Literaturwissenschaft und Geschichtsphilosophie: Festschrift für Wilhelm Emrich [Reprint 2018 ed.] 9783111652344, 9783111268521


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German Pages 611 [620] Year 1975

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
I. Theorie
Vom Zerfall Des Allgemeinen (Der Nominalismus)
Ästhetik Als Geschichtstheorie
Ästhetische Reflexion
Skizze Einer Literaturwissenschaft Als Problemgeschichte
Über Das Vergehen
Kants Theorie Des Geschmacks
Geschichtsphilosophie Und Praxis
Information Oder Literatur
Aspekte Der Form-Inhalt-Dialektik In Der Lyrik
»Wer Heut Sonette Schreibt.. «
Der Zufall Als Problem Der Dramaturgie
Vorbegriff Einer Geschichtsphilosophischen Ästhetik
II. Modelle
Die Geschichte Vom Sagakundigen Isländer (Islendings J>Attr Sogufröda)
Der Teufel Und Die Armen Seelen Im Deutschen Osterspiel
Zur Sophonisbe Daniel Caspers Von Lohenstein
Aufgaben Der Vermittlung Von Literatur Und Sozialgeschichte Am Beispiel Lessings
Lavaters Utopie
Idyllik Und Sozialkritik Bei Johann Heinrich Voß
Zum Sozialen Gehalt Der »Lehrjahre«
Die Vaterländische Lyrik Und Goethes Westöstlicher Divan
E. T. A. Hoffmanns Doppelte Wirklichkeit
Eichendorffs Roman »Dichter Und Ihre Gesellen«
Agitationsvorgang Und Wirkprozedur In Büchners »Hessischem Landboten«
Natur Und Gesellschaft In Stifters »Condor«
Zur Geschichtlichkeit Von Thomas Manns Jugendroman: Bürgerliches Klassenbewußtsein Und Kapitalistische Praxis In »Buddenbrooks«
Artistische Verklärung Der Wirklichkeit
»Monarchia Solipsorum«
Carl Sternheims »Werkstatt«
Hans Fallada Und Die Weimarer Republik
Zum Amerikanischen Drama Und Film Der 30Er Jahre
Von Der Exemplarursache Zur Dialektik
Bertolt Brechts Faschismus-Theorie Und Einige Folgen Für Die Literarische Praxis
Zwei Beispiele Der DDR-Literatur Nach Bitterfeld
Bibliographie Wilhelm Emrich
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Literaturwissenschaft und Geschichtsphilosophie: Festschrift für Wilhelm Emrich [Reprint 2018 ed.]
 9783111652344, 9783111268521

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Literaturwissenschaft und Gesdiiditsphilosophie

Literaturwissenschaft und Geschichtsphilosophie Festschrift für Wilhelm Emrich

Herausgegeben von HELMUT ARNTZEN, BERND BALZER K A R L PESTALOZZI u n d R A I N E R W A G N E R

w DE

G

Walter de Gruyter Berlin • NewYork 1975

CIP-Kurztitelaufnahme

der Deutschen Bibliothek

Literaturwissenschaft und Geschichtsphilosophie: Festschrift f. Wilhelm Emridi / hrsg. von Helmut Arntzen [u. a.]. ISBN 3-11-00J726-3 NE: Emridi, Wilhelm; Arntzen, Helmut [Hrsg.].

© Copyright 1975 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung - J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung - Georg Reimer Karl J. Trübner - Veit & Comp., Berlin 30. Alle Rechte des Nachdrucks, der photomechanisdien Wiedergabe, der Herstellung von Photokopien - auch auszugsweise, vorbehalten. Satz und Druck: Markert Sc Co Druck, Berlin, Bindearbeiten: Wübben & Co, Berlin Printed in Germany

Inhalt Vorwort

VII

THEORIE GERD STEIN, V o m Zerfall des Allgemeinen (Der Nominalismus)

3

JÖRN RÜSEN, Ä s t h e t i k a l s G e s c h i c h t s t h e o r i e

17

HORST TÜRK, Ästhetische R e f l e x i o n

40

ULF SCHRAMM, Skizze einer Literaturwissenschaft als Problemgesdiidite . .

59

ANDREW JASZI, Ü b e r d a s V e r g e h e n

83

KLAUS LAERMANN, Kants Theorie des Geschmacks

96

WERNER KOEPSEL, G e s c h i c h t s p h i l o s o p h i e u n d P r a x i s

109

HELMUT ARNTZEN, Information oder Literatur

120

HARTWIG SCHULTZ, Aspekte der Form-Inhalt-Dialektik in der Lyrik . . . .

134

ALEXANDER VON BORMANN, »Wer heut Sonette schreibt...«

146

ULRICH PROFITLICH, Der Zufall als Problem der Dramaturgie

160

RAINER WAGNER, Vorbegriff einer geschichtsphilosophischen Ästhetik . . . .

178

MODELLE HEINRICH MATTHIAS HEINRICHS, D i e G e s c h i c h t e v o m s a g a k u n d i g e n

Isländer

22 j

URSULA HENNIG, Der Teufel und die armen Seelen im deutschen Osterspiel 232 GERHARD SPELLERBERG, Zur Sophonisbe Daniel Caspers von Lohenstein . .

239

BERND PESCHKEN, Aufgaben der Vermittlung von Literatur und Sozialgeschichte am Beispiel Lessings 264 K A R L PESTALOZZI, L a v a t e r s U t o p i e

283

GERHARD KAISER, Idyllik und Sozialkritik bei Johann Heinridi V o ß . . . .

302

ROLF-PETER JANZ, Zum sozialen Gehalt der »Lehrjahre«

320

EBERHARD LÄMMERT, Die vaterländische Lyrik und Goethes Westöstlidier Divan 341

Inhalt

VI

NORBERT MILLER, E . T . A . H o f f m a n n s doppelte Wirklidikeit

357

ERNST L. OFFERMANNS, Eidiendorffs Roman »Dichter und ihre Gesellen«

373

VOLKER KLOTZ, Agitationsvorgang und Wirkprozedur in Büchners

»Hessischem Landboten«

388

KURT MAUTZ, Natur und Gesellsdiaft in Stifters »Condor«

406

PIERRE-PAUL SAGAVE, Zur Geschichtlichkeit von Thomas Manns Jugendroman: Bürgerliches Klassenbewußtsein und kapitalistische Praxis in »Buddenbrooks« 436 FRITHJOF TRAPP, Artistische Verklärung der Wirklichkeit. Thomas Manns Roman »Königliche Hoheit« 4J3 BERND BALZER, »Monarchia Solipsorum«. Keine Wandlung Hofmannsthals 470 MANFRED LINKE, C a r l Sternheims »Werkstatt«

490

CLAUS-DIETER KROHN, Hans Fallada und die Weimarer Republik

J07

ARNOLD HEIDSIECK, Zum amerikanischen Drama und Film der 30er Jahre 523 ULRICH STADLER, V o n

der Exemplarursache zur Dialektik. U b e r

den

Gleichnischarakter von Heinrich Manns »Henri Quatre«-Romanen . .

539

FRANZ NORBERT MENNEMEIER, B e r t o l t Brechts Faschismus-Theorie u n d

einige Folgen für die literarische Praxis

561

EBERHARD MANNACK, Zwei Beispiele der DDR-Literatur nach Bitterfeld

575

Bibliographie Wilhelm Emrich

$91

Uw Jtt&hv

Verehrter, lieber Herr Emrich! Wer Ihre Bücher, Aufsätze und Vorträge auch nur einigermaßen überblickt, staunt ebenso über die Vielfalt der Themen wie die gedankliche und stilistische Geschlossenheit Ihres Oeuvres, und er fragt sich, was denn diese Dauer im Wechsel garantiert. Das organisierende Zentrum Ihrer Arbeiten ist in Ihrer Auffassung von Dichtung zu sehen, für die Sie mit besonderer Vorliebe die Zeilen aus Goethes Zueignung zitieren: Aus Morgenduft gewebt und Sonnenklarheit Der Dichtung Schleier aus der Hand der Wahrheit. Diese Verse deuten auf eine doppelte Dialektik. Es ist einmal diejenige, auf die auch Sdiillers Formel von der Freiheit in der Erscheinung hinweist: Direinen Ich denkean sich< in die Dinge hineindichten, hineinmischen« zu wollen 41 . Der starke Wille aber widersteht dem, nur der schwache erliegt und treibt es »noch einmal, wie wir

»8 Anm. 16, S. 1 3 3 37 K . H . Haag: Philosophischer Idealismus, Frankfurt 1967, S. 29 »s Ebd., S. 31 39 Fr. Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, Stuttgart 1 9 5 3 , S. 29 40 Fr. Nietzsdie: Götzendämmerung, Stuttgart 1922, S. 79 41 Anm. 39, S. 29

12

Gerd Stein

es immer getrieben haben, nämlich mythologisch« 42 . »Was also ist Wahrheit? Ein bewegliches Heer v o n Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe v o n menschlichen Relationen, d i e . . . nach langem Gebrauch einem V o l k e fest, kanonisch und verbindlich dünken: Die Wahrheiten sind Illusionen, v o n denen man vergessen hat, daß sie welche sind 43 .« D i e Ausmerzung des Dings-an-sich als Voraussetzung ungehinderter subjektiver Produktivität findet sich im Neukantianismus auf verschiedensten Gebieten, mit starken politischen Konsequenzen in dessen Rechtstheorie, in der es v o r allem um die Ausmerzung des Rechts-an-sich und des Staats-an-sich geht. Reditsbeziehungen verwandeln sich hierbei in Willensbeziehungen, und die Staatsrechtstheorie geht in eine Herrschaftstheorie über 44 . In der Sprach- und Erkenntnistheorie w i r d der Voluntarismus in der Weise bemerkbar, d a ß e t w a in der Urteilslehre die Beziehungen v o n Subjekt und O b j e k t anhand der v o l u n taristischen Kategorie der Zustimmung definiert werden 4 5 . Auch in K u n s t und Literatur k o m m t die neukantianische Transformation der kantischen Philosophie zur Geltung. E. Marcus fordert 1 9 1 7 die »angewandte Transzendentalphilosophie«4® und übersetzt die kantische Spontaneität in eine Metaphorik des Schöpferischen. Insbesonders verlangt er, die Transzendentalphilosophie »künstlerisch auszugestalten«. Dieser Forderung zuvorkommend erfuhr der N e u k a n tianismus bereits ab 1910 eine konsequente A n w e n d u n g in der Malerei, und z w a r im Kubismus. Daniel-Henry Kahnweiler kommt 1914 aufgrund der kubistischen Kant-Umsetzung z u dem Thema der »begrifflichen Malerei, die nicht mehr einen bestimmten wahrgenommenen Gegenstand darstellt, sondern den Begriff des Gegenstands« 4 7 . In der neukantianischen Theorie fällt das konkrete, reale D i n g mit dem Begriff v o n ihm zusammen. Begriff und Gegenstand werden v o m Subjekt hervorgebracht, indem es die Linien, Flächen und K u b e n , die so in der N a t u r nicht vorkommen, »erzeugt« 48 . I m Dadaismus w i r d H u g o Ball die Sprachproblematik dadurch lösen, d a ß er auf typisch neukantianische Weise das Ding-an-sich mit der Sprache ineinssetzt. Dieses Zusammentreffei» ereignet sich in der dadaistischen Produktion völlig neuer Sprache, die in ihrer Willkür die Objektbezogenheit der traditionellen Sprachformen hinter sich läßt. (Der gleiche Konstruktivismus findet sich entsprechend in der modernen Musik.) 4 9 Das voluntaristische Theorem der subjektiven Produktivität f ü h r t zur inflationären Produktion.

Anm. 3 9 , S. 2 9 Fr. Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn, Erkenntnistheoretische Schriften, Suhrkamp Verlag 1 9 5 8 , S. 1 0 2 44 Vgl. E.Kaufmann: Kritik der neukantianischen Rechtsphilosophie, Tübingen 1921, S. 49 f. « Ebd., S. 7 7 44 E.Marcus: Kants Weltgebäude, München 1 9 1 7 , S. 6 4 7 A. Gehlen: Die Philosophie des Kubismus, in: Merkur, 1 9 6 9 , 2 3 . Jg., Heft 3 , S. 2 9 J 48 D. H. Kahnweiler: Der Weg zum Kubismus, Stuttgart 1 9 5 8 , S. 66 ff. 4 9 Vgl. Th. W. Adorno: Philosophie der neuen Musik, Tübingen 1 9 4 9 , S. 53 ff. 42

48

Vom Zerfall des Allgemeinen

13

7. Inflation Eine bemerkenswerte Tatsache liegt in dem gleichzeitigen Auftreten inflationärer Tendenzen auf verschiedenen Gebieten in dem Jahrzehnt, das dem Beginn des I.Weltkriegs folgt. Es entsteht eine sprachliche Inflation, die sich im Expressionismus, speziell im Dadaismus, durchsetzt. Es entsteht ansatzweise eine rechtliche Inflation, die eine A u s w i r k u n g der Freirechtsbewegung ist. U n d es entsteht die wirtschaftliche Inflation, die sich ideologisch bereits in der Freigeldbewegung ankündigte 5 0 . Diesen Inflationen ist gemeinsam, daß sie sich in ihrer theoretischen Grundlegung aus dem Nominalismus herleiten und ihren geistesgeschichtlichen Bezug im Neukantianismus und in der Lebensphilosophie haben. D i e Thematik des Schöpferischen spitzt sich in ihnen so weit zu, d a ß sie sich ad absurdum führt. D i e Kategorie des Allgemeinen w i r d außer K r a f t gesetzt: die Verständlichkeit der Sprache w i r d zugunsten der dichterischen P r o duktivität geopfert; die Verbindlichkeit des Rechts w i r d zugunsten der richterlichen Rechtsquellen bestritten; und die Gültigkeit des Geldwerts w i r d zugunsten der Hochtourigkeit der souveränen Notenbankpresse eingeschränkt. D i e N e n n k r a f t der Sprache, die Rechtskraft der Gesetze und die K a u f k r a f t des Geldes mindern sich im inflationären P r o z e ß und dennoch w i r d versucht, durch vermehrte Schöpfung v o n Sprache, Recht und G e l d deren Geltung erneut z u verbürgen. D i e »philosophischen K ö p f e « des 1916 entstandenen Dadaismus waren H u g o Ball und Salomo Friedländer. Beide verfaßten unabhängig voneinander Untersuchungen über K a n t und Nietzsche 5 1 , und beide ergänzten ihre Philosophie, die eine nominalistische Sprach- und Erkenntnistheorie zur Grundlage hatte, durch dadaistisch-phantastische Literatur, in der das Subjekt willkürlich und uferlos sich selbst verschleißende Sprache produziert. Es ging ihnen zunächst um die Herstellung der Identität der einzelnen Dinge, deren Freiheitsanspruch sich dann aber auf die Sprache selbst übertrug, so daß die Sätze v o n der S y n t a x , die W o r t e v o n der Grammatik und schließlich sogar die Buchstaben v o m W o r t rahmen befreit wurden. D e r Dadaismus, der die »nominalistischen Spaltprodukte« 5 2 der modernen Kunst und Literatur am deutlichsten zur Schau trägt, kann in Analogie zur Freigeld- und zur Freirechtsbewegung als Freiwortbewegung bezeichnet werden. D e r wichtigste Vertreter der Freirechtsbewegung, Ernst Fuchs 53 , bezeichnet in

50

51

82 53

Vgl. D. Höring: Die Geldtheorien seit Knapp, S. 252, Greifswald 1922. Der Exponent der Freigeldbewegung war der Stirnerianer Sylvio Gesell (H.G.Helms: Die Ideologie der anonymen Gesellschaft, Köln 1966, S. 286 f.; S. 20 Anm. 37a) S. Friedlaender: Friedrich Nietzsche - Eine intellektuale Biographie, Leipzig 19x1; Wie durch ein Prisma - Gedanken und Blicke im Zeichen Kants, 1924; Kant für Kinder, Hannover 1924; H.Ball: Kritik der deutschen Intelligenz, Bern 1919 J. Habermas: Erkenntnis und Interesse, in: Merkur 1965, H. 12, S. 1141 E.Wolf, in: E.Fuchs: Gerechtigkeitswissenschaft, Karlsruhe 196$, S. 1

r

4

Gerd Stein

seiner Diskussion des Universalienproblems das Freirecht als »Rechts-Nominalismus« 54 . Die Freirechtsbewegung wendet sich gegen die Unrechtmäßigkeit, die dem Allgemeinheitscharakter des Rechts entspringt, denn jeder einzelne Fall sperrt sidi in seiner Besonderheit gegen eine allgemeine Behandlung. Sich auf Nietzsche, Schopenhauer und Bergson stützend 55 will das Freirecht die Entscheidung eines Falles aus dem zugrunde liegenden »Lebensvorhang« 54 selbst ableiten und von Fall zu Fall geändertes oder neues Recht sprechen. Der Rechtsschöpfungstheorie der Freirechtsbewegung gelingt der Durchbruch in die allgemeine Rechtspflege, als sich das Reichsgericht in der forcierten Inflationsphase die freirechtliche Ansicht zu eigen machte, daß Mark nicht gleich Mark ist, sondern den Umständen entsprechend geänderte Gleichungen aufzustellen sind 57 . Fortan muß der Richter »selbstschöpferisch«58 zu Entscheidungen gelangen. »Richterrecht« wurde eine dem »Gesetz gleichwertige Rechtsquelle« und unterlief damit das Prinzip der Gewaltenteilung 5 9 . So kam die Freirechtsbewegung den Interessen des Bürgertums entgegen, das sich »durch die strenge positivistische A n wendung der Gesetze gehindert sah« 60 . Die Geldtheorie, die sich selbst durchgehend als nominalistisch bezeichnet, formuliert sich zuerst 1905 in Georg Fr. Knapps »Staatliche Theorie des Geldes«. Die nominalistische Sichtweite setzt sich schnell durch, so daß sie an den deutschen Universitäten hinsichtlich der Lehrstühle für Nationalökonomie seit dem I.Weltkrieg unbestritten dominiert 61 . Sie ist folgendermaßen zu umreißen: Geld und Ware sind - analog zum nominalistischen Verhältnis von Wort und Ding — völlig verschiedene Objekte. Geld ist, nachdem das »Band von Geld und Gut zerrissen« wurde 62 , substanzloses Zeichen, Ware ein zum Konsum bestimmtes Gut. Ausschlaggebend für die Funktion des Geldes, Vermittler im Güterverkehr zu sein, ist allein seine Geltung. Die Werteinheit des Geldes wird durch einen freien A k t der Staatsgewalt definiert und ist kraft der Souveränität des Staates von Ware und Markt unabhängig. »Das Geld ist ein Geschöpf der Rechtsordnung®3.« Beglaubigung und Anerkennung sind die voluntaristischen Kriterien seiner Währung. Alles Wirtschaften entspringt denn auch nach K a r l Elster - mit Bendixen und K n a p p der dritte Klassiker der nominalistischen

E. Fuchs: Was will die Freirechtsschule, Rudolstadt 1929, S. J4 Anm. 53, S. 4 5 6 G . Ledig: Der Begriff als Instrument der Rechtspflege, in: Kant-Studien, Bd. 32, 1927, S. 322 5 7 Anm. 54, S. 18 58 Anm. 54, S. 18 5 9 B.Dietrich: Zur Funktion der judikativen Institutionen, in: Einführung in die politische Wissenschaft, hsg. W. Abendroth und K . Lenk, Bern 1968, S. 224 «0 Ebd. 8 1 Vgl. G . J a h n : Die historische Schule der Nationalökonomie und ihr Ausklang, in: Geschichte der Volkswirtschaftslehre, hsg. A . Montaner, Köln 1967, S. 44, S. 48 8 2 K . Elster: Die Seele des Geldes, Jena 1923, S. 255 8 3 G. F. K n a p p : Staatliche Theorie des Geldes, München 1918, 2. Aufl., S. 1 54 55

V o m Z e r f a l l des Allgemeinen

Geldtheorie — dem Willen. Im Duktus eines Nietzsche formuliert er: »Vom Werte will ich handeln, nicht von der Wirtschaft 64 .« Als ab 1918 das Geld in Deutschland seine staatlich beglaubigte Fähigkeit, in einem bestimmten Maß über Waren verfügen zu können, spürbar zu verlieren beginnt, kann aus der herrschenden nominalistischen Perspektive dem Schwund der Kaufkraft skrupellos mit der Neuprägung von Geld begegnet werden. Zudem begünstigte die nominalistische Geldtheorie großkapitalistische Interessen und hat in diesem Rahmen »mit das Unglück der Inflation von 1918—1923 herbeigeführt« 65 . Indem nämlich im Nominalismus der Geldwert eine Funktion der Souveränität wird, wird konsequenterweise die Bestimmung der Warenpreise eine Frage der Machtpreisbildung, die wiederum eine Voraussetzung f ü r Inflation ist66. Die derzeitige funktionalistische Wirtschaftstheorie hat ihre Geschichte nicht abgestreift. Werner Hofmann charakterisiert sie so, daß das nominalistische Syndrom, das vielfältige Erscheinungen miteinander verbindet, augenfällig wird: »So erscheinen in der neueren Ökonomie die Einzelheiten des Wirtschaftsablaufs aus ihrem zwingenden Zusammenhang gelöst; die in ihre Atome zertrümmerte Wirtschaftswelt kann in einem Akte des schöpferischen Fiat wieder zusammengestückt werden, vergleichbar dem Verfahren surrealistischer Künstler . . . Diesen Verlust der Wirklichkeit, die Auflösung der Theorie in den formalen Konstruktivismus, teilt die Nationalökonomie mit anderen Disziplinen der Gesellschaftslehre, ja mit der Entwicklung des zeitgenössischen Bewußtseins überhaupt, bis in Kunst und Literatur hinein. Die innere Übereinstimmung ihrer Tendenzen mit denen ganz anderer Sphären des geistigen Schaffens, die von ihren disparaten Gegenständen her kaum noch voneinander wissen, würde die Grundlage bieten für eine zusammenfassende soziologische Deutung des letztlich einheitlichen Entwicklungsgangs des neueren Denkens67.« Wenn die verschiedenen Sphären des »letztlich einheitlichen Entwicklungsgangs des neueren Denkens« ihren gemeinsamen Nenner in dem Zerfall der Kategorie des Allgemeinen haben, dann ist es zwingend, daß Wahrheit in der Moderne nicht mehr umstandslos existiert, bzw. umstandslos dargestellt werden kann, denn Wahrheit ist an die Kategorie des Allgemeinen gebunden. Wo in

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66

67

A n m . 62, S. 3 7 7 F . v . Schrötter: Wörterbuch der Münzkunde, Leipzig 1 9 3 0 , S. 1 0 0 ; vgl. L . Mises und F . Klein, Die geldtheoretische und die geldrechtliche Seite des Stabilisierungsproblems, München 1 9 2 3 , S. 3 6 W . H o f m a n n : Die säkulare Inflation, Berlin 1 9 6 2 , S. 18. A n a l o g zur Machtpreisbildung der Großkapitalisten w i r d in der neukantianischen Erkenntnistheorie die »Namensbildung« den bürgerlichen »Helden der Menschheit« zugesprochen. F . L i n d heimer und H . C o h e n : Beiträge zur Geschichte und Kritik der Neukantianischen Philosophie, in: Berner Studien zur Philosophie und ihrer Geschichte, Bern 1900, S.23 W . H o f m a n n : D a s Elend der Nationalökonomie, in: Universität, Ideologie, Gesellschaft; Beiträge zur Wissenschaftssoziologie, F r a n k f u r t 1 9 6 8 , S. 1 3 5 f.

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Gerd Stein

der literarischen Moderne der historische Prozeß vom Zerfall des Allgemeinen ignoriert wird, manifestiert sidi dementsprechend falsches Bewußtsein. Wo dieser historische Prozeß verarbeitet wird, kann sich Wahrheit nur in verschiedenen Formen ihrer Verletzung oder in ihrer eigenen Chiffrierung zeigen. Dafür gibt es viele Zeugen; der Kronzeuge ist für Wilhelm Emridi Kafka.

Ästhetik als Geschichtstheorie V o n JÖRN RÜSEN, B o c h u m

1.

Ästhetik ist eine Disziplin der Philosophie, in der die Kunst auf ihren Wahrheitsgehalt untersucht wird. Die Philosophie ermittelt an der Kunst Vernunftleistungen menschlicher Subjektivität und legt sie begrifflidi-systematisdi dar, d. h. in einer Weise, wie es die Kunst selbst nicht vermag. Zugleich begründet sie die Notwendigkeit solcher Ermittlung und Darlegung des Vernunftgehalts der Kunst jenseits künstlerischer Manifestation menschlicher Vernunft, indem sie solche Manifestation als nicht hinreichend betrachtet und weiterreichende Vernunftleistungen mittels begrifflichen Denkens beansprucht. Im Lichte ästhetischer Theorie stellt sich die Kunst eigentümlich ambivalent dar: Einerseits gilt sie als genuine Vernunftleistung, andererseits bedarf eben diese Leistung einer außerkünstlerischen philosophischen Auslegung, um als genuin künstlerische gelten zu können. Hegels Ästhetik 1 hat diese Ambivalenz auf die Spitze getrieben: Einerseits konzediert sie der Kunst die Fähigkeit, »die tiefsten Interessen des Menschen, die umfassendsten Wahrheiten des Geistes zum Bewußtsein zu bringen und auszusprechen« 2 ; andererseits geht sie davon aus, daß die Philosophie dieselben Interessen und Wahrheiten tiefer und umfassender darstellen muß als die Kunst, um deren Darstellungsmöglichkeiten auf den Begriff bringen zu können. Letzteres kulminiert in der bekannten These vom Ende der Kunst 3 . Nicht zuletzt diese These dient der Literaturwissenschaft zur Abgrenzung ihrer Erkenntnisleistungen von der philosophischen Ästhetik. Der Philosophie wird vorgeworfen, in solchen Theorien den Sinn künstlerischer Gebilde weniger diesen selbst zu entnehmen, als vielmehr aus rein philosophischen Annahmen über das allgemeine Vernunftvermögen des Menschen abzuleiten. Hegels These

1

4 3

Vgl. D. Henrich: Kunst und Kunstphilosophie der Gegenwart. Überlegungen mit Rücksicht auf Hegel. In: W. Iser (Hg.): Immanente Ästhetik, ästhetische Reflexion, Lyrik als Paradigma der Moderne (Poetik und Hermeneutik, Bd. 2). München 1966, S. 1 1 - 3 2 . - J . Rüsen: Die Vernunft der Kunst - Hegels geschiditsphilosophisdie Analyse der Selbsttranszendierung des Ästhetischen in der modernen Welt. Philosophisches Jahrbuch 80 (1973), S. 2 9 2 - 3 1 9 G. W . F. Hegel: Ästhetik, hg. v. F. Bassenge. Berlin 1955, S. 54 W. Oelmüller: Hegels Satz vom Ende der Kunst und das Problem der Philosophie der Kunst nach Hegel. Philosophisches Jahrbuch 73 (1965), S. 74-94

i8

Jörn Rüsen

vom Ende der Kunst gilt als besonders illustratives Beispiel für die Unwissenschaftlichkeit der philosophischen Ästhetik. Empirisdie Befunde künstlerischer Produktion scheinen hier ein Gedankensystem nur zu illustrieren, und es ist fraglich, ob und wie dieses System durch andere Befunde kritisiert, modifiziert oder gar falsifiziert werden könnte. Philosophische Ästhetik scheint solche Modifikationen eher erleiden zu müssen als im Sinne methodisch regulierten Erkenntnisfortschritts von sich aus in Gang bringen zu können. Davon grenzt sich die Literaturwissenschaft durch ihr methodisches Vorgehen ab: Sie versteht sich als nicht-spekulativ in dem Sinne, daß ihre Aussagen über die Kunst empirisch gegebene Sachverhalte meinen und auf planmäßige Erschließung neuer Sachverhalte hin angelegt sind. Sie sieht in der empirischen Überprüfbarkeit ihrer Aussagen und in der planmäßigen Ermittlung neuer Sachverhalte Prinzipien der Wissenschaftlichkeit, die der philosophischen Ästhetik abgehen. Damit scheint die philosophische Ästhetik aus dem Felde methodisch geregelter empirischer Erkenntnis verdrängt zu sein. Will sie diese Verdrängung nicht einfach dadurch elegisch sanktionieren, daß sie zu ihrer eigenen Historiographie wird, so verbleibt ihr als Aufgabe eine Analyse der Wissenschaften, die ihre ursprüngliche Stelle einnehmen; — sie wird zur Wissenschaftstheorie, der es nicht mehr primär um Kunst, sondern um die Prinzipien der Wissenschaften von der Kunst geht. Unbestreitbar realisiert die methodische Erforschung der Kunst im Rahmen verschiedener Wissenschaften Erkenntnismöglichkeiten, die von der philosophischen Ästhetik nicht wahrgenommen werden können. Fraglich aber ist, ob diese Erkenntnisleistungen den ursprünglichen Erkenntnisanspruch der Ästhetik in ihrem Verhältnis zur Kunst soweit tangieren, daß er in den einer Reflexion schon geleisteter wissenschaftlicher Erkenntnis zurückgenommen werden muß. Zumindest in dem Punkt, wo die Ästhetik die Erkennbarkeit von Kunst, d. h. die Transformation ihres Sinnes in begriffliches Denken, behandelt, konstituiert sie Wissenschaft und reflektiert sie nicht nur. Denn Wissenschaft setzt auch dort, wo sie sich von Philosophie unterscheidet, wenigstens die Transformationsfähigkeit, wenn nicht gar die Transformationsbedürftigkeit von Kunst in begriffliche Erkenntnis voraus. Freilich ist ihr Erkenntnisvollzug selbst schon diese Transformation, und es ist nicht unmittelbar einsichtig, warum sie einer philosophischen Begründung bedarf. Kritische Abgrenzung der Einzel Wissenschaften mit dem Gegenstandsbereich Kunst von der Ästhetik heißt ja nicht, daß deren Transformationsleistungen im Ganzen negiert werden. Diese Leistungen können als Vorstufe zu einer wissenschaftlichen Erkenntnisweise gelten; hinsichtlich des Erkennbarmachens von Kunst können sie als aufgehoben (im doppelten Sinne des Wortes) in wissenschaftliche Erkenntnisweisen angesehen werden. Stünde es fest, worin diese Erkenntnisweisen bestehen, d. h. ließen sich Methode und Bezugsrahmen wissenschaftlicher Interpretation von Kunst in die Form allgemein akzeptierter Regeln bringen, dann könnte in der Tat argumentiert werden, inwieweit Ästhetik in Wissenschaft eingegangen, inwieweit sie

Ästhetik als Gesdiiditstheorie

19

kritisch von ihr ausgeschlossen ist und welche wissenschaftstheoretischen Funktionen ihr zukommen: Insofern Aussagen der Ästhetik über Kunst den Regeln der Wissenschaft nicht widersprechen, können sie von der Wissenschaft akzeptiert und in den von ihr planmäßig betriebenen Prozeß fortschreitender Erkenntnis einbezogen werden. Entsprechen sie den Regeln nicht, d. h. impliziert ihr Geltungsanspruch eine Verletzung dieser Regeln, können sie höchstens selbst als >LiteraturWissenschaft< bedeutet hier Explikation der Kunst als eines objektiv gegebenen Sachverhalts nach allgemeinen Prinzipien. Sie erklärt den Kunstdiarakter gegebener Objekte, indem sie sie auf einen in ihnen manifesten »Gedanken« 7 zurückführt und diesen Gedanken systematisch-begrifflich entwickelt. Mit einem solchen Verfahren transzendiert sie einerseits die Ebene empirischen Daseins der Kunst und trifft Aussagen über einen ideellen Bereich reinen, d. h. nur gedanklich zu fassenden Geistes, um »in dem Geschaffenen den wesentlichen Sinn aufsuchen« zu können 8 . Andererseits bleibt sie doch auf Kunst als Inbegriff bestimmter Erfahrungsgegenstände, auf die »Besonderheit der erscheinenden Wirklichkeit« 9 bezogen. Kunst als Erfahrungsobjekt ist der eine (empirische) Bezugspunkt dieser ästhetischen Theorie; der andere ist die (metaphysische) Idee des Schönen als allgemeiner geistiger Bestimmungsgrund wirklicher, sinnlich präsenter Kunst. »Wir dürfen bei unserer Darstellung von der Strenge der Wahrheit nichts nachlassen, und uns nicht auf das Empirische beschränken; wir müssen vielmehr auf das innere Wesen ausgehen und dieses nicht stillschweigend voraussetzen 10 .« Hegel hat dieses Bezugsfeld der Ästhetik am weitesten ausgedehnt und zugleich am intensivsten konkretisiert. Seine Ästhetik rekonstruiert (ihrem Anspruch nach) historisch alle bisher geschichtlich aufgetretene Kunst und entwickelt zugleich systematisch die Idee des Schönen als allgemeines Prinzip aller besonderen Produktion und Rezeption von Kunst. Ästhetik ist also ihrem höchsten Anspruch nach sowohl historische Rekonstruktion der Kunst wie auch systematische Konstruktion eines allgemeinen Bezugsrahmens für die Interpretation geschichtlich gegebener Kunst. Wird nun die historische Rekonstruktion zur Angelegenheit besonderer, nach den Erscheinungsformen der Kunst (bildende Kunst, Musik, Literatur) sich differenzierender Wissenschaften, dann erhält die Ästhetik mit ihrem Anspruch auf systematische Entwicklung des Interpretationsrahmens eine zugleich innerwissenschaftliche und metatheoretische Funktion. Die geisteswissenschaftliche Kunst- und Literaturgeschichte hat Methoden entwickelt, mit denen Kunst und Literatur in ihrer geschichtlichen Tatsächlichkeit planmäßig und überprüfbar

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K. W. F. Solger: Vorlesungen über Ästhetik, hg. v. K. W. L. Heyse. Leipzig 1829 (Reprint Darmstadt 1969), S. 2 Ebd., S. 3 Ebd., S. 9 Ebd., S. 10 Ebd., S. 47

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Jörn Rüsen

erschlossen werden können. Diese Verfahren ermöglichen einen Erkenntnisfortschritt hinsichtlich der Ermittlung neuer Tatsachen, und dieser Erkenntnisfortschritt sprengt die systematische Geschlossenheit der Ästhetik, insofern sie die Idee des Schönen anhand tatsächlicher Kunst entwickelt. Indem so die Interpretation tatsächlicher Kunstwerke zur Domäne von Wissenschaften mit einer eigenen, Erkenntnisfortschritt verbürgenden Methode wird, scheint Ästhetik als methodologisch davon unterschiedene Theorie der Kunst überflüssig geworden zu sein. Sie zieht sich, neben die Geisteswissenschaften gestellt, den Vorwurf zu, unwissenschaftlich zu sein. Dieser Vorwurf wäre berechtigt und Ästhetik in der Tat überflüssig geworden, wenn sie keine andere Aufgabe hätte als die Geisteswissenschaften auch. Dies ist aber aus zwei Gründen nicht der Fall. Einmal weil die Geisteswissenschaften mit allgemeinen Annahmen über die Kunst als Forschungsgegenstand und über ihre methodische Erforschbarkeit arbeiten, die - jenseits der empirischen Forschungsarbeit für sich betrachtet - sich als Äquivalent einer systematischen ästhetischen Theorie darstellen. Ästhetik wandert — zumindest partiell und meist nicht ausdrücklich — in die Theoriebildung der Geisteswissenschaften ein. Außerdem ist unter bestimmten Bedingungen — nämlich denen einer Grundlagenkrise der Geisteswissenschaften - ein expliziter Rekurs auf Ästhetik geboten, insofern diese gerade nicht identisch ist mit dem System von Annahmen über Kunst und deren Erforschbarkeit, die die geisteswissenschaftliche Erkenntnis regulieren. Dann nämlich werden die ästhetischen Theoreme der Geisteswissenschaften, die ihre Methode maßgeblich bestimmen, problematisch. Ästhetik wird im Rahmen einer kritischen Selbstreflexion der Geisteswissenschaft auch in den Bereichen thematisch, die die Geisteswissenschaften außer sich ließen, als sie sich durch Abgrenzung von der philosophischen Ästhetik zu selbständigen Wissenschaften formierten. Beide Hinsichten, in denen Ästhetik als notwendiges Moment literaturwissenschaftlicher Erkenntnis erscheint, sollen im folgenden näher ausgeführt werden. In welchem Ausmaß Grundannahmen der philosophischen Ästhetik in die historisch-hermeneutischen Literaturwissenschaften eingegangen sind, zeigt August Boeckhs »Enzyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften« 11 . Sie formuliert paradigmatisch das Selbstverständnis der Geisteswissenschaften in der Epoche des Aufschwungs und der Konsolidierung des Historismus, als der Anspruch der Philosophie auf allgemeingültige »wissenschaftliche« Erkenntnis der Kunst in ihrer konkreten Erscheinung zugunsten der Entwicklung einzelwissenschaftlicher, methodisch-kritischer Forschung zurück -

11

A . Boeckh: Enzyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften, hg. v. E. Bratusdieck. Neudruck (des i . Hauptteils) Darmstadt 1966. Boeckh hat diese Vorlesungen von 1809 bis 186$ sechsundzwanzigmal gehalten. Sie begleiten also den Aufschwung der Altphilologie zu einer geisteswissenschaftlichen Disziplin, der die anderen Literaturwissenschaften maßgebliche Impulse verdanken.

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gewiesen wurde 1 2 . Soldie Forschung weiß sich aber nichtsdestoweniger dem »letzten Endziel« verpflichtet, »daß der Begriff im Geschichtlichen erscheine«. Die Philologie, die dies ihr Ziel als Wissenschaft durch unendlichen Erkenntnisfortschritt approximativ erreicht, »löst s i c h . . in die Philosophie auf, ja es scheint im Geschichtlichen der Begriff überhaupt nicht erkannt werden zu können, wenn man nicht von vornherein die Richtung auf ihn hin genommen hat« 13 . Die von der Ästhetik entwickelte Theorie des begrifflich konzipierbaren Wesens der Kunst ermöglicht nicht nur die Philologie als eine Wissenschaft, die die Literatur als geschichtlichen Sachverhalt erforscht, sondern sie stellt zugleich eine (allerdings abstrakte) Vorwegnähme des Ergebnisses dieser Forschung dar: Literatur historisch erkennen heißt ihr begriffliches Wesen theoretisch festlegen. Boeckhs Theorie der philologischen Wissenschaften zeigt überdies auch, daß der ästhetisch-theoretische Zugriff sich nicht auf die Literatur allein richtet, sondern darüber hinaus auf den geschichtlich-gesellschaftlichen Lebenszusammenhang, in dem sie steht. Dadurch, daß die Philologie die Interpretation von Literatur auf diesen Lebenszusammenhang ausdehnt, wird sie historisch. Mit dieser historischen Intention unterscheidet sie sich von der ursprünglichen A b sicht der philosophischen Ästhetik. Ihr Erkenntnisgegenstand ist nicht mehr bloß das Ästhetische der Kunst, d. h. ihre Autonomie in der sinnhaften Regulation gesellschaftlichen Lebens, sondern ihr geschichtlicher Charakter, den sie im Bedingungszusammenhang mit außerkünstlerischen Sachverhalten hat. Die Philologie ist auf »das ganze geistige Leben und Handeln« eines Volkes gerichtet und z w a r mit der Absicht, das »Prinzip« dieses Lebens und Handelns gedanklich zu rekonstruieren. »Die Philologie hat also bei jedem Volke seine gesamte geistige Entwicklung, die Geschichte seiner Kultur nach allen ihren Richtungen darzustellen. In allen diesen Richtungen ist ein enthalten, der in der praktischen Färbung schon Gegenstand der Philologie ist; über alle verbreitet sich auch in den gebildeten Völkern selbst der X6y0?, die bewußte Erkenntnis und Reflexion, so daß sie in doppelter Beziehung der philologischen Betrachtung unterliegen. . . . Es muß ein Gemeinsames gefunden werden, in welchem alles Besondere enthalten ist. Es ist dies dasjenige, was die Philosophen das Prinzip eines Volkes oder Zeitalters nennen, der innerste Kern seines Gesamtwesens; etwas anderes kann es nicht sein; denn jedes andere wäre fremdartig, von außen hereingenommen. Die Einzelheiten sollen nicht aus diesem Prinzip deduziert werden, was bei historischen Dingen nicht möglich ist, aber sie sollen hervorgehen aus einer allgemeinen Anschauung, und diese muß sich wieder in jedem

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Die Boeckhsche Ausarbeitung des Selbstverständnisses der Philologie, der ähnliche Entwürfe zur Seite gestellt werden können, dürfte die heute vielfach geäußerte Meinung widerlegen, die traditionelle Literaturwissenschaft sei theorielos gewesen. V g l . z . B . Stauch: K r i t i k der klassischen Literaturwissenschaft. Z u r Entwicklung einer modernen Literaturtheorie. München 1973, S. 40: »Logisch-systematische Arbeit hat die Literaturwissenschaft in früherer Zeit kaum geleistet, kaum leisten können . . . «

13

Boeckh, a.a.O., S. 17

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einzelnen Teile bewähren; sie ist die Seele des Leibes, durchdringt den irdischen Stoff als die zusammenhaltende, ordnende Ursache, wie die Griechen die Seele mit Redit nennen: Durch diese Beseelung wird die Wissenschaft eben organisch14.« So sehr sich die Philologie durch ihren Ausgriff auf umfassende geschichtliche Lebenszusammenhänge von der Ästhetik unterscheidet, - in der Art ihrer methodischen Rekonstruktion des »Prinzips« dieses Lebenszusammenhangs bleibt sie von grundlegenden Annahmen der Ästhetik bestimmt. Die von der Ästhetik geleistete begriffliche Fixierung und systematische Auslegung des ästhetischen Charakters der Kunst wird von der Philologie in historischer Absicht weiterentwickelt; die aus dieser Absicht folgende interpretatorische Integration der Literatur in den geschichtlichen und gesellschaftlichen Lebenszusammenhang ihres Ursprungs verleiht diesem Lebenszusammenhang selbst ästhetische Qualität: So wie die Ästhetik empirisch gegebene Kunst interpretiert, indem sie auf einen ihr bestimmend zugrunde liegenden Gedanken zurückgeht, der sidi zur Idee des Kunstsdiönen systematisch entwickeln läßt, so geht es der Philologie, die die antike Literatur interpretiert, d. h. ihren »Gedanken« unter Berücksichtigung ihres nichtkünstlerischen Kontextes hermeneu tisch gewinnt, um die »Idee des Antiken an sich«15. Das Historischwerden der Ästhetik in der Philologie bedeutet ein Ästhetischwerden der Geschichte, - eben der Geschichte, durch deren Berücksichtigung die Geisteswissenschaften gegenüber der philosophischen Ästhetik einen Zuwachs an Wissenschaftlichkeit gewonnen zu haben beanspruchten. »Daß die Kunst Ideen ausdrücke, und zwar nicht begriffsmäßig, aber versenkt in eine sinnliche Anschauug, ist klar . . . Dasselbe gilt vom Staats- und Familienleben1*.« Diese Ästhetisierung der Geschichte ist die theoretische Voraussetzung für die Entwicklung der spezifisch geisteswissenschaftlichen Methode des Verstehens. Denn Verstehen eines geschichtlichen Sachverhalts - wie Literatur und Kunst im konkreten Bedingungszusammenhang mit außerkünstlerischen Sachverhalten heißt ihn methodisch-kritisch zu rekonstruieren am Leitfaden einer inneren, geistigen Qualität geschichtlichen Lebens (Idee). Wissenschaftlich, d. h. methodisch überprüfbar ist diese Rekonstruktion dem Selbstverständnis der Geisteswissenschaften zufolge, insofern sie auf die »Anschauung« bezogen ist: Die begrifflichen Aussagen der geistigen Gehalte von Literatur und Kunst sind empirisch überprüfbar, da diese Gehalte aus Erfahrungsgegenständen (Quellen) gewonnen werden. Die interpretatorische Erhebung der geistigen Prinzipien empirisch gegebener Kunst und Literatur erfolgt nach der Regel der Sinnadäquanz zwischen Anschauung und Begriff. Diese Regel, die die hermeneutische Verfahrensart der Geisteswissenschaften leitet und — in Forschungstechniken differenziert und methodologisch systematisiert - ihre Wissenschaftlichkeit " Ebd., S. 56 f. « Ebd., S. $7 « Ebd., S. 56

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ausmacht, gilt allgemein unter der Voraussetzung, daß in historischer Anschauung Theorie und Sachverhalt a priori synthetisiert sind. Denn nur unter dieser Voraussetzung ist es sadigeboten, Kunst und Literatur als geschichtliche Sachverhalte wie Theorien, wie objektivierte Erkenntnis zu entschlüsseln (oder, in der Formulierung Boedshs, als Erkanntes zu erkennen)17. Dafür, daß diese Voraussetzung nicht unterstellt, sondern sachgegeben ist, steht in den Geisteswissenschaften die ästhetisch gewordene Kunst. Denn sie ist als ästhetische die Gegebenheit solcher Synthese. Es ist daher nur folgerichtig, wenn W. v. Humboldt die »Aufgabe des Geschichtsschreibers« am Modell des Künstlers entwickelt18. Humboldt hat die ästhetische Voraussetzung historischen Denkens in dieser Abhandlung, die die Hermeneutik der historischen Geisteswissenschaften (auch für deren Selbstverständnis) programmatisch darstellt, so formuliert: »Was er (der Geschichtsschreiber) tun kann, um zu der Betrachtung der labyrinthisdi verschlungenen Begegenheiten der Weltgeschichte, in seinem Gemüte eingeprägt, die Form mitzubringen, unter der allein ihr wahrer Zusammenhang erscheint, ist diese Form von ihnen selbst abzuziehen. Der Widerspruch, der hierin zu liegen scheint, verschwindet bei näherer Betrachtung. Jedes Begreifen einer Sache setzt, als Bedingung seiner Möglichkeit, in dem Begreifenden schon ein Analogon des nachher wirklich Begriffenen voraus, eine vorhergängige, ursprüngliche Übereinstimmung zwischen dem Subjekt und Objekt 19 .« Transzendentale Voraussetzung der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis ist eine ästhetische Qualität der Geschichte, auf Grund deren sie als »Streben einer Idee, Dasein in der Wirklichkeit zu gewinnen«, erscheint20. Wirkliches menschliches Handeln und Leiden in Vergangenheit und Gegenwart ist nur insofern Geschichte, als es in einem primär geistigen Sinnzusammenhang steht. Dieser Geist ist - Geschichte konstituierend - in den Intentionen der Handelnden und Leidenden wirksam, und er ist - historisches Bewußtsein konstituierend - vorzüglicher Erkenntnisgegenstand der Wissenschaften, die seinen Namen tragen. Sie rekonstruieren ihn aus den empirisch gegebenen Produkten menschlichen Handelns und Leidens durch Verstehen der in ihnen objektivierten Intentionen. Geschichte ist im Kern Geistesgeschichte, und Literatur und Kunst sind - neben Religion und Wissenschaft — deutlichstes Zeugnis seiner geschichtlichen Realität. Denn in ihnen ist die die Geschichte und ihre Erkenntnis zumal konstituierende Intentionalität (Subjektivität) menschlichen Handelns und Leidens eigens für sich wirklich da (im Unterschied zu den materiellen Sachverhalten menschlichen

17

Ebd., S. i i und passim 18 »Es darf uns daher nicht gereuen, das leichter erkennbare Verfahren des Künstlers auf das mehr Zweifeln unterworfene des Geschichtsschreibers anzuwenden.« W . v . Humboldt: Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers. In: Werke, hg. v. A . Flitner u. K . Giel, Bd. i : Schriften zur Anthropologie und Geschichte. Darmstadt i960, S. J I I (Akademieausgabe, Bd. I V , S . 4 1 ) Ebd. S. J96 f. (Ak. Ausg., Bd. I V , S. 47). (Zusatz in Klammern von mir) » Ebd., S. 605 (Ak. Ausg., Bd. I V , S. 55)

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Lebens, die wie die seiner physischen Reproduktion nicht unmittelbar die Spur menschlicher Subjektivität zeigen).

III. Diese in der Tradition der Geisteswissenschaften vorgegebene innerwissenschaftliche und vorwissenschaftlich-transzendentale Funktion der Ästhetik ist gegenwärtig im doppelten Sinne des Wortes fragwürdig geworden. Im Kontext vorindustrieller Gesellschaften entstanden, erwies sich die ästhetische Geschiditskonzeption der Geisteswissenschaften als unrealistisch. Außerdem erwies sich die hermeneutisdie Methodenkonzeption der Geisteswissenschaften im Verhältnis zur sozialwissenschaftlichen Verarbeitung der Selbsterfahrung der modernen Gesellschaft als unzureichend, um einen an den exakten Wissenschaften erarbeiteten Standard allgemeinwissenschaftlicher Rationalität erfüllen zu können. Beides, außerwissenschaftlicher Erfahrungswandel und innerwissenschaftliche Methodenentwicklung, hat zu einer Grundlagenkrise der Geisteswissenschaften geführt. Die zur Wissenschaftsregulierenden Tradition gewordenen ästhetisch-theoretischen Elemente literaturwissenschaftlicher Forschung werden zum Gegenstand kritischer Reflexion. In doppelter Weise gewinnt dadurch die Ästhetik für die Literaturwissenschaft erhöhte Bedeutung. 1. Einmal wird die Bedingtheit der Literaturwissenschaft durch Vorentscheidungen über den ästhetischen Charakter der Literatur als Kunst deutlicher und umfassender als bisher thematisiert. Waren sie bisher durch die Forschungspraxis meist implizit getroffen worden, so werden sie nun expliziert und dadurch einer systematischen Kritik und Diskussion fähig. Die Annahmen über Sinn und Funktion der Kunst im Kontext der bürgerlichen Gesellschaft, die die Ästhetik als philosophische Disziplin erarbeitete, wirkten in der Literaturwissenschaft nidit wie prüfbare Hypothesen, sondern — um so mächtiger - als nichtexplikationsbedürftige Vor-Urteile, als selbstverständliche Voraussetzungen. Daß zwischen den Dichtungen und ihrer literaturwissenschaftlidien Interpretation ein Zwischenbereich von ästhetischer Theorie eingeschaltet ist, der die innere Logik der Dichtung mit derjenigen ihrer wissenschaftlichen Behandlung vermittelt, wurde zugunsten der Einstellung übersehen, die Dichtung sei schon rein für sich selbst genommen eine Aussage, die die Adäquatheitsbedingungen ihrer begrifflidien Reformulierung bereits enthalte. Diese Minimalisierung der Ästhetik zu Selbstverständlichkeiten des Zugangs zur Kunst wird rückgängig gemacht, indem die Wissenschaftsregulierende Funktion solcher Selbstverständlichkeiten in den Blick gerückt und dadurch theoriebedürftig und -fähig wird. 2. Aber nicht nur als Inhalt kritischer Explikation forschungspraktisch hödist wirksamer theoretischer Voraussetzungen der Literaturwissenschaft sind ästhetische Theorien heute wichtig. Ihre volle Bedeutung haben sie darin,

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*7

daß sie selbst den Bezugsrahmen solcher Explikation und Kritik abgeben. Die Explikations- und Kritikbedürftigkeit der traditionellen ästhetischtheoretischen Konzeption von Literaturwissenschaft als hermeneutische Geisteswissenschaft hat zur Voraussetzung, daß die traditionellen Adäquatheitsbedingungen im Verhältnis von Kunstwerk und begrifflichem Denken, von anschaulicher Darstellung und gedanklicher Rekonstruktion des Dargestellten, nicht ausreichen. Damit aber ist Ästhetik als Theorie, die solche Adäquatheitsbedingungen als Ermöglichung und Regulation von Literaturwissenschaft entwickelt, notwendig geworden - um der Literaturwissenschaft selbst willen. Weil das ästhetisch-theoretische Fundament der Literaturwissenschaft, auf dem sie sich als Geisteswissenschaft aufbaute, als nicht mehr tragfähig angesehen wird, erneuert sich die Ästhetik als eine Theorie, in der es um eine neue Grundlegung von Literaturwissenschaft geht. Mit dieser Aufgabe gewinnt die Ästhetik eine zugleich metatheoretische und innerwissenschaftliche Funktion. Metatheoretisch macht sie das Verhältnis von Dichtung und begrifflicher Theorie als Konstitutionszusammenhang der Literaturwissenschaft aus; und indem sie dieses Verhältnis methodologisch in Erkenntnisverfahren transformiert, fungiert sie innerwissenschaftlich als Bezugsrahmen und Regelsystem der Interpretation. Natürlich erneuert die Ästhetik mit dieser schon traditionell vorgegebenen Funktion nicht auch ihre traditionellen Inhalte. Vielmehr geht es darum, einen weiteren Schritt in die Richtung zu tun, die die Geisteswissenschaften in ihrer Historisierung der philosophischen Ästhetik bereits eingeschlagen hatten. Die von Boeckh pointierte Historisierung der Philologie rückte die Kunst in konkrete geschichtlich-gesellschaftliche Lebensprozesse ein und modifizierte dadurch die vorgegebene Annahme ästhetischer Autonomie der Kunst. Die Kunst galt zwar nach wie vor als autonome Darstellung des Sinnzusammenhangs menschlichen Handelns und Leidens, aber diese Geltung verlor ihren ungeschichtlichen, zeitunabhängigen Charakter. Nicht mehr wurde, wie etwa bei Schiller, der kunstspezifischen Lösung des Sinnproblems gesellschaftlichen Handelns ein Ursprung »jenseits aller Zeit« 21 zugesprochen. Als empirisches Zeugnis des geistigen Prinzips menschlicher Vergesellschaftung wurde die Kunst zum Index von deren geschichtlicher Besonderheit. Geisteswissenschaftliche Erkenntnis war Rekonstruktion der Gedanken, die gesellschaftliches Leben über sich selbst produziert. Und solche Erkenntnis war im Kern historisch, da Geschichte als durch den inneren Zusammenhang solcher Gedanken in zeitlicher Folge konstituiert gedacht wurde. In dieser Annahme über den geistigen Konstitutionszusammenhang der Geschichte menschlicher Vergesellschaftung liegen Leistung und Grenze der historisch-hermeneutischen Geisteswissenschaften beschlossen. Die Literaturwissenschaften waren zu einer umfassenden hermeneutisdien Vergegenwärtigung des Reichtums der überlieferten Literatur fähig, indem sie 21

F . Schiller: Ü b e r die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, 9. Brief. (Nationalausgabe, B d . 20, S . 3 3 3 )

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die ästhetische Autonomie der Kunst als geschichtliche konzipierten. Ihre Grenze liegt darin, daß dieses Konzept zugleich eine Ästhetisierung der Geschichte bedeutet. Diese Grenze wird deutlich, wenn sich die außerwissenschaftliche Erfahrung gegenwärtigen gesellschaftlichen Wandels nicht mehr mit den Kategorien historischen Denkens vereinbaren läßt, die die geisteswissenschaftliche Ästhetisierung der Geschichte ausdrücken. Die gegenwärtige Grundlagenkrise der Literaturwissenschaften ist - wie jede solche Krise der Geistes- und Sozialwissenschaften - eine »Kritik der Begriffsbildung«, die sich »sachlich an die Verschiebung der praktischen Kulturprobleme« knüpft 2 2 . Diese Kritik ist hinsichtlich der Literaturwissenschaften als Versuch zu spezifizieren, einen weiteren Schritt in der Vergeschichtlichung der Literatur als Kunst durch Entästhetisierung der Geschichte zu tun. Dieser Schritt beinhaltet eine Berücksichtigung derjenigen Geschidite bei der Interpretation von Literatur, die in den nicht-intentionalen, »stummen« Bedingungen intentionalen Handelns sich ereignet. Karl Marx hat diese Geschichte als die eigentliche thematisiert, der gegenüber diejenige Geschichte als bloßer Schein zu gelten habe, die die Geisteswissenschaften mittels ihres Geistbegriffs aus der Überlieferung rekonstruieren. ». . . Es wird nicht ausgegangen von dem, was die Menschen sagen, sich einbilden, sich vorstellen, auch nicht von dem gesagten, gedachten, eingebildeten, vorgestellten Menschen, um davon aus bei den leibhaftigen Menschen anzukommen; es wird von den wirklich tätigen Menschen ausgegangen und aus ihrem wirklichen Lebensprozeß auch die Entwicklung der ideologischen Reflexe und Echos dieses Lebensprozesses dargestellt. Auch die Nebelbildungen im Gehirn der Menschen sind notwendige Sublimate ihres materiellen, empirisch konstatierbaren und an materielle Voraussetzungen geknüpften Lebensprozesses. Die Moral, Religion, Metaphysik und sonstige Ideologie und die ihnen entsprechenden Bewußtseinsformen behalten hiermit nicht länger den Schein der Selbständigkeit. Sie haben keine Geschichte, sie haben keine Entwicklung, sondern die ihre materielle Produktion und ihren materiellen Verkehr entwickelnden Menschen ändern mit dieser ihrer Wirklichkeit auch ihr Denken und die Produkte ihres Denkens. Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein 23 .« Der heute vielfach zu beobachtende Rekurs der Literaturwissenschaft auf diese Geschichtskonzeption wird in seiner Bedeutung f ü r das Selbstverständnis wie f ü r die Forschungspraxis der Literaturwissenschaft von Anhängern und Gegnern gleichermaßen verkannt, wenn er als primär außerwissenschaftlichpolitische Angelegenheit diskutiert wird. Er steht vielmehr dafür, daß die Literaturwissenschaft Annahmen über Geschichte als nicht-intentionalen Bedingungszusammenhang von Kunst um deren Interpretierbarkeit treffen muß und daß solche Annahmen eine prinzipielle Revision des geisteswissenschaftlichen Geschichtsbegriffs bedeuten. Mit solchen Annahmen soll dreierlei erreicht werden: 82 83

Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen 1968, S. 208 K. Marx/F. Engels: Die deutsche Ideologie. MEW 3, 16 f.

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Erstens sollen sozial-wissenschaftliche Methoden und Theorien in der Literaturwissenschaft anwendbar werden. Damit eng zusammenhängend soll zweitens ein höheres Maß an methodischer Rationalität literaturwissenschaftlicher Forschung erreicht werden. Drittens schließlich sollen Interpretationsleistungen möglich werden, die sich auf diejenige Literatur beziehen, die ihren ästhetischen Charakter mit ästhetischen Mitteln dementiert. Diese drei Hinsichten können dazu dienen, die behauptete Revisionsbedürftigkeit des traditionellen Geschiditsbegriffs der Geisteswissenschaften zu präzisieren. Die hermeneutische Methode ist nur unter der Voraussetzung sachgeboten, daß Literatur als Dokument einer primär durch Subjektivität konstituierten Geschichte zu gelten hat. Diese Voraussetzung muß modifiziert werden, wenn Literatur auf eine gesellschaftliche Bedingtheit hin betrachtet wird, die nicht bruchlos in den von ihr selbst zur Sprache gebrachten Sinnzusammenhang gesellschaftlichen Lebens eingeht. Dann muß die Geschichte, von der die Literatur zeugt, als ein Geschehen menschlicher Vergesellschaftung angenommen werden, das hinter dem Rücken der beteiligten Subjekte sich ereignet und durch ihr literarisches Selbstverständnis nicht hinreichend erschlossen werden kann. Erst dann kann die Literatur auf Bedingungen hin untersucht werden, die sie nicht selbst positiv zur Sprache bringt (z. B. durch wissenssoziologische und ideologiekritische Analysen). Methodologisch bedeutet ein solches Verfahren einen Zuwachs an Objektivierungsmöglichkeiten der Interpretation. In dem Maße, wie Literatur auf nicht-intentionale Bedingungen hin durchsichtig gemacht werden kann, gewinnt ihre Interpretation den Grad an Rationalität, dessen die Wissenschaften von der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt insgesamt fähig geworden sind. Die Subjektivität des Interpreten wird soweit rational kontrollierbar, als Literatur aus transsubjektiven Bedingungen erklärbar wird. Literatur gewinnt durch entsprechende geschichtstheoretische Annahmen einen Faktizitätsgehalt, der eine intersubjektive Überprüfung ihrer Interpretation ermöglicht. Schließlich bedeutet das Dementi des ästhetisch-autonomen Charakters von Literatur als Kunst durch die moderne Kunst selbst - ihre Weigerung, den Sinnzusammenhang menschlicher Vergesellschaftung positiv und anschaulich darzustellen, — eine Negation traditioneller Interpretationsweisen der Literaturwissenschaft durch eine Literatur, deren Interpretationsbedürftigkeit außer Frage steht. Die Literaturwissenschaft muß Geschichte in dem Maße transästhetisch konzipieren, wie die moderne Literatur durch ästhetische Negation ihres ästhetischen Charakters Geschichte aussagt, - wenn anders die Literatur noch als Auskunft darüber gelten soll. Der gordische Knoten, zu dem sich die kunst- und geschichtstheoretischen Grundlagen der Literaturwissenschaften und ihre davon bestimmten Methoden krisenhaft verschlingen, scheint leicht durchgeschlagen werden zu können. Den Vorschlägen von Marx folgend, können Kunst und Literatur als »notwendige Sublimate« des »materiellen, empirisch konstatierbaren und an materielle Voraussetzungen geknüpften Lebensprozesses« interpretiert werden. Der Schein



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einer Geist-konstituierten Geschichte wird auf die wirkliche, den Geist konstituierende Geschichte physischer Produktion und Reproduktion der Menschengattung hin durchsichtig gemacht und davon als »Sublimation« abgeleitet. Eine solche geschichtstheoretische Neukonditionierung der Literaturwissenschaft scheint die in drei Hinsichten angedeuteten Defizite zu überwinden: Sozial wissenschaftliche Methoden sind unerläßlich zur Rekonstruktion der die Literatur bestimmenden Geschichte; und die Ableitung ihrer scheinbaren ästhetischen Selbständigkeit aus dieser Geschichte scheint sich zwangloser dem allgemeinwissenschaftlichen Schema rationaler Erklärung zu fügen als die Hermeneutik; und die moderne Literatur schließlich läßt sich interpretieren als Selbstaufhebung des ästhetischen Scheins zugunsten einer außerästhetischen Praxis, die eben das wirklich zu leisten beansprucht, was der Kunst solange darzustellen versagt ist, wie sie unter den noch nicht praktisch veränderten gesellschaftlichen Bedingungen des modernen Kapitalismus steht 24 . Es scheint, als werde damit die Ästhetisierung der Geschichte radikal überwunden und als sei Literatur auf der Folie der konkreten Geschichte begreifbar geworden, die der ästhetischen Geschichtskonzeption der Geisteswissenschaften äußerlich geblieben war. Die Literaturwissenschaft vollzieht jedenfalls mit einer solchen geschichtstheoretischen Neuorientierung das Ende der bürgerlichen Ästhetik mit, das in der Kunst selbst, im Kunstbegriff der Philosophie und im Geschichtsbegriff der historischen und Sozialwissenschaften geschichtlich der Fall ist. Diese Beendung der traditionellen bürgerlichen Ästhetik im Wechsel des allgemeinen Bezugsrahmens literaturwissenschaftlicher Interpretation kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß wesentliche Elemente dieser Ästhetik in die Geschichtskonzeption eingegangen sind, die sie überwinden soll. Bei Marx selbst ist zu beobachten, daß genuin ästhetische Vorstellungen sowohl bei der Entwicklung seines GeschichtsbegrifTs wie auch bei seiner praktischen Funktionsbestimmung historischer Erkenntnis mitgewirkt haben. Als der junge Marx die Eigenart menschlicher Selbstproduktion, auf Grund deren sie sich als geschichtliche von der natürlichen der Tiere unterscheidet, geschichtsphilosophisch zu entfalten versuchte und dabei die Konstitution von Geschichte durch menschliche Arbeit analysierte, verwandte er den Begriff der Schönheit: »Das Tier formiert nur nach Maß und dem Bedürfnis der Spezies, der es angehört, während der Mensch nach dem Maß jeder Spezies zu produzieren weiß und überall das inhärente Maß dem Gegenstand anzulegen weiß; der Mensch formiert daher auch nach den Gesetzen der Schönheit25.« Die damit prinzipiell von Marx anerkannte geschichtstheoretische Funktion von Ästhetik wurde auch in seiner weiteren Analyse der sozioökonomischen Determination menschlicher Selbsthervorbrin24

25

Vgl. etwa die Thomas-Mann-Interpretation von Georg Lukäcs: Faust und Faustus. Vom Drama der Menschengattung zur Tragödie der modernen Kunst (Ausgewählte Schriften II) 1967, S. 239 ff. K . M a r x : Texte zu Methode und Praxis II. Pariser Manuskripte 1844, hg. v. G . Hillmann. 1966, S. $ 7 ; M E W , Erg. Bd. 1. Tl., S. 5 1 7

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gung nicht preisgegeben. Vielmehr wird Ästhetik als Element historischen Denkens gerade dort zur Geltung gebracht, wo die Geschichte ideologiekritisch radikal entästhetisiert wird. In der Formulierung des praktischen Zwecks dieser Entästhetisierung gewinnen die ästhetischen Bestimmungen gesellschaftlichen Lebens einen positiven Sinn, die als Verstellungen geschichtlicher Wirklichkeit kritisiert werden. Sie gehen in den »Gesamtplan frei vereinigter Individuen«2® ein, der durch die ideologiekritische Entzauberung des bürgerlichen Geschichtsdenkens ermöglicht werden soll. Die Rückführung der nur vermeintlich selbständigen Geschichte, die der Kunst im Rahmen der Theorie ihrer ästhetischen Autonomie zugesprochen wurde, auf die wirkliche Geschichte der materiellen Bedingungen geistiger Produktionen, hat einen praktischen Sinn. Die Erkenntnis dieser wirklichen Geschichte soll zur intentionalen Bestimmung aktuellen Handelns werden, durch das die menschliche Vergesellschaftung einen qualitativ neuen Status bekommt: nämlich denjenigen, in dem die Kunst keine Ideologie mehr ist, den Schein ihrer Autonomie verliert, um zum Element autonomer Selbstverwirklichung sich vergesellschaftender Individuen zu werden. Die Ausführungen von Marx über diesen Status erinnern »an jenes zur Lebensweise verallgemeinerte ästhetische Verhalten, in dem nach Kant und Schiller für den Menschen, der seine ideale Bestimmung erreicht, Natur und gesellschaftliche Freiheit koinzidieren. Marx verwandelt diese anthropologische Konstruktion der idealistischen Ästhetik in eine materialistische, wenn auch wohl utopische Perspektive für die geschichtliche Zukunft 27 .« Das Beispiel der Marxschen Geschichtsphilosophie und Ideologiekritik zeigt die Dialektik des Endes der Ästhetik, das die Literaturwissenschaft durch Entästhetisierung der Geschichte in ihren theoretischen Grundlagen vollzieht. Den Geisteswissenschaften wird die Möglichkeit abgesprochen, Geschichte als Sinnzusammenhang menschlicher Vergesellschaftung in zeitlichem Ablauf aus Kunstwerken zu rekonstruieren, weil diese aus selbst geschichtlichen Gründen die ihnen zugemutete Sinnfunktion nicht wahrnehmen können. Dies geschieht aber durch eine Geschichtstheorie, die nicht umhin kann, selber zur Ästhetik zu werden, wenn sie beansprucht, die Sinnfrage geschichtlicher, d. h. wirklichkeitsnäher zu beantworten, als es der ästhetische GeschichtsbegrifF der Geisteswissenschaften zuließ. Die von den Geisteswissenschaften historisch sanktionierte ästhetische Autonomie der Kunst wird geschichtstheoretisch als Heteronomie der Kunst im Kontext menschlicher Vergesellschaftung entschlüsselt. Für die Literaturwissenschaft bedeutet dies, daß sie eine Geschichte zu erkennen hat, die die Literatur als Kunst nur indirekt schreibt. Kunst wird als Sinnartikulation von Vergesellschaftung auf eine andere als die ihr mögliche Sinnartikulation bezogen. Die Pointe dieses Bezuges hinsichtlich einer Theorie der Literaturwissenschaft besteht

26 27

K. Marx/F. Engels: Die deutsche Ideologie. MEW 3, 72 O. K. Werckmeister: Ideologie und Kunst bei Marx u. a. Essays. Frankfurt 1974, S. 16

3*

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darin, daß er in Form einer ästhetischen Theorie vorgenommen wird 28 . Die Literaturwissenschaft, die den Kunstcharakter der Literatur nicht aus dem Blick verlieren will, wenn sie deren sozioökonomische Bedingtheit grundsätzlicher als in der Tradition der Geisteswissenschaften berücksichtigt, kann sidi mit einer ideologiekritischen Entästhetisierung ihres traditionellen Geschichtsbegriffs nicht begnügen. Sie muß Geschichte im allgemeinen Bezugsrahmen ihrer methodischen Interpretation von Literatur so konzipieren, daß die Literatur als Kunst Auskunft über wirkliche Geschichte gibt, die außerhalb ihrer nicht zu gewinnen ist. Entästhetisiert, kann Geschichte nicht mehr als innerer Sinnzusammenhang menschlicher Vergesellschaftung in zeitlicher Veränderung aus den literarischen Sinngebilden der Kunst hermeneutisch erschlossen werden. Wäre damit die Hermeneutik gesdiichtstheoretisch erledigt, dann wäre Literaturwissenschaft nur noch als eine Sozialwissenschaft möglich, die die überlieferte Kunst a priori auf die sozioökonomische Regulation menschlicher Vergesellschaftung hin funktionalisiert. Sie hätte ihren Erkenntnisbereich zwar um die wirtschaftliche und gesellschaftliche Tiefendimension menschlicher Geschichte bereichert, sich zugleich jedoch der Möglichkeit beraubt, Literatur noch als Kunst zu begreifen. Sie hätte sich selbst als eigenständige Wissenschaft abgeschafft. Dies zu verhindern, scheint nur um den Preis möglich zu sein, die Autonomie der Kunst jenseits ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit zu rehabilitieren 29 . Dafür stehen die zahlreichen Versuche der Kunst- und Literaturwissenschaften, ihren Gegenstandsbereich zum Kosmos reiner Sinngebilde zu stilisieren, die - aus sich selbst verstanden — in Form von Ewigkeitswerten des menschlichen Geistes als ahistorische Kompensation geschichtlich konkreter Entzauberung im gegenwärtigen Vergesellschaftungsprozeß vermittelt werden können. Diese Versuche sind als Reaktion auf die Konsequenzen einer Entästhetisierung der Geschichte in den theoretischen Grundlagen der Geisteswissenschaften zu begreifen. Die Literaturwissenschaft sieht sich also vor eine fatale Alternative gestellt: Zwischen dem Verlust der Kunst durch Entästhetisierung der Geschichte und dem Verlust der Geschichte durch Enthistorisierung der Kunst scheint es keinen Ausweg zu geben. Entweder gewinnt die Literaturwissenschaft Zugang zu der geschichtlichen Realität, deren außerwissenschaftliche Erfahrung zur Problematisierung ihres traditionellen Geschichtsbegriffs führte, und gewinnt eine Wissenschaftlichkeit, die dem Standard der nachhistoristischen Sozialwissenschaften entspricht; dann droht ihr eine methodologisch legitimierbare Sprachlosigkeit vor dem, was die traditionelle Ästhetik >Schönheit< nannte und was den Kunstcharakter ihrer Erkenntnisgegenstände ausmacht. Oder sie rettet die Schönheit der Kunst vor ihrer sozialwissenschaftlichen Entzauberung und gewinnt die Möglichkeit, Kunst als Aussage über den Sinn menschlichen Handelns und Lei28

29

Vgl. Th. W . Adorno: Ästhetische Theorie (Gesammelte Schriften Bd. 7). Frankfurt 1970 Vgl. etwa K . Badt: Der kunstgeschichtliche Zusammenhang. In: Ders.: Kunsttheoretisdie Versuche. Ausgewählte Aufsätze, hg. v. L. Dittmann. Köln 1968, S. 1 4 1 - 1 7 $

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dens zu interpretieren; dann aber verzaubert sie die wirkliche Geschichte zum Substrat übergesdiichtlicher Sinnstiftungen.

/V. Dieser Alternative kann die Literaturwissenschaft dadurch entgehen, daß sie ihre Entästhetisierung der Geschichte selber ästhetisch-theoretisch reflektiert. Es kommt darauf an, die geschichtstheoretische Einsicht des jungen Marx, daß der Mensch in der Konstitution von Geschichte durch Arbeit »auch nach den Gesetzen der Schönheit« formiert, in die Revision des allgemeinen Interpretationsrahmens der Literaturwissenschaft einzubringen. Geschichte wäre dort so zu konzipieren, daß sie als transästhetischer Bedingungszusammenhang von Kunst deren spezifische Leistungen begreifbar macht. Im Rahmen der historisierten Ästhetik der Geisteswissenschaften hatten die gesellschaftlichen Bedingungen der Kunst von vornherein schon ästhetische Qualität, d. h. sie wurden als genauso geistig konstituiert angenommen wie die Kunst selbst. Die Kunst galt überdies als Selbstdarstellung dieses die Geschichte konstituierenden Geistes. Sie besagte daher mehr über die Geschichte, die in der Konstellation ihrer gesellschaftlichen Bedingungen sich ereignet, als diesen Bedingungen für sich entnommen werden kann. Kritisch gegenüber dieser geisteswissenschaftlichen Konzeption soll nun in den gesellschaftlichen Bedingungen der Kunst eine Geschichte ausgemacht werden, die der durch die Kunst selbst als Sinnzusammenhang artikulierten Geschichte noch bestimmend zugrunde liegt. Folgt man der ideologiekritischen Intention dieses Ausgriffs der Literaturwissenschaft auf eine Geschichte jenseits der Kunst, dann verliert die Sinnsprache der Kunst ihre Leitfunktion für die historische Interpretation. Wird diese Funktion von einer Theoriesprache übernommen, die Geschichte als Naturgeschichte gattungsspezifischer Selbsthervorbringung des Menschen durch Arbeit zum Ausdruck bringt (z. B. in Form einer politischen Ökonomie), dann wird zwar die Literaturwissenschaft zu einer historischen Sozialwissenschaft, — zugleich aber verstummt sie vor der spezifischen Sinnsprache der Kunst. Ästhetische Reflexion der Entästhetisierung der Geschichte im Interpretationsrahmen der Literaturwissenschaft ist notwendig, um solches Verstummen zu verhindern und um über Geschichte etwas in Erfahrung zu bringen, das Kunst als besondere und unersetzbare Erfahrung darstellt. Damit dürfte die Notwendigkeit ästhetischer Theorie für die Selbstbestimmung heutiger Literaturwissenschaft nachgewiesen sein. Sie ist um so unabweislicher, je entschiedener die Literaturwissenschaft ihre traditionelle geisteswissenschaftliche Konzeption überwinden und der geschichtlichen Realität sich stellen will, die in diese Konzeption nur gebrochen und begrenzt Eingang gefunden hat. Damit aber ist eine höchst paradoxe Situation entstanden: Die Literaturwissenschaft gerät auf dem Weg, den sie mit ihrer kritischen Abgrenzung von der

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philosophischen Spekulation über Kunst in Richtung einer sich an der empirischen Realität von Kunst orientierenden Wissenschaft eingeschlagen hat und auf dem sie auch diejenigen ästhetischen Theoreme kritisch zugunsten eines realistischeren Geschichtsbegriffs eliminiert hat, die sie von der philosophischen Spekulation noch übernommen hatte, in die Nähe eben der ästhetischen Theorie, die sie endgültig hinter sich zurückgelassen wähnte. Denn wenn sie im Rahmen ihres allgemeinen Interpretationsschemas Geschichte entästhetisiert, vollzieht sie eben das »Ende der Kunst«, das die höchstentwickelte philosophische Ästhetik, die Hegeische, dargelegt hat. In der Hegeischen Ästhetik 30 werden außerästhetische Bedingungsfaktoren der Kunst namhaft gemacht, die durch die Kunst nicht hinreichend zum Ausdruck gebracht werden. Und zugleich wird gezeigt, daß diese Bedingungsfaktoren geschichtstheoretisch begriffen werden müssen, damit das, was die Kunst in der ihr eigenen Weise (d. h. durch begriffliches Denken grundsätzlich nicht ersetzbar) zum Ausdruck bringt, verstanden werden kann. Schließlich zeigt diese Ästhetik auch, daß solches Verstehen von Kunst im Medium einer transästhetisch konzipierten Geschichtstheorie um der Erfüllung des Wahrheitsanspruchs der Kunst selbst willen notwendig ist. Nur als so verstandene kann die Kunst als wahrheitsfähige Darstellung der geschichtlichen Eigenart sozialen Handelns und Leidens in dessen aktuellen Vollzug von Geschichte intentional wirkend eingehen31. Alle drei Hinsichten werden in der gegenwärtigen Selbstbestimmung der Literaturwissenschaft erneuert, wobei sie freilich nicht einfach wiederholt, sondern mit Einschluß nachhegelscher geschichtlicher Erfahrungen neu erarbeitet werden 32 . Die außerästhetischen Bedingungsfaktoren der Produktion und Rezeption von Literatur werden von der Literaturwissenschaft durch Übernahme sozialwissensdiaftlicher Erkenntnisse, Methoden und Theorien forschend ermittelt. Dabei entwickelt sie den sozialen Kontext von Literatur - auch hinsichtlich der in ihm wirksamen nicht-intentionalen Bedingungsfaktoren gesellschaftlichen Lebens — nicht mehr nach Maßgabe der Sinnbestimmungen, die die Literatur über ihren Kontext trifft. Es ist jedoch zu berücksichtigen, daß der materielle Bedingungszusammenhang sozialen Handelns und Leidens nidit rein für sich, sozusagen als autonome Größe, unter der hypothetischen Vorgabe einer ihm immanenten Gesetzmäßigkeit (als ein Stück Natur) erkannt werden soll, sondern in seiner Relation zu der durch Literatur als Kunst geleisteten anschaulichen Darstellung handlungsrelevanter Sinnbestimmung über den gesellschaftliches Leben regulierenden Sinnzusammenhang von Mensch, und Welt. Damit

30 31

32

V g l . hierzu J . Rüsen: Die V e r n u n f t der Kunst, a.a.O., ( A n m . i ) Dies hat T h . W . A d o r n o wieder betont: »Metaphysik der Kunst ist zur Instanz ihres Fortbestandes geworden.« (Ästhetische Theorie, a.a.O., S. 506) V g l . hierzu auch T h . W . H . Metscher: Hegel und die philosophische Grundlegung der Kunstsoziologie. I n : Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaft. Grundlagen und Modellanalysen. Stuttgart 1 9 7 1 , S . 1 3 - 8 0

Ästhetik als Geschicktstheorie

35

stellt sidi zwingend das Problem, was dem transästhetischen, sozialen Kontext von Literatur an Einsichten über den Kunstdiarakter von Literatur abgewonnen werden kann. Dieses Problem kann nur durch Ausarbeitung der zweiten Hinsicht in den theoretischen Grundlagen der Literaturwissenschaft gelöst werden, dadurdi nämlich, daß sie allgemeine Annahmen über den Zusammenhang von nichtintentionalen Bedingungen gesellschaftlichen Lebens mit dessen Intentionalität - und zwar in Form einer Geschichtstheorie - trifft 33 . Diese Lösung folgt m. E. zwingend aus der ideologiekritischen Zerstörung des hermeneutischen Primats von Literatur über ihren sozialen Kontext in der traditionellen geisteswissenschaftlichen Geschichtskonzeption. Denn mit der Zurückweisung des Anspruchs der Hermeneutik, mit der Erkenntnis von Literatur die schon erkannten Prinzipien geschichtlichen Lebens vergegenwärtigen zu können (Boeckh), wird zwar auf dort nicht Erkanntes - auf nicht-intentionale Prinzipien geschichtlichen Lebens - verwiesen. Damit aber werden diese Prinzipien nicht grundsätzlich so von denjenigen abgespalten, die die Literatur als intentionale dokumentiert, daß letztere wesenlos würden. Vielmehr besteht der geschichtliche Charakter der materiellen Bedingungen sozialen Lebens darin, daß sie grundsätzlich auf Handlungsintentionen bezogen bleiben, wenn auch nicht immer und primär auf diejenigen, die literarisch zur Sprache kommen 34 . Schon die vorwissenschaftliche Erfahrung tiefgreifenden sozialen Wandels, die die Literaturwissenschaft zur Modifikation ihres traditionellen hermeneutischen Geschichtsbegriffs provoziert, wird in der (vorwissenschaftlichen, aber wissenschaftsrelevanten) Absicht zu einem modifizierten Bezugsrahmen literaturwissenschaftlicher Interpretation verarbeitet, sie durch Interpretation auf ein mögliches Handeln zu beziehen. Damit wird zunächst einmal dem materiellen Bedingungszusammenhang sozialen Lebens geschichtliche Qualität zugesprochen: Er ist intentionalem Zugriff offen, d. h. durch sinnbestimmtes Handeln veränderbar. Entästhetisierung der Geschichte im Bezugsrahmen literaturwissenschaftlicher Interpretation bedeutet also, daß die sozialen Bedingungen künstlerischer Produktion, die im Produkt nicht sinnhaft aufgearbeitet worden sind, von den Intentionen sozialen Handelns und Leidens dennoch tangiert werden, wenn auch nicht in der direkten Art zeitgenössischer künstlerischer Verarbeitung. Der ästhetische Geschichtsbegriff der traditionellen Geisteswissenschaften hob die materiellen Bedingungs33

34

V g l . J . Rüsen: Uber einige Beziehungen zwischen Historik, Ästhetik und Didaktik, a.a.O., ( A n m . 4 ) A . Schmidt hat dies in der drastischen Formulierung zum Ausdruck gebracht: »Deutlich w i r d . . ., was es mit dem viel gescholtenen ökonomischen Determinismus< auf sich hat: E r gilt nur solange, wie die Menschen ihn sich gefallen lassen.« (Über Geschichte und Geschichtsschreibung in der materialistischen Dialektik. In: Folgen einer Theorie. Essays über >Das Kapital< von K a r l M a r x . F r a n k f u r t 1 9 6 7 , S. 1 1 1 ) . V g l . auch H . Fleischer: Marxismus und Geschichte. F r a n k f u r t 1969, und meine A u s einandersetzung mit Schmidt und Fleischer; Rationalität und Geschichtlichkeit. Z u r L o g i k historischer Erkenntnis II. I n : Philosophische Rundschau 2 1 ( 1 9 7 4 ) S . 2 4 - j j



Jörn Rüsen

faktoren sozialen Handelns von der künstlerischen Gestaltung der Handlungsintentionen, die den Gesamtzusammenhang von Mensch und Welt betreffen, als »fremdartig« und »von außen hereingenommen« ab 35 . Entästhetisiert läßt sich Geschichte als ein zeitlicher Vermittlungszusammenhang dieser »fremdartigen«, bloß äußerlichen Lebensfaktoren mit den innerlichen, intentionalen begreifen. Die Kunst wird zu einem Moment dieses Vermittlungszusammenhangs, den sie als ganzen (jeweils für ihre Zeit) nicht mehr repräsentiert. Weder ist dann ästhetisch nicht verarbeitete soziale Wirklichkeit dem ästhetischen Verarbeitungsprozeß als geschichtlichen äußerlich, noch ist ästhetische Verarbeitung derjenigen Geschichte äußerlich, die sich in der nichtverarbeiteten Wirklichkeit vollzieht. Die geschichtliche Qualität menschlichen Lebens ist weder auf die eine noch auf die andere Seite beschränkt, sie besteht gerade in der wechselseitigen Transzendierung der einen durch die andere im zeitlichen Wandel gesellschaftlichen Lebens. Unter dieser geschichtstheoretischen Prämisse ist eine neue Form literaturwissenschaftlicher Erkenntnis möglich. Das sozialwissenschaftlich ermittelbare System nicht-intentionaler Bedingungsfaktoren sozialen Handelns und Leidens wird mit den literarisch dokumentierten und hermeneutisch ermittelbaren Intentionen des bedingten sozialen Handelns und Leidens in ein offenes (und d. h. eben: in ein radikal geschichtliches) Wechselverhältnis gebracht. Literatur gilt dann als Dokument des wirklich geleisteten intentionalen Zugriffs vergesellschafteter Menschen auf die nicht-intentionalen Bedingungen ihrer Vergesellschaftung, ohne daß vorweg schon entschieden wäre, ob und wie dieser Zugriff gelingen kann oder scheitern muß. Solche Vorweg-Entsdieidungen liegen sowohl im ästhetischen Geschichtsbegriff der Geisteswissenschaften wie auch in ihrer materialistischen Antithese vor. Im ersten Falle erfüllt sich soziales Handeln und Leiden darin, Ideen wirklich werden zu lassen. Hier wird der soziale Kontext von Literatur so berücksichtigt, daß die in ihm wirkenden Triebkräfte geschichtlichen Lebens durch ihre literarische Objektivation sozusagen zur Ruhe kommen, d. h. sich in den anschaulichen Sinngebilden erfüllen, die der handelnde und leidende Mensch über sein Handeln und Leiden produziert. Im zweiten Falle reichen die literarisch dargestellten Intentionen nicht an ihre äußeren Bedingungen heran und sind diesen zwangshaft unterworfen; die literarisch objektivierte Intentionalität stellt keine wirkliche Bewältigung der Zwänge menschlicher Vergesellschaftung dar, sondern sie spiegelt sie wider, ohne sie aufzubrechen. Hier werden die sozialen Bedingungen künstlerischer Produktion durch das Produzierte in >Ruhe< gelassen; die Interpretation von Literatur als Widerspiegelung materieller Lebensbedingungen läßt diese Bedingungen hinter dem Rücken der handelnden und leidenden Menschen wirken und sieht in ihrer literarischen Verarbeitung nur den wesenlosen Widerschein der wirklichen Arbeit, die das geschichtliche Leben der Menschen ausmacht.

35

A. Boeckh, a.a.O., S. j 6 f. Siehe oben S. 22

Ästhetik als Gesdiichtstheorie

37

In beiden Fällen waltet ein verkürzter GesdiiditsbegrifF vor. Einmal sublimiert sich soziales Handeln und Leiden in traditionsfähige und -bedürftige Kultur, und die geschichtliche Qualität menschlicher Weltveränderung besteht in einem durch gattungsspezifische Intentionalität konstitutierten Kulturkontinuum, das durch das methodisch geregelte Sinnverstehen der Literaturwissenschaft tradiert wird. Literatur gilt hier als hervorragende Manifestation dieses Kontinuums, der gegenüber der Erkennende sich mimetisch verhält. Im anderen Fall gerinnt soziale Realität in einen quasi-natürlidien Sachzwang der Reproduktion der menschlichen Gattung hinter dem Bewußtsein der handelnden und leidenden Individuen. Ihre geschichtliche Qualität besteht dann darin, daß sie sich nadi Maßgabe ihrer Erkenntnis als eingehend in die Verfügungsgewalt handelnder Menschen denken läßt. Literatur gilt hier als Indiz von Sachzwängen und des Bedarf ihrer Aufhebung zumal. Der Erkennende verhält sich gegenüber dem durch sie Indizierten technisch. Wird nun aber die literarisch objektivierte Intentionalität menschlichen Handelns und Leidens mit dem literarisch verhohlenen nicht-intentionalen Bedingungszusammenhang in ein offenes Wechselverhältnis gebracht, dann besteht die geschichtliche Qualität sozialen Handelns und Leidens darin, daß der Handelnde und Leidende die ihm vorgegebene Welt intentional transzendiert, um sie zu verändern, ohne ihr doch handelnd mächtig zu sein. (Leiden ist das alles Handeln begleitende Eingeständnis dieser Ohnmadit.) Geschichte ist dann der zeitlich erstreckte Prozeß menschlicher Selbsthervorbringung durdi Weltveränderung, in dem die gattungsspezifische Intentionalität des Menschen sich unter Bedingungen zeitigt, die ihr zugleich vorgegeben und durdi sie modifizierbar sind. Gilt die in kultureller Objektivation an den Tag gekommene Intentionalität weltverändernden Handelns nicht als Erfüllung des im Handlungsvollzug Intendierten, dann kann Geschichte im ganzen nicht ästhetisdi gedacht werden. Da aber zugleich an der konstitutiven Rolle menschlicher Intentionalität (Subjektivität) bei der geschichtlichen Qualifikation mensdilichen Handelns und Leidens festgehalten wird, gibt Literatur als Kunst immer Aufschluß über diese Qualität, der ohne sie nicht möglich wäre. Im Geschichte definierenden zeitlichen Vermittlungszusammenhang zwischen materiellen Bedingungsfaktoren und intentionaler Normativität sozialen Handelns und Leidens ist Literatur als Kunst das Moment, in dem dieser Zusammenhang vom Handelnden und Leidenden eigens für sich im Medium sinnlicher Anschauung als ein Ganzes dargestellt wird, ohne dieses Ganze zu sein. Sie ist sozusagen die Geschichte, die sich selbst erzählt — »Geschichte der Geschichte« ist der traditionelle Ausdruck dafür 8 * - und dabei sagt, daß sie mehr ist, als sich erzählen läßt. Als Moment eines Ganzen, in dem dieses sich als Ganzes darstellt, M

Vgl. etwa J . G. Droysen: Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, hg. v. R. Hübner. Darmstadt i960, S. 221. Dazu J . Rüsen: Begriffene Geschichte. Genesis und Begründung der Geschichtstheorie J . G. Droysens, Paderborn 1969, S. 1 1 7 ff.



J ö r n Rüsen

ohne in dieser Darstellung aufzugehen, muß sie als partielle und negative Aussage der geschichtlichen Qualität menschlichen Lebens konzipiert werden, wenn geschichtstheoretisch an der wechselseitigen Transzendierung von materiellen und intentionalen Faktoren sozialer Realität festgehalten wird. Aus der Geschichtstheorie, die aus der Entästhetisierung von Geschichte im Interpretationsrahmen und in der methodischen Regelung der Literaturwissenschaft resultiert, läßt sich also ein ästhetisch-theoretischer Schluß ziehen, der die Kunst als unersetzbare Anzeige der geschichtlichen Qualität menschlichen Lebens thematisiert. Diese Ästhetik trägt der Entästhetisierung von Geschichte dadurch Rechnung, daß sie diese Anzeige als partielle und negative konzipiert. Kunst ist partiell, insofern sie die geschichtliche Leistung menschlicher Selbsthervorbringung durch Weltveränderung in den Grenzen dokumentiert, die die nicht-intentionalen Bedingungsfaktoren menschlichen Handelns und Leidens dem jeweils hervorgebrachten und kulturell objektivierten Selbst des Handelnden und Leidenden setzen; sie ist negativ, insofern sie - auf mögliches Handeln und noch nicht objektivierte Intentionalität bezogen — zugleich darauf verweist, daß diese Grenzen sich durch Handeln unbegrenzt verschieben lassen und immer verschoben werden. Mit dieser - hier nur äußerst unvollkommen und in hohem Maße präzisionsund modifikationsbedürftig entwickelten — Konzeption von Kunst als geschichtlichem Sachverhalt ist zugleich angegeben, in welcher Weise die dritte Hinsicht der philosophischen Ästhetik - die Notwendigkeit des begrifflichen Erkennens von Kunst um ihres Anspruches willen, die geschichtliche Qualität menschlichen Lebens darzustellen, - in den theoretischen Grundlagen sich selbst bestimmender Literaturwissenschaft ausgearbeitet werden kann. Denn aus der These, daß Literatur als partielle und negative Anzeige dieser Qualität gesehen werden muß, folgt, daß über sie hinausgegangen werden muß, wenn dem Sinn dieser Anzeige Rechnung getragen werden soll. Metatheoretisch ist literaturwissenschaftliche Erkenntnis als solches Hinausgehen über die Literatur als Kunst zu begreifen 37 . Der Erkenntnisprozeß der Literaturwissenschaft kann als Vollzug derselben geschichtlichen Bewegtheit begründet werden, auf die die geschilderte Entästhetisierung der Geschichte zielt. Daß die Literatur als Kunst einen zeitlich

37

D e r rezeptionsgeschichtliche A n s a t z von Literaturwissenschaft (vgl. H . R . J a u ß : L i t e raturgeschichte als Provokation. F r a n k f u r t 1 9 7 0 ) findet hier seine geschichtstheoretisdie Begründung. Denn dieser A n s a t z läßt die Intentionalität sozialen Handelns und Leidens in deren literarischen Objektivationen nicht zur Ruhe kommen; er legt im Kunstwerk einen Überschuß an Intentionalität frei, der sich in der späteren Rezeption des Kunstwerks unter veränderten gesellschaftlidien Bedingungen realisiert. D a m i t w i r d durch konkrete Interpretationsleistung die geschichtliche D y n a m i k des Kunstwerks zur Geltung gebracht, die durch Entästhetisierung der Geschichte in den Voraussetzungen literaturwissenschaftlicher Interpretation freigelegt w i r d . V g l . auch W . E m r i d i : Geist und Widergeist. Wahrheit und L ü g e der Literatur. Studien. F r a n k f u r t 1 9 6 $ , v o r allem die unter dem Titel »Absolute Wertung kontra Historismus« zusammengefaßten Arbeiten.

Ästhetik als Gesdiichtstheorie

39

erstreckten Vermittlungszusammenhang zwischen menschlicher Intentionalität und nicht-intentionalen Lebensbedingungen anzeigt, daß sie ihn als über die Darstellungsmöglichkeiten des Mediums sinnlicher Ansdiauung hinaus sich erstreikend anzeigt und daß diese transästhetische Dimension geschichtlichen Lebens einen möglichen intentionalen Zugriff menschlichen Handelns auf bislang nicht bewältigte materielle Bedingungsfaktoren gesellschaftlichen Lebens beinhaltet, - all dies kann in der theoretischen Selbstbegründung von Literaturwissenschaft als Aufklärung über die in Literatur als Kunst sich manifestierende geschichtliche Qualität menschlichen Handelns und Leidens in Form einer Geschichtstheorie dargelegt werden. Notwendig ist solche Darlegung, wenn die Literaturwissenschaft darauf insistiert, an ihren Erkenntnisgegenständen die Qualität geschichtlichen Lebens auszumachen, um die zu wissen gegenwärtiges gesellschaftliches Handeln vernünftiger macht, als wenn es um die in ihm sidi vollziehenden Vermittlungsleistungen nichts wüßte. Vernunft meint die Reflektiertheit intentionaler Bestimmungen sozialen Handelns in Form eines entwickelten Sinnzusammenhangs zwischen Mensch und Welt, der das vorgegebene Bedingungssystem sozialen Handelns transzendiert, um es hinsichtlich seiner nidit-intentionalen Faktoren einem intentionalen Zugriff zu öffnen. Literatur als Kunst ist vernünftig, indem sie solche sinnhafte Transzendierung vollzieht und darstellt. Sie als solche Transzendierung zu erkennen und dabei ihre materielle Bedingtheit in höherem Maße zu berücksichtigen, als sie es selbst vermochte, bestätigt und ergänzt zugleich die Vernunftleistung der Kunst in dem Medium, dessen sie nidit mächtig ist und dessen sie dodi bedarf, um als wahrheitsfähige intentionale Bestimmung gesellschaftlichen Lebens gelten zu können: im Medium begrifflichen Denkens. »Die Frage, ob die zeitgenössische Literaturwissenschaft ihren eigenen Gegenstand, die >Vernunft< des ästhetisch >freien< Spiels, begreift oder nicht, wird nicht nur das Kriterium sein f ü r ihr eigenes Gelingen oder Scheitern, sondern auch für eine menschenwürdige Formung der Gesellschaft, die nicht den Geist der Ökonomie und nicht die Ökonomie dem Geist opfern darf, wenn sie eine menschliche Gesellschaft werden will 38 .«

88

W . Emridi: Polemik. Streitschriften, Pressefehden und kritische Essays um Prinzipien, Methoden und Maßstäbe der Literaturkritik. Frankfurt 1968, S. 16

Ästhetische Reflexion 1 V o n HORST TURK, G ö t t i n g e n

»Wenn die neuzeitlidie Vernunft in ihrer Gestalt als Philosophie den Grundzug der Überanstrengung an den großen und allzu großen Fragen annahm, der von den Bestreitern ihrer Legitimität als Hybris ausgelegt werden sollte, dann lag dies nicht an so etwas wie der >Dämonie< ihrer Weltlichkeit und ihres spontanen Erkenntniswillens, sondern an der Überforderung durch die Fragen, die ihr hinterlassen worden waren. Der Schein der Illegitimität des neuen Anfangs entsteht dadurdi, daß die Fragen neuerdings als gestellt und aufgegeben angenommen werden, die das Mittelalter sich gestellt und vorgeblich beantwortet hatte, die aber nur und gerade deshalb aufgeworfen worden waren, weil man sich schon im Besitz der >Antworten< glaubte. Die Kontinuität der Geschidite über den Epochenbrudi hinweg liegt nicht im Bestand einer ideellen Substanz, sondern in der Hypothek der Probleme, in der übernommenen Funktion, auch und wieder zu wissen, was schon einmal gewußt worden war 2 .« Die Methodendiskussion der letzten Jahre hat die gesdiichtsphilosophisdien Fragestellungen problematisiert, die von der Literaturwissenschaft — der Literaturtheorie8 ebenso wie der Interpretation4 — vorausgesetzt wurden. Die »Möglichkeit der Begründung der Geschichte«5 ist kein Thema der Literaturwissenschaft mehr, wenn 1 i 3 4

s

Freiburger Antrittsvorlesung v o m j . 6. 1973 H . Blumenberg: D i e Legitimität der Neuzeit, F r a n k f u r t a. M . 1966, S. 3 j Th. W . A d o r n o : Ästhetische Theorie ( = Ges. Schriften 7), F r a n k f u r t a. M . 1970 E. Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur ( = Slg. D a l p 90). Bern u. München 6 i 9 7 i . A . Schöne: Säkularisation als sprachbildende K r a f t . Studien zur Dichtung deutscher Pfarrersöhne ( = Palaestra 226), G ö t tingen 21968. G . K a i s e r : Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland. Ein Beitrag zum Problem der Säkularisation (Wiss. Paperbacks Litw.), 2. ergänzte A u f l . F r a n k f u r t a. M . 1973. W . Emrich: D i e Symbolik v o n Faust II. Sinn und V o r f o r m e n , 2. durchgesehene A u f l . Bonn 1957, S. 427: »Noch eine weitere, seither kaum beachtete Möglichkeit der Begründung der Geschichte ergibt sich aus dem Gesagten: die analytisch-synthetische Erschließung der >TatTat< ist weder das Phänomen der Einzigartigkeit des Geschichtlichen noch das der spontanen >Ganzwerdung< des Seins im p r o d u k t i v geschichtsbildenden b z w . künstlerischen P r o z e ß z u begreifen. D e n n T a t ist zunächst durch die völlige Abwesenheit aller übergreifenden Rettungs- und Sinnbezüge definiert. T a t ist primär Wagnis eines auf sich selbst gestellten Seins. In der >Tat< w e r d e n die Grenzen des Daseins nochmals gesetzt, da sie

Ästhetische Reflexion

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der Sinn eines solchen Problems als »Überforderung« in Frage gestellt w i r d . Z w e i f e l l o s stellt

die Literatur überzogene Fragen. D i e Frage, ob sie »destru-

iert« fl oder gelöst w e r d e n müssen, ist eine Frage des analytischen oder dialektischen Literaturverständnisses, der theoretischen oder praktischen A u f f a s s u n g der Literatur. Sie ist eine Frage der handlungstheoretischen Bestimmung der ästhetischen Reflexion. Sie auszuarbeiten ist die Absicht des folgenden Beitrags. E r erörtert die handlungstheoretischen G r u n d l a g e n der P o e t i k in Hegels

Ästhetik

i m Vergleich z u r pragmatischen A u f f a s s u n g des Ästhetischen bei C h . S. Peirce. D i e Frage nach den handlungstheoretischen G r u n d l a g e n der Ästhetik

Hegels

f ü h r t auf ein P r o b l e m der marxistischen Hegelinterpretation 7 . Ist das H a n d e l n bei H e g e l mit M a r x als Arbeit

aufzufassen 8 oder, w i e H a b e r m a s nahelegt, im

durch keine realen oder religiösen Sicherungen bereits vorgegeben und bewältigt sein dürfen. Der Täter steht vor einem Anfang und einem Ende der Dinge. Der poetisdie Totalitätsentwurf Goethes ist also gar nicht zu denken ohne das unaufhörlich erneuerte Wagnis der Tat. Der schaffende, >tätige< Dichter steht vor der Welt, als sei weder vor noch nach ihm irgend etwas geschehen und »spricht das vorhandene ahnungsvoll aus, als wenn es entstünden« • Blumenberg, a.a.O., S. 43: »Nicht immer gehen die Fragen den Antworten voraus; es gibt die spontane, aus der Autorität nicht-rationaler Verkündigungen hervorgehende >Urzeugung< der großen, akut wirkenden Behauptungen vom Typus der eschatologischen Naherwartung, der Schöpfungslehre oder der Erbsündendoktrin, die beim Schwund ihrer Glaubwürdigkeit und Geltung, bei der Selbstzersetzung aus ihren inneren Schwierigkeiten nur die ebenso großen Fragen hinterlassen, auf die dann eine neue Antwort fällig wird, wenn und weil es nicht gelingt, die Frage selbst kritisch zu destruieren und am System der Welterklärung Amputationen vorzunehmen.« 7

Sie ist nicht identisch mit der Frage nach der Akkommodation oder Nichtakkommodation Hegels, die seit R. Haym: Hegel und seine Zeit. Vorlesungen über Entstehung und Entwicklung, Wesen und Werth der Hegel'sdien Philosophie, Berlin 1857, die historische Hegeldeutung bestimmt; zuletzt J. Ritter, Hegel und die französische Revolution, in: J. R.: Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankfurt a. M. 1969, S. 183-233 und M. Theunissen, Die Verwirklichung der Vernunft. Zur Theorie-Praxis-Diskussion im Anschluß an Hegel, in: Philos. Rundschau, Beih. 6 (1970). Das Akkommodationsproblem ist ein Teilproblem der Situations- und Wirkungsfrage, die im Mittelpunkt einer an Marx anknüpfenden systematischen Erörterung steht. Ebensowenig darf die Frage nach den handlungstheoretischen Grundlagen aber auch durch eine vorgängige Ausklammerung des Handelns, das die Philosophie in ihrem Erkennen ist, eingeschränkt werden. J. Derbolav: Hegels Theorie der Handlung, in: Hegel-Stud. 3 (1965), S. 209-223, S. 209. Die Wirkungsfrage — als Frage einer philosophischen Handlungsorientierung - stellt sich dann gar nicht erst.

8

K . Marx: ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: K . M. u. F. Engels: Werke, hg. v. Inst. f. Marxismus-Leninismus b. Z K d. SED, 39 Bde. u. Erg.-Bd. (T. 1 u. 2), Berlin 1919 fr. [zit.: MEW], Erg.-Bd. (1), 2 i973, S. 465-588, S. 574: »Hegel steht auf dem Standpunkt der modernen Nationalökonomen. Er erfaßt die Arbeit als das Wesen, als das sich bewährende Wesen des Menschen; er sieht nur die positive Seite der Arbeit, nicht ihre negative. Die Arbeit ist das Fürsichwerden des Menschen innerhalb der Entäußerung oder als entäußerter Mensch. Die Arbeit, welche Hegel allein kennt und anerkennt, ist die abstrakt geistige.« Die Konsequenzen eines dogmatischen Hegelverständnisses vom Standpunkt der Marxschen Interpretation aus zeigen sich am deut-

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Horst Turk

Unterschied zur »Synthesis durch Arbeit« als ein politisches Anerkennen•? Ist es, worauf die Interpretation von Kojeve deutet 10 , als dieses Anerkennen philosophisch zuerst und zuletzt ein Erkennen? Hegel versteht das Handeln wesentlich als Tat, die T a t aber als die Darstellung des negativen Wesens der Individualität: »Das wahre Seyn des Menschen ist [ . . . ] seine That; [ . . . ] die Individualität stellt sich [ . . . ] in der Handlung als das negative Wesen dar, welches

liebsten bei G. Lukdcs: Der junge Hegel. Über die Beziehungen von Dialektik und Ökonomie ( = Georg Lukdcs Werke 8), Neuwied/Berlin 3 i967, S. 398-521. Der politische Ansatz Hegels (S. 407 f.) wird zur »Illusion« des Liberalismus (S. 413 f.), die philosophische Lösung des Handlungsproblems zur »tragischen Teleologie« der bürgerlichen Gesellschaft (S. 497). An Lukdcs knüpft Metscher an. Th. W. H . Metscher: Hegel und die philosophische Grundlegung der Kunstsoziologie, in: Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaften 1. Grundlagen und Modellanalysen, Stuttgart 1971, S. 13-80, S. 58 f. Vgl. auch R.Wiehl: Über den Handlungsbegriff als Kategorie der Hegelsdien Ästhetik, in: Hegel-Stud. 6 (1971), S. 1 3 J - 1 7 0 . Zum Begriff der Arbeit bei Hegel vgl. I. Dubsky: Hegels Arbeitsbegriff und die idealistische Dialektik ( = Rospravy Ceskoslovenske Akademie R o c n i k 7 i , Sesit 14), Praha, Nakladatelstvi Ceskoslovenske Akademie 1 9 6 1 ; B. Lakebrink: Geist und Arbeit im Denken Hegels, in: Philos. Jb. 70 (1962/63), S. 98-108; Sok-Zin Lim: Der Begriff der Arbeit bei Hegel. Versuch einer Interpretation der Phänomenologie des Geistes< ( = Abhandl. z. Philos., Psychol. u. Pädag. 27), Bonn 21966. • J.Habermas: Erkenntnis und Interesse ( = stw 1), Frankfurt a. M. 1973, S. 36-37, S. 77: »Die Synthesis durch Arbeit stellt eine theoretisch-technische, die durch Kampf eine theoretisch-praktische Beziehung zwischen Subjekt und Objekt her. Dort bildet sich Produktionswissen, hier Reflexionswissen. Das einzige Modell, das sich für eine solche Synthesis anbietet, findet sich bei Hegel. Es handelt sich um die Dialektik der Sittlichkeit, die Hegel in den theologischen Jugendschriften, in politischen Schriften der Frankfurter Zeit und in der Jenenser Philosophie des Geistes entfaltet, ins System aber nicht aufgenommen hat.« Beide Auffassungen, die dogmatisch-materialistische und die hermeneutisch-sozialphilosophische, haben - vom Standpunkt der Hegeldeutung aus gesehen - den Nachteil, daß sie in ihrem Hegelverständnis etwas zugrundelegen, das Hegel bei der Ausarbeitung seines Systems gerade nicht zugrundegelegt hat. Vgl. auch Habermas: Arbeit und Interaktion. Bemerkungen zu Hegels Jenenser »Philosophie des GeistesIdeologie< ( = es 287), Frankfurt a. M. 6 1973, S. 9-47. 10 A. Kojeve: Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens. Kommentar zur Phänomenologie des Geistes, übers, v. I. Fetscher u. G. Lehmbruch, hg. v. I. Fetscher, Stuttgart 1958, S. 38: »Zwar gibt es keine menschliche Existenz ohne Bewußtsein der äußeren Welt. Aber wahrhaft menschliche Existenz, die eine philosophische Existenz werden kann, setzt auch noch Se/fe-Be wußtsein voraus. Und Se/i>5f-Bewußtsein setzt dieses Selbst voraus, dieses spezimenschliche Etwas, das der Mensch offenbart, das sich offenbart, wenn der Mensch: >ich.. .< sagt.« Kojeve geht in seiner Analyse des Anerkennungsproblems von dem Problem einer Anthropogenese des Selbstbewußtseins aus. Eine Anthropogenese des Selbstbewußtseins liegt nicht nur dem Descartschen Ich denke zugrunde, sondern auch dem Kampf um Anerkennung, von dem das soziale Verhältnis der Arbeit und der Rede nur ein Teil ist. Das Selbstbewußtsein »ist nur als ein Anerkanntes«. (Hegel: Phänomenologie des Geistes, in G.W.F.H.: Sämtliche Werke, Jubiläumsausg. in 20 Bdn., hg. v. H . Glöckner, Stuttgart/Bad Cannstatt 4 i 9 6 i -1968, Bd. 2, 1964, S. 148). Kojeve deutet aus diesem Faktum sowohl die Vermittlung durch Arbeit als auch die Offenbarung durch Rede. Zur Vermittlung durch

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nur ist, insofern es Seyn aufhebt 11 .« In den Äußerungen der Sprache und der Arbeit negiert die Tat das unmittelbare Dasein und Meinen der Individualität. Die Tat läßt das Innere ganz außer sich kommen und gibt es anderem preis. Durch sie setzt sich die Individualität in ein Sein für andere und für anderes. »Sprache und Arbeit sind Äußerungen, worin das Individuum nicht mehr an ihm selbst sidi behält und besitzt, sondern das Innere ganz außer sich kommen läßt, und dasselbe Anderem preisgiebt12.« Dies ist jedoch erst die eine Seite der Negativität der Tat. Durch ein Handeln der Gesinnung und ein Handeln des Gewissens schließt die Individualität sich mit der Wirklichkeit des Getanen wiederum zusammen, die dadurch ihr Tun wird. Das Handeln der Gesinnung ist — als Schuldanerkenntnis — ein Anerkennen der Wirklichkeit der Tat: »Das sittliche Bewußtseyn muß sein Entgegengesetztes um dieser Wirklichkeit willen, und um seines Thuns willen, als die seinige, es muß seine Schuld anerkennen 13 .« Das Aussprechen des Gewissens ist ein Anerkanntwerden der Tat durch die anderen: »Durch dieß Aussprechen wird das Selbst zum Geltenden und die Handlung zur ausführenden That 14 .« Dieses Anerkennen und Anerkanntsein führt jedoch die wesentliche Schwierigkeit überhaupt erst herauf. In der allgemeinen Anerkennung ist das Allgemeine nicht getan15. In der Anerkennung des Allgemeinen ist nicht das Allgemeine getan 16 . Die wahre Wirklichkeit des Allgemeinen wäre erst hervorgebracht, wenn dieses selbst sich in der absoluten Einzelheit erkennen und sie anerkennen würde. »Das Wort der Versöhnung ist der daseyende Geist, der das reine Wissen seiner selbst als allgemeinen Wesens in seinem Gegentheile, in dem reinen Wissen seiner als der absolut in sich seyen-

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Arbeit vgl. ebd., S. 42: »Um menschlich zu sein, muß der Mensch darauf ausgehen, sich nicht ein Ding zu unterwerfen, sondern eine andere Begierde (nach dem Dinge). Dem Menschen, der menschlich ein Ding begehrt, ist es nicht so sehr um das Ding zu tun, als vielmehr um die Anerkennung seines (wie es später heißt) Rechtes auf dieses Ding, um seine Anerkennung als Besitzer des Dinges. Und das letzten Endes, weil er die Anerkennung seiner Überlegenheit über den andern durch diesen andern erstrebt. Nur die Begierde nach einer solchen Anerkennung, nur das aus einer solchen Begierde sich ergebende Tun schafft, verwirklicht und offenbart ein menschliches, nicht-biologisches Selbst.« Phänomenologie, a.a.O., S. 2 j o Ebd., S. 242 Ebd., S. 361 Ebd., S. joz Ebd., S. 503: » [ . . . ] diese absolute Gewißheit, in welche sich die Substanz aufgelöst hat, ist die absolute Unwahrheit, die in sich zusammenfällt; es ist das absolute Selbsthewußtseyn, in dem das Bewußtseyn versinkt.« Ebd., S. 3 6 1 : »Dieß Anerkennen drückt den aufgehobenen Zwiespalt des sittlichen Zweckes und der Wirklichkeit, es drückt die Rückkehr zur sittlichen Gesinnung aus, die weiß, daß nichts gilt, als das Redite. Damit aber giebt das Handelnde seinen Charakter und die 'Wirklichkeit seines Selbst auf, und ist zu Grunde gegangen. Sein Seyn ist dieses, seinem sittlichen Gesetze als seiner Substanz anzugehören; in dem Anerkennen des Entgegengesetzten hat dieß aber aufgehört, ihm Substanz zu seyn; und statt seiner Wirklichkeit hat es die Unwirklidikeit, die Gesinnung, erreicht.«

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den Einzelnheit ansdiaut, - ein gegenseitiges Anerkennen, welches der absolute Geist ist17.« Dies wäre die Tat der Einzelheit oder der Individualität; denn indem sie ihre »Wirklichkeit wegwirft und sich zum aufgehobenen Diesen macht, stellt [sie, H. T.] sich dadurch in der That als Allgemeines dar«18. Widerspricht aber nicht dieser Tatbegriff des Handelns der »Wahrheit des selbstständigen Bewußtseyns«, nach der die »Bewegung des Anerkennens« mit der ersten Tathandlung des Ich, seiner Setzung als Selbstbewußtsein, zu deren sozialer Vermittlung auf die Bahn einer Selbstverwirklichung durch Arbeit und Rede geleitet wird?19

17

Ebd., S. 514. Vgl. Koj^ve, a.a.O., S. J8, der z w a r in seinem politischen Verständnis des Kampfes um Anerkennung das Moment einer notwendigen Vereinzelung beachtet, dadurch, d a ß er die Dialektik phänomenologisch a u f f a ß t , diese Vereinzelung aber auf dem Stand einer Vielzahl von einzelnen festhält: »Von A n f a n g an sucht der Mensch Anerkennung. E r begnügt sich nicht damit, sich selbst einen Wert beizumessen, sondern will, d a ß dieser einzelne Wert, dieser sein Wert, von allen, allgemein a n e r k a n n t werde. Anders ausgedrückt: Der Mensch k a n n nur w a h r h a f t >befriedigt< werden, die Geschichte k a n n nur zum Stillstand kommen in der und durch die Bildung einer Gesellschaft, eines Staates, in dem der ganz einzelne, persönliche, individuelle Wert eines jeden als solcher, in eben seiner Einzelheit, durch alle, durch die im Staat als solchem inkarnierte Allgemeinheit anerkannt wird, und in dem der allgemeine W e r t des Staates durch den Einzelnen als Einzelnen, durch alle Einzelnen a n e r k a n n t u n d verwirklicht wird.« Hegel schreitet zur »absolut in sich seyenden Einzelnheit« fort, deren T a t dieses Allgemeine ist. Der »Gegensatz der Einzelnheit gegen die andern Einzelnen« bringt nur den allgemeinen Gegensatz gegen das Allgemeine hervor, das somit abstrakt und ungetan bleibt: » . . . die Sprache, in der sidi alle gegenseitig als gewissenhaft handelnd anerkennen, diese allgemeine Gleichheit zerfällt in die U n gleichheit des einzelnen Fürsichseyns, jedes Bewußtseyn ist aus seiner Allgemeinheit eben so schlechthin in sich reflektiert; hierdurch tritt der Gegensatz der Einzelnheit gegen die andern Einzelnen und gegen das Allgemeine nothwendig ein« (Phänomenologie, a.a.O., S. 50$). Die »Pflicht« einer solchen Allgemeinheit des Vielen »liegt nur in den Worten« (ebd., S. JOJ).

18

Phänomenologie, a.a.O., S. j 13. Sie stellt sich dem philosophischen Erkennen als dieses Allgemeine dar. D a r i n und nidit in dem methodischen Unterschied zwischen beschreibender und dialogischer Rede ist es begründet, d a ß die philosophische Rede anerkennt, indem sie erkennt. Vgl. Kojeve, a.a.O., S. 127: »Von Sokrates-Platon bis zu Hegel w a r die Dialektik nur eine philosophische Methode ohne Gegenstück im W i r k lichen. Bei Hegel gibt es eine Realdialektik, aber die philosophischche Methode ist die einer einfachen, bloßen Beschreibung, die lediglich insofern Dialektik ist, als sie eine Dialektik der Wirklichkeit beschreibt.« Zum Darstellungsproblem der philosophischen Rede bei Hegel vgl. W . M a r x , Absolute Reflexion und Sprache, in: N a t u r und Geschichte. K. Löwith z. 70. Geburtstag, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1967, S. 237-256.

18

Ebd., S. 1J5 und 148. D e r Streit zwischen marxistischer und hermeneutisdier I n t e r pretation geht um den Sinn einer sozialen E r f a h r u n g an dieser Stelle. I n d e m das Selbstbewußtsein »nur als ein Anerkanntes« ist (ebd., S. 148), scheint es zu seiner Ermöglichung ein soziales Verhältnis vorauszusetzen: entweder im Sinn der H e r v o r gebrachtheit durch Arbeit (vgl. oben A n m . 8) oder aber im Sinn der Vermittlung durch Sprache (H.-G. G a d a m e r : Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 2. erw. Aufl., Tübingen 196$, S. 341 f.; H a b e r m a s ' Begriff einer Dialektik der Sittlichkeit (vgl. oben A n m . 9) folgt im wesentlichen der I n t e r pretation Gadamers).

Ästhetisdie Reflexion Im Werk,

4J

der dritten Manifestation der Einzelheit neben dem Anerkennen

und dem Anerkanntwerden der Tat, wäre die Möglichkeit eines vermittelnden Zusammenschlusses der Sache mit ihrem Urheber der Gebrauch 20 . Hegel denkt - im Unterschied zu M a r x - diesen Sdiluß nicht, sondern das aneignende, formierende und bildende Tun der Arbeit kehrt - wie das Handeln der Rede nadi der vollständigen Ausbildung der Einzelheit auf den Stand eines

Kampfes

um Anerkennung zurück: »Das Werk ist, d. h. es ist für andere Individualitäten, und für sie eine fremde Wirklichkeit, an deren Stelle sie die ihrige setzen müssen, um durch ihr Thun sich das Bewußtseyn ihrer Einheit mit der Wirklichkeit zu geben 21 .« »Das Große an der Hegelsdien >Phänomenologie< [ . . . ] ist [ . . . ] , daß Hegel die Selbsterzeugung des Mensdien als einen Prozeß faßt, [ . . . ] daß er [ . . . ] das Wesen der Arbeit

faßt und den gegenständlichen Mensdien,

wahren, weil wirklichen Mensdien, als Resultat seiner eignen Arbeit begreift 2 2 .« Dieser Deutung der Phänomenologie

durch M a r x widerspricht, daß Hegel nicht

die Individualität hervorgebradit durch gesellschaftliche Arbeit 2 ®, sondern die

24

21

22 23

Lukäcs: Der junge Hegel, a.a.O., S. 404, sieht hierin die Leistung des jungen Hegel und die Wahrheit, die ihn mit Marx verbindet. Eine direkte Anwendung dieses Ansatzes auf die paradigmatische Wiederherstellungsfunktion der Kunst versucht H . H . Holz, Herr und Knecht bei Leibniz und Hegel ( = Soziol. Essays), Neuwied/Berlin 1968, S. 59 f. Phänomenologie, a.a.O., S. 3 1 1 . Vgl. Kojeve, a.a.O., S. 166 u. ö.; M. Marcuse, Hegels Ontologie und die Grundlegung einer Theorie der Geschichtlichkeit, Frankfurt a. M. 1932, S. 320 f. - Auf das gleiche Ergebnis führen die Verhältnisse in der Rechtsphilosophie. Hegel ist kein Vertreter des Liberalismus, sondern er sieht die Instabilität eines durch Arbeit hervorgebrachten Systems der Bedürfnisse, das ein System der praktischen Bildung, des sich erzeugenden Bedürfnisses ist (Grundlinien der Philosophie des Rechts, a.a.O., Bd. 7, 1964, S. 270-328, S. 277). Um funktionsfähig zu sein, kann es sich nidit auf eine gleichsam natürliche Selbstregulierung verlassen (ebd., S. 271), die eine Regulierung durch wechselseitige Abhängigkeit (ebd., S. 273) nach dem Prinzip des Eigennutzes wäre (ebd., S. 263 u. ö.), sondern es muß über bestimmte Formen der gegenseitigen persönlichen Anerkennung politisch durch ein Handeln der Individualität garantiert werden (ebd., S. 223, 324 u. ö.). Das System der Bedürfnisse, der wechselseitigen Abhängigkeit und der Arbeit ist zwar die praktische Bedingung für die Möglichkeit einer Anerkennung der Individualität in ihrer Einzelheit ebd., S. 223). Für sich genommen, mündet die Selbsthervorbringung durch Arbeit jedoch in ein ökonomisches Paradox (ebd., S. 319), das sich - nach Hegel - nur auf dem Weg eines politischen und rechtlichen Anerkennungshandeln lösen läßt (ebd., S. 323 ff.). Die bürgerliche Gesellschaft bringt notwendig aus sich das Problem des Staates, der »Wirklichkeit« eines »substantiellen Willens« aller, der »absoluter unbewegter Selbstzweck« wäre, hervor (ebd., S. 329). M a r x : ökonomisch-philosophische Manuskripte, a.a.O., S. 574 Nach Marx ist die soziale Hervorbringung sich selbst betätigender »totalerfn]« Individuen Ziel der Gesdiichte: »Erst auf dieser Stufe fällt die Selbstbetätigung mit dem materiellen Leben zusammen, was der Entwicklung zu totalen Individuen und der Abstreifung aller Naturwüchsigkeit entspricht, und dann entspricht sich die Verwandlung der Arbeit in Selbstbetätigung und die Verwandlung des bisherigen bedingten Verkehrs in den Verkehr der Individuen als soldier.« (Die deutsche Ideologie, M E W , a.a.O., Bd. 3 , 1 9 6 9 , S. 9-543, S. 68)

Horst Turk

46

gesellschaftliche Arbeit vom Standpunkt des Hervorgebrachten aus, als T a t und Handlung der Individualität 24 , denkt. Der Individualismus dieser Auffassung hindert auch, im Sinn der Interpretation Habermas' von einem wechselseitigen Sich Erkennen

im Anderen

zu sprechen25. In der Phänomenologie

ist »die Be-

wegung der Individualität [ . . . ] die Realität des Allgemeinen« 26 . Heißt das aber nicht, daß Hegel die Gesellschaft überhaupt als ein Handeln begreift 27 ? E r 24

25

M 87

Dies schließt - streng genommen - die Aufhebung nicht nur der Arbeit oder des Herstellungshandelns, sondern der sozialen Situation überhaupt durch die Selbstbetätigung der Individualität ein. Eine Selbstbetätigung, die dies vermöchte, ist notwendig negativ: Bestätigung des negativen Wesens der Individualität. Zum Individualismus der Rechts- und Staatsauffassung Hegels vgl. Ritter, a.a.O., S. 209 u. ö. Anders J . Rollwage: Das Modalproblem und die historische Handlung. Ein Vergleich zwischen Aristoteles und Hegel ( = Epimeleia 14), München/Salzburg 1969, S. 186 ff. Habermas geht - wie Kojeve - von einem Dialogbegriff der Dialektik aus, nur daß er diesen - im Unterschied zur phänomenologischen Auffassung bei Kojeve - nicht einem Beschreibungsbegriff der philosophischen Rede entgegensetzt, sondern — im Rückgriff auf die Jenenser Philosophie des Geistes - als das Wesen der Hegelsdien Dialektik denkt. Kojeve, a.a.O., S. 126: »Hegel braucht keinen Gott, der ihm die Wahrheit >offenbartDas Erste< [>theFirstDasZweite< [>theSecondSachendessen Willen sein Eigentum durchdringt«, anerkannt zu sein. Dieses Insistieren auf der Anerkennung als Person kommt drastisch in der nachdrücklich persönlichen Rache Kohlhaasens am Landesherrn zum Ausdrude, mit der er, den v o m Kurfürsten glühend begehrten Zettel mit der Weissagung seiner Todesstunde v o r dessen Augen vernichtend, die Verletzung seines Selbstwertgefühls um den Preis seines Lebens wieder heilt.

13 »Die Tätigkeit, welches immer ihre individuelle Erscheinungsform, und das Produkt der Tätigkeit, welches immer seine besondere Beschaffenheit, ist der Tauschwert, d. h. ein Allgemeines, worin alle Individualität, Eigenheit negiert und ausgelöscht ist.* a.a.O., S. 7$ (Hervorh. v . Verf.) 14

Es zeigt sich, »daß die Wechselseitigkeit, wonach jedes zugleich Mittel und Zweck, und z w a r nur seinen Zweck erreicht, insofern es Mittel wird, und nur Mittel wird, insofern es sich als Selbstzweck setzt ( . . . ) daß diese Wechselseitigkeit ein notwendiges fact ist, vorausgesetzt als natürliche Bedingung des Austauschs, daß sie aber als solche jedem der beiden Subjekte des Austauschs gleichgültig ist, und ihm diese Wechselseitigkeit nur Interesse hat, soweit sie sein Interesse als des anderen ausschließend, ohne Beziehung darauf, befriedigt. Das heißt, das gemeinschaftliche Interesse, was als M o t i v des Gesamtakts erscheint, ist z w a r als fact v o n beiden Seiten anerkannt, aber als solches ist es nicht Motiv, sondern geht sozusagen nur hinter dem Rücken der in sich selbst reflektierten Sonderinteressen, dem Einzelinteresse im Gegensatz z u dem des andren v o r ( . . . ) Aus dem A k t des Austauschs selbst ist das Individuum, jedes derselben, in sich reflektiert als ausschließliches und herrschendes bestimmendes Subjekt desselben. D a m i t ist also die vollständige Freiheit des Individuums gesetzt: Freiwillige Transaktion; G e w a l t v o n keiner Seite; setzen seiner ( . . . ) nur als Mittel, um sich als Selbstzweck, als das Herrschende und Übergreifende zu setzen; endlich das selbstsüchtige Interesse, kein darüberstehendes verwirklichend; der

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Ulf Schramm

keit impliziert, daß egoistisch ihre Eigenzwecke verfolgende, einander gleichgültige Individuen aufeinandertreffen, so bedeutet das, daß die freigesetzten Individuen in einer sozialen Umwelt sich bewegen müssen, die sie nidit erfüllt, sondern einschränkt: die nicht ihr Glück bezweckt, sondern ihren Wünschen gleichgültig fremd, ja feindlich gegenübersteht. Um die fundamentale Widersprüchlichkeit der bürgerlichen Freiheitskonzeption zu begreifen, gilt es also den Zusammenhang zu entwickeln, nach dem in der durch Tausch konstituierten Gesellschaft notwendig Egoismus und Gleichgültigkeit die Wechselseitigkeit der Tauschenden bestimmen; das bedeutet zugleich den Grund dafür zu nennen, warum die Hoffnung des Liberalismus, es werde indirekt aus dem allgemeinen Verfolgen der eigensüchtigen Privatinteressen die harmonische Entwicklung aller, das allgemeine Interesse resultieren, scheitern muß. - Warum also muß die mit der notwendigen »Auflösung aller Produkte und Tätigkeiten in Tauschwerte« gesetzte >Versachlichung< mit der Freisetzung persönlich unabhängiger Individuen auch die Zerstörung ihrer Freiheit freisetzen? Es geschieht durch eine notwendige Konkurrenz zwischen den Individuen und in ihnen selbst. Die Grundbedingung für die Einlösung der Hoffnungen der freigesetzten Individuen, sie könnten sich nun selbst verwirklichen, sich allseitig entfalten, nach eigenem Willen und Wünschen, d. h. tendenziell nach dem Lustprinzip leben - und das setzt eine ihr persönliches Glück bezweckende, also von Humanität, Liebe, Harmonie geprägte Umgebung voraus - , die Grundbedingung dafür ist in dieser Gesellschaftsform: Geld zu haben. Um zu Geld zu kommen, muß der einzelne möglichst viel produzieren und möglichst viel verkaufen. Er stößt auf dem Markt auf das gleiche Interesse der anderen. Die Notwendigkeit, ihre allgemeinen Produkte in die konkreten Mittel ihres eigenen Lebens und Glücks zu verwandeln, treibt die Individuen in die Konkurrenz um das auf dem Markt vorhandene Kaufpotential - in eine Konkurrenz, die deshalb unerbittlich ist und durch moralische Anstrengungen nicht zu beheben, weil es um die konkreten Existenzmittel der einzelnen geht. Von dieser notwendigen Konkurrenz geht der Zwang aus, Waren anzubieten, die möglichst billig sind und möglichst genau den Käuferinteressen entsprechen. So treiben sich die Warenproduzenten in ihrer notwendigen Konkurrenz gegenseitig zu einer immer effektiveren, d. h. streng zweckrational, sachlich-objektiv, funktional organisierten Produktion, bzw. zu ebensolcher Beobachtung und Erweckung der Käuferinteressen. Diese Konkurrenz wiederholt sich in den Individuen selbst und erzeugt in ihnen eine Identitätsdiffusion hinsichtlich ihres Verhaltens zu sich selbst wie zu den andern. Den Mitmenschen gegenüber ist gemäß den Hoffnungen auf eine liebe- und nicht machtbestimmte Umwelt die altruistische Verwirklichung der andre ist auch als ebenso sein selbstsüchtiges Interesse verwirklichend anerkannt und gewußt, so daß beide wissen, daß das gemeinschaftliche Interesse eben nur in der Doppelseitigkeit, Vielseitigkeit, und Verselbständigung nach den versdiiednen Seiten, der Austausch des selbstsüchtigen Interesses ist.« a.a.O., S .IJJ f. (Hervorh. v. Verf.)

Skizze einer Literaturwissenschaft als Problemgesdbichte

67

Wechselseitigkeit im Sinn von Gleichheit und Brüderlichkeit subjektiv gewünscht und moralisch gefordert — erzwungen aber ist ihre egoistische Auslegung als Mittel der eigensüchtigen Bedürfnisbefriedigung. Sich selbst gegenüber muß jeder im Maß, in dem er Selbstverwirklichung als reale allseitige Entfaltung verfolgt, sich auf den Erwerb von Geld, auf Tauschwertproduktion einlassen; aber das heißt statt persönlicher Freiheit Unterwerfung unter die Zweckrationalität, statt allseitige Entfaltung die Verstümmelung zur einseitigen Funktion, statt der Anerkennung als Selbstzweck das Benutztwerden als austauschbares Mittel, statt der Selbstverwirklichung in einer von Liebe, Harmonie, Humanität bestimmten Umwelt die Selbstzerstörung in einer von Egoismus, Konflikten, Sachzwängen beherrschten. Für den einzelnen treten also zwei Welten auseinander; Liebe und Geld, Seele und Sache, Freizeit und Arbeit, privates Glück und Geschäft sind Merkmale ihrer Gegensätzlichkeit. Ihrem Widerspruch kann er sidi nicht entziehen; denn sie verhalten sich wie Mittel und Zweck zueinander. Aber gerade dieser Zusammenhang zerreißt das Individuum: um zu seinem Zweck zu gelangen, muß es sich von diesem entfernen. Genau so aber, wie in der Wechselseitigkeit notwendig der Egoismus dominieren muß, ebenso dominiert in diesem Verhältnis das Mittel über den Zweck - je aus demselben Grund: weil es um die konkreten Existenzmittel geht. Diese Organisationsform der gesellschaftlichen Naturbearbeitung, die vermittels der »Auflösung aller Produkte und Tätigkeiten in Tauschwerte« persönlich unabhängige Individuen freisetzt und sie auf dem Markt in notwendiger Konkurrenz eigensüchtig aufeinandertreffen läßt, bringt sie damit in sachliche Abhängigkeit: ihre wechselseitige Ergänzung geschieht planlos, als anarchisches, chaotisches Aufeinanderstoßen freigesetzter Einzelwillen 15 . Indem sich die Individuen ihrer Gesellschaftlichkeit, d. h. ihrer notwendigen allseitigen Abhängigkeit voneinander, nicht direkt zuwenden, sondern sie nur indirekt in Form der privaten Tauschwertproduktion verwirklichen, kann sie nicht geplant, nicht ihrem gemeinsamen Willen unterworfen werden — sondern sie vollzieht sidi hinter ihrem Rücken und wird, unbegriffen, ungestaltet, zum schicksalhaften Verhängnis, das - zuletzt in Gestalt der Bewegungen des Weltmarktes - das private Subjekt übergreift. So erfahren die Individuen ihr Handeln als ein notwendiges Unterordnen unter von ihnen unabhängig bestehende Abläufe, die sich ihnen als etwas Fremdes, als Zwänge einer objektiven Sache, als Auswirkungen der ungebrochenen Naturmacht darstellen - während doch dieses bewußtlose Übergriffensein vom Markt und dem ihn beherrschenden Kapital aus nichts anderem resultiert als aus der ganz bestimmten — zwar historisch notwendigen, aber im 15 »Der gesellschaftliche Charakter der Tätigkeit, wie die gesellschaftliche Form des Produkts, wie der Anteil des Individuums an der Produktion erscheint hier als den Individuen gegenüber Fremdes, Sachlidies; nicht als das Verhalten ihrer gegeneinander, sondern als ihr Unterordnen unter Verhältnisse, die unabhängig von ihnen bestehn. Der allgemeine Austausch der Tätigkeiten und Produkte, der Lebensbedingung für jedes einzelne Individuum geworden, ihr wechselseitiger Zusammenhang, erscheint ihnen selbst fremd, unabhängig, als eine Sache.« a.a.O., S. 7 j

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Ulf Schramm

Blick auf wahre Freiheit unzulänglichen - Organisationsform ihrer Gesellschaftlichkeit, ihrer gegenseitigen Ergänzung 1 ®. Die Organisationsform bringt real Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit hervor; aber deren Realität ist nicht vollkommen, sie ist nur die abstrakte von Ideen, die noch nicht Wirklichkeit w u r den, bzw.: die nur widersprüchlich sich verwirklichen - als ein bloßer V o r schein ihrer vollkommenen Realisierung auf jener dritten Entwicklungsstufe. So herrscht z w a r in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft persönliche Freiheit — aber sie ist auf sachliche Abhängigkeit gegründet 17 .

II. Die beschriebene Grundstruktur der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsform prägt die bürgerliche Literatur insgesamt und wird von ihr im einzelnen umkreist. Mit der Verallgemeinerung der Tauschbeziehung können private Individuen dann existieren, wenn sie Produkte herstellen, die gesellschaftlich benötigt werden, d. h. von andern gekauft, somit als Tausch-Gegenstände anerkannt werden. Wenn auch Künstler, Literaten als freie Privatproduzenten von ihren speziellen Produkten sollen leben können — wie es die allgemeine

Durchsetzung der

Tauschbeziehung impliziert —, dann muß ein gesellschaftliches Bedürfnis nach ihren Produkten bestehen. ls

17

»Die Individuen sind unter die gesellschaftliche Produktion subsumiert, die als ein Verhängnis außer ihnen existiert; aber die gesellschaftliche Produktion ist nicht unter die Individuen subsumiert, die sie als ihr gemeinsames Vermögen handhaben. Es kann also nichts abgeschmackter sein, als auf der Grundlage des Tauschwerts, des Geldes die Kontrolle der vereinigten Individuen über ihre Gesamtproduktion vorauszusetzen, ( . . . ) Der private Austausch aller Arbeitsprodukte, Vermögen und Tätigkeiten steht im Gegensatz sowohl zu der auf Uber- und Unterordnung (naturwüchsig und politisch) der Individuen untereinander begründeten Verteilung ( . . . ) wie zu dem freien Austausch von Individuen, die assoziiert sind auf der Grundlage der gemeinsamen Aneignung und Kontrolle der Produktionsmittel. (Letztere Assoziation ist nichts Willkürliches: sie setzt die Entwicklung materieller und geistiger Bedingungen voraus ( . . . ) Wie die Teilung der Arbeit Agglomeration, Kombination, Kooperation, den Gegensatz der Privatinteressen, Klasseninteressen, die Konkurrenz, Konzentration des Kapitals, Monopol, Aktiengesellschaften erzeugt - lauter gegensätzliche Formen der Einheit, die den Gegensatz selbst hervorruft - , so erzeugt der Privataustausch den Welthandel, die private Unabhängigkeit eine vollkommene Abhängigkeit vom sogenannten W e l t m a r k t . . . « a.a.O., S. 76 f. Es müßte nun entwickelt werden, inwiefern »schon in der einfachen Bestimmung des Tauschwerts und des Geldes der Gegensatz von Arbeitslohn und Kapital etc. latent enthalten ist« (a.a.O., S. 159) - so daß deutlich wird, »daß der Tauschwert oder näher das Geldsystem in der Tat das System der Gleichheit und Freiheit ist und daß, was ( . . . ) in der näheren Entwicklung des Systems störend entgegentritt, ihm immanente Störungen sind, eben die Verwirklichung der Gleichheit und Freiheit, die sich ausweisen als Ungleichheit und Unfreiheit. Es ist ein ebenso frommer wie dummer Wunsch, daß der Tauschwert sich nicht zum Kapital entwickle, oder die Tausch-

Skizze einer Literaturwissenschaft als Problemgeschidite

Es entsteht durdi die Freisetzung persönlich unabhängiger Individuen. Diese finden sidi in einer Problemlage, die der Pubertätssituation entspricht (in der der Herangewachsene sich aus der persönlichen Abhängigkeit von den Eltern löst und nun selbständig zu handeln hat): zuvor war ihr Verhalten von außen gesteuert - durch die staatliche und kirchliche >ordo< des Mittelalters - nun sind sie nach vielen Richtungen frei bewegliche Atome, die sich selbst aus ihrem Innern steuern müssen. Die notwendige Konstituierung des auto-nomen, sich selbst bestimmenden bürgerlichen Individuums hinsichtlich seiner individuellen und kollektiven Identität schafft somit ein Bedürfnis nach Lebensorientierung, nach Vergegenwärtigung und Deutung der neuen Situation. Künstler können privat existieren, weil sie eben dadurch, daß sie sich in ihren Werken mit ihren Hoffnungen und Problemen als freigesetzten Privatpersonen beschäftigen, die Hoffnungen und Probleme derjenigen bearbeiten, die als Käufer in Frage kommen, der freigesetzten bürgerlichen Individuen. So ergeben sich zwei allgemeine Merkmale bürgerlicher Kunst: sie ist individuell, subjektiv, innerlich, privat, ihr Prinzip ist die autonome Künstlerpersönlichkeit; und ihre Produkte sind gerade dadurch Waren, erhalten gerade dadurch Tauschwert, daß sie als Nicht-Waren gemeint sind18: in ihnen geht es um die persönliche Befindlichkeit der konkreten Individuen (während in der Tauschwertproduktion davon im Sinn der Versachlichung abstrahiert wird), und es geht um diese Befindlichkeit im Blick aufs Ganze - auf den Zweck der Tätigkeiten, den Sinn des Daseins, um die Bestimmung von wahrer erfüllter Freiheit und Glück also (während es in der Tauschwertproduktion immer nur um die Mittel für deren Realisierung geht). Zusammengenommen ergibt das das Konzept, daß es in der Produktion bürgerlicher Kunst exemplarisch um freie Selbstverwirklichung geht - indem der Künstler sich als autonome, unabhängige und konkrete Person im Werk objektiviert, d. h. durch die bestimmte Arrangierung seiner individuellen Vorstellungen, Empfindungen, Wünsche diese allererst definiert, sich dadurch ein Bild seiner Beziehung zur inneren und äußeren Realität macht (und dieses durch diese Formgebung zugleich sozial, kommunikabel macht); somit also ein Produkt herstellt, das nicht Mittel für weitere Zwecke ist, sondern Ausdruck eines sich selbst als Selbstzweck verwirklichenden Subjekts. Dieser Grundzug bürgerlicher Kunst, daß Künstler als private Produzenten von der Herstellung der Ware >Nicht-Ware< leben können, weil ein gesellschaftliches Bedürfnis nach solchen besteht, muß notwendig in dem Maß immer klarer wert produzierende Arbeit zur Lohnarbeit.« Von vornherein aussichtslos ist daher »der Utopismus, den notwendigen Unterschied zwischen der realen und idealen Gestalt der bürgerlichen Gesellschaft nicht zu begreifen, und daher das überflüssige Geschäft vornehmen zu wollen, den ideellen Ausdruck selbst wieder realisieren zu wollen, da er in der Tat nur das Lichtbild der Realität ist.« a.a.O., S. 160 18 Das ergibt den Doppelcharakter der bürgerlichen Kunst als >autonome< und >fait socialc ihre Freiheit und Eigengesetzlichkeit ist ebenso gesellschaftlich bedingt wie die des freien bürgerlichen Individuums. - Versuche, die Eigenart bürgerlicher Kunst allein durch ihren Warencharakter zu bestimmen, greifen prinzipiell zu kurz.



Ulf Sdiramm

hervortreten, in dem mit der Verwirklichung der bürgerlichen Gesellschaft ihre Widersprüchlichkeit zutage tritt. So steht in einer ersten Phase, in der es um die Durchsetzung der durch Tausch konstituierten Gesellschaftsform geht, im Vordergrund die Formulierung der Erwartungen, Hoffnungen, Verheißungen, die in der Herstellung von Freiheit und Gleichheit durch dieses Prinzip gelegen sind, und die moralisch-ideologische Legitimierung der entsprechenden politischen Forderungen; in einer zweiten Phase steigert die auf Grund der Widersprüchlichkeit eintretende Dissoziation zwischen Privat- und Arbeitswelt das Verlangen nach einer Sphäre, in der das alles aufbewahrt ist, um dessetwillen die Tauschwertproduktion samt ihrer zerstörerischen Implikationen eingegangen wird - Selbstverwirklichung, Glück: auf Grund dieses Verlangens kann derjenige, der von ihm nicht lassen will, dadurch den Gesetzen der Arbeitswelt entkommen, daß er Künstler wird - und er kann dies deshalb, weil ein Verlangen nach Produkten besteht, welche auf dieses Verlangen eingehen. So bildet bürgerliche Kunst im Festhalten an der Idee der Nicht-Ware die darin implizierten Merkmale immer reiner heraus; das bedeutet die zunehmende Trennung einer elitären Kunst von der nach dem Warengesichtspunkt produzierenden Bewußtseinsindustrie, bedeutet also auch die zunehmende, ebenso sehr zu recht selbst gesuchte wie passiv aufgedrängte Isolierung von der Arbeitswelt. So tritt auch immer sdiärfer die Ambivalenz bürgerlicher Kunst zutage - Rettung des Humanen als Vorgriff auf jene dritte Stufe der Emanzipationsgeschichte darzustellen, und zugleich den Blick auf die realen Bedingungen des Übergangs notwendig zu verstellen. Auf welche Probleme stößt nun diese Kunst in ihren einzelnen Versuchen, die Befindlichkeit der freigesetzten Individuen im Blick aufs Ganze zu bestimmen? Das erste deutsche bürgerliche Trauerspiel, Lessings »Miß Sara Sampson«, behandelt am Modell der Pubertäts-Situation die Problemlage des freigesetzten Individuums. Sara hat mit ihrem Geliebten Mellefont das Vaterhaus verlassen, dieser sich von seiner früheren Geliebten Marwood losgerissen; in der Zwischensituation, mit der das Stück einsetzt, und die durch das Auftreten des Vaters und der früheren Geliebten zur Konfliktsitation verschärft wird, geht es um das richtige Verhalten der beiden ins Freie aufgebrochenen Individuen zueinander und zur Umwelt. Zwei Verhaltensweisen, verkörpert in den zwei Frauen, die beide Mellefont an sich binden wollen - dies der eigentliche Konflikt des Dramas - sind scharf kontrastiert. Marwood repräsentiert schrankenlosen Egoismus; keinem, sei es Person oder Sache, wendet sie sich um seiner selbst willen zu: alles ist ihr nur Mittel, ihre Eigensucht zu befriedigen (den Geliebten, um den sie nicht wirbt, sondern in mörderischer Konkurrenz gegen Sara kämpft, will sie besitzen als Mittel ihrer Lust, ihrer Selbstbestätigung, ihrer sozialen Sicherheit). Das Zerstörerische dieses schrankenlosen Verfolgens des egoistischen Privatinteresses wird in der Vernichtung der Liebenden deutlich, sowie allgemeiner in der Entwirklichung der Realität, die durch Täuschung, List, Betrug >abstraktifiziertLaster< dort, >Tugend< hier gesetzt. Über Trug, Dolch, Gift, über die kalte selbstsüchtige Verstellung hinter starren Masken triumphieren Offenheit, Wärme, Zuwendung, Mitfühlen — im Hervorströmen der Tränen wird das gestisch manifest - , triumphieren Liebe, Versöhnung, Harmonie im Sdiluß-Tableau der restituierten und erweiterten Familie. Aber dieses Tableau hat einen schmutzigen Fleck, eine seltsam schattenhafte, unklare, verwischte Stelle, an der der Pinsel gleichsam in Verwirrung kam Anzeichen, wie beim neurotischen Komplex, für ein unbewältigtes Problem: es ist ein Webfehler im Stück, das dramaturgisch blinde Motiv von Mellefonts Zögern, sich durch Eheschließung in die Familienharmonie einzufügen 19 . Dieses Zögern artikuliert sich aufregend spontan und realistisch20, als Mellefont einen Brief an Saras Vater zu schreiben versucht: 19

D a s Stück über bleibt zweideutig, ob Mellefonts Begründung für den Aufschub der H e i r a t (sonst verfalle eine Erbschaft) real oder nur vorgeschützt ist; M a r w o o d jedenfalls bezeichnet diesen G r u n d als V o r w a n d , den er auch ihr gegenüber anwandte. In dieser Unklarheit dürfte zum einen der höchst ambivalente Zusammenhang sich ausdrücken, daß die Realisierung individueller Freiheit Besitz zur Voraussetzung hat - G e l d setzt frei und kettet eben dadurch ans ökonomische - , zum andern der Z u sammenhang von Freiheit und sozialer Bindung, der in der Folge bezeichnet w i r d .

