertwelt des bürgerlich-akademischen Selbstverständnisses, auf das ästhetisch-moralische Urteil über die Sprache der Masse, der Plebs, des (roten? oder braunen?) Proletariats und seiner Wortführer. Indessen sind diese Sätze auch zeit- und herrschaftskonform in dem Sinne, daß sie den Anspruch einer kulturkonservativen Elite repräsentieren, die sich innerlich der »nationalen Revolution«, dem Wiedererwachen zu Deutschlands Größe, verbunden weiß. Der »Spracherzieher« wäre damit verantwortlich beteiligt an der »Formung der sprachlichen Denkmittel« in den Stürmen der neuen Zeit.
»Die Krone der
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Gelehrtenrepublik«
Der Anteil einer »wollenden«, »bauenden Formung der sprachlichen D e n k mittel« ist aber, s o Trier, viel größer, als die Sprachwissenschaft der vorhergehenden Jahrzehnte anerkennen wollte: In Wahrheit ist die Sprache, die wir sprechen, nicht so sehr das Ergebnis eines pflanzenhaften Wachstums, als vielmehr und wesenhafter das Ergebnis einer geistig bauenden Arbeit der Generationen vor uns, und in dieser Arbeit ist der Anteil einer sehr klaren, wollenden, kurz eben mit einem Worte bauenden Formung der sprachlichen Denkmittel viel größer, als man früher glauben wollte [...] ist der Wirkensbereich fur ein aus echter geistiger Not sich herleitendes Eingreifen viel größer als jene pflanzenhaften Vorstellungen es vermuten lassen [...] gerade die Einzelforschung in der Wort- und Begriffsgeschichte ist stark daran beteiligt, daß in der letzten Zeit ein architektonisches Leitbild sich in den Vordergrund geschoben hat. Seitdem rückt der Gedanke der Verantwortung der einzelnen Generation mahnend und fast drohend empor [351]. D i e geistige Führerschaft konkretisiert sich also in der »Formung der Denkmittel« für die Volksgemeinschaft als ganze und für j e d e n einzelnen Volksgenossen. D i e folgenden Passagen kann man lesen als die Exemplifizierung eines damals vielzitierten, blut- und boden-gewendeten Goethewortes: »Was du ererbt v o n deinen Vätern hast, erwirb es, u m es zu besitzen.« A u s solchen Prämissen leitet Trier seinen Auftrag an »die heutige Generation« ab: Wie die Generationen vor uns an dem Gefuge der Sprache geändert und weitergebaut haben derart, daß wir in allem, was wir denken und sagen, uns der Mittel bedienen dürfen, aber auch bedienen müssen, welche die Denkarbeit einer unabsehbar langen Reihe von Generationen erarbeitet hat, ebenso werden auch wir ändern, und ebenso werden auch wir ein von uns mitbestimmtes Denkgebäude unsern Nachfahren vererben; und die Nachwelt wird urteilen über das, was wir am Haus unserer Muttersprache umgebaut haben, und sie wird vielleicht sehr hart urteilen über das, was wir an diesem Hause bis zur Unbewohnbarkeit haben verfallen lassen [352]. A u c h diese markanten Sätze können - a posteriori - g e l e s e n werden als verklausulierte Kritik an der NS-Sprachlenkung und der Sprache der NS-Propaganda; sie sind aber - im Kontext des zweiten nationalen »Aufbruchs« 2 5 - ebensogut interpretierbar als Radikalkritik am sprachpolitischen Liberalismus und Defaitismus, am sprachkulturellen
»Verfall« des »Parteienstaats«
und des
demokratischen
» S y s t e m s « v o n Weimar. A b e r zurück z u m »Richteramt« und seiner Verantwortung: Es ist ganz unmöglich, daß die Stellung des Sprachwissenschaftlers zur Sprachverantwortung durch diese von ihm selbst heraufgeführten wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht aufs tiefste berührt würde. Wenn er sieht, daß er als Sprachbraucher, als Sprachgenosse in einer Weise, welche notwendig Verantwortung setzt, an der eigenen Sprache mitbaut, wie könnte er dann sein Leben in einer so selbstvernichtenden Art aufspalten wollen, daß er die Verantwortung zwar als Sprachbraucher, als Sprachgenosse, nicht aber als Sprachwissenschaftler tragen wollte. Nachdem einmal das Architektonische in der
25
Wie schon angemerkt, beziehe ich mich auf den Kontext des »zweiten nationalen Aufbruchs«, den »Anschluß« Österreichs und die propagandistische Vorbereitung des Griffs auf die sudetendeutschen Gebiete.
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Sprache gesehen ist, wäre eine solche Aufspaltung ein ganz lebensfernes Gebilde. Und was würde sie tatsächlich bedeuten? Nichts anderes als daß der, der weiß, die Macht denen überließe, die nicht wissen, ein in hohem Grade verwerfliches Verhalten [352].
Die »Stellung des Sprachwissenschaftlers zur Sprachverantwortung« wird hier selbstbewußt als kultur-aristokratischer Herrschaftsanspruch ausformuliert, der auf einer scharfen Trennung zwischen denen beruht, die »wissen«, und denen, »die nicht wissen«. Die zitierte Sentenz könnte indessen - a posteriori - gelesen werden als Zeugnis der Selbstbehauptung geisteswissenschaftlicher Traditionen, Prinzipien und Werte gegenüber den »Zumutungen« der NS-Wissenschaftspolitik. Sie ist jedoch zugleich herrschaftskonform in dem Sinne, daß sie die strikte Trennung von Wissenschaftler und »Masse« als Prinzip (geistiger) Führerschaft betont. Der hohe Anspruch und seine Legitimation werden allerdings durch die Ausführungen zur Sprachgeschichte in keiner Weise eingelöst. In allen drei Bereichen »geschichtlicher Veränderungen« (sie!), unter denen der Autor Erscheinungen des Sprachwandels zusammenfaßt, exemplifiziert er »systemimmanente«, im Kontext seines Konzepts von Muttersprache nur als »naturgesetzlich« erklärbare Entwicklungen, die keine eingreifende Formung - entsprechend der Logik des »architektonischen Sprachbildes« - erkennen lassen. Das »architektonische Leitbild« bleibt bezogen auf die Forschung - ein leeres Postulat, wird (hier) jedenfalls nicht plausibel begründet durch die fast organisch erscheinenden Veränderungen, die Triers sprachhistorische Forschungen aufweisen. Die Bemühungen der Grammatiker des 17. und 18. Jahrhunderts um Formvereinheitlichung und -Vereinfachung können von Trier kaum als Kronzeugen für »Gestaltungswillen« und bewußte »Formung der sprachlichen Denkmittel« herhalten. Eher sind es die sprachpuristischen Tendenzen dieser Zeit, unter anderen Vorzeichen die des 19. und 20. Jahrhunderts, die lexikalisches Lehngut stigmatisierten und an ihrer Stelle Verdeutschungen durch »Erbwörter« bzw. indigene Wortbildungsmittel durchzusetzen versuchten. Trier ist nach Wortwahl, Stil und Sprachhabitus ein engagierter Vertreter einer solchen »Sprachreinigung«; aber in dieser Beziehung steht er bereits an verlorener Front. Denn die Machthaber nahmen ab 1938/39 Abschied von einer deutschtümelnden, konservativ-archaisierenden Sprachpolitik, wie sie z.B. der Allgemeine Deutsche Sprachverein noch immer vertrat. Seine Auflösung durch Führererlaß (1940) zeigt die sprachpolitische »Wende«. 26 Im übrigen muß man den Ausdruck »Formung der sprachlichen Denkmittel« natürlich interpretieren im Trier-Weisgerberschen Sinne: als Prozeß der »Wortung der Welt«, als »grundlegenden Vollzug der sprachlichen Gestaltung der Welt«, 27 als »(geistige) Kräfte der deutschen Muttersprache«. Obwohl es um einen Kernpunkt seiner Sprachtheorie (und Theorie des Sprachwandels) geht, bleibt Triers Formu26
27
Vgl. Peter von Polenz, Fremdwort und Lehnwort sprachwissenschaftlich betrachtet, in: Fremdwortdiskussion. Hrsg. von Peter Braun, München 1979, S. 9-31; hier bes. S. 1117. Leo Weisgerber, Zum Sinnbezirk des Geschehens im heutigen Deutsch, in: Festschrift Trier (Anm. 2), S. 23-46, S. 46.
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lierung in diesem Kontext vage: »daß es in der Tat Sprachänderungen gibt, die wirkliche Umbauten sind. Und unser Beispiel wäre auch insofern gültig, als es zeigen könnte, daß der Antrieb zu den Umbauten von oben, vom Geiste her kommt« (355). Aber die hier zum Vorschein kommende idealistische »Pointe« seiner Sprachauffassung ist nun in keiner Weise mehr kompatibel mit einer Ideologie, die ausschließlich »Volkstum«, »Rasse« und letztlich »Blut« als geschichtsmächtige Faktoren gelten lassen will - auch für Sprach- und Geistesgeschichte. Aber zurück zu den sprachgeschichtlichen Veränderungen, die Trier hier - wie in vielen anderen Veröffentlichungen - durch Metaphern aus dem Bildbereich »Haus« und »Bauwesen« beschreibt. »Wir werden«, so kündigt er seinen sprachhistorischen Exkurs an, »drei grundverschiedene Arten von Verhaltensweisen (des Hauses der Muttersprache) im Strom der Zeit erkennen« (352). Zur ersten Art zählt Trier das Verhalten von Hausteilen mit großer »Beharrsamkeit«. Sehr anschaulich beschreibt er in den Metaphern eines (Fachwerk-)Hauses Funktion und »Lage« von Wörtern, die Etymologen und Indogermanisten zum gemeinsamen lexikalischen Bestand der indogermanischen Sprachfamilie zählen. Bei der Erklärung der lautlichen Veränderungen (»wie ein Balken oder Stein im Laufe der Zeit seine Farbe ändert« [353]) kommt Trier auf das unerläßliche Handwerkszeug seiner Zunft zu sprechen; dazu zählt er vor allem die Kenntnis der Regeln und Lautgesetze im historischen Sprachwandel. Hier präsentiert sich Trier als akademischer Lehrer, der keine Abstriche an seinen Qualitätsmaßstäben zuläßt: »über diese Regeln muß man Bescheid wissen. Sie gehören zum Handwerk. Man darf nicht verschmähen, Handwerk zu erlernen« (ebd.). Und dann erfolgt ein Seitenhieb auf Karrieristen und »Linientreue«: Wer meint, sein reicher und anmutiger Geist werde von der Lautlehre nicht angemessen ernährt, den können wir von vornherein nicht gebrauchen. Er soll uns dann aber auch nicht kommen und uns etwas erzählen wollen vom gemeinsamen geistigen Erbgut nordisch-indogermanischer Völker. Denn darüber kann er allenfalls reden, aber keine begründeten Aussagen machen [ebd.].
Konkret geht es hier um Kollegen aus dem NS-Dozentenbund (und Kritiker aus dem NS-Studentenbund), die - wissenschaftlich ignorant und methodisch inkompetent - die Sprachwissenschaft für die »Rassenlehre« und den historischen Nachweis der Überlegenheit der »Arier« in Dienst nehmen wollen. 28 Auch bei der zweiten Art (»Andere Teile des Hauses erregen das Erstaunen des Sprachgeschichtlers durch ihren Stoffwandel« [ebd.]) erweist sich Trier als didaktisch geschickter Vermittler sprachhistorischer Erkenntnisse. Dabei riskiert er sogar
28
Ein interessantes Beispiel ist in diesem Zusammenhang Heinz Kindermann, der gegen den Widerstand der Münsteraner Fakultät von Danzig nach Münster versetzt wurde, der sich in seinen Publikationen als besonders »linientreu« gebärdete, wegen seiner fachlichen Inkompetenz aber von Kollegen geschnitten wurde. Vgl. den Beitrag von A. Pilger in diesem Band.