20

D a ß hier reale Probleme der bürgerlichen Triebstruktur zum Ausdruck kommen, w i r d noch deutlicher, wenn man Mellefonts Schwanken mit einer früheren Äußerung M a r w o o d s in Verbindung sieht: »Ihr Mannspersonen müßt doch selbst nicht wissen, w a s ihr wollt. Bald sind es die schlüpfrigsten Reden, die buhlerhaftesten Scherze, die euch an uns gefallen, und bald entzücken w i r euch, wenn w i r nichts als Tugend reden und alle sieben Weisen auf unsrer Zunge zu haben scheinen. D a s Schlimmste aber ist, daß ihr das eine sowohl als das andere überdrüssig werdet.« (a.a.O. - s. f. A n m . - S. 30) In diesen beiden Verhaltenstendenzen klingen diejenigen an, die Freud in seinen zwei A u f s ä t z e n »Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens« (Studienausg. F r a n k f . : S. Fischer, 1 9 7 2 , B d . V ) als Sinnlichkeit und Zärtlichkeit beschrieben hat, wobei die erstere die Wechselseitigkeit der Liebesbeziehung mehr egoistisch akzentuiert - so daß das Liebesobjekt tendenziell Mittel f ü r egoistischen Genuß ist - , die zweite mehr im Sinn der >Sozialität< - so daß dem Liebesobjekt durch >psychisdie Hodischätzung< die Anerkennung als Person, als Selbstzweck entgegengebracht w i r d . Freud sieht das

7*

Ulf Sdiramm Was für ein Rätsel bin ich mir selbst! Wofür soll idi mich halten? für einen Toren? oder für einen Bösewicht? - oder für beides? ( . . . ) Ich liebe den Engel, so ein Teufel ich auch sein mag. - Ich lieb' ihn? Ja, gewiß, gewiß ( . . . ) Ich weiß, ich wollte tausend Leben für sie aufopfern ( . . . ) Und doch, doch - ich erschrecke, mir es selbst zu sagen - Und doch - Wie soll ich es begreifen? - Und doch fürchte idi midi vor dem Augenblicke, der sie auf ewig, vor dem Angesichte der Welt, zu der Meinigen machen wird ( . . . ) Die Verzögerung desselben hat mir schon sdimerzhafte Vorwürfe genug zugezogen. So schmerzhaft sie aber waren, so waren sie mir doch erträglicher, als der melancholische Gedanke, auf zeitlebens gefesselt zu sein ( . . . ) Freilich bin ich schon ihr Gefangener. - Was will ich also? - Das! Jetzt bin idi ein Gefangener, den man auf sein Wort frei herumgehen läßt: das schmeichelt! Warum kann es dabei nicht sein Bewenden haben? Warum muß ich eingesdimiedet werden, und audi sogar den elenden Schatten der Freiheit entbehren? - Eingeschmiedet? Nichts anders! - Sara Sampson, meine Geliebte! Wieviel Seligkeiten liegen in diesen Worten! Sara Sampson, meine Ehegattin! - Die Hälfte dieser Seligkeiten ist verschwunden! und die andere Hälfte — wird verschwinden. — Ich Ungeheuer! - Und bei diesen Gesinnungen soll ich an ihren Vater schreiben? - Dodi es sind keine Gesinnungen; es sind Einbildungen! Vermaledeite Einbildungen, die mir durch ein zügelloses Leben so natürlich geworden! Ich will ihrer loswerden, oder - nicht leben 21 .

D a s Stichwort dieser Überlegungen ist Freiheit. Korrigierend gegen jene überschießende Selbstzurücknahme macht sich hier der Anspruch auf S e l b s t v e r w i r k lichung geltend im Sinn eines nicht v o n abstrakten Regeln äußerlich festgelegten, sondern v o n innen her erfüllten, >autonomen< Lebens. S o begegnet in diesem M o n o l o g , in dem spontane Regungen zunächst noch unzensiert v o m Ü b e r ich, dem A n w a l t jener harmonischen Sozialität, sich z u W o r t melden, in E n g führung, als innerindividueller K o n f l i k t zwischen Ich-Anspruch und moralischen Überich-Forderungen, noch einmal der G r u n d k o n f l i k t des Stücks, der K a m p f zwischen Saras Selbstlosigkeit und M a r w o o d s Selbstbezogenheit - begegnet uns als der G r u n d k o n f l i k t , der mit der Freisetzung des bürgerlichen I n d i v i d u u m s gesetzt ist: als der K o n f l i k t zwischen Individualität und Sozialität, zwischen I n d i v i d u u m und Gesellschaft, zwischen individueller Freiheit und Gleichheit 2 2 . In Mellefonts M o n o l o g klingt k u r z in Gestalt der nur auf Liebe ohne äußeren Z w a n g gegründeten B i n d u n g die U t o p i e einer Versöhnung v o n I n d i v i d u a l i t ä t

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gleidigewiditige Zusammenwachsen beider Bestrebungen als Voraussetzung für die normale, nicht perverse Liebesfähigkeit, fügt aber die kulturkritische Bemerkung an, daß die soziale Forderung der »psychischen Hochschätzung« des Liebesobjekts die egoistische Lust einschränkt (wogegen dann z. B. der Sadismus mit dem Anspruch schrankenlosen Lustgewinns revoltiert). Die Spannung zwischen diesen Tendenzen ist - wie Freuds theoretische Bestimmung selbst - Produkt der bürgerlichen Problemkonstellation. Das könnte durch ein Verfolgen der weiteren Darstellung dieser Problematik bis zu ihrer vollen Entfaltung z. B. bei Schnitzler und Wedekind verdeutlicht und kritisdi reflektiert werden. Lessing: Gesammelte Werke, ed. P. Rilla, Berlin: Aufbau-Verlag 1954, Bd. II, S. 66 f. Dieser Grundkonflikt stellt sich in der politischen Ideengeschichte dar als die »großbürgerlich^ politische Philosophie eines Hobbes, Locke, Mandeville einerseits, welche in verschiedener Weise den Egoismus des Einzelnen zur Grundlage ihrer Staatstheorien machen, und die >kleinbürgerlidiewige< Treue zu Sara, tilgt er wie sie radikal alle Eigensucht in sich aus und komplettiert so gewaltsam die Familienharmonie 23 . In Mellefonts Monolog, der konzentriert den dramatischen Konflikt des ersten deutschen bürgerlichen Trauerspiels enthält, stellt sich zum einen präzise das

M

welche eine ursprungliche Solidarität des Naturmenschen gegen den Egoismus, der als Produkt der bürgerlichen Gesellschaft verstanden wird, wiederherstellen will. Dieser Gegensatz ist vorzüglich dargestellt von W. Euchner, Demokratietheoretische Aspekte der politischen Ideengeschichte, in: D. SenghaasIG. Kress, Politikwissenschaft, Frankfurt: Europ. Verlagsanstalt 1969, S. 49-$ 8 Wie Mellefont zwischen zwei Frauen, steht >Emilia Galotti< zwischen zwei Männern dem tugendhaften Grafen, der mit ihr die >ewige Bindung< und das private Familienglück auf einem Landsitz fern der Stadt anstrebt, und dem schillernden Prinzen, der, eine Art Vorwegnahme des späteren >play-boy< - mit Sinn für Kunst und natürliche Schönheit - auf Grund seiner sozialen Stellung nach subjektiver Willkür leben kann. Es entspricht dem Ausgang von Mellefonts Monolog, daß Emilia, als sie nach des Grafen Ermordung in der Hand des Prinzen ist, den finster asketischen Vater, Verkörperung des bürgerlidi-patriardialisdien Überich, mit der Begründung, sie sei verfügbar, darum bittet, ihr den Dolch ins Herz zu stoßen. Sie tilgt damit radikal jede egoistische Regung aus, nun ihr Leben zu erhalten oder gar dem glanzvolleren Mann zu folgen - bekräftigt vielmehr, indem sie dem ermordeten Gatten die >ewige Treue< hält, diejenige Auslegung der Wechselseitigkeit, nach der im Sinn von >Gleichheit< und >Sozialität< das Glück des andern Bedingung des eigenen sein soll. - Erkennt man in der nachdrücklich sozialpolitischen Akzentuierung des Stücks - Laster beim Feudalismus, Tugend beim Bürgertum - die vom Verfasser deutlich gemeinte >klassenkämpferische< Tendenz als die dominante des Stücks, so wird so recht deutlich, wie quer jene Äußerung Emilias über ihre Verführbarkeit zum >offiziellen< Duktus des Stücks steht. Innerhalb der schärferen Konturen bricht somit auch schärfer die Unmittelbarkeit eines komplexhaften unbewältigten Problems durch und verwirrt die klaren Klassenfronten: war noch Mellefonts Schwanken ein dramaturgisch blindes Motiv, so ist Emilia« Verführbarkeit dramaturgisch extrem belastet - geradezu der springende Punkt, der den feudalen oder bürgerlichen Charakter der Tragödie entscheidet (es würde der Märtyrer-Tragödie des barocken Trauerspiels entsprechen, wenn Emilia in der Rettung der Idee (Tugend, Reinheit) gegenüber der schlechten Realität nur die theokratisdi gesetzte >ordoWerk< und >Dokument< (Benjamin) aufhebt: denn sofern das Ästhetische Projektionsmedium ist, den Träumen verwandt (und somit freilich so verschlüsselt wie diese), machen die spezifisch ästhetischen Züge das Werk zum Dokument der tatsächlichen Bewußtseinsinhalte. (Der Charakter, Projektionsmedium zu sein, der bereits in der sinnlichen Konkretheit ästhetischer Produkte gesetzt ist, wird in der bürgerlichen Kunst durch deren Abrücken vom Waren-Charakter verschärft; Freuds Literaturtheorie hat im Festhalten der Komponente >Projektion< im ästhetischen Ausdruck überragende Bedeutung.) Gerade an den rauhen, sperrigen, problematischen Stellen macht sich solche Projektion verborgener Wünsche bemerkbar - wie in jener Äußerung über die Verführbarkeit das politische Klassenkampfschema durchbrochen wird, das wegen der angestrebten breiten Kommunikabilität notwendig verhärtetes und verflachtes Denken ist (eine nur sozialhistorisch vorgehende Betrachtungsweise versteht das Werk meist nur als unspezifisches >Dokument< dieses Denkens, und damit nicht als ästhetisches Werk). Ein prägnantes Beobachtungsfeld für dieses Spannungsverhältnis zwischen >offiziellem< politischen Denken und ästhetisch projizierten Vorstellungen ist z. B. Heine. 24

In ihm erscheint die gleiche Person einmal als egoistischer Teufelgutwilliger Tore man erkennt darin die zwei Auslegungsmöglichkeiten der im Tausch implizierten Wechselseitigkeit - wobei die notwendige Dominanz der Eigensucht denjenigen zum realitätsfernen Toren stempelt, der sich diesem Prinzip zu entziehen sucht. - Seine klassische Ausprägung hat dies Motiv in Goethes >Faust< - wo gesellschaftliche Macht nur um den Preis der >SeeleMarquise von 0.Engel , aber auch als >Teufel< erscheint, der die Ohnmächtige mißbraucht. Stärker entfaltet ist das Motiv im Kontrastpaar des >redlichen< und des >skrupellosen< Kaufmanns bzw. Bürgers - Anklänge davon im Freundespaar Wilhelm - Werner in >Wilhelm MeisterSoll und Haben< als Kontrast deutscher Ehrlichkeit und angeblich >jüdischer< Raffgier, entsprechend, nur verallgemeinert bezüglich des sozialen Aufstiegs überhaupt, in Raabes >HungerpastorZwischen Himmel und Erde< ist ein weiteres gutes Beispiel, besonders aber wieder Wedekind, wo der egoistische Genußmensdi< Keith - in Fortführung des >vermummten Herrn< aus >Frühlings Erwachen< - deutlich mit Teufelsattributen ausgestattet ist gegenüber seinem komplementären Pendant, dem extremen Moralisten Scholz.

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Diese Spannung ist besonders nachdrücklich z. B. in Schillers >Ästhetischen Schriften< als Erscheinungsform der Zerrissenheit des >modernen< Menschen reflektiert. Die Dissoziation ist Ausdruck des beschriebenen widersprüchlichen Zusammenhangs, daß die Freisetzung privater, egoistisch ihre Triebwünsche verfolgender Individuen durch die Versachlichung des Tauschs erfolgt. Die freigesetzten egoistischen Affekte, durch die Konkurrenz zum Aggressiven gesteigert, müssen gleichwohl im Sinn vernünftigen Verhaltens< diszipliniert werden - zum einen im Blick auf die versachlichte Tauschwertproduktion, zum andern im Blick auf Sozialität. - Als Anwalt der unter-

Skizze einer Literaturwissenschaft als Problemgesdiichte

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dalen Lebensform 26 ). Zum anderen stellt sich im Ausgang des Monologs wie des Stücks die Dominanz der Sozialität als der eine typische Problemlösungsansatz dar, den bürgerliche Literatur immer wieder propagiert: als moralische Mahnung zur Solidarität; zur Absage an machtorientierte Eigensucht; zur Herstellung einer brüderlich-harmonischen Liebesgemeinschaft. In Lessings Stück bezieht diese Tendenz vor allem aus der Darstellung der Zerstörungskraft von Ichsucht ihre Legitimation. Daß aber individuelle Selbstverwirklidiung als Bedingungsfaktor für wahre Freiheit nicht weniger festzuhalten ist, wird dort deutlich, w o der Problemlösungsansatz in der Dominanz dieses Moments der widersprüchlichen Freisetzung des Individuums besteht - in der zur >Aufklärung< komplementären Strömung, im >Sturm und Drang«. In Goethes > Werther« ist der Gedanke radikal entfaltet, der in Mellefonts Monolog am Beispiel der Ehe aufgestiegen war: daß als wahrhafte, gültige Wirklichkeit nur das gelten könne, dessen äußere Form von innerem Leben erfüllt sei. Als Werther dem Drängen der Verwandten folgend sein »psychosoziales Moratorium« 27 in der Wahlheim-Idylle zugunsten einer Berufswahl abbricht und sich ins »geschäftige Leben« misdit, erscheint ihm die Welt tot, künstlich »wie ein lackiertes Bildchen« 28 , als ein Raritätenkasten, in dem in sinnloser Bewegung Männchen und Gäulchen vor ihm herumrücken, er selbst als Marionette dazwischen hin- und herbewegt, mit Schaudern die starren Hände der Nachbarn streifend 29 . Was ist der Grund dieser Fremdheit, dieser Entfremdung? Wenn ich die Einschränkung ansehe, in welcher die tätigen und forschenden Kräfte desMensdien eingesperrt sind; wenn ich sehe, wie alle Wirksamkeit dahinaus läuft, sich die Befriedigung von Bedürfnissen zu verschaffen, die wieder keinen Zweck haben, als unsere arme Existenz zu verlängern (. ..) Ich kehre in mich selbst zurück und finde eine Welt 30 ! drückten Affektivität läßt bürgerliche Kunst die der Kunst auf Grund ihres konkretsinnlichen Charakters inhärierenden anti-rationalen Züge zunehmend als irrationalistische Tendenzen rein hervortreten. 26 Die Affinität des Bürgertums zur feudalen Lebenform als der erträumten Erfüllung der »persönlichen Unabhängigkeit« im Sinn eines freien, unbeschränkten Lebens nach dem Lustprinzip macht Caudwells großartige Shakespeare-Interpretation deutlich; er konstatiert: »Die Gestalt des Fürsten drückt die bürgerliche Illusion am klarsten a u s . . . « (Chr. Caudwell, Bürgerliche Illusion und Wirklichkeit, Reihe Hanser 76, S. 74). — Lothar Klawohn wird in einer Dissertation u. a. diesen Zusammenhang systematisch und interpretatorisch darstellen. 27 Diesen Begriff prägte E. H. Erikson (Identität und Lebenszyklus, Frankf. 1966) zur Kennzeichnung des Freiraums, der dem bürgerlichen Heranwachsenden für seinen Ablösungsprozeß vom Elternhaus vor der Festlegung auf Beruf und Familie (als verlängerte Ausbildungszeit) vergönnt ist. - Es hängt mit der spezifischen Problemkonstellation und dem aus ihr resultierenden Nicht-Waren-Charakter der bürgerlichen Kunst zusammen, daß sie eine hohe Affinität zur Beschäftigung mit der PubertätsSituation hat. 28 Die Leiden des jungen Werther, in Goethes Werke, Hamb. Ausg. Bd. V I , S. 85 *» a.a.O., S. 65 »0 a.a.O., S. 13

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Ulf Sdiramm

Die Rückkehr Werthers zu sidi selbst weist auf eine Verkehrung von Subjekt und Objekt in jener Welt der »geschäftigen Wirksamkeit«. In ihr ist das Individuum >eingesperrtWerther< letztlich der Gesichtspunkt der individuellen Selbstverwirklichung nicht weniger einseitig dominiert wie in >Sara< derjenige der Sozialität - (wobei beide von verschiedenen Ansätzen aus dasselbe anstreben; das Unversöhnte aber erscheint beidesmal in Form der Sentimentalität) - hat Goethe in der kühleren Atmosphäre des >Meister< die Akzente allein schon dadurch anders gesetzt, daß er die von Werther überschattete bürgerliche Position Alberts und des fingierten Herausgebers nun gleichgewichtiger der Hauptfigur Wilhelm gegenübergestellt hat in Gestalt des Kaufmanns Werner — vor allem aber durch die Handlungsführung, indem der künstlerisch dilettierende Theaterenthusiast Wilhelm sich von der Kunst als einer bloß illusionären Form der Freiheit abwendet und Ehe und Beruf - freilich beide eher erhofft als verwirklicht — eingeht. Die Hoffnung des Liberalismus, es werde der Markt die als blinde Naturkräfte aufeinandertreffenden privaten Einzelwillen zur harmonischen Ergänzung vermitteln, soll dadurch erfüllt werden, daß der einzelne durch sittliche Bildung in sich die Gesichtspunkte Individualität und Sozialität ins rechte Maß setzt; sich zu einer von innen gesteuerten Beschränkung bereit findet im Wissen darum, daß insgesamt die eingeschränkten Tätigkeiten sich ergänzen analog der Natur, die im Licht der Projektion dieser Hoffnungen als Garant der gesellschaftlichen Harmonie erscheint. Dieses Harmoniekonzept mußte in dem M a ß zerbrechen, in dem mit der realen Etablierung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft deren Widersprüche zutage traten. Im Versuch, die in der persönlichen Unabhängigkeit enthaltenen Verheißungen von individueller Freiheit und, als deren Bedingung, sozialer Harmonie festzuhalten, wird Kunst - nicht anders als Werther — in eine eigene autonome Welt, in die gesellschaftliche Isolation gedrängt - teils trotz, teils gerade wegen ihres nie erlöschenden Anspruchs auf gesellschaftliche Wirk-

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Die Bedeutung der gesellschaftlichen Organisationsform für den Ausgang von Werthers Konflikt kann z. B. durch Christa Wolfs Roman »Der geteilte Himmel« deutlich gemacht werden, wo zwei konkurrierende Ansprüche, die der Hauptfigur als konkreter Person begegnen, diese in eine Krise, aber auch zu ihrer Lösung führen: es konkurrieren - und dies ist der noch >geteilte< Himmel, das noch unvollkommene Paradies - einerseits die individuelle private Liebe, deren Scheitern, aus den gesellschaftlichen Bedingungen motiviert, die Hauptfigur in eine tiefe Krise stürzt (die sidi als >Betriebsunfall< eben auf ihre gesellschaftliche Tätigkeit auswirkt); und andererseits, dies das qualitativ Neue gegenüber z. B. >Werthermodernen Welt< wie Industrie, Großstadt, Masse, soziale Konflikte, Technik, Naturwissenschaft, Interessenverbände - Erscheinungen, die aus dem Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft notwendig hervorgehen, und zwar notwendig in bestimmter Weise: nämlich gesteuert vom abstrakt-sachlichen Verwertungszwang des Kapitals, nidit von den konkreten Bedürfnissen der Menschen (freilich notwendig sich indirekt auf diese beziehend und daher zugleich mit ihren zerstörerischen Auswirkungen auch den Schein ihrer Legitimität im Bewußtsein der Massen produzierend: dieses Zugleich von (dominanter) Zustimmung und Unzufriedenheit ist eine der notwendigen Erscheinungsformen der widersprüchlichen Grundstruktur). In jenem Spektrum der künstlerischen Reaktionsformen treten nun Einzelzüge sowohl der Problemkonstellation wie der möglichen Deutungen und Lösungsansätze hervor: was in den frühen Werken noch komplex verschränkt ist, wird durch die verschärften Problemlagen aufgefächert und nach außen getrieben. So interpretieren sich im Rahmen einer problemgeschichtlichen Fragestellung die frühen und späteren Werke wechselseitig; sie geben sich als zusammenhängende Entfaltung der möglichen Darstellungs- und Verarbeitungsversuche einer strukturell gleichen, ihrerseits geschichtlich sich entfaltenden Problemkonstellation zu erkennen. Das heißt nicht, daß in den Werken immer aufs neue ein gleiches Muster wiedererkannt wird; sondern daß sich das aufeinander Bezogene je reicher und klarer zu erkennen gibt als für sich betrachtet - indem in den frühen umfassenden Werken die noch verdeckten Einzelzüge sichtbar werden, und in den späteren der ganze ursprüngliche komplexe Zusammenhang wahrgenommen wird, der in ihrer Verdichtung mitgedacht und in sie hineingewirkt ist; so daß im Vergangenen das Gegenwärtige, und im Modernen das Klassische vor Augen kommt. Solche Spiegelung ist kein spielerischer Selbstzweck; vielmehr tritt in ihm erst alles heraus, was im bürgerlichen Bewußtsein als Reaktion auf die gesellschaftliche Problemkonstellation an Hoffnungen und Verarbeitungsversuchen enthalten ist; so daß durch den Bezug auf das zugrunde liegende Sachproblem die Objektivierung der eigenen und intersubjektiven Verständigung hinsichtlich des Berechtigten und Illusionären solcher handlungsleitender Realitätsdeutungen möglich wird 89 . 39

Damit bin ich in dieser Skizze leider nur an die Schwelle gelangt, an der die eigentliche Darstellung beginnen müßte. In teils demnächst abgeschlossenen, teils in Ausarbeitung begriffenen Arbeiten von Paul Peter Barth, Lothar Klawohn, Andrea Kuhn, Werner Leise, Joachim Rosenow, Susanne Schlossarek, Klaus Strohmeyer wird dies hier nur angedeutete Konzept sehr viel systematischer, komplexer und vor allem konkret plastisch anhand von Einzeluntersuchungen dargestellt werden. Den Genannten verdanke idi wesentliche Anregungen (teils auch aufgrund der unabhängigen Entwicklung ähnlicher Gedankengänge ebenso wesendiche Bestätigung). Wichtige

Skizze einer Literaturwissenschaft als Problemgeschichte

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III. Die methodischen und theoretischen Probleme, die mit dem skizzierten Konzept einer Literaturgeschichte als Problemgeschichte verbunden sind, können hier nicht erörtert werden. Aufzunehmen wäre vor allem die Frage, wie das Verhältnis von Struktur und Geschichte bestimmt sei. Mir scheint freilich bereits einer solchen Fragestellung ein Mißverständnis zugrunde zu liegen: es gibt nur Geschichte, mehr oder weniger analytisch gefaßt; man hat stets ein Gleiches vor sich, das sich auf verschiedenen Abstraktionsebenen darstellt. Die im vorgestellten Konzept implizierte These, daß literarische Phänomene erst im Rückgang auf die konstitutiven Prinzipien der jeweiligen Gesellschaftsformation in ihrer Eigenart und in ihrer Funktion im gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang zu verstehen sind, ist vor allem an konkreten Texten in Auseinandersetzung mit vorliegenden Interpretationen zu diskutieren. (Dabei wird ein wichtiger Gesichtspunkt eine sinnvolle, d. h. problemgeschichtlich orientierte Komparatistik sein: die herausarbeitet, daß in bestimmten Entwidclungsetappen der Durchsetzung einer Gesellschaftsformation notwendig bestimmte geistige Verarbeitungsformen produziert werden — so daß z. B. >Saras< und >Werthers< Empfindsamkeit nicht einfach nur den zurückgebliebenen ökonomischen Verhältnissen in Deutschland zugeschrieben wird, sondern umfassender begriffen wird als eine in der Gesellschaftsstruktur angelegte bestimmte Verarbeitungsform derselben, die unter bestimmten Bedingungen - z. B. in England und Frankreich in anderen Entwicklungsphasen ebenso; wobei sich realhistorische und ideelle Einflüsse überlagern - zur Erscheinung kommt.) Für entscheidend halte ich bei solcher Erörterung zwei Kriterien: wie weit die Werke nicht nur als Dokumente für bereits zuvor Gewußtes dienen, sondern in ihren spezifisch ästhetischen Zügen für Erkenntnis fruchtbar werden; und wie weit solche Erkenntnis aktuell relevant ist. Ich sehe die aktuelle Relevanz des skizzierten Ansatzes darin, daß er die emphatische subjektive Überzeugtheit verständlich macht, mit der in der aktuellen geistigen Situation sowohl für die Idee der bürgerlichen Demokratie wie die Forderung ihrer Überwindung eingetreten wird - auf dem Feld der Literaturwissenschaft: für die Entfaltung der dem autonom verstandenen Werk abgelesenen Vorstellungen als den eigentlichen Erscheinungsformen von Freiheit und ihrer materialistischen Ableitung als gesellschaftlich bedingt und befangen. In dieser Entgegensetzung treten die beiden Seiten des beschriebenen Grundwiderspruchs der bürgerlichen Gesellschaft einander gegenüber - das Festhalten, das Bewahren - bzw. Verwirklichen-Wollen der in der »persönlichen Unabhängigkeit real enthaltenen Verheißung von individueller Freiheit, und das Insistieren auf ihrer realen Unvollkommenheit als der Anspruch, die »sachliche Anregungen für dieses Konzept erfuhr idi weiter von Gisela Klann in ihrer Dissertationsprüfung und durch ein von Joachim Rosenow geleitetes Seminar, sowie die Dissertation von Gerhard Jancke.

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Ulf Schramm

Abhängigkeit*, auf die jene Freiheit gegründet ist, aufzuheben. So ist nadi außen getreten, was z. B. in Mellefonts Monolog sich noch als individuelle Identitätsdiffusion darstellte - als Spannung zwischen den freigesetzten egoistischen Affekten, die, da durch die Organisationsform der Gesellschaftlichkeit verschärft als eigensüchtige hervorgetrieben, gewaltsam wieder eingedämmt werden müssen als Vorgriff auf eine andere, individuelle Freiheit erst ermöglichende Form von Gesellschaftlichkeit - die jedoch ihrerseits in dieser Beziehung auf ihren Widerspruch ebenso verschärft, zur unvollkommenen Einseitigkeit hervorgetrieben wird 40 . Die Spannung, ja Gewalt, die in Mellefonts Monolog zum Ausdruck kam, hat sich gesellschaftlich objektiviert, und stürzt so den Jugendlichen — der exemplarisch für jedes wache Gesellschaftsmitglied steht - angesichts verschiedener Lebensstile und Gesellschaftskonzepte in eine schärfer konturierte Identitätsdiffusion (in der freilich das strukturelle Grundmuster wiedererscheint - als Gegensatz eines - tendenziell - egoistisch konsumorientierten, auf sozialen Aufstieg bedachten anpassungsbereitenVerhaltens einerseits, und eines gesellschaftlich-politisch engagierten, im Verfolgen einer langfristigen gesellschaftlichen Perspektive Erfüllung suchenden Verhaltens andererseits). Eine am Problem der gattungsgeschichtlichen Suche nach dem >Reich der Freiheit^ dem erfüllten Leben orientierte Literaturgeschichte hätte somit ihre aktuelle Relevanz zum einen darin, in jener individuellen und gesellschaftlichen Identitätsdiffusion Orientierung zu schaffen durch (nicht nur historische) Aufklärung ihrer strukturellen Genese; darüber hinaus aber darin, daß sie das dieser Diffusion zugrunde liegende verborgenen Gemeinsame zutage bringt - die gemeinsame Beziehung auf Freiheit, welche die subjektive Überzeugtheit, die Emphase und Opferbereitschaft begründet, mit der auf den beiden entgegengesetzten Seiten ein Moment der noch widersprüchlichen Struktur festgehalten wird. Eine in der hier skizzierten Art als Problemgeschichte verstandene Literaturgeschichte hätte somit ihren eigentlichen Sinn darin, durch Analyse die in der Entgegensetzung verborgene Solidarität freizusetzen, und damit an der Erarbeitung der >geistigen Bedingungen mitzuwirken, die - neben den materiellen — für die Herstellung der freien Assoziation freier Individuen Voraussetzung sind.

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Folgt man den dominanten Tendenzen der Literaturen der beiden deutschen Staaten, so entsteht der Eindruck, daß sie je an ihrer Gesellschaft eine solche Einseitigkeit empfinden und kritisieren - hier den Mangel an >GesellsdiaftIichkeitindividueller Freiheit anklagend.

Über das Vergehen Von

A N D R E W JASZI,

Berkeley

Die Welt, in der das Sein das Sein eines Seienden ist und in der alles, was ist, dem Satze der Identität entsprechend, es selbst oder etwas ist, habe ich an anderer Stelle1 als eine veretwaste oder verdinglichte gekennzeichnet. Weil die einzelnen Etwasse, die sie ausmachen, mitsamt ihren zeitlichen und räumlichen Zusammenhängen,Tatsachen der sogenannten Erfahrung sind, soll die Sphäre der Verdinglichung hier auch als eine solche der Tatsächlichkeit bezeichnet werden. In diesem Sinne ist es eine Tatsadie, daß der Satz, den ich soeben niedergeschrieben habe, auf den vorangehenden folgt oder daß er aus zweiunddreißig Worten besteht. Ähnlich ist es eine Tatsadie, daß wir die Lautfolge »vergehen« immer wieder im Munde führen, sei es, daß vom Vergehen der Zeit selbst oder von dem ihrer Inhalte die Rede ist. Weil es nun das menschliche Bewußtsein ist, in dem die Tatsachen zu vergehen scheinen, sofern sie uns nämlich nicht unmittelbar, sondern lediglich in der Erinnerung gegeben sind, darf ich diese Überlegungen, die den Grund zu einer Untersuchung des Bewußtseins legen möchten, mit der Frage beginnen, ob irgendein Vorgang »vergehen« zu den Tatsachen der Erfahrung gehöre. Sage ich etwas, wenn ich behaupte, daß die Zeit vergehe? Mit anderen Worten: Gibt es einen Vorgang »vergehen« in demselben rätselhaften zwar, aber unwiderlegbaren Sinne, in dem es die Lautfolge »vergehen« gibt? Weil sidi unsere Frage auf die Tatsächlichkeit selbst bezieht, sollte es nicht schwerfallen, von dem, was zu ihrer Beantwortung erforderlich ist, in derjenigen Sprache Rechenschaft abzulegen, die uns ebenfalls als ein Element der Tatsächlichkeit oder als etwas, was es gibt, zur Verfügung steht. Es geht zunächst lediglich darum, daß wir die Tatsächlichkeit in Augenschein nehmen und ihre Bestandteile einer Musterung unterziehen. Wie anders könnte es gelingen festzustellen, ob sidi unter diesen eine Tatsache »vergehen« befindet? Mag es aber noch so sehr das Vergehen sein, dem wir auf die Spur kommen möchten, so leuchtet doch unmittelbar ein, daß es nicht die Vergangenheit, son-

1

»Erkenntnis und Wirklichkeit. Grundlagenkritische Voruntersuchungen.« M a x N i e meyer Verlag, Tübingen 1 9 7 4 . Kenntnis dieses Buches wird nicht vorausgesetzt, obwohl dadurch das Verständnis der vorliegenden Untersuchung beträchtlich erleichtert würde. Denn es ist das Hauptanliegen des Buches, Grundbegriffe, die in der Untersuchung zwar benützt, aber nur aufs knappste erklärt werden können, möglichst genau und vollständig zu explizieren.

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Andrew Jaszi

dern die jeweilige Gegenwart ist, in der jede Bemühung, sich eines Vergehens zu vergewissern, anheben muß. Denn einerseits fragen wir nicht, ob Zeit vergangen sei, sondern ob sie vergehe, und anderseits ist alles Tun, das innere sowohl als das äußere, an die Gegenwart gebunden. Wann sollte ich über das Vergehen nachdenken, wenn nidit eben jetzt? Das wird auch dann der Fall sein, wenn ich mich, wie es bei einer möglichst vollständigen Untersuchung der Tatsächlichkeit geboten sein wird, frage, ob die Zeit vielleidit nidit in der Gegenwart selbst, sondern in der Vergangenheit oder als etwas sdion Vergangenes vergehe. Denn diese Vergangenheit gibt es für mich nur als eine vergegenwärtigte: wüßte idi doch nicht von ihr, wenn ich midi nidit an sie erinnerte. Der gestrige Abend ist mir zwar mitsamt seinen Inhalten, z. B. dem Besuch bei meinen Freunden, als etwas Vergangenes gegeben, aber es kann einzig die Gegenwart sein, in der er einen festen Bestand in meinem Bewußtsein hat. Wir können also die Frage nach dem Vergehen auch so formulieren: Vergeht Zeit, während wir uns an etwas erinnern? Diese Formulierung hat gegenüber einer solchen, in welcher der Akt des Erinnerns durch irgendein anderes Tun ersetzt würde (vergeht Zeit, während idi lese, spreche, spazierengehe?), mehrere Vorteile. Zunädist den, daß sie uns nidit nötigt, die Gegenwart selbst zu verstehen. Es würde sidi nämlich zeigen, daß in der Tatsächlichkeit die Frage nach der Gegenwart unbeantwortet bleibt. Kein Mensdi vermag in dieser Sphäre letzten Endes auszusagen, was »Gegenwart«, »gegenwärtiges Geschehen«, »eben jetzt« usw. heißt. Aber audi den Erinnerungsakt braudien wir glücklicherweise nicht ins Auge zu fassen, obzwar das Wort, das ihn bezeichnet, in unserer Frage vorkommt. Den Grund dafür, warum wir beiden schwierigen Problemen, dem der Gegenwart und dem der Erinnerung, aus dem Wege gehen können, haben wir darin zu sudien, daß uns unsere Frage, indem sie sich auf zwei Aspekte der Zeit, einen gegenwärtigen und einen vergangenen, bezieht, vor allem einen Abstand, eine Zeitspanne ins Bewußtsein ruft, durch den die jeweilige Gegenwart, was immer diese audi sein möge, von einem vergangenen Zeitpunkt oder Zeitraum getrennt ist, worin auch immer der geheimnisvolle Akt bestehen möge, in dem wir uns an diesen erinnern. Dieser Abstand, der midi als der bestimmte Zeitraum, der er ist, eben jetzt vom gestrigen Abend entfernt, gehört audi dann zu den Tatsadien meiner Erfahrung, wenn idi nidit weiß, ob die Zeit vergeht oder was das Wesen von Gegenwart und Erinnerung ausmacht. Und weil sich zeigen wird, daß auf Grund einer Untersuchung dieses Zeitraums, die Frage nadi dem Vergehen beantwortet werden kann, ist er es, dem wir unsere Aufmerksamkeit zunächst zuwenden. Niemand wird anstehen zu behaupten, daß der Zeitraum, der den gestrigen Abend von der Gegenwart scheidet, sein Vorhandensein dem Umstand verdanke, daß inzwischen Zeit vergangen sei. Aber einerseits wird sich herausstellen, daß wir zu dieser Behauptung nidit ohne weiteres berechtigt sind, und anderseits geht es uns, wie gesagt, nidit um die Frage, ob Zeit vergangen sei,

Über das Vergehen

sondern ob sie vergehe. Wir verzichten also vorderhand besser darauf, nach dem Zustandekommen des besagten Abstandes zu fragen und begnügen uns mit der Feststellung, daß ein solcher tatsächlich vorliegt. Zu den Tatsachen, die uns angehen, gehört auch die, daß dieser Abstand, als idi heute früh aufwachte, kleiner war, als er es jetzt, einige Stunden später, ist. Daraus sind wir freilich mit Bezug auf unsere Fragestellung nicht zu folgern berechtigt, daß er sich vergrößert habe oder größer geworden sei. Dagegen hat das Wort »einige Stunden später«, das soeben gefallen ist, offenbar mit jener Eigenschaft von Zeit zu tun, auf die ich mich beziehen wollte, als ich am Ende des vorigen Absatzes den Abstand einen bestimmten nannte. Was es mit der Bestimmtheit oder Bestimmung von Zeit auf sich hat, wird sich freilich erst weiter unten zeigen. Wenn ich, die Reihe der Tatsachen, als die mir die Vergangenheit gegeben ist, in rückläufiger Bewegung aufsuchend, beim gestrigen Abend nicht haltmache, sondern midi tiefer in das versenke, von dem es heißt, daß es war, dann wird mir klar, daß die Zeitspanne zwischen mir und dem, woran ich mich erinnere, zuletzt mein Leben ist. Niemand wird es mir, wie ich beiläufig bemerken darf, verübeln, wenn es mir heute früh scheinen möchte, daß der größte Teil meines Lebens schon vergangen sei. Dennoch ist zu Reflexionen dieser Art kein Anlaß. Denn die Frage lautet immer noch nicht, ob die Zeit, und zusammen mit dieser mein Leben, vergangen sei, sondern ob sie vergehe. Wie beantworte ich also diese Frage im Hinblick auf jenen Ausschnitt aus meinem Leben, der mich eben jetzt vom gestrigen Abend oder irgendeinem anderen Zeitraum trennt, an den idi mich erinnere? Ich beantworte sie, indem ich mir zunächst das Vergangene - es wird sich herausstellen, daß das Vergangensein des Vergangenen durch die Antwort auf die Frage nach dem Vergehen, sie möge wie immer lauten, nicht angetastet wird — ins Gedächtnis zurückrufe und meine Aufmerksamkeit ausschließlich auf diesen Gegenstand meiner Erinnerung richte. So erinnere ich mich etwa, was den erwähnten Besuch angeht, daran, wie ich das Wohnzimmer meiner Gastgeber betrat und mir diese mit freundlichem Gruß entgegenkamen, um mir dann von einer Reise zu erzählen, von der sie kürzlich zurückgekehrt waren. Indem ich nun auf den zeitlichen Abstand vom gestrigen Besuch achte, wird mir vor allem auffallen, daß dieser im Hinblick auf den Anfang des Besuches größer ist als mit Bezug auf irgendeine seiner späteren Phasen. Ein Grund, sich darüber zu wundern, liegt nicht vor. Ist es doch der Inhalt der Zeit, nämlich dasjenige, was sich als ein Nacheinander von Phasen in ihr befindet, wodurch wir überhaupt erst die Fähigkeit gewinnen, die Zeit als etwas Ausgedehntes zu erfassen. Eine Nacht, die ich traumlos durchschlafen habe, hat für mich keine Erstreckung. Können wir aber aus der Beobachtung, daß die Entfernung vom Vergangenen dem Grade des Vergangenseins entsprechend größer zu werden scheint, folgern, daß es ein Vergehen gibt? Das ist darum nicht der Fall, weil das Vergangene, es mag sein, was es will, dort bleibt, wo es immer schon war. Der 8. Juni 1974 untersteht, nicht anders als seine Inhalte, dem Satz der Identi-

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Andrew Jaszi

t ä t in dem Sinne, d a ß er, um überhaupt zu sein, er selbst sein muß. N u n w ä r e aber in bezug auf die Zeit und deren Inhalte, im Gegensatz zu den Inhalten des Raumes, eine Positionsänderung eine Änderung im Sein: der 8. Juni hätte aufgehört er selbst zu sein, wenn er der 7. oder der 9. würde. D e r gestrige Besuch ist also nidit vergangen, vielmehr befindet er sich mitsamt dem Zeitraum, den er einnimmt, genau dort, w o er war, seitdem er ist. D e r genaue Sinn dieser Behauptung w i r d sich uns erst später erschließen. Vorläufig genügt es, wenn w i r zugeben, daß das Vergangene, in der Form, in der es uns gegeben ist, nämlich als ein Vergegenwärtigtes, nicht vergeht, wenn anders w i r unter »vergehen« einen dem Positionswechsel im R a u m analogen Positionswechsel in der Zeit verstehen. Wenigstens mit Bezug auf das Nacheinander, in dem es seine bestimmte Stelle hat, wechselt es seine Position nicht: es steht ihm nidit frei, aus der Reihe des Vergangenen zu treten und sich anders einzugliedern. Vielleicht versinkt aber die einzelne Phase, der gestrige A b e n d zusammen mit allen anderen Inhalten der Zeit, so w i e sie aufeinander folgen, in jener Tiefe, die man der Zeit zuschreibt, wenn man in metaphorischer Rede v o m bodenlosen Schacht der V e r gangenheit spricht. In diesem Falle brauchte der gestrige A b e n d seine Position im Hinblick auf andere zeitliche Ereignisse niemals zu wechseln, weil der Positionswechsel die Zeit, sofern diese ein Nacheinander ihrer Inhalte ist, nicht beträfe. Dagegen müßten w i r dann, während w i r uns an den gestrigen A b e n d erinnern, gewahr werden, d a ß er immer weiter von uns und unserer jeweiligen G e g e n w a r t abrückt und dadurch eine stetige Vergrößerung des Zwischenraums, der uns v o n ihm trennt, verursacht. N u n ist aber erstaunlicherweise gerade das nicht der Fall. Dagegen ist die Entfernung jedesmal eine größere, wenn wir, nachdem w i r das Experiment unterbrochen haben, uns das vergangene Ereignis wiederum ins Gedächtnis zurückrufen. Weil sich also einerseits gezeigt hat, daß das Vergangene nicht vergeht — seine zeitliche Stelle ist im Gegenteil ein f ü r alle Male fixiert oder festgelegt - und w e i l anderseits unsere Distanz v o m Vergangenen jedesmal eine größere ist, wenn w i r sie v o n neuem ins A u g e fassen, sind wir, so möchte es scheinen, z u folgern berechtigt, d a ß das Vergehen kein Attribut des Vergangenen, sondern eine Eigenschaft der jeweiligen Gegenwart sei. W i r wiederholen also unseren Versuch und lenken unsere Aufmerksamkeit abermals auf den Zeitraum z w i schen uns und dem vergangenen Ereignis. Anstatt jedoch zu fragen, ob das V e r gangene vergehe, nämlich in der Vergangenheit gleichsam versinke und dadurch eine Abstandsvergrößerung verursache, möchten w i r diesmal feststellen, ob Zeit w ä h r e n d des Erinnerungsaktes selbst, der doch unmittelbar an die G e g e n w a r t gebunden ist, vergeht. Vergeht also Zeit, während ich mich an etwas erinnere? — wenn ich nämlich diese Frage so verstehe, daß sie den Nachdruck auf den Erinnerungsakt und nicht auf dessen Gegenstand legt. Sollte das zutreffen, müßte es mir, wie niemand leugnen wird, wiederum gelingen, während des Experimentes selbst eine Vergrößerung des Abstandes z u beobachten, besonders, wenn ich imstande bin, mich auf das Erinnerte längere Zeit ohne Unterbrechung z u

Über das Vergehen

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konzentrieren. Jedermann kann sich selbst davon überzeugen, daß dies audi diesmal nicht der Fall ist. Es ist also eine Tatsache - mag sie noch so merkwürdig sein daß die Entfernung zwischen uns und dem, woran wir uns erinnern, genau dieselbe bleibt, wie lange immer wir es auch im Gedächtnis behalten. Entlassen wir es aber aus dem Gedäditnis und gehen anderen Gesdiäften nach, um uns ihm später wieder zuzuwenden, werden wir, wie schon erwähnt, zugeben müssen, daß der Abstand jetzt ein größerer ist, als er während des Vollzugs unseres Experimentes war. Dabei werden wir feststellen, daß zu dem Zeitraum, durch dessen Hinzutreten er »größer geworden ist« - oder doch jetzt ein größerer ist - , auch die Zeitspanne gehört, die dem Experiment gewidmet war, nämlidi demjenigen Experiment, während dessen Durchführung die Zeit anscheinend stillstand. Die Zeit, von der wir nicht berechtigt sind zu sagen, daß sie vergehe, stellt sidi uns also eben jetzt mitsamt ihrem Inhalt, dem Erinnerungsakt, zu dem auch der Gegenstand dieses Aktes, der gestrige Abend, gehört, als vergangene Zeitspanne dar. Sollte es möglich sein, daß die Zeit, sei es als gegenwärtige oder als vergangene, nur dann vergeht, wenn wir sie nicht beobachten? Es liegt auf der Hand, daß wir diese Frage auf dem Boden der Tatsächlichkeit selbst nicht beantworten werden. Denn wodurch würden wir befähigt auszusagen, was die Zeit tut, wenn wir sie nicht beobachten, wenn wir mit anderen Worten nicht von ihr wissen oder uns ihrer nicht bewußt sind? Nur, wenn wir das Sein der Tatsachen, also das Sein des Seienden, das auch das Sein von Zeit ist, in Frage stellten, nämlich nach seinem Sinn befragten, würde es vielleicht glücken zu verstehen, warum die Zeit so ist, wie sie eben ist: warum sie vergangen ist, anstatt zu vergehen. Weil wir jedoch die Frage nach dem Sein nicht stellen können, ohne den festen Boden des Seienden zu verlassen, auf dem auch wir sind, nämlich so, wie wir eben sind: unwissend zwar, aber immerhin einigermaßen geborgen, wollen wir uns nicht auf gefährliche Abenteuer einlassen, ehe wir mit Bestimmtheit behaupten können, daß wir auf unserer Suche nach dem Vergehen die Tatsachen, wie eingangs versprochen, nadi Möglichkeit durchforscht haben. Daß wir dies nicht können, wird deutlich, wenn wir jenen Vorgang bedenken, von dem gerade die Rede war, als es hieß, der Zeitraum, der uns vom gestrigen Abend scheidet, scheine durch das Hinzutreten oder Hinzukommen auch derjenigen Zeitspanne größer geworden zu sein, die zu unserem Experiment nötig war. Der Umstand, daß der Zwischenraum zwischen der Gegenwart und dem Vergangenen, wie gesagt, jedesmal ein größerer ist, wenn wir ihn von neuem ins Auge fassen, hat uns, wie ebenfalls erinnerlich, genötigt, von einer Vergrößerung des Zeitraumes zu sprechen, obwohl es auf keine Weise gelingen wollte, einen Vorgang »Vergrößerung« aufzufinden. Wenigstens wollte das nicht gelingen, solange wir stillschweigend voraussetzten, daß es einzig das Vergehen der Zeit sein könne, wodurch der Abstand größer werde. Nun aber scheint das Wort »hinzukommen« eine neue Perspektive auf das Problem, mit dem wir uns beschäftigten, zu eröffnen. Wäre es möglich, die Tatsache

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der immer größeren Zeitspanne in bezug nicht auf das Vergehen, sondern auf das Hinzukommen von Zeit zu verstehen? Kommt Zeit hinzu - so wollen wir also die eingangs gestellte Frage neu fassen während wir uns an etwas erinnern? Es versteht sich von selbst, daß dies nicht der Fall ist. Denn die Ersetzung eines Wortes durdi ein anderes vermag offenbar an der Tatsache nichts zu ändern, daß unser Abstand vom vergangenen Abend und dessen Inhalten genau derselbe bleibt, solange wir uns an ihn erinnern. Was vom Vergehen zu gelten scheint: daß es nämlidi dieses nur als etwas Vergangenes gibt, trifft auch für das Hinzukommen zu: mögen wir uns noch so sehr bemühen, es aufzufinden, es liegt einzig als etwas Hinzugekommenens vor. Wobei das Hinzukommen mit dem Vergehen auch noch darin übereinstimmt, daß es als etwas Hinzugekommenes in der Vergangenheit ist. Es hieß oben immer wieder, daß die Frage, um deren Beantwortung es hier geht, nicht lautet, ob etwas vergangen sei, sondern ob es vergehe. Nach dem Vergangensein als solchem zu fragen, wäre nur dann der Mühe wert, wenn sich mit Bestimmtheit herausgestellt hätte, daß es in der Tatsächlichkeit ein Vergehen nicht gibt. Andernfalls könnte ja die Aussage, daß der gestrige Abend vergangen sei, in keiner Hinsicht problematisch scheinen. Nun muß ich aber zugeben, daß ich zu der Behauptung, ich hätte die Tatsächlichkeit nach dem Vergehen so gründlich wie möglich durchforscht, nur in dem sehr relativen Sinne berechtigt bin, der in der Versicherung liegt, ich hätte getan, was mir in einer knapp bemessenen Untersuchung möglich war. So würde ich, stände mir mehr Raum zur Verfügung, die Frage nach der Gegenwart selbst ausdrücklich stellen, anstatt ausschließlich auf die Zeit zu achten, durch welche diese der Vergangenheit entrückt ist. Dadurch würde allerdings das Resultat unserer bisherigen Nachforschungen nur bestätigt: es gibt kein gegenwärtiges Vergehen. Wie aber das Wort »hinzukommen«, das oben gefallen ist, andeutet: auch dem Problem der Zukunft dürften wir nicht aus dem Wege gehen, wenn wir uns über unser Thema breiter auslassen könnten. Schon darum nicht, weil wir, wenn wir die Gegenwart in Erwartung eines kommenden Ereignisses zubrächten, anstatt sie der Erinnerung an etwas Vergangenes zu widmen, ohne Zweifel einer Verkleinerung der Zeitspanne zwischen uns und der Zukunft inne würden. Ist das Vergehen, so müßten wir fragen, ein Attribut derjenigen Zeit, die uns von der Zukunft trennt? Allerdings wäre uns die Zeit, um die sich unsere Distanz vom kommenden Ereignis zu vermindern scheint, wiederum nur in der Vergangenheit als etwas Vergangenes oder Hinzugekommenes gegeben. Sind wir außerdem noch gewillt, vorderhand anzunehmen, daß es einzig der vergangene oder hinzugekommene Zeitraum ist, der den Namen einer bestimmten Zeit verdient, und daß es die bestimmte Zeit zu sein scheint, die uns in der Tatsächlichkeit vor allem angeht - obwohl, wie erwähnt, unsere Vorstellung von dem, was wir unter der Bestimmung von Zeit zu verstehen haben, höchstens eine sehr vage ist - , so sind wir vielleicht trotz allem an einer Stelle angelangt, wo die Frage nicht mehr lauten sollte, ob es ein gegenwärtiges Vergehen gibt, sondern was

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die Behauptung, daß Zeit vergangen sei, meine. Was sage ich, wenn ich vom gestrigen Abend und seinen Inhalten behaupte, daß sie vergangen seien? Was ist das Vergangensein? Ich weiß es nicht. Denn solange für midi »vergehen« eine Folge von Lauten ohne Sinn ist, bleibt audi der Satz, daß etwas vergangen sei, sinnlos. Das ist auch dann der Fall, wenn es anderseits in der Tatsächlichkeit nichts Selbstverständlicheres gibt als gerade das Vergangensein. Wird doch niemand leugnen, daß die sogenannten Inhalte des Bewußtseins, sofern sie nur Inhalte des Bewußtseins sind - nämlich etwas, woran wir uns erinnern, im Unterschied zu diesem Etwas selbst - , überhaupt nur so sind, daß sie vergangen sind. Woher kommt es, daß im Hinblick auf die Zeit das tatsächliche Sein ein Vergangensein zu sein scheint? Vielleicht kommen wir weiter, wenn wir die Problematik, die sich im Vergangensein ausdrückt oder verbirgt und schuld daran ist, daß die Frage nach ihm auf dem Boden der Tatsächlichkeit selbst unbeantwortet bleibt, ins Auge fassen und zu kennzeichnen suchen. Diese Problematik können wir, wie sich gezeigt hat, folgendermaßen auf den Begriif bringen: Einerseits heißt es in der Tatsächlichkeit immer wieder, daß etwas vergangen sei, anderseits scheint es eine Tatsache »vergehen« nicht zu geben. Nun lösen wir zwar Probleme in der Regel nicht dadurch, daß wir sie klassifizieren oder benennen, aber wir sagen immerhin etwas, wenn wir feststellen, daß die Rede vom Vergangensein dessen, was nicht vergeht, eine Ungereimtheit ist. Ist es vielleidit die logische Kategorie des Widerspruchs, die sich hier geltend macht? In der Rede vom Vergangensein von etwas, was nidit vergeht, steckt ohne Zweifel ein Widerspruch. Trotzdem möchte ich von einem Widerspruch im streng logisdien Sinne nur dann sprechen, wenn es das Gebot des Seins ist, gegen das der widersprüchliche Satz verstößt. Dieses Gebot lautet, daß etwas, es sei, was es wolle, dem Satz der Identität entsprechend, es selbst zu sein hat, sofern es überhaupt sein will. Was nun die Behauptung, daß der gestrige Abend vergangen sei, betrifft, so scheint in ihr ein Widerspruch, in dem soeben gekennzeichneten Sinne nidit zu liegen. Sollte es sich herausstellen, daß das Vergangensein tatsächlich zum Sein der zeitlichen Tatsache gehört, so ginge es hier im Gegenteil um eine Bestätigung oder Bekräftigung des Satzes der Identität. Wäre doch dann der gestrige Abend gar nicht, wenn er kein vergangener wäre. Kann aber die Ungereimtheit, mit der wir uns beschäftigen, auch kein Widerspruch heißen, weil sie, anstatt dem Sein zu widersprechen, vermutlich sogar an dessen Wurzel liegt, so dürften wir sie doch vielleicht als ein Paradox bezeichnen. Denn Widerspruch und Paradox sind miteinander verwandt, ohne daß sie dasselbe zu sein brauchen. Beim gewöhnlichen Widerspruch geht es letzten Endes darum, daß in ihm ein Satz der Eigenschaft des Seienden, es selbst zu sein, widerspricht. Solch ein Widerspruch liegt also immer in der sogenannten Bedeutung des widersprüchlichen Satzes, und außerdem hat der widersprüchliche Satz immer unrecht. Aus dem einfachen Grunde nämlich, daß die Tatsächlichkeit nicht wäre, wenn sie - trotz gegenteiliger Aussagen über sie - nicht sie selbst

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wäre. Es steht uns zwar mit anderen Worten frei, dem Sein, was immer es sein möge, zu widersprechen, aber es ist stets das Seiende in seinem Sein, nämlich in seiner Identität mit sich selbst, das recht behält. Im Gegensatz dazu hat das Paradox nichts mit der »Bedeutung« oder der Beziehung einer Aussage auf ein Ausgesagtes zu tun - die, wie hier nicht gezeigt werden kann, ebensowenig eine Tatsache ist wie das Vergehen - , sondern es ist das Seiende selbst, das sich im Paradox in einen Widerspruch verwickelt, und zwar mit sich selbst. Ob zu dem Seienden auch ein Vergehen gehört, ist die Frage, von der wir ausgegangen sind und die wir vorderhand verneinen mußten, wiewohl am Vorhandensein des Vergangenen als einem Inhalt der Nacheinander-Zeit, nämlich desjenigen Aspektes des Bewußtseins, in dem sich das Vergangene vorfindet 2 , kein Mensch zweifeln kann. Die Frage, mit der wir uns gegenwärtig beschäftigen, lautet jedoch, ob diese Ungereimtheit es verdient, ein Paradox zu heißen. Verwickelt sich in ihr die Wirklichkeit - sei es als Aussage oder als das, worauf sich diese »bezieht«, in einen Widerspruch mit sich selbst? Es ist mir durchaus klar, daß wir mit der Behauptung, Seiendes kann sich gegebenenfalls in einen Widerspruch mit sich selbst verwickeln, den festen Boden der Tatsächlichkeit schon verlassen haben. Ist doch das Seiende das, was sich — im Hinblick auf sein Sein zumindest — nie und nimmer widersprechen kann. Sind nun die Sätze der Identität und des Widerspruchs, denen das Paradox allen Ernstes - das heißt nicht in seiner »Bedeutung«, sondern in seiner Struktur - widerspricht, der Boden, auf dem das Seiende ruht, so ist das Seiende oder die Tatsächlichkeit der Inbegriff alles dessen, was ist oder es selbst ist. Daraus folgt ohne weiteres, daß das Paradox nicht ist. Denn wie könnte dasjenige sein, dessen Wesen es ausmacht, sich in seinem eigenen Sein zu widersprechen? Nur müssen wir uns klarmachen, daß das Paradox in einem völlig anderen Sinne nicht ist, als wir das vom Vergehen behaupten könnten, wenn es uns gelungen wäre, ein für alle Male zu demonstrieren, daß sich unter den Phänomenen, deren Summe die Tatsächlichkeit ist, kein Vergehen vorfindet. Denn während ein Vergehen als ein zeitlicher Positionswechsel in der Tatsächlichkeit nicht nur nicht undenkbar ist, sondern anscheinend so oft und so deutlich gedacht worden ist, daß wir uns die Uberzeugung kaum ausreden lassen, es gehe hier um einen Begriff, dem ein Begriffenes entspreche, welchem das Prädikat des Seins ebenso zukommt wie seinem Begriff, ist das Paradox in dem Sinne nicht, daß wir uns nicht einmal einen Begriff davon machen können: weil es das Sein ist, das sich in ihm widerspricht, ist es weder als ein Inhalt des Bewußtseins noch als ein Element der Außenwelt. Weil das Paradox die Tendenz hat, weder zu sein noch etwas zu sein, weil es ein Sein, wie gesagt, nicht einmal als Begriff im Bewußtsein haben kann - obwohl die Lautfolge »Paradox« nicht anders da ist als die Lautfolge »vergehen« 2

Auf diese Gleichsetzung der Nadieinander-Zeit mit dem Bewußtsein, sofern wir durch dieses, wie man in der Tatsädilichkeit meint, mit Vergangenem zusammenhängen, kann ich hier nicht eingehen.

Ober das Vergehen oder »Haus« - , muß idi, was das Paradox betrifft, annehmen, daß es mir nicht gelungen ist, mich verständlich zu machen. Ich komme gleich noch einmal darauf zu sprechen. Mittlerweile genügt es, daß wir jetzt trotz allem in der Lage sind, die oben gestellte Frage zu beantworten, ob die Ungereimtheit, die - gesetzt, es gibt kein Vergehen - in der Behauptung liegt, daß etwas vergangen sei, ein Paradox heißen dürfe. Sie darf es offenbar nicht. Denn wissen wir auch nodi nicht, wie es um das Vergangensein steht, so hat sich schon bei der Besprechung des Widerspruchs gezeigt, daß es das Sein des Vergangenen nicht in Frage stellt, sondern bestätigt. Niemand wird behaupten, daß sich der gestrige Abend in seinem Sein widerspricht. Vielmehr wird er er selbst sein, solange ich ihn in meinem Bewußtsein oder der Nacheinander-Zeit als etwas Vergangenes vorfinde. Wollen wir uns aber restlos davon überzeugen, daß hier kein Paradox vorliegt, genügt es nicht, wenn wir das Vergangene selbst untersuchen. Auch das Vergehen müssen wir ins Auge fassen; schon darum, weil es uns ja nicht gelungen ist, zwingend zu demonstrieren, daß es dieses nicht gibt. Unsere Frage lautet also jetzt: Wäre das Vergehen — falls es ein solches geben sollte — so beschaffen, daß es dem Sein dessen, was verginge, widerspräche? Keineswegs! Denn das Vergehen wäre, der Bewegung entsprechend, Positionswechsel. Freilich Positionswechsel nicht im Raum, sondern in der Zeit. Als ich selbst noch meinte, daß ein Vorgang »vergehen« zu den Elementen der Tatsächlichkeit ähnlich gehöre wie ein Vorgang »Bewegung«, faßte ich das etwa so zusammen: Weil das Sein oder die Identität des Dinges mit sich selbst nicht dasselbe ist wie Zeit und Raum, sondern Zeit und Raum im Gegenteil das sind, worin das Sein des Dinges nicht enthalten ist, vermag das Ding es selbst zu bleiben, indem es seine Positionen in beiden wechselt. Es fährt mit anderen Worten fort, identisch mit sich selbst dazusein, während es in der Zeit vergeht und sich im Raum bewegt. Andernfalls - wenn nämlich die Identität des Dinges an seine jeweilige Position gebunden wäre - würde ein jeder Wechsel der Position einem Wechsel der Identität oder einem Seinsverlust gleichkommen. Das soll hier nicht weiter ausgeführt werden. Auch die Möglichkeit, daß das der Bewegung entsprechende zeitliche Geschehen nicht in irgendeinem Vergehen der Zeit und ihrer Inhalte zu suchen sei, sondern darin, daß wir selbst es sind, die zusammen mit den gegenwärtigen und vergegenwärtigten Gehalten unseres Bewußtseins eben jetzt unsere zeitlichen Positionen wechseln — woran es dann läge, daß die Gegenwart für »ins jeweils eine andere zu sein scheint braucht hier nicht berücksichtigt zu werden: es würde sich zeigen, daß solche Vorstellungen der Gegenwart nicht gerecht werden. Es ist genug, wenn wir eingesehen haben, daß das Vergehen, falls es ein solches gäbe, die Identität oder das Sein des Dinges nicht beträfe. Wie das Ding in der Bewegung es selbst bleibt, wo immer es sich im Raum befindet, so bliebe es es selbst, auch wenn es noch so sehr verginge. Was in der verdinglichten Sphäre Vorgang heißt, es möge nun tatsächlich vorkommen oder nicht, ist eben so beschaffen, daß es als Positionswechsel

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die Identität seines eignen Subjekts unberührt läßt: es kann an dessen Sein nicht heran oder dieses in Frage stellen. Mehr als das können wir in der Tatsädilichkeit über den Zusammenhang von Identität und Vorgang nicht aussagen. Daß nämlidi der Vorgang die Identität des Dinges nicht nur nidit gefährdet, sondern im Gegenteil sicherstellt oder garantiert, vermögen wir erst zu verstehen, wenn sich uns das rätselhafte Wesen des Paradoxes bereits erschlossen hat. Nun ist das mittlerweile gleichsam schon geschehen. Denn haben wir wirklich verstanden: der tatsächliche Vorgang ist so beschaffen, daß das Ding in ihm seine Positionen ändert, ohne selbst anders zu werden, dann liegt es lediglich an uns selbst, ob wir gewillt sind, nämlich, ob wir den Mut aufbringen, einen Vorgang zu denken, der nidit die Positionen, sondern die Identität oder das Sein dessen betrifft, was in der Tatsächlichkeit Subjekt des Vorgangs heißt. Solch ein Vorgang ist das Paradox in der einfachsten Form, in der es auftritt: die Veränderung eines Unveränderlichen. Weil es das Anderswerden von etwas ist, das nicht wäre, wenn es anders würde — nämlich in einem anderen Sinne anders würde als in dem, den man auf einen Positionswechsel unveränderlicher Teile zurückführen kann ist es, wie wir schon wissen, nidit ein Element der Tatsächlichkeit. Bin ich es, der ich das Paradox denke, so ist mein Denken nidit — wie in der Tatsädilichkeit — Reihenfolge identischer Begriffe, sondern es ist das, was es in der Tatsächlichkeit nicht gibt: Veränderung. Und ist mein Denken Veränderung und nicht Reihenfolge identischer Begriffe, die midi, den Denkenden, nichts angehen, weil mein Sein nicht ihr Sein ist, so bin ich selbst es, der anders wird, dessen Sein sich in einen Widerspruch mit sich selbst verwickelt. Mit anderen Worten: Wenn ich das Paradox denke, dann habe ich schon aufgehört, derjenige zu sein, von dem es in der Tatsädilichkeit heißt, daß er denkt, und mein Denken hat aufgehört, das zu sein, was man in der Tatsädilichkeit darunter versteht: Reihenfolge oder Nacheinander identischer Begriffe. Im Durchgang durch das Paradox, in dem die Tatsache nicht nur untergeht, sondern sich, wie hier nicht gezeigt werden kann, zugleich bewahrheitet, sind wir unterwegs zu jener Identität und jenem Vorgang, die ich im Gegensatz zur Identität und zum Positionswechsel der Tatsache als zwischendingliche und zwischenmenschliche Identität einerseits und als Unterscheidung — sie ist der Inbegriff alles dessen, was in einem echten Sinne Veränderung heißen darf - bezeichne. Wenn die tatsächliche Identität letzten Endes das Sein der mit sidi selbst identifizierten und somit unveränderlichen Erscheinung, des Phänomens, ausmacht, welches nicht sein könnte, würde es, anstatt seine Positionen zu wechseln, selbst anders, so ist die zwischendingliche Identität weder das Sein des Seienden noch das der Unterscheidung, in der sie nidit ist, vielmehr haben wir das Sein beider, nämlich das der Identität und der Unterscheidung, in ihrer Trennung voneinander zu suchen. Es leuchtet ein, daß ein Paradox jetzt nicht mehr vorliegt. Denn der Widerspruch, in dem wir das Wesen des Paradoxes erblickt haben, daß nämlidi etwas anders werden soll, das es selbst sein muß,

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um überhaupt zu sein, ist nun, bei vollzogenem Durchgang durch das Paradox, als jene Trennung, die audi den Sinn hat, eine Vereinigung zu sein, ähnlich an die Stelle des tatsächlichen Seins getreten wie die zwischendingliche Identität an die Stelle des Seienden. Der Widerspruch, der in der Veränderung eines Unveränderlichen liegt, ist aber auch dann verschwunden, wenn der Durchgang durch das Paradox gleichsam in umgekehrter Richtung erfolgt und sich die zwischendinglidie Identität durdi ihre Transponierung in die Unterscheidung (also durch den »verdinglidienden Akt«) in das Sein verwandelt hat. Die Unterscheidung ist dann, als mit sich selbst identifizierte, die Erscheinung oder das Phänomen, das, anstatt anders zu werden, seine Positionen wechselt. Zwar wissen wir immer noch nicht, ob es seine Positionen nur im Raum oder auch in der Zeit wechselt, ob es sich nur bewegt oder auch vergeht, aber es sollte inzwischen klargeworden sein, wie es gemeint war, als ich oben behauptete, daß der tatsächliche Vorgang die Identität des Dinges nicht nur nicht gefährdet, sondern im Gegenteil sicherstellt. Fällt doch das Ding - mag es nun etwas in der Zeit oder etwas im Raum sein - kraft des verdinglichenden Aktes so in das Dasein, daß das, wodurch es gefährdet würde, nämlich ein echtes Anderswerden, nicht sein kann. Zusammen mit der Unterscheidung und der zwischendinglichen Identität ist auch der verdinglichende Akt ins Nicht-Sein getreten. Weil in ihm das mitgedacht wäre, was in der Tatsächlichkeit weder als Gedanke noch als Gedachtes sein kann: Unterscheidung und zwischendingliche Identität, kann er nicht einmal gedacht werden. Vom Paradox, in dem sich diese anschicken, aus dem Nicht-Sein zu treten, hieß es oben umgekehrt, daß wir selbst und unser Denken, nämlich unser verdinglichtes Selbst und der verdinglichte Gedanke, der Preis sind, den wir bezahlen müssen, wenn »wir« »es« »denken« möchten. Darüber hinaus gibt sich - wie hier nur angedeutet werden kann - die gesamte Tatsächlichkeit, also das Seiende mitsamt seinem Sein, so wie es als Bewußtsein und als Außenwelt da ist, als eine Sicherung gegen die Gefahr, die dem Paradox innewohnt, dem zu erkennen, der vor diesem nicht zurückschreckt. Von der Sphäre - ich nenne sie die vermittelte - , in die wir uns dann versetzt finden und von der es soeben hieß, daß in ihr die Trennung von echter Identität und Unterscheidung an die Stelle des verdinglichten Seins getreten ist, soll hier nicht weiter die Rede sein. (Nur eine paranthetische Bemerkung zur Verdeutlichung der Trennung, in der das Vermittelte ist und die zugleich den Sinn einer Vereinigung hat: Wir erahnen unseren Anteil an echter Identität und echtem Vorgang, wenn wir unsere mit keinen tatsächlichen Maßen zu messende Distanz von beiden anerkennen.) Die Frage, ob zu der Unterscheidung, die in der Trennung ist, auch ein Vergehen gehöre, würde den Rahmen dieser Untersuchung ebenfalls sprengen. Dagegen kommt jetzt alles darauf an, dies zu verstehen: Jener Vorgang, der das Seiende zerstörte, wenn es von ihm ergriffen würde, oder die Gefahr, die dem Paradox innewohnt und dem ein Seiendes ausgesetzt ist, wenn es anders werden soll — die Bedrohung also, deren Vermeidung und Verleugnung das Seiende mitsamt seinem Sein ist - , kann nicht

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treffender bezeichnet werden als durch das Wort »vergehen«, und zwar im genauesten und strengsten Sinne. Denn was immer es ist, das sich dem Paradox aussetzt, es ist, sofern es sich dem Paradox ausgesetzt hat, schon vergangen. Ist es doch das Sein des Seienden selbst, das durch das Paradox in Frage gestellt wird. Macht es aber das Wesen des Paradoxes aus, daß etwas, das ist, vergehen soll, dann muß unsere immer noch unbeantwortete Frage nach dem Vergehen freilich nicht nach dem paradoxalen Vergehen, sondern nach dem tatsächlichen so lauten: Gehört zu den Tatsachen oder Phänomenen, die ihr Vorhandensein der verdinglidienden Lösung des Paradoxes verdanken, auch ein Vorgang »vergehen« als Positionswechsel in der Zeit? Auch in dieser Fassung - der letzten, der wir begegnen werden - glaube ich, die Frage nach dem tatsächlichen Vergehen verneinen zu müssen. Diesmal jedoch aus einem zwingenderen Grunde als bisher. Stellte ich nämlich oben das Vergehen immer wieder in Frage, weil ich nicht imstande war, ein solches aufzufinden — wodurch freilich die Möglichkeit seiner Auffindbarkeit nicht aus der Welt zu schaffen war - , so behaupte ich jetzt: Es gibt ein Vergehen als Positionswechsel in der Zeit darum nicht, weil es eines solchen zur Erfüllung des Zwekkes, dem die Tatsädilichkeit dient, nicht bedarf. Dieser Zweck ist, wie wir gesehen haben, die Bannung jener als ungeheuerliche Bedrohung mißverstandenen Verheißung, als die das Paradox dem Seienden entgegentritt. Mit der Feststellung, daß es der verdinglichende Akt ist, aus dem die Tatsache als etwas Bestimmtes hervorgeht8, haben wir die Verbindung mit dem Anfang unserer Untersuchung wieder aufgenommen. Blieb nämlich eingangs die Rede von der Bestimmung oder Bestimmtheit von Zeit unklar, so verstehen wir jetzt, daß es die Zeit und den Raum als bestimmte nicht gäbe, wäre nicht deren Inhalt, das Phänomen, kraft des verdinglidienden Aktes, nämlich der Hineinverlegung der Identität in den Vorgang oder der Identifizierung des Vorgangs mit sich selbst, als etwas Bestimmtes und Unveränderliches, oder als das Attribut eines solchen, da. Zu den Attributen des Phänomens gehört die Bewegung als ein Positionswechsel im Raum. Durch diese ist, wie gezeigt worden, dafür gesorgt, daß das Ding selbst niemals anders zu werden braucht. Sonst würde es aufhören, etwas Bestimmtes zu sein, nämlich etwas zu sein oder überhaupt zu sein. Eines Positionswechsels in der Zeit, eines tatsächlichen Vergehens, bedarf es dagegen darum nicht, weil die Zeit ihre Bestimmung - wenn ich den Ausdruck hier metaphorisch gebrauchen darf - bereits erfüllt hat, weil mit anderen Worten das Phänomen als ein zeitlich bestimmtes gegen die Gefahr des echten Vergehens schon sichergestellt ist, wenn es einmal kraft der Verding-

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Die dem verdinglidienden Akt zugeordneten Akte der Trennung der Medien und des Raumes voneinander und der Vermannigfaltigung können hier nur Anmerkung genannt werden. Der Trennung der Medien ist es zuzuschreiben, Seiende zugleich in der Zeit (dem Bewußtsein) und der Außenwelt da ist, Vermannigfaltigung, daß es - sowohl als Bewußtsein wie als Außenwelt Summe seiner eigenen Bestandteile vorkommt.

der Zeit in einer daß das und der als eine

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lidiung und der ihr zugeordneten Akte als ein Nacheinander ohne Anfang und Ende gegeben ist. Wir verstehen nun auch dies: Zur Vorstellung des Nacheinander gehört notwendig die des Vergangenseins. Ein jedes Glied einer Reihe von Tatsachen, die aufeinander folgen, befindet sich, sofern es ist, also etwas Bestimmtes ist, in der Vergangenheit. Das Phänomen braucht also darum nicht zu vergehen, weil es, indem es nacheinander ist, überhaupt nur so ist, daß es vergangen ist. Hierin beantwortet sich unsere Frage sowohl nach dem Vergehen wie nach dem Vergangensein. Das »ist« in »vergangen ist« ist nicht das Hilfszeitwort, sondern meint das Sein. Das Vergangensein ist in der Tatsächlichkeit das zeitliche Sein par excellence. So war es zu verstehen, als ich oben behauptete: Der gestrige Abend ist nidit vergangen, vielmehr befindet er sich, mitsamt dem Zeitraum, den er einnimmt, genau dort, wo er war, seitdem er ist. Das zeitliche Phänomen ist aber nicht nur ein vergangenes, ohne daß es jemals verginge oder vergangen wäre, es ist, wie wir ebenfalls gesehen haben, ein immer vergangeneres, ohne daß der jeweils größere Zeitraum, welcher uns von ihm trennt, größer würde oder größer geworden wäre. Gibt es doch das Hinzukommen, welches nicht etwas anderes ist als das Vergehen, nur so, daß es als Hinzugekommenes dasselbe ist wie das Vergangene, und den Zeitraum nur so, daß er eben ein immer größerer ist. Der gestrige Abend? Er ist längst nicht mehr der gestrige! Wir wissen, warum, und haben keinen Grund, uns weiter mit ihm zu beschäftigen. Dennodi entzieht sich uns in diesem Stück Vergangenheit, dieser bescheidenen Tatsache, alles das, was im Nicht-Sein untergehen mußte, damit sie sein konnte: echte Identität, editer Vorgang und die Erkenntnis der Ferne von beiden, in der wir sind. Unter den wenigen, die, anstatt der Gefahr auszuweichen, im Durchgang durch den Widerspruch ihr Leben der Freilegung des Sinnes des Vergangenen gewidmet haben, steht der Mann, dem die obigen Überlegungen zugeeignet sind, an bedeutender Stelle.

Kants Theorie des Geschmacks V o n K L A U S LAERMANN, B e r l i n

Die Konstitutionsproblematik der Ästhetik Kants, so möchte idi am Beispiel des Geschmadks zeigen, ist nicht zu trennen von der Konstruktion seiner theoretischen Philosophie1. Wird, wie es zumal in der literaturwissenschaftlichen Berufung auf Kant oft geschehen ist, das Verhältnis beider zueinander nicht mehr reflektiert, dienen die Bestimmungen der Kritik der Urteilskraft nurmehr zu legitimistisdien Argumentationen. Als soldie stellen sie eine erhebliche Verzerrung, vor allem aber eine ideologisdie Verkürzung der Position Kants dar. Die bürgerliche Rezeption bürgerlicher Philosophie verliert mit ihnen eine Dimension aus dem Blick, die dieser Philosophie einmal zur Geschichtsmächtigkeit verhalf. Wie erinnerlich fragt die Kritik der reinen Vernunft nicht nach Erkenntnis allgemein, sondern nach der Bedingung ihrer Möglichkeit. So zu fragen schließt eine Menge konkurrierender Antworten zunächst aus, um den Konstitutionszusammenhang des in Frage stehenden Phänomens zu ergründen. Die Antwort, die sich ergibt, ist verblüffend. Kant selbst hat sie als kopernikanische Wende bezeichnet. Sie lautet: »die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten« (KrV B XVI), nicht umgekehrt wir uns nach den Gegenständen. Nachgewiesen werden soll diese These als Fundament der exakten Naturwissenschaften. In ihnen, so scheint es, sind die Subjekte der Erkenntnis von vornherein austauschbar. Jedenfalls gilt, daß generell ihre Ergebnisse jederzeit von jedermann unter gleichen äußeren Bedingungen nachgeprüft werden können. Doch das beweist noch nicht, warum sich, selbst wenn ein abstraktes, allen Naturwissenschaftlern gemeinsames Ich angenommen werden kann, die Natur nach ihm richten soll. Kant führt den Beweis, indem er den Begriff der Natur umdefiniert und einschränkt. »Natur überhaupt« ist für ihn »Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen« (KrV B I6J). Diese gesetzmäßige Natur nun (und nicht die wilde, bedrohliche oder die romantisch beseelte) ist es, die sich nach »unserem Erkenntnis« richten soll. Möglich wird dies, Kant zufolge, deswegen, weil auch das Ich, das sich ihr zuwendet, einschränkend definiert ist. Seiner Definition liegt die Annahme zu1

Wesentliche Anregungen zu diesem Aufsatz, der zuerst als Probevortrag in Regensburg und Zürich gehalten wurde, verdanke ich der Arbeit von Odo Marquard: K a n t und die Wende zur Ästhetik, in: 2s. f. philos. Forschung, 16 (1962), S. 231 ff., sowie der ungedruckten Habilitationsschrift Marquardts: Über die Depotenzierung der Transzendentalphilosophie.

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gründe, daß es, bevor Erfahrungen überhaupt gemacht werden können, eine Erfahrung geben muß, die logisch notwendig aller Erfahrung vorausgeht, faktisch sie begleitet. Es ist die eines »stehende(n) und bleibende(n) Ich« ( K r V A 123), das in der transzendentalen Einheit der Apperzeption jeder Vorstellung den Stempel seiner Identität aufdrückt. Lapidar heißt es: »Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können« (KrV B 131). Eingeschränkt ist dieses Ich also auf die immergleiche Wiederholung einer immergleichen Einheitsstiftung. Deren Ausführungsorgan, der Verstand, schreibt der Natur die Kategorien vor. Anders gesagt: Als gesetzmäßiger Komplex von kontrollierbaren Einzelheiten richtet sich die Natur nach dem Verstand, nicht umgekehrt. Kants Transzendentalphilosophie begreift die Welt zugleich als zugehörig zum Vollzug des Ich und als Vollzug dieser Zugehörigkeit2. Wenn aber das richtig ist, dann ist die Natur, in einem eingeschränkten Sinn freilidi, Produkt des Verstandes. Hinter der Erkenntnistheorie, wie Kant sie uns liefert (und das ist die These, von der ich ausgehe), steht dann eine Produktionstheorie; die Kritik der reinen Vernunft wäre zu lesen als eine Produktionstheorie im Gewände der Erkenntnistheorie. Und wirklich wird dieser Gedanke im ersten Satz ihrer Einleitung ausgesprochen: »Erfahrung ist ohne Zweifel das erste Produkt, welches unser Verstand hervorbringt, indem er den rohen Stoff sinnlicher Empfindungen bearbeitet.« ( K r V A i ) Der Verstand, so wird man folgern dürfen, ist also eine Produktivkraft, ein Verarbeitungsorgan von Rohstoff, nämlich von Sinnlichkeit. Sein Produkt ist die Natur, soweit sie durch Erfahrung den Status von Gesetzen hat. »Der Kantische reine Verstand gleicht einer Maschinerie. Er enthält die Formen, die das Subjekt dem Material aufprägt, gleichsam die Kästen und Fangarme für das Rohmaterial... Als eine Art produktiver Apparatur ist die transzendentale Apperzeption, die reine ursprüngliche Vorstellung, unermüdlich tätig, die Wirklichkeit, die feste Welt der Erscheinungen, herzustellen, in der die empirische Vorstellung schließlich sich orientieren kann. Das Subjekt, wie sehr Kant sich bemüht, es von allem Inhalt rein zu fassen, gleicht dem arbeitenden Menschen, dem Bürger, der sich der Apparatur, der Maschinerie bedient®.« Würde das Subjekt auch nur einen Moment in seiner immergleichen Realitätsverarbeitung aussetzen, müßte die Welt ihm auseinanderfallen; auf keines ihrer Gesetze wäre dann mehr Verlaß; das Chaos bräche herein, in der Königsberger Philosophensprache: die unverbundene Mannigfaltigkeit. Denn dann würde »der Zinnober bald rot, bald schwarz, bald leicht, bald schwer sein, ein Mensch bald in diese, bald in jene tierische Gestalt verändert werden, am längsten Tage bald das Land mit Früchten, bald mit Eis und Schnee bedeckt sein.« (KrV A ioof) Damit dieses surrealistische Schreckbild nicht Wirklichkeit wird, muß die

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Marquard: Depotenzierung ( = Anm. 1) S. 119. Max Horkheimer: Kants Philosophie und die Aufklärung, in: Um die Freiheit, Ffm. 1962, S. 34 f.

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Einheit der Wahrnehmung garantiert werden durch die starre Einheit des Ich. Kant nimmt ein jederzeit schon fertiges Erkenntnissubjekt an, setzt einen normativen Begriff des Idi voraus4. Dieses Ich, das sidi nur in seinen Produkten erkennt und die Welt nur, soweit sie von ihm produziert wurde, verdankt seine Produktivität einer vor Kant unerhörten, von seinen Zeitgenossen als revolutionär empfundenen Freisetzung des Verstandes. Mit ihr tritt deutlich ein antifeudales Moment der Kritik der reinen Vernunft zutage. Aber diese Freisetzung der Produktivkraft des Verstandes aus allen sozialen Restriktionen ist nur zum Schein unbegrenzt; in Wahrheit bleibt sie gebunden an die Identitätsstarre des Ich, an dieses »stehende und bleibende Ich« (KrV A 123), an dem das noch sdiwadie Bürgertum derZeit unbedingt meinte festhalten zu müssen. Bis ins Transzendentalsubjekt hinein läßt sidi die Dialektik von Produktionsverhältnissen und Produktivkräften nachweisen. Mit der gewaltigen Entfesselung der Produktivkräfte durch das frühe Bürgertum gehen Anzeichen einer Stagnation der Produktionsverhältnisse einher5. Ihren Ausdruck finden sie in der Kleinwarenproduzenten vorbehaltenen, begrenzten Regelhaftigkeit einer statisch gleichbleibenden Produktionsweise, als welche die transzendentale Einheit der Apperzeption unschwer zu dechiffrieren ist. Gilt nadi dieser die Welt als philosophisch deduziert in dem Maße, in dem sie nachgewiesen werden kann als identisch mit dem Akt Selbstbewußtsein, so erwädist mit ihr der Selbstbegründungszwang bürgerlichen Denkens. Denn »Das: Ich denke«, das »alle meine Vorstellungen begleiten können« muß (KrV B 131), besagt, daß das Ich, das den Zusammenhalt der Wirklichkeit garantiert, nur definiert wird durdi die Angabe seiner Tätigkeit. Es erfährt sidi nicht an sidi, sondern nur soweit es handelt. Es ist keine Instanz, die in irgendeiner Weise aus sidi heraus substantiell wäre, sondern eine, die sidi rein durch ihren Vollzug bestimmt. Dieses Ich weiß von sich nicht, was und wie es ist, sondern nur daß es ist (vgl. KrV B 157). Das erkennende Idi also bleibt sich selbst merkwürdig undurchsichtig. Um zu erläutern, warum gerade dies für das bürgerlidie Idi charakteristisch ist, zitiere ich eine klassische Definition des Bürgers, die gewonnen wird aus seiner begrifflichen Konfrontation mit dem Adeligen. Der Edelmann, so heißt es da, »ist eine öffentliche Person... und alles übrige, was er an und um sich hat, Fähigkeit, Talent, Reichtum, alles scheinen nur Zugaben zu sein . . . Wenn der Edelmann im gemeinen Leben gar keine Grenzen kennt, wenn man aus ihm Könige oder königähnliche Figuren erschaffen kann, so darf er überall mit einem stillen Bewußtsein vor seinesgleichen treten; er darf überall vorwärtsdringen, anstatt daß dem Bürger nichts besser ansteht, als das stille, reine Gefühl der 4 8

Vgl. J . Habermas: Erkenntnis und Interesse, Ffm. 1968, S. 25. Darauf hat hingewiesen: Gerd Stein: Genialität als Resignation bei Gerstenberg, in: Literatur der bürgerlichen Emanzipation im 18. Jahrhundert, ed. Gert Mattenklott und Klaus R . Sdierpe, Kronberg/Ts., 1973, S. 106.

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Grenzlinie, die ihm gezogen ist. Er darf nicht fragen: >Was bist du?Was hast du? welche Einsicht, welche Kenntnis, welche Fähigkeit, wieviel Vermögen?< Wenn der Edelmann durch die Darstellung seiner Person alles gibt, so gibt der Bürger durch seine Persönlichkeit nichts und soll nichts geben. Jener darf und soll scheinen; dieser soll nur sein, und was er scheinen will, ist lächerlich oder abgeschmackt. Jener soll tun und wirken, dieser soll leisten und schaffen; er soll einzelne Fähigkeiten ausbilden, um brauchbar zu werden, und es wird schon vorausgesetzt, daß in seinem Wesen keine Harmonie sei noch sein dürfe, weil er, um sich auf eine Weise brauchbar zu machen, alles übrige vernachlässigen muß. An diesem Unterschiede ist nicht etwa die Anmaßung der Edelleute und die Nachgiebigkeit der Bürger, sondern die Verfassung der Gesellschaft selbst schuld.« Sieht man von dem Umstand ab, daß der citoyen hier völlig unberücksichtigt bleibt, daß also nur der bourgeois beschrieben wird, so findet sich schwerlich eine treffendere Charakteristik des Bürgers als diese, die aus dem berühmten Brief Wilhelm Meisters an seinen Schwager Werner stammt6. Goethe zeigt zunächst in dieser Passage das politische Repräsentationsprinzip des Adels. Diesem ist Öffentlichkeit unproblematisch. E r erfährt sie unmittelbar an seiner gesellschaftlichen Stellung. Mit ihr, so scheint es dem Bürger, ist seine personale Identität gegeben. Dem Adeligen genügt die Selbstdarstellung seines Status, die eine rollenspezifisch definierte Privatheit als Gegensatz zur Sphäre öffentlicher Repräsentation nicht aufkommen läßt. Er »darf und soll scheinen«, denn gemäß seiner Selbstdefinition tritt in ihm das gesellschaftliche Wesen unvermittelt als Erscheinung auf. Diese substantielle Identität von Status und Rolle erfährt er vor allem an der Verletzlichkeit des äußeren Scheins seiner Person, der geschützt wird durch den Begriff der Ehre. Durch ihn ist die Unumstößlichkeit gesellschaftlicher Herrschaft als einer Herrschaft kraft symbolisch vermittelten Scheins sanktioniert. Der Bürger dagegen verdankt die Definition seiner Klasse nicht der öffentlichen Repräsentation seines Status, sondern der privat betriebenen Produktion. Diese zwingt ihn, da sie arbeitsteilig organisiert ist, »einzelne Fähigkeiten auszubilden«. Seine Selbsterfahrung muß sich über Handlungen vermitteln, die diesen bloß partikularen Fähigkeiten entsprechen. Das aber heißt, daß personale Identität bürgerlich stets problematisch ist, weil sie nicht scheinbar »natürlich« mit einem gesellschaftlichen Status gegeben ist, sondern nur durch repetitive Teilarbeit erworben werden kann. Die Bürger sind mithin um Selbsterkenntnis stets verlegen. Ihren Grund hat diese Verlegenheit nicht zuletzt in der Rolle, die sie im Haushalt ihrer Vermögen der Sinnlichkeit einräumen. Denn sie leben zwar durch sie und von ihr, aber der Gedanke daran ist ihnen so wenig geheuer, daß

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Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, Hamb. Ausg., Bd. VII, Hamburg S. 290 f.

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sie ihn bis in unser Jahrhundert hinein in hohem Maße anstößig finden. Sinnlichkeit als Medium der Selbsterkenntnis zu begreifen, ersdieint ihnen nur auf komplizierten Umwegen zulässig. Kant würdigt die Sinnlichkeit, wie gezeigt wurde, bereits im ersten Satz der Kritik der reinen Vernunft zum Rohstoff herab. In dieser Form kommt der Verstand über sie und verarbeitet sie. Unklar bleibt dabei trotz des komplizierten Systems von Instanzen, das Kant vorführt, »wie der Verstand zur Sinnlichkeit und die Sinnlichkeit zum Stoff kommt 7 .« Es ist, als bliebe bis in die Instanzenlehre der transzendentalen Deduktion die Anstößigkeit des Vorgangs spürbar. »Der reine Verstand sondert nicht allein von allem Empirischen, sondern sogar von aller Sinnlichkeit völlig aus. Er ist also eine für sich selbst beständige, sidi selbst genügsame und durch keine äußerlich hinzukommende Zusätze zu vermehrende Einheit.« (KrV A 65 / B 8pf) Fraglos scheint Kant nur gewesen zu sein, daß Verstand und Sinnlichkeit einander entgegenstehen und daß die Sinnlichkeit vom Verstand unterworfen werden muß. Wie beide einander in den Herrschaftsakten des Verstandes durchdringen, blieb ein letztlich unaufgeklärtes Problem. Hellsichtig hat Johann Georg Hamanns Kritik an Kant es aufgegriffen: »Sind ideae matrices und ideae innatae nicht Kinder eines Geistes? Entspringen Sinnlichkeit und Verstand; als die zween Stämme der menschlichen Erkenntnis, aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel, so daß durch jene Gegenstände gegeben, und durdi diesen gedacht (verstanden und begriffen) werden: wozu eine so gewalttätige, unbefugte Scheidung desjenigen, was die Natur zusammengefügt hat? Werden nicht beide Stämme durch diese Dichotomie oder Zwiespalt ihrer transzendentalen Wurzel ausgehen und verdorren? 8 « Verdorrt wären sie gewiß, wenn die Kritik der reinen Vernunft dem Anspruch verfallen wäre, das Ganze der Welt und des Menschen zu erklären 9 . Sie beschränkt ihren Begriff von exakter Wissenschaft indes auf die Gesetzmäßigkeit von Erscheinungen, auf eben jene Kontrollnatur, die sich den Herrschaftsansprüchen des Verstandes unterwirft. Damit aber muß jenseits dieser Kontrollnatur die unberechenbare und triebhafte, die beseelte und versöhnende, kurz: die qualitativ mächtige Natur problematisch werden. Es entsteht die Notwendigkeit, sie, deren Anwesenheit nicht nur nicht zu leugnen, sondern unbedingt erforderlich ist, in eine besondere Sphäre zu verweisen, eben in die des Ästhetischen. Ästhetik ist für Kant, um es nach heutigem Sprachgebrauch bewußt äquivok zu sagen, Naturwissenschaft. Und zwar ist sie es in dem Sinn, daß sie Theorie der Natur ist, soweit diese

7

Max Horkheimer ( = Anm. 3), S. 3 J . Johann Georg Hamann: Kritik der reinen Vernunft von Immanuel Kant . . . ( 1 7 8 1 ) , in: Sämtliche Werke, Hist.-krit. Ausg. von Josef Nadler, Bd. III, Wien 1 9 J 1 , S. 278, zit. nach: Horst Hermann: Geschichte, Glüds und Gleichnis in Kants .Kritik' der reinen Vernunft in: Neue deutsche Hefte, Nr. 143 (1974), S. 477. • Vgl. Odo Marquard: Kant ( = Anm. 1), S. 239. 8

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nicht der gesellschaftlich betriebenen Naturbeherrschung unterliegt, die heute den Namen Naturwissenschaft monopolisiert hat. Deren Beschränktheit ist geradezu die Bedingung ihrer Möglichkeit. Wird nämlich die Naturbasis der Erkenntnis, Sinnlichkeit, eingeengt auf die Funktion eines bloßen Rohstoffs der Verstandesproduktion von Erfahrung, so erzwingt sie, da sie offensichtlich darin nicht aufgeht, einen Bereich autonomer Selbstdarstellung. Das Ästhetische ist die unter den Bedingungen der bürgerlichen Naturbeherrschung unbedingt notwendige Darstellung des sinnlich erscheinenden Sinns jenseits der Kontrollnatur. Das ist für Kant noch nicht, wie später im 19. Jahrhundert, ein Zugeständnis aus Ohnmacht, sondern ein Eingeständnis der Grenzen der Macht des Verstandesgebrauchs. Erst Theorien unseres Jahrhunderts (und vor allem in der Literaturwissenschaft waren und sind sie verbreitet) feiern im illegitimen Rückgriff auf Kant das Ästhetische als Abdankung der Vernunft. Für Kant handelte es sich allenfalls um eine »indirekte Ermächtigung« der Natur gegenüber dem Herrschaftsanspruch des Verstandes 10 . Sinnlichkeit, die in der theoretischen Philosophie weitgehend heteronom blieb, wird in der Ästhetik autonom. Sie soll befreit werden im freien Spiel mit dem Verstand (B 198, A 195). Zugleich jedoch darf diese Befreiung nicht unkontrolliert vor sich gehen. Denn Sinnlichkeit ist riskant. Mit ihr droht ein Rückfall in eine regellose und richtungslose chaotische Triebsphäre. Daher muß Kant von vornherein das Angenehme aus der Ästhetik ausschließen. Nicht eine wirkliche Befriedigung einzelner sinnlicher Bedürfnisse ist ästhetisch intendiert, sondern das Bedürfnis wirklicher Befriedigung, das sich ans sinnlich Einzelne nicht verlieren darf. Gerade der aufgeschobene Erfüllungsanspruch soll als Regulativ der Verstandestätigkeit wirken. Die Sphäre des Ästhetischen muß also als eine besondere von der einer regelhaften Gegenstandsproduktion getrennt werden, ohne daß freilich beide durch diese Trennung in einen einander ausschließenden Gegensatz geraten. Neben die Theorie des gegenstandskonstitutiven Handelns muß eine Theorie der objektindifferenten kontemplativen Handlungshemmung treten, neben die des Interesses eine der Interesselosigkeit, neben die der wiederholbaren exakten Erkenntnis eine der sozial zumutbaren »Erkenntnis überhaupt« (B 28 / A 28). Die Ästhetik gewinnt erst Sinn im Zusammenhang mit der Erkenntniskritik, deren Schwierigkeiten sie meistern soll. Daß der Zusammenhang beider nicht aus bloßer Freude am System resultiert 11 und folglich auch nicht ohne verheerende Konsequenzen preisgegeben werden darf, läßt sich an der Kritik der teleologischen Urteilskraft zeigen, die 10 11

Odo Marquardt Depotenzierung ( = Anm. 1), S. 1 7 3 f f . Das behauptet nach vielen unkritischen, bloß referierenden Untersuchungen selbst eine ideologiekritisdie Darstellung wie die von Günther K.Lehmann: Die Ästhetik Kants und die ideologische Funktion seines Geniebegriffs, in: Dt. Zs. f. Philosopie 1 1 (1963), S. 1 1 3 9 .

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Kant der der ästhetischen Urteilskraft unmittelbar folgen ließ. Da sie von denen, die Kant in legitimistisdier Absicht für sich reklamieren, kaum je zur Kenntnis genommen wird, sei hier nachdrücklich auf sie verwiesen. Zwischen dem naturbeherrschenden Verstand und seiner theoretischen Gesetzgebung einerseits sowie der zwecksetzenden Vernunft und ihrer praktischen Gesetzgebung andererseits hatte sich der Kantsdien Philosophie vor der Kritik der Urteilskraft »eine unübersehbare Kluft« aufgetan (B X I X , A XIX). Einer Theorie der Mittel stand eine Theorie der Zwecke gegenüber, ohne daß deutlich geworden wäre, wie nun eigentlich beide in Theorie und Praxis hätten zusammenkommen können. Zwischen regelhafter, aber letztlich zielloser Gegenstandsproduktion und abstrakten Handlungsanweisungen zu vermitteln, soll nun Aufgabe der Urteilskraft sein. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, konstruiert Kant die Urteilskraft teleologisch. Gegenüber der Verstandesproduktion betreibt sie dabei vor allem eine Abwehr der Zusammenhangschwäche. Zwar wurde die Konstitution der N a t u r in der Kritik der reinen Vernunft geleistet, um der Naturwissenschaft eine theoretische Begründung zu liefern, doch blieb dieses Unternehmen insofern unvollkommen, als die einzelnen empirischen Gesetze, für die es eine allgemeine Grundlage formulierte, in keinem notwendigen Zusammhang miteinander standen. Denn unabgeleitet blieb, wie sich immer größere Einheiten empirisdier Gesetze verläßlich herstellen ließen. Die Urteilskraft soll nun das »Aggregat« unendlidi mannigfaltiger, besonderer empirischer Gesetze als ein »System« des durchgängigen gesetzmäßigen Zusammenhangs erweisen12. Denn die dem Verstand unterworfene Natur ermöglicht zwar empirische Erkenntnisse, aber diese besitzen in ihrer Verknüpfung miteinander eine nur analytisch-additive und keine synthetische Einheit. Die wird ihnen erst dadurch zuteil, daß die Urteilsk r a f t sie auf Zwecke und Ziele hin interpretiert und begründet, mithin sie in eine universale Teleologie stellt. Innerhalb des Empirischen wiederholt sich also d/.e Angst vor der Zusammenhangschwäche, die als Angst vor der unverbundenen Mannigfaltigkeit schon die synthetischen Anstrengungen der Kritik der reinen Vernunft motivierte. Blieben die besonderen empirischen Gesetze in ihrer je zufälligen Einzelheit bestehen, wäre auch die Einheit der Erfahrung nur zufällig möglich (B X X X I I I , A XXXI). Daher unternimmt die Kritik der Urteilskraft die Anstrengung, das Verfahren der Kritik der reinen Vernunft in anderer Form zu wiederholen. In ihr »muß die Vernunft über den Standpunkt des gesetzgebenden Verstandes hinausgehen und die Natur so beurteilen, als ob sie von sich aus freiwillig den Ansprüchen der Vernunft entgegenkäme. Sie muß selbst ebenso wie jedes ihrer Gebilde systematische, d. h. organische, von innerer Zweckmäßigkeit bestimmte Einheit zeigen. Ihre Erscheinungen müssen im Sinne des >als ob< reflektierender Urteilskraft Ausdruck vernünftiger Verfassung

12

Kant: Erste Fassung der Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, in: Werke, ed. W. Weiidiedel, Bd. V , Darmstadt 1963, S. 180.

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sein 13 .« Die Urteilskraft beurteilt also die besonderen empirischen Gesetze, »als ob gleidifalls ein Verstand (wenn gleich nicht der unsrige) sie zum Behuf unserer Erkenntnisvermögen, um ein System der Erfahrung nach besonderen Naturgesetzen möglich zu machen, gegeben hätte«. (B X X V I I , A X X V ) Mit dieser Annahme gibt die Urteilskraft nur sich selbst und nicht der Natur ein Gesetz, das es ermöglicht, eine Teleologie einzuführen, die der Natur wie einem Organismus Zwecke und vernünftige Ziele unterstellt. Das vorsichtige Als ob, mit dem das geschieht, zeigt ein schlechtes Gewissen, denn es sind bloß regulative Prinzipien, die diese (freilich für Kant notwendige) Annahme stützen; apriorisch deduzieren läßt sie sich nicht. Es gibt allerdings eine diese Annahme stützende Erfahrung in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft. Diese besitzt im Geschmack ein apriorisch deduzierbares Prinzip. Die Ästhetik kann also der Teleologie das Verfahren der Naturbetrachtung vorgeben (B LI, A X L I X ) . Hier wird deutlich, wie der zusammenhängende Sinn des Empirischen sinnfällig wird allein in der Sphäre der Ästhetik. Ohne sie bliebe die Naturbetraditung der teleologischen Urteilskraft nur hypothetisch und die Gegenstandsproduktion des Verstandes ziellos. Was damit behauptet wird, muß, wenn man es aus der Terminologie zurückübersetzt, heutigem Verständnis ungeheuerlich erscheinen: 1 . Das Ästhetische hat letztlich den Sinn, den vernünftigen Zusammenhang der gesellschaftlichen Produktion, wie sie sich in den Akten der Verstandesherrschaft über die Natur darstellt, zu garantieren. — Ausdrücklich wird ja von Kant der Schnitt zwischen künstlerischer und gesellschaftlicher Produktion nicht gemacht, den seine Apologeten bereitwillig vollziehen. Wird er aber vollzogen, dann scheinen beide gegeneinander keiner Legitimation mehr zu bedürfen und erhalten je für sich den Status einer vernünftigen Natur. Man vertraut dann nicht mehr wie Kant auf ein Wachsen der Vernunft, sondern auch eine Vernunft des Wachsens, hier der ziellos entfesselten Produktivkräfte, dort der stummen Beredtheit »organischer« Symbolik 14 . 2. Zugleich ist das Ästhetische Unterpfand der geschichtsmächtigen Vernunft. — Aufgrund der im Geschmack verkörperten Erfahrung wird die Natur »als System von Kräften betrachtet, welche das Leben auch der vernünftigen Wesen und damit deren Vernunft selbst produzieren. Der Inbegriff dieser Naturkräfte bringt eine Geschichte in Gang, bei der sich auch ein regelmäßiger Gang auf eine Endabsicht schließlich zeigt« 15 . Sofern im Geschmack die Zweckmäßigkeit auch der Natur apriorisch erfahrbar wird, wird die Teleologie der reflektierenden Urteilskraft, die sidi auf ihn beruft und die vermitteln soll zwischen theoretischer Naturbeherrschung und praktischer Geltung von Normen, Geschichte im Hinblick auf einen Endzweck konstruieren 13

14 15

Friedrich Kaulbach: Kant und das Problem der Geisteswissenschaften, in: II Pensiero, 14 (1969), S. 26. Klaus Heinrich: Versudi über die Schwierigkeit Nein zu sagen, Ffm. 1964, S. 197. Friedrich Kaulbach ( = Anm. 13), S. 29.

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Klaus Laermann müssen, auf eben das Reidi der Freiheit hin, dessen Möglichkeit im Ästhetisdien Wirklichkeit wird. Gerade diese Dimension eines Geschichtsziels aber wird von der bürgerlichen Rezeption bürgerlicher Ästhetik, wie sie in den vielen methodologischen Überlegungen der Literaturwissenschaft vorliegt, die Kant als Eideshelfer bemühen, mit globalem Ideologieverdacht belegt oder einfach unterschlagen.

Z u fragen ist freilich, ob sich nicht schon bei Kant jene Zweideutigkeit zeigt, die noch die heutigen Methodendiskussionen beherrscht: ob nämlich das Ästhetische Instrument oder Ersatz der Geschichtsphilosophie sei 16 . K a n t hat diese Frage unentschieden gelassen, weil er im Geschmack, seiner zentralen ästhetischen Kategorie, die mit ihr gestellte Alternative meinte umgehen zu können. Dem ersten Blick erscheint der Geschmack, das Beurteilungsorgan des ästhetischen Wohlgefallens, merkwürdig unbestimmt. E r wird durch eine Immunisierungsstrategie der Argumentation vor jeder Direktheit geschützt. E r scheint geradezu ein Organ der Indirektheit zu sein; denn er kommt ohne Vorstellung der Existenz eines Gegenstandes aus und ist daher interesselos. Darüber hinaus ist er begriffslos, denn mit ihm ist nicht Erkenntnis möglich, sondern nur eine allgemeine Form von »Erkenntnis überhaupt« (B 28, A 28). Diese kann, da sie prinzipiell ohne alles Interesse ist, subjektive Allgemeinheit f ü r sich beanspruchen. Alle Handlungs- und Triebkategorien also sind dem Geschmack fern; denn er ist das Organ einer handlungsgehemmten Triebregung, die scheinbar folgenlos in sich kreist. Im Geschmacksurteil stellt sich die subjektive Zweckmäßigkeit einer Vorstellung ohne Zweck als Lust dar. Seine narzißtische Objektlosigkeit, die den Verlust der realen sinnlichen Objekte in den herrschaftsorientierten Akten des Verstandes kompensiert, ist eine Dauerhemmung ohne »Ergießung der Lebenskraft« (B 43, A 4 3 ) . Die mit ihm gegebene Subjektivierung des ästhetischen Wohlgefallens geht so weit, daß der von Lotze abqualifizierte Verdacht Zimmermanns so abwegig nicht scheint: »wahrhaft schön sei nur das Ich, der Gegenstand dagegen nur in der Folge des Widerscheins, den auf ihn die ästhetische Bewegung der Seele w i r f t ; das Ich erfreue sich an sich selbst, nicht an den Dingen, es sei eine ästhetische Selbstanbetung« 17 . Denn das Auffassungsvermögen, das sich aufs Schöne richtet, ist selbst nur kontemplativ, nicht produktiv. Zweckmäßigkeit ohne bestimmten Zweck erzeugt nichts außer einer Steigerung der Ichgefühle; sie verhält sich objektlos zum Erzeugten, den Produkten der Verstandesttäigkeit, nimmt sie nur zum Anlaß einer zielgehemmten Regung, eines selig in sich kreisenden Triebs. Darin liegt die Sterilität des Geschmac&surteils. Hinter ihr steht uneingestanden die Angst, die Triebnatur sei am Ende doch nicht ästhetisch zu bannen, der formale Z w a n g des Schönen könne ihr nicht steuern. »Kant verbarg unter dem unanstößigen Namen einer ursprünglich zur Zweckmäßigkeit hinführenden Disposition der i« Odo Marquardt Kant ( = Anm. 1), S. 370. 17 Rudolf Hermann Lotze: Geschichte der Ästhetik in Deutschland, München 1868, S. 6$.

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Urteilskraft ohne Begriff< den mit solcher Strenge kurz zuvor abgewiesenen Begriff des Triebes 18 .« Zeugungsmächtig ist im Bereich der ästhetischen Urteilskraft allein das Genie, das schafft wie die Natur oder in dem vielmehr die Natur selber schafft, während im Bereich der teleologischen Urteilskraft Zeugungsmächtigkeit lediglich zum Empirischen hinzugedacht werden muß, ohne unumwunden erfahrbar zu sein. Das in hohem Maße sublimierte Pathos des Erzeugern 19 tritt nur in der Kunst offen zutage, während die natürliche Zeugung des Organischen abgedrängt wird in eine (allerdings notwendig anzunehmende) mentalistisdie reservatio der teleologischen Urteilskraft. Natur überlebt als Kunst 20 , gerade weil sie durch ihre verstandesmäßige Zurüstung »künstlich« geworden ist. Die Reproduzierbarkeit technischer Naturbeherrschung geht einher mit der Produktivität beherrschter Natur, die sich im Genie, dem gottähnlichen Schöpfer, darstellt. (Kants Entscheidung im certamen artis et naturae hält also noch eine prekäre Balance, die kurz darauf zerfällt.) Doch nicht nur das Genie vermittelt den Menschen mit der wirklichen Natur. Zwar wird sie nur in ihm Subjekt und produktiv, indem sie durch seine Vermittlung der Kunst die Regel gibt (darin liegt der systematische Sinn der Geniekapitel der Kritik der Urteilskraft), aber sinnfällig wird sie ebenso im Geschmacksurteil. Denn im Geschmacksurteil ersdieint das Wirkliche in seinem besonderen lebendigen Zusammenhang als schön, nicht länger als bloß zufällig. Seine subjektive Zweckmäßigkeit gibt die »Zusammenstimmung zu Einem« an, läßt freilich »unbestimmt, was es sein solle« (B 4 j f , A 4 5 ) . Diese Definition zweckfreier Zweckbestimmtheit mit ihrer radikalen Subjektivierung des ästhetischen Gefühls der Lust ist nur möglidi auf dem Hintergrund einer universalen Teleologie, die sie ihrerseits durch ihre sinnliche Evidenz garantiert. Sobald, wie es heute durchweg der Fall ist, das Vertrauen in diese Teleologie schwindet, wird die Berufung auf die kantischen Bestimmungen des Geschmacks zynisch. Was sich für Kant im Geschmack an Wirkung zeigt, ist das »freie Spiel der Vorstellungskräfte« Einbildungskraft undVerstand (B 28, A 28).Die Hoffnung hinter diesem Gedanken richtet sich auf das Bild einer »vernünftigen Sinnlichkeit« 21 . Denn in diesem Spiel beider miteinander deutet sich die Utopie eines machtneutralisierten und herrschaftsfreien, zeitenthobenen Verstandes an, der sich nicht länger als Verarbeitungsmechanismus im Dienste der Daseinsvorsorge die sinnliche Natur unterwerfen muß, und zugleich die Utopie befreiter Triebe, 18 19 20

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Robert Zimmermann: Geschichte der Ästhetik, Wien 1858, S. 409. Vgl. Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Bd. 2, Ffm. 21967, S. 950. Vgl. Kant ( = Anm. 12), S. 1 8 1 : »Der ursprünglich aus der Urteilskraft entspringende und ihr eigentümliche Begriff ist also der von der Natur als Kunst, mit anderen Worten der Technik der Natur in Ansehung ihrer besonderen Gesetze, welcher Begriff keine Theorie begründet..., sondern nur zum Fortgange nach Erfahrungsgesetzen, dadurch die Nachforschung der Natur möglich wird, ein Prinzip gibt.« Odo Marquardt Depotenzierung ( = Anm. 1), S. 2 0 J .

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die sidi von der Verhaftung auf das jeweils eine, kulturell lizensierte und verstandesmäßig erzwungene Triebziel ebenso lösen wie aus der angstvollen Verstrickung in die unverbundene Mannigfaltigkeit der vielen. Das zitternde Gleichgewicht von »Ich und Es«22 existiert allerdings ausschließlich als Wirkung und nur in der Vorstellung. Daß es gleichwohl »allgemeine Gültigkeit« (B 236, A 233) besitzt, verdankt es einer Analogie. Denn der Geschmack, in dem der Sinn sinnfällig wird, läßt auf einen Verstand schließen, der als »intellectus ardietypus« ( B 3 5 1 , A 347) Gott vorbehalten ist; freilich mit dem wichtigen Unterschied, daß das Geschmacksurteil nur kontemplativ und keineswegs erkennend ist. Während nämlich der menschliche Verstand, das Verarbeitungsorgan von Sinnlichkeit, »vom Analytisch-Allgemeinen (von Begriffen) zum Besonderen (der gegebenen empirischen Anschauung) gehen muß«, wobei das Sinnliche, das er als Besonderes jeweils unter sich faßt, stets unverbunden nebeneinander steht, läßt sich »ein Verstand denken, der, weil er nidit wie der unsrige diskursiv, sondern intuitiv ist, vom Synthetisch-Allgemeinen (der Ansdiauung eines Ganzen, als eines solchen) zumBesonderen geht, d. i. vom Ganzen zu den Teilen; der also und dessen Vorstellung des Ganzen die Zufälligkeit der Verbindung der Teile nicht in sidi enthält, um eine bestimmte Form des Ganzen möglich zu machen, die unser Verstand bedarf, welcher von den Teilen als allgemein gedachten Gründen, zu verschiedenen darunter zu subsumierenden möglichen Formen, als Folgen fortgehen muß.« (B 348f, A 344f) Dieser intuitive Verstand soll zwar nicht, wie Kant ausdrücklich betont, für den Menschen »wirklich . . . angenommen werden« (B X X V I I , A X X V ) , denn er dient allein der reflektierenden Urteilskraft zum Prinzip, die sidi durch ihn nur selbst und nicht der Natur ein Gesetz gibt. Aber gleichwohl ist nicht zu übersehen (und wenige unter Kants Nachfolgern haben es übersehen), daß der Geschmack trotz seiner verstandesmäßig merkwürdigen Blindheit, trotz seiner sinnlich prätendierten Trieblosigkeit gebildet ist nach dem Muster eines anschauenden, des göttlichen Verstandes. Gottes Erkenntnis, so wurde schon vor Kant gelehrt und von ihm ebenfalls implizit behauptet, ist nicht diskursiv, sondern simultan, ein clare et non distincte, das weder Trennungen noch Nacheinander kennt, vor allem aber keine Unterwerfung der Sinnlichkeit unter den Verstand. Bereits für Wolff galt: »Gott erkennt alles anschauend23.« Bei Kant wirkt diese Lehre nur mehr regulativ für die reflektierende Urteilskraft, konstitutiv aber für den Geschmack. Das Geschmacksurteil verdünnt den intellectus archetypus zur Form einer »Erkenntnis überhaupt« (B A 64). Das Als ob steht vor der Hybris. Dennoch ist festzu-

22

23

Theodor W . Adorno: Ästhetische Theorie, Gesammelte Schriften, Bd. 7, ed. Gretel Adorno und Rolf Tiedemann, Ffm. 1970, S. 17. Zit. nadi Alfred Bäumler: Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft, Darmstadt 1967, S. 242 (zuerst erschienen als: Kants Kritik der Urteilskraft. Ihre Geschichte und Systematik, 1. Bd., Halle 1923).

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halten, daß im Geschmack eine w i e immer verminderte Substanzgleichheit mit göttlicher Erkenntnis erscheint. E r ist das O r g a n einer versteckten Theodizee; denn primär, wenn auch nidit ausschließlich durch ihn kann das Zufällige der Ergebnisse empirischer V e r standesherrschaft in einen vernünftigen Zusammenhang gebracht werden. N u r er gibt eine G e w ä h r dafür, daß innerhalb der Ästhetik eine Theorie des H ä ß lichen überflüssig ist. Häßlich nämlich w ä r e die zufällige Verletzung der geordneten W e l t durch gerade die mannigfaltigen empirischen Besonderheiten, die die reflektierende Urteilskraft, f ü r die der Geschmack im Sinnlichen tätig wird, aus ihrem chaotischen Aggregatzustand in ein zusammenhängendes System

von

Zwecken überführt. Insofern ist es also die Leistung des Geschmacksurteils, die — obwohl selbst keine Erkenntnis - eine zusammenhängende Erkenntnis der N a t u r möglich macht. Wenn Schönheit als »formale subjektive Zweckmäßigkeit« (B 46, A 46) definiert wird, läßt sich durch diese radikal subjektivierte Definition eigentlich jede empirische Besonderheit ins Schöne integrieren; ausgenommen ist nur das Ekelhafte als das Skandalon der Sinnlichkeit. W a s aber häßlich wäre, vielgestaltig Unverbundenes (worunter bald schon die konkrete, durch den M a r k t nur mehr unzureichend auf vernünftige Ziele hin vermittelte, unzweckmäßig chaotische Gegenstandsproduktion fällt), w i r d geradezu Material der Schönheit. Daher deren notwendig formaler Charakter, der als Bestimmung v o n zynischer Indifferenz bliebe, wenn in ihm sich nicht zugleich die Richtung auf einen nicht mehr nur formal zu denkenden Endzweck deutlich, aber nicht behaftbar zeigte. N u r auf dem Hintergrund dieser Konstruktion ist es verständlich, d a ß die intersubjektive Verbindlichkeit des Geschmacksurteils f ü r K a n t so wenig problematisch ist. Seine »allgemeine Gültigkeit« ist garantiert durch seinen »Bestimmungsgrund« (B 236, A 233), einen Begriff, »der sich gar nicht durch A n schauung bestimmen, durch den sich nichts erkennen, mithin auch kein

Beweis

f ü r das Geschmacksurteil fuhren läßt. Ein dergleichen Begriff aber ist der bloße reine Vernunftbegriff v o n dem Übersinnlichen, was dem Gegenstande (und auch dem urteilenden Subjekte) als Sinnenobjekte, mithin als Erscheinung

zum

Grunde liegt.« (ebda.) D i e substantielle Teilhabe aller ästhetisch Urteilenden an der göttlichen Erkenntnis garantiert die generelle Verbindlichkeit ihrer Urteile. Z w a r ist in diesen ein Irrtum möglich, z. B. durch falsche Subsumption der f ü r ein Urteil relevanten Konstituentien, aber die daraus resultierende Abweichung ist nicht prinzipiell unkorrigierbar. V o r allem unterliegt sie nicht dem Einfluß der sozialen Stellung der Urteilenden. Denn nicht als Angehörige v o n Ständen oder Klassen treten sie miteinander ins Gespräch, sondern als Menschen. D a ß zudem die Objekte, über die sie urteilen, v o n gleicher Homogenität sind, w i r d ebenfalls garantiert durch den »Vernunftbegriff v o n dem Übersinnlichen«. D a s Geschmacksurteil trifft also auf einen Objektbereich, der gleichen Ursprungs ist w i e es selbst. In ihm stellt sich jene Identität v o n Subjekt und O b j e k t her, die den Urteilen des Verstandes nur unter erheblichen Einschrän-

io8

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kungen erreichbar, generell aber versagt ist. Jenseits der Sphäre einer partikularisierten Rationalität und des Interessenkampfes ist in jedem einzelnen ästhetischen Urteil erfahrbar, daß es Gebilde von zusammenhängenden Sinn gibt, die einen Zerfall der Wirklichkeit verhindern. In ihnen tritt der arbeitsteilig zersplitterten bürgerlichen Praxis ein Ganzes gegenüber, das eine Gewähr dafür zu bieten scheint, daß sie selbst durch ihre Zersplitterung hindurch auf eine endliche Harmonie zusteuert. Freilich ist diese Gewähr nur dann wirklich gegeben, wenn sich die Sphäre, auf die sidi ästhetisdie Urteile beziehen, nicht radikal unterscheidet von der gegenstandskonstitutiven Handelns. Darum muß für Kant gerade das Naturschöne gegenüber dem Kunstschönen so stark in den Vordergrund treten. Sobald hingegen die arbeitsteilig organisierte Gegenstandsproduktion zu einem gesonderten Bereich wird, auf den sich Geschmacksurteile prinzipiell nicht beziehen können, etabliert sich das Schöne ebenfalls als eine Sondersphäre. Mit der Trennung und zunehmenden Isolierung beider voneinander verschwindet schon bei Schelling das Naturschöne aus der ästhetischen Theorie. Es findet eine Entmischung statt, nach der die empirische Gegenstandsproduktion regelhaft und scheinbar legitimationsunbedürftig Natur kontrolliert, während ihr gegenüber die Kunst zunehmend unkontrollierbare Natur legitimistisch repräsentiert. Die Produktionssphäre wird dabei schon früh und uneingestanden als das Häßlidie empfunden, als welches sie allerdings in der Ästhetik selbst nicht mehr erscheint. Während in ihr der bourgeois, der bald darauf zum Philister abgewertet ist, seine privaten Interessen kalkuliert, hält sich zugleich noch die Fiktion, er könne im interesselosen Wohlgefallen angesichts der Kunst sich als homme erscheinen.

Geschichtsphilosophie und Praxis Zur Rolle von Literatur und Kunst in Hegels Von

W E R N E R KOEPSEL,

Jugendschriften

Berlin

Von Literatur und Kunst ist in jenen Aufsätzen und Entwürfen, die sich von der Hand des jungen Hegel aus der letzten Dekade des 18. Jhs. erhalten haben1, prima vista kaum die Rede. Drängendere Fragen stehen im Zentrum seines Denkens: die Not der politisch-gesellschaftlichen Situation, für deren Fragwürdigkeit die Französische Revolution den Blick geschärft hatte, und der Mangel eines aufgeklärt-mündigen Bewußtseins, welchen die Kirchen in Form eines autoritär gesetzten »positiven« Glaubens Hand in Hand mit den gesellschaftlich Herrschenden zu prolongieren suchen2. In dem, was Hegel als die objektive Signatur des Zeitalters dechiffriert: zwar nicht dem Begriff, wohl aber der Sache nach Entfremdung, duldet der antiklerikale Zug keine Isolation: Geist des Volkes, Religion, Grad der politischen Freiheit desselben lassen sich weder nach ihrem Einfluß aufeinander, noch nach ihrer Beschaffenheit abgesondert betrachten, sie sind in ein Band zusammengeflochten ( . . .) 3

Das in diesen Schriften bekundete praktisch-aufklärerische Interesse, das sie über den engen Rahmen von »theologischen Jugendschriften«, als die sie der erste Herausgeber Nohl wollte verstanden wissen, weit hinaushebt, verdankt sich aufgrund der unmittelbaren politischen Erfahrung einem vertieften Einblick in die Geschichtlichkeit der menschlichen Verhältnisse, deren Logik erst darum einer ersten geschichtsphilosophischen Analyse unterzogen werden kann, weil »wir jetzt als Bedürfnis der menschlichen Natur erkennen, jene nunmehr verworfene Dogmatik abzuleiten, ihre Natürlichkeit und Notwendigkeit aufzuzeigen«4. Das Bewußtsein einer Zeitenwende, in der sich die Abschaffung der selbstverschuldeten Unmündigkeit und Knechtschaft mit Notwendigkeit ankündige, überführt den abstrakten Begriff der Natur selbst in die Historie,

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Sie werden im folgenden zitiert nadi: G. W. F. Hegel: Werke in 20 Bänden. Bd. 1: Frühe Schriften. A u f der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu edierte Ausgabe. Redaktion E. Moldenhauer und K . M . Michel. - Frankfurt/M 1971 ( = Theorie Werkausgabe. Suhrkamp) Die Positivität der christlichen Religion (1795/96), a.a.O., S. 182 und pass. Fragmente über Volksreligion und Christentum (1793/94), a.a.O., S. 42 Zur Positivität der christlichen Religion. Neufassung des Anfangs (1800) a.a.O., S. 221

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integriert ihn in den historischen Prozeß von Bedürfnissen und deren Befriedigung durch Produktion, in deren Verfolg bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse ihnen entsprechende - »natürliche« - Formen der Religiosität mit sidi führen. Der nüchterne Blick des Geschichtsphilosophen, dem das Christentum als »positive«, allein auf Autorität und Satzung beruhende, Vernunft und eigenverantwortliche Moralität negierende Religion bereits Vergangenheit, Objekt einer die Bedingungen ihrer Genesis und ihrer notwendigen Perversion erforschenden Wissenschaft ist, kann jedoch über die Differenz von fortgeschrittenem Bewußtsein und gesellschaftlicher Realität aller historischen Notwendigkeit zum Trotz nicht hinwegtäuschen. Der Hoffnungsfreude der Morgenröte einer neuen Zeit: Außer früheren Versuchen blieb es unseren Tagen vorzüglich aufbehalten, die Schätze, die an den Himmel verschleudert worden sind, als Eigentum der Menschen, wenigstens in der Theorie zu vindizieren.

respondiert jene die Beschränkung auf die Theorie bei ihrem abstrakten Namen nennende Skepsis: aber welches Zeitalter wird die K r a f t haben, dieses Recht geltend zu machen und sich in den Besitz zu setzen?5

Die Reflexion auf die Verkommenheit einer Gesellschaft, die ihre selbstverschuldete Ohnmacht durch die Anerkennung der Macht einer die Interessen der Herrschenden stützenden, blinden Gehorsam in bloßen Äußerlichkeiten fordernden Autoritätsreligion perpetuiert, führt die Ausführungen über die »Positivität der christlichen Religion« notwendig auf das Problem eingreifender Praxis. Ungeachtet der Erfahrungen der Französischen Revolution, die untergründig seine Ausführungen bestimmen, hat Hegel diese Frage nicht explizit behandelt. Doch deutet der Kontext an, in welcher Richtung sie zu verfolgen wäre: Wenn der junge Hegel die Ausbreitung eines rasch zum Positivum erstarrten Christentums mit dem Despotismus der römischen Welt, der Abschaffung der Republik und der daraus resultierenden Reduktion des antiken Citoyen zum seinem materiellen Privatinteresse allein verpflichteten Eigentümer als deren »Offenbarung«, »Erscheinung« ursächlich verbindet 6 und nach einem der von Rosenkranz veröffentlichten »Fragmente historischer und politischer Studien aus der Berner und Frankfurter Zeit« durchaus mit Sympathie für den »Sansculottismus in Frankreich« das Prinzip der Sicherheit des Eigentums, jene »Angel« der modernen Gesetzgebung, welche den »unverhältnismäßige(n) Reichtum einiger Bürger« ermöglicht, als in zumindest potentiellem Widerspruch zu einer freien Verfassung bezeichnet7, so ist darin impliziert, daß die intendierte geistige Revolution, die Retransformation der positiven Religion in Moralität, möglich nur sein kann als zugleich politisch-gesellschaftliche Revolution, die Herstellung 5

Die Positivität der christlichen Religion (1795/96). Zusätze, a.a.O., S. 209 • a.a.O., S. 209 ff. 1 a.a.O., S. 439

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der Republik, die keines unerreichbaren Jenseits als Ort ihrer Hoffnungen, der »Revolution des Ganzen am Ende der Welt« 8 bedürfte. Nicht umsonst rekurriert die historische Analyse angesichts der deutschen Zustände auf das Fehlen eines deutschen »Theseus, der einen Staat gegründet und ihm Gesetze gegeben hätte«, und - wichtiger noch - das Ausbleiben deutscher »Harmodiosse und Aristogitone, denen wir als Befreiern unseres Landes Skolien sängen«9. Wobei sich freilich schon hier der personalistisdie Blick auf die Erfahrung des Tyrannensturzes antikisierender Vorbilder, nicht des modernen der Französischen Revolution bemächtigt. Den Grund für diese Betrachtungsweise und die Schlüsse, die aus ihr zu ziehen wären, scheint Hegel selbst in der Konfrontation gegenwärtigen deutschen und griechisch-antiken Bewußtseins anzugeben: D i e lieblichen Spiele eines H ö l t y , Bürger, Musäus ( . . . ) gehen f ü r unser V o l k w o h l ganz verloren, da es, um des Genusses derselben empfänglich zu sein, in seiner übrigen Kultur zu weit zurück ist, wie auch die Phantasie der gebildeteren Teile der N a t i o n von der der gemeinen Stände ein völlig anderes Gebiet hat und Schriftsteller und Künstler, die f ü r jene arbeiten, v o n diesen schlechterdings auch in Ansehung der Szene und der Personen ganz und gar nicht verstanden werden, — dahingegen der atheniensische Bürger, den seine A r m u t von der Fähigkeit, seine Stimme in der öffentlichen Volksversammlung zu geben, ausschloß oder der sich g a r als S k l a v e n verkaufen mußte, so gut als ein Perikles und Alkibiades wußte, w e r der Agamemnon und der ö d i p u s w a r , den ein Sophokles und Euripides in edlen Formen einer schönen und erhabenen Menschheit aufs Theater brachte oder ein Phidias und A p o l l in reinen Gestalten körperlicher Schönheit darstellte. 1 0

Die Feststellung zweier klassenmäßig differenzierter, total isolierter Kulturen impliziert nach Maßgabe der Kategorie der Wirkung die Kritik an der gegenwärtigen Kunst und Kultur als einer des ohnmächtigen Bildungsprivilegs und attestiert ihnen die Schuld an jenem Mangel an »Phantasie«, welche allein eine Nation zu beflügeln vermöchte, sich ihre Freiheit zu vindizieren. In diesem Zusammenhang erst erhält die eingangs mitgeteilte Beobachtung ihr charakteristisches Profil: Daß von Literatur und Kunst in den Aufzeichnungen aus der Berner Zeit kaum die Rede ist, findet seinen Grund in der literarischen Szene, wie sie Hegel seinerzeit erschien: als jeden Einflusses bares Refugium der Gebildeten, also gerade in einer besonderen Hochschätzung beider Bereiche, deren politische und gesellschaftliche Bedeutung der junge Hegel am Bild der Antike zu betonen nicht müde wird. Das mag verständlich machen, weshalb unter den Namen, die in der zitierten Passage genannt werden, derjenige nicht erscheint, der als hellster Stern in den Aufzeichnungen leuchtet: der Lessings. Der antiautoritäre Gestus des Aufklärers, dessen »Nathan« die Positionen der positiven Religion mit dem größten Widerhall erschüttert hatte, dessen kritische Intention auf die Herstellung einer über den engen Kreis der Gebildeten hinausweisenden Öffentlichkeit gegangen war, sprengt die geläufige kulturelle Szenerie; als wie8 9

D i e P o s i t i v i t ä t . . . , a.a.O., S. 208

a.a.O., S . 1 9 7 f . »« a.a.O., S . 1 9 9

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der und wieder avisierter Leuchtstern ist er Beweis dafür, daß des jungen Hegel viel zitierter Ruf nach der Mythologie nichts mit Spuk und blendendem Sdiicksal zu tun hat, wie seine ersten bürgerlichen Wiederentdecker wollten, wohl aber mit Phantasie, einem politischen Denken über den Status quo hinaus auf die freie bürgerliche Nation. Das historische Exemplum einer freien Republik findet Hegel nicht anders als seine progressiven Zeitgenossen in der griechischen Antike; die gesdiichtsphilosophische Analyse hat die Synkrisis von antikem und christlich-modernem Zeitgeist zum Grunde: Die griechische und römische Religion war nur eine Religion für freie Völker, und ¡mit dem Verlust der Freiheit muß auch der Sinn, die Kraft derselben, ihre Angemessenheit für die Menschen verlorengehen. 11

Demgegenüber erscheint das Christentum als eine Religion, »die entweder schon den Bedürfnissen der Zeit angemessen war, denn sie war unter einem Volke von ähnlicher Verdorbenheit und ähnlicher, nur anders gefärbter Leerheit und Mangel entstanden, oder aus der die Menschen dasjenige formen, sich an das hängen konnten, was ihr Bedürfnis erheischte«12. Der kryptomaterialistische Impuls, mit dem Hegel die Religionen auf Überbauprodukte des jeweils das Gesamt einer Gesellschaft bestimmenden Zeitgeistes zurückführt, steht in merkwürdigem Kontrast zur idealistischen Frage nach der Transformation des Christentums zur auf Freiheit und Vernunft basierenden »Volksreligion« 18 . Dieser Widerspruch, dessen Ausdruck die aus den historischen Studien abgeleitete geschichtsphilosophische Trias von Antike (gesellschaftliche und moralische Freiheit qua Integration des Individuums aus Überzeugung), christlichem Mittelalter (gesellschaftliche und moralische Unfreiheit qua Zwangsintegration der Individuen im Staat) und Moderne (Auftrag zur Restitution der Freiheit) ist, resultiert aus dem - freilich durch die gesellschaftlichen Bedingungen in den deutschen Staaten veranlaßten - Verzicht auf das konsequente Weitertreiben des Praxis-Begriffs: Der Gedanke an eine Revolutionierung der gesellschaftlichen Wirklichkeit wird substituiert durch den einer Bewußtseinsveränderung des zur Moralität zurückfindenden Subjekts. Damit unversöhnt bleibt jedoch die Genealogie, die - an einer später gestrichenen Passage - Hegel seinem Panegyricus auf den Genius des griechischen Volksgeistes voranstellt: Der Vater dieses Genius ist der Kronos, von dem er sein ganzes Leben in einiger Abhängigkeit bleibt (d[ie] Zeitumstände), seine Mutter die T T O A I T E I O , die Verfassung, s(eine) Wehmutter, s(eine) Säugamme die Religion, die zu Gehilfen der Erziehung die schönen Künste, die Musik der körperlichen und geistigen Bewegungen annahm. 14

a.a.O., S. 204 « a.a.O., S. 208 18 Fragmente über Volksreligion . . . , a.a.O., S. 33 und pass. « a.a.O., S.42

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Die Entwürfe folgen dieser Genealogie nicht. Der Praxisbezug reflektiert statt auf die Mutter, die Ordnung des gesellschaftlichen Zusammenlebens, auf die Säugamme, die das gesellschaftliche Bewußtsein aussprechende Religion mit ihren ästhetischen Gehilfen. Die geschichtsphilosophische Trias, die ungeachtet der Einsicht in die diametral verschiedenen gesellschaftlichen Verhältnisse noch im Bann des Blicks nach rückwärts: auf die Wiederherstellung einer der antiken vergleichbaren republikanischen Freiheit, steht, verdeckt das Bewußtsein der ihr zugrunde liegenden Synkrisis: daß das Ästhetische in der griechischen Antike seine Erziehungsfunktion in einer ohnehin schon ihrer selbstbewußt-mündigen Moralität sicheren Welt entfalte 15 . Angesichts des Fehlens der materiellen Voraussetzungen für eine politisch-moralische Veränderung in der Gegenwart wird das Ästhetische in der Folge zum Wert sui generis, zum Kristallisationspunkt der antizipatorischen Erfahrung von der Aufhebung der Herrschaftsstrukturen, der Trennung von Subjekt und Objekt. Daß diese Wendung sich unter dem Einfluß Hölderlins in Hegels erstem Frankfurter Jahr vollzieht, haben Henrich für die sog. »Entwürfe über Religion und Liebe«18, Pöggeler für das sog. »Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus« 17 nachgewiesen. Sie nimmt die Kritik der frühen religionskritischen Schriften aus der Berner Zeit an der zum wirkungslosen Bildungsprivileg gewordenen Literatur der Zeit auf, in der implizit bereits der Kunst eine gesellschaftspolitische Potenz ersten Ranges vindiziert war. Diese Konzeption bleibt jedoch dem Dilemma verhaftet, dem sie ihre Entstehung verdankt: der Reflexion auf die Notwendigkeit der Herstellung gesellschaftlicher und politischer Freiheit, für welche die materiellen Voraussetzungen in Deutschland doch nicht gegeben sind. Das »älteste Systemprogramm« mündet in die Vision der »ewigen Einheit unter uns«, der Aufhebung der Herrschaftsverhältnisse (»Nimmer der verachtende Blick, nimmer das blinde Zittern des Volks vor seinen Weisen und Priestern.«), der»gleiche(n) Ausbildung aller Kräfte, des Einzelnen sowohl als aller Individuen« (»Keine Kraft wird mehr unterdrückt werden.«), der »allgemeine(n) Freiheit und Gleichheit der Geister« 18 . Diese bürgerlich-revolutionärem Denken wohlvertrauten Postulate jedoch, im beschwörenden Präsens gehalten, antizipieren im Kontext nicht das Ergebnis einer politischen Revolution, sondern - der Stiftung einer neuen Mythologie, einer neuen Volksreligion, in welcher die Erfahrung der Schönheit als der alle anderen in sich aufhebenden Idee das Bewußtsein der Freiheit kon15

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Das entspricht der allgemeinen Bestimmung der Wirkung der Religion, die als »Verstärkung der Triebfedern der Sittlichkeit durch die Idee von Gott als moralischem Gesetzgeber« (a.a.O., S. 88) eine von der praktischen Vernunft geforderte Sekundärmotivation ist. Dieter Henrich: Hegel im Kontext. - Frankfurt/M 1 9 7 1 ( = es 510.) Otto Pöggeler: Hegel, der Verfasser des ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus. - In: Hegel-Tage in Urbino 1965. Vorträge. Hg. von H . G . Gadamer. Hegel-Studien. Beiheft 4. S. 1 7 - 3 2 Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus (1796/97), a.a.O., S. 2 3 6

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stituiert. Der Begriff des Ästhetischen als dialektischer Vermittlung von Mythos und Aufklärung, von Sinnlichkeit und Vernunft bestimmt die Kunst zum einheitsstiftenden Moment in der Gesellschaft, sofern sie sich als eine »Mythologie der Vernunft«le bestimmt: So müssen endlich Aufgeklärte und Unaufgeklärte sich die Hand reichen, die Mythologie muß philosophisch werden und das Volk vernünftig, und die Philosophie muß mythologisch werden, um die Philosophen sinnlich zu machen.20

So sind vor der Vision einer von der Kunst geeinten Allianz von Volk und Philosophen unversehens die realen gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse aus dem Blick geraten. So bedeutsam sich das »älteste Systemprogramm« von der ausgebildeten Ästhetik durdi die gleichrangige Würde, die es der Sinnlichkeit gegenüber der Vernunft zuweist, abhebt, so sehr bewegt es sich in den Wolken jenseits historisch-gesellschaftlicher Vermittelbarkeit. In der dem Text implizit eignenden, vom reifen Hegel zurückgewiesenen Sprachfigur des Sollens dokumentiert sich der Bruch zwischen der kritischen Analyse des Status quo, die das Systemprogramm ankündigt, und der Antizipation einer besseren Zukunft, ein Bruch, der nur mühsam verdeckt wird durch die geschichtsphilosophische Trias, derzufolge, was sein soll, sdion einmal gewesen ist: Die Poesie bekommt dadurch eine höhere Würde, sie wird am Ende wieder, was sie am Anfang war - Lehrerin der Menschheit; denn es gibt keine Philosophie, keine Gesdiidite mehr, die Dichtkunst allein wird alle übrigen Wissenschaften und Künste überleben.21

An dieser immensen Rangerhöhung der Poesie, der allein die Qualität des wahrhaft Ästhetischen zugemessen wird, ist die Aporie des »Systemprogramms« auszumessen: Das ewige Leben, das der Poesie attestiert wird, sofern sie ihrer Aufgabe einer obersten Synthesis des in der Realität Unvereinbaren gerecht wird, gewinnt sie allein um den Preis ihrer kritischen Potenz, an der sich das Denken des jungen Hegel doch entzündet hatte. Die Unmöglichkeit der in diesem Begriff des Ästhetischen implizierten Forderung, aus den realen gesellschaftlichen Bezügen herauszutreten und zum prähistorischen Ort eines noch nicht entfremdeten Daseins zurückzukehren, ohne damit den kritisch-emanzipatorisdien Anspruch aufzugeben, registriert das Konzept noch selbst in der die Vision der freien, geeinten, ihre Kräfte universal entfaltenden Menschheit in Frage stellenden Schlußbemerkung: Ein höherer Geist, vom Himmel gesandt, muß diese neue Religion unter uns stiften, sie wird das letzte große Werk der Menschheit sein.22

Diesen abstrakt-ahistorischen Kunstbegriff hat Hegel schon bald ebenso aufgegeben wie die ihn begründende geschichts-philosophische Trias. Die radikale i» a.a.O. » a.a.O. 21 a.a.O., S. 235 22 a.a.O., S. 236 2

Geschichtsphilosophie und Praxis

Historisierung, in deren Strudel der dialektische Denker auch die Formen des absoluten Geistes entstehen und aufgehoben sieht, führt gerade den Gedanken einer Erneuerung der antiken Kunstreligion ad absurdum: Die These von der Kunst als durchpassiertem Vorbei, das in der philosophischen Reflexion, als Moment ihrer eigenen Genesis erinnert, zu sich selbst kommt, ist weniger späte Antwort auf die eigenen Jugendentwürfe denn Kritik an ähnlich lautenden romantischen Tendenzen, in denen Poesie und Kunst als oberste sinnstiftende Kategorien figurieren. So berechtigt, ja notwendig die Absage an die Konzeption einer Progression nach rückwärts ist, im ausgebildeten System ereilt sie nicht nur deren affirmative Seite, sondern zugleich auch die kritische Intention einer Versöhnung von Vernunft und Sinnlichkeit, in welcher das »Systemprogramm« den Gedanken einer Antizipation herrschaftsfreier Praxis aufbewahrt hatte. Eben dieser Begriff einer anderen Praxis, die kritische Potenz ohne unmittelbaren gewaltsamen Eingriff enthält, kehrt höchst bedeutsam in den »Entwürfen über Religion und Liebe« aus der frühen Frankfurter Zeit prononciert wieder. In ihnen entwickelt Hegel die Erfahrung der Liebe als Modell einer nicht objektiv-fremden, positiven Gottesvorstellung mit Hilfe der Kategorien Subjekt — Objekt und Theorie - Praxis, die es ihm erlauben, ein Raster verschiedenartiger Subjekt-Objekt-Beziehungen aufzustellen: Die theoretischen Synthesen werden ganz objektiv, dem Subjekt ganz entgegengesetzt. Die praktische Tätigkeit vernichtet das Objekt und ist ganz subjektiv nur in der Liebe allein ist man eins mit dem Objekt, es beherrscht nicht und w i r d nicht beherrscht. Diese Liebe, von der Einbildungskraft zum Wesen gemacht, ist die Gottheit ( . . .). 2 3

Das Vorbild einer solchen religiösen Erfahrung als einer der Liebe ist, wie der voraufgehende Absatz lehrt, der griechische Mythos, wenn auch ihr Inhalt, das Göttliche oder »Ideal«, als »Subjekt und Objekt zugleich« »das Objekt jeder Religion« ist, »wo Subjekt und Objekt oder Freiheit und Natur so vereinigt gedacht wird, daß Natur Freiheit ist, daß Subjekt und Objekt nicht zu trennen sind« 24 . In der nunmehr bereits dialektischen Trias Moral-Liebe-Religion »Gesinnung hebt die Positivität, Objektivität der Gebote auf; Liebe die Schranken der Gesinnung, Religion die Schranken der Liebe« 25 . — ist Religion als Mythos gedacht, in dem die individuelle Erfahrung der Liebe durch die Phantasie des Künstlers im konkreten Allgemeinen aufgehoben wird, gerade weil Vernunft und Sinnlichkeit in der künstlerischen Praxis in ihrer Nichtidentität als identisch erfahren werden: die Kunstgestalt des Mythos als Modell herrschaftsfreier Subjekt-Objekt-Beziehungen im Gegensatz zur trennenden Eigentumsbeziehung als dem Signum der Moderne 26 . Das gegen alle positive Religion kritische Modell: 2

' E n t w ü r f e über Religion . . . ( 1 7 9 7 / 9 8 ) , a.a.O., S. 2 4 2 ** ibid. 25 29

D e r Geist des Christentums und sein Schicksal ( 1 7 9 8 - 1 8 0 0 ) , a.a.O., S . 3 0 2 E n t w ü r f e über Religion . . . , a.a.O., S . 2 4 9 und A n m .

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Werner Koepsel Liebe kann nur stattfinden gegen das Gleiche, gegen den Spiegel, gegen das Echo unseres Wesens. 27

ist die schärfste Kritik an naturbeherrschender Ratio: Begreifen ist beherrschen. Die Objekte beleben ist, sie zu Göttern machen.28

Moralität als Basis der Religion eines Volkes, das den Despotismus abgetan hat, bestimmt die Beziehungen des Menschen zu Gott und Natur, seine in der Praxis bewährte Gottes- und Naturvorstellung: Jene Vereinigung kann man Vereinigung des Subjekts und Objekts, der Freiheit und Natur, des Wirklichen und Möglichen nennen. Wenn das Subjekt die Form des Subjekts, das Objekt die Form des Objekts behält, die Natur immer noch Natur, so ist keine Vereinigung getroffen. Das Subjekt, das freie Wesen, ist das Übermächtige und das Objekt, die Natur, das Beherrschte.29

Damit ist die Identität einer auf Autorität gegründeten positiven Gottesvorstellung und naturbeherrsdiender Ratio klar ausgesprochen. Die Forderung, die Objekte zu »beleben«, sie nicht bloß im Kausalnexus der Naturgesetzlichkeit zu betrachten, verbindet diesen Passus mit der Forderung des »Systemprogramms« nach einer neuen Mythologie. Religiöse kann hier stets mit einer spezifischen Art der Kunsterfahrung gleichgesetzt werden: der der griechischen Antike. Die Einsicht in die Unmöglichkeit real eingreifender Praxis, auf die das Denken des jungen Hegel ging, führt also im Kontext unserer Fragestellung zunächst zu einer ambivalenten Lösung: Einerseits wird der Praxisgedanke projeziert auf das Ästhetische und damit tendenziell affirmativ, andererseits führt diese Projektion zu einer hellsichtig antizipierenden Kritik des modernen Praxisbegriffs, auf dessen Grund Gewalt erkannt wird, und damit zum kritischen Implikat eines anderen Praxisbegriffs, für dessen Gewaltlosigkeit »Liebe« einsteht. Um den Abstand zwischen den »Entwürfen« und dem entwickelten System auszumessen, bietet sich die Theorie der »Selbstverdoppelung« an, die in Frankfurt an der Erfahrung der Liebe, in den Ästhetik-Vorlesungen an der der Arbeit gewonnen ist 30 . In einem Fragment aus der Frankfurter Zeit, das Nohl dem Komplex der »Entwürfe« zugeordnet hat, bringt Hegel die Liebe auf den Begriff der »Verdoppelung seines (des Lebens, W. K.) selbst, und Einigkeit desselben«31. Selbstverdoppelung heißt hier »Objektlosigkeit«, daß Liebe »dem Entgegengesetzten allen Charakter eines Fremden raubt«, jedoch so, daß in ihr »das Getrennte noch (ist), aber nicht mehr als Getrenntes, (sondern) als Einiges, 27

a.a.O., S. 243 a.a.O., S. 242 2 « ibid. 80 Um der gebotenen Kürze willen beziehen sich die folgenden Ausführungen, soweit sie die Ästhetik-Vorlesungen betreffen, auf meine Arbeit »Die Rezeption der Hegelschen Ästhetik im X X . Jh.«, die demnächst bei Bouvier in Bonn erscheinen wird. In ihr werden die hier nur angesprochenen Zusammenhänge explizit entfaltet. 81 Entwürfe über Religion . . . , a.a.O., S. 246 28

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und das Lebendige fühlt das Lebendige« 32 . Hegel begreift also hier Entfremdung in der Tat noch als Verdinglichung, als Zum-Objekt-Madien all dessen, was Nicht-Ich ist: Entfremdung manifestiert sich in der Positivität der autoritären Gottesvorstellung ebenso wie in naturbeherrschender Ratio und der Herrschaft der Zweck-Mittel-Rationalität über die menschlichen Beziehungen. Die Antwort auf diese Situation unmenschlicher, weil unmoralischer, Freiheit negierender Trennung von Subjekt und Objekt verharrt freilich auf dem Gebiet des Kampfes gegen die kirchlich-theologische Herrschaft im Namen einer Identität und Unterschied vermittelnden Subjekt-Objekt-Identität, die als Liebe und Hingabe die Subjektivität all dessen, was Nicht-Ich ist, und damit sich selbst anerkennt. Dabei impliziert das Modell der Liebe das Weitere, daß sie erst die in autoritären Strukturen verhinderte Kreativität und Produktivität freisetzt 33 . Von hieraus wird es verständlich, daß das Ideenreich des »ältesten Systemprogramms«, das die frühen Frankfurter Arbeiten präludiert, ausgespannt ist zwischen Ethik, dem Vernunft und Sittlichkeit, Wahrheit und Güte ermöglichenden Bewußtsein »absolute(r) Freiheit« und Ästhetik, der alles vereinigenden Idee der neuen vernunftbegründeten Mythologie. Es ist der Versuch, den antiautoritären Impetus der Aufklärung aufzunehmen, ohne naturbeherrschender Ratio, der Reduktion auf Zweck-Mittel-Rationalität zu verfallen. Die im »Systemprogramm« programmatisch erhobene Forderung: »Monotheismus der Vernunft und des Herzens, Polytheismus der Einbildungskraft und der Kunst« 34 , als Basis für das Ziel der den Staat abschaffenden »allgemeine^) Freiheit und Gleichheit der Geister« mußte sich jedoch dem späteren Hegel - und darin sehen wir den Grund für die Aufgabe dieser Konzeption nicht nur als unhistorisch, sondern auch als widersprüchlich erweisen. Historisch war sie gewonnen an der Gegenüberstellung von Christentum und — später als unwiederholbar und inkomparabel begriffener - Antike, deren Mythologie »nur eine Religion für freie Völker« habe sein können. Wie aber sollten die komplementären Formen von politisch-gesellschaftlicher und religiöser Entfremdung, deren unheilige Allianz Hegel doch im Interesse der Aufrechterhaltung gewaltsamer Herrschaft begründet gesehen hatte, durch eine neue Mythologie überwunden werden? Der Primat der »Philosophie des Geistes« 35 hinderte Hegel, die Notwendigkeit naturbeherrschender Ratio, d. h. von Arbeit und Herrschaft einzubekennen und dadurch zu dem vorzustoßen, was mit Adorno als »zweite Reflexion« zu bezeichnen wäre. Das Erfahrungsmodell herrschaftsfreier, Moralität garantierender Subjekt-Objekt-Beziehung macht sich, als personales übertragen auf Gesellschaftliches, jener Abstraktion des Aus-der-Pistole-Geschossenen schuldig, die später Hegel an seinen Kontrahenten karikierte. Die Beschäftigung mit konkreten gesellschaftlichen Fragen und ihrer historischen S2 ibid. 33 a.a.O., S. 248 34 Das älteste Systemprogramm . . . , a.a.O., S. 23$ f. 35 a.a.O., S. 23 j

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Prozessualität leitete ihn zur Erfahrung des Arbeitsbegriiis. Die seit Marx vielgerühmte Einsicht in die geschichtsbildende Kraft der Arbeit aber führte, zum allein grundlegenden Erfahrungsmodell gesteigert, zur Destruktion jener Ansätze seiner Jugend, die Bedeutung herrschaftsfreier Interaktion bewußt zu machen. Daher wird in der Konsequenz des Systems die Natur zum Objekt und zur Form der Entfremdung. Daher auch entziehen sich dem Hegel des Systems wesentliche Momente des Ästhetischen, dessen Praxis in der Tat ohne Liebe nicht kann gedacht werden, indem die seit der »Phänomenologie« bestimmende Forderung, die Substanz auch als Subjekt zu denken - und sie ist in den »Entwürfen« vorformuliert - , den Subjektcharakter dem denkenden Bewußtsein allein vorbehält. Daher schließlich verliert das Ästhetische seinen progressiven Rang für das Bewußtsein der Gegenwart, und die Liebe, die einst untrennbar mit ihm verbunden gewesen, wird zum Thema der der Selbstauflösung entgegentreibenden romantischen Kunstform. Der Blick auf die ästhetische Theorie vermag den Abstand zu bestimmen, der die voll entwickelte Systemphilosophie von den Ansätzen des jungen Hegel trennt. Zwischen ihnen liegt die die Erfahrungen der historischen Entwicklung nach der Französischen Revolution ratifizierende Abkehr von den heroischen republikanischen Illusionen und der geschichtsphilosophischen Trias zugunsten einer Geschichtsphilosophie, die dem Christentum im »Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit« eine wichtige Funktion zuerkennt und die Erfahrung der Antike auf den Begriff des Ästhetischen ausrichtet, der seinerseits schon im Zusammenhang mit dem der Prosa gesehen werden muß. Dem Ästhetischen bleibt seine Ranghöhe gewahrt, aber nunmehr beschränkt auf die unwiederholbare historische Epoche der Antike, für deren Bewußtseinsstand es der höchste, umfassendste Ausdruck gewesen sei. Die Klaglosigkeit, zu der sich die ÄsthetikVorlesungen gleichsam offiziell beim historischen Abschied an ihren Gegenstand verpflichten, ist jedoch nicht ungebrochen: Unterm Druck der Systematik, die sich immer wieder selbst suggerieren muß, alle anstehenden Probleme in der philosophischen Reflexion aufgehoben zu haben, ist manches auf der Strecke geblieben, das sich nur in Brüchen und Widersprüchen der dialektischen Logik zu Worte meldet. Vor der historischen Fortschrittsperspektive, in unserem Jahrhundert fragwürdiger denn je, droht Kunst zum bloßen Ausdruck der Gesellschaft zu werden und der Erinnerung an ihre kritische Potenz, Antizipation einer anderen Praxis zu sein, verlustig zu gehen: Aus ihr hätte die entwickelte Ästhetik die Bedeutung der Kunstform, der Technik, die sie im tendenziell geschlossenen Inhaltismus übergeht, aus ihr die Bedeutung einer nicht-unterdrückten Natur ableiten können, statt sich blind-positiv dem Prinzip der Naturbeherrschung zu fügen. Die Versöhnung, als die im Signum des Mythos antike griechische Kunst war gedacht worden, wird im entwickelten System der vorausgesetzten Naturbeherrsdiung gemäß nur behauptet; im selben Maße gewinnt ironischerweise allem historischen Sinn zum Trotz der Klassizismus die Oberhand: N u r dann kann die griechische Kunst ihren paradigmatischen Sinn be-

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haupten, wenn das Prinzip der Naturbeherrsdiung bereits sie bestimmt. Indem der Kunst vorab die einst vorgedachte Beziehung auf eine mögliche andere Praxis als die der Objektbeherrsdiung abgesprochen, der Kunst nach der Kunst obendrein die allein der Antike zugebilligte Dignität als Bewußtsein ihrer Zeit in ihrem höchsten Ausdruck verweigert wird, wird die spätromantische Kunst, als welche die Moderne in den Vorlesungen begriffen ist, zum leeren, allenfalls geistreidien und technisch perfektionierten Spiel der Unterhaltung degradiert. Der dialektische Umschlag von der extremen Überhöhung in die Degradation des Ästhetischen aber bezeugt die Brüchigkeit der sie jeweils stützenden Geschichtsphilosophie: Sowohl die These von der Restitution der schon einmal gewesenen Freiheit wie die vom erreichten Resultat des Progresses im Bewußtsein der Freiheit sind durch den ihnen gemeinsamen Blick nadi rückwärts als Fluchtstationen vor der unaufhebbar scheinenden N o t der Geschichte dechiffrierbar. Jene Momente ihrer eigenen Genesis, die sich die entfaltete Hegeische Ästhetik in ihren Konstitutionszusammenhang aufzunehmen versagt hat — und die doch als unbewältigte immer wieder in ihr hervorbrechen, weil sie ihrem selbstverordneten Geschichtsoptimismus zum Trotz weiß, daß Herrschaftsfreiheit, f ü r die Kunst im antizipierenden Bild einsteht, noch nicht ist —, hat Ästhetik heute zu berücksichtigen, wenn sie sich an der Kunst ihrer Zeit verifizieren will. Zu bestehen ist auf der Perspektive der Herrschaftsfreiheit, eingesenkt dem Begriff einer anderen Praxis, nidit weniger als auf der der Historizität und gesellschaftlichen Bedingtheit der K u n s t : Die intendierte Dialektik des Kunstwerks sich voll entfalten zu lassen, heißt auch, dem Wahrheitsgehalt der philosophischen Ansätze des jungen Hegel gerecht zu werden. N u r dann ist der Umschlag zu vermeiden, den die Entwicklung des Hegeischen Denkens - freilich ohne in ihm aufzugehen: sonst hätte es seine unvergleichbare Wirkung nicht entfalten können — paradigmatisch vorführt: von der auf Gesellschaftspolitisches intendierten, mit ihm jedoch nicht vermittelten kritischen Funktionsbestimmung, die in der These von der Kunst als wiedererweckter »Lehrerin der Menschheit« zum Ausdruck kommt, zur affirmativen Idee der Schönheit, die k r a f t der historisch gewandelten gesellschaftlichen Bedingungen aus ferner Vergangenheit nurmehr herüberstrahlt, weil die Gegenwart ihrer nicht mehr bedürfe. Aus der E r f a h rung dieses Umschlags ließe sich einiges entnehmen für die Kritik dessen, was heute auf weite Strecken als Ästhetik firmiert: Wo die Theorie des Sozialistischen Realismus diesen nicht unähnlich den Forderungen des jungen Hegel als Wiedererwecker des klassischen Erbes nach der kunstfeindlichen Zeit der H e r r schaft des Kapitals bestimmt, schreibt sie ironischerweise im Signum des objektiven Verzichts auf die kritische Funktion der Kunst die »neue Mythologie«, während spätbürgerlich-affirmatives Denken auf der Suche nach dem ewig Schönen sich dem alten Mythos gleidi selbst zuwendet.

Information oder Literatur Über das Verhältnis von Sprache und

Subjektivität

V o n HELMUT ARNTZEN, M ü n s t e r

Wilhelm Emridi ist von bestimmten jungen und jüngsten Literaturwissenschaftlern längst als Angehöriger der »werkimmanenten Schule« registriert worden. Daß Emridi dazu so wenig gehört wie zu einer anderen traditionellen Richtung der Literaturwissenschaft, ist jedem klar, der sich mit seinen Schriften genauer befaßt, d. h. auf sein Denken sidi einläßt. Doch gilt ebenso, daß er mit den gerade noch gängigen, morgen durch andere Banalitäten überholten zeichentheoretischen wie soziologischen Literaturtheoremen nichts zu tun hat. Darum scheint es erstaunlich zu sein, daß ein so »für sich« stehender Wissenschaftler in den fünfziger und den sechziger Jahren ein derart großes Publikum finden konnte. Vielleicht war für diesen »Erfolg«, wie das oft für bedeutende Denker und Schriftsteller gilt, zu einem großen Teil Mißverständnis die Ursache, wahrscheinlicher ist noch, daß ein Moment in Emrichs Vortrag so besonders anziehend wirkte, dessen Wahrnehmung bereits eine gewisse moralische Sensibilität voraussetzt: nämlidi der Ernst, mit dem hier Idee und Erscheinungen der Literatur reflektiert wurden. Denn die deutsche Literaturwissenschaft und -kritik war nach der Romantik, von wenigen Ausnahmen abgesehen, von diesem Ernst im Sinne der Anstrengung des Begriffs der Literatur weit entfernt. Mit dem hat ja das bildungsbürgerliche Pathos nichts zu tun, das nodi in den fünfziger Jahren von den meisten deutschen Lehrstühlen heruntertönte, und erst recht nicht jene Attitüde munterer Seifensieder, die gerade in diesen Jahren so verbreitet war und mit dem völlig depravierten Begriff des ästhetischen Spiels sich leicht tat. Während die älteren Geistes- und Ideengeschichtler sich zumeist kopfschüttelnd zurückzogen, als die ersten Bilder- und Seminarstürmer erschienen, jedenfalls kaum den Versuch machten, das Substantielle ihrer bis dahin sonor vorgetragenen Traditionalismen zu bewähren, begannen große Teile der jüngeren die Vokabel »Denkprozeß« zu verwenden, um damit ihrem Zickzackkurs von der immanenten Betrachtung, die einst am liebsten nur in Klängen gedacht hätte, zum Postulat gesellschaftlicher Relevanz von Literatur, das sie nun am liebsten auf dem Verordnungswege durchgesetzt hätten, die Konsequenzen zu erschleichen, die nur ihrer jeweiligen Anpassungsfähigkeit zu bescheinigen gewesen wären. Für Wilhelm Emrich konnte die Literaturfeindlichkeit, die die Jahre nach 1968 dezidiert

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kennzeichnete, nicht überraschend kommen: sie war ja die Fortsetzung der Bagatellisierung der Literatur in den voraufgehenden Jahren mit brutaleren Mitteln. Vielleicht war sie aber auch schon ein erstes Indiz dafür, daß begonnen wurde, sie wieder ernstzunehmen. Dieses Ernstnehmen hat für Emrich immer zuerst und vor allem darin bestanden, literarische Texte zu lesen, »als wären es heilige«1, in welcher von Adorno an Benjamin hervorgehobenen Haltung eine der wichtigsten Beziehungen zwischen ihm und diesen beiden vor allem an der Literatur orientierten Philosophen besteht. Was in dieser Bemerkung auf Theologisches deutet, erscheint bei den drei Autoren nicht im geringsten in der willkürlichen Ersetzung der heiligen durch profane Schriften, sondern in der methodischen Konsequenz einer Reflexion des Geschichtsgangs. Es ist die Reflexion jener historischen Veränderung, in deren Zug an die Stelle der »Objektivität« der offenbarten wie der Vernunftwahrheit (welch letztere ihrer Struktur nach, nämlich als dogmatisch lehrbare, der ersteren durchaus noch entspricht) positives Wissen und Subjektivität (entweder als Meinen oder als ästhetische Darstellung) getreten sind. Während aber jenes als solches nur noch privat ist und bleibt, ist die Darstellung - wie die Kantsche Ästhetik schließen läßt - eben kraft dessen, was sie als Erscheinung des Zusammenspiels der für alle Erkenntnis notwendigen Kräfte ausmacht und was in Begriffen wie Struktur, Form u. ä. zu fassen versucht wurde, durchaus einem auf Allgemeingültigkeit tendierenden Urteil, dem Geschmacksurteil nämlich, zugänglich. In der ästhetischen Darstellung objektiviert sich das Subjektive, wird das Besondere bedeutend, und Emrich — wie übrigens auch Adorno — berufen sich auf die klassische Ästhetik, wenn sie die Dialektik von Besonderem und Allgemeinem, von Form und Wahrheit, von künstlerischer Technik und Gehalt in der genauen Analyse des einzelnen Textes und dessen spekulativer »Weiterführung« herausarbeiten. Ein zentraler Begriff ist für Emrich dabei der der ästhetischen Vernunft, in welcher ja nur scheinbar paradox das sinnlich Besondere und das begrifflich Allgemeine als (dialektisch) Eines postuliert werden, insofern jenes nicht einfach da ist, sondern dargestellt werden muß, und dieses nur in der Darstellung des Besonderen konkret, also wirklich ist. Dieser für die Erschließung der neueren Kunst und Literatur wichtige Begriff, mit dessen Hilfe die zäh propagierte Dichotomie von parteilicher, das ökonomische Sein spiegelnder Literatur und absoluter Poesie als vollständig obsolete erkennbar wird, bildete sich aus dem Weiterdenken vor allem der Kantschen und Schillerschen, z. T. auch der Hegeischen Ansätze. Es ist eine der Demonstrationen sich vergrößernder Blindheit in unserem Zeitalter, daß gerade dieses Denken, das die »fortgeschrittenste«, weil nämlich entwicklungsfähigste, konsequenteste und sinnvollste Reflexion der Literatur in unserer Epoche impliziert 1 Adorno, Theodor W.: Charakteristik Walter Benjamins. In: Th.W. A., Ober Walter Benjamin. Ed. R. Tiedemarm. Frankfurt a. M. 1970. S. 19. (Bibliothek Suhrkamp. Bd. 260.)

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und ermöglicht, ständig durdi Banausien wie etwa »bürgerliche Literaturideen« als überholt denunziert werden soll, Demonstration der Blindheit darum, weil es sich bei Urteilen wie diesen nur um die Folge einer völlig reflexionslosen Rezeption des sogenannten idealistischen Denkens handelt, das von diesem schlechterdings nichts begriffen hat, bzw., was noch wahrscheinlicher ist, um die (negativ qualifizierende) Wiederholung der gängigen philosophiegeschichtlichen Banausien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die das Ästhetische als Schönes und Erhabenes primär mit den Vorstellungen des Dekorativen und Erbaulichen verbanden. Emrich hat dagegen — durchaus in Übereinstimmung mit Kant und Schiller die Konkretisierung der ästhetischen Vernunft vor allem in der künstlerischen Darstellung des Bewußtseins gesehen, und zwar als Darstellung intelligiblen Bewußtseins, die immer auch Kritik am empirisdien Bewußtsein in all seinen historischen und anthropologischen Varianten ist. Bei Adorno scheint, was bei Emrich als idealistische Tendenz mißverstanden werden kann und auch heute natürlich prompt so mißverstanden wird, dadurch vermieden zu werden, daß das empirische Bewußtsein als Gesellschaft »materiell« wird, was aber auch gleichzeitig bedeutet, daß an die Stelle des Intelligiblen allein die Negation der Gesellschaft oder allenfalls die historisch vage Perspektive der befriedeten Natur tritt. Der provozierende und befreiende denkerische Anachronismus Emrichs insistiert hingegen auf Wahrheit gegen Lüge, Wahrheit, die sich eben in der Literatur kraft Darstellung nicht als historisch bedingte, sondern als absolute zu bezeugen vermag. Emrich weist schon dadurch, daß er die Wahrheit (in der Moderne) als allein in Kunst und Dichtung vermittelte begreift, darauf hin, daß hier an keine explizite und diskursiv zu zeigende Wahrheit gedacht wird, weswegen es mir problematisch erscheint, die Sphäre des »Intelligiblen« mit verdingliditen »höchsten, absoluten >Werte[n]< (Freiheit, Sittlichkeit, Gott, Unsterblichkeit)«2 gewissermaßen füllen zu wollen. Auch scheint es mir nicht in der Konsequenz seines eigenen Ansatzes zu liegen, der der ästhetischen Vernunft ja gerade in der Epoche der Klassik und Nachklassik entscheidende Bedeutung gibt, wenn Emrich manchmal Literatur und Philosophie nur als zwei Seiten desselben auffaßt. Vielmehr ist es wohl beachtenswert, daß in der nachhegelschen Epoche nicht der systematische Philosoph relevant blieb, sondern der hier - faute de mieux - philosophischer Schriftsteller zu nennende Denker (welche Bezeichnung leider für Denkimpressionisten des frühen 20. Jahrhunderts Verwendung gefunden hat, während dabei vielmehr an Schopenhauer, Kierkegaard, Nietzsche, Benjamin, Adorno, G. Anders u. a. zu denken ist) und der Spradidenker von Humboldt bis Heidegger.

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Emridi, Wilhelm: D a s Problem der Wertung und Rangordnung literarischer Werke. I n : W . E., Geist und Widergeist. Wahrheit und Lüge der Literatur. Studien. Frankfurt a. M . 196$. S. 16.

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Nicht das gängige Mißverständnis, das Bewußtsein nur als »Mentalität«, als empirisches Bewußtsein kennt und darum das idealistisch nennt, was unter dessen Bedingtheit sich nicht bringen lassen will, scheint mir ein beachtenswertes Problem bei der Aufnahme von Emrichs Arbeiten zu sein - denn jenes Mißverständnis ist, wie gesagt, nur die Folge eingeschränkter Reflexion - , sondern das Verhältnis von ästhetischer Vernunft, die immer und allein im einzelnen Kunstwerk erscheint, zum Intelligiblen (als durch die Summe expliziter Werte bestimmter Wahrheit). Könnte eine solche Bestimmung nicht doch zu einem problematischen Idealismus führen, und sollte anstelle so bestimmter Wahrheit nicht richtiger eine Idee gedacht werden, die die Dialektik der ästhetischen Vernunft wirklich zu bewähren vermöchte? Die müßte ja so zu denken sein, daß in ihr Besonderes und Allgemeines, Form und Wahrheit immer latent sind und offenbar werden können, so daß nicht die Schwierigkeit entstünde, den Akt, da im Ästhetischen jetzt Vernunft erscheint, also das Schreiben eines literarisch künstlerischen Werkes z. B., an ein Genie im Sinne irrationaler Spontaneität und Inspiriertheit zu binden, das kaum den Kantschen Vorstellungen, sondern eher jenen populären entspräche, für die plötzlich und unerklärlich ein qualitativer Sprung geschieht. Eine solche Idee scheint mir aber nichts anderes als die der Sprache selbst zu sein, wenn diese nicht mehr von dem Dualismus von langue und parole her, sondern als konkrete Einheit von System, Geschichte und Sprechakt begriffen wird. Wilhelm Emrich hat mich zum erstenmal auf Bruno Liebrucks' großes Werk »Sprache und Bewußtsein« hingewiesen, an dessen Lektüre ich mich aber erst viele Jahre nach diesem Hinweis machte. Liebrucks' Leistung besteht nicht darin, eine neue Sprachphilosophie vorgelegt zu haben, sondern im Lichte des vordialektischen wie des dialektischen Denkens die Notwendigkeit der Sprachlichkeit wie die Notwendigkeit der Erkenntnis der Sprachlichkeit des Menschen für den Aufbau seiner Welt als menschlicher ebenso zu zeigen wie die Katastrophe, die in der faktischen Sprachlosigkeit unserer Epoche als Ausdruck nichtbegriffener Sprachlichkeit liegt: von der üblichen Instrumentalisierung der Sprache als sprachlosem Denken bis zum Totschlag als sprachloser Tat. Die Sprachlichkeit als das den Menschen, nämlich seine Geschichte erst Konstituierende ist Liebrucks nicht einfach eine Begriffsvariante für Bewußtsein, sondern Sein und Bewußtsein des Menschen als wahrnehmbar, fühlbar, erkennbar eines. Diese Erfahrung könnte die philosophische Rotation der letzten zweihundert Jahre, die vom Kopfstand zum Auf-die-Füße-stellen führte, was aber wieder nur dazu gut war, den neuen Kopfstand vorzubereiten oder die Bodenlosigkeit des auf den Füßen Stehenden zu offenbaren, zum Halten bringen. Das kann nur gelingen, wenn zuvor das gesamte »idealistische« wie »materialistische« als instrumentales Sprachdenken von der Erkenntnis destruiert wird, daß der Mensch immer schon sprachlich ist, schon - mit Herder zu sprechen - als Tier Sprache hat. Liebrucks deutet die Umkehrung aller heute gängigen Theorie- und Praxis-

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auffassungen in dem Satz an: »Handlungsfähigkeit des Menschen ist Moment innerhalb seiner Sprachlichkeit, niemals aber ist die Sprachlichkeit Moment innerhalb seiner als des handelnden Wesens«8. Wie Praxis (und Theorie) an der Sprachlichkeit des Mensdien zu messen ist, so wird das Wissen oder Nichtwissen ihrer Sprachlichkeit selbst im Sprechen der Menschen erkennbar. Kunst, Dichtung vor allem ist nichts anderes als die Bezeugung der ihrer selbst bewußt gewordenen menschlichen Spradilidikeit, ist also ein Sprechen, das als dieses besondere konkret und allein Sprache ist, d. h. jenseits ihrer Instrumentalisierung und damit der Instrumentalisierung der Welt und des Menschen. Das aber ist die Erfüllung des Kantschen Ansatzes in der Ästhetik über dessen Befangenheit in bloßer Reflexionsphilosophie hinaus: die wirkliche Allgemeingültigkeit der Subjektivität. Die von Wilhelm Emrich — einem der wenigen, die mit dem Weiterdenken der sogenannten klassischen (und romantischen) Ästhetik und Dichtungstheorie Ernst gemacht haben - postulierte ästhetische Vernunft wäre konkret als diejenige Sprache-Sprechen-Einheit zu begreifen, die bisher allein in der bildenden, musikalischen, vor allem in der literarischen Kunst sich realisiert hat. Die Anfänge der theoretischen Begründung dieser Einheit sind aber historisch gleichzeitig mit der Dichotomie von zufälligem Meinen und objektivem Wissen, die ebenfalls bei Kant ihre authentische Darstellung erfährt, so daß darin die Fragwürdigkeit und die Möglichkeit der Subjektivität im Felde der Erkenntnis hervortritt. Wie nun dem Meinen alle Verbindlichkeit vollends abgeht, es privat wird, so ist dem Wissen jedes Moment der Subjektivität verwehrt (es sei denn die, die in der Weise unserer Anschauungsformen Erkenntnisvoraussetzung schlechthin ausmacht, also gerade nicht konkrete Subjektivität). Will Kant noch dem Glauben Platz schaffen, so richtet sich die Bemühung der Epoche eben darauf, dem Meinen institutionellen Raum zu geben und es - ohne daß bei denen, die für die Freiheit der Meinung eintraten, einen Augenblick das Prekäre des Versuchs bedacht worden wäre - dem Wissen zu vermitteln, d. h. beides sprachlich zu machen. Denn in der Forderung nach Pressefreiheit wird eben das Prekäre dieser Vermittlung zugunsten eines politischen Postulats verdrängt, gilt subjektive Allgemeingültigkeit als schon in der Vervielfältigung der Meinung bewährt, die Gesichertheit des Wissens aber darin, daß auch Geschichte subjektlos auf Tatsachen, Daten zu reduzieren sei, als handele es sich dabei um die Elemente mathematischer oder doch zumindest physikalischer Sätze, und als sei, daß die »Fakten« von Subjekten gesprochene Sätze sind, dabei unerheblich. In den Nachrichten der Tageszeitungen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, in denen des Radios und des Fernsehens haben wir den Versuch vor uns, die Dichotomie von Meinen und Wissen wortwörtlich zu überreden. Gleichzeitig wird die - wiederum bei Kant - sich abzeichnende wahrhaftige Vermittlung, 3

Liebrucks, Bruno: Sprache und Bewußtsein. Bd. i : Einleitung. Spannweite des Problems. Von den undialektisdien Gebilden zur dialektischen Bewegung. Frankfurt a. M. 1964. S. 47.

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nämlidi die von Besonderem und Allgemeinem im Horizont der ästhetischen Subjektivität, mehr und mehr auf die Maße des Esoterischen eingeschränkt4. Doch in der Information der Zeitung zeigt sidi die behauptete Vermittlung als von vornherein mißlingende. Schaltet die Meinungsrede nämlich mit dem, was sie als Faktum präpariert glaubt, nach Belieben, insofern sie Meinungsrede ist, so ist die Nadiricht, die das Faktum präparieren will, insofern sie insistiert, Wissen zu bieten, objektive Information zu sein, bewußtlos dem gegenüber, daß sie selbst Rede, Sprechen ist. Doch wird dies erst ganz deutlich, wenn Meinungsrede eben auch - und notwendig - in dem angetroffen wird, was vorgibt, nichts als Nachridit zu sein. Gut ein Jahr, bevor Hitler in Deutschland Reichskanzler wird, am 2. 1. 1932, erscheint in der »Vossischen Zeitung« ein Bericht, der, mit dem Namen des Korrespondenten gezeichnet, eine Episode aus dem japanisch-chinesischen Krieg übermittelt. Die Form des Korrespondentenberichts ist eines der ältesten Genera der Zeitung, sie geht aus dem Brief, genauer aus dem Korrespondentenbrief großer Handelshäuser hervor. Jeder Brief, zumal ein so spezifischer, ist auf ein bestimmtes Publikum hin geschrieben und wird in der Auswahl seiner Mitteilungen und deren Vortrag eben von diesem Publikum bestimmt. Das Zeitungspublikum dagegen ist vergleichsweise so wenig homogen, daß es kaum genauer bestimmt werden kann, ja gerade dies würde den Prinzipien der an Tatsachen orientierten Zeitung widersprechen, wenn diese nicht von vornherein als Parteiblatt auftreten will, das nur (ideologische) Meinungen weitergibt: Der Text lautet: Die Eroberung von Kupangtse Japan bombardiert und besetzt neuen Eisenbahnknotenpunkt Copyright by Ullstein-Dienst, Berlin Sonderdienst der Vossischen Zeitung K U P A N G T S E , 1. Januar Der Eisenbahnknotenpunkt Kupangtse, zwanzig Kilometer von dem chinesischen Hauptlager T s c h i n t s c h a u in der Südmandschurei entfernt, ist nach einem heftigen Bombardement durch japanische Flugzeuge von den Chinesen geräumt und von japanischen Truppen besetzt worden. Im Laufe des gestrigen Tages sind fast 30 Bomben abgeworfen worden, die sechs Personen schwer verletzten; die Eisenbahnstrecke ist nadi beiden Seiten hin durch Löcher von bis zu fünf Meter Durchmesser beschädigt. Nach fieberhaften Ausbesserungsarbeiten sind über zehntausend Chinesen dann fluchtartig in zwölf Zügen nach Tschintschau zurückgezogen worden, nachdem sie hinter sich Telefon und Telegrafenapparate zerstörten und den Bahnhof in Brand setzten.

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S. Arntzen, Helmut: Literatur und öffentliche Meinung. In: H . A . , Literatur im Zeitalter der Information. Aufsätze, Essays, Glossen. Frankfurt a. M . 1 9 7 1 . S. 4 4 - 5 6 ; A . , H . : Grundfragen der Literatur. In: Die Literatur. Freiburg i. Br./Basel/Wien 1 9 7 3 . Insbes. S. 2 1 - 2 3 u. S. 3 0 - 3 3 . (Wissen im Überblick.); A . , H . : K a r l Kraus und die Presse. München 1 9 7 J (im Drude).

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I n d e r N a c h t s i n d E i n w o h n e r aus d e r g a n z e n U m g e g e n d in g r o ß e r Z a h l herbeigeeilt, um aus den verlassenen W o h n u n g e n d e r chinesischen E i s e n b a h n b e a m t e n alles, w a s nicht niet- und n a g e l f e s t ist, z u entfernen. F r a u e n , K i n d e r u n d Greise schleppen S t ü h l e , Bücher, M i l i t ä r u n i f o r m e n , H ü t e , O e f e n , alte F l i n t e n u s w . f o r t , w ä h r e n d ein R u d e l herrenloser h u n g r i g e r H u n d e sie umkreist. Z u r ü c k g e b l i e b e n w a r n u r der Z u g m i t den Presseberichterstattern. S p ä t e r k a m e n die japanischen F l u g z e u g e w i e d e r u n d setzten die p l ü n d e r n d e n Chinesen, die v o n d e m s t u n d e n l a n g e n B o m b a r d e m e n t a u f s äußerste v e r ä n g s t i g t w a r e n , in riesige A u f r e g u n g . Sie v e r k r o chen sich in g r o ß e r Z a h l unter unsern Berichterstatterwagen, w o d u r c h sie auch unsern Z u g d e m japanischen B o m b a r d e m e n t aussetzten. G e g e n m i t t a g k a m d a n n aus d e m S ü d e n her die japanische K a v a l l e r i e , u m die brennende E i s e n b a h n s t a t i o n z u besetzen, und ü b e r a l l die F l a g g e J a p a n s z u hissen. D e r k o m m a n d i e r e n d e O f f i z i e r w a r tief enttäuscht, als einzige » F e i n d e « n u r uns J o u r nalisten v o r z u f i n d e n , die den Einmarsch der J a p a n e r f o t o g r a f i e r e n w o l l t e n . M i t den 300 K a v a l l e r i s t e n sind sechs P a n z e r a u t o m o b i l e u n d v i e r P a n z e r m o t o r r ä d e r eing e t r o f f e n . D a n a c h f o l g t e n P a n z e r z ü g e m i t I n f a n t e r i e u n d viele M a t e r i a l z ü g e , u m den unterbrochenen E i s e n b a h n v e r k e h r w i e d e r v o l l s t ä n d i g herzustellen. D i e A r t i l l e rie soll v o m S ü d e n h e r über den g e f r o r e n e n B o d e n h e r b e i g e z o g e n w e r d e n ; d e r g a n z e E i n n a h m e p l a n der strategisth außerordentlich wichtigen S t a t i o n K u p a n g t s e l ä ß t a u f genaueste, s o r g f ä l t i g e D u r c h a r b e i t u n g schließen. Oberst W a k a m a t s u , d e r japanische O b e r k o m m a n d i e r e n d e , e r z ä h l t m i r w ä h r e n d einer Tasse T e e beim b r i t i s c h e n E i s e n b a h n i n s p e k t o r die Geschichte d e r B e s e t z u n g d e r H a u p t l i n i e M u k d e n - K u p a n g t s e , nachdem z w e i N e b e n l i n i e n v o r her besetzt w u r d e n . U e b e r seine k ü n f t i g e n P l ä n e k o n n t e er keine A u s k u n f t erteilen. V e r m u t l i c h w e r d e n sich die japanischen T r u p p e n m o r g e n w e s t w ä r t s b e w e g e n . V o r erst herrsdit hier a u f d e m B a h n h o f l e b h a f t e s T r e i b e n . A l l e s w i r d gründlich gerein i g t , b e v o r die N a d i t l a g e r bereitet w e r d e n , u n d der B r a n d d e r B a h n h o f s g e b ä u d e ist f a s t schon gelöscht. W a l t h e r Bosshard5

Daß es in diesem Beridit um die Interessen eines bestimmten Publikums geht, muß schon nach dem ersten Durchlesen als unwahrscheinlich gelten. Vielmehr ist hier die abstrakte Größe »Zeitungspublikum« angesprochen, will sagen das lesende Publikum als eines, das wesentlich durch Erwartungen von der Zeitung geprägt ist, die sich wieder aus der Erfahrung mit deren Formen und Redeweisen ergeben haben. Die Information kehrt hier zu Anfang ein Moment der Zwecklosigkeit hervor, das sie in Beziehung zu setzen scheint zur Kantschen Auffassung vom Kunstwerk, und eines der Freiheit von unmittelbarem Nutzen, das auf reine Wissenschaft hinzuweisen scheint. Beide Momente widersprechen den Behauptungen von der grundsätzlichen Bedeutung des Interessanten für die Zeitung und tangieren damit deren erste Intention. Was der erste Satz mitteilt, ist, insofern nidit auch sichtbar wird, wozu und für wen es mitgeteilt wird, im Grunde abstrakt und darum für den mitteleuropäischen Leser uninteressant. Interessant kann das hier vermittelte Wissen nur auf zweierlei Art werden. Entweder indem dieser Satz als die ganze Meldung begriffen und vom Leser, der die Entwicklung des Krieges verfolgt und

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Vossisdie Z e i t u n g . 2. 1. 1 9 3 1 .

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seine Bedeutung reflektiert hat, in den Kontext seines bisherigen Wissens gestellt wird. (Doch ist eben bemerkenswert, daß es sich um den ersten Satz eines längeren Textes handelt, also das Chronikale des ersten Satzes durch das Weitere aufgehoben wird.) Oder indem er gerade als Teil des ganzen Textes in seiner Besonderheit gelesen wird. Dessen Besonderheit wird schon dadurch hervorgehoben, daß der Verfasser des Textes genannt wird. Andererseits soll diese Besonderheit aber weder eine private, also etwa die eines Briefes von Freund zu Freund, noch eine ästhetische sein, die aus dem Berichterstatter den Erzähler machten müßte. Will der Verfasser also bleiben, was er sein soll, Berichterstatter, so kann er die Abstraktheit der ersten Mitteilung nur dadurch überwinden, daß er im weiteren Text Details gibt. Es ist das übliche Verfahren aller heutigen Berichterstattung, wie sie in Zeitung, Rundfunk, Fernsehen verbreitet wird. Aber eben an dem Punkt, da die Abstraktheit der Vorgänge und ihrer Registrierung im detaillierten, »lebendigen« Bericht aufgehoben werden soll, ohne daß der Anspruch aufgegeben würde, nichts als die exakte, die »objektive« Nachricht bieten zu wollen, also nichts zu erfinden und nichts durch den Stil zu verändern - eben an diesem Punkt zeigt sich das Problematische dieses Verfahrens. Zunächst scheint Detaillierung von den Prämissen der (»objektiven« und abstrakten) Information her nichts anderes zu bedeuten als Quantifizierung der allgemeinen Angaben, die sich in diesem Text im ersten Satz finden. Also: »Bombardement« = »fast 30 Bomben«, »sechs Personen schwer« verletzt, »Löcher von bis zu fünf Meter Durchmesser«; »von den Chinesen geräumt« = »über zehntausend Chinesen [ . . . ] in zwölf Zügen nach Tschintsdiau zurückgezogen worden . . . « etc. Schon an diesem Beispiel wird jedoch eine doppelte Schwierigkeit dieses Schreibens sichtbar: einmal verliert die Information ihre Abstraktheit durdi Quantifizierung nur scheinbar; zum anderen ist sie aus sehr rasch einsehbaren Gründen nicht einmal durchgängig zu leisten: der Schreiber muß aus Mangel an genauer Informiertheit, aus Zeitmangel wie aus der Verpflichtung, nicht übermäßig viel Platz in der Zeitung zu beanspruchen, nur annähernd Genaues mitteilen, wobei die Relation des Annäherungswertes zum exakten Quantum, wie die Beispiele zeigen, sehr unterschiedlich sein kann. Abgesehen von der Schwierigkeit ist sofort deutlich, daß sich nun keinesfalls jedes Detail quantifizieren läßt. Damit ergibt sich für den Verfasser alsbald die Notwendigkeit der Beschreibung, deren Gelingen nicht mehr allein von der — in sich vergeblichen — Bemühung um exakte Information, sondern von der Darstellung abhängt, die Reflexion des eigenen Sprechens voraussetzt. Da aber der Journalist als Berichterstatter gewohnt ist, Sprache und Sprechen nur instrumental zu begreifen, als Mittel zur Mitteilung angeblich außersprachlicher Fakten, da er überdies auf die rasche Übermittlung von Nachrichten verpflichtet ist, greift er selbstverständlich zum sprachlich sich Anbietenden, zum konventionell Rhetorischen: die Ausbesserungsarbeiten geschehen »fieberhaft«; die Chinesen verlassen die Stadt »fluchtartig«.

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Die fehlende Sprachreflexion zeigt sich schließlich drastisch in grammatischen Mängeln, die Repräsentanten der Vorstellungsarmut sind: die Chinesen verlassen die Stadt, »nachdem sie h i n t e r s i c h Telefon und Telegrafenapparate z e r s t ö r t e n und den Bahnhof in Brand setzten« (Sperrung von mir, H. A.). In den nächsten Abschnitten verstärken sich die Tendenzen zum konventionell Rhetorischen der Beschreibung. Hinzu kommt als dritte Phase der Abkehr vom Exaktheitsgebot der Nachricht ein für den Zeitungsbericht ebenfalls kennzeichnender Beschreibungs- und Erzählimpressionismus, wie er sich z. B. sehr deutlich in den Aufzählungen »Frauen, Kinder und Greise« (dies noch Redensart!) »schleppen Stühle, Bücher, Militäruniformen, Hüte, Oefen, alte Flinten usw. fort«. Das »usw.« signalisiert die beliebige Fortsetzbarkeit, damit auch die Beliebigkeit der Aufzählung selbst. Mit diesem Verfahren und der Beliebigkeit dieser Aufzählung ist der Schreiber jedoch nicht beim Ausdruck ästhetischer Subjektivität angekommen, was auch nicht der Intention des Ganzen als Bericht entspräche. Aber er tendiert damit bereits zur bloß privaten Subjektivität. (Der literarische Impressionismus ist ja auch historisch ein Indiz für das Überhandnehmen privater Subjektivität in der Literatur, weil sein Sprechen, insofern es nur noch ein isoliertes Hier und Jetzt als Eindrucksdatum vermitteln will, bewußtlos für die Bedeutung des Vermittelten zu werden beginnt.) Die private Subjektivität gewinnt endlich auch inhaltlich in den Teilen des Berichts das Übergewicht, in denen der Schreiber, als schreibe er nun wirklich einen Privatbrief, seine Erlebnisse ausbreitet. Das beginnt schon im zweiten Abschnitt (»zurückgeblieben war nur der Zug mit den Presseberichterstattern«), setzt sich im dritten fort und ist im vierten zentral. Vor allem in dessen erstem Satz (»Oberst Wakamatsu [ . . . ] erzählt mir während einer Tasse Tee beim britischen Eisenbahninspektor ...«) ist jedes Moment allgemeiner Information zugunsten privater Mitteilung abgeschafft. Beides ist aber gleichermaßen abstrakt, also unvermittelt an den einzelnen und wirklichen Leser. Das ist es jedoch nicht einmal so sehr, weil das potentielle Publikum (die Zeitungsleser) wegen seiner Größe nicht exakt bestimmbar ist, denn dann könnte Information in einer ideologisch klar fixierten Zeitung ja gelingen, es ist beides abstrakt vor allem, insofern sowohl die allgemeine Information wie die private Mitteilung Modi des seiner selbst nicht bewußten Sprechens sind, des Sprechens, das nur als Transportmittel entweder von Wissen oder von Meinen oder von deren vielfältigen Amalgamen funktioniert. So ergibt sich ein Nebeneinander des Sprechens, das so beziehungslos zueinander ist, wie das, was es mitteilt und meint. Doch ist dieses Nebeneinander unvermeidbar und begründet in der Aporie der Information. Je mehr die Abstraktheit »rein« informativer Sätze durch das Besondere des einzelnen Berichts anschaulich und »lebendig« gemacht werden, das Ganze aber dennoch Information bleiben und nicht in ästhetischer Darstellung aufgehoben werden soll, desto mehr erweist sich dieses Besondere als Abstraktheit konventioneller Rede oder

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privater Mitteilung, wobei noch jene f ü r diese benutzt werden muß, da sie keinen eigenen Ausdruck findet. Ob in der Zeitung Wissen und Meinen (intentional) streng auseinandergehalten, ob Wissen schon als Gemeintes geboten werden, immer ergibt sidi ein abstraktes, also eigentlich leeres Sprechen, das die Spradibeherrschung als die eine Seite dessen erweist, wovon Spradibeherrschtheit die andere ist Was unter dem Anspruch antritt, nur die Tatsachen sprechen zu lassen oder die ganz eigene Meinung zu geben, tendiert aus dem Irrtum des Ansatzes auf das gleiche: die Phrase als leeres, aber durch seine Häufigkeit wirksames Sprechen. Und allein im Phrasenhaften hat dieser - wie jeder andere Zeitungsbericht - sein Einheitsmoment. Doch ist nicht einfach durch eine andere Sprechhaltung, durch einen hohen Stil etwa und natürlich erst recht nicht durdi einen sogenannten poetischen Stoff gewährleistet, daß Aporien, wie sie in der Information erscheinen, in der Literatur überwunden werden. Nicht nur die evidente Phrasenhaftigkeit des epigonal-klassizistischen Sprechens der Literatur in der zweiten H ä l f t e des 19. Jahrhunderts, sondern auch die rhetorisch-literarischen Momente des abgedruckten wie sehr vieler anderer Zeitungstexte machen auf den Irrtum einer solchen A u f fassung ebenso aufmerksam wie die immer wieder unternommenen Rekurse auf den Mythos als auf eine gewissermaßen vorgegebene menschheitliche Gegenständlichkeit bzw. ihre Darstellung. Goethe ist wahrscheinlich der erste bedeutende Dichter, der, ohne einen Augenblick den Anspruch, der in Vers und Mythos sich traditionell vermittelt, fallen zu lassen, begreift, daß diesen als den beiden konstituierenden Momenten des überlieferten poetischen Sprechens der Anspruch der Subjektivität entgegentritt, die ihr Sprechen niemals schon hat, sondern die es finden muß. So bedeutet ihm die poetische Uberlieferung (nämlich als Kontinuum eines Sprechens) die Hoffnung, daß auch im Zeitalter der Subjektivität poetisches Sprechen möglich sein werde. So ist er immer im Zweifel darüber, ob die sich in Jahrtausenden verfestigende Sprache es gestattet, das Subjektive angemessen darzustellen, d. h. seine Eigentümlichkeit zu objektivieren. In den »Venezianischen Epigrammen«, also Anfang der neunziger Jahre, beklagt er, sich scheinbar ganz einer überlieferten Form anvertrauend, daß die Sprache sich ihm, den das Schicksal zum Dichter habe bilden wollen, »unüberwindlich gezeigt« 6 habe. Aber 1 8 2 1 schreibt er an W. von Humboldt, daß trotz der Unveränderlichkeit der Sprache auf einem »gewissen Punct« (der Entwicklung), in der ja ihre Unüberwindlichkeit f ü r den Dichter der Neuzeit zutage tritt, sie dennoch »in und aus sich selbst alles Menschliche, vom Tiefsten bis zum Höchsten, aussprechen, ausdrücken, bestimmen und erweitern könne und müsse« 7 . Dies aber kann sie offenbar nur, wenn in ihre Unveränderlichkeit,

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Goethe, Johann Wolfgang: Epigramme. Venedig 1790. In: J. W. G., Werke. Hrsg. i. Auftr. d. Großherzogin Sophie v. Sadisen.Abt. 1. Bd. 1. Weimar 1887. Nr. 76. S. 325. 1 Goethe, Johann Wolfgang: Brief an Carl Wilhelm von Humboldt. 24. Dezember 1821, In: J . W. G., Werke. Hrsg. i. Auftr. d. Großherzogin v. Sachsen. Abt. 4. Bd. 3J. Weimar 1906. Nr. 171. S. 213.

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die ja wiederum die Überlieferung, audi die poetische, als verfestigte ist, das Subjekt reflektierend so eindringt, daß es sich selbst als sprechendes begreift. Die »überlieferte Sprache«, sagt Goethe 1 8 3 1 zu Eckermann, reiche zum Ausdruck der Einsicht ins »geheime Wirken und Walten der Natur« nicht hin. »Es müßte ihm [dem Erkennenden] die Sprache der Geister zu Gebote stehen, um seinen eigentümlichen Wahrnehmungen zu genügen.«8 Aber sowenig diese Wahrnehmungen selbst je andere als sprachliche zu sein vermögen, sowenig ist die Sprache der Geister, die hier metaphorisch genug als die höheren Bewußtseins postuliert wird, eine andere als die des seiner eigenen Sprachlichkeit bewußten menschlichen Geistes. Goethe gibt, wo er von der Sprache spricht, nur Fingerzeige für die Auseinandersetzung, die er mit der Sprache sprachlich in seiner Dichtung führt. Die findet ihr glückliches Ende - wenn auch nur augenblickhaft - dort, wo Helena, der Mythischen, begreifbar wird, daß in der Epoche der Subjektivität das in der Überlieferung repräsentierte Schöne als das Objektive der Poesie sich gerade durdis Subjektivste vermittelt: Helena: So sage denn, wie spredi' idi audi so schön? Faust: Das ist gar leicht, es muß von Herzen gehn.9

Aber wie mit dem Ganzen des Gedichts wußte die Epoche auch mit diesem Einzelnen so gut wie nichts anzufangen. Statt mit der Sprache sich sprachlich auseinanderzusetzen, begann sie die Spradie zu beherrschen. An die Stelle dessen, was »von Herzen« nur gehen konnte, aber im poetischen Sprechen erscheinen mußte, tritt der Ausdruck der Meinung als das Private, gerade also das Negative der Subjektivität oder tritt sprachlose Empfindung. Das aber ist selbst nidits anderes als die Folge der Trennung des Wissens vom »bloß Subjektiven«, als welches das Zeitalter Poesie mißzuverstehen sich gewöhnte. Beides sind Modi der Unsprachlidikeit, als die sich die Sprachbeherrschung dort erweist, wo Sprache auf Instrumentalität und Zeichenhaftigkeit reduziert werden soll. Aber nidits anderes kann an der Sprache beherrscht werden als das dieser Äußerlichste und Dingliche. Diese Sprachbeherrschung führt, weil Spradie nur nodi dazu dient, Tat und Praxis vorzubereiten und zu kommentieren, zur Sprachlosigkeit, die im Krieg endet. Der tritt im zweiten Teil des »Faust« schon gleich nach dem Augenblick hervor, in dem sidi wahre Subjektivität (als ästhetische und sprachliche nämlich) verwirklicht, beherrscht als politisch-ideologisches Chaos den vierten Akt und ist in den Philemon und Baucis-Szenen zur Erscheinung des Alltags geworden, in dem Spradie nur als Befehl und als Ausdruck

8

Goethe zu Eikermann. 20. Juni 1 8 3 1 . In: Goethes Gespräche. Gesamtausgabe. Ed. F. Frhr. v. Biedermann. Bd. 4. Leipzig 21910. N r . 2974. S. 376. » Goethe, Johann Wolf gang: Faust. 2. Teil. In: J . W. G., Werke. Hrsg. i. Auftr. d. Großherzogin Sophie v. Sachsen. Abt. 1. Bd. 1 5 . Weimar 1888. 3. Akt. S. 2 1 4 .

Information oder Literatur

der Verzweiflung über die »ungeduld'ge That« 10 noch Platz hat. Faust aber ist in diesem Ausdruck bedeutender als in dem Tätertum, dem er seinen Ruhm im 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts verdankte. Selbstverständlich wurde dabei immer übersehen, daß sein herrschaftliches Wort nur die Lemuren herbeirief, deren Graben aufs Grab hinaus will. Diese vollständige Unfähigkeit, literarische Texte zu lesen, hat sich gerade in diesem Fall nicht als für den Fortschritt unerhebliches Bildungsdefizit erwiesen, sondern als der fatale Irrtum, die ideologisch und technisch bestimmte Epoche für die Verwirklichung dichterischer Hoffnung auszugeben, ja sie so zu erleben. Es ist die Unfähigkeit, die aus der Dressur entstanden ist, allem Gesprochenen nur noch Information und Meinung abnehmen zu dürfen, also aus der Erziehung zum Zeitunglesen. Nichts macht die Dialektik der Aufklärung deutlicher als das Verhältnis von Information (als Nachricht und Meinung der Zeitung und der neueren Medien) zur Literatur (als sprachbewußter Poesie und Prosa). Diese, abgetan, je mehr sie sie selbst ist, als obsolete Übung und mit all den Epitheta versehen, die bei näherem Hinsehen ihre Tendenz erkennen lassen, Schimpfwörter zu sein, bewährt dank ihrer Sprachlichkeit, dem Phänomen also, daß von der Produktion über das Werk hin zur Rezeption alle literarischen Momente als phonetisch, lexikalisch und grammatisch bestimmte und zugleich als bedeutungsvoll-unbestimmte hervortreten, die Fähigkeit, die ideologisch und positivistisch fixierte und unkenntlich gewordene Wirklichkeit zu lösen und sie erkennbar zu machen, indem sie sie über deren Sprachlosigkeit und über die Notwendigkeit und Möglichkeit ihrer Sprachlichkeit aufklärt. Weil aber alle bisherige Geschichte höchstens die halben Bewußtseins, unsere neueste aber nur noch die blinde von bornierten Tatsachen ist, ist Literaturgeschichte notwendig gleichzeitig »Gegengeschichte der Geschichte«11 und kann nur als solche sinnvoll geschrieben werden, wie Wilhelm Emrich es noch vor kurzem postuliert hat. Information dagegen, ständig ausgeboten als die Methode der Emanzipation des Menschengeschlechts, ist in ihren bisherigen Erscheinungen, vor allem als Presse, weil sie ohne Bewußtsein von ihrer eigenen Sprachlichkeit gewissermaßen automatisch Texte produziert, die einen Automatismus des Geschehens ermöglichen, ja hervorbringen, die Gegenaufklärung schlechthin. Der informierte Mensch ist der mit Zeitungsphrasen vollgestopfte Zeitgenosse, der empfindungs-, phantasie- und reflexionslos entweder zum passiven Informationskonsumenten oder zum aggressiven Informationsbesessenen wird. Der Wust von Tatsachen und Meinungen macht ihn völlig unfähig, sich auch nur ansatzweise bewußt zu machen, daß alles, was er hört und liest, als sprachlich Vermitteltes sein Wesentliches an den Bedingungen und Realisierungen der Sprache hat. Die Meinung,

« 11

A.a.O. j . Akt. S. 304. Emridi, Wilhelm: Was ist poetische Wirklichkeit? Zum Problem Dichtung und Ideologie. Mainz 1974. S. I J . (Akademie der Wissenschaften und der Literatur. J g . 1973/74. N r . 5.)

Helmut Arntzen

die er sich »selbständig« über den oder jenen Zusammenhang zu bilden hofft, ist die über Texte, die jene präformieren und selbst als »automatisdi« entstandene total präformiert sind. So entsteht das Gebetsmühlenhafte und völlig Irrationale aller heutigen aus Information »gespeisten« Meinungsäußerungen und Diskussionen. Alle literaturwissensdiaftlichen und literaturkritisdien Bemühungen von Wilhelm Emrich gehen, so erinnere ich, darauf, Literatur als das Spredien erkennbar zu madien, das auf Wahrheit tendiert. Das kann sie nicht, wenn sie Meinung unter anderen Sageweisen der Meinung ist, über die sie natürlich auch nicht hinausgelangt, wenn sie ihre Sätze als axiomatisdie behauptet. Der Wahrheitsanspruch der Literatur ist nicht durch das einzulösen, was deren Sätze mitteilen; aber auch nicht durch das, was sie (angeblich) sind, sondern dadurch, daß jeder ihrer Sätze und all ihre Sätze evident madien, daß sich darin Subjektivität als Sprechen an Sprache als Allgemeinem wie als Gesdiidite abarbeitet und daß daraus ein Neues hervorgeht, das von der Neuigkeit, der zentralen Kategorie aller Information, gänzlich unterschieden ist. Es hat die Art der Frucht, weniger insofern es organisch wächst als soweit sidi darin ein Werden im Gewordenen zusammenfaßt und erfahrbar als ein anderes hervortritt, das alle Momente des Werdens in sich aufgehoben hat. Weder ist »das alte Wahre« verfügbar noch ist das Zentrum allein durch die Wendung »nach innen« schon gewonnen. Erst wenn dieses in Sprache sidi wieder äußert, erst wenn jenes, im eigenen Sprechen »angefaßt«, Eigenes wird, kommt es zu dem Dritten, Neuen, das Goethe in dem Vers erscheinen läßt: »Was fruchtbar ist, allein ist wahr.«12 Was ist das Fruchtbare in der Literatur? Daß ein Wort das andere gibt? Ja und nein: denn hier ist ein Satz, dem das »automatische« Reden der Information ebenso abzulesen ist wie Vers und Reim zwischen Helena und Faust, die tatsädilidi und wahrhaftig Euphorion hervorbringen, weil Vers und Reim sprachbewußt sich darauf diese Verse madien: Und hat ein Wort zum Ohre sidi gesellt, Ein andres kommt, dem ersten liebzukosen.13

Der kühne neue Infinitiv ist die Chiffre für die Sprache und, weil er nidit irgendein Abstraktes, sondern dieses Wort ist, die Wahrheit zugleich von der Sprache, die so ist, wie sie das seiner selbst bewußte Sprechen der Dichtung darstellend fordert: Laß die Sprache dir seyn, was der Körper den Liebenden; er nur Ists, der die Wesen trennt und der die Wesen vereint. 14

Ein Wort gibt das andere? 12

13 14

Goethe, Johann Wolfgang: Vermäditniß. In: J . W. G., Werke. Hrsg. i. Auftr. d. Großherzogin Sophie v. Sachsen. Abt. i. Bd. 3. Weimar 1890. S. 83. Goethe, Johann Wolfgang: Faust. 2. Teil. A.a.O. 3. Akt. S. 214. Schiller, Friedrich: An den Dichter. In: F. Sdi., Werke. Bd. 1. Ed. J . Petersen u. F. Beißner. Weimar 1943. S. 302. (Nationalausgabe.)

Information oder Literatur

Nur um als das der Information von sidi auf das nächste, um als neues, das als das veraltete und entleerte rasch siditbar wird, auf das allerneueste abzulenken: sinnlose Folge von Nachrichten und phrasenhafter Rede? Oder um, das andere liebkosend, ein drittes zu erzeugen, in welchem der lebendige Geist, der verkörperte nämlich, dem Geist doch erschiene und sie derart nicht mehr ungefährer Ausdruck sprachloser Seele nur blieben?15

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S. Schiller, Friedrich: Sprache. A.a.O.

Aspekte der Form-Inhalt-Dialektik in der Lyrik Von

H A R T W I G SCHULTZ,

Frankfurt

D i e These, d a ß in der D i d i t u n g formale und inhaltliche Elemente eine harmonische Einheit eingehen, spielt seit den A n f ä n g e n der Poetik eine zentrale Rolle. Sie ist Grundlage f ü r die Auffassung v o n bestimmten Formkennzeichen einzelner Gattungen, w i e sie die normative Poetik seit Aristoteles formuliert, ebenso wie f ü r die M a x i m e Goethes, die nach W o l f g a n g K a y s e r über dem »Innersten der Literaturwissenschaft« steht: Gehalt bringt die Form mit; Form ist nie ohne Gehalt 1 . So einleuchtend diese These ist, so sdiwierig ist es, sie am Wortkunstwerk konkret nachzuweisen oder sie zur Konstruktion einer geschichtlich sidi entfaltenden Form-Inhalt-Dialektik auszunutzen. Nachdem sich die normative Position einer festen, ahistorisdien Zuordnung formaler und semantischer Komponenten als unhaltbar erwiesen hatte, gelang es nur selten, beschreibbare formale Kennzeichen auf den Werkinhalt genau z u beziehen 2 . Statt einer derartigen K o n k r e t i sierung v o n Goethes M a x i m e w u r d e - insbesondere bei der L y r i k — das Stilgefühl des Literaturproduzenten, -reproduzenten oder -rezipienten z u m M a ß f ü r eine Form und Inhalt übergreifende »Gestalt« erhoben. Zugleich ergab sidi im Bereich der L y r i k eine Scheidung der bloß »äußeren« Form (Metrum) v o n einer häufig vage definierten »inneren« Form (»Rhythmus«). T r o t z dieser W e n dung ins Subjektive, Irrationale (das dem Begriff »Rhythmus« bis heute anhaftet), deren Verlauf und geistesgesdiiditlicher K o n t e x t hier nicht im einzelnen entfaltet werden kann, blieb das Postulat einer Form-Inhalt-Deckung weitgehend unangefochten zentrale Wertungsnorm ästhetischer Gebilde. A l s Beispiel einer rigorosen A n w e n d u n g dieser N o r m mag die Bewertung der sogenannten Tendenzlyrik gelten, w i e sie Günther Müller in seiner »Geschichte des deutschen Liedes« (München 1925) vornimmt: Die Herwegh, Dingelstedt, Prütz; audi Freiligrath bleiben in der Tradition haften [ . . . ] . Es ist geradezu grotesk, wie sie bei aller sachlichen Opposition gegen 1

2

Wolfgang Kayser: Das sprachliche Kunstwerk, I J . Aufl., Bern/München 1971, S. 240 Goethes Auffassung wird durdi das Zitat nur unvollständig wiedergegeben (vgl. den Kontext in den Faust-Paralipomena, Artemis-Gedenkausgabe V, 541). Abgesehen von überzeugenden Einzelinterpretationen ist hier vor allem Szondis Theorie des modernen Dramas zu nennen

Aspekte der Form-Inhalt-Dialektik In der Lyrik

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das selbstgenügsam ästhetische, klassisch-romantische Menschlichkeitsideal doch in der Gestaltung nidit von dessen Ausdrucksprägungen loskommt, wie sie ihr gesdiichtsloses oder -blindes Pathos in Strophik und Reim des »romantischen« Liedes faßt [ . . . ] , (S. 276)

Das Urteil Günther Müllers, das in dem abwertenden Plural und dem Wort »grotesk« steckt, basiert auf der Beobachtung, daß die politische Lyrik des 19. Jhs. im allgemeinen die Liedformen der klassisch-romantischen Lyrik übernimmt. Da der Inhalt dieser Lieder jedoch »neu« ist, entsteht nach Günther Müller eine grotesk-epigonale Gestaltung, die Zeichen geringer ästhetischer Qualität ist. Die gleiche Argumentationsbasis - nämlich die Erkenntnis, daß tradierte Formen in dieser politischen Lyrik übernommen werden, - führt in der Literaturgeschichte von Hans Jürgen Geerdts (Berlin Ost 1971) zu einem positiven Werturteil. Die Übernahme der Liedform bei den »Achtundvierzigern« erscheint dabei nicht als Zeichen einer unproduktiven Epigonie, sondern als Signum sinnvoller (weil volksnaher) Erneuerung: Sie bedienten sich wieder des volkstümlichen Liedes, gaben diesem aber - ohne die nationalistische Übersteigerung der Literatur in den Jahren 1813 bis 181J — einen neuen sozialen Inhalt. 3

Beide Autoren gehen bei der Begründung ihres Votums von geläufigen Vorstellungen einer Form-Inhalt-Entsprechung aus, die für Günther Müller in der »Tendenzlyrik« vernachlässigt, für Geerdts jedoch gerade erneut gewonnen scheint. In beiden Fällen liegt der Verdacht nahe, daß das Urteil nicht auf einer genauen Untersuchung der Form, ihrer Möglichkeiten und tatsächlichen Funktionalisierung in den Texten beruht, sondern auf einer Bewertung des Inhalts, die nachträglich durch einen Blick auf die Form sanktioniert werden soll. Eine nicht näher belegte Kongruenz/Inkongruenz von Form und Inhalt wird als Qualitätskriterium eingeführt, wobei die Motive und Hintergründe einer primär ideologisch-historisch bestimmten Wertung verschleiert werden. Das Verfahren, das diese Manipulation erlaubt, ist folgendes: Einer literarischen Form werden bestimmte inhaltliche Kategorien zugeordnet, die nach Art der Gattungspoetik aus einer bestimmten historisch fixierbaren Manifestation dieser Form abgeleitet sind: Die formalen Merkmale des Lieds sind nach Günther Müller »Ausdrucksprägungen« des klassisch-romantischen Menschlichkeitsideals, bei Geerdts ist diese Form »volkstümlich«. Je nachdem, ob diese der Form verliehene Charakteristik auf den Inhalt des untersuchten Werkes zutrifft, ist sie angemessen oder nicht. Die Manipulationsmöglichkeiten bei der normativen »Handhabung« dieser Form-Inhalt-»Dialektik« ergeben sich dadurch, daß die Inhaltsmerkmale, die mit der Liedform assoziiert werden, vom Interpreten aus einer Fülle von Liedrepräsentationen ausgewählt werden können. 8

Hans Jürgen Geerdts (Hg.): Deutsche Literaturgeschichte in einem Band, Berlin 1971, S. 361

13 6

Hartwig Schultz

Um das Verfahren von Günther Müllers Wertung zu legitimieren, müßte der Erweis erbracht werden, daß die formalen Merkmale des Liedes tatsächlich derart fest mit den genannten inhaltlichen gekoppelt sind, daß eine Lösung dieser Verbindung zwangsläufig zu einer grotesken Wirkung führt. Die Geschichte des Liedes zeigt jedoch, daß diese Form erstaunlich anpassungsfähig ist und es qualifizierte Lieder gibt, die nicht »volkstümlich« sind, und solche, deren Inhalt dem »klassisch-romantischen Menschlichkeitsideal« widerspricht. Ferner wäre eine Grenze zu ziehen zwischen einer »unzulässigen« Form-Inhalt-Divergenz, die zu einem »Bruch« im Werk führt, und einer sinnvollen »fruchtbaren« Spannung beider Schichten, die allgemein als Qualitätsmerkmal gilt. Wenn die politische Lyrik des 19. Jhs. als formal mißglückt dargestellt wird - und Müller steht in diesem Urteil nicht allein - so beruht dieses Urteil offenbar nicht auf einer genauen Analyse der Form-Inhalt-Bezüge, sondern primär auf politischen und kunsttheoretischen Prämissen, die nicht genannt werden und oft auch gar nicht ins Bewußtsein treten. Die methodischen Voraussetzungen für die vorgeführten Argumentationen sind nie genau untersucht worden. Sollen sie geklärt werden, so muß die Verbindung mit Problemen der literarischen Wertung zunächst ganz gelöst werden. Das heißt, es geht nicht um die Bedingungen einer Form-Inhalt-Harmonie, sondern um den empirischen Nachweis von Bezügen zwischen semantischen und formalen Strukturen. Das Formproblem der politischen Lyrik des 19. Jhs., das mit den Zitaten angesprochen wurde, kann als »Einstieg« für diesen Fragenkomplex dienen. Beide Interpreten (Müller und Geerdts) gehen trotz unterschiedlicher Darstellung und Wertung von dem gleichen (in der Tat überraschenden) Tatbestand aus: Sie konstatieren die Übernahme tradierter Liedformen in einer Literatur, die sich als revolutionär versteht. Neue »Inhalte« werden mit alten Formen der vorhergehenden, inhaltlich kritisierten Epoche verbunden. Wenn die Liedformen tatsächlich unverändert diesen Umbruch im semantischen Bereich überstehen, so scheint damit erwiesen, daß die Form sich nicht am Inhalt orientiert, daß sie keine Verbindungen zu den semantischen Schichten hat, sondern wie eine Hohlform beliebig mit Inhalt zu füllen ist. Diese Vorstellung ist jedem Literaturwissenschaftler zuwider und würde einen marginalen Charakter der Form beweisen, weshalb auch Günther Müllers These, daß eine revolutionäre Lyrik auch die Form revolutionieren muß, so plausibel erscheint. Betrachten wir das Freiligrath-Gedicht: »Die Republik« (26. 2. 1848) auf seine Form. Als Beispiel zitieren wir die 5. Strophe. Die Republik, die Republik! J a dodi, ihr Vorhut-Streiter Wir folgen euch! die Republik! Schon dröhnt von unserm Fuß die Brück', Schon fassen wir die Leiter! Die Republik, die Republik! Vive la république 4 ! 4

Freiliggraths Werke, hg. v. Paul Zaunert, Leipzig/Wien 1 9 1 2 , Bd. 2, S. 25 f f .

Aspekte der Form-Inhalt-Dialektik in der Lyrik

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Die letzten beiden Zeilen kehren als Refrain in jeder Strophe wieder, und wir können uns das Gedicht als einen Wechselgesang von Sprecher und Sprechchor vorgetragen denken. Es gehört in eine Demonstration, in eine Siegesfeier oder einen Feldmarsch. Zum Abschluß heißt es: Die Stirnen hoch, hoch das Genick! Eur Feldgeschrei dasselbe: Die Republik, die Republik! V i v e la république!

Der Versrhythmus dieser 3- und 4-hebigen regelmäßigen Jamben (abgesehen von der französischen letzten Zeile) muß dabei ähnlich wie beim Skandieren sehr deutlich und taktierend hervorgehoben werden, so daß ein Marschrhythmus entsteht. Wenn das Gedicht so realisiert (gedacht) wird, ist ein Bruch zwischen formalen und semantischen Strukturen nidit spürbar. Dieser entsteht nur dann, wenn das Gedicht im Ton eines romantischen Lieds vorgetragen wird. N u r wenn das Freiligrath-Lied z. B. unmittelbar im Anschluß an ein romantisches Lied gelesen wird, so daß der Leser gleichsam nichtsahnend im »dezenten K a m merton« fortfährt, entsteht die von Müller behauptete groteske Form-InhaltDivergenz. Diese Lesesituation wird dem Freiligrath-Gedicht jedoch nicht gerecht, es ist eine künstlich herbeigeführte Situation, die von außen an den Text herangetragen wird. Wir konstruieren sie, um die Prämissen von Günther Müllers Thesen deutlich zu machen. Günther Müller unterscheidet nicht zwischen metrischer und rhythmischer Form. Sein Votum über die politische Lyrik setzt voraus, daß das Metrum zugleich die rhythmische Struktur in allen Einzelheiten mitbestimmt, so daß die politische Lyrik mit den metrischen Formen zugleich auch die rhythmischen Strukturen der traditionellen Lyrik übernimmt. Tatsächlich bedient sie sich jedoch nur der metrischen Hülle, die gar nicht einen eng umgrenzbaren Inhalt impliziert. Ein Metrum der benutzten A r t kann offenbar stark differierende rhythmische Strukturen und »Töne« aufnehmen. N u r die rhythmischen Strukturen hängen unmittelbar mit semantischen Faktoren zusammen, sie passen sich — solange das Metrum es zuläßt - den unterschiedlichen Aussagen an. Das Metrum dagegen legt nur einzelne — nicht immer dominierende - rhythmische Charakteristika fest, indem es bestimmte Hebungsfolgen, Reimbezüge und Kolongrenzen vor-gibt. Damit bietet es jedoch Entfaltungsmöglichkeiten für verschiedene rhythmische Typen, weil die vom Metrum betroffenen Parameter nicht allein den rhythmischen Duktus prägen. Außerdem verlangt das Metrum nicht eine durchgehende präzise rhythmische Realisation der im Schema erscheinenden Einschnitte und Akzentmuster: Zusätzliche Akzente, Kolongrenzen im Versinnern, Enjambements und ähnliche Mittel der rhythmischen Variation des Grundmusters sind legitim und können zu einer Überdeckung der metrischen Grundstruktur durch den Rhythmus führen. So ergibt es sich, daß stark differierende rhythmische Formen sich der gleichen Metra bedienen.

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Damit sind provisorisch einige Bezüge zwischen den metrischen und rhythmischen Strukturen charakterisiert. Um eine Brücke zwischen den formalen und semantischen Elementen zu konstruieren, die eine Form-Inhalt-Dialektik ermöglichen könnte, müssen wir die Zusammenhänge zwischen Rhythmik und »Inhalt« genauer betrachten. Beim Freiligrath-Text haben wir die rhythmische Form ermittelt, indem wir uns auf die Sprechsituation des Textes eingestellt haben. Wenn wir uns zu einer marschähnlichen Skansion entschließen und damit eine ganz andere Rhythmik wählen als bei einem romantischen Gedicht entsprechenden Maßes, so beruht diese Entscheidung auf einer Auseinandersetzung mit dem Inhalt des Gedichts. Wir schließen von einer Reihe von semantischen und stilistischen Faktoren auf die Situation, in der es gesprochen werden könnte, und auf die Emotionen, die den fiktiven Sprecher bewegen. Die rhythmische Struktur des Textes wird offenbar primär von dieser Situation des lyrischen Subjekts bestimmt, denn die auffälligen Unterschiede in der rhythmischen Form eines romantischen Gedichts und des Freiligrath-Gedichts ergeben sich hauptsächlich durch die Verschiebung dieser »ektosemantischen« Komponenten. Erst wenn der Interpret die Situation des lyrischen Ich aus dem Text erschlossen hat, kann er die charakteristische Marschrhythmik dieses Gedichts entfalten. Damit ist eine mittelbare Verbindung von Form und Inhalt im Text aufgezeigt. Die Verbindungslinie verläuft von der metrischen Form über die rhythmischen und ektosemantischen Strukturen zum Inhalt im engeren Sinne und läßt sich so darstellen: Form Metrum

Inhalt Rhythmus

Ektosemantik

Semantik

In diesem Schema wird deutlich, daß es keine unmittelbare Verbindung der metrischen Form mit dem Inhalt eines Werkes gibt. Beide sind mittelbar über Zwischenglieder verbunden, indem nämlich der Inhalt bestimmte ektosemantische Phänomene impliziert, die Ektosemantik die rhythmische Strukturierung beeinflußt und diese wiederum in das Metrum »passen« muß. Mit der Bezeichnung Ektosemantik führen wir einen linguistischen Terminus ein, der näher zu klären sein wird. Der Begriff zeigt den Angelpunkt der angestrebten Form-Inhalt-Dialektik, die sich von den traditionellen Rhythmusdeutungen grundlegend unterscheidet. Während diese Deutungen die metrischrhythmische Strukturen durch eine Theorie über Ursprung und/oder Wesen des Rhythmus zu interpretieren suchen, gehen wir von den Funktionen rhythmischer Strukturen im sprachlichen Kommunikationsprozeß aus. Das heißt, wir untersuchen zunächst, welche Funktionen die vom Vers geregelten (bzw. vorgeprägten und indirekt betroffenen) Sprachparameter in der Prosasprache haben, um so auf linguistischer Basis den Sinn bestimmter metrischer Regelungen dieser Parameter im Vers als »Inhalt« zu verstehen. Die beiden Sprachparameter, die in den metrischen und rhythmischen Strukturen eine Rolle spielen, sind:

Aspekte der Form-Inhalt-Dialektik in der Lyrik

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Akzenthierarchie und Kolongliederung. Ein konventionelles Versmaß bestimmt im allgemeinen Bedingungen für die Lage der Akzentmaxima und Kolongrenzen, während es andere Faktoren, die für die rhythmische Wirkung sehr wesentlich sein können (wie z. B. das Tempo), nicht unmittelbar regelt. Akzentuierung und Kolongliederung erfüllen bei der sprachlichen Kommunikation versdiiedene Funktionen. Einerseits haben sie eine »zeichenuntersdieidende Funktion«5. Sie markieren lexikalische und grammatische Tatbestände, die für die Aufschlüsselung der übermittelten semantischen Informationen wesentlich sind. Zu dieser zeichenunterscheidenden Funktion im System der Phoneme und Prosodeme kann eine weitere Aufgabe in einer anderen Kommunikationsebene von den gleichen Sprachparametern wahrgenommen werden. Bestimmte Akzentund Phrasierungsstrukturen sind zugleich Kennzeichen von »Expressemen«, die vom Hörer nach einem anderen Kode entschlüsselt werden. Der Phonetiker Gerhart Lindner bezeichnet diese Dekodierung als »Extraktion des emotionalen Gehalts« und beschreibt sie so: Das akustische lautsprachliche Signal übermittelt dem Perzipienten nicht nur einen gedanklichen Inhalt, sondern, da Sprache auch Ausdrucksbewegung ist, auch einen emotionalen Gehalt. Dem lautsprachlichen Zeichen prägt der Produzent Merkmale seiner Gefühlslage auf. Wie die Extraktion des emotionalen Gehalts vor sich geht, ist bisher noch wenig untersucht worden. [ . . . ] Sprechen ist gleichzeitig Mitteilungs- und Ausdrucksfunktion. Beim ersten erfolgt die Kodierung bewußt und beabsichtigt, beim zweiten meist unbeabsichtigt, ja oft unbewußt.®

Georg Heike knüpft bei seiner Erläuterung der »sphäriellen Analyse« an ein Trubetzkoy-Zitat an: »Wenn wir jemanden reden hören, so hören wir, wer spricht, in welchem Ton er spricht und was er sagt.« [ . . . ] Die Information (in der allgemeinsten Bedeutung des Wortes), die zum Hörer gelangt, wird in der sphäriellen Analyse offenbar in verschiedene Kategorien aufgeteilt, je nachdem, ob es sich um Information über den mitgeteilten Sachverhalt, über die gefühlsmäßige Einstellung des Sprechers oder über spezifische Eigenheiten seiner Person handelt. Entsprechend der Kategorien werden die Sphären auch benannt (nach Meyer-Eppler): semantische Sphäre, expressive Sphäre und diagnostische Sphäre, wobei die beiden letzteren konsequenterweise zu einer ektosemantischen Sphäre zusammengefaßt werden können.7

Wenn wir nach dem Kode der Expresseme fragen und nach der Rolle von Akzentuierung und Phrasierung innerhalb der expressiven Sprachstrukturen, so geraten wir in einen wenig erforschten Bereich, da die linguistischen Untersuchungen zur Akzenthierarchie und Kolongliederung sich meist auf die Analyse 8 Georg Heike: Phonologie, Sammig. Metzler Nr. 104, Stuttgart 1972, S. 7 * Gerhart Lindner: Einführung in die experimentelle Phonetik, München S. 129, 135 1 Heike, S. 7

1969,

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Hartwig Schultz

»emotionsfreier« Äußerungen beschränken8. In der Darstellung von Lindner wird jedoch immerhin klar, daß die Expresseme die Sprache strukturieren, sie »formen« und daß diese Form mit dem Inhalt verbunden ist: Letztlich ist es der dialektische Zusammenhang von Form und Inhalt, der am lautsprachlichen Zeichen unmittelbar sichtbar wird. Kein lautsprachliches Zeichen kann produziert und übermittelt werden, ohne daß es im Produktionsprozeß seine Form erhalten hat. Kein lautsprachliches Zeichen wird perzipiert, ohne daß nicht auch die Form auf den Hörer wirkte [ . . . ] . Obwohl die Fragen wegen der außerordentlich schwierigen Erfaßbarkeit ihrer Grundlagen und der akustischen Korrelate wenig erforscht sind, gibt es unzweifelhaft gewisse Normen für die Übereinstimmung zwischen Form und Inhalt. Entsprechen beide einander, dann ist die Rede überzeugend. Sie wirkt echt.9

Hier ist das anfangs angesprochene Problem einer Wertung auf der Basis der Form-Inhalt-Bezüge von einem Phonetiker angesprochen, und wir finden unsere Skepsis gegenüber einer simplen Lösung der Literaturwissenschaft bestätigt. Falsch wäre eine metrische Form nur dann, wenn sie bei der akustischen Realisation zwangsläufig einen Rhythmus ergibt, der mit den ektosemantischen Textelementen nicht übereinstimmt und deshalb nicht »echt« wirkt. Das heißt, wenn es ein Versmaß gäbe, das einen Rhythmus erzwingt, wie er nur bei traurigen Expressemen vorkommt, so wirkte es »falsch«, dieses Maß bei einem lustigen Thema zu wählen. Da jedoch die Metra den Rhythmus keineswegs in allen Einzelheiten festlegen, dürfte es auch nach einer genauen Grundlagenforschung im Bereich der expressiven Sprachsphäre problematisch bleiben, ein Metrum als »unvereinbar« mit einem gegebenen Gehalt zu kennzeichnen und es so als »falsche« Form zu entlarven. Es kann lediglich konstatiert werden, daß manche metrischen Muster die Ausprägung bestimmter Expresseme fördern, indem sie die typischen Akzent- und Phrasierungsmuster eines rhythmischen Gestus im Schema »vorwegnehmen« (»vor-prägen«), bzw. sie erschweren, indem sie Muster vor-geben, die diese rhythmischen Strukturen nur als Ausnahme zulassen. Entsprechend gilt für die historische Entfaltung der Form-Inhalt-Dialektik: Eine »neue« metrische Form entsteht nicht deshalb, weil die alte im Verlauf der historischen Entwicklung »falsch« wird, sondern deshalb, weil eine andere »richtiger« ist. Diese erleichtert die Ausprägung der neuen Rhythmen und ist in Vgl. Noam Chomsky/Morris Halle: The sound pattern of English, New York 1968; Morris Halle/Samual Jay Keyser: English stress. Its form, its growth, and its role in verse, New York 1971; Paul Kiparsky und Manfred Bierwisch, in: Studia grammatica VII, Berlin 1971 (reprint) Ansätze zur Beschreibung von Expressemen: George L. Trager: Paralanguage. A first approximation, SIL 13, 19$8; David Crystal / Randolph Quirk: Systems of prosodic and paralinguistic features in English, Janua linguarum, Ser. min. 34, Den Haag 1964; Felix Trojan: Der Ausdruck der Sprechstimme. Eine phonetische Lautstilistik, Wien/Düsseldorf, 2. Aufl. 1952; Rudolf Fährmann: Die Deutung des Sprechausdrucks. Studien zur Einführung in die Praxis der charakterologischen Stimm- und Sprachanalyse, Bonn i960 » Lindner, S. 218

8

Aspekte der Form-Inhalt-Dialektik in der Lyrik

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diesem Sinne ausdrucksadäquater. Die alte Form wird verdrängt, weil andere die wesentlichen Elemente der neuen rhythmischen Gestik besser aufnehmen und genauer visuell repräsentieren können. Diese Überlegungen madien es nötig, die Rolle der metrisch und rhythmisch relevanten Spradiparameter innerhalb der Expresseme noch genauer zu untersuchen. Die Frage lautet: Ändern sich die Akzentstrukturen und Phrasierungseinheiten der Prosasprache tatsächlich bei einer Änderung ektosemantisdier Faktoren. Haben diese Parameter nicht primär zeichenunterscheidende Funktion in der Ebene a 10 , während Faktoren wie Sprechtempo und Sprachmelodie in der expressiven Ebene ß10 die dominierende Rolle spielen? Ist nicht ein lexikalischer und syntaktischer Akzent völlig unabhängig von der Expression? Tatsädilidi ist die Veränderung des Sprechtempos bei der Signalisation bestimmter Emotionen deutlicher als eine Verschiebung der Akzenthierarchie, der durch lexikalische und grammatische Daten Grenzen gesetzt sind. Doch läßt sich zeigen, daß die grammatisch fixierte Akzenthierarchie eine große Zahl von Varianten zuläßt, die mit den ektosemantischen Faktoren zusammenhängen. Ferner wird der Sprachproduzent die Sätze derart permutieren, daß sich bei Beachtung der Akzentuierungsgesetze bestimmte »emotional patterns« von selbst ergeben. Das heißt, diese Expresseme benutzen die »normalen« Wort- und Phrasenakzente und stören die Informationsübermittlung in der Ebene a nicht, weil sie lediglich die Wortwahl und -Stellung beeinflussen. Für die Wirksamkeit der expressiven Sphäre wollen wir einige Belege aus der Phonetik und Phonologie anführen: Von Essen hat durdi einfadie Versuche festgestellt, daß ektosemantische Faktoren, die in einem schriftlichen Text festgelegt sein können (!), das Sprechtempo signifikant ändern11. Nach den Ergebnissen von Bierwisch12 wirkt sich das Tempo wiederum auf die Länge der Phrasierungseinheiten aus, indem nämlich ein rasches Tempo zur Bildung größerer rhythmischer Einheiten führt. Die Länge der Phrasierungseinheiten in einem Text bleibt wiederum nicht ohne Einfluß auf die Akzenthierardiie13. Werden mehrere Sprechtakte bei raschem Tempo zu einem verschmolzen, so erfolgt eine Reduktion von Akzenten, da sich in jedem Sprechtakt nur ein Gipfel ausbildet. Ferner löst ein rasches Tempo unmittelbar eine starke Reduktion der meisten untergeordneten Akzente aus, während bei einem langsamen Sprechtempo, wie es zum Beispiel bei einem dozierenden Sprechen auftritt, sämtliche Stammsilben und gelegentlich alle Silben eine deutliche Markierung erhalten.

»« Vgl. Heike, S. 7 11 Otto v. Essen: Allgemeine und angewandte Phonetik, Berlin, 2. Aufl. 1957, S. 146 Die Wahl einer schriftlichen Vorlage zeigt, daß die expressive Sphäre durch die G r a pheme (mit gewisser Schwankungsbreite) fixiert ist und nidit »Zugabe« der Textrezitation, wie oft angenommen. 12 Bierwisch: Studia grammatica V I I , S. 1 1 6 f. 13 Vgl. dazu Manfred Bierwisdi: T w o critical problems in accent rules, J L 4, 1958, S. 1 7 $

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Eine indirekte Beeinflussung der Akzentuierung durch die »Stimmung« nimmt Lindner an: Die Stimmung drückt sich nicht unmittelbar in der Akzentuierung aus, sondern manifestiert sich in Stimmlage, Stimm umfang und Klang färbe. V o n hier aus wird allerdings die Akzentuierung sekundär beeinflußt. 14

Aus diesen Beobachtungen geht hervor, daß wir es mit einem ganzen Bündel von akustischen Parametern zu tun haben, die zusammen komplexe Strukturen bilden. Um die Komplexstruktur der »emotional patterns« darzustellen und den Stellenwert der für uns interessanten Parameter innerhalb dieser Strukturen zu zeigen, wollen wir das anfangs entwickelte Schema aufschlüsseln und die einzelnen Parameter getrennt aufführen:

Metrische Struktur

Rhythmische Struktur

Akzentmuster

Akzenthierardiie

Ektosemantik

Semantik

Zellenstruktur*-^- Kolongliederung

^Agogik Artikulation Grundfrequenzverlauf (Sprachmelodie) Frequenzspektrum (Sprachfärbung)

In diesem Schema ist ersichtlich, daß nur wenige der emotional gesteuerten Sprachparameter durch die Regeln metrischer Systeme unmittelbar betroffen sind. Dadurch, daß verschiedene Parameter miteinander in Beziehung stehen (was in unserem Sdiema gar nicht im einzelnen ausgeführt ist), ergeben sich jedoch mittelbar Bezüge. In einem Einzelfall wollen wir diese Zusammenhänge genauer aufschlüsseln. Wir untersuchen die Wirkung einer metrisch fixierten Zeilengrenze auf die rhythmische Struktur. Wenn wir eine konventionelle metrische Regel als Bildungsgesetz für die Versproduktion formulieren, so lautet sie: Bilde eine Zeile mit einer bestimmten Zahl von Silben und/oder Akzenten. Fragen wir danach, welche rhythmische Struktur eine derartige Bildungsregel bedingt, so ergeben sich eine Fülle von Lösungen, weil diese Zeilengrenze unterschiedlich sprachlich-rhythmisch realisiert werden darf.

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Lindner, S. 218

Aspekte der Form-Inhalt-Dialektik in der Lyrik

Metrum

Rhythmus

Zeilengrenze

Pause (1)

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Kolongrenze (2) (im Versinnern

(3)

Verzögerung (4) Grundfrequenzverlauf Akzenthierarchie

Die Zeilengrenze kann als Kolongrenze mit [Lösung 1 ] oder ohne Pause [Lösung 2] realisiert werden. Sie kann jedoch audi völlig »überlesen« werden [Enjambement Typ I; Lösung 3] oder durch eine leidite Verzögerung der letzten Zeilensilbe markiert werden [Enjambement Typ II; Lösung 4]. Welche Lösung als Normalfall anzusehen ist, und weldie als Ausnahme mit begrenzter Häufigkeit zulässig ist, wird von den einzelnen Dichtern und Epochen nicht einheitlich festgelegt. In der klassisch-romantischen Lyrik ist die Lösung 1 am häufigsten vertreten, die anderen Lösungen sind jedodi in Maßen zulässig und sogar notwendig. In der modernen Lyrik dagegen dominieren nach unserer Auffassung die unter 2 und 4 genannten Phänomene wobei die anderen deshalb nidit »falsch« sind15. Alle Lösungen berühren zugleich andere rhythmische Charakteristika. Den verschiedenen Enjambementtypen sind charakteristische Grundfrequenzverläufe (Sprachmelodie) zuzuordnen (wobei allerdings der syntaktische Zusammenhang den Verlauf mitbestimmt). Ferner wirkt sich der Zusammenschluß mehrerer Gediditzeilen zu einem längeren Kolon auf die Akzenthierarchie aus, usw. Liest man das Schema »umgekehrt« mit der Frage: Inwiefern bedingt ein gegebener (durch ektosemantische Komponenten des Textes fixierter) Rhythmus die Wahl eines Metrums, so ergeben sich grundsätzlich jeweils zwei Lösungen: Die Kolongrenzen und Pausen einer festgelegten Rhythmusstruktur können im Text als Zeilengrenzen erscheinen, sie dürfen jedoch auch innerhalb der Verszeilen verborgen sein. Damit wird noch einmal deutlich, daß die metrischen und rhythmischen Strukturen in erheblichem Maße divergieren können, ohne daß es zu Verletzungen metrischer Regeln kommen muß. Eine scharfe Grenze zwischen Regelverletzung und zulässiger Variation des Grundmusters ist schwer zu ziehen und wird innerhalb der Versgeschichte nicht einheitlich gezogen. Nadi dem Muster des letzten Schemas könnten alle Parameter aufgeschlüsselt werden. Die Fülle der Bezüge ist die Ursache dafür, daß sich der Prozeß der Formgeschichte so langsam vollzieht und von widersprüchlichen Entwicklungen begleitet wird. Die Verschiebung in den semantischen und ektosemantischen 15

Vgl. dazu die Diss. des Verf.: Vom Rhythmus der modernen Lyrik, München 1970, und den Beitrag im WW 23, 1973, S. 1 1 1 - 1 2 4 : Klopstocks »Längen« und verwandte Verselemente bei Holz und Brecht

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Hartwig Schultz

Schichten führt zu einer Veränderung der rhythmischen Strukturen, die sekundär die Wahl der Metra mitbeeinflußt. Auf Grund dieser »Mechanik« setzen sich bestimmte metrische Formen ganz allmählich durch. Nie ist jedoch auszuschließen, daß die dominierenden Rhythmustypen sich auch in traditionellen »überholten« Formen realisieren lassen. Ein »Widerspruch« von Form und Inhalt manifestiert sich dabei nur in dem Sinne, daß eine Reihe von Symptomen auftreten, die qualitativ neutral sind. Die Ubergangsphase von der klassisch-romantischen Epodie zur Moderne zeigt sich etwa in folgenden (bei George oder Rilke nachweisbaren) Phänomenen: x. Die visuellen und akustischen Strukturen der Gedichte divergieren in relativ 1 8 großem Maße. Das heißt, die Kolongrenzen, die bei einer akustischen Textrealisation auftreten, sind nur zum Teil als Zeilengrenzen im sdiriftlichen Text sichtbar und werden dementsprechend nur teilweise durdi metrische Regeln erzeugt. 2. Dadurch ergibt sich, daß die metrische Struktur bei einer akustischen Textübermittlung relativ sdiwer auditiv rekonstruiert werden kann und bei einer Umsetzung in eine Schriftfassung verschiedene andere Lösungen denkbar sind. 3. Die metrischen Lizenzen wie Taktumstellung, Enjambements, besdiwerte Senkungen, u. ä. werden relativ häufig in Anspruch genommen. 4. Reimbindungen stehen oft nicht am Kolonende, so daß das Reimgefüge sich nicht mit dem rhythmischen Gefüge deckt und in seiner Wirkung erheblich abgeschwächt wird. Diese Phänomene sind als Auflösungssymptome einer Form zu verstehen, denn der Reim verliert seine bindende Funktion und die Zeilengrenze ihr akustisches Korrelat. Doch ist damit nur eine bestimmte historische Form gefährdet, nicht aber die ästhetische Qualität verloren. In der Phase der Auflösung entstehen zugleich neue Formstrukturen und Funktionen, und das Neben- und Gegeneinander von alten (primär visuell repräsentierten) und neuen (teilweise nur in der akustischen Textrepräsentation deutlichen) Elementen kann sehr komplexe Kunstwerke entstehen lassen. Form-Inhalt-» Widerspruch« meint also nicht einen ästhetischen Mangel, einen Bruch, sondern nur eine Phase innerhalb der fortschreitenden Formgeschichte. Damit wird noch einmal unser Ansatz deutlich: Die Form-Inhalt-Dialektik zielt nicht darauf ab, falsche Formen auszusondern, sondern versucht, die empirisch nachweisbaren Wandlungen der Formgeschichte17 (wechselnde Dominanz von Versmaßgruppen) durch die Konstruktion eines Modells zu erklären. Dabei ging es zunächst darum, die theoretischen Grundlagen eines solchen Modells zu diskutieren. Zugleich ergab sich eine Erklärung für die in der Formgeschidite 1« »Relativ« bedeutet in diesem Zusammenhang jeweils im Vergleich zu der rhythmischen Realisation des gleichen Metrums in der vorhergehenden geschichtlichen Phase. 17

Vgl. dazu die Diss. des Verf.

Aspekte der Form-Inhalt-Dialektik in der Lyrik

I4J

zu beobachtenden mannigfadien Verzögerungen und Widersprüche, die sich dergestalt auswirken, daß offensichtlich einander widersprechende Inhalte in der gleichen Form auftreten können. Die Verbindung von metrischen und semantischen Strukturen ist in der Lyrik so komplex, daß sich eine unmittelbare Umsetzung des Inhalts in Form nicht ergibt, sondern meist zunächst inhaltsadäquate neue Rhythmen in alten metrischen Strukturen auftreten. Die Verfestigung dieser Rhythmusstrukturen zu metrischen Systemen erfolgt mit Phasenverschiebung oder überhaupt nicht. Der Versuch, die Versmaße direkt mit dem jeweiligen Gedichtinhalt in Beziehung zu setzen, ist daher zum Scheitern verurteilt. Fraglich sind auch die beiden extremen Auffassungen von der ausdrucksleeren metrischen Hohlform, bzw. einem ein für allemal festgelegten Ausdruckscharakter der Metra. Nur im historischen Kontext sind die metrischen Formen als Ausdrucksprägungen interpretierbar.

»Wer heut Sonette schreibt.. « Hinweise zur historischen Semantik einer lyrischen Form V o n ALEXANDER VON BORMANN, A m s t e r d a m

Das Sonett ist nicht nur die diditerisch wie philologisch kommentierteste Gedichtform1, es ist zugleich eine zunehmend umstrittene Form. Die Gründe, die diesen Streit für und wider das Sonett plausibel machen, die Hinweise auf den möglichen Gegensatz einer Formrealisation zu ihrer Zeit sollen in diesem Beitrag ansatzweise vorgestellt werden. Das Zitat von Mynona, das ich im Titel nicht ganz zu geben wagte, hat dabei die Funktion einer Fanfare. Wie Heines Tendenzlied ist Friedländers Kritik nicht nur ernst gemeint, erscheint sie doch selber in Sonettform; sie exponiert aber doch erfrischend deutlich das Problem: Mynona (Salomon Friedländer) In alte Schläuche taugt kein neuer Wein, Der Dichter dichte, wie zum Beispiel Whitman; Die Seele immer neu schafft ihre Rhythmen, Wer heut' Sonette macht, ist nur ein Schwein. Daher auch hüt* ich midi davor, allein Ich bin darob beruhigt, denn ich glitt, wenn Ich's auch wollte, nicht in diesen Ritt, denn Grad zur Sonettform sag' ich immer: nein! Ich hoppse, wie die Muskeln mir's diktieren, Will nicht in fremde Form gezwungen sein Und fühle mich ganz frei in meiner - m e i n e r ! Pfui Teufel, sollt' ich je Sonette schmieren: Ich will ich selbst in meinen Lungen sein Und niemals atmen in Petrarkas seiner.

Mynonas Sonett spiegelt die Kritik an dieser Form durchaus wider. Der Reimzwang führt zu kaum noch akzeptablen Bildungen (Rhythmen - glitt, wenn) 8 ; kunstvolle Satzbrechungen am Zeilenende (Enjambements) müssen den Formzwang leugnen und für eine Souveränität zeugen, die sidi besser im freien Vers, in der Aufgabe der traditionellen Form, bekunden würde. Nun macht uns Friedländer einen Strich durch die Rechnung, ihn als Zeugen gegen das Sonett 1

Vgl. dazu die Sammlung von Jörg-Ulrich Fechner: Das deutsche Sonett. Dichtungen, Gattungspoetik, Dokumente. München 1969

»Wer heut Sonette schreibt...«

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anzuführen: diese Absage leitet nämlich den Band »Bonbons. 100 Sonette von Mynona« ein. Die Kritik in Sonettform trifft auch die Gegenposition: das Bestehen des Individuums auf eigenen Ausdruck, eigene Form begegnet Verhältnissen, die dies nur noch als Schein gestatten; der Anspruch wird zur Phrase. Unvermutet und ungewollt, gegen hochtönende Selbstsicherheit gleitet der Dichter in die alte Form zurück. Sein Anspruch, »Ich will ich selbst in meinen Lungen sein«, bleibt subjektiver Schein, kann sich im Werk nicht mehr realisieren, die Formtradition holt ihn ein. Die verrückten Reime im zweiten Quartett denunzieren so nicht nur die Künstlichkeit der Form, sondern machen zugleich erkennbar, mit Hilfe welcher Techniken das künstlerische Ich sich seine Autonomieillusion zu bewahren sucht. Deutlich reicht hier die Form weiter als das Bewußtsein, bildet sich das Bewußtsein (hier spielerisch) ein, »etwas Anderes als das Bewußtsein der bestehenden Praxis zu sein«. Für die Frage nach der Bedeutung der Formtradition in der lyrischen Dichtung lassen sich hier schon einige Hinweise gewinnen. So läßt sich annehmen, das Sonett als etablierte und häufig geübte Form sei dem Dichter so intim und geläufig geworden, daß ein Bestehen auf Individualität, unverwechselbare Identität nicht als Gegenposition durchgehalten werden kann. Darin wird eine allgemeinere gesellschaftliche Erfahrung wiedererkennbar. Die Weise, wie das Ich sich hier gegen die Wahrnehmung seiner objektiven Unterwerfung unter die verworfene Tradition sperrt, ist tendenziell rührend, weil quasi-kindlich und durchschaubar; sie wirkt komisch, weil in dieser Konfrontation unangemessene Größen in einen abgewogenen Konflikt geraten 3 . Anschaubar werden »die für die bürgerliche Charakterstruktur typische Auffassung von der individuellen Einzigartigkeit und Unersetzlichkeit der Person und die daraus resultierenden Identitätsängste und -konflikte«, nach E. Wulff durch die ödipale Struktur der Kleinfamilie des westeuropäischen Raumes bedingt 4 . Die Sozialisationsbedingungen, denen der Heranwachsende unterworfen ist und zu denen Literatur, als tertiäre Sozialisationsinstanz noch immer wirksam, ihr

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Salomon Friedländer (Mynona): Hundert Bonbons. Sonette v o n Mynona. 1918. S. 1. Ein schönes Beispiel für Mynonas Reimverspottungsredit ist etwa Bechers Sonett 9J mit dem anspruchsvollen Titel »Das Bild des Menschen«: »Ich möchte schreiben ein Gedicht, daß, wenn D u dies Gedicht liest, alles klar dir würde. U n d du fingst an zu sprechen: >Ich bekenn, Idi ging verlustig aller Menschenwürden« In: Johannes R . Becher, Das Sonettwerk. 1913-19$$. Berlin 1956, S. 121 V g l . dazu Friedrich G e o r g Jünger: Über das Komische. Frankfurt/M. 1948 (3. A.), S. 17, zi, 26 Petra M i l h o f f e r : Familie und Klasse. Ein Beitrag zu den politischen Konsequenzen familialer Sozialisation. Fisdier Tb. 6515, F r a n k f u r t 1973, S. 128 f.; Bezug a u f : E. W u l f f , Probleme transkultureller Psychiatrie, in: D a s Argument 50/1969, S. 227-260

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Alexander von Bormann

Scherflein beiträgt, zielen letztlich auf Verinnerlichung von Verhaltenserwartungen, auf den Erwerb psychischer Dispositionen, die für den Reproduktionsprozeß der Gesellschaft notwendig sind6. Das heißt aber, daß die Erziehung unter bestimmten Bedingungen die Ideologisierung des Bewußtseins mit Inhalten ermöglicht, die den wirklidien Interessen entgegengesetzt sind6. Von diesen Überlegungen her bekommt die Frage nach dem dichterischen Formbegriff eine eigentümliche Schärfe. Das Thema der problematisch gewordenen dichterischen Identität, das bei Mynona die Haltung zum Sonett komponiert, gewinnt Interesse im Hinbiidt auf Sozialisationsbedingungen, die »dem Einzelnen die Verfügung über einen Teil seiner psychischen Kräfte dauernd verloren« gehen lassen7. Der Entzug der Freiheit, den die Sonettform nach traditioneller Meinung bedeutet, wird vom Ich nicht wahrgenommen, weil der Zwang ihm längst nicht mehr äußerlich ist 8 : als >Vernunft< ist er Teil des organisierten Ich, als >Rationalität< Regulativ gesellschaftlichen Verhaltens, als Form Anruf und Auswirkung der in den Individuen gesellschaftlich produzierten, internalisierten Gewaltverhältnisse geworden. Das Sonett ist besonders gut geeignet, um die Formproblematik der lyrischen Dichtung ein wenig allgemeiner zu exponieren. Die Dialektik zwischen Form und Inhalt setzt den klassischen Formbegriff voraus, Form nicht als Schema oder rhetorische Figur, als äußerer Zwang (Bodmer redet anläßlich des Sonetts vom Prokrustesbett9), sondern als dem Inhalt abgenommene Organisationsform desselben. Die Interpretationen W.Emrichs haben diesen Zusammenhang auch an Werken sichtbar gemacht und sehen gelehrt, die einer dialektischen Interpretation kaum zugänglich schienen, und die Anstrengung der literaturwissenschaftlichen Begriffe auf ein Niveau gebracht, das den humanistischen Anspruch der Form-Inhalt-Dialektik zur Gesellschaftskritik geraten ließ, wo jene außer K r a f t gesetzt war. Voraussetzung eines solchen Ansatzes ist die Überzeugung, daß das Verhältnis von Beschränkung und Freiheit rational, d. h. gesamtgesellschaftlich vertretbar, gelöst sei; daß die Gesetze, denen die Bildung (Sozialisation) den zunächst ungebundenen Geist unterwirft, nicht »auferlegt«, »be5

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V g l . dazu W i l f r i e d Gottsdialch, M . Neumann-Sdiönwetter, G . Soukup: Sozialisationsforsdiung. Materialien, Probleme, Kritik. Fischer T b . 6 5 0 3 , F r a n k f u r t 1 9 7 1 (S. 3 0 ) ; ebenso Familie und Gesellschaftsstruktur. Materialien zu den sozioökonomisdien Bedingungen von Familienformen. H r g . und eingel. von Heidi Rosenbaum. Fischer T b . 6 j 2 i , F r a n k f u r t 1 9 7 4 Dietrich Haensch: Repressive Familienpolitik. Scxualunterdrückung als Mittel der Politik, rororo 8 0 2 3 , Reinbek 1 9 6 9 , S. 3 7 (vgl. Gottschalch S . 3 1 ) M a x Horkheimer: D i e Erziehungsleistung der bürgerlichen Familie. I n : Rosenbaum ( j b), S. 304

V g l . dazu Klaus H o l z k a m p : Sinnliche Erkenntnis - Historischer Ursprung und gesellschaftliche Funktion der Wahrnehmung. F A T 4 1 0 0 , F r a n k f u r t 1 9 7 3 . Bes. K a p . 7 (und 8): D i e historische Bestimmtheit der Wahrnehmungstätigkeit des Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft, S. 1 7 3 f f . • Zit. bei Johann G e o r g Sulzer, in: Fechner ( 1 ) , S. 3 1 8

»Wer heut Sonette s c h r e i b t . . . «

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stimmt« und »vorgeschrieben« sind nach dem Individuum fremden und seine Identität tendenziell aufhebenden Interessen, sondern Zeugnis der Konvergenz von Natur und Kunst, von Neigung und Pflicht, von Daimon und Ananke, von Individuum und Gesellschaft. N a t u r und Kunst, sie scheinen sidi zu fliehen U n d haben sich, eh' man es denkt, gefunden; D e r Widerwille ist auch mir verschwunden, U n d beide scheinen gleich midi anzuziehen. Es gilt wohl nur ein redliches Bemühen! U n d wenn wir erst in abgemeßnen Stunden M i t Geist und Fleiß uns an die Kunst gebunden, M a g frei N a t u r im Herzen wieder glühen. So ist's mit aller Bildung auch beschaffen: Vergebens werden ungebundne Geister Nach der Vollendung reiner Höhe streben. Wer Großes will, muß sich zusammenraffen; In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister, U n d das Gesetz nur kann uns Freiheit geben. 1 0

Nun hat Goethe selbst anfangs Vorbehalte gegen die Sonettform geäußert; ihre hohe Künstlidikeit wird als Problem erfahren: er, der »sonst so gern aus ganzem Holze« schneidet, »müßte nun doch auch mitunter leimen«. Und man kann sich schon zusammenreimen, was besonders als Einschränkung zählt: der vielfältige Reimzwang, zu dem die deutsche Sprache weniger disponiert erscheint als die romanischen. Die klassische Form-Inhalt-Dialektik vermittelt zwischen Tradition und Zukunft, Natur und Geschichte dergestalt, daß sie das Individuum und seine Entwicklung zum Muster jener Verschränkung nimmt, die zugleich als kosmisches Gesetz ausgesagt wird: U n d keine Zeit und keine Macht zerstückelt Geprägte Form, die lebend sich entwickelt. 1 1

Diesem Formbegriff gehorcht das Sonett kaum. Es ist eine so bestimmte, seit ihrem Ursprung am staufischen Kaiserhof Friedrichs II. in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts12 fest umrissene Form, deren Geprägtheit kaum lebende Entwicklung zuläßt. So kann ihre Aneignung als Paradigma einer grundsätzlicheren Formproblematik begriffen werden, als deren partielle, historisch einzugrenzende Lösung allenfalls der klassisch-dialektische Ansatz erscheint. Die traditionelle Formbestimmtheit des Sonetts erlaubt kaum einen Anschluß an die Philosophie der >inneren Formweiterhindann aberfernerhingegensoklingt ausklingt aufkehrt wiedernimmt aufkontrastierterhärtet< usw. zu verbinden, was dann den Eindruck einer historischen Betrachtung hervorrufen soll. Machen wir lieber große Schritte, um solchen Eindruck zu vermeiden! Das Sonett gelangt im 16. Jahrhundert (genau: 1556) unter französischem und holländischem Einfluß in die deutsche Dichtung; im 17. Jahrhundert wird es eine der bevorzugten Gattungen, nicht zuletzt durch den Einfluß von Martin Opitz (1624). Zwar spricht sidi Opitz deutlich für den Geist im Dichter aus, für den göttlichen Furor und die natürliche Regung des begabten Poeten. So dürfen, zum Unterschied von >Aberwitz< und >BlödigkeitverfertigenWissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins< entwickeln, welche die Einheit der Geschichte in ihren materiellen und bewußtseinsmäßigen Zusammenhängen im Bindeglied der Erfahrung zu erkennen vermöchte. Sie hätte, auf Geschidits- und historischen Geisteswissenschaften fußend, die Bildung und Veränderung des historischen Bewußtseins aus dem Gang der realen Lebensgeschichte der menschlichen Gattung zu begreifen, ohne es zu autonomisieren, vor allem aber, ohne es unvermittelt und ertraglos aus jener abzuleiten; und dabei Schritt für Schritt die zwischen den beiden Seiten vermittelnden Erfahrungsstrukturen offenzulegen. Allein, unter erkenntniskritischer Betrachtung scheint die Idee einer soldien Wissenschaft von der Erfahrung des Bewußtseins in die Aporie zu geraten.

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Rainer Wagner

Denn das partikulär erfahrende historische Bewußtsein kann, selber ein bedingtes, seiner Bedingungen nicht innewerden. Es kann das Faktum seiner Begrenztheit einsehen, nicht aber durch Reflexion überspringen. Die Wirklichkeit, wie sie sich jenseits der Bedingungen möglicher Erfahrung darstellen könnte, muß so unerkennbar bleiben wie das Kantische Ding an sich. Ebenso müßte, in historischer Absicht, auch die Einseitigkeit im Bewußtsein früherer Epochen nur begrenzt eingesehen werden können, nur insoweit nämlich die Erfahrungsbedingungen selbst sich geändert hätten und ihre zurückgelassenen Formen historischer Analyse freigäben. Setzt man also nicht, wozu kein hinreichender Anlaß besteht, eine Fähigkeit des Bewußtseins in der Art der transzendental-phänomenologischen Reduktion Husserls voraus, sich mittels einer inoy_'h von - hier den Erfahrungsbedingungen über diese zu heben, scheint eine gerade auf deren Erkenntnis angewiesene Wissenschaft von der Erfahrung ausgeschlossen. Vielmehr müßte diese scheitern an einem Verhältnis, das als »erkenntnistheoretischer Zirkel« bezeichnet werden kann. Dieser Zirkel ist nicht sdieinhaft, er ist vielmehr der Grund für die Relativität des historischen Bewußtseins; dennoch, bringt er nicht notwendig die Unerkennbarkeit der Erfahrungsbedingungen und damit die Unmöglichkeit einer verstandenen Geschichte des Bewußtseins mit sich. Denn der Bedingtheit der Erfahrung und Relativität des Bewußtseins steht gegenüber, freilich ohne die Macht dieser Bedingtheit brechen zu können, das einheimische Interesse des Bewußtseins an unbedingter Erfahrung und an seiner eigenen Absolutheit, oder die Vernunft. - Das tatsächliche Hinausgehen des menschlichen Bewußtseins über bloß instrumentales Wissen und bloße für die Reproduktion der Gattung und des Lebenssystems erforderliche Reflexion kann nur gedacht werden als, wie immer bedingtes, Resultat eines Vermögens des Bewußtseins, vollständige Orientierung über eine vernünftige Welt zu wollen. Näherhin bestimmt sich dieser Wille als Absicht der Vernunft, eine vollständige Erkenntnis der Außenwelt und eine Bestimmung der Stellung des Subjekts in ihr zu erhalten. Beide Ziele bedingen einander; ihre Fluchtpunkte sind Erkenntnis und Freiheit; und ebenso ist es daher die Absicht der Vernunft, die Außenwelt als eine vernünftig eingerichtete zu erkennen und das Subjekt als autonom zu denken. Entsprechend setzt vollständige Erkenntnis ein über die einschränkenden Bedingungen partikulärer Erfahrung hinausgekommenes, freies Subjekt voraus; und Freiheit ist nicht denkbar ohne Erkenntnis der Welt als einer vernünftig eingerichteten. Man wird bemerken, daß die Vernunft nie einfach, kontemplativ erkennen will, sondern stets das zu Erkennende als vernünftig denken will, auch in der Philosophie; das ist die eingeborene Einheit des Erkennens und Handelns auch in der von Praxis abgespaltenen theoretischen Vernunft. Denn etwas absolut Unvernünftiges, nicht nur wenig Vernünftiges, ist auch nicht erkennbar, sondern nur wahrnehmbar oder erleidbar. Entscheidend aber ist, das das Ausmaß dessen, was für vernünftig und somit erkennbar gehalten wurde, in der Geschichte sehr geschwankt hat. - Die Annahme eines solchen Vermögens, Orientierung

Vorbegriff einer gesdiichtsphilosophischen Ästhetik

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über eine vernünftige Welt zu wollen, des »Faktums der Vernunft«, ist notwendig der Erkenntnistheorie vorauszusetzen. Es kann freilich auch, sofern dafür Bedürfnis besteht, naturgeschichtlich erklärt werden, wobei allerdings die Gefahr vermieden werden muß, erkenntnistheoretische Bestimmungen auf anthropologische zu reduzieren: insofern der Mensch nämlich, als das von der Natur freigelassene Tier, nach Verlust seines natürlichen Reproduktionsvermögens einerseits, seines schützenden Umweltgehäuses und der Instinktleitung seiner Wahrnehmung andererseits, in der Not gedadit werden muß, eine möglichst vernünftige Beschaffenheit seiner Umwelt und eine möglichst autonome Stellung in ihr zu konstruieren und zugleich zu erkennen; die Einheit von Erkenntnis und praktischer Absicht leuchtet hier unmittelbar ein. Festzuhalten bleibt jedoch, daß das Vermögen der Vernunft zwar als Intention hypostasiert werden muß, in seiner reinen Form aber bloß als Idee gedacht werden kann. Die Wirklichkeit der Vernunft mag als Zielpunkt in der Verwirklichung der Mensdiengattung oder als möglicher Endpunkt der Geschichte angesehen werden; die ihr entsprechende Stellung des Bewußtseins bleibt jedoch, bis zur Herstellung entsprechender Realität der Welt, bloße Utopie. Denn die Vernunft kann, eben wegen ihrer Verschränkung mit der Praxis, die einschränkenden Bedingungen historischer Erfahrung nicht überspringen. Das heißt zunächst einmal, daß die ideelle Einheit von Erkennen und Handeln real nicht gegeben ist (und also auch nicht spekulativ an den Haaren herbeigezogen werden sollte). Praktische Vernunft, notwendig ohne Gewißheit, darf darum nur tentativ vorangehen; theoretische, Erkenntnis, umgekehrt ist noch nicht Praxis, und kann das Individuum nur anblicken, als ob es in Freiheit, die Welt, als ob sie vernünftig sei, - muß vielmehr das gegenteilige Resultat hinnehmen. Ebenso, und aus dem gleichen Grunde, gilt gegen das spekulative Motiv in der Philosophie, daß Identität, die Möglichkeit absoluten Wissens, nicht vorgegeben werden darf. - Denn als Vermögen eines durch partikuläre Erfahrung bedingten Bewußtseins wird auch theoretische Vernunft selber partikulär und kann sich nicht verwirklichen; sie wird entweder bloß formell, oder muß in ihrem Geschäft scheitern. So kann das historische Bewußtsein den Willen zu absoluter Erkenntnis in Bewegung setzen und den halb verstellten Blick auf die Wirklichkeit daraufhin schärfen, wie die Welt vernünftig und das Individuum autonom sei; die Antwort wird, entsprechend seiner eigenen historischen Stellung, in immer spezifischer Form wieder sein, daß Erkenntnis und Freiheit nicht vollständig möglich seien. Anderes entspräche auch nicht der historischen Wirklichkeit als der vorgängigen Ursache der Partikularität des Bewußtseins. Gleichwohl liegt eben in dieser Beschränktheit der theoretischen Vernunft aufs Formelle bzw. der Notwendigkeit ihres Scheiterns eine auch dem historischen Bewußtsein zugängliche Wahrheit, die Quelle nicht von Erkenntnis, aber der Einsidit in seine Partikularität. In ihrem Abmühen und Versagen offenbart die Vernunft die Bedingtheit des sie aussendenden Bewußtseins, und damit das Unzureichende der Wirklichkeit selber. Denn schon unter dem bloßen Anspruch,

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vernünftig gedacht zu werden, kehrt die erfahrene Wirklichkeit ihre Partikularität hervor. Ihrem Bild sind die Bedingungen der Erfahrung abzulesen. In den Gestalten des ersdieinenden Bewußtseins, in die sich die Vernunft, die nicht zu Ende kommen durfte, versenkt hat, leuchtet auch deren Begrenztheit auf. Nach ihrem Abscheiden lebt die Vernunft jetzt, verwandelt, am Erscheinenden selber fort, als dessen eigene Klage, nicht vollendet zu sein. So ist Erkenntnis, als positive, nicht möglich, denn die Nichtwirklichkeit der Vernunft ist bilderlos. Die Utopie ist weder ausdenkbar noch darstellbar. Wohl aber öffnen sich die von Vernunft einmal gezeichneten Gestalten einer >negativen ErkenntnisSystem< auch als Wandel des Denkbaren zu beschreiben, auf der Basis des Wandels der historischen Erfahrung. So käme die K r a f t dieses Denkens ins Licht, das wegen und trotz jener Erfahrung absolutes Wissen versprach; zugleich der entrichtete Preis: der Satz vom Ende der Kunst und Hölderlins Wahnsinn haben die gleiche Erfahrung zum Grunde. So sind die Werke der Vernunft, gerade weil sie durch die historische Erfahrung bedingt sind, diese aber, anders als das historische Bewußtsein, kraft der Vernunft doch transzendieren wollen, Quelle der Erkenntnis. Sie erleiden die Erfahrung nicht allein, sie reagieren auf sie; und so lassen sich an ihnen auch die Bedingungen jener Erfahrung ablesen. Wären, um das Beispiel des Zeiterleb48

In einer Randnotiz zur Neuauflage von 1832. Vgl. J. Hoffmeister, »Zur Feststellung des Textes«, in: G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes ed. Hoffmeister, Hamburg 1948, 578

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nisses ein letztes Mal heranzuziehen, Bergson oder Proust oder Thomas Mann in ihren Werken nur »Ausdruck« ihrer Zeit, so fänden sich bestenfalls in ihren Werken selbst Spuren defekter Zeiterfahrung, oder sie würden gar der Kommerzialisierung und Quantifizierung der Zeit, wie die Trivialliteratur sie verherrlichte, mehr oder minder deutlich das Wort reden. Statt dessen kultivieren sie das Gegenteil, bis in Nuancen: Madame Chaudiats forciertes Zuspätkommen korrespondiert dem Kult der Pünktlichkeit drunten im Flachlande. Philosophie und Kunst - nicht zufällig waren oben nur solche Werke zur Illustration der Wirkung veränderter Zeiterfahrung heranzuziehen - versuchen vielmehr, die durch den Erfahrungswandel eingetretene Gefährdung der Totalität zu überbrücken, ohne daß sich ihre Autoren doch der Erfahrung selbst bewußt gewesen wären oder sie in ihren Bedingungen analysiert hätten. So kommt Bergson zu einer positiven Theorie der Erlebniszeit, geht Proust auf die Suche nach der verlorenen Zeit, zeigt Thomas Mann, daß das alte Ziel des Entwicklungsromans, Selbstverwirklichung des Subjekts, nur in der Zeit gerinnen lassenden »Ewigkeitsatmosphäre« des Zauberbergs verfolgt werden kann. Während so also Philosophie der Versuch ist, die Totalität im Medium der Reflexion nadizukonstruieren, ist das Wesen der Kunst das Aufsuchen der Totalität in der erfahrenen Wirklichkeit selber, und somit das sichere Scheitern der Vernunft. Der Kunst ist auferlegt, vergeblicherweise ein Bild der Wirklichkeit als einer erkennbaren und vernünftigen, des Individuums als eines bewußten und freien vorzustellen. Die Vielfalt ihres gegenständlichen Gehalts ist daher nur die Vielfalt möglicher in die Erfahrung tretender Wirklichkeit, die Vielfalt seines Erscheinens in der Darstellung aber Funktion historischer Erfahrung. In dieser Bestimmung ist die Kunst gleichsam mutiger als die Philosophie, denn sie hält sich an das Wirkliche als Konkretes, an das Gebot, es wirklich erfahren zu müssen, während die Philosophie transzendieren darf; umgekehrt ist die Kunst unvollkommener und verstellter, hilfloser, weil sie der Erfahrung ausgeliefert ist und nicht in die Reflexion ausweidien kann. Denn die Reflexion hat, wenngleich unter Schwierigkeiten, die Vernunft wenigstens als Möglichkeit vor Augen, während die Kunst über ihre erfahrbare Wirklichkeit nicht hinauskommen kann. Darin, endlich, ist die Kunst auch sicherer an der Wahrheit, da sie den Willen der Vernunft stets am Bild des Wirklichen überprüft, während die Philosophie gefährdeter ist, bloßes Opfer der Erfahrung zu werden. Das Rätselvolle der Kunstwerke liegt darin, daß sie ihr geheimes Ziel, die Vernunft, nie beim Namen nennen dürfen, so wie die von der Philosophie benannte Vernunft nie Bild werden kann. Nur an dem, was sie von bloßen Abbildern unterscheidet, wird deutlich, daß sie auf einen jenseitigen Orientierungspunkt ausgerichtet sind, der nie erscheint und doch alles in ihnen Erscheinende verändert. Vermittels dieser Differenz erst entsteht Kunst, ihre Ungreifbarkeit für das partikuläre Bewußtsein. Wer diesen transzendentalen Bezugspunkt nicht berücksichtigt, dem wird Kunst nur zu einer merkwürdig verwischten

Vorbegriff einer geschichtsphilosophisdien Ästhetik Darstellung oder zum Ort einer wie immer subjektiven »Interpretation« der Wirklichkeit. Wohl gibt sie, gemessen am Ideal der Nachahmung, bloße Entstellung, aber eine streng objektive; wie auf einen Magneten richten sich nach dem Willen der Vernunft alle Teile des Kunstwerks auf die Idee einer vollendeten Wirklichkeit. Aber gerade daß sie nicht dorthin fliegen können, um jenes Bild zu werden, macht die Wahrheit der Kunstwerke aus. Sie leben ganz aus der Konstellation; Bilder partikulärer Wirklichkeit, in denen doch jeder Zug danach zittert, einer vollendeten anzugehören. Sie sind so Darstellungen der Wirklichkeit, und doch mehr als Darstellungen, haben Teil an der Vernunft, deren Bild, als Widerspruch zur Wahrheit, nicht gegeben werden darf. Doch wie die Wirklichkeit sich färbt unter dem Blick der Vernunft, bringt die Wahrheit über ihren Zustand ans Licht, macht das Moment der Erkenntnis an den Kunstwerken aus. - Denn dem Willen der Vernunft steht, als Grund seines Scheiterns, die Bedingtheit der historischen Erfahrung und somit des Bewußtseins gegenüber, welche die Vernunft nicht überspringen kann, von der sie vielmehr selbst ihren Ausgang nehmen muß und durch die sie bedingt bleibt. In immer spezifischer Weise scheitert so die Vernunft, ein Bild vollendete!1 Wirklichkeit vorzustellen; sie bleibt gebunden an die Grenzen des Darstellbaren, wie die Philosophie an die des Denkbaren. Hierin liegt die geschichtliche Objektivität der Kunst, keineswegs im bloßen Abbilden historischer Wirklichkeit. Kunst beruht auf der historischen Erfahrung, die negativ aufscheint unter dem gleichzeitigen Versuch, dem Bild die Vollendung des Vernünftigen zu geben. Präzise: die je historische Erfahrung, selber eine bedingte, erlaubt nur einen partikulären Blick auf die Wirklichkeit und nur ein partikuläres Bewußtsein, das diese Möglichkeit versteht und interpretiert. Kraft des Vermögens der Vernunft jedoch vermag das Bewußtsein, die Wirklichkeit auch unter dem Anspruch der Vernunft - das heißt mit der Intention, sie als vernünftig und erkennbar vorzustellen - anzublicken; - jedoch nur unter den Bedingungen der Erfahrung, oder, was dasselbe ist, nur die partikulär erfahrene Wirklichkeit. Kunst objektiviert diesen Blick in ein »Bild«. In Rücksicht auf die Vernunft bedeutet dieser Vorgang, daß sie sich nie ganz verwirklichen kann, scheitert, nur negativ greifbar wird, da die erfahrene Wirklichkeit nie ihrem Anspruch gerecht wird (erst in der Utopie wäre Kunst bloße Darstellung); in Rücksicht auf die erfahrene Wirklichkeit, daß sie sich unter dem Blick der Vernunft, im Bild, spezifisch einfärbt: dies ist die ästhetische Differenz der Kunst zur Wirklichkeit. — Kunst ist so der Versuch, unter den Bedingungen der Erfahrung die Wirklichkeit als vernünftig in ihrem Bild - wie die Philosophie in der Reflexion über sie - darzustellen; und die Werke sind Bilder der erfahrenen Wirklichkeit unter dem Anspruch der Vernunft. Erst indem beide Momente zusammentreten, die Erfahrung des Wirklichen als Grenze des Bewußtseins und die Vernunft als das bewußtlose Wollen des unbekannten Vernünftigen ihr Verhältnis eingehen, entsteht Kunst; in jenem hat sie ihre historische Objektivität, in diesem ihr Erscheinen dieser Objektivität.

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Das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit bestimmt sich somit als spezifisch indirektes. Kunst ist nicht »Darstellung« der Wirklichkeit, schon gar nicht Abbildung oder Widerspiegelung. Vor solchen Forderungen schneidet sie so schlecht ab, wie die Zensurbehörden des verordneten Realismus ihr vorrechnen. Daß Kunst in bestimmten Epochen wie bruchlose Mimesis der erscheinenden Welt wirken durfte - wirklich gewesen ist sie das nie - , verdankte sie der Gunst der historischen Konstellation, einer weniger gelähmten historischen Erfahrung. Was die Kunst immer wieder, und zumal in die Moderne hinein, verändert hat, ist nichts als der historische Prozeß selbst. Es ist ein erstaunlich absurd anmutender Gedanke, die Wirklichkeit könne sich so radikal verändern, die Kunst aber in ihrem Tun und ihren Mitteln gleich bleiben, als wäre sie nicht das Werk historischer Individuen, sondern eine Darstellungsmaschine, die bloß in Betrieb gehalten werden muß. Das Subjekt in der Veränderung der Kunst ist die veränderte Wirklichkeit, nicht aber insofern sie in der Kunst als einem sich stets gleichen Medium in Erscheinung tritt, sondern insofern sie die historische Erfahrung der Individuen, und somit die Kunst als Leistung dieser Individuen, bedingt. Nur in dieser Vermittlung wirkt sie in die Kunst hinein, nur durch diese Vermittlung kann diese auch Erkenntnis der Wirklichkeit werden. Unter dem Aspekt der Darstellung hingegen bleibt die historische Wirklichkeit der Kunst äußerlich. Die Freiheit der Kunst, Bilder gegenwärtiger oder vergangener Wirklichkeit, phantasierter oder surrealer Welten zu wählen, ist in kein allgemeines Prinzip auflösbar. Grundsätzlich gilt nur das Gebot, daß es ein Bild, das Vorzeigen eines Konkreten zu sein habe, und sei es ungegenständlich; die Grenze der Darstellungsmittel markiert erst das diskursive Denken. Umgekehrt registriert dieses »Bild«, gerade infolge seiner Freiheit, historische Wirklichkeit nicht abbilden zu müssen, diese Wirklichkeit unbestechlich; in seinem spezifischen Unvermögen, versöhnte Welt zu gestalten, offenbart es die Partikularität jener Wirklichkeit objektiver als jede Darstellung es vermöchte. Nach der Seite der Objektivität erscheint also in der Kunst nicht die Wirklichkeit ( - sie wäre sonst absolute Erkenntnis, was jedoch unbedingte Erfahrung voraussetzte), sondern die Erfahrung, die als eine bedingte siebtbar wird, insofern sie das Geschäft der Vernunft selbst hier bedingt; - somit also die Defizienz der Wirklichkeit, nicht ihr Ansichsein. So ist Kunst negative Erkenntnis, im doppelten Wortsinne: der Vernunft, insofern sie sie nur indirekt, gleichsam im Abdruck, in ihrem Scheitern erfährt; der Wirklichkeit, ebenfalls nur indirekt, in deren erfahrungsbegrenzender Negativität. Was also in jener ästhetischen Differenz zwischen Wirklichkeit und Kunst als subjektive Zutat, Gefühl oder Interpretation erscheint, ist in Wahrheit der Zug der Objektivität und Erkenntnis am Kunstwerk; und ebenso töricht wie die Reden vom »Erlebnis« oder nichtrationaler Selbstgestaltung der Subjektivität sind die Forderungen, der vermeintlichen Relativität der individuellen Gestaltung durch Wirklichkeitstreue, Reportagentechnik oder dergleichen entgegenzutreten. Solcher Objektivismus übersieht, daß zwischen der Wirklichkeit und

Vorbegriff einer gesdikhtsphilosophisdien Ästhetik

zi 7

dem Bewußtsein die Erfahrung steht, deren Partikularität sich durch Schreibtechniken nicht überspringen läßt. Das Werk verfiele damit der Bedingtheit des historischen Bewußtseins, gegen das allein große Kunst - und dies ist ihre strikte Definition gegenüber der Gebrauchs- und Trivialkunst - kraft ihrer unbewußten Ausrichtung auf eine möglidie Vernünftigkeit des Wirklichen sich zur Wehr setzen kann. Zugrunde nämlich liegt jener Differenz die Unterschiedenheit des Bewußtseins: was für das Richtige und Wirkliche der Dinge genommen wird, verdankt sich nur der Partikularität der Erfahrung, was als Positivität der Wirklichkeit und ihrer Zwecksetzungen erscheint, entsteht nur auf den ausgetretenen Pfaden des historischen Bewußtseins. Dem widersteht Kunst. »Eine Umstülpung des Bewußtseins findet statt. Welt und Wirklichkeit werden gesehen und gestaltet von einem Punkt außerhalb und unabhängig vom empirisch bornierten Bewußtsein, von einem Punkt aus, den Franz Kafka den archimedischen Punkt genannt hat, von dem aus alles durchsichtig wird, und zwar um so durchsichtiger, je entschiedener sich dieser ästhetische Zustand gegen das empirisdie Bewußtsein durdisetzt. Denn es gibt hier natürlich unendliche Abschattierungen und Grade des ästhetischen Zustandes und der ästhetischen Produktion, eine unabsehbare Fülle problematisdier Mischformen, die zugleich auch die Rangunterschiede zwischen den Kunstwerken bzw. den Künstlern konstituieren.«44 Indem Kunst gleichsam aufs Ganze geht, ihren Gegenstand unter dem Anspruch der Vernunft betraditet, erzeugt sie ein anderes Bewußtsein, das dem gewöhnlichen deutlich, möglicherweise radikal widerspricht. Die Werke vermitteln Einsicht in die wahre Unvernünftigkeit des Ganzen und sind zugleich, als Bild der begrenzten oder scheiternden Möglichkeit des Subjekts, sich frei zu erhalten, Eingedenken möglicher Freiheit. Damit enthüllt sich die Partikularität des historischen Bewußtseins; die Positivität des Wirklichen und die Zwecksetzungen des Individuums erweisen sich als Schein. Dies macht das Moment des Chockhaften am ästhetischen Erlebnis aus. Näherhin äußert sich das den historischen Erfahrungsbedingungen unterworfene Vernunftinteresse an Freiheit und Erkenntnis - in Kunst und Philosophie gleichermaßen - in doppelter Form: nämlich in den Problemkreisen des Verhältnisses v o n Individuum

und Ganzem, u n d des Verhältnisses v o n Subjekt

und

Objekt. In der ersten Problemstellung handelt es sich darum: wie vernünftig (sinnvoll geordnet) ist das Weltganze, wie frei ist das Einzelsubjekt (als Handelndes) in diesem Ganzen; in der zweiten Problemstellung: wie ist die Welt (und ihre Bestandteile) als vernünftige erkennbar, und wie frei ist das Einzelsubjekt (als Erkennendes). Daß, in der Philosophie, der ersten Problemstellung allgemeine Philosophie, der zweiten Erkenntnistheorie im besonderen (als welche die neuere Philosophie im allgemeinen erscheint) entspreche, leuchtet 44

Wilhelm Emridi, »Persönliches für Bremen: Wandel der Literaturwissenschaft aus der Sicht einer Generation«, in: ders., Polemik, Frankfurt 1968, 26

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ohne weiteres ein. Ebenso aber ließe sich unter diesen Aspekten eine verstandene Geschichte der Kunst schreiben, - in allgemeinster Form in der zweifachen Fragestellung nach der Freiheit des Subjekts gegenüber den »Mächten* der Außenwelt, und gegenüber den »Dingen*, das heißt, der sinnlich erscheinenden Welt. Infolge der Bindung der Kunst an konkrete Bildlichkeit kommen die beiden Fragestellungen zugleich mit den Momenten von Inhalt und Form überein. — In der Tat läßt sich jedes Kunstwerk konstitutiv als ein »Weltentwurf« auffassen, als am gegebenen Fall demonstriertes Statement über die mögliche

Vernünftigkeit des Weltganzen und die Möglichkeit des Subjekts, sich, als freies darin zuerhalten. So kann - in diesem Zusammenhang sind nur Beispiele ohne Rücksicht auf den historischen Zusammenhang anzuführen - etwa die Orestie noch den in der Form des Gesdilechterfluchts erscheinenden Antagonismus im sittlichen Gesamtzusammenhang durch die Stiftung positiven Rechts als überwindbar vorstellen, und - freilich, wie zu zeigen wäre, nicht bruchlos - das Bild einer sittlichen Totalität entwerfen. In der Sophokleischen Tragödie bereits ist Versöhnung (und Erkenntnis des verblendeten Individuums) nur noch um den Preis des Opfers möglich. Immerhin aber statuiert Ödipus auf Kolonos noch einen sinnvollen und immanent gerechten Weltlauf. Bei Euripides hingegen erscheint das in die Partikularität der Freiheit herausgetretene Individuum nurmehr als Spielball des Zufalls 45 . Die gewandelte historische Erfahrung gestattet nicht mehr, einen vernünftigen Weltzusammenhang anzunehmen; indem der glückliche Ausgang nicht mehr der Ort sittlicher und metaphysischer Versöhnung, sondern selbst nur Resultat einer undeutbaren Schicksalsfügung ist, verhüllt sich der Gesamtzusammenhang unerkennbar und läßt das pathologisch sich verzerrende Individuum in einem Zustand von Unschuld und Schuld zugleich. Aber nicht nur an Werken, die das Problem der sittlichen Totalität schon von der Anlage her so erkennbar zum Thema haben wie die griechische Tragödie oder die epische Form allgemein - der junge Lukäcs hat deren Gesamtgeschichte gesdiichtsphilosophisch unter der Kategorie des »Anderswerdens der transzendentalen Orientierungspunkte« 46 verfolgt - erweist sich die universale Fragestellung als fruchtbar und bringt den verstellten »Sinn« der Werke ins Licht. W. Emrich hat beispielsweise gezeigt, daß der von Benjamin analysierte »Weltentwurf« des Barocktrauerspiels - Welt als schicksalhafte determiniert, Geschehen als Kreislauf und Karussell, Mensch als lebendigtotes Wesen - konstitutiv für einen Zug neuerer Literatur ist, der über den Sturm und Drang und Büchner bis hin zu Wedekind, Brecht und Ionesco reicht und somit so etwas wie eine »Bewußtseinsstufe« in der Geschichte der Literatur bildet 47 . Stets wiederkehrend erscheint hier die Welt als zerstörerischer, sinnloser und unerkennbarer Mechanismus, die Idee autonomer menschlicher Handlungsmöglichkeit als Verblendung - das völlige Scheitern der Vernunft an der historischen Erfah-

45 46

47

Vgl. M. Pohlenz, Die griechische Tragödie, 1930,1. 236, 456 op. cit. (Anm. 6), 22 »Georg Büchner und die moderne Literatur«, in: W. E., Polemik,

1. c., 1 3 1 - 1 7 2

Vorbegriff einer geschichtsphilosophischen Ästhetik

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rung. Diesen radikal negativen Entwürfen gegenüber wären die anderen Erfahrungen entsprechenden »Bewußtseinsstufen« zu analysieren; namentlich unter der Fragestellung, welche Schicksale dem Individuum widerfahren, wenn es sich wenigstens bedingt autonom erhalten will, und welche Möglichkeiten es bei diesem Versuche nehmen muß, oder aber, warum und in welcher Form es bei Aufrechterhalten eines unbedingteren Anspruches scheitern muß. Die zweite - korrelative - Aufgabe der Vernunft ist es, die Welt als vernünftige nicht allein für den Handelnden, der sie so erfährt, sondern auch als vernünftige erkennbar vorzustellen, — d. h. die äußere Welt, die Dinge und Geschehnisse als verständliche und verstehbare (insofern sie nämlich vernünftig oder »gesetzlich« geordnet sind) zu zeigen; ebenso, das Subjekt als im Erkennen freies, d. h. in einem freien Verhältnis zu den Dingen und Geschehnissen vorzustellen. Näherhin stellt sich das Problem also, ob und wie es unter je historischer Erfahrung möglich ist, einen allgemeinen und vernünftigen Zusammenhang den Einzeldingen abzulesen bzw. sie selbst unter einem solchen Zusammenhang zu betrachten - oder ob dieser Zusammenhang als anonym, unerkennbar, vielleicht bedrohlich, sie selbst als tot, nichtsagend, als bloße Objekte oder Zufallsereignisse erscheinen; ob und wie das Subjekt diese Zusammenhänge einsehen, insbesondere als objektive, den Dingen nicht bloß imponierte einsehen könne, oder sich mit der Unerkennbarkeit der Welt bescheiden muß. - Daß die Schwierigkeiten der Vernunft nach dieser Seite in der Kunst das Problem der Form nicht unberührt lassen können, dieses vielmehr, als die Möglichkeit und Art und Weise der Darstellung, aus jener Problemstellung sich unmittelbar bestimmt, leuchtet unmittelbar ein. Insofern nämlich die Kunst an das Medium des Konkreten und Sinnlichen gebunden, eben aber nicht Abbild der empirisch erscheinenden Wirklichkeit ist, bleibt sie in der Darstellung an die wirkliche Erkennbarkeit des (vernünftigen) Konkreten gebunden. Diese Aufgabe der Vernunft, die Erkenntnis der Welt für das Subjekt zu erhalten, läßt sich - wiederum müssen einige Beispiele genügen - etwa am neuzeitlichen Übergang der Philosophie in Erkenntnistheorie zeigen: dieser ist nicht sowohl »Ausdruck« als vielmehr Reaktion auf einen veränderten Erfahrungszusammenhang, der nicht mehr die Dinge der Außenwelt ebenso wie das Subjekt in transzendentaler Ordnung so aufgehoben zu denken zuließ, wie Erkenntnistheorie selbst in den großen metaphysischen Systemen aufgehoben war. Denn der Aufstieg der Naturwissenschaften, und die ihm zugrunde liegende Ausbreitung der Naturbeherrschung, barg ja vor allem die Gefahr, die abstrakt beherrschte, als eigengesetzlich erkannte, Natur könne dem Menschen entgleiten; und es war notwendig, den aufreißenden Dualismus der res extensae und res cogitantes wenigstens durch die Etablierung sicherer Erkenntnis wieder zusammenzudenken. Die Gewißheit der Identität der Natur >an-sich< (und faktisch erfahrener Natur) mit der für den Menschen erkannten Natur ist dann im 18. Jahrhundert so problematisch geworden, daß Kant mit einer radikalen Erkenntniskritik antwortete, Goethe mit unbändigem Haß auf die Naturwis-

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senschaften, die seine auf dem Symbol (als anschaubarer Identität v o n Gesetz und Erscheinung) fußende Erkenntnistheorie gefährdeten. D e r absolute O r d nungszusammenhang der Dinge und ihre Verläßlichkeit als Erscheinungen drohten sich aufzulösen. Sechs Jahre v o r Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft empfindet Werther die N a t u r plötzlich als unerkennbar und bedrohlidi. Demgegenüber läßt sich die spekulative Philosophie, ebenso wie die klassischromantische Kunst, als letzter großer Versuch deuten, die fremdgewordene weil beherrschte - N a t u r zurückzuholen und die Einheit der Wirklichkeit nodi einmal herzustellen. Indessen, als ästhetische Mythologie der V e r n u n f t , als die das »älteste Systemprogramm« die neue Philosophie konzipiert, mußte dieser Versuch ebenso sdieitern w i e N o v a l i s ' Projekt, diese Mythologie an der N a t u r z u »erzählen«. D i e Einheit w a r , wenn überhaupt, nur noch dem denkenden Subjekt möglich, und Hegels Feststellung, Kunst nach ihrer höchsten Bestimmung gehöre der Vergangenheit an, ist ebenso konsequent wie - nach der »klassischen« Definition - richtig. Sie entspricht der Diagnose Schillers, daß die N a t u r verloren sei, teilt nur deren naiven Optimismus nidit, daß nunmehr »die D a r stellung des Ideals den Dichter machen« könne. - D i e ganze Geschichte dessen, was man die »Moderne« in der Kunst genannt hat, ließe sich als die zunehmende Schwierigkeit beschreiben, die f ü r das erfahrende Subjekt heteronom gewordene Wirklichkeit noch als erkennbar vorzuführen - darzustellen; bzw. dem Subjekt die Einheit der Erfahrung z u restituieren. Sdion zu Hegels Zeiten begann die Kunst, die N a t u r zu verlassen, thematisch in Leopardis »L'Infinito« etwa oder in den Bildern Caspar D a v i d Friedrichs, in denen der in die Unendlichkeit (der Subjektivität und Abstraktion) steigende »Wanderer über den Wolken« korrespondierend eine mit Friedhofskreuzen und Ruinen übersäte, schließlich als grauenhafte Eiswüste vorgestellte (»Die gescheiterte H o f f n u n g « ) N a t u r zurückläßt; begann die Entwicklung, die Erich Heller die »Reise der Kunst ins Innere« genannt hat 48 . S o verschwindet die N a t u r aus der K u n s t oder w i r d als negativ, fremd oder tot dargestellt, »mortifiziert«. D i e ganze mythische Suche nach dem »Neuen«, Unerhörten, Exotischen, die Affinität zum Satanischen, A n t i - N o r m a l e n und Perversen, die paradis artificiels in der Literatur des 19. Jahrhunderts sind nichts als die Suche nach Wirklichkeiten, die der Erfahrung zurückgäben, w a s die empirische Realität nunmehr verweigert; sie explizieren nur, was Friedrich Schlegel schon in der Kategorie des »Interessanten« entdeckt hatte. Entsprechend sind, w i e Rilke es später einmal formuliert hat, die »Zeiten, da Geschehn noch sichtbar war«49, vorüber. D e m (für den Handelnden) unbegreiflichen und gefährlichen Ereigniszusammenhang entspricht die Unmöglichkeit, kohärente H a n d l u n g darzustellen; es f o l g t (deutlich schon bei Büchner) die A u f l ö s u n g der geschlossenen Form, Rückkehr z u m Stationendrama etc. Das v o n jeder Erkenntnis der Wirklichkeit abgetrennte, aufs

48 49

Vgl. sein gleichnamiges Budi, Frankfurt 1966 »Requiem für Wolf Graf Kalckreuth«. Ausgewählte Werke ed. E. Zinn, Mündien 1948, 225

Vorbegriff einer geschieh tsphilosophischen Ästhetik

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»Innere« angewiesene Subjekt geht durch die unverstandene und bedrohliche Realität wie Woyzeck über die hohle Erde, in der ständigen Gefahr einzubrechen. Das hilflose Schwanken des Menschen zwischen dem Versuch, den Dingen »ihre Gesetze vorzuschreiben«, und der Angst vor ihrer unerkennbaren Bedrohlichkeit, der Kampf gegen die Objektwelt, ist seither in der Kunst stets thematisch geblieben. Wie Kafka diese Erfahrungen universal gestaltet hat, hat Wilhelm Emrich gezeigt. - Deutlich ist, wie das Problem der Erkennbarkeit des Wirklichen zugleich das seiner Darstellbarkeit und somit der >Form< ist. So sind auch die Kunststile und »Epochen« nichts als unterschiedliche Weisen, Erkenntnis der Wirklichkeit unter den wechselnden Bedingungen der Erfahrung zu erhalten. So ist der Naturalismus beispielsweise der hektische Versuch, die entschwindende Wirklichkeit durch übermäßige Naturtreue, »Sekundenstil« etc., doch noch festzunageln. Er schlägt konsequenterweise um in den extremen Subjektivismus der folgenden Epochen (in der Erkenntnistheorie ist eine analoge Polarität zwischen Positivismus etc. und neuidealistischen Systemen zu beobachten). Auch die vielberätselte Tatsache, daß die bildende Kunst gegen Ende des letzten Jahrhunderts immer abstrakter und schließlich ungegenständlich ward, ist eine Reaktion auf die gewandelten Erfahrungsbedingungen. Sie ratifiziert den Umstand, daß die Dinge zwar noch dem Augenscheine nach gesehen, aber nicht mehr als sinnvolle und Bedeutung habende wahrgenommen, erkannt werden, sondern in eine Erfahrung treten, die sie eben selbst abstrakt auffaßt und als heteronom bestimmt. - Diese wenigen Beispiele müssen genügen, den konstitutiven Charakter der Kategorie Erkenntnis der Einzeldinge darzutun.