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einen (sprachkritischen) Ausgriff auf politisch-ideologisch so brisante Begriffspaare wie links und rechts29 oder groß und klein. Bei der Erläuterung der dritten Art kommt Trier zu sprachgeschichtlichen Veränderungen, »die wirkliche Umbauten« (355) sind; hier skizziert und exemplifiziert er die Gründzüge seiner Feldtheorie. Der Vergleich der »aufschließenden Gefuge der Felder« (im Sinnbezirk des Verstandes) - im Mittelhochdeutschen und in der Gegenwartssprache - demonstriert den genuin strukturalistischen Ansatz, den Trier seit 1928 entwickelt (und weiterentwickelt) hat. Mit ihm ist eigentlich die Überwindung der strikt historischen, auf phonologische und lexikalische Einzelphänomene fixierten Sprachwissenschaft seiner Zeit gelungen. - Dieser Ansatz, wie immer er hier auch »wissenschaftsethisch« eingebettet wird, ist nun in keiner Weise mehr instrumentalisierbar für »germanenkundliche« oder gar »rassenkundliche« Zweckbestimmungen. In den Schlußpassagen der Rede kehrt Trier noch einmal zurück zu einer dezidierten »Grundlegung« des Selbstverständnisses seines Amtes und seiner Zunft. Hier unterstreicht er vor allem das »Wächteramt« des Sprachforschers, ein Tempeldienst, der dem »muttersprachlichen Haus in der hohen Entfaltung seiner räumlichen Gliederung« zu widmen ist: Änderungen wie die eben beschriebenen [im Baugefüge der Sprache, J.V.] vollziehen sich auch heute. Was bedeutet das für den Sprachgeschichtler, für seine Stellung im Sprachgeschehen? [...] welche Aufgabe hat der Sprachgeschichtler als Wissender im Vollzug des sprachlichen Geschehens an seiner Muttersprache, d.h. in seiner Volksgemeinschaft? Und so möchte ich antworten: er soll in sich und anderen Kräfte des Widerstands wachrufen gegen Sprachmüdigkeit und Sprachgleichgültigkeit derer, die nichts mehr bemerken wollen von den Vorzügen des Hauses, die seinen Forderungen nicht mehr genügen können, und die nicht sehen wollen, daß jedes Haus Forderungen an seine Bewohner stellt. Er soll - getragen von seiner Einsicht in das architektonische Wesen der Sprache und in ihre gefugehafte Kraft des Weltaufschlusses - sich und andere mahnen, das muttersprachliche Haus in der hohen Entfaltung seiner räumlichen Gliederung nicht verfallen zu lassen. Er soll die Verpflichtungen aufweisen, die aus hoher Ahnenschaft, aus der sprachbauenden Arbeit unserer Vorfahren sich für uns ergeben. Er soll es wagen, den zurechtzuweisen, der sich nicht so hält, wie es die Würde des Hauses gebietet [356]. Das Wächteramt wird aber auch zum Amt des Sehers, der in die Zukunft seiner Sprache schaut: Aber er soll auch als Glied seines Volkes mit ihm in der Entscheidung stehen, d.h. er soll in die Zukunft schauen. [...] Keine Sorge, daß es dabei zu kalt und zu verstandesmäßig zugehen könnte. Noch gibt es Kräfte, die der Kühle entgegenwirken. Sie sind nicht alle vom gleichen Rang. Die höchste unter ihnen ist die Dichtung. Wer das sieht, was ich Ihnen zu zeigen versucht habe, der sieht auch, daß er als Sprachwissenschaftler seinen Weg nicht allein gehen kann, daß
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Trier fuhrt aus: »Ich will nur im Vorbeigehen sagen, daß solche Begriffe wie rechts und links als schicksalsbelastete Begriffe von einer bestimmten religiösen oder besser vorreligiösen Scheu umgeben sind, daß die Wörter dieser Begriffe daher Meidungen unterliegen und die betreffenden Sinnstellen immer wieder nach Wortersatz rufen« (354).
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der Dichter neben ihm und daß er mit dem Dichter wird gehen müssen. Und so darf er mit den Versen eines Dichters unserer Tage, seine Sprache anredend, sagen: bittern Kampfes, jeglichen Opfers wert: Du gibst dem Herrn die Kraft des Befehls und Demut dem Sklaven. Du gibst dem Dunklen Dunkles und dem Lichte das Licht. Du nennst die Erde und den Himmel: deutsch!
[...] Sprache unser! Die wir dich sprechen in Gnaden, dunkle Geliebte! Die wir dich schweigen in Ehrfurcht, heilige Mutter! [356f.].30 Versuchen wir aus den bildreichen, teils paradoxen und teils kryptischen Formulierungen ein Fazit zu ziehen in bezug auf Triers Selbstverständnis als Wissenschaftler. Wir finden ein Gemenge aus äußerst heterogenen Elementen: Einerseits die Programmatik von handfesten Arbeitsmethoden, soliden Verfahrensweisen, rationalen Prinzipien einer der Objektivität und »der Sache« verpflichteten Wissenschaft. Damit verbunden: ein Arbeitsethos des Forschens in Einsamkeit und Freiheit, ein aristokratisches Selbst- und Standesbewußtsein weit jenseits von Volk, von Masse, von liberalen, egalitären, demokratischen Ansprüchen und Legitimationen. Andererseits durchzieht die Rede das Pathos mystisch-ritueller Bilder und Visionen: Die Stilisierung der Zunft als Schar Erwählter und Berufener, als Bruderschaft, als Amtsträger mit einer religiösen Aura; die Stilisierung des wissenschaftlichen Auftrags als Berufung, als Weihe und Gnade; der Verweis darauf, daß es eine Verantwortung nur vor dem eigenen (wissenschaftlichen? ständischaristokratischen?) Gewissen und der »Zukunft« (Geschichte) gibt; schließlich die Unmittelbarkeit des Sprachwissenschaftlers zur »Gottheit Muttersprache«, ihr verpflichtet, die Wahrheit schauend und die Lehre verkündend. Im Zusammenhang damit - aber nur zum Teil kompatibel - die nationalkonservative, politische Verortung seines Amtes und seines Tuns; begründet vor allem durch sein zweites Amt, das des Spracherziehers und Sprachwächters. Begründet auch durch seinen Auftrag, die »Sprachfrage« zu klären »in einer geschichtlich entscheidenden, fordernden Lage«. Wenn sich der Sprecher überwältigt zeigt von der Geschichtsmächtigkeit seines Auftrags, so wird er zugleich unantastbar für (tages-)politische Forderungen. Traditionsbewußte Wissenschaft salviert sich hier
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In der Anm. 1 auf S. 355 verweist Trier auf die Quelle: »Die Verse am Schluß des Vortrages stammen aus dem Hymnus auf die deutsche Sprache von Josef Weinheber.« Die oben ausgelassenen Passagen lauten: »Du unverbraucht wie dein Volk! / Du tief wie dein Volk! / Du schwer und spröd wie dein Volk! / Du wie dein Volk niemals beendet! - Im fernen Land / furchtbar allein, / das Dach nicht über dem Haupte / und unter den Füßen die Erde nicht: /Du einzig seine Heimat, /süße Heimat dem Sohn des Volks. - Du Zuflucht in das Herz hinab, / du über Gräbern Siegel des Kommenden, teures Gefäß / ewigen Leides! / Vaterland uns Einsamen, die es nicht kennt, / unzerstörbar Scholle dem Schollenlosen, / unsrer Nacktheit ein weiches Kleid, / unserem Blut eine letzte Lust, / unserer Angst eine tiefe Ruhe: - Sprache unser [...]«
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durch eine komplexe Konstruktion aus Standesbewußtsein, Standesethik und (pseudo-)politischer Legitimation, sie begründet damit einen autonomen Anspruch auf geistig-geistliche Führerschaft im »Raum der Wissenschaft« - und darüber hinaus. Die sprachlichen Formulierungen zeigen besonders an der Kernstellen die Technik einer ausgeklügelten Balance. Gerade wegen ihrer Abstraktheit und ihrer z.T. widersprüchlichen Metaphorik gestatten sie häufig zwei ganz konträre Lesarten: Einerseits scheinen sie den Forderungen der NS-Wissenschaftspolitik Genüge zu tun, indem sie sich in Diktion und »Haltung« den ideologischen Vorstellungen von »Deutschkunde« und »Deutschwissenschaft« annähern; sie erscheinen als »herrschaftskonform«, indem sie ein besonderes Bild des Wissenschaftlers als »Führer« entwerfen, der zwar »gliedhaft« aus der Volksgemeinschaft hervorgeht, dessen Führungsanspruch jedoch keiner Legitimation, dessen Erkenntnis- und Entscheidungsprozeß keiner Anteilnahme durch die »Masse der Volksgenossen« bedarf. Andererseits behauptet die programmatische Selbstdarstellung ein eigenständiges, den philologischen Traditionen verpflichtetes Wertsystem etablierter Wissenschaft, das sowohl theoretisch als auch methodisch die Arbeit früherer Jahrzehnte fortsetzt. Schließlich sind viele Sentenzen sogar geeignet, als kodierte Äußerungen eines inneren Widerstandes gelesen werden zu können, als selbstbewußtes, wenn auch verklausuliertes Dokument der Kritik an der Naziherrschaft.
3. Worte an die Studenten der deutschen Philologie ( z u m W i n t e r s e m e s t e r 1947/48) 3 1 Obwohl das Ansehen von Trier als Wissenschaftler und Hochschullehrer durch den Untergang des NS-Regimes kaum gelitten hat und er weiter als geschätzter, bei Kollegen und Studenten beliebter Lehrstuhlinhaber die deutsche Sprachwissenschaft an der Universität Münster vertritt, finden wir in den Worten an die Studenten der deutschen Philologie - zu Beginn des Wintersemesters 1947/48 - einen sehr zurückhaltenden, fast »privaten« Ordinarius. Er eröffnet seine Ansprache der Abdruck im Auditorium enthält leider keine Rede-Adressierung - mit tröstenden Wegweisungen an die »Anfanger« (»Ratlose«) und »mittleren Semester« (»Zweifelnde«), indem er die besondere Situation von Studium und Hochschule nach seinem Verständnis - erläutert: Durch die Universität gehen heißt auch Irrwege gehen und oft nicht wissen, wo man ist. Der Sinn der Universitätsarbeit ist nicht Ausbildung, sondern Bildung. Unsere Fakultät insbesondere [...] würde ihr Wesen verkannt fühlen, wenn man von ihr erwartete, daß sie ihren Mann ausbilde. Den jungen Menschen, von dem wir möchten, daß er zu uns käme, denken wir uns als einen, den nicht der Wunsch nach baldiger Verwertbarkeit seiner geschickten Person, sondern ein, wenn auch noch ungeklärtes Erkenntnisstreben antreibt [3], 31
Ich zitiere nach dem Abdruck in: Das Auditorium. Herausgegeben von Dozenten und Studenten der Universität Münster, 3 (1947), S. 3-6. Zitatangaben im folgenden im Text.
»Die Krone der
Gelehrtenrepublik«
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Dies bietet den Ansatzpunkt für die eigentliche Botschaft, die er den Studenten mit auf den Weg gibt. Man könnte sie übersetzen mit: »Mensch, werde wesentlich!« 32 Das Erkenntnisstreben ist ein unverlierbares Gut des Menschen. Des Menschen, d.h. nicht: aller Menschen. Es ist offenbar nicht jedermanns Sache, und es wäre unbillig, es von jedermann zu verlangen. In dem Raum, in welchem Erkenntnisstreben wirkt, stehen wenige stellvertretend für viele. Dies ist die Weise, in der ein Volk an dem, was in diesem Raum geschieht, teilhat. Es ist eine mittelbare Weise [ebd.].
Der akademische Mensch erscheint aus Triers Worten als das Urbild des »faustischen Menschen«: der irrt, solang er strebt, dessen Wissensdurst niemals gestillt werden und dessen Erkenntnisstreben niemals zur Ruhe kommen kann. Aber darüber hinaus findet man hier bis in die Formulierungen hinein das Credo der Universitätsrede von 1938: dieselben Tugenden des Wissenschaftlers - als Leitbild fur alle, die es werden wollen. Zur Wissenschaft sind zwar viele berufen, aber nur wenige auserwählt. Die wenigen stehen stellvertretend für viele (»Volk«, nicht mehr »Volksgemeinschaft«), doch »teilhaben« können sie an dem, was »in diesem Raum (Wissenschaft) geschieht«, nur auf »eine mittelbare Weise«. Indessen müssen die, die berufen sind, »die eigentümliche Form des Lebens (als wissenschaftliche Menschen) [zu] tragen«, besondere Auszeichnungen mitbringen: Aber was wir in unserem Bereich brauchen, sind nicht eigentlich die Intelligenten, sondern die geistigen Menschen; schon deshalb ist eine Intelligenzprüfung kein Ausleseweg für die Universität [...] Der intelligente Mensch findet Lösungen. Der geistige Mensch zieht [sie!] Fragen. Die Menschen, die in unserem Raum die eigentümliche Form des Lebens tragen, der wir dienen, sind die geistigen Menschen. Deren Funke zur Flamme wecken, ist ein wesentliches Stück unseres Tuns [3f.].
Wieder wird hier - oder gerade hier, in der Situation nach »Zusammenbruch« und Re-education - Universität zum Weiheraum stilisiert, Wissenschaft in eine kultische Sphäre verlegt. Auffällig ist die Begriffsopposition von »Intelligenz« und »Geist«, mit der hier operiert wird. Wahrscheinlich geht eine Interpretation nicht zu weit, die »Intelligenz« assoziiert mit den typisch angelsächsischen Qualitäten, die sich aus den (nur »rationalen«) Wertsystemen der Sieger ergeben; diese sind nach Trier fiir »unsere Fakultät« (d.h. die deutsche Geisteswissenschaft) ungeeignet bzw. nicht zureichend. Und folgerichtig kann man demgegenüber »Geist«, ohne den es nach Trier nicht möglich ist, »in unserem Raum die eigentümliche
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Vgl. K. Briegleb, Epoche des Faschismus (Anm. 6), S. 106f.: »Im Rückgriff auf die >Schlesische Mystik< eines Johann Scheffler, genannt Angelus Silesius [...] tritt 1922 in der Deutschen Bildung [Mitteilungen der Gesellschaft fur Deutsche Bildung (Deutscher Germanistenverband) 1922, H.l, S. 6] als Parole hervor, was das zukunftsreiche nationale Erziehungsziel sei und wofür im Geschäftsverteilungsplan der Volksgesundung zuständig zu sein den Germanisten niemand streitig machen könne: Aus dem schönen Satz des Schlesiers >Mensch werde wesentlich! < machen sie die Kontrafraktur: >Mensch werde deutsche« - Indessen vermeidet Trier in dieser Ansprache aus guten Gründen Qualifizierungen wie der »deutsche Mensch« und »deutsche Wissenschaft«. Die national(istisch)en Formeln sind tabu, die Denkfigur des »geistigen Menschen« bleibt dieselbe wie 1938.