* Über die Wiederherstellung des Begriffs ergibt sich somit, daß dieser sich, positiv formuliert, auflöst in eine besondere Form der Beziehung des Bewußtseins zur Wirklichkeit. Hieran auch begründet sich letztlich, daß ein bestimmter Begriff von Kunst nicht allgemein möglich ist, sondern nur als Entwicklung beschrieben werden kann. Denn wie die Beziehungen von Bewußtsein und Wirklichkeit selbst in ihren Erscheinungsformen, so sind alle näheren Charakteristika der Kunst, und ihr Gehalt, der geschichtlichen Entwicklung unterworfen; und erst die vollständige Betrachtung dieser Entwicklung kann einen bestimmten Begriff ergeben. - Entsprechend können die vorstehenden, ohnehin sehr skizzenhaften, Überlegungen nur die Stellung eines Vorbegriffs einnehmen, d. h. eines aus der unvollkommenen Betrachtung des Ganzen dessen zu leistender Darstellung vorausgeschickten unbestimmten Begriffs, der sich erst in der erreichten Übersicht legitimieren und bereichern könnte. Eine verstandene Geschichte der Kunst erst würde die Bestimmtheit, nämlich den Gang der Entwicklung der Kunst selbst geschichtsphilosophisch begreifen; und sie würde so auch, zugleich als deren Teil, ihren Beitrag zu jener Geschichte der Erfahrung des Bewußtseins liefern. Eine solche Geschichte der Kunst müßte im Prinzip sich

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Rainer Wagner

alle historische Forschung in ihrem Felde zunutze machen und einbegreifen. Menschenmöglich ist sie freilich nur als zusammenfassende und exemplarische Geschichte der Erscheinungsformen der Vernunft in den Kunstwerken - in der Art, wie Wilhelm Emridi sie vorgeschlagen hat, einer Phänomenologie der Literaturso.

80

Skizziert in den Aufsätzen Zum Problem der literarischen Wertung, Verlag der Akademie in Mainz 1961; »Ein Fragebogen aus Moskau«, »Persönliches für Bremen: Wandel der Literaturwissenschaft aus der Sidit einer Generation« und »Lamentieren statt Konfrontieren«., in: ders., Polemik, Frankfurt 1968; Was ist poetische Wirklichkeit?, Verlag der Akademie in Mainz, 1974; sowie unveröffentlichten Papieren.

II. MODELLE

Die Geschichte vom sagakundigen Isländer (Islendings J>attr spgufröSa) Ein Beitrag zur

Sagaforschung

V o n H E I N R I C H MATTHIAS HEINRICHS, B e r l i n

D a es sich um eine kurze Erzählung handelt, gebe ich zum besseren Verständnis der folgenden Überlegungen den Text nach der ältesten Handschrift in einer möglichst getreuen Übersetzung. Vom Sagaerzählen 1 eines Isländers. Eines Sommers trug es sich zu, daß ein junger und aufgeweckter Isländer zum König 2 kam und ihn um Aufnahme (am Hofe) bat. Der König fragte, ob er irgendwelche Überlieferungen aus der Vergangenheit kenne, und er sagte, daß er Sagas (Geschichten) kenne. Da sagte der König, daß er ihn aufnehmen wird, aber er soll dazu verpflichtet sein, immer (durch Erzählen) zu unterhalten, wann immer jemand ihn darum bäte; und das tut er 3 , und er ist beliebt beim Gefolge, und sie schenken ihm Kleider, und der König beschenkt ihn mit Waffen; und so vergeht nun die Zeit bis Weihnachten. D a wird der Isländer mißgelaunt, und der König fragt, was das bedeutete. Er sagte, das komme von seinem launenhaften Sinn her. »Das wird nicht stimmen«, sagte der König, »und ich werde raten. Das vermute ich«, sagte er, »daß jetzt deine Sagas (Geschichten) auf sind; du hast in diesem Winter immer jeden unterhalten, der dich dazu aufgefordert hat, und nun gefällt es dir gar nicht, daß es gerade zur Weihnachtszeit damit zu Ende geht.« »Genau so ist es, wie du vermutest«, sagte er. »Eine Saga ist noch übrig, und die wage ich hier nicht zu erzählen; denn es ist die Saga von deiner Auslandsfahrt.« Der König sagte: »Das ist gerade die Saga, wozu ich die größte Lust habe, sie zu hören, und du sollst jetzt bis Weihnachten nicht mehr erzählen, weil die Leute jetzt auch mit Arbeit beschäftigt sind; aber am ersten Weihnachtstag sollst du mit dieser Saga anfangen und ein Stück davon erzählen, und ich werde es 1

2 8

Man könnte auch das in der Überschrift der Handschrift genannte >skemtun< mit »Geschichte erzählen< übersetzen, wie Dietrich Hofmann es im »Altnordischen Elementarbudi< (Sammlung Göschen n i j - i n j b ) S. 80 tut. >skemtun< meint »Unterhaltung, besonders durch Geschichtenerzähler. Harald der Harte (Haraldr hardrddi), norwegischer König von 1046-1066. Den Wechsel der Tempora behalte ich bei.

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Heinrich Matthias Heinrichs

so mit dir einrichten, daß das Ende der Saga und der Weihnachtszeit zusammenfallen. Nun sind ja in der Weihnachtszeit große Trinkgelage, und man kann nur kurze Zeit dabeisitzen, um Geschichten zu hören; und du wirst nicht herausfinden, solange du erzählst, ob es mir gut oder schlecht gefällt.« Es geschieht nun auch so, daß der Isländer die Saga erzählt; er fängt am ersten Weihnachtstag an und erzählt eine Zeitlang, und der König läßt bald aufhören. Die Männer beginnen zu trinken, und viele sprechen darüber, daß doch Mut dazu gehöre4, daß dieser Isländer diese Saga erzähle, und wie sie dem König gefallen werde. Einige meinen, daß er gut erzähle, aber andere fanden weniger dabei. Das geht so weiter die Weihnachtszeit über. Der König achtete genau darauf, daß gut zugehört wurde; und durch die Regelung des Königs kommt es überein, daß die Saga zu Ende ist und die Weihnachtszeit vorbei; und am dreizehnten Abend, als die Saga vorher am Tage beendet worden war, sagte der König: »Bist du nicht neugierig, Isländer«, sagte er, »wie mir die Saga gefällt?« »Ich habe Angst davor, Herr«, sagte er. Der König sagte: »Mir gefällt sie sehr gut und keineswegs schlechter als die Geschehnisse, die zugrunde liegen; aber wer hat dir die Saga beigebracht?« Er sagte: »Es war meine Gewohnheit draußen auf Island, daß ich jeden Sommer zur Dingversammlung ging, und ich lernte jeden Sommer etwas von der Saga bei Halld6rr Snorrason6.« »Dann ist es nidit verwunderlich«, sagte der König, »daß du sie gut kannst; und es wird dir Glück bringen, und sei bei mir willkommen, und es soll das immer (dir) zur Verfügung stehen, was du willst.« Der König besorgte ihm gute Handelsware und er wurde ein tüchtiger Mann. Diese kleine Erzählung ist vorzüglich aufgebaut, voller Spannung bis zuletzt. Zwei Hauptpersonen treten auf, der König und der junge Isländer. Hinzukommen als kritische Zuhörer innerhalb der Erzählung die Männer am Königshof. In der Einleitung wird knapp erzählt, wie der um Aufnahme bittende Isländer vom König als Sagaerzähler angestellt wird und zur Zufriedenheit des Hofes seine Aufgabe erfüllt. Etwas ausführlicher wird dann, fast nur in direkter, gelegentlich indirekter Rede, der Knoten geschürzt. Der Isländer soll eine Saga erzählen, deren Held als kritischer Zuhörer vor ihm sitzt, ohne daß dieser während des Erzählens zu erkennen geben will, wie ihm die Saga gefällt. Dabei muß man wissen und bedenken, daß der Isländer bei den Geschehnissen, die er erzählt, nicht dabei war. Das ist eine extreme Situation für einen Sagaerzähler, zumal die Spannung für ihn noch dadurch gesteigert wird, daß sich die Erzählung abschnittsweise über zwölf Tage hin ausdehnt. Zwar mindert der Verfasser die Spannung für den Isländer und auch für den Leser oder Zuhörer dadurch, daß er wenigstens die Reaktion der Gefolgsleute, die ja zum Teil die Auslandsfahrt mitgemacht haben, nach dem ersten Erzählabschnitt wiedergibt. Aber da diese Reaktion 4 5

Man kann auch übersetzen »daß doch eine Unverschämtheit darin liege, daß . . . « Halldörr Snorrason war König Haralds vertrauter Gefährte auf der Auslandsfahrt.

Die Geschichte vom sagakundigen Isländer

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zwiespältig ist, ja noch besonders auf den Mut oder die Dreistigkeit des Isländers hingewiesen wird, steigert sich die angstvolle Spannung des Isländers und auch die des Lesers noch. Auf die Frage des Königs gibt der Isländer ausdrücklich seine Furcht vor der königlichen Entscheidung zu. Als der König sagt, daß ihm die Saga sehr gut gefalle und sie den Taten durchaus entspreche, löst sich natürlich die Spannung des Isländers und des Lesers. Audi die Frage, wie der Isländer diese Geschichte so wirklichkeitstreu erzählen konnte, wird beantwortet. Er nennt seinen Gewährsmann, eben Halld6rr Snorrason, den vertrauten Kampfgefährten des Königs auf der Auslandsfahrt. Es ist nicht auszuschließen, daß diese Ehrung Halldörrs, die in diesen Zeilen liegt, ebenso ein Anliegen des Verfassers war wie die Ausgestaltung dieser spannungsreichen Konstellation. Soviel über die Erzählkunst des Verfassers. Die Erzählung finden wir eingebaut in die Saga König Haralds des Harten, und zwar in drei Handschriften. Die älteste ist die sogenannte Morkinskinna, geschrieben in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts6. Die Hulda genannte Handschrift stammt von ungefähr 13JO 7 , ihre Schwesterhandschrift Hrokkinskinna wurde in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts geschrieben8. Wir kennen die Erzählung aber auch als selbständiges Stück aus Papierhandschriften des 17. Jahrhunderts, denen eine Pergamenthandsdirift, vermutlich des 15. Jahrhunderts, als Vorlage diente9. Die Orthographie der Morkinskinna deutet auf eine viel ältere Vorlage, die nach Finnur j6nsson mindestens aus dem ersten Drittel des 13. Jahrhunderts stammt. Man nimmt allgemein an, daß diese Vorlage um 1220 entstanden ist. Ich glaube, daß diese Vorlage schon unsere Erzählung enthalten hat; denn diese hat, wie auch die anderen eingefügten Erzählungen, genau dieselbe altertümliche Orthographie wie die anderen Teile der Handschrift. Snorri Sturluson erwähnt in seiner großen Geschichte der norwegischen Könige, Heimskringla genannt und ca. 1230 entstanden, daß Halld6rr Snorrason die Geschichte von der Auslandsfahrt Königs Haralds nach Island gebracht habe. Man kann daraus schließen, daß in der Sammlung von Königssagas, die Snorri vor allem für die Zeit nach dem Tode Olafs des Heiligen (1031) benutzt hat, nämlich der Vorlage der Morkinskinna, die Erzählung vom sagakundigen Isländer schon gestanden hat. Möglicherweise kannte er aber auch die selbständige Fassung der Geschichte, die der Herausgeber der Austfirdinga sogur10, J6n Jöhannesson, wohl mit Recht schon für diese frühe Zeit annimmt. Nach seiner Meinung ist sie kaum jünger als aus dem ersten Viertel des 13. Jahrhunderts. * Hrsg. von Finnur J6nsson, Kebenhavn 1932, S. 1 9 1 f. 7 Hulda. Sagas of the Kings of N o r w a y 1 0 3 5 - 1 1 7 7 . ( = Early Icelandic Manuscripts in Facsimile Vol. V I I I , edited by Jonna Louis-Jensen, Copenhagen 1968, p. 10 ä f f . 8 Halld6r Hermannsson, Icelandic Manuscripts ( = Islandica X I X ) , Ithaca, N e w York, 1929, S. 2$ 9 Die wichtigsten sind A M 562 f, 4 t 0 und A M 496, 4 ' ° in der Arnamagnaeanischen Sammlung in Kopenhagen. 19 = Islenzk Fornrit X I , Reykjavik 1940, S. C X I I I

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Heinrich Matthias Heinrichs

Man wird daher wohl nicht fehlgehen, wenn man annimmt, daß um 1220 diese Geschichte schon schriftlich fixiert war. Es ist nicht auszuschließen, daß sie in mündlicher Tradition schon einige Zeit gelebt hat. Sie beruht aber mit großer Wahrscheinlichkeit nicht auf einer wirklichen Begebenheit, sondern ist die Schöpfung eines begabten Dichters, der sie vielleicht zur Stützung der Glaubwürdigkeit der Haralds saga erfunden hat, wie Jön Jöhannesson zögernd vorschlägt 11 , oder auch, wie eben angedeutet, sie zum Ruhme Halldörr Snorrasons und seiner Nachkommen verfaßte. Da der Isländer in der Fassung der Königssagas keinen Namen trägt, in der selbständigen Uberlieferung zwar den Namen Porsteinn erhält, aber nidit, wie sonst üblich, einen Vatersnamen, kann kaum eine, auch nicht eine fiktive Tradition aus der Zeit König Haralds vorliegen. Auch wenn man an eine Entstehung in der Mündlichkeit glauben möchte, muß man deshalb eher an die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts als etwa des 1 1 . Jahrhunderts denken. Wenn man nicht ohne Grund annimmt, daß die Erzählung etwa um 1220 schriftlich vorgelegen hat, dann erlaubt sie uns Schlüsse, die zumindest für diese Zeit gelten. Man darf annehmen, daß in dieser Erzählung für die damaligen Zuhörer nichts Außergewöhnliches vorkam, was das Sagaerzählen angeht. Mit Sicherheit saßen unter den Zuhörern Männer, die um die 60 Jahre alt waren. Auch sie werden nicht gegen die Darstellung protestiert haben, eben weil solche Vorgänge ihnen von Jugend auf vertraut waren. Damit kämen wir auf die Zeit um 1180. Folgendes können wir feststellen, immer auf Hörer der Zeit um 1220 bezogen und von ihnen nicht bezweifelt: 1. Es gibt Sagaerzähler, die einen beträchtlichen Vorrat an Sagas zur Verfügung haben und die darauf aus sind, neues Erzählgut sich anzueignen. Darüber später mehr. 2. Erzähler dieser Art versuchen, ihre Fertigkeit im Erzählen an den Mann zu bringen und dadurch Vorteile für sich zu erwerben, etwa Lebensunterhalt oder sonstige Geschenke. Ähnlich verhalten sich auch vielfach Skalden, die durch das Vortragen von Preisliedern auf einen Fürsten sich Zugang zu seinem Hof verschaffen und dort oft eine geachtete Stellung erlangen. 3. Orte des Sagaerzählens sind hier und auch in Wirklichkeit der norwegische Königshof und das isländische Allding, auf dem im Sommer die isländischen Häuptlinge und Bauern zusammenkamen. Das bedeutet, daß sowohl in der Gefolgschaft des Königs wie auf dem Allding Interesse an dieser Art von Unterhaltung bestand. 4. Der König und seine Leute sind aufmerksame Zuhörer. Der König achtet in der Festzeit, die andere Ablenkungen bietet, darauf, daß seine Männer ordentlich zuhören. Eine vorgetragene Saga wird kritisch beurteilt, und zwar einmal danach, 11

a.a.O. C X I V

Die Gesdiidite vom sagakundigen Isländer

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ob die Ereignisse richtig oder zumindest glaubwürdig wiedergegeben werden, und dann, ob gut erzählt wird, also Inhalt und Form sich entsprechen. Auf dem isländischen Allding werden die Zuhörer wohl ebenso kritisch gewesen sein, sicher darf man diese Haltung aber für isländische Zuhörer der Zeit um 1220 voraussetzen. 5. Schon kurze Zeit nach bestimmten Geschehnissen, nodi zu Lebzeiten der handelnden Personen, kann es schon eine Saga darüber geben, wie hier die Saga über König Haralds Auslandsfahrt. So etwas muß um 1220 möglich gewesen sein, und die Geschichten der Sturlungenzeit sprechen dafür. 6. Es wird eine Möglichkeit aufgezeigt, wie man sich Sagas aneignen kann, nämlich indem man zuhört, wenn Sagas auf dem Allding erzählt werden. Lange Sagas werden in Abschnitten auf mehrere Alldinge, mindestens zwei verteilt. Ich halte dies nicht für ausgeschlossen, hege aber Zweifel, ob soldie Fortsetzungssagas je oder gar öfters vorgekommen sind. Den isländischen Zuhörern um 1220 kam dies aber (weil sie so etwas kannten?) nicht unglaubwürdig vor. 7. Nichts in dieser Erzählung weist darauf hin, daß der Erzähler eine schriftliche Vorlage gehabt oder sich auf schriftliche Quellen gestützt hat. Er kennt seine letzte Saga nur von der mündlichen Erzählung Halldörr Snorrasons. Man kann allerdings hier einwenden, daß der Verfasser wußte, daß es zu Haralds Zeiten noch keine schriftlichen Sagas gegeben hat. 8. Aus 7. folgt, daß auch noch um 1220 das Erzählen von Sagas ohne schriftliche Vorlage das Übliche war. Es gab ja auch noch nicht so viele schriftlich fixierte Sagas. Erst recht nicht, wenn man 1180 annehmen will. 9. Man kann sich fragen, welches Interesse außer dem ästhetischen die hohen Herren an Sagas haben konnten. Bei Harald, der nichts lieber hören will als die Saga von seiner Auslandsfahrt und der seine Leute dazu anhält, der Schilderung seiner Ruhmestaten gut zuzuhören, könnte wohl der Gedanke, seine Taten für seine Zeit und die Nachwelt in rühmender Weise festgehalten zu sehen, mitgespielt haben. Was er getan hatte, war ja >sgguledtteuflischGesSeelenfang< nach Christi H ö l l e n f a h r t gewinnt das deutsche Osterspiel A k t u a lität, die in jeder A u f f ü h r u n g realisiert w i r d . D i e W e l t bricht ein - das manifestiert sich in den vielfältigen Ausgestaltungen der Szene im einzelnen Spiel. Doch diese sündige W e l t ist eingeschränkt und eng. D e m glänzenden A u f r u f des Teufels im >Innsbrucker Osterspiel< entsprechen die herangesdileppten Sünder in keiner Weise. K e i n Papst, kein Kardinal, kein Kaiser erscheint v o r dem 1

In: Das Drama des Mittelalters. Osterspiele, hrsg. von E. Hartl. Leipzig 1937 (Darmstadt 1964), S. 136 ff.

Der Teufel und die armen Seelen im deutschen Osterspiel

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Teufel, sondern ein becker, ein schuster, ein kappelan, ein byrschencker, ein fleyschewer (Fleisdihauer), ein schroter (Schneider) und schließlich ein heiser, ein Mann, der für Geld oder Naturalien Liebe bietet {ich helste dy mayt vm eyn lot, I dy frawen vm eyn brot - 501/02). Das sind allesamt Vertreter des kleinbürgerlichen Lebens einer mittelalterlichen Stadt, auch der heiser (der als Buler bei Hans Sachs im Fasnaditspiel wieder auftaucht). Sie bekennen ihre für ihren Berufsstand typischen Sünden: der Bäcker hat beim Brotgewicht gemogelt, der Schuster schlechte Sohlen gemacht, der Fleischer schlechtes Fleisdi verkauft; d.h. sie haben sich gegen Moral und Sitte ihres Berufsstandes vergangen; denn man kann ein ehrlicher oder betrügerischer Handwerker sein, aber man bleibt, was man ist. Sechs von den sieben Sündern werden in die Hölle abgeführt - bis auf den heiser. Der wird zurückgeschickt, weil er selbst der Hölle gefährlich werden könnte: Sathan, lyber geselle, I den brenge nicht in dy helle: I komt her in dy helle myn, wir musten alle kebeskinder sin! (503 ff.). Der Ausschnitt aus dem berufsständischen System und die am einzelnen Stand geübte Kritik verdient nidit die Bezeichnung >StändesatireStände< gegeneinander. Wer diesen dienst schuldhaft unterläßt, ist - wie Luzifer mit seinen Anhängern - der ewigen Verdammnis preisgegeben; er versündigt sidi gegen die weltliche Lebensordnung, die als Abbild göttlich gesetzter Engelordnung verstanden ist. Die Pflichten des einzelnen irdischen status und der ihm angehörenden Menschen werden mit der immer wiederkehrenden Formulierung bezeichnet, daß sie alle getriuwe unde gewaere sin mit ir amte, wobei amt die deutsche Entsprechung für status ist; >Stand< zur Bezeichnung von Berufsgruppen innerhalb eines größeren, geordneten sozialen Zusammenhanges erscheint erst spät 4 . Die heilsgeschichtlich begründeten sozialethischen Forderungen an den einzelnen status werden von Berthold an berufsstandspezifisdien Beispielen erläutert. Im Vierden kor faßt er beispielsweise alle zusammen, die da ezzen unde trinken veil habent (S. IJO, Z. 13/14). Das sind die, die daz brot backen, fleisch veil han, bier briuwen, met sieden, vische vahen usw., d. h. die Lebensmittelhändler. Jeder einzelne Angehörige dieser Berufsgruppe soll getriuwe unde gewaere sein. Es ist trügenheit, wenn er beim Verkauf mogelt: Du mit diner trügenheit mit müeterinem fleische oder an fülem fleische, daz du ze lange in dinem gewalte beheltest unz ez erfület, so wirdest du etewenne an einem menschen schuldic oder an zehenen; oder daz ez niht gesunt enist, sS du ez abnimest, oder unzitic ist an dem alter: swelher leie eht du dar an weist, unde gistu ez den liuten, daz sie ez ze ir reinen sele ezzen, diu dem almehtigen got ein so lieber hört ist, unde du den edeln schätz verliesest, den unser herre in im verborgen hat' (S. I J O , Z. 24 ff.).

In derselben Weise verurteilt Berthold trügenheit an schuohen, ... an beizen und kürsen (S. 146, 39, S. 147, 1). Dieselbe Argumentation benutzen die deutschen Osterspiele in der sogenannten >StändesatireSündenbekenntnis< ab: v. 485

4

Gnade, herre Lucifer! ich waz eyn armer fteyschewer: ich wandirte an dy lant, da ich eyne vynnecbte sw vant. ich nam sy vf mynen rücke vnd trug sy in dy fleißerhütte, ich swur vf dy trwe myn, ez wer eyn reynes burgelin.

Vgl. Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 10, Sp. 708 ff., >Stand< (8)

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Der Fleischhauer hat also das Fleisch einer >finnigen Sau< für zartes Jungschwein (bergelin, burgelin) ausgegeben. Ebenso haben sich schuster und schroter vergangen: der eine hat den Leuten minderwertige Sohlen (büße solen) angedreht, der andere abgeschnittene Stoffstücke (schroten) für sich selbst zurückbehalten. Der einzelne Mensch ist als Vertreter eines Berufsstandes nicht getriuwe und geradere gewesen, wie es Berthold von Regensburg formuliert. Die sogenannte >Ständesatire< des deutschen Osterspiels exemplifiziert die sozialethischen Forderungen des mittelalterlichen berufsständisch orientierten Ständesystems; seine >StändekritikStändekritik< im deutschen Osterspiel gibt es im deutschen Drama des Mittelalters eine Kritik an menschlichem Verhalten, die wesentlich radikaler ist: in der großen Luciferszene des »Wiener Passionsspiels«. Sie stellt sicher das literarische Vorbild für die >Ständekritik< im Osterspiel dar, und sie weist darüber hinaus auf die geistlichen Quellen, aus denen die Ständekritik des Mittelalters überhaupt abgeleitet ist. Das nur fragmentarisch überlieferte >Wiener PassionsspielarmeSeelen< vor dem Teufel vor; allerdings in einem ganz anderen Zusammenhang. Das Spiel beginnt mit der Erhebung Lucifers gegen Gott. Lucifer sitzt in claritate incontra dominicam personam. In sündigem Hochmut vergleicht er seine Schönheit mit Gott. Der Dialog zwischen Gott und Lucifer endet im Sturz Lucifers cum consencientibus. Danach tritt Lucifer in forma diaboli auf; er wird von seinen Gesellen zu seinem Höllensitz geführt. Er beklagt sein Geschick und fordert Sathan auf, Adam und Eva zur Sünde zu verführen: v. 5 5

ff.

e, Satan min geselle! du solt vil (hundig sin dor an, wie uns werde der man, der unser erbe sol besitzen.

Sathan stimmt sogleich zu und erweitert den Auftrag auf die gesamte Menschheit, Adams Geschlecht: 5

R . Froning: Das D r a m a des Mittelalters I, Stuttgart o.J.

(1891/92),

S.

305-324

Ursula Hennig v. 70 ff.

Iä, wer er in der erden, der man muoz uns werden mit allem sime kunne: her Lucifer, daz wirt unser wunne!

Dementsprechend wird zunächst das erste Menschenpaar verführt und vor Lucifer geführt. Unmittelbar anschließend, ohne Spielortwechsel oder Trennung der Spielabschnitte durch ein gesungenes Silete, werden vier animae vor Lucifer geführt: usurarius, monachus, incantatrix und spoliator. Sie bekennen unaufgefordert ihre Sünden, werden mit Höllenstrafen belegt und abgeführt. Der usurarius bezeichnet sich als ein vil ubeler gesucher, der Feldfrüchte aufkaufte und in seiner Eigenschaft als Wucherer mit den Juden umgegangen sei. Der monathus nennt sich einen kundigen prediger, der seine Vergehen sexueller Art während des Beichthörens beging. Die incantatrix, zouberinne, beschreibt ihr >Gewerbe< als Kupplerin. Der spoliator schließlich bekennt Raub, wobei er Witwen und Waisen nicht schonte; er ist sogar vor Mord nicht zurückgeschreckt. Diese vier animae des »Wiener Passionsspiels« sind bisher nicht einleuchtend interpretiert worden. Man hat in ihnen zunächst eine, wenn auch sehr unvollkommene Art von >Ständekritik< entsprechend dem deutschen Osterspiel sehen wollen. Noch R. M. Kulli 8 zitiert verlegen die Vermutungen von J . Haupt aus dem Jahre 1874: Hierauf gibt der Dichter ein Bild des Weltlaufes. E r macht den Sieg der Teufel anschaulich in den Erzählungen der anima usurarii 1 8 9 - 2 1 4 , a.monachi 2 1 9 - 2 3 2 , a. incantatricis 2 3 9 - 2 4 8 , a. spoliatoris 2 5 3 - 2 7 8 , die jedesmal von Lucifer mit entsprechenden Antworten und Weisungen dem Satan überliefert werden. Das Verderben der drei Stände: usurarius = Bürger, monachus = Pfaffe, spoliator = miles, Ritter, konnte nicht kürzer und treffender geschildert werden. In der a. incantatricis wird dann das Weib schlechthin vorgeführt, das den Laien und den Pfaffen gegenüber nur Weib ist, und wann es selber nicht mehr kann, die Genossen zur Ausschweifung verleitet.

Diese Erklärung ist falsch: usurarius meint nicht >BürgerWuchererRitterRäuberZauberin< und >Kupplerin< und nicht »das Weib schlechthin«. R. Bergmann hat diese Interpretation zu Recht zurückgewiesen. Er trennt zutreffend die armen Seelen des »Wiener Passionsspiels« von der Seelenfangszene im deutschen Osterspiel und vermutet, daß die Höllenszene des »Wiener Passionsspiels« aus dem Bereich der satirisch-didaktischen Literatur in lateinischer oder deutscher Sprache »stamme, die vor allem seit dem 13. Jahrhundert mit Predigten und kleineren oder größeren Lehrdichtungen vertreten ist«7. Die Seelenfangszene des »Wiener Passionsspiels« hat mit >StändekritikSündenspiegelTöchtern< (filiae): ungehorsam, uppichait, ubermuot usw. Das ist die Sünde Lucifers. Von den vier Seelen des »Wiener Passionsspiels« verkörpern zwei die Sünde der avaritia: usurarius und spoliator, zwei die der luxuria: monachus und incantatrix. Zur avaritia führt der »Sündenspiegel« aus: »Quartum avaritia, id est gitkait, et est animi pestis cum cupiditate acquirendi vel retinendi«. Zu den >Töchtern< der avaritia gehören: »usura, id est gesuoch, et est studiosa, cupiditas recipiendi aliquid supra sortem« ferner: »preemptio, id est furchouf«; »desuper emptio, id est uberkouf« ; »supertaxatio, id est äbersaz, scilicet quando venditur ad futurum tempus pro X X X , quod ad presens daretur pro X X « ; »thesaurizatio, id est schatzunge« und »fructuum repositio super caristiam, id est wuochren«. In dieses >Sündenfeld< gehört der usurarius; darauf weist schon seine Selbstbenennung, die zugleich eine Selbstbezichtigung ist: 197

id] bin gewesen untz her ein vii ubeler gesucher (Wucherer).

Im Folgenden beschreibt der usurarius seine Tätigkeit; sie wirkt wie eine Exemplifizierung des >Sündenspiegelsauf demHalm< beigetragen (a.a.O., S. 37). Ebenso repräsentiert der spoliator Einzel- und Untersünden der avaritia: »furtum, diepstal, est usurpatio rei aliene latens, invito domino« ; »latrocinium, id est schachrop, est contrectatio rei aliene, invito domino, in nemoribus vel in nocte«; »rapina, id est rop, est violenta predatio rei aliene«; »violentia, id est gewalt, et est injuria coacta«. Auch der spoliator bezichtigt sich entsprechend selbst: 257

8

ich waz ein apprechèr (Räuber): daz ist mir nü gar swire! die wivwen unt dei weisen

A. Schönbach: Studien zur Geschichte der altdeutschen Predigt. Die Überlieferung. III. Wien 1906, S. 103-107

2)8

Ursula Hennig konde ich wol geneisen: mir waz daz allez gar enwiht, daz ich sie mähte gar enwiht. ich raubete schäf unt geiz chelber, rinder (got weiz!) ohsen, lemper, pherde vil: daz waz mtnez herzen spil. swen ich begienk einen mort, daz waz mir, ob [ich] funde einen hört. mit dem brennen waz mir wol.

Monachus und incantatrix (Kupplerin) sind besonders beliebte Prototypen der luxuria. Während der »Sündenspiegel« systematisierend die Unterarten der luxuria definiert (fornicatio, adulterium, stuprum, raptus etc.), personalisiert sie sich im Spiel (wie in der Predigt) in der Geilheit des Priesters und der Kupplerin: 222

als ich die pihte horte der iungen nunnen unt der frowen, (ez ist war enrehten treuwen!) ich greif an ir hendelin, ouf riht sich der eilfte vinger min: ich fürte sie in min Zelle, ich sprach, iz were min geselle. und 242 ff. die Kupplerin: deu konen broht ich dor an, daz sie liezzen ire man unt griffen mange phaffen an. Gegen die berufsständisch bestimmte Kritik des deutschen Osterspiels steht im »Wiener Passionsspiel« die von der Sündenlehre des Mittelalters geprägte K r i tik an dem exemplarischen Sünder, dessen status an sich sündig ist: der Wucherer, die Kupplerin und der Räuber sind p e r s e böse; sie könnten der Hölle nur dann entgehen, wenn sie aufhörten zu sein, was sie sind. Allein der geile Möndi zeigt ein doppeltes Antlitz: er mißbraucht ein hohes Amt - eine Umkehr ist möglich. E r ist deshalb auch in die berufsständische Kritik des deutschen Osterspiels aufgenommen worden, da er sich der sozialethisdien Kritik stellt, der Frage, ob er sein Amt getriuwe urtde geware ausübe. Die Sündenkritik des »Wiener Passionsspiels« ist radikal — sie ist aber in ihrer Argumentation nidit weniger stereotyp als die Ständekritik des »Innsbrucker Osterspiels«. Die typischen Vertreter der Hauptsünden mit ihren typischen Sünden im »Wiener Passionsspiel« finden sich in der Sündenpredigt in deutscher und lateinischer Sprache. Ich kann als Beispiel auf die 14. PredigtBertholds von Regensburg verweisen: Von den siben übergrozen siinden (a.a.O., Bd. I, S. 196 ff.); in ihr ist dieselbe Verbindung zwischen Tat und Täter, Hauptsünde und Hauptsündern vollzogen wie im »Wiener Passionsspiel«.

Zur Sophonisbe Daniel Caspers von Lohenstein V o n GERHARD SPELLERBERG, K ö l n

/. A n der Sophonisbe scheiden sich die Geister der Lohenstein-Interpreten. Kaum ein barockes Drama hat einander derart widersprechende Deutungen erfahren wie dieses Trauerspiel. Während in der Analyse und Bewertung der Titelgestalt keine zwei Interpretationen zusammenstimmen, lassen sich in der Frage nach dem Thema dieses Dramas immerhin einige Grundpositionen ausmachen: in der Sophonisbe - und im dramatischen Werk Lohensteins überhaupt - soll thematisiert sein entweder das Spannungsverhältnis von Ethik und Staatsräson oder das von Vernunft- und Affektbestimmtheit oder aber das von Extremismus und Mittelmaß. Demgegenüber läßt sich von den Texten her sehr gut begründen, daß mit diesen polaren Spannungen nur einige wichtige Motive der Lohensteinschen Dramen genannt sind, daß deren thematisches Zentrum aber besetzt ist durch eine bestimmte Verhängnisauffassung und Geschichtskonzeption, mithin in den Dramen ebenso wie im Arminius der Versuch einer historisch-politischen Theorie- und Bewußtsseinsbildung vorliegt. Diese These soll hier nicht noch einmal entfaltet werden; vielmehr ist beabsichtigt, zwei >philologische< Fragen, die bislang mit einer für die Lohenstein-Forschung ungewöhnlichen Einmütigkeit beantwortet worden sind, erneut aufzurollen und von einer Position aus zu diskutieren, durch die — anders als bei den Ansätzen von Lunding, Just, Tarot und Kafitz 1 — ein umfassender, eng mit dem Verhängnisbegriff verbundener Gesdiiditsentwurf als Thema der Dramen - wie des Romans - nicht von vornherein ausgeschlossen wird. Die Fragen, um die es geht, betreffen die Entstehung und die Textgeschichte der Sophonisbe. Dieses Trauerspiel, das, dem kaiserlichen Kammerherrn Franz Freiherrn von Nesselrode gewidmet, im Jahre 1680 zusammen mit der »definitiven Fassung« der Cleopatra von dem Breslauer Verleger Fellgiebel herausgebracht wurde, war nachweislich schon 1669 zu Breslau von Schülern des Maria-Magdalena1

Erik Lunding: Das sdilesische Kunstdrama. - Kopenhagen 1940. Klaus Günther Just: Die Trauerspiele Lohensteins. Versuch einer Interpretation. - (Berlin 1961.) ( = Philologische Studien und Quellen. 9.) Rolf Tarot: Zu Lohensteins Sophonisbe. - In: Euphorion J9 (1965) S. 7 2 - 9 6 . Dieter Kafitz: Lohensteins »Arminius«. Disputatorisches Verfahren und Lehrgehalt in einem Roman zwischen Barock und Aufklärung. Stuttgart (1970) ( = Germanistische Abhandlungen. 32.)

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Gerhard Speilerberg

Gymnasiums aufgeführt worden, und zwar im Wechsel mit Johann Christian Hallmanns Antiochus und Stratonica. Von der langen Zeitspanne zwisdien Aufführung und Druck schließt man, namentlich in der jüngeren Forschung, auf eine Umarbeitung des Stücks und stützt sich dabei auf die Textgeschichte der Cleopatra: bei diesem Trauerspiel haben wir mit dem Druck von 1680 »eine energisch umgearbeitete und zur Perfektion gebrachte Fassung« der 1661 aufgeführten und auch gedruckten »Urfassung« in Händen 2 . Während die Vermutungen über Art und Umfang der für die Druckfassung der Sophonisbe vorgenommenen Überarbeitung teilweise, wie unten darzulegen sein wird, auseinandergehen, ist sich die Forschung über die Entstehungszeit bzw. über den Zeitpunkt der Fertigstellung einer »ersten« Fassung völlig einig: »Lohenstein schrieb das Werk anläßlich der Verlobung Leopolds I. mit der spanischen Infantin Margareta Theresia«8, die - nach den von Asmuth 4 mitgeteilten Daten zwar schon im Frühjahr 1663 bekanntgegeben, aber erst am 25. 4. 1666 vollzogen worden sein soll; daß Lohenstein die Sophonisbe vor Ende 1666 abgeschlossen habe, gilt in >Realienbüchern< inzwischen als ein Faktum 5 . Begründet ist diese Annahme stets damit, daß »die Reyen nach der 2. und 4. Abhandlung sowie die Weissagung der Dido ausdrücklich auf die kaiserliche Hochzeit Bezug nehmen«, welche auf Mitte Dezember 1666 fixiert wird 6 . Es war nur nahelie2

Klaus Günther Just (Hrsg.): Daniel Casper von Lohenstein, Afrikanische Trauerspiele. Cleopatra. Sophonisbe. - Stuttgart 19$7. ( = Bibliothek des literarischen Vereins in Stuttgart. 294.) S. 8 3 Just, Die Trauerspiele Lohensteins, S. 116 4 Bernhard Asmuth: Daniel Casper von Lohenstein. - Stuttgart 1971. ( = Sammlung Metzler. 97.) S. 35 f. (die betreifenden Angaben nach Mencke und Baumstark). Vgl. audi Just, Die Trauerspiele Lohensteins, S. 1 1 6 5 Asmuth, Daniel Casper von Lohenstein, S. 35 f. Vgl. auch Just, Afrikanische Trauerspiele, S. [237]. Edward Verhofstadt: Daniel Casper von Lohenstein. Untergehende Wertwelt und ästhetischer Illusionismus. Fragestellung und dialektische Interpretationen. - Brügge 1964. S. 4 j . Kafitz, a.a.O., S. 177. Bernhard Asmuth: Lohenstein und Tacitus. Eine quellenkritische Interpretation der Nero-Tragödien und des »Arminius«Romans. - Stuttgart (1971) ( = Germanistische Abhandlungen. 36.) S. 8. Nur Gillespie urteilt vorsichtiger, wenn er die Sophonisbe als das Trauerspiel einführt, »which Lohenstein may have already begun before 1668 and which he probably wrote in Order to commemorate the marriage of Leopold of Austria and the Spanish Infanta in the year 1666.« (Gerald Ernest Paul Gillespie: Daniel Casper von Lohenstein's Historical Tragedies. - [Columbus] 1965. S. i n . ) • Just, Afrikanische Trauerspiele, S. [237]; in seiner Untersuchung über die Trauerspiele Lohensteins zieht Just in diesem Zusammenhang auch den Schlußreyen der Sophonisbe heran (S. 116). Zum Termin vgl. Asmuth, Daniel Casper von Lohenstein, S. 36. Nach den Untersuchungen von Alfred Francis Pribram (Die Heirat Kaiser Leopolds I. mit Margaretha Theresia von Spanien. - In: Archiv für österreichische Geschichte. Bd. 77 (1891) S. 319-37$), der alle einschlägigen Aktenstücke und vor allem die Korrespondenz Leopolds mit dessen Beauftragten in Madrid ausgewertet hat, sind bezüglich der Daten einige Korrekturen anzubringen. Danach hat Philipp IV. im Jahre 1660 anläßlich der Feier seines Geburtstages (6. April) das feierliche Versprechen abgelegt, seine jüngere Toditer dem Kaiser zur Gemahlin zu geben (seine - Leopold ursprünglich ver-

Zur Sophonisbe Daniel Caspers von Lohenstein

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gend, das Trauerspiel w e g e n eben dieser >Bezüge< f ü r eine »Festgabe« 7 an das K a i s e r p a a r z u halten. Freilidi: die Sophonisbe

ging seinerzeit nicht in D r u c k ,

u n d w o h l aus diesem G r u n d e hat m a n - unter B e r u f u n g d a r a u f , d a ß die sier aller Zeichen

Orten

öffentliche

Dancksagungen

zu GOtt

mit allerhand

Schle-

Freuden=

abhielten 8 - die Ansicht vertreten, sie sei schon damals a u f g e f ü h r t w o r -

den, »vielleicht als Festvorstellung im höfischen Raum« 9 . N u n müßten diese »auf die H o c h z e i t bezogenen Stellen« 1 0 eine g a n z eigentümliche, sie gegenüber dem K o n t e x t isolierende Aussagestruktur aufweisen, w e n n sie so schlichtweg als >Beweismittel< f ü r die Fixierung des Anlasses u n d damit des Zeitpunktes der Entstehung dieses D r a m a s sollen eingesetzt w e r d e n können. D a r a u f h i n sind diese Stellen aber nie b e f r a g t w o r d e n . So soll hier z u nächst einmal analysiert werden, w o r a u f genau der A u t o r a n diesen Stellen B e z u g nimmt, w e l d i e r A r t die Bezugnahme ist und in welchem Argumentationsund Funktionszusammenhang diese steht.

IL N a c h d e m Sophonisbe in der I. A b h a n d l u n g z u m K a m p f gegen Masinissa sidi entschlossen u n d ihre Söhne hatte schwören lassen, bis z u m T o d Feinde der

sprochene - älteste Tochter hatte Philipp, um zu einem Frieden mit Frankreich zu kommen, kurz vorher mit Ludwig X I V . vermählt). Nachdem seit Ende 1662 über die Bedingungen des Ehekontrakts verhandelt worden war, wird 1663, wiederum am 6. April, die Verlobung bekanntgegeben. Leopold sandte »alsogleich Anzeigen von der stattgehabten Verlobung an alle Fürsten Europa's« (S. 342). Am 18. Dezember desselben Jahres wird der Ehekontrakt feierlich bekanntgemacht. Die Trauung schließlich findet statt am 25. 4. 1666 in Madrid; der Kaiser wird dabei vertreten durch den Herzog von Medina (S. $6z{.). Margareta Theresia reist am 28. 4. aus Madrid ab, landet am 20. August in Finale und braucht dann noch einmal gut drei Monate für die Reise nach Wien: hier konnte dann Mitte Dezember das Beilager gehalten werden. 7 8

9

10

Kafitz, a.a.O., S. 177 Vgl. Just, Afrikanische Trauerspiele, S. [237]; er zitiert hier aus folgender Chronik: Schlesiens curieuse Denckwurdigkeiten / oder vollkommene C H R O N I C A Von Ober= und Nieder=Schlesien [. . .] Ausgefertigt von F R I D E R I C O L U C A E . - Franckfurt am Mayn / In Verlegung Friedridi Knochen / Buchhindlern. 1689. S. 196 Just, Afrikanische Trauerspiele, S. [237]. In der Einführung in das dramatische Werk Lohensteins, die Just der Ausgabe der Türkisdien Trauerspiele (Stuttgart 19 $ 3) vorangestellt hat, heißt es noch schlicht, daß die Sophonisbe »anläßlich der Verlobung Leopolds I. mit der Infantin Margarete von Spanien aufgeführt wurde« (S. X X I I ) . Dann wird festgestellt: die Adelung der Caspers »stellte wohl in erster Linie eine Ehrung von Lohensteins Vater dar, doch war - durch die Festauf führung der S O P H O NISBE - auch der Ruf des Dichters sicher bereits bis nach Wien gedrungen.« (S. X X I I I ) . Vgl. auch Verhofstadt, a.a.O., S.45; ferner Rolf Tarot (Hrsg.): Daniel Casper von Lohenstein, Sophonisbe. Trauerspiel. - Stuttgart (1970) ( = UniversalBibliothek. Nr. 8394-96.) S. 23 j Asmuth, Daniel Casper von Lohenstein, S. 36: II, 533-536; IV, 615-626; V , 182

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Gerhard Spellerberg

Römer und Masinissas zu bleiben, daraufhin die Seele der Sophonisbe im I. Reyen den von der Zwytracht ausgesetzten Preis für den stärksten der Affekte der Rache zugesprochen hatte, sieht die Königin in der II. Abhandlung, als der Sieger Masinissa von der Liebe zu ihr besiegt wird 1 1 , eine - scheinbar vom Verhängnis dargebotene12 - Chance, ihre Herrschaft dadurch zu erhalten, daß auch sie diesem Affekt Raum gibt 13 und in die Ehe mit Masinissa einwilligt. Der II. Reyen reflektiert dieses Geschehen insofern, als demonstriert wird, daß selbst Himmel bzw. Regiersucht, Hölle bzw. Grausamkeit, Erde bzw. Tugend und Wasser bzw. Ehre — unter der Person des Jupiters, des Pluto, des Hercules, des Jason vorgebildet - der Allgewalt der Liebe unterworfen sind 14 : die Madit der Liebe zwingt Jupiter dazu, immer neue Gestalten anzunehmen; Pluto verläßt sein Reich aus Liebe zu Persephone; Herkules wird von Omphale entwaffnet und nimmt den Rocken in die Hand; Jason gewinnt das goldene Vlies nur mit Hilfe Medeens, die zuvor vom Pfeil der Liebe getroffen werden mußte. Nadi diesem Triumph (II, 523-526) weist dann die Liebe auf ein bedeutendes Ereignis voraus, das von ihr bewirkt werden wird. Zwar setzen itzt die Cupidines aus den Buchstaben der auf dem Altar der Liebe niedergelegten Nahmen nur die Wörtter, nämlich Leopoldus und Margarite16, zusammen, aber die Nachwelt wird an diesem Paare als geschichtliche Realität schauen, was reine Liebe wiircken kan (II, 530—532): Des Römscben Reiches Jupiter Wird überm Meer Europens Perl ihm holen. Der Teutschen Hercules und Herr Hat Ompbalen sein Hertze schon befohlen. Die grosse Keyserin und Braut Wird kurtzweiln mit der Löwen-Haut. Es wird ein edler gülden Fliiß Als Phasis hat ] der Strom Manzanar hegen. Der Jason I der von Argos stieß / Wird selbst so denn sein güldnes Flüß anlegen Dem Löwen I der I O güldne Zeit! Dem güldnen wieder sich verfreyt. (II, 533-544)

Damit werden drei der in den Argumentationsablauf des Reyens eingesetzten exempla am Schluß für eine laudatio auf den Kaiser und die Kaiserin wieder aufgenommen. Die Wiederverwendung des Jupiter-Exempels ist dabei völlig unproblematisch, bleibt aber auch ohne eine Anreicherung im Argumentationswert: lediglich eine gewisse Pointierung wird erreicht durdi das Anspielen zu-

11

Vgl. Vgl. w Vgl. 14 Vgl. 15 Vgl. 12

Sophonisbe II, 159 ff. ihre Worte, mit denen sie die Hochzeitsfeier einleitet: III, 57 u. 60 ff. II, 391 f. u. 420 ff. Afrikanische Trauerspiele, S. 291, und Innhalt, ebd., S. 254 die zweite Regieanweisung: Afrikanische Trauerspiele, S. 294

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243

gleich auf die Europa-Episode und - vermittels der Perle18 - auf den Namen der spanischen Infantin (II, 534). Dagegen konnte das Herkules-Omphale-Ikon nicht so ohne weiteres für den Preis genutzt werden: in der Literatur wie in der bildenden Kunst >bedeutet< es traditionellerweise die Überwindung der Tugend und der Stärke durch die Liebe 17 , und so wird es auch im Reyen zunächst gebraucht. Für die laudatio mußte es folglich in einen Kontext gerückt werden, in dem dieses Verhältnis von Tugend und Stärke auf der einen, der Liebe auf der anderen Seite als eines, das positiv zu bewerten ist, erscheinen kann. Eben dieser Kontext wird erstellt mit Hilfe des letzten der drei exempla, mit der Wiedergewinnung des goldenen Vlieses und der daran geknüpften Allegorese. In der Verbindung des Löwen, dem Jason selbst [...] sein güldnes Fliiß anlegt, mit dem güldnen wieder18 wird der Anbruch des goldenen Zeitalters, eines neuen Gnadenstandes nach dem Fall vorgebildet19. Allein in diesem Moment, da die im Sündenfall begründete, mit der Vertreibung aus dem Paradies einsetzende Geschichte überwunden ist, kann es ein positiv zu bewertendes Moment sein, daß Tugend und Stärke - unter dem Sinnenbild des Herkules/Leopold — sich ganz der Liebe befohlen haben und die Liebe — unter dem Sinnenbild der Omphale/ Margareta - mit der Löwen-Haut ihre Kurzweil treibt. Die eheliche Verbindung Leopolds und Margaretas erfüllt, so will es der Autor verstanden wissen, die beiden figurae, nämlich Herkules-Omphale und Jason-Goldenes Vlies, in einer Weise, daß diese Erfüllung selbst wieder zur figura wird 20 , zur Verheißung des neuen Paradieses. So fallen diesem Paar mit gleichem Recht wie der allgewaltigen Liebe selber die vier Elemente in Gestalt der vier Götter zu Füßen, wird ihm deren Segenswunsch zuteil: Wir falln zu Fuß I uns opfernd eurer Hold; Der Himmel halt euch in stets-grüner Blüthe I Durchlauchtigster / Großmächtiger Durchlauchtigste / Großmächtge

14

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19

20

Leopold Margarite. (11,545-548)

Perle für lat. margarita (die entsprechende Namensform in der Regieanweisung zu II, 528, und in II, 548). Ebenso ist der Titel des Hallmannschen >Freuden=Spiels< Beperltes Leuen°Hertz ein Wortspiel mit den Namen Leopold und Margareta (vgl. dazu unten). In Zedlers Universal-Lexicon heißt es in diesem Zusammenhang abschließend: Hercules bleibet [...] ein Exempel dessen, daß die Liebe auch die gr&sten Helden zu ihren unanständigen Dingen bringen kan. (Bd. 25, Leipzig und Halle 1740, Sp. 1443)Mit dem güldnen wieder kann nur der »goldene Widder« gemeint sein. Der Erstdruck der Sophonisbe kennt auch sonst, z.B. in der Anmerkung zu I, 383 (Afrikanische Trauerspiele, S. 359, Z. 231 bzw. Apparat dazu) die Schreibung Wieder für Widder. Audi im Prolog des Ibrahim Sultan wird mit dem Bilde, daß Low und Lämmer sich in vertrauter Eintracht gatten (v. 6z), der wiedergewonnene paradiesische Weltzustand bezeichnet. Vgl. Erich Auerbach: Figura. - In: E. A., Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philogogie. Bern u. München (1967) S. 70 f.

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Gerhard Speilerberg

Welche Evidenz läßt sich nun hieraus gewinnen für die Auffassung, das Stück sei anläßlich der Verlobung begonnen und Ende 1666 - als eine Festgabe zur Vermählung - fertiggestellt worden. Für das erstere wird man sich nicht berufen können auf das Futur, in dem hier stets von der Verbindung der beiden fürstlichen Personen geredet wird. Es läßt nämlidi nicht den Schluß zu, die Vermählung sei zum Zeitpunkt der Abfassung des Stückes ein nodi bevorstehendes Ereignis gewesen, weil der Autor die Liebe mit dem itzt von der Zeitebene der Trauerspielhandlung aus sprechen und auf die gegenwärtigen Zuschauer (bzw. Leser) als Nachwelt verweisen läßt, mithin das Futur allein f ü r den Kunstgriff einsetzt, die Gegenwärtigkeit der Aufführung (bzw. Lektüre) als Zukunft bezüglich der Gegenwärtigkeit des im Trauerspiel dargestellten Geschehens erscheinen zu lassen. Ebensowenig kann deshalb aus dem itzt geschlossen werden, die Vermählung sei bei Vollendung bzw. Aufführung des Stücks ein brandaktuelles Ereignis gewesen. Daß das Trauerspiel überhaupt als Festgruß anläßlich der Hodizeit vollendet wurde, ließe so eindeutig und zwingend, wie stets vorgegeben, aus dieser Stelle sich nur dann folgern, wenn der Preis abgesehen von der geschickten Anknüpfung an den Argumentationsablauf des Reyens - außerhalb jedes dem Text sonst eigenen Bedeutungszusammenhanges stünde, also gänzlich und unmittelbar an den aktuellen Anlaß gebunden wäre. Hier nun verdient der Topos des goldenen Zeitalters besondere Aufmerksamkeit. Er könnte zwar lediglich zu dem Zweck aufgeboten sein, den Preis auf das fürstliche Paar ins Unüberbietbare zu steigern, er könnte aber auch ebensogut einer bestimmten Geschichtsinterpretation angehören und somit Element einer übergreifenden Sinnstruktur sein. Im I V . Reyen ist es eine laudatio auf Leopold I., für die - neben anderen Fakten - die Vereinigung der beiden Habsburgischen Häuser bemüht wird. Hatte am Schluß der I V . Abhandlung Masinissa sich dazu entschlossen, Sophonisbe, die ihm eben erst angetraute Gemahlin, fallen zu lassen, weil er sich nur so die numidische Herrschaft von dem römischen Verbündeten erhoffen konnte, so wird im Reyen mit der re-praesentatio des Herkules auf dem Scheidewege21 zunächst einmal ein Modell für die Bewertung dieser Entscheidung aufgestellt. Daß Numidien bekrönet Masinissen (IV, 596), deutet die Tugend selber als eine Nachfolge des Alciden: er wird von ihr, nachdem er sich gegen die Wollust entschieden hat, mit Krone, Zepter und Thron belehnt. Damit ist nicht die dramatis persona Masinissa positiv bewertet, vielmehr nur diese eine Entscheidung derselben, und auch das nur insoweit, als dieses Verhalten unter dem Aspekt des Verhältnisses von Wollust und Tugend, von Affektbestimmtheit und Vernunftbestimmtheit gesehen wird. Dieser enge, aus e i n e r der Taten des Heroen sich ergebende Aspekt wird beim Übergang in die laudatio auf Leopold aufgegeben. Wenn Herkules auf den Wink der Tugend hin dem Herrscher den Thron der Ehren22 abtritt, so deshalb, weil in diesem in aller Klarheit und in 21 28

Innhalt Der vierdten Abhandlung (Afrikanische Trauerspiele, S. 2j6) ebd.

Zur Sophonisbe Daniel Caspers von Lohenstein

allem Glantz erfüllt ist, was in der figura Hercules nur erst schattenhaft vorhanden war. Denn welche seiner Heldentaten der Heros mit denjenigen des Kaisers vergleicht, immer muß er diese als vortrefflicher und größer anerkennen; zuletzt gesteht er ein, daß Leopold etwas noda Kostbareres als das Goldene Vlies erlangt23: Madrit und seiner Perle Zier Geht Colchos ja und Golde für. (IV, 625 f) Daß in diesem Zusammenhang Bezug genommen wird auf die Verbindung Leopolds mit der spanischen Infantin, ist ganz offensichtlich begründet in der geschichtlichen Bedeutung, die diesem Ereignis beigelegt wird: es bildet im Reyen den krönenden Abschluß nach dem Hinweis auf den Sieg über den türkischen Gegner (IV, 609-614) sowie auf die Stiftung des Friedens (IV, 615 bis 620), und es gibt zu größeren Hoffnungen Anlaß, als sie an die Wiedergewinnung des Goldenen Vlieses geknüpft waren24. Eine >ausdrücklicheprophetischen< Vorausdeutungen ständig als durch den tatsächlichen Geschichtsverlauf eingelöste realisieren, staut der Autor hier ein großes Maß an Suggestivkraft an, das sich schließlich auf die alles überkrönende laudatio auf Leopold I. versammelt, in der Geschichtliches und Gesdiichtsutopisches beinahe unmerklich ineinander übergehen. Setzt Lohenstein zunächst noch ein zeitgeschichtliches Ereignis ein, nämlich die für die österreichische Seite überaus erfolgreiche Schlacht bei St. Gotthard an der Raab 26 , so läßt er dann durch Didos Geist die endgültige Überwindung des türkischen - in geschiditstheologischer Deutung die Gestalt des Antichristen27 annehmenden - Gegners und wei23

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Herakles war nach den >klassischen< Listen einer der Argonauten; so bezeichnet er sich : auch hier als Geferthe, nämlich des Jason. Vgl. Robert von Ranke-Graves: Griechische Mythologie. Quellen und Deutung. Bd. II. - (Reinbek b. Hamburg 1963). ( = rde. 1 1 5 / 1 1 6 ) S. 208 Epicbaris II, 577-584. Vgl. Verf.: Verhängnis und Geschichte. Untersuchungen zu den Trauerspielen und dem »Arminius«-Roman Daniel Caspers von Lohenstein. - Bad Homburg v. d. H. I Berlin I Zürich 1970. S. 1 2 3 - 1 3 5 1. August 1664. Auf den unmittelbar darauf folgenden Vertrag von Vasvir-Eisenburg - der den militärischen Erfolgen allerdings kaum Rechnung trug - bezieht Lohenstein sich im IV. Reyen, v. 6 1 1 f. Vgl. z.B. Martin Luther: Vorrede über den Propheten Daniel (1545). - In: Werke. Kritische Ausgabe. Die deutsche Bibel. Bd. 1 1 , 2. Weimar i960. S. 13. Vgl. dazu Dan. 7, 21-28, ebd. S. 161/163. Vgl. audi Johann Gerhard: Loci Theologici [ . . . ] Hrsg. von E. Preuss. 9 Bde. - Berlin 1863-1885. [Erstdruck: Jena 1610-1622.] Loc. 24, n. 137.

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tere welthistorische Großtaten Leopolds voraussagen: Leistungen, die den Zuschauern bzw. Lesern als unmittelbar bevorstehende, dem so Gelobten selber als in ihn gesetzte geschichtliche Hoffnungen, als Postulat sich darstellen müssen. Alleine diese Thaten sind Ein Vorspiel größter Helden-Wercke. Fürst Leopold I das Löwen-Kind I Spinnt viel mehr Sieg I hegt größre Stärcke. Ister I Rab I und Neutra färbt sich durchs Blutt der Saracenen I Machmet hüllet für den Adlern seine blasse Monden ein. Afrikens Gestade werden nicht nur Oesterreichisch sein I Cyrtha und Carthago wird noch sein Haupt mit Lorbern krönen I Und sein Siegs-Schwerd wird die Banden Mahumeds zertheiln entzwey I Wenn der Löwe wird die Löwin Spaniens ihm legen bey. (V, 1 7 3 - 1 8 2 )

Daß die in den Kaiser gesetzten geschichtlichen Hoffnungen sich erfüllen können, ist demnach an eine ganz bestimmte Voraussetzung gebunden: an die Verbindung Leopolds I. mit Margareta Theresia, der zweiten Tochter Philipps IV. Anders als ihre ältere, mit Ludwig X I V . vermählte Schwester hatte diese nicht auf ihre Erbrechte verzichten müssen28, und so war - bei dem äußerst labilen Gesundheitszustand Karls, des letzten spanischen Habsburgers - an diese Verbindung der beiden habsburgisdien Linien29 die Erwartung geknüpft, daß auch die von ihnen beherrschten Imperien vereinigt würden und so ein Weltreich im vollen Sinne des Wortes entstünde. Der Gedanke einer derart unbegrenzten Macht spielt in Lohensteins Geschichtsvorstellung offensichtlich eine bedeutende Rolle, wird er doch an exponierter Stelle des Dramas in einem den geschichtlichen Prozeß thematisierenden Reflexionszusammenhang als entscheidendes Argument vorgetragen. Im Schlußreyen nämlich setzt das Verbängnüs, dessen Arm [...] Erd und Himmel hält und den großen Reichen Sieg und Macht verliehen hat, als Zeichen für das höchste in der Geschichte erreichbare Ziel einen güldnen Siegs-Krantz aus. Dieser ist mit Stahl und Diamant an den Himmel angebunden, so daß er nur von dem St'drcksten, dem, der den Welt-Kreiß überwunden hat, erlangt werden kann (V, 619-630). Gemäß der aus dem Buch Daniel entwickelten Viermonarchienlehre, die im 17. Jahrhundert in staatsrechtlichen Erörterungen durchaus noch Argumentcharakter besaß30, bewerben sich

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Vgl. Pribram, a.a.O., S. 340; ferner die Anmerkung 2, S. 344 f., in der der diesbezügliche Artikel X . des Ehekontrakts zitiert wird. Die politisdie Bedeutung dieser Eheschließung war also immens; deshalb wurde auch bis zum Augenblick der Vermählung sowohl von einer national-spanischen als auch einer französisch gesinnten Partei am Madrider Hof mit allen nur denkbaren Mitteln versudit, diese Ehe zu verhindern (cf. Pribram, passim). Vgl. audi Sophonisbe V, i j j f., und die Anmerkung zu V, 156. So schließt beispielsweise Theodor Reinkingk von der Tatsache, daß das Hl. Römische Reich deutscher Nation der Repräsentant des letzten der vier Reiche ist, auf die Monarchie als die für dieses allein mögliche Verfassungsform (Tractatus de regimine seculari et ecclesiastico. [ . . . ] editio ja [ . . . ] - Frankfurt a. M. 16$ 1. Lib. I, classis 2, cap. 1 u. 2.

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um diesen Preis nur die vier Weltreiche, das Assyrische, das Persische, das Griechische und das Römische, wobei das letztere - nach der im Mittelalter ausgeprägten Vorstellung von der translatio Imperii (V, 675 f) - doppelt, nämlidi auch durch das Hl. Römische Reich deutscher Nation, vertreten wird. Wenn diesem legitimen Repräsentanten des Römischen Reiches - und damit dem Hause Österreich - der Preis zuerkannt wird, so deshalb, weil vor ihm nicht nur, wie einst vor Rom, Europa, Asien und Afrika knien, sondern auch America, und weil ihm im Süden nodi der dritte Welt-Kreiß sidi auftut (V, 685-694). Das aber hat zur Voraussetzung, was an den drei besprochenen Stellen eigentlich akzentuiert wird: die Verbindung Habsburg-Österreichs mit Habsburg-Spanien. Daß diese Argumentation nicht als ein dem Drama äußerlich bleibendes barockes Herrscherlob und damit als für die Interpretation weithin Irrelevantes abgetan werden kann, wird schon darin deutlich, daß es in der Perspektive der Lohensteinschen Dramen eben dieses den Siegs-Krantz aussetzende Verhängnis ist, das als Bestimmungsgrund für die Entscheidungen der unmittelbar geschichtswirksam handelnden Personen fungiert 31 , das den Untergang des numidischen - wie des ägyptischen - Reiches und den Aufstieg Roms zur Weltmacht bewirkt 82 , das, indem es schützend seine Hand über Nero hält, alle Umsturzversuche - sowohl den der ihrem lasterhaften Sohn in nichts nadistehenden Mutter als auch den der im Namen der Tugend streitenden Epidiaris - zum Scheitern verurteilt 33 und für Rom noch einen Thier-Kreiß von Peinigern bereithält 34 , das vom türkischen Reich seine Hand abgezogen und es somit dem geschichtlichen Verfall preisgegeben hat 35 . Geht man der Bedeutung des Gedankens einer totalen Machtausdehnung nach, so stößt man schon im Schlußreyen der Cleopatra, der von der ersten zur zweiten Fassung unverändert blieb, auf einen wichtigen Hinweis. Auch 1661 schon argumentiert Lohenstein von der längst geplanten und als Plan auch

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Die Herrscherinnen Sophonisbe und Cleopatra interpretieren den Verhängniswillen zunächst falsch; zu einem die Verhängnisentwicklung, ihren Herrschaftsauftrag und die allgemeinen Tugendnormen gleicherweise berücksichtigenden Handeln werden sie - freilich nur momentan - befähigt, nachdem ihnen Götter und Himmel Erkenntnishilfe gewährt haben. Audi Epidiaris irrt hinsichtlich des Verhängniswillens; dodi tangiert dieser Irrtum nur den geschichtlichen Erfolg, nicht die Moralität ihres Handelns und erfordert somit keine Verhaltenskorrektur.

Vgl. die Weissagung durch Didons Geist und den Schlußreyen der Cleopatra,

v.

763 f., 787-790, 8 0 1 - 8 0 4 Vgl. insbesondere den I. und den II. Reyen der Epidiaris. Hierin ist Lohensteins ganz entscheidende Neuerung und die durchaus eigenständige Interpretation des Geschehens gegenüber der von ihm benutzten Romanvorlage, Desmarets Ariane, zu sehen.

Vgl. den IV. Reyen der Epidiaris. Vgl. vor allem den Prolog des Ibrahim Sultan. Schon in seinem Jugendwerk Ibrahim Bassa hatte Lohenstein das Trauerspielgesdiehen in Zusammenhang gebracht mit dem Stadium der geschichtlichen Entwicklung des türkischen Reiches (vgl. den Prolog) und war damit in einem wichtigen Punkt über den zugrunde liegenden Roman der Scud^ry hinausgegangen.

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bekannten Verbindung der beiden Habsburgischen Häuser aus, wenn er die durdi Nil und Tiber bezeichneten Reiche deshalb von Donau und Rhein auffordern läßt, Leopolds gekröntes Haupt mit Palm- und Lorbern zu bekränzen, weil in ihm eine den ganzen Weltkreis umspannende Macht (V, 491-498 bzw. 839-846) ihren Tribut fordere. Repräsentiert zugleich damit Leopold aber audi die Tugend (V, JOI bzw. 849) - wie es ja audi im IV. Reyen der Sophonisbe die Personifikation der Tugend ist, die dem als Weltherrscher gedachten Kaiser den Thron der Ehren anweist - , so wird in der Weltherrschaft offenbar eine qualitativ einzigartige Position der M a c h t als erreicht vorgestellt, nämlich diejenige, in der die von außen nicht mehr bedrohte Macht als solche sich nicht länger zu erweisen braucht, mithin nicht mehr zur unablässigen Verletzung der moralisch-sittlichen Normen führt, sondern mit der Position der T u g e n d vereinbar ist und auf diese Weise dauernde G l ü c k s e l i g k e i t garantiert. Dem genau entsprechend heißt es in der Zuschrifft zum Ibrahim Sultan, daß derjenige die Herrschaft der Welt behaupte, der Tugend und Glückseligkeit mit einander vereinbart: er übermeistert die Gesetze der Natur und stellt - so veranschaulicht es der Prolog dieses Schauspiels - den paradiesischen Weltzustand wieder her. Die Heraufführung der gäldnen Zeit hatte der Autor auch in der laudatio des II. Reyens der Sophonisbe dem Kaiserpaar als Postulat dargestellt, indem er Tugend und Stärke sich ohne Beeinträchtigung ihres Wertes der Liebe unterordnen ließ. Wenn an dieser Stelle die Vermählung selber, nicht die an sie geknüpfte Hoffnung auf die Vereinigung des alten Imperiums mit dem die Neue Welt beherrschenden Reiche in den Vordergrund rückt, so liegt das am Thema des Reyens, und das ist wie das des I. Reyens bestimmt durch das Geschehen der vorangehenden Abhandlung. An den beiden anderen Stellen zieht der Autor im Rahmen einer laudatio auf Leopold I. mehrere, diesen Herrscher betreffende Fakten an - darunter mit jeweils ausgezeichnetem Stellenwert die Vereinigung der beiden Habsburgischen Linien - und legt sie auf gesdiichtstheoretisch bedeutsame Zusammenhänge hin aus, die für seine Dramen auf der Spiel- wie auf der Bedeutungsebene bestimmend sind. Gleich nun, ob man die mehr spekulativen, philosophisch-theologischen Momente in Lohensteins Geschichtsinterpretation betont oder die ebenso vorhandenen, in der Abwehr des Hegemonieanspruches Frankreichs und in der Charakterisierung des türkischen Gegners sich artikulierenden unmittelbar politischen Interessen34 - immer stehen die drei Stellen, von der Forschung völlig unzureichend als die »auf die Hochzeit bezogenen« charakterisiert, in einem Bedeutungszusammenhang, der nicht an das aktuelle Ereignis der Vermählung gebunden ist: die Textpassagen können ebensowohl in Erwartung der Hochzeit als auch Jahre nach der Eheschließung

8« Zur historisch-politischen Situation Breslaus und den politischen Interessen seines Patriziats vgl. Verhofstadt, a.a.O., S. 24-26 u. 53-61, und vor allen jetzt Wolf Wudierpfennig: Klugheit und Weltordnung. Das Problem politischen Handelns in Lohensteins »Arminius«. - Freiburg i. Br., Phil. Diss. 1973. S. 12-18 u. S. 22

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abgefaßt worden sein. Daß Anlaß und Zeitpunkt der Fertigstellung dieses Dramas n i c h t mit dem Beilager von Ende 1666 in ursächliche Verbindung zu bringen sind, läßt sich dagegen positiv festmachen anhand anderer Beobachtungen. Gewiß wäre es ganz und gar nicht ungewöhnlich, daß, wie bei der bislang allgemein akzeptierten Auffassung ja vorausgesetzt wird, ein Dichter des 17. Jahrhunderts fürstlichen Personen bei einem derartigen Anlaß Glückwunsch und Huldigung darbrächte, indem er sein Werk p u n k t u e l l - oder auch, was seltener ist, d u r c h g e h e n d von der Fabel her - auf eben dieses festliche Ereignis >applizierteSchäffer=Spiel< ROSIBELLA das >PastorelU Die Sinnreiche Liehe Oder Der Gläckseelige ADONIS und Die Vergnügte ROSIBELLA, das er, wie im Titel versichert wird, Zu Aller=unterthänigster Bedienung des Aller-Durchlauchtigsten Kaiserlichen Beylagers erfunden und in Hoch= Teutscher Poesie verfaßt hat89 und das er dann auch rund zwei Wochen nach der Hochzeit dem Kaiser und der Kaiserin in zwei Audienzen persönlich überreichen konnte. Natürlich bleibt auch hier der Hinweis im Titel erhalten, als das Stück 1684 für die Trauer= Freuden= und Schaffer=Spiele erneut in Druck ging40. Im Falle der Sophonisbe aber wird weder durch den Titel noch durch die Vor-

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am i j . Oktober 1673. Vgl. Daniel Casper von Lohenstein: Türkische Trauerspiele. Ibrahim Bassa. Ibrahim Sultan. Hrsg. von Klaus Günther Just. - Stuttgart 19$3. ( = Bibliothek des literarischen Vereins in Stuttgart. 292.) S. 99 3® Das Widmungsgedicht ist datiert: Breßlau am Tage Charitatis den 8. Octob. 1673. 40 Dabei wird nun audi auf die Audienzen hingewiesen: Auch Beyden HSchstgedachten Majestäten In Allergenddigst verstatteten Zweyjadoen Audientz zu Wien Den 27. und 29. November. 167Demuttigst überreichet. Die beiden kurzen Ansprachen, die Hallmann dabei hielt, hatte er bereits 1682 in der Sammelausgabe Leich-Redenl Todten-Gedichte und Aus dem Italidnischen übersetzte Grab=Schrifften abdrucken lassen. 88

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stücke des Erstdrucks und der folgenden Drucke angedeutet, daß dieses Trauerspiel aus Anlaß des kaiserlichen Beilagers von 1666 geschrieben oder dem Herrscherpaar zugedacht worden sei. Sollte nach der vermuteten »Festvorstellung im höfischen Raum« bei Drucklegung des Stücks die Aufnahme einer formellen Beglückwünschung, Huldigung oder Widmung unterblieben sein, vielleicht gar, damit die Sophonisbe nunmehr Franz Freiherrn von Nesselrode gewidmet werden konnte? In den genannten Forschungsbeiträgen, denen zufolge die Sophonisbe zumindest sorgfältig überarbeitet, wenn nicht umgearbeitet worden sein soll, wird Lohenstein zugetraut, daß er auf der einen Seite im Erstdruck aus dem Jahre 1680 - also sieben Jahre nach dem Tode Margareta Theresias und einige Jahre nach Leopolds dritter Eheschließung 41 - Stellen beließ, aus denen sich das Beilager von 1666 als Anlaß und Zeitpunkt der Fertigstellung des Trauerspiels unmittelbar soll festmachen lassen, daß er auf der anderen Seite dabei aber Zusätze tilgte bzw. aussparte, die bei tatsächlichen >Festgaben< allgemein üblich sind und die derartige Stellen — in diesem Moment wenigstens allein hätten abdecken können. Demgegenüber ist wohl aus der Tatsache, daß Titel und Vorstücke der Sophonisbe keinen Hinweis auf das kaiserliche Beilager enthalten, der Schluß zu ziehen, daß das Stück weder anläßlich der Vermählung Leopolds I. mit Margareta Theresia geschrieben wurde noch gar als »Festgabe« gedacht war.

III. Die hier vorgetragenen Überlegungen können sich nur stützen auf die Textgestalt der Sophonisbe, wie sie durch den Druck von 1680 überliefert ist. Damit stellt sich die Frage, ob diese mit derjenigen des spätestens Frühjahr 1669 fertiggestellten und M a i desselben Jahres aufgeführten Trauerspiels übereinstimmt oder nicht. Die jüngeren Forschungsbeiträge fixieren nicht nur den Abschluß des Stückes auf Ende 1666, sondern gehen auch davon aus, daß mit dem Druck von 1680 eine »zweite Fassung« vorliegt. N u r Gillespie räumt ein, daß es keine sicheren Indizien für eine Überarbeitung gibt; doch wenn auch er mit dem Hinweis auf das hohe künstlerische Niveau, »the advanced development of Lohenstein's tragic sense«, das Jahr 1680 als das für die Entstehungsgeschichte der Sophonisbe entscheidende hält 42 , so ist damit ein Argument vorgebracht, das auch in allen anderen Beiträgen von zentraler Bedeutung ist. Just stellt die »ursprüngliche Fassung« in die N ä h e der Römischen Trauerspiele und hält dafür, daß sie »wohl nur eine Vorstufe« der Druckfassung gewesen sei, wenngleich seiner Meinung nach »der Unterschied zwischen zunächst gespieltem und später gedrucktem Text« nicht so groß w a r wie im Falle der

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nämlidi mit Eleonore Magdalene von Pfalz-Neuburg. Gillespie, a.a.O., S. i n

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beiden Fassungen der Cleopatra43. Jedenfalls sind diese beiden Trauerspiele die »einzigen, denen er [sc. Lohenstein] wenige Jahre vor seinem Tode nodi die Form zu geben vermochte, die seinen hochgeschraubten stilistischen Ansprüchen Genüge tat«44. Verhofstadt hält die Sophonisbe für den »Gipfelpunkt« in der Trauerspieldichtung des Schlesiers, und deshalb schließt sie auch nach seiner Meinung zusammen mit der zweiten Fassung der Cleopatra dessen »literarische Entwicklung« in diesem Gattungsbereich, die »dramatische Tätigkeit« ab; im Hinblick auf die Textgeschichte ergibt sich daraus die Folgerung, daß auch die Sophonisbe erst Ende der siebziger Jahre ihre entscheidende Formung gefunden habe, daß also auch sie »energisch umgearbeitet« worden sei46. Kafitz rechnet mit einer Neubearbeitung der Sophonisbe analog derjenigen der Cleopatra, weil einerseits die Unterschiede dieses >Meisterstücks< zu den Römischen Trauerspielen »zu gravierend« seien, »um von einer gleichzeitigen Entstehung sprechen zu können«, weil andererseits dieses Trauerspiel und die Neubearbeitung der Cleopatra eine überaus deutliche »Nähe zum Roman« aufweisen sollen: sie gelten ihm »als konzentriert dargebotene Versinnlidiung des Lehrgehalts des Arminius«**, ihr Thema soll folglich der Gegensatz von Extremismus und Mittelmaß sein47. Daß nach unseren literarischen Wertmaßstäben unter den Dramen Lohensteins die Cleopatra und insbesondere die Sophonisbe - in der durch die Drucke von 1680 überlieferten Textgestalt - den höchsten Rang einnehmen, ist unbestritten. Will man sie aus diesem Grunde an das Ende des literarischen Schaffens ihres Autors stellen, so operiert man - wohl unreflektiert - mit einer dem spezifischen Entwicklungsdenken des 19. Jahrhunderts verhafteten Vorstellung, auf die sich eine Argumentation nicht gründen läßt. Eingegangen werden muß dagegen auf die weiter ausgreifende Begründung durch Kafitz, die nicht ablösbar ist von seiner Interpretation des Romans und der darauf aufbauenden Untersuchung der Afrikanischen Trauerspiele. Die von Kafitz vorgelegte Analyse des Arminius ist schon im Grundansatz fragwürdig, insofern eine nichtbarocke, aufklärerische Seite an diesem Roman geltend gemacht wird aufgrund einer ihm zugesprochenen besonderen Disputationstechnik, der Herstellung »eines gleichwertigen Nebeneinanders der Meinungen ohne abschließende Entscheidung«48. Daß dies für die Fülle der Gespräche im Arminius gelte, hat Kafitz selber nicht behaupten wollen, und seiner Untersuchung kann man entnehmen, daß gerade die Diskussionen über ganz zentrale Probleme - das Verhältnis von Fortuna, Verhängnis und Willensfreiheit; der mögliche Einfluß der 43

Just, Afrikanische Trauerspiele, S. [237] f. ebd., S. V I I 45 Verhofstadt, a.a.O., S. 4 j , S. 6z, S. 147. Daß Lohenstein die Sophonisbe »erheblich umgestaltet« habe, meint audi Tarot im Nachwort der von ihm besorgten Ausgabe des Trauerspiels (vgl. Anm. 8), S. 235, freilich ohne jede Begründung. 4 « Kafitz, a.a.O., S. 198 47 Kafitz, a.a.O., S. 177 u. S. 198 « Kafitz, a.a.O., S. 1 1 44

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Gestirne auf das menschliche Wollen und Handeln; die Bewertung der Affekte und die Rolle der Vernunft - gekennzeichnet sind durch eine ausschlaggebende Position und eine Reihe bloßer >Gegenpositionendisputatorisoffenenihre Reiche ins Verterben stürtzende Cleopatra«, nach einer Aufzählung der die Frauen zum Herrscheramt untauglich machenden Eigenschaften, als Beispiel angeführt« 63 , würden zweitens »als Gegensatz zu den am >Mittelmaß< ausgerichteten Dingen die >africanischen Mißgeburten« genannt« 54 , werde drittens schließlich »der Selbstmord 49

Vgl. insbesondere S. 1 0 3 - 1 1 5 ; S. 140-147 a.a.O., S. 60, Anm. 36 Vgl. Verf., Verhängnis und Geschichte, S. 240-246. Hier muß auch noch einmal an die französischen Romane erinnert werden, die Lohenstein zuvor schon für den Ibrahim Bassa und die Epicharis als Vorlagen benutzt hatte. 52 Kafitz, a.a.O., S. 177 63 Kafitz, a.a.O., S. 179. Das Arminius-TÄt&t ist nicht ganz korrekt. Bei den Verhandlungen über die Nachfolge in der langobardischen Herrschaft - von den drei Anwärtern wird immer einer von jeweils zwei der drei Parteien, nämlich Adel, Priester und Volk, abgelehnt - führen Sprecher des Volkes als Argument gegen die Tochter des letzten Herrschers all die Eigenschaften an, die Frauen untauglich machen sollen zur Herrschaft, und meinen schließlich, man könnte einer guten Phile hundert schlimme Laodicen I und ihre Reiche ins Verterben stürtzende Cleopatren entgegen sdtzen. (Arminius II, 1266 a) 54 Kafitz, a.a.O., S. 179

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Cleopatras und Sophonisbes ausdrücklich als Verzweiflungstat, als Schwachheit und falsche Tapferkeit« ausgelegt65. Das Verfahren, durch das die Titelgestalten der Afrikanischen Trauerspiele von vornherein als negative Beispielfiguren, als exempla des »Extremismus« im Bereich sowohl des affektiven Verhaltens wie des Vernunftgebrauchs festgelegt werden66, ist aber insofern nicht statthaft, als historischen Ereignissen und Personen ebenso wie Naturdingen in der Aufbereitung zu Exempeln und argumenta emblematica ganz verschiedene, ja entgegengesetzte >Bedeutungen< abgewonnen werden - Kafitz selber weist auf ein schlagendes Beispiel hin 57 - und eben deshalb im Arminius, wie auch Kafitz nachdrücklich unterstreicht68, die Beweiskraft der Exempel in Zweifel gezogen wird. Die so gewonnene Bewertung beider dramatis personae erweist sich aber auch inhaltlich als unzutreffend. Daß - gegenüber dem Roman - in den beiden Trauerspielen »die Antihelden zu Titelfiguren« avancieren, will Kafitz zum einen belegen mit den teilweise entgegengesetzten Forderungen, die in den Poetiken an die Hauptpersonen des höfisch-historischen Romans bzw. des Trauerspiels gestellt werden und denen zufolge sich Romanhelden nicht eignen sollen »als Gegenstand von Trauerspielen und umgekehrt« 69 , zum anderen mit den extremen Affekthaltungen selber, die die beiden Königinnen zeigen60. Der hier aus den dichtungstheoretischen Forderungen gezogene Schluß ist entweder trivial oder aber - versteht man ihn so, wie Kafitz es tut - falsch. Nach Kafitz nämlich zerfällt aus der Perspektive dieser Gattungen das Arsenal historischer Personen in zwei Gruppen, in tugendhafte und ideale Herrscher, die Helden eines Romans, in »lasterhafte und affektgetriebene« Herrscher, die Helden eines Trauerspiels werden. Tatsächlich aber kann ein und derselbe Geschichtsausschnitt mit ein und demselben Personal Gegenstand eines heroisch-galanten Romans wie auch eines Trauerspiels sein: der Ereigniszusammenhang muß nur entsprechend durchstrukturiert werden - d. h. vor allem: den »richtigen« Ausgang erhalten 61 - , und die Helden müssen gemäß den Bewertungskriterien und Dar-

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Kafitz, a.a.O., S. 180 Kafitz, a.a.O., S. 132 f. 57 In der Cleopatra, und zwar der Fassung von 1661 wie auch der von 1680, wird das Faktum, daß Sophonisbe den Giftbecher leerte, als argumentum emblematicum eingesetzt mit einer Bedeutung, die dem im Trauerspiel Sophonisbe für dieses Verhalten angegebenen Motiv wie auch der Kafitzsdien Analyse der dramatis persona widerspricht: es heißt nämlich, daß sie den Gifft-Kelch hat so freudig angesetzt I Umb ihres Liebsten Ruhm und Zepter zu erhalten. (Cleopatra I, 730 f bzw. 1010 f) Kafitz allerdings knüpft hieran die Vermutung an, daß »Sophonisbes Freitod in der ersten Fassung durch selbstlosere Motive bestimmt« war (a.a.O., S. 190, Anm. IOJ). 58 Kafitz, a.a.O., S. 66 «» Kafitz, a.a.O., S. 132 60 Kafitz, a.a.O., S. 181 undpassim. 61 Zur Umformung bzw. Wiederumformung des >Ausgangs< historischer Gesdiehniszusammenhänge vergleiche man - um nur bei Werken Lohensteins zu bleiben - die antiken Berichte über Arminius und den Sdiluß des Romans (inwieweit das letzte Kapitel noch von Lohenstein selber ausformulierte Partien enthält, ist dabei nicht 66

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stellungsnormen der Gattung gezeichnet sein. Sophonisbe und Cleopatra sind nicht Helden eines Trauerspiels, weil sie als historische Figuren von Affekten getrieben, somit lasterhaft waren: sie sind vielmehr durch heftige Bewegungen des Gemäthes82 gekennzeichnet, weil der Dichter sie zu Protagonisten eines Trauerspiels machte, d. h. in Situationen darstellte, in denen für sie, anders als für Personen des Romans, die Unvereinbarkeit von Madit- und Tugendposition faktisch wird. Solche Momente aber, mit denen literarische Gestalten nur erst den Gattungsgesetzen entsprechen, können absoluten, moralischen Bewertungen nicht zum Grunde dienen63. Nach Kafitz zeigen sich Sophonisbe und Cleopatra als negative Beispielfiguren auch in ihren Versuchen, die herrscherliche Stellung zu bewahren. Konstatiert er völlig zu Recht im Hinblick auf die fürstlichen Personen des Romans, daß Herrschaft ein »heilig anvertrautes Gut«, nicht persönliches Vorrecht, sondern öffentliche Verpflichtung sei64, so charakterisiert er demgegenüber die beiden Königinnen w e g e n ihrer Bemühungen, die ihnen aufgetragene Herrschaft zu retten, als Frauen, die - schon von Natur aus zum >Extremismus< neigend - skrupellos lediglich persönlichen Ehrgeiz und rein private Machtgelüste zu befriedigen suchen45. Wie alle Figuren des barocken Trauerspiels erscheinen auch Cleopatra und Sophonisbe, entsprechend der zeitgenössischen Dichtungstheorie und -praxis, auf der Bühne als Träger einer und nur einer Rolle, der des Herrschers in diesem Fall: mit ihrem geschichtlichen nach Auffassung der Zeit: göttlichen - Auftrag stehen sie selbst auf dem Spiel. Daher gehen sie auch, als sie erkennen, daß der Verlust der für ihre Rolle konstitutiven Herrschaft vom Verhängnis bestimmt und unabwendbar ist, in den Tod und sühnen damit zugleidi die Verletzungen der moralischen Ordnung, deren sie sich als verblendete Kreatur in Wahrnehmung ihres Amtes schuldig gemacht haben. Kafitz freilich versteht ihren Selbstmord als »konsequente Folge ihrer Charakteranlage«® 6 , aufgrund deren beide außer Ehrgeiz »keine anderen, inneren Werte zu verteidigen« hätten 87 , und damit findet er die nach seinen Angaben eindeutige Verurteilung im Arminius durch die Trauerspiele bestätigt. Bietet diese Interpretation der Sophonisbe und Cleopatra, wie deutlich, Anlaß

entscheidend), ferner die Gesdiidite Ibrahims nach den historisdien Quellen, nach dem Roman der Scudery und dem darauf basierenden Ibrahim Bassa, schließlich die Gesdiidite der Epicharis, wie sie Tacitus, dann Desmarets in der Ariane und - darauf fußend - Lohenstein im Trauerspiel Epidiaris dargestellt haben. 62 (Kurandor [d. i. Balthasar Kindermann]:) Der deutsche Poet / Darinnen gantz deutlich und ausführlich gelehret wird / welcher gestalt ein zierliches Gedicht [ . . . ] in gar kurtzer Zeit / kann wol erfunden und ausgeputzet werden [ . . . ] - Wittenberg 1664. S. 242 f. Ähnliche Formulierungen finden sich audi in allen anderen barocken Poetiken. 83 Kafitz will wegen ihrer extremen Haßgefühle auf Nero auch Epidiaris nicht als positive Figur gelten lassen (a.a.O., S. 198). Im Hinblick auf die Gattungsbedingtheit der Personengestaltung wäre ein Vergleich mit der Epicharis der Ariane lohnend. «4 Kafitz, a.a.O., S. 171 « Kafitz, a.a.O., S. 181-184 66 Kafitz, a.a.O., S. 190 « Kafitz, a.a.O., S. 184; vgl. S. 186 f.

Zur Sophonisbe Daniel Caspers von Lohenstein

*55

z u r K r i t i k - sie l ä ß t sidi z u d e m n u r b e w e r k s t e l l i g e n , w e n n a l l d i e T e x t p a r t i e n f ü r die A n a l y s e ausgeschieden w e r d e n , d i e m i t i h r e n H i n w e i s e n a u f d e n g e schichtlichen P r o z e ß u n d d i e i h n o r d n e n d e I n s t a n z subscriptiones z u d e n h a n d l u n g s m ä ß i g e n p i c t u r a e l i e f e r n 4 8 - , so ist a u d i d i e B e r u f u n g a u f d e n Arminias d i e s e m Z u s a m m e n h a n g schon nicht g e r e c h t f e r t i g t . W a s K a f i t z als liche

in

a u s d r ü c k -

V e r u r t e i l u n g des F r e i t o d e s b e i d e r K ö n i g i n n e n — m a l r e f e r i e r e n d , m a l

z i t i e r e n d 8 9 - a n f ü h r t , s i n d in d e r b e t r e f f e n d e n P a s s a g e des R o m a n s in W a h r h e i t M e i n u n g s ä u ß e r u n g e n z w e i e r D i s k u t a n t e n z u m S e l b s t m o r d ü b e r h a u p t ; sie w e r d e n v o r g e t r a g e n i m V e r l a u f eines G e s p r ä c h s , i n d e m T h u s n e l d a u n d H e r m a n n s S c h w e s t e r I s m e n e d i e marsingische F ü r s t i n Z i r o l a n e z u einer b e s t i m m t e n , f ü r sie a l l e l e b e n s w i c h t i g e n E n t s c h e i d u n g z u b e w e g e n v e r s u c h e n . D a b e i z i e h e n d a n n auch a l l e d r e i - n e b e n a n d e r e n B e i s p i e l e n - d e n F r e i t o d S o p h o n i s b e s u n d C l e o p a t r a s a n , u n d z w a r e n t s p r e c h e n d d e n unterschiedlichen

Argumentationszielen

m i t j e v e r s c h i e d e n e r A k z e n t u i e r u n g u n d W e r t u n g 7 0 . F ü r eine a n g e m e s s e n e B e u r t e i l u n g des S e l b s t m o r d s m u ß d a g e g e n berücksichtigt w e r d e n die d e m » L e h r g e h a l t « d e s Arminias

eher z u z u r e c h n e n d e , w e i l nicht d e r a r t parteiische

f a s s u n g H e r z o g H e r m a n n s , daß man ehe sich selbst heit und Tugend

berauben

tSdten

lassen / und daß man länger

/ als sich seiner nicht leben

AufFrey-

soll / als so

K a f i t z hat sidi in dieser Hinsicht von vornherein salviert, indem er bereits eingangs seiner Untersuchung (S. 6, A n m . 14) den »Aussagewert« der Reyen für »in der Lohenstein-Forschung umstritten« ausgibt: was die Forschung der letzten 30 oder j j Jahre angeht, so kann er sidi dabei nur auf Lunding berufen, der die Reyen Lohensteins für bloße Effektnummern hielt b z w . in ihnen sogar gezielte Tarnungen des - angeblich - anti-idealistischen und zutiefst unchristlichen Gehalts der Trauerspiele erklickte (a.a.O., S. 152 b z w . 1J5 f.). oo Kafitz, a.a.O., S. 180 (vgl. o.) b z w . S. 188 70 Arminius II, 1108 a - u i j b. D e r Zusammenhang ist folgender: Thusnelda, ihr Sohn Thumelich, Ismene und Zirolane sind in die H ä n d e der Römer gefallen; die Frauen sollen zum Sieges=Geprdnge nach R o m gebracht, Thumelich auf einem Drususaltar geopfert werden. D a läßt ihnen Siegesmund, der wie sein Vater Segesthes auf Seiten der Römer kämpft, die Möglichkeit zur Flucht offerieren unter der Voraussetzung, daß Zirolane ihm ihre Liebe schenke: die aber liebt den thracischen Fürsten Rhemetalces. Thusnelda und Ismene versuchen nun, sie zu dieser - für eine Romanperson natürlich undenkbaren - Veränderung zu bereden (1108b). Ismene argumentiert ganz aus der Perspektive einer Fürstin, wenn sie die so grosse Schmach [. ..] zum Schauspiele und Gelächter des Romischen Pofels gemißbraucht zu werden, an historischen Exempeln bis ins Detail ausmalt und auf Selbstmord als einzige Alternative zu dem Vorschlag Siegesmunds hinweist: eben dieser Unehre seien die hertzhaffte Sophonisbe durch das Gifft=Glaß und die verzärtelte Cleopatra durch einen Schlangen-Stich zuvorgekommen ( r n o a / b ) . Zirolane nimmt demgegenüber einen ganz anderen Standpunkt ein, den - sozusagen - des inneren Adels: einem tugendhaften und beständigen Gemüt könnten Fesseln und schlimmste Erniedrigungen nichts anhaben. Denn wer ehrlich gelebt hat I soll sich befleissen so langsam zu sterben I als es ihm immer möglich ist. Viel anders war es mit Sophonisben und Cleopatren beschaffen. Denn alle ihr Ruhm bestand in ihrem Tode; ich aber trachte ihn durch mein Leben zu erwerben, ( i m b) Sie akzeptiert das ihnen Bevorstehende als Bewährungssituation und v e r w i r f t grundsätzlich sowohl einen Verrat an der Liebe als auch den Selbstmord - letzteres mit den Worten, die K a f i t z auf S. 188 zitiert und auf das Ende Cleopatras 68

256

Gerhard Speilerberg

lange es rühmlicher ist zu leben als zu sterben71. Hiermit ist präzise die Situation. beschrieben, in der Sophonisbe und Cleopatra sich entschließen, freiwillig in den Tod zu gehen. Soweit der Versuch, »die überlieferte Fassung« der Sophonisbe als »eine Neubearbeitung« zu erweisen, von Kaiitz an die Voraussetzung gebunden worden war, daß sich dieses Trauerspiel wie auch die Cleopatra von »dem Grundproblem: affektiver Extremismus - maßvolle politische Klugheit« her interpretieren und so als »konzentriert dargebotene Versinnlichung des Lehrgehalts des Arminius« verstehen lasse72, muß er als gescheitert angesehen werden. Doch sollen auf eine Neubearbeitung auch einige andere, und eigentlich unwiderlegbare, weil »faktische Merkmale« hindeuten78. Das wichtigste unter diesen ist für Kafitz, daß Lohenstein in den Anmerkungen zu II, 5 1 1 f und III, 188 f die erst 1678 zu Lyon erschienene Reisebesdireibung des Jacques Spon Voyages d'Italie, de Dalmatie, de Grece et du Levant zitiert. Er übernimmt damit einen schon von Verhofstadt gegebenen Hinweis 74 , knüpft daran aber weit detaillierbezieht. Für Thusnelda, die nicht nur darauf bedacht sein muß, daß sie - als Fürstin und Gemahlin Hermanns - vor dem römischen Triumphzug bewahrt bleibt, sondern vor allem dafür Sorge zu tragen hat, daß Hermanns Sohn gerettet wird, kommt es nun darauf an, Zirolane von ihrem Entschluß abzubringen und ihr z u g l e i c h die von Ismene offen gelassene Alternative zu verbauen. Was also die Beurteilung des Sieges-Gepranges angeht, so stimmt sie darin Ismene völlig zu und erklärt, daß eine soldie Besckimpffung selbst für Standhafteste schwerer zu ertragen sei als ein schmählicher Tod; doch beeilt sie sich zu betonen, daß sie Zirolane damit nidit bereden wolte ihr selbst Gewalt anzuthun. Der Selbstmord nidit nur Sophonisbes und Cleopatras, sondern audi - und das ist w ü t i g für die richtige Einschätzung der Exempel - der eines Brutus, eines Mithridates und eines Cato hätten alle mehr Verzweiffelung und Eitelkeit I als Tugend an sich. Sie selbst würde sich tausend mahl bedencken, ob sie sich auch auf den allerargsten Fall zu einer so verdachtigen oder vielmehr falschen Tapfferkeit entschlossen und Selbstmord begehen sollte, weil sie diese Art zu sterben wonicht für ein Laster I doch für die groste Schwachheit halte und weil sie als Fürstin für ihren Gemahl sich aufzuheben und zu erhalten genötigt sei ( 1 1 1 2 b / 1113 a). Zirolane aber bleibt bei ihrem Entschluß. Die Möglichkeit zur Flucht wird nidit wahrgenommen - so macht sidi niemand des Verrats an der Liebe bzw. der Anstiftung dazu schuldig; man begeht auch keinen Selbstmord - und die Versehung, auf die man nun setzt, läßt den bitteren Kelch des Sieges=Gepranges an den einen, den des Todes an den anderen vorbeigehen: im Roman ist der dargestellte Gesdiichtsaussdinitt so strukturiert, daß den Helden die blutigen Konsequenzen für die Bewahrung der Tugend erspart bleiben, daß sie der Glanz der Tugend u n d der Herrschaft am Schluß überstrahlt. Es ist wohl deutlich geworden, daß auf die Verwendung des Sophonisbe- bzw. Cleopatra-Exempels eine strikte Verurteilung des Freitodes der beiden Trauerspielgestalten nicht zu gründen ist, daß überhaupt das Verhalten von Romanpersonen und das Entscheiden und Handeln von Helden des Trauerspiels nicht so ohne weiteres, wie Kafitz es tut, gegeneinander aufgerechnet werden können. 71 Arminius I, 16 b. 72 Kafitz, a.a.O., S. 198 n Kafitz, a.a.O., S. 177 74 Verhofstadt, a.a.O., S. 147

Zur Sophonisbe Daniel Caspers von Lohenstein

25 7

tere Überlegungen an: »Die Anführung dieser Quelle legt die Vermutung nahe, daß Lohenstein auch die entsprechende Stelle im Text ergänzte und daß er folglich noch nach 1678 Änderungen an seinem Drama vornahm«75. Der hier behauptete enge Zusammenhang zwischen Text und Teil der entsprechenden Anmerkung wird im Folgenden genau überprüft werden müssen. In der den beiden Versen des II. Reyens Ja des verliebten Alpheus Bach Kreucht durchs Meer Arethusen nach

beigegebenen Anmerkung werden zunächst mehrere antike Autoren zitiert, die von diesem die Stadt Elis in Arcadien beströmenden und in Achaien sich unter die Erde verkrichenden Flusse berichten, daß er unter dem Meere und der Erde bis nach Syracuse in Sicilien flüsse / und daselbst mit dem Fischreichen Brunnen Arethuse sich vermählte-, Lohenstein verweist danach auf die literarische Verwendung dieses Berichts und zitiert dafür Statius; anschließend werden zwei antike und ein zeitgenössischer Autor angeführt, die von der göttlichen Verehrung dieses Flusses durch die Griechen berichten; es folgt der Hinweis auf den Pastor fido, in dem Guarini den Alpheus als Vorredner auftreten läßt, und da sowohl Abschatz als auch Hofmannswaldau bei ihren Übersetzungen diese Vorrede nicht berücksichtigten, fügt Lohenstein hier eine Übertragung derselben ins Deutsche an; erst dann, am Schluß der Anmerkung, wird Spons Reisebericht angezogen, und zwar, um den Leser darauf hinzuweisen, daß auf den Strofadischen Inseln auch Brunnen sein sollen, von denen angenommen wird, sie hätten unterirdische in Morea oder in Peloponesum gehende Röhren™. Nicht anders steht es mit der Anmerkung zu den Versen Des Hanno Schiffe lieffen Bis in der Sonnen Bett in eine neue Welt

in der zunächst klargestellt wird, daß damit die ausserhalb den Säulen Hercules gegen West gelegene grosse Atlantische Insel gemeint sei, und dann mehrere Autoren zu der Streitfrage zitiert werden, ob diese Insel mit Amerika zu identifizieren sei oder nicht; weil für die Entscheidung dieser Frage nicht unwichtig ist zu wissen, ob die Phönizier bereits mit Magnet bzw. Kompaß vertraut waren, werden auch zu diesem Punkt zwei Parteien von Autoren genannt. Und dies gibt - wieder am Schluß der Anmerkung - Gelegenheit, Spon zu zitieren, der zu Constantinopel von einem Schotten erfahren haben will, daß einem dort aufbewahrten Sternseher-Buche zufolge die Magnet-Nadel sehr alt sein soll, ob sie gleich nicht zur Schifferey 1 sondern zur Stern-Kunst gebraucht worden17. Die Spon-Zitate, beidemal sehr lodcer angeschlossen, stehen also in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit den Dingen, die an den betreffenden Text-



Kafitz, a.a.O., S. 178 ™ Afrikanische Trauerspiele, S. 371-376 7 7 Afrikanische Trauerspiele, S. 382

Gerhard Spellerberg

2j8

stellen angedeutet sind und in den dazugehörigen Anmerkungen zunächst durch Quellenberufungen als Fakten abgesichert, dann mit H i l f e weiterer Autoritäten näher erläutert b z w . in ihrer Bedeutung geklärt werden. Nichts ist daher weniger wahrscheinlich, als daß die Verse selber erst aufgrund der Lektüre dieser Reisebeschreibung abgefaßt worden sind; eher w i r d es sich so verhalten, d a ß auch die ihnen zugeordneten Anmerkungen bereits formuliert waren und dann kurz v o r Drucklegung mit Lesefrüchten aus Spon um Nebenaspekte nur noch ergänzt wurden. K a f i t z glaubt aber Anhaltspunkte d a f ü r zu haben, daß sogar ganze Szenen entschieden redigiert worden seien. Dies matht er insbesondre für die Tempelszene z u Beginn der V . Abhandlung geltend, in der der K ö n i g i n durch Didos Geist der weitere Geschichtsverlauf offenbart wird. In seiner bibliographischen Einleitung z u r Sophonisbe

hatte Just darauf aufmerksam gemacht,

daß im Druck von 1680 f ü r die Priesterin Elagabal - so im Personenverzeichnis und in der A n g a b e der auftretenden Personen z u Beginn dieser und der nächsten Szene - mehrfach die Sprecherbezeichnung Pythia

begegnet, und dies -

sicher zutreffend - als eine nicht sauber durchgeführte Änderung bei der Drucklegung erklärt 7 8 . K a f i t z setzt hier an und möchte nun die ausladenden religio'-kultischen Passagen dieser Szene überhaupt erst einer >zweiten< Fassung zusprechen; er stützt sich dabei auf die Beobachtung, daß auch der stark vermehrte U m f a n g der Cleopatra

von

1680 großenteils auf die Ausmalung

religiöser

Riten und Gebräuche zurückgeht und daß in den Anmerkungen zu dieser Szene der Sophonisbe

fünfzehnmal Seidens De Dis Syris zitiert wird, ein W e r k , das

Lohenstein, wie K a f i t z meint, »erst f ü r die neue Fassung der Cleopatra

verwen-

dete« 79 . Diesen >Indizien< ist Asmuth in seiner quellenkritischen Untersuchung über Lohenstein und Tacitus genauer nachgegangen. Asmuth stellte fest, daß Lohensteins Seitenangaben zu Seidens A b h a n d l u n g der Leipziger Ausgabe v o n 1672, z u Bocharts Geographia

sacra der F r a n k f u r -

ter Ausgabe v o n 1674 entsprechen. G e h ä u f t werden diese Werke zitiert in den Anmerkungen zur Opferszene ( j . Auftritt) der I. Abhandlung, zur zweiten und dritten Szene der III. A b h a n d l u n g und in der schon genannten Tempelszene der V . Abhandlung. Daraus, daß in der Zweitfassung der Cleopatra

»nur ergän-

zende Anmerkungen [ . . . ] v o n den Anmerkungen mit neuem Dramentext um ein Vielfaches« übertroffen werden, folgert Asmuth f ü r die Sophonisbe:

»Die

Opferszene Ie und die Vermählungsszene I l l b haben wahrscheinlich in der Erstfassung ganz oder großenteils gefehlt.« 80 Des weiteren vermutet er, d a ß vielleicht »auch der prophetische Ausblick v o n Didons Geist auf die Geschichte des Hauses Österreich in V a 145 ff. neu« ist; sein Argument, Lohenstein berufe sich hier viermal auf die erst 1666 erschienene Area Noae des Hornius, w ä r e allerdings nur dann v o n Gewicht, wenn in der Tat, w i e bislang angenommen, die 78 7® 80

Afrikanische Trauerspiele, S. 238, Anm. 4. Kafitz, a.a.O., S. 178 Asmuth, Lohenstein und Tacitus, S. 237; vgl. auch Asmuth, Daniel Casper von Lohenstein, S. 36

Zur Sophonisbe Daniel Caspers von Lohenstein

259

Fertigstellung einer >ersten< Fassung der Sophonisbe auf Ende 1666 fixiert werden müßte: nach dem oben Dargelegten kann es außer Betracht bleiben. Soweit Asmuth seine Argumentation auf die beiden Werke Seidens bzw. Bocharts aufbaute, hat er selber dies unter der Einschränkung getan, daß nicht frühere Auflagen die gleiche Paginierung aufweisen. Nun ist aber die von Asmuth benutzte Frankfurter Ausgabe von Bocharts Geographia sacra trotz wesentlich kleineren Formats seitenidentisch mit dem 1646 zu Caen erschienenen Erstdruck81, und die 1672 zu Leipzig herausgekommene Edition von Seidens De Dis Syris stimmt auf das genaueste sowohl zu der 1668 von demselben Verleger besorgten Ausgabe wie auch zu dem Leipziger Druck von 1662 82 . Eine Überprüfung SAMUELIS BOCHARTI | GEOGRAPHIA SACRA, | CUJUS PARS PRIOR | PHALEG I De Dispersione Gentium 8c terrarum | divisione facta in aedificatione turris Babel; | PARS POSTERIOR | C H A N A A N | De coloniis & sermone Phoenicum | agit; | [ . . . ] | Excussum | FRANCOFVRTI AD MOENVM, | Impensis JOH A N N I S DAVIDIS Z U N N E R I , | - | Typis B A L T H A S A R E CHRISTOPHORI WUSTII. | Anno M D C L X X I V . (Ex. der Stadtbibliothek Überlingen, Sign.: Bb 160.) G E O G R A P H I E | SACRyE PARS PRIOR | PHALEG | SEV | DE DISPERSIONE | GENTIVM ET T E R R A R V M | DIVISIONE FACTA | in sedificatione turris Babel. | [ . . . ] | Authore SAMVELE BOCHARTO. | [Druckermarke] | CADOMI, | TYPIS PETRI CARDONELLI. | A. MDCXLVI. | Cum Priuilegio Regis et foederatarum Belgij Prouinciarum. [Neues Titelblatt] G E O G R A P H I E | S A C R E PARS ALTERA | C H A N A A N | SEV | DE COLONIIS | ET | SERMONE PHCENICVM. | [•. •] | Authore SAMVELE BOCHARTO. | [Druckermerke] | CADOMI | TYPIS PETRI CARDONELLI. | A. MDCXLVI. | Cum Priuilegio Regis et foederatarum Belgij Prouinciarum. (Ex. der Universitätsbibliothek Düsseldorf, Sign.: Ge. u. St. 42.) Beide Drucke weisen durchgehende Foliierung für die zwei Teile auf; paginiert sind in beiden Drucken nur die eigendich darstellenden Partien, und zwar im ersten Teil von S. 1 bis S. 360, im zweiten Teil von S. 361 bis S. 864. Lediglich in der Silbentrennung am Seitenende treten hin und wieder geringfügige Verschiebungen. 82 J O A N N I S SELDENI, J. C | DE | DIS SYRIS | SYNTAGMATA II. | [ . . . ] | EDITIO ] Juxta alteram Ipsius Autoris opera emenda- | tiorem auctioremque | OMNIUM NOVISSIMA, | Additamentis Sc Indicibus copiosissimis | locupletata, | opera | M. ANDRERE B E Y E R I | [ . . . ] | L I P S I E , | Impensis | LAURENTII SIGISMUNDI CÖRNERI, | LITERIS J O H A N N I S COLERI. | A N N O M D C L X X I I . (Ex. der Stadtbücherei Wuppertal, Sign.: A 7/42.) J O A N N I S SELDENI J. C. | De | DIS SYRIS | SYNTAGMATA II. | [ . . . ] EDITIO | Juxta alteram Ipsius Autoris opera emen- | datiorem auctioremque OMNIUM NOVISSIMA, | Additamentis et Indicibus copiosissimis | locupletata, | opera M. ANDRERE B E Y E R I I [ . . . ] | L I P S I E , | Impensis | LAURENTII SIGISMUNDI CÖRNERI, | Bibliop. A N N O M. DC. LXVIII. (Ex. der Bayer. Staatsbibliothek München, Sign.: Rem. IV. 2571.) J O A N N I S SELDENI J. C. ] DE | DIS SYRIS | SYNTAGMATA II. | [ . . . ] | EDITIO | juxta alteram emendatiorem & tertia parte auctiorem | TERTlA, | Indice copiosißmo locupletata. | [Druckermarke] | L I P S E , | Impensis J O H A N N . BRENDELI, | Charactere J O H A N N I S ERICI HAHNII, | A N N O M D C XII. (Ex. der Universitätsbibliothek Köln, Sign.: W. A. VIII. 163.) Audi bei diesen drei Drucken gibt es nur in der Silbentrennung am Seitenende gelegentlich leichte Verschiebungen.

26o

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nidit nur der von Kafitz angezogenen, sondern aller Zitate aus De Dis Syris anhand des Drucks von 1662 ergab, daß mit einer Ausnahme alle Seitenangaben Lohensteins zutreffen: die in der Anmerkung zu V, 18 zitierten Passagen finden sich in dem Druck von 1662 - entsprechend aber auch in dem von 1668 und dem von 1672 - auf den Seiten 110/111, nicht auf den Seiten 108/109. Daraus ist wohl kaum zu schließen, daß Lohenstein statt eines dieser drei Drucke eine der 1617, dann 1619 zu London bzw. 1629 zuLeyden erschienenen Ausgaben benutzt habe; es wird wohl eine - wie immer zustande gekommene fehlerhafte Angabe vorliegen, da Seitenvermerke bei Zitaten aus direkt benachbarten Partien der Abhandlung - beispielsweise die Seitenzahlen 107/108 für den in der Anmerkung zu V, 2$ zitierten Text - wieder zu den Leipziger Drucken stimmen. Es muß also festgestellt werden, daß keines der bisher für eine Über- oder Umarbeitung bzw. Erweiterung der Sophonisbe vorgebrachten Argumente Stich hält. Dagegen gibt es ein Zeugnis, aufgrund dessen umgekehrt eine nennenswerte Überarbeitung des Trauerspiels für die Drucklegung ausgeschlossen werden muß. Gegenüber der früher vorherrschenden Auffassung, die Werke der schlesischen Barockdramatiker seien reine Lesedramen gewesen, hat die jüngere Forschung nachdrücklich den theatergerechten und bühnenwirksamen Aufbau der Stücke betont und vor allem auf die bezeugten Aufführungen verwiesen83: Um die Zeugnisse dieser Aufführungen, auf die hin auch das schlesische Kunstdrama des 17. Jahrhunderts - dem Öffentlichkeitscharakter und der gesellschaftlichen Gebundenheit der Barockliteratur entsprechend - primär und vorrangig geschrieben worden ist84, hat man sich jedoch kaum gekümmert. Dabei haben wir von nicht wenigen Dramen nur Kenntnis durch die anläßlich einer Aufführung gedruckten >ProgrammeOriginaldramen< Hallmanns vorher in Breslau gespielt worden.

83

Zur Sophonisbe Daniel Caspers von Lohenstein

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Breßlaul Jn der Baumannischen Erben Druckerey druckts Johann Christoph Jacob I FACTOR. v

V

Bl. i - Bl. 2 : Jnnhalt deß Trauerspieles. Am Ende von Bl. 2 V : Kleines Schlußstück88.

Die Inhaltsangabe ist - wie die dem Druck von 1680 beigefügte87 - gegliedert nach Abhandlungen und Auftritten. Szenenanweisungen, im Druck den betreffenden Textteilen vorangestellt, erscheinen in jeweils eigener Zeile, und zwar zu folgenden Auftritten: I, 1: I, 3: II, 1: II, 4: Reyen: III, 1: III, 2: Reyen: IV, 1: Reyen: V, 1: V, 4: Reyen:

Masinissens Gezelt. Ein Tempel. Ein Königlicher Saal. Ein Kercker. Ein Tempel. Masinissens Gemad). Ein Tempel. Ein wüstes Feld. Ein Königlicher Saal. Garten und Hecken. Ein Tempel. Sophonisbens Gemach. Eine lustige Gegend.

Der im Szenar gebotene Jnnhalt selbst ist bis auf einige wenige Varianten und drei Setzfehler identisch mit dem des Drucks von 1680, so daß eine Wiedergabe sidi erübrigt. Von den Setzfehlern findet sich der erste in der Inhaltsangabe des IV. Reyens: anstatt unter dem Gold=Stucke der Wollust war gesetzt worden unter dem Gold=St&cke der Tugend-, der Fehler ist von alter Hand - alsbald nach dem Ausdrucken, vor dem Vertrieb? - gebessert worden. Das Gleiche gilt auch für den zweiten und dritten Druckfehler: zu V, 1 ist die Gothen aus der Gothen gebessert; ebenda ist FERDINADO durdi Übersetzen eines Nasalstrichs korrigiert worden. An Varianten gegenüber der Inhaltsangabe zum Druck von 1680 sind zu verzeichnen88: zu I, 5 (Z. 27) in die giftenden Armen des Abgotts ] auff das Altar deß Abgots zu II, 2 (Z. 41) mit den Seinigen ] mit den Seinen zum III. Reyen (Z. 82) mahlet die Eyversucht der Einbildung ] mahlet die Einbildung der Eyfersucht 86

87 88

Ex. der Universitätsbibliothek Mainz, als Nr. 16 in einer Sammelmappe mit der Sign.: 4 0 Ac 4199. Durch Kapitälchen (bzw. Versalien) ist hier und im Folgenden Antiquasatz der Vorlage wiedergegeben. Vgl. Afrikanische Trauerspiele, S. 2 j 3-2 5 7 Untersdiiede in der Orthographie, der Flexion und der Interpunktion bleiben hier außer Betracht. Die Lesungen der Inhaltsangabe von 1680 werden jeweils zuerst dargeboten, die Zeilenangaben beziehen sidi auf die Justsdie Ausgabe.

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Gerhard Speilerberg

zu V, i (Z. 1 1 4 f) von Ferdinanden dem andern / Philippen dem Ertzhertzoge / Carln dem fünften / Philippen dem andern 1 und endlich Keyser Leopolden ] von F E R D I N Ä D O C A T H O L I C O , P H I L I P P O A U S T R I A C O , C A R O L O Q U I N T O , P H I L I P P O I I . und endlich Kaiser L E O P O L D O zu V, 4 (Z. 123) zu überreden ] zubereden Zum III. Reyen bietet das Szenar gegenüber der späteren Inhaltsangabe wohl das Richtige. Die einzige Variante, die eventuell auf eine textliche Verschiedenheit zwischen dem aufgeführten und dem in Druck gegangenen Stück hinweisen könnte, ist die zu I, j . In dem dazugehörigen Vers I, 392 ruft Sophonisbe - die ihre beiden Söhne losen läßt, wer von ihnen der Göttin ein würdiges Opfer sei - aus: Kommt! denn sie scheint euch schon die Armen zuzuneigen. Die umfangreiche Anmerkung zu I, 383 (ff), die auf die Opferung von Menschen-Blutt und Kinder-Fleisch bei verschiedenen Völkern eingeht, bringt gegen Ende des ersten Drittels dazu folgende Information: Zu Carthago war dieser Abgott ein Ertztenes Bild des Saturnus / welcher die Armen unter sich ausstreckte I also/ daß die darauf gelegten Kinder hinunter in den feurigen Pfui sich abweltzen konten. Diodor. Sic. lib. 20.Lipius. Monit. Polit. c. 3. 3- p• i82m. Es mag sein, daß die angegebene Textstelle mit Hilfe der zitierten Quellen erst später präzisiert worden ist. Gerade wenn selbst so relativ geringfügige Änderungen ihren Niederschlag in der dem Druck vorangestellten Inhaltsangabe gefunden haben, zwingt die im übrigen herrschende Übereinstimmung zwischen Szenar und Inhaltsangabe zu dem Schluß, daß der Text der Sophonisbe von der spätestens Frühjahr 1669 erfolgten Niederschrift bis zur Drucklegung 1680 nicht entscheidend verändert worden ist. Zumindest stimmte das 1669 aufgeführte Trauerspiel hinsiditlich des Bestandes, des Aufbaus sowie des Funktions- und Argumentationszusammenhangs der Szenen mit dem in Druck gegangenen völlig überein. Es verdient hier noch festgehalten zu werden, daß die Sophonisbe auch bei ihrer einzig bezeugten Aufführung keinen Hinweis darauf enthielt, daß sie dem Kaiserpaar anläßlich der Vermählung als Festgruß zugedadit worden sei bzw. die Aufführung eine Form des Glückwunsches darstellen sollte. Der naheliegende Einwand, daß dies bei einer Aufführung zweieinhalb Jahre nadi dem festlichen Ereignis wenig passend gewesen wäre, läßt sich mit entsprechenden Dokumenten der Zeit entkräften. Im Februar eben des Jahres 1669 wurde zu Breslau durch Sdiüler des Elisabeth-Gymnasiums Hallmanns >Freuden-Spiel< Das Beperlte Leuen=Hertz Oder Die Vergnügte Majestät aufgeführt, und zwar, wie auf dem Deckblatt des Szenars90 angekündigt wird, Zu Aller untertänigster Bedienung Deß Aller=Durchleuchtigsten Kaiserlichen Beylagers nämlich des von 1666! Wenn die Aufführung zu diesem Zeitpunkt nicht als 89 90

Afrikanische Trauerspiele, S. 359, Z. 243-246 Ex. des Ossolineums in Wroclaw.

Zur Sophonisbe Daniel Caspers von Lohenstein

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deplaciert empfunden wurde, wird es gewiß nicht daran gelegen haben, daß dieses durchgehend von der Fabel her auf die Vermählung Leopolds mit Margareta Theresia applizierte Stück im Titel als ein Langst=erfundenes apostrophiert ist. Die Ergebnisse der hier vorgetragenen Überlegungen seien noch einmal kurz zusammengefaßt. Mit H i l f e jener drei Stellen läßt sich nicht länger die bisher allgemein akzeptierte Auffassung begründen, das Trauerspiel Sophonisbe sei a n l ä ß l i c h der Verlobung Leopolds I. mit Margareta Theresia von Spanien begonnen, zur Hochzeit Dezember 1666 vollendet worden und als eine F e s t g a b e gedacht gewesen; da jegliche, in solchen Fällen üblidie Hinweise im Titel des Programms von 1669 wie des Drucks von 1680 fehlen, kann beides sogar ausgeschlossen werden. Somit besteht auch kein Anlaß mehr zu der Vermutung, das Stück sei, weil zunächst nicht im Druck erschienen, Ende 1666 wenigstens aufgeführt worden. Das Trauerspiel erlebte vielmehr seine erste - nach unserer Kenntnis auch einzige - Aufführungsfolge im Mai des Jahres 1669, und es besteht kein Grund zu der Annahme, daß es sehr lange vor dieser Aufführung vollendet worden ist. Es hatte zu diesem Zeitpunkt mit großer Sicherheit schon die Textgestalt gefunden, die durch den Druck von 1680 überliefert ist. Das nadi allgemeinem Urteil gelungenste, auch kritischen Maßstäben standhaltende Drama Lohensteins gehört nicht »dem reiffenden Herbste« 91 , den späten zoiger Jahren an, sondern ist gegen Mitte jenes Zeitraums entstanden, der zwischen der Vollendung der Römischen Trauerspiele (1665) und des Schauspiels Ibrahim Sultan (1673) liegt. Als Grund f ü r die späte Drucklegung läßt sich allenfalls nodi vermuten, daß Lohenstein von vornherein an eine Doppelpublikation dachte, wie er sie im Falle der Agrippina und Epicharis bereits praktiziert hatte, daß es ihm für diesen Zweck aber als notwendig erschien, die vorliegende Fassung der Cleopatra zunächst einmal auf das künstlerische Niveau der Sophonisbe und den in ihr gewonnenen Reflexionsstand zu bringen. Die f ü r die Textgeschidite der Sophonisbe immer wieder behauptete Parallelität und Analogie zu derjenigen der Cleopatra erwiese sich so als umgekehrt einseitiges Verhältnis, als Angleidiung der Cleopatr«-Urfassung von 1661 an den bereits acht Jahre später mit der Sophonisbe erreiditen Standard.

»i Vgl. Verhofstadt, a.a.O., S. 147

Aufgaben der Vermittlung von Literatur und Sozialgeschichte am Beispiel Lessings V o n BERND PESCHKEN, B e r l i n

i. Zur Methode Von verschiedenen Standpunkten her ist begründet worden, warum Sozialgeschichte und Literatur aufeinander zu beziehen seien. Die Absicht von Gervinus, Literatur aus dem Bezug zur Politik darzustellen, war der erste bedeutende und konsequente Versuch dieser Art in der deutschen Literaturgeschichte1. Seit 1967 ist in Westdeutschland das Bedürfnis nach politischer Literaturgeschichtsschreibung in mehreren methodischen Ansätzen artikuliert worden, für die zwei Publikationen stehen mögen2. Daneben ist der Ansatz Robert Weimanns zu nennen8. Diese Positionen verstehen Literatur innerhalb des geschichtlichen Gesamtprozesses. Was das heißt, wird deutlicher, wenn man die Kritik z. B. Wedekinds an Iser ins Auge faßt. Iser4 geht vom Text aus; er verbindet damit die Absicht, den Literaturunterricht zu »entideologisieren«, da durch Analyse von Texten kritisches Verstehen und Beurteilen geübt und so die Literatur von der Auffassung, sie sei Ausdruck des Nationalcharakters, wie dies namentlich nach dem 1. Weltkrieg formuliert wurde, befreit werde. Wedekind hält dem entgegen, daß das Instrumentarium Isers so weit vom geschichtlich-politischen Zusammenhang abstrahiert, in dem Literatur entsteht und wirkt, daß dem Rezipienten nichts bleibe, als sein politisches Interesse zu 1

2

s

4

Georg Gottfried Gervinus: Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen, Heidelberg 1836 ff.; vgl. B. Peschken: Gervinus und Danzel als Vertreter entgegengesetzter Richtungen der Literaturauslegung, in: Monatshefte, 62 ( 1 9 7 1 ) , S. 209 bis 2 1 9 ; Karl-Heinz Götze: Literaturgeschichte als Medium bürgerlicher P o l i t i k - D i e Literaturgeschichte von G. G. Gervinus, in: Literaturwissenschaften und Sozialwissenschaften 2, Germanistik und Deutsche Nation 1806-1848, Zur Konstitution bürgerlichen Bewußtseins, hrsg. v . Jörg-Jochen Müller, Stuttgart 1974, S. 2 1 2 - 2 2 6 Materialistische Wissenschaft 1, Berlin 1 9 7 1 ; Claus-Peter Wedekind: Aktuelle Beziehungen zwischen Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik, in: Literatur der bürgerlichen Emanzipation im 18. Jahrhundert, ed. G . Mattenklott, K . R. Scherpe, Kronberg 1973, S. 1 3 8 - 1 6 7 Robert Weimann: Gegenwart und Vergangenheit in der Literaturgeschichte, in: R . W . , Literaturgeschichte und Mythologie, Berlin (Ost) 1972. Wolf gang Iser: Überlegungen zu einem literaturwissenschaftlichen Studienmodell, in: Ansichten einer künftigen Germanistik, München 1970, S. 1 8 3 - 2 0 7

Literatur und Sozialgesdiichte am Beispiel Lessings verdrängen. Es entstünde also erneut ein Instrumentarium zugunsten der TextPhilologie als »kritikloser Rezeption« (R. Weimann). Zur »rezeptionslosen Kritik« kann dagegen die methodische Gegenposition führen, wie sie in der »Materialistischen Wissenschaft« skizziert ist. Wedekind -will einen dritten Weg gehen. Er soll die Rekonstruktion der Vergangenheit mit der Aufgabe verbinden, die eigene gesellschaftliche Lage zu verändern. Die geschichtliche Erkenntnis wird dabei zutreffend als aus zwei Richtungen resultierend verstanden: aus der Erkenntnis der Vergangenheit als solcher und dem Erkenntnisinteresse des Interpretierenden. Letzteres wird von gesellschaftspolitischen Zielen nicht unberührt sein. Die Frage aber, wie diese in der Diskussion des Historismus längst erkannte Dialektik des geschichtlichen Denkens (deren sich Wedekind aus Robert Weimann versichern zu müssen meint), für die Interpretation fruchtbar gemacht werden kann, bleibt unbeantwortet. Reicht es, Inhalte literarischer Texte auszuwerten? Dieses Problem läßt Iser Gewicht auf den »Text« legen, um das Form-Inhalt-Problem nicht zu verschütten. Denn Isers Formulierung, daß »die Literatur nicht« identisch ist mit dem »historischen Substrat«, bleibt bedenkenswert, wenn man die eigentliche Aussage des Satzes hört: daß nämlich Literatur ein Kunstprodukt eigengesetzlichen Charakters ist. Man wird ein Kunstprodukt eher vom Text als von der Geschichte her verstehen können. Das eigentliche Problem ist also nicht hier zureichendes, dort unzureichendes Verständnis von geschichtlicher Erkenntnis, wie Wedekind meint. Will man Sozialgesdiichte und Literatur aufeinander beziehen, muß man vielmehr zugleich der Geschichte wie der Literatur gerecht werden. Betrachtet man »Literatur als Sozialgesdiichte«, entsteht die Gefahr, der Literatur nicht gerecht zu werden, weil dabei Sozialgesdiichte die Literatur bestimmt. Umgekehrt wird dabei — wie die Erfahrung lehrt — geschichtliche Erkenntnis als solche zu kurz kommen: sie wird dann in der Regel wie literarische, z. B. ohne ausreichende Quellenkritik, ohne epochenspezifisdie Maßstäbe und von ungesdiichtlidien Voraussetzungen aus, denen absoluter Geltungsanspruch eingeräumt wird, betrieben. Das heißt, die Gefahren dieser Methode bestehen darin, weder Literatur noch Sozialgesdiichte mit den ihnen eigenen Methoden zu erforsdien. Die vermeintlidi sozialgeschichtlichen Gesichtspunkte, die die Auswertung der Literatur bestimmen, werden mit quasi literaturwissenschaftlichen, d. h. der Geschichtsforschung inadaequaten Mitteln erstellt, z. B. durch Konstruktion eines Interpretationsmodells ohne Rückgang auf die Quellen und die vielfachen geschichtlichen Kräfte einer Epoche. Und die Literatur wird mit Mitteln, die sie nur teilweise erfassen können, nämlidi vermeintlidi »geschichtlichen«, befragt. Literatur und Geschichte gerecht zu werden, kann dagegen möglicherweise durdi gegenseitige Vermittlung beider Gegenstandsbereiche ermöglicht werden. Sie würde von den jeweiligen Gegenstandsbereichen Literatur und Geschichte ausgehen, sie mit ihr eigenen Methoden erkennen, um die Ergebnisse auf den

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jeweils anderen Gegenstandsbereich zu beziehen. Das heißt, die Methode der Literaturauslegung, orientiert an der Textphilologie, sowie die geschichtliche Interpretation sind als eigenständig aufeinander zu beziehen. Das bedeutet, die Vermittlung wird interdisziplinär zu leisten sein. Ein Unterschied zwischen geschichtlichem und literarischem Gegenstand besteht zunächst darin, daß sich die Geschichte uns in Erkenntniszusammenhängen darstellt, für die es Verifikationsmöglidikeiten gibt, wenn man auf die zwar durch Erkenntnisvorgänge gefilterten, jedoch darin Selbständigkeit behaltenden Quellen zurückgeht. Literarische Werke dagegen sind ästhetisch-fiktionale Gegenstände mit Eigengesetzlichkeit. Beide Gegenstände sind also charakteristisch verschieden aufgebaut. Beachtet man diesen Unterschied, kann man einige interpretatorische Fehlhaltungen bei Namen zu nennen suchen. Die Vorstellung, literarische Werke könnten als solche hinreichend ausgewertet und erfaßt werden, wenn man ihre iiktionalen Gegebenheiten auf die erkannte Geschichte bezöge, um inhaltliche Entsprechungen bzw. Unterschiede zu konstatieren, löst offensichtlich das Vermittlungsproblem von Sozialgeschichte und Literatur nicht, sondern negiert es, indem es die Strukturunterschiede von Geschichte und Literatur unbeachtet läßt. Dies ist namentlich dann der Fall, wenn unter der Herstellung von Beziehungen verstanden wird, Literatur als Quelle zu analysieren, d. h. Einzelzüge des Werkes aus seinem ganzheitlichen, fiktional konstituierten Zusammenhang herauszulösen und unabhängig von der im Werk niedergelegten Intention seines Verfassers zu betrachten, und dabei doch als Beleg für dessen Auffassungen zu verwenden. Hier würde Literatur nicht als Literatur analysiert. Geht man den umgekehrten Weg und stellt Literatur in einen gesellschaftlichen Zusammenhang, indem man sie unter dem Aspekt sieht, daß sie Bewußtseinsvorgänge belegt, die verdinglichender Natur sind und im Rahmen kulturindustrieller Allgemeinbedingungen Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse sind6, so wird man der Geschichte nicht gerecht, insofern sie sich über die Feststellung von Allgemeinbedingungen hinaus epochal und darin sozial, ökonomisch und literarhistorisch differenzierter erkennen läßt. Insofern vulgärmaterialistische Ansätze darauf verzichten, die Gesamtheit der gesellschaftlichen Bedingtheiten eines Werkes zu erforschen6, nehmen sie geschichtliche Pauschalierungen vor. Zum Beispiel geschieht dies, wenn sie von der Voraussetzung aus, das Sein präge das Bewußtsein, kapitalistische Arbeitsverhältnisse ohne Ansehen der historischen Funktion des Kapitalismus in der jeweiligen Epoche als Ausdruck falschen Bewußtseins ansehen und es in der Literatur etwa als Mystifikation wiedererkennen7. Andere Pauschalen der Art sind der Kampf gegen Gewaltverhältnisse überhaupt8 sowie die methodische s 8 7

Theodor W. Adorno: Résumé über Kulturindustrie [1963], in: T. W. A., Ohne Leitbild, Parva Aesthetica, Frankfurt 1970. S. 67, 69 vgl. auch Wedekind, S. 157 Materialistische Wissenschaft 1, Berlin 1971, S. 93-99

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Verkürzung, den von der Literatur ausgehenden Impulsen unmittelbaren Geltungsanspruch einzuräumen. Einer Verkürzung der historischen Erkenntnis dürfte sich auch das »Anamnese-Modell« der Literaturgeschichte als Sozialgeschichte verdanken. Dieses Modell gründet auf der Absicht, tradierte Bewußtseinsformen und -inhalte zu dem Zweck aufzuarbeiten, daß Elemente des eigenen bürgerlichen Bewußtseins als Hemmung, als Verstellung einer angemessenen Bewältigung der Gegenwart wahrnehmbar werden 9 . Soll das mehr heißen als die selbstverständliche wissenschaftliche Bereitschaft, geschichtlich Tradiertes zu kritisieren, nämlich das Verdikt historischer Erledigung des sogenannten »bürgerlichen Bewußtseins«, so wäre diese Voraussetzung in einem historisch verkürzten Urteil gegründet, dessen Fraglichkeit so lange unwiderlegt erscheint, als nirgendwo mehr Menschen so freiwillig — bei realer Möglichkeit, Alternativen wahrzunehmen — als in Gesellschaftsordnungen leben, die sich dem »bürgerlichen« Bewußtsein verpflichtet meinen. Unterläßt man die Realanalyse, wird ein derartiges factum brutum leicht übersehen. Will man Geschichtserkenntnis als eigenständige mit der Literaturerkenntnis vermitteln, wird dies einerseits geschehen müssen unter Wahrung der epochenspezifisch vorgehenden, zugleich Gegebenheiten und ihre Theorie aus der Epoche herausarbeitenden Methode geschichtlicher Erkenntnis. Andererseits sind die Einzelzüge des literarischen Werkes in seinem intentionalen, ganzheitlichen Zusammenhang zu würdigen. Das bedeutet, Strukturen des geschichtlichen Zusammenhanges, innerhalb dessen das Werk entstanden ist, sind auszumachen. Strukturzüge des literarischen Werkes wären mit diesen in Beziehung zu setzen. Dabei ist der Gefahr zu begegnen, das geschichtliche Erkenntnisinteresse zu einem antiquarischen degenerieren zu lassen. Die Situation des Erkennenden wird sich von dem von ihr bestimmten Erkenntnisinteresse vielmehr bei der Konstitution der Strukturähnlichkeit insofern geltend machen, als sie zu der Frage führt, in welcher Weise falsches Bewußtsein in dem aufgeführten Strukturzusammenhang identifizierbar ist. Die Frage nach dem falschen Bewußtsein ergibt sich aus dem Grundinteresse des Erkennenden auf Herstellung von menschlichen und glücklichen Lebensbedingungen für sich und die meisten. Mit ihm ist die fachspezifische Erkenntnis des Gegenstandes zu vermitteln. Gewöhnlich wird der Maßstab zur Identifizierung des falschen Bewußtseins aus der Bestimmung von Fortschrittlichkeit entnommen. Dies ist problematisch, wenn von dem Dogma einer das Ende des geschichtlichen Prozesses bestimmenden Voreinstellung ausgegangen wird, die ein partikulares Interesse im Geschichtsablauf von vornherein als berechtigt annimmt und dann in der petitio principii bestimmt, was fortschrittlich sei. Derartiges Vorgehen läßt die Möglichkeiten geschichtlicher Erkenntnis zugunsten der Prophetie unbeachtet. Wenn

« vgl. Wedekind, S. 158 • Wedekind, S. 164, 65, unter Berufung auf G . Mattenklott.

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man die Gegebenheiten wie ihre Theorie aus der Epoche herausarbeitet, kann ein vom Erkenntnisinteresse und der Epoche geprägter Maßstab für die Identifizierung von falschem Bewußtsein gefunden werden. Sind ökonomische, soziale und politische Gegebenheiten der Epoche erhoben worden, braucht Fortschrittlichkeit nicht mehr abstrakt, im Wege der Prophétie, sondern kann sie konkret bestimmt werden. Die in jeder Epoche relativ fortschrittliche Richtung kann jedoch erst sichtbar gemacht werden, wenn die Nationalgeschichtsschreibung durch Herausarbeitung der verschiedenen Parteienstandpunkte in einer Epoche ersetzt ist. In den Zeiten, in denen entwickelte Ausdrucksformen verschiedener politischer Strömungen sich noch nicht parteimäßig finden, kann unmittelbar auf die zugrunde liegenden sozialen Schichten und ihre Mentalität zurückgegangen werden, wie dies Theodor Geiger in den dreißiger Jahren bereits getan hat. Im Verlauf der bisherigen Arbeit hat sidi die Schichtenunterscheidung in Arbeiterschaft, Kleinbürgertum, selbständiges (z. B. industrielles) und unselbständiges (z. B. akademisch gebildetes) Bürgertum, Großbürgertum und Adel als aufschlußreich für die Epoche 1 7 4 0 — 1 9 3 3 erwiesen. Gemäß diesen Schichten wird die Frage nach der fortschrittlichen Tendenz der Epoche gestellt werden müssen. Dabei ist zu beachten, daß die Schichteneinteilung von der verwirklichten bürgerlichen Gesellschaft ausgeht, die soziologisch auf tendenzieller Gleichheit und wirtschaftlich auf der Selbstbestimmungsfähigkeit des einzelnen nach Herstellung des Begriffs Privateigentum beruht. Im ersten Teil des genannten Zeitraums sind die diesen Grundsätzen verpflichteten Formen der Gesellschaft erst in der Entwicklung; die Schichteneinteilung ist daher entsprechend dem Entwicklungsstand der je betrachteten Epoche zu modifizieren. H a t man die Schichten idealtypisch konstituiert — Hauptmerkmal wird dabei die berufliche Tätigkeit sein —, kann man in einem weiteren Schritt die wirtschaftlichen Interessen der jeweiligen Schicht erkennbar machen und sie in ihrer spezifischen Mentalität zu skizzieren sudien. Die Mentalität wird sich zusammensetzen aus praktischen Regelungen des beruflichen Bereichs, niedergelegt z. B. in Handwerksordnungen oder agrarwirtschaftlichen Vorstellungen und bis in klassenspezifisch religiöse, allgemeinste Ordnungsvorstellungen hineinwirken; damit wird Mentalität Ideologie. Es ist jedoch die Frage, ob Fortschrittlichkeit aufgrund von ideologischen Positionen allein als gegeben angesehen werden kann. Wäre dem so, könnten radikale Gebärden für politisch am wirkungsvollsten bzw. zukunftsträditigsten gehalten werden 10 . Die politische Wirkungsmöglichkeit wird vielmehr erst in einer Realanalyse zu erschließen sein, die die verschiedenen Ideologien in ihrer w

»Materialistische« Wissenschaft tendiert dazu, von solchen Voraussetzungen auszugehen, indem sie, ohne die Erfordernisse der Realanalyse zu akzeptieren, durch geschichtliche Spekulation immer schon die fortschrittlichen Produktivkräfte klassenmäßig identifiziert hat (Materialistische Wissenschaft, 96). Dies zeigt sich u. a. in dem Postulat vom Erfüllen der wie auch immer artikulierten Forderungen der sogen.

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Auseinandersetzung aufgrund ihres schichtenspezifischen Machtpotentials mit den herrschenden Kräften untersucht. Wenn also die Abwägung der parteimäßig von verschiedenen Standpunkten vorgebrachten Theorien untereinander eine fortschrittliche erkennbar werden läßt, muß die Frage gestellt werden, welche Fortschrittstendenz welche Aussicht auf Erfolg hat. Dazu ist Abwägung der Kräfteverhältnisse innerhalb der ökonomischen, sozialen und politischen Gegebenheiten nötig. Erst diese Arbeit ermöglicht es, fortschrittliche Tendenzen festzustellen, die als Maßstab f ü r die Identifizierung eventuell falschen Bewußtseins in den literarischen Werken dienen können.

2. Zur Sozialgeschichte Der erste Teil des Geschäftes, Literatur und Sozialgeschichte am Beispiel Lessings miteinander zu vermitteln, gilt sozialgeschichtlichen Erhebungen, will man nicht in ungeschichtliche Feststellungen verfallen und die ideologischen Positionen ohne Rekurs auf die geschichtliche Wirklichkeit aufarbeiten, um sie lediglich in sieb zu kritisieren 11 . Dabei ist unter sozialgeschichtlichen Erhebungen zu verstehen, daß man ein Bild von der wirtschaftlichen Entwicklung der Epoche und ihren sozialen Folgen bzw. Möglichkeiten zu erstellen sucht, mit dem Blick auf die Kernfrage, welche Schicht welche fortschrittlichen Vorstellungen mit welcher Aussicht auf Erfolg entwickelt. In diesem Zusammenhang würden die Leistungen eines Schriftstellers zu beurteilen sein. 2.1

Dies Unterfangen ist wegen des desolaten Forschungsstandes in der Sozialgeschichte vordringlich. Die für unsere Fragestellung erhebliche sozialgeschichtliche Darstellung ist zunächst zu erarbeiten. Sie nimmt daher in diesem Aufsatz breiten Raum ein. Sie ist aus interdisziplinärer Arbeit am Fachbereich Germanistik der Freien Universität hervorgegangen 12 . Die Skizze einer Darstellung

11

12

»Volksmassen« (H. Domdey, Zur Kritik Hannelore Sdilaffers an zwei Arbeiten über Wieland und Voltaire, in: Literatur der bürgerlichen Emanzipation im 18. Jh., 1973, S. 208, 214, 215; vgl. H. Schlaffer, die auf die Folgen dieser Vorstellung für die Interpretation der Literatur als Sozialgeschichte hinweist: Schlaffer, in: Literatur der bürgerlichen Emanzipation, 1973, S. 198, 201 Dies das Vorgehen des Bandes »Literatur der bürgerlichen Emanzipation im 18. Jahrhundert«, 1973 sowie Hans J. Haferkorns: Zur Entstehung der bürgerlich-literarischen Intelligenz und des Schrifstellers in Deutschland zwischen 1750 und 1800, in: Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaften 3, Deutsches Bürgertum und literarische Intelligenz 17J0-1800, Stuttgart 1974. Ich danke hier den Herren Prof. Dr. Dieter Hertz-Eichenrode, Zentralinstitut für sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität, Priv.-Doz. Dr. Michael Erbe, Fachbereich Geschichtswissenschaften der FU und Assistent Dr. Claus-Dieter Krohn, Fachbereich Germanistik der FU sowie den Mitgliedern meiner Seminare für Zusammenarbeit, Anregungen und Kritik. Für die Mängel meiner Darstellung bin ich allein verantwortlich.

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trifft auf mannigfaltige Schwierigkeiten. Vorarbeiten, auf die man sich stützen könnte, sind im für unser Geschäft dienlichen Sinn nicht unmittelbar vorhanden. Dient in Motteks Wirtschaftsgeschichte13 das sozialpolitische Interesse der Orientierung des Stoffes über das Maß Kulischers hinaus 14 , so baut er sein Werk so ausschließlich auf den Vorstellungskatalog eines kaum noch dialektisch strukturierten Marxismus-Verständnisses auf, daß darüber die Fragen, wie im dargestellten Zeitraum verschiedene Richtungen der Wirtschafts- und Sozialpolitik oder solcher Bestrebungen die Verhältnisse beeinflussen oder die Frage der Wechselwirkung von Ideologie und Wirklichkeit nicht gestellt noch beantwortet werden können; das Werk stellt weithin die Geschichte als Verifikation eines wirtschaftsgeschichtlichen Konzepts von 1850—1880 dar. Damit werden wichtige Fragen des 18. Jahrhunderts nicht gestellt. So fehlt die Beachtung der kapitalistischen Theorien des 18. Jahrhunderts, es fehlt die Analyse der sozialen Funktion von z. B. protestantischen Sekten; es fehlt die schichtenspezifische Analyse von Mentalitäten und Ideologien. Die Behandlung ideologischer Strukturen kann es jedoch ermöglichen, Strukturzusammenhänge zwischen literarischen Produkten, ihren Produzenten und der Realgeschichte herzustellen. Insofern erleichtert das Werk Motteks trotz seiner sozialen Orientierung das Verständnis der Sozialgeschichte nur mittelbar. — Auf Ständewesen und Staatsverwaltung konzentrierte Darstellungen 15 lassen den Zusammenhang mit schichtenspezifischen Fragen vermissen, wenngleich sie für derartige Fragestellungen auswertbar sind. — Darstellungen der Ideologien der Epoche wie von Valjavec 16 und Epstein 17 suchen zwar, eine nach Richtungen unterschiedene Differenzierung von Standpunkten zu geben, stellen ihre Ergebnisse aber nicht in Beziehung zur wirtschaftlichen und sozialen Situation. Will man die Leistung z. B. Lessings für die Entwicklung bürgerlichen Emanzipationsbewußtseins ermessen, wird man »Bürgertum« differenziert nach den einzelnen regionalen Bedingungen sehen müssen, denen es unterlegen hat. Das Frankfurter Bürgertum unterscheidet sich in seiner politischen Stellung vom Hamburger, insofern es in Hamburg weniger mit Reichsinstitutionen verwachsen ist. Das Leipziger Bürgertum unterscheidet sich von dem Berliner wie eine alte Handels- und Messestadt von einer absolutistischen Residenzstadt. Dazu ist das Augenmerk auf den unterschiedlichen Entwicklungsgrad des Bürger13

14

15

M

17

Hans Mottek: Wirtschaftsgeschichte Deutschlands, ein Grundriß, von den Anfängen bis zur Zeit der Französischen Revolution, 5. Aufl. Berlin (Ost) 1972. Josef Kulischer: Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit, 1., Die Neuzeit, München/Berlin 1929. z. B. Rudolf Vierhaus: Ständewesen und Staatsverwaltung in Deutschland im späteren 18. Jahrhundert, in: Dauer im Wechsel der Geschichte, Festschrift Kurt v. Raumer, ed. R. Vierhaus, Münster 1966, S. 335-60 Fritz Valjavec: Die Entwicklung der politischen Strömungen in Deutschland 1770 bis 181 j, München 1951. Klaus Epstein: Die Ursprünge des Konservativismus in Deutschland, Frankfurt/Berlin

'973-

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271

tums in den einzelnen deutschen Territorien zu richten. Was eine so differenzierte Fragestellung ergibt, muß dann im europäischen Kontext gesehen werden. Ferner ist die Frage zu stellen: Welche Emanzipationsabsichten und -leistungen sind von den Mittelschichten in England, Frankreich, Deutschland zu erwarten? Hierzu leistet die sozialgeschichtliche, meist auf den deutschen Raum beschränkte Literatur nichts über Angabe von Rahmenbedingungen Hinausgehendes; die literarwissenschaftliche Sekundärliteratur nur sporadisch mehr. Die neueste Forschung dagegen zeigt Vorliebe für Übernahme von Kategorien zur Beurteilung von Fortschrittlichkeit, die lediglich dem Zeitraum I8JO—1880 entsprechen — falls sie dies tun —, nicht aber epochenspezifisch sind. Die Kernfrage also, wie das deutsche Bürgertum, insofern Lessing es repräsentiert, sich durch Lessing unter anderem sein Sprachrohr schuf und wie fortschrittlich diese Position zu sein sich erlauben konnte, ist zu beantworten aus einem Vergleich mit den Leistungen des englischen und französischen Bürgertums einerseits, andererseits aber auch aus dem weitergehenden Versuch, die Schichten des Bürgertums zu differenzieren und das politische Kräftespiel zwischen den einzelnen Gruppen erkennbar zu machen, um abzuschätzen, welche politische Bewegungsmöglichkeit die durch Lessing repräsentierte Fraktion des Bürgertums haben konnte. Als literargeschichtliche Aufgabe ergibt sich daraus, verschiedene Schreiber des 18. Jahrhunderts sowie ihre Produkte den Schichten spezifisch zuzuordnen, die konstituiert werden können. 2.2 Gehen wir vom europäischen Kontext aus, so ist es das englische Bürgertum, das die Emanzipation in Europa im 17. Jahrhundert zuerst auf spektakuläre Weise realisiert, indem es eine Mitregierung durch die Institution des Parlaments unumgänglich macht, ja den König zu seinem besoldeten Angestellten umfunktioniert. Die in England im 17. Jahrhundert wirklich errungenen Rechte sind für die Ideologen, die die Französische Revolution im 18. Jahrhundert vorbereitet haben, wie Voltaire, Montesquieu und Rousseau, vorbildlich gewesen. Es empfiehlt sich also, mit der Entwicklung des englischen Bürgertums zu beginnen. 2.2.1 Die Auseinandersetzung zugunsten der Durchsetzung bürgerlich emanzipatorischer Absichten fand zwischen dem Königtum einerseits und dem Bürgertum andererseits statt. Will man die Frage beantworten, welche Fraktion des Bürgertums in England die treibende K r a f t war, so wird man differenzieren müssen zwischen mehreren Schichten und bei der ökonomischen Lage ansetzen. Das englische Königtum hatte bei seinem Versuch, die absolute Macht zu erringen, ein wesentliches Handicap: in der Heinricianischen Reform im 16. Jahrhundert war zwar das Klöstervermögen zugunsten der Krone konfisziert worden, aber in den kriegerischen Auseinandersetzungen mit Frankreich sowohl an den Adel wie an das Bürgertum, u. a. zum Zweck des Schiffsbaus,

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also einer höchsten A u f w a n d erfordernden Aufgabe, wieder ausgegeben worden. In der Elisabethanischen Epoche stößt die Krone den verbliebenen Teil des kirchlichen Besitzes zum gleichen Zweck ab, so daß ein erheblicher Teil des Landbesitzes seinen W e g auf den M a r k t findet und damit das kapitalistische Wirtschaftssystem, die Vermarktung der Güter, entscheidend fördert — ein Prozeß, der in Preußen z. B. v o r dem 20. Jahrhundert durchgreifend nicht hat realisiert werden können. Ein englischer Peer kann daher von den C o m mons bereits im Jahre 1628 sagen, daß sie das Oberhaus, die Vertretungskörperschaft v o n A d e l

und Geistlichkeit,

dreimal

auskaufen könnten.