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Form des Lebens zu tragen«, als Wesensmerkmal des »deutschen Menschen« identifizieren. Ein weiteres Novum der 1947er Ansprache ist Beschreibung der Institution Universität. Diese ist nicht nur Kult- und Weiheraum; sie trägt auch Züge eines organischen Wesens, das besonderer Pflege bedarf. Trier expliziert dies durch die pointierte Gegenüberstellung von »Anstalt« und »Körperschaft«: Die Universität ist keine Anstalt, sondern eine Körperschaft. Einer Anstalt gibt man Anweisungen. Sie ist ein mit Menschenkräften betriebener sachlicher Apparat. Einer Körperschaft kann man äußere Ordnungen geben und muß es, aber man kann ihr eigentliches Tun nicht lenken wollen. Sie ist ein Eigenwesen, das man auf seine Weise leben lassen muß, wenn man es nicht vorzieht, es zu töten; denn auch das kann man [4].
Ganz unbefangen setzt Trier hier zwei unvereinbare Bildwelten gegeneinander: Einerseits die Metaphorik für die Stätte wissenschaftlichen Tuns: ein quasi-religiöser Raum für Berufung, Erweckung und Offenbarung (»deren Funke zur Flamme zu wecken, ist ein wesentliches Stück unseres Tuns«); andererseits die organizistische Figur des sensiblen »Eigenwesens, das man auf seine Weise leben lassen muß«. Aber dieses Bild wird erklärlich durch andere Intentionen und andere Adressaten (als die Studenten einer Einfuhrungsveranstaltung); sie ist Element in einem ostentativen rhetorischen Akt. Unüberhörbar formuliert Trier hier sein Plädoyer für die Autonomie der Hochschule, die Freiheit von Forschung und Lehre - gegen alle Eingriffe und »Zumutungen« von außen, besonders von »der Politik«. Diese Forderung ist - bis Ende der 60er Jahre - im Kontext der Entnazifizierung und »Selbstreinigung« der Universitäten hochaktuell. Die Abschirmung der Autonomie hat hier allerdings eine ganz andere Zielrichtung und einen anderen Stellenwert als 1933. Die Politisierung durch die Nazisder Arbeit nicht günstige starke Unruhe< bemerkt; insbesondere sei die >Stellung des akademischen Lehrers dem Studenten gegenüber nicht so unabhängig, wie sie sein< solle«. 37 Und 1937, als er zum zweiten Mal als Kandidat für das Rektoramt im Gespräch war, hatte er sich gerade »für eine größere wissenschaftliche Arbeit von seinen Dekanatsgeschäften beurlauben lassen«. 38 1943 schließlich erschien sein Name zum dritten Mal auf der Senatsvorschlagsliste für die Rektoratsnachfolge; Trier komme, so heißt es, aber voraussichtlich nicht in Frage, da er »noch immer mit der >Krönung seines Lebenswerkes< befaßt sei und [...] nicht will.« 39 Trier gelingt es also, bis zum Ende der NS-Herrschaft - und vor allem darüber hinaus - seinen Ruf als bedeutender Wissenschaftler und integre Persönlichkeit zu wahren. Aus der Retrospekive läßt sich sagen, daß die Strategien der Abschirmung, der Teil- und Scheinkonzessionen an die NS-Ideologie, der Enthebung der akademischen (Ordens-) Gemeinschaft in einen politik- und ideologiefreien Raum überaus erfolgreich waren - für den Wissenschaftler Trier selbst wie auch für die von ihm vertretene Wissenschaft als System.
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Vgl. H. Heiber, Universität (Anm. 6), Bd. 2, S. 711 und S. 726. Vgl. ebd., S. 726. Ebd. Vgl. ebd., S. 284f. Ebd., S. 690. So H. Heiber, ebd., S. 693f., in ironischer Zitation eines Trier-Briefes aus dem Heidelberger Universitätsarchiv.
Gunter Schändern
(Magdeburg)
Dikaturenvergleich Die politische Steuerung der literaturwissenschaftlichen Germanistik im Nationalsozialismus und in der DDR*
Andrea (laut). Unglücklich das Land, das keine Helden hat! Galilei. Nein. Unglücklich das Land, das Helden nötig hat. (Bertolt Brecht. Leben des Galilei, 13. Szene. 3. Fassung 1955/56)
1. Der folgende Beitrag richtet den Blick auf die politische Steuerung der Wissenschaft in der zweiten deutschen Diktatur. Er verweist damit auf Aufgaben der Forschung, die immens sind, allein wenn man bedenkt, daß wir es hier mit einem Zeitraum nicht von 12, sondern von 40 Jahren zu tun haben, und daß die vorliegenden Befunde - einschließlich der hier dargestellten - vorerst nur sehr begrenzte Einsichten gestatten. Daß ein vergleichender Ansatz gewählt ist, hat nicht nur mit dem Thema dieser Tagung zu tun. Der Vergleich der beiden deutschen Diktaturen ist wissenschaftlich vor allem dort angebracht, wo er hilft, Gemeinsames und Trennendes zu klären und so das jeweils Besondere - auch im Hinblick auf Folgen und Transformationserfordernisse - genauer zu bestimmen. Überdies steht der Vergleich in der langen Tradition einer Forschung, die sich seit den dreißiger Jahren mit Diktaturen des 20. Jahrhunderts befaßt, in den fünfziger und sechziger Jahren das bekannte Totalitarismuskonzept entwickelt hat und - nach dem Historikerstreit von 1986/87 heute eine Fülle differenzierender, auch widersprüchlicher Begriffe anbietet, darunter die Unterscheidung von totalitären und autoritären Systemen oder zwischen den einzelnen Phasen der DDR-Geschichte, was für deren letzte etwa den Begriff des »posttotalitären autoritären Regimes« hervorgebracht hat.1 Die Dimensionen dieses Begriffsstreits, bei dem es ja um das Begreifen äußerst komplexer Gebilde und Vorgänge geht, sollen mitgedacht werden, jedoch muß eine im engeren Sinn
* Gunter Schandera konnte die Endkorrektur seines Beitrags selber nicht mehr vornehmen; er starb am 23. Oktober 2002. 1 Horst Möller, Sind nationalsozialistische und kommunistische Diktaturen vergleichbar?, in: Potsdamer Bulletin für Zeithistorische Studien, Potsdam 1994, H. 2, S. 9 - 1 9 , S. 9; Audunn Amörsson, Totalitäre und autoritäre Machtformen. Versuch einer Typologie, in: Die doppelte deutsche Diktaturerfahrung. Drittes Reich und DDR - ein historischpolitikwissenschaftlicher Vergleich. Hrsg. von Ludger Kühnhardt u. a., Frankfurt/Main 1994, S. 199-211, S. 208.
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Gunter Schandera
wissenschaftsgeschichtliche Betrachtung daraus eigene Prämissen ableiten. Sie lauten: 1. Vergleichbar sind beide Diktaturen bei allen grundlegenden Differenzen, die zwischen ihnen bestehen und die äußerst verschiedenartige Bewertungskriterien ermöglichen, insofern, als sie in ihren Zielen und den zu deren Durchsetzung angewandten Methoden ein tertium comparationis besitzen. Das ist einmal das Programm einer teleologisch begründeten, alleingültigen Herrschafts- und Gesellschaftsform, aus der der Führungsanspruch der zugeordneten Ideologie abgeleitet wird, zum anderen die absolute Herrschaftspraxis der jeweiligen Träger des Programms, die sich auf die Monopolstellung ihrer Partei stützt und auf die Gleichschaltung der gesamten Gesellschaft und all ihrer Teilsysteme abzielt. Die politische Steuerung der Wissenschaft unterliegt so in beiden Diktaturen gleichen Voraussetzungen; die eingesetzten Instrumentarien werden ebenso vergleichbar wie die Ergebnisse solcher Instrumentalisierung. 2. Vergleichbar sind die in Frage kommenden Steuerungsprozesse und -Instrumentarien vor allem auf vier Ebenen: a) als Steuerung durch die Partei, die auf Grund ihres politischen und ideologischen Monopols die jeweiligenVorgaben entwickelte und - in verschiedenem Maß - ihre Durchsetzung kontrollierte; b) als Steuerung durch den Staat, der über mehr oder weniger zentralistisch aufgebaute Institutionen die aus den Vorgaben der Partei abgeleitete Wissenschaftspolitik organisierte und realisierte; c) als Prozesse innerhalb der Institutionen des Wissenschaftsbetriebs, also der Universitäten, Fakultäten, Akademien und Verbände; d) als Prozesse innerhalb der disziplinaren Kommunikationsgemeinschaft einschließlich ihrer Publikationsorgane, insofern sie den Fachdiskurs der beteiligten Wissenschaftler, die Bildung und Entwicklung von Paradigmen und Schulen und die Ausdifferenzierung des Fachs betreffen. 2 Für die Zeit des Nationalsozialismus liegen auf allen vier Ebenen - das bestätigt auch diese Tagung - zahlreiche gesicherte Untersuchungen vor, während die Wissenschaftsgeschichte der DDR am Anfang steht. Das hat für diesen Beitrag zur Folge, daß er Supervision betreibt, wo er auf vorliegende Befunde verweisen kann, daß er aber deskriptiv vorgehen muß, wo - im Fall der DDR - solche Befunde noch nicht oder nicht in ausreichender Materialbreite erhoben sind. 3. Für einen Beitrag, der sich als fachgeschichtlicher versteht, kann es nicht ausreichen, die jeweiligen Instrumente der Wissenschaftslenkung zu beschreiben; die Resultate solcher Beschreibung können fraglos für zeitgeschichtliche Forschungen von Bedeutung sein. Unter genuin wissenschaftsgeschichtlichem Aspekt geht es darum, die Relation von System und Ereignis aufzudecken, das heißt, die jeweils differenzierten Mechanismen politischer Steuerung in ein Verhältnis zu ihren 2
Vgl. Holger Dainat, Anpassungsprobleme einer nationalen Wissenschaft. Die Neuere deutsche Literaturwissenschaft in der NS-Zeit, in: Atta Troll tanzt noch. Selbstbesichtigungen der literaturwissenschaftlichen Germanistik im 20. Jahrhundert. Hrsg. von Petra Boden und Holger Dainat, Berlin 1997, S. 103-126, S. 114ff.
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Resultaten zu setzen. Nur von hier aus kann bestimmt werden, in welchem Verhältnis politische Steuerung unter den Bedingungen und im Vergleich der Diktaturen einerseits und der Fachentwicklung andererseits stehen und Fachgeschichte sich unter solchen Voraussetzungen vollzieht.
2. Für die politische Steuerung der Literaturwissenschaft und ihre Rolle im Nationalsozialismus ist das Bild von Gleichschaltung und Instrumentalisierung, wie es sich zumindest für die ersten Jahre nach der Machtergreifung und bei oberflächlichem Hinsehen darzustellen schien, längst durch differenzierte Darstellungen abgelöst. »Von jetzt an kommt es für Sie nicht darauf an festzustellen, ob etwas wahr ist, sondern ob es im Sinne der nationalsozialistischen Revolution ist«, hatte 1933 der bayerische Kultusminister Hans Schemm in einer Rede vor Münchener Professoren gefordert. 3 Diese Mutation der Wissenschaft zur Ideologie blieb - bei allen Anpassungsleistungen, die sie vollbrachte - aus, und so unterschiedlich die Forschung die Ursachen dafür beurteilt, so wenig stellt sie den Sachverhalt an sich in Frage. Es besteht weitgehend Konsens, daß sich eine nationalsozialistische Literaturwissenschaft nicht realisiert hat und »zu Beginn wie auch während der Dauer des >Dritten Reiches< kein geschlossenes Konzept einer NS-Germanistik existierte«. 4 Nach den Stürmen von 1933 und 1934 setzten sich in der akademischen Forschung und Lehre die alten Strukturen wieder durch, 5 ohne daß sie durch die systematische Zentralisierung staatlicher Hochschulpolitik zerschlagen wurden, die im Mai 1934 mit der Gründung des Reichserziehungsministeriums (REM) begann. Die einschlägigen Berichte und Klagen des Amtes Rosenberg und des Sicherheitsdienstes der SS zur Lage der Geisteswissenschaften sind bekannt, ebenso die Vorgänge, die zur Entideologisierung des Studiums führten. 6 Letztlich verdecken die Großprojekte, die unter dem Dach des »Kriegseinsatzes der deutschen Geisteswissenschaften« 1940 vom REM initiiert wurden, insbesondere das bei einer »Kriegseinsatztagung« der Germanisten im Juli 1940 beschlossene und unter
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Michael Grüttner, Studenten im Dritten Reich, Paderborn 1995, S. 156. Wolfgang Adam, Dichtung und Volkstum und erneuerter Euphorien. Überlegungen zur Namensänderung und Programmatik einer germanistischen Fachzeitschrift, in: Zeitenwechsel. Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945. Hrsg. von Wilfried Bamer und Christoph König, Frankfurt/Main 1996, S. 6 0 - 7 5 , S. 64; Wolfgang Beck und Johannes Krogoll, Literaturwissenschaft im 3. Reich. Das literaturwissenschaftliche Seminar zwischen 1933 und 1945, in: Hochschulalltag im 3. Reich. Die Hamburger Universität 1933-1945. Hrsg. von Eckhardt Krause, Berlin und Hamburg 1991, Teil II, S. 7 0 5 - 7 3 5 , S. 705; H. Dainat, Anpassungsprobleme (Anm. 2), S. 106; Jost Hermand, Geschichte der Germanistik, Reinbek bei Hamburg 1994, S. lOOf.; Christoph König, Wissen, Werte, Institutionen, in: Zeitenwechsel (Anm. 4), S. 3 6 1 - 3 8 4 , S. 367. Vgl. M. Grüttner, Studenten (Anm. 3), S. 86. H. Dainat, Anpassungsprobleme (Anm. 2), S. 105f.; M. Grüttner, Studenten (Anm. 3) S. 168f. und S. 205, hier auch weitere Literaturangaben.
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dem Titel Von deutscher Art und Dichtung realisierte Sammelwerk, nicht die Tatsache, daß unter der Hand das Fach aus dem Gehäuse der nationalsozialistischen Indoktrination auszuziehen begann und sich über den autonomen Gegenstand höhere Unabhängigkeit sicherte. 7 Das Ausbleiben einer »nationalsozialistischen Literaturwissenschaft« korrespondiert dabei auffällig mit dem Ausbleiben ähnlicher Projektionen in der gesamten Kultur- und Wissenschaftspolitik, auch mit dem Umstand, daß die mit unerhörtem Aufwand betriebene NS-Literaturpolitik scheiterte, allein wenn man bedenkt, daß es dem Regime nicht möglich war, einheitliche Zensurvorstellungen zu entwickeln, und daß Ende der dreißiger Jahre »auch das längst unterdrückt geglaubte schädliche und unerwünschte Schrifttum< wieder massenhaft zum Verkauf« kam. 8 Fragt man nach Ursachen, so wird häufig an erster Stelle das Fehlen einer konsistenten nationalsozialistischen Ideologie genannt, auf deren Boden eine entsprechende Kultur- und Wissenschaftspolitik zu konzipieren gewesen wäre. 9 Die Versatzstücke, die ein ex negativo, aus dem Feindbild bestimmtes Selbstverständnis ermöglichen sollten, waren alles andere als sozial oder ökonomisch, schon gar nicht philosophisch fundiert, und die Leitbegriffe, um die es ging, stammten allemal aus dem Fundus der Halbbildung eines Adolf Hitler, der sich verständlicherweise aus der Wissenschaftspolitik - zumindest im geisteswissenschaftlichen Bereich - heraushielt und dieses Amt einem seiner schwächsten, aber treuesten Paladine, dem Studienrat Rust, überließ. Auf der Ebene der Institutionen und Steuerungsprozesse drückt sich die konzeptuelle Disparatheit in der vielzitierten »Polykratie« aus, die auch nach ihren ökonomischen Verursachungen zu hinterfragen ist, der unstrukturierten Delegation von Macht, der Überlagerung von Partei- und Staatsapparat, dem Neben- und Gegeneinander der Kompetenzen. 1 0 So hielten sich innerhalb der N S D A P und ihrer Gliederungen die Parteikanzlei mit dem Stab Heß und ab 1941 mit dem Nachfolger Martin Bormann, die »Parteiamtliche Prüfungskommission zum Schutz des NSSchrifttums«, der N S D D B und der NSDStB für zuständig, vor allem aber das »Amt Rosenberg« und die »Forschungsgemeinschaft Das Ahnenerbe« der SS, die weniger miteinander als gegeneinander und in jeweils eigener Weise gegen das 7
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Holger Dainat, »wir müssen ja trotzdem weiter arbeiten«. Die Deutsche Vierteljahrsschrift vor und nach 1945, in: DVjs 68 (1994), S. 562-582, S. 576f.; Werner Herden, Zwischen »Gleichschaltung« und Kriegseinsatz. Positionen der Germanistik in der Zeit des Faschismus, in: Weimarer Beiträge 33 (1987), S. 1865-1881, S. 1878. Uwe-K. Ketelsen, Literatur und Drittes Reich, Vierow bei Greifswald 21994, S. 299 und S. 304; Jan-Pieter Barbian, Literaturpolitik im »Dritten Reich«. Institutionen, Kompetenzen, Betätigungsfelder, Frankfurt/Main 1993, S. 308. Vgl. M. Grüttner, Studenten (Anm. 3), S. 200f.; U.-K. Ketelsen, Literatur und Drittes Reich (Anm. 8), S. 300; Jutta Wagemann, Drittes Reich und DDR - Verwirklichte Ideologien?, in: Die doppelte deutsche Diktaturerfahrung (Anm. 1), S. 145-154. M. Grüttner, Studenten (Anm. 3), S. 77; Jürgen Kocka, Vereinigungskrise. Zur Geschichte der Gegenwart, Göttingen 1995, S. 98f.; Jan Schlotthaus, Merkmale der Errichtung zweier Diktaturen im Vergleich, in: Die doppelte deutsche Diktaturerfahrung (Anm. 1), S. 54; H. Möller, Diktaturen (Anm. 1), S. 43-54, S. 54.
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Rust-, aber auch das Goebbels-Ministerium tätig waren." Der offizielle Name des Amts Rosenberg war »Dienststelle des Beauftragten des Führers für die Überwachung der gesamten weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP«, zu ihm gehörte ein Amt »Wissenschaftsbeobachtung und -wertung«, dem eine Hauptstelle »Wissenschaftliches Schrifttum« zugeordnet war; ein Referat gleichen Namens gab es im Propagandaministerium. 12 Der verbissene Streit zwischen Rosenberg und Goebbels ist mehrfach dargestellt worden, bekannt ist auch das ausdauernde Bemühen Rosenbergs, Rust, dessen Ministerium selbst Goebbels als »Saustall erster Klasse« charakterisiert, als Reichserziehungsminister zu verdrängen.13 Rosenbergs Schulungsbriefe, die so etwas wie die Generallinie der Partei darstellen sollten, vermochten jedenfalls nicht, die Entwicklung von Forschung und Lehre ernsthaft zu beeinflussen; hierzu hätte es der konsequenten Instrumentalisierung des Staates und insbesondere des REM bedurft. Auch heute noch gilt, was ein in der Schweiz internierter deutscher Hochschullehrer kurz nach Kriegsende in der Schweizerischen Hochschulzeitung feststellte: »Solange Rosenberg nicht Kultusminister wurde [...] war für den Geisteswissenschaftler in Deutschland trotz vieler Anfechtungen eine unabhängige wissenschaftliche Existenz zunächst noch möglich.« 14 In welche Richtung die Entwicklung gehen sollte, deuten die Versuche der SS an, diesen Zustand radikal zu ändern. Sie nahm Wissenschaftler verschiedenster Fachgebiete in ihre »Eliten« auf, kaufte für das »Ahnenerbe« die Herausgeberschaft ganzer Fachzeitschriften, ihre Emissäre drangen in die Schlüsselstellungen des REM ein und begannen, die alte Kultusbürokratie zu ersetzen, waren in den Kollegien der Universitäten und unter den Studenten präsent, wo Denunziationen und der Spitzeldienst der Gestapo ohnehin Wirkungen zeigten, und Pläne, nationalsozialistische Ordensburgen an die Stelle der alten Universitäten zu setzen, waren vorhanden. Was der Kriegsausbruch hier verhindert hat und wie die Entwicklung verlaufen wäre, hätte dem Regime mehr Zeit zur Verfügung gestanden, bleibt Spekulation und ändert nichts an den Befunden. Diese finden sich auch auf den Ebenen der staatlichen Steuerung, der Institutionen des Wissenschaftsbetriebs und bei der Betrachtung der Prozesse innerhalb der disziplinaren Kommunikationsgemeinschaft bestätigt. Auf die Schwäche des REM, die eine konzeptionelle war und sich auch und besonders in der politischen und persönlichen Rolle des Ministers äußerte, der in den letzten Jahren des Regimes keinen Zugang zu Hitler hatte, ist verwiesen worden. 15 Bei Grüttner findet sich ein Bonmot über die Einfuhrung einer minimalen Maßeinheit, das seinerzeit in Hoch-
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Vgl. M. Grüttner, Studenten (Anm. 3), S. 89. George Leaman und Gerd Simon, Die Kant-Studien im Dritten Reich, in: Kant-Studien 85 (1994), S. 443^*69, S. 445 und S. 464. Vgl. U.-K.Ketelsen, Literatur und Drittes Reich (Anm. 8), S. 295ff., der auf Quellen verweist; M. Grüttner, Studenten (Anm. 3), S. 87f.; J. Wemer, Zur Lage der Geisteswissenschaften in Hitler-Deutschland, in: Schweizerische Hochschulzeitung 19 (1945/46), S. 71-81, S. 77. J. Wemer, Geisteswissenschaften (Anm. 13), S. 77. M. Grüttner, Studenten (Anm. 3), S. 88.
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schulkreisen die Runde machte: »>Ein Rustx sei der Zeitraum von der Verkündung eines Erlasses bis zu seiner Aufhebung.« 16 Exemplarisch für die Arbeitsweise des Ministeriums ist sein Scheitern bei dem Versuch, eine einheitliche »Reichspromotionsordnung« zu erlassen, der 1937 aufgegeben wurde, woraufhin die Zuständigkeiten endgültig bei den Fakultäten blieben. 17 Eine »Reichshabilitationsordnung« wurde hingegen in zwei Stufen 1934 und 1937 verwirklicht: Sie beließ die Beurteilung der Lehrbefähigung bei den Fakultäten, machte aber die Erteilung von Dozenturen, die in der Regel mit der Aussicht auf eine Lebensstelle verbunden waren, an politisch genehme Kandidaten zur Sache des Staats; eine der Neuerungen der Nationalsozialisten, die das DDR-Hochschulrecht von Anfang an übernahm und weiterführte, indem es den Status des Privatdozenten gänzlich abschaffte. 18 Über die Berufungspolitik sicherten sich beide Systeme entsprechenden Einfluß. Kompetenzgewirr und uneinheitliches Handeln zeigen sich auch bei den verschiedenen anderen in die Wissenschafts- und Hochschulsteuerung verwickelten staatlichen Stellen, zu denen neben dem Goebbels-Ministerium mit der bereits genannten Dienststelle und seiner Reichsschrifttumskammer insbesondere das Reichsinnenministerium gehörte. Wenn man die Ebene der Institutionen des Wissenschaftsbetriebes, also vor allem der Universitäten und Fakultäten, betrachtet, sind Eingriffe in das Autonomieprinzip dort auszumachen, wo das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« vom 7.4.1933 bis 1938 zur Vertreibung etwa eines Drittels aller Hochschullehrer führte. »Andere Versuche der Einflußnahme blieben ohne rechten Erfolg«, resümiert Christoph König die im Band Zeitenwechsel vorgelegten Ergebnisse: »In die Inhalte, in das Lehrprogramm konnten die Machthaber wenig hineinreden - weder die Einschüchterung durch die Studenten noch das Führerprinzip, noch Ansätze zur politischen Stellenbesetzung störten die beachtlichen Freiräume.« 19 Das Prinzip der akademischen Selbstverwaltung bestand ebenso weiter wie das Vorschlagsrecht der Fakultäten bei Berufungen, und auch das dezidiert betonte Führerprinzip hob die selbstverfaßten kollegialen Formen der Hochschulautonomie letztlich nicht auf. Dementsprechend gilt für die beteiligten Wissenschaftler, daß sie Anpassungsleistungen in unterschiedlichem Maße erbrachten. Zumindest in weiten Bereichen »nationaler« Werte bestand ohnehin Konsens, hatte doch schon in der Weimarer Zeit kein Jude, aber auch kein »Linker« oder »Linksliberaler« ein Ordinariat des Fachs erhalten. 20 Über Werte konnte Zustimmung bekundet werden: Diese sind, wenn sie nur allgemein und unverbindlich genug bleiben, für Legitimationsbedürfnisse adaptierbar. Das »Allgemein-Menschliche« und seine »Aufgipfelung« in den Werken der Dichtung läßt sich in die Projektionen verschiedenster Systeme einfügen, ohne daß man sich
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Ebd. W. Beck und J. Krogoll, Literaturwissenschaft (Anm. 4), S. 720. Wilhelm Bleek und Lothar Mertens, DDR-Dissertationen. Promotionspraxis und Geheimhaltung von Doktorarbeiten im SED-Staat, Opladen 1994, S. 71. Chr. König, Wissen, Werte (Anm. 4), S. 367. H. Dainat, Anpassungsprobleme (Anm. 2), S. 115 und S. 104.
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allzusehr mit diesen einlassen muß; die entsprechenden »Dienstleistungen« des Fachs finden sich daher keineswegs nur im Nationalsozialismus. Festgestellt werden muß aber auch, daß Zeitschriften wie die Deutsche Vierteljahrsschrift die Linie der wissenschaftlichen Überprüfbarkeit und sicheren philologischen Fundierung weitgehend beibehielten, wenngleich das arkane Begleitgespräch der Herausgeber zeigt, wie ängstlich sie bemüht waren, Konflikte mit den Machthabern zu vermeiden. 21 Von diesen war außer eindeutigen Aussagen in der Rassenfrage ja wenig bekannt, was sie vom Fach forderten und wie sie reagieren würden. So ist auch die Entwicklung des 1934 - offenbar ohne äußeren Zwang - in Dichtung und Volkstum umbenannten Euphorien nicht singulär; er setzte zunehmend auf die Verbindung stammeskundlicher Ansätze und geistesgeschichtlicher Fragen mit nationalsozialistischen Ideologemen und verkam, wie Wolfgang Adam einschätzt, in den Kriegsjahren »vollends zu einem Magazin für nationalsozialistische Weltanschauung«. 22 Doch selbst unter solchen Umständen erschienen in der Zeitschrift Arbeiten, die den autonomen Status des Werks, seinen Kunstcharakter betonten und die werkimmanente Methode der Nachkriegsgermanistik mit vorbereiteten. Wieweit Anpassungsleistungen politisch gesteuert waren oder freiwillig erbracht wurden, wieviel an vorauseilendem Gehorsam und Karrierismus im Spiel war und wieviel an eigener Gesinnung, wieweit sie substantiell waren oder rhetorisch blieben, das ist letztlich nur in Fallstudien zu beschreiben. Daß sich manche Produktion eines Assistenten zwischen der Dissertation am Anfang der NS-Zeit und der Habilitation in deren späterer Phase »als geradezu paradigmatische Genese einer Anpassung« 23 liest, wird dabei ebenso einsichtig wie die größere Resistenz vieler Ordinarien, wobei gerade der Typus des ersteren sich häufig als für einen Lehrstuhl in der Nachkriegsgermanistik geeignet erwies. Die Rolle des Staats in der Berufungspolitik und bei der Vergabe der erwähnten Lebenszeitdozenturen hat solche Anpassung gewiß befordert. - Insgesamt gilt, daß die politische Steuerung bis 1945 weder konzeptuell noch instrumenteil vermochte, eine Formierung der disziplinaren Kommunikationsgemeinschaft im Sinne des Nationalsozialismus oder der Arbeit an einem stringenten Konzept nationalsozialistischer Literaturwissenschaft zu erreichen, daß sie aber über die Rahmenbedingungen erhebliche Anpassungsleistungen bewirkte.