Die

königlichen Einkünfte aus dem Land sinken auf z w e i Drittel der Einkünfte v o r 1600 im Zeitabschnitt bis 1640; 1639 muß der K ö n i g z. B. eine Anleihe von 6 j o 000 P f u n d Sterling bei Londoner Kaufleuten aufnehmen, da nach den Elisabethanischen Landverkäufen der verbliebene königliche Agrarbesitz Sicherheit f ü r Anleihen bleiben muß. D a z u kommt die Tendenz zunehmender K a p i talakkumulation in der H a n d der Bürger durch deren Teilnahme am Welthandel. A l s Ergebnis dieser Entwicklung und des Handels findet eine V e r mögensumschichtung in England statt, die das Schwergewicht v o m A d e l und dem Königtum allmählich zum Bürgertum hin orientiert. U m 1640 findet man daher die Mehrheit 1 8 der Begüterten in den Städten, insbesondere in London, von w o aus sie zu Landkäufen kommen. Die sozialen Folgen sind außerordentlich: die Lokalverwaltung, formal in der H a n d der gentry, der auch weiter das Verwaltung, Justiz und Armenpflege bündelnde Friedensrichteramt zugestanden bleibt, gerät faktisch unter den Einfluß des in London konzentrierten Bürgertums, indem die z w e i ausgabenintensivsten Bereiche der öffentlichen H a n d auf dem Land, Schulen und Armenpflege, durch private Spendentätigkeit faktisch dem Friedensrichter und Sheriff entwunden werden und weitgehend

unter

bürgerlichen Einfluß geraten. Bis 1660 sind so dem »poor relief« niemals mehr als 7 % der aufgewendeten Mittel von »staatlicher« Seite zugeflossen. Entsprechend nimmt die Z a h l bürgerlicher Abgeordneter im Unterhaus seit den 30er Jahren z u ; in Stichwahlen werden, w i e in Great M a r l o w , einflußreiche Bürger den aufgestellten gentlemen aus der gentry vorgezogen. Infolgedessen zerbröckelt das Herrschaftssystem der feudal-hierarchisch geordneten Ständegesellschaft absolutistischer Entwicklungsrichtung. W e r G e l d hat, nimmt f ü r sich in Anspruch, frei geboren zu sein; er w e i ß diesen Anspruch zu realisieren. D a m i t wird das Geburtsrecht, als die Grundlage des feudal-aristokratischen Ordnungsprinzips, ausgehöhlt und die Gleichheit als bürgerliches Prinzip der Sozialverhältnisse wirksam; es beruht auf kapitalistischer Wirtschaftsweise. Hieraus ergibt sich die bürgerliche, rechtliche Festschreibung der v o m Parlament gegenüber der K r o n e und der Feudalität behaupteten Bedeutung der Freiheit des Eigentums und der Person. Das Parlament stellt gegenüber James I. 1604 fest: »Our privileges and liberties are our true right and due inheritance no less

Christopher Hill: The Century of Revolution 1603-1714, Edinburgh 1963.

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than our lands and goods.« Und Edmund Waller wiederholt dies im Short Parliament: »The fundamental and vital liberties« are »the property of our goods and the freedom of our persons«. Gegenüber den Levellers muß die bürgerliche Bewegung diese Prinzipien verteidigen, nachdem sie sie gegenüber dem Königtum erfochten hat. Als verfassungspolitisches Ergebnis wird die Berufung des Parlaments vom königlichen Willen weitgehend unabhängig (Triannial Act) sowie der König gehindert, unabhängig vom Parlament Steuern zu erheben (z. B. Ship Money, Tunnage und Poundage); das königliche Hofgericht, die Star Chamber, als das justiziäre Instrument königlichen Willens, abgeschafft. Schon vorher war die bürgerliche Verhältnisse grundlegende »petition of rights« durchgesetzt worden, die die willkürliche Gefangensetzung unmöglich machen sollte. Die Erweiterung der Rechte kam zunächst der gentry, dem Bürgertum sowie den freeholders auf dem Land zugute; sie kam nicht zugute den sogenannten copyholders auf dem Land; diese verlieren ihren Status, um, wenn vertrieben, die bürgerliche Reservearmee in den Städten, aber freilich auch das durch die bürgerliche Freiheit entstehende städtische Proletariat zu stärken. 2.2.2

Will man nun die Schichten in ihrer politischen Haltung differenzieren, so kann man nach Hill etwa feststellen, daß in der Auseinandersetzung zwischen Königtum und Bürgertum auf der Seite der Königspartei der Großgrundadel, die Peers und deren Unfreie standen sowie die nördlichen und westlichen Teile Englands. Dagegen machten die wirtschaftlich fortgeschrittenen östlichen und südlichen Teile des Landes, die Küstenstädte, London, hier namentlich die Handelsbürger sowie die freeholders auf dem Land, die Parlamentspartei aus. Jedoch gibt es auch unter den Handelsbürgern Leute, die sich der königlichen Partei zurechneten. Wir wissen, daß unter den Londoner Kaufleuten, die im Parlament saßen, zwölf Monopolisten aus der Parlamentsfraktion ausgestoßen wurden, so daß von den neunzehn verbleibenden Londoner Kaufleuten achtzehn Mitglieder der Parlamentsfraktion waren 19 . Somit ist davon auszugehen, daß ein nicht unerheblicher Teil der Kaufleute ihre Interessen zunächst beim König vertreten sah. Vermutlich galt dies für Kaufleute, die in den königlichen Handelskompanien des obrigkeitlichen Macht- und Rechtsschutzes in Übersee nicht entraten wollten. Diese Kaufleute machten den patrizischen Teil der Bürgerschaft aus, die von der Erweiterung der persönlichen Rechte des einzelnen für sich keine unmittelbaren Vorteile erwarten konnten. Ich fasse Überblickshaft zusammen: In dem Sozialprofil fortschrittlicher und weniger fortschrittlicher bürgerlicher Schichten stellt das mittlere Bürgertum sowie die freeholders auf dem Land die Schicht, die die gesellschaftspolitisch realisierbaren Neuansätze aufstellt, unterstützt und mittels Anwendung kapitalistischer, d. h. mit der Tendenz auf Gleichheit Hand in Hand gehender 19

Christopher Hill: Puritanism and Revolution, 2. Aufl. 1968, S. 24

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Wirtschaftsprinzipien ökonomisch begründet und schließlich politisch durchsetzt. Die ländliche Unterschicht der copyholders blieb dagegen in der Hauptsache unbewußtes Instrument politischer Lenkung durch die der königlichen Partei zuzurechnenden Großgrundeigner adliger Provenienz. Die Auseinandersetzung zwischen mittlerem Bürgertum und der Adelspartei erfolgte unter der Anmeldung radikaler Bestrebungen der leveller. Sie suchen absolute Gleichheit herzustellen. Wegen ihres extremen Standpunkts tragen sie zur Militärdiktatur Cromwells bei, werden schließlich aber von ihr entmachtet. Teile der yeomanry werden hier integriert gewesen sein; jedoch stellt die yeomanry nach Hill nur einen verschwindenden Prozentsatz dar (i % ) . In die Schicht, die den Fortschritt mit Aussicht auf Erfolg trägt, werden Teile der copyholders und große Teile der handwerklich orientierten, zum Handel übergehenden bürgerlichen Mittelschicht der Städte teils von Anfang an integriert, teils im Verlauf der Auseinandersetzung.

Sehen wir richtig, so ist es die englische »Mittelklasse«, die als Träger des gesellschaftlichen Fortschritts mit Aussicht auf Erfolg anzusehen ist. Die Ideologie dieser fortschrittlichen Schicht nun kann, obgleich vom Standpunkt der späteren Entwicklung her, am deutlichsten umrissen werden, wenn man auf Adam Smith zurückgeht. Dies bietet den Vorteil, die Maßgeblichkeit der Ideologie der mittleren Schicht des englischen Bürgertums auch für das 18. Jahrhundert verdeutlichen zu können20. Wir verfahren hier summarisch, weil das Werk bei seiner ungewöhnlichen Popularität im 18. Jahrhundert (einschließlich Deutschlands) als bekannt vorausgesetzt werden kann. Smith geht von der Arbeit als dem grundlegenden Faktor menschlicher Gemeinschaft aus, in Auseinandersetzung mit dem Ideal des edlen Wilden. Er kommt ohne entfremdete Arbeit aus und stellt somit den utopischen Gegenpol zur Gesetzmäßigkeit der von Smith beschriebenen bürgerlichen Gesellschaft dar. Mit der Allgemeinverbindlichkeit von Arbeit setzt sich gegen die feudal-hierarchische Gliederung Gleichheit durch. Spezialisierung der Arbeit heißt Produktivitätssteigerung; da sie auf rationaler Arbeitsorganisation beruht, ist die zu ihr führende Erfindung zugleich Erweis der Mündigkeit des Menschen wie seiner Perfektibilität durch Selbsttätigkeit. Zudem macht Arbeit den Menschen zum gesellschaftlichen Wesen, insofern sie ihn, je spezialisierter sie ist, auf Mitwirkung des anderen anweist. Durch die Spezialisierung der Arbeit wird das Bedürfnis des Menschen im Sinne seiner Selbsttätigkeit gestillt; sie beruht bis zu einem gewissen Grad auf dem Eigennutz. Der eigennützige Mensch (gebunden in die Gesellschaftlichkeit der Arbeit) nährt sein Leben nicht mehr wie im feudalen System aus der persönlichen Abhängigkeit, sondern aus der Selbständigkeit. Die Freiheit der Person begründet somit die Gesellschaftlichkeit des Menschen und 20

Adam Smith: Untersuchung der Natur und Ursachen von Nationalreichthümern, aus dem Englischen, Leipzig 1776.

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begrenzt sie. Die gesellschaftlichen Bindungen werden nicht mehr aus Geburtsrechten abgeleitet, wie im feudalen System, sondern aus der Eigenständigkeit des einzelnen. E r wird gleicher Vertragspartner mit dem anderen Gleichen. Daraus verdeutlicht sich die antiobrigkeitliche Organisation der Gesellschaft. Das wirtschaftliche System, das diesem Sozialsystem entspricht, ja, es begründet, ist das des Marktes. Er vermittelt durch die abstrahierende, das heißt auf gleiche Grundverhältnisse zurückgehende Fähigkeit des Geldes die einander »gleichen« Bedürfnisse durch Warenverteilung. Das Hauptmerkmal des Marktes ist, die Bedürfnisse so weit wie möglich ohne obrigkeitliche Regelungen zu stillen. Vielmehr beruht der Markt auf der Selbstregelung durch die Partner wie auch des Preises aus Angebot und Nachfrage 21 . Die englische Mittelklasse, die als der Träger dieser von Smith her verdeutlichten Ideologie gelten kann, unterwanderte das Feudalsystem Englands bis zur völligen Umstrukturierung; sie gründete damit das Leben wirtschaftlich auf das Ideologen» Selbsttätigkeit, Selbstverantwortung und Selbständigkeit des einzelnen; sie schloß in der Herausbildung der parlamentarischen Rechte die Ausbildung der Persönlichkeitsrechte als Krönung der wirtschaftlichen und sozialen Strukturen ab, sicherte sie juristisch und verfassungspolitisch mit der »petition of rights« und schuf somit die Voraussetzungen für ihre Verwirklichung im täglichen Leben als eine in West-, namentlich aber in Mitteleuropa bis heute nicht abgeschlossene Aufgabe. 2-3 Will man sich die Situation in Deutschland vergegenwärtigen, ergeben sich folgende Fragen: Welche Strukturen im Werk Lessings spielen auf diesen vorgegebenen Rahmen fortschrittlicher Bewegung im 17. und 18. Jahrhundert an? Welche Möglichkeiten der Durchsetzung bestehen in den verschiedenen deutschen Ländern schichtenspezifisch? Gibt es eine Schicht in Deutschland, die die am Markt sich realisierende Herauslösung des Menschen aus feudalen Abhängigkeiten ökonomisch sich vorzunehmen und durchzusetzen in der Lage ist? Daß gerade die Forschungen zum 18. Jahrhundert empirisch gesicherte und soziologisdi orientierte Arbeiten weithin vermissen lassen, darf kein Grund dafür sein, derartige Fragen nicht zu stellen. Wir sind weitgehend auf Vorarbeiten angewiesen, die unter anderen Fragestellungen und von älteren Methoden her verfaßt wurden. Dabei sind Arbeiten zum »literarischen Leben« wie 81

Den Zusammenhang zwischen dem mechanischen Materialismus Hobbes' und der Herausbildung des auf Eigentum beruhenden Marktes hat Macpherson beschrieben: C . B. Macpherson: Die Theorie des Besitzindividualismus, Frankfurt 1 9 7 3 ; Leo K o f ier hat die Entwicklung des naturwissenschaftlichen Weltbildes mit der bürgerlichen Bewegung beschrieben, wobei ihm die Zusammenhänge zwischen Wirtschaftssystem und Sozialsystem jedodi weitgehend unentschlüsselt blieben: Leo Kofier, Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, 4. Aufl., Neuwied 1 9 7 1 ; kritisch: Maurice Dobb: Entwicklung des Kapitalismus vom Spätfeudalismus bis zur Gegenwart, Köln/ Berlin 1970.

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die von Witkowski 22 durchaus nützlich, auch wenn sie nicht unmittelbar auf unsere Fragen eingehen. Für Sachsen ist bezüglidi der Entwicklung des Bürgertums unter Einbeziehung seiner wirtschaftlichen Stellung im Staatsleben eine vorzügliche Arbeit neueren Datums vorhanden 23 , die auf Fragen der Wirtschaft wie der Wirtschaftsideologie eingeht. Für Preußen und die Fragen der Entwicklung einer selbständigen Kaufmannsschicht in Berlin erweisen sich als besonders aufschlußreich die Monographien von Hugo Rachel und Paul Wallich sowie von Mauer 24 . Zu den sozialen Aspekten ist Hans Rosenberg hinzuzuziehen25. Unter den unmittelbar auswertbaren Arbeiten, die vorliegen, ist die von Möller zum Kleinbürgertum im 18. Jahrhundert und seiner Ideologie zu nennen26. Die Differenzierung des Begriffs »bürgerlich«, das heißt unter anderem die Abgrenzung von Kleinbürgertum und Mittelstand, ist hier jedoch so gut wie unterblieben. Geht man wie Möller von der Hausvater-Literatur des 18. Jahrhunderts als Quelle für die Skizzierung kleinbürgerlichen Bewußtseins aus, so trifft man zugleich mindestens mittelständlerische Ideologeme, wenn nicht sogar großbürgerliche, d. h. patrizische. Dasselbe gilt vollends vom »Haus« als dem ideologisch-rechtlichen Bereich, den Möller als dem Hintergrund der »Familie« als spezifisch kleinbürgerlich bezeichnet. Möller geht nicht auf gesellschaftspolitische Tendenzen des Bürgertums ein, seine privatrechtlichen und verfassungsmäßigen Emanzipationsabsichten wie die Fragen der Wirtschaftsgesinnung und -praxis, die die Emanzipationsbewegung des Bürgertums tragen könnten, und kann daher kein Bild von den Parteiungen im 18. Jahrhundert entstehen lassen, die mit schichtenspezifischen Beschreibungen des Ist-Zustandes in Wirtschaft und Gesellschaft zusammen erst die Schichtenkonstitution und -differenzierung ermöglicht. Die bisherigen Studien zu diesen Fragen haben dazu geführt, die politischen Möglichkeiten einer potentiell die europäische Emanzipationsbewegung in Deutschland verwirklichenden Schicht als eingeschränkt zu erkennen. Von Brufords wegweisender Arbeit 27 wie von Reinhart Koselleck her28 läßt sich — und die ostdeutsche Forschung stimmt damit im Ergebnis überein29 — die 22

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Georg Witkowski: Geschichte des literarischen Lebens in Leipzig 1 7 0 0 - 1 7 4 0 , Leipzig und Berlin 1909. Horst Schlechte: Die Staatsreform in Kur-Sachsen 1 7 5 2 - 6 3 , Quellen zum kursächsisdien Ritablissiment nach dem Siebenjährigen Krieg, Berlin (Ost) 1958. Hugo Rachel, Johannes Papritz, Paul Wallich: Berliner Großkaufleute und Kapitalisten, 3 Bde., Berlin 1 9 3 3 - 3 4 sowie Hermann Mauer, Die private Kapitalanlage in Preußen während des 18. Jahrhunderts, Leipzig 1 9 2 1 . z . B . H . R . : Bureaucracy, Aristocracy and Autocracy, the Prussian Experience 1660 bis 1 8 1 5 , Harvard 1958. Helmut Möller: Die kleinbürgerlidie Familie im 18. Jahrhundert, Verhalten und Gruppenkultur, Berlin 1969. Walter Horace Bruford: Germany in the i8th Century, The Social Background of the Literary Revival, Cambridge 1965 ( 1 i 9 3 j ) . Reinhart Koselleck: Preußen zwischen Reform und Revolution, Stuttgart 1967. Joachim Streisand: Deutschland 1 7 8 9 - 1 9 1 5 , Berlin (Ost) 1973, S. 1 5 9 ; Hans Mottek: Wirtschaftsgesdiidite Deutschlands, I, Berlin (Ost) 1 9 7 2 , S. 359

Literatur und Sozialgesdiidite am Beispiel Lessings

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Bewegungsmöglichkeit einer modern, d. h. kapitalistisch gesonnenen mittelständlerischen Bürgerschidit in Deutschland nur sehr beschränkt vorstellen. Die politische Aufteilung, die wirtschaftliche Rückständigkeit Deutschlands, zum Teil wegen der außerordentlichen Schwächung, die das deutsche Volk und besonders das Bürgertum im Dreißigjährigen Krieg hinnehmen mußte und mit dem Sieg des landesfürstlichen Absolutismus in Deutschland bezahlte, sind die prima vista-Ursachen dafür. So bleibt im Gegensatz zum Emanzipationsergebnis in England die rigorose ständische Klassenteilung in Deutschland intakt, das deutsche Bürgertum politisch seiner selbst unbewußt und geschwächt durch Auseinandersetzungen zwischen seinen eigenen Schichten — patrizische gegen kleinbürgerliche, kleinbürgerliche gegen mittelständische, soweit sie zur Anwendung kapitalistischer Methoden neigen. Das »Bürgertum« kommt in Deutschland nicht zur Verwirklichung und vollen Anwendung kapitalistischer Methoden — daran ist im 18. Jahrhundert fast nicht zu denken; im 19. Jahrhundert wird es darin von intakt bleibenden obrigkeitsstaatlichen Systemen wirkungsvoll gehindert und erst in der Weimarer Republik, allerdings unter mannigfachen geschichtlichen Hypotheken, und dann in den drei westlichen Zonen des organlos gewordenen, der Einheit verlustig gegangenen Reiches werden kapitalistische Methoden prinzipiell — einschließlich der die Persönlichkeitsrechte umfassenden Folgen — angewandt. Daraus ergibt sich, daß in Deutschland nicht etwa das handels- und industrieorientierte Bürgertum zum Träger der Emanzipationsbewegung hat werden können. Seine Funktion übernahm in Deutschland im 18. Jahrhundert und im Anfang des 19. Jahrhunderts eine andere Sektion des Bürgertums, das sogenannte Beamtenbürgertum. Von theoretischen Voraussetzungen unter Einschluß der jakobinischen30 ausgehend, versuchte das Beamtenbürgertum, anfangs im Bündnis mit Teilen des Adels, auf Universitäten gebildet, die anderenorts aus wirtschaftlichen Strukturen natürlich entwickelten sozialen Forderungen in Deutschland rechtlich zu verwirklichen. Dies in all seinen Rückwirkungen auf die Emanzipationsergebnisse des Bürgertums in Deutschland für die jeweilige Epoche und die Selbstdarstellung des Bürgertums in der Literatur erkennbar zu machen, ist eine Hauptaufgabe der künftigen Arbeit, Sozialgeschichte und Literatur miteinander zu vermitteln.

3. Zur Literatur Was helfen uns diese Gesichtspunkte der Sozialgeschichte zur Interpretation Lessings? Verdeutlicht man sich die Entwicklungsabsicht der mit Aussicht auf Realisierung ihrer Ziele operierenden fortschrittlichen Schicht in einer Epoche, wird man die Fragen der künstlerischen Arbeit sowie der Reflexion auf sie in der Ästhetik und Kunsttheorie nidit nur, insofern ihnen unmittelbare sozialReinhart Koselleck: Preußen zwischen Reform und Revolution, S. 172

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geschichtliche Bedeutung zukommt, verdeutlichen. Denn über die unmittelbaren Bezüge hinaus sind dann die mittelbaren zu erfassen. Sie lassen sich deswegen erschließen, weil die interdisziplinäre Arbeit erlaubt, den politisch-ideologischen Bereich umfassender zu berücksichtigen, so daß auch mittelbare Elemente in die Vermittlung einbezogen werden können. Das heißt zugleich, der jeweils eigenständige Beitrag des künstlerischen Werkes als Medium, wie des Werkes, das sich ästhetischer Reflexion und der Kunsttheorie widmet, kann gewürdigt werden.

In einem ersten Schritt wäre den literarischen Produktionsbedingungen Aufmerksamkeit zuzuwenden. Wenn Lessing sich von dem Elternhaus wie auch von der Universität löst und Literatur institutionell ungesichert zu machen sucht, so führt dies zu der sozialgeschichtlichen Frage: Wie weit ist schon dies Leben des Literaten im Cafe, im Wirtshaus, am Spieltisch, im Theater, in literarischem Broterwerb durch Rezensionen, Kritiken und Gründung entsprechender Zeitschriften für die soziale Struktur des bürgerlichen Zeitalters aufschlußreich? Lessing lebt in einer Gesellschaft, die noch von der Freiheit des Adels bestimmt ist, die Freiheit des Bürgers vor, und zwar in der Form des Literatenlebens — ohne das ständische Privileg, nicht arbeiten zu müssen und dennoch zu repräsentieren bzw. zu herrschen, auch ohne wirtschaftliche Vorbedingungen — Grundbesitz, Amtseinkünfte, Protektion durch familiäre und standesgemäße Verbindungen. Der Vergleich mit englischen Verhältnissen, etwa der Fähigkeit Daniel Defoes, von dem Ertrag seiner Feder zu leben, wird die Beurteilung des bürgerlichen Entwicklungsstandes ermöglichen und umgekehrt gewisse berufliche Lebensentscheidungen Lessings verständlich machen können. Ein zweiter Fragenkomplex ergibt sich daraus: Welche zivilisatorischen Vorbedingungen sind für die bürgerliche Schicht in Deutschland erfüllt, ihre fortschrittlichen Absichten zu realisieren? Welche Konzentrationsmöglichkeiten bürgerlicher Aktivitäten gibt es in welchen größeren Städten? Kann der Ansatz einer Tendenz auf eine literarische Hauptstadt erfaßt werden? Welche staatlichen Möglichkeiten sind vorhanden, der bürgerlichen Bewegung in ihren Schriftstellern Einfluß auf die Öffentlichkeit zu verschaffen? Die Möglichkeiten des Marktes lassen Städte entstehen; durch Konzentration von rechtlich »Gleichen« wird der geistige Austausch gefördert (Problem einer »literarischen Hauptstadt«); Zentren bringen mehr Wechselseitigkeit mit sich, die sich auch auf das Verhältnis von Regierung und Regierten auswirkt (politische Gleichheit ermöglicht durch Urbanität, Problem eines politischen Zentrums, der Hauptstadt). Paul Rilla, der neben Habermas 31 am deutlichsten diese Fragen angeschnitten hat, wird in seiner Preußen- und Berlin-Vorstellung zu überprüfen sein, da für ihn diese Problematik sich allzu sehr auf den Entwicklungs31

Paul Rilla: Lessing und sein Zeitalter, Berlin (Ost) i960; Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuwied, 2. Auflage, 1965.

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stand dieser Fragen in der Epoche Mehrings verengt. Rilla, beeindruckt von Mehrings ideologiekritischer Leistung, unterscheidet nicht zwischen zivilisatorischen Institutionen und der Persönlichkeit der Hohenzollern. Habermas gibt einen allgemeinen, oft spekulativen Rahmen, der gemäß Epochen und der Auswertung literarischer Zeugnisse teils zu konkretisieren, teils zu modifizieren sein wird. Allgemeine Fragen schließen sich hieran. H a t Rilla in seiner das bürgerliche Bewußtsein in den Mittelpunkt stellenden Darstellung dessen sozialgeschichtliche Spezifica erkannt, wenn er z. B. die Herausbildung der NationalliteraturVorstellung bei Lessing auf dem Weg über »Volkstümlichkeit« — Pflege der Volkspoesie, Bedeutung Shakespeares, Faust-Fragment u. a. — zu beantworten sucht? Wird damit nicht der wesentliche Bestandteil von »Nation«, die zum Souveränitätsbegriff führenden Prinzipien Freiheit und Gleichheit, übersehen? Man wird also die Frage nach Lessings Anteil bei der Herausbildung einer deutschen »Nationalliteratur« lösen, indem man das Augenmerk auf Lessings Interesse an der Herstellung von Freiheit und Gleichheit der Person richtet, wie es in der künstlerischen, literar-kritischen Arbeit mitschwingt, und sich für die meisten wichtigen Werke 82 nachweisen läßt. Damit stellt sich die weitere Aufgabe, Lessings politisches Engagement zu beschreiben — auch in Auseinandersetzung mit Rilla, der streckenweise der Tendenz erlag, in Lessing einen Revolutionär als Literaten zu sehen. Vielmehr ist zu fragen, wie weit Lessings gesellschaftliche Kritik klug auf die Realität eingeht, im Versuch, sie umzuformen. Trifft er nicht überall da unberechtigte Affirmation, wo sie der Rationalität nicht standhält? Das ist jedoch etwas anderes als ein scheinbar unbegrenzter »revolutionärer Wille«. Das ästhetische Konzept des Klassizismus, das Lessing für die bürgerliche Bewegung maßgebend mitformuliert — erfüllt es sich in der Aufstellung eines »Ideals« oder im ästhetischen Niederschlag einer realitätsbezogenen, jedoch dem Barock und seinen absolutistischen Herrschaftsimplikaten gegenüber kritischen Versuch, bürgerliches Selbstbewußtsein zum Maßstab bildnerischer Arbeit zu machen? In diesem Zusammenhang ist zu fragen, ob man die Auseinandersetzung zwischen Lessing und Winckelmann richtig erfaßt, wenn man in den Kategorien vom »ideell harmonisierten Griedientum« 33 denkt, gegen das sich Lessing wehre. Vielmehr sind klassizistische Formvorstellungen als Versuch zu deuten, das gesteigerte Schmerzempfinden, dessen das emanzipierte Subjekt fähig ist34, mit dem höfischen Verlangen nach Zurücknahme des Ausdrucks zu 32 z . B. Lessings Werke, ed. P. Rilla, 3, S. 695 3» Rilla, S. 1 1 8 34

H i e r ist auf die maßgebenden Forschungen von Brüggemann zu verweisen, besonders: F r i t z Brüggemann: Lessings Bürgerdramen und der Subjektivismus als Problem, Psychogenetische Untersuchungen, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts ( 1 9 2 6 ) 6 9 - 1 1 0 ; und ders., D e r K a m p f um die bürgerliche W e l t - und Lebensanschauung in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts, in: Deutsche Vierteljahrsschrift f ü r Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 3 ( 1 9 2 5 ) , S. 9 4 - 1 2 7

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vermitteln. Im Sinne des Strebens nach Herrschaftsübernahme durch das Bürgertum wird damit der Anspruch gestellt, »Schönheit« neu zu definieren. Das Mitleid erhält dabei nicht nur eine Funktion für das Menschenbild35. Sein Zusammenhang mit dem auf Gleichheit hin tendierenden gesellschaftspolitischen Anspruch ist zu befragen. In der Mitleidstheorie meldet das Bürgertum die Forderung an, die Schlüsselposition der sittlichen Definition von Menschlichkeit und Mensch zu beziehen. Bei aller Kritik an der mangelhaften Verwirklichung des Öffentlichkeitsanspruchs des deutschen Bürgertums im 18. Jahrhundert darf man nicht vergessen, daß bereits im zweiten Drittel des Jahrhunderts der bürgerliche Anspruch, moralische Normen zu setzen, zum Sieg geführt ist; dies bleibt für das deutsche Bürgertum ein um so gewichtigerer Umstand, als es die erste Welle der verfassungsmäßigen Realisierung seiner Ziele noch der jakobinisch tingierten Adelsfraktion überlassen mußte. Inwieweit der Triumph des Klassizismus der Triumph des bürgerlichen Menschenbildes und damit emanzipatorischer Werte des fortschrittlichen Bürgertums ist, wäre also zu zeigen. 3.2

In der Analyse der künstlerischen Werke Lessings ergibt sich eine Fülle von Fragen. Beim »Jungen Gelehrten« (1746), dem Stück, das dem traditionellen Modell der Typenkomödie zugehört, wäre deutlich zu machen, inwiefern die Typenkomödie, obwohl formal noch maßgebend für das Stück, inhaltlich durch die Kritik des jungen Gelehrten als eines seiner menschlichen und sozialen Bezüge sich beraubenden, und sich von der Wirklichkeit isolierenden Mannes in Frage gestellt wird. Immerhin hat Kant in seinem Aufsatz »Was ist Aufklärung?« (1784) den Gelehrten als den bezeichnet, der den bürgerlichen Anspruch auf »öffentliche« Verwirklichung der Ratio am genauesten erfüllt. Konnte Lessing diesen bürgerliche Öffentlichkeit definierenden Gedanken zuarbeiten? In dem Lustspiel »Die Juden« (1749) ist neben dem inhaltlichen Problem der Toleranz gegenüber den Juden das Strukturproblem zu erörtern, inwieweit die bürgerliche Form des Kriminalstücks hier mit dem Effekt vorgebildet ist, das erkenntniskritische Problem des Vorurteils erfahrbar zu machen. Dies führt zu der Frage, inwiefern das inhaltliche und das Strukturproblem auf charakteristisch »bürgerliche« Weise verschränkt sind. In der Diskussion der »Miss Sara Sampson« (1754/5$) steht das Gattungsproblem im Vordergrund. Im Maß, wie dies Schauspiel die Intentionen bürgerlichen Trauerspiels realisiert, ergibt sich seine Signifikanz für die bürgerliche Bewegung. Sie liegt sicher auch in der bürgerlich-wirtschaftliche Verhältnisse oder doch deren Tendenzen spiegelnden Verhaltensweise der Partner gegeneinander. Sie ist geprägt vom Verzeihen, ja der Konkurrenz im Sichvergeben, und setzt — wie hier der Kürze wegen nur formelhaft bemerkt werden kann — dadurch bürgerliche Gleichheit an die Stelle hierarchischer Privilegierung und kann als Bild 35 Peter Weber: Das Menschenbild des bürgerlichen Trauerspiels, Entstehung und Funktion von Lessings »Miss Sara Sampson«, Berlin (Ost) 1970.

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des nach Hobsbawm 3 6 die bürgerlichen Vorstellungen bestimmenden Bilanzausgleichs angesehen werden. Deren Verhältnis zum Uneigennützigkeitsprinzip ist zu durchleuchten, um über die sicherlich vorhandenen Widersprüche zwischen Wirtschaftsgesinnung und frühbürgerlicher Moralität nicht hinwegzugehen. Insofern Sara als das Bild der »virtue in distress« gesehen werden kann und dies ein Element klassizistischer Haltung ausmacht, darf das Drama als ein Hauptwerk des deutschen Frühklassizismus identifiziert werden, dessen genaue Verbindung zu oben angedeuteten politisch-bürgerlichen Ideologemen dabei zu akzentuieren sein wird. »Philotas« (1759) als Ausdruck derjenigen Stufe des deutschen bürgerlichen Bewußtseins, das zum erstenmal, ohne dazu von der feudalabsolutistischen Monarchie eingeladen zu sein, sein Haupt zur Auseinandersetzung mit militärisch-staatlichen Werten erhebt, um den Anspruch auch auf diese Sphäre öffentlicher Moral anzumelden, bietet eine Fülle von Fragen, z. B. bezüglich des Zusammenhangs zwischen dem preußischen Klassizismus der friderizianischen Periode, bürgerlichen Wertvorstellungen und der Entwicklung des Berliner und preußischen Bereiches zu einer deutsche Staatlichkeit repräsentierenden Funktion; ferner den Zusammenhang mit dem Wachsen Berlins als literarischer Hauptstadt und dem Versuch, Lessings Schriftstellerei im nationalen Zusammenhang zu sehen (Vorrede zu Mylius' Vermischten Schriften [ 1 7 J 4 ] , dem Aufsatz Goethes über Literarischen Sansculottismus vergleichbar) und die deutsche Literatur in ihrer Geschichte erkennbar zu machen 37 . Die Patriotismus-Literatur der Epoche, deren nationale Elemente unter dem Eindruck der Literaturgeschichtsschreibung seit 1866 38 nicht auf die Probleme der bürgerlichen Emanzipation, also auf die Herstellung von Freiheit und Gleichheit hin gesehen worden sind, steht gleichfalls mit diesen Fragen in Verbindung 39 . Bei der »Minna von Barnhelm« ( 1 7 6 3 — 1 7 6 7 ) steht wiederum das Gattungsproblem im Vordergrund. Sie wird zum Musterbeispiel der bürgerlichen Komödie, insofern sie nicht nur die Ständeklausel unbeachtet läßt, sondern zudem dem Gleichheitsgrundsatz dadurch Geltung verschafft, daß sie die weinerliche zur ernsten Komödie emanzipiert und einen Charakter darstellt, indem sie eine ganze Persönlichkeit, nicht nur Züge, die verlachenswert sind, zeichnet. Die Komödie hat auf dem Hintergrund der Verpflichtung zur Uneigennützigkeit das Emanzipationsproblem der Gleichheit der Partner zum Thema und führt es so mustergültig durch, daß es bis heute ein Standardwerk der Bühne bleiben konnte. Dazu spiegelt dieses Werk in seinen Hauptkontrahenten aufs genaueste die unterschiedliche sozialgeschichtliche Entwicklung Preußens und Sachsens. Alle diese Problemschichten werden in diesem ersten deutschen Kunstwerk weltliterarischen Ranges als Elemente bürgerlicher Moralität entschlüsselbar, wenn man die Zusammenhänge aufdeckt. Über »Emilia Galotti« ( 1 7 7 1 / 7 2 ) als dem unmittelbarsten politischen Stück Lessings 36 87 38

Eric J. Hobsbawm: Industrie und Empire, Frankfurt 1972. z. B. Friedrich von Logaus Sinngedichte, 1759, vgl. Rilla, S. 53, 73, 75, 94, 133 vgl. Bernd Peschken: Versuch einer germanistischen Ideologiekritik, Stuttgart 1972.

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führt der Weg des bürgerlichen Engagements bis zu »Nathan dem Weisen« (1779), der Summe aufklärerischer Heiterkeit deutscher Literatur. Die Lösung des unbedingten Geltungsanspruchs von Ideologien wird universal erreicht und durch Toleranz — bemerkenswert, daß die von der SED bestimmte Forschung gerade dieses Stück links liegen läßt — aufgehoben; sie mündet in bürgerlichen Vorstellungen, nämlich denen von der Pluralität und Relativität der Werte, über denen aufklärerisch nur ein verbindliches Prinzip gesehen wird: das Glück der Menschen — eine der westeuropäischen Aufklärungstradition wahrhaft vergleichbare Botschaft. Ermöglicht wird sie durch die bürgerliche Grundvorstellung »Familie«. Menschlichkeit durch Familie — die Menschheit als Familie. So die Personenkonstellation des Stücks. Die Interpretation wird sich hier der zeitgenössischen Auseinandersetzung mit der Judenemanzipation vergewissern, die 1848 wieder und nochmals 1918 virulent wurde und in Dohm 40 für das letzte Drittel des 18. Jahrhunderts in publizistischer Form faßbar ist — wie etwa zur Frauenemanzipationsfrage die Schriften von Hippel 41 über die Ehe heranzuziehen sein werden. Überblicken wir diese Reihe von Werken, so können sie unter dem Gesichtspunkt der Gleichheit gesehen werden, wenn man stärker die Übersetzungsarbeit Lessings beachtet, besonders z. B. seine Rezeption Rousseaus in Mendelssohns Verdeutschung von »Johann Jacob Rousseaus, Bürgers zu Genf, Abhandlung von dem Ursprünge der Ungleichheit unter den Menschen und worauf sie sich gründe, ins Deutsche übersetzt mit einem Schreiben an den Herrn Magister Lessing, mit einem Brief Voltaires an den Verfasser, Berlin 1756« 4 2 ; dazu ist als wirkender gesellschaftspolitischer K r a f t stärkere Aufmerksamkeit der Bekanntschaft Lessings mit Voltaire während beider Berliner Zeit zu schenken. Gleichheit und Trauerspiel, Komödie, das Schöne — in letzterem wird sie in »Laokoon« und in »Wie die Alten den Tod gebildet« wirksam, wie zu zeigen sein wird. Gleichheit und Mitleid in Beziehung gesetzt, wäre die Leitfrage für die Interpretation der »Hamburgischen Dramaturgie«. Ferner wäre zu prüfen, inwiefern die Gleichheit in die Erkenntnistheorie hineinwirkt, soweit sie kritische Formen historischen Denkens, z. B. historische Kritik der Evangelien (»Neue Hypothesen über die Evangelisten als bloß menschliche Geschichtsschreiber betrachtet« [1778]) ermöglicht und zur Ausbildung der Toleranz sowie der Relativität der Erkenntnis beiträgt. Endlich führt dies dazu, die Beziehungen zwischen der Gleichheit und der Gesellschaftsauffassung Lessings (»Ernst und Falk« [ 1 7 7 8 — 1 7 8 0 ] ) zu verdeutlichen. Eine Fülle von Aufgaben. Sie werden in einer Darstellung im Rahmen der »Epochen der Nationalliteratur in sozialgeschichtlichem Zusammenhang« zu bearbeiten sein.

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Johann Georg Zimmermann: Von dem Nationalstolze, 1760, und Thomas Abbt, Vom Tode für das Vaterland, 1 7 6 1 . Christian Wilhelm Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, Berlin 1 7 8 1 . Theodor Gottlieb von Hippel: Über die Ehe, 1774. In der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin.

Lavaters Utopie Von

K A R L PESTALOZZI,

Basel

1. J o h a n n C a s p a r Lavaters »Aussichten in die E w i g k e i t « 1 , v o n denen hier die Rede sein soll, bestehen aus f ü n f u n d z w a n z i g Briefen an J o h a n n Georg Zimmermann, in denen L a v a t e r Überlegungen und Vorstellungen entwickelt, die in ein großes Gedicht »von dem zukünftigen Leben« (I, S. 2) eingehen sollten, das dann allerdings nicht zustande kam. Veranlaßt w a r e n sie durch die Bitten einer F r a u v o n T., »ihr ein L i e d v o n der Seligkeit der verklärten Christen aufzusetzen«, worunter dieser offenbar ein Lehrgedicht über die Unsterblichkeit vorschwebte, w i e es in der Mitte des 1 8 . Jahrhunderts in Deutschland beliebt w a r 2 . Es besteht kein Z w e i f e l , daß Lavaters Interesse in dieser Schrift ganz dem Leben nach dem T o d e galt, auch wenn er f ü r »Ewigkeit« die S y n o n y m a »zukünftiges Leben« oder »zukünftige Welt« verwendet. I m f o l genden soll der Versuch gemacht werden zu zeigen, daß diese »Aussichten in die Ewigkeit« auch solche in die Z u k u n f t der Menschheit sind, j a daß sie eine eigentliche Utopie entwerfen, die den Zeitgenossen zum Richtpunkt ihres Lebens werden sollte und auf die L a v a t e r selbst auf mannigfaltige Weise hinwirkte. Als den V a t e r seines Gedichts hat L a v a t e r wiederholt den G e n f e r N a t u r philosophen Charles Bonnet ( I I , S. 1 9 7 ) bezeichnet. Auch den zeitgenössischen Lesern entging nicht, daß L a v a t e r die Ewigkeit, wie Wieland sagte, durch Bonnets Brille sah. A u f Bonnet gehen die Grundanschauungen zurück. Sein System muß daher kurz umrissen werden 3 . 1

2

8

3 Bde., Züridi 1768 (I), 1769 (II), 1773 (III). Der 1778 erschienene vierte Teil enthält Nachträge, Berichtigungen und Urteile von Zeitgenossen. Stellenangaben im Text nadi der Erstausgabe mit Band- und Seitenzahl. - Auswahlen aus den »Aussichten«: J . K . Lavaters ausgewählte Schriften, hrsg. von Joh. Kaspar Orelli in 8 Bden. Bd. 5, Zürich 1844 S. 190-244; ferner J . C. Lavaters ausgewählte Werke, hrsg. von Ernst Staehelin. Bd. 1, Zürich 1943. S. 97-205 Vgl. Walter Rehm: Der Todesgedanke in der deutschen Dichtung vom Mittelalter bis zur Romantik. Halle 1928. S. 2 5 1 : »Keine Frage wird stärker um die Jahrhundertmitte erwogen als die der Unsterblichkeit. Von 1 7 5 1 - 1 7 8 4 erschienen allein 54 Schriften über dies T h e m a . . . « ; ferner Christoph Siegrist, Das Lehrgedicht der Aufklärung Stuttgart 1974. S. 193 f. Das folgende nach Charles Bonnet: Contemplation de la Nature. Amsterdam 1764, und Charles Bonnet: Philosophische Palingenesie oder Gedanken über den vergangenen

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Bonnet steht in der Leibniznachfolge. Den für seine Zeit zentralen Gedanken der Entwicklung konkretisiert er aufgrund von Beobachtungen, die er und andere an Hühnchen, Salamandern und vor allem Polypen gemacht hatten, zu seiner Lehre vom Keim. Nach ihm ist im Keim schon alles enthalten, was später das ausgewachsene Lebewesen ausmacht, er ist eine Miniaturausgabe davon. Die Befruchtung veranlaßt lediglich das quantitative Wachstum. Der Keim ist, mit Bonnets Schlüsselwort, »un tout organique«, »ein organisches Ganzes«4. Ein Ganzes ist er nicht nur insofern, als ihm nidits mehr hinzugefügt werden kann, was er nicht schon in sich enthält, sondern vor allem als Organisation der verschiedenen Teile, als »System« oder »Structur«. Organisch ist der Keim, weil er auf Entwicklung hin angelegt ist. Es stedtt darin die Kraft zu wachsen, sich, wenn die Umstände ihn dazu anregen, im Größerwerden zu entfalten. Im Keim als organischem Ganzen sind Simultaneität und Sukzession eines Wesens präformiert. Diesen von Samenkorn, Ei und Embryo hergeleiteten Keimbegriff verallgemeinert Bonnet: »So wird dieses Wort nicht bloß einen organisierten, ins Kleine gebrachten Körper bezeichnen; es wird auch noch jede Gattung ursprünglicher Vorherbildung bezeichnen, aus deren ein organisches Ganzes als aus seinem unmittelbaren Principium entspringen kann« 5 . Anlaß zu dieser Verallgemeinerung waren Beobachtungen der Regeneration abgeschnittener Teile z. B. des Polypen, die sich aus »organischen Punkten«, »wiedererzeugenden Elementen« ergebe, an denen das Auge noch nicht erkennen kann, was daraus wird. Diese Keime sind »präexistent«, erst Potentialitäten. Indem so der Keim bei sogenannten »Teilganzen« von der Beobachtung unabhängig wird, kann der Keimbegriff auch auf Ganzheiten angewandt werden, die Mensch und Tier übersteigen. »Oder bildt man sich etwa ein, die Welt sey minder harmonisch, ich hätte fast gesagt, minder organisch als ein Thier?« 8 Auch die Welt ist ein organisches Ganzes, die göttliche Vorsehung ist ihr präexistenter Keim. Die Wesen sind einander in einem System zugeordnet, das Bonnet mit seiner Zeit als Stufenleiter oder Kette denkt. Und die Welt untersteht einer Entwicklung, in der sich ihr Keim ausfaltet. Den Konflikt, in den diese These mit dem biblischen Schöpfungsbericht und künftigen Zustand lebender Wesen, aus dem Französischen übersetzt, und mit Anmerkungen herausgegeben von J . C . Lavater. 2. Theil Zürich 1769, i . T h e i l Zürich 1770. Lavater konnte bei der Abfassung der ersten zwei Teile der »Aussichten« Bonnets Palingenesie noch nicht kennen. Sie dennodi beizuziehen, ist man berechtigt, weil sie ganz auf dem in der »Contemplation« entwickelten System aufbaut und Lavater in den Anmerkungen dazu deutlich zu Bonnet Stellung nimmt. - Vgl. ferner J.Krüger: Der Organismusbegriff bei Bonnet. Diss. Halle 1929. 4 Palingenesie I, S. 4 1 7 Nach Georg Germann führte Lavater in seiner Bonnet-Ubersetzung »nicht nur, soweit bekannt, den Begriff >das organische Ganze< in unsere Sprache ein, sondern übertrug ihn auch als erster auf Menschenwerk.« [Palingenesie I, S. m f.] vgl. G . Germann, Das organische Ganze, in: Archithese H e f t 2/1972. 6 Palingenesie I, S. 4 1 7 « Ebd., S. 285

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gerät, der eine additive Schöpfung schildert, sucht Bonnet so zu lösen, daß er annimmt, der mosaisdhe Bericht beziehe sich auf eine spätere Phase der Erdgeschichte. Die Erde sei zuvor aus göttlicher Präformierung hervorgegangen, dann dem Chaos anheimgefallen, aus dem sie aufgetaucht sei in unseren, wiederum nicht endgültigen Zustand. Es steht ihr in ferner Zukunft eine allgemeine Glückseligkeit bevor: »Unsre Welt war wahrscheinlicher Weise in der Gestalt des Wurmes oder der Raupe: Gegenwärtig ist sie unter der Gestalt der Puppe. Die letzte Hauptveränderung wird ihr die Gestalt des Schmetterlings anziehen.«7 Wo Bonnet von Geschichte spricht, meint er diese kosmische Entwicklung, »Revolutionen« nennt er deren »Hauptveränderungen«. Das Weltganze und die Wesen darin unterstehen somit ein und demselben Gesetz der Entwicklung. — Wie bereits dieser Grundriß seines »Systems« erkennen läßt, ist Bonnets Denkfigur die Analogie. Sie hat ihren Ausgangspunkt im exakt Beobachtbaren, von da aus schlägt sie ihre Bögen ins Kleinere und Größere. Die Tiere sind Bonnet deshalb »bewundernswürdige Bücher, in welchen das große Wesen die treffendsten Züge seines höchsten Verstandes ins Kurze gefaßt hat!« 8 Weil die Tiere den Schlüssel zum Verständnis der Welt bilden, kann diese als organisches Ganzes erscheinen et vice versa. Die Analogie erstreckt sich auch auf den Menschen: »Wie leicht ist es zu begreifen, daß der Urheber des Weltalls das ein wenig im Großen für den Menschen hat ins Werk setzen können, was er im Kleinen für den Schmetterling und für eine Menge anderer organischer Wesen zu Stande bringen konnte, in Ansehung deren er es schicklich gefunden, sie eine Reihe scheinbarer Verwandlungen durchlaufen zu lassen, welche sie in den Zustand ihrer irdischen Vollkommenheit hinbringen sollten?«9 Die Vollkommenheit des Menschen ist durch den Tod vom gegenwärtigen Leben getrennt. Doch ist der Tod wie die Verpuppung der Raupe nur ein Übergang. Die Auferstehung betrifft denn auch nach Bonnet nicht nur die Seele, sondern den Menschen als ganzes »être mixte«, aus Körper und Seele gemischtes Wesen. Seine identische Persönlichkeit, die in der Erinnerung erfahrbar wird, bleibt erhalten. So kann die künftige Glückseligkeit als Steigerung des gegenwärtigen Zustandes erscheinen. Der Mensch wird bessere Sinne, eine höhere Intelligenz und die Fähigkeit zu umfassendem Wissen bekommen. Wie seine jetzige Organisation auf die jetzige Welt, wird seine künftige auf die neuen Umstände ausgerichtet sein. Der Analogiezwang führt Bonnet dazu, auch für die Tiere eine künftige Glückseligkeit zu postulieren. Man kann Bonnets naturphilosophisches Weltbild »theromorph« nennen. Das Prinzip des Organischen ist zum Weltgesetz erhoben. Alles auf der Welt und sie selbst entwickelt sich auf seine Vollkommenheit zu, ohne wesentliches dazu beitragen, ohne sich entziehen zu können. Für Geschichte als vom Menschen bewirkte oder gar konzipierte Veränderung ist kein Platz. Bezeich7

Ebd., S. 302 s Ebd., S. 628 9 Palingenesie II, S. 8/9

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nenderweise ordnet denn auch Bonnet die biblische Offenbarung ganz der Naturphilosophie unter. Lavater gelangt durch die Veränderung dieses Verhältnisses zu seinem eigenen, seiner Tendenz nach geschichtlichen Konzept. An Lavaters Christologie, der Mitte seines Denkens, ja seiner Existenz, wird deutlich, wie er unter Verwendung von Bonnets Ansätzen über Bonnet hinausgeht. Bonnet, der sich als christlicher Denker versteht, bezieht Christus folgendermaßen in sein System ein: Die analogen Naturerscheinungen klären den Menschen über seine ihm bestimmte Entwicklung auf. Doch das geschieht nur unvollkommen. Gerade diese vorläufige Unvollkommenheit der N a t u r erkenntnis ist eine Garantie dafür, daß der Mensch dereinst vollkommen sein und einen Gesichtspunkt einnehmen wird, von dem aus ihm die präformierende Vorsehung bis ins letzte einsichtig ist. Die noch mangelhafte N a t u r erkenntnis hat als Ergänzung die Offenbarung in Christus notwendig gemacht. Christus hat als »Gesandter« und »Dolmetsch« Gottes die Aufgabe, den Menschen die aus den Gesetzen der N a t u r bestehende Sprache Gottes zu übersetzen, und zwar vor allem jene »Zeichen dieser göttlichen Sprache, welche die Versicherung einer glückseligen Unsterblichkeit enthielten« 10 . So wird es dem Menschen möglich, erkennend, unter Wahrung von Freiheit und Vernunft, seiner Bestimmung gemäß zu leben. Der so geschaffene Freiraum ist freilich nicht groß. Für Bonnet hängt die Entwicklung der Menschheit eng mit der Ausbreitung des Christentums zusammen, die ihrerseits durch die göttliche Vorsehung präformiert ist. Die Völker müssen warten, bis Quellenfunde oder politische Ereignisse das Christentum zu ihnen bringen. Christus fungiert somit bei Bonnet als Ergänzung der Naturerkenntnis. Lavater nun wendet auf Christus den Keimbegriff Bonnets an. Christus ist ihm der Keim des Menschen, womit er die mit dem Johannesprolog aufgeworfene Frage nach der Präexistenz Christi positiv entscheidet. In ihm als »dem Erstgeborenen vor aller Creatur« (II, S. 29) waren Organisation und Entwicklung des Menschen von jeher angelegt: »Nach diesem Ebenbilde Gottes, glaube ich, ist Adam gestaltet worden; Adam war eine irdische Copie des himmlischen; dem himmlischen so ähnlich, als es die N a t u r der verschiedenen Stoffe zuließ. Deswegen hauptsächlich, denke ich, hieß Adam — und jeder seiner ihm überhaupt ähnlichen Nachkommen — ein Bild Gottes« (II, S. 3o). D a ß Gott in Christus den Menschen präformiert, erklärt nach Lavater, weshalb die Bibel von Gott gern auf anthropomorphisierende Weise redet. Seine Formel lautet: »Christus, das Urbild des Menschen«, Urbild eben verstanden als Keim. Adams Sündenfall behinderte die im Urbild angelegte Entwicklung, ohne sie völlig zerstören zu können: »Es wäre keine so große Hyperbol, auch izt noch den Menschen ein Bild Gottes zu nennen, indem der Mensch seiner ursprünglichen N a t u r — und der inneren Anlage nach — immer noch eine Copie des Sohnes Gottes wäre; eben so wie ein bestaubtes, in einen Winkel gestelltes Gemähide, immer noch eine sehr gute Copie eines vortrefflichen »o Ebd., S. 88

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Urbildes seyn und in einem buchstäblichen Sinn heißen kann« (II, S. 3i). Diese Bagatellisierung des Sündenfalls kann zuweilen gar zu einer Rechtfertigung werden, weil als Folge davon Christus selber Mensch wurde, das Urbild sich inkarnierte. Lavaters scheinnaive Nacherzählung des Lebens Jesu (I, S. 80 f.) legt den Akzent darauf, daß Christus ganz ein Mensch wie wir wurde und so vorlebte, wie der Mensch ursprünglich gedacht war. Auferstehung und Verklärung, in die Christi Dasein mündete, offenbaren die dem Menschen als Entwicklungsziel zugedachte Vollkommenheit und Glückseligkeit. Die erlösende Wirkung der Inkarnation Christi liegt für Lavater darin, daß das Urbild nun auch sichtbares Vorbild ist. In der imitatio Christi kann der in Adam aus seiner Bahn geschrittene Mensch zu seiner Bestimmung, Copie seines Urbildes zu sein, zurückfinden. Glaube und Gehorsam vermögen den Menschen Christus »gleichförmig« zu machen, und dies, wie Lavater betont, nicht in einem »sinnlos-mystischen Sinn« (I, S. 288). Was Gleichförmigkeit impliziert, liest Lavater aus den biblischen Berichten über die Apostel und ersten Christen ab. Sie besteht in der »Theilhabung« an Christi Macht. Der Mensch kann nun wie Christus Liebe üben, machtvoll beten und predigen, ja sogar Wunder tun. Für Lavater sind das keine übernatürlichen Fähigkeiten, sondern gerade solche, die dem Menschen seiner ursprünglichen Natur nach zukommen. Diese wird ihm in der imitatio Christi wieder zugänglich. Im Lichte der Hoffnung, daß urchristliche Zustände jederzeit möglich sind, sieht Lavater seine Gegenwart. So kann er sagen: »Die Schrift darf nur mehr studirt, verstanden, geglaubt und befolgt werden, so wird diese glückliche Zeit wie ein Waldwasser hereinbrechen, welches alle Hindernisse eilends verschwemmen wird.« 1 1 Damit kritisiert Lavater Bonnets Annahme, daß dem Menschen erst in unabsehbar ferner Zukunft Vollkommenheit und Glückseligkeit bestimmt seien. Die imitatio Christi in Glauben und Gehorsam macht Lavater nicht von der göttlichen Gnade abhängig. Sie untersteht der freien Entscheidung des Menschen. Er bekommt damit seine Entwicklung in die Hand. Auf ihn kommt es an, wie er sich als einzelner und als Gattung entwickelt. Zugespitzt gesagt: Mit der Inkarnation Christi ist dem Menschen die Möglichkeit eröffnet, sich selbst zu erlösen. Im Rahmen der dem Gesetz der Entwicklung unterstellten Welt wird so Raum geschaffen für Freiheit, damit für Geschichte. Es liegt in der Konsequenz dieses Verständnisses, daß Lavater die alte Lehre vom Tausendjährigen Reich des Messias auf Erden aufgreift. Zu Recht nennt er sich in einer selbstironischen Anmerkung einen »eifrigen Chiliasten« (II, S. 307). E r war sich bewußt, damit eine häretische Tradition zu erneuern: »Dann in der That, es ist wider den theologischen und philosophischen Bonton, anders als im Scherze vom Tausendjährigen Reiche zu reden.« (I, S. 212) Die Confessio Augustana hatte den Chiliasmus als jüdische Irrlehre ausdrücklich 11

Ebd., S. 334. Anm. des Übersetzers.

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verdammt und ihn damit zu einer Sache inoffizieller Strömungen gemacht12. Die Aufklärung sah darin eine unvernünftige Schwärmerei. Lavater stellt sich nicht in die Reihe der ihm vorausgegangenen Chiliasten. Zwar verwendet er häufig das an Gottfried Arnold erinnernde Adjektiv »unpartheyisch«, aber den barocken Chiliasten Wilhelm Petersen tut er geringschätzig ab 13 , Oetinger wird nirgends namentlich erwähnt, Bengels Zitierung im 18. Brief ist in Vorbehalte verpackt. Diesen Geistesverwandten gegenüber bezeichnet er sich als Reiniger und Erneuerer ihrer Lehre, die er merkwürdigerweise mit einem entstellten klassizistischen Gebäude vergleicht. Als seinen Anreger nennt er »den Verfasser der Geschichte der drei letzten Lebensjahre Jesu« (II, S. X C I V ) , in dem sich sein Freund, der Züricher Theologe Johann Jakob Hess, verbarg. Aber seine Quelle ist das grundlegende 20. Kapitel der Apokalypse. Seine Beweisführung verfährt nach dem, was er »die Logik einer gesunden Hermeneutik« nennt (I, S. 178). Diese beruht auf den beiden wichtigsten Grundsätzen reformatorischer Bibelauslegung, dem Bestehen auf dem Literalsinn und der Regel »scriptura suae ipsius interpres«. Beides legitimiert er neu: Im Wörtlichnehmen sieht er das Verfahren des natürlichen Verstehens, die Selbstauslegung der Schrift sieht er in der Naturforschung vorgebildet: »Der Schlüssel zu den Geheimnissen der Schrift liegt so gewiß in der Schrift selbst, als der Schlüssel zu den Geheimnissen der Natur in der Natur selbst liegt.« 14 Als Befürworter des Chiliasmus führt er Kirchenväter der ersten drei Jahrhunderte an, Justinus Martyr, Irenaus, Tertullian, Lactantius und Sulpitius (I, S. 220). Off. 20, 1 ff. ist das Tausendjährige Reich eine erste Auferstehung, deren diejenigen gewürdigt werden, die zu Lebzeiten Christus treu gewesen sind. Lavater übernimmt diese Auffassung und sucht den Nachweis zu führen, daß auch an anderen Stellen der Bibel zwischen einer ersten und einer zweiten Auferstehung unterschieden werde. Im Millennium sieht er die erste Phase der Ewigkeit, die durch den Tod, der die Anwärter aller Zeiten dafür versammelt, vom irdischen Leben getrennt ist. Damit scheint nun aber der Chiliasmus der Sprengkraft beraubt, die er im Lauf der Geschichte immer wieder bewiesen hat und deren sich Lavater offensichtlich bewußt war, wie seine Vorsicht im Umgang damit zeigt. Der Graben, den Lavater aufgrund seines Biblizismus zwischen irdischem Dasein und Tausendjährigem Reich aufreißt, wird jedoch überbrückt durch das Entwicklungsdenken, das er von Bonnet übernommen hat. In Lavater hat Bonnets Gedanke besonders gezündet, daß der Mensch als ganzer auferstehen werde. Er

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ls

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Vgl. Hans-Joachim Mühl: Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Heidelberg 1965. S. 233. Z u Lavaters »Aussichten« und den Chiliasten des 18. Jahrhunderts S. 2 3 2 ff. I V , S. 143 wird das Urteil über Petersen gemildert: »Petersen ist kein Schmierer, auch wenn er schwach urtheilt.« Palingenesie II, S. 3 5 5 . Anm. des Übersetzers. Das erscheint als Konsequenz aus der Übertragung »des organischen Ganzen« auf die Bibel.

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zitiert zustimmend den Satz: »C'est moins l'immortalité de l'âme, que l'immortalité de l'homme, que l'Evangile a mise en Evidence« (I, S. 176). Sdion bei Bonnet wird damit die Körperlichkeit aufgewertet, im Gegensatz zur platonischen Auffassung des Körpers als Gefängnis der Seele. Lavater leitet davon eine noch engere Verbindung von Diesseits und Jenseits ab. Er kritisiert, daß Bonnet »in dem Gehirn allein noch einen unentwickelten, unbefruchteten Keim des himmlischen Körpers« vermute 15 , und setzt dagegen Erwägungen, wonach im Jenseits der »Zettel«, dies sein Bild für den Keim des Menschen, mit einem neuen »Eintrag« verbunden werde. Er kommt zum Schluß: »Wenn wir die Philosophie überall auf die Seite setzen, so bleibt es immer aus der Schrift gewiß, daß bereits in diesem groben irdischen Körper ein aetherischer, himmlischer, geistiger Körper oder Keim des verklärten enthalten sey.« 16 Anders als Bonnet, der das Verhältnis von Diesseits und Jenseits in Analogie zu dem von Puppe und Schmetterling denkt, bevorzugt Lavater, das häufige biblische Gleichnis beim Wort nehmend, die Analogie zu Saat und Ernte. Sie impliziert, daß das Jenseits schon im Diesseits enthalten ist, zumal Entwicklung, wie wir gesehen haben, nur quantitative Veränderung des Keims bedeutet. Selbst das Totsein versteht Lavater als Reifung. Die auf Erden Christus gleichförmig Gewordenen bilden den Keim des Millenniums. Es ist in ihnen bereits gegenwärtig. Die erste Auferstehung wird nur eine quantitative Ausdehnung bringen. Noch die Differenz zwischen irdischem und verklärtem Körper fällt weitgehend dahin, da Christus als Auferstandener seinen irdischen Leib beibehalten hat und ausdrücklich auf Erden ein Reich des Messias prophezeit ist. Daß die Christus Gleichförmigen den ersten Christen gleichen, bekräftigt die Auffassung, sie seien Genossen von Christi Wiederkunft. Lavater ist also darin ein »echter Chiliast«, als für ihn das Tausendjährige Reich Christi auf Erden zum anstrebbaren Ziel wird. Daß er es als diesseitig und jenseitig zugleich versteht, deutet auf das Utopische an diesem Ziel: Der Mensch kann und muß es anstreben, ohne je eine Realisierung erreichen zu können.

II. Die »Aussichten« geben nun aber nur knappe Andeutungen, wie das Tausendjährige Reich des Messias auf Erden aussehen wird: Die Juden werden zuvor bekehrt worden sein und danach noch vollständig christlich werden. Die Auserwählten werden in inniger Gemeinschaft mit Christus und miteinander leben, ohne irdische Bedürfnisse. Die Bedeutung dieses Reichs ist die eines Zwischenzustandes, in dem die allgemeine Auferstehung vorbereitet und der « Ebd., S. 381 16 Ebd., S. 383. Anm. des Übersetzers.

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Zustand der verklärten Christen vorweggenommen wird. Es ist nochmals eine Entwicklungsstufe zur Glückseligkeit hin, eine kleine, weil befristete Ewigkeit, auf die erst die große, endgültige folgen wird. Es gibt wohl keinen stärkeren Beweis für die Macht des Entwicklungsgedankens als der, daß ihm sogar die Ewigkeit unterworfen wird. Die »Aussichten« sind zur Hauptsache auf das Endziel von Zeit und Ewigkeit gerichtet, auf die für die Nachfolger Christi aus Diesseits und erster Auferstehung erwachsende Frucht, die Verklärung, die als Ziel bereits die Stadien des Weges bestimmt. Diese Schilderung kann insofern zur Gattung der Utopie gerechnet werden, als sie einen idealen Gesellschaftszustand betrifft. Audi einzelne, für die Gattung konstitutive Merkmale lassen sich nachweisen. Der ou xöito?, auf dem sich die Gesellschaft der Verklärten befindet, ist der höchste Himmel, ein Weltkörper im All. Von der gegenwärtigen Welt trennen ihn Raum und Zeit. Für die Lebenden führt dahin kein Weg als der Tod, selbst Vorstellungskraft und Sprache reichen nicht an ihn heran. Lavater muß sich mit Mutmaßungen begnügen. Die Bewohner dieser Residenz Gottes sind exotischerweise mit einem flexiblen Lichtleib begabt. Ihre Verfassungen und Beschäftigungen, soweit sie konkret faßbar werden, erinnern an die auf der Erde, zu denen sie im Verhältnis des Gegensatzes, mehr noch aber der Steigerung stehen. Diese Lichtmensdien gemahnen zuweilen an die Schemen in modernen science fictions. Lavater malt den utopischen Zustand aus aufgrund von Bibelstellen und Analogieschlüssen zum derzeitigen Leben. Die Titel einzelner Briefe geben die allgemeinsten Hinweise: Von dem Himmel und den himmlischen Wohnungen, von der Vollkommenheit des himmlischen Körpers, von der Erhöhung der physischen Kräfte, der Geisteskräfte, der sittlichen Kräfte, der politischen Kräfte, von gesellschaftlichen Freuden, von den Beschäftigungen der Seligen, von dem Anschauen der Gottheit und dem Umgang mit Christo. Diese Mosaiksteine ergeben ein vielseitiges Bild des jenseitigen Zustandes. Es können im folgenden nur die Prinzipien und besonders bedeutsame Einzelzüge zur Sprache kommen. Das Zentrum des Himmels bildet Gott mit Christus zu seiner Rechten. Um ihn herum befinden sich die Wohnstätten der Auferstandenen und Verklärten. Die äußere Distanz zum Zentrum und die gesellschaftliche Distanz bemessen sich nach dem Grad der ihnen eigenen Gleichförmigkeit mit Christus. So ergibt sich eine Hierarchie, in der allein innere Qualitäten maßgebend sind. Diese sind das Ergebnis der Bemühungen, die der einzelne während seines Erdenlebens auf die Christusnachfolge gewandt hat. Er erntet nun, was er gesät hat. Entsprechend sind die Verdammten diejenigen, die sich nicht um Christus gekümmert haben. Sie befinden sich nun anderswo, in der Nähe des Satans. Wie der Zustand der Verklärten auf Verdienst beruht, ist auch für die gesellschaftliche Plazierung das Verdienst entscheidend. Die Gnade im Sinne der protestantischen Dogmatik scheint bei Lavater überhaupt von geringer Bedeutung zu sein.

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Im Verdienstgedanken ist bereits angedeutet, daß die Verklärten nicht gänzlich von ihrer irdischen Vergangenheit abgelöst sind. Die besonderen Umstände, unter denen sie gelebt haben, haben in ihnen ihre Spuren hinterlassen, das Fazit ist ihrem Körper, vor allem ihrem Gesicht eingeprägt. Die Biographie, die sie hinter sich haben, individualisiert sie. Obwohl sie sich durch den Bezug auf Christus alle ähnlich sind, ist deshalb keiner dem anderen gleich. Lavater läßt sogar jeden in einem seiner Individualität passenden Klima wohnen. So halten sich auf der Gleichförmigkeit mit Christus aufbauende Hierarchie und Individualität die Waage. Die Bedeutung des Individuellen wirkt sich, wie sich zeigen wird, auch in anderen Belangen aus. Gleichförmigkeit mit Christus bedeutet konkret, daß die Verklärten erfüllt sind von Gottes- und Nächstenliebe. Die Liebe zu Gott wirkt sich aus als Verlangen nach der Anschauung Gottes und im Bestreben, ihn zu verherrlichen. Die Menschenliebe läßt die Seligen zueinander in Beziehung treten. Sie hat zur Folge, daß alles auf »Gemeinnutz« ausgerichtet ist. Eigennutz gibt es nicht mehr, jeder hat nur noch das Wohl seines Nächsten im Auge. Er selbst erfährt sich ebenfalls als Angehörigen einer Gemeinsdiaft, die seine Fähigkeiten zu steigern vermag. Das versteht Lavater unter »politischen Kräften«. So bilden die Verklärten einen gemeinnützigen Verband, in dem jeder zugleich herrscht und dient. Die Nächstenliebe läßt sie nicht müßig sein. Jeder wird eine seiner Individualität gemäße Beschäftigung haben, »einer wird dem andern in die Hand arbeiten« (III, S. 2 1 1 ) . Die Beschäftigungen der Seligen sind dem Wohl, d. h. der weiteren Vervollkommnung und Beseligung des Nächsten gewidmet. In diesen Beschäftigungen sind prodesse und delectare eins. Lavater führt an: Erziehung und Bildung, nützliche Künste, besonders Architektur, Vervollkommnung der Werke Gottes, die Anlage von Lustgärten, Wissenschaft und Forschung und selbst Lustreisen in andere Himmels- und Weltgegenden. Kurz ist auch von Beschäftigung »für körperliche Bedürfnisse« die Rede (III, S. 202). An anderer Stelle wird jedoch als fraglich bezeichnet, ob die Seligen noch Speise und Trank bedürfen. Not leiden sie ja per definitionem nicht mehr. Die Beschäftigungen der Verklärten sind somit durchgehend sekundärer Natur. Sie bauen darauf auf, daß die elementaren Bedürfnisse eines jeden befriedigt sind. Deshalb können Gemeinnutz und Nächstenliebe absolut werden. Lavaters Aussichten erreichen einen emphatischen Höhepunkt bei der Schilderung der »gesellschaftlichen Freuden« der Seligen. Gedacht ist an Zusammenkünfte, bei denen die wechselweise Liebe zum Nächsten zur unmittelbaren innigen Teilnahme wird. Indem sich einer dem anderen erschließt, steigern sie sich empor zu einer Geistgelneinschaft, der sich unbekannte Wahrheiten auftun. »Wie sehr wird da das Beßte, was die Erde hat, das, was der Himmel so gern zu seinem Eigenthum haben mögte — der Mensch, der Mensch —, genossen! — Und, o welch ein Genuß — der so wenig gesuchte, uns so nahegelegte, so leicht mögliche, so unentbehrliche, so beseeligende Menschengenuß;

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Wenn eines Bruders, einer Schwester heller Verstand den meinigen erleuchtet und von dem meinigen erleuchtet wird; wenn unsere Herzen einander erwärmen; unsere Liebe zum Beßten anwesender, abwesender, zukünftiger, noch nicht geborner Menschen zusammenfließt, und Eine große, weitleuchtende und erwärmende Flamme wird; Wenn jeden Augenblick unsere Seele andere Seelen genießt und von anderen genossen wird; Wenn jeder reicher an Erkenntniß und Weisheit, an K r a f t und Liebe, jeder vollkommner, menschlicher, mehr existirend, lebendiger, wesensreicher, Gottähnlicher wieder nach Hause kehrt, als er ausgegangen war?« (III, S. 129) Es hängt wohl damit zusammen, daß die Gemeinschaft der Verklärten in solchen spontanen Momenten ihr Telos erreicht, daß nirgends genauere Angaben über politische Organisationsformen gemacht werden. Daß beiläufig von Königen und Klassen gesprochen wird, bleibt ohne Konsequenz. E x silentio kann man wohl schließen, daß Institutionen unnötig sind, wo sich jeder von Innen heraus gemeinnützig verhält. Was Lavater, wie fragmentarisch auch immer, über den Gesellschaftszustand der Verklärten ausführt, ist nicht allzuweit von anderen utopischen Schilderungen vor und nach ihm entfernt. Originell wird er dort, wo er ausführt, welche Konsequenzen die Gleichförmigkeit mit Christus für die physischen und intellektuellen Kräfte des Menschen habe. Grundlegend ist sein Satz: »Genau nach dem Maaße der Erhabenheit unserer moralischen Kräfte wird sich das Maaß unsrer intellectuellen, physischen und politischen Kräfte bestimmen« (I, S. 289, vgl. auch S. 308/309). Gleichförmigkeit mit Christus bezieht sich für Lavater audi auf den Leib des verklärten Christus. Das bringt ihn dazu, sich die Seligen als mit einem Lichtleib versehen zu denken. Das Licht ist ihm der reinste, vor allem aber der bildsamste Stoff. Der Lichtkörper wird dank seiner Anpassungsfähigkeit unbeschränkte Kontaktnahme mit den Mitmenschen ermöglichen. Wie sehr dieser Gesichtspunkt im Vordergrund steht, zeigt sich daran, daß Lavaters stärkstes Interesse dem mit dem Lichtleib gegebenen Sehvermögen gilt. Er wird nicht müde, dessen Universalität aus Vergleichen mit Teleskop und Mikroskop, auch mit dem Sehvermögen mancher Tiere, zu begründen. Der Lichtmensch des Himmels ist eigentlich ganz Auge. Er kann gleichzeitig nach allen Seiten und in alle Entfernungen blicken. Es gibt nichts, was nicht, und zwar unverkürzt, in sein Blickfeld treten kann. Daß jeder Licht und Auge zugleich ist, wird zum Zeichen vollkommenster Kommunikationsfähigkeit. Das Gehör der Verklärten wird in Analogie zum Auge vorgestellt. Es wird möglich sein, aus jeder Entfernung Stimmen zu vernehmen und das Ohr auf die jeweilige Distanz einzustellen. Merkwürdigerweise exemplifiziert Lavater weniger mit dem Zuhören im Gespräch als mit dem Abhören der Gespräche anderer (II, S. m ) . Von den übrigen Sinnen sieht Lavater nur noch den Geruchssinn für wichtig an, weil die Seligen durch ihn die Sprache der Pflanzen werden

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verstehen können. Noch in diesem Detail ist die Kommunikationsfähigkeit leitendes Kriterium. Den mit diesem Lichtleib begabten Verklärten gesteht Lavater unbegrenzte Wirkungsmöglichkeiten zu. Sie werden Pflanzen und Tiere zwar nicht schaffen, wohl aber ihre Keime dazu bringen können, daß sie wachsen und sich entwickeln. Diese Wirksamkeit ist insofern moralisdi, als sie der Verherrlichung Gottes dient. Ferner ist den Verklärten die Möglichkeit der »Vielwirksamkeit« gegeben. Sie können an mehreren Orten zugleich wirksam sein und Gutes tun. Vor allem aber sind alle Hindernisse verschwunden, die sich auf der Erde zwischen Wollen und Vollbringen stellen. Die Verklärten können, was sie wollen, wie Christus bekommen sie Teil an der Macht Gottes. Damit sind sie in den Stand gesetzt, um Gutes zu tun, selbst Wunder zu vollbringen. Schließlich sind auch die intellektuellen Fähigkeiten der Verklärten nach den Bedürfnissen der Gottes- und Nächstenliebe eingerichtet, das Erkenntnisvermögen und die Sprache. Beides hängt für Lavater eng zusammen, seine Argumentation unterscheidet nicht zwischen beiden. Im Brief »Von der Erhöhung der Geisteskräfte« steht das Erkennen und Bezeichnen von Dingen im Zentrum, im Brief »Von der Sprache im Himmel« dagegen dasjenige von Menschen. Hinsichtlich der Erkenntnis der Dinge geht Lavater von der zeitgenössischen Unterscheidung zwischen der sinnlich anschauenden und der logisch-symbolischen Erkenntnis aus. Während die anschauende Erkenntnis die Dinge aufnimmt, wie sie sich den Sinnen darbieten, arbeitet die logischsymbolische Erkenntnisweise mit Begriffen und Zeichen. Indem sie abstrahiert und klassifiziert, verfehlt sie das Einzelne, Individuelle. Lavater nimmt deshalb für die anschauende Erkenntnis Partei, obwohl auch diese, weil relativ zur Rezeptivität der Sinne, nicht vollkommen sein kann. Im Himmel werden die Krücken der Abstraktion und Klassifikation wegfallen können, die anschauende Erkenntnis wird der Gottes ähnlich, d. h. total werden. Jedes Individuum wird seine eigene Klasse sein. Audi Mitteilung und Erinnerung werden keiner Symbole mehr bedürfen. Es wird jederzeit der ganze sinnliche Eindruck evozierbar sein. Dieser Wechsel der Erkenntnisweise erscheint als Verschiebung in der Bedeutung von »symbolisch«, wenn man liest: »Christus sieht alles, alles wie es ist, alles in Verbindung, das Vergangene, Gegenwärtige, Zukünftige — sieht im Theile das Ganze, im Elemente das Weltall« (III, S. 35). Es ist dies eine Konsequenz, die sich aus dem von Bonnet übernommenen organischen Denken ergibt. Mit dieser vervollkommneten anschauenden Erkenntnis wird aller Irrtum verschwinden. Die Wahrheit wird fruchtbar und heilbringend im Sinne der Nächstenliebe. Und sie wird zur Basis des Gesprächs zwischen den Seligen. Daß diese Erkenntnisweise auch Vergangenem und Zukünftigem gelten wird, ist für den Utopisten von zusätzlichem Interesse. — Der 16. Brief über »Die Sprache im Himmel« postuliert die Aufhebung der Sprachenvielfalt, da sie Disharmonie stifte und den Geist der Gemeinnützigkeit hindere. Es wird eine einzige allgemeine Sprache geben, aber

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keine Wortsprache mehr, denn diese ist den Phänomenen, zumal dem Inneren des Menschen, nicht angemessen, weil sie aus willkürlichen Zeichen besteht und genötigt ist, das Simultane sukzessiv wiederzugeben. Die Sprache des Himmels nennt Lavater »Natursprache«. Es ist dies der einzige Fall, in dem er die utopische Zukunft als Wiederherstellung eines verlorenen und verschütteten Urzustandes kennzeichnet, wohl unter dem Einfluß der Sprachtheorie Herders. Das verträgt sich jedoch mit dem Gesamtentwurf, wonach das Urbild des Menschen durch die Gleichförmigkeit mit Christus zurückgewonnen wird. Diese wiederhergestellte Ursprache ist physiognomisch und pantomimisch, die simultane und sukzessive Sprache des ganzen Körpers, in ihr kommt der Mensch in seinem Wesen zum Ausdruck. Sie ist nicht auf den Menschen beschränkt, auch Pflanzen und Tiere tragen den Ausdruck ihrer selbst sichtbar an sich. Die physiognomische und pantomimische wird von der Tonsprache unterstützt, in der die Seligen »concertmässig« miteinander sprechen. Lavater spricht von einer »musikalischen Beredsamkeit« (III, S. 119), an der der ganze Körper des Menschen beteiligt wäre. Die irdische Wortsprache werden die Seligen nur braudien, wenn sie mit Geschöpfen anderer Wohnstätten sprechen müssen. Weil in der physiognomischen Sprache jeder sein Inneres unverstellt offenbart, ist wirkliche Menschenkenntnis und damit auch eine Menschenliebe möglich, die den anderen so liebt, wie er ist. Noch diese Sprache kann überflüssig werden, wenn für Momente ein unmittelbares Anschauen und Genießen der Geister eintritt (III, S. 120). Uberblickt man Lavaters Utopie als Ganzes, erscheint sie trotz manchen abstrusen Einzelheiten nicht ohne innere Folgerichtigkeit. Ihr Leitprinzip ist das liebende Mit- und Zueinander der Menschen, die durch nichts mehr behinderte Kommunikation. Wie Individualität und Gemeinschaft, stimmen Inneres und Äußeres optimal überein gemäß dem Doppelgebot von Gottesund Menschenliebe. Die Kommunikation ist sinnlich und geistig zugleich. Ihr Medium ist der Raum, ihr wichtigstes Organ das Auge. Die Korrespondenz von Auge und Lichtleib konkretisiert sich zu derjenigen von anschauender Erkenntnis und physiognomisch-pantomimischer Sprache. Gehör und Geruch dienen zur Unterstützung des Auges. Daß Geschmack und Tastsinn keine Bedeutung haben, weist auf die Distanz hin, in der die kommunizierenden Individualitäten noch immer zueinander stehen. So sehr die Organisation des himmlischen Gesamtzustandes und die der einzelnen Verklärten harmonieren, so sind doch die moralisch bestimmten physischen und intellektuellen Kräfte das Primäre. Am Anfang steht die mit der imitatio Christi eingeleitete Bewußtseinsänderung. Damit hängt der Appellcharakter von Lavaters Himmelsentwurf zusammen. Von der diese Utopie begleitenden Wirkungsabsicht muß deshalb noch gesprochen werden.

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III. Über die Wirkungsabsicht der »Aussichten« äußert sich Lavater nicht immer in gleichem Sinne. Der »Vorberidit« zum ersten Band spricht »von süßen Augenblicken und stillen Erhebungen der Seele, die ich durch diese Bogen zu veranlassen hoffe« (I, S. 12). Der erste Brief fügt hinzu, Aussichten in die Ewigkeit vermöchten bei zeitweiliger oder endgültiger Trennung von Freunden und Geliebten Trost zu spenden. Da Lavater die Ewigkeit gerade nicht als bessere Welt dem irdischen Jammertal entgegensetzt, konnten Erbauung und Tröstung, die gängigen Wirkungsweisen geistlicher Traktate, nicht seine eigentliche Absicht sein. In der Vorrede zum dritten Band betont er denn auch ausdrücklich, die »Aussichten« seien »kein Erbauungsbuch« (III, S. XI), und auch im nachträglichen »gemeinnützigen Auszug« daraus wendet er sidi dagegen, daß das Buch in die Hände von »gemeinen, blos erbauungsbegierigen Menschen«17 komme. Er bezeichnet dort als »Zweck dieser Schrift«, dem Leser »alle Augenblicke seines Aufenthalts auf Erden, durch die Vorstellung der unendlich seeligen Folgen einer weisen und beständigen Vorbereitung auf das zukünftige Leben, über alles wichtig zu machen; Ihn zur höchsten und besten Anstrengung seiner Kräfte, zu ununterbrochener Übung im Glauben und Gehorsam gegen Gott und unseren Erlöser zu ermuntern; Und ihn durch das eine und andere, was wir nur immer von der künftigen Herrlichkeit der Christen wissen oder vermuthen können, zu den Gesinnungen zu erheben, die unserer vernünftigen unsterblichen Natur so würdig, und zugleich die unmittelbaren Quellen unbeschreiblicher und ewiger Vergnügungen sind« 18 . Das ist eine weitgehend aufklärerische Zweckbestimmung, als komme es darauf an, durch das Versprechen künftiger Belohnung die Menschen zu einem frommen und sittlichen Leben zu veranlassen. Daß auch das nicht Lavaters ganze Meinung war, geht aus einer Abschweifung im zweiten Band hervor, die sich mit Kant befaßt. Kant wird darin apostrophiert als Mann, »der bey einem so seltenen Maaße von philosophischem Genie, so unphilosophisch über den Einfluß einer mehrern Beleuchtung der Lehre von der Unsterblichkeit der Seele, und der Beschaffenheit unsers künftigen Zustandes in das sittliche Leben, raisonnieren kann; — — Es mag seyn, daß seine Abneigung über die Zukunft zu philosophiren aus moralischen Beobachtungen herkömmt; er hat vielleicht viele Leute gesehen, die, je mehr sie über die Zukunft philosophirten, derselben nur desto unwürdiger lebten; und das mag vielleicht die Ursache seyn, warum er mit Voltärens Candide lieber in den Garten gehen, und Früchte pflanzen will« (II, S. 178). Das bezieht sich, wie Ernst Benz erkannt hat 19 , auf den Schlußabschnitt von Kants 17

J. C. Lavater: Aussichten in die Ewigkeit. Gemeinnütziger Auszug aus dem größeren Werke dieses Namens. Zürich 1781 [S. 3] « Ebd., [S. 5] 18 Ernst Benz: Swedenborg und Lavater. Über die religiösen Grundlagen der Physiognomik. Zs. für Kirdiengesdiidite 57, 1938. S. 158

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»Träume eines Geistersehers« von 1766. Kant führt darin aus, daß für den Menschen die Einsicht in die künftige Welt nicht nur unmöglich, sondern auch unnötig sei: »Enthält das Herz des Menschen nicht unmittelbare sittliche Vorschriften, und muß man, um ihn allhier seiner Bestimmung gemäß zu bewegen, durchaus die Maschinen an eine andere Welt ansetzen?«24 Es kündigt sich hier Kants Gegenüberstellung von Autonomie und Heteronomie des Menschen an. Wer sein »Wohlverhalten nur auf Hoffnung der andern Welt« gründet 21 , verstößt gegen die natürliche Sittlichkeit. Kant exemplifiziert mit Fällen, in denen der Mensch von der Ewigkeit Lohn und Strafe erwartet, wie es auch Lavaters letztzitierte Zweckbestimmung nahezulegen scheint. Daß dieser das »unphilosophisch räsonniert« nennt, führt zur Frage, wie anders er sich den Einfluß der Lehre von der Ewigkeit auf das sittliche Leben dachte. Lavater berührt sich mit Kant darin, daß er dem Menschen einen »moralischen Instinct« (I, S. 108) zuerkennt, dank dem er von Natur sittlich sein kann. Doch auch in diesem Punkt bedarf für ihn die Natur der Ergänzung durch die Offenbarung, die ihr, wie es einmal heißt »Vorschriften und Beispiele« (ebd.) gibt. Lavater rückt das mögliche aufklärerische Mißverständnis dieser Stelle zurecht, wenn er wenig später darauf besteht, der Glaube an Gott und Glückseligkeit sei nicht Mittel zur Tugend, sondern Tugend selbst (I, S. 1 1 5 ) , »Tugendprincipium« (I, S. 118). Was damit gemeint ist, wird einsichtig von Lavaters Lehre von der Wirkung des Geistes und der K r a f t aus. Sie besagt, daß derjenige, der die Offenbarung in Glauben und Gehorsam annimmt, der Art, wenn auch nicht dem Grade nach, an ihrem Inhalt unmittelbar Anteil bekommt. Lavater spricht von »Theilhabung« (I, S. 299; II, S. 273 u.a.). Ein Beispiel trafen wir bereits in der Christologie. Lavater kommentiert nachträglich: »Beweis des Geistes und der Kraft — Vorempfindungen, Vorübungen, Voräußerungen in der menschlichen Natur liegender Kräfte und Gaben — die durch das, was die Schrift Geist Gottes nennt — bewegt und in Tätigkeit gesetzt werden«. (IV, S. 60) Solche Wirkung des Geistes und der K r a f t ist ausschließlich der Offenbarung eigen. Lavater konnte sie für eine Schrift nur beanspruchen, wenn sie gleichfalls Offenbarung war. Daß Lavater sie in der Tat so verstand, geht daraus hervor, daß er sich, wenn auch unausgesprochen, für seine Spekulationen auf die vier traditionellen »Bücher vom wahren Christentum« beruft, Bibel, Christus, äußere Natur, menschliches Inneres. Vor allem ist er peinlich darauf bedacht, seine Ansichten mit Bibelstellen zu belegen. Auch als Einwände will er nur exegetische gelten lassen. Es entsprach seinem Selbstverständnis, wenn ihn Goethe in seiner Rezension der »Aussichten« als »Propheten« bezeichnet.22 So würde der von Lavater intendierte Einfluß der »Aussichten« auf das sittliche Leben der Leser darin 2

« Kants Gesammelte Schriften, Akademieausgabe. Bd. 2, Berlin 1 9 1 2 . S. 3 7 2

21 22

Ebd., S. 373 Der junge Goethe, hrsg. von Hanna Fisdier-Lamberg. Bd. 3, S. 90

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bestehen, daß sie ihnen hier und jetzt »Theilhabung« an der künftigen Vollkommenheit vermittelten, die sie verschüttet, keimhaft in sich tragen. Letzter Zweck der »Aussichten« wäre demnach, Ewigkeit »itzo schon« wirklich zu machen, so weit es unter irdischen Bedingungen möglich ist. Es macht den Anschein, Herder sei es gewesen, der Lavater diese Implikationen seiner Schrift zum Bewußtsein gebracht habe. Er schrieb an ihn unter dem Eindruck der »Aussichten«: »Alles, was sich von Ihren Aussichten würklidi auf dieses Leben bezieht, was mich würklich hier entwickelt, aufmuntert, weiter bringt, was hier schon den moralischen Sinn, den künftigen Engel in mir unmittelbar rührt. — o wie hätt ich Sie dafür umarmen mögen! — o wie wünscht ich, einen Genius bei mir zu haben, der mir jedesmal, auch im kleinsten Zustande meines Lebens, genau sagte: Siehe, hier ist gerade der Keim der Zukunft! der Vervollkommnung! des Himmels!« (Zit. IV, S. 7.) Lavater machte sich diese Formulierung zu eigen. Im »gemeinnützigen Auszug« aus den »Aussichten« umschreibt er damit, ohne Herder zu nennen, im Anschluß an die oben zitierte Bestimmung den Zweck seiner Schrift 23 . Die erste Ausgabe der »Aussichten« richtet sich an einen begrenzten Leserkreis, nämlich nur an solche, »die einen eignen, unbestechlichen, moralischen, christlichen, philosophischen Sinn haben, der in Absicht auf Wahrheit, Wahrscheinlichkeit, Tugend, Christenthum u. s. w. eben das ist, was das musicalische Gehör bey dem Tonkünstler und das mahlerische Auge bey dem Mahler« (I, S. 29). Der Stamm dieser »Elite« wird im Vorbericht namentlich aufgeführt, er umfaßt die namhaften Geister der Zeit, darunter Bodmer, Gessner, Geliert, Haller, Kant, Basedow, Herder, Mendelssohn. Für diese kleine Leserschaft will Lavater schreiben, sie soll dann seine Gedanken weiterleiten an die breite Lesermasse. Diese Staffelung der Wirkung erscheint als genaue irdische Spiegelung der zwei Phasen der Auferstehung. Die Elite ist, wie gewisse Bemerkungen zeigen, zum Teil personalidentisch mit den Auserwählten, die in das Tausendjährige Reich eingehen werden. Und wie das Millennium die allgemeine Auferstehung vorbereiten hilft, so hat die Elite der »denkenden Christen« den Auftrag, den Gehalt der »Aussichten« mit der Zeit unzähligen Menschen zu vermitteln. An diesem Punkt wird besonders deutlich, daß Lavater, indem er von der Ewigkeit spricht, auch die Gegenwart im Auge hat. Lavater handelte selber im Sinne seiner ursprünglichen Absicht, als er, nachdem alle vier Bände erschienen waren, einen »gemeinnützigen Auszug« der »Aussichten« herausgab, der nun ausdrücklich »für jeden, der zum lesenden Publikum gerechnet werden kann, brauchbar« sein sollte. Die Form der Briefe an Zimmermann ist darin aufgegeben, davon, daß die »Aussichten« ein Gedicht vorbereiteten, ist nidit mehr die Rede. Die Wirkung, das als Ewigkeit Vorgestellte mindestens ansatzweise im Leser zur aktuellen Gegenwart zu machen, erwartete Lavater jedoch nicht bereits von den vorbereitenden Überlegungen, aus denen jetzt das Werk besteht, son28

Gemeinnütziger Auszug S. 6

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dern erst vóm geplanten Gedicht. Als Vorbild solcher Wirkung nennt er Klopstock, für den er panegyrische Worte findet. Der 10. Brief zitiert zustimmend einige Sätze aus Klopstocks Aufsatz »Von der heiligen Poesie«: »Der Poet, den wir meinen, muß uns über unsere kurzsichtige Art zu denken erheben, und uns dem Strom entreißen, mit dem wir fortgezogen werden. Er muß uns mächtig daran erinnern, daß wir unsterblich sind, und auch schon in diesem Leben viel glückseliger seyn könnten«. (I, S. 280) Audi Klopstock erfährt, wie fast alle Gewährsleute, auf die sich Lavater beruft, eine Umdeutung. Klopstock hatte Wirkungen im Auge, die in der momentanen Steigerung des »Gefühlsdenkens«24 bestanden, der Poet muß »die ganze Seele bewegen« 25 . Lavater geht es um den ganzen Menschen, das »vermischte Wesen« Bonnets, an einer Stelle macht er die Gleichung »sprechen, dichten oder singen, das ist vermittelst sinnlicher Äußerungen Begriffe und Empfindungen erwecken« (III, S. 206). Für ihn zielt das Gedicht auf ein Körper und Seele verbindendes Vermögen. Als solches erscheint ihm die Imagination, die Einbildung. Der 18. Brief spricht davon, daß alle Sünden »eigentlich nur in der Imagination ihren Sitz haben« und diese nur von allem Verweslichen befreit werden müsse (III, S. 159). Wenn es dem Gedicht gelingt, kann man folgern, die Imagination mit Unverweslichem zu erfüllen, ist Gewähr geboten, daß der Mensch in allen seinen Fähigkeiten hier schon der Ewigkeit teilhaftig wird. An den Schluß des zweiten Bandes stellt Lavater kommentarlos ein längeres Leibnizzitat, welches offenbar diese Auffassung illustrieren soll. Leibniz spricht davon, welche Wirkung von der Vorstellung künftiger Glückseligkeit auf das sittliche Leben ausgehe, wobei er daran erinnert, die Märtyrer hätten allein aufgrund der Einbildung künftiger Freude (imaginatione futurae voluptatis) den schrecklichsten Qualen widerstanden. Deshalb müsse man von Kindheit an mit allen Kunstmitteln solche Vorstellungen den Menschen einprägen. Der Schluß, den er daraus zieht, ist bei Lavater kursiv gedruckt: »Unde statuo, Poetas non posse melius de República mereri, quam si ómnibus viribus in aeterna Felicítate omni colorum genere pingenda atque animis imprimenda occupentur« (II, S. 283). Imagination nähert sich hier dem an, was wir Bewußtsein nennen. Die Dichter prägen das Bewußtsein, und dieses bestimmt das intellektuelle, moralische und physische Verhalten. Auch die Wirkung des Geistes und der K r a f t zielt darauf, ja »Geist und Kraft«, als Hendiadyoin genommen, kann geradezu als Synonym von Bewußtsein resp. Imagination gelten. Die Doppelformel faßt die beiden Teile des »vermischten Wesens« in eins. Es liegt in der Konsequenz des Ausgeführten, wenn Lavater viel später »Über Poesie und Prophezei« schreibt: »Was der fromme begeisterte Prophet von der Zukunft spricht, ist allemal Prophezei. Es erfüllt sich immer auf eine gewisse Weise, ohne daß er daran dachte, prophezeien zu wollen. Man kann sein Wort zitiren; man kann darauf appeliren; Gott läßt keines seiner Worte 24

Vgl. Gerhard Kaiser: Klopstock. Religion und Dichtung. Gütersloh 1963. S. 86 ff. Gefühlsdenken.

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auf die Erde fallen; das Schicksal ehrt ihn durch reelle Darstellung seiner reinpoetischen Darstellung. Es unterschreibt und besiegelt seine Divinationen, Ahnungen, Vorgefühle, Sprüche. Es sind Orakelsprüche, die ihr Kreditiv in sich selbst haben« 26 . Wenn es gar vom Dichter heißt: »Er spricht: >Es werde Licht«, und es ist Licht«27, tritt der Idealismus, den man magisch nennen muß, offen zu Tage, der verdeckter und verklausulierter in den »Aussichten« am Werk ist. Das Gedicht, das soldie Wirkung hätte ausstrahlen sollen, kam über wenige blasse Strophen nicht hinaus, nicht nur, weil sich Lavater damit zuviel vorgenommen hatte, es fehlte ihm dafür das dichterische Talent. Damit gerieten die nur als Vorbereitung gedachten Briefe an Zimmermann, die nun die »Aussichten« ausmachen, unter den Anspruch magisch-poetischer Wirkung. Goethe rezensierte sie unter diesem Gesichtspunkt, wenn er schreibt, »daß alles zusammen auf das Herz gar keine Wirkung tut«. »In dem siebzehnten Brief von den gesellschaftlichen Freuden des Himmels ist viel Wärme auch Güte des Herzens, doch zu wenig, um unsre Seele mit Himmel zu füllen« 28 . Zum Schluß bekommt Lavater den Rat, sich an Swedenborg ein Beispiel zu nehmen, was impliziert, daß Poesie nicht nur ihr Wirkungsziel, sondern auch ihren Ursprung in der Einbildung haben müsse, ganz im Sinne der Mahnung Fausts an Wagner: »Wenn ihrs nicht fühlt, ihr werdets nidit erjagen.« Lavater, heißt das, müßte selbst bereits der utopisdien Verklärung teilhaftig sein, um wirkungsvoll davon schreiben zu können. Die Wirkungsabsicht der »Aussichten« ist am offenkundigsten an Lavaters eigenen Bestrebungen ablesbar. Mandie davon werden auf dem Hintergrund seiner Utopie verständlich als Versuche, deren Realisierung mit allen Kräften zu befördern. Das gilt einmal für den befremdlichen Bekehrungsversuch an Moses Mendelssohn. Im Vorwort zum zunächst selbständig erschienenen zweiten Band der Übersetzung von Bonnets »Palingenesie« richtete Lavater an Mendelssohn die öffentliche Aufforderung, Bonnets Beweise für das Christentum entweder zu widerlegen oder aber »zu thun, was Socrates gethan hätte, wenn er diese Schrift gelesen und unwiderleglich gefunden hätte« 29 . Offenbar galt diese Initiative Mendelssohn als dem angesehensten Repräsentanten der Juden in Deutschland. Als Lavater wenig später in Zürich zwei Berliner Juden taufte, berichtete er Bonnet, »sie sagen mir, daß, wenn Moses ein Christ würde, einige tausend Juden ihm nachfolgen würden; aber es ist nicht zu hoffen; doch Gott 25

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« 28 28

F. G . Klopstock: Ausgewählte Werke, hrsg. von K . A . Schleiden. München o. J . S. 1000. (»Von der heiligen Poesie«) J . K . Lavaters ausgewählte Schriften, hrsg. von J . K . Orelli. 2. Theil. Zürich: 1 8 4 1 . S. 147 Ebd., S. 146 Der junge Goethe, Bd. 3, S. 90 J . C . Lavaters ausgewählte Werke, hrsg. von Ernst Staehelin, i . B d . Zürich: 1943. S. 2 1 7

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und dem, der da glaubt, sind alle Dinge möglich« 30 . Die Schlußbemerkung nach Mk. 9, 23 gibt zu erkennen, daß sich Lavater um Christusnachfolge in seinem Sinne bemühte. So wird man den Bekehrungsversuch an Mendelssohn in Zusammenhang mit folgenden Sätzen aus dem achten Brief der »Aussichten« bringen dürfen: »Freylich glaube und erwarte ich die Bekehrung der gesammten jüdischen Nation zum Christenthum. Freylich glaube ich, diese Bekehrung werde mit dem tausendjährigen Reiche Christi in einer sehr genauen Verbindung stehen« (I, S. 198). Zu den im Millennium bevorstehenden Freuden gehört auch: »zur Bekehrung der auserwählten Israeliten, und hiemit zur ewigen höchsten Seligkeit vieler tausenden unmittelbar geschäftig seyn« (I, S. 2 1 3 ) . Die Aufzählung beschließt das Bekenntnis: »Nach dieser Auferstehung und Theilnehmung an dem Reiche Christi will auch ich, mein Freund! mit allen Kräften meiner Seele ringen«. (I, S. 2 1 5 ) Audi jene Unternehmung, die Lavater europäischen Ruhm eintrug, scheint von der Himmelsutopie her motiviert zu sein, die »Physiognomisdien Fragmente«. Darauf deutet der Untertitel »Zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe« und das Motto »Gott schuf den Menschen sich zum Bilde« 3 1 . Die Physiognomik dient der Einübung in jene Sprache, mit welcher die mit vollständiger anschauender Erkenntnis begabten Seligen untereinander kommunizieren. So kann diese »menschlichste« und »göttlichste« »in der Natur gegründete Wissenschaft« 32 als Beitrag zur Herbeiführung des himmlischen Zustandes auf Erden gelten. Daß damit nach Lavaters Einsicht nur ein kleiner Schritt darauf zu eingeleitet wurde, geht aus den Einleitungsworten des 2. Bandes der »Physiognomischen Fragmente« hervor: »Etwa die Hand reichen kann ich, oder den Stab; nicht mit dem Stab den Strom spalten, daß wir trocken und Heerweise durchkommen — ins Land, das von Milch und Honig fließt. Menschen! Ich möchte mit Euch den Menschen kennen, und fühlen lernen; — fühlen lernen, welch Glück und Ehre es ist, Mensch zu seyn.« 33 Die »Physiognomischen Fragmente« selber stellen eine Galerie von sub specie aeterni beurteilten Individuen dar. Sie nehmen gewisserweise das jüngste Gericht vorweg 34 . Schließlich ging Lavaters ganzes rastloses Bestreben darauf aus, Gemeinschaft zu stiften oder zu fördern, die einen Vorgeschmack künftiger Glückseligkeit darstellte. Wir wissen aus den Schilderungen Goethes und anderer, die ihn persönlich kennenlernten, wie unwiderstehlich gewinnend der Zauber war, der von ihm ausstrahlte. Wo er auftauchte, bildeten sich Zirkel, wobei nicht selten die »Aussichten« das Thema der Unterhaltung abgaben. Von den »Ausso Ebd., S. 230 J . C. Lavater: Physiognomisdie Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe. Leipzig/Winterthur 1775/78. Faksimiledruck Zürich 1968. 32 Physiognomisdie Fragmente I, S. a 2 83 Physiognomisdie Fragmente II, S. $ 84 Den Zusammenhang der Physiognomischen Fragmente mit den »Aussichten« behandelt Ernst Benz in seinem in Anm. 19 genannten Aufsatz. 31

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sichten« her wird verständlich, daß er stets darauf drängte, seine Korrespondenten von Angesicht, mindestens als Schattenriß, vor sich zu haben. Die Bekehrungssucht stand in engster Beziehung zu seinem Drang nach Gemeinschaft, da, wie die »Aussichten« ausführen, Gleichförmigkeit mit Christus deren Voraussetzung war. In der Neugier schließlich für alles, was zu seiner Zeit nach Wundertätigkeit aussah, zum Beispiel dem Interesse an Gassner, und in den eigenen Versuchen, mit Hilfe des Magnetismus Krankenheilungen zu erreichen, wurde sein Glaube praktisch, was die ersten Christen vermocht hatten, sei jederzeit wieder möglich. Die Geschichte der Freundschaft mit Goethe verlief insofern tragisch, als es gerade die in den »Aussichten« entworfene Utopie war, die Lavater die Beziehung mit Goethe suchen ließ und die ihm den Freund wieder entfremdete. Goethe führt in seiner Rezension der »Aussichten« und ausführlicher in den Lavater gewidmeten Partien von »Dichtung und Wahrheit« Lavaters Denken und Handeln auf sein besonderes Naturell zurück und die Umstände, an denen es sich bildete. Von uns aus betrachtet, kündigt sich in den »Aussichten« auch das geschichtsphilosophisdie Denken an, dessen Anfängen bei Voltaire, Iselin, Wegelin sie zeitlich benachbart sind. Nicht umsonst gehörte Herder zu ihren begeisterten Lesern 35 . Man wird freilich zögern, Lavater bereits den Geschichtsphilosophen zuzurechnen. Er steht noch weitgehend im Banne der heilsgeschichtlichen Betrachtungsweise86. Mit dem organischen Entwicklungsdenken, dem erneuerten Chiliasmus, der Dominanz des Moralischen und dem Ideal der Mitmenschlichkeit aber enthalten die »Aussichten« bereits wichtige Elemente für jenes Verständnis der Geschichte als »historischer Theodizee« 37 , welche im 19. Jahrhundert zentrale Bedeutung erlangen sollte.

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Z u Herders Aufnahme der »Aussichten« vgl. Rudolf Haym, Herder. Darmstadt 1954. Bd. 1, S. 540 Vgl. dazu Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Stuttgart 1 9 5 3 2 . Oscar Cullmann, Heil als Geschichte. Tübingen 1965. J . J . Hess: Von dem Reiche Gottes; ein Versuch über den Plan der göttlichen Anstalten und Offenbarungen. 2 Bde. 1774 zit. bei Ernst Staehelin: Die Verkündigung des Reiches Gottes in der Kirche Jesu Christi. Bd. I V , Basel 1963. S. 162

Idyllik und Sozialkritik bei Johann Heinrich Voß * Von GERHARD KAISER, Freiburg Es ist das Verdienst von E. Theodor Voß, die in Johann Heinrich Vossens Idyllik scheinbar auseinanderklaffenden Tendenzen zur Verklärung und zur Sozialkritik in ihrer Einheit und Zusammengehörigkeit begreiflich gemacht zu haben. Die Sozialkritik verschärft sich in der Orientierung an einer arkadischen Welt naturhafter Übereinstimmung des Menschen mit sich und seiner Umgebung; die Stilisierung ländlicher und bürgerlicher Verhältnisse zur Idylle ist nicht Verklärung des V o r h a n d e n e n , sondern kritisches Gegenbild zu ihm, Wunschbild »einer Zukunft des wiedergewonnenen Paradieses< der eigentlich menschlichen Bestimmung, in der die aus der >Leib-< und >Geisteigenschaft< Befreiten... >im erneuten Erdparadies gottähnlicher aufblühnroten Hahn< aufs Dach setzen wollen«. An diesem Inhaltsreferat ist alles falsch: e i n Leibeigener bäumt sich auf und will e i n e m Junker den roten Hahn aufs Dach setzen, beugt sich aber alsbald den religiös-moralischen Ermahnungen des anderen, die in der hier interpretierten Ausgabe von 1801 gegenüber der Erstausgabe noch verstärkt worden sind. Übrigens hat Hermand in der Vorbemerkung nur den Obertitel der Erstausgabe »Die Leibeigenschaft«! zitiert, im Textteil dann aber die Idylle unter dem Untertitel der Erstausgabe »Die Pferdeknechte« abgedruckt, so daß nur der Kenner weiß, daß es sich beide Male um die gleiche Dichtung handelt. Der irreführende Eindruck der »Explosivkraft« dieser Idylle (ebd., S. 17) wird dadurch verstärkt, daß Hermand »Die Freigelassenen« mit keinem Wort erwähnt. Durch solche Verfahrensweisen droht die Rekonstruktion einer deutschen republikanischen Tradition in die bloße Konstruktion umzuschlagen.

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Stellung einer kleinen Welt den direkten Zugriff der Kritik auf den Landesherrn, in dem sich das feudalabsolutistische System zusammenfaßt. Audi dieser Zug ist verbreitet in der deutschen Literatur der Zeit. Der Landesherr bleibt im Schatten einer Sozialkritik, die ihre Stoßkraft gegen nachgeordnete Instanzen richtet: in »Emilia Galotti« oder in »Kabale und Liebe« gegen die leitenden Ratgeber, in »Fiesco« gegen den Neffen des Regenten, in »Götz« gegen die Reichsstände statt gegen den Kaiser, in der »Entführung aus dem Serail« gegen Osmin, nicht den weisen Bassa Selim. Noch wichtiger ist, daß die hergestellte Natur der Vossischen Idylle bei der gattungsgemäßen Statik der in ihr dargestellten Verhältnisse eines von außen kommenden Herstellers bedarf: des aufgeklärten Adligen. Er hat . . . mit seinem Erzieher, dem Prediger, weit in der Welt sich Umgesehn, und gemerkt in der Schweiz und dem werbsamen England: Mensch sei der Bauer, nidit Vieh . . . (81)

Wieder ist Voß hier Repräsentant einer in der deutschen Literatur der Zeit weit verbreiteten Tendenz, Adlige zu Trägern bürgerlicher Ziele und Bestrebungen zu machen und umgekehrt diese Ziele so zu formulieren, daß sie nidit auf Sturz des Adels, sondern auf Gleichberechtigung des Bürgers hinauslaufen. Die Ständesdiranken werden ideell in einer Menschheitsidee aufgehoben, die sich zeitlos gültig und allgemein menschlich, mit einem Wort als naturhaft und naturgegeben versteht. Solche aufgeklärten Adelsfiguren in der deutschen Dichtung, die bürgerliche Ideale verkünden, welche das Bürgertum kaum artikulieren, geschweige denn realisieren kann, sind etwa Graf Moor, der die Republik herstellen will, Ferdinand von Walter, Marquis Posa, der Ritter Götz, der Graf Egmont, das Fräulein von Barnhelm. Der adlige Gutsherr in den »Freigelassenen« hat eine ausgesprochene Familienähnlichkeit mit Vossens Pfarrern, die erfüllt sind von bürgerlichen Tugenden und bürgerlicher Aufklärung, aber machtlos, diesen Idealen Bahn zu brechen. Diese Pastoren sind darauf beschränkt, indirekt, als Erzieher, zu wirken. Es ist schon Fortschritt aus der Sphäre der »Leibeigenen« in die der »Freigelassenen«, wenn sie es dürfen. Die eigentliche Reform muß von oben gebracht werden. Voß selbst hat an solche Reform von oben geglaubt und seine Dichtung als Beitrag betrachtet, sie vorzubereiten und auszulösen16. Ist es gattungskonform, daß bei in sich stehenden Verhältnissen Bewegung von außen kommen muß, so ist doch die Notwendigkeit, solche Bewegung herbeizuführen, der Idylle traditionell unangemessen, sofern sie üblicherweise das

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Dagegen spricht nidit seine Begeisterung für die Französische Revolution. Voß ist Reformer, weil er etwas erreichen will, und unter den deutschen Verhältnissen der Zeit hat der Revolutionär keine Chancen. Praxisorientierung und reformerischer Pragmatismus gehen auseinander hervor. A m 20. März 1775 schreibt er an seinen Freund Brückner mit Bezug auf »Die Leibeigenen« und »Die Freigelassenen«: »Ich

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Bild eines überdauernden Harmoniezustandes innerhalb geschichtlicher Dissonanzen gibt. Bedeutet schon die Verkehrung der Idylle in den »Leibeigenen« inmitten einer verkehrten Welt eine Einebnung der Idyllenstruktur, so noch mehr, daß ihr in den »Freigelassenen« von außen, aus der weiten Welt, wo es natürlicher zugeht, das Heil erwächst. Umgekehrt ist die Art und Weise, in der bei Voß dieses Heil gedacht ist, ebenso idyllengemäß wie dadurch beschränkt. Hier liegt sogar die entscheidende Grenze seiner Konzeption, mit der er weit hinter die Klassik und viele Vertreter der Aufklärung und des Sturm und Drang zurückfällt. Denn nicht nur fehlen seiner als allgemein menschlich gefaßten Idee des Menschen die spezifisch politischen Gehalte. Wenn der Freiheitsbegriff Vossens mehr humanitär als politisch oder sozial ist, wenn es in der Idylle weniger um politische Rechte und ökonomische Unabhängigkeit als um die Freiheit, Mensch zu sein, geht; wenn demgemäß Stände-Fronten als moralische Fronten ausformuliert werden, ist das ein Zug, der sich abermals weithin in der deutschen Literatur der Zeit findet — von »Emilia Galotti« bis zum »Wilhelm Teil«. Das Unterscheidende in Vossens Idee naturhafter Menschheit und natürlicher Gesellschaftsformen liegt demgegenüber darin, daß diese Ideen bei ihm in einer Kleinbürgerlichkeit ausgeprägt sind, die seiner energischen Wendung zur Darstellung der unteren gesellschaftlichen Schichten in der Dichtung entspricht. War unter Bezug auf Schillers geschichtsphilosophische Konzeption der Idylle bei Voß von einer Zukunftsperspektive der Gattung die Rede, so zeigt sich jetzt auch das, was Vossens Idylle schroff von dieser Schillerschen Konzeption abhebt. Bei Schiller nämlich ist die herzustellende elysische Idylle, die herzustellende Natur des Menschen eine, die alle Errungenschaften der Geschichte und der Kultur in sich aufhebt, eine Idylle, »welche jene Hirtenunschuld auch in Subjekten der Kultur und allen Bedingungen des rüstigsten feurigsten Lebens, des ausgebreitetsten Denkens, der raffinirtesten Kunst, der höchsten gesellschaftlichen Verfeinerung ausführt« 17 . Bei Voß hingegen ist die herzustellende Idylle eine Zukunft, die ganz retrospektiv ist und sich an schon geschichtlich versinkenden Vorstellungen orientiert — sie ist eine Idylle, die geschichtlich untergehende Ideale ins Endzeitliche projiziert und damit zum Ziel der Geschichte verklärt; mit Schiller zu reden: eine arkadische Idylle, die sich als elysische ausgibt. Hier liegt das Janusgesicht der religiösen Säkularisate, deren sich Voß zur Ausmalung des Ideals bedient: Es gewinnt von hier seinen Glanz, aber er ist von einem adligen Herrn als Erlöser gespendet, und er ist ein Glanz der Verblendung, der etwas höchst Relatives verabsolutiert. Im Bund

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denke zuweilen so stolz, daß ich durdi diese Gedichte N u t z e n stiften könnte. Welch ein Lohn, w e n n ich etwas zur Befreiung der armen Leibeigenen beigetragen hätte!« Natürlich ist der aufgeklärte A d l i g e und der aufgeklärte Fürst auch eine charakteristische Erscheinung der historischen Realität des 18. Jahrhunderts, w i e schon der V e r weis auf den G r a f e n R a n t z a u zeigt. Ober naive und sentimentalisdie Dichtung. Schillers Werke, Nationalausgabe 20. P h i losophische Schriften I. Teil, hrsg. von Benno von Wiese, H e l m u t Koopmann, W e i m a r 1 9 6 2 , S. 4 7 2

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des früher vorwärtsdrängenden Pfarrers mit dem adligen Patronatsherrn wird ein Nahziel zementiert, beschränkte Zuständlichkeit zum Endzustand überhöht. Dieser rückwärts gewandte Zug der Vossischen Idylle zeigt sich am deutlichsten in der patriarchalischen Ordnung, die aus der Aufhebung der Leibeigenschaft hervorgeht. Auch dafür gibt es zahlreiche Parallelen in der deutschen Literatur der Zeit — etwa in der Idealisierung des Verhältnisses Götzens zu seinen Bauern, Egmonts zum Volk, des alten Attinghausen zu seinen Schweizern. Aber überall hier besteht der deutliche Unterschied, daß trotz der Verklärung dieses patriarchalische Verhältnis als untergehendes, nicht, wie bei Voß, als neu entstehendes gedacht ist. Im »Wilhelm Teil« wandelt sich die patriarchalische Idylle zur Brüderordnung 18 , mit Götz und Egmont geht sie dahin. Bei Voß nichts davon; sein patriarchalisches Modell formuliert sich vielmehr im Rahmen der Idylle mit äußerster Massivität aus und verstärkt sich noch an der Vorgabe, die von der Gattung in dieser Beziehung gegeben ist, denn das patriarchalische Verhältnis ist ein Urbestand der Idylle oder idyllischer Episoden — man denke an die idyllisch empfundene Begegnung des heimkehrenden Herrn Odysseus mit seinem Schweinehirten Eumaios; die patriarchalische Ordnung stellt eine Naturform von Herrschaft vor. Als solche prägt sie sich in den »Freigelassenen« aus. Der Baron und die Bauern, Herr und Gemeinde verhalten sich zueinander wie Vater und Kinder; »ein Wink vom lieben Herrn: wir thuns! Und liefen durch das Feur!« (92). So singen die freigelassenen Bauern. Er ist ein »mildthätiger Herr«, der »stets auf unsere Wohlfahrt sinnt«, und zwar »väterlich« (87). »Alles nennt ihn Vater, geheim und öffentlich; alles segnet ihn«, den »Gütigen« (88). »Es lebe unser Vater hoch!« rufen die Bauern aus (93). Entsprechend ist auch die Lebensform der Bauern untereinander ganz nach dem Ordnungsbild des patriarchalischen Hauses gedacht, in dem »häusliche Tugend« (83) gepflegt und Glück als Beschränkung in Einfalt, Einfachheit und gemütvoller Innerlichkeit erfahren ist. So sind die biedere und harmlose Heiterkeit, die strenge Ehrbarkeit der Figuren zu verstehen, zwischen denen um einen Kuß, die Pantoffeln in der Ehe oder einen Schnupfen verhandelt und gescherzt wird. Noch die öffentlichen Anliegen sind — wiederum gattungsgemäß — in Intimsituationen hineingezogen. Es ist kaum ein Schritt von diesem kleinbürgerlich-konservativen Liberalismus zum liberalen Konservatismus des mit Voß befreundeten Matthias Claudius, der sein Prosastück »Paul Erdmanns Fest«, das er 1782 im 4. Teil seiner »Sämmtlichen Werke« veröffentlichte, in eine ähnliche Huldigung der Bauern für ihren gnädigen Herrn, in ein ähnliches Bauernlied ausgehen läßt wie Voß. Chodowieckis Kupferstich zu diesem Werk* hat bei aller Zurückhaltung sehr viel kritischer 18

Vgl. Gerhard Kaiser: Idylle und Revolution. Schillers »Wilhelm Teil«, in: Deutsche Literatur und Französische Revolution. Mit Beiträgen von G . - L . Fink, W. MüllerSeidel, C . David, G . Kaiser, L. Ryan, K . Wölfel. Göttingen 1974, (Kleine Vandenhoedc-Reihe 1395), S. 8 7 - 1 2 8

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Reproduktion oben gegenüber S. 3 1 4

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und schärfer als die Dichter die unsichtbare, aber unüberschreitbare Grenzlinie markiert, die noch in der Familiarität zwischen Bauern und Adelsgesellschaft verläuft: Bauern und Adlige stehen sich als geschlossene Gruppen gegenüber. Genau in der Mitte des Bildes befindet sich der huldigend vom Sprecher der Bauern gezogene Hut. Dem verehrungsvollen Aufbiidt der Bauern begegnet der neugierig-wohlwollende, den exotischen Reiz dieser Annäherung auskostende Gegenblids der adligen Herrschaften. Im Hintergrund, jenseits der Türöffnung, sieht man Bauern mit Dreschflegeln draußen stehen, potentiell, aber audi nur potentiell, eine revolutionäre Menge. 1 8 3 V o ß geht mit seiner Sozialkritik an die Grenze der Gattungsmöglichkeiten der Idylle, aber er akzeptiert auch von der Gattung die Grenze seiner Sozialkritik. Noch die Sprachform des Hexameters monumentalisiert zuletzt nicht nur das Leiden der »Leibeigenen«, sondern auch das Kleinglück der »Freigelassenen«. Sofern die Antike seit Winckelmann als klassischer Naturraum des Menschlichen verstanden wird, legt sich durch den Hexameter als klassischen Vers ein Hauch der Antikisierung über deutsche Provinzialität, die damit als Fortsetzung und Erneuerung klassischer Naturformen des Lebens erscheint und legitimiert wird. Während der Hexameter in der Großform des Epos mit ihrer Handlungsfülle Bewegtheit ordnet und vorzeigt, droht er in der Kleinform der Vossischen Idylle mit seiner Statik das wenig bewegte Verhalten und Leben der Menschen zum lebenden Bild stillzustellen, in dem der Mensch, sobald er nicht mehr, wie in den »Leibeigenen«, der Vollkommenheit der Natur- und Dingwelt kontrastiert wird, zu einem Ornament der Herrlichkeit der Dinge wird — eine Stiftersche Problematik kündigt sich hier an. Bei all solchen Charakterisierungen wird nun ständig der Blick zu Goethes »Hermann und Dorothea« hinüberlaufen, dem idyllischen Epos, das ja ohne V o ß kaum denkbar wäre. Und doch bestätigt gerade dieser vergleichende Blidt, daß Voß an einer Linie innehält, die Goethe überschreitet, wie überhaupt Goethes und Schillers Leistung in der Geschichte der deutschen Idylle darin besteht, daß sie die Gattung sprengen und die idyllische Motivik in die Großformen Epos,

18a Ein besonders eindringliches Symbol für das Scheinhafte der patriarchalischen Familiarität zwischen Bauern und adligen Herren findet sich im »Beschriebenen Tännling« Adalbert Stifters. In einer großen theatralischen Veranstaltung spielt bei Stifter die adelige Jagdgesellschaft Natur. Ein Festzelt ist aufgebaut, in dem die Herrschaften speisen und trinken, während draußen die Bauern ihre Lustbarkeit haben. »Zuletzt . . . wurde die Freude allgemein, viele Gläser streckten sich, von den H ä n den der Herren gehalten, bei dem Linnengebäude des Speisesaales heraus, um mit dem Volke anzustoßen, und die Rufe auf das Glück und die Gesundheit aller, die es gut mit uns meinen, und die wir lieben, tönten weit in die Nadit hinaus.« (Adalbert Stifter, Gesammelte Erzählungen in 3 Bdn., hrsg. u. eingel. von Walter Hoyer, Leipzig o. J., Bd. 3, S. 42.) Die durch dieZeltwände durchgestreckten Gläser; die Trennung in der Vereinigung - dieses Bild wiegt Bibliotheken literarisch gutgemeinter, aber schlecht gekonnter Gesellschaftskritik auf.

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Drama und Roman einbringen. So gelingt im idyllischen Epos »Hermann und Dorothea« eine idyllengemäße Konstellation von kleiner Welt und großer Welt der Geschichte, die bei V o ß mißlingt, wenn der Idylle in den »Freigelassenen« von außen die Natur gebracht werden muß. Bei Goethe entsteht eine Idylle, die zur Geschichte geöffnet ist und von ihr her nicht nur verklärt, sondern auch relativiert, ironisiert 19 und überschritten wird. Demgegenüber fehlt bei Voß viel von der Idylle sonst mitkonstituierender Distanz des Erzählers zur idyllischen Welt, die mit der Verklärung überdauernder N a t u r aus sentimentalischem Abstand zusammenhängt; solche Distanz ist weder da gegeben, w o die Idyllenverhältnisse denen draußen an Mißlichkeit gleichen, noch da, w o der Hersteller der Idylle von außen den gleichen Bewußtseinsstand einnimmt wie der Erzähler. Z w a r ist bei Goethe die Sozialkritik i n der Idylle bis auf Spuren ausgespart, aber sie trägt sich umfassend vor als Kritik

a n der Idylle, wäh-

rend bei Voß mit der Einholung der Sozialkritik in die Idylle auch die letztliche Domestizierung der Kritik einhergeht. Entsprechende Überlegungen ließen sich im Vergleich von Voß* und Schillers Idyllik in seinen klassischen Dramen, vorab dem »Wilhelm Teil«, durchführen: Auch im »Wilhelm Teil« öffnet sich die arkadische Idylle und weist präformativ auf die elysische Idylle am Ziel der Geschichte hin. Voß bringt die sozialkritischen Impulse, indem er sie in die Idylle verpflanzt, um ihre Handlungsenergie,

Schiller aber transponiert die

Idyllenmotive ins Drama und macht damit ihre dynamische geschichtsphilosophische und zeitkritische Entfaltung möglich 20 . 19

20

Zur ironischen Erzählhaltung in »Hermann und Dorothea« vgl. Oskar Seidlin: Über »Hermann und Dorothea«, in: Lebendige Form. Festschrift Heinrich E. K . Henel. Mündien 1970, S. 1 0 1 - 1 2 0 , und Maria L y p p : Ästhetische Reflexion und ihre Gestaltung in Goethes »Hermann und Dorothea«, Stuttgart 1969, eine bei Wilhelm Emrich vorgelegte Berliner Dissertation. Meine Interpretation verhält sich an diesem Punkt genau spiegelbildlich zu der von H.-W. Jäger, der einer »a- oder antipolitisdienKlassik« (Politische Kategorien, S. 28) einen »jakobinischen Voß« gegenüberstellt: »die Idylle unterstellt sich dem Kommando der revolutionären Bewegung« (ebd., S. 25). Wer das aus Voß' Idyllik heraushört, muß schon viel revolutionären Marsditritt im Ohr haben. Als Beleg für seine Charakteristik Vossens zitiert Jäger (ebd., S. 25) einen Brief an Gleim vom 5. April 179$, in dem Voß sein Gedicht »Das Oberamt« rechtfertigt: »Sind wir Schriftsteller denn nur zum Gutheißen des Hergebrachten . . . bestimmt? Nicht auch zum Warnen?« Der vollständige Passus lautet: » . . . Nun wohl! Die Zeit der Anfechtung wird vorübergehn; und dann wird es keinem Menschen einfallen, daß s o l c h e Gesinnungen aus Paris stammen! Es ist der durchgehende Geist a l l e r A l t e n ; und wie mir's scheint, der einzige, der das Glück der Menschen sichert. Majestät des Volks! Woher haben wir das Wort Majestät? Und was bedeutet es, als Wille der Mehrheit, gesetzmäßig erklärt? und einem Vollzieher übertragen? Der Sinn des Liedes geht so wenig auf Demokratie, daß selbst eine durch Stände unumschränkte Monarchie gebilligt wird, wofern der Monarch nur das laute einhellige Verlangen seines Volks nicht verachtet, nicht dem Volke den Krieg erklärt. Dawider handelte der Konvent, als er die Religion aufhob; dawider Joseph in den Niederlanden; dawider König Georg in Amerika; dawider - doch wer mag aufzählen! Sind wir Schriftsteller denn nur zum Gutheißen des Hergebrachten, oder seit kurzer Zeit Gewordenen bestimmt? Nicht

Idyllik und Sozialkritik bei Johann Heinrich Voß

319

[Fortsetzung der Fußnote 20] auch zum Warnen? Man hört es nicht! So wollen wir ganz schweigen; aber auch keinen Laut zum Einschläfern der aufgeschreckten Gesetzlosigkeit, sie nenne sich Monarch oder Gleichheitsbürger, uns verstatten . . . « (Johann Heinrich Voß, Briefe nebst erläuternden Beilagen, hrsg. von Abraham Voß, 3 Bde., Halberstadt 1829-32, Bd. 2, S. 3 1 3 f.). Wenn das Jakobinismus ist, hat Deutschland an Jakobinern keinen Mangel gelitten. Jäger und Hermand sollten sich bei soliden Marxisten orientieren. In der Einleitung ihrer Ausgabe: Voß. Werke in einem Band, Berlin und Weimar 1972, bemerkt Hedwig Voegt korrekt zu den »Leibeigenen«: »Die Strafandrohung, die der Dichter nunmehr aussprechen läßt, bleibt religiös befangen.« (S. X I V ) Sie versäumt auch nicht, auf »Die Freigelassenen« und »Die Erleichterten« hinzuweisen mit dem Kommentar: »Die Bauern befreien sich nicht selbst, sie werden befreit.« (S. X V ) Den »Widerspruch« der oben zitierten Briefstelle - »nämlich den Willen des Volkes einem einzelnen zu übertragen« - , erklärt sie aus der »historischen Situation« (S. X X X I I ) . Fraglich bleibt allerdings im Blick auf diesen Brief (»Der Sinn des Liedes geht so wenig auf Demokratie . ..«), warum sie Voß einen »bürgerlichen Demokraten« nennt und ihm bescheinigt, er sei seiner »demokratischen Gesinnung stest treu« geblieben. A n anderer Stelle wird die »unbeirrbare demokratische Haltung der Dichter Bürger und Voß« hervorgehoben. Indem Voegt dem Beirrbaren Unbeirrbarkeit bescheinigt, zeigt sie eine ähnliche Inkonsequenz wie darin, daß sie, dem Sprachgebrauch der Reaktion folgend, »Die deutsche jakobinische Literatur und Publizistik 1789-1800« (Berlin 1955; dort S. 33, 35, 37 über Voß) monographisch abhandelt, »obgleich es im klassischen Sinne während der Jahre 1793 und 1794 in Deutschland niemals Jakobiner gegeben hatte - der Versuch der Mainzer Jakobiner sei hier ausgenommen...« (ebd., S. 18). Voegt schreibt also weithin über etwas, was es gar nicht gibt, und darin ist sie schulebildend geworden.

Zum sozialen Gehalt der »Lehrjahre« Von

ROLF-PETER JANZ,

Berlin

/. Am »Wilhelm Meister« hat Schiller gerühmt, daß Goethe, »sobald es auf etwas rein Menschliches ankommt, Geburt und Stand in ihre völlige Nullität« zurückweise, zugleich aber die Befürchtung geäußert, daß es dem Helden nicht gelingen werde, die Inferiorität des Bürgers unter den Adligen der Turmgesellschaft vergessen zu lassen 1 . Seitdem ist ernsthaft nicht bestritten worden, daß der Gegensatz von Feudaladel und Bürgertum zu den zentralen Themen des Romans gehört, und Einverständnis wird wohl auch darüber vorausgesetzt werden können, daß der Roman von den Schwierigkeiten des bürgerlichen Individuums handelt, sich unter spätfeudalen Verhältnissen selbst zu verwirklichen. Wenn Goethe Jahre später den Helden seines Romans dem Kanzler von Müller zufolge einen »armen H u n d « nennt und dazu bemerkt, »aber nur an solchen lasse sich das Wechselspiel des Lebens und die tausend verschiedenen Lebensaufgaben recht deutlich zeigen, nicht an schon abgeschlossenen festen Charakteren«, so nimmt er damit eine These wieder auf, die sich als zugleich gattungspoetische und geschichtsphilosophische bereits in den »Lehrjahren« selbst formuliert findet: im Mittelpunkt des Romans steht weniger ein Held als »tausend verschiedene Lebensaufgaben«, die am Beispiel einer als »armer Hund« disponierten Figur gezeigt werden sollen 2 . Gründlich mißverstanden wäre das Dictum, wollte man dem in den »Lehrjahren« thematisierten »Wechselspiel des Lebens« den konkreten historischen Gehalt bestreiten. Andererseits ist der Roman gewiß nicht als Darstellung der deutschen Zustände während der Französischen Revolution zu lesen, wie sie Goethe in Sachsen-Weimar und Kursachsen vor Augen hatte; vielmehr als die ästhetische Formulierung des 1

2

An Goethe, j. Juli 1796. Goethes Werke. Hamburger Ausgabe [ H A ] , ed. Erich Trunz. 8., neubearbeitete Aufl., München 1973, Bd. 7, S. 636. Nadi diesem Band werden im Folgenden die »Lehrjahre« nur unter Angabe der Seitenzahl zitiert. Unter den Arbeiten, die auf den sozialen Gehalt des Romans eingehen, ist hervorzuheben die von W. H. Bruford: Goethe's Wilhelm Meister as a Picture and a Criticism of Society. In: Publications of the English Goethe Society, I X , 1 9 3 1 - 3 3 , repr. 1966, S. 20-45; ihre Ergebnisse werden hier vorausgesetzt. Aufzeichnung des Kanzlers von Müller, 22. Januar 1821. H A 7, S. 618

Zum sozialen Gehalt der »Lehrjahre«

Modells einer Gesellschaft, das im wesentlichen durch vier soziale Bereiche (Bürgertum, Theatermilieu, Rokokoadel und Reformadel) konstituiert wird und in dem die einzelnen sozialen Positionen nach Maßgabe der historischen Konstellation der neunziger Jahre idealtypisch so besetzt sind, daß in der Konfrontation mit ihnen das Problem der »Lehrjahre«, des Bildungsprozesses eines bürgerlichen Individuums unter feudalen Bedingungen, exemplarisch entfaltet werden kann 3 . Jene »tausend verschiedenen Lebensaufgaben« hat Goethe seiner Hauptfigur in der Weise gestellt, daß er sie im bürgerlichen Elternhaus, auf dem Grafenschloß, bei der Schauspieltruppe und schließlich in der Turmgesellschaft jeweils verschiedene Erfahrungen machen läßt. Wenn es richtig ist, den Roman in diesem Sinne als Darstellung eines Gesellschaftsmodells zu lesen, so ist zugleich einsichtig, daß die Frage nach seinem sozialen Gehalt sich nidit auf historische Fakten, so die Auseinandersetzungen um die Steuerfreiheit des Adels in Weimar und in den kursächsischen Landständen, beschränken läßt, die in den Roman eingegangen sind. Sinnvoll zu stellen ist sie nur in ihrem geschichtsphilosophischen Kontext. Dieser kann in seinen konkreten historischen Dimensionen erst ermittelt werden, wenn die Romanfiguren, die Goethe im Fortgang der Erzählung einander konfrontiert, in ihrer sozialen Definition genauer analysiert werden, als dies bislang geschehen ist. Folgt man weiter jener Aufzeichnung des Kanzlers von Müller, so hat Goethe Wert auf die Feststellung gelegt, »daß der ganze Roman durchaus symbolisch sei, daß hinter den vorgeschobenen Personen durchaus etwas Allgemeineres, Höheres verborgen liege«. Die hier vorgeschlagene Fragestellung zum sozialen und geschichtsphilosophischen Gehalt des Romans wird nicht zuletzt danach zu beurteilen sein, ob sie dazu beitragen kann, die Personen und das »Allgemeinere«, »Höhere«, das sie repräsentieren, über die abstrakten Bestimmungen einer Notiz von 1793 hinaus (»Wilhelm: äshetisch-sittlicher Traum — Lothario: heroisch-aktiver Traum« usw.)4 zureichend, d. h. auch im Kontext ihrer sozialen Bedingungen zu erklären.

II. Wilhelm Meister wird als »junger, zärtlicher, unbefiederter Kaufmannssohn« (S. 10) eingeführt, der sich vor die Entscheidung gestellt sieht, entweder den ihm vorgegebenen sozialen Status zu akzeptieren und eines Tages das väterliche Handelsunternehmen fortzuführen oder sich aus den Zwängen des bürgerlichen Lebens, das weitgehend zugunsten des Gelderwerbs funktionalisiert ist, zu befreien. Als Movens der Romanhandlung kann der Konflikt zwischen Comp3

Vgl. hierzu und zum Folgenden die Studie von Pierre Bourdieu: L'invention de la vie d'artiste. In: Actes de la recherdie en sciences sociales, 2, 1 9 7 J , der ich wichtige A n regungen verdanke. * H A 7, S. 6 1 6

Rolf-Peter Janz

toir und Kunst gelten, der nicht erst ausbricht, als Wilhelm Mariane und mit ihr die Welt des Theaters kennenlernt, sondern schon seine Jugend geprägt hat. Mit Mariane bietet sich ihm erstmals die Möglichkeit, sich aus dem »stockenden, schleppenden bürgerlichen Leben« zu befreien (S. 35). Sein Entschluß, sie zu heiraten und zum Theater zu gehen, läßt jedoch zugleich erkennen, in welchem Maße er diesem Leben noch verpflichtet ist. Angesichts dessen, daß Madame Melina die Ehe mit einem Schauspieler mit der Ächtung zu bezahlen hat, die das damalige Bürgertum für diese Schicht gesellschaftlich Deklassierter bereithielt und die ihren ökonomischen Ausdruck im Verlust der Erbschaft findet, zieht es Wilhelm vor, die bürgerlichen Konventionen zu respektieren. Sowohl seine Beziehung zu Mariane als auch der geplante Eintritt in die Truppe Serlos sollen verborgen bleiben. Anders als Madame Melina, die sich gezwungen sieht, ihren bürgerlichen Status aufzugeben, bleibt Wilhelm Bürger — Bürger mit ästhetischen Neigungen. Subjektiv freilich wähnt er sich in einem Zustand sozialer Unbestimmtheit, der es ihm erlaubt, antibürgerliche Ressentiments, namentlich gegen die Profitinteressen der eigenen Familie, mit Sympathien fürs Theatermilieu zu verbinden. Nur die eingebildete Ungebundenheit des wohlhabenden Bürgersohns mit Theaterambitionen kann die Verachtung erklären, mit der Wilhelm die Absicht Melinas straft, sich der Schauspielerei und den in ihr erfahrenen Demütigungen zu entziehen und einen bürgerlichen Beruf zu suchen. Die gleiche Disposition prägt auch seine Beziehung zu Mariane und Philine. Wilhelms Liebe zu Mariane gilt zugleich dem Nichtbürgerlichen, das sie repräsentiert. Einmal der Unordnung der Boheme und der Armseligkeit ihrer plebejischen Lebensumstände; sie bieten ihm Reize, die seine »stattliche Prunkwohnung« (S. $9) vermissen läßt. Zum andern trennt ihn von ihr und fasziniert ihn zugleich die Schauspielkunst, an der er die Möglichkeit des Rollentauschs wahrnimmt. Auch an Philine reizt ihn Nichtbürgerliches, eine die moralischen Konventionen ignorierende Sinnlichkeit und plebejisches Geschick, in jeder Situation sich zu behaupten5. Das hindert ihn freilich nicht, der »leichtfertigen Schönen« (S. 238), zumal in feudaler Umgebung, unfeines Benehmen und mangelnde Gesellschaftsfähigkeit zum Vorwurf zu machen. Die Trennung von Mariane setzt nur scheinbar dem Schwanken zwischen Bühnenlaufbahn und Kaufmannsberuf ein Ende. Vielmehr behält Wilhelm das Interesse an der Emanzipation aus bürgerlichen Zwängen auch dann noch bei, als er sich längst für die Bühne entschieden hat. Der Wunsch nach sozialer Unbestimmtheit findet indessen seine ironische Umkehrung in der ebensogroßen Bereitschaft, was geschieht, als Bestimmung des Schicksals hinzunehmen, unbeirrt von den Versuchen der Turmgesellschaft, ihn über die Vernünftigkeit des Menschen und seine Autonomie aufzuklären. Als Bestimmung des Schicksals nimmt Wilhelm 5

Georg Lukdcs: Wilhelm Meisters Lehrjahre. In: G . L.: Faust und Faustus, Reinbek 1967, S. 34

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die Begegnung mit Mariane, die ihm die Aussicht eröffnet, auf dem Theater dem bürgerlichen Leben zu entgehen, ebenso wie die Trennung von ihr, die er wider alle Vernunft vollzieht. Zwar widmet er sich nach der Trennung eifriger denn je den kaufmännischen Pflichten, aber auch die Vernichtung der Dinge, die an sie erinnern, und der eigenen dichterischen Versuche bedeutet nicht das Einverständnis mit dem bürgerlichen Beruf. Vielmehr bietet ihm gerade die Monotonie der prosaischen Geschäfte neue Anlässe, Werner gegenüber das Idealbild des Dichters zu entwerfen, dem nach wie vor seine Bewunderung gilt: »Und so ist der Dichter zugleich Lehrer, Wahrsager, Freund der Götter und der Menschen. Wie! willst du, daß er zu einem kümmerlichen Gewerbe heruntersteige? Er, der wie ein Vogel gebaut ist, um die Welt zu überschweben, auf hohen Gipfeln zu nisten und seine Nahrung von Knospen und Früchten, einen Zweig mit dem andern leidit verwechselnd, zu nehmen, er sollte zugleich wie der Stier am Pfluge ziehen (...)?« (S. 83). Unbeirrt hält Wilhelm an der Entgegensetzung von Kunst und prosaischem Leben fest. Radikaler als zuvor ist hier sein ästhetisches Interesse als Konsequenz praktischen Desinteresses artikuliert. Und in der Vorstellung, der Dichter sei »wie ein Vogel gebaut ( . . . ) , um die Welt zu übersdiweben«, hat der Wunsch dieses Bürgers nach sozialer Unbestimmtheit seine vielleicht eindrucksvollste Formulierung gefunden. Mit dieser Metapher ist im Roman eine frühe Beschreibung des Literaten als »freischwebender Intelligenz« gegeben und zugleich die Entstehung dieser Illusion angedeutet; die Vorstellung vom »freischwebenden« Intellektuellen, vom exterritorialen Sozialstatus des Künstlers verdankt sich der Sehnsucht des Bürgers, der sidi den sozialen Determinationen, denen er unterliegt, entziehen will 6 . Wenn ausgeprägte Reflektiertheit und Unvermögen zu handeln zur Typologie des bürgerlichen Intellektuellen gehören, so hat bereits Schiller Wilhelm Meister als solchen charakterisiert7, und nicht zuletzt weist die Identifizierung mit diesen Zügen bei Hamlet ihn als Intellektuellen aus. Der Bildungsprozeß, den Goethe Wilhelm Meister durchlaufen läßt, besteht zunächst darin, ihn bestimmten Begebenheiten und sozialen Erfahrungen so auszusetzen, daß er diesem Typus des Künstlers und Intellektuellen angenähert wird und scheitert, um ihn schließlich unter geänderten Bedingungen in einen gesellschaft-

• Z w a r hat Wilhelm Meister Züge mit dem von Karl Mannheim in den zwanziger Jahren beobachteten Typus des bürgerlichen Intellektuellen gemein, doch läßt sich Goethes Romanheld trotz seiner Neigung zu sozialer Unbestimmtheit nicht für jene These Mannheims in Anspruch nehmen, die besagt, daß das >Freisdiwebenoben< und >untenfreien Gastes< offensichtlich im Anschluß an das Ideal Wilhelms (»Lehrjahre«, S. 82 f.) definiert. Novalis, Schriften, ed. Paul Kluckhohn und Richard Samuel. 2. erw. Aufl., Darmstadt i960 ff., Bd. I, S. 266 f.

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Rolf-Peter Janz

einer noch feudalen Gesellschaft selbst zu verwirklichen, so ist in ihnen insbesondere thematisiert, ob angesichts der Restriktionen, denen in dieser Gesellschaft das Bürgertum unterworfen ist, die Kunst als Ausweg zur Selbstbefreiung in Frage kommt. Mit dem Entwurf vom »freischwebenden« Dichter, in dem sich die Sehnsucht nach sozialer Unbestimmtheit artikuliert, und mit dem Versuch des Helden, diese Rolle auf dem Theater einzulösen, hat Goethe die Schwierigkeiten des bürgerlichen Schriftstellers seiner Zeit gekennzeichnet, einerseits von der bürgerlichen Lebenspraxis und ihren philiströsen Deformationen abgestoßen, andererseits von der des Adels angezogen zu sein: Schwierigkeiten, die er, bedenkt man seine Herkunft und seine Funktionen am Weimarer Hof, auch als seine eigenen begriffen hat.