3. Über die Ebene der Werte bediente die Germanistik in den ersten Jahren nach dem Krieg den Aufbauwillen im Westen wie im Osten Deutschlands. Großordinarien wie Theodor Frings und Hermann August Korff blieben unangefochten, Remigran-
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Vgl. H. Dainat, »wir müssen...« (Anm. 7). W. Adam, Dichtung und Volkstum (Anm. 4), S. 67. W. Beck und J. Krogoll, Literaturwissenschaft (Anm. 4), S. 716.
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ten wie Hans Mayer und Ernst Bloch hatten es nicht leicht, in die inneren Fakultätsgremien eingelassen zu werden, vorbelastete Wissenschaftler wie Joachim Müller, Leopold Magon oder Hans Friedrich Rosenfeld wurden berufungsfähig oder kehrten in die Ämter zurück. 24 Das Legitimationsbedürfnis der »antifaschistisch-demokratischen Ordnung« konnte durchaus aus dem »Geist der GoetheZeit« und des »Allgemein-Menschlichen« bedient werden, und zu dramatischen Wenden sah sich das Fach im Osten Deutschlands ebensowenig veranlaßt wie im Westen. Erst mit der Entwicklung der SED zur »Partei neuen Typus« ab 1949 25 und dem Aufbau der »Diktatur des Proletariats« unter ihrer Führung begannen sich die Rahmenbedingungen grundlegend zu ändern. Da die SED sich als Vollstreckerin einer über Kant und Hegel zu Marx geführten Aufklärungs- und Emanzipationslinie verstand, suchte sie sich im Gegensatz zur NSDAP bewußt rational zu legitimieren; das Schloß im Rahmen ihrer Vorstellungen von Wissenschaft und wissenschaftlichem Sozialismus über weite Strecken die Um- und Aufwertung der Geisteswissenschaften zu Gesellschaftswissenschaften ein, die sich deutlich von deren Abwertung im Nationalsozialismus unterscheidet, wenngleich das zugrundeliegende Wissenschaftsverständnis - Wissenschaft unter dem Primat von Ideologie - mehr Gemeinsames hat, als es auf den ersten Blick scheint. Im folgenden sollen die Veränderungen auf den verschiedenen Ebenen politischer Steuerung - durch die Partei und ihre Ideologie, den Staat, innerhalb der Institutionen und der disziplinaren Gemeinschaft - dargestellt und an Ergebnissen gemessen werden. Die neue deutsche Diktatur gilt im wissenschaftlichen Vergleich mit ihrer Vorgängerin als ausgesprochen zweckrational, weil die Steuerungsvorgänge einheitlicher und effizienter erscheinen als die des Nationalsozialismus. 26 In der Tat trifft das für die Einheitspartei und ihre Ideologie zu. Letztere stellt sich als geschlossenes System dar, als der »in die Wirklichkeit übergetretene Text«, 27 der ein kohärentes Konzept von Philosophie, politischer Ökonomie, politischer Geschichte und Gesellschaftstheorie (des »Wissenschaftlichen Sozialismus«) beanspruchte. Darin ist die Führungsrolle der Partei ebenso begründet und definiert wie die Bestim-
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Petra Boden, Universitätsgermanistik in der SBZ/DDR. Personal- und Berufungspolitik 1945-1958, in: ZfG N.F. 5 (1995), S. 373-383; Gerd Irrlitz, Ein Beginn vor dem Anfang. Philosophie in Ostdeutschland 1945-1950, in: Wissenschaft im geteilten Deutschland. Restauration oder Neubeginn nach 1945? Hrsg. von Walter H. Pehle und Peter Sillem, Frankfurt/Main 1992, S. 113-124, S. 122; Manfred Naumann, Literaturgeschichte oder Politästhetik? Erinnerungen an die Literaturwissenschaft nach 1945 in der Ostzone, in: ebd., S. 164-176, S. 168. Beatrix Bouvier, Ausgeschaltet! Sozialdemokraten in der SBZ und in der DDR 1945— 1953, Bonn 1996. Vgl. auch die - als Selbstdarstellung der SED aufschlußreiche Geschichte der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Abriß. Hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED, Berlin 1978, S. 182 und S. 197-206. J. Kocka, Vereinigungskrise (Anm. 10), S. 98; J. Schlotthaus, Merkmale der Errichtung (Anm. 10), S. 54; H. Möller, Diktaturen (Anm. 1), S. 13. G. Irrlitz, Ein Beginn vor dem Anfang (Anm. 24), S. 114.
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mung dessen, was diese Führungsrolle, den »neuen Typus« der Partei, ausmacht: das Prinzip absolut machtrationaler Organisation. Es gibt »keine andere Waffe im Kampf um die Macht als die Organisation«, heißt es dazu noch 1976 im Philosophischen Wörterbuch der DDR. 28 Was das im einzelnen für die Steuerung der Wissenschaft bedeutete, kann im Rahmen dieses Beitrags nur exemplarisch behandelt werden und wird in künftigen Untersuchungen ausführlicher darzustellen sein. Am ehesten ist das Prinzip einsichtig, wenn man die Stellung der Parteimitglieder beschreibt. Für sie galt zum einen die konsequent hierarchische Gliederung der Partei. Alle hatten den Willen der übergeordneten Leitung durchzusetzen, »auch wenn einige Mitglieder nicht von der Richtigkeit der Beschlüsse überzeugt sind«, wie die gleiche Quelle vermerkt. 29 Zum anderen gab es ein anderes Zuordnungsprinzip als in üblicherweise territorial aufgebauten Parteien einschließlich der NSDAP. Die SED gliederte sich nicht nur nach der Territorialstruktur des Staats in Bezirks-, Kreis-, Stadt-, Stadtbezirks-, Ortsparteiorganisationen mit ihren jeweiligen Leitungen, sondern erfaßte nach dem »Produktionsprinzip« ihre Mitglieder dort, wo sie arbeiteten, in sogenannten »Grundorganisationen«; diese besaßen eigene Führungsorgane, die der jeweiligen Territorialleitung unterstellt und ihr gegenüber rechenschaftspflichtig waren. In der Regel waren das Betriebsparteiorganisationen (im Hochschulbereich: Hochschulparteiorganisationen), die in Abteilungsparteiorganisationen und - auf der Ebene der kleinsten Einheiten (etwa der Institute oder Lehrstühle) - in Parteigruppen gegliedert sein konnten; deren Leitungen unterstanden der jeweils übergeordneten Leitung innerhalb der Grundorganisation. Das System erscheint lückenlos, wenn man bedenkt, daß die daneben existierenden »Wohngebietsparteiorganisationen« diejenigen erfaßten, die nicht berufstätig waren. Entscheidend ist, daß die Partei damit in jedem Feld der Gesellschaft, bis in die letzte Einheit von Wirtschaft, Verwaltung, Staat, Kultur und Wissenschaft politisch wirksam war; die Parteigruppen hatten anhand von Arbeitsplänen, die auch »Parteiaufträge« einschließen konnten, die »Umsetzung« der jeweiligen Beschlüsse in ihrem Tätigkeitsbereich zu sichern und dies den übergeordneten Leitungen in einem aufwendigen Verfahren der Rechenschaftslegung und Kontrolle nachzuweisen. Dieses System des Parteiaufbaus war seit etwa Mitte der fünfziger Jahre an den Universitäten und Hochschulen funktionsfähig, die letzten weißen Stellen verschwanden in den sechziger Jahren: So entstanden Parteigruppen bei wissenschaftlichen Zeitschriften, etwa Ende 1961 bei den Weimarer Beiträgen, und 1969 wurde an der Akademie der Wissenschaften die Kreisparteiorganisation der SED gegründet. Ein solcher Organisationsfanatismus, der gewiß nicht nur aus der Leninschen Revolutionstheorie, sondern auch aus den Erfahrungen deutscher Kommunisten 28
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Artikel »Partei, marxistisch-leninistische«, in: Philosophisches Wörterbuch. Hrsg. von Georg Klaus und Manfred Buhr, Leipzig 12 1976, S. 915-918, S. 916. - Zu bedenken ist, daß eine solche Rationalitäts- und Ordnungsgläubigkeit letztlich Wunschdenken der SED war, ein Mythos. Ebd., S. 917.
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im Widerstand und im Exil gespeist ist, findet seine direkte Fortsetzung in der »Kaderpolitik« der Partei. Wenn die Organisation klar ist, lautete das Prinzip, entscheiden die Kader alles. Um die Parteiorganisationen lückenlos ausbauen zu können, mußten die politisch und beruflich geeigneten Mitglieder vorhanden sein das war in anderen Bereichen gewiß ein geringeres Problem als in der Wissenschaft, die ja noch Anfang der fünfziger Jahre weithin mit bürgerlichen Fachleuten dominiert war. Wie verfahren wurde, zeigt nicht nur das Beispiel der Arbeiter-undBauern-Fakultäten, also der Öffnung der Universitäten für bislang benachteiligte soziale Schichten, die einen langfristigen Wechsel der Eliten vorbereitete, sondern auch das planmäßige Eingreifen in die Auswahl und Entwicklung derjenigen, an die solche »Keimzellen« der Partei im Wissenschaftsbereich zu binden waren. Die zuständige Abteilung im Zentralkomitee der SED veranlaßte im Winter 1950/51 einen Sonderlehrgang mit geeignet scheinenden Nachwuchsgermanisten, den Gerhard Scholz leitete; aus seinen über 30 Teilnehmern gingen nachweislich mindestens 13 Wissenschaftler hervor, die wenige Jahre später germanistische Lehrstühle besetzten und zu Trägern des Parteieinflusses und der »marxistischleninistischen Umgestaltung« des Fachs wurden. »Durch verstärkte Konzentrierung des sozialistischen wissenschaftlichen Nachwuchses an einzelnen Instituten«, heißt es in einer Planungsvorlage der Abteilung aus dem Jahr 1958, »muß ein schnelles Wachstum der sozialistischen Nachwuchskader erreicht werden. Als erstes wird mit der Konzentrierung von wissenschaftlichen Nachwuchskadern in Berlin, vor allem am germanistischen Institut der Humboldt-Universität [...] begonnen.« 30 Auch wenn Untersuchungen dieser Kaderpolitik auf der Meso- und Mikroebene noch kaum vorliegen, 31 so kann doch gesagt werden, daß die SED sich die entscheidenden Einflüsse auf die Stellenbesetzungen sicherte; es gab seit der Auflösung der Hochschulautonomie im Zuge der 2. Hochschulreform 1950/51 keine Berufungen, die an den Vorstellungen der Partei vorbeigegangen wären. Daß ein »Genösse Dr. K. als Professor ans Germanistische Institut der Universität Jena versetzt« wird, wie es in einem Papier vom Januar 1962 heißt, ist in der Formulierung zwar singulär, in der Sache aber charakteristisch. 32 Es wird noch darauf einzugehen sein, daß und wie entsprechende Vorgänge von der Basis der Partei, also auf der Ebene der Parteigruppen und damit der Fachleute, vorbereitet und gesteuert werden konnten. 30
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Bundesarchiv Berlin, Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der ehemaligen DDR (künftig: BA B, SAPM), DY 30/IV 2/9.04/225, Bl. 344. So etwa P. Boden, Universitätsgermanistik (Anm. 24). Vgl. auch den Problemaufriß bei Arnd Bauerkämper, »Eliten« als Problem der historischen DDR-Forschung? Egalitärer Anspruch und gesellschaftliche Konstruktionspolitik. Ein Workshop des Projekts »Führungsgruppen und >Apparate< des SED-Regimes«, in: Potsdamer Bulletin fur Zeithistorische Studien, Potsdam 1996, H. 7, S. 48-53, mit dem wichtigen Hinweis auf den »Unterschied zwischen der Elitenkonkurrenz in pluralistischen Gesellschaften und dem Kooptationsmechanismus in der DDR" (S. 52). Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, Institutsakte 236 (nicht paginiert), Brief HansGünther Thalheim an Helmut Holtzhauer vom 11.1.1962, 2 S., S. 1; Name gekürzt, Hervorhebung nicht im Original.