VI. Während Goethe seinen Helden zunächst sukzessive in die verschiedenen sozialen Bereiche einführt, werden in den beiden letzten Büchern diese Bereiche selbst einander konfrontiert, und zwar so, daß in ihren Koordinaten das soziale Ziel, das Wilhelm erreichen soll, genau bestimmt wird. In diese Partien des Romans sind Probleme eingegangen, die die sozialen und politischen Konflikte zwischen Bürgertum und Feudaladel am Ende des 18. Jahrhunderts beherrscht haben, so die Verschuldung von Rittergütern (in Kursachsen trifft dies seit 1763 auf etwa 50 Prozent des feudalen Grundbesitzes zu) 14 , der Erwerb feudalen Grundbesitzes durch Bürger, die Steuerfreiheit des Adels und der Verzicht auf andere adlige Privilegien. Was Lothario und Werner zusammenführt, ist das gemeinsame Interesse am Kauf eines verschuldeten Guts. Statt gegeneinander zu konkurrieren und den Preis in die Höhe zu treiben, arrangiert man sich: die Güter werden geteilt, so daß »jeder ein schönes Besitztum erhält« (S. 492). Nicht nur wird damit für das Bürgertum und den Adel eine partielle Gleichheit der ökonomischen Interessen behauptet, beide folgen auch der gleichen ökonomischen Vernunft, die eine Einigung beim Güterkauf nahelegt. Darüber hinaus wird dem Bürgertum eine ökonomische Stärke zugetraut, die es erlaubt, auf bestimmten Gebieten mit dem Feudaladel bereits zu konkurrieren. Mit dieser Charakterisierung des Bürgertums bezieht sich Goethe wohl auf das besondere ökonomische und politische Kräfteverhältnis in Kursachsen. Vor allem aufgrund der verheerenden Folgen des Siebenjährigen Krieges war hier der feudale Staat gezwungen gewesen, dem Bürgertum einige Zugeständnisse zu machen, auf dessen ökonomische Macht er bei der Sanierung der Staatsfinanzen angewiesen war; zu ihnen gehörte auch das Recht, adligen Grundbesitz zu erwerben. Während 1785 bereits 32 Prozent der sächsischen Rittergüter in bürgerlichem Besitz sind, läßt sich die ökonomische Schwäche des 14

Horst Schlechte: Die Staatsreform in Kursadisen 1762-63. Berlin 1958. S. 15

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Bürgertums in Preußen u. a. dadurch kennzeichnen, daß ihm hier der Erwerb adligen Grundbesitzes verboten ist16. Daß die Interessen des Feudaladels und des Bürgertums in der Tat nur partiell übereinstimmen, zeigen schon Lotharios und Werners unterschiedliche Motive beim Kauf des Guts. Während Werner es als Spekulationsobjekt betrachtet, das eine rasche Vermehrung des Kapitals verspricht, geht es Lothario auch aufgrund seiner Erfahrungen in Amerika um Gewinne, die eine verbesserte Bewirtschaftung des Bodens und die Verwirklichung sozialer Reformen ermöglichen sollen. Er ist davon überzeugt, daß er zwar »in vielen Stücken« auf den Frondiensten der erbuntertänigen Bauern bestehen müsse, ihnen angesichts steigender Einkünfte aber einen Teil der Abgaben — zu denken ist wohl an Geldrente — erlassen könne. Während der Bourgeois einzig an der Akkumulation des Kapitals interessiert ist, während ein Teil des Adels sein Vermögen zugunsten des Seelenheils opfert, statt es wie bisher zu verschwenden, wird mit der Turmgesellschaft eine Gruppe Adliger vorgeführt, die an ihr Vermögen auch Überlegungen über dessen sinnvolle Verwendung knüpft. Lothario will auf einen Teil seiner Einkünfte verzichten, um anders als der Graf »viel glückliche Menschen (zu) machen und sich und ihnen einen Himmel auf Erden (zu) schaffen»16. Mit dem Besuch des Grafen und der schönen Gräfin wird dem Reformadel eine Adelsfraktion gegenübergestellt, der die geschichtliche Perspektive abhanden gekommen ist; die auch ihre verschwenderische Selbstdarstellung in dem Moment aufzugeben gezwungen ist, wo sie sich — kaum zufällig durch die aristokratische Verkleidung eines Bürgers — in ihrer Identität in Frage gestellt sieht und schließlich resigniert ihre gesellschaftliche Position räumt. Schwerlich vertrüge es sidi mit dem Gehalt des Romans, etwa nach einzelnen historischen Vorbildern für solche Darstellung feudaler Dekadenz zu suchen, ob am Hof in Weimar oder anderswo. Daß die »Lehrjahre« vielmehr auf solche biographische oder geographische Konkretion verzichten, bezeugt einmal mehr, daß es in ihnen weniger um die Abbildung historischer Details als um die allgemeine Prognose des Endes des Feudalismus geht, wie ihn das Grafenschloß repräsentiert. Nicht der alte Feudaladel hat eine Zukunft, nur der, der sich dem Bürgertum anzunähern vermag. — Während Werner sich gelegentlich wie ein Adliger verhält, mit dem feudalen Grundbesitz auch das feudale Privileg der Steuerfreiheit beansprucht, denkt Lothario jedenfalls insofern bürgerlich, als er die Gleichstellung des feudalen mit dem » 16

Ebd. S. 430, 4 3 2 . Was den Adel der Turmgesellschafc vom alten Adel unterscheidet, ist nicht zuletzt der Verzidit auf feudale Repräsentation nach dem Muster von Versailles zugunsten der agrarischen Nutzung des Grundbesitzes. Von Lotharios Schloß heißt es, alle »äußere Symmetrie, jedes architektonische Ansehn schien dem Bedürfnis der innern Bequemlichkeit aufgeopfert zu sein. Keine Spur von Wall und Graben war zu sehen, ebensowenig als von künstlichen Gärten und großen Alleen. Ein Gemüse- und Baumgarten drang bis an die Häuser hinan, und kleine nutzbare Gärten waren selbst in den Zwischenräumen angelegt.« (S. 423)

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bäuerlichen Besitz, d.h. seine Besteuerung befürwortet: »Was hat der Bauer in den neuern Zeiten, wo so viele Begriffe schwankend werden, für einen Hauptanlaß, den Besitz des Edelmanns für weniger gegründet anzusehen als den seinigen? Nur den, daß jener nicht belastet ist und auf ihn lastet.« Die Rechtmäßigkeit des feudalen Besitzes soll nicht mehr aus dem Lehnsverhältnis, sondern aus dem bürgerlichen Verhältnis des Steuerzahlers zum Staat begründet werden, von dem seine Sicherung erwartet wird: »durch diese Gleichheit mit allen übrigen Besitzungen entsteht ganz allein die Sicherheit des Besitzes« 17 . Über das Steuerprivileg des Adels hinaus will Lothario den ganzen »LehnsHokuspokus« abgeschafft wissen, weil dessen Beschränkungen auch für den Adel offensichtlich geworden sind; er plädiert für die Kapitalisierung des Bodens, für die Umwandlung der feudalen Landgüter in verkäuflichen und teilbaren Besitz und für eine »lebhafte freie Tätigkeit«. Spätestens beim Hinweis auf die »neuern Zeiten«, in denen der feudale Grundbesitz durch die Bauern bedroht wird, ist evident, daß Lotharios Überlegungen zu einer partiellen Minderung der Feudallasten der Bauern und zur Aufgabe der Steuerfreiheit des Adels weniger philantropischer Neigung sich verdanken als der Einsicht in die sozialen Auseinandersetzungen der Zeit. Während der unter dem Einfluß der Französischen Revolution beginnenden Bauernaufstände sind in Kursachsen nicht nur Frondienste und Abgaben verweigert, sondern auch Adlige von ehemals bäuerlichem Boden vertrieben worden 18 . Darüber hinaus haben auch die meisten kursächsischen Städte auf dem Landtag 1793 die Beseitigung der Steuerfreiheit des Adels verlangt, die dieser ebenso wie der Kurfürst selbst entschieden abgelehnt hat 19 . In SachsenWeimar ist der Adel zwar zur Deckung der Kosten des Reichskrieges gegen Frankreich zeitweilig und in geringem Umfang besteuert worden, doch wurde seine Steuerfreiheit nicht prinzipiell angefochten20. Auch an den »Lehrjahren«, so in Lotharios Plädoyer für eine Minderung der Feudallasten, für die Besteuerung adligen Grundbesitzes und die Kapitalisierung des Bodens, läßt sich erkennen, wie Goethe zur Französischen Revolution und zu den Verhältnissen in den deutschen Kleinstaaten gestanden hat. 17

S. 507. D a v o n ist die Turmgesellschaft später nicht mehr überzeugt. D e r Plan Jarnos, Besitz und Vermögen auf mehrere Orte zu verteilen, setzt vielmehr voraus, daß der feudale S t a a t den Besitz nicht mehr garantieren kann: » W i r assekurieren uns untereinander unsere Existenz, auf den einzigen Fall, daß eine Staatsrevolution den einen oder den andern v o n seinen Besitztümern völlig vertriebe.« (S. $64) Schon G u s t a v Radbruch hat diesen Plan eine »Kapitalversidierung auf Gegenseitigkeit für den Fall von Revolutionsschäden« genannt. Goethe: Wilhelm Meisters sozialistische Sendung. I n : G . R . , Gestalten und Gedanken. Leipzig 1 9 4 4 , S. 1 0 6 18 Percy Stulz, A l f r e d O p i t z , Volksbeweungen in Kursadisen zur Zeit der Französischen Revolution, Berlin 1 9 5 6 , S. 4 3 ff., 1 2 2 f. 1 ® Ebd., S. 1 7 2 ff., Schlechte, a.a.O., S. 1 4 20 » S o kam die Steuergesetzgebung des ancien regime in W e i m a r über lahme und halbe Kompromisse nicht hinaus.« Fritz H ä r t u n g : D a s Großherzogtum Sachsen unter der Regierung C a r l Augusts 1 7 7 5 - 1 8 2 8 , Weimar 1 9 2 3 , S. 69

Z u m sozialen Gehalt der »Lehrjahre«

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So unergiebig es ist, jeder Seite des Romans nachzurechnen, daß sein Autor kein Revolutionär war, so wenig sind die Vorstellungen Lotharios geeignet, Goethe zum »Fürstenknecht« zu erklären. Vergleicht man Lotharios Überlegungen zur Reform des Feudalsystems mit Werners Bekenntnis, »daß ich in meinem Leben nie an den Staat gedacht habe; meine Abgaben, Zölle und Geleite habe ich nur so bezahlt, weil es einmal hergebracht ist« (S. 508), so ist deutlich, daß Goethe einer Figur, die soziologisch dem Adel zugehört, historisches Bewußtsein zuerkennt und sie angesichts der aktuellen geschichtlichen Entwicklung überwiegend liberale bürgerliche Forderungen vertreten läßt, während er dem Bourgeois neben dem Interesse am feudalen Steuerprivileg nichts als die bornierte, den politischen Status quo als unerschüttert voraussetzende Wahrnehmung der eigenen Geschäfte bescheinigt. Zu den negativen Zügen des Bürgers gehört überdies, daß er, wie erwähnt, noch den Freund und Schwager in seine Spekulationen einzubeziehen sucht. Sind dem »arbeitsamen Hypochondristen« die Folgen eines Lebens, das der Kapitalakkumulation untergeordnet ist, ins Gesicht geschrieben, so trifft auf Wilhelm zu, daß er zwar kein Geld verdient hat, aber »größer, stärker, gerader, in seinem Wesen gebildeter« geworden ist. Auch diese Vorzüge nämlich sind geeignet, eine der beiden Bedingungen zu erfüllen, die Werner an eine bürgerliche Existenz stellt: »du sollst mir mit dieser Figur eine reiche und schöne Erbin erkaufen« (S. 498 f.). Die zweite Bedingung, einen ordentlichen Beruf zu haben, sieht Werner durch den Umgang Wilhelms mit den Aristokraten der Turmgesellschaft so gut wie erfüllt 21 . So entschlossen Werner auf einer »reichen und schönen Erbin« für Wilhelm besteht, die seinem gesellschaftlichen Ehrgeiz entspricht, so skrupellos hat er Wilhelms Beziehung zu Mariane hintertrieben. Der philiströse Bourgeois, der sich Liebe nur im Widerspruch zur gesellschaftlichen Ambition und gar die einer Schauspielerin nur als Anschlag zugleich auf das Vermögen und die Moral Wilhelms vorstellen kann, zögert nicht, sozial Deklassierten wie Mariane und Barbara mit Gefängnis zu drohen, vorgeblich, um beides zu schützen. Die »arme Kreatur«, die sich in äußerster Not gezwungen sah, der ökonomischen Tugend der Schuldenlosigkeit ihre Unschuld zu opfern, wird vom Bourgeois verdammt, der sich auch Tugend leisten kann. Barbaras Anklage geht zwar auch an Wilhelms Adresse — »O! ihr Herren, denen nichts abgeht, ihr habt gut von Wahrheit und Geradheit reden« — (S. 486), doch trifft sie ihn deshalb weniger, weil Goethe ihn, anders als den unverbesserlichen Werner, seine Schuld am Schicksal Marianes bekennen läßt. Wie wenig Wilhelm als Mitglied des Turms mit dem bornierten Bourgeois, den Werner repräsentiert, gemein hat, zeigt denn auch die Entschiedenheit, mit

21 »Wenn w i r mit den Gütern in Ordnung sind«, erklärt er Wilhelm, »mußt du gleich mit nach Hause, denn es sieht doch aus, als wenn du mit einiger V e r n u n f t in die menschlichen Unternehmungen eingreifen könntest. Deine neuen Freunde sollen gepriesen sein, da sie dich auf den rediten W e g gebracht haben.« (S. JOI)

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der er dessen Ansinnen, ihn als Spekulationsobjekt auf eine »reiche und schöne Erbin« zu nutzen, zurückweist. So gewiß Wilhelms Aufnahme unter die Aristokraten der Turmgesellschaft seinen sozialen Aufstieg bedeutet, so wenig, scheint es, ist zu bezweifeln, daß er sich dort zugleich noch als Bürger fühlen kann. Einmal, insofern ihn sein Vermögen in die Lage bringt, neben Lothario ein Haus in Besitz zu nehmen, das sein Elternhaus ersetzt. Zum andern, weil sich im Schloß dieser Adligen auch die Kunstsammlung seines Großvaters befindet: »so fand er sich nun auch gleichsam in seinem Erbteile wieder« (S. 520). Was aber Wilhelms Integration in diese Sozietät von Adligen vor allem ermöglicht, ist deren bürgerliche Programmatik und ihr Anspruch, für alle zu gelten; indem der Roman sie durch Adlige am bürgerlichen Helden erprobt, an ihren Kriterien und auf sie hin Wilhelm seine Lehrjahre durchlaufen läßt, sucht er ihre allgemeine Verbindlichkeit unter Beweis zu stellen. Das humanistische Bildungsideal, die Überzeugung, daß jedem die Ausbildung seiner Fähigkeiten erreichbar sei, ist in Goethes Roman als die Grundlage gedacht, auf der die Harmonisierung des Gegensatzes zwischen Bürgertum und Adel möglich sein soll 22 .

VII. Freilich läßt aller bürgerlichen Programmatik zum Trotz Wilhelms Verhalten gegenüber der Turmgesellschaft daran keinen Zweifel, daß der Bürger immer noch den Zwängen des Adels wie seiner Faszination erlegen ist. » ( . . . ) mich Unwürdigen«, bekennt er nach der Entdeckung der großväterlichen Kunstsammlung auf dem Schloß des Oheims, »finde ich nun auch hier, o Gott! in welchen Verbindungen, in welcher Gesellschaft!« (S. 519). Der Aufforderung Jarnos, im Unterschied zu den Verdiensten des bürgerlichen Medikus Lotharios »Trefflichkeit« einzusehen, kommt er bereitwillig nach. Was Wilhelm am Adel, auch am Reformadel der Turmgesellschaft bewundert, ist, daß seine Möglichkeiten, anders als die des Bürgers, unbeschränkt sind (S. 553). Ähnlich gilt auch die Liebe, die Wilhelm für Natalie empfindet, nicht nur ihrer Schönheit und Güte, sondern nicht zum geringsten Teil auch Vorzügen, die der Exklusivität ihres Standes zuzuschreiben sind. Bei ihrer ersten Begegnung, nach dem Überfall, heißt es: »Er hatte seine Augen auf die sanften, hohen, stillen, teilnehmenden Gesichtszüge der Ankommenden geheftet; er glaubte nie etwas Edleres 22

A l s erster und mit Entschiedenheit hat N o v a l i s bestritten, daß der R o m a n diese H a r monisierung tendenziell in Aussicht stelle. Auch die nach Schillers Urteil befremdlichen Mesalliancen haben ihn nicht gehindert, die »Lehrjahre« eine » W a l l f a h r t nach dem Adelsdiplom« zu nennen. Z w a r hat er die Turmgesellschaft als »ökonomische Familie« disqualifiziert, der Widerspruch aber zwischen ihrer so angedeuteten bürgerlichen Programmatik und ihrer feudalen Provenienz ist ihm dabei offensichtlich entgangen. N o v a l i s : Schriften, a.a.O., B d . I I I , S. 646, 6 3 9

Zum sozialen Gehalt der »Lehrjahre«

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noch Liebenswürdigeres gesehen zu haben.« Wenig später hat Wilhelm Gelegenheit, Natalie mit Philine zu vergleichen: »Philine war indessen aufgestanden, um der gnädigen Dame die Hand zu küssen. Als sie nebeneinander standen, glaubte unser Freund nie einen solchen Abstand gesehn zu haben. Philine war ihm noch nie in einem so ungünstigen Lichte erschienen. Sie sollte, wie es ihm vorkam, sich jener edlen Natur nicht nahen, noch weniger sie berühren« (S. 227 f.). Nicht nur werden hier Natalies Tugend und Philines Leichtfertigkeit kontrastiert. Vielmehr bezeichnen die Züge, die Wilhelm an ihr bewundert — und an Philine vermißt —, so das Edle ihres Wesens, die »hohen« Gesichtszüge, ihre »unbeschreibliche Hoheit« (S. 538), mit ihrem persönlichen zugleich ihren gesellschaftlichen Rang. Auch ihre »menschenfreundliche Teilnehmung« (S. 227), die Wilhelm selbst nach dem Überfall erfährt und die als caritative Besserung an Mängeln der gesellschaftlichen Verhältnisse erläutert wird, ist an ihren Status und die Möglichkeiten, die er einräumt, gebunden. »Sah ich einen Armen in Lumpen«, berichtet sie Wilhelm, »so fielen mir die überflüssigen Kleider ein, die ich in den Schränken der Meinigen hatte hängen sehen; sah ich Kinder, die sich ohne Sorgfalt und ohne Pflege verzehrten, so erinnerte ich mich dieser oder jener Frau, der ich bei Reichtum und Bequemlichkeit Langeweile abgemerkt hatte« (S. 526). Nicht zuletzt aber tritt die Faszination des Bürgers durch den Adel in Wilhelms Bereitschaft zutage, sich durch die Turmgesellschaft leiten zu lassen. Nur gelegentlich empfindet er ihre Führung als Zwang, gegen den das bürgerliche Selbstbewußtsein revoltiert. Wie wenig die Integration Wilhelms in die Turmgesellschaft an der Unterlegenheit des Bürgers gegenüber den Aristokraten ändert 23 , hat, wie eingangs erwähnt, vor allem Schiller betont. Offensichtlich hat er Wilhelms Aufbegehren gegen »jene imposanten Autoritäten Jarno und den Abbé« für dringend erforderlich gehalten. »Ich gestehe«, schreibt er Goethe, »daß es mir ohne diesen Beweis von Selbstgefühl bei unserm Helden peinlich sein würde, ihn mir mit dieser Klasse so eng verbunden zu denken, wie nachher durch die Verbindung mit Natalien geschieht. Bei dem lebhaften Gefühl für die Vorzüge des Adels und bei dem ehrlichen Mißtrauen gegen sich selbst und seinen Stand, das er bei so vielen Gelegenheiten an den Tag legt, scheint er nicht ganz qualifiziert zu sein, in diesen Verhältnissen eine vollkommene Freiheit behaupten zu können, und selbst noch jetzt, da Sie ihn mutiger und selbständiger zeigen, kann man sich einer gewissen Sorge um ihn nicht erwehren. Wird er den Bürger je vergessen können ( . . . ) ? Ich fürchte, er wird ihn nie ganz vergessen. ( . . . ) Lotharios vornehmes Wesen wird ihn, so wie Nataliens doppelte Würde des Standes und des Herzens, immer in einer gewissen Inferiorität erhalten« 24 . Schillers abschließendes Urteil ist vor allem deshalb bemerkenswert, 23

24

Anders Gonthier-Louis Fink: Die Bildung des Bürgers zum »Bürger«.. Individuum und Gesellschaft in > Wilhelm Meisters Lehrjahren«. In: Recherches Germaniques 2, 1972, S. 3 - 3 7 , S. 34 A n Goethe, 5. Juli 1796. H A 7, S. 63 j f.

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weil es die soziale Determination auch bei Natalie hervorhebt — einer Figur, deren Charakterisierung als »schöne Seele« dies am wenigsten erwarten läßt. Um so weniger verständlich scheint Schillers Zufriedenheit darüber, daß Goethe »bei aller gebührenden Achtung für gewisse äußere positive Formen, sobald es auf etwas rein Menschliches ankommt, Geburt und Stand in ihre völlige Nullität« zurückgewiesen habe. Zu diesem Kommentar sieht er sich aufgrund der drei Mesalliancen veranlaßt. Schwerlich läßt sich dies gerade bei Wilhelms Beziehung zu Natalie einsehen. Daß diese Mesalliancen stattfinden, bedeutet kaum die Nichtigkeitserklärung der Standesunterschiede in Herzensdingen, wohl aber, daß man sich über die Standesunterschiede hinweg verbinden kann. Unausgesetzt bleibt sich Wilhelm seiner Inferiorität bewußt. Am ehesten wird denn auch die Anstrengung, die Prävalenz des sozialen Ranges durch Forcierung der bürgerlichen Programmatik auszugleichen, die oft bemängelte allegorische Blässe des Personals der Turmgesellschaft erklären können. — Auch Schiller selbst hatte betont, daß es neben Lotharios »vornehmem Wesen« gerade Natalies »doppelte Würde«, des Herzens und des Standes ist, die Wilhelm immer unterlegen sein läßt. So steht zu vermuten, daß er die »Nullität des Standes« im Roman weniger dargestellt fand als daß er sie im Hinblick auf das adlige Publikum durch Lothario verkündet wünschte25. Mit der Integration Wilhelms in eine aristokratische Sozietät, deren Programmatik wesentlich bürgerlich ist, konzipiert Goethes Roman den Entwurf einer Gesellschaft, die — unbeschadet der Inferiorität des Bürgers — auf die Harmonisierung des Klassengegensatzes von Adel und Bürgertum angelegt ist. Wie verhält sich dieser Entwurf zur historischen Situation? Zum einen ist er als Absage an die Französische Revolution zu verstehen, die die Beseitigung des Feudalismus durchgesetzt hatte. Zum andern verarbeitet er reale Tendenzen auf eine Annäherung zwischen Bürgertum und Feudaladel, wie sie sich punktuell bereits in Kursachsen abzeichnete und seit 1807 mit den Steinschen Reformen auch in Preußen erkennbar wurde. Vor allem aber bezeichnet er, nicht nur in der Charakterisierung Werners, die politische Schwäche des Bürgertums in den feudal verfaßten, ökonomisch zurückgebliebenen deutschen Staaten. Für den Realismus dieses Entwurfs spricht auch, daß innerhalb der Turmgesellschaft die sozialen Bestimmungen der Figuren beibehalten sind; so entgeht er der Idyllik. Überdies ist die Turmgesellschaft deutlich mit utopischen Zügen versehen. Wilhelms Suche nach Natalies Familie bleibt ergebnislos: »allein der Ort war in keiner Geographie, auf keiner Karte zu finden, und die genealogischen Handbücher sagten nichts von einer solchen Familie« 26 . Daß Goethe den geographischen Ort der Turmgesellschaft ausdrücklich nicht angibt, bezeugt seine Skepsis in der Beurteilung der Aussichten, ob und wann eine Harmoni8» Ebd., S. 636 28 S. 239. Vgl. Edith Braemer: Z u einigen Problemen in Goethes Roman >Wilhelm Meisters Lehrjahren In: Hans-Günther Thalheim, Ursula Wertheim (Ed.): Studien zur Literaturgeschichte und Literaturtheorie, Berlin 1970, S. 1 4 3 - 2 0 0 , S. 1 7 0 f.

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sierung von Bürgertum und A d e l wirklich werden könne, ohne doch seine H o f f n u n g auf eine solche historische Entwicklung zu mindern. D i e Begrenztheit seiner historischen Einsicht erweist dieser E n t w u r f einer Gesellschaft freilich in der Annahme, daß nicht ökonomische Interessen, sondern das klassische Humanitätsideal das Substrat dieser Harmonisierung sein könne. A n seinem Helden exemplifiziert der Roman, w i e sich das bürgerliche Individuum unter weitgehend noch feudalen Verhältnissen verwirklichen

kann.

Weder ist seine Selbstverwirklichung möglich in der bürgerlichen Lebenspraxis, noch unter den sozial Deklassierten der Boheme, sondern allein unter den Bedingungen, die die Turmgesellschaft bietet. In ihr ist die wechselseitige N e g a tion von praktischem und ästhetischem Interesse aufgehoben, das zunächst Werner und Wilhelm repräsentieren. A u f

die Ökonomie versteht sich die

Turmgesellschaft so gut wie auf die Kunst. Überdies findet Wilhelm in ihr soziale Beziehungen, die seine Isolation beenden. U n d schließlich w i r d ihm eine Tätigkeit in Aussicht gestellt, die weder in der bürgerlichen Sphäre noch in der der Kunst denkbar war. Unter den Prinzipien der Turmgesellschaft, die — oft ex cathedra gesprochen und keiner Ironisierung unterlegen — die Lehrjahre Wilhelms begleiten, ist dasjenige, mit andern »tätig« zu sein, vielleicht das wichtigste. D e r Bund, den Lothario Wilhelm anbietet, hat zum Ziel, die eigene Selbstverwirklichung in die Selbstverwirklichung anderer zu setzen, »sie z u ihren Zwecken« z u führen (S. 608). »Was ist das höchste Glück des Menschen«, hatte Lothario z u v o r gefragt, »als daß w i r das ausführen, was w i r als recht und gut einsehen? d a ß w i r wirklich Herren über die Mittel zu unsern Zwecken sind?« (S. 452). M i t aufklärerischen, an Kants zweite Fassung des Kategorischen Imperativs gemahnenden Formeln ist hier das klassische Bildungsideal formuliert. Es zielt auf den Menschen, der sich unter Berufung auf seine Vernunft jedwedem feudalen oder auch kirchlichen Herrschaftsanspruch entzieht. W o h l nirgends sonst tritt der spezifisch bürgerliche Charakter dieses Bildungsideals so scharf hervor. U m so mehr fällt auf, wie es mit den elitären Zügen der Turmgesellschaft verschränkt ist; »ohne herrschen zu wollen«, doch als Vormund,

will

sie zur

Selbstverwirklichung

anderer

beitragen.

Lotharios

soziale Tätigkeit ist nicht denkbar ohne die Macht, über die er als Feudalherr verfügt. D a ß es sich hier nur um eine Absichtserklärung handelt, zeigt v o r allem das Beispiel Wilhelms. Wie weit der Roman davon entfernt ist, den Helden am Ende seiner Lehrjahre als ausgebildete Persönlichkeit vorzuführen, geht schon daraus hervor, d a ß Wilhelm bis zuletzt den Ermahnungen der Turmgesellschaft z u m T r o t z immer wieder in seine Schicksalsgläubigkeit zurückfällt. D a ß aber das Individuum die Möglichkeit hat, mit andern sich zu verwirklichen, und z w a r im Rahmen einer Gesellschaft, deren Gegensätze aufgrund einer verbindlichen humanistischen Programmatik überwindbar sein sollen, hat Goethe an eine geschichtsphilosophische Voraussetzung gebunden: »Die Zeiten waren gut« (S. 610). Wilhelms Glück verdankt sich nicht göttlicher Fügung wie das Sauls, mit dem es verglichen wird, auch nicht dem Schicksal, sondern der ver-

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nünftigen Natur des Mensdien, die sieb gegen einen antithetisch zur Natur formulierten Rationalismus sowie aus ihm entwickelte moralische Konventionen behauptet27 und als deren Sachwalterin letzten Endes die Turmgesellschaft fungiert. Nicht nur kommt die glückliche Lösung der personellen Verwicklungen dadurch zustande, daß man die Natur ihren Gang gehen läßt (S. 608), unermüdlich wird der Held auch von der Turmgesellschaft über die Natur und ihr telos belehrt. In den »Lehrjahren« wird der Geschichte mit aufklärerischem Optimismus eine immanente Gesetzmäßigkeit zugesprochen; sie ist nicht dem Schicksal unterworfen, sondern Sadhe des Menschen, der erst dann mit seiner Natur übereinstimmt, wenn er sich als ihr Subjekt begreift.

27

»O, der unnötigen Strenge der Moral!« ruft Wilhelm aus, »da die Natur uns auf ihre liebliche Weise zu allem bildet, was wir sein sollen. O, der seltsamen Anforderungen der bürgerlichen Gesellschaft, die uns erst verwirrt und mißleitet und dann mehr als die Natur selbst von uns fordert!« S. $02

Die vaterländische Lyrik und Goethes Westöstlicher Divan V o n EBERHARD LÄMMERT, H e i d e l b e r g

Am 14. Oktober 1814, dem ersten Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig, brannten auf den Berggipfeln der deutschen Staaten und Provinzen Hunderte von Freudenfeuern. Der Sieg der europäischen Großmächte über Napoleon wurde als ein Fanal der Selbstbefreiung aller Deutschen gefeiert. Die Berge hallten an diesem Tage auch wider von den Liedern, in denen die Brudereinigkeit aller Gleichgesinnten und immer wieder die Freiheit besungen wurde. An der Erweckung des poetischen Nationalgefühls, das hier um sich griff, hatten die Liederdichter der Befreiungskriege mit ihren hochstimmenden »Frischauf«und »Vorwärts«-Strophen und ihren wahrheitgebietenden Reimen von Morgenrot und Liebestod fürs Vaterland ihren historischen Anteil. Ernst Moritz Arndts beschwörendes Lied »Was ist des Deutschen Vaterland?« wurde für diesen 14. Oktober 1 8 1 4 zum allgemeinen Feierlied erhoben, und der Choral »Flamme empor«, der noch hundert Jahre später, 1 9 1 4 , die Opferbegeisterung junger Freiwilliger schürte, wurde eigens für diesen Tag gedichtet. An diesem Tage erreicht eine Woge der Liederdichtung ihren Höhepunkt, die ihren Ausgang wenige Jahre zuvor bei den selbstherrlichen Poeten der Frühromantik genommen hatte. Magier der Moderne hatten diese jungen Dichter werden wollen. Jeder von ihnen, Novalis, Brentano, Arnim, Tieck, Friedrich Schlegel, glaubte, die Kraft freischweifender poetischer Phantasie könne der Schlüssel werden, im geheimnisvollen Klang von Wortmelodien den Grund der Welt für alle neu offenzulegen. Aber diese Generation, die den Reiz des unbedingten, nur sidi selbst hörigen Dichters auskostete, war auch die erste, die die Last und die Gefährdungen einer sich autonom setzenden, poetischen Schöpferkraft erfuhr. Wer verbürgte ihnen noch andauernde Übereinstimmung und Gemeinsamkeit, wenn jeder seiner eigenen Phantasie uneingeschränkten Lauf ließ? Die Geschichte ihrer unsteten Freundschaften und selbst ihre jäh wechselnden Liebesbindungen zeigen, wie wenig eine dauerhafte Gefühlsgemeinschaft, Geborgenheit beim andern oder gar ein gemeinsames Lebensziel zu finden waren, so lange jeder nur nach dem Gebot seiner eigenen Phantasie dichtete und lebte. So mühten sidi diese feingebildeten und sensiblen Literaten schon seit der Jahrhundertwende darum, die eigene Stimme mit einer allen gemeinsamen Sprache neu zu verbinden, und in der Hoffnung, so audi der von Herder ver-

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heißenen »Urpoesie« auf die Spur zu kommen, belebten sie die schon glattgeschliffenen Reimklänge lang gebrauchter Volkslieder neu oder dichteten sie in kunstvoller Einfachheit nach. Arnims und Brentanos Liedersammlung »Des Knaben Wunderhorn« sollte ihre Benutzer nicht nur zum Nachsingen, sondern auch zum gemeinsamen Weiterdichten anregen. Das waren Wunschträume. Nun aber bot der alle bewegende vaterländische Krieg plötzlich diesen einzelgängerischen und nadi Vereinigung sich sehnenden Poeten die historische Gelegenheit, ihre lang an sich selbst geübte Kunst der Gemütserregung tatsächlich auf viele Mitsingende zu übertragen und sich zum weithin hörbaren Vorsänger der ganzen Nation zu machen. Für jeden, der über die Rolle der Poesie im realen Leben nachdenkt, ist dieser Vorgang bedeutsam genug. Denn wenn irgend in der Moderne Lyrik über den Kreis literarisch Interessierter hinaus ins Leben gewirkt hat, dann die nun in Fülle erneuerte und neu entstehende Lyrik volksläufiger Art. Hier zuerst läßt sich erkennen, auf welchen Wegen Deutschland alsbald ein Land wird, in dem poetische Träume Politik machen, Sängerbünde zu Lebensbünden werden und schließlich der heiße Wunsch, verbrüdert zu sein »so weit die deutsche Zunge klingt« — wie Arndt es vorsang —, die Geschichte der immer wieder scheiternden deutschen Bürgernation für mehr als ein Jahrhundert mitprägt. Ausgerechnet der kapriziöse, blitzend intelligente Friedrich Schlegel ist der erste, der die poetische Sehnsucht nach Liebes- und Todesvereinigung in eine politische Hoffnung umsetzt. Er beginnt 1809 sein »Gelübde«: »Es sei mein Herz und Blut geweiht, Dich Vaterland zu retten.« 1

Hier überträgt sich zum erstenmal das brünstige, geistig-sinnliche Liebestodbegehren des Novalis auf eine nationale Opfermystik, die nun den geworbenen Freiwilligen und der akademischen Jugend mit immer neuen Liedern solcher Art eingeflößt wird: » J a sinken wir der Übermacht, So woll'n wir doch zur Todesnacht Glorreich hinüber wallen.«

»Glorreich hinüber wallen«: Wie Novalis im Oberschreiten der Todesschwelle die selige Vereinigung und Entsühnung von aller Unzulänglichkeit der Individuation erblickte, so tritt nun der Opfertod als metaphysische Erlösungshandlung zur künftigen Einigung des eigenen Volkes in ein sakrales Licht, ja er wird zur Nachbildung der Opferhandlung Christi für die Menschheit. Geschmückt mit den Opfergesten des Erlösers, wird er im Herzen der Sänger und der Singenden wirklich zum schönen Tod, zum Freudenfest: 1

Erstausg. Friedrich Sdilegels Gedichte, 1809, S. 387 f.; Kritische Friedrich-SchlegelAusgabe, hg. v. Ernst Behler u. a., I. Abt., Bd. j , 1962, S. 397 f.

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»Schaut, ich trage Sühnungswunden Aus der heil'gen Opferschlacht.. .« 2 »Dann drängt jeder sich zum Bade, Daß jeder sich der Schuld entlade . . .« 3 »Freiwillig hat die Jägersdiar Der Preußen in der Schlacht Ihr Blut auf heiPgem Sühnaltar Zum Opfer dargebracht.«4

So dichtet Sdienkendorf, zuvor ein Sänger zart-inniger Freundschaftslieder, um 1813. »Rotes Blut, warmes Blut, schönes Opferblut« 5 — eine Opfermystik bahnt sich an, die das Opfer des eigenen Lebens für das Vaterland nicht zum Dienst an der Sache, sondern unversehens zum Selbstzweck erhebt. »Tod, du süßer, für das Vaterland, süßer, als der Brautgruß . . . sei mir willkommen« 4 , so läßt selbst der markige Arndt Soldaten sich auf den Kampf vorbereiten. Der plötzliche und inbrünstige Gleichklang so vieler Dichterstimmen darf uns nicht zu der Annahme verleiten, als hätten die Poeten von sich aus die kriegerische Auseinandersetzung der europäischen Dynastien mit Napoleon in einen missionarisch begeisterten Volkskrieg verwandelt. So geht es, mögen auch Poeten davon träumen, in der Geschichte nicht zu. Selten jedoch hat sich eine politisdie Konstellation ergeben, in der ein Bedarf an einem poetischen Verständigungsmedium dem Begehren einer Dichtergeneration nach öffentlicher Wirksamkeit so unmittelbar entgegenkam. Zur Vorbereitung eines Volksaufstandes nämlich, den Gneisenau, Scharnhorst, der Freiherr vom Stein und auch Arndt schon seit 1 8 0 8 / 0 9 betrieben, waren andere Waffen und Signale als die üblichen nötig. Während der Preußenkönig noch eine betont loyale oder gar franzosenfreundliche Haltung einnahm und das offizielle Preußen an der Berliner Parole von 1806 festhielt, nach der »Ruhe die erste Bürgerpflicht« zu sein hatte, mußte Kampfgesinnung geweckt und mußten einander Unbekannte zu gemeinsamer Sache geworben werden. Insbesondere bedurften die auf fremdem Boden zusammengewürfelten Freiwilligen und die jungen Bauern, die nach der Entlassung aus der Leibeigenschaft der hohe Pachtzins gar nicht so freiwillig zu den Waffen trieb, einfacher und wirksamer Zeichen der Zusammengehörigkeit. Dazu boten sich nun Lieder an, die in vielfach wiederholbaren Formeln und Bildern gemeinsame Ziele greifbar machten. Gerade mit der ästhetisch so verdächtigen Monotonie und Allgemeinheit wurden sie ihrer Aufgabe gerecht, Menschen von sehr verschiedener Herkunft und von sehr unterschiedlichen Erwartungen und Zielen allesamt in einen Zustand zu setzen, in dem sie glauben konnten, gleich zu fühlen, gleich zu denken, gleich zu sein. 2 Max von Schenkendorf: Gedichte, 1 8 1 5 , S. 31 » Ebd. S. j o * Ebd. S. 1 2 1 « Ebd. S. 25 4 Ernst Moritz Arndt: Lieder für Ternsche. Im Jahr der Freiheit 1 8 1 3 , S. 13

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Arndt verfaßte den ersten Liederanhang zu seinem »Katechismus für teutsche Soldaten«, für eine eigens zum Zwecke des Aufstandes in Rußland zusammengestellte Truppe: für die Deutsche Legion. Bald wurde jede Neuaufstellung von freiwilligen Truppen mit Lieder-Handzetteln begleitet, und mit dem raschen Verkauf schnell gedruckter Texte sammelte man Geld für Uniformen, Ausrüstung und — neue Freiwilligenwerbung. Das Lützowsdie Korps richtete schließlich als erstes einen regelrechten »Singechor« ein. »Religion, Gebet, Liebe zum Regenten, zum Vaterland, zur Tugend sind nichts anderes als Poesie . . .«7, so beantwortete Gneisenau eine Marginalie des preußischen Königs an seiner Denkschrift »Zur Vorbereitung eines Volksaufstandes«, die er selbst mit zwei bewegenden Strophen eingeleitet hatte. Tatsächlidi konnte Poesie gerade dort, wo andere Gemeinsamkeiten schwer zu benennen waren, als vereinigendes Medium ihren Dienst tun. »Es lebet und es stirbet sdiön,/wer diesen Klang verstand« 8 , so sdiließt eines der >Ermunterungslieder vor der Schladitz die Arndt seinem Katechismus für die Deutsche Legion beifügte. Selbst die Zugehörigkeit zu einem »deutschen Vaterland« wurde so für diejenigen, die aus Pommern, Sachsen, Schlesien angeworben waren und ein gemeinsames Heimatland nicht hätten mit Namen nennen können, eine an die gemeinsame Sprache gebundene Vorstellung — wie utopisch sie blieb, das erfuhren die Sänger bald nach Friedensschluß, soweit sie ihn überlebten. Begeisterung, Inbrunst und Haß scheinen in dieser spontanen Liederdichtung zwischen 1 8 1 1 und 1 8 1 3 unmittelbar aus der Situation sich zu ergeben. Wie sehr jedoch gerade ihre stimmungshaltigen Motive mit politischem Kalkül verknüpft sind, das enthüllt sich, wenn man die Insurrektionspläne der preußischen Reformer mustert, die regelrechte Vorschriften zur Erzeugung von Napoleonhaß in der von Abgaben ohnehin schwer bedrückten Bevölkerung enthalten. Einen Begriff davon geben Passagen in der bemerkenswerten Denksdirift des Freiherrn vom Stein vom 1 1 . August 1808: »Es muß daher in der Nation das Gefühl des Unwillens erhalten werden über den Druck und die Abhängigkeit von einem fremden, übermüthigen, täglich gehaltloser werdenden Volke - man muß sie mit dem Gedanken der Selbsthülfe, der A u f opferung des Lebens, und des Eigenthums, das ohnehin bald ein Mittel und ein Raub der herschenden Nation wird, vertraut erhalten, man muß gewisse Ideen über die Art, wie eine Insurrection zu erregen und zu leiten, verbreiten und beleben. Hiezu werden sich mehrere Mittel auffinden und anwenden lassen, ohne daß die Regierung dabey thätig erscheint, die aber bey schicklicher Gelegenheit und unter günstigen Umständen diesen Geist wird benützen können.«» 7

8

9

G. H . Pertz: Das Leben des Grafen Neithardt von Gneisenau, 1865, Bd. 2, S. 1 3 7 ; Zusammenhänge bei Richard Samuel: Heinrich von Kleist und Neithardt von Gneisenau, in: Selected Writings, 196$, S. 97 E m s t Moritz Arndt: Kurzer Katediismus für teutsche Soldaten, nebst einem Anhang von Liedern, 1 8 1 2 , S. 54 Freiherr vom Stein, zit. nadi Richard Samuel: Kleists >Hermannsschladit< und der Freiherr vom Stein, in: Jb. d. Dt. Sdiillergesellsdiaft j , 1961, S. 7 2

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In der Befolgung solcher Spekulationen reißt es den mit den Reformern korrespondierenden Kleist am heftigsten hin. Er stößt jetzt allen Ehrgeiz von sich, die Größten der Weltliteratur mit kunstvollen Dramen zu übertreffen, und widmet statt dessen der Verherrlichung eines antiwelschen Deutschbewußtseins die »Hermannsschlacht« und glühende und haßgetragene »Germania«-Strophen. Wie zahlreiche Autoren nach ihm wendet er dazu religiöse Vorstellungen in politische Heilsagitation um: Napoleon wird zum Satan inkarniert, seine Soldaten werden Freiwild, Wölfe, Teufelsscharen. Besser noch als an Gedichten des stimmgewaltigen Kleist oder des kampfbegierigen Körner läßt sich jedoch an einem Lied des sanften und geschmeidigen Brentano ermessen, was diese Lyrik unter den Dichtern selbst bewirkte und was sie unter ihren Sängern bewirken wollte. Brentano fügte dieses Lied, das, seiner eigenen Aussage nach, »mindestens so wohlgemeint war wie andere«, in ein Bühnenspiel »mit fliegenden Fahnen und brennender Lunte« ein, mit dem nach der Leipziger Schlacht auf einer Wiener Bühne zu Sammlungen für den endgültigen Sieg geworben werden sollte. Es heißt »Sturmlied« und beginnt so: »Auf ihr Brüder, Schließt die Glieder, Stoßet nieder, Wer nicht fromm und treu und bieder.« 10

Man hört: Aufgabe des Einzelwillens, Gemeinschaftsakt ist das Gebot. Imperative und Tugendvokabeln rechtfertigen den Akt, ehe noch überhaupt gesagt wird, zu was und gegen wen er sich richten soll. Und nun tritt 20 Strophen lang Häufung an die Stelle der Argumentation, in immer kurzen Ausrufesätzen werden die Worte »Freiheit« und »Heil« ostinat eingehämmert, und rollende Reime helfen nach: »Siegen, Sterben, Heil erwerben für die Erben« — »Kugeln prallen, Feinde . . . fallen« — »Nicht in Todesabgrund blicken, Feindes Leichen bauen Brücken.« »Immer weiter — hoch die Leiter — Gottes Streiter.« Das ist Lebens- und Sterbenshilfe von wirksamster Art: Sterben wird übertäubt vom Heilerwerben, Blick in den eigenen Tod von der Vision der Feindesleichen. Wen immer Bängnis beschleichen will, dem wird sofort und im selben Reimklang Überwältigungsinstinkt, Blut- und Siegestaumel über dem hingemähten Feind entgegengesetzt. Erst die Psychologie des Unbewußten im zwanzigsten Jahrhundert lehrt definitorisch zu fassen, wie solch suggestive Überwältigungssprache bis zur Paralysierung jeder kritischen Abstandnahme im Gruppengesang führen kann, und noch aus den Weltkriegen dieses Jahrhunderts gibt es mehr Belege als uns lieb sein kann dafür, daß sich tatsächlich im Chorgesang leichter siegen und auch leichter sterben läßt. Dazu gehörten für das Ohr des frühen neunzehnten Jahrhunderts auch die Fülle der suggestiven Lärmwörter: Donner 1° Brentanos Werke, hg. v . Max Preitz, 1914, Bd. 1, S. 157 ff.; zu Brentanos vaterländischer Dichtung in Wien ebd., S. 66 ff., über »Viktoria und ihre Geschwister« S. 68*.

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hallen, Hörner schallen, und es gehörte dazu v o r allem das hundertfache, selbst richtungslose, aber auftreibende »Frischauf« als Liedeinsatz. Dies alles exerziert von singenden Regimentern in der Leipziger Schlacht und wiederholt noch von poetisch durchglühten deutschen Jünglingen, die aufrecht und singend, die Freiheit im T o d e begehrend, mit dem kaum mehr verstandenen Lied »Deutschland, Deutschland über alles« auf den Lippen, v o r Langemarck starben — fast genau ein Jahrhundert danach, 1914. So sehr diese L y r i k zur Erfüllung eines konkreten historischen Zwecks ausgelöst und verbreitet worden war, so deutlich macht sich im L a u f e der G e schichte erneut die Magie der Selbstentzündung

geltend, die anfangs

den

romantischen Poeten zur Stimulierung der eigenmächtigen Phantasie taugte. Schon der nach den Regeln des Kriegshandwerks

unnötige T o d

Theodor

Körners am A b e n d des Tages, an dem er sein berühmtes Brautlied auf sein Schwert 1 1 niedergeschrieben hatte, beleuchtet, wie sehr durdi die Liedgewalt der romantischen Sänger der sachgebotene Einsatz sich in zweckverachtende H i n gerissenheit wandeln konnte. Körners Lied von der Hochzeit mit dem eigenen Schwert ist ein jubelnder Gesang, der in 16 Strophen alle Schattierungen der weltlichen und der geistlichen Liebe durchläuft, v o n der Vorspiegelung der Brautnacht bis zur mystischen Liebeseinigung im Hinströmen des eigenen Blutes. »Schaust mich so freundlich an, hab' meine Freude dran« —

in solch ein-

schmeichelndem, archaisierenden Volksliedton setzt das Lied an. »Laß midi nicht lange warten, o schöner Liebesgarten, v o l l Röslein, Röslein blutigrot / und aufgeblühtem T o d « — so setzt es sich in Tönen der Marienmystik fort. A l l e Motivbereiche und alle poetischen Register sind jedoch nur ausgespielt, um einen Sinn zu erzeugen, ein G e f ü h l alle anderen auslöschen zu lassen: »Der Hochzeitsmorgen

graut,

Hurra

du Eisenbraut.« Eine Befehl und

eigenen

K a l k ü l hintansetzende Bereitschaft z u m Liebestod in der Schlacht ist das Ziel dieses Beispielfalles einer individuellen und kollektiven Selbstentzündung. Körners

nachmalige Berühmtheit

im ganzen

19. Jahrhundert

und

seine

Idealisierung als Freiheitskämpfer in Zeiten, in denen ein auf den Sprachklang gegründetes Deutschbewußtsein kein politisches Leitziel mehr hätte abgeben dürfen, zeigen die Gefahren an, die solcher suggestiven Einigungslyrik innewohnen. W a s anfangs eine absichtsvolle und historisch angemessene Tugend schien: der hohe Allgemeinheitsgrad in den Bildern und den Formeln dieser L y r i k , brachte späterhin dieselben vermeintlichen Einheitsgefühle und O p f e r gesinnungen noch bei gänzlich veränderten historischen Gegebenheiten hervor, und so konnten noch weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein Gläubige und Mißbrauchte v o n ihren zur Einstimmigkeit aufrufenden, politischen w i e poetischen Wortführern kaum unterschieden werden.

11

Erstausg. Theodor Körner: Schwerdtlied, in: Leyer und Schwerdt. Einzige rechtmäßige, von dem Vater des Dichters veranstaltete Ausgabe, 1814, S. 84 ff.

Die vaterländische Lyrik und Goethes Westöstlidier Divan

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* Audi Goethe bestieg am 14. Oktober 1 8 1 4 einen Berg, um die Freudenfeuer rings im Lande zu sehen. Allerdings, es war kein eichengekrönter oder felsragender Gipfel deutschen Landes, es w a r ein Weinberg, den er sich zum Aussichtsplatz auf die Freudenfeuer wählte. Genauer noch: ein behagliches Weinberghaus. In diesem Hause verbrachte er den denkwürdigen Abend zusammen mit dem Besitzer, seinem alten Bekannten Johann J a k o b Willemer, und mit dessen dritter Gattin, der bezaubernden, damals dreißigjährigen Marianne Willemer. Man beging den Abend festlich und heiter, wie es der Anlaß forderte, und die Pointe ist nun, daß Goethe und Marianne sich vorsetzen, diesen nationalen Feiertag der allseitigen Verbrüderung und des Gemeinschaftsschwures künftighin als ihren sehr persönlichen Feiertag, und zwar f ü r sich alleine zu begehen. Die enge Verbindung Goethes mit Marianne zu einer Zeit, da sich die junge Dichtergeneration leidenschaftlich zu einer politischen Gesinnungsgemeinschaft zu verbinden suchte, ist nicht etwa das Gelegenheitsprodukt einer Feierstunde. Sie tritt vielmehr ein in einem Zeitpunkt, in dem auch Goethes poetische Produktivkräfte der Vergewisserung und der gleichgestimmten Resonanz bedurften, um sich zu einem eigenen, eigentümlich ausgreifenden lyrischen Unternehmen neu zu entfalten. Warum bedurfte es eines solchen Ansporns zu der Versammlung von Gedichten, die nun aus fremden und eigenen Stimmen gemischt, in unverhoffter Fülle entsteht? Dazu ist wenigstens ein kurzer Blick auf Goethes Verhältnis zu seinem vom Kriege noch bewegten Zeitgenossen nötig. Als der Jenaer Historiker Heinrich Luden unter dem Eindruck der Leipziger Schlacht im November 1 8 1 3 bei Goethe vorsprach und ihn um einen poetischen Beitrag zum Erwachen Deutschlands anging, bekannte Goethe: »Glauben Sie ja nicht, daß ich gleichgültig wäre gegen die großen Ideen Freiheit, Volk, Vaterland. . . . Auch liegt mir Deutschland warm am Herzen, ich habe oft einen bitteren Schmerz empfunden, bei dem Gedanken an das deutsche Volk, das so achtbar im einzelnen und so miserabel im ganzen ist.« 12 Ohne eine zu starke Vereinfachung kann man sagen, daß für Goethe jegliche menschliche Gruppierung, die nicht auf überschaubarer und geprüfter persönlicher Annäherung beruhte, eine unerträgliche Einschnürung menschlicher Freizügigkeit bedeutete. Daher die Schärfe des Gegensatzes von achtbarem Einzelnen und einer miserablen Einheit der Deutschen, nämlich der miserablen Einheit derjenigen, die sich auch nach diesem Sieg auf nichts als auf eine abstrakte Beschwörung ihrer Gemeinsamkeit berufen konnten. Praktisch äußert sich das in einer schroffen Ablehnung aller Stimulantien, die solches Gemeinschaftsgefühl erzeugen. So etwa schreibt Goethe aus Jena am 28. 6. 1 8 1 8

12 Goethes Gespräche. Gesamtausgabe, neu hg. v. Flodoard v. Biedermann, 2. Aufl., Bd. 2, 1909, S. 214

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an Zelter: »Chorweise machen die jungen Leute ihre Sachen gut. Was aber nicht nach Lützows wilder Jagd klingt, dafür hat kein Mensch keinen Sinn. Auch ist es, wie die Sadien stehen, nidit einmal rätlich, sidi näher an sie zu schließen.«13 Goethe wägt die historischen Gründe für dieses neue Einigungspathos der Jenaer Burschenschafter kaum. Der Grad der Absolutheit, mit der eine einzige Idee sich aller Gesinnungen und Lebensäußerungen der Jungen bemächtigt, erweckt von vornherein sein Mißtrauen und seine Abwehr: Denn für ihn besteht die Selbstbestimmung der Person in ihrer Fähigkeit zu jeweils neuer, freier und freiwilliger Bindung oder Absonderung. Man muß hier anmerken, daß diesen Gedanken einer bevorrechtigten Selbstbestimmung angesichts der zeitgenössischen Einengungen des bürgerlichen Lebens in Deutschland am ehesten die Denker und Dichter zur Richtschnur ihres Handelns machen konnten. Dem entspricht nun genau der Schluß, den Goethe Luden gegenüber aus seinen Eindrücken zieht: »Uns einzelnen bleibt inzwischen nur übrig, einem jeden nach seinen Talenten, seiner Neigung und seiner Stellung, die Bildung des Volkes zu mehren, zu stärken und durch dasselbe zu verbreiten nach allen Seiten und, wie nach unten, so auch, und vorzugsweise, nach oben, damit es nicht zurückbleibe hinter den anderen Völkern . . .«14 Die Bildung des Volkes und die seiner Regenten in der Richtung der Menschheitsentwicklung zu fördern, sieht also Goethe sehr wohl als einen nationalen Auftrag an, den der Dichter auf seine Weise zu erfüllen habe. Wenn ihm insbesondere die Eröffnung eines Ausblicks auf die Weltliteratur als der geeignete Weg zur Erweckung einer nationalen Bildung erscheint, so steht er damit früheren Programmen Herders und der Brüder Schlegel noch näher als etwa die Heidelberger Romantiker, die in der Austiefung der Nationalgeschichte die Einigungskräfte des Volkes zu stärken suchten. Es ist nur folgerichtig, daß für Goethe deshalb gerade angesichts einer »Befreiung.. . von einem fremden Joche« 15 die Erschließung weiterer, entfernter Bildungsquellen einer der wichtigsten Schritte wird. Denn für eine Nation, deren »Schlaf . . . zu tief gewesen, als daß auch die stärkste Rüttlung so schnell zur Besinnung zurückzuführen vermöchte«1®, scheint ihm dies das sicherste Mittel, ihren Horizont zu erweitern, sie weltläufiger und damit im besten Sinne auch welttüchtiger zu machen. Eine solche Horizonterweiterung erlaubt schließlich auch dem Dichter, nicht bloß der eigenen Selbstherrlichkeit zu trauen, sondern von seinen Begrenzungen sich zu lösen und der eigenen Phantasie im freien Austausch Weltstoff »von dreitausend Jahren« 17 zuzuführen.

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Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 1 7 9 9 - 1 8 3 2 , hg. v. Ludwig Geiger, 1904, Bd. 1, S. $88 14 Goethes Gespräche, op. cit., S. 2 1 5 15 Ebd. S. 2 1 6 i« Ebd. S. 2 1 6 17 Westöstlicher Divan, Budi des Unmuts, in Jub.-Ausg. Bd. 5, S. J I

D i e vaterländische L y r i k und Goethes Westöstlicher D i v a n

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Auf solcher Suche nach >frischer Nahrung und neuem Blut< für seine eigene Poesie war Goethe nun eben während der Kuliminationszeit der nationalen Freiheitslyrik im Frühjahr 1 8 1 3 auf die Hafis-Übersetzungen des österreichischen Orientalisten Freiherr von Hammer-Purgstall gestoßen. Wie immer fand Goethe im Fremden auch sich selbst aufs neue, und einer der rätselhaften, sei's gesuchten, sei's ihm zustoßenden Verjüngungsprozesse in seinem Leben brachte es dahin, daß er — entzündet von der lebendigen Anschauung dieser Gedichte und der Resonanz, die er bei Marianne fand — fast abrupt in einer jahrelang nicht gekannten Vehemenz im Tone des Hafis zu dichten begann. Dem Ton des Hafis folgen, das hieß für Goethe auch diesmal kaum, sich fremden Metren ernsthaft zu beugen. Es hieß vielmehr, den gleichen leichtfüßigen oder bestimmten, den hinperlenden oder den hellprangenden Ton wählen, in dem die Motive und Redefiguren des persischen Dichters ihn jeweils ansprachen. Dem Hafis folgen hieß vor allem anderen — und hier berühren sich schon die gegensätzlichen literarischen Zeitströmungen — den Quell der Poesie über die Zeiten hinweg am Ursprung aller Sprachen aufzusuchen: Goethe folgt ihm — und auch das hatten die Romantiker verheißungsvoll erscheinen lassen — bis zur orientalischen Wiege der Menschheit. Auf diesen Weg lockt das Einleitungsgedicht des Divan: Hegire. N o r d und West und Süd zersplittern, Throne bersten, Reiche zittern, Flüdite du, im reinen Osten Patriardienluft zu kosten, Unter Lieben, Trinken, Singen Soll dich Chisers Quell verjüngen. 1 8

Das Gedicht ist im Dezember 1814 verfaßt, inmitten der Fülle von 2 j o Gedichten, zu denen der Divan während der folgenden Jahre anwuchs. Ist es eine Frivolität, so von Wanderfahrt, Weltenlust und Paradiesesheiterkeit zu dichten, während die anderen rings im Lande mit ihren Liedern mahnen, in gemeinsamem Kampf und strengem Opfer auszuharren? Die Frage gilt heute wie zu jeder Zeit, wieweit man sich solchem Aufruf beugen muß oder entziehen darf. Die Frage richtet sich an den ganzen Gedichtzyklus Goethes, und da das Eröffnungsgedicht des Divan in einem erstaunlichen Maße dessen Hauptmotive bündelt, wollen wir an »Hegire« ernsthaft diese Frage stellen. Hegire: das ist die französische Form des arabischen Hedschra oder Hidschra, das die denkwürdige Flucht Mohammeds von Mekka nach Medina bezeichnet, wo er im Glaubenskampf Zuflucht fand. Flucht oder Aufbruch, so muß es übersetzt werden. Aufbruch schon damals in einem äußeren und einem tieferen Sinne; denn von dieser Flucht an zählen Mohammeds Anhänger eine neue Zeit. Auch für Goethe ist es zunächst ganz buchstäblich der Aufbruch zu einer neuen «

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Reisezeit, Aufbruch aber auch zu einer rasch sich erneuernden Liebes- und Glaubensfähigkeit, die aus Chisers Quell, das ist bei Hafis der Quell des Lebens und ein ewiger Jungbrunnen, ihre Kräfte zieht. Aber man kann darauf wetten: auch Marianne Willemer wußte, wer mit dem jugendspendenden Chiser gemeint sein konnte. Schon Ernst Beutler 19 hat in seinem Kommentar zum Divan diesen Aufbruch »in des Ursprungs Tiefe« (2. Strophe) in Zusammenhang gebracht mit der vielberufenen Maxime des Novalis: »Wo gehn wir denn hin? Immer nach Hause.« Einer romantischen Rückkehr in glaubensselige »Jugendschranken« verschreibt sich der Sänger ausdrücklich in der dritten Strophe. Nicht der Osten als neues Land wird hier erschlossen, sondern der Osten als der Ort, an dem die Menschheit zuerst Sprache und Glaubensfähigkeit und der Dichter seine erste Weihe empfing. Wieder also dichtet Goethe hier in Menschheitsdimensionen, als ob die Theorie der Nationalsprachen inzwischen nicht die Theorie von einer poetischen Welt-Ursprache abgelöst hätte. Aber die eigenen, unruhigen Zeitläufte bleiben dabei nicht unbedacht. Immerhin geben tumultuöse politische Ereignisse den Anlaß zu der Aufforderung, in die reine Patriarchenluft des Ostens zu fliehen. Für die vaterländisch bewegten Zeitgenossen allerdings eine Ermunterung ungewöhnlicher Art: Ermuntert der Sänger damit nicht zur Abkehr von dem großen Kriegsgeschehen um ihn her, das um 1 8 1 4 sich eben angelassen hatte, Throne bersten und Reiche zittern zu machen? Vorsicht vor so raschen Folgerungen ist am Platze. Die erste Strophe im Ton des Hafis fordert nicht etwa ohne weiteres eine Abwendung von der europäischen Gegenwart. Denn die Verhältnisse, unter denen Hafis dichtete, waren nicht so sehr von den Kriegswirren der europäischen Gegenwart verschieden. Hafis selbst hatte die kriegerischen Unternehmungen Timurs, der zu seiner Zeit auf einem verheerenden Eroberungszug halb Asien in Brand steckte, in düsteren Farben bedichtet. Was für eine Flucht also, die im Osten das wiederfindet, was sie hinter sich lassen möchte? Schon hier zeigt sich, daß der Osten, den Goethe sucht, nicht nur das Refugium in einer ganz anderen Welt ist, sondern zugleich die Verdoppelung, die Verallgemeinerung seiner eigenen Welt. Dort, im Spiegel der HafisDichtung, entdeckt er sie durchsichtiger, weil schon poetisch gelichtet, wieder. »Versammlung deutscher Gedichte in stetem Bezug auf den Orient«: diese früheste Überschrift der Divansammlung hat also ihren genauen Sinn, die Gedichte erheben durch Widerspiegelung, durch steten Bezug das Individuelle zur vergleichbaren, in der Geschichte der Menschheit regelhaften Erscheinung. So entfernt sich auch unter morgenländischer Sonne, unter Hirten, an Oasen, in Bädern und in Schenken der reiseselige Dichter nicht so weit, wie es scheinen mag, von den Lebenswünschen und den poetischen Motiven seiner Zeitgenossen. 19

Ernst Beutler: Goethe. West-östlicher Divan, hg. u. erl., 1943, S. 3 1 7

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Auf die Stärkung, die Lieder spenden können, hofft er in räuberdrohender Wildnis nicht weniger als die Soldaten, die sich vor dem Kampf um ihre Gitarrensänger scharen (5. Strophe). Hier wie dort sollen Dichterworte der Liebesbereitschaft den Weg zur Erfüllung bahnen. In solchen heiter-frommen Wünschen klingt das Eröffnungsgedicht so gut wie der ganze Divan aus. Doch bleiben die Bilder wie die Wünsche in diesen Versen auf unvergleichbare Weise offen gegen alle möglichen Erfüllungen — das wieder trennt sie scharf von der Gleichgerichtetheit all der Chöre ab, die Goethe von Jena her oder von den Bergen des Taunus widerhallen hört. Zur Welt des Hafis gehört auch Timur, und im gleichen Monat wie Hegire, im Dezember 1814, entsteht für den Divan das große Timur-Gedicht, das dem »Buch des Timur« den Titel und den größten Teil seines Inhalts gibt. Es heißt »Der Winter und Timur« 20 , und dort erscheint nun der Eroberer mit seinen »wilden Heeren« als der »Tyrann des Unrechts« in einer eisstarrenden Winterszenerie; der Winter selbst wünscht mit der Beschwörungsgeste der Nemesis ewige Kälte und Greisenstarre auf ihn herab. Spielt das noch im »reinen Osten«? Mit förmlicher Schroffheit hatte Goethe die Bitten von Luden, von Humboldt und sogar von der jungen Kaiserin von Österreich abgewehrt, der Erhebung Deutschlands so unmittelbar wie die anderen seine Stimme zu leihen. Nun aber rückt er diesen Winterfluch auf Timur-Napoleon in seinen westöstlichen Zyklus ein. »Keine Kohlenglut vom Herde soll dich je in deinem Winter wärmen«: diese Verwünschung des Timur scheint unmittelbar auf den Rußlandwinter Napoleons bezogen. Freilich erhebt Goethe damit auch den napoleonischen Feldzug zum Gleichbild eines wiederkehrenden Mythos und unterwirft seinen Ausgang den elementar gleichgültigen Naturmächten. Aber Goethe unternahm im Buche Timur nun nichts, um alle anderen Motive auf Timur zu konzentrieren. Im Gegenteil! Er arrangierte den Text ausdrücklich zu polaren Sequenzen, »damit uns die allzunahe liegende Deutung ein erhöhtes Anschaun ungeheurer Weltereignisse nicht mehr verkümmerte«. 21 Er schuf dem Frostfluch über Timur/Napoleon ein Gegengewicht, das die riesige Schattengestalt der östlichen und der eigenen Welt wieder in eine größere Balance einfügte. Auf das große, mythisch-politische Gedicht »Der Winter und Timur« nämlich folgt unmittelbar, noch im »Buch des Timur«, die erste persönlich-heitere Anrede an Suleika. Hier wird dem Frost sogleich triumphierend Glut entgegengehalten: die Glut nämlich von tausend knospenden Rosen. Und auf die rhetorische Schlußfrage dieser Anrede an Suleika: »Hat nicht Myriaden Seelen Timurs Herrschaft aufgezehrt?« antwortet das Buch Suleika, indem es diese Frage und auch die Eingangsverse von »Hegire« in doppelter Weise aufhebt:

2

« in: Jub.-Ausg. Bd. 5, S. 63 f. Goethe: Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlidien Divans, in Jub.-Ausg. Bd. j , S. 239

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Eberhard Lämmert »Mußt nicht vor dem Tage fliehen: Denn der Tag, den du ereilest, Ist nicht besser als der heut'ge; Aber wenn du froh verweilest, W o ich mir die Welt beseit'ge, Um die Welt an mich zu ziehen, Bist du gleidi mit mir geborgen . . ,« 2 2

Dies ist die gleiche Kehre, wie sie schon innerhalb der ersten Strophen von Hegire vor sich geht: was dort Chisars Quell dem Flüchtigen spendet, gewährt in der neugewonnenen Welt die Geliebte. Gerade das Fernabliegende zusammenzuführen, sind liebende Hände nötig. Wieder aber ist die von der Geliebten neugeschenkte Welt längst mit einer anderen, ferneren und größeren poetisch verbunden: »Gottes ist der Orient, Gottes ist der Okzident. N o r d - und südliches Gelände Ruht im Frieden seiner Hände.« 2 3

Dieses Gedicht folgt schon bald auf »Hegire«, im Buch des Sängers. Uns erscheint es nun schon doppelt verwoben: die gewährenden Hände Gottes haben bald ihr Widerspiel in der persönlichen Liebesgewährung Suleikens. Der rhetorische Viertakt »Orient, Okzident, Nord- und südliches Gelände« nimmt seinerseits das Koordinatensystem der vier Himmelsgegenden genau wieder auf, mit denen »Hegire« einsetzt, und schließt die dort fürs erste scheinbar entzweiten Himmelsrichtungen bündig zusammen. Was lehrt solche fortwährende Verschlingung, Wiederkehr und Aufhebung in neuer Form? Die Entsprechung der politischen Nöte und der Sehnsucht nach Frieden, die Entsprechung von persönlicher Liebes- und übergreifender Gotteserfahrung, die Auswiegung der Leiden mit den Lebensfreuden in den Armen der Geliebten und beim Schenken, schließlich die große gegenseitige Spiegelung von Orient und Okzident, alles das lehrt nach Goethes Ansicht, daß das Einzelne seine Rangordnung in der Geschichte der Menschheit erst durch den Vergleich erfährt und daß erst durch solche Übersicht der Einzelne auch seinen Platz in der Welt und zwisdien den anderen richtig einzuschätzen vermag. Es fehlt schließlich im Divan nicht an einem Gedicht, das dieses Herauswachsen aus der vereinzelten Erfahrung zur umgreifenden, gegenseitigen Klärung des eigenen Ortes selbst zum Gegenstand hat und das diesem Vorgang ein sinnenfällig-einfaches Bild schafft. Es heißt: »An vollen Büschelzweigen«. A n vollen Büsdielzweigen, Geliebte, sieh nur hin! Laß Dir die Früdite zeigen Umschalet stachlig grün. 22 Ebd. S. 65 23 Ebd. S. 6

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Sie hängen längst geballet, Still, unbekannt mit sich, Ein Ast, der schaukelnd wallet Wiegt sie geduldiglidi. Dodi immer reift von innen Und schwillt der braune Kern, Er möchte Luft gewinnen Und sah' die Sonne gern. Die Schale platzt, und nieder macht er sich feeudig los; So fallen meine Lieder Gehäuft in deinen Schoß.24 Nicht nur der anschaulich gemachte Naturvorgang und nicht nur das einfache Bild, das Lieder wie Früchte zu Geschenken macht, wollen beachtet sein. Unversehens dichtet Goethe hier auch ein Gleichnis von der Fruchtbarkeit eines literarischen Austausches und eines Austausches an Lebenserfahrungen. Denn die Strophen antworten nicht nur der Geliebten in einer ganz konkreten Situation: nämlich auf ein Gespräch mit Marianne im Kastanienpark im Heidelberger Schloß, im September 1 8 1 5 . Sie antworten auch auf den Koran und auf den persischen Dichter Scharni. Die 19. Sure des Korans erzählt, wie der dürstenden Maria aus einem Palmenbaum frische Datteln in den Schoß fallen. Schon Scharni hat das Bild verwandelt und läßt aus dem Kiel seiner Schreibfeder einer Freundin Verse in den Schoß streuen. Goethe hingegen hält das alte Naturbild des Koran fest. Aber er verbindet es mit dem persischen Bild der beschenkten Freundin, und er läßt die stachelig verschlossenen Früchte des herbstlichen Parks zugleich im Aufspringen seine Lieder sein, er läßt buchstäblich die Schale der einzelnen Überlieferungen platzen und vereinigt alles einzelne zu einer Gabe, mit der er wiederum ohne Umstand seine Geliebte bei guter Gelegenheit dankbar beschenkt. Doch auch dies, daß mit diesen Liedern nur die Geliebte zu beschenken sei, hebt der Divan durch beziehungsreiche Weiterungen des Motivs wieder auf. Wie kaum eines der hunderte von Motiven des Divan ohne verwandelnde Wiederaufnahme bleibt, so korrespondiert auch das Bild von den Liedern, die in den Schoß der Geliebten fallen, mit anderen und weitet so die Figur des Wachsens, Lösens und Verbindens über den ganzen Divan-Zyklus aus: »Nun, so legt euch, liebe Lieder, an den Busen meinem Volke!« 25 , so endet der Divan, und läsen wir es nicht im Nachlaß ausdrücklich, so wäre doch Zweifel keinen Augenblick länger erlaubt: »Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen.« Mit dieser Geste sind Bereicherung und Selbsterkenntnis im anderen durch diese Gedichte schließlich nicht mehr der Geliebten nur, sondern »der Bildung des Volkes« zugeführt. Das ist eine gewiß eigenwillige Einverleibung des Zeitgeistes. Erinnern wir uns einen Augenblick an die panischen Anverwandlungen von Volksliedinnigm Ebd. S. 82

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keit, Ritterdienst und Marienmystik in Körners Brautlied auf sein Schwert. Zeitgenossenschaft und Gegensatz werden dabei gleichermaßen sichtbar. Goethe nimmt, indem er die Korrespondenz mit fernen und nahen Stimmen und die vielfache Wiederkehr von Motivmustern auch für seine Sammlung zur Regel macht, auf seine eigene Weise an den kommunikativen Tendenzen der zeitgenössischen Lyrik teil. Während aber die patriotische Lyrik auf die Einstimmigkeit aller Klänge und Gefühle und auf ihren unmittelbaren Ausdruck in einem einigen Handeln abzielt, wird in den Divangedichten die Vielstimmigkeit jeder einzelnen Stelle zum Anreiz, sich neue Ebenen und Horizonte der Lebenserfahrung zu eröffnen. Dies allerdings um einen Preis, den Goethe selbst scharf genug hervorhob und der seine Dichtung von der gleichzeitigen vaterländischen Lyrik letzten Endes entscheidend trennt. Der Leser muß sich, um sich mit den Gedichten des »Divan« wirklich einzulassen — so sagt es schon das Motto zu den »Noten und Abhandlungen zum besseren Verständnis des Westöstlichen Divans« — »ins Land der Dichtung« begeben; dort, nur dort, kann er wie Hafis Länder und Städte verschenken und über Timurs Heer gebieten. Der ganze Divan lehrt es auf eine sehr heitere Weise: Mehrsinnige Dichtung kann nicht unvermittelt zum Handeln überleiten, sie ist eine Geheimschrift, die man erst lösen, d. h. ins eigene Leben übersetzen muß, wenn man sie nutzen und dabei ihren magischen Bildern nicht verfallen will. Die vaterländische Lyrik, deren Zweck darauf gerichtet war, gemeinsames Kämpfen und Leiden zu erleichtern, mußte solche Doppelschrift meiden. Sie bot immer dieselben Motive und Bilder in allenfalls neuer drastischer Steigerung auf, und indem sie die Schwellen zwischen Religion und Patriotismus, zwischen Freiheitsbegehren und Todesrausch einebnete, machte sie aus Reimklängen und Gemütsbewegungen Lebenswirklichkeit. Das mag historisch gerechtfertigt und sogar geboten sein, so lange Idee und Handeln einander angemessen sind. In Körners Tod jedoch ist schon eine fortzündende Poetisierung des Handelns abzulesen, und ein gemütreiches und gedankenfernes Weiterreichen derselben poetisch-politischen Handlungsvorbilder in andere historische Verhältnisse wird zu einer nicht geringen Gefahr für ihre Benutzer. Die Geschichte des verspäteten deutschen Nationalbewußtseins trägt deutliche Zeichen einer poetischen »Verewigung« längst ferngerückter und nurmehr erinnerter, nicht mehr neubedachter Wunschziele. Goethes beharrliche Weigerung hingegen, mit seiner Poesie unmittelbar in die Zeitgeschichte einzugreifen, hat ihn nicht nur exotische Schätze bergen lassen. Die ständige Vielbezüglichkeit seiner westöstlichen Gedichte, die ihren Sinn jeder endgültigen Festlegung entzieht, läßt sie auch, anders als die auf einen bestimmten historischen Zweck zielenden Lieder, unverbraucht die Jahrzehnte und Jahrhunderte bestehen, weil bei jeder neuen Begegnung mit ihnen 25 Ebd. S. 130

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neue Entdeckungen wahrscheinlich sind. Dafür sind sie allerdings audi — und das hat Goethe ein Jahr vor seinem Tode in einem Gespräch mit Eckermann noch einmal bekräftigt — an keine Zeit, keine besondere politische Not und »kein besonderes Land gebunden«2®. Für Goethe ist der Dichter »darin dem Adler gleich, der mit freiem Blick über Ländern schwebt«. Ein Urteil über diese Gesinnung und über die poetische Praxis, die daraus folgt, darf selber nicht ohne historische Abwägung gefällt werden. Die moralische Entrüstung, mit der schon die meisten Zeitgenossen auf das »Treibhausgewächs«, auf die »grillenhafte Maskerade« dieser »an den Busen des Volkes« gelegten Divan-Sammlung reagierten, bezieht ihr Gewicht aus dem Umstand, daß auch die vaterländische Dichtung in dieser Zeit ohne Vaterland eine utopische und zugleiche notwendige, d. h. eine in bezug auf die historischen Verhältnisse zukunftsträchtige Dichtung war. Ihr unverwandter Weitergebrauch im 19. und 20. Jahrhundert ließ sie jedoch, gerade weil sie um 1 8 1 0 für die Erfordernisse des Tages gemacht und nötig war, alsbald aus einer Befreiungs- zu einer Befestigungslyrik umschlagen und damit in genauem Sinne reaktionär wirksam werden. Der seiner Gegenwart gegenüber mit Abkapselung und »Hegire«, also Flucht und Aufbruch zu fernen Horizonten reagierende Goethe dagegen bringt es mit seinem »Divan« dahin, der Erstarrung der zeitgenössischen Progressivität sich zu entziehen und ferneren Lesern die Gelegenheit zu erhalten, sich in heiterem Umblick »von dreitausend Jahren« Rechenschaft zu geben. So und so wird Lyrik, von Fall zu Fall, gebraucht. Freilich ist ihr Gebrauchswert im zweiten Falle schwer nachzuweisen; im ersten Falle hinterläßt sie deutlichere Spuren und Narben an ihren Benutzern. Und gewiß wird in unseren Tagen, in denen politische Konflikte und Spannungen selbst weltweit geworden sind, die gelassene Horizontverdoppelung, die Goethe anbot, nicht mehr so leicht als Lösung sich anbieten. Andererseits spricht nichts dafür, ein prinzipielles Wertgefälle anzunehmen von autonomer Poesie gegen Tendenzpoesie, von der vielstimmigen Poesie, die immer neue Assoziationen und Identifikationen erlaubt, zur gleichstimmenden, eindeutig handlungsorientierten Poesie, die aktuelle, öffentliche oder auch bündische Zwecke verfolgt. Sichtbar wurde jedoch gerade in der Gegenüberstellung, daß beide nidit unabhängig voneinander entstehen: Wie die Gelegenheit zur kampfbefeuernden vaterländischen Lyrik förmlich begierig ergriffen wurde von Poeten, denen subjektive Phantasie, Ehrgeiz und Auftragslosigkeit zu schaffen machten, so reagiert Goethe auf die Bitten um die Einfügung seiner Stimme in einen gemeinsamen Kampfaufruf mit Fludit und Aufbruch in ein Reich der Dichtung, das alle heiteren und ernsthaften Lebensmöglidikeiten auf Abruf in der Schwebe hält.

Goethes Gespräche, op. cit., Bd. 4, S. 436

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Es ist am Platze, für diese so konträren Entscheidungen am Ausgang der Befreiungskriege und an der Schwelle der Restauration jeweils nicht nur die persönlichen Motive geltend zu machen, sondern auch die unterschiedlichen sozialen Motivationen zu prüfen und sie schließlich an den Entwicklungs- und Beharrungskräften der Zeitgeschichte zu messen. Es ließ sich schon sehen, daß Tadels- oder Lobesetiketten nach angenommener Rüde- oder Fortschrittlichkeit dabei so leicht nicht zu verteilen sind. Ein Anspruch allerdings, den Goethe mit seinem »Divan« der zeitgenössischen, suggestiv-eindeutigen Freiheitslyrik entgegenhielt, bleibt für Lesende wie für Schreibende aufrechtzuerhalten: auch angesichts unerbittlicher Forderungen des Tages den Bogen der eigenen Erfahrung weit genug zu spannen, damit genug von der Fülle der Menschengattung und der Menschheitsprobleme dem eigenen Urteil zugute kommt. Mehr als die meisten Dichter seiner Zeit und gerade durch solche Umsicht, hat Goethe es verstanden, von Ost und West und zu Ost und West zu sprechen, und er hat damit nicht nur seinen Lesern in aller Welt, sondern auch den Deutschen einen guten Dienst getan.

E. T. A . Hoffmanns doppelte Wirklichkeit Zum Motiv der Schwellenüberschreitung in seinen Märchen Von

N O R B E R T MILLER,

Berlin

Während in Deutschland Goethes und der Romantiker Verdikt gegen die »krankhaften Werke jenes leidenden Mannes«1 bis fast zur Gegenwart das allgemeine Urteil über E. T. A. Hoffmann bestimmte und eine intensivere Wirkung seines Werks auf die Literatur des 19. Jahrhunderts verhinderte, galten seine Märchen-Capricen nach Callot und seine Nachtstücke in Salvatore Rosas Manier den französischen Autoren und Lesern früh schon in ihrer Exzentrizität und »krankhaften« Verwirrung und Aufhebung der vertrauten Wirklichkeit als bewunderte Musterstücke einer gegenklassizistischen und gegenrealistischen Dichtung. Zweimal im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde Hoffmann so zum Kronzeugen einer neuen Literatur- und Kunstbewegung erklärt: von Charles Nodier am Beginn der französischen Romantik und von Charles Baudelaire am Beginn der europäischen Moderne. Als 1832 Nodier in zwei längeren Aufsätzen die Zielsetzungen und Vorbilder des romanticisme resümierte, führte er Hoffmann als den Bahnbrecher einer Poesie des fantastique vraisemblable an, einer Poesie des in der Wirklichkeit begründeten oder doch glaubwürdigen Wunderbaren, das für Nodier und seine Freunde den neuen Kontinent der Dichtung darstellte2. Allen Erzählern der Frühzeit — so argumentiert Nodier — schien der ungekannte Erdkreis bevölkert mit Seltsamkeiten, mit Ungeheuern und Dämonen. Der erwachende Geist der Nachprüfung mußte sie nur langsam in der Geographie weiter an den Rand verschieben, um ihre unbezweifelte Existenz zu erhalten: das Phantastische war für Homer wie für den Legenden erzählenden Mönch ein Teil des Wirklichen, des Geglaubten. Für den modernen Autor dagegen, dem der Erdkreis zur erklärten Alltäglichkeit zusammengeschrumpft ist, tritt das Phantastische und das Alltägliche, das Erträumte und das Vertraute auseinander; ihm bleiben die Darstellung des Greifbaren und das willkürliche Spiel der Einbildungskraft als Möglichkeiten einer unpoetischen Dichtung übrig. 1

1

Vgl. Goethes Aufsatz über eine Rezension in der Foreign Quarterly Review vom Juli 1827 (1827), zitiert nadx Goethes »Sämtlidie Werke« (Jubiläumsausgabe), hg. E. von der Hellen, Bd. 38, S. 1 3 1 Gemeint sind die beiden Aufsätze: Du Fantastique en littérature und Préface nouvelle (zur Erzählung: Smarra ou Les Démons de la Nuit), die beide 1832 erschienen sind. Die folgenden Zitate sind der Vorrede entnommen.

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Wie aber, wenn man das Spiel der Einbildungskraft ernst nimmt und in eine neue Relation zur Wirklichkeit setzt? »Ich brauchte dazu nichts weiter, als im Menschen die Quelle eines wahrscheinlichen oder wahrhaftigen Phantastischen zu entdecken, das nur aus natürlichen Eindrücken und aus allgemein verbindlichen Glaubensvorstellungen entspringt, wie sie selbst den fortgeschrittensten Geistern unseres ungläubigen Jahrhunderts vertraut sind«3. So kann Nodier im Menschen, in den Träumen, Ahnungen und Wahnvisionen der Seele, einen unerschlossenen Bereich des Wunderbaren ausmadien und damit der Phantasie ihre Naivität — freilich eine reflektierte und gebrochene Naivität — zurückgeben. E. T. A. Hoffmann mußte Charles Nodier als der eigentliche Wegbereiter einer solchen Konzeption von phantastischer Dichtung erscheinen. Ausdrücklich wird ihm, dem Verfasser der doppelbödigen Erzählungen vom »Sandmann« und vom »Öden Haus«, dem Entdecker weiter Rand- und Dunkelzonen zwischen erklärter Wirklichkeit und den Nachtseiten des menschlichen Lebens, von seinem französischen Bewunderer nachgerühmt, er habe »das im Wirklichen verborgene Phantastische aufgezeigt, bald im Wahnsinn des exaltierten Künstlers, bald in den mehr oder minder durch die Wissenschaft abgesicherten Phänomenen des Magnetismus« 4 . Damit wird E. T. A. Hoffmann festgelegt auf den Teil seiner Erzählungen, die sowohl seelenkundlich exakte Beschreibungen von Wahnvorstellungen und okkulten Illusionen geben, als auch die Schauder des Unheimlichen und Ungesicherten beschwören wollen. Hoffmann gerät damit in die Nähe von Walter Scott, Victor Hugo und Ann Radcliffe, die alle wie er »außergewöhnliche, aber mögliche« Figuren und Begebenheiten schildern: »types extraordinaires mais possibles, circonstance aujourd'hui essentielle qui manque à la réalité poétique de Circê et de Polyphème«5. Wenn aber die pittoresken Bettler und Landstreicher in Scotts Geschichtsromanen — Relikte einer poetischen Vorzeit im faßbaren historischen Kontext —, wenn die geraunten Geheimnisse und Schrecken der gothic novel, die das Romanende als Theatermaschinerie entlarvt, als analoge Phänomene zu Hoffmanns Spukwelt verstanden werden, dann verkürzt offenbar Nodier das Phantastische in Hoffmanns Erzählungen zu einem unerklärten Rest einer erklärten Welt, zur Vergegenwärtigung psychischer oder parapsychischer Grenzfälle. Im Gegensatz zu Nodier stützt Charles Baudelaire seine Beurteilung Hoffmanns vor allem auf dessen Märchen, die Nodier völlig aus der Argumentation ausgeklammert hatte. »Der goldene Topf«, »Klein Zaches« und die von ihm 8

»II ne me restait plus, pour satisfaire à cet instinct curieux et inutile de mon faible esprit, que de découvrir dans l'homme la source d'un fantastique vraisemblable ou vrai, qui ne résulterait que d'impressions naturelles ou de croyances répandues, même parmi les hauts esprits de notre siècle incrédule, si profondément déchu de la naïveté antique.« Zitiert nadi Charles Nodier: Contes, ed. Pierre-Georges Castex (Paris 1961), S. 38 4 »Hoffmann [l'a trouvé] dans la frénésie nerveuse de l'artiste enthousiaste, ou dans les phénomènes plus ou moins démontrés du magnétisme.« Ebd. « Ebd.

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am höchsten geschätzte »Prinzessin Brambilla« bilden die Grundlage seiner ausführlichen Besprechung des Dichters im Schlußteil von »L'essence du rire« ( i 8 j j ) , dem f ü r Baudelaires ästhetische Anschauungen zentralen Aufsatz. In ihm nennt er H o f f m a n n den Dichter, »der bis zur Stunde von allen Menschen die genaueste Vorstellung von der ästhetischen Idee eines absoluten, freischwebenden Komischen besessen und sie zu großen Teilen, im theoretischen Gespräch wie im schöpferischen Prozeß, bereits verwirklicht habe«®. Der deutsche Spätromantiker gilt ihm als Prophet seiner eigenen Umwertung der ästhetischen Werte, f ü r die das Lachen — als Stigma Satans die Selbstüberhebung des Menschen ebenso signalisierend wie seine Verzweiflung vor der unerreichbaren Allmacht Gottes — das eigentliche Prinzip aller großen, aller kommenden Kunst repräsentiert, f ü r die folglich das Mißgebildete und Fratzenhafte die höchsten Gegenstände der Poesie abgeben, da sie dem Menschen im Moment des Verlachens das flüchtige Gefühl der Überlegenheit über N a t u r und Kreatur vermitteln können. Von allen Arten des Komischen vermag sich jedoch nur eine einzige absolut zu setzen, ohne im A k t des Verlachens sogleich wieder die Gefangenheit im Verlachten zu dokumentieren: allein das Groteske in Kunst und Literatur kann durch die willkürliche Kombination und Verwandlung entlegener Wirklichkeitspartikeln dem Menschen das Gefühl einer dauernden Überlegenheit über die N a t u r durch die Phantasie beweisen. Das so wachgerufene Lachen »hat in sich etwas Axiomatisches, etwas tief und von A n f a n g an Gesetztes, das sich weit mehr . . . einer freien, abgelösten Freude annähert, als jenes andere Lachen, das der satirischen Sittenkomik entspringt. Zwischen beiden Arten des Lachens . . . besteht derselbe Unterschied wie zwischen den Schulen einer engagierten Literatur und einer l'art-pour-l'art-Bewegung, und entsprechend höher steht auch das Groteske über dem bloß Komischen« 7 . E. T. A. H o f f m a n n war f ü r Baudelaire der erste, der im freien Spiel der Groteske aus und über den T r ü m mern der in ihr vernichteten Realität eine zweite höhere Wirklichkeit errichtete: das wiedergewonnene Paradies in der Kunst. W a r f ü r Nodier die Phantastik des glaubwürdigen Indizes und der durchgehaltenen Doppelmotivation in »l'homme qui a jusqu'à présent le mieux senti ces idées, et qui en a mis en œuvre une partie dans des travaux de pure esthétique et aussi de création, est Théodore H o f f mann.« Zitiert nadi Charles Baudelaire: Œuvres complètes, ed. Y . - G . Le Dantec, Edition Révisée . . . par Claude Pidiois (Paris 1961, S. 986). , 7 »Je veux dire que dans ce cas-là le rire est l'expression de l'idée de supériorité non plus de l'homme sur l'homme, mais de l'homme sur la nature. Il ne faut pas trouver cette idée trop subtile; ce ne serait pas une raison suffisante pour la repousser. Il s'agit de trouver une autre explication plausible. Si celle-ci paraît tirée de loin et quelque peu difficile à admettre, c'est que le rire causé par le grotesque a en soi quelque chose de profond, d'axiomatique et de primitif qui se rapproche beaucoup plus de la vie innocente et de la joie absolue que le rire causé par le comique de moeurs. Il y a entre ces deux rires, abstraction faite de la question d'utilité, la même différence qu'entre l'école littéraire intéressée et l'école de l'art pour l'art. Ainsi le grotesque domine le comique d'une hauteur proportionnelle.« Ebd. S. 98 j

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Hoffmanns »Naditstücken« das wegweisende Beispiel zu einer intendierten Versöhnung von phantasieleerer Wirklichkeit und beziehungsloser Einbildungskraft, so mußten für Baudelaire umgekehrt die in sich geschlossenen, verrätselten Kunstgebilde von Hoffmanns Märchen als vorweggenommene Erfüllungen der eigenen Idee einer absolut gesetzten, grotesken Kunstwirklichkeit erscheinen, die den einzelnen aus den Fesseln der verachteten Erfahrungswelt zu befreien vermag. Die beiden gegensätzlichen Zuordnungen E. T. A. Hoffmanns: zum Phantastischen als einem unentdeckten Teil des Wirklichen und zum Phantastischen als der Vernichtung der Wirklichkeit in der Groteske, zum fantastique vraisemblable bei Nodier und zum comique absolu bei Baudelaire, müssen gleichermaßen befremden, ob man nun von der deutschen Tradition des HoffmannVerständnisses oder ob man von Hoffmann selbst herkommt; denn einerseits führen Nodier wie Baudelaire die Diagnose von der krankhaften Zerrissenheit Hoffmanns und seiner Dichtung, die in Deutschland, je nachdem, gerügt oder geleugnet wurde, ausdrücklich zur Begründung ihrer Bewunderung an, andererseits mißachten beide stillschweigend Hoffmanns immer wieder formulierten Anspruch, daß das Phantastische in seinen Erzählungen und Märchen einen höheren »Zusammenhang der Dinge« 8 hinter der Oberfläche der sinnlich faßbaren Erscheinungen abbilde, eine selbstgesetzliche zweite Wirklichkeit. »Zu erwähnen wäre freilich noch«, so läßt er, im zweiten Kapitel der »Prinzessin Brambilla«, seinen Erzähler im Zwiegespräch mit dem Leser sinnieren, »zu erwähnen wäre freilich noch, daß wir im Leben oft plötzlich vor dem geöffneten Tor eines wunderbaren Zauberreichs stehen, daß uns Blicke vergönnt sind in den innersten Haushalt des mächtigen Geistes, dessen Atem uns in den seltsamsten Ahnungen geheimnisvoll umweht« 9 . Das Zitat steht für eine Vielzahl verwandter Belege, da in ihm durch die auffallende Verschränkung der metaphorischen Bildfelder: Zaubergarten, demiurgischer Haushalt, besonders symptomatisch Eigenart und — davon später — Problematik von E. T. A. Hoffmanns Vorstellung zweier ineinanderwirkender Sphären einer Wirklichkeit aufgezeigt wird. Auf den ersten Blick folgt der Romantiker Hoffmann dabei der vorgegebenen, gemeinromantischen Idee, wonach die Scheidung in »Gewöhnlichstes und Wundervolles« nur den temporären Zerfall in der Erscheinung einer von Anfang an gesetzten, unaufhebbaren Identität von Wirklichkeit und Überwirklichkeit bezeichnet. Die Magie der Phantasie vermag bei Tieck und Novalis in jedem Augenblick die Wunder verschwinden zu machen und alles in Wunder zu verwandeln. So wie sie im Gewöhnlichen das Gesetz des Wundervollen erkennt, ist »die Scheidewand zwischen Fabel und Wahrheit, zwischen Vergangenheit und Gegenwart gefallen: Glauben, Phantasie, Poesie schließen 8

So im Titel einer 1 8 1 9 entstandenen, den Sachverhalt halb persiflierenden Erzählung E . T. A . Hoffmanns. • Zitiert nach E . T. A . Hoff mann: Sämtliche Werke in fünf Bänden, hg. Walter MüllerSeidl, Bd. 5: Späte Werke (München o. J.), S. 230

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die innerste Welt auf« 10 . Genau diesen Zusammenhang meint auch E. T. A. Hoffmanns zweites Bild vom Einblick in den »innersten Haushalt« des reichlich vage umschriebenen »mächtigen Geistes«, dessen Atem uns beständig umgibt. Anders das erste Bild: der bloße Blick durch eine unversehens geöffnete Tür in eine geheimnisvolle Feenlandschaft kann deren Topographie und Ordnung nicht enträtseln, ja die Grundmetapher impliziert geradezu die Unmöglichkeit, die Tür zu durchschreiten und die eine mit der anderen Sphäre zu vertauschen. Sie markiert die Trennungslinie zwischen dem Gewohnten und dem Wunderbaren. Gesetzt auch den Fall, der apostrophierte Leser habe in der Tat eine Vision jener zweiten Wirklichkeit erlebt — wie könnte er sicher sein, daß der gesehene Ausschnitt mehr als bloß ein zufälliger Ausschnitt ist, daß der Blick sich in den innersten Haushalt des mächtigen Geistes verlängern läßt? Der Erzähler vertauscht nicht allein zwei Bildebenen miteinander, er suggeriert gleichzeitig einen veränderten Sachverhalt als unveränderte Folgerung; denn offenkundig lockt der Erzähler des Märchens von der Prinzessin Brambilla den verwirrten Leser halb spaßhaft in die eigene Position, um ihn zugleich seine Hilflosigkeit empfinden zu lassen. Nur der Erzähler kann ja durch einen Willkürakt der Phantasie das Walten eines mächtigen Geistes im Kunstgebilde des Märdiens überschauen und anschaulich machen, während der Leser auch dort wie in der gewohnten Umgebung auf vereinzelte und flüchtige Impressionen angewiesen ist. Auf einen fingierten Einwand des Lesers hin, steckt darum der Chronist scheinbar zurück, um aus der Perspektive des Publikums noch einmal zu argumentieren: hat der Leser nodi nie einen Traum erlebt, »dessen Geburt du weder dem verdorbenen Magen, noch dem Geist des Weins, oder des Fiebers zuschreiben k o n n t e s t . . . Half es, daß du aus dem Traum erwachtest? — Blieb dir nicht das namenlose Entzücken, das im äußeren Leben . . . die Seele durchwühlt, blieb dir das nicht zurück? . . . Und du wähntest, nur jener Traum sei dein eigentliches Sein, was du aber sonst für dein Leben gehalten, nur der Mißverstand des betörten Sinns?«11. Die Begegnung mit dem Wunderbaren, mit dem »eigentlichen Sein« im Phantastischen, wird von E. T. A. Hoffmann getrennt nach den Bereichen des Lesers und des Dichter-Erzählers, allgemeiner gefaßt, nach den Bereichen der Erfahrungswirklichkeit und der poetischen Vision. Und entsprechend scheiden sich auch in Hoffmanns Werk die Erzählungen, die von den Erfahrungen des Alltäglichen ausgehen — und da steht der Autor mit dem Leser auf einer Wahrnehmungsstufe —, von den Märchen, in denen er kraft seiner Imagination einen geschlossenen Raum des Wunderbaren konstituiert: Märchen und Nachtstück 10

11

Vgl. Ludwig Tiedts Bericht über die Fortsetzung des »Heinrich von Ofterdingen«. Zitiert nadi Novalis: Schriften - Die Werke Friedrich von Hardenbergs, hg. Paul Kluckhohn und Ridiard Samuel ^Stuttgart i960 ff.), Bd. 1, S. 367 op. cit. S. 230

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sind bei Hoffmann die beiden möglichen Annäherungs-weisen an den als existent und wirkkräftig vorab akzektierten Nexus des Übersinnlichen. In der Erfahrungsrealität kann das Phantastische sich nur für Augenblicke — in Wahnbildern, Träumen und seltsamen Koinzidenzien — und nur zu einer genaueren Ahnung dieses Zusammenhangs verdichten, dessen Garant — so schon bei Jean Paul und Jacobi — allein die unerklärte Sehnsucht nach ihm bleibt. Nur für Augenblicke — denn alsbald wird sich die Gewohnheit der Sinne durchsetzen und das Außerordentliche mit vertrauten Argumenten entzaubern; nur als Ahnung — denn aus den unverknüpften Eindrücken und Indizien ergibt sich kein zwingendes Muster. E. T. A. Hoffmanns »Sandmann« ist darum ein doppeltes: sowohl das in sich geschlossene Psychogramm einer fortschreitenden Bewußtseinszerstörung, dessen schlagende Konsequenz noch Siegmund Freud bewundert hat, und das Dokument einer latenten Bedrohung durch feindliche Prinzipien, die außerhalb menschlicher Einsicht liegen. Alles Geschehen wird in den »Nachtstücken« notwendig doppelt motiviert: vom Phantastischen und vom Wahrscheinlichen her, da das innewohnende Grauen sich in das Nichts beliebiger Fabelei auflöst, sobald der Leser die potentielle Eigenerfahrung nicht länger als Maßstab der Glaubwürdigkeit anlegen kann. Im Gegensatz zu Nodiers fantastique vraisemblable sind die Indizien des Phantastischen jedoch nicht illusions et fantasmagories, nicht unerklärte Wahngebilde der Vorstellungskraft, sondern ungedeutete Zeichen fremder, aber unbezweifelbarer Wirkkräfte. Erst das Märchen — in Hoffmanns eigenwilliger Umgestaltung — vermag das ineinander von Gewöhnlichstem und Wundervollstem und deren geheime Wechselverhältnisse auch von der Seite des Phantastischen her anschaulich zu machen. Erst im Märchen verwandeln sich die Blicke in das Zauberreich zur Einsicht in die innerste Organisation der Dinge. Dazu freilich mußte es als Kunstform den Charakter des in Raum und Zeit Unvergleichlichen ablegen, auf dessen Nirgendwo und Irgendwann seine eigene Weltordnung im Volksmärchen wie im Kunstmärchen basierte. Ludwig Tieck und Novalis wiesen dem Märchen freilich schon vor Hoffmann seinen Ort innerhalb einer erfahrbaren, wenn auch zeichenhaft überhöhten Wirklichkeit zu. Was aber in diesen Märchen an äußerer Realität mit dem Wunderbaren in Berührung gerät — Personen, Landschaften, Gegenstände —, ist um des Bedeutungszusammenhangs willen so sehr aller zufälligen Details entkleidet, so weit von aller wiedererkennbaren Gegenwart distanziert, daß ihre Integrierung in das Märchen keine Schwierigkeiten bereitet. Selbst wo das bürgerliche Dasein als Ausgangspunkt einer Geschichte dem Walten der Natur thematisch entgegengesetzt wird wie in Tiecks »Runenberg«, bleibt es bei einem bloßen Zeichen für eine Stätte der bergenden Wunderlosigkeit: »Ein junger Jäger saß im innersten Gebirge nachdenkend bei einem Vogel-heerde... er bedachte sein Schicksal, wie er . . . die wohlbekannte Heimat verlassen hatte, um sich aus dem Kreise der wiederkehrenden Gewöhnlichkeit zu entfernen, und

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er blidtte mit einer Art von Verwunderung auf, daß er sich nun in diesem Tale wiederfand« 12 . Bruchlos kann die Geschichte aus dem »Kreis der wiederkehrenden Gewöhnlichkeit« in das Gebirge des Märchens überwechseln, da dieser bereits unter dem Gesetz des Märchens steht. Wie anders dagegen stoßen das Vertraute und das Unheimliche bei E. T. A. Hoffmann aufeinander! »Am Himmelfahrtstage, nachmittags um drei Uhr« — so der berühmte Anfang des »Goldenen Topfs« — »rannte ein junger Mensch in Dresden durchs Schwarze Tor, und geradezu in einen Korb mit Äpfeln und Kuchen hinein, die ein altes häßliches Weib feilbot« 13 . Als er verlegen und hastig der Alten seine schmale Geldbörse zuwirft, hört er noch im Entfliehen die gellenden Rufe des Äpfelweibs: »Ja renne, — renne nur zu, Satanskind — ins Kristall bald dein Fall — ins Kristall!« Mit fast parodistischer Akribie wird das Verwunderliche, Außerordentliche in der Handgreiflichkeit festgesteckt: scharf zeichnen sich Zeit und Ort, scharf die Zufallsumstände des fatalen Augenblicks ab. Und erst durch den Kontrast wird auch das Fatale selbst — der Fluch des alten Weibes, so unverständlich und unangemessen der Situation und doch sogleich die Umgebung im Text verändernd — als Fatalität spürbar. Der Erzähler unternimmt keinen Versuch, die heterogenen Elemente einander anzunähern, indem er wie Tieck das Vertraute und Fremde zu Chiffren verkürzt und so einander vermittelt. Das Hier und Jetzt der großen Städte mit ihren wirklichen Straßennamen, ihren Hauptwachen, Gendarmenmärkten und Linkeschen Bädern bleibt in Hoffmanns Märchen immer unverändert, ein festes oder mindestens fest scheinendes Terrain, das sidi an keinem Punkt ins Märchen verliert, sondern seinen Antagonismus zum Phantastischen über das Märchenende hinaus aufrecht hält 14 . Der Zusammenhalt des Zauberwesens umgekehrt summiert sich im Verfolg der Handlung aus sich ergänzenden Teileinbrüchen des Rätsels und des Wunders in die Alltäglichkeit, bis sich im Schlußtableau für den erwählten Märchenhelden und für den vorgewarnten Leser alle Geheimnisse entschleiern. Die Kunstform des Märchens bietet E. T. A. Hoffmann die Chance, den sonst nur zu ahnenden Konnex des Faßbaren und Unfaßlichen gleichsam am Modell vorzuführen. Allerdings gelingt es dem Dichter nur durch Fiktion, durch einen Akt schöpferischer Willkür, im Märchen die eigene Begrenztheit zu überwinden. Die Poesie steht ein für das Wunderbare. Andeutungen über die enge Verbindung zwischen beidem durchziehen alle Märchen E. T. A. Hoffmanns: » Ich liebe«, sagt im »Klein Zaches« der Zauberer Prosper Alpanus, »ich liebe 12

14

Zitiert nach Ludwig Tiecks »Schriften«, Bd. 4: »Phantasus«, i . T e i l (Berlin 1828), S. 2 1 4 E . T . A . Hoff mann: Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 179 N u r im »Goldenen Topf« versucht sich E . T . A . Hoffmann an der Ausmalung des Wunderlandes von Atlantis, in den späteren Märdien wird die Alltäglichkeit noch in die Schlußbilder miteinbezogen. Es wäre zu zeigen, wie in spätesten Schriften (vgl. »Des Vetters Eckfenster«) die Phantastik sich ganz in das bizarre Detail der Wirklichkeit zurückzieht.

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J ü n g l i n g e . . . , in deren Innern noch jene herrlichen Akkorde widerhallen, die dem fernen Lande voll göttlicher Wunder angehören, das meine Heimat ist. Die glücklichen mit dieser inneren Musik begabten Menschen sind die einzigen, die man Dichter nennen kann« 1 5 . Und der Archivarius Lindhorst im »Goldenen T o p f « fragt zum Schluß den Märchenerzähler: »Ist denn überhaupt des Anselmus Seeligkeit etwas anderes als das Leben in der Poesie, der sidi der heilige Einklang aller Wesen als tiefstes Geheimnis der Natur offenbart?« 1 6 . Die Forschung hat von Georg Ellinger bis Walter Müller-Seidl aus solchen Bemerkungen geschlossen — und Baudelaires Interpretation zielt in die gleiche Richtung —, Hoffmanns Märchenreiche von Atlantis und Dschinistan seien nichts anderes als Allegorien der Poesie. Der Übermut der dichterischen Erfindung ist aber nicht wie in Baudelaires Theorie des Grotesken ein A k t freier Selbstüberhebung des Menschen über die Natur, sondern im Sinn unseres Eingangszitates »ein vergönnter Blick in den innersten Hausstand« waltender Mächte, d. h. ein A k t der Willkür, der in der scheinbar freien Setzung nur offenbart, was ihm als Gesetz vorgegeben ist. Die Poesie tritt nicht an die Stelle des Wunderbaren, sie ist wie die Musik, wie der Traum und die Phantasie des Kindes — und hier übernimmt Hoffmann die Anschauungen der älteren Romantiker fast unverändert f ü r sein gewandeltes Konzept — ein Teil des Wunderbaren. Der Dichter und der Musiker sind gewissermaßen seine curatores absentis auf Erden. Mit dieser geglaubten Hilfskonstruktion kann E. T. A. Hoffmann in seinen Märchen dem Alltäglichen die Komplementärwelt des Wunderbaren hinterlegen, kann das Märchen selbst zum gültigen Modell eines Kosmos aus zwei einander widerstreitenden Wirklichkeiten erheben. Die konstituierende Eigenart dieser Märdienmodelle, den Antagonismus zwischen Alltäglichkeit und Zauberwelt nur für den exemplarischen Einzelfall aufzuheben, ihn sonst aber über das Ende hinaus weiter offenzuhalten, führt E. T. A . Hoffmann einerseits dazu, die Alltäglichkeit mit Straßennamen, Titeln, Redewendungen und Gerätschaften, kurz, mit jedem Attribut seiner Gewöhnlichkeit auszustaffieren und umgekehrt die Parklandschaften von Dschinnistan und Urdargarten mit allem erdenklichen orientalischen Dekor zu verbrämen. Andererseits aber erlangen vom medias-in-res-Beginn an beide Sphären durch ihren immer präsenten Gegensatz eigentlich keinen Raum mehr zur freien Selbstentfaltung. N u r an vereinzelten Höhepunkten entwirft Hoffmann so etwas wie das Panorama seines Zauberreichs, in Maries Fahrt durch das Puppenreich etwa (Nußknacker und Mausekönig), in den Erzählungen vom König Ophioch und der Urdarquelle (Prinzessin Brambilla) oder in der Schilderung von Atlantis im »Goldenen T o p f « : »Und lauter regen sich die Bäume und Büsche, und heller und freudiger jauchzen die Q u e l l e n . . . , da zucken Blitze überall leuchtend durch die Büsche — Diamanten blinken wie 15

op. cit. Bd. 5, S. 75 op. cit. Bd. 1, S. 2 j j

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funkelnde Augen aus der Erde! . . . Seltsame Düfte wehen mit rauschendem Flügelschlag daher — es sind die Elementargeister, die der Lilie huldigen und des Anseimus Glück verkünden!« 17 . Die sprachliche Anstrengung, das Überaufgebot an stilistischen Requisiten aus Jean Pauls Repertoire (anaphorische Reihung, losgelöster Komparativ etc.), die trockene Sinnverrätselung der beschriebenen Vorgänge, sie täuschen nicht darüber hinweg, daß die Schilderungen kein Eigenleben entwickeln, da die Verbindung mit der Alltäglichkeit das Märdien seiner eigenen Weltordnung beraubt: das Phantastische kann sich nicht länger ohne den Zerrspiegel des Nichtphantastischen offenbaren. Und das gilt vice versa auch für die Genre-Malerei des gewohnten Treibens in Stadt und Familie, auch wenn sich die Erfahrungswirklichkeit selbstverständlich behaglicher ausbreiten darf als das punktweise eingreifende Märchen. Auch im Kreis der Gewöhnlichkeit sind alle Lokalitäten und Personnagen in ihrer Charakterisierung auf das genaueste durch ihre Stellung zum Wunderbaren fixiert. Das intrigierende Moment in den linkischen Dichterjünglingen, in den empfindsamen, kreuznüchternen Mädchen und in den geschrumpften Konrektoren, das ihnen wie den umgebenden Schauplätzen Leben verleiht, ist ihre unbewußte Bereitschaft oder ihre Ablehnung, die Schwelle aus der einen zur anderen Wirklichkeit zu überschreiten. Generell kann man sagen, daß Hoffmanns Märchenmodell auf die wechselseitige Durchdringung der Sphären, auf das Spiel von Illusion und Desillusionierung, auf die Augenblicke des Übergangs hin angelegt ist, daß es nicht wie das romantische Märchen einen Bedeutungszusammenhang, sondern einen Wirkungszusammenhang beschreibt. Schwellenüberschreitung — das Bild begegnete uns bereits im Zitat vom »geöffneten Tor eines wunderbaren Zauberreichs« als räumliche Metapher, und als Handlungsmotiv in dem ominösen Schwarzen Tor zu Dresden, durch welche der Student Anseimus in den Äpfelkorb und in die Märchenwelt hineintritt. In beiden Funktionen spielt das Moment der Schwellenüberschreitung für E. T. A . Hoffmann immer wieder eine strukturell entscheidende Rolle, zumal der Erzähler sich dabei an eine dem Leser aus der Märchentradition fast archetypisch vertraute Vorstellung des Wunderbaren als des abgetrennt Anderen wendet. In »1001 Nacht« wie im Ritter Blaubart, bei Hamilton und Tiedt geraten die Märchenhelden wieder und wieder vor eine verschlossene oder verbotene Tür, deren heimliches öffnen sie alsbald in die seltsamen und bedrohlich verwirrenden Bereiche des Märchens führt. Die analogen Stellen in H o f f manns Erzählungen passen sich auf den ersten Blick ganz diesem vorgegebenen Muster an: der Schauspieler Giglio Fava — um ein Beispiel breiter anzuführen — eilt in der Abenddämmerung nach dem Palazzo Pistoia, um sich der Prinzessin Brambilla als der assyrische Prinz Antonio Chiapperi zu präsentieren. »Die unverschlossene Türe wich dem Druck seiner Hand und er gelangte in eine geräumige Säulenflur, in der die Stille des Grabes herrschte«18. "

18

Ebd. S. 254 op. cit. Bd. j , S. 280 ff., audi für die folgenden Zitate.

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Sieht man von den »dunklen Bildern der Vergangenheit« ab, die sich sogleich in Giglios Innern formen, wird die Erwartung des Helden und des Lesers durch den Blick in das normale Ambiente eines vornehmen Palastes enttäuscht. Nun verdoppelt E. T . A. Hoffmann — hier wie in fast allen Parallelfällen seiner Märchen — das Motiv, nutzt den Erwartungsbruch zur Spannungssteigerung aus: »Auf dem oberen Korridor . . . angekommen war es dem Giglio, als vernähme er ganz aus der Ferne die Töne eines fremden, seltsam klingenden Instruments — behutsam schlich er weiter vor und bemerkte bald einen blendenden Strahl, der durch das Schlüsselloch der Türe ihm gegenüber in den Korridor fiel . . . Sowie Giglio sich an der Türe befand, öffnete sie sich leise — leise von selbst. Giglio trat hinein und blieb festgewurzelt stehen, in tiefstem Erstaunen. — Giglio befand sich in einem mächtigen Saal, dessen Wände mit purpurgesprenkeltem Marmor bekleidet waren.« Es folgt die Beschreibung des farbenprunkenden Thronsaals. Genauer vorbereitet und gesteigert im Detail der Ausstattung, führt doch H'offmanns Schilderung hier wie beim ersten Schwellenübertritt Giglios zu einem neuen Erwartungsbruch: das Erstaunliche wird nicht unmittelbar anschaulich, die Räumlichkeiten erweisen sich beim unvermuteten Eintritt in den Palazzo Pistoia nur als das gewöhnliche Adelspalais von prächtigem Zuschnitt. Der exterritoriale Bereich des Phantastischen beginnt also in Hoffmanns »Prinzessin Brambilla< nicht, wie in dem Märchen sonst, mit dem ö f f n e n der Tür, dem räumlichen Überwechseln in eine andere Umgebung. Gewiß, auch in » I O O I Nacht« oder in Tiecks »Getreuem Ediart« bringt die Schwellenüberschreitung eine gewisse Stagnation des Vorgangs mit sich: da der Augenblick des spontanen, festwurzelnden Erstaunens niemals von der Kontinuität des Erzählvorgangs vermittelt werden kann, greift auch das Märchen zur malerischen Beschreibung oder zur Auflösung des Moments in Handlung, um so das Defiziens der sofortigen Überwältigung wettzumachen 19 . Ihre Überzeugungskraft behalten solche Szenen durch ihre Scharnierstellung zwischen den klar geschiedenen Sphären. Hinter der Tür der Karawanserei und dem Eingang zum Hörselberg beginnt eine geschlossene, vom Alltag weit abgerückte Welt. D a gegen verlangt E. T . A. Hoffmanns grundsätzliches Insistieren auf einer immer präsenten Gegenwirklichkeit, daß hinter den Toren eines Palazzo oder eines Dresdner Patrizierhauses, auch wenn beide vom Märchen bewohnt werden, den Eintretenden zuvörderst deren spezifische Alltäglichkeit erwartet. Das beibehaltene Märchenmotiv wird von Hoffmann gegen das Märchenherkommen ausgespielt: die Schwelle zum Wunderbaren läßt sich räumlich nicht überschreiten. 19

Die vielen verbotenen Türen, die Zimmer in Palästen oder Höhleneingänge verschließen, geben - am offenkundigsten und eindrucksvollsten in den Märchen aus »IOOI Nadit«, aber audi in den spröderen Volksbüchern - den Blick frei auf umständlich ausgezierte Beschreibungen des Prächtigen, Unvergleichlichen,! der Märchenwelt. Das gilt zumeist selbst dann, wenn, wie in den Varianten des Blaubart-Motivs, hinter der Tür das Gräßliche und die Gefahr lauert.

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Wie aber dann? Giglio Favas Eindringen in den Palast bringt ihn dem Märchen nicht näher, auch sein Verwundern über den Prunksaal und den darin befindlichen Hofstaat nicht. Unter der Hand aber wird er in eine ungreifbare Atmosphäre der Erwartung und Vorbestimmung verstrickt, bis er sich in jähem Erschrecken aus einem Betrachter in einen Akteur verwandelt sieht: »Kaum aber hatte er auch nur den Gedanken gefaßt zu sprechen, als er einen derben Faustschlag auf den Rücken erhielt.« (Wohlgemerkt steht Giglio noch immer an der Türe zum Thronsaal!) »Zu seinem nicht geringen Schrecken wurde er jetzt erst die Reihe mit langen Spießen und kurzen Säbeln bewaffneter Mohren gewahr, in deren Mitte er stand«20. Wie im Traum hat sich unmerklich sein Standort verändert, mit einem Nachklappen der Wahrnehmung stellt sich die vorher verweigerte Verwandlung ins Märchen als vollzogen dar. Ohne Ausnahme verwendet Hoffmann das Märchenmotiv der räumlichen Schwellenüberschreitung wie hier als red herring, um Held und Leser auf eine falsche Fährte zu locken und sie so vom Augenblick der Verwandlung abzulenken. Die Desillusionierung wird zum Vehikel der Illusion, das verspätete jähe Erstaunen — das dem Märchen generell fremd ist —, erweist sich als der eigentliche Schritt aus der Realität in die Phantastik, respektive aus dem Märchen wieder zurück in den Alltag. Der Schritt über die Schwelle meint bei Hoffmann statt räumlicher Veränderung eine Veränderung im Sehen. Das verändert auch die Funktion der zahlreichen anderen Motive und Vermittlungsmechanismen, die E. T. A. Hoffmann zur Beschwörung seiner zweiten Wirklichkeit dem Arsenal des Märchens entnommen hat: die Elixiere und beweglichen Zöpfe, die lebenden Automaten und Wunderspiegel. Während sie in der Märchentradition ohne Rückfrage nach ihrer alltäglichen Qualität und Verwendung als Werkzeuge in einer Weltordnung des Wunderbaren akzeptiert werden, werden sie in Hoffmanns Märchen wichtig gerade ob ihrer Doppeldeutigkeit, die sie an das Wunder und an die Gewohnheit gleichmäßig bindet: es sind Zaubergläser und gewöhnliche Spiegel, Automaten und Kobolde, magische Zeiten (Mitternacht, Dämmerung) und kalendermäßige Daten in einem. Am Himmelfahrtstage, nachmittags um drei Uhr, wir erinnern uns, rennt der Student Anseimus durch das Schwarze Tor — damit beginnt für ihn das Märchen seiner Berufung oder »Himmelfahrt« nach Atlantis, und zugleich seine unselige, durch das »Schwarze Tor« vorbedeutete Begegnung mit dem hexenden Äpfelweib. Zugleich aber bleibt das Schwarze Tor das zur Elbe hin gelegene Stadttor Dresden, durch das man, wie Anseimus selbst, am Himmelfahrtstag zur Lustpartie nach dem Linkeschen Bad eilte. Wie hier sind die Fakten des Gewohnten und die Motive des Wunderbaren immer halb ihrer Sphäre entrissen und dem jeweils gegensätzlichen zugeordnet. Und entsprechend werden ganze Auftritte und Szenenfolgen vom Erzähler sorgsam, Bausteinchen für Bausteinchen, von beiden Polen des Antagonismus her gleichzeitig begründet. Und 20 op. cit. Bd. 5, S. 282

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je nach dem Blickwinkel wandelt sich die vertraute oder die fremde Realität in eine überwundene Illusion, in ein leer wirkendes Truggebilde. Das vielleicht bezeichnendste Beispiel für eine solche Doppelmotivierung mit offenem Schluß begegnet uns wiederum im »Goldenen Topf«. Der Archivarius Lindhorst verabschiedet sich am Elbufer von Anseimus: » . . . nun schritt er rasch von dannen, so, daß er in der tiefen Dämmerung, die unterdessen eingebrochen [Nachklappen der Wahrnehmung], mehr in das Tal hineinzuschweben als zu gehen schien. Schon war er in der Nähe des Koseischen Gartens, da setzte sich der Wind in den weiten Überrock und trieb die Schöße auseinander, daß sie wie ein Paar große Flügel in den Lüften flatterten, und es dem Studenten Anseimus vorkam, als breite ein großer Vogel die Fittiche aus zum raschen Fluge« 21 . Bis hierher versucht das Auge, die seltsamen Veränderungen am fortschwebenden Archivar in seine Sehgewohnheit zurückzuübersetzen, bis es im zweideutigen Dämmerlicht beinahe dessen Mutation zum Vogel mitvollzieht. Dann aber setzt sich die Sehkonvention durch und wird zum widersinnigen Korrektiv des schärferen Auges: »Wie der Student nun so in die Dämmerung hineinstarrte, da erhob sich mit krächzendem Geschrei ein weißgrauer Geier hoch in die Lüfte, und er merkte nun wohl, daß das weiße Geflatter, was er noch immer für den . . . Archivarius gehalten, schon eben der Geier gewesen sein müsse, unerachtet er nicht begreifen konnte, wo denn der Archivarius mit einem Male hingeschwunden«. Die Erklärung führt in neue Unerklärbarkeiten. Ihr muß, da sie aus der Perspektive landläufiger Erfahrungen gegeben wird, die registrierte Reihenfolge: vogelgleiches Ausschreiten und Entschweben des Archivarius, Aufstieg des Geiers und Verschwinden Lindhorsts, unauflösbar scheinen, da die Erklärung den befriedigenden Schluß, Archivarius und Geier seien miteinander identisch, nicht ziehen kann, ohne ihre Prämissen aufzugeben. Im Bereich der Erfahrung muß als Sinnverwirrung oder Augentäuschung erscheinen, was durch eine unvermerkte und ungewollte Verschiebung der Sehinterpretation zur Offenbarung einer zweiten Wirklichkeit werden kann, zu einem vergönnten Blick in das uns umgebende Zauberreich des Märchens. Das genauere Zusehen, das nachträglich-plötzliche Gewahrwerden ist es, was bei E. T. A. Hoffmann die verkrustete Oberfläche der Alltäglichkeit zu durchbrechen vermag und in oder hinter ihr — beides sind nur räumliche Metaphern — das »eigentliche Sein«22 der Dinge aufsdiimmern läßt. Und von da her muß dann umgekehrt die Erfahrungswirklichkeit als Illusion und »Mißverstand des betrogenen Sinns« anmuten. Sobald Anseimus sich einräumt, »er kann aber auch in Person davongeflogen sein, der Herr Archivarius«, gehorchen seine Sinne dem neuen Gesetz, hat er die Schwelle zum Wunderbaren hinter sich gelassen: die Verwandlung ins Märchen geschieht bei Hoff mann durdi eine jähe Erweiterung des Auffassungsvermögens, durch eine Verwandlung im Seh-

21 22

op. cit. Bd. i, S. 202 f. Vgl. das oben angeführte Zitat aus der »Prinzessin Brambilla«, op. cit. Bd. j , S. 230

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Vorgang; denn die beiden Sphären seiner Welt sind nicht geschiedene Wirklichkeiten, zerfallen nicht in ein morgenländisches Atlantis und ein sächsisches Dresden, es sind vielmehr die über- und durcheinanderprojizierten Dimensionen einer und derselben Realität, die, je nachdem, ihrem Betrachter ein verschiedenes Gesicht zukehrt. Nicht von ungefähr spielen von den Zauberrequisiten in E. T. A. Hoffmanns Erzählungen Augengläser aller Art die größte Rolle. Ihrer bedienen sich fürwitzige Wissenschaftler wie Swammerdam und Leuwenhoek (im »Meister Floh«), um sich ungebeten ins Abenteuer einzudrängen, und ihrer bedienen sich die Märchenregisseure wie der Meister Floh oder der Scharlatan Celionati, um ihre Schützlinge, schneller als deren stumpfe Sinne zulassen würden, in ihre Märchenexistenz hineinzuziehen. Das Tragen oder Absetzen der Okulare und Mikroskope entscheidet über die Schweise der Figuren, über ihre augenblickliche Zugehörigkeit zur einen oder andern Dimension. E. T. A. Hoffmanns eingewurzeltes Mißtrauen gegen alles mechanische Rüstzeug läßt ihn freilich im Märchen den Anwendungsbereich des Brillenmotivs ziemlich einschränken: außer dem Windbeutel Giglio Fava, der substanzloses Spielwerk seiner eigenen Erhöhung bleibt, sind die Brillen vorwiegend den Randfiguren überlassen. Die eigentlichen Helden wie Anseimus oder Balthasar kommen für ihren Übertritt nach Atlantis oder Dschinistan ohne derlei optische Krücken aus. Ihnen genügt die Erhebung aus poetischer oder kindhafter Begeisterung, um mit gewandeltem Blick und erwecktem Verständnis noch in kalligraphischen Zeichnungen die Geheimschrift des Wunderbaren zu entdecken: »Da wehte es«, heißt es im »Goldenen Topf«: »wie in leisen — leisen lispelnden Kristallklängen durch das Zimmer: >ich bin dir n a h e . . . — Ich helfe dir!< Und so wie er voll innern Entzückens die Töne vernahm, wurden ihm immer verständlicher die unbekannten Zeichen, ja es war als stünden schon wie in blasser Schrift die Zeichen auf dem Pergament, und er dürfte sie nur mit geübter Hand schwarz überziehen« 23 . Ein Moment der Unsicherheit ist in diesen Verwandlungen des zweiten Blicks und läßt Hoffmanns stereotyp wiederkehrende Gleichsetzungsformel: »Es war ihm als ob«, die immer einen bestehenden Sachverhalt als eigentlich einen anderen beschreibt, nach beiden Seiten der Gleichung hin ungewiß oszillieren: dem Märchenhelden bleibt zwischen den Augenblicken und Ausschnitten des Erkennens beständig das Mißtrauen gegen das Außergewöhnliche erhalten, nur daß es sich durch die Berührung mit dem Märchen auch rückwärts auf die ehedem gesicherte Sphäre des Gewöhnlichen erstreckt und zurecht auch vor Punschschalen und Türklopfern nicht mehr halt macht. Das Sowohl-Als-Auch und das Weder-Noch, das die geläufige Redewendung als Ausdruck dieser Doppelerfahrung zu einer unausdeutbaren Kette wiederholter Spiegelungen steigert, macht sie für E. T. A. Hoffmann darum zur paradigmatischen Grund2» op. cit. Bd. 1, S. 2i 6

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formel seines phantastischen Erzählens, verleiht ihr in seinen Märchen die gleiche Scharnierfunktion, die im romantischen Kunstmärchen das handgreiflichere Motiv der räumlichen Schwellenüberschreitung besitzt. Das »Es-war-als-ob« verkürzt in eine stilistische Figur E. T. A. Hoffmanns Konzeption einer Welt der zwei Koordinatensysteme, in der jeder Name und jede Figur, jeder Laut in der Natur und jedes Geräusch der Zivilisation, selbst Raum und Zeit ihren bestimmten Kontur verlieren. Alles in E. T. A. Hoffmanns Märdien ist Teil des Wirklichen und des Überwirklichen und gehört weder ganz zur einen noch zur anderen Dimension. Von daher haben alle Dinge und Geschehnisse etwas merkwürdig Unstabiles. Sie sind doppeldeutig in einer doppelten Wirklichkeit. An manchen Stellen in Hoffmanns Werk ist das Zugleich von Märchen und Gewöhnlichkeit, das Spiel von Illusion und Desillusion so weit getrieben, daß ihre wechselseitige Verkennung auch für den eingeweihten Leser und beinahe für den Erzähler selbst nicht mehr entwirrbar scheint, wie in der berühmten Szene aus dem »Goldenen Topf«, wo der Student Anseimus — eingepfercht in eine Kristallflasche in der Lindhorstschen Bibliothek — seine Mitgefangenen in den Nachbarbouteillen so anredet: »> Aber meine besten, wertesten H e r r e n ! . . . Spüren Sie es denn nidit, daß Sie alle samt und sonders in gläsernen Flaschen sitzen und sich nicht regen und bewegen, viel weniger umherspazieren können?< — Da schlugen die Kreuzschüler und die Praktikanten eine helle Lache auf und schrien: >Der Studiosus ist toll, er bildet sich ein, in einer gläsernen Flasche zu sitzen, und steht auf der Elbbrücke und sieht gerade hinein ins Wasser. Gehen wir nur weiter !< « 24 . Goethe hatte im »Wilhelm Meister« der epischen Literatur die Bestimmung gesetzt, eine poetisch ins Wesentliche überhöhte Anschauung des Wirklichen zu geben, in der die Gegensätze von Kunst und Leben, die Spannung zwischen Idee und Erfahrung als in der Natur begründet gerechtfertigt und aufgehoben werden. Das stellte dem deutschen Roman des 19. Jahrhunderts die Weichen, und von Eduard Mörike bis Immermann, von Berthold Auerbach bis Paul Heyse halten die deutschen Erzähler — in offenem Gegensatz zur Entwicklung des europäischen Romans — am Postulat eines »poetischen Realismus« fest, versuchen sie noch die widerstrebendste Erfahrung auf ein natürliches Gesetz hin zu verklären. Dabei tritt die Bildung des einzelnen zu seiner Bestimmung in der Ordnung der Welt an die Stelle breit angelegter Auseinandersetzung mit einer undurchsichtigen, aber veränderbaren Realität, Stifters Idylle vom Rosenhaus an die Stelle der Geheimnisse von Paris. In E. T. A. Hoffmanns Modell der doppelten Wirklichkeit werden dagegen die Dimensionen des Wunderbaren und des Gewöhnlichen, Märchengesetz und Erfahrung nur durch ihren offenen Gegensatz zusammengehalten. Die faßbare Realität verzerrt sich zu gemeiner Alltäglichkeit, die man weder verändern noch als Ordnung akzeptieren kann. Die Berufung des Helden ins Märchen kann nur zur Flucht aus der, und zum Ebd. S.

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E . T. A . Hoffmanns doppelte Wirklichkeit

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Verlust der Wirklichkeit werden: zwischen dem Studenten Anseimus in der Kristallflasche und den Kreuzschülern auf der Elbbrücke ist nur wechselseitiges Verkennen möglich. Das Märchenende suggeriert wohl einen versöhnlichen Ausgleich, bestätigt darin aber in jedem Fall nur die Unverträglichkeit beider Dimensionen, ohne doch ihre Identität und damit ihre gegenseitige Unentrinnbarkeit aufheben zu können. Und die gleiche Dissonanz ist es, die Hoffmann auch von den älteren Romantikern scheidet: während für Novalis die Wirklichkeit unserer fünf Sinne in den übergreifenden Zusammenhang einer natürlich-wunderbaren Weltharmonie eingebettet ist, der er sich mit seiner enzyklopädisch aufgefaßten Naturphilosophie anzunähern sucht, während für ihn darum noch die beschränkte Erkenntnis im Dichter zur Aufhebung der Grenzen zwischen dem »Gewöhnlichsten und dem Bedeutenden« führen kann, fügt sich für Hoffmann das Gegeneinander der Sphären nicht mehr zu einem Sinnzusammenhang. Die Erfahrung der bald bedrohenden, bald auszeichnenden Unsicherheit und Zweideutigkeit einer verhaßten Alltäglichkeit ist die Basis seiner Nachtstücke und seiner Märchen gleichzeitig. Die Verlängerung und Erweiterung dieser Erfahrung ins Märchen führt bei Hoffmann zu keinem inhaltlich bestimmten Bereich des Wunderbaren: Dschinnistan und Urdargarten sind nur allegorisch-metaphorisch ausgemalte Negationen der diesseitigen Realität. Die vagen Umschreibungen vom »mächtigen Geist, dessen Atem uns umschwebt« und vom »innersten Sein der Dinge« bleiben als Inhaltsbestimmungen leere Romantik-Klischees, die ihre Bedeutung erst für die Beschreibung eines Wirkungszusammenhangs zwischen erfahrener-sdilechter und erschlossener-guter Dimension der Welt erlangen. Auf den subjektiven Prämissen einer doppeldeutigen Weltsicht beruhend, mußte Hoffmanns Modell einer zerrissenen Doppelwirklichkeit ihn aus der Kontinuität der deutschen Literatur ausschließen. Eichendorffs spätes Urteil, das sehr genau Hoffmanns Gegensatz zu den Romantikern in dessen mangelnder Religiosität aufspürte, d. h. in seiner mangelnden Zuversicht in die Verbindlichkeit des Wunderbaren, resümiert diesen Sachverhalt: »Es ist bei Hoffmann im Grunde nur Mangel an Tiefe des wahren dichterischen Gefühls, das eben durch Ernst, Treue und Nachhaltigkeit sich unterscheidet... Deshalb hatte er auch für die freie Natur durchaus keinen Sinn, und wußte ihre verborgenen Stimmen nur in ihrem Konflikt mit der Unnatur, d. h. mit der gesellschaftlichen Verbildung, also eigentlich nur den Mißklang aufzufassen... Es ist keineswegs zufällig, daß die ganz unmoralische sogenannte Romantik in Frankreich ihn fast ausschließlich als ihren deutschen Verfechter anerkennt«26. Aber audi für die französische Literatur war selbstverständlich Hoffmanns Modell als ganzes und sein nicht inhaltlich verifiziertes Postulat einer verbürgten Dimension des Wunderbaren kaum zu übernehmen. Im gleichen Jahr 1832,

26

Eichendorff: Werke und Schriften, hg. Gerhart Baumann (Stuttgart o. J.) Bd. 3, S. 386

37 2

Norbert Miller

da Charles Nodier Hoffmann ausschließlich auf das fantastique vraisemblable festlegte, auf das Phantastische als eine breite Randzone nodi unentdeckter Erfahrungswirklichkeit, hatte er sein Märchen: »La Fée aux miettes« veröffentlicht, das eine täuschend genaue Imitation des Hoffmannschen Märchentyps ist, mit nur einer kleinen Brechung am Schluß der Geschichte. Diese aber läßt den Sieg des Märchens ungewiß erscheinen, taucht die Suche des einfältigen Michel nach der sprechenden Mandragora ins Zwielicht der Illusion. Die Widerspiegelung in Nodiers Märchen erweist, wie brüchig bei E. T. A. Hoffmann selbst die Konzeption einer verdoppelten Wirklichkeit ist, wie wenig sie sich von den individuellen Bedingungen ihrer Entstehung ablösen läßt. Während Nodier und die französischen Romantiker neben und nach ihm E. T. A. Hoffmanns Anspruch auf Stimmigkeit seines Modells preisgeben, ziehen sie zugleich eine der beiden möglichen Konsequenzen, die in seinem Werk angelegt sind: sie bringen das Wunderbare als das Nächtige, Fremde, Verbotene in den Bereich der Erfahrung mit ein und setzen diese Randzone als die terra incognita der platten und erklärten Wirklichkeit der Erfahrung entgegen. — Für die Generation nach Nodier mußte ebenso folgerichtig die zweite Konsequenz in Hoffmanns Dichtung verpflichtend werden: mit ihm und mit Nodier teilt Baudelaire die Grundempfindung einer Entfremdung und Überhebung des einzelnen gegen den angestammten Kreis der Erfahrung. Wie sie, sucht er ein Refugium, ein künstliches Paradies, das ihn auf Augenblicke zumindest der verachteten Gegenwart entziehen kann. Da allein das Märchen bei Hoffmann jedoch eine frei gesetzte Gegenwelt zur Alltäglichkeit entwirft, innerhalb deren die moralischen, wie die zeit-räumlichen Gesetzmäßigkeiten außer Kraft gesetzt werden, mußte diese nach der Willkür des poetischen Ingeniums errichtete Welt der grotesken Durchdringungen und Verwandlungen von allem in alles Charles Baudelaire als Erfüllung des eigenen Postulats erscheinen, daß der Erfahrungswirklichkeit nicht eine geglaubte Welt des Wunderbaren, sondern nur eine Kunstwirklichkeit entgegenwirken könne, die ein Produkt des entfremdeten und zugleich des freien Menschen ist, gegenüber einer als nichtig durchschauten und zugleich als übermächtig erfahrenen Umwelt. Beide Weiterführungen E. T. A. Hoffmanns beruhen auf bewußten Mißachtungen und Mißverständnissen seines eigenen Anspruchs. Sie setzen aber beide konsequent am neuralgischen Punkt in E. T. A. Hoffmanns Modell ein — an seinem Mangel an, mit Eichendorff zu reden, religiöser Verbindlichkeit —, und damit beziehen sie ihn objektiv zurecht in die europäische Tradition der modernen Dichtung ein, die von William Beckford und dem Marquis de Sade bis zu Mallarmé und Marcel Proust in feinem freien Raum der Kunst und Phantasie die Überwindung der eigenen Determiniertheit zu finden vermeinten.

Eichendorffs Roman »Dichter und ihre Gesellen« Von

E R N S T L . OFFERMANNS,

Berlin

Friedrich Theodor Vischer resümiert in seiner »Ästhetik« um I8JO die Einsichten des positivistischen Jahrhunderts zur Romantheorie und -praxis, wenn er schreibt: »Die Grundlage [ . . . ] des Romans ist die erfahrungsmäßig erkannte Wirklichkeit, also die schlechthin nicht mehr mythische, die wunderlose Welt« 1 . A n f a n g der 30er Jahre hatte sich mit G u t z k o w , Laube, Mündt und v o r allem Immermanns »Die Epigonen« ein neuartiger Romantypus herausgebildet 2 , der den tatsächlichen oder vermeintlichen Subjektivismus der Romantik und deren mythische,

bzw.

metaphysische

Dimension

bekämpfte,

den

Menschen

aus-

schließlich v o n der ökonomischen, sozialen und politischen Zeitsituation bestimmt sah und demgemäß die herrschenden Zeitverhältnisse widerzuspiegeln, polemisch in Frage zu stellen und unmittelbar zu beeinflussen trachtete. Die Eroberung der empirischen Wirklichkeit durch den Roman, die von Immermann geforderte Erschließung des »realistisdi-pragmatische[n]

Element[s]« 3

w a r sicherlich an der Zeit, gelang aber bis auf beträchtliche Ansätze bei Immermann selbst noch keineswegs. Statt einer Erweiterung der Möglichkeiten der Gattung erfolgte zunächst eine Verarmung und Reduktion auf einen

bloß

»räsonnirende[n] Roman« 4 , w i e der zeitgenössische K r i t i k e r Hermann M a r g graf den teils ästhetisierenden, teils eine unintegrierte, aber auch inhaltlich vage politische oder moralische Tendenz ideologisch propagierenden, exklusiven Romantypus der 30er Jahre nannte. Sowohl die ideelle wie die mythische Komponente des Romans drohten verlorenzugehen, die A u f g a b e der Schaffung einer »poetischen Wirklichkeit« 5 als der gegen jegliche gewandten

Integration

des ästhetischen,

ethischen

und

Ideologisierung

erkenntnisstiftenden

Moments wurde verkannt. Erst dem Poetischen Realismus

(Stifter,

Keller,

F. Th. Vischer: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen, Stuttgart 1857. Hiermit, n. E. Lämmert u. a. [Hrsg.], Romantheorie, Dokumente ihrer Geschichte in Deutschland 1620-1880, Köln-Berlin 1971, S. 338 2 Zum Folgenden vgl. B. Hillebrand: Theorie des Romans, Bd. II, München 1972, S. 1846 3 Immermanns Werke, hrsg. v. H. Maync, Wien-Leipzig 1306/07, Bd. j, S. 380. Hier zit. n. Hillebrand, a.a.O., S. 20 4 H. Marggraf: Die Entwicklung des deutschen Romans, besonders in der Gegenwart. In: Biedermanns Deutsche Monatsschrift für Literatur und öffentliches Leben, 1844, H. 8, S. 102. Hier zit. n. Lämmert, Romantheorie, a.a.O., S. 308 5 Zu diesem Begriff vgl. W. Emridi: Was ist poetische Wirklichkeit? Zum Problem Dichtung und Ideologie, Mainz 1974 (Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Abhandlungen der Klasse der Literatur, Jg. 1973/74 Nr. 5). 1

374

Ernst Offermanns

Fontane, Raabe u. a.) gelingt unter Wiederanknüpfung an die Gattungstradition die Neuerschließung der Poesie für den Roman. Der vieldimensionale moderne »Bewußtseinroman« (Th. Mann, Kafka, Broch, Musil u. a.) greift schließlich, unter erheblich gewandelten Bedingungen, die mythisierende Tendenz wieder auf. Es sind die gemeinhin für unzeitig eingeschätzten traditionellen Romane der 3oer Jahre, die jene gefährdeten Wesenszüge der Gattung in einer Phase des Traditionsverlusts und der Reduzierung ihrer Elemente bewahren und an die Folgezeit weitergeben. Sie vermögen zwar das empirisch-realistische Moment nur erst ansatzweise und unzulänglich zu verwirklichen, können aber wegen ihrer formalen und sprachstilistischen Integration, der Universalität inhaltlicher Aspekte und der Dialektik ihrer gehaltlichen Positionen als die dichterisch überzeugenderen Exemplare der Gattung gelten, neben Mörikes »Maler Nohen« (1832) vor allem der letzte romantische Roman, Eichendorffs »Dichter und ihre Gesellen«, abgeschlossen 1833, erschienen ein Jahr später, also bereits tief in der politischen Epoche der Restauration und ihrer liberalen und nationalen Gegenströmungen und der literarischen des Biedermeier, auf dem Höhepunkt des »Jungen Deutschland«. Dieses Mißverhältnis von »Zeitgeist« und geglückter dichterischer Objektivation im Roman ist um so irritierender, als es nicht gelingt, den unbestreitbaren poetischen Reiz von Eichendorffs Prosa und Lyrik in diesem Roman angemessen zu erfahren, ohne sich auf dessen verspätete romantische Gehalte (wenn sie denn so verspätet sind) einzulassen. Sucht man die Intention von Eichendorffs zweitem und letztem Roman zu ermitteln, so wird man zunächst dessen Einengung zum sog. Künstlerroman abweisen müssen. Schon vom Titel her greift er ja weiter aus. Auch erscheinen die Diditer — und die Künstler überhaupt — nicht vor allem als Produzierende, sondern dem Ansatz der Romantik und Eichendorffs gemäß als Repräsentanten einer poetischen »Gesinnung«, die »in einer fortwährend begeisterten Anschauung und Betrachtung der Welt und der menschlichen Dinge« (142)6, einer »Empfindsamkeit« (4, 196) besteht, der »potenzirte[n] Fähigkeit, das Große, Wahre und Schöne zu empfinden« (ebd.). Damit sind sie freilich auch der Gefahr ausgesetzt, als »Paradiesvögel« (wie Eichendorff einmal sagt) die Wirklichkeit zu verfehlen und dem Scheine zu erliegen. Es geht, wie grundsätzlich bei Eichendorff, nicht primär um Kunst, sondern um Formen eines offenen, universellen, gesteigerten Lebens. Und dies angesichts des Epochenproblems, das für Eidiendorff bekanntlich in dem durch die Aufklärung bewirkten völligen Traditionsbruch und dessen Folgen besteht. 6

7

Zitiert wird nach Joseph von Eichendorff: Neue Gesamtausgabe der Werke und Schriften in vier Bänden. Hrsg. v. G . Baumann i. Verbindg. m. S. Grosse, Stuttgart 1 9 5 7 / j 8 . Die Belege der Zitate folgen diesen unmittelbar im Text in Klammern (Bandnummer und Seitenzahl). Seitenangaben ohne Bandnummer beziehen sidi auf Band 2, Romane, Novellen, Märchen, Erlebtes. Vgl. auch 4, 1 1 6 0 f. u. 1292.

Eichendorffs Roman »Dichter und ihre Gesellen«

375

Der »goldene Faden aus der Vergangenheit« war »gewaltsam abgerissen« (1036), heißt es in der nachgelassenen, autobiographischen Abhandlung »Der Adel und die Revolution«. Einer Neukonstruktion des individuellen, gesellschaftlichen und politischen Lebens nach den Prinzipien abstrakter Rationalität hatte sich der Mensch indessen nach Meinung Eichendorffs nicht gewadisen gezeigt. Die im Kulturprozeß mühsam angebahnte und stets mannigfach gefährdete humane Integration von Trieb, Gefühl, Phantasie und Verstand durch die synthesestiftende Kraft der christlichen Religion war zerbrochen. Die entstandenen Parteiungen vermochten nicht mehr aufeinander zu hören und einander zu begreifen und handelten weniger nach dem vorgeblichen Prinzip autonomer Rationalität als demjenigen, welches die neuere Tiefenpsychologie »Rationalisirung« nennt. In der genannten Schrift heißt es: Es wiederholte sich abermals der uralte Bau des babylonischen Turmes mit seiner ungeheueren Sprachenverwirrung, und die Mensdiheit ging fortan in die verschiedenen Stämme der Konservativen, Liberalen und Radikalen auseinander. Es waren aber vorerst eigentlich nur die Leidenschaften, die unter der Maske der Philosophie, Humanität oder sogenannten Untertanentreue, wie Drachen mit Lindwürmern auf Tod und Leben geeneinander kämpften; [ . . . ] (1036 f.).

Das Zerbrechen der Synthese — so Eichendorffs Ansicht — setzte zerstörerische Kräfte frei und ließ auch das zunächst die fortschreitende Selbstbefreiung des Menschen versprechende und ernsthaft betreibende Experiment der Französischen Revolution als der praktisch gewordenen Aufklärung in der Absurdität, in Chaos und Terror enden8. Aus ihr ging schließlich die europäische Tyrannei Napoleons und die Verflachung rationalistischen Denkens zum egoistischen Utilitarismus des liberalen Bürgertums hervor. Mit seiner kritischen Einstellung zu Verlauf und Ergebnis der Revolution steht Eichendorff unter den deutschen Dichtern ja keineswegs allein. Es drängt sich sogar der Eindruck auf, als akzentuierten die Philosophen, vor allem Kant, Fichte und Hegel 9 , trotz teilweise ambivalenten Urteils, stärker die unter dem Freiheitspostulat stehenden Ideen und Prinzipien der Revolution, während die Dichter, von Wieland und Goethe über die Romantik 10 bis hin zu Büchner, als die Anwälte des Konkreten und ausgestattet mit anthropologischem Scharfblick die einstweiligen Möglichkeiten der Menschennatur doch skeptischer einschätzten und zum andern die Ansprüche des Individuums gegenüber allen Formen der Vergewaltigung des Subjekts durch ein wie immer beschaffenes Allgemeines, beispielsweise seine totale Verdinglichung oder Vergesellschaftung, formulierten und verfochten, dabei jedoch, insbesondere Eichendorff selbst, die positiven s Vgl. 4 , 1 1 4 8 . • Vgl. M. Puder: Kant und die Französische Revolution. In: Neue Deutsche Hefte 138, Jg. 20, H . 2/1973, S. 10-46; B. Willms: Die totale Freiheit. Fidites politische Philosophie, Köln-Opladen 1967, S. 1 J - J 7 ; J . Ritter: Hegel und die französische Revolution. In: J . R.: Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankfurt 1969, S. 1 8 3 - 2 5 J 10 R. Brinkmann u. a.: Deutsche Literatur und Französische Revolution, Göttingen 1974.