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Die Konsequenz der Instrumentalisierung des Staats und der staatlichen Wissenschaftspolitik, der Durchsetzung ideologischer Vorgaben und des Systems ideologischer Schulung, der klaren Strukturierung von Zuständigkeiten und Befugnissen innerhalb der Parteiführung und des Parteiapparats, der Überwachung und Kontrolle von Vorgaben sind zweifellos weitere Merkmale, die die SED bei der Steuerung der Wissenschaft von der NSDAP unterscheiden. So läßt sich nachweisen, daß jedem Schritt staatlicher Hochschulpolitik eine entsprechende Parteikonferenz, eine spezielle Hochschulkonferenz der Partei oder ein Parteitag vorausgegangen waren, die die jeweiligen Vorgaben aus dem »Gesamtkonzept« der Gesellschaftsentwicklung ableiteten, für die die SED als »Vorhut der Arbeiterklasse« die »führende Rolle« beanspruchte. Daneben bleiben Versuche der seit 195133 zuständigen Abteilung Wissenschaften im Zentralkomitee marginal, unmittelbar selbst in die inhaltlichen, theoretischen, methodologischen Kernzonen des Fachs einzugreifen. Sie arbeitet zumeist in der Weise, daß sie die jeweiligen ideologischen Schwerpunkte der Führung an eine ausgewählte Gruppe zuverlässiger Nachwuchsgermanisten, überwiegend aus dem Scholz-Kreis, mit der Aufforderung weitergibt, daraus Vorgaben für anstehende Konferenzen und Beschlüsse zu entwickeln; diese finden sich am Ende oft in ebenfalls sehr allgemeinen ideologischen Formulierungen wieder, wie es etwa das Beispiel der 3. Hochschulkonferenz von 1958 und ihrer Forderungen an die Germanistik beweist. 34 Die Akten der Abteilung Wissenschaft, soweit sie bisher für diesen Beitrag aufgearbeitet werden konnten, zeigen, daß die wenigen Mitarbeiter die Zuarbeiten nicht wissenschaftlichen, sondern ideologischen Akzeptanzkriterien unterwerfen, was letztere mitunter auf den Gebrauch von Sprachregelungen reduziert. Die Abteilung kann die Umwandlung der literaturwissenschaftlichen Germanistik in eine marxistisch-leninistische Gesellschaftswissenschaft nicht selbst betreiben, sie will sie bewirken; die Kriterien werden vom Fach erwartet. Wo sie ausbleiben und sich überdies ein Dissens zwischen verschiedenen Positionen abzeichnet, die sich alle auf den Marxismus berufen, wird oft nicht nur gar nichts entschieden, sondern die Zuständigkeit mehr und mehr an die staatliche Administration, das Staatsekretariat und spätere Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen, abgegeben, das ohnehin den legislativen Anspruch auf Sachkompetenz besaß, den es über seine verschiedenen wissenschaftlichen Beiräte und damit letztlich über die Vorarbeiten der beteiligten Wissenschaftler zu verwirklichen suchte. 35 Ihr eigentliches Wirkungsfeld sah die Abteilung in der Bündelung und Kontrolle von Maßnahmen, die sich aus den allgemeinen wissenschaftspolitischen und ideologischen Vorgaben der
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W. Bleek und L. Mertens, DDR-Dissertationen (Anm. 18), S. 29. Vgl. Gunter Schandera u. a., Die Weimarer Beiträge zwischen 1955 und 1961. Eine Zeitschrift auf dem Weg zum »zentralen Organ der marxistischen Literaturwissenschaft in der DDR«?, in: Deutsche Literaturwissenschaft 1945-1965. Fallstudien zu Institutionen, Diskursen, Personen. Hrsg. von Petra Boden und Rainer Rosenberg, Berlin 1997, S. 261-332, S. 285, S. 318 und S. 321. Zu Vorgehensweisen der Abteilung Wissenschaften vgl. ebd., S. 326. Zu den Beiräten vgl. weiter unten in diesem Beitrag (Anm. 48).
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Parteiführung ergaben, insbesondere der »Kaderarbeit«, und ihrer Untersetzung durch »Maßnahmepläne«, die durch die Hochschulparteileitungen und die staatlichen Instanzen verwirklicht werden sollten. »Hauptkettenglied für die notwendige gründliche Veränderung auf dem Gebiet der germanistischen Literaturwissenschaft und der marxistisch-leninistischen Ästhetik ist die Schaffung der notwendigen ideologischen Voraussetzungen in den Parteiorganisationen«, heißt es in unnachahmlicher Diktion in einem Plan der Abteilung zur »Verbesserung der Arbeit in der germanistischen Literaturwissenschaft der DDR« vom 1.12.1965, und an Maßnahmen werden u. a. aufgelistet: ein einwöchiger Lehrgang für Parteisekretäre der entsprechenden Einrichtungen, ein »Lehrgang für Genossen Studenten, auf dem darüber hinaus insbesondere Grundfragen der Parteiarbeit beraten werden«, ein Plan »zur Unterstützung der Agitations- und Propagandaarbeit der Partei«, die Schaffung einer »Kaderreserve für den Auslandsbedarf im Bereich der Germanistik«, letztlich, damit der Führungsanspruch, wenn schon nicht in der Sache, so doch wenigstens in der Geste der Macht erkennbar bleibt: »Das Staatssekretariat für das Hoch- und Fachschulwesen ist zu beauftragen, die Ausbildung von Germanisten und Kulturwissenschaftlern zu analysieren und gemeinsam mit dem Ministerium für Kultur und dem Ministerium für Volksbildung notwendige Vorschläge zur Veränderung zu unterbreiten«. 36 Auf das grundsätzlich andere Verhältnis zwischen Partei und Staat in beiden deutschen Diktaturen wurde bereits verwiesen. Wo es im Nationalsozialismus eine »Überlagerung von Partei und Staatsinstanzen« gab, hat die SED den Staat zu einem praktisch vollständig von ihr »beherrschten Apparat gemacht«. 37 Der Vorsitzende des Ministerrats gehörte dem obersten Führungsgremium der SED, dem Politbüro, an; weitere Minister wie auch der Minister für Hoch- und Fachschulwesen waren Mitglieder des darunter angesiedelten Zentralkomitees, und da es eine parlamentarische Demokratie nicht gab, wurden die Weisungen der Parteiführung praktisch unmittelbar über den Dienstweg der Regierung weitergegeben. In den Akten der Parteiführung finden sich häufig Formulierungen der Art, daß ein Staatssekretär oder Minister von der zuständigen ZK-Abteilung »beauftragt« wird. 38 Dazu kam, daß in allen Regierungsstellen die bereits erwähnten ParteiGrundorganisationen existierten, die ein zusätzliches Umsetzungs- und Kontrollinstrument waren und ihrerseits der Parteihierarchie unterstanden. Es nimmt so nicht 36
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BA B, SAPM, DY 30/IV 2/9.04/217 (nicht paginiert). Vgl. auch Petra Boden, »Es geht ums Ganze!« Vergleichende Beobachtungen zur Germanistik in beiden deutschen Staaten 1945-1989, in: Euphorion 91 (1997), S. 247-275, S. 261f. H. Möller, Diktaturen (Anm. 1), S. 13; vgl. auch: Das Dritte Reich. Herrschaftsstruktur und Geschichte. Hrsg. von Martin Broszat und Horst Möller, München 1986. Vgl. P. Boden, »Es geht ums Ganze!« (Anm. 36). - Am 28.4.1962 schreibt der Leiter der ZK-Abteilung Völksbildung an die ZK-Abteilung Wissenschaft: »Der Minister für Volksbildung [...] wurde von mir beauftragt, die Drucklegung der einbändigen Deutschen Literaturgeschichte zunächst abzustoppen, die Konzeption für das Lehrbuch zu überprüfen und der Ideologischen Kommission zur Bestätigung vorzulegen« (BA B, SAPM, DY 30/IV 2/9.04/227, Bl. 185).
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wunder, daß die staatliche Administration geradlinig und zügig die Strukturen schaffen konnte, die für die Funktionalisierung des Wissenschaftssystems gebraucht wurden. 39 Nach der 1. Hochschulreform unmittelbar nach dem Krieg, die sich als Entnazifizierung und »demokratische Erneuerung« verstand, betrieb die 2. Hochschulreform ab 1951 die »sozialistische Umgestaltung«: Das 1951 gebildete eigenständige Staatssekretariat fllr Hochschulwesen (ab 1958: Staatssekretariat für Hoch- und Fachschulwesen, ab 1967: Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen) übernahm die zentrale Steuerung noch vor dem Ende der Länder und veranlaßte ab Wintersemester 1951 die Einfuhrung einheitlicher Studienpläne, eines einheitlichen 10Monate-Studienjahrs, eines obligatorischen politischen Grundstudiums und eines ebenfalls verbindlichen Praktikums für alle Studiengänge. 40 Zugleich verpflichtete das Zentralkomitee die Parteiorganisationen der SED an den Universitäten und Hochschulen, die, wie es hieß, »führende Rolle der Partei in der wissenschaftlichen Arbeit und in der Erziehung der Studenten zu verwirklichen«. 41 Dem Gesetz über das »einheitliche sozialistische Bildungssystem« vom Februar 1965, dessen Radius von der Kinderkrippe bis zur Universität reichte und dessen Kern eine einheitliche Zehnjahresschule mit einer anschließenden zweijährigen Abiturstufe war - letztere stieß allerdings auf zahlreiche Widerstände und wurde erst ab 1982 wirksam - , folgte ab 1967 die 3. Hochschulreform. Sie beseitigte die Reste der Hochschulautonomie, indem sie die Selbständigkeit von Fakultäten und Instituten auflöste und in ein Leitungssystem überführte, bei dem die Hochschulen wie sozialistische Wirtschaftseinheiten verwaltet und in zentral vorgegebene Richtlinien eingebunden waren. 42 Daneben entstand ein neues Rahmenlehrprogramm für das »marxistischleninistische Grundlagenstudium«, dessen Realisierung neugebildete »Sektionen für Marxismus-Leninismus« übernahmen. Die Rolle ideologievermittelnder Anteile neben der Fachausbildung, die der Staat für alle Studiengänge und Ausbildungsformen auf dem Verordnungsweg
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Im Vergleich der Wissenschaftslandschaften beider deutscher Staaten stellten sich 1989 so vier Differenzpunkte dar: die entschiedene Zentralisierung, die Abschaffung der Hochschulautonomie, die starke Trennung zwischen außeruniversitärer Forschung an den Akademien und der Lehre und Forschung an den Hochschulen, schließlich die vollständige Integration der Hochschulen in das Gesamtsystem der Planwirtschaft, die beispielsweise die Zulassungszahlen aus den bereitgestellten bzw. benötigten Arbeitsplätzen für die Absolventen hochrechnete. Vgl. J. Kocka, Vereinigungskrise (Anm. 10), S. 64-66. Das Hochschulwesen der DDR. Ein Überblick. Hrsg. vom Institut für Hochschulwesen, Berlin (Ost) 1980, S. 55-59. Ebd., S. 55. Vgl. Schema der Leitungsstruktur, in: ebd., S. 244. Vgl. Hans-Joachim Meyer, Hochschulpolitik in der DDR, in: Materialien der Enquete-Komnmission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland«. Hrsg. vom Deutschen Bundestag, 1995, Band III. 1, S. 374-381, S. 377. Vgl. auch Johannes Mehlig, Die Hochschulreform in der DDR - Realität und Folgen, in: Drei Jahrzehnte Umbruch der deutschen Universitäten. Die Folgen von Revolte und Reform 1968-1974. Hrsg. von Karl Strobel und Gisela Schmirber, Vierow bei Greifswald 1996, S. 143-160.
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durchsetzte, läßt sich auch an den Promotionsordnungen der DDR ablesen. Die erste war 1956 als Durchfuhrungsbestimmung zur »Verordnung über die Verleihung akademischer Grade« des Ministerrats erschienen, die das traditionelle Satzungsrecht der Fakultäten durch einheitliche Regelungen fur alle Promotionsinstitutionen ablöste; sie hatte im übrigen deren Kreis über die Universitäten und wissenschaftlichen Hochschulen hinaus erweitert, wodurch später auch Einrichtungen des ZK, der Einheitsgewerkschaft FDGB und der Militär- und Sicherheitsorgane das Promotions- und zum Teil das Habilitationsrecht erhielten. 43 In dieser Ordnung war noch lediglich vom »Nachweis ausreichender Kenntnisse in Philosophie« die Rede, der in der mündlichen Prüfung erfolgen sollte. 44 Die Promotionsordnung von 1969 forderte den Nachweis nunmehr »marxistisch-leninistischer Kenntnisse« in Form einer schriftlichen Arbeit oder einer Prüfung »vor einem Prüfungsausschuß der Sektion Marxismus-Leninismus«; das Ergebnis ging zu einem Drittel neben den Noten für die Dissertationsschrift und die Verteidigung, die an die Stelle der Prüfung getreten war, in das Gesamtprädikat ein 45 In einer späteren Anordnung über die »marxistisch-leninistische Aus- und Weiterbildung der Doktoranden« wurden zusätzlich Maßnahmen zum Besuch entsprechender Pflichtveranstaltungen und zur Beschäftigung mit »Arbeiten der marxistischleninistischen Gesellschaftswissenschaften« festgelegt, »die für das eigene Wissenschaftsgebiet von besonderer Bedeutung sind«; diese waren in »individuellen Studien- und Arbeitsplänen« genau zu benennen. 46 Da die Anordnung letzteres dem Doktoranden und dem wissenschaftlichen Betreuer überlassen mußte, konnte selbst eine solche Über-Administration die offenbar bezweckte Umwandlung von Ideologie in Wissenschaft nicht garantieren; die Regelungen wurden in einer neuen Anordnung 1986 teilweise und in der letzten Promotionsordnung der DDR von 1988 weiter zurückgenommen. 4 7 Neben der Steuerung administrativer und ideologischer Maßnahmen nahm die staatliche Zentralbehörde über ihre verschiedenen Beiräte und Fachkommissionen unmittelbaren Einfluß auf die Entwicklung des Fachs, nicht zuletzt durch die Gestaltung der Lehrprogramme, Studien- und Prüfungsordnungen bis hin zur Auswahl der Pflichtliteratur für die Ausbildung von Deutschlehrern. Federfuhrend waren der 1951 gebildete Wissenschaftliche Beirat für Germanistik, dem zunächst alle Lehrstuhlinhaber in der Funktion als Fachrichtungsleiter angehörten, und die interministerielle, durch die Ministerien für Volksbildung und für Hoch- und Fachschulwesen gebildete Zentrale Fachkommission Deutsch, die die Belange der Lehrerbildung wahrzunehmen hatte. Auch wenn Untersuchungen zu deren Arbeit noch zu leisten sind, kann gesagt werden, daß Entscheidungen der Bürokratie sich häufig als Entscheidungen von Fachvertretern, als Ausdruck von Fremdsteuerung 43 44 45 46 47
W. Bleek und L. Mertens, DDR-Dissertationen (Anm. 18), S. 31. GBl. DDR Teil I Nr. 83 vom 25.9.1956, S. 748. GBl. DDR Teil II Nr. 14 vom 19.2.1969, S. 109. GBl. DDR Teil I Nr. 7 vom 21.2.1973, S. 87. GBl. DDR Teil I Nr. 29 vom 26.9.1986, S. 402f.; GBl. DDR Teil I Nr. 17 vom 22.8.1988, S. 195.