376

Ernst Offermanns

Wirkkräfte, die aus den Prinzipien der Französischen Revolution ableitbar sind, auch für den Fall unterschätzten, daß es gelänge, die zerstörerischen Extremformen von Freiheit und Egalität im historischen Prozeß abzuweisen. Die notwendige Vermittlung von Subjektivität und Objektivität leisten für Eichendorff und die jüngere Romantik, wie auch für den frühen Historismus, die vom Geiste Gottes durchwalteten Geschichtsmächte und Objektivationen des Volksgeistes, Familie, Volk, Staat, Kirche, Sprache, Sitte, Recht, Künste, usw., die in der ständigen Dialektik von Individuum und Allgemeinem und gemäß dem organologischen Entwiddungsbegriff unausgesetzter, aber kontinuierlicher Wandlung unterliegen — Eichendorff spricht von »ewig wandelndefr], fortschreitende[r] Regeneration« (4, 1294) —. Von hierher versteht sich Eichendorffs Abneigung gegen das unempirische, abstrakt-mechanistische Denken der Revolution, wenngleich sein Wort gilt: »Es nützt [ . . . ] gar nichts, mit den Revolutionen zu brechen, sondern mit dem, was die Revolution erzeugt« (4, 856), aber auch seine Abneigung gegen den aus gleicher Wurzel stammenden Absolutismus und dessen Restaurierung nach 1 8 1 5 . Mit dem Traditionsbruch der Aufklärung wurde nun aber für Eichendorff zugleich die Kontinuität der göttlichen Offenbarung in der Geschichte und selbst in der Natur gefährdet. Er befürchtete, mit der rationalistischen Entgöttlichung der Welt und dem Schwinden des Glaubens an die Gottesebenbildlichkeit des Menschen drohe eine prinzipielle Mißachtung des Individuums. So stellte sich ihm die Aufgabe, zu prüfen, was an transzendenter Bindung, also »religio«, noch lebenskräftig sei und, wegen der grundsätzlichen Affinität von Religion und Poesie, durch diese bestärkt werden könne. Von dieser Grundintention her bestimmt sich denn auch das eigentümliche Formgesetz des Romans »Dichter und ihre Gesellen«. Es greift den aus der Tradition Piatons und Senecas stammenden, in Calderon gipfelnden Topos des »theatrum mundi« 11 nochmals auf — zur selben Zeit, da Büchner mittels der verwandten Marionettenmetapher bereits einen Höhepunkt der modernen literarischen Nihilismus- und Agnostizismusthese markiert — und entfaltet die Vorstellung vom individuellen menschlichen Leben als einem (nicht metaphorischen, sondern realen) partiellen Drama innerhalb des großen göttlichen Welttheaters, das sich auf einer dem Menschen lediglich verliehenen Bühne vollzieht, in vielfältiger Abwandlung, — aber eben in einem Roman. Zur Zeit eines unangefochtenen Glaubens mochte der Rollenschematismus des menschlichen Lebens im Weltlauf in seinem Wechselspiel von Täuschung und Erkennen, freiem Willen und göttlicher Fügung in einem einsträngigen, allegorischen, geistlichen Spiel wie Calderons »Das große Welttheater« (das Eichendorff neben anderen Stücken des Spaniers in den 40er Jahren übersetzte) schlüssig darstellbar sein. Nicht jedoch in der spätestens mit der Romantik anhebenden Moderne, die sich durchweg einer komplex gewordenen, kontingent 11

Vgl. E.R. Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern-München, S. 148 ff. u. $40

Eichendorffs Roman »Dichter und ihre Gesellen«

377

und undurchdringlich scheinenden Realität gegenübersah und sidi bei ihren auf Totalität und Universalität abzielenden Versuchen, die Wirklichkeit darzustellen und auf eine sinnstiftende Transzendenz hin aufzuschließen, genötigt fand, komplizierte mehrschichtige oder vielsträngige Romanstrukturen zu entwickeln, außer Eichendorff vor allem Novalis, Arnim, Hoffmann, aber ja auch der alte Goethe. Deutlich exponiert wird der »theatrum-mundi«-Topos ungefähr in der Mitte des i. Buches durch den Gesang Dryanders: [. . .] Es hebt das Dach sich von dem Haus, / Und die Kulissen rühren / Und strekken sidi zum Himmel 'raus, / Strom, Wälder musizieren! / / Und aus den Wolken langt es sacht, / Stellt alles durcheinander. / Wie sidi's kein Autor hat gedacht: I Volk, Fürsten und Dryander. I I D a gehn die einen müde fort, / Die andern nahn behende, / Das alte Stück, man spielt's so fort / Und kriegt es nie zu Ende. / / Und keiner kennt den letzten A k t / Von allen, die da spielen, / N u r der da droben schlägt den Takt, / Weiß, wo das hin will zielen. (552 f.) 1 2

Im vorletzten Kapitel des dritten und letzten Buches greift Victor auf dem Gipfel eines Berges vor einer letzten räumlichen und geistigen Weltüberschau »heiter und streng« (719), die Wendung vom »letzten Akt« auf, deren eschatologische Komponente in den Schlußversen des Romans — »Wie bald kommt nicht die ew'ge Nacht« (728) — assoziativ anklingt. Victor: »Ich spiele den letzten Akt, [ . . . ] , Gräber, Hochzeit, Gottes grüne Zinnen und die aufgehende Sonne als Schlußdekoration« (717). Diese expliziten Nennungen des Topos 13 geben den Rahmen ab, innerhalb dessen sich die romanhafte Darstellung eines universellen Weltspiels vollzieht, das die Bereiche des individuellen und sozialen Lebens, der Natur und der Transzendenz umschließt und vornehmlich in der teils skizzenhaften, teils breiter angelegten Schilderung zeittypischer Lebensgänge besteht, deren entscheidende Phasen und Höhepunkte, deren Überschneidungen vor allem, in einem komplizierten Geflecht mehrerer Handlungsstränge vorgeführt werden. Der Roman besitzt somit keine eigentliche Haupthandlung, sondern besteht aus einer Reihe kunstvoll zueinander in Beziehung gesetzter, teils auch ineinander verschachtelter, dramatisch akzentuierter Novellen 1 4 ; und

12

13

14

Vgl. den grundsätzlichen Hinweis Eichendorffs in »Der deutsche Roman des 18. Jahrhunderts in seinem Verhältnis zum Christentum« ( 1 8 5 1 ) : »Das Christentum hatte das Irdische, indem es dasselbe mit dem Himmel in lebendigen Zusammenhang brachte, plötzlich unabsehbar erweitert; es hatte das ganze Leben zu einem Drama gemacht, dessen letzte Akte in das Unendliche hinüberspielen, [ . . . ] « (4, 649). Ferner: O. Seidlin: Versuche über Eichendorff, Göttingen 1965, S. 259 f. 1 Punktuell, beiläufig oder andeutungsweise erscheint der Topos: J44, 557, 569, 583, 696 und 7 1 j . K . Kindermann: Lustspielhandlung und Romanstruktur. Untersuchungen zu Eichendorffs »Dichter und ihre Gesellen«, Diss. F U Berlin 1973, analysiert umfassend den dramatisierenden Erzählstil - das Prinzip der Reihung »szenischer Erzähleinheiten« (S. 94) - und dessen Intention und geht auch der Verbindung epischer und dramatischer Elemente in Novelle und Novelltheorie der Romantik nach.

37«

Ernst Offermanns

einzig die Figur des Dichters Fortunat garantiert als eine Art von Katalysator 1 5 die trotz aller Disparatheit der Handlung einheitliche und zusammenhängende Struktur des ganzen. Dabei bleibt der angestrebte theatralische Grunddiarakter des Romans dadurch gewährleistet, daß einmal die Vorgänge im Roman zu einer Abfolge bühnenwirksamer Auftritte und Szenen gefügt erscheinen16, zumindest aber mittels eines dramatischen Erzählstils gegeben werden, der auf die »Illusion der Unmittelbarkeit« (Stanzel) 17 abzielt, zum anderen aber die Lebensschicksale der Figuranten nach Inhalt und Darstellungsform eine deutliche Affinität zur Struktur dramatischer »Dichtarten« aufweisen, vor allem zu der des Lustspiels, der satirischen Komödie, des Trauerspiels und des Läuterungsdramas. Der mannigfaltig ausgeformten Immanenzhandlung korrespondiert, dialektisch auf diese bezogen, ein nicht minder stark akzentuiertes und vielfältig ausgeprägtes, durch Symbolisierung vermitteltes Heilsdrama. Eichendorffs Welttheater-Roman verbindet die gattungspoetischen Wesenszüge des Dramas mit denen des Romans, die darstellende Tendenz zu einem »Spiegel der Welt, des Zeitalters wenigstens« (Sdielling) 18 , zur »objektiven und extensiven Totalität der Welt« (Lukacs) 19 mit dem stärker ethisdi normierenden Gestus des Dramas als der Wiedergabe mensdilidien Wollens, Entscheidens und Handelns und deren Widerständen. ¡Da auch die dritte Gattung, die Lyrik, durchgängig und gleichgewichtig einbezogen ist, liegt die Vermutung nahe, der Roman ziele überdies auf eine neue Totalität der menschlidien Grundkräfte, von Reflexion, Willen und Tat, Empfindung und Verinnerung, denen die Dichtungsgattungen entsprechen, deren spezifische Relation zu den Zeitformen Vergangenheit (Epik), Gegenwart (Lyrik), Zukunft: (Dramatik) gleichfalls genutzt wird im Sinne einer Totalisierung der Zeiten, die auch der Aufbau, die Aufgliederung in drei Bücher, markiert. Wenn Eichendorffs Roman sehr häufig lustspielhafte Züge annimmt20, heiterste Ausgelassenheit die Enge des Alltags für eine Weile sprengt 21 , schwierigste Verwicklungen sich aufs erfreulichste lösen, schmerzlicher Vereinsamung die glückseligste Vereinigung der Getrennten folgt, so hat dies doch zur Voraussetzung, daß der objektive Weltzustand von einer durchgängigen »Konfusion« — dies ein Leitbegriff des Romans — bestimmt ist, dem eine immer nur zeitweilig überwindbare subjektive Erkenntnisblindheit — der »vernagelte Kopf« (679) — entspricht. Die groteske Anhäufung von Irrtümern, Fehlschlüssen, Fiktionen, Intrigen, Verwechselungen, Verkleidungen und die daraus 15

Vgl. Kindermann, a.a.O., Kap. »Fortunat als idealer Zuschauer«. Vgl. R . Wehrli: Eichendorffs Erlebnis und Gestaltung der Sinnenwelt, FrauenfeldLeipzig 1938, S. 2 1 2 und Kindermann, a.a.O., bsd. S. 1 2 j 17 F. K . Stanzel: Typische Formen des Romans, Göttingen 81972, S. 17 18 F. W . J . Schellings sämtliche Werke. Abt. I, Bd. V., Stuttgart-Augsburg 1859, S. 676 19 G . Lukacs: Die Theorie des Romans, Neuwied P 1 9 6 3 ] , S. 89 20 O. Seidlin, a.a.O., S. 247, spricht von einer »irdischen Verwirrungs- und Verwechslungskomödie«. 21 Vgl. Eidiendorffs Wesensbesdireibung des »Lustspiels«: 4, 637. w

Eidiendorffs Roman »Dichter und ihre Gesellen«

3 79

entstehende heillose Verwirrung, etwa in der abenteuerlichen Liebesgeschichte Fortunats und Fiamettas, droht mehrfach im völligen Chaos und im Leid zu enden. Der gute Schluß im Wiederfinden, nach mehrfacher Trennung, erscheint schließlich als Gleichnis urzeitlich-utopischer Heilsgewißheit in einer von Widerspruch, Spaltung und Verunklärung geprägten historischen Wirklichkeit. Den wiedervereinten Liebenden stellt sich am Hochzeitsmorgen »die Welt wie verwandelt [dar], als wäre über Nacht alles schöner und jünger geworden« (729). Auch temporäre Gemeinschaft, die den vereinzelten und in der Vereinsamung leidenden Menschen für eine gewisse Zeit und vor neuer Trennung und neuen Irrungen in einen Glückszustand versetzt, steht ein für die universelle Einheit alles Getrennten am Beginn und am Ende der Zeiten. Im 16. K a pitel (2. Buch) treffen mehrere Figuren aus dem i.Buch einander zufällig in Rom wieder. Die Wiederbegegnung setzt ein mit einem singspielartigen Duett des zunächst nur von ferne vernehmbaren Dichters Otto und der Schauspielerin Kordelchen, das wie Ruf und Antwort über eine antike Ruinenlandschaft hingeht, die »wie ein Buch der Vergangenheit [ . . . ] aufgeschlagen [lag], dessen Anfangsbuchstaben der Mond rätselhaft vergoldete« (620) 22 . Sie setzt sich fort in einem launenhaften, spannungsgeladenen Ausbruch des von Selbstzweifeln gepeinigten Malers Guido und steigert sich zu einem grotesken, aber fröhlichen Durcheinander, das alle offenen und latenten Gegensätze in und zwischen den Beteiligten aufhebt. Schließlich hat man zum Wein »bei der schönen, warmen Nacht« (622) und »wie in der Arche Noah so fröhlich zusammengefunden« (ebd.). Die Schauspieler sind es jedoch vor allem, die, neben den Dichtern, das Bewußtsein des »theatrum mundi« in der Darstellung vermitteln, vornehmlich in den Lustspielszenen, wobei sogar irdische und himmlische Regie mitunter zusammenwirken. Die Komödiantentruppe verwandelt sich einmal — nicht vor Publikum, sondern zum eigenen Vergnügen — in eine Zigeunerbande, die Lager hält, und identifiziert sich so mit dem in völliger Freiheit auf ständiger Wanderschaft lebenden Urvolk. Einschlägige literarische Gestalten, u. a. Grimmelshausens Courasche und Cervantes' kleine Zigeunerin (»La Gitanilla«) werden wiederbelebt. Nach anfänglichem burlesken Zank sucht der Maler Guido vergeblich ein Tableau einzurichten, »die phantastischen Gestalten malerisch um die Flammen zu gruppieren und überall die rechten Lichteffekte anzubringen« (569). Es gelingt nicht: » [ . . . ] es war schlechterdings keine Ordnung und kein künstlerisches Motiv hineinzubringen« (ebd.). Da setzt die himmlische Regie ein: Über dem dunklen Berge aber trat plötzlich der Mond aus einer Wolke und beschien die stillen Wälder und Gründe; da war auf einmal alles in der rechten, wunderbaren Beleuchtung: das öde Haus, der altmodische, halbverfallene Garten, die wild22

Vgl. hierzu: W . Emridi: Eichendorff. Skizze einer Ästhetik der Gesdiidite. In: W. E . : Protest und Verheißung. Studien zur klassischen und modernen Dichtung, Frankfurt i960, S. 19 f.

380

Ernst Off ermanns verwachsenen Statuen und die abenteuerlichen Gestalten, die auf den Bassins der vertrockneten Wasserkünste umhersaßen wie eine Soldatenwadit im Dreißigjährigen Kriege, (ebd.)

Der Kehrreim von Goethes Zigeunerlied aus dem »Urgötz« klingt auf, und nach einem lustigen Singspielduett zwischen Kordelchen und Fortunat folgt eine jener im Roman so häufigen Beschwörungen des »Einst«, »Weißt du n o c h . . . ?« (J70), als Vergewisserung tröstlicher Kontinuität, hier eine Erinnerung Kordelchens und Ottos an ein gemeinsames Glück. Am Schluß dieser universellen Lustspielszene, die die Gegenwart, mythische Vorzeit, Historie, Natur und Transzendenz in einer Art Gesamtkunstwerk zusammenschließt, steht eine freundschaftliche Umarmung Fortunats und Ottos. Einer solchen lustspielhaften Inszenierung der Wirklichkeit, gleichsam als imitatio Dei, stehen mehr partikulare komödiantische Veranstaltungen einzelner gegenüber. So die Verstellungen, Mystifikationen und Foppereien Kordelchens, die Konfusionen nutzt oder auch erst selbst erzeugt, um Schicksal zu spielen, mitunter in erzieherischer Absicht, manchmal jedoch auch im Verfallen an ein subjektives Rollenspiel, das, nicht mehr beherrscht, die objektive Vermittlung verfehlt und — dies eine ständige Gefahr für die Schauspieler — das göttliche Welttheater in eine scheinhafte Theater-Welt verkehrt und im Verlust der eigenen Identität, wie im Falle Kordelchens, bis in den Wahnsinn führt. Im einzelnen wird ein solcher Vorgang des Ich- und Weltverlustes in der Gestalt des Doktor Dryander vorgeführt, als eine Art satirischer Charakterkomödie im Roman, zusammengesetzt aus einer Reihe über das Werk verstreuter pointierter dramatischer Einzelszenen. Die Entwicklung dieses, einem jeden neuen Reize sogleich erliegenden Zerrissenen verläuft bis hin zur völligen Depersonalisation in der Begegnung mit seinem »verstorbenefn] Doppelgänger« (722). Er, der ja in seinem Gesänge den theatrum-mundi-Topos emphatisch eingeführt hatte, vermochte selber nicht, ihm gemäß zu »agieren« und schreitet am Ende des Romans der problematischen Komödiantentruppe geigend in die Scheinhaftigkeit und Leere neuer, doch immer gleicher Abenteuer voran. Fortunat sagt über ihn: »Wahrhaftig, [ . . . ] da ist Lug und Einbildung, Wahrheit und Dichtung so durcheinander gefilzt und gewickelt, daß er selber nicht mehr heraus kann!« (724). Mehr skizzenhaft schildert der Roman die vergleichbare Existenz des regierenden Fürsten — eine Art »Romantiker auf dem Throne« —, der seine eigene Unzeitigkeit durch ein Lebensspielertum und erotische, künstlerische und religiöse Anempfindung und Schwärmerei glaubt überwinden zu können, sich aber schließlich »im schönen Leben verirrt« (648) hat und in seine eigene Kindphase regrediert. Der Satire verfällt auch der komplementäre Typus des psychisch völlig verfestigten und eingeengten Menschen: etliche Schauspieler, die sich für immer mit einem Rollentyp identifiziert haben, die zahlreichen starren Käuze, die den Roman bevölkern, die völlig spannungs- und geheimnislos nach dem Utilitätsprinzip lebenden Philister, schließlich die verknöcherten Reaktionäre

Eidiendorffs R o m a n »Dichter und ihre Gesellen«

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wie der Baron oder der römische Marchese, ein Überbleibsel des abgelebten Rokoko, dessen Konversationston mittels einer kleinen dramatischen Einlage vorgeführt wird, und schließlich der Prediger als platt-rhetorischer Propagandist eines ihm völlig problemlos erscheinenden Fortschritts. »Der Mensch [ . . . ] allein verwirrt alles mit seiner Leidenschaft und Affektation« (666), lautet eine der zentralen diskursiven Aussagen im Roman, »Affektation« als totale Künstlichkeit, Selbststilisierung, das Verwechseln einer Gedankenkonstruktion mit der Wirklichkeit, »Leidenschaft« als ein unkontrolliertes Verfallen an die unmittelbaren Triebmächte. Solche Formen eines intellektuellen oder naturhaften Subjektivismus, im Roman gemeinhin satirisiert, werden, wo sie ins Extrem gesteigert erscheinen, zum Trauerspiel völliger Vereinsamung, des geistigen und schließlich auch des leiblichen Todes im Selbstmord. Der Maler Albert und die Gräfin Juanna verkörpern diese Möglichkeiten extremer Realitätsunangemessenheit mit dem daraus folgenden Unvermögen, weiterzuleben. Der sich ideologisch verhaltende Maler Albert erliegt der »abstrakt deutsditümelnden«23, falschen Mythisierung des Befreiungskrieges von 1 8 1 3 , stilisiert seinen Lebensgang zur »Bahn eines tragischen Geschickes« (642) und stürzt sich schließlich geistig verwirrt in tragikomischer Attitüde in sein 1813er Schwert. Fortunat hatte sich gegen seinen »fanatischen« (560) »Missionarieneifer« (559) mit den Worten gewehrt: [. . .] überall vertreten einem solche Gesiditer das Morgenlicht! Lassen sich da v o n irgendeinem kritischen Kleinmeister eine angeräucherte Brille aufheften. W o m i t sie dann in alle W e l t gehen, die V ö l k e r zu richten. S o zieht das Geschmeiß, w i e die Wanderraupen, durch den G l a n z der L ä n d e r in stillem W a h n w i t z e fort, wenn es sonst Wahnsinn ist, die Dinge anders anzusehen, als sie wirklich sind! ( 5 6 2 )

Der Tod der Gräfin Juanna ist kompositorisch zum Ende Alberts deutlich in Beziehung gesetzt. Auch sie begeht Selbstmord. Sie, die »wilde Spanierin«, war durch eine lieblose Erziehung, die sie in der Vereinzelung und völligen Negation der gegenwärtigen Welt gehalten hatte, dahin gelangt, die Wirkungen ihrer Schönheit zur Herrschaft zu mißbrauchen, die sie, bis zu blindwütiger Barbarei gesteigert, die Auflösung der Personalität des jeweils verlockten und beherrschten Mannes in einem Geschlechterkampf betreiben und genießen ließ. Dieser Sündenfall, auf bemerkenswerte Weise individualpsychologisch abgeleitet, wird als mythische Verzauberung in eine Nixe dargestellt. Späterhin wandelt sich Juanna (in einer für heutiges Empfinden allerdings zu deutlichen Allegorisierung dieser Figur) zu einem engelhaften Wesen, dessen Verlockungskraft freilich, entgegen ihrem Willen, fortwirkt und das aus diesem Zwiespalt heraus den Sühnetod sucht. Als eine der zahlreichen Sirenengestalten in Eichendorffs Werk wird sie durch den Vergleich mit der Loreley, wie solche Figuren durchweg, zu einer 2» V g l . S. 1 0 7 2

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depravierten Form der Poesie in Beziehung gesetzt (worauf hier nicht weiter eingegangen werden kann), die im Roman vor allem der Dichter Otto repräsentiert. Das Trauerspiel seines Lebens gewinnt ebenso wie das Juannas am Ende den Charakter eines Erlösungsdramas. Gegen alle Formen der Philisterei ankämpfend, verfällt er selbst analog den ihren Auftrag verfehlenden Schauspielern einer totalen, irrealen Poetisierung seines Lebens. Zur Tannhäuserbzw. Venusberg-Sage in Beziehung gesetzt, entspricht seine Poesie dem seelenlosen Eros; sie verselbständigt sich zu einem verlockenden Sinnenzauber, der als bloßer Stimmungsrausch die realitäts- und transzendenzbezogene Erkenntniskraft der Dichtung verrät, sie so zur »Metze« (533) macht, die lediglich einem eitlen, subjektivistischen Selbstgenuß dient. Otto beendet sein Leben in der Einsicht seiner Verfehlung. Eichendorff, auf stupende Weise unangefochten von der Unzeitigkeit und schwindenden Allgemeinverbindlichkeit solcher hochromantischer Erlösungsvorgänge, läßt ihn von einem unschuldigen Kinde, der Gegenfigur zur Frau Venus, »nach Hause« (694) in die irdische und himmlische Heimat im Tode zurückführen. Aus vergleichbarer Verirrung findet dagegen Victor-Lothario zur Bewährung in dieser Welt. Er ist es ja, der gegen Sdiluß des Romans den letzten Akt eines Stücks auf dem göttlichen Welttheater ankündigt. Dessen vielerlei Handlungsstränge, die teilweise angedeutet wurden, sind nun freilich eingebettet in ein von Ewigkeit her verlaufendes überzeitliches Heilsdrama, das in der Korrelation zur Immanenzhandlung die »Vermittlung des Ewigen und Irdischen« (4, 513) ermöglicht, die aber, »da das Übersinnliche an sich undarstellbar ist, überall nur symbolisch geschehen« (ebd.) kann. Spuren des einstigen, nunmehr ferngerückten, aber nicht verlorenen und erahnten künftigen Paradieses vermitteln sich in symbolischen Vorgängen, Vorstellungen, Wesen und Dingen, in einer mythisdien Ausdeutung etwa des glüddichen Zufalls, eines fröhlichen Sichwiederfindens nadi Trennung und Einsamkeit, der Wanderschaft als Gleichnis der Freiheit und Sinnerfüllung und als Chance zur Selbstfindung. Audi die Vergewisserung individueller und allgemein-historisdier Kontinuität in der Erinnerung, selbst der bloße, reflexionslose Genuß der »schönen lustigen Welt«24 und nicht zuletzt die objektiv-symbolische Dichtung gehören dieser mythischen Sphäre an. Vor allem jedodi ist es die vornehmlich von Novalis, Tieck, Fouqui, Brentano, Arnim und Eichendorff selbst ausgebildete komplexe romantische Bilderwelt, ein universaler Symbolkosmos, der — darin liegt seine Problematik und Dignität beschlossen — zu einer Zeit, da dies schon kaum mehr möglich schien, unmittelbar vor dem Sieg der positivistischen Welterklärung ein letztes Mal die Verbindung von realer Geschichte, Schöpfungs- und Endzeitmythos und Transzendenz als eine überzeugende poetische Wahrheit formulierte. Die Natur als zwar auch verrätselter, aber am wenigsten depravierter Teil der Schöpfung Vgl. S. J«2

Eichendorffs Roman »Dichter und ihre Gesellen«

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mit ihrer die Dauer im Wandel bezeichnenden Ordnung, Wald, Gebirge, Gestirne, Jahres- und Tageszeiten, das Naturgeschehen mit der Fülle wiederkehrender optischer und akustischer Phänomene, aber audi die Kontinuität bekundenden Zeugnisse der »alten« Zeit machen diesen auf objektive Sinnerschließung gerichteten dichterischen Symbolkosmos aus25, zentral und am Schluß des Romans ausdrücklich beschworen: Aurora, die Morgenröte, als Zeichen der zukunftsgerichteten, ständigen Wiedergeburt des Menschen und der Welt im göttlichen und vermittelnden poetischen Geiste. Ohne die Widersprüche in der Welt, ohne auch die Gefährdung des Bezugs zur Transzendenz zu verharmlosen, versucht das Schlußkapitel den Ausblick auf eine umfassende Synthese anzudeuten. Dabei werden Gegensatz und Spannung als grundsätzlich förderliche Prinzipien der historischen Entwicklung, das Verhältnis von Wirklichkeit und Transzendenz als nicht einseitig auflösbar angesehen. Im Schlußkapitel stehen die überlebenden Protagonisten des theatralischen Romans nur für eine kurze Weile auf »Gottes grün[n] Zinnen« (717), »auf einer jener Zinnen des Lebens26 f . . . ] , die immer nur für wenige Raum hat« (719), wo sie in der gemeinsamen Kontemplation »Lust und Leid, Vergangenes und Künftiges« (ebd.) erwägen, bevor sie wieder in die Welt der Widersprüche und Widerstände, der Arbeit und des Alltags hinabsteigen, anders als in Eichendorffs erstem, über 20 Jahre zurückliegendem hochromantischen Jugendroman, der angesidits einer verunklärten historischen Übergangsphase in der Abkehr von der Wirklichkeit, in Verinnerlidiung, bzw. einem vagen Utopismus endete. (Friedrich zieht sich ins Kloster zurück, Rudolf flieht zu den ägyptischen Magiern, Leontin hofft, Spuren der verlorenen »alten Zeit« in Amerika zu finden). Dagegen werden nunmehr sehr verschiedenartige Lebensformen anerkannt. Die vollgültige Synthese ist vom Individuum nidit mehr zu leisten, sondern nur noch in der wechselseitigen, durchaus nicht spannungslosen Ergänzung und Beschränkung der Positionen vollziehbar. Im Schlußkapitel verfällt einzig Dryander als Repräsentant eines absoluten und 25

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Vgl. vor allem: W. Emrich: Eichendorff. Skizze einer Ästhetik der Geschichte, a.a.O., S. 1 1 - 2 4 ; ders.: Begriff und Symbolik der >Urgesdiichte< in der romantischen Dichtung, a.a.O., S. 2 J - 4 7 ; R. A l e w y n : Ein Wort über Eidiendorff. In: Eichendorff heute. Hrsg. v. P. Stöcklein, München i960, S. 1 - 1 8 ; ders.: Eine Landschaft bei Eichendorff, ebd., S. 1 9 - 4 3 ; O. Seidlin, a.a.O., S. 3 2 - 5 3 ; G . Schmidt-Henkel: Mythos und Dichtung. Zur Begriffs- und Stilgeschichte der deutschen Literatur im 19. und 20. Jahrhundert, Bad Homburg v. d. H . 1967, S. 56-88, A . v. Bormann: Natura loquitur. Naturpoesie und emblematische Formel bei Joseph von Eidiendorff, Tübingen 1968 und H . Hillmann: Bildlichkeit der Deutschen Romantik, Frankfurt 1 9 7 1 , S 3 0 7 - 3 2 8 Zu »Zinne« als Bild des Aufragens in die Transzendenz ohne die Verbindung zur Erde preiszugeben, vgl. auch folgenden Passus: »Was ist das für ein Traumlied in den Wäldern, gleichwie die Saiten einer Harfe, die der Finger Gottes gestreift. Wahrlich, wen Gott lieb hat, den stellt er einmal über allen Plunder auf die einsame Zinne der Nacht, daß er nichts als die Glocken von der Erde und vom Jenseits zusammenschlagen hört [ . . .]«• (715). Hierzu: W. Emrich: Dichtung und Gesellschaft bei Eichendorff. In: Eichendorff heute, a.a.O., S. 64 f.

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idealischen Heilsverlangens der Satire. Victor, Fortunat, Manfred und Walter dagegen verkörpern jeweils einen Teilaspekt des Lebens in der Wahrheit, differierend in der Intensität ihres Bezugs zu Transzendenz und Realität und im ganzen weniger unbedingt und exzentrisch, unheroischer und bürgerlicher als die Figuren aus dem J-ugendroman. Immerhin lebt Victor noch ganz aus dem Geiste des romantischen Universalismus, aus dem er seinen religiösen Aktivismus ableitet. Aber auch die biedermeierliche Beschränkung aufs jeweilige »Metier« (727), die Victors von dessen Enthusiasmus rührend verstörten Freunde verteidigen, bevor alle »auf verschiedenen Wegen« (728) zu Tale reiten, läßt der Autor gelten. Der Roman, dem Zeitgeist widerstreitend, allzu offensichtlich ein Nachzügler der für überwunden eingeschätzten Romantik, hatte ein geringes Echo und wurde von der Kritik teilweise als ein Anachronismus abgetan 27 , wenngleich einzelne bedeutende Leser ihn hochschätzten, so Kierkegaard und Jacob Burckhardt28. Im Rückblick, aus fast eineinhalb Jahrhunderten Abstand, erscheint eine positivere Wertung angezeigt. Angesichts der historischen Erfahrung ist der spätromantischen Position u. a. das Verdienst zuzusprechen, frühzeitig aufgewiesen zu haben, was man späterhin die Dialektik der Aufklärung genannt hat, die Möglichkeiten des Umschlags von rationaler Emanzipation in den Terror neuen, ungleich erbarmungsloseren mythischen Denkens, ein Vorgang, den Eichendorff bereits am Beispiel der Französischen Revolution hatte beobachten können. Und in der Tat sind ja die im 19. Jahrhundert sich entwickelnden großen geistigen und politisch-sozialen Strömungen nicht vor inhumaner Entartung bewahrt geblieben. So führten in unserem Jahrhundert nicht nur der nationale Konservatismus, sondern ebenso die in der Tradition der Aufklärung stehenden sogenannten fortschrittlichen Richtungen, der Liberalismus und der Sozialismus, zu Formen der Barbarei, deren Ausmaß für das 19. und die voraufgehenden Jahrhunderte unvorstellbar gewesen wäre. Wenn Eichendorff — in der Vorstellung Victors im Schlußkapitel — den Teufel erscheinen läßt, der »den Völkern [ . . . ] die Herrlichkeit der Länder« (727) zeigt und ihnen zuruft: »Seid frei, und alles ist euer!« (ebd.), so verweist er klarsichtig auf jene Dialektik der Selbstbefreiung des Menschen, unter deren Zeichen die ganze nachfolgende Geschichte bis zur Gegenwart hin steht. Diese Einsicht führt ihn denn auch zur Abwandlung seines bisherigen obligaten Erzählschlusses. Während der Jugendroman mit dem Satze endet: »Die Sonne ging eben prächtig auf.« (303), erweitert Eidiendorff das Selbstzitat am Ende von »Dichter und ihre Gesellen«:

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Vgl. die zeitgenössischen Besprechungen in: Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff. Hist.-krit. Ausg. Hrsg. v. W . Kosdi u. A . Sauer, Bd. I V , Regensburg 1939, S. 2 6 8 - 2 9 2 28 W. Rehm: Jacob Burckhardt und Eidiendorff. In: W. R.: Späte Studien, Bern-München 1964, S. 278 ff., 292 u. 324

Eichendorffs Roman »Dichter und ihre Gesellen«

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D a ging die Sonne prächtig auf, die Morgenglocken klangen über die stille Gegend und der Einsiedler sang: Wir ziehen treulich auf die Wacht, / Wie bald hommt nicht die ew'ge Nacht / Und löschet aus der Länder Pradit, / Du schöne Welt, nimm dich in acht! (728)

Dem Jahrhundert des Nationalismus, Liberalismus, Sozialismus und Szientismus wird so zu einer Zeit, da diese Strömungen teils noch erst im Werden begriffen und durchweg historisch sinnvoll und an der Zeit sind, bedeutet, der Fortschritt sei keineswegs garantiert, die Aufführung des Welttheaters könne auch abbrechen und scheitern, in der Verfestigung der geistigen Entwicklung wie im Traditionsabbruch und in der nachfolgenden Partikularisierung bzw. Ideologisierung der genannten Strömungen liege die Gefahr einer umfassenden Regression beschlossen. Dieser Gefahr gegenüber sucht Eichendorff mittels der Welttheater-Dramaturgie seines Romans und mittels des romantischen Symbolkosmos' die »Gegenwärtigkeit des Mythos« zu beschwören (um hier eine Formel Kolakowskis einzuführen). Es ist ja nicht die orthodoxe, scholastisch-totalitäre Form des dogmatischen Katholizismus', die den Geist des Romans bestimmt, sondern die Universalität eines offenen Christentums, das die drohende Disparatheit der Individuen, Stände, Nationen und selbst der »Weltanschauungen« aufzuheben oder zu mildern vermag, und vor allem seine den Mythos vermittelnde Kraft 29 , die der Kontingenz und bloßen Faktizität der irdischen Phänomene die Einsicht in die Dauer im Vergehen, von Sinn, Bedeutung und Wert entgegensetzt30. Mittels des »theatrum-mundi«-Topos in Verbindung mit der romantischen Signaturenlehre, letzter Ausprägung einer jahrhundertealten, naturmystischen Tradition, versucht Eichendorffs Roman in der deutschen Literatur zum letzten Male umfassend der primären Entfremdung des Menschen durch die sich abzeichnende prinzipielle »Gleichgültigkeit der Welt« (abermals eine Wendung Kolakowskis) zu wehren, gegen die keine der im 19. Jahrhun-

29

so

Eine deutliche Spannung zwischen dem Naturmythos und dem Katholizismus in Eidiendorffs Jugendroman scheint in seinem letzten Roman weitgehend ausgeglichen. Z u der gen. Diskrepanz vgl. Schmidt-Henkel, a.a.O., S. 7 2 Unter >Mythos< seien hier im Sinne Kolakowskis die religiösen Ursprungsmythen, aber auch »bestimmte Konstruktionen« verstanden, »die (verborgen oder explizit) in unserem intellektuellen oder affektiven Leben gegenwärtig sind, und zwar [ . . . ] diejenigen, die es uns gestatten, die bedingten und veränderlichen Bestandteile der Erfahrung teleologisch miteinander in Zusammenhang zu bringen, indem man sie auf unbedingte Realitäten bezieht (auf solche wie >SinnWahrheitWert547>394 f -

[



Gleich das erste Satzpaar spielt das Hauptthema der Flugschrift an: die unerträgliche, dringend auflösungsbedürftige Dissonanz zwischen den Forderungen der Evangelien und der sozialen Wirklichkeit in Hessen. Das geschieht,

4 5

Die Verwendung von Statistik im politischen Flugblatt war ein Novum. Zitiert wird auch weiterhin die erste, die Juli-Fassung des Flugblatts; nach dem 2. Bd. der Hamburger Ausgabe G. Büchner: Werke und Briefe, hg. v. W. R. Lehmann.

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indem die Riesenspanne zwischen Genesis und historisdiem Jetztpunkt, zwischen schöner Heilsmythe und häßlicher Gegenwart entworfen wird. Mehrere Kunstgriffe bezeugen das taktische Geschick, nach den Lesern zu angeln. Es sieht so aus, als würde die Bibel Lügen gestraft: das kommt als keine Behauptung daher, es eröffnet vielmehr einen Deutungs- und Überprüfungsspielraum. Der »Landbote« verzichtet darauf, auf Anhieb mit planer indikativischer Aussage den gegenwärtigen Zustand zu kennzeichnen. Dadurch mindert er die Gefahr, die angesprochenen Massen wider sich selber einzunehmen. Der negative Gehalt eines indikativischen Satzes >Die Bibel wird Lügen gestraft< könnte leicht der Aussage statt dem Ausgesagten angelastet werden. Gleich am Anfang vor den Kopf gestoßen, könnten die Bauern aus der gesamten politischen Agitation des Textes nichts als Blasphemie heraushören. Und daraufhin erst recht in ihrer alten Lage verharren, worin die Herrschenden sie nicht zuletzt mittels Religion gefesselt halten. Der elastische Deutungsspielraum wirkt zudem als Köder. Stärker als eine schiere Feststellung verlockt die Formulierung >Es sieht so aus, a l s . . .< zum Nachdenken über die angespielte Lage. Mit fraglichem Als-ob ermuntert die umwundene Behauptung den Empfänger, die angebotenen Deutungsmöglichkeiten an erfahrener Wirklichkeit zu messen. Sidi fragend, ob wahrhaftig nur ungewisser Schein vorliegt, kann er, gesteuert von der Satzkurve, zum Schluß kommen: nein, es ist stichhaltige Tatsache; die Bibel wird, offenbar, von der Wirklichkeit Lügen gestraft; was derzeit ist, widerspricht dem, was dort geschrieben steht. Dabei kann der Empfänger die selbstbestätigende Illusion einstreichen, kein anderer habe ihn darauf gebracht, sondern er sei von sich aus zu diesem Befund gelangt. Diese taktisch-syntaktische Einschleusung des Lesers in den Gang der Beeinflussung macht freilich erst ein Bruchteil der Wirkprozedur aus. Doch er ist wichtig. Denn hier, wie bei jedem literarischen Texteingang, ist die Stelle, wo zwei unterschiedliche Zustände aufeinander stoßen. Der tatsächliche Zustand des Publikums — oder auch nur der, den es dafür hält — und der fiktionale, erörterte, hier: der polemisierte Zustand dessen, was im Text verlautet. Zumal politische Agitation muß darauf sehen, den Agitandus schadlos über diese heikle Stelle zu bringen. Wenn also im »Landboten«-Text die rückhaltlose Durchleuchtung des gesellschaftlichen Zustands, aufprallend auf den undurchschauten gesellschaftlichen Zustand der angesprochenen Bauern, weder zu Prellungen noch gar zu Verprellungen des Publikums führen sollte, war ein sanft abpuffernder Übergang zu finden. Er bot sich im milden Sprachmodus des Als-ob. H a t das bäuerliche Publikum die Eingangssperre des Flugblatts passiert, welche Informationen begegnen ihm dort und wie begegnen sie ihm? Vertrautes, Erhabenes — biblische Begebenheiten der Genesis — in unvertrauter, verstörender und dennoch scheinbar stimmiger Formation. Gott, so sieht es aus, habe Bauern und Handwerker am jten, die Vornehmen aber am 6ten Tag

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gemacht. Und er habe die Vornehmen bestimmt zu Herrsdiern über jene, die zu den Kriechtieren sich zu gesellen hätten. Die temporale Staffelung der Schöpfungswoche überträgt der »Landbote« in die räumliche Staffelung der bestehenden gesellschaftlichen Hierarchie. In ein herrschaftliches Oben und Unten. Dadurch entsteht der verstörende Anschein einer formalen Stimmigkeit: insofern sich hier wie dort eine wohlgegliederte Staffelung darbietet. Hier, in der gesellschaftlichen Gegenwart, die vertikale Stufenleiter von Unterdrückten und Unterdrückern, das Übereinander von Bauern und Vornehmen. Dort, in der berufenen Bibel, der horizontale Zeitverlauf im Nacheinander der Schöpfungsakte und der Schöpfungsprodukte. Diese aufstachelnde scheinharmonische Analogie von göttlicher Genesis und unmenschlidier Degeneration soll das Publikum stutzig machen. Wo nicht, so wird doch die schroffe Lokalisierung der Bauern in unmittelbarer Nachbarschaft der Kriechtiere zu denken geben. Eine planvoll rhetorische Perversion findet hier statt. Sie weckt Zweifel daran, ob denn der alltäglich erfahrene perverse Zustand richtig sei und rechtens. Ob er gar derart gottgewollt sein kann, wie ihn die staatliche und kirchliche Obrigkeit der so beschriebenen Gesellschaftsordnung unermüdlich ausgibt. Und wie ihn das Flugblatt durch die abgefeimt scheinharmonische Bibelanalogie in sarkastischem Einverständnis bekräftigt. Soweit die ersten irritierenden Äußerungen des »Landboten«, die mit ihrem zögernden Als-ob scheinbar dem Publikum das Urteil zuspielen. Doch ist es durch diesen sanften Obergang einmal dem Agitationsraum des Texts akklimatisiert, dann läßt es sich leichter den indikativischen Feststellungen aussetzen. Audi wenn es bisher im Alltagsleben dazu noch nicht gekommen ist oder nicht kommen wollte. Jetzt begegnen dem Publikum hart indikativische Ist-Sätze, die zum Nachprüfen, zur Selbstbefragung gerade dadurch antreiben, daß sie beunruhigend changieren zwischen Buchstäblichkeit und Metaphorik. Das Leben der Vornehmen ist ein langer Sonntag, sie wohnen in sdiönen Häusern . . . ; das Volk aber liegt vor ihnen wie Dünger auf dem Adker. Der Bauer geht hinter dem Pflug, der Vornehme aber geht hinter ihm und dem Pflug und treibt ihn mit den Odisen am Pflug, er nimmt das Korn und läßt ihm die Stoppeln. Das Leben des Bauern ist ein langer Werktag; Fremde verzehren seine Äcker vor seinen Augen, sein Leib ist eine Schwiele, sein Schweiß ist das Salz auf dem Tisch des Vornehmen. (Hervorhebung von mir)

Mit dem elastischen Gestus ist es vorbei. Lauter Feststellungssätze, die darauf verzichten, mit Vergleichspartikeln oder einem Sozusagen sich abzusichern. Obwohl sie in Bildern sprechen, entfernen sie sich weder grammatisch noch sachlich von ihrem Gegenstand. Und ebensowenig von ihren Adressaten. Solche Sätze, die auch in »Dantons Tod« rhetorische Höhepunkte markieren, durchziehen den gesamten Text des »Landboten«: Das Volk ist ihre Heerde, sie sind seine Hirten, Melker und Sdiinder; sie haben die Häute der Bauern a n . . . die Thränen der Wittwen und Waisen sind das Schmalz auf ihren Gesichtern (S. 37 f.) - Ihre Ruhestühle stehen auf einem Geldhaufen

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(S. 38) - Der Fürst ist der Kopf des Blutigels, der über euch hinkriecht, die Minister sind seine Zähne und die Beamten sein Schwanz. Die hungrigen Mägen aller vornehmen Herren, denen er die hohen Stellen vertheilt, sind Schröpfköpfe, die er dem Lande setzt (S. 44) - Der Fürstenmantel ist der Teppich, auf dem sich die Herren und Damen vom Adel und Hofe in ihrer Geilheit übereinander wälzen (S. 44) . . . erzählt ihnen von den schönen Kleidern, die in ihrem Schweiß gefärbt, und von den zierlichen Bändern, die aus den Schwielen ihrer Hände geschnitten sind, erzählt von den stattlichen Häusern, die aus den Knochen des Volks gebaut sind; (S. 44 f.) - die Lampen . . ., aus denen man mit dem Fett der Bauern illuminiert. (S. 46) Was sind unsere Landtage? Nichts als langsame Fuhrwerke, die man einmal oder zweimal wohl der Raubgier der Fürsten und ihrer Minister in den Weg schieben, woraus man aber nimmermehr eine feste Burg für deutsche Freiheit bauen kann. (S.50)

Was ist mit diesen Sätzen los? Sicherlich mehr noch, als daß sie gewisse IstZustände lapidar behaupten. Hinsichtlich der Wirkungsbedingungen und der Wirkprozedur des »Landboten« bei seinem klar umrissenen Publikum offenbaren sie weitere Eigenschaften, die auf bestimmten Vorerwägungen beruhen. Es geht um die agitative Aufklärung der Empfänger über ihre Klassenlage im Zusammenhang der Gesamtgesellschaft. Diese Aufklärungsbedürftigkeit verlangt jedoch, den komplizierten Sachverhalt zu vereinfachen. Solche Agitation ist freilich selbst kompliziert. Denn sie muß mindestens in zwei Richtungen tätig werden. Via Sachverhalt und via Empfänger. Den Sachverhalt, von dem sie spricht, muß sie bekannt und begreiflich machen. Glücken aber kann das nur, wenn sie ihn den Empfängern, die bewußtlos darin verstrickt sind, vom Leib rückt, ohne ihm doch den schmerzlichen Stachel zu nehmen. Anders könnte der Sachverhalt denen, die in ihm bislang als bares Objekt aufgegangen sind, gar nicht selbst zum Objekt werden. Weder zum Objekt der Wahrnehmung, noch zum Objekt der Erörterung und erst recht nicht zum Objekt, auf das eigenes Handeln sich richten könnte. Um also den komplizierten Sachverhalt einsichtig zu machen und zudem den Betroffenen ihre eigenen Eingriffsmöglichkeiten in diesen Sachverhalt zu eröffnen, muß ihn die rhetorische Agitation vereinfacht darstellen. Das geschieht — womit wir wieder bei den zitierten lapidaren Sätzen sind —, indem sie ihn strikt auf seine sinnlich wahrnehmbaren Schauseiten reduziert. Fast automatisch stellt sich hierzu ein metaphorisches Verfahren ein, das zum gefragten Zweck zweierlei zu beachten hat. Es darf weder mit seinem Material den Wahrnehmungskreis, noch darf es in seiner Konstruktion das Wahrnehmungsvermögen der Adressaten überschreiten. Fürs metaphorische Material bedeutet das: es wird bezogen aus der engsten Lebenswirklichkeit der Bauern. Aus ihrer Arbeitswelt: Acker, Pflug, Ochsen, Korn, Stoppeln, Melken. Sowie aus ihren materiellen und physiologischen Erfahrungen: Essen und Hungern, Schweiß, Schwielen und Tränen. Und für die metaphorischen Konstruktionen, sollen sie den Bauern beikommen, bedeutet das: eine Verbindung von einläßlicher Griffigkeit und lehrhafter Insistenz. Der »Landbote« vollzieht diese Verbindung mittels einer quasiallegorischen Technik:

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Volker Klotz Der Fürst ist der Kopf des Blutigels, der über euch hinkriedit, die Minister sind seine Zähne und die Beamten sein Schwanz. Der Bauer geht hinter dem Pflug, der Vornehme aber geht hinter ihm und dem Pflug und treibt ihn mit den Odisen am Pflug.

Das sind selbstverständlich keine Abbilder von Verhältnissen, die den angesprochenen Bauern in ihrem Alltag aufstoßen. Es sind Sinnbilder. Dennoch haben sie wenig gemeinsam mit überkommener Allegorik. Denn sie werden nicht als fertige, vorfindliche Bedeutungsfiguren angeliefert, die den schlichten Empfängern als etwas Fremdes, vielleicht selber Klärungsbedürftiges gegenüberstünden. Sie sind keine resultativ erstarrten Allegorien, wie Justitia mit Augenbinde, Waage und Schwert, deren vorgezeigte Tätigkeitsmerkmale leblos festnageln, was einmal lebendige Tätigkeiten des unparteiischen Wägens und Strafens waren. Sie sind keine abgesonderten Ergebnisse, die ihr wirklichkeitsträditiges Herkommen hinter sich haben und den gegenwärtigen Empfänger allenfalls absonderlich berühren. Solche abgestandene Statuarik überwindet der »Landbote« durch Allegorisierungsakte. Gegenwärtig vollzogen, bauen sie darauf, daß das Publikum, aufgrund seiner einschlägigen Erfahrung, sich an ihnen beteiligt. Auf zweifache Weise sind sie Allegorien im Prozeß. Einmal setzen sie den Sinn der Bilder nicht voraus, sondern stellen ihn gegenwärtig und schrittweise erst her. Zweitens aktualisieren sie sich erst im Verkehr mit der bestimmten, sozial definierten Empfängergruppe. Wenn sie derart das Publikum einbeziehen in den Vorgang der polemisch deutenden Veranschaulichung, bringen sie ihm sinnfällig nah, daß auch das, was da polemisch deutend veranschaulicht wird, selber ein Vorgang ist: der dynamische Sachverhalt des Klassenkampfs. Vorläufig allerdings nur einseitiger Klassenkampf, weil dessen andere, hinnehmende Seite sich noch nicht dazu hat aufraffen können. Keine überlieferten, handelsüblichen Sinnbilder also, sondern Sfnnbildnerei ad hoc, die, um Sinn zu gewinnen, prompte Zustimmung des eng umrissenen Publikums und nur bei ihm erheischt. Es allein kann aus seiner unverwechselbaren Klassenschicht als gültiges Faktum bestätigen, was zunächst nur bildlicher Vorschlag ist. Dieser Vorschlag soll dem rhetorisch mitwirkenden Adressaten schmerzhaft ins Bewußtsein gravieren, was er bisher nur dumpf empfand: Fremde verzehren seine Äcker vor seinen Augen, sein Leib ist eine Schwiele, sein Schweiß ist das Salz auf dem Tische des Vornehmen. Die erstrebte kooperative Sinnbildnerei zwischen dem »Landboten« und seinem Publikum zeigt hier noch einen weiteren Zug, der sie von üblicher Allegorik unterscheidet. Kein abstrakter Begriff wird figürlich illustriert; sondern ein komplizierter Sachverhalt geht ein in einen sinnlichen Gegenstand, der durch einen andern sinnlichen Gegenstand veranschaulicht wird: »sein Leib ist eine Schwiele, sein Schweiß ist das Salz auf dem Tische des Vornehmen«. Leib = Schwiele. Schweiß = Salz. Jeweils beide Partner des allegorisierenden

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Vorgangs sind sinnliche, keineswegs uneigentliche Erscheinungen. Und zwar auf beiden Ebenen des Veranschaulichungsakts. Der übertragene Sinn besagt: die Arbeit der Bauern mit dem geschundenen Leib sorgt dafür, daß die Reichen was auf dem Tisch haben. Mithin, die einen arbeiten für die andern, die nur Schmarotzern. Zugleich bestätigt der unübertragene Sinn die Triftigkeit des übertragenen: der Leib ist tatsächlich mit Schwielen bedeckt; und Schweiß schmeckt tatsächlich salzig. Noch drastischer als beim fehlenden Fett der ausgemergelten Bauern, das die Lampen der Reichen speist; als beim Fürstenmantel, der den Höflingen zum Teppich für ihre Orgien gereicht; als bei den stattlichen Häusern, die aus den Knochen des Volks errichtet sind: noch drastischer als dort bedient sich hier die gezielt kooperative Sinnbildnerei der Metonymie. Ein Teil steht ein für den Zusammenhang, dem er zugehört. Schwiele ist bezeichnender Teil des abgeschafften Bauernkörpers. Salz ist bezeichnender Teil des Schweißes, den der Bauer, für andere sich abschaffend, vergießt. Der metonymische Mechanismus dieser Verbildlichungen ist mehr als ein beliebig vertauschbarer technischer Trick. Denn er befähigt den Agitator, ohne das Publikum durch Begrifflichkeit zu überfordern, dennoch den Gegenstand der Verbildlichung auf den Begriff zu bringen. Nämlich: daß der Schweiß auf dem Tisch, der Schwielenleib, das Lampenfett und was die anderen ebenso konkreten wie bedeutungsträchtigen Bilder sonst noch benennen, auch ihrerseits nur bezeichnende Teile sind aus einer bestimmten sozio-ökonomischen Gesamtsituation. Deren Begriff lautet: Ausbeutung. Und dazu gehören zwei. Zwei Parteien, deren eine hier erst einmal ihrer selbst inne werden muß; ihrer Funktion und dann auch ihrer Interessen und Aktionsmöglichkeiten im Gesamtsystem. Genau hierin hat die kooperative Sinnbildnerei des »Landboten«, insbesondere in der metonymischen Spielart, ihre agitatorische Chance. Sie läßt das angesprochene Publikum spüren, wie sie selber auf seine bestimmte Aktualisierung baut. Rhetorisch und pragmatisch benötigt sie es beim Einsichtsprozeß über seinen proletarischen Teilort innerhalb der Gesamtgesellschaft. Vollends benötigt sie das Publikum beim angebahnten Handlungsprozeß, der von diesem entscheidenden Teilort her die Gesamtgesellschaft umzuwälzen hätte. Ich habe die Aufmerksamkeit bisher fast ausschließlich auf den Textanfang des »Landboten« gerichtet, weil gerade die Aufprallzone zwischen Publikation und Publikum günstige Aufsdilüsse verspricht für die Untersuchung der Wirkprozedur. Zumal wenn es sich um ein politisches Flugblatt handelt, das bei seinen bäuerlichen Adressaten mindestens zwei sozial begründete Hindernisse zu überwinden hat. Erstens eine bildungsbedingte Lesehemmung, um überhaupt zur Kenntnis genommen zu werden. Zweitens eine traditions- und berufsbedingte Immobilität, die, in Beherzigung des Gelesenen, nur schwer mobil zu machen ist. Politische Agitation, insbesondere bei einem so verschüchterten, verhockten, argwöhnischen Publikum wie hier, würde ihre Aufgabe verfehlen,

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wenn ihr Text die lockenden, überrumpelnden, suggerierenden Machenschaften seiner Einflußnahme offen durchführte. Darum konnte ich die etwas kleinkrämerische Detailbeschreibung des agitatorischen Auftaktes kaum umgehen. Denn sie sollte die rhetorischen Antriebsmomente nicht nur einzeln kenntlich machen, sie sollte auch vorzeigen, wie sie ineinandergreifend zusammenspielen. Dies Zusammenspiel wiederum war ausführlich darzulegen, weil es sich nicht in der gemeinsamen Tätigkeit verschiedener innertextlicher Elemente erschöpft. Sondern: sinnvoll kommt es nur dort zum Zug, wo der Adressat aus seiner unverwechselbaren sozialen Situation heraus konkretisierend mithält. Indem er, angespornt durch den besonderen Redeverlauf, genau präparierte Bedarfslücken, die der Text ihm anträgt, aus eigenem Erfahrungshaushalt in heimlich vorgesehener Weise auffüllt. Indem er angetragene Möglichkeiten aktualisiert. Indem er angetragene Setzungen bestätigt. Indem er angetragene Scheinwahrheiten bezweifelt. Indem er angetragene Ungewißheiten absichert. Derart aufgerührt und regsam am Mitteilungsgang beteiligt, wird der Adressat überhaupt erst befähigt, einer womöglich folgenreichen politischen Wirkung in seinem Bewußtsein den Weg frei zu machen. Wie dies geschieht, richtiger: wie der Text mit solcher Mitwirkung des Adressaten rechnet, und wie er sie zu wecken sucht, das war zu beobachten: — an dem Deutungs- und Überprüfungsspielraum der Als-ob-Sätze; — an der provokativen scheinharmonischen Analogiekonstruktion zur Genesis; — an den Feststellungssätzen, die zwischen buchstäblicher und metaphorischer Bedeutung changieren; — am Appell zur kooperativen Sinnbildnerei, um auf Anhieb komplizierte gesellschaftliche Sachverhalte faßlich zu machen; — an der Metonymie als Verfahren und Signal für die Situation der Bauern in der sozioökonomischen Gesamtsituation. Abzüglich jener Operationen, die einzig darin aufgehen, ein dumpf verharrendes Publikum erst einmal in den Text hineinzuschleusen, bestimmen die oben ermittelten Momente auch den weiteren Verlauf des »Landboten«. Das heißt, was bisher an einem prominenten Abschnitt im Kleinformat ausgemacht wurde, kann im groben Ganzen als repräsentativ gelten für die kleinformatigen Verhältnisse auch des übrigen Texts. Damit ist freilich seine angestrebte Wirkprozedur keineswegs ganz erfaßt. Denn sie vollzieht sich nicht nur im knappen Spielraum einzelner Bilder, Sätze und Absätze. Sie greift auch, den Gesamttext durchdringend, in größeren Spannen aus. So treibt sie das Publikum aus einer breit dimensionierten Agitationsetappe in die nächste — bis dann der Textausgang es am Ende hinausläßt in die, vielleicht, aufgerührte eigene Initiative. Wie nimmt sich nun der Agitationsvorgang in den Fluchtlinien des Großformats aus? Auch weiterhin bezieht sich der Text auf zwei hauptsächliche Gewährsinstanzen. Auf die Statistik des hessischen Staatshaushalts und auf die Bibel.

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Erstere dient als Quelle wirtschaftlicher und politischer Daten, um den gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustand zu umreißen. Letztere dient als Quelle sozialer und ethischer Winke, um diesen Zustand zunächst auszumalen und dann zu durchlöchern. Zu durchlöchern auf unerfüllte Hoffnungen, auf bessere Alternativen, auf erreichbare Zukunftsmöglichkeiten. Unschwer erklärt sich, warum als Hauptmotor sowohl der Versinnlichung der Sachverhalte wie auch der Mobilisierung der Gemüter gerade die Bibel sich anbot. Und zwar in der ganzen Breite ihrer prompt identifizierbaren Eigenheiten: von besonderen Modellsituationen über besondere Gebote bis hin zu besonderen Redegesten. Ob sie buchstäblich oder metaphorisch den gegenwärtigen Verhältnissen unterlegt werden — ein treffsichereres und schlagkräftigereres Instrument hätte der »Landbote« für seine kommunikativen Umstände und Zwecke nicht finden können 6 . Schon wegen der verwertbaren Gemeinsamkeit im Publikumskontakt dort und hier. Denn auch die Bibel, wie jetzt der »Landbote«, spricht überwiegend von und zu arbeitender Landbevölkerung. Ackerbauer, Viehzüchter, Fischer, Winzer sind ihre vorrangigen Adressaten. Deren Lebensbereichen entnimmt sie die meisten ihrer Gleichnisse, um gottgefälliges Handeln zu versinnlichen. Oder auch, um Metaphysisches, anschauungshalber, in physischem Gelände unterzubringen. (Das Himmelreich ist wie ein Weinberg...) Diese Gemeinsamkeit nutzen Büchner und Weidig, wenn sie ihrem ländlichen Publikum in gleicher Weise entgegenkommen. Somit fordert und verdoppelt die Bibelanspielung das, was ich als leitenden Antrieb der Wirkprozedur im »Landboten« hervorgehoben habe. Sie fördert die Aktivierung des bäuerlichen Erfahrungsschatzes, woraus das Publikum 9

Daß der »Landbote« die Disposition seiner Adressaten damit genau traf, kann ein zeitgenössisches Dokument belegen: der anonyme Drohbrief eines Bauern. Seine Bibel Verwendung, bei orthographischer Mühsal, zeigt bemerkenswerte Ähnlichkeiten zum Flugblatt: ». . . Dem Herrn Bürgermeister wird hierdurch bekanntgemacht (.. .) wenn es nidit bald anders wird und die Abgaben gelinder, so stecken wir ein Landrathsbezirk nach den andern in Brand dan muß gewiß besser in Stand kommen den Gott der Allwissende kennt die Drangsale der Unterthanen und die Hütten der Armut Christus sagt den Versuchern seiner Zeit Get den Kaiser was des Kaisers ist aber von solchen Abgaben unserer Zeit war kein reden (...)«. Hierzu Immelt, der diesen Brief vollständig zitiert, S. 24: »Man empfindet, daß die Forderungen der Staatsregierung im Gegensatz stehen zur Ordnung, wie sie das Evangelium vorsieht, und dieses war offenbar unbedingte Autorität. Bibelstellen, die etwas über Recht und Staatsordnung aussagen, werden als Beleg für die bestehenden Ungerechtigkeiten herangezogen.« Audi die Behörden erkannten die gefährliche Zugkraft der revolutionären Bibelverwendung im »Landboten«. In seiner »Darlegung der Hauptresultate aus den wegen der revolutionären Complotte der neueren Zeit in Deutschland geführten Untersuchungen« (Frankfurt/Main 1839, S. 63) bezeichnet Freiherr v. Wagemann den »Landboten« als eine Sdirift, die die anderen Flugblätter an Bösartigkeit übertrifft, weil sie die biblische Sprache dazu mißbrauche, den Unterschied zwischen Begüterten und Nichtbegüterten als Unrecht darzustellen und zum Kampf gegen die Besitzenden aufzurufen, als ob dies ein heiliges Werk sei. Nach Immelt S. 14

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vergleichend, bestätigend oder widerlegend die Daten zu konkretisieren hat, die der Text ihm anstachelnd vorsetzt. Und sie verdoppelt diese Aktivierung, indem sie obendrein zur aufgerufenen Realerfahrung (Schweiß, Schwielen, Abschinden für andere) auch noch die Lese- bzw. Hörerfahrung der sogenannten Heiligen Schrift aufruft, um sie auf jene Realerfahrungen zu beziehen. Diese Steigerung des Aufrufs ist nicht nur quantitativ. Sie erschließt auch eine zusätzliche qualitative Dimension. Die der Autorität. Für Büchners fromme Bauern erwächst der Bibel Autorität aus mehreren Momenten, i . In der Bibel verlautbart sich Gott als höchste und letzte Instanz in allen Dingen. 2. Die Obrigkeit, die in Gottes Namen und in seiner Gnade zu walten erklärt, verweist auf die Bibel, wenn sie unbedingten Gehorsam und pünktliches Verrichten auf allen verfügten Gebieten einfordert. 3. Im besonderen Sinne von Ausschließlichkeit gereicht die Bibel den Bauern zum Buch der Bücher, weil ihnen andere Bücher weitgehend vorenthalten sind. Solches Monopol der »Schrift«, die den außerordentlichen, unalltäglichen Akt des Lesens und öffentlichen Vernehmens (im Gottesdienst) an sich allein bindet, also keine anderen Bücher neben sich duldet, verleiht ihr zusätzliche Autorität. Die bestehende Gesellschaftsordnung wacht über diese Monopolstellung, indem sie auch vom Bildungsmarkt her der Bibel beim Volk den höheren Auftrag sichert. Darum gewinnt die Losung >Es steht geschrieben« für die Bauern den einzigartig gebieterischen Anspruch. Was bislang der Obrigkeit dazu taugte, das Volk klein und kurz zu halten, lenkt nun der »Landbote« in die Gegenrichtung. Wenn er wieder und wieder durch das Medium der Bibel spricht — in wörtlichen Zitaten, Anspielungen, Paraphrasen und Redewendungen —, dann nutzt er den unbeschränkten Kredit, den sie beim Volk hat. Mit diesem Kredit arbeitet er, um bei den Gläubigen Vertrauen zu erwerben für seine politischen Absichten. Eine strikt sachliche Bestandsaufnahme ihrer Notlage mit notwendig radikalen Korrekturvorschlägen, die auf den höheren Fahrtwind des Heiligen Geistes verzichtete, käme bei den Bauern nicht an. Einer nichts als hiesig-irdischen Argumentation würden sie, solcher Ansprache ungewohnt, sich verschließen. Und zwar nicht zuletzt dank der religiösen Imprägnierung, womit die Obrigkeit sie weithin ideologisch abgedichtet hat wider alles, das die Unabänderlichkeit des Bestands behelligen könnte. Daher lag dem »Landboten« — noch dazu im Einklang mit Rektor Weidigs christlicher Überzeugung — nichts näher, als mittels biblischer Autorität das schwer zugängliche Publikum für dessen eigene noch unerkannte Interessen einzunehmen. Mit dem autoritäten Potential der Bibel kann sich das andere Hauptüberzeugungsmittel des »Landboten« kaum messen: die Statistik des hessischen Staatshaushalts. Zwar vermag auch sie ein schlichtes Publikum in achtungsvolles Staunen zu versetzen. Weil sie, kenntnisreiche Kompetenz verkörpernd, dem Uneingeweihten mit bislang Ungewußtem aufwartet; weil sie ihn mit Beträgen konfrontiert, deren Höhe, gemessen an seinen eigenen kümmerlichen Haushalts-

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zahlen, alles erdenkliche Maß sprengt; weil sie souveräne Verfügungsgewalt verrät, wenn sie mit übersichtlichen Zahlenkolonnen bändigende Ordnung bringt in all das, was das Publikum sonst als bedrängendes Alltagsdurcheinander erlebt. Dennoch wird die Statistik im Lauf des »Landboten« mehr und mehr von der Bibel übertrumpft, die am Ende völlig das rhetorische Feld beherrscht. Wenn beide dem, der in ihrem Namen spricht, aber auch der Sache, f ü r die er spricht, von ihrer Autorität abgeben, dann hat doch die Bibel außer den schon genannten Momenten — ländliche Modellsituationen, Sinnfälligkeit, Schriftmonopol, heilshaltiger Dauerkredit — der ausgewerteten Statistik noch ein weiteres voraus: den agitatorischen Imperativ. Denn selbst an Stellen, wo der entsprechende Sprachgestus zurückgenommen ist, haben biblidie Äußerungen weniger mitteilendes als weisendes Gepräge. Eingefleischte Gewöhnung derer, die in der Furcht des H e r r n erzogen sind, sorgt d a f ü r : wer biblische Äußerungen empfängt, begnügt sich schwerlich mit gelassener Entgegennahme. Er fühlt sich angestoßen zu einer, wenigstens inneren, Positionsveränderung. Und rührt er selber sich nicht, rührt sich wenigstens sein Gewissen. Anders also als sonstige Berichte oder Erzählungen bewegen biblische Äußerungen sich nicht selbstgenügsam vorm Empfänger vorbei. Sie bewegen sich fordernd auf ihn zu. Kraft überlieferten Gebrauchszwangs erschweren sie dem Empfänger — obwohl sie nur selten sich ausdrücklich als grammatischer Imperativ bekennen — die Stellung eines unbetroffenen Dritten. Aufrufend drängen sie ihn in die zweite Person. Dieser agitatorische Imperativ der Heiligen Schrift scheint mir, was unmittelbare rhetorische Schlagkraft anlangt, ein besonders ertragreidier Gewinn zu sein, den der »Landbote« aus der annektierten biblisdien Mitgift gezogen hat. Er vor allem treibt, über die kleinformatigen Wirkvorgänge hinaus, die weiter gespannten Überredungsschübe des Flugblatts vorwärts und hält sie in Schwung bis zum Ende. Unterm Gesichtspunkt fortschreitender Einwirkung aufs Publikum — so werden wir sehen — verläuft der Gesamttext als eine Stufenfolge sich steigernder Weisungsgesten. Ihre Steigerung kann jedoch nur Zustandekommen, nachdem der Text die oben beschriebenen sehr allgemeinen agitatorischen Imperative der Bibel umgesetzt hat in direkte grammatische Imperative. Anders wäre das bestimmte Publikum kaum zu bestimmtem Verhalten zu veranlassen. Der direkte grammatische Imperativ schafft zudem noch kommunikative Vorteile. Erstens beschwört er eine Sprechsituation, worin Sprecher und H ö r e r zeitlich und räumlich beisammen sind. Insofern gibt der grammatische Imperativ, der hier eine politisch-kommunikative Aufgabe erfüllen soll, dem toten herumgereichten Papier des Flugblatts Insignien körperlicher Gegenwart. So, als seien, achtungsheischend, diejenigen leibhaftig zugegen, die da im Namen des Volks und in Gottes Namen sprechen. Zweitens: Wenn der grammatische Imperativ fordert — Sehet! Denkt an! Erhebt die Augen! Wachet! Rüstet

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euch! —, wenn er dies in einer einzigen Verbform fordert, nimmt er sprachlich vorweg, was der Adressat erst noch zu vollbringen hat. Er suggeriert wortwörtliche Einheit zwischen angesprochener Handlung und angesprochenem Handelnden. Der Angesprochene verschwindet als Person — nicht einmal pronominal kommt er vor — in der geheißenen Aktion. Er scheint dann nichts als Handelnder. Wozu er doch erst zu bringen ist. Getreu der psychologisch vorsichtigen Texteinschleusung hüten sich die Verfasser des »Landboten« sehr wohl, ihrem Publikum imperativisch mit der Tür ins Haus zu fallen. Die fünfzehn Sätze des Textanfangs, einschließlich der statistischen Tabelle, sprechen niemanden frontal an. Sie sprechen bloß von etwas, im Abstand der dritten Person. Erst nachdem die Als-ob-Sätze, die bedrückend schräge Genesis-Analogie, die allegorisierenden Behauptungssätze das Publikum nur mittelbar zu erinnernder, mitdenkender und mitfühlender Beteiligung am Verständigungsprozeß angeregt haben, danach erst tauchen Anzeichen unmittelbarer und frontaler Weisung auf. Vorläufig noch behutsam, berufen sie das Publikum in seine Stellung als angesprochene zweite Person: Seht nun, was man in dem Großherzogthum aus dem Staat gemacht hat; seht, was es heißt: die Ordnung im Staate erhalten! 700 000 Menschen bezahlen dafür 6 Millionen, d. h. sie werden zu Ackergäulen und Pflugstieren gemacht, damit sie in Ordnung leben. (S. 36)

»Seht!« Der erste Imperativ, als erste Stufe fortschreitender Aufforderungen, ist in seinem auch weiterhin bestärkten Appell ans Auge bemerkenswert. Voraufgegangen waren Bilder aus der Bibel, die sich kreuzten mit Bildern aus der gegenwärtigen Umwelt. Nachdem sie ins Publikum eingegangen sind, gebietet ihm der Imperativ, nunmehr bewußt sehend die folgenden Bilder wahrzunehmen; und erst recht das, was sie anzeigen. In zweifacher Bedeutung, erblickend und begreifend, soll es die Bilder sehen, um sie einzusehen. Wie es auch weiterhin angehalten wird, beides vergleichend zu sichten: einerseits, was ihm der »Landbote« an Daten und Bildern bereits mit Deutungsansätzen aufführt; andererseits, was es selber an schmerzhaften, aber ungedeuteten Erfahrungsdaten und -bildern im eigenen Innern stapelt. Der erste Imperativ gibt dem »Landboten« keine neue Zielrichtung. Er läßt nur die Zielrichtung, die von vornherein galt, hier erst deutlich hervortreten. Mit einem vernehmlichen Ruck fürs Publikum. Denn im nachhinein werden jetzt die angesprochenen Bauern mit jenen Bauern identifiziert, die der Text zuvor als schweißig und schwielig, den Kriechtieren gleich im Staub vor den Reichen veranschaulicht hat. Spätestens hier müssen die Adressaten sich so oder so zu dieser erbärmlichen Rolle bekennen. Von nun an nämlich werden sie frontal angegangen. Fortschreitend werden sie ins Wort genommen. Imperativisch und pronominal: Sehet, was die Ernte eures Schweißes ist. (S. 38, hervorgehoben von mir)

Nicht irgendeine, sondern ihre eigene Sache wird verhandelt. Dem entsprechend

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hat nicht irgendwer, sondern sie selber haben diese Sache anzupacken. Fortan wiederholen sich solche Sätze, die beharrlich Imperativ und Possessivpronomen verklammern. Grammatisch nehmen sie den Adressaten in die Zange, damit umgekehrt sein von sozialer Nötigung eingezwängtes Bewußtsein sich lockere und weite. Dieses sprachliche Signal (Imperativ + Pronomen) kennzeichnet die entscheidende Stufe im Agitationsverlauf des »Landboten«. Sie setzt voraus, daß das Publikum inzwischen, wenn auch widerstrebend, seine wahre Rolle in der Gesamtgesellschaft zur Kenntnis genommen hat: die Rolle des geschundenen Ausbeutungsobjekts. Sie setzt voraus, daß es jetzt hinreichend agitatorisch zubereitet ist, um bereit zu sein, die eigene Lage nicht nur von außen zu betrachten. Sondern: sich selber auch in ihr. Sich als Bauern in der beschriebenen Lage der Bauern — die sie bisher nur erlebt, aber kaum bedacht haben. »Sehet, was die Ernte eures Schweißes ist.« Die Satzanlage bestärkt, worum es geht: sehend sollen sie sich einmal nicht für andere, sondern mit sich beschäftigen. Was der eigenen Person und Klasse anhaftet und anhängt, was ihr auferlegt und abgezwungen wird, soll ihnen zum Problem werden. Hierauf zielt auch das nächste Zitat: Denkt an das Stempelpapier, denkt an euer Bücken in den Amtsstuben und euer Wadiestehen vor denselben. Denkt an die Sportein für Sdireiber und Geriditsdiener. (S. 38, hervorgehoben von mir)

Was die Agitation dem Publikum hier als entscheidende Stufe zuweist, ist im Doppelsinn des Worts Reflexion. Eine Stufe des Nachdenkens, aber auch der Rückbezüglichkeit der Angesprochenen auf sich. Nachdenkend sollen die Bauern sich selber zum Objekt werden. Gelingt es, so sind sie schon nicht mehr ausschließlich Objekt ihrer Ausbeuter. Sie wären dann, vorderhand nur im Bewußtsein, der eigenen Verfügung zurückgegeben. Ausrufung also und Einberufung des Publikums als Subjekt in eigener Sache. Zwar, es hat zunächst nidits zu leisten als Aufmerksamkeit, Überlegung und Selbstprüfung. Dennoch sind diese Akte unerläßliche Bedingung dafür, daß es später zum Subjekt von Handlungen werde. Welche Wegstrecken bis dahin noch zurückzulegen wären, zeigen die weiteren Etappen des »Landboten« dann freilich nur grob und verschwommen. Gezwungenermaßen. Aus ideologischen und aus technisch-pragmatischen Gründen. Erstens sind, wie man weiß, Büchner und Weidig von unterschiedlichen politischen Vorstellungen ausgegangen. Das führte, damit der »Landbote« überhaupt zustandekam, zu einem Kompromiß, der auf der gemeinsamen Überzeugung beruhte, daß nur eine Umwälzung der Gesellschaft die Notstände beheben könne. Aber eben nur irgendeine, deren Wege und Ziele angesichts der bestehenden deutschen Verhältnisse im Visier der beiden Autoren verrutschen mußten. Büchner setzte dabei allein auf die ausgebeuteten Massen. Die Stoßrichtung seiner materialistisch begründeten sozialen Umwälzungsimpulse zielte auf Besitzverhältnisse. Das Großbürgertum (»die Reichen«, die Weidig dann

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durch »die Vornehmen« ersetzt 7 ), lokalisierte er jenseits der Barrikaden beim Feudalabsolutismus. Weidig hingegen veranschlagte liberale Teile des Bürgertums diesseits der Barrikaden. Idealistisch gesonnen und verfassungsgläubig sah er das Hauptangriffsobjekt der Umwälzung im absolutistischen Staatssystem, vertreten durch »die Vornehmen«. Beide Auffassungen, in gemeinsamer Agitation vereint, konnten daher nur eine sehr vage, abstrakte Revolutionsvorstellung berufen. Zweitens: im Rahmen eines einzigen und ersten Flugblatts, dem weitere, auch andersartige Agitationsanstrengungen hätten folgen müssen, war schwerlich mehr zu verriditen. Die erwünschte konkrete Aktion der Zukunft und vollends die Totalumwälzung der Gesellschaft, die dadurch herbeigeführt würde, ließ sich deshalb nur undeutlich schraffieren. Weidig, der im zweiten Teil des Flugblatts stärker mitspricht, tut dies, indem er einen prophetischen Ton anschlägt. Der schien angemessen, wo sidi der Blick konsequenzensuchend von bedrückender Vergangenheit und Gegenwart auf Zukunft richtet. Der Text kommt seinem Publikum jetzt fast nur noch mit Vorankündigungen dessen, was ansteht und aussteht. Mit glücklidien Verheißungen und finsteren Drohungen. Sie erscheinen teils in wörtlichen Zitaten aus dem Alten Testament, teils in biblischen Paraphrasen, teils in übernommenem prophetischem Sprachgestus. Damit schaltet die Wirkprozedur — vorausgesetzt, der »Landbote« hat seine bis dahin verfolgten agitatorischen Teilstreckenziele erreicht — eine neue, intensivere Gangart ein. Die bisherigen Waffen bleiben in Betrieb. Doch sie werden, mittels der umfunktionierten Prophetie, jetzt in voller Wucht, in appellativen Breitseiten aufs Publikum gefeuert. Die folgenden Zitate kennzeichnen bis hin zum Schluß die ferneren Stationen des Texts: Wehe über euch Götzendiener! - Ihr seid wie die Heiden, die das Krokodill anbeten, von dem sie zerrissen werden. Ihr setzt ihm eine Krone auf, aber es ist eine Dornenkrone, die ihr euch selbst in den Kopf drückt; (S. 44) Der Herr, der den Stecken des fremden Treibers Napoleon zerbrochen hat, wird audi die Götzenbilder unserer einheimischen Tyrannen zerbrechen durch die Hände des Volks. (S. $2) Ich sage euch: sein und seiner Mitfürsten Maas ist voll. Gott, der Deutschland um seiner Sünden willen geschlagen hat durch diese Fürsten, wird es wieder heilen. (S. 5 6) Aber wie der Prophet schreibet, so wird es bald stehen in Deutschland: der Tag der Auferstehung wird nicht säumen. In dem Leichenfelde wird sidis regen und wird rauschen und der Neubelebten wird ein großes Heer seyn. (S. 56) Und bis der Herr euch ruft durch seine Boten und Zeichen, wachet und rüstet euch im Geiste und betet ihr selbst und lehrt eure Kinder beten: ,Herr, zerbrich den Stecken unserer Treiber und laß dein Reidi zu uns kommen, das Reich der Gerechtigkeit. Amen.' (S. 60) 7

Daß dieser terminologische Austausch nicht übergewichtet werden sollte - wie etwa bei H . Mayer, der in Weidigs Änderungen gar eine Verkehrung der »Grundgedanken des Manifests ins Gegenteil« sieht - betont K . Immelt S. 49 f. Seine Belege zeigen an, daß man damals in der politischen Auseinandersetzung »Reiche« und »Vornehme« synonym verstand.

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Die bisher schon rührigen Wirkmittel — so die sinnfällige Sinnbildnerei, die Bibelanspielung, die Publikumsfixierung durch Imperative und Pronomina — erhalten neue, schlagkräftigere Qualität im Sog der Prophetie. Vor allem deswegen, weil ihr agitatorisches und autoritäres Potential, das zuvor oft halb verdedct nur genutzt worden ist, sich jetzt offen entladen kann. Vor allem der biblische Komplex. Seine gebieterische Kraft richtet sich nun umweglos aufs Publikum. Wird es doch zum scheinbar von oben ausersehenen Adressaten der prophetischen Verkündigung gemacht. Mehr noch: zum Beauftragten Gottes, zum Vollbringer seines geweissagten Willens. Solch gigantomanischer Aufwand mag heute achselzuckende Befremdung hervorrufen. Aber: eine kargere Instrumentierung wäre der agitatorischen Aufgabe kaum gerecht geworden. Man bedenke Herkommen und Gesichtskreis des angesprochenen Publikums. Dann erst läßt sich ermessen, was ihm der »Landbote« da zumutet. Sollte es tatsächlich den nüchternen Kernauftrag dieser aufwendigen Prophetie erfüllen, so hätte es erst einmal in sich selbst das geltende Wertsystem umzustülpen. Umzupolen hätte es die gesellschaftlichen Verkehrsformen, die ihm längst zur zweiten N a t u r geworden sind. Vertauschen müßte es die überkommenen Plätze von Schwarz und Weiß, von falschem und richtigem Handeln. Seit je war den Bauern ihre Notlage als gottgewollt eingeredet worden. Von einer Obrigkeit, die, auf eigenes Gottesgnadentum pochend, mit Gotteswort und nach biblisdien Vaterschaftsmustern die Untertanen als unmündige Kinder hielt. Plötzlich nun gibt denen Gott durch den prophetischen Anruf des »Landboten« entgegengesetzte Weisungen. Was bislang als rechtschaffen verschrieben und eingetrieben wurde, ist jetzt ärgste Sünde: dem Herrscher zu dienen wie Gott. Sein Gottesgnadentum, so sagt das Flugblatt, ist falsche Anmaßung. Es ist sogar Teufelshaltung, die sich an Gottes Stelle zu drängen sucht. Nicht genug damit. Die adressierten Bauern sollen nicht nur, neutral und passiv, sich dieser Obrigkeit entziehen. Sie sollen sie aktiv bekämpfen. Denn sie ist Gottes Feind. Derart erhält das Publikum doppelten Antrieb, künftig im geforderten Sinn revolutionär tätig zu werden. Einmal aus sozialer Not, die ihm gerade bewußt gemacht worden ist. Sodann aus dem Geheiß Gottes, dessen Schöpfungsordnung gegen ihre obrigkeitlichen Entsteller wieder durchzusetzen sei. Hiermit scheint mir der schockhafte Anstoß aufs Publikum etwas abgefangen. Der Schock f ü r diejenigen, die — sonst nur f ü r andere eingespannt — plötzlich ihre eigene Sache betreiben sollen. Und die — sonst nur fremdgesteuert — plötzlich selbständig handeln sollen. Denn ihr bislang verdrängtes Klasseninteresse wird verklärt durch ein gleichgerichtetes ewiges Interesse. Hieraus empfangen sie eine ethische Rechtfertigung, von oben und vom eigenen Gewissen. Ihr zufolge handeln sie altruistisch, nicht egoistisch, wenn sie den bestehenden schlechten Zustand umstürzen. Zudem wird gewährleistet, daß sie

Volker Klotz damit weder eine unbotmäßige noch eine unbeholfene Handlung vollzögen. Sie geschähe vielmehr unter Obhut und Geleit der höchsten und mächtigsten Instanz. Man sieht: größer bemessen und umfassender zielend kommt im prophetischen Ausklang des »Landboten« die gleiche agitative Wirkmotorik, die subtiler schon den Anfang bestimmte, auf volle Touren. Punktuell, von Fall zu Fall werteten dort biblische Anspielungen bestimmte Bilder, Daten und Argumente auf, die sie zu befördern hatten. Sie übermachten den verhandelten Sachverhalten Gehör, Glaubwürdigkeit, Autorität. Weil dort von etwas die Rede ging, geschah dies im Abstand der dritten Person. Doch die Mitteilung bedurfte, um zu gelingen, der beisteuernden Mitwirkung des heimlich angestachelten Publikums. Andernfalls wären viele der ergänzungsbedürftigen Satzkonstruktionen, der grammatischen Modi, der Gedankenfiguren, der biblischen und nichtbiblischen Bilder blind und nichtssagend geblieben. Es mußte schon der mittelbare Adressat aus eigenem, abrufbarem Erfahrungsschatz ergänzend eingreifen. Hier nun im zweiten Teil, nachdem die Sachverhalte erkannt und anerkannt sein sollten, wertet biblische Weisung weniger die verhandelten Gegenstände als das Publikum auf. Vielfach. Zunächst einmal löst sie es aus dem gebückten Stand des Ausbeutungsobjekts zum aufrechten Stand eines visavis angeredeten Empfängers. Weiter: sie gibt das Publikum seinem eigenen Nachdenken anheim. Weiter: indem die biblische Weisung das Publikum anspricht und tätige Antwort erheischt, erklärt sie es zum handlungsfähigen Dialogpartner. Dasselbe Publikum also, das vorher bitter erkennen mußte, daß die Gesellschaft es den Kriechtieren gleichordnet, eben dieses Publikum wird jetzt zum Subjekt erhoben, das künftig den höchsten Auftrag auszuführen hätte. Ein radikaler, weil dem Publikum unerwartet unvorstellbarer Vorgang. Er wird noch besiegelt dadurch, daß die Prophetie, von der es so jäh angesprungen wird, auf kein unverbindliches, immaterielles Niemandsland verweist. Auch darin durchbricht hier die Bibel den gewohnten Umgang, den die gestandene Gesellschaft mit ihr pflegt: ihre verkündeten Ziele verflüchtigen sich in keine Transzendenz. Sie liegen im Großherzogtum Hessen und drumherum. Um dies klar zu machen, werden die prophetischen Bilder rückhaltlos säkularisiert. Sie werden auf die Erde, auf den historischen Boden der Tatsachen gezwungen: Der Tag der Auferstehung wird nicht säumen. In dem Leichenfelde wird sidis regen und wird rauschen und der Neubelebten wird ein großes Heer seyn.

Eschatologisches rüdst heran. Der jüngste Tag wird zugänglidi. Und Auferstehung ist kein Danach, sondern ein Davor. Auferstehung konkretisiert sich zum Aufstand: zur revolutionären Erhebung der Neubelebten, die bislang durch Unterdrückung abgetötet waren. So begradigt der »Landbote« Gottes Wort für seine politischen Ziele. Nicht länger soll es aus drückendem Hier aufs Jenseits vertrösten. Es soll sich ver-

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wirklichen durch die Angesprochenen f ü r die Angesprochenen. Zu Lebzeiten. In Geschichte. U m diese Verheißung in gegenwärtigen Zustand zu versetzen, sind sie aufgerufen, den gegenwärtigen Zustand umzustürzen. Als Instrument Gottes, aber f ü r eigene Belange. So heißt es — nachdem am Beispiel der französischen Revolution gezeigt worden ist, wie Gott dem Volk hilft, das sich selber hilft — : Der Herr, der den Stecken des fremden Treibers Napoleon zerbrochen hat, wird audi die Götzenbilder unserer einheimischen Tyrannen zerbrechen durch die Hände

des Volks. (Hervorhebung von mir)

Der »Hessische Landbote«, so war zu beobachten, findet seine agitatorischen Mobilisierungspunkte dort, wo Büchner sie zwei Jahre später, aus dem Straßburger Exil an Gutzkow schreibend, veranschlagt: »Und die große Klasse selbst? Für sie gibt es nur zwei Hebel: materielles Elend und religiöser Fanatismus. Jede Parthei, welche diese Hebel anzusetzen versteht, wird siegen« 8 . Unsre Beschreibung hat gezeigt, daß und wie vornehmlich diese beiden Momente die Beeinflussung bestimmen. Sie hat aber auch gezeigt, daß Büchner im »Landboten«, wie in der Briefstelle, kaum geringere Aufmerksamkeit den Voraussetzungen, Möglichkeiten und Verfahren publizistischer Wirkung schenkt. Das Bild von den Hebeln, die zur Mobilisierung der Masse an den richtigen Stellen anzusetzen seien, bestätigten die vielfältigen, sorgfältig getätigten W i r k mechanismen des Flugblatts. Nicht am statischen Textgebilde, sondern an dessen angestrengtem Kommunikationsverlauf ließ sich verfolgen, wie diese Wirkmechanismen in jedem Arbeitsgang der Agitation ineinandergreifen. Und wie sie, damit sie ineinandergreifen, fortschreitend ein gegenseitig komplementierendes, komplettierendes, konkretisierendes Wechselspiel betreiben: zwischen Text und Publikum, zwischen Publikum und Text. Erst beim Leseakt verwirklichen sich die besonderen Möglichkeiten, die im jeweiligen Text drinstecken. Als politisches Flugblatt läßt der Text des »Landboten« deutlich erkennen, daß gleiches auch f ü r die andere Seite gilt. D a ß sich beim Leseakt auch die besonderen Möglichkeiten verwirklichen, die im jeweiligen Publikum stecken. So mochten die adressierten Bauern, sofern sie lesend ihre Lage erfaßten und die angebotenen Folgerungen zogen, ihre Möglichkeiten wahrnehmen. Möglichkeiten, die nach Absicht des »Landboten« aus der Publikumsrolle weiterdrängen in die Rolle des geschichtlichen Subjekts. Damit hätte der Text seinen publizistischen und, weil er politisches, handlungserpichtes Flugblatt ist, auch seinen praktischen Zweck erfüllt. Bekannt ist, daß dies nidit geschah. Mangelnde Revolutionsbereitschaft bei den Adressaten sowie Organisationsschwäche und Verrat bei den Agitatoren verurteilten den »Landboten«, der erstmals in Deutschland eine materialistisch begründete Aktion starten sollte, zu seinem eigenen Nachruf. 8 Sämtliche Werke und Briefe, Bd. II, S. 455

Natur und Gesellschaft in Stifters »Condor« Von K U R T

MAUTZ,

Mainz

/. Nach den »Julius«-Fragmenten und den noch stark von Jean Paul beeinflußten »Feldblumen« entstanden, ist »Der Condor« (1840) Stifters erste bedeutende Erzählung. Sie stellt eine Art Gegenentwurf zu thematisch verwandten Werken seines Vorbildes Jean Paul dar und enthält in nuce bereits die bis in den »Nachsommer«-Roman hinein charakteristischen Themen und Motive Stifters: das Spannungsverhältnis zwischen Künstlerexistenz und bürgerlicher Lebensform, die damit zusammenhängende Thematik der unerfüllten Liebe und der Entsagung, das verschlüsselte kultur- und gesellschaftskritische Motiv und das des unergründlichen Schicksals. Auch die spezifischen Darstellungsmittel Stifters, seine metaphorisch symbolisierende Bildersprache und sein Stil des »verschweigenden Andeutens« 1 sind im »Condor« schon entwickelt. So wird hier der ganze Problemkomplex der Themen und Motive in ein einziges vieldeutiges Bild, das der Ballonfahrt, projiziert. In einem der »Julius«-Fragmente heißt es vom Titelhelden, er sei ein Mensch, dem das Schicksal oder der Zufall »die Lebensfäden so seltsam durcheinander warf, daß daraus ein Knoten wurde, an dem er nun K r a f t und Kunst abmühet und an der Lösung doch verzweifelt« 2 . Z u solch unauflöslichem Knoten sind auch die Lebensfäden des Malers Gustav und Cornelias durcheinandergeworfen, deren Geschichte im »Condor« erzählt wird. Der Erzähler selbst vermag diesen Knoten nicht zu lösen, ohne sich in Widersprüche zu verwickeln oder sich ins Dunkel eines vorgeblichen Nichtwissens und Nichtwissenkönnens zu hüllen. Die äußere Handlung ist, wie immer bei Stifter, sehr einfach: Gustav, der Sohn eines armen Hochgebirgsbauern, ein »Natursohn« wie Felix im »Haidedorf«, doch wie dieser ein Künstler, den es in die Großstadt zog, liebt Cornelia, die ihrem Ambiente nadi der großbürgerlichen Oberschicht angehört und der er Malunterricht erteilt. Obwohl sie seine Liebe zu erwidern scheint, entsteht ein Konflikt, weil Gustav, der sich die »Herzenseinfalt seines Tales« bewahrt hat, Cornelias Bestreben mißbilligt, mit gesellschaftlichen Konventionen zu brechen und ein Beispiel zu geben, »daß auch ein Weib sich frei erklären könne von den willkürlichen Grenzen, die der harte Mann seit Jahrtausenden um sie (seil, die Unterdrückten) gezogen hatte« 3 . Das 1 2

Walter Höllerer: Zwischen Klassik und Moderne, Stuttgart 1958, S. 358 ff. Adalbert Stifter: Julius, Eine Erzählung, Erstausgabe nach der Handschrift, hrsg. v. Franz Hüller, Augsburg o. J . (19J0), S. 42

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Beispiel gibt sie, indem sie in Gesellschaft eines Lords und eines Naturforschers eine Ballonfahrt unternimmt. Das Wagnis mißglückt, der Ballon muß vorzeitig niedergehen, weil sie ohnmächtig wird. Gustav will sich wegen ihrer Beteiligung an dem Unternehmen von ihr abwenden, sie führt jedoch ein Gespräch mit ihm herbei, in dessen spannungsvollem Verlauf sie ihrem Freiheitsstreben als einem »verblendeten« Sicherhebenwollen über die Natur ihres Geschlechts entsagt und ihm ihre Liebe bekennt. Es ist der glücklichste Augenblick im Leben Gustavs, und doch verläßt er Cornelia — seiner Kunst zuliebe, »bis er geistesgroß und tatengroß vor allen Menschen der Welt dastehe«. Der Erzähler überspringt nun Jahre und gibt nur noch einen kurzen Epilog: Die Liebe Gustavs und Cornelias hat sich nicht erfüllt. Aus Cornelia ist eine in den Pariser Salons gefeierte Schönheit geworden, »welche tausend Herzen entzündete und mit tausenden spielte«, aus Gustav ein Maler, dessen Bilder in den Pariser Galerien bewundert werden. Beim Betrachten seiner Mondlandschaften verzehrt sich Cornelia in Reue und Sehnsucht. Gustav hat sich, seiner Liebe entsagend, in die »Urgebirge der Cordilleren« zurückgezogen, ein »starker, verachtender Mensch«. Der Titel der Erzählung, nach dem Namen des Ballons, weist auf die Schilderung der Ballonfahrt und damit auf das Bild der kosmischen Natur als das Zentrum des Ganzen. Da dieses Bild die Motive und Tendenzen der dargestellten Charaktere und ihres Handelns symbolisiert, enthält es dieselben Gegensätze, Widersprüche und Ambivalenzen, auf die eine nähere Betrachtung des Motivationszusammenhangs der ganzen Erzählhandlung stößt. Es ist der anschaulich gemachte »Knoten«, dessen durcheinandergeworfene Fäden zunächst zu verfolgen sind. Der Konzeption der beiden Hauptfiguren und ihres Schicksals liegen zweifellos bestimmte Lebenserfahrungen Stifters zugrunde, für deren Umformung die Beobachtung Josef Hofmillers zutrifft: »Er stellt sich auf die Bühne, als Hauptperson; nochmals sich als Gegenspieler; Fanny und Amalie; fertig« 4 . Doch eine literarische Umformung biographischer Empirie, die lediglidi eine den Autor »persönlich befriedigende Ersatzwirklichkeit« 5 zustande brächte, wäre noch kein Kunstwerk. Sie wird es erst, indem sie Formqualitäten und Bedeutungsmomente entwickelt, die ein allgemeines Interesse beanspruchen können. Das problematische Liebesverhältnis zwischen Gustav und Cornelia wird exemplarisch bedeutungsvoll erst durch die seiner Darstellung inhärenten kultur- und sozialkritischen Intentionen. Der gegensätzlichen und zugleich zwiespältigen Typisierung und Charakterisierung der beiden Figuren liegt der Gegensatz von Natur und Zivilisation, Natur und Gesellschaft zugrunde, der seitdem, 3

4 5

Adalbert Stifter: Gesammelte Werke, Inselverlag Wiesbaden 1959, Bd. I, S. 17 (im folgenden abgekürzt: G W I . - Die Urfassung des »Condor« wird zitiert nach: Adalbert Stifter, Erzählungen in der Urfassung, hrsg. v. M a x Stefl, Ausgburg 1950, im folgenden abgekürzt: U I) Josef Hofmiller: Letzte Versuche, München 1952, S. 25 Erik Lunding: Adalbert Stifter, Kopenhagen 1946, S. 38 f.

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bis zu seiner utopischen Versöhnung im »Nachsommer«8, das Grundmotiv der Erzählungen Stifters bleibt. Gustav ist der aus dem Hochgebirge kommende, aus der sozialen Unterschicht aufsteigende »Natursohn«, der als Künstler die großstädtische Gesellschaft und Kultur kennenlernt und nach der Enttäuschung durch sie zur Natur zurückkehrt, indem er sich in die von der europäischen Zivilisation damals noch unberührten »Urgebirge der Cordilleren« begibt. Cornelia ist die zur großbürgerlichen Oberschicht gehörende Emanzipierte, zu deren Privilegien es gehört, wie George Sand 7 oder Fanny Elßler 8 auch gegen die Konventionen verstoßen zu können, und deren Weg nicht aus der Zivilisation heraus, sondern in ihr Zentrum, in die Pariser Salons, führt. In den »Feldblumen« hatte Stifter durch den Maler Albrecht die konventionelle Mädchenerziehung seiner Zeit als eine Seele und Geist tötende medianische Dressur 9 scharf kritisiert: Wie manche warme und großgeartete Seele in diesem Gesdilechte mag darben und dürsten, so lange sie lebt - bloß angewiesen auf den Tand, den ihr der Herr der Schöpfung seit Jahrtausenden in die Hände gibt. (U I, 1 0 1 )

Sein Ideal weiblicher Bildung verkörperte dort die emanzipierte, in den »Wissenschaften der Männer« bewanderte und kunstverständige Angela, die Albrecht gegen den Vorwurf der »Unnatur« zu verteidigen hat: Was sie sechzig Jahre sehen, und was ihr Vater und Großvater auch sedizig Jahre gesehen haben, das ist ihnen das Natürliche, wie verkehrt es auch sein mag, und wer sich dagegen auflehnt, und ein Neues bringt, der ist ein Fremdling unter ihnen, ein Aufrührer gegen die Natur. (U I, 95 f.)

Die »Feldblumen« enden mit der ironisch-märchenhaften Verwirklichung eines Wunschtraums: der Tusculum-Utopie einer am Traunsee, fern von der Großstadt und ihrer »Industriewelt« gelegenen Künstler- und Gelehrtenkolonie, in der es keinen Gegensatz von arm und reich, von Künstler und Bürger, von Bürgertum und Adel, von Natur und Kultur gibt. Uber diesen euphorischen Eskapismus ist Stifter im »Condor« hinaus, denn hier brechen die in den »Feldblumen« scheinbar versöhnten, ironisch überspielten Gegensätze als Widersprüche wieder auf, die zwar dargestellt, aber nicht aufgelöst werden können und die sogar gegen die subjektive Intention des Autors sich in der widersprüchlichen Charakterisierung seiner Gestalten, in der unzureichenden psychologischen Motivierung ihres Verhaltens und Handelns sowie in der Ambivalenz seiner Bilder und Metaphern reproduzieren. Der charakterologische Schematismus, nach welchem Gustav und Cornelia den Gegensatz von Natur und Zivilisation repräsentieren, stellt sich selbst in Frage, weil dieser Gegensatz in jedem der beiden Charaktere selber wieder auftaucht. Am auffälligsten 6

vgl. H . A . Glaser: Die Restauration des Schönen, Stuttgart 1965, S. 52 ff. vgl. G M V I , 90: George Sand als Modelektüre 8 vgl. S. W e y r : Wien, Magie der Inneren Stadt, Wien 1968, S. 2 7 2 ff. » U I, 9 7 - 1 0 1 7

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tritt er in der zwiespältigen Charakterisierung Cornelias in Erscheinung. Einerseits heißt es von ihr, daß sie wie die Mutter der Gracchen, nach der sie genannt ist, erhaben sein wollte über ihr Geschlecht, und gleich den heldenmütigen Söhnen derselben den Versuch wagen, ob man nicht die Bande der Unterdrückten sprengen möge, und die an sich wenigstens ein Beispiel aufstellen wollte, daß auch ein Weib sich frei erklären könne von den willkürlichen Grenzen, die der harte Mann seit Jahrtausenden um sie gezogen hatte - frei, ohne doch an Tugend und Weiblichkeit etwas zu verlieren. (GW I, 17 / U I, 10) Ihr Freiheitsstreben erscheint hier als ein heroisches Sicherhebenwollen über ihr patriarchalisch bevormundetes Geschlecht, nicht über die Natur als solche. Im selben Sinn, mit fast den gleichen Worten, fordert in den »Feldblumen« Albrecht die Emanzipation der Frau als Voraussetzung für die Entfaltung und Vollendung der weiblichen Natur 1 0 . Daher wird Cornelia wie Angela als das »schönste, großherzigste« Weib, als eine Gestalt »voll jener hohen Grazie der Vornehmen, aber auch voll jener höheren der Sitte, die den Menschen so schön macht«, charakterisiert. Andererseits ist dieselbe Cornelia das »leichtsinnigste« Weib, führt ein »den Männern nachgebildetes Leben«, will sich »verblendet über die Natur erheben«, spielt mit tausend Männerherzen und opfert ihre Liebe dem Narzißmus, die gefeiertste Schönheit der großstädtischen Salons zu sein. Nachdem Stifter in den »Feldblumen« den Typus der Emanzipierten in Gestalt der Angela uneingeschränkt positiv dargestellt und idealisiert hatte, stellt sich die Frage, weshalb er ihn im »Condor« derart widerspruchsvoll charakterisiert. Da die in den »Feldblumen« enthaltene scharfe Kritik der konventionellen Mädchenerziehung auch noch nach dem »Condor«, in der Urfassung von »Abdias« 11 (1842) und in »Wien und die Wiener« 12 (1843) wiederkehrt, ist nicht anzunehmen, daß er das Emanzipationsideal der »Feldblumen« im »Condor« völlig preisgegeben hat. Es kommt vielmehr durch die positive Komponente im Charakterbild Cornelias zur Geltung. Indessen hat Stifter aber erkannt, daß in der »seit Jahrtausenden« vom patriarchalischen Herrschaftsprinzip bestimmten Klassengesellschaft die Emanzipation der Frau die Form einer Angleichung an den Mann annimmt, die unter dem Schein einer Befreiung die weibliche Natur nicht weniger unterjocht als der traditionelle Patriarchalismus. Diese falsche Form der Emanzipation, das »den Männern nachgebildete Leben«, repräsentieren die negativen Charakterzüge Cornelias. Wenn sich in ihr eine wahre und eine falsche Form des emanzipierten Bewußtseins ununterscheidbar verquicken und am Ende sich die falsche als eine Erscheinungsform des »unglücklichen Bewußtseins« (Hegel) erweist, so drückt sich darin die Erfahrung aus, daß in der patriarchalischen Gesellschaft das

»« U I, 76 u. 94 « U II, $0 12 GW VI, 93: »Da Erziehung dodi offenbar nichts ist als Abriditung des Mannes zu Amt und Geschäft, des Mädchens zu einem Manne . . . «

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Emanzipationsideal der »Feldblumen« eine unrealisierbare Utopie bleibt und die Verhaltensweisen der Menschen bis in ihre Liebesbeziehungen hinein weniger von ihrem Bewußtsein und ihrem Bildungsgrad als von der objektiven Macht des Gesellschaftszustands bestimmt werden. Angelpunkt der Handlung im engeren Sinn ist Cornelias Teilnahme an der Ballonfahrt. Auch sie ist doppeldeutig. Gustav mißbilligt die bloße Tatsache, daß Cornelia das Abenteuer wagt, als eine Demonstration ihres »verblendeten«, über die Natur ihres Geschlechts hinausgehenden Freiheitsstrebens. Der Erzähler stellt jedoch nicht ihre Beteiligung an dem Unternehmen, sondern ihr Versagen dabei negativ dar. Er identifiziert sich mit dem Naturforscher 13 und dessen Ausspruch: »Das Weib erträgt den Himmel nicht.« Das Diktum faßt zusammen, was Stifter 1837 in einem Brief an seinen Freund Sigmund von Handel geschrieben hatte: . . . daß idi ferner ein N a r r bin, der sich nur ein einzig M a l recht überschwenglich mit universumsgroßem Herzen werfen möchte an ein eben solches unermeßlidies Weiberherz, das fähig wäre, einen geistigen Abgrund aufzutun, in den man sich mit Lust und Grausen stürze - und eine Trillion Engel singen hörte - Jesus Maria! ich könnte midi mit ihr A r m in A r m in den N i a g a r a f a l l stürzen aber sie sind Gänse, die derlei für Fantasterei ausgeben - und bei Ypsilanti nette Schmiseln kaufen. (Briefwechsel I, 72, Prag 1916)

Das gleiche Wunschbild einer »Ausgezeichneten ihres Geschlechts« hat Albrecht in den »Feldblumen«: er würde sie vor ein Teleskop führen, schreibt er an seinen Freund Titus, , . . und zeigte ihr die Welten des Himmels, und ginge von einer zur andern, bis auch sie ergriffen würde v o n dem Schauder dieser Unendlichkeit - und dann fingen begeisterte Gespräche an, und w i r schauten gegenseitig in unsere Herzen, die audi ein A b g r u n d sind, wie der Himmel, aber audi einer v o l l lauter Licht und Liebe ( U I, 3$)

In der Imagination beider Briefschreiber ist das Universum, ist der »Abgrund« des Himmels Bild für eine Unendlichkeit, die in der Negativität des »Schauders« ebenso positiv verstanden sein will wie die Idee des Unendlichen in der Philosophie des Idealismus und der Romantik. In der übereinstimmenden Bildersprache beider Briefe gesprochen, ist Cornelia dem Wagnis des A u f stiegs in den Weltraum, als welcher die Ballonfahrt fiktiverweise dargestellt wird 1 4 , nicht gewachsen, weil sie kein »universumsgroßes Herz« hat, »das fähig wäre, einen geistigen Abgrund aufzutun«. Ihr körperliches Versagen steht für ein geistiges. 13

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vgl. dessen Charakterisierung in U I, 15: »der würdevolle Lehrer«, »strahlendes A n t litz«, »wie jene alten Magier« - ähnlich noch in G W I, 23: »ein Blick v o l l strahlenden Zornes und ein tief entrüstetes Antlitz«. D i e Höhe, in die sie führen soll, w a r um 1840 schlechterdings illusorisch. Ein Ballon erreichte damals eine Flughöhe von etwa 3-4000 m, während die optischen Phänomene, die Stifters Phantasmagorie als stoffliches Substrat dienen, erst außerhalb der Erdatmosphäre, wahrnehmbar sind.

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Darauf weist auch die leitmotivische Funktion und Bedeutung, die das Bild des Himmels in jedem der vier Kapitel hat. Das erste schließt mit dem Satz: Mit seltsamen Gefühlen des Unwillens und der Angst legte ich das Fernrohr weg und starrte in die Lüfte, bis endlich eine andere, aber glühende Kugel emporstieg, und ihr strahlendes Licht über die große heitere Stadt ausgoß, und auf meine Fenster, und auf einen ungeheuren, klaren, heitern, leeren Himmel. (GW I, 15)

Das dominierende, in der Urfassung gesperrt gedruckte leer hat im Kontext den Sinn einer expressiven Metapher, die den ungeheuren Himmel schon hier zum leeren Abgrund macht, zum vorausdeutenden Bild für Gustavs unerfüllt bleibende Liebe15. — Im zweiten Kapitel gipfelt die Schilderung der Ballonfahrt in der Beschreibung eines Himmels, der sich in einen »schwarzen Abgrund« verwandelt hat. Es ist der Himmel, den Cornelia »nicht erträgt«. — Im dritten Kapitel, auf dem Höhepunkt des Gesprächs zwischen Gustav und Cornelia, im Liebesbekenntnis beider, gebraucht Gustav das Bild des Himmels ganz im enthusiastischen Briefstil Stifters und Albrechts in den »Feldblumen«: . . . welch ein wundervoller Sternenhimmel in meinem Herzen ist, so selig, leuchtend, glänzend, als sollt' ich ihn in Schöpfungen ausströmen, so groß, als das Universum s e l b s t . . . (GW I, 31)

Hier steht das Bild des unendlichen Himmels wieder für das »universumsgroße Herz«, dem die Liebe den »Schauder« und das Bewußtsein einer Freiheit gibt, die es über die Enge der irdischen Existenz, d. h. auch über die Barrieren und Konventionen, welche die empirischen Subjekte voneinander trennen, hinausträgt und es zu einem »geistigen Abgrund« macht, der den physischen, die Unendlichkeit des Alls, »erträgt«. Den Andeutungen des Schlußkapitels zufolge ist es dieser Himmel, den Cornelia nicht erträgt, da sie ihre Liebe ihrer gesellschaftlichen Rolle opfert. — Am Ende des letzten Kapitels, im Schlußsatz der Erzählung, heißt es, Gustav sei in die Urgebirge der Cordilleren gegangen, um dort »neue Himmel« für sein schaffendes Herz zu suchen. Auch hier erhält das Bild des Himmels die positive metaphorische Bedeutung zurück, die es in Stifters Brief und in den »Feldblumen« hat. Nach allem ist in der Charakterisierung Cornelias und in der Motivation ihres Handelns der Hauptwiderspruch zu bemerken, daß sie, um in ihrer Liebe nicht zu versagen, zwei einander ausschließende Forderungen zu erfüllen hätte: Der metaphorischen Bedeutung und leitmotivischen Funktion des Himmels zufolge hätte sie den Himmel zu »ertragen«; was zur Voraussetzung hat, daß sie den Ballonflug wagt. Dem Anspruch Gustavs zufolge, des idealisierten Helden der Erzählung, dürfte sie jedoch an der Ballonfahrt gar nicht teilnehmen. Das heißt, die erzählerisch objektivierten Intentionen des Autors, der sich sowohl mit Gustav als auch, wie der Schluß zeigt, mit dem Ausspruch des

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Klar und heiter bezeichnen in diesem Zusammenhang, wie öfter bei Stifter, die Gleichgültigkeit des Himmels gegenüber dem Seelenzustand des Betrachters.

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Naturforschers identifiziert, widersprechen sich. Cornelia verkörpert einerseits den berechtigten Protest der weiblichen Natur gegen die patriarchalische Konvention, deren Zwangsmechanismen für naturgegebene gehalten werden, und ist deshalb fähig, ohne Rücksicht auf den Standesunterschied, sich zu ihrer Liebe zu bekennen (»Seele kann nur Seele lieben, Genie nur Genie entzünden«), andererseits weist der Erzähler sie in die angeblich natürlichen Schranken ihres Geschlechts, dem der geniale Aufschwung in die höheren Regionen versagt sei, und läßt sie sich selbst anklagen, daß sie sich »verblendet über die Natur erheben wollte« 18 . Der Charakter und das Verhalten Gustavs scheinen auf den ersten Blick weniger widerspruchsvoll, erweisen sich aber indirekt, in der Analyse der entscheidenden Hauptvorgänge und der zentralen dichterischen Bilder, als ebenso zwiespältig und paradox. Da der Maler und Privatlehrer, Hauptfigur und stilisiertes Selbstporträt Stifters, ohne Schuld in den dargestellten Konflikt geraten und, wie es am Schluß heißt, ohne Schuld aus ihm hervorgehen soll, wird er tendenziell nur positiv charakterisiert. Dieser Tendenz widerstreitet jedoch die Darstellung selber in wesentlichen Zügen. Wenn angesichts der unzureichenden Motivierung des unglücklichen Endes der Liebesgeschichte — »Welch ein Glühen, welch ein Kämpfen zwischen beiden war, wer weiß es?«17 — von individueller Schuld überhaupt die Rede sein kann, so liegt sie nach dem, was nicht behauptet, sondern erzählerisch realisiert wird, bei Gustav, denn er ist es, der unmittelbar nach dem Liebesbekenntnis beider die Geliebte verläßt, um zu »ringen«, bis er, der Künstler, »geistesgroß und tatengroß vor allen Menschen der Welt dastehe«, nicht anders als Felix im »Haidedorf«, von dem Stifter in einem Brief an seinen Bruder Anton schreibt: »Es ist ein Mann, der aus Liebe zur Dichtkunst die Liebe seiner Braut o p f e r t e . . ,«18. Anders aber als Felix kehrt der von der großstädtischen Gesellschaft und Zivilisation Enttäuschte, dessen künstlerische Existenz und Geltung gleichwohl von den großstädtischen Galerien und Salons abhängen, nicht in die heimatliche Natur zurück, sondern begibt sich in die »Urgebirge der Cordilleren«. Veranschaulicht der Gegensatz zwischen der exotischen Wildnis der Cordilleren und dem europäischen Zivilisationszentrum Paris im Schlußkapitel noch einmal deutlich die antithetische Spannung von Natur und Gesellschaft, die das hintergründige Thema des »Condor« ist, so kommt dem Bild der Cordilleren im Bildgefüge und Sinnzusammenhang der ganzen Erzählung noch eine andere Bedeutung zu. Denn die Cordilleren sind zugleich die geographische Heimat des Kondors, des Geiers, auf dessen Name der Ballon getauft ist und mit dem er wiederholt in durchaus positivem Sinn verglichen wird. Die kosmische Urlandschaft, in der die »Condor«-Fahrer die »Urgewalt« des Raumes erfahren, steht in

" 18

U I, 1 9 ; in der Studienfassung: »über mein Geschlecht« ( G W I, 30) G W I, 33 Briefwechsel I, 129

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metaphorischem Bezug zu den »Urgebirgen«, der Heimat des Kondors und Wahlheimat Gustavs. Die Analogie und Korrespondenz beider Bilder läßt sowohl die Ballonfahrt als auch das Verhalten Gustavs während und nach diesem Unternehmen in einem anderen Licht erscheinen, als sie sich darbieten, •wenn solche indirekten, dem Stifterschen Verfahren des »verschweigenden Andeutens« sich verdankenden Bezüge nicht registriert werden. Der Sinnbezug zwischen der kosmischen und der exotischen Urlandschaft wird durch das Bild des Geiers vermittelt. Daß nach dem Kondor nicht nur der Ballon, sondern nach diesem wieder die ganze Erzählung genannt ist, verlangt eine Deutung des Bildes. Bei Stifter war es bereits ein Topos. Aus der Sturm-und-DrangLyrik Goethes, aus den Gedichten »Adler und Taube«, »Ganymed«, »Harzreise im Winter« waren ihm Adler und Geier als Sinnbilder des Genius vertraut 19 . Hinter dem Bild des Kondors steht das des Geiers am Anfang der »Harzreise im Winter«: Dem Geier gleich, Der auf schweren Morgenwolken Mit sanftem Fittich ruhend Nach Beute schaut, Schwebe mein Lied. Denn ein Gott hat Jedem seine Bahn Vorgezeichnet.. .

Im Vergleich des Liedes sowohl wie des Dichters mit dem Geier und seiner Bahn figuriert dieser als Sinnbild des dichterischen Genius, des Goetheschen Daimonion. Die dem Geniekult der Sturm-und-Drang-Zeit entspringende Adler- und Geiersymbolik des jungen Goethe entwickelte die Bedeutungsmomente der Einsamkeit, Erhabenheit, »Gefahr und Größe«, die diesen Bildern auch beim frühen Stifter anhaften. In »Wien und die Wiener« gebraucht er, ähnlich wie Nietzsche später, den Bildgegensatz von Herdentieren und einsamem Geier oder Adler zur kritischen Charakterisierung des »heutigen Zeitgeistes«20. In »Zwei Schwestern« wird die symbolische Bedeutung, in der das Bild des Adlers topos-artig für das musikalische Genie der Camilla steht, sogar ausgesprochen: »Der Adler ober ihr war das Sinnbild der Öde, Einsamkeit und Kraft« 2 1 . Im »Hagestolz« gibt sich die Lebensphilosophie des Oheims als eine Raubvogelphilosophie, in welcher Geier, Adler, Falke das unentstellte, sich frei entfaltende Leben dessen versinnbildlichen, der »um sein selbst willen da ist« und »alle seine prachtvollen Kräfte spielen« läßt 22 ; der Hagestolz vergleicht

w »Adler und Taube« hat Stifter in sein »Lesebuch zur Förderung humaner Bildung« aufgenommen. 20 G B V I , 2 1 4 21 U l l i , 156 U II, 367

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sich selbst mit einem Geier und seinen Neffen mit einem Falken, den er gerne »zu einem Adler gemacht hätte, der die Welt in seinen Fängen trägt, und sie, wenn es sein muß, ruhig in den Abgrund wirft« 28 . Im »Hochwald« symbolisiert der Geier das genialische Streben »nach Unerreichbarem«, das Ronald — wie Gustav im »Condor« — die »grenzenlosen Wildnisse« Amerikas aufsuchen läßt 24 . An der überwiegend positiven Bedeutung und Funktion des Geiermotivs in Stifters »Studien« gibt es also keinen Zweifel. Der »Condor« macht keine Ausnahme davon, sondern den Anfang damit. Wenn der Ballon nach dem exotischen Riesengeier genannt ist und auf emphatische Weise mit ihm verglichen wird — »wie mit den prächtigen Schwingen seines Namensgenossen hob er sich langsam und feierlich in den höchsten Äther« 25 —, so kann das Unternehmen des Ballonaufstiegs in den Weltraum nicht von vornherein nur negativ, als »vermessenes Wagnis« und »nihilistisches Abenteuer« 28 interpretiert werden. Es hat vielmehr entsprechend der Analogie von kosmischem und geistigem Abgrund in Stifters Brief und in den »Feldblumen«, entsprechend der im »Condor« selber zu beobachtenden leitmotivischen Funktion der Metapher des Himmels als Abgrund im positiven wie im negativen Sinn und entsprechend der damit übereinstimmenden Geiersymbolik zunächst einmal den positiven symbolischen Charakter eines Aufschwungs des Geistes. Es symbolisiert demzufolge, obwohl Gustav nicht daran teilnimmt und Cornelias Teilnahme verurteilt, paradoxerweise auch Gustavs eigenes genialisches Streben, »bis er geistesgroß und tatengroß vor allen Menschen der Welt dastehe«. Dieser latente symbolische Bezug tritt am Ende der Erzählung hervor, wenn Gustav sich in die Cordilleren, die Heimat des Kondors, begibt, um dort »neue Himmel« zu suchen. Der Widerspruch, daß Gustav die Ballonfahrt als leichtsinniges Unternehmen verurteilt, während sie u. a. sein eignes Streben versinnbildlicht 261 , geht auf die beiden unvereinbaren Forderungen zurück, die er nach dem Willen des Autors zu erfüllen hat: er soll das Wagnis eines Lebens für die Kunst auf sich nehmen, d. h. im Konfliktfall »die Liebe seiner Braut opfern«, und er soll dennoch schuldlos aus dem Konflikt hervorgehen. Seiner — nur behaupteten — Schuldlosigkeit zuliebe mußte das Moment des genialisch Abenteuerlichen in seinem Wesen unterdrückt werden und durfte erst im Schlußbild der Erzählung zum Vorschein kommen. Aus dem gleichen Grund muß er auch das Wagnis des Ballonaufstiegs verurteilen, obwohl es aus demselben Geist unternommen wird, aus dem er sich in die »Urgebirge der Cordilleren« begibt.

a> U II, 3 66 G W I, 2 6 1 , 1 6 7 , 1 6 9 f. » G W I, 2 1 28 W . H . Rey: Das kosmische Erschrecken in Stifters Frühwerk, in: Die Sammlung, Göttingen 1953, Jg. 8, H . 1, S. 9 f. 2Sa vgl. hierzu auch Friedrich Wilhelm Korff: Diastole und Systole, Zum Thema Jean Paul und Adalbert Stifter, Bern 1969, S. 1 1 3

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Das unterdrückte, im Interesse seiner Rechtfertigung und Idealisierung verschleierte Daimonion des Künstlers hat der Autor von seinem Helden abgespalten und als dessen alter ego in der Figur des jungen Lords, der das ganze Unternehmen leitet, personifiziert. Sie ist nicht bloße Staffage, sondern erweist sich trotz ihrer Skizzenhaftigkeit in den angedeuteten Wesenszügen als eine Dublette des Malers 27 . In der bedrohlichen Lage der Ballonfahrer auf dem Höhepunkt des Flugs verhält sich der Lord wie der »Schiffer« in Goethes »Seefahrt« 28 , d. h. wie der von seinem Ingenium besessene und getriebene Dichter oder Künstler: » . . . nur der junge, schöne, furchtbare M a n n . . . schoß zuweilen einen majestätischen Blick in die großartige Finsternis und spielte dichterisch mit Gefahr und Größe« 29 . Und wenn er erst »nach langer, langer Zeit der Vergessenheit« die ohnmächtig gewordene Cornelia bemerkt, so verhält er sich dabei ebenso egozentrisch wie Gustav unmittelbar nach der Liebesszene. Die Charakterisierung des Lords als eines »schönen, furchtbaren« Mannes, der »majestätisch« in die Finsternis blickt, deckt sich mit der des Malers als eines »starken, verachtenden« Menschen im Schlußsatz der Erzählung. Wie dieser um künftige Geistes- und Tatengröße ringen will, spielt jener in Gedanken mit »Gefahr und Größe«. Beide nehmen die Philosophie des gefährlichen Lebens vorweg, die der Hagestolz verkündet: »Das Leben ist ein schillernd Ding, in dessen Abgrund man sich stürzt — und noch im Abgrund ist es schön«30. Die ästhetische Rechtfertigung des Lebens als solchen mit seinen »Abgründen«, auf die man im »Condor« und »Hagestolz« stößt, findet sich bei Nietzsche, der ein begeisterter Leser nicht erst des »Nachsommer«, sondern schon der »Studien« war, in seiner Konzeption des Dionysischen wieder. Stifter hat zwar die Figuren, denen er diese Lebensphilosophie zuschrieb, kritisch dargestellt, aber die kritische Distanz des Autors wird im »Condor« durch die am Ende hervortretende Identität des idealisierten Helden mit seiner dämonisierten Dublette aufgehoben und im »Hagestolz« dient sie der Abschirmung der unzeitgemäßen Gedanken des Autors über Familie, Staat und Erziehung. Die Figur des Lords, der die »großartige Finsternis« des mit den Schrecken der Vernichtung drohenden Alls ästhetisch genießt und sich selbst in ihr spiegelt, dürfte eine Anspielung auf Lord Byron sein, dessen Gedicht »Die Finsternis« Stifter in seinem Aufsatz über die Sonnenfinsternis von 1842 erwähnt 31 , und

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Zu demselben Ergebnis gelangt aufgrund anderer Voraussetzunggen Alfred Wintersteins psychoanalytische Interpretation des »Condor« in: Adalbert Stifter, Persönlichkeit und Werk, Wien 1946, S. 64 f., S. 6$ Anm. 23 28 Goethes Sämtliche Werke, Jubiläums-Ausgabe, Stuttgart o. J. Bd. 2, S. $6, vgl. besonders die Sdilußzeilen: Herrschend blickt er auf die grimme Tiefe Und vertrauet, scheiternd oder landend, Seinen Göttern. » GW I, 22 »0 U l i , 368 - s . a . o. S. 9 « GW VI, J91

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auf eine im gebildeten Bürgertum des Wiener Vormärz verbreitete Malaise: den durch die Lektüre Byrons, Heines und Lenaus genährten Weltsdimerz und einen ihn begleitenden Geniekult, Zeitsymptome, über die sich Stifter in »Wien und die Wiener« 32 ironisch ausläßt. Die Einsicht in die vom Widerstreit zwischen Natur und großstädtischer Zivilisation bestimmten Zwiespältigkeiten, Gegensätze und Widersprüche in der Typisierung und Charakterisierung der Hauptfiguren sowie in der Motivation ihres Handelns ist die Voraussetzung für eine adäquate Interpretation der Darstellung der Ballonfahrt, auf die der Titel der Erzählung als auf ihr Zentrum hindeutet. Denn in das Bild der kosmischen Natur, um dessen Deutung es dabei geht, sind jene Ambivalenzen und Antinomien hineinprojiziert. Sie machen es höchst zweideutig. Vor der Tendenz, den als Aufstieg in den kosmischen Raum geschilderten Ballonflug aus der Sicht des Helden, mit dem sich der Erzähler identifiziert, nur negativ zu beurteilen, sollten zunächst die im Text sich findenden Hinweise und Bezüge bewahren, die das Unternehmen unter einem positiven Aspekt erscheinen lassen: die Geiersymbolik und die leitmotivische Funktion der Metapher des Himmels im ursprünglidi positiven Sinn. Andererseits enthält das Beziehungsgeflecht zwischen den Figuren, dem Handlungszusammenhang und dem Bildkomplex der Ballonfahrt auch bereits negative Aspekte. Der wichtigste ergibt sich aus der kritischen Charakterisierung der drei Ballonfahrer. Denn wie der Lord und Cornelia hat auch der Naturforscher negative Züge. In der Urfassung ist er eine eindeutig positive Figur: »der würdevolle Lehrer des jungen Mannes in den Naturwissenschaften«, der bei seinem Ausspruch über die weiblidie Natur »ein strahlendes Antlitz, wie die alten Magier« zeigt33. In der Studienfassung ist von diesen idealisierenden Kennzeichnungen nur »ein Blick voll strahlenden Zornes, und ein tief entrüstetes Antlitz« 34 übriggeblieben, hinzugekommen aber die Bemerkung, daß an dem mit Messungen beschäftigten »alten Mann«, wie er hier nur noch genannt wird, während der Schrecknisse der Fahrt »nicht ein einzig Zeichen des Affectes bemerkbar« gewesen sei. Die Retuschen reichen nicht aus, um aus einer positiven Figur eine negative zu machen, sie lassen jedodi die Absicht erkennen, die Rolle, die der Naturforscher bei dem Unternehmen spielt, der des Lords und Cornelias anzugleichen. Die ihm verliehene Affektlosigkeit deutet darauf hin, daß der nur am technischen Apparat und der naturwissenschaftlichen Ausbeute der Unternehmung Interessierte für die Schrecken und Gefahren des »Abgrunds«, nicht nur des kosmischen, so blind ist wie jene beiden »verblendet«. Die Änderung macht die Zweideutigkeit der Metaphorik des Himmels als Abgrunds und den Knoten der Widersprüche greifbar, die durch die Verknüpfung der Ballonfahrt mit der übrigen Handlung hervorgerufen und durch die 88

vgl. die Aufsätze »Die Streichmacher« G W VI, 90 und »Wiener Salonszenen« G W VI, 241 f.; über Heines >Salon< G W VI, 227.

»» U I , IJ

M G W I, 23

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nachträgliche Angleichung der Rollen der drei Ballonfahrer keineswegs gelöst werden. Nur eines bewirkt sie: das ganze Unternehmen erscheint jetzt unter einem kritischeren Aspekt. Jede dieser Figuren repräsentiert nun eine negative Tendenz des Zeitgeistes um 1840: der Lord einen egozentrischen Ästhetizismus, den zur Mode gewordenen Weltschmerz mit dem ihn begleitenden Geniekult, Cornelia die falsch verstandene Emanzipation der Frau, der Naturforscher den sich verselbständigenden, den Menschen gegenüber gleidigültigen naturwissenschaftlich-technischen Fortschritt.

IL Als Verbildlichung der Spannungen und Gegensätze in und zwischen den Hauptfiguren erweist sich das Bild der Natur, das im Mittelpunkt der Schilderung der Ballonfahrt steht, auch in der Darstellung als zweideutig und widerspruchsvoll. Im Unterschied zur pantheistisch verklärten Natur in jenen Partien seines Oeuvre, die Stifter den fatalen Ruf eines »Naturdichters« eingetragen haben, handelt es sich hier um eine dem Menschen entfremdete, dämonisierte Natur. Da deren Bild zu einem zentralen, häufig variierten Motiv der »Studien« und »Bunten Steine« wird, sind die Fragen nach dem dichterischen Verfahren, durch das es zustande kommt, nach den Intentionen, die ihm eingelegt sind, und nach seiner erzählerischen Funktion für die Erschließung der bedeutendsten Erzählungen Stifters relevant. Die Darstellung der Verwandlung der gewohnten und vertrauten Welt in eine unheimliche und bedrohliche beginnt im »Condor« mit den Worten: »alles war fremd« 35 , und die einzelnen Phänomene dieses Vorgangs werden als fremd, wunderlich, sonderbar, unbekannt gekennzeichnet. Auch wo Stifter den analogen Vorgang in anderen Erzählungen darstellt, spricht er von der unheimlich gewordenen Natur als von einer »fremden« Welt 36 , in der »Sonnenfinsternis« von 1842 sogar von einem »Entfremden unserer Natur« 37 , und bei der Schilderung der Phänomene kehren fast stereotyp die Epitheta fremd, seltsam, sonderbar und ihnen sinnverwandte wieder. Man kann nicht umhin, die von Stifter selbst ständig als ein »Fremd«-werden signalisierte Veränderung der Natur als Entfremdung zu bezeichnen, wie strapaziert dieser Begriff heute auch sein mag. Hinsichtlich des »Condor« liegt es aber auf der Hand, daß das Bild der ins Unheimliche verfremdeten Natur in seinen wesentlichen Zügen sich der dichterischen Imagination verdankt, Phantasmagorie bleibt38, wenn es sich auch auf damals bekannte physikalische Fakten stützt. Was der Erzähler scheinbar ob3

« GW I, 20 »alles fremd, alles seltsam und dräuend« (GW I, 247, Hochwald) - »eine fremde, durchaus neue Welt, an die er sich erst gewöhnen mußte« (U II, 322, Hagestolz) GW VI, 589 38 s. a. o. S. 6, Anm. 14 34

4i8

Kurt Mautz

jektiv als einen Entfremdungsvorgang beschreibt, ist in Wahrheit das Ergebnis eines künstlerischen Verfahrens, das sich bestimmter sprachlicher Darstellungsmittel und Ausdrucksformen bedient, um die Naturphänomene zu verfremden. Sie seien in einem Abschnitt aus der Schilderung der Ballonfahrt untersucht, der die Entfremdung der kosmischen N a t u r zum Gegenstand hat: D e r erste Blick C o r n e l i a s w a r w i e d e r a u f die E r d e - diese aber w a r nicht m e h r das w o h l b e k a n n t e V a t e r h a u s : in einem f r e m d e n , g o l d n e n Rauche l o d e r n d , t a u m e l t e sie gleichsam z u r ü c k , a n ihrer äußersten Stirn das M i t t e l m e e r w i e ein schmales, gleißendes G o l d b a n d t r a g e n d , ü b e r s c h w i m m e n d in u n b e k a n n t e phantastische Massen. Erschrocken w a n d t e die J u n g f r a u ihr A u g e z u r ü c k , als h ä t t e sie ein U n g e h e u e r erblickt - a b e r auch u m das Schiff h e r u m w a l l t e n w e i t h i n w e i ß e , d ü n n e , sich d e h n e n d e u n d regende Leichentücher - v o n d e r E r d e gesehen — Silbersdiäfchen des H i m m e l s . - Z u diesem H i m m e l f l o h nun ihr Blick - aber siehe, er w a r g a r nicht m e h r d a : das g a n z e H i m m e l s g e w ö l b e , die schöne b l a u e G l o c k e unserer E r d e , w a r ein g a n z schwarz e r A b g r u n d g e w o r d e n , o h n e M a ß u n d G r e n z e in die T i e f e gehend, - jenes L a b s a l , das w i r unten so g e d a n k e n l o s genießen, w a r hier oben v ö l l i g v e r s c h w u n d e n , die F ü l l e u n d F l u t des Lichtes a u f d e r schönen E r d e . W i e z u m H o h n e , w u r d e n a l l e Sterne sichtbar — w i n z i g e , o h n m ä c h t i g e G o l d p u n k t e , v e r l o r e n durch d i e Ö d e gestreut - und endlich die S o n n e , ein drohendes G e s t i r n , o h n e W ä r m e , o h n e S t r a h l e n , eine scharfgeschnittene Scheibe aus w a l l e n d e m , b l ä h e n d e m , w e i ß g e s c h m o l z e n e m M e t a l l e : so g l o t z t e sie m i t v e r n i c h t e n d e m G l ä n z e aus d e m Schlünde - u n d doch nicht einen H a u d i des Lichtes f e s t h a l t e n d in diesen wesenlosen R ä u m e n ; n u r a u f d e m B a l l o n und d e m Schiffe starrte ein grelles Licht, die Maschine gespenstig v o n der u m g e b e n d e n N a c h t a b h e b e n d u n d die Gesichter t o t e n a r t i g zeichnend, w i e in einer laterna magica39.

D a ß die Veränderung der gewohnten und vertrauten Welt vorwiegend mit den Augen Cornelias gesehen wird, bedeutet nicht, daß der Erzähler sich mit der Darstellung der kosmischen Natur als einer fremden, bedrohlichen Welt nicht identifiziere 40 , daß er mit ihr nur die seelische Verfassung Cornelias habe veranschaulichen wollen. Bei der Wiedergabe dessen, was Cornelia sieht, handelt es sich ja nicht um einen inneren Monolog oder erlebte Rede, sondern alles, was aus ihrer Sicht gesehen ist, beschreibt der Erzähler als objektives Phänomen. Seine Perspektive und die seiner Figur decken sich. Im zitierten Text ist dies aus dem letzten Satz ersichtlich, in dessen Schlußteil der Ballon und seine drei Insassen von außen, aus der Perspektive des Erzählers, beschrieben werden, ebenso aus der darauf folgenden Schilderung der weiteren Fahrt, in der die Darstellung der entfremdeten kosmischen Natur durch den Erzähler sich z u dem Schlußbild steigert: » . . . und wenn das Schiff sich von der Sonne wendete, so war nichts, nichts da, als die entsetzlichen Sterne, wie Geister, die bei Tage umgehen« 41 . Die Sprache, in der Stifter den ganzen Entfremdungsvorgang und seine Phänomene beschreibt, unterscheidet sich von der des Berichts und der Betrachs» G W I, 21 f . - H e r v o r h e b u n g e m e n d i e r t a u s : A d a l b e r t S t i f t e r s sämtliche W e r k e , hrsg. 4»

«

v . A u g . Sauer, R e i c h e n b e r g 1940. B d . 1, S. 21 W . H . R e y , 1. c., S. 10 f . G W 1,22

Natur und Gesellschaft in Stifters »Condor«

419

tung in den übrigen Partien durch ein Pathos, aus dem die Faszination des Erzählers durch den Gegenstand seiner Darstellung spricht. In Hegels Ästhetik heißt es, Pathos als der »wesentliche vernünftige Gehalt, der kn menschlichen Selbst gegenwärtig ist und das ganze Gemüt erfüllt und durchdringt«, sei »auf die Handlung des Menschen« zu beschränken, die Natur dürfe nur als »untergeordnetes Beiwerk« auftreten, »um die Wirkung des Pathos zu unterstützen«, und müsse deshalb »wesentlich als symbolisch gebraucht werden und aus sidi das Pathos widertönen lassen, welches den eigentlichen Gegenstand der Darstellung ausmacht«42. Im »Condor« verhält es sich umgekehrt: das Pathos, das als »ein wesentlicher Gehalt der Vernünftigkeit und des freien Willens« 43 in den Charakteren und Handlungen der Hauptfiguren nicht mehr zur Darstellung kommen kann, weil sie in sich widerspruchsvoll und einem undurchsichtigen Schicksalszwang ausgeliefert sind, ist in das Bild der verfremdeten kosmischen Natur eingewandert, die symbolisch nicht mehr als untergeordnetes Beiwerk gebraucht wird, sondern den zentralen Gegenstand der Darstellung ausmacht. Die Ausdrudisformen dieses Pathos verändern den Sprachstil so sehr, daß man von einem Stilwechsel sprechen kann. In der Struktur sowohl ihrer Bilder und Metaphern wie ihrer syntaktischen Formen nimmt die Sprache Stifters hier Stilprinzipien vorweg, die erst in der Dichtung der Moderne, in der Lyrik und lyrischen Prosa Baudelaires, Rimbauds, Heyms und Trakls entwickelt wurden. Das auffälligste dichterische Mittel, dessen sich Stifter bedient, um die Verwandlung der gewohnten und vertrauten Welt in eine fremde und unheimliche darzustellen, ist das einer expressiven Verfremdung der Realität durch eine dämonisierende Metaphorik. Expressiv ist deren antithetische Struktur: der Gegensatz von dynamisierenden und mortifizierenden Verbalmetaphern, der zum Oxymoron tendiert. Die dynamisierenden lassen die leblose Natur erschreckend lebendig erscheinen, die mortifizierenden die lebendige tödlich erstarren. Unter jenen spielt die wichtigste Rolle die mythisierende — nicht im konventionellen Sinn mythologisierende — Personifikation bzw. personifizierende oder auch animalisierende Metapher: die Erde taumelte zurück, an ihrer Stirn ein Goldband tragend, und gleicht einem erschreckenden Ungeheuer; Wolken sind sich dehnende und regende Leichentücher; die Sonne ist ein drohendes Gestirn und glotzt mit vernichtendem Glänze; der schwarze Himmel ist ein Schlund; die entsetzlichen Sterne sind wie Geister, die bei Tage umgehen. Die mortifizierende Metapher steht als Ausdrucksform im Gegensatz zur dynamisierenden, hier aber ist sie im Ausdruckscharakter zugleich deren Komplement und bezieht sich auf dieselben Phänomene: Wolken sind auch Eisländer, die dem Luftschiff entgegenstarren, die Sterne ohnmächtige Goldpunkte; der Himmel ist ein schwarzer Abgrund, die Sonne eine scharfgeschnittene Scheibe; ein grelles Licht starrt, die Gesichter totenartig zeichnend. Wie die beiden kontrastie42

Hegel: Ästhetik, hrsg. v. Friedr. Bassenge, Berlin 1945, S. 249 « Hegel, 1. c. ibd.

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renden Metaphernarten in einer dissonanten Bildfügung, die bis zum Oxymoron geht, ineinsgesetzt werden können, zeigt das dämonisierte Bild der Sonne mit seiner Ballung sich steigernder gegensätzlicher Attribute: — und endlidi die Sonne, ein drohendes Gestirn, ohne Wärme, ohne Strahlen, eine sdiarfgeschnittene Scheibe aus wallendem, blähendem, weißgeschmolzenenem Metalle: so glotzte sie mit vernichtendem Glänze aus dem Schlünde -

Eine scharfgeschnittene Scheibe und — wallendes, blähendes ... Metall schließen sich, wörtlich genommen, gegenseitig aus; ebenso ohne Strahlen und — mit vernichtendem Glänze-, und ohne Wärme verhält sich zu weißgeschmolzen wie Kälte zu Hitze; der Erstarrungsmetapher scharfgeschnittene Scheibe steht die dämonisierende Tiermetapher glotzte gegenüber. Ein diesen Stilmitteln entsprechendes Darstellungsmittel ist der Perspektivenkontrast, der ein und dasselbe Phänomen gleichzeitig von unten, aus der gewohnten Sicht der Erdbewohner, und von oben, aus der ungewöhnlichen Sicht der Ballonfahrer, zeigt: Die Schiffenden stiegen eben einem Archipel von Wolken entgegen, die der Erde in demselben Augenblicke ihre Morgenrosen sandten, hier oben aber weiß schimmernde Eisländer waren, in den furchtbar blauen Bächen der Luft schwimmend, und mit Schlünden und Spalten dem Schiffe entgegenstarrend44. . . . aber auch um das Schiff herum wallten weithin weiße, dünne, sich dehnende und regende Leichentücher - von der Erde gesehen Silberschäfchen des Himmels45.

. . . das ganze Himmelsgewölbe, die schöne blaue Glocke unserer Erde, war ein ganz

schwarzer Abgrund

geworden, ohne Maß und Grenze in die Tiefe gehend46.

Der desillusionierende Perspektivenkontrast ist die realistische Einkleidung eines expressiven Bildkontrastes {Silberschäfchen — Leichentücher)47. Außerdem weist er ständig auf die Entfremdung der Natur als einen Vorgang hin, indem nämlich ausdrücklich gesagt wird, was dieselben Phänomene von der Erde aus gesehen waren, von oben gesehen aber nicht mehr sind, und was aus ihnen geworden ist. Der Stilwechsel beim Übergang zur Darstellung der Weltentfremdung ist auch einer der syntaktischen Sprachform. Schon dem Blick auf das typographische Bild fält die veränderte Textur auf. Zahlreiche Gedankenstriche und drei Doppelpunkte schneiden in die vier umfangreicheren Sätze ein, aus denen der ganze Abschnitt besteht. An Stelle des Stilprinzips der gleichmäßigen Reihung relativ einfacher Sätze 48 ist das der Schwellung, Brechung und Ballung einer komplizierteren Satzform getreten. Die Analyse kann sidi hier auf das

44

G W I, 19 « GW 1 , 2 1 « G W I, 26 47 Zur Technik des Bildkontrasts in der expressionistischen Prosa vgl. Fritz Martini: Das Wagnis der Sprache, Stuttgart 1954, S. 275 f., bs. S. 277 48 vgl. etwa den vorausgehenden Abschnitt G W I, 2 1 : Währenddessen... (bis) über-

wältigend.

Natur und Gesellschaft in Stifters »Condor«

421

Paradigma eines Satzes beschränken, seine Struktur ist in den auf ihn folgenden drei Sätzen wiederzuerkennen. Der erste Blick Cornelias war wieder auf die Erde - diese aber war nicht mehr das wohlbekannte Vaterhaus: . . .

Der Sprachstil des distanzierten objektiven Berichts, der in diesen überleitenden Sätzen noch gewahrt ist, schlägt am Doppelpunkt in den expressiven einer vom subjektiven Pathos des Erzählers getragenen Darstellung um. Sie beschreibt das erste Entfremdungsphänomen, die Erde aus der Sicht von oben: . . . in einem fremden goldnen Rauche lodernd, t a u m e l t e sie gleichsam zurück, an ihrer äußersten Stirn das Mittelmeer wie ein schmales, gleißendes Goldband

tragend, überschwimmend in unbekannte phantastische Massen. Indem vier Aspekte desselben Phänomens zu einem Bild zusammengefaßt werden, schwillt der Satz zu einem viergliedrigen, aus Hauptsatz und drei Partizipialgruppen sich zusammensetzenden Satzgefüge an. Trotz der grammatisch-logischen Vorrangstellung des Hauptsatzes haben die drei Partizipialgruppen sowohl dem Umfang wie dem Inhalt nach das Übergewicht, denn die in ihnen beschriebenen Phänomene machen das »Zurücktaumeln« erst anschaulich, die Erde erst zu dem »Ungeheuer«, als das sie der Betrachterin erscheint. Hauptsatz und Partizipialsätze stehen dem Ausdruckscharakter und Gewicht ihrer Bilder nach nicht im Verhältnis der Über- und Unterordnung, sondern in dem wechselseitiger Steigerung. An Stelle des Stilprinzips der gleichmäßig fortschreitenden Reihung einfacher Sätze ist das einer raschen Folge und Zusammenballung von Haupt- und Nebensätzen getreten. Daß sämtliche Verben, indem sie Teilphänomene desselben Vorgangs beschreiben, aufeinander bezogen und gekoppelt sind (lodernd, taumelte — tragend, überschwimmend), verleiht dem Satzbau seinen dynamischen Charakter. Andererseits lassen die von taumelte weit abgerückten Präsenspartizipien tragend und überschwimmend den beschriebenen Vorgang andauern und stellen ihn gleichsam still. Dementsprechend sind im Satzrhythmus drei Phasen zu unterscheiden: die des Anstiegs (Partizipialgruppe mit lodernd), die des Höhepunkts (Hauptsatz mit dem durch Sperrdruck hervorgehobenen Prädikat taumelte) und die des Abstiegs bzw. Stillstands (Partizipialgruppen mit tragend und überschwimmend). — Sehr deutlich tritt diese dreiteilige syntaktische Struktur im ausladenden Schlußsatz des Abschnitts hervor. Den Höhepunkt bildet hier der Satz: »so glotzte sie mit vernichtendem Glänze aus dem Schlünde«. Der Doppelpunkt vor ihm und der Gedankenstrich nach ihm teilen den Spannungsbogen des ganzen Schlußsatzes fast symmetrisch in drei Satzbögen ab, von denen der erste den Charakter einer anschwellenden Bewegung, der mittlere den der expressiven Ballung und der letzte den eines langsamen Abstiegs hat, dessen Präsenspartizipien die Darstellung der verfremdeten kosmischen Natur zum Bild erstarren lassen. — Wie die bildhaft-metaphorischen Ausdrucksformen kennzeichnet demnach auch die syntaktischen Sprachformen die Gleichzeitigkeit von dynamischen und statischen Stilelementen.