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und zugleich von disziplinären Prozessen darstellen. 48 In gleicher Weise gilt für die Forschung, daß der Einfluß bürokratischer Zentralsteuerung begrenzt ist. Am ehesten ist er in einem Großprojekt nachweisbar, das - in seinem Telos der ganz anderen Art an Von deutscher Art und Dichtung erinnernd - den »Aufstieg« der Literaturgeschichte zur sozialistischen deutschen Nationalliteratur nachweisen sollte: die zwölfbändige Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, die konzeptionell in den sechziger Jahren entwickelt, von einer Ideologischen Kommission unter Kurt Hager überwacht und im wesentlichen Mitte der siebziger Jahre abgeschlossen wurde. Daß ein derartiges »Kollektivunternehmen«, das nur mit äußerster Mühe und unter vielen Widerständen beendet werden konnte, die disziplinare Gemeinschaft keineswegs geeint, sondern die Differenzen eher verstärkt hatte, zeigt sich nicht nur darin, daß es keine vergleichbaren Fortsetzungen gab, sondern auch darin, daß sich viele der Beiträger bald nach seinem Erscheinen wissenschaftstheoretisch von ihm distanzierten. 49 Betrachtet man die Vorgänge in der DDR auf der Ebene der Institutionen, so bestätigt sich nach dem, was gesagt wurde, die Vermutung Christoph Königs, »daß die institutionelle Autonomie in der NS-Zeit wohl größer als in der DDR« war.50 Unter diesem Aspekt ist es auffallig, daß die zentrale Steuerung des Fachs, insbesondere der Forschung nicht so funktionierte, wie das zu unterstellen wäre, und eine große Zahl von Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten bei den Institutionen verblieb oder zu ihnen zurückkehrte. Für die Forschung ist auf das Ausbleiben größerer Gemeinschaftsprojekte seit den siebziger Jahren hingewiesen worden; selbst das umfängliche Wörterbuch der Literaturwissenschaft, das 1986 unter der Federführung von Claus Träger erschien, 51 bot eher eine erhebliche Disparatheit der Standpunkte und eine große Zahl von Weglassungen (auch bestimmter Autorengruppen) als ein Bild von Formierung und Homogenität. Die fur diesen Beitrag erhobenen Befunde bestätigen die Feststellung Rainer Rosenbergs, daß schon »seit Anfang der siebziger Jahre [...] die Literaturwissenschaft in der DDR ihre Forschungsvorhaben im wesentlichen selbst bestimmt« hat. 52 Warum sie das trotz ihres autoritären Umfelds konnte, darf vermutet werden. 48
Zur Gründung des Beirats vgl. Petra Boden, Lesen aus Leidenschaft: Joachim Müller, in: Atta Troll (Anm. 2), S. 193-217, S. 196f. Anm. 9. - H. Dainat, Anpassungsprobleme (Anm. 2), S. 193-217, S. 196f. Anm. 9. - Die Arbeit des Wissenschaftlichen Beirats Germanistik beim Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen und der Zentralen Fachkommission Deutsch beim Ministerium für Volksbildung haben Anke Scheuermann und Oliver Müller, Institut fur Germanistik der Universität Magdeburg, untersucht.
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Rainer Rosenberg, Zur Begründung der marxistischen Literaturwissenschaft der DDR, in: Deutsche Literaturwissenschaft 1945-1965 (Anm. 34), S. 203-240, S. 226f.; Petra Boden, Ornamente und Tabus. Antifaschismus als Herrschaftsdiskurs, in: Weimarer Beiträge 41 (1995), S. 104-119, S. 116f. Chr. König, Wissen, Werte (Anm. 4), S. 367. Wörterbuch der Literaturwissenschaft. Hrsg. von Claus Träger, Leipzig 1986. Rainer Rosenberg, Zur Geschichte der Literaturwissenschaft in der DDR, in: Dialog ohne Grenzen. Beiträge zum Bielefelder Kolloquium zur Lage von Linguistik und Literatur-
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Zum einen hatte ihre Selbstinszenierung als »sozialistische Leitungswissenschaft«, die von einer Gruppe Berliner Germanisten Ende der fünfziger Jahre begonnen wurde und bis 1970 reichte, 53 begrenzte Konjunktur; zu Ende ging sie mit der Verabschiedung der Vorstellungen vom »wissenschaftlichen System des Sozialismus« und seiner Planung und Leitung, die als Reaktion auf den zunehmenden Abstand zwischen Ideal und Wirklichkeit mit dem Beginn der Ära Honecker und dem 8. Parteitag 1971 verbunden war. Diese bedeutete im Selbstverständnis der SED »eine Wende in der Politik der Partei, insbesondere der Wirtschafts- und Sozialpolitik«, 54 den Übergang zu einem eher pragmatischen Gesellschaftsmodell, das, zumindest in seiner Anfangsphase, auf Wirtschaftswachstum und die Befriedigung realer »materieller und geistig-kultureller Bedürfnisse« setzte. Literatur und Kunst hatten in diesem Modell einen anderen Platz, ihre Fetischisierung und Pädagogisierung gingen zurück, kompensatorische Aspekte gewannen an Stellenwert, und ohne daß prinzipielle Positionen aufgegeben wurden, reduzierten sich Erwartungen, mittels Kunst und ihr vor- oder nachgeordneter Theorie die Gesellschaft zu gestalten. In dem Maß, in dem sich die Idee von der Herrschaftsrelevanz der Literaturwissenschaft abbaute, verringerten sich zentrale Vorgaben und vergrößerten sich Entscheidungsräume der Institutionen, Gruppen und Einzelwissenschaftler. Es blieben dennoch die Rahmenbedingungen: »Kompatibilität mit der herrschenden marxistischen Weltanschauung und Nichtinfragestellen der sozialistischen Gesellschaftsordnung«. 55 Formal vollzog sich die Forschung im Rahmen von Plänen, denen ein vom Zentralkomitee bestätigter »Zentraler Forschungsplan der marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften der DDR« für jeweils fünf Jahre (zuletzt für 1986] 990)56 zugrundelag. Da dieser für die Literaturwissenschaften sehr allgemeine, weit auslegbare, überdies auf Zuarbeiten der Institutionen zurückgehende Angaben enthielt, war er in der Wirkung kaum restriktiv und erlaubte viele Zuordnungen. Neben Themen, die sich aus diesem Zentralen Plan (ZP-Themen) direkt herleiteten, gab es ZM-Themen (aus Zentralen Forschungsplänen der Ministerien abgeleitet), HS-Themen, die auf Forschungspläne zurückgingen, die von der Hochschule in eigener Regie gestaltet wurden, und die ihnen untergeordneten Sektionsthemen; nirgends zugeordnet waren »sonstige Themen«. Im Regelfall entwarf der einzelne Wissenschaftler sein Forschungsthema selbst; zumindest auf der Sektions- und Hochschulebene wurden die Pläne aus diesen Entwürfen gewissermaßen destilliert.
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Wissenschaft in der ehemaligen DDR. Hrsg. von Jörg Drews und Christian Lehmann, Bielefeld 1991, S. 11-35, S. 12. Vgl. Lutz Danneberg, Wilhelm Schernus und Jörg Schönert, Die Rezeption der Rezeptionsästhetik in der DDR. Wissenschaftswandel unter den Bedingungen des sozialistischen Systems, in: Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 38/39 (1995), S. 643-702, S. 665. Die Anfange liegen früher, als dort (Anm. 49) genannt, sie sind bereits für 1958 nachweisbar; vgl. G. Schandera u.a., Weimarer Beiträge (Anm. 34), S. 284f. und S. 289. B. Bouvier, Ausgeschaltet! (Anm. 25), S. 563. R. Rosenberg, Zur Geschichte der Literaturwissenschaft in der DDR (Anm. 52), S. 13. Vgl. Zentraler Forschungsplan der marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften der DDR 1986-1990 (Auszüge), in: Die Einheit 41 (1986), S. 681-692.
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Mancher drängte nach ZP- und ZM-Themen, weil damit mehr Publikations- und Karrieremöglichkeiten verbunden schienen; möglich war auch, daß ZP- und ZMThemen zugewiesen wurden. Aufschlußreich sind quantitative Analysen der Verteilung von gesellschaftswissenschaftlichen, eingeschlossen literaturwissenschaftlichen, Promotionsthemen. Danach waren - freilich innerhalb eines räumlich und zeitlich begrenzten Untersuchungsfelds (Humboldt-Universität 1985-87) - etwa ein Drittel »sonstige Themen«, die außerhalb der Pläne auf die freie Vereinbarung zwischen Doktorand und Betreuer zurückgingen, bei den restlichen waren die meisten Sektionsthemen (24%), gefolgt von HS-Themen (17%), ZP-Themen (11,5%) und ZM-Themen (8,7%). Bei den B-Dissertationen war diese Tendenz noch ausgeprägter; hier hatten 50% der Arbeiten »sonstige Themen«. 57 Im übrigen ist auch bezeichnend, daß ein Vorhaben des Staatssekretariats aus dem Jahr 1961, die in der DDR im Entstehen begriffenen Dissertationen und Habilitationsschriften zentral zu erfassen und anzuzeigen, 58 nicht wirksam wurde; wer ein Thema vergeben und Doppelung vermeiden wollte, mußte mühsame Nachfragen anstellen und bekam in den seltensten Fällen ausreichende Antwort. Das Bild differenzierter Vorgänge, das sich auf der institutionellen Ebene bereits hier bietet, kann nur exemplarischen Charakter haben, es ist künftig mindestens um die Beschreibung der Unterschiede und Zusammenhänge zwischen den beteiligten Institutionen und um die Betrachtung der Lehre zu erweitern oder durch sie zu korrigieren. Neben den Universitäten, den Pädagogischen Hochschulen und der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften, dem Institut für marxistisch-leninistische Kultur- und Kunstwissenschaften an der Akademie fur Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, dem Institut für klassische deutsche Literatur an den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten Weimar (gegründet 1969) und der Forschungsgruppe sozialistische deutsche Literatur an der Akademie der Künste war das Zentralinstitut fur Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften (ZIL, gegründet 1969) an der Disziplinentwicklung beteiligt. 59 Hier werden Einzelstudien eine Gesamtuntersuchung vorbereiten müssen. Zu bedenken ist, wie mit der These, letzteres sei »verwickelt in den immanenten Widerspruch zwischen Handlungen, die die Monopolstruktur legitimierten, und jenen, die sie durch
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W. Bleek und J. Mertens, DDR-Dissertationen (Anm. 18), S. 45, S. 55f. und S. 77. Mitteilung des Staatsekretariats für das Hoch- und Fachschulwesen, Abteilung Gesellschaftswissenschaften, in: Weimarer Beiträge 7 (1961), S. 667. Vgl. die Übersicht bei Dieter Kliche und Wolfgang Thierse, DDR-Literaturwissenschaft in den siebziger Jahren: Skizze zur Entwicklung von Positionen und Methoden, Akademie der Wissenschaften der DDR, Zentralinstitut für Literaturgeschichte, Typoskript »Nur für den Dienstgebrauch«, 1984, S. 1-89, S. 8-11. In Teilen veröffentlicht: dies., DDR-Literaturwissenschaft in den siebziger Jahren. Bemerkungen zur Entwicklung ihrer Positionen und Methoden, in: Weimarer Beiträge 31 (1985), 267-308. Auch wenn die »interne« Kritik am Konzept von »Literaturwissenschaft als Leitungswissenschaft« der sechziger Jahre (S. 3) nicht abgedruckt wird, betonen beide Beiträge übereinstimmend die historische Distanz und benennen die Veränderungen: die Orientierungen auf den Werkbegriff, auf die künstlerische Subjektivität, auf einen »kommunikativen« Literaturbegriff (S. 67-71, S. 293-297).
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Modernisierung erodierten«, umzugehen ist, nicht zuletzt angesichts der Umstände, daß das ZIL das Erbe von Instituten antrat, die von Theodor Frings (Germanistik), Werner Krauss (Romanistik), Hans Holm Bielfeld (Slawistik) geleitet waren, und daß bald nach seiner Gründung der »Ausbruch aus der Provinzialität der fünfziger Jahre und eine Öffnung zu neuen, ζ. T. internationalen und interphilologischen Forschungsfeldern« beobachtet werden kann. 60 Leistungen zur Erforschung der europäischen Aufklärung, zum deutschen Vormärz, zur Exilliteratur, zur europäischen Moderne und Avantgarde in West- und Osteuropa, zur Literatur und Kunst der Weimarer Republik, zur deutschen Literatur um 1800, die Rezeption des französischen Strukturalismus fanden bald internationale Beachtung; die Begründung der rezeptionsästhetischen Wende aus dem Geist der Marxschen Hegel-Kritik um 1973 leitete schließlich den Abschied von der Widerspiegelungsästhetik und damit von der Theorie des sozialistischen Realismus ein.61 Wie sinnvoll Dieter Sellenstedts - zwar auf das PEN-Zenrum DDR bezogenes, aber auf die Akademie übertragbares - Diktum ist, er wolle die früheren Zentren »nicht als Zentren der Diktatur, sondern als Zentren in einer Diktatur« sehen, 62 das wird man wissen, wenn die Vorgänge lückenlos aufgeklärt sind, wozu dieser Beitrag ausdrücklich auffordert. Zu untersuchen sein wird auch, wie sich die Universitäten und Hochschulen in vielen Bereichen ein Patronagesystem ganz eigener Art aufbauten, eine Art sozialistischer Ständegesellschaft, bei der sie den Nachwuchs immer wieder aus den eigenen Reihen rekrutierten. Da freiwerdende Hochschullehrerstellen in der Regel durch Hausberufungen besetzt wurden, also durch Mitarbeiter, die man nach hausgemachten »Kaderentwicklungsplänen« darauf vorbereitete, verlagerten sich die Entscheidungen zumindest in den siebziger und achtziger Jahren aus der Zentrale zunehmend wieder in die Institutionen. Hier blieb man »unter sich«, was etwa auch an den in der DDR üblichen hochschuleigenen Wissenschaftszeitschriften zu beobachten ist. Diese Zeitschriften - häufig in kleinster Auflage gedruckt und nur innerhalb der eigenen Hochschule vertrieben - veröffentlichten Beiträge, die zwar als Publikationen galten, zuerst aber hauseigene Selbstdarstellung, auch Ersatz für fehlende Publikationsmöglichkeiten in den (zu wenigen) Fachzeitschriften des Landes waren; sie wurden zwar zwischen den Bibliotheken ausgetauscht, waren jedoch kaum Organe einer breiteren wissenschaftlichen Öffentlichkeit. Daß solche Formen geringer Mobilität und eingegrenzter Kommunikation »auch gesellschaftlich-institutionell bedingt in den individuellen Abschottungsmechanismen« waren, »mit denen man auf die Überwachungspraktiken des SED-Regimes reagierte«,
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Dorothea Dornhoff, Von der »Gelehrtenrepublik« zur marxistischen Forschungsgemeinschaft an der Deutschen Akademie der Wissenschaften. Das Institut für deutsche Sprache und Literatur, in: Deutsche Literaturwissenschaft 1945-1965 (Anm. 34), S. 173-201, S. 201 und S. 198. Ebd., S. 198. Vgl. auch J. Hermand, Geschichte der Germanistik (Anm. 4), S. 191f. Dieter Schlenstedt, Einheit der Kultur?, in: Neue deutsche Literatur 44 (1996) 3, S. 189200, S. 199.
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kann unterstellt werden. 63 Schließlich ist zu beschreiben, wie Einflüsse sich auf den verschiedenen institutionellen Ebenen unterscheiden, etwa denen der Akademie, der Universitäten und der Pädagogischen Hochschulen. Letztere waren neben dem Hochschulministerium dem Volksbildungsministerium Margot Honeckers unterstellt und verfugten über gut ausgestattete germanistische Sektionen mit eigenständiger Forschung. Die Instrumentalisierungsversuche, die es hier gab, bestätigen das Bild äußerster Differenziertheit der institutionellen Vorgänge. 64 Betrachtet man die Prozesse innerhalb der disziplinaren Gemeinschaft, also der beteiligten Individuen, so findet man Indikatoren ihrer Durchherrschung, die weit über Vergleichbares im Nationalsozialismus hinausgehen, wenn auch persönliche Reglementierungen in beiden Systemen eher die Ausnahme sind und sich in der DDR vor allem in den fünfziger und sechziger Jahren nachweisen lassen. 65 Was als Gleichschaltung erscheint, vollzog sich vielfach auch hier als Anpassung über die Ebene der Werte. Die Generation, die ihre Jugend in Krieg und Faschismus verbracht hatte, vermochte durchaus, dem Projekt DDR Eigen-Sinn abzugewinnen, was nicht ein simples Gegeneinander von SED-Herrschaft und Akteuren meint, sondern ein vielfaltiges Verwickelt-Sein, das »Verhältnis eines bestimmten Typus von Interaktionen (>Herrschaft als soziale PraxisMachtergreifung< 1933 veranlaßte Selbstbeschreibungen, die einzigartig in der germanistischen Fachgeschichte sind. Sie stellen jedoch kein singuläres Phänomen in dieser Zeit dar: Andere Disziplinen haben ähnliche Texte hervorgebracht. Das Besondere besteht nicht darin, daß sich Gelehrte zu politischen Ereignissen äußerten. Das gehörte eher zur Normalität, wenngleich in Rechnung zu stellen ist, daß sich die Formen politischer Partizipation etwa der Professoren im Laufe der Zeit gewandelt haben. Je bedeutender die Ereignisse, desto größer war die Resonanz. Zu denken wäre nur an die Reichsgründung 1870/71 oder an das auffallige Engagement, mit dem sehr viele Wissenschaftler den Ersten Weltkrieg publizistisch derart heftig ausfochten, daß sie tiefe Verletzungen bei ihren Gegnern hinterließen. Im Unterschied zu Stellungnahmen einzelner Persönlichkeiten oder Gruppen und zur wissenschaftlichen Legitimation politischer Positionen sprechen in den Schriften von 1933/34 Wissenschaftler im Namen ihrer eigenen Disziplin, um sie als Ganze in den Dienst der herrschenden Politik zu stellen. 1933 wurden disziplinare Programme vorgelegt. Deshalb tauchen diese Texte in einer Bibliographie der germanistischen oder literaturwissenschaftlichen Selbstthematisierungen auf, während die Ereignisse der Jahre 1870/71 oder 1914/18 hier kaum Spuren hinterließen. »Disziplinare Programme sind ihrer Ausrichtung nach zutiefst politisch«, da sie sich - so Timothy Lenoir - anders als Forschungsprogramme weniger an kognitiven Problemstellungen ausrichten, als vielmehr auf der Schnittstelle anzusiedeln sind, wo der »Austausch zwischen dem wissenschaftlichen Unternehmen und der politischen Ökonomie seines Umfeldes« geregelt wird.1 In diesen Beziehungen wurden 1933 gravierende Veränderungen erwartet und befurchtet. Deshalb wollte man nach außen den Machthabern signalisieren, daß man zumindest zu »loyalem Mittun« (Karl Vietor) und damit zur >Selbstgleichschaltung< bereit war, und nach innen die Fachkollegen auf eine gemeinsame Linie einschwören. Die Texte zielten auf eine Demonstration der Einheit - der Einheit von Fach, Volk und Führer in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie betonten die Kontinuität einer Wertegemeinschaft. So sehr die Texte indessen auf Einheit setzen, sie prozessieren zugleich die Differenzen, auf denen eben diese Einheit basiert. Sie laden geradezu zur Dekon-
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Timothy Lenoir, Die Disziplin der Natur und die Natur der Disziplinen, in: Ders., Politik im Tempel der Wissenschaft. Forschung und Machtausübung im deutschen Kaiserreich, Frankfurt/Main und New York 1992, S. 209-225, S. 212 und S. 210.
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struktion ein. Eine genaue Lektüre vermag bereits hier viele der Konfliktlinien der Folgezeit zu erkennen. Auf der einen Seite springen jene rigiden Ausgrenzungen ins Auge, jene >Feindfeindlicher< Positionen - den weiter bestehenden Pluralismus der Forschungsprogramme. Das betraf aber ebenso die Stellung zu den politischen Rahmenbedingungen. Wer z.B. auf die Kontinuität der Germanistik als >Deutschwissenschaft< pochte, der konnte sich auf eine nationalistisch-völkische Tradition berufen, die jetzt unter nationalsozialistischem Vorzeichen unangefochten zum Zuge kommen sollte, der konnte aber ebenso damit Änderungsbedarf zurückweisen, um wissenschaftliche Errungenschaften und/oder Restbestände von Liberalität vor dem nationalsozialistischen Zugriff zu schützen, weil man immer schon oder schon lange über das richtige Programm verfügte. Wie dem auch sei, das Beschwören der - wie man hoffte - nun endlich errungenen Identität im Fach und mit der Nation bezog einen erheblichen Teil seiner Intensität aus dem vermeintlichen Fehlen einer solchen Einheit. Es ist also zum einen selbst Effekt vorangegangener Selbstbeschreibungen, welche die Lage der Germanistik, vor allem aber der Neueren deutschen Literaturwissenschaft als defizitär charakterisierten. Zum anderen partizipieren diese Thematisierungen an strukturellen Änderungen in Disziplin, Wissenschaft und Gesellschaft, sowohl indem sie auf sie reagieren wie indem sie sie vorantreiben. Wissenschaftliche Differenzierungsund Spezialisierungsprozesse, die Pluralisierung der >Methoden< und Weltanschauungen, aber ebenso das sozio-politische Umfeld der ungeliebten Weimarer Republik wurden von den meisten Germanisten als Krisenphänomene gedeutet, die es in einer neuen Synthese aufzuheben galt. 1933 gab es keine Selbstzweifel. Genau das zu signalisieren, scheint mir die zentrale Aufgabe jener Texte gewesen zu sein, mit denen das Fach sich selbst beschrieb und >gleichschalteteSelbstNachkriegsnormalität< einstellte. Aufgenommen wurden all jene Texte, die sich explizit - im Titel erkennbar - mit der Situation der Germanistik, Deutschen Philologie oder Literaturwissenschaft vorrangig im deutschsprachigen Raum auseinandersetzen. Die thematische Orientierung integriert Außenseiter und selbst Außenstehende um den Preis eines Oszillierens zwischen intern und extern zu piazierenden Positionen. Neben eindeutigen Selbstbeschreibungen stehen durchaus Texte, die wohl zutreffender als Fremdbeschreibungen zu identifizieren wären. Diese Großzügigkeit trägt jenem Konkurrenzkampf Rechnung, der unentwegt um die Definitionsmacht ausgetragen wird, wie dieses >Selbst< der Germanistik, Deutschen Philologie, Neueren deutschen Literaturwissenschaft jeweils zu bestimmen ist. Eine Geschichte germanistischer oder literaturwissenschaftlicher Selbstbeschreibung oder - anspruchsvoller - Selbstreflexion wird hier stärker evaluieren müssen, und sie wird nicht umhin können, über die in dieser Bibliographie genannten Titel hinaus weitere heranzuziehen; doch wäre zu wünschen, daß sie nicht hinter den hier dokumentierten Stand zurückfallt. 2
Holger Dainat und Cornelia Fiedeldey-Martyn, Literaturwissenschaftliche Selbstreflexion. Eine Bibliographie, 1792-1914, in: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Hrsg. von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp, Stuttgart und Weimar 1994, S. 538-549.
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1948 Georg Baesecke, Begrenzung und Einteilung der Deutschen Philologie, in: Blick in die Wissenschaft 1 (1948), S. 434-^38. Anni Carlsson, Neue Aufgaben der Literaturwissenschaft, in: Universitas 3 (1948), S. 4 2 1 426. Wolfgang Kayser, Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft, Bern 1948. Josef Nadler, Welche Aufgaben vermag die Literaturwissenschaft zu lösen? (1) Soziologisches Denken in der Literaturwissenschaft. Die Persönlichkeit kann nicht unmittelbar beurteilt werden; (2) Was ist Literatur? Das Verhältnis der Literaturwissenschaft zu Stoff und Geist, in: Berichte und Information 3 (1948), S. 1857-1858, S. 1875-1876. Detlev W. Schumann, Α Report on the Present Conditions of Germanic Studies in Germany and Austria, in: Monatshefte fiir den deutschen Unterricht 40 (1948), S. 49-60; Karl Vietor, Nachtrag, in: ebd., S. 233. Gerhard Storz, Grundfragen der Interpretation von Dichtungen [Vortrag 1948], in: ders., Figuren und Prospekte. Ausblicke auf Dichter und Mimen, Sprache und Landschaft, Stuttgart 1963, S. 17-39. Gustav Würtenberg, Die Situation der Literaturwissenschaft, in: Die Literatur der Gegenwart 1 (1948/49), H. 4, S. 8-12.
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Holger Dainat (Magdeburg), Lutz Danneberg (Berlin), Wilhelm Schernus (Hamburg)
Geschichte der Kultur- und Sozialwissenschaften in der NS-Zeit Auswahlbibliographie
Die Bibliographie versucht, die bis einschließlich 2002 erschienene Forschungsliteratur zur Wissenschaftsgeschichte in der NS-Zeit zu erfassen. Der zeitliche Rahmen schließt mit der Weimarer Republik und der Nachkriegszeit die unmittelbar vorausgehende und nachfolgende Phase mit ein. In sachlicher Hinsicht fand auch das nähere Umfeld Berücksichtigung, also das Erziehungswesen, die Kultur und Literatur. Im Zentrum stehen Germanistik und Literaturwissenschaft. Hier wurde möglichste Vollständigkeit angestrebt, während fur die anderen Bereiche geringere Ansprüche erhoben werden.
Gliederung Bibliographien 388 Forschungsberichte 388 Wissenschafts- und Bildungssystem 389 Internationale Beziehungen. Emigration 402 Zeitschriften 407 Literatur- und Kulturpolitik 408 Germanistik 412 Sprachwissenschaft 427 Volkskunde 428 Romanistik 429 Slawistik 432 Anglistik/Amerikanistik 432 Altertumswissenschaften 433 Kunstgeschichte 434 Philosophie 434 Psychologie 436 Pädagogik 438 Geschichtswissenschaft 438 Sozialwissenschaften 443
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