422

Kurt Mautz

Sämtliche dichterischen Mittel, deren sich Stifter bei der Darstellung der entfremdeten Natur bedient: die mythisierende Personifikation, das dämonisierende Vergleichsbild, die dynamisierende und die mortifizierende Metapher, ihre Kontrastierung in dissonanten, zum Oxymoron tendierenden Bildfügungen, der desillusionierende Perspektivenkontrast sowie die Gleichzeitigkeit des dynamischen und statischen Moments in der Struktur des Satzbaus gehören später zu den typischen Stilmitteln des literarischen Expressionismus. Die expressiven Stilelemente taudien bei Stifter in realistischer Hülle auf, treten aber deutlidi hervor, wo die dargestellten Verfremdungsvorgänge ihren Höhepunkt erreichen. Vor der Kühnheit dieser Ausdrucksformen scheint Stifter manchmal selbst zurückzuschrecken und sie entschuldigen zu wollen. Das gewagte Bild: die Erde taumelte zurück, schwächt er (schon in der Urfassung) durch gleichsam ab, nimmt jedoch in der Studienfassung die Abschwächung der Metapher zum Vergleich halb zurüdk, indem er taumelte durch Sperrdruck hervorhebt. In »Bergkristall« geht dem Oxymoron »weiße Finsternis« die Entschuldigungsformel »wenn man so sagen darf« voraus 49 . Zur realistischen Hülle der expressiven Bildersprache gehören im »Condor« auch die physikalischen Anmerkungen, die in der Urfassung als Fußnoten die Darstellung der entfremdeten kosmischen Natur begleiten50 und der Studienfassung im Anhang beigefügt sind. Mit der Erklärung der beschriebenen Farben und Lichtwirkungen nach den Gesetzen der Optik soll diese didaktische Zugabe den objektiven Charakter der Darstellung beglaubigen. Tatsächlich stimmt diese, soweit es sich in ihr um rein optische Phänomene handelt, mit der damals theoretisch erschlossenen, inzwischen durch die Erfahrung bestätigten Wirklichkeit überein. Beim Vergleich mit einem Kosmonautenbericht zeigt sich jedoch, daß sie sich nicht auf die bloße Beschreibung von Naturphänomenen beschränkt, sondern sie umformt, genauer gesagt: deformiert, indem sie ihnen den Charakter des Unheimlichen, Erschreckenden, Entsetzlichen verleiht. In der Schilderung eines Kosmonauten dagegen haben dieselben Phänomene nur den ästhetischen Reiz eines schönen Farbenspiels: Als ich auf den Horizont schaute, bemerkte ich einen deutlichen, stark kontrastierten Übergang von der hellen Erdoberfläche zum vollkommen schwarzen Himmel. Die Erde erfreute das Auge durch eine bunte Farbenpalette. Sie war von einer zartblauen Aureole umgeben. Der Streifen wurde immer dunkler, türkisfarben, blau, violett und ging schließlich in Kohlschwarz über. Dieser Übergang war ein sehr schöner Anblick 61 .

« GW III, 21 j 50 51

vgl. S W I, Ergänzungsband, S. 1 2 ff. Universitas, 18. Jg., Juli 1963, H e f t 7, S. 7 2 2 - vgl. dazu auch den Bericht in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 19. 4. 1 9 6 1 , N r . 91, S. 20: »Der Horizont sah anders aus, als ich aus dem Erdschatten auftauchte - er hatte einen hellen, orangefarbenen Streifen, der dann in Blau und tiefes Schwarz überging - die Sonne ist um ein Vielfaches heller als auf der Erde, die Sterne sind sehr gut sichtbar vor einem absolut schwarzen H i m m e l . . . «

Natur und Gesellschaft in Stifters »Condor«

423

In Stifters Darstellung der kosmischen Natur kommt also zur wirklichkeitsgetreuen Wiedergabe der gegenständlichen optischen Phänomene das subjektive Moment der expressiven metaphorischen Bildersprache und ihres stilistischen Pathos hinzu, durch das die bekannten physikalischen Phänomene erst zu »fremden«, d. h. verfremdet werden. Was der Erzähler scheinbar objektiv als »Entfremdung« der Natur beschreibt, sind in Wahrheit Vorgänge und Phänomene, die durch sein künstlerisches Verfahren der Verfremdung erzeugt werden. In seiner dominierenden subjektiven Komponente erweist sich das Bild der kosmischen Landschaft im »Condor« als Phantasmagorie einer seelischen Landschaft, dem die kosmische nur als stoffliches Substrat dient. Die Schreckvision einer dem Menschen entfremdeten und ihn tödlich bedrohenden Welt konnte ebensogut in anderer stofflicher Gestalt dargestellt werden. Auf die enge Verwandtschaft der im »Condor« beschriebenen Weltverfremdung mit der in der »Sonnenfinsternis« ist in der Forschung öfter hingewiesen worden 52 . Aber auch in den meisten vor 1848 entstandenen Erzählungen Stifters gibt es, und zwar an den Wendepunkten der Erzählhandlung, Naturschilderungen, in denen die Natur auf dieselbe Weise verfremdet wird wie die kosmische im »Condor«: die Gletscherlandschaft in »Bergkristall«, die Bergsee-Landsdiaften im »Hochwald« und »Hagestolz«, die Steppen-Landschaft in »Brigitta«, die WüstenLandschaft in »Abdias«, die Karst-Landschaft in »Zwei Schwestern«, die Heideund Wald-Landschaft im »Beschriebenen Tännling« u. a., in gewissem Maße auch noch die Hochgebirgs- und Gletscher-Landschaft im »Nachsommer«53. Einige dieser Landschaften können schon darum keine bloßen Naturschilderungen, Beschreibungen irgendwelcher realer Landschaften sein, weil Stifter diese ebensowenig jemals gesehen hat wie den Weltraum aus der Perspektive eines Ballonfahrers. All diese Landschaften sind vielmehr stoffliches Substrat der gleichen Seelenlandschaft, als die sich das Bild der kosmischen Natur im »Condor« erwies. Mit diesem haben sie folgende wesentlichen Züge gemeinsam: das »Fremd«-werden einer vertrauten Welt, die Verschattung und Entformung alles Sichtbaren, die Totenstille, die Verfinsterung der Welt, die Erstarrung und Mortifikation alles Lebendigen, die plötzlich eintretende Kälte, das Gespenstige, das Maßlose und Monströse der Verfremdungsphänomene, das Erschrekkende und Vernichtende der denaturierten Natur, die Magie des »Farbenspiels der Melancholie« (Muschg) und die Faszination durch die Größe und Gewalt des Katastrophischen in den Entfremdungsvorgängen.

52

53

vgl. Walter Rehm: Jean Paul - Dostojewski, Göttingen 1962, S. 99 - Walter Muschg: Das Farbenspiel von Stifters Melancholie, in: Studien zur tragischen Literaturgeschichte, Bern 196J, S. 183 f. - Friedrich Wilhelm Korff 1. c., S. 99 f., 103 ff., 1 1 1 , 1 1 3 , 3 2 8 (Anm. 7 9 ) Kapitel »Die Mitteilung«, GW IV, S. 6 7 0 - 6 8 4 , bes. S. 675 ff. und S. 6 7 9 £F.

424

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III. Die Intentionen, die dem Bild der verfremdeten kosmischen N a t u r eingelegt sind, lassen sich zunächst v o n seinem dichtungsgeschichtlichen Ursprung

aus

erschließen. Hierzu gibt Stifter selbst einen Hinweis. D i e Kapitelüberschriften »Blumenstück« und »Fruchtstück« im »Condor« können nur als ein hommage ä Jean Paul aufgefaßt werden. Sie beziehen sich auf dessen R o m a n

»Blumen-,

Frucht- und Dornenstücke« (Siebenkäs). Der Weltvernichtungstraum im Ersten Blumenstück des »Siebenkäs«, die »Rede des toten Christus v o m Weltgebäude herab, daß kein G o t t sei«, ist das unverkennbare Modell

der

kosmischen

Phantasmagorie Stifters. Sie stimmt mit ihm in jenen wesentlichen Zügen überein, die Stifters Bild der entfremdeten N a t u r als Substrat einer Seelenlandsdiaft kennzeichnen. Die Übereinstimmung geht bis ins Detail der Bilder, Vergleiche und Metaphern 5 4 . Einige im jeweiligen K o n t e x t sich entsprechende seien hier gegenübergestellt: Rede des toten Christus Erkennst du deine Erde? . . . ach, ich war sonst auf ihr: da war ich noch glücklich, da hatt' ich noch meinen unendlichen Vater . . . Am Himmel hing in großen Falten bloß ein grauer schwüler Nebel, den ein Riesenschatte wie ein Netz immer näher, enger und heißer hereinzog. Ich ging durch die Welten, ich stieg in die Sonnen und flog mit den Milchstraßen durch die Wüsten des Himmels . . . . . . und die ganze Erde und die Sonne sanken nach - . .. . . . - Schaue hinunter in den Abgrund . . . so hob er . . . die Augen empor gegen das Nichts und gegen die leere Unermeßlicbkeit... Und als idi aufblickte zur unermeßlichen Welt nach dem göttlichen Auge, starrte sie midi mit einer leeren bodenlosen Augenhöhle an . . . Ist das neben mir noch ein Mensch?

54

Condor Der erste Blidk Cornelias war wieder auf die Erde - diese aber war nicht mehr das wohlbekannte Vaterhaus . . . Weit im Westen auf einer Nebelbank lag der erblassende Mond. . . . Und wie sie näher kamen, regten und rührten sich die Eisländer als weiße, wallende Nebel ... Wie zum Hohne wurden alle Sterne sichtbar - winzige, ohnmächtige Goldpunkte, verloren durch die Öde gestreut . . . ... die Erde . .. taumelte . .. gleichsam zurück . . . . . . das ganze Himmelsgewölbe war ein ganz schwarzer Abgrund geworden . . . . . . und wenn das Schiff sich von der Sonne wendete, so war nichts, nichts da als die entsetzlichen Sterne . . . - und endlich die Sonne, ein drohendes Gestirn, ohne Wärme, ohne Strahlen . . . : so glotzte sie mit vernichtendem Glänze aus dem Schlünde . . .

Fr. W. Korff, 1. c., hat auch eine ganze Reihe von Parallelen zu »Des Luftschiffers Gianozzos Seebuch« in Jean Pauls »Titan« (S. 84-114), ebenso einige zu Jean Pauls Idylle »Das Kampanertal« (Motiv des Ballonilugs in beiden Dichtungen) aufgezeigt. Weshalb der sonst so umsichtige Autor den Einfluß der »Rede des toten Christus« auf den »Condor« in Zweifel zieht (S. 87), während er doch den auf die »Sonnenfinsternis« ausführlich nachweist (S. 11-37) u n d gleichzeitig die enge Verwandtschaft der »Sonnenfinsternis« mit dem »Condor« bemerkt (s. o. Anm. j i ) , ist nicht recht einzusehen.

Natur und Gesellschaft in Stifters »Condor« ... ein Hohlspiegel wirft seine Strahlen in die Staubwolken aus Totenasche auf euere Erde hinab, und dann entsteht ihr bewölkten, wankenden B i l d e t .

425

. . . nur auf dem Ballon und dem Schiffe starrte ein grelles Licht, . . . die Gesichter totenartig zeichnend, wie in einer laterna magica.

Stifters ausdrückliche Anknüpfung an den »Siebenkäs« schließt von vornherein aus, daß es sich bei solchen Korrespondenzen nur um unbewußte Erinnerungsbruchstücke handelte. Außerdem deutet sie schon darauf hin, daß er das Motiv der Weltvernichtung von Jean Paul nidit nur übernommen, sondern weiterentwickelt und umgeformt hat. Bloße literarische Imitationen pflegen ja nicht ausdrücklich aufs Original hinzudeuten. Mit der Feststellung dessen, worin die beiden Texte übereinstimmen, stellt sich demnach zugleich die Frage, worin sie sich unterscheiden. Jean Pauls »Rede des toten Christus« steht, wie Walter Rehm in seiner Schrift »Experimentum suae medietatis« dargelegt hat, als Exempel einer »dichterischen Gestaltung des Unglaubens« in der Tradition eines Gottesglaubens, der sich stets von neuem gegen die Versuchung und den Versuch des Menschen zu behaupten hatte, sein Ich zur Mitte alles Seins zu machen, sich an die Stelle der Gottheit zu setzen. In der Geschichte des europäischen Geistes als der einer fortschreitenden Säkularisation ist dieser Versuch nicht Gedankenexperiment geblieben, sondern Wirklichkeit geworden. Davon zeugen auch seine literarischen Darstellungen von Bidermanns »Cenodoxus« bis zu den >Nachtwachen< des Bonaventura. Jean Pauls Traumdichtung vom toten Christus, der den Toten verkündet, es sei kein Gott, will laut »Vorbericht« 5 ' eine Antwort sein auf die Herausforderung des Atheismus — es ist anzunehmen: der französischen Materialisten 57 — und von Kantianern, die »das Dasein Gottes so kaltblütig und kaltherzig erwägen, als ob vom Dasein des Kraken oder Einhorns die Rede wäre« 58 . In ihrem Pathos und in der visionären Gewalt ihrer Bilder ist sie aber primär Dokument einer seelischen und geistigen Krise, die Jean Paul selber zu bestehen hatte 59 . Der apokalyptische Traum von der Gottverlassenheit der kosmischen Natur, von der Verlorenheit des Menschen im All, von der Nichtigkeit alles Daseins, von der totalen Weltverfremdung und -Vernichtung soll die unmögliche, weil unerträgliche Konsequenz des Unglaubens demonstrieren und ihn so in sein Gegenteil umschlagen lassen. Die Umkehrung, die Wiederherstellung einer Glaubensgewißheit, vermag Jean Paul erzählerisch zu realisieren, indem er den Träumenden auf der alten Erde, in 65

Zitate aus der »Rede des toten Christus« nach: Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritisdie Ausgabe, Weimar 1928, Abt. I, Bd. 6, S. 247 - S. 252 (im folgenden SW 1/6 abgekürzt) - Hohlspiegel und laterna magica oder Zauberlaterne gehören zum Bilderfonds Jean Pauls. M Jean Paul, SW I, 6, 247 f. 87 vgl. hierzu Wolfgang Harich: Jean Pauls Revolutionsdichtung, Hamburg 1974, S. 62 f. u. 69 ff. 68 Jean Paul. SW I/6/S. 248 59 vgl. W. Harich, 1. c., S. 53 u. 63

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seiner vertrauten Welt erwachen läßt. Die Vernichtung der entgotteten kosmischen Natur war nur ein Alptraum, nur eine vorübergehende Störung der »Gefühle, die das Dasein Gottes bejahen«. Das idyllische Schlußbild kann allerdings gegen die visionäre Gewalt des Angsttraums nicht aufkommen, ihn nicht oder nur verbal zurücknehmen. Es bleibt nicht nur »als Stachel die Tatsache, daß der Vernichtglaube in der Traumvision überhaupt möglich war« 60 , man glaubte sogar das Fazit ziehen zu können, »daß die Religiosität vor der Vernunft ihren Bankrott erklärt, sich aber gleichzeitig weigert, zu kapitulieren« 61 . Die wesentliche, über Parallelen im Detail hinausgehende Übereinstimmung zwischen der Darstellung der verfremdeten kosmischen N a t u r im »Condor« und der in der »Rede des toten Christus« besteht in der Bedeutung, die in beiden das zentrale Bild der verfinsterten bzw. erloschenen Sonne hat: Bei Jean Paul ist die Sonne als »göttliches Auge«, wie in der christlichen Symbolik, ein Sinnbild der Gottheit. In der »Vorschule der Ästhetik« heißt es in der Kritik (und Selbstkritik?) des »poetischen Nihilisten«, der »ichsüchtig die Welt und das All vernichtet, um sich nur freien Spiel-Raum im Nichts auszuleeren«: »Wo einer Zeit Gott, wie die Sonne, untergehet, da tritt bald darauf auch die Welt in das Dunkel; der Verächter des All achtet nichts weiter als sich.. .«62. Der »Vorbericht« zur »Rede des toten Christus« spricht von der Gottheit als der »Sonne der gegenwärtigen Welt«. Demgemäß steht am Anfang des Traumes vom Weltall ohne Gott das Bild einer Sonnenfinsternis: »Ich suchte im ausgeleerten Nachthimmel die Sonne, weil ich glaubte, eine Sonnenfinsternis verhülle sie mit dem Mond.« Als Metapher gebraucht das gleiche Bild der tote Christus, der im Weltall vergebens Gott suchte: » . . . und der schimmernde Regenbogen aus Wesen stand ohne eine Sonne, die ihn schuf, über dem Abgrund und tropfte hinunter. Und als ich aufblickte zur unermeßlichen Welt nach dem göttlichen A u g e , starrte sie mich mit einer leeren, bodenlosen A u g e n h ö h l e a n . . . « In diesem entgöttlichten Weltall gehen die Sonnen »wie Grubenlichter« und wird »eine Sonne um die andere« vom Zufall »ausgeweht«. Der im Traum verfinsterten und erloschenen Sonne steht dann, ihrer metaphorischen Bedeutung entsprechend, die Sonne gegenüber, die der Erwachende wiedersieht: »Und als ich aufstand, glimmte die Sonne tief hinter den vollen purpurnen Kornähren . . . und zwischen dem Himmel und der Erde streckte eine frohe vergängliche Welt ihre kurzen Flügel aus und lebte, wie ich, vor dem unendlichen V a t e r . . . « Die Traumvision der Weltvernichtung scheint allerdings ihren Schatten auch noch auf die wiederhergestellte Welt Gottes zu werfen, denn der Erwachende erblickt diese im Schein der untergehenden Sonne, eines »Abendrotes«. Nimmt man dieses Bild in dem metaphorischen Sinn, den der ganze Kontext nahelegt, so kann es sich nur auf die •« W. Rehm, 1. c., S. 42 «1 W. Harich, 1. c., S. 84 «2 Jean Paul SW I / n , § 2, Hervorhebung K. M.

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Zeit beziehen, der »Gott, wie die Sonne, untergehet«, auf den in der »Vorschule der Ästhetik« angesprochenen Zeitgeist. — Entsprechend der Funktion, die das Bild der Sonne als Sinnbild der Gottheit vom »Vorberidit« bis zum letzten Wort des Textes hat, stellt sich die Traumvision der Weltverfremdung und -Vernichtung im ganzen als eine permanente totale Sonnenfinsternis im metaphorischen Sinn einer Verfinsterung und Absenz der Gottheit dar, — auch wenn man in einzelnen Verfremdungsphänomenen, wie fliegenden Schatten, flatternden Funken, Regenbogen ohne Sonne usw., nicht unbedingt Phasen einer implizit dargestellten realen Sonnenfinsternis sehen will68. Audi in Stifters Text ist das zentrale und extremste Phänomen der Weltverfremdung die erstorbene Sonne. Obwohl sie sichtbar bleibt, ist sie »ohne Wärme, ohne Strahlen« und das Licht »völlig verschwunden«. Der leeren bodenlosen »Augenhöhle« in Jean Pauls Text entspricht hier die »scharfgeschnittene Scheibe«, ein totes Ding. Wie jene anstelle des göttlichen Auges aus dem Weltall »starrt«, so »glotzt« diese »mit vernichtendem Glänze aus dem Schlünde«. Und wie dort die Menschen nur noch »Bilder« sind, »Staubwolken aus Totenasdie«, die ein Hohlspiegel beleuchtet, erscheinen sie hier »totenartig« wie die Bilder einer Interna magica. Da das Gesamtbild der verfremdeten kosmischen Natur im »Condor« nicht nur in einzelnen Bildern und Metaphern, sondern im Zentrum, auf das sie zu beziehen sind, mit dem der Weltverfremdung in Jean Pauls Traumdichtung übereinstimmt, ist es gleichfalls das einer »Sonnenfinsternis« im metaphorischen Sinn64, d. h. einer Seelenlandschaft, in die sich eine negative geistige Erfahrung chiffriert. Im Textvergleidi treten jedoch auch die Momente hervor, in denen sich beide unterscheiden und an denen abzulesen ist, daß und wie Stifter das von Jean Paul überkommene zentrale Motiv umgeformt und dadurch audi seinen Sinn verändert hat: 1. Der religiöse Bereich, dem die Weltuntergangsvision Jean Pauls auch in ihrer Negativität als experimentum medietatis angehört, da sie ihn ständig durch die Begriffe der negierten religiösen Vorstellungen (Gott, Gottheit, göttlich, Ewigkeit, unendlicher Vater) evoziert, ist in Stifters Darstellung der Weltverfremdung nicht mehr ausdrücklich gegenwärtig. Es gibt in ihr nur noch den Nachhall einer religiösen Spradie, etwa im biblisdien Tonfall des wiederholt gebrauchten »Aber siehe, . . . « oder in der Metapher von der Erde als dem »wohlbekannten Vaterhaus«, die an Joh. 14, 2 anklingt (In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen), oder wenn vom Licht als jenem »Labsal« die Rede ist, »das wir so gedankenlos genießen«, was besagen will, das Licht sei « 3 vgl. hierzu Fr. W. Korff 1. c., S. 3 1 8 ff. (Anm. 5) 64 Tatsächlich enthält es Elemente, die audi in der Beschreibung einer realen Sonnenfinsternis vorkommen könnten, so daß Fr. W. Korff mit Recht sagen kann, »daß Stifter, bevor er die Eklipse von 1842 überhaupt sah, mit der . . . Ausarbeitung des »Condor« bereits das dichterische Material zusammen hatte, um die Finsternis beschreiben zu können.« (Korff, 1. c. S. 87)

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mehr als nur physikalisches Phänomen. Doch solche Andeutungen reichen nicht aus, um der im »Condor« dargestellten geistigen »Sonnenfinsternis« den religiösen Sinn zuschreiben zu können, den die »Rede des toten Christus« ihrer Intention nach hat. 2. Die einschneidendste Veränderung, die das Motiv der totalen Weltverfremdung bei Stifter erfährt, besteht darin, daß er sie nicht als Traum, sondern als Realität darstellt. Bei Jean Paul blieb die Entfremdung und drohende Vernichtung der vertrauten Welt dank der erzählerischen Rahmenkonstruktion ein Gedankenexperiment. Durch das Erwachen aus dem Traum konnte es zurückgenommen, die vertraute Welt und die in ihr gründende Weltansicht wiederhergestellt werden. Stifter war diese Möglichkeit versperrt. Die als Realität dargestellte Entfremdung ließ sich nicht widerrufen. Die plötzliche Rückkehr der Ballonfahrer auf die Erde kann nicht als Aufhebung der Weltverfremdung, als Ende der geistigen »Sonnenfinsternis« gedeutet werden, da sie durch ein dem geplanten Unternehmen Äußerliches, Cornelias Ohnmacht, veranlaßt wird und nicht die Wiederherstellung einer gefährdeten geistigen Welt zur Folge hat, keine innere »Umkehr« der beiden Männer, die den BallonAug leiten, und nur eine vorübergehende, letztlich bedeutungslose bei Cornelia. 3. Gegenüber der absoluten und totalen Negativität der Weltvernichtungsvision Jean Pauls erweist sich die Weltverfremdung im »Condor« bei näherer Betrachtung als ambivalent. Ihre konkrete Darstellung steht in einem nicht zu übersehenden Widerspruch zu ihrer negativen Bedeutung im Handlungsund Motivationszusammenhang der Erzählung. Zunächst lassen sich in der Schilderung des Ballonflugs zwei Phasen unterscheiden: die des Aufstiegs, in der die vertraute Welt während ihrer allmählichen Verwandlung in eine fremde noch erkennbar bleibt65, und die des Höhepunkts mit dem Bild der völlig entfremdeten, dämonisierten kosmischen Natur* 8 . Die Verfremdungsphänomene der ersten Phase haben zwar in der subjektiven Sicht Cornelias schon den Charakter des Beängstigenden, doch aus der Perspektive des objektiv berichtenden Erzählers den des Erhabenen. Das Emporsdiweben der Ballonfahrer beschreibend, spricht er von der »Größe des Augenblicks«, und die verfremdende Darstellung der Naturphänomene leitet er mit dem Satz ein: »Die Erhabenheit begann nun allgemach ihre Pergamente auseinanderzurollen . . . « Selbst beim Übergang zur zweiten Phase, in der das Erhabene ins Erschreckende und Entsetzliche umschlägt, gebraucht er noch den Erhabenheit symbolisierenden Topos des Geierflugs67 als idealisierendes Vergleichsbild für den Ballon: »Der Condor wiegte sidi in seinem Bade, und wie mit den prächtigen Schwingen seines Namensgenossen hob er sich langsam und feierlich in den höchsten Ä t h e r . . . « — Was aber das seiner erzählerischen Funktion nach «s GW 1,18—21 s. o. S. 14 den zitierten Abschnitt und den daran anschließenden »Condor«-Text bis zum Schluß des Kapitels »Tagestück«, GW I, 21-23 s. o. S. 8 ff.

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negative, in der zweiten Phase abschreckende Gesamtbild der verfremdeten und mortifizierten Natur vor allem ambivalent macht, sind die Farben, in denen es gemalt wird. In der Schilderung des ganzen Entfremdungsvorgangs 68 werden auf sechs Seiten 3imal Farben evoziert, 2imal direkt, durdi Farbbezeichnungen, lomal indirekt, durdi den Gegenstand oder dessen Vergleidisbild (Flammen, Morgenrosen, Schatten, Nacht usw.). Ihre Abstufung von silbern und golden über gelb, rot, blau bis zu ganz schwarz, ihre Zartheit (Morgenrosen, zitternder Silberfaden) oder ihre Intensität (blitzendes Gold, weißgeschmolzenes Metall), ihre affektive Besetzung (furchtbar blau, sonderbar gelb), ihre Kontraste (glühende Stäbe — indigoblauer Himmel; goldner Rauch — weiße Leichentücher u. a. m.): das ganze faszinierende Farbenspiel, das Stifter in seiner Beschreibung der Sonnenfinsternis von 1842, in der es wiederkehrt und sich weiter entfaltet, eine »Musik für das Auge« nennt 69 , läßt die im »Condor« dargestellte geistige Sonnenfinsternis eben doch als jene »großartige Finsternis« erscheinen, die sie nicht an sich, sondern nur in den Augen des jungen Lord sein sollte, der »dichterisch mit Gefahr und Größe spielt«. Der Widerspruch, in den Stifter mit der Abspaltung dieser negativ intendierten Figur von der positiven des naiven jungen Malers geriet, da sich diese am Ende als mit jener identisch erweist, steckt also schon in der konkreten Darstellung der kosmischen Natur, die einerseits extrem verfremdet und dämonisiert, andererseits in dieser Verfremdung zur »Musik für das Auge« ästhetisiert wird. IV. Die Momente, in denen sidi die Weltverfremdung im »Condor« von der in der »Rede des toten Christus« unterscheidet - ihre innerweltlidie Realität, ihr Nichtaufgehobenwerden und ihre Ästhetisierung —, machen das Bild der mortifizierten Natur bei Stifter zu einer neutralen Chiffre, die zwar für eine negative geistige Erfahrung steht, die jedoch erst durch ihre Funktion im Motivations- und Handlungszusammenhang der Erzählung ihre bestimmte, wenn auch in sich selber wieder problematische Bedeutung erhält, die ideologisch-kulturkritische, die sich aus der Repräsentation zeitgeschichtlicher Tendenzen durch die Ballonfahrer ergibt 70 . Darüber hinaus ist aber in jenes Bild die tiefer greifende Erfahrung des Gesellschaftsganzen eingegangen, von der ein Jahr später in Stifters Aufsatz »Aussicht und Betrachtungen von der Spitze des St. Stephansturmes« 71 deutlicher, sozusagen im Klartext die Rede «« GW 1,18-23 6 » GW VI, 594 70 s. o. S. 11 ff. 71 Adalbert Stifter: Die Mappe meines Urgroßvaters / Sonnenfinsternis / Aus dem alten Wien (Wien und die Wiener), hsrg. v. Max Stefl, Augsburg 1957, S. 317-340 (im folgenden abgekürzt: U IV). - Stifter hat später das erste Drittel des Aufsatzes über-

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ist. E r ist nidit nur ein indirekter Kommentar zum »Condor«, sondern audi ein Schlüssel zur Entzifferung seiner Bilder- und Metaphernsprache. Stifter schrieb ihn als Einleitung zu dem von ihm redigierten Sammelwerk »Wien und die Wiener«, das seit 1 8 4 1 in Lieferungen, seit 1844 als Budi erschien und von dessen 54 Beiträgen 1 2 von Stifter stammen. Dem Zweck und Charakter des ganzen Projekts entsprechend, haben audi Stifters Betrachtungen von der Spitze des Stephansturmes manche biedermeierlich-genrehaften und affirmativen Züge. Dennoch ist die Topographie von Wien und Umgebung, die sie erstellen, dank der Absicht, die beobachteten Phänomene nicht isoliert, sondern im Zusammenhang des »Ganzen« zu sehen und dank eines erstaunlich kritischen Scharfblicks gleichzeitig eine Phänomenologie des sozialen Wesens der Großstadt, die Wien in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts geworden war. Sie registrieren und reagieren auf das hektische Tempo, das der in Wien sich konzentrierende verspätete Übergang Österreichs von einer halbfeudalen, auf Landwirtschaft, Hausindustrie und Manufaktur beruhenden Gesellschaft in die bürgerlich-kapitalistische der großen Industrie hatte. Stifter, in dem böhmischen Marktflecken Oberplan geboren und aufgewachsen, kam 1826 im Alter von zwanzig Jahren aus Kremsmünster, wo er das Gymnasium des Benediktinerstifts besucht hatte, zum Studium nach Wien. Auf den ersten Seiten der »Betrachtungen« porträtiert er aus dem Abstand von anderthalb Jahrzehnten sich selbst als den aus der Provinz kommenden Studenten 72 in der Gestalt des »Wanderers«, eines »Landbewohners«, der zum erstenmal die Großstadt betritt. Der Anblick des »unermeßlichen Gewimmels von Menschen, die sich alle fremd sind und aneinander vorübereilen«, bedrückt und ängstigt ihn. Schon in den Zufahrtstraßen sieht er sie an sich vorüberjagen »wie Treibholz, demselben Strudel zu«, und als er endlich in der Stadt angelangt ist, »schlagen die Wogen über ihm zusammen. Eine endlose Gasse nimmt ihn auf; ein Strom, der schmutzige und glänzende Dinge treibt, wird immer dichter und immer l ä r m e n d e r . . . die Gasse will kein Ende nehmen; allerorts Drängen und Brausen, und Vergnügen und Freude, nur dem Fremdling will es einsam werden in dieser tosenden Wüstenei. Fast betäubt geht er w e i t e r . . ,« 7S Der betroffene Blick auf die großstädtische Menschenmenge ist arbeitet, indem er ganze Abschnitte strich und die übrigen ins Beschaulich-Erbauliche stilisierte. Der Neufassung (GW VI, 19-50) fehlt die kritische Schärfe der Urfassung. Eine Selbstzensur, der er z. T. auch seine Erzählungen für die »Studien«-Fassung unterzog. 72 So auch in dem Aufsatz »Leben und Haushalt dreier Wienerstudenten«, U IV, 390 ff. 73 U IV, 318 f. - Daß Stifter in solchen Schilderungen seine eigenen Eindrücke von Wien in den ersten Jahren seines Wiener Aufenthaltes wiedergibt, geht audi aus einem Brief hervor, den er am 1. Okt. 1829 an Franziska Greipl schrieb: »Die schlechte stinkende Luft, der Lärmen, und vor allem mein Herzweh sagen mir, daß ich in Wien b i n . . . O mir ist die Stadt und ihre Menschen und all ihr Treiben und Wogen und Lärmen verhaßt, wie der T o d . . . wo mein Auge hintrifft, begegnen ihm kalte und fremde Blicke, die mich daran mahnen, daß ich wieder in dem herzlosen Wien bin.« Br. I, 12 f.

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hier der gleiche wie in der Beschreibung des Straßenbildes von London, die vier Jahre später Friedrich Engels gibt74, der »die brutale Gleichgültigkeit, die gefühllose Isolierung jedes einzelnen auf seine Privatinteressen«, die er im Verhalten der Passanten beobachtet, als unverhüllte Äußerung der »bornierten Selbstsucht« diagnostiziert, die »das Grundprinzip unserer heutigen Gesellschaft ist«. Stifter, längst ansässig in Wien, weiß, daß es sich bei der Reaktion seines »Fremdlings« um mehr als um einen vorübergehenden ersten Eindruck handelt: Erst lerne Wohnung Orten der kümmern,

jene Öde überwinden, die dich fassen wird, wenn du täglich aus deiner gehst, und täglich andere Menschen auf der Gasse siehest; wenn du an Freude bist, und Alles um dich braust und jubelt, ohne sich um dich zu daß es dir fast gespenstisch einsam wird.

Obwohl er beschwichtigend zu Anpassung und Gewöhnung rät, sieht auch Stifter im beängstigenden großstädtischen Erscheinungsbild der heraufkommenden Industriegesellsdiaft das atomisierende Prinzip der kapitalistischen Produktionsweise wirksam. Als er auf dem Stephansturm dem »Fremdling« das Panorama von Wien zeigt, weist er besonders auf die Münzanstalt hin und stellt dabei über das Geld, das dort geprägt wird, folgende Betrachtungen an: . . . d a s G e l d , ein Ding, erst harmlos erdacht zur Bequemlichkeit der Menschen, ein hohler unbedeutender Vertreter der wahren Güter, um sie, die großen, plumpen, unbequemen nicht allerorts mitführen zu dürfen - dann sachte wachsend in mählicher Bedeutung, unsäglichen Nutzen gewährend, Dinge und Völker mischend in steigendem Verkehr, der feinste Nervengeist der Volksverbindungen - endlich ein Dämon, seine Farbe wechselnd, statt Bild der Dinge selbst Ding werdend, ja e i n z i g Ding, das all die andern verschlang - ein blendend Gespenst, dem wir, als wäre es Glück, nachjagen, - ein rätselhafter Abgrund, aus dem alle Genüsse der Welt emportauchen, und in den wir dafür das höchste Gut dieser Erde hineingeworfen haben, d i e B r u d e r l i e b e . . .

Diese moralisierenden Reflexionen über das Geld erfassen der Sache nach recht genau eine Reihe von Phänomenen, die Marx auf den Begriff gebracht hat: Gebrauchswert und Tauschwert sowie Fetischcharakter der Ware, die Verwandlung von Geld in Kapital, die Akkumulation des Kapitals und die Zerstörung der unmittelbar menschlichen Verhältnisse infolge der Vermittlung aller menschlichen Verhältnisse durch die der kapitalistischen Warenproduktion. Mit dem »Condor« haben die »Betrachtungen« das Thema Großstadt gemeinsam. Das düstere Bild, das im ersten und zu Beginn des zweiten Kapitels der Erzählung von der »großen, lasterhaften Stadt« gezeichnet wird, stimmt mit dem des »wirren Babel«, als welches Wien dem Betrachter auf dem Stephansturm erscheint, bis ins Detail einzelner Szenen überein, wie etwa der nächtlichen »Rufe der Schlemmer«75 oder der nach Mitternacht noch brennen74

Friedrich Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England, in: Karl M a r x Friedrich Engels, Werke (im folgenden = M E W ) , Bd. 2, S. 257 7 ® G W 1 , 1 2 f. - U I V , J 3 4

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den Lampe einer Mutter 76 . Von der erwachenden Stadt heißt es im »Condor«: Unten in den Gassen lärmte bereits die Industrie einer großen Hauptstadt, sorgend für den heutigen Hunger und für die heutige Üppigkeit. ( G W I, 16)

Die entsprechende Passage in den »Betrachtungen« lautet: In den Gassen regt sich's; schwarze Punkte werden sichtbar und bewegen sich und schießen durcheinander, sie werden immer mehr, einzelne frische Schalle schlagen herauf, das Rollen, Rasseln und Prasseln wird immer dichter, das verworrene Tönen ergreift alle Stadtteile, als ob sich Gassen und Häuser durcheinander rührten, bis ein einziges dichtes, dumpfes, fortgehendes Brausen unausgesetzt durch die ganze Stadt geht. Sie ist erwacht.

Auf Grund ihrer thematischen Verwandtschaft mit dem »Condor« sind aus den »Betrachtungen« genauere Einsichten in die expressive Metaphorik Stifters zu gewinnen. Audi hier gebraucht er Bilder und Metaphern, in denen dynamische Phänomene und solche der Erstarrung, Verdinglidiung, Entseelung schroff kontrastiert und oft paradox ineinsgesetzt werden. So steht dem Bild der erwachenden Stadt in der eben zitierten Stelle, das von einer sich steigernden Bewegung erfüllt ist (siebtbar werden, sieb bewegen, durcheinander schießen, Rollen, Rasseln und Prasseln, ein einziges Brausen), ein paar Zeilen weiter das folgende gegenüber: Der Teil gerade zu unsern Füßen ist die eigentliche Stadt. Wir sehen sie wie eine Scheibe um unsern Turm herumliegen, ein Gewimmel und Geschiebe von Dächern, Giebeln, Schornsteinen, Türmen, ein Durcheinanderliegen von Prismen, Würfeln, Piramiden, Parallelopipeden, Kuppeln, als sei das Alles in toller Kristallisation aneinandergesdiossen und starre nun da so fort.

Das Gesamtbild, zu dem die verschiedenen Vergleiche und Metaphern zusammengefaßt sind, ist geradezu ein Musterbeispiel für die Kontrasteinheit von Statischem und Dynamischem in der Bildersprache des frühen Stifter. Während die Vergleichsbilder der Scheibe, der Prismen, Würfel usw. und schließlich das einer »fortstarrenden« Kristallisation den Vergleichsgegenstand, die bewohnte Stadt, total verdinglichen, d. h. entseelen, indem sie diese als ein Agglomerat abstrakt räumlicher Gebilde erscheinen lassen, vergegenwärtigen gleichzeitig die Metaphern »Gewimmel und Geschiebe« sowie der geologische Vergleich mit »toller« Kristallisation, in der alles »aneinandergesdiossen« sei, die Dynamik der großstädtischen Menschenmasse, die diese Häusermasse erbaute und bewohnt, wie eine Naturgewalt. Die metaphorische Reduktion des gesellschaftlich Produzierten auf blinde, chaotische Naturkräfte kehrt stereotyp in Bildern wieder wie dem der »Wildnis der Stadt«, der »ungeheuren Wildnis von Mauern und Dädiern«, dem »Steinmeere«, dem »Ocean« oder »Schutt von Häusern» 77 . Sie entspricht dem Bild für »das Ganze« der Gesellschaft am Ani« G W I, 13 - U I V , 3 J 5 " U I V , 338, 390; G W V I , 2 7 ; U I V , 391 u. 3 3 1

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fang der »Betrachtungen«, das Kafka zu seiner Erzählung »Beim Bau der chinesischen Mauer« inspiriert haben könnte: . . . das Volk, das hier jubelnd strömet, jeder seinem Zwecke, meist dem der Freude dienend, dieses Volk bauet rastlos emsig in Kindern und Kindes-Kindes-Kindern an einem Baue, den es nidit kennt, nach einem Plane, den es nicht weiß . . . Weise Lenker waren bei dem Baue, aber auch sie konnten nur Teile sehen und bestimmen. - Wer das G a n z e anbefahl und überwachte, den hat noch nie ein Auge gesehen!

Die Metaphorik der ineinsgesetzten Gegensätze von Erstarrung und Bewegung, die im »Condor«, da sie Naturphänomene verfremdend deformiert, als subjektiv erscheint, ist in den »Betrachtungen« dem beschriebenen Gegenstand adäquat. Sie scheint sich dem Betrachter eher aufgedrängt zu haben, als daß dieser sie an die Sache herangetragen hätte. Der Vergleich der großstädtischen Häusermasse mit einer Gesteinsmasse, die »in toller Kristallisation aneinandergeschossen« sei, trifft die Wirklichkeit, gibt eine Vorstellung von der fieberhaft planlosen Bauweise78, die das Wachstum der großen Städte in der Epoche der ersten industriellen Revolution kennzeichnet, einer »unordentlichen, aller vernünftigen Baukunst Hohn sprechenden Zusammenwürflung der Häuser«, wie Engels sie nennt 79 . Als formelhafte Metapher für die Großstadt gebraucht Stifter in seinen Beiträgen zu »Wien und die Wiener« öfter das Bild der Scheibe, wie in der oben zitierten Passage. In der Einleitung zu den »Betrachtungen« spricht er von der Stadt, die er dem Leser vom Stephansturm herab zeigen will, als von »dieser Riesenscheibe, die da wogt und wallt und kocht und sprüht und sich ewig rührt in allen ihren Teilen«. Die »steinerne Scheibe der Stadt« ist zugleich »dieser wallende, brodelnde Kessel: er treibt und quirlt, als sei das so obenhin, und gehe nach irgendeinem geheimen unabänderlichen Gesetze fort« 80 . Im Bild der Scheibe sind steinerne Starre und unausgesetzt kreisende Bewegung ineinsgesetzt. Es bedeutet Bewegung als Stillstand, Stillstand als Bewegung. Vom Erscheinungsbild der Großstadt sich herschreibend, bezieht es sich zugleich auf deren Wesen. Auch Leben und Tätigkeit der Menschen in ihr beschreibt Stifter als einen sich stets gleichbleibenden »treibenden, kreisenden Wirbel« 81 . Er wird von privaten »Interessen«, vorab dem des Gelderwerbs, erzeugt: Und so in toller Verkehrtheit des Begriffes »Glück« jagen Völker, jagt fast die Menschheit in zitternder Hast nach der Wechselmarter: E r w e r b e n u n d V e r zehren.

Als wesentliche Momente des »Ganzen« der Gesellschaft werden die Rastlosigkeit der Produktion und das Fehlen eines über die partikularen Interessen hinausgehenden Zwedts und Sinns des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses hervorgehoben: 78 n 80 81

vgl. hierzu auch U I V , 32J Engels 1. c., S. 281 In der Reihenfolge der Zitate: U I V , 318, 391, 334 U IV, 337

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. . . und so schieben sie sich fort, einer gleich dem andern, und jeder so verschieden von dem andern, und so bauen sie im eigenen Treiben und Rollen freitätig und doch bewußtlos jenes rätselhafte Ding auf, das Schicksal, vor dem Reiche entstehen und vergehen, ohne es berechnen zu können . . .

Das »rätselhafte Schicksal« ist der unaufgelöste irrationale Rest in Stifters Bewußtsein von einem gesellschaftlichen Ganzen, dessen Erscheinungsformen er beschreibt und durchschaut, dessen »geheimes unabänderliches Gesetz« er aber nicht kennt. In den »Betrachtungen« schwankt er zwischen verschiedenen Möglichkeiten der Erkennbarkeit dieses Gesetzes: einer partiellen durch »weise Lenker«, einer nahezu vollständigen durch die Regierenden, denen seine »Formel« von »noch einem Höheren« anvertraut sei, und (s. o.) seiner völligen Unerkennbarkeit. Das Bild der »Riesenscheibe, die da wogt und wallt und kocht und sprüht«, ist, wie seine Varianten, als Metapher für Erscheinung und Wesen der Großstadt identisch mit dem Bild der »scharfgeschnittenen Scheibe aus wallendem, blähendem, weißgeschmolzenem Metalle« als Metapher für die tote Sonne im »Condor«. Die Erzählung ist zwar ein Jahr vor den »Betrachtungen« entstanden, diese sind jedoch im Rückblick auf die anderthalb Jahrzehnte geschrieben, die Stifter schon in Wien ansässig war, insbesondere aus der Erinnerung an die ersten Jahre, die Zeit der Adaption der großstädtischen Umwelt durch den aus der Provinz kommenden Studenten. »Vor langer Zeit«, heißt es in der Neufassung der »Betrachtungen«, »stiegen wir oft unser mehrere als Jünglinge auf den Turm h i n a u f . . . Wir sahen dann auf die menschenbewegte Stadt h i n a b . . . oder maßen mit den Augen den Abgrund, der sich unter uns hinabsenkte, oder gaben uns einfach den großartigen Eindrücken hin . . .« 82 . Schon in dieser Zeit, mehr als ein Jahrzehnt vor dem »Condor« und den »Betrachtungen«, drängte sich Stifter das Bild der Scheibe für die Stadt auf: »Wenn ich von Anhöhen Wien betrachtete, so hielt ich den Stephansturm für den Stift, an dem man die Scheibe der Stadt emporheben könnte«85. Der auf die Großstadt sich beziehenden Metaphorik in den »Betrachtungen« liegen demnach dieselben weit zurückreichenden Erfahrungen Stifters mit Wien zugrunde wie der analogen, auch thematisch entsprechenden, in der Erzählung. Die metaphorische Bedeutungsgleichheit der beiden Bilder ergibt sich daraus, daß Stifter auch das Bild der Sonne als Metapher für die Stadt Wien gebraucht. Er nennt den Stephansturm »den Stift eines Sonnenzeigers, zu dem alle Straßen der Umgegend wie die Halbmesser eines Kreises zu ihrem Mittelpunkte zusammenlaufen«84, und Wien eine von »unzähligen Monden«, Vergnügungsstätten, umgebene »Sonne«85. Und wenn es heißt, daß »über der Stadt ein heller Schein steht, der die Stätte des Jubels und des Schwärmens anzeigt —. ** 8» m 8«

G W V I , 26 G W V I , 21 G W V I , 21 U I V , 487

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ein paar Meilen von der Stadt ist schon die tote, öde, geräuschlose Winternadit und das traurige Tuch des Todes gebreitet«86 —, so ist die Stadt wie ein künstliches, in der Nacht leuchtendes Gestirn beschrieben. Als solch eine zweite Sonne muß sie auch in Stifters Prosastück »Nächtliche Ballonfahrt über der Residenzstadt Wien« erschienen sein, das er als Beitrag für »Wien und die Wiener« in Briefen an Heckenast erwähnt 87 , das aber nie veröffentlicht wurde und dessen Manuskript bisher unauffindbar blieb. Im »Condor« hat er »die Sonne« Wien als Kryptogramm der bürgerlichen Gesellschaft in die kosmische Nacht projiziert. Auf dem Hintergrund der von Reflexionen durchsetzten und sich dadurch selber auslegenden Metaphorik der »Betrachtungen« erweist sich die expressive Bildersprache im Ballonflugkapitel des »Condor« als durchaus nicht so subjektiv wie im Vergleich der dort dargestellten kosmischen Natur mit deren objektiver Realität. Ihr Stilprinzip, die paradoxe Kontrasteinheit von Statik und Dynamik, ist aus der Erfahrung der Großstadt als des Zentrums einer die erste industrielle Revolution fieberhaft nachholenden Gesellschaft entwickelt. In ihm hat sich der in dieser Phase besonders augenfällige Grundwiderspruch der bürgerlichen Gesellschaft zwischen der Dynamik der Produktivkräfte und der Stagnation der Produktionsverhältnisse mit der auf ihnen beruhenden Sozialstruktur niedergeschlagen. Im »Condor« hat Stifter die Metaphorik der ineinsgesetzten Gegensätze von ihrem ursprünglichen Bezugsgegenstand, dem Erscheinungsbild und Wesen der Großstadt in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, abgelöst, verselbständigt und auf die kosmische Natur übertragen. Motiviert wird diese Übertragung dadurch, daß die drei Ballonfahrer Tendenzen des fortschrittlichen Großbürgertums repräsentieren. Die Legende vom »Naturdichter« Stifter hatte den Blick dafür verstellt, daß seine erste Erzählung, die ihn als Schriftsteller bekanntmachte, eine Großstadtdichtung ist, die in ihren zentralen Partien Darstellungsformen und Stilmittel der Großstadtdichtung der Moderne von Edgar Allan Poe88 und Baudelaire bis Georg Heym vorwegnimmt.

8

" U T V , 468 f. Br. I, 101 und 103 f. 88 Poes phantastisch-groteske Ballonfahrergeschichten »Hans Pfaalls Mondfahrt«, »Der Lügenballon« und »Mellonta tauta«, die dem »Condor« zeitlich nahestehen, haben mit ihm die gegen die Kehrseite des naturwissenschaftlich-technischen Fortschritts gerichtete Tendenz gemeinsam. 87

Zur Geschichtlichkeit von Thomas Manns Jugendroman: Bürgerliches Klassenbewußtsein und kapitalistische Praxis in »Buddenbrooks« V o n PIERRE-PAUL SAGAVE, Paris In seinem Lebensabriß aus dem Jahre 1930 spricht Thomas Mann v o n seinem V a t e r ; er nennt ihn einen sehr geschätzten und einflußreichen M a n n im gesellschaftlichen und politischen Leben der Hansestadt Lübeck. A b e r , so fährt Thomas M a n n fort, »am G a n g der Geschäfte hatte er wenig Freude« 1 . U n d dann w i r d berichtet, wie nach dem frühen T o d e seines Vaters die Firma, ein Familiengeschäft, eine über hundert Jahre alte Getreidefirma, liquidiert werden mußte. Diese trockenen Angaben fassen gewissermaßen den Inhalt des Buddenbrook-Romans zusammen,

insoweit

dieses W e r k

als ein

Kaufmannsroman

angesehen werden darf. D e r Ausdruck »wenig Freude am G a n g der Geschäfte« stammt übrigens aus dem Romantext 2 . Sehr häufig erinnert Thomas Mann daran, d a ß er seine Jugend in der A t m o sphäre einer im Niedergang begriffenen wirtschaftlichen Tätigkeit

verbracht

hat. Fünf Jahre nach seines Vaters T o d e unternimmt er es, diese Niedergangsstimmung in seinem Jugendroman darzustellen. D a z u benutzt er folgende Quellen: ein Familientagebudi, das ziemlich weit in die Vergangenheit zurückreicht, intime Aufzeichnungen seiner Vorfahren, Familienbriefe und Geschäftspapiere 3 . D a s alles stellt sozusagen eine Erbschaft dar, ein entmaterialisiertes Geschäftserbe f ü r den jungen Schriftsteller. Thomas M a n n hat seine Vorarbeiten nicht auf

die Familiengeschichte

beschränkt. Ein

Onkel

des Dichters,

ein

Lübecker Großhändler, hat ihm eine ausführliche Dokumentierung über die städtische Verfassung und Verwaltung, über die Wirtschaftslage, über die Geschichte seiner Vaterstadt beschafft 4 . Schließlich darf nicht vergessen werden, d a ß Thomas M a n n damals ( d . h . 1 8 9 7 — 1 8 9 8 ) historische und volkswirtschaftliche Vorlesungen an der Universität München besuchte, und z w a r »nicht ohne Nutzen«, w i e er selbst sagt®. 1 2 8

4 5

Neue Rundschau, 1930, Bd. I, S. 693 Buddenbrooks, Stockholmer Ausgabe, 196$, S. 611 Viktor Mann: Wir waren fünf, Konstanz 1949, S. 86, s. auch: Aus den Familienpapieren der Manns. Dokumente zu den >BuddenbrooksBuddenbrooksVolk< vorstellen, wie in Deinem Hohenlied von der >K(öni)gl(idien) Hoheitpsydiologisdies< Motiv«, sondern als »moralisches Symbol« (ebd.) verstanden wissen wollte, weist besonders deutlich auf die Schwächen des Romans in der Verwendung von Anspielungen hin.

Artistische Verklärung der Wirklichkeit

463

sisdien Rezensenten nicht umhin konnte, diese Einzelzüge als gezielte Anspielungen zu verstehen und infolgedessen dem Werk mit ambivalenten Gefühlen gegenüberstand. Die Vorstellung vom »Gottesgnadentum« der Monarchie war zur Zeit Wilhelms II. eben längst nidit mehr eine traditionale, selbstverständliche Wertvorstellung, sondern eine Neuschöpfung Wilhelms II., die in Kreisen des aufgeklärten Bürgertums ungläubiges Erstaunen hervorrief 28 und auch im traditionsbewußten Adel mit Befremden aufgenommen wurde8*. Auftreten, Redestil und das offen an den Tag gelegte Selbstverständnis Wilhelms II. waren bei diesem Bürgertum längst nidit mehr Gegenstand milden Spottes, sondern wurden teilweise bereits als sich selbst entlarvende Eigenparodien empfunden. Die völlig anachronistischen Hofetiketten und die anmaßende Bevorzugung von Militär und Adel schließlich bestimmen z. B. den Herausgeber des »Kunstwarts« Avenarius, in einem Kommentar zu der Auseinandersetzung zwischen dem »Fürsten« und Thomas Mann zu sagen, daß ein Bürger, der Selbstachtung besitze, eher auf eine Ehrung bei Hofe verzichte, als sidi den damit verbundenen Zumutungen zu unterwerfen' 0 . Ein Roman, der in so liebevoller, wenn auch teilweise in spielerischer oder parodistisch-ironischer Weise das Hofleben, die höfischen Etiketten und die fürstlichen Verpflichtungen zu repräsentieren ausmalt und offenbar doch ein sublimes Interesse für die damit verbundenen Anachronismen aufbringt, mußte also gerade dann, wenn man ihm literarischen Rang zugestand, Befremden auslösen. Dieses Urteil erstreckt sich in besonders starkem Maße auf die Darstellung, die der Roman vom Monarchen, also Klaus Heinrich, und den verfassungsrechtlichen Verhältnissen gibt. Klaus Heinrich wird als eine absolut durchschnittlich begabte, zudem bemerkenswert phantasiearme Person geschildert, die sich geduldig und widerspruchslos in die ihr auferlegten Pflichten einpaßt' 1 . Er beschränkt sich auf rein repräsentative Funktionen und ist im übrigen Mandatar der Beschlüsse des Ministerrates, also in einer Weise konstitutionell gebunden, wie es nicht einmal in England der Fall war und wie es Verhältnissen entspricht, von denen man in Deutschland kaum zu träumen wagte. Andererseits — und im Widerspruch zu dem soeben Gesagten — scheint die * 8 Ein solches Dokument des Erstaunens der Zeitgenossen über das anachronistische Selbstverständnis Wilhelms II. ist die als wissenschaftliche Arbeit getarnte Porträtstudie Ludwig Quiddes: Caligula. Eine Studie über römischen Cäsarenwahnsinn. Leipzig o. J. - Die Schrift erregte bei Erscheinen 1894 allgemeines Aufsehen. Vgl. Graf Ernst zu Reventlow: Kaiser Wilhelm II. und die Byzantiner. - München (1906). 40 In: Der Kunstwart. München. 1. Aprilheft 1910, Jg. 23, H. 13 S. 10. - Der gesamte Kommentar von Avenarius ist auf eine Kritik an Wilhelm II., dem Glauben an sein Gottesgnadentum und an seiner Überzeugung, in allen Sachfragen zum obersten Schiedsrichter befähigt zu sein, abgestellt. at Um das Unbehagen nachzuvollziehen, daß ein solches Porträt eines regierenden Fürsten, zumal wenn er einen verkümmerten Arm besaß, bei den Zeitgenossen auslöste, muß man sidi vor Augen führen, daß Wilhelm II. weder phantasiearm war noch in irgendeiner Weise bereit, sidi unauffällig in auferlegte Pflichten zu schidken.

Frithjof Trapp

464

Staats- und Regierungsform von stark traditionalen, patriarchalischen G r u n d sätzen bestimmt zu sein, insbesondere v o n einem ungetrübten Vertrauensverhältnis zwischen dem Ministerpräsidenten und dem Monarchen sowie zwischen dem Monarchen und den Untertanen. Selbst wenn man dieses überaus harmonisierende Porträt der im Großherzogtum herrschenden gesellschaftlichen

Zu-

stände als humoristische Verspottung

des

der entsprechenden Wunschbilder

bürgerlichen Publikums zu verstehen hätte —

eine Interpretation, die bei

Thomas Mann niemals völlig auszuschließen ist — , wäre eine solche Darstellung ein Jahr nach der Daily-Telegraph-Affäre, die Wilhelm II. wegen des aufgebrochenen Unwillens gegen das »persönliche Regiment« bis nahe an die A b dankung getrieben hat, noch immer ein erstaunliches Faktum' 2 . Weiterhin ist zu beaditen, daß Thomas Mann im Grunde drei unterschiedliche Repräsentanten monarchisdi-feudalen Selbstverständnisses vorstellt, die er z w a r auf literarisch-ästhetischer Ebene, nicht jedoch, w i e zu erwarten wäre, auf politischer Ebene zueinander in Beziehung setzt. D a ist einmal der G r o ß herzog-Vater, dessen rigide, zu völliger Abstraktheit geronnenen Auffassungen v o n der »Pflicht zu repräsentieren« in der Sterbeszene einen ebenso beeindruckenden finden,

wie

erschreckenden,

letztlich

sogar

dekouvrierenden

Ausdruck

dann Albrecht II., der, obschon als »geborener« Aristokrat gezeichnet,

aufgrund eines übersensiblen, »dekadenten« Schamgefühls mehr oder weniger offen als ungeeignet f ü r den »fürstlidien Beruf« dargestellt wird 3 3 , und schließlich K l a u s Heinrich, zwischen einem z w a r

die wenig reflektierte, aber

daher

»gesunde«

»starken«, jedoch anadironistisdien Alten und

Mitte 3 4 einem

überreflektierten und daher »schwachen« Neuen. D a s ist die Trias einer impliziten ästhetisch-moralistischen Wertung. Z w a r deutet sich in dem Teegespräch zwischen Dietlinde, K l a u s Heinrich und Albrecht an, daß zumindest die Brüder unterschiedliche

Auffassungen über die Legitimation

(S. 142 ff.) —

Albrecht ist Vertreter eines demokratischen, jedoch

des Monarchen

haben elitären

Individualismus, der den Ideen von 1789 nahesteht, darin den Vorstellungen und auch der sprachlichen Diktion nach ein recht getreues Bild v o n Thomas Manns Bruder Heinrich, während K l a u s Heinrich sich in einer Thomas Mann selber charakterisierenden Weise auf die »Auserwähltheit« als Legitimation

82

83

Es darf allerdings auch nicht übersehen werden, daß Thomas Mann mit auffälligem Nadidruck die dem Land eigentümliche »Zurückgebliebenheit« erwähnt (insbesondere in dem Kapitel »Das Land«), so daß zumindest bei immanenter Betrachtung das harmonische Bild der politischen Zustände unter anderen, kritischeren Vorzeichen erscheint. Entkleidet man nämlidi die Stellvertreter-Konstruktion der ihr eigentümlichen Dezenz, dann ergibt sich, daß Albredit zugunsten seines zum Monardien besser geeigneten Bruders »aus gesundheitlichen Gründen« - so würden die Sprachregelungen lauten - »auf die Ausübung seines Amtes verzichtet«. »Gesundheit« ist hier im Sinne der Dekadenz-Theorien des Fin-de-siècle, etwa Paul Bourgets oder Maurice Barrés', verstanden.

Artistische Verklärung der Wirklichkeit

465

beruft 35 —, doch verbleibt dieses Gespräch rein im Bereich der »literarischen«, auf Beschreibung der personalen Individualität ausgerichteten Charakterisierung. Politische Folgerungen, was angesichts von Albrechts spektakulärem Vergleich seines Tuns mit dem »Fimmelgottliebs« und angesichts der (relativen) Fortschrittlichkeit seiner Ideen naheläge, werden nicht gezogen. Nicht zuletzt hat gerade dieser Zug eine gewisse Ratlosigkeit bei den Rezensenten hervorgerufen. Aus der Art des Realitätsbezuges ergibt sich daher die — scheinbare — Paradoxie, daß es zwar zwingend notwendig ist, die Romanhandlung als Gegenwartshandlung zu verstehen, nicht jedoch den Roman insgesamt als Gegenwarts- oder Zeitroman. Thomas Mann hat das in Anlehnung an ein von ihm Hofmannsthal zugeschriebenes Urteil eine »allegorische Konstruktion« genannt 38 . Er hat die Realitätspartikel offensichtlich völlig unbedenklich, als ein weiteres, artistisches Element im Vexierspiel mit der Illusion verwandt, ohne auch nur in Erwägung zu ziehen, daß sie bei einem kritischen Leser problemgeladene Verknüpfungen mit der Realität nach sich ziehen müßten. Das setzt voraus, daß Thomas Manns politisches Denken zu dieser Zeit bemerkenswert konservativen, wenig entfaltet war oder, was wahrscheinlicher ist, in völlig konventionellen. Bahnen verlief. Wir müssen daher annehmen, daß Thomas Mann seinen Roman in heute kaum noch nachfühlbarer Weise als »Nur-Literatur« verstanden hat. Ästhetizismus und Konservativismus scheinen in dieser Position zusammenzufallen. 5. Wie fragwürdig die dem Roman inhärierende politische Position ist, erkennt man vollends an der Person Spoelmanns. Stellen bereits die Heirat zwischen Klaus Heinrich und Imma, die Erhebung einer Bürgerlichen in den Adelsstand sowie die Verleihung der Ebenbürtigkeit durch den Großherzog an Imma in den Augen der nicht hoffähigen bürgerlichen Leserschaft Themen dar, die träumerische Wunschbilder heraufbeschwören, so trifft das auf noch viel bedeutungsvollere Weise auf Auftreten und Wirken Samuel Spoelmanns zu. Die Finanzkraft des Landes ist erschöpft, der Staat ist bankrott. Da genügt es, daß Samuel Spoelmann einige Transaktionen vornimmt, seine Kapitalien ein wenig anders plaziert, und schon ist die schier ausweglose Situation behoben, ss Über die Porträtähnlichkeit Albredlts mit Heinridi Mann vgl. Viktor Mann: Wir waren Fünf. Bildnis der Familie Mann. - Konstanz 1949, und Katia Mann: Meine ungeschriebenen Memoiren. - Frankfurt M. 1974. - Über die Beziehungen der Gestalt Klaus Heinrichs in Hinblick auf das individuelle und künstlerische Selbstverständnis Thomas Manns vgl. insbesondere die Briefe an Walter Opitz vom j . 12. 1903, an Katja (vermutlich) von Anfang Juni 1904 und (vermutlich) Mitte September 1904 wie an Hilde Distel vom 14. 1 1 . 1906 (in: Thomas Mann: Briefe 1889-1936. Hrsg. von Erika Mann. - [Frankfurt M.] 1961). 36 In dem bereits zitierten Brief an Ernst Bertram.

4

66

Frithjof Trapp

ohne daß auch nur irgendwelche Nachteile zu erkennen wären*7. Handel und Verkehr beleben sich, neuer Unternehmungsgeist erwacht, die Unternehmungen haben sogar Erfolg, und eine arbeitsame Bevölkerung gewinnt wieder Glück und verdienten Lohn. All dies ist eine Wirkung der lebensspendenden Kraft des Kapitals. — Ich will nicht behaupten, daß Thomas Mann völlig unbewußt dieses Idealbild der harmonischen Verknüpfung der Stände und der schöpferischen Kraft des Unternehmertums verwandt hätte, denn naheliegend ist, daß Thoimas Mann auch hier absichtsvoll mit populären Illusionen spielt, wie sie eben dem »Familienblattroman« entstammen, und weiter ist der Gedanke richtig, daß Kapitalkraft und wirtschaftliche Prosperität miteinander in Verbindung stehen, doch ist es erstaunlich, daß Thomas Mann sein »Märchen« — denn auch für diesen plötzlich aufbrechenden Geldsegen lassen sidi analoge Märchenmotive finden — auf einen der unmittelbaren Erfahrung der Leser so nahestehenden Bereich ausdehnt. Für ein nicht-bürgerliches Lesepublikum ist ein soldier Roman sicherlich nicht geeignet*8. Problematisch ist die Konzeption auch deshalb, weil Thomas Mann in Spoelmann nicht bloß den mythischen »Dollarmilliardär« darstellt, sondern zugleich auch »den Menschen wie du und ich«, den einsamen, kränkelnden, mißlaunigen Rentier (als Pendant zum »melancholischen Prinzen« Klaus Heinrich). Daß dieser zweite Zug in der Darstellung Spoelmanns, der »eigentliche« Spoelmann, dazu dient, von den beklemmend gewaltigen Kapitalien, der Geschichte ihres Erwerbs sowie von ihrer heutigen Plazierung abzulenken — wie umgekehrt diese »Umstände« dazu dienen, Spoelmanns »Einsamkeit« und »Menschenscheu« zu erklären —, liegt auf der Hand. Keinem anderen Zweck, als auf diese private, verletzliche Seite der Person Spoelmanns aufmerksam zu machen, dient es, wenn Imma zur Erwähnung bringt, daß in Amerika eine humanitäre Organisation es einmal rundweg abgelehnt habe, von Spoelmann eine Spende entgegenzunehmen, und dann Klaus Heinrich in einem platten Wortspiel moralisierend repliziert, das sei »nicht menschenfreundlich« von der »menschenfreundlichen Anstalt« gewesen (S. 3oo). Somit erscheint im Roman nicht bloß das Großkapital als ein fernes, in Amerika angesiedeltes Faktum — auch der Großkapitalist selber ist eine durch und durch »menschliche«, ganz nach bürgerlichen Maßstäben zu messende Gestalt. Ein solches Bild des Groß-

* 7 Der Vorwurf von Bartels und Sdimidt-Gibidienfels, die Heirat mit der »fremdrassigen« Imma stelle hierfür den skandalösen Kaufpreis dar, ist zwar innerhalb des Romans völlig absurd, beweist aber viel deutlicher, als Argumente es können, wie weit der Roman von den tatsächlich in Deutschland herrschenden Verhältnissen entfernt ist. * 8 Es klingt wie eine höhnische Bestätigung dieser Vermutung, wenn auch die Zeitung einer Volksbüchereiorganisation Büdier wie die »Buddenbrooks« und »Königliche Hoheit«, weil sie »für das einfache Volk nur Kaviar« wären, nur für »Bibliotheken mit gebildetem Publikum« geeignet hält (Laurenz Kiesgen: Thomas Mann. - In: Die Büdierwelt, N r . 6, März 1910, S. 1 1 3 - 1 1 6 ) .

Artistische Verklärung der Wirklichkeit

467

kapitalisten bietet sich aber dazu an, daß es als Rechtfertigung des Kapitalismus verstanden wird. Überhaupt herrschen in dem Roman durch und durch idyllische Zustände, wie sie nicht einmal in den (zu Unrecht) als idyllisch abgewerteten RaabeRomanen anzutreffen sind. Schlechte Menschen gibt es in dem Roman kaum. Die einheimischen Kapitalisten halten sich in bescheidenen Grenzen, wie es der Name des einzig genannten finanzkräftigen Mannes, des »Seifensieders Unschlitt«, andeutet. Die armen Leute sind arm und unterernährt, weil das Land insgesamt arm und finanzschwach ist und weil zudem Mißernten und Unglücksfälle diese bereits vorhandene Grunddisposition noch verstärkt haben. Rassistische Agitation ist dem Land sogar dermaßen fremd, daß Klaus Heinrich sich erst erkundigen muß, weshalb eine Person als »infam« gilt, wenn sie fremdrassiges Blut besitzt (S. 266). Spätestens an dieser Stelle müßte deutlich sein, mit welch ärgerlich einfachen Mitteln und wie stark politisch-gesellschaftlich unreflektiert Thomas Mann diese kleindimensionierte, friedliche, aber trotzdem zeitgenössisch-deutsche Welt gezeichnet hat. Der Roman kann deshalb auch nicht als spöttisch-ironischer, in einem guten Sinne »literarischer« Reflex der Wirklichkeit ernstgenommen werden — wie es uns sein darstellerischer Gestus nahelegt 8 * — , weil er in der ästhetischen Verarbeitung der Wirklichkeit unzulässig einfach — oder: nur literarisch-technisch — vorgeht. Immer wieder spiegelt sich die Artifizialität des Werkes in sich selber und zieht die außerkünstlerischen, der unmittelbaren Realität entnommenen Elemente in sich hinein — nicht, um sie in einer veränderten Form als ein »neues« Bild der Wirklichkeit dem Betrachter ein zweites Mal vor Augen zu stellen40, sondern um mit ihrer H i l f e das Spiel mit der Fiktion zu potenzieren. Was so entsteht, ist ein dem Auge angenehmes Arrangement schöner Bilder und Entwicklungsverläufe, das jedoch nicht mehr im entferntesten etwas mit der tatsächlichen Wirklichkeit zu tun hat, sondern im Rahmen der Fiktionalität des Kunstwerkes ausschließlich die Illusion tatsächlicher Wirklichkeit simuliert. Das Dargestellte wird zu einem Spiegel des Mannschen Artismus. 6. Es ist nicht einmal der Artismus als solcher, der an Thomas Mann zu kritisieren wäre, wenn nur das Werk sich bewußt und unmißverständlich dem Publikum als »Literatur« entgegenstellte, wie es etwa die Werke von H o r v i t h und Handke, der modernen Artisten, tun. Völlig unsinnig erschiene es mir, einem Künstler »Artismus« vorzuwerfen, aber legitim, ihn daran zu erinnern s

» Thomas Mann spricht von der »parödi(sti)sch-konventionelle(r)n Fassade« hinter der »eine der Zeit durchaus nicht ganz gleichgültige, bis zum Politischen sich zuspitzende moralische Problematik ihr Wesen treibt« (in: Werke, Bd. 119, S. 312). 40 In dieser Weise macht das Heinrich Mann, vgl. Frithjof Trapp: »Kunst« als Gesellschaftsanalyse und Gesellschaftskritik bei Heinrich Mann. - Berlin, F. U. Phil. Disi (unveröffentl. Ms.).

468

Frithjof Trapp

— und zu messen —, daß sein Werk in einen bestimmten politisch-gesellschaftlichen Kontext aufgenommen wird und in ihm zu wirken beginnt. Ein Drama wie Handkes »Die Unvernünftigen sterben aus« unterscheidet sich von »Königliche Hoheit« dadurch, daß bei Handke kein Zweifel gelassen wird, daß das auf der Bühne sich darstellende Erscheinungsbild nicht die tatsächliche Wirklichkeit ist, während bei Thomas Mann die Konzeption darauf abzielt, den Leser immer wieder in den Glauben zu verstricken, daß die Welt tatsächlich so sein könnte, wie die Welt des Romans sich gibt41. Nimmt man nodi die »schöne Form« hinzu, die genau dem Spielraum, den die herrschenden Geschmackskonventionen lassen, angepaßt ist42, dann wird deutlich, daß Literatur hier der Gefahr anheimgefallen ist, durch den illusionären Schein, den sie den Dingen verleiht, der bestehenden sozialen Ordnung die Legitimation nachzuliefern, die diese Gesellschaftsordnung einem verbreiteten Bewußtsein nach bereits nicht mehr hat. Ein solches Werk braucht nicht mehr »mißverstanden« zu werden — es leistet dem Mißverständnis selber Vorschub. Literatur ist hier in den Dienst der herrschenden Gesellschaftsschichten getreten, indem sie, sich ganz in deren Konventionen bewegend, »literarische Unterhaltung« anbietet. Thomas Mann ist zu dieser Zeit ohne Zweifel ein bürgerlich-konservativer Autor gewesen. Ich bin jedoch nicht der Ansicht, daß die Blindheit in Hinblick auf die zeitspezifisdien Probleme, die dem Roman inhärieren, bloß ein Ausfluß konservativer Gesinnungen ist, denn es gab auch Kritik an der wilhelminischen Gesellschaft von konservativer Seite her, sondern vor allem Indiz für eine besonders starke Einbindung des Teils des Bürgertums, für das Thomas Mann steht, in die wilhelminische Gesellschaftsordnung. Der Konservatismus war allerdings hierfür eine unabdingbare Voraussetzung. Nur wenn zwischen dem Autor und der Gesellschaft, in der er sich bewegt und für die er seine Werke schreibt, eine absolut problemlose, selbstverständliche Harmonie besteht, ist es erklärlidi, daß eine geistig und künstlerisch hodistehende Produktion sich ohne jedes Gefühl dafür entfaltet, daß Selbstverständnis und Erscheinungsbild der Gesellschaft, auf die der Autor sich als Rezipienten seiner Werke bezieht, doch problemreicher sein könnten, als beide meinen. Nur eine solche Blindheit macht es erklärlich, daß Thomas Mann die »Betrachtungen eines Unpolitischen« als Klärung seines eigenen, geistig-literarischen Standpunktes hat schreiben können, ohne dabei zu bemerken, welche Ungeheuerlichkeiten er in Teilen des Werkes formulierte, und daß das Werk nach außen als Beitrag zur Verteidigung einer annexionistischen Kriegszielpolitik er41

42

Selbstverständlich müßte man an den modernen Artisten unter Umständen zusätzliche oder andere Forderungen stellen, und es wäre zu diskutieren, ob sie diese Anforderungen erfüllen. Aber dieses Problem liegt auf einer anderen Ebene. Z. B. stellt die Darstellung von Dorotheas Entbindung (S. 14 f.) für das gutbürgerlidie wilhelminische Publikum etwas Anstößiges dar, jedoch wird die Anstößigkeit und man darf gewiß sein, daß sich Thomas Mann darüber bewußt war — durch die Eleganz der Erzähltedinik völlig entschärft.

Artistische Verklärung der Wirklichkeit

4 69

scheinen mußte. Die Kautel des »unpolitischen« Urteils darf in diesem Zusammenhang nidit gelten, denn dazu hat das Werk zu viel Gewicht; Konservatismus allein reicht zu seiner Erklärung nicht aus. Es ist ein spezieller »wilhelminischer Artismus«, der Thomas Mann in dieser Phase geprägt hat. Beim heutigen Leserpublikum haben die wilhelminischen Züge von »Königliche Hoheit« ihre Besonderheit verloren und illustrativen Charakter erhalten. Schließlidi ist der Wilhelminismus selber ein völlig anachronistisches Faktum geworden und in den toten Winkel gerade auch der historischen Betrachtung gefallen. Um so mehr treten die allgemeineren literaturgeschichtlichen Bezüge hervor, etwa die Querverbindungen zur Märchenliteratur des Fin-de-si^cle wie auch die individualpsychologisch interessanten Elemente des Werkes. Der Artismus hat eine neue Dignität gewonnen. Das korrespondiert auch mit der späteren Entwicklung der politischen Haltung Thomas Manns in der Weimarer Republik, im Exil und in der Nachkriegszeit. Es ist unter den zahlreichen Pressestimmen zu »Königliche Hoheit« überraschender- und bezeichnenderweise nur eine einzige und zwar ausländische Stimme, die auf die spezifisch deutsch-harmonisierenden, betont antirevolutionären Züge des Romans aufmerksam macht und sie als einen Teil des »tatsächlichen deutschen Innenlebens« versteht. Diese italienische Rezension wird im »Literarischen Echo« zitiert48: »Anscheinend hat Thomas Mann auch die soziale Aufgabe der Milliardäre umschreiben wollen: sie sollen Blut und Reichtum der Fürsten auffrischen. Die Ehebündnisse zwischen Aristokratie und Plutokratie sind in seinen Augen nicht die zweideutigen Schachergeschäfte, gegen die sich die Ironie anderer Schriftsteller richtet; sie sind ein von der Vorsehung gewolltes, daher berechtigtes Bündnis zwischen den Kräften der Vergangenheit und der Gegenwart. Diese Auffassung ist wunderbar optimistisch und zwar von einem echt deutschen Optimismus, der antirevolutionär ist und an keine noch so veraltete und unzeitgemäße Form gerührt wissen will, weil er annimmt, daß sie dem Heraufkommen neuer Formen nicht im mindesten im Wege stehen, sondern mit diesen einen Verein zu wechselseitiger Stärkung bilden.«

48

Reinhold Sdioener: Italienischer Brief. — In: Das literarische Echo. Berlin. 1. Februar JgH . 9, Sp. 6 j i - 6 f y

»Monarchia Solipsorum« Keine Wandlung Hofmannsthals V o n BERND BALZER, B e r l i n

Andreas ist wie der Kaufmannssohn (im »Märchen der 672. Nacht«) : der geometrische Ort fremder Gesdiicke. (E/143)*

Mit dieser Bemerkung in den Aufzeichnungen und Entwürfen zum »Andreas«Roman stellt Hofmannsthal nicht nur — wie so häufig1 — aus der Perspektive des Spätwerkes eine Beziehung her zu einem Werk seiner Jugend, sondern er faßt damit wesentliche Elemente beider Perioden in Gestalt zweier wichtiger Figuren unter eine gemeinsame Kategorie. Gleichwohl war die ältere Hofmannsthal-Forschung bestimmt von der These der Zweipoligkeit in seinem Œuvre, der Trennung der frühen von den späteren Schriften durch den radikalen Schnitt der »Chandos-Krise«, eine Entwicklung, die von Alewyn 1947 als »Hofmannsthals Wandlung« beschrieben* und auf ihren Begriff gebracht wurde. Im Ausbruch aus der »Sadtgasse des Ästhetentums« zum Weg »ins Leben«' in der »Metamorphose eines Ästheten des l'art pour l'art« zu einem »poète engagé«4 hat man die inhaltliche Qualität dieses Wandels zu erfassen gesucht, und es war wiederum Alewyn, der aus dem von Hofmannsthal selbst bereitgestellten Begriffsarsenal — »Verknüpfung mit dem Leben«, »Der Weg zum Sozialen« (A/214 u. 216), »der strenge Bezug auf das Leben« (DIII/493), etc. — den bildkräftigsten herausgehoben hat: »Vom Tempel auf die Straße«5. Neuere Arbeiten haben diese Auffassung bereits um einiges relativiert, wobei nicht nur der Inhalt der Hofmannsthalschen Wandlung, sondern auch die Tatsache der behaupteten Diskontinuität an sich betroffen wurde. * Die Schriften Hofmannsthals werden zitiert nach H . Steiner (Hg.) : H. v. Hofmannsthal, Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Berlin/Frankfurt 1946-60. Die Bände werden in der üblichen Weise abgekürzt: A = Aufzeichnungen, E = Erzählungen, etc. 1

vor allem in A d me ipsum (A/211 ff.) Alewyn, R . : Hofmannsthals Wandlung, in: R . A . : Ober Hugo von Hofmannsthal, 2. Aufl. Göttingen i960 * ebda. S. i j 9 4 vgl. Schwarz, E . : Hofmannsthals Kampf um die Wirklichkeit, in: Literatur und Kritik 1969, S. 225 * Alewyn, a.a.O. S. 1 6 1 2

»Monarthia Solipsorum*

471

Die Untersuchungen von Tarot, K e r n und Rudolph* haben die schon von Pestalozzi ausgesprochene Erkenntnis 7 vertieft, daß zwischen Früh- und Spätwerk eine kontinuierliche Fortentwicklung besteht, daß die Erkenntnis- und Daseinsproblematik nicht nur den »Chandos-Brief«, sondern das Gesamtwerk in einer Weise beherrscht, die es verbietet, von einer auf einen bestimmten Zeitpunkt zu fixierenden Krise zu sprechen. Im Hinblick auf den Schritt »Vom Tempel auf die Straße« hat sich dabei herausgestellt, daß dies einen »Weg zum Sozialen« allein in der Begrifflichkeit Hofmannsthals bedeutet, der »sozial« in konservativer, ja bewußt antimoderner Polemik gegen das gesellschaftliche Verständnis dieses Begriffes 8 als bloße Opposition zu »einsam« 9 auffaßte. Immerhin: in derart reduzierter Valenz wird auch in der neueren Literatur von einer Wandlung Hofmannsthals gesprochen 10 , von einer Fortentwicklung im Sinne der Entfaltung jener Daseinsstufen durch das Gesamtwerk, f ü r die das »Ad me ipsum« die Chiffren bereithält: »Durchdringen aus der Präexistenz zur Existenz« (A/214). Die ebendort genannten Wege — zunächst der »mystische« der »Introversion« ( A / 2 1 5 ) , dann der »soziale« ( A / 2 1 7 ) — werden als Dokument der Stufenfolge dieses Prozesses angesehen. Diese Interpretation hat zweifellos die — allerdings etwas vertrackte — Logik des » A d me ipsum« hinter sich und entspricht damit Hofmannsthals Selbsteinschätzung und seinem »Kampf um die Wirklichkeit« 1 1 . Doch weckt die zitierte selbstinterpretatorische Sentenz Zweifel an ihrer Gültigkeit, wobei mit dem »Andreas« ein Werk außerhalb der Hermetik des »Ad me ipsum« angesprochen ist, was eine Überprüfung erleichtert.

* Andreas als »geometrischer Ort fremder Geschicke« — in diesem Bild glaubte die Hofmannsthal-Forschung nicht zu unrecht einen wichtigen Schlüssel zum Verständnis des »Andreas«-Romans zu besitzen, und so fehlt auch in keiner der Arbeiten, die sich mit diesem Werk befassen, der Hinweis auf gerade diese*

• Tarot, R.: H. v. Hofmannsthal, Daseinsformen und dichterische Struktur. Tübingen 1970. Kern, P. Ch.: Zur Gedankenwelt des späten Hofmannsthal. Heidelberg 1969. Rudolph, H.: Kulturkritik und konservative Revolution. Tübingen 1971. 7 Pestalozzi, K.: Sprachskepsis und Sprachmagie im Werk des jungen Hofmannsthal. Zürich 1958, S. 27 zum Gesamtwerk: »Sein ganzer Aussagegehalt kreist um die Frage, wie das Individuum aus seiner schicksalhaften Vereinzelung erlöst werden könne.« 8 vgl. Rudolph, a.a.O. S. 154 ff. 9 vgl. etwa den Brief an Pannwitz vom Aug. 1917 (Mesa j , 19$$, S. 26): » . . . kann ich meine Elemente zusammenfassen: das Einsame und das Sociale«; weitere Belege: P III/ 339» 342. 437> P IV/392, usw. 10 z. B. Kern, a.a.O. S. 1 1 : »Abwendung von einem ästhetischen Subjektivismus... hin zur Objektwelt...« 11 vgl. Anm. 4

47*

Bernd Balzer

Zitat 1 2 . Darüber hinaus hat der aparte Charakter dieser mathematisierenden Metapher sogar zu einer gewissen Verselbständigung geführt: der »geometrische Ort« wurde zum locus communis 13 . Die Interpreten des »Märchens der 672. Nacht« verzichten dagegen weitgehend darauf 1 4 , die Hofmannsthalsche Interpretationsformel in ihre Überlegungen einzubeziehen. Audi das ist verständlidi: als »geometrischer Ort fremder Gesdiicke«, als Schnitt- oder Kreuzungspunkt fremder Personen — so wird die Metapher vorzugsweise übersetzt 15 — scheint der junge Andreas Ferschengelder zutreffend beschrieben. Seine grenzenlose Rezeptivität 18 stellt ihn zwangsläufig in den Brennpunkt fremder Einflüsse, und gerade diese Eigenschaft macht ihn zum Helden eines so bewußt Wilhelm-Meisterlichen Bildungsromans zu allererst tauglich. Der stete Wechsel der Begegnungen, Erlebnisse, Einflüsse, der — mit Hilfe der großen Mentorgestalt Sacramozos, dessen Funktion auf die Gesellschaft des Turmes verweist — zur schließlichen Vollendung von Charakter und Selbstbewußtsein des Andreas führt, läßt den Roman als eine einzige Konkretion der zitierten Metapher erscheinen. Ganz anders liegen jedoch die Dinge beim Kaufmannssohn des »Märchens«. Zwar sind mit den vier Dienern, dem Juwelier, dem Mädchen, den Soldaten »fremde Gesdiicke« in der Erzählung vorhanden, doch fällt es schwer, den Kaufmannssohn im Schnitt- oder Brennpunkt ausgeredinet ihres Einflusses zu sehen17, besteht doch hier ein geradezu umgekehrtes Abhängigkeitsverhältnis: die Augen seiner Diener [sind] auf ihn geheftet (E/12) mit einer unbestimmten, ihn quälenden Forderung (E/13),

und ein größerer Kontrast als der zwischen dem »öden, gleichsam luftlosen Leben« seiner Diener (E/12) und der »tiefsinnigen Schönheit« des seinen (E/8) scheint kaum denkbar, konstituiert aber in jedem Fall ein völlig anderes Verhältnis als etwa das des Maltesers zu Andreas. Die Welt ist häßlich, weil er ihr seine Schönheit entzogen hat, sie ist herzlos, weil er sie nicht beseelt hat, sie ist gehässig, weil er sich ihrer nidit erbarmt hat. 12

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15

M

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z . B . Alewyn, a.a.O. S. 127, sodann in Bauer, S. (Hg.): H . v. Hofmannsthal, Darmstadt 1968, S. 104 (H. Broch), 2 1 0 (M. Brion), 330 (F. Martini). S. a. G . Baumann: R . Kassner, H . v. Hofmannsthal, Kreuzwege des Geistes. Stuttgart 1964, S. 29, etc. z . B . P. Wapnewski in G . Jungbluth: Interpretationen mhd. Lyrik. Berlin 1969, S. 240 und F. Dehn: »Existenzielle Literaturwschft. als Entscheidung«, in: Dichtung und Volkstum 1 9 3 7 : »Existenz ist der geometrische Ort, von dem alle Bekundungen strahlenförmig ausgehen«. Tarot, a.a.O. S. 3 1 8 und K . Mommsen: »Treue und Untreue in Hofmannsthals Frühwerk«, in: G R M 1963, S. j 2 f sind die Ausnahmen. vgl. die unter Anm. 1 2 genannten Autoren, sowie K . Gautsdii: H . v. Hofmannsthals Romanfragment >Andreasallomatisdie Lösungc Gespaltene Persönlichkeit und Konfiguration bei H. v. Hofmannsthal, in: DVjS 1970, S. 192 f.) hingewiesen. 39 Miles, a.a.O. S. 47 ff. meint in der »Chandos-Krise« eine »Krise des Ich« sehen zu müssen, da Hofmannsthal nach dem Chandos-Brief das Programm »nosce te ipsum« aufgebe. Das stimmt jedoch nicht: Im Chandos-Brief geht es um Objekt-Verlust. 4 ® Alewyn, a.a.O. S. 126 « Miles, a.a.O. S. 4

38

»Monardiia Solipsorum«

479

dieses Programms. Das hat auch das Mißverständnis des »geometrischen Ortes« als Metapher der grenzenlosen Rezeptivität des Andreas so sehr begünstigt: Ich-Findung aus Welterfahrung — die Durchführung dieses traditionellen Konzepts eines Bildungsromans hätte den Solipsismus des Jugendwerks umgekehrt, hätte als zusätzlicher Beweis dafür zu gelten, daß Hofmannsthal den »Kampf um die Wirklichkeit«42 gewonnen, den Schritt aus der Traum- und Märchenatmosphäre der frühen Prosastücke heraus geleistet und die Richtung zum Realismus48 gefunden hätte. Es ist möglich, sogar wahrscheinlich, daß Hofmannsthals Intention in eben diese Richtung zielte, bedenkt man dabei die Spannweite des Romanvorhabens, wie sie von Walther Brecht mitgeteilt wird 44 . Vielleicht sollte mit dem »Andreas« nicht nur »das Soziale« im verengten Verständnis des Dichters, sondern in umfassenderer Bedeutung »erreicht« werden, worauf eine Notiz schließen läßt: Die angestrebte Auflösung ist die Beruhigung über das eigene Sein, über Groß oder Klein, Beschränkt oder Mächtig, Aufgenommen oder Ausgeschlossen, - worin zugleich die Beruhigung über die eigene Lebenszeit und die Zeitepodien und das symbolisch Sehen, auch die Beruhigung über das Dasein der Armen und Elenden. (E/246)

Die Frage ist jedoch, ob diese Intention sich verwirklichen ließ, und neben der Tatsache der Nichtvollendung nimmt auch das hier in den Mittelpunkt gestellte Zitat aus den Entwürfen zum »Andreas« die Antwort vorweg: Andreas ist ebenfalls »der geometrische Ort fremder Geschicke«, ist Demiurg seiner Umwelt. Auch die Literatur zum »Andreas« muß eine gewisse Übereinstimmung zwischen Außen- und Innenwelt konzidieren: äußere Wirklichkeit und Phantasie geraten durcheinander 45 . Die Wirklichkeit, in welche Andreas jeweils gestellt ist, ist seiner Wesenserprobung zugeordnet. 44 .

Sie führt das jedoch zurück auf die Fähigkeit des Andreas, sich in alle, sogar den Spion Zorzi, dann einen alten buckligen Zubringer etc. mit Verständnis hineinzufühlen. (E/228),

auf seine »grenzenlose Bestimmbarkeit« und »Allempfänglidikeit« 47 . Besonders dem Malteser Sacramozo gegenüber wird diese Empfänglichkeit deutlich: 42

48

44 45 44 47

E . Schwarz: Hofmannsthals Kampf um die Wirklichkeit, in: Literatur und Kritik 1969, H . 4 vgl. dazu F. Usinger: Die Figur des Sacramozo, in: Romanfiguren. Mainz 1 9 7 1 , S. 7 5 : »Hofmannsthal aber will das Unwahrscheinliche des Austauschs und der Einigung von Personen in einer ganz real zu nehmenden irdisdien U m w e l t . . . « In: Hofmannsthal-Blätter 1, S. 392 Th. Wieser: Der Malteser in Hofmannsthals Andreas, in: Euphorion 1957, S. 402 Fr. Martini: Das Wagnis der Sprache, 4. A u f l . Stuttgart 1954, S. 234 Alewyn, a.a.O. S. 1 2 7

480

Bernd Balzer In der Gesellschaft des Maltesers, ja nur durch einen Bezug auf diesen, verfeinert und sammelt sidi Andreas* Existenz . . . Seine Sinne verfeinern sich, er fühlt sich fähiger, im andern das Individuum zu genießen . . . (E/203 f.) Malteser zu Andreas, »weiß denn ein junger Mensch, was er fordert, was er sich wünscht?« - »die vielen Beziehungen, - und ob sie zu etwas führen, - hierzu bedarf es einer Führung von oben.« (E/238)

U n d doch heißt es von dem gleichen Sacramozo: Was will ein Mensch wie Sacramozo? . . . ein rasender Zorn der Impotenz, - »Dero Hochunvermögen«. Malteser: der völlige Zusammenbruch des Mannes von vierzig Jahren. (E/237) Die Klärung dieser Paradoxie ist für das Verständnis des Romans entscheidend: handelt es sich nur um eine Widersprüchlichkeit in der psychischen Konstitution des Maltesers, so wird dessen Funktion als Mentor und damit Repräsentant einer selbständigen Objektwelt außerhalb des Helden davon nicht berührt. In einer Gegenüberstellung von Andreas und Sacramozo heißt es jedoch über diesen: Er hatte im Genuß, im Leiden das Ganze, Zweiseitige beisammen, aber alles blieb ihm partiell, wogegen Andreas die Ahnung hat, wie alles zusammenkommt, nur nicht the grasp to get it. (E/239) Damit ist nicht nur das Kernmotiv des Romans angesprochen, sein im Untertitel genanntes Ziel der »Vereinigung« in mehrfacher sprachlicher Variation gleichsam umspielt — »Ganz«, »zweiseitig«, »partiell«, »zusammenkommen« — sondern eine Verbindung zwischen Andreas und Sacramozo beschrieben, die das objektivistische Verhältnis von Ich und Welt, von Held und Mentor zurücknimmt. Diese Verbindung stellt sich — auch bei oberflächlichem Lesen — zumindest als Parallelität dar: Andreas' zwei Hälften, die auseinanderklaffen. (E/195) [Über den Malteser:] Das Doppelte seiner Natur: (E/200) [Andreas:] Ihm war eines vor allem schwer: zu sich selber zu gelangen, (E/226) [Malteser:] Sacramozo sucht ihn: die Vereinigung mit sidi selbst, völlige Identität, (E/244). A n zwei Stellen ist sogar von einer mystischen »Vereinigung« von beiden die Rede, vom wiedergeborenen Sacramozo (in welchem auch Andreas ist) (E/244) Sacramozo und Andreas: das allmähliche an seine Stelle Setzen des andern; (E/243). Wenn dies auch noch auf das Konto der generellen Vereinigungsmotivik des »Andreas« zu schreiben wäre, gilt das doch nicht für solche Übereinstimmungen zwischen diesen beiden Gestalten, die bis zu Kongruenzen in den Biografíen reichen:

»Monardiia Solipsorum«

481

In Welsberg hätte seine niedrige Natur prävaliert, die höhere Entwicklung wäre gehindert gewesen. (E/214),

heißt es über den Malteser. Ähnliches aber gilt auch f ü r Andreas und seine »eingeschränkte Wiener Existenz« (E/247); er muß lernen die Oberwindung des Gemeinen ( - alles österreichische gemein . . . ) (E/216).

Die zwei Träume des Maltesers (E/23J), von denen »der spätere den früheren aufklärt« (E/214), haben für diesen ähnliche Funktion wie die beiden Träume des Andreas auf dem Finazzer-Hof, sie »verarbeiten« sogar Material aus Andreas* Erlebnissen in Kärnten: Hahnenschrei, ein zweiter, . . . Er steht auf, bloßfüßig . . . Die Müllerstochter am Tor, macht Feuer an, tränkt das Vieh im Rittersaal . . . Im Hausflur ein Feuer, Mägde; an die Wand gekettet der Gefangene . . . dazwischen durchfliegt er die Landschaft: Bäche, Friedhöfe, - dahin, dorthin. (E/23J)

Es ist dort alles enthalten: »die junge Magd bei einem Feuer« (E/i38), die mit Gotthilff »einen Trank« braut, Andreas — »die Reitstiefel hatte er ausgezogen« ( E / 1 4 1 ) in Romanas Zimmer (E/143), der Sdirei, der ihn weckt (E/147), die Szene im Stall: im Erdgeschoß lief ein kleiner Gang seitlich, der stand voller Knedite und Mägde . . . An dem Bettpfosten war eine fast nackte Weibsperson gebunden. . . (E/147),

die Bäche, Wälder, sowie der Finazzer-Friedhof und das Hundegrab des Kärntener Gebirgstales. Daß Andreas' ursprünglich geplanter Reiseweg von Villach »auf Spittal und dann durch Tirol« (E/126) ihn statt zum Castell Finazzer in die Nähe von Schloß Welsberg geführt hätte, sei nur am Rande vermerkt. Sacramozo teilt sein Leben so ein: drei Perioden zu zwölf; die erste: Erfüllung, Offenbarung; die zweite: Verwirrung; die dritte: Verdammnis oder Prüfung. (E/217).

Es ist der zwölfjährige Andreas, dessen Erlebnis mit seinem kleinen Hund — dem er das Rückgrat zertritt — ihn aus der Unschuld der Kindheit reißt (E/154 f.). Er ist zweiundzwanzig, als er auf die Reise geschickt wird, als deren Anlaß einer der Entwürfe nennt: schwierige, schleppende Rekonvaleszenz nach einer seelischen Krise . . . Verwirrung der Begriffe. (E/211).

Sacramozo gibt sich schuld an der Geisteszerstörung einer liebenswürdigen jungen P e r s o n . . . Er wirft sich besonders vor, daß er mit der Person, wie sie schon »eine Irrsinnige« war, noch geschlafen hat. (E/214)

Mit diesen Bemerkungen wird der Malteser — nicht mystisch, sondern real — an die Stelle des Andreas gesetzt; denn es war doch Andreas, dessen Auftreten

Bernd Balzer

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die Spaltung Maria/Mariquitas ausgelöst hatte; er hat ein Verhältnis mit der »Cocotte«, während die Beziehungen Sacramozos zu Maria »gegenstandslos« (E/213) sind und Mariquita ihn haßt. Wenn der Malteser »an verschiedene Orte (auch zu Nina)« läuft, »wo er Rückschläge und Demütigungen erleidet« (E/237), so liegt auch da eine Verwechslung mit Andreas vor, der — so »Das Venezianische Erlebnis des Herrn von N . « — Nina zu sehen versucht, aber abgewiesen wird (E/i 96 f.). Diese Liste ist noch nicht einmal vollständig 48 , reidit aber aus, um den Charakter dieses eigenartigen Verhältnisses beider Figuren zu erfassen: Der Malteser ist zwar nicht der Doppelgänger des Andreas — obwohl sogar diese Charakterisierung genannt wird (E/239) — , denn er ist in Alter, Erfahrung, Geist so viel mehr als dieser, zugleich jedoch ist er so viel weniger — »alles blieb ihm partiell« —, aber er ist aufs engste mit ihm verbunden: »werde ich den Weg finden, er zu sein?« (E/246). Der Malteser, von dessen »Scheindasein als Sacramozo« (ebd.) ausdrücklich die Rede ist, ist gleichsam die Objektivation einer der Daseinsmöglichkeiten des Andreas, eine verselbständigte und zur höchsten Konsequenz fortentwickelte Linie aus seinem seelischen Spektrum. Sacramozo ist sozusagen ein »nidit vereinigter« Andreas auf höherer Alters- und Entwicklungsstufe 49 . »Hab' ich den schon früher gesehen?« fragt Andreas sich bei der ersten Begegnung und antwortet sidb selbst mit einer Feststellung, die erst im Lichte dieser Erkenntnis einen Sinn erhält: von mir selbst kann ich über ihn erfahren! (E/174) In den Entwürfen zitiert Hofmannsthal Novalis: Wir wissen nur, insoweit wir machen. Wir kennen die Schöpfung nur, inwiefern wir selbst Gott s i n d , . . . (E/216). Das ist die solipsistische Vorstellung von der Erkenntnis als Weltschöpfung, die auch dem »Märchen« zugrunde lag. Für die Personen des »Andreas« heißt das mit den Worten des Maltesers: Die Menschen sind die Leiden und Taten des Geistes. (E/203) Das versdileierte Bild von Sais steht überall (E/245). Mit diesem weiteren Hinweis auf Novalis wird das Gestaltungsprinzip des Romans noch weiter expliziert im Sinne der »Aufzeichnungen zu den Lehrlingen zu Sais«:

48

So schreibt sidi Sacramozo »den Tod einer geliebten Person zu« (E/214), und Andreas setzt »später die Rollen vertauschend, sich an die Stelle der unglücklichen Mörderin« (E/22J f.). 4 » Nur J. Ryan hat das bislang ebenso erkannt, sie nennt Sacramozo allerdings nur in einer nicht, weiter ausgeführten Anmerkung, eine »Abspaltung des Romanhelden« (S. 200, Anm. 15).

.»Monarchia Solipsorum«

483

Einem gelang es - er hob den Schleier der Göttin zu Sais Aber was sah er? E r sah - Wunder des Wunders - sich selbst. Andreas ist der geometrische O r t Sacramozos. U n d das gleiche gilt — entsprechend der zitierten Selbstinterpretation H o f mannsthals —

auch f ü r die übrigen »fremden Geschicke« des R o m a n s :

Für

Gotthilff etwa, dessen Prahlereien während des gemeinsamen Rittes bei A n dreas Visionen auslösen, in denen er sich an Gotthilffs Stelle setzt ( E / 1 2 8 f.). D e r Widerwille, der ihn dem Bedienten gegenüber ergreift, w i r d so nicht durch einen etwaigen Wesensgegensatz motiviert, sondern

durch eine

Wesenskon-

gruenz, v o r der ihn graut. Gotthilff ist eben nicht die V e r k ö r p e r u n g des Gemeinen an sich 50 , sondern nur der gemeinen, »dunklen«, Seite v o n Andreas selbst: warum weiß ich selber, daß mir das hat passieren müssen? (E/152, Hervorhebung von mir, B. B.), f r a g t sich Andreas; durch das f ü r H o f m a n n s t h a l so wichtige H u n d - M o t i v w i r d die A n t w o r t angedeutet: Zwischen ihm und dem toten Hund war was, er wußte nur nicht was, so auch zwischen ihm und Gotthilff . . . andrerseits zwischen dem Hofhund und jenem anderen. ( E / i j 6), jenem anderen H u n d , dem Andreas als K n a b e das Rückgrat zertreten hatte. Zwischen diesem und dem H o f h u n d ist »etwas«, nämlich die Tatsache, daß Andreas selbst auch f ü r dessen T o d verantwortlich ist. I m Wachtraum — »sich selber entsprungen w i e einem Gefängnis« — hält er sich selbst f ü r einen Verbrecher und M ö r d e r »wie der G o t t h i l f f « , zugleich auch f ü r den Onkel L e o p o l d ( E / 1 5 5 ) , Der sei audi als Kind grausam gegen die Tiere gewesen und habe sidi dann zu einem gewalttätigen unglückseligen Menschen ausgewachsen, (E/IJJ) und erweitert so noch das Spektrum der Personen, die Teil seines Wesens sind 5 1 . Gotthilff ist so sehr Teil seiner selbst, daß er immer dann halluzinativ v o r ihm auftaucht, wenn der gemeine Z u g seines Charakters durchbricht: Die Miene des Bedienten Gotthilff grinste ihm entgegen, der schöne Moment war zerronnen. (E/190) I m T r a u m begegnet Andreas R o m a n a , doch sie erkennt ihn nicht 52 , sie hielt ihn für den bösen Gotthilff und dodi wieder nicht für den Gotthilff. (E/iJ7) 50 41

82

vgl. Alewyn, a.a.O. S. 126 In den Entwürfen wird diese Verbindung noch deutlicher hervorgehoben: »Malteser«: »Sie erwähnen oft Ihren Onkel in einer gewissen Weise, - er muß Ihnen wichtig sein . . . Sie haben das schön erzählt.« »Menschliches ist in ihm gediegen enthalten und löst sich schön ab.« (E/203) Auch Maria/Mariquita behandelt Andreas »wie einen Bedienten« (E/195)

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Auch Gotthilff ist zugleich mehr und weniger als Andreas: er verkörpert dessen bösartige, gewalttätige Komponente, die durch ihn ins Extrem gesteigert ist, aber er ist eben nur dieser eine Teil Andreas' 53 . Romana ist ein anderer 54 , der Bereich der »Unschuld und Reinheit« (E/i3j). Auch sie ist nicht »ganz«55, sondern ein Teil von Andreas: Er hatte Romana überall - er konnte sie in sich nehmen, wo er wollte . . . Er sah in sich hinein und sah Romana . . . (E/162)

Wie Gotthilff, so taucht auch sie vor seinem inneren Auge auf, wenn der ihr entsprechende Teil seines Charakters dominiert (E/187). Der »untröstlichen Witwe« an der Aar (E/222) hat Andreas »in anderer Weise zugehört als alle anderen Leute« (E/22J), und nachts setzt er sich »an die Stelle der unglücklichen Mörderin« (ebd.). In den »Spion Zorzi« vermag er sidi »mit Verständnis hineinzufühlen« (E/228), wünscht sich bei Nina sogar, Jetzt müßte man entweder ein allesvergessender Lump [Gotthilff?] sein oder ein geschickter Schwindler [Zorzi?] (E/193)

Der Fremde mit der Maske, Graf Prampero, überhaupt das gesamte Personal seines venezianischen Quartiers, entsprechen in der zur Schau gestellten Dissonanz von Sein und Erscheinung — der Graf als Lichtputzer im Theater, der halbbekleidete Fremde aus den »besten Ständen« (E/114) — adäquat dem inneren Zustand des Andreas: Überhaupt quälte ihn jetzt der Gegensatz von Sein und Erscheinung, (E/195) Andreas geht hauptsächlich . . . darum nach Venedig, weil dort die Leute fast immer maskiert sind, (ebenda)

Man hat daher, völlig zu Recht, in Venedig nicht nur den empirischen Schauplatz für die wichtigsten Partien des Romans gesehen, sondern quasi eine symbolische Objektivation des Andreasschen Seelenzustandes56: Venice: Dream-Theatre of the Inner Seif 6 7 .

Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Auch Wien und Kärnten sind mehr als empirische Orte und Schauplätze, sie und Venedig sind auch mehr als bloß atmosphärische Entsprechungen zur jeweiligen psychischen Konstitution des Helden: 83

nicht jedoch »ganz«, wie Alewyn meint (a.a.O. S. 126). Alewyn ebda.: »Andreas versagt doppelt gegenüber den beiden Elementen, aus denen alles gemischt ist: Gegenüber dem Gemeinen . . . und gegenüber dem Reinen.« 55 ebda. 5' W. Brecht, a.a.O. S. 392 f.: »Venedig, das ja immer eine Seelenheimat Hofmannsthals und ein Schauplatz seiner innerlichen Geschehnisse war.« Miles, a.a.O. S. 1 1 7 über die Figuren in Venedig: » . . . basically, they represent the temporal tensions inherent within himself.« 57 a.a.O. S. 174 64

»Monarchia Solipsorum« alles ging in der Welt vor und zugleich mitten in seinem Herzen, (El 160) Ihm war, als wäre dies mit einem Sdilag aus ihm selber hervorgestiegen . . . Jener Berg, der vor ihm aufstieg . . . war ihm ein Bruder und wie er hinübersah, war er gewahr, daß der Berg nichts anderes war als sein Gebet. (E/161 f.) Gautschi hat hierzu bemerkt: Andreas erkennt in diesem Augenblick die Landschaft als Ausdruck seiner Seele58, hat aber aus dieser zutreffenden Beobachtung nicht die Konsequenz gezogen, die er in Hofmannsthals eigener Formulierung in den Entwürfen zum Andreas hätte finden können: die Dinge sind nichts anderes, als wozu die Macht einer menschlichen Seele sie immerfort macht. Die unaufhörliche Creation. (E/216) Damit ist noch einmal unterstrichen, was oben vermutet (s. o. S. 479) und durdi die Untersuchung bestätigt wurde: es gelingt Hofmannsthal auch mit dem »Andreas« nicht, den Standpunkt einer solipsistischen Erkenntnistheorie zu überwinden. Der Grund hierfür liegt schon in der Wahl des Sujets: Seit Alewyns Aufsatz59 ist Morton Prince's Bericht über den Fall der Miß Beauchamp als Quelle für den Roman bekannt. Dieser psychopathologisdie Fall einer Persönlichkeitsspaltung war für Hofmannsthal aus zwei Gründen interessant: das Phänomen der totalen Dissoziation einer Person in eine Vielzahl unterschiedlicher Charaktere mußte sich ihm als Verdinglidiung seines Erkenntnisprinzips darstellen; die Therapie des Falles konnte der Weg sein, die Revision dieses Prinzips mitzugestalten. Mit der »Vereinigung« Marias und Mariquitas sollte, das machen die Entwürfe deutlich, sowohl dieser Fall von Schizophrenie geheilt, als auch die »Vereinigung« der »zwei auseinanderklaffenden Hälften« des Andreas geleistet werden. Gleichzeitig sollte damit die »Vereinigung« des Maltesers mit Andreas vollzogen und die des Andreas mit Romana möglich gemacht werden. Das »Vereinigungsprogramm«, das schon der Untertitel des Romans enthält, sowie das immer wieder angesprochene Ganzheitsthema gehen also auf den Fall der Miß B. zurück. Wie schon die Darstellung dieses Zusammenhanges zeigt, war für Hofmannsthal — im Gegensatz zum Psychiater — die Synthese der gespaltenen Seele die einzig denkbare Therapie: Die sich in jener Nacht Andres gibt, . . . ist die Ganze, weder Maria noch Mariquita . . .80 Damit ist der pathologische Zustand scheinbar objektiver Wesenspluralität aufgehoben; aber das Resultat ist und kann nur sein das »ganze« Individuum, das «8 Gautsdii, a.a.O. S. 45 69 Andreas und die »wunderbare Freundin< 1955, in: R. A.: Uber H. v. Hofmannsthal. 00 ebda. S. 141

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wieder auf sidi selbst zurückgeworfen ist, und das dabei wieder, oder noch immer, »Universum« ist. Die »vereinigte« Maria/Mariquita stünde Andreas nur dann als objektives Du gegenüber, wenn sie von vornherein voneinander unabhängige Personen gewesen wären; das sind sie jedoch nicht: Maria-Mariquita is actually nothing but a symbolic protection of the psydiic split in the hero himself 61 .

Diese Ansicht Miles' wird durch den Text ausdrücklich bestätigt: Bei Mariquita muß er sidi nach dem universalen Bindemittel sehnen, bei Maria nach dem Lösungsmittel: so muß ihm seine eigene Natur offenbart werden. (E/208)

D a auch die übrigen Personen in eben diesem Verhältnis zu Andreas stehen, erscheint er als die eigentliche und konsequente Durchführung des »Prinzips Maria/Mariquita« 62 . Er vermag den Malteser, Romana, Gotthilff usw. nur insoweit zu erkennen, als sie Teil seiner selbst sind: beachten Sie, daß jeder an dem andern nur das ihm selbst Gemäße eigentlich gewahr wird; wir formen rings Statuen nach unseren Maßen. (E/238)

Insofern ist die scheinbar »soziale« Tat des Andreas, die Heilung Maria/Mariquitas, ein Akt der Selbstbefriedigung. Ein Wort Ariosts steht als Motto über dem Andreas-Fragment: Es hat in unserer Mitte Zauberer Und Zauberinnen, aber niemand weiß es. ( E / 1 1 3 )

Auf dieses Motto nehmen die Entwürfe Bezug: der größte Zauberer ist der, welcher sich zugleich selbst zu bezaubern vermöchte. (E/242)

Damit ist ein weiteres Mal das Eingeständnis Hofmannsthals formuliert, daß ihm die Realisierung seines Programms — »der Weg zum Sozialen« — mit dem »Andreas« nicht gelungen ist. Nur das »zugleich« schränkt dieses Eingeständnis ein und weist hin auf die Bemühungen Hofmannsthals, doch noch einen Weg aus der solipsistischen Sackgasse zu finden. Dazu gehört der Versuch, die erkenntnistheoretisch bedingte Kausalität von Innen- und Außenwelt im dichterischen Bild umzukehren - die zitierten Passagen zur Mentorrolle des Maltesers gehören dazu (s. o. S. 479 f.) neben mehreren anderen, die zur These von der »absoluten Bestimmbarkeit« des Andreas geführt haben63. Aber die Metapher vermag keine Erkenntnistheorie zu erset41

Miles, a.a.O. S. 179, ebenso Ryan, a.a.O. S. 199: »Diese beiden Frauen . . . stellen zwei gegensätzliche Daseinsmöglichkeiten dar, die auch in Andreas vorhanden sind.« ** Ryan spricht mit Recht von einem »Grundmodell« Hofmannsthals (a.a.O. S. 200); ebenso Usinger, a.a.O. S. 7 3 : »Gespaltenheit scheint hier das Wesen aller Dinge zu sein.« M Alewyn, a.a.O. S. 1 2 7

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zen, noch gar eine vorhandene in ihr Gegenteil zu verkehren, auch nicht das magische Bild der Lucerna oder Lebenslampe: eine Kugel aus Alabaster, -worin das Blut eines ferne Abwesenden, das durch Bewegungen und Leuditen anzeigt, wie es diesem ergehe, bei Unglück aufwallt oder finster glüht, beim Tode erlischt oder das Gefäß zersprengt (E/243).

Mit diesem Bild sollte offenbar die Vorstellung vom »Ich als Universum« umgekehrt werden. Diese Vorstellung war dem Dichter so wichtig, daß er die magische Kugel gleich zweimal beschreibt. Dazwischen jedoch steht der selbstkritische Satz vom Andreas als geometrischem Ort fremder Geschicke. Der wenige Seiten danach skizzierte Schluß ist ein Spiegel der daraus folgenden Resignation. Über Andreas' Rückreise ist dort notiert: E r war, was er sein konnte und doch niemals, kaum jemals war. E r sieht den H i m mel . . . wird gerührt, - aber ohne das Gefühl des Selbst, auf welchem, wie auf einem Smaragd die 'Welt ruhen muß; - mit Romana, sagte er sich, könnte es sein Himmel sein. (E/247)

Das ist die direkte Aufkündigung der in der gleichen Version angekündigten Absicht: Ihm ahnt, daß auf einem gesunden Selbstgefühl das ganze Dasein ruht, wie der Berg K a f auf einem Smaragd, (E/223 f.).

Das Bewußtsein dieser Tatsache bewirkte bei Hofmannsthal einen geradezu nihilistischen Pessimismus: Aber der gewonnene Zustand beängstigt ihn mehr als er ihn erfreut, es scheint ihm ein Zustand, in welchem nichts bedingt, nichts erschwert, dadurch aber auch nichts vorhanden ist. (E/247)

Eine andere Möglichkeit bot sich in der Person Romanas, die, außerhalb der venezianischen Sphäre stehend, gegenüber den anderen Figuren das größte Maß individueller Souveränität zu besitzen scheint. In den von Alewyn mitgeteilten Notizen*4 wird sie tatsächlich mit der Wirklichkeit gleichgesetzt — »Die beständige Erhöhung der Materie Romana ( = der Wirklichkeit)« —, und auch die »Erlebnis«-Fassung scheint diese Version anzusteuern: Obwohl Andreas in dieser Fassung die Selbstfindung gelingt — Wie Andreas flüchtet und wieder bergauf fährt, ist ihm, als ob zwei Hälften seines Wesens, die auseinandergerissen waren, wieder in eins zusammengingen. (E/220) - ,

findet die »Vereinigung« mit Romana nicht statt: Romana verkriecht sich in den letzten Winkel, droht endlich von oben nach draußen hinabzuspringen, (ebda.)

ebenda S. 1 4 2

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Damit wäre R o m a n a als selbständige Person etabliert, das Konzept des Romans jedoch, das von Beginn an auf die »Vereinigung« Romanas mit Andreas abzielte 65 , wäre so ad absurdum geführt, die ganze Bildungsreise hätte ihre Funktion verloren. H o f m a n n s t h a l hat das selbst eingesehen, denn es heißt in der gleichen Schlußversion, R o m a n a »habe gelobt, ihn nie mehr zu sehen, er komme denn von Wien, sie als seine Frau heimzuholen« (ebd.). Diese Widersprüche verurteilten den »Andreas«-Roman zum Scheitern, er mußte Fragment bleiben.

* Hofmannsthals »Kampf um die Wirklichkeit« wurde im »Andreas« nicht zum Erfolg geführt, die erkenntnistheoretische Basis des »Märchens« durdi den Roman nicht überwunden. Er hat das mit bemerkenswert selbstkritischer Einsicht durch die Verbindung beider Prosawerke im Bild des jeweiligen Helden als dem geometrischen O r t fremder Geschicke zum Ausdruck gebracht. Der »Andreas« jedoch ist zu sehen im Kontext der übrigen späten Werke. Das »Buch der Freunde« nimmt das gleiche Problem zum zentralen Gegenstand und versucht die Lösung in einer an den Beginn gestellten Sentenz: Der Mensch wird in der Welt nur das gewahr, was schon in ihm liegt; aber er braucht die Welt, um gewahr zu werden, was in ihm liegt; dazu aber sind Tätigkeit und Leiden nötig. (A/9)

Es ist dies eben die Dialektik, die Alewyn im »Andreas« verwirklicht glaubt 8 6 . Aber solche Dialektik muß bloße Rhetorik bleiben, wenn der Schritt in die Wirklichkeit nicht tatsächlich geleistet wird, und das »Buch der Freunde« selbst ist Dokument dafür, daß gerade das nicht geschieht: Zu denken, daß alle Himmel und Unterwelten aller Religionen aus dem menschlichen Innern erbaut sind: auf die Kraft der Projektion nach außen kommt alles an. (A/36), Denke ich mich und was immer Zweites dazu — und war es die Landkarte von Griechenland - , so sehe idi wie durch ein Fenster in midi hinein. (A/41),

oder ganz bündig: Wirklichkeit ist die fable convenue der Philister (A/23).

Auch in den Komödien ist »das Soziale« nicht erreicht — H o f m a n n s t h a l 65

66

Man denke an das Motiv der zerrissenen Kette (E/160), sowie an Andreas' Vision bei seiner Abfahrt vom Finazzer-Hof: »Er hatte Romana überall...« (E/162)

Alewyn, a.a.O. S. 140: »Das Magische der Zusammenstellungen,

um das sich Hof-

mannsthal . . . bemüht, dient gewiß auch dazu, das, was in den Personen vorgeht, sichtbar zu machen, als etwas, was zwischen Personen vorgeht, und damit die Psychologie in Dramaturgie zu verwandeln. Aber das bliebe bloße Choreographik, wenn nicht umgekehrt das, was zwischen den Personen vorgeht, zurückwirkte auf das, was in ihnen vorgeht...»

»Monarchia Solipsorum« selbst unterstreicht in einem Brief an R u d o l f P a n n w i t z die Fiktivität der Gesellschaft darin 6 7 . Ohne die Voraussetzung einer erkenntnistheoretischen Bewältigung der empirischen Wirklichkeit bleibt aber auch »die Tat«, die den »nicht-mystischen W e g zum Sozialen« (A/217) eröffnen soll, nichts als Selbstbefriedigung, wie auch das mystische Erlebnis zur Onanie erniedrigt werde, wofern nidit der strenge Bezug auf das Leben gesucht. (D III/493). In diesen Schlußzeilen des »Priesterzöglings« meint A l e w y n die Formel von »Hofmannsthals Wandlung« sehen zu dürfen 6 8 ; gerade dieses Dramenfragment ist aber der Beleg dafür, d a ß die Wandlung nicht stattfand. 6 9 Es besitzt in dieser Beziehung geradezu autobiographischen Charakter, indem es den Sdiritt »auf die wimmelnde Straße« ( D III/493) als Postulat, das noch nicht eingelöst wird, an das Ende stellt. Autobiographisch ist auch die hier formulierte Einsieht in das geschichtlich Unzeitgemäße der eigenen gesellschaftlichen Position: warum so spät geboren? Begriffe: Schicksal, Zeit, ahnend erfaßt; über diese Begriffe wird der Schüler schwach, seine Seele versehrt. Er ahnt, daß die Schrift, die ihm enthüllt wurde (Kleist Seelengeschichte in Briefen) auch schon vergangen, (D III/ 49 1 )Kleists »Geschichte meiner Seele«, die Schrift, »die auch schon vergangen« ist, enthält in dem Brief an Ulrike v . Kleist v o m 1. M a i 1802 Kleists schließlichen Lebensplan 7 0 : ich habe keinen Wunsch, als zu sterben, wenn mir drei Dinge gelungen sind: ein Kind, ein schön Gedicht und eine große Tat. D a s ist eben die Triade, die auch Hofmannsthals Programm für den »Weg zum Sozialen« — durch das Werk, das Kind, die T a t — beinhaltet. Autobiographisch ist schließlich auch der Untertitel des »Priesterzöglings«, durch den das Scheitern der Absicht des Schülers vorweggenommen wird, »strengen Bezug auf das Leben« zu sudien, und damit auch das Scheitern der im »Ad me ipsum« beschriebenen Entwicklung Hofmannsthals »aus der Präexistenz zur Existenz«: M O N A R C H I A SOLIPSORUM.

87 68 w

70

vgl. Mesa j , 1955, S. 23 und Rudolph, a.a.O. S. 169 f. Alewyn, a.a.O. S. 161 Einen Hinweis darauf gibt auch W. Volke (H. v. Hofmannsthal in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Hamburg 1967), S. 74 zur Erkenntnis des Priesterzöglings: »Es ist das keine plötzliche, durch eine Schaffenskrise geweckte Einsicht. Sie war schon in dem Dichter des Gestern im Keim vorhanden.« H. v. Kleist: Geschichte meiner Seele. Ideenmagazin, hg. v. H. Sembdner, Bremen I9J9, S.

Carl Sternheims »Werkstatt« Verschollene Werke und nicht verwirklichte Pläne Ein Bericht V o n MANFRED LINKE, B e r l i n

Die Ausgabe des Sternheimschen Gesamtwerks1 erschließt in ihren letzten drei Bänden einen Nachlaß von bedeutendem Umfang: in den Bänden 8 und 9 eine Fülle unveröffentlichter früher Werke und Fragmente, Gedichte, Dramen, erzählende Prosa, zwischen 1892 und 1904 entstanden und von einer eminenten Produktivität des jungen Autors zeugend, in Band 10 (neben anderem) die bisher nicht publizierten Dramen »Die Väter oder Knock out« und »Aut Caesar aut nihil«, 1926—1928 und 1931/1932 geschrieben, sowie die Torso gebliebene verkürzende Bearbeitung des »Europa«-Romans aus dem Jahre 1931. Diese reiche literarische Hinterlassenschaft ist jedoch auf die Früh- und Spätzeit von Sternheims Schaffen beschränkt; für den Zeitraum zwischen 190} und 1926 (dem Beginn der Arbeit an der Komödie »Die Väter«) enthält sie nichts, was zu Lebzeiten des Autors ungedruckt blieb, wenn man von einer Glosse aus dem Jahre 1921 absieht8. Das könnte bedeuten, daß Sternheim alles, was er in diesem Zeitraum schrieb, publiziert hat oder daß das von Sternheim nicht zur Veröffentlichung Bestimmte verlorenging. Immerhin wußte man bisher schon mit Sicherheit von zumindest einem Werk aus diesen Jahren, das nicht im Nachlaß enthalten ist, bei anderen gab es Vermutungen, so daß die erstere der beiden Alternativen ausscheidet. Bei der zweiten, zutreffenden erhebt sich die Frage, warum unveröffentlichte Werke und Fragmente aus dieser Zeit verlorengingen. Da die Manuskripte fast aller veröffentlichten Werke erhalten sind, kann man eigentlich nur vermuten, daß Sternheim selbst vernichtet hat, was er für mißlungen hielt und nicht ans Licht der Öffentlichkeit gelangen lassen wollte und wovon nun im folgenden aufgrund neuen Quellenmaterials die Rede sein soll. Nur bei wenigen verlorenen Manuskripten von ungedruckten Arbeiten liegen andere Gründe vor. Doch halten wir zunächst das bisher zu unserem Thema Bekannte fest und gehen dabei chronologisch vor. Beginnen wir mit einem Fall, der außerhalb des Carl Sternheim: Gesamtwerk, Hrsg. von Wilhelm Emrich (ab Bd. 8 unter Mitarbeit von Manfred Linke), 10 Bde., Neuwied a. Rh., Berlin: Hermann Luditerhand Verlag 1963 ff. Bd. 10 erscheint im Frühjahr 1976. * »Meister des Stils!«, in: Gesamtwerk, Bd. 10 1

C a r l Sternheims »Werkstatt«

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von uns angesprochenen Zeitraums liegt. In seinem »Lebenslauf« von 1921 berichtet Sternheim: »Mit neunzehn Jahren schrieb ich eine verlorengegangene, kraß naturalistische Scene fürs Theater, sandte sie dem damals verehrten Dichter der >WeberSnob< den Zyklus des bürgerlichen Heldenlebens< vorläufig abgeschlossen zu haben. Er will jetzt auf das mit dem >Don Juan< betretene Gebiet des großen historischen Dramas zurückgreifen, und zwar meint er in König Heinrich VIII. von England die Figur gefunden zu haben, die in ihrer seelischen Physiognomie das moderne Mannesproblem am deutlidisten verkörpern würde.« 28 Richtete sich 1909/1910 Sternheims Interesse — wenn solche Spekulation anhand der wenigen Zeugnisse überhaupt möglich ist — auf den Kampf des Einzelnen gegen den einengenden, erstarrten Begriff und für »persönliches Menschentum« (12.1.1910), so scheint es sich 1914 in Richtung auf ein mehr psychologisches Problem verlagert zu haben. Allerdings hat Sternheim seinen Vorsatz nicht ausgeführt; nadi der Uraufführung des »Snob« und nach dem Abschluß des »Kandidaten« setzte er die Reihe der Dramen »Aus dem bürgerlichen Heldenleben« mit einem ihrer gewichtigsten Stücke fort: am 2. März 1914 begann er »1913«. — Wahrscheinlich gleich nach Abschluß der »Hose«, im September 1910, stellte Sternheim mit Franz Blei Überlegungen wegen einer Verlagsgründung an. Der Verlag sollte Ausgaben französischer Literatur, darunter das Gesamtwerk Stendhals, in neuen Übersetzungen (an denen sich Sternheim beteiligen wollte 28 ) herausbringen. Noch während einer Italien-Reise, im Oktober, zerschlug sich das Projekt. Nach der Rückkehr von der Reise dürfte die Stoff-Suche wieder begonnen haben. Am 2j.November 1910 verzeichnete Thea Sternheim einen Plan: »Karl hat eine neue Komödie im Kopfe, die er >Der Empfindliche< nennen 27

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Thea Sternheim vermerkt u. a. ausführlich die negativen Äußerungen Otto Vrieslanders (14. 8. 1910). Der Artikel »Neues von Carl Sternheim« liegt als unbezeichneter und undatierter Ausschnitt in der Zeitungsausschnitt-Sammlung des Landesarchivs Berlin. Sternheim hat sich auch späterhin wiederholt mit Übersetzungsplänen getragen, doch gediehen alle nicht sehr weit. Es existieren eine neunseitige Handschrift mit dem Fragment einer Übertragung aus Flauberts »L'Éducation sentimentale« (siehe Gesamtwerk, Bd. 6, S. $13) sowie das Manuskript einer Übersetzung der Voltaire-Memoiren aus dem Jahre 1930 (siehe a.a.O., S. 679). Darüber hinaus hat er 1917 eine Übersetzung von Constants Roman »Adolphe« gemeinsam mit seiner Frau begonnen. Ein Manuskript davon ist nicht erhalten.

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Manfred Linke

möchte«, der jedoch nichts mit der Komödie zu tun haben kann, die Sternheim zwei Tage später begann; sie hieß zunächst »Der Rock« 80 , später »Die Tante« und schließlich »Die Kassette«. Die Anfang Januar 1 9 1 1 vollendete erste Fassung®1 hinterließ aber bei seiner Frau und seinen Freunden einen so zwiespältigen Eindruck, daß Sternheim das Stück zunächst liegen ließ, weil er sich zu Änderungen außerstande sah. Erst im März begann er mit einer zweiten Fassung, der ein weitgehend verändertes Konzept zugrundelag. In der Zwischenzeit hat er, wie aus Thea Sternheims Tagebüchern hervorgeht, an einer Novelle gearbeitet 32 , über die jedoch nichts weiter bekannt ist und die gleichfalls nicht überliefert ist. Kurz nach Fertigstellung der »Kassette« ( 1 . 8 . 1 9 1 1 ) vermerkte Thea Sternheim eine neue »Idee« zu einer Komödie; am 15. August 1 9 1 1 heißt es: »Als ich nach Hause komme, erzählt mir Karl die Idee zu einer neuen Komödie >Die Nadelgroße Korse< als >Friedenskaiser< für sein Land und Europa über 100 Jahre veranlaßt hat.« Irgendwelche Arbeiten für ein solches Stück sind nicht erhalten 47 .

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So ist auch eine Meldung der Frankfurter Oper zu Beginn der Saison 1 9 2 1 / 2 2 (enthalten in: Frankfurter Zeitung N r . 653, 3. 9. 1 9 2 1 ) sicher zutreffend: Sternheim bereite auf Vorschlag der Opernleitung eine Textbearbeitung für Jacques Offenbachs Operette »Blaubart« vor, die in der zweiten Hälfte der Spielzeit uraufgeführt werden solle. Weshalb dieser Plan nicht ausgeführt wurde, ist nicht bekannt. In Thea Sternheims Aufzeichnungen erscheint er nicht, und auch die uns zugänglichen Briefe geben keine Auskunft. Sternheim hat wiederholt seine Affinität zur Musik Offenbadis betont, die er, wie er in seiner Autobiographie »Vorkriegseuropa im Gleichnis meines Lebens« erklärt (siehe Gesamtwerk, Bd. 10, 1, S. 179), von seinem Vater »erbte«. So ist natürlich auch unbekannt, ob dies ein »historisches« Stück werden sollte - in diesem Falle jedoch hätte es sich um die neuerliche Beschäftigung mit der Gestalt Napoleons gehandelt, die er in früher Jugend schon einmal zur Hauptperson eines Stückes machte. Das Drama »Fallende Blätter« schrieb Sternheim 1895, im achtzehnten Lebensjahr (siehe Gesamtwerk, Bd. 8, S. 69 ff.). Sternheim erwähnte seinen Plan auch in einem Interview, das er der französischen Zeitung »Comoedia« (2. 4. 1930) gab.

Hans Fallada und die Weimarer Republik Z«r Disposition kleinbürgerlicher Mentalitäten vor

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V o n CLAUS-DIETER KROHN, Berlin

/. Geht man davon aus, daß literarische Werke bestimmte Formen der Realitätsaneignung durdi das Bewußtsein sind, so dürfte ein Desiderat der Literaturwissenschaft sein, näher zu erwägen, was die inhaltlich bestimmte, literarische Kommunikation im Verhältnis zu anderen Dokumentationen der betreffenden Realität auszeichnet. Bisherige Versuche, Literatur vom Zusammenhang »gesellschaftlicher Seinstotalität« her zu erfassen1, stecken noch in den Anfängen oder scheinen, wie etwa die Widerspiegelungstheorie mit ihren monokausalen Projektionsvorstellungen, in die Sackgasse zu geraten. Am Beispiel Falladas soll daher der Versuch gemacht werden, eine Vermittlung von Literatur aus den sozialhistorischen Bedingungen vorzunehmen. Das Beispiel Fallada ist insofern interessant, weil das von ihm beschriebene Milieu von autobiographischen Erfahrungen bestimmt wurde und außerdem als Bereich einer sozialen Schidit gelten kann, die die Massenbasis des seit Ende der zwanziger Jahre erstarkenden Nationalsozialismus ausmachte. Die Hypothese für eine FalladaAnalyse enthält damit zwei Aspekte. Erstens soll sie die Frage nadi der realistischen Darstellung objektiver Zusammenhänge, etwa der ökonomischen Ohnmacht des Mittelstandes in einer bestimmten historischen Situation, beantworten und zweitens die Einordnung Falladas zum Kleinbürgertum ermöglichen. Dabei kann es nicht darum gehen, den Autor negativ wertend aufgrund spezifischer Identitäten mit der Nazi-Ideologie einzuordnen. Das Interesse besteht vielmehr darin, am Beispiel Fallada kleinbürgerliche Mentalitäten zu analysieren, deren Bewußtseinsdisposition das bevorzugte Agitationsfeld des Faschismus wurde. Die Interpretation darf folglich nidbt allein von der literarischen Deskription ausgehen, sondern muß zugleich die hinter der Handlungskomposition stehende ideologische Bindung und deren sdiichtenspezifisdie Allgemeingültigkeit herausarbeiten. Es gilt also, anhand der literarischen Fiktionalität im Vergleidi mit der als objektiv erkannten realen Umwelt die 1

Mannheim, K.: Ideologische und soziologische Interpretation der geistigen Gebilde. In: ders.: Wissenssoziologie. Neuwied 1964. S. 397

Claus-Dieter Krohn

Metakommunikation hinter der verbalen Ebene zu erkennen bzw. die der sprachlichen Subjektivität immanenten soziokulturellen Bedingungen und psychischen Vorgänge zu prüfen2. Dieses Vorgehen ist auch sozialgesdiichtlidi relevant, da Forschungen zum Mittelstand und zur Vorgeschichte des Nationalsozialismus großenteils nur zu organisierten Gruppen und Verbänden vorliegen oder allgemein von soziologischer oder sozialpsychologischer Makroanalyse ausgingen®. Die Detailforschung individueller Subjektivität in der Realitätserfassung mit ihren entsprechenden Verhaltensreaktionen trat dagegen zurück. Aber gerade sie erlaubt erst im Zusammenhang mit der Analyse gesellschaftlicher Bedingungen tragfähige ideologiekritische Aussagen mit der Absicht, die »Schere« von objektiv erkannter Realität und bewußtseinsbedingter Brechung — wofür vorzugsweise das literarische Werk als Medium steht — zu verdeutlichen4.

II. Ob Falladas Romane als »Darstellung eines Aufklärungsprozesses« Interesse beanspruchen können, wie jüngst Lethen behauptet hat 5 , erscheint sehr zweifelhaft. Überhaupt befindet sich die literaturwissenschaftliche Fallada-Rezeption in einem eigentümlichen Dilemma. Bislang hat sie sich darauf beschränkt zu zeigen, mit weldier Genauigkeit er das ihm so vertraute Milieu des Kleinbürgertums und dessen sozialen Abstieg geschildert hat. Die sozialen Gründe für diesen Abstieg und die entsprechenden Reaktionsmuster wurden jedoch kaum erörtert. Während die Monographie Mantheys8 Falladas Romane individualpsychologisch aus Kindheitserlebnissen des Autors in einem rigiden und bigotten wilhelminischen Elternhaus zu erklären suchte, reklamierte die D D R Forschung den Autor als deklassierten kleinbürgerlichen Proletarier für sich, ohne jedoch den Widerspruch hinreichend zu klären, warum trotz objektiver 2

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vgl. J . Habermas: Legitimitätsprobleme im Spätkapitalismus. Frankfurt/M. 1974. ( = edition suhrkramp 623). S. 2 1 / 2 2 Bracher, K . D . : Die Auflösung der Weimarer Republik. Villingen 81960; Geiger, Th.: Die soziale Schichtung des deutschen Volkes. Soziographischer Versuch auf statistischer Grundlage. Stuttgart 1 9 3 2 ; Hamel, I.: Völkischer Verband und nationale Gewerkschaft. Der Deutschnationale Handlungsgehilfen-Verband 1 8 9 3 - 1 9 3 3 . Frankfurt/M. 1967; Fromm,E.: Die Furcht vor der Freiheit. Frankfurt/M. 1 9 7 2 ; Reich, W . : Massenpsychologie des Faschismus. Kopenhagen u.a. 1 9 3 3 ; Winkler, H . A . : Mittelstand, Demokratie und Nationalsozialismus. Die politische Entwicklung von Handwerk und Kleinhandel in der Weimarer Republik. Köln 1972.

Formprobleme bzw. ästhetische Fragen des Stils werden in der vorliegenden Untersuchung nur am Rande gestreift, da sie für die Vermittlungsproblematik nur von sekundärer Bedeutung sind. 5 Lethen, H . : Neue Sachlichkeit 1 9 2 4 - 1 9 3 2 . Studien zur Literatur des »Weißen Sozialismus«. Stuttgart (1970). S. 1 5 7 * Manthey, J . : Hans Fallada. Reinbek 2 1 9 7 3 . ( = rowohlts monographieen 78).

Hans Fallada und die Weimarer Republik ökonomischer Proletarisierung der Kleinbürger einem Sozialproiii nachhing, das von proletarischem Klassenbewußtsein weit entfernt war. In Kuczynskis Quintessenz, daß Falladas Romane »ganz unpolitisch — obwohl von größter politischer Aktualität« seien7, kommt exemplarisch zum Ausdruck, daß die DDR-Forschung sich des Kleinbürgers wohl »mit liebevollem Interesse« annahm, bisher jedoch kaum dessen sozialpsychologische Determinanten zu erhellen, d. h. die Gründe darzulegen vermochte, warum sich die Menschen, beispielhaft von Falladas Helden dargestellt, Existenzvernichtung und moralische Erniedrigungen ohne massives Aufbegehren gefallen ließen. Zur interpretatorischen Grundlage für die Analyse des kleinbürgerlichen Bewußtseins werden Falladas Romane »Bauern, Bonzen und Bomben« von 1 9 3 1 und »Kleiner Mann — was nun?« von 1 9 3 2 genommen. Sie sind seine ersten bedeutenden Romane, die ihn einer breiten Öffentlichkeit bekannt machten. Im Gegensatz zu seinen literarischen Versuchen Anfang der zwanziger Jahre, die in wenig origineller expressionistischer Manier lediglich einen »Wust von Pubertätsinnerlichkeit« 8 und »Seelenexhibitionismus« 9 zeigen, sieht Fallada am Vorabend der faschistischen Machtergreifung plötzlich gesellschaftliche Beziehungen seiner Helden. Der Boykott der Landvolkbewegung in »Bauern, Bonzen und Bomben« (im Text künftig BBB), der Anzeigenwerber Tredup, der auch wie sein Nachfolger Pinneberg in »Kleiner Mann — was nun?« ( K M ) autobiographische Züge Falladas trägt, reflektieren entscheidende Probleme in der Endphase der Weimarer Republik. Nach dem Ersten Weltkrieg brachte die große Inflation in Deutschland eine gewaltige Umverteilung des Volksvermögens vor allem zugunsten der industriellen und agrarischen Sachwertbesitzer. Nach der Währungsstabilisierung standen enorme Überkapazitäten einer konsumunfähigen Nachfrage gegenüber, da der Doppelcharakter der Löhne und Gehälter als Kosten- und Nachfragefaktor in dieser letzten Phase einer versuchten Rückkehr zum Wirtschaftsliberalismus nicht erkannt wurde und jene sowohl von den Wirtschaftsverbänden als auch von den bürgerlichen Koalitionen Mitte der zwanziger Jahre niedrig gehalten wurden, um vorrangig die Produktion mit den eingeschränkten Umlaufmitteln finanzieren zu können. Die Überproduktion führte jedoch seit 1924 zu kontinuierlichen Absatzkrisen, die nur kurzfristig in den »goldenen« Jahren 1926 und 1927 durch den Kreditschleier der Auslandsanleihen überdeckt werden konnten. Als privatwirtschaftliches Palliativ gegen die Überproduktion blieb f ü r die Unternehmen nur die Drosselung der Erzeugung. In der Rationalisierungswelle seit 1925/26 wurde versucht, die freien

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Kuczynski, J . : Hans Fallada, »Kleiner Mann - was nun?« - oder Madit und Idylle. In: ders.: Gestalten und Werke. Soziologische Studien zur deutschen Literatur. Berlin 1969. S. 350 Römer, R.: Dichter des kleinbürgerlichen Verfalls. Vor zehn Jahren starb Hans Fallada. - In: Neue Deutsdie Literatur 5 (1957). H. 2. S. 120 Manthey, a.a.O. S. 40

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Kapazitäten zusammenzufassen, um den Druck der fixen Kosten erträglicher zu machen. Damit war aber die Vollbeschäftigung der Arbeitskräfte in Frage gestellt, die noch während der Inflation durch die billigen Schleuderexporte in das Ausland tendenziell vorhanden gewesen war. Die Produktionseinschränkung und die Störung des Gleichgewichts zwischen Rationalisierungsinvestition, die Arbeitskräfte freisetzte, und Erweiterungsinvestition, die diese Arbeitskräfte resorbierte, brachten die strukturelle Arbeitslosigkeit, die seit 1929 in die Millionen ging 10 . Besonders betroffen wurde von der Entwicklung das Angestelltenheer des »neuen« Mittelstandes. Durch Konzentration und Organisation des produktiven Kapitals war bereits lange vor dem Ersten Weltkrieg der tertiäre Verwaltungs- und Distributionssektor gewachsen. Wie in der unmittelbaren Produktion die Fließbandarbeit nach dem Vorbild des amerikanischen Taylorismus eingeführt worden war, so vollzog sich ebenfalls nach amerikanischen Organisationsmethoden die Expansion des Kontorpersonals zur Auswertung und planerischen Optimierung des Betriebserfolges 11 . Ein erheblicher Angestelltenschub entstand in den Nachkriegsjahren, als der Vermögensschwund durch die Geldentwertung den »alten« selbständigen Mittelstand des Handwerks und Kleinhandels vielfach zerstörte. Dessen Träger wandten sich als neue Unselbständige den sozial benachbarten Angestelltenberufen zu und vermehrten den Konkurrenzdruck auf dem Arbeitsmarkt, was schon seit Anfang der zwanziger Jahre zu einer Annäherung oder gar Unterschreitung der Lebenshaltung von Arbeitern führte. In den Rationalisierungskrisen nach 1926 wurde auch dieser übersetzte Angestelltensektor von zunehmender Arbeitslosigkeit betroffen, wofür Falladas Beschreibung der Einführung des Quotensystems im Kaufhaus Mandel, das den »kleinen Mann« Pinneberg als Verkäufer beschäftigte, beispielhaft ist. Von jenen sozialökonomischen Bedingungen sind auch die schleswig-holsteinischen Landvolkunruhen abzuleiten, die in B B B thematisiert worden sind 12 . Den landwirtschaftlichen Sachwertbesitzern war es in der Inflation 10 11

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Hofmann, W . : Die säkulare Inflation. Berlin 1962. S. 20 ff. Von 1882 bis 1907 vermehrte sidi die Zahl der Angestellten um 5 9 2 % , die der Arbeiter um 1 1 0 % . Nach den Berufszählungen von 1907 und 192$ wuchs die Angestelltenschaft in Industrie und Handwerk in diesem Zeitraum noch einmal um 135°/o, in Handel und Verkehr um 7 3 % , die Arbeiterschaft dagegen nur um 2 4 % . V g l . Deutsche Wirtschaftskunde. Ein Abriß der Reichsstatistik. Berlin 1 9 3 3 . S. 54 ff.; Lederer, E . u. J . Marschak: Der neue Mittelstand. - In: Grundriß der Sozialökonomik I X . Tübingen 1926. S. 124 ff. Wie der Annoncenwerber Tredup im Roman zeitweilig zum Berichterstatter für die Altholmer »Chronik« avancierte, so übernahm auch Fallada, der 1929 Annoncenwerber des »General-Anzeiger« in Neumünster geworden war, die Berichterstattung des großen Landvolkprozesses. Zur Landvolkbewegung im einzelnen vgl. aus völkischer Sidit Luetgebrune, W . : Neu-Preußens Bauernkrieg. Entstehung und Kampf der Landvolkbewegung. Hamburg u . a . 1 9 3 1 ; Salomon, E . v.: Der Fragebogen. Hamburg 1 9 5 1 . S. 2 2 1 ff., w o insbesondere die verschiedenen Romanhelden Falladas entschlüsselt werden.

Hans Fallada und die Weimarer Republik gelungen, die aus der strukturschwachen Agrarwirtsdiaft Deutschlands resultierende Vorkriegsverschuldung zu beseitigen. Insbesondere die großbäuerliche schleswig-holsteinische Veredelungswirtschaft konnte während der Geldentwertung bequem ihren Viehbestand vermehren und aufwendige Lebenshaltung treiben, die Fallada bei dem Bauernfunktionär Reimers prägnant karikiert hat (BBB 44) 1 3 . Andererseits vernichtete die Geldentwertung jedoch auch vorhandene bare Betriebsmittel. Nach der Währungsstabilisierung zeigte sich sehr bald wieder die unrentable Agrarstruktur, so daß der Landwirtschaft vom Reich und vom Land Preußen umfangreiche Kredite zugeführt werden mußten 14 , die nur zum Teil produktiv verbraucht wurden. Die Kredite aus leidlich gefüllten Staatskassen und die günstigen Absatzbedingungen f ü r schleswig-holsteinische Milch- und Fleischprodukte liefen aber nur, solange der wirtschaftliche Aufschwung dauerte. Mit zunehmender Arbeitslosigkeit fiel die K a u f k r a f t , der Absatz stockte, die Preise fielen15, Kredite konnten nicht mehr getilgt werden, Steuern wurden immer schleppender von den Bauern gezahlt, und die Zwangsversteigerungen, mit denen auch die Romanhandlung in B B B beginnt, nahmen seit 1928 schlagartig zu 1 8 . Bereits Anfang 1928 kam es in Schleswig-Holstein zu massiven Protestkundgebungen, die zum Vorbild ähnlicher Veranstaltungen im übrigen Reichsgebiet wurden. Mehr als 140 000 Bauern waren allein an der Westküste auf die Straße gegangen und zeigten, wie tief die soziale Unzufriedenheit gewesen sein muß. Und bedeutsam erscheint auch, daß der Protest zu so einem frühen Zeitpunkt schon länger wirkende Spannungen freisetzte, die nicht unmittelbar ökonomischen Problemen entsprangen. Neben den stereotypen Forderungen nach agrarischem Zollschutz und Steuererleichterungen wurde vor allem auch die »Stärkung des Deutschgefühls« verlangt, ein Postulat, das sich in weiteren Protestresolutionen zu massiver antisemitischer Hetze steigerte 17 . A b Sommer 1928 eskalierte die Spannung zu passivem Widerstand; Pfändungen und Versteigerungen blieben erfolglos, da die anwesenden Bauern kein Gebot abgaben und den Abtrieb des Viehs verhinderten, wie Fallada historisch exakt zeigt. Die folgenden Bombenattentate markierten den Höhepunkt der Radikalisierung und die Desillusionierung der bäuerlichen Mittelschichten nicht nur gegenüber dem vermeintlich von den Sozialdemokraten repräsentierten Weimarer System,

Künftig wird aus den Romanen »Bauern, Bonzen und Bomben« (BBB) und »Kleiner Mann - was nun?« (KM) nach den Texten des Rowohlt-Taschenbuchverlages, Bde. 1 und 6JI, zitiert. 14 Zur Agrarproblematik Schleswig-Holsteins vgl. Heberle, R.: Landbevölkerung und Nationalsozialismus. Eine soziologische Untersuchung der politischen Willensbildung in Schleswig-Holstein 1918 bis 1932. Stuttgart 1963. 18 Steigerung der Agrarproduktion: 1928 = 100, 1932 = 106, Nettoproduktionswert dagegen: 1928 = 100, 1932 = 70; vgl. Konjunkturstatistisches Handbuch 1936. Berlin 1935. S. 46 W Zahlen bei Heberle, a.a.O. S. 124 f. 17 Luetgebrune, a.a.O. S. 15 ff.

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sondern auch gegenüber den traditionellen politischen Vertretern in der Deutschnationalen Volkspartei bzw. der Deutschen Volkspartei und die Orientierung zur N S D A P , die bei den Reichstagswahlen im September 1930 in Schleswig-Holstein mit 270/0 (Reichsdurchschnitt 1 8 % ) zur zweitstärksten Partei wurde. Rahmenhandlung des Romans B B B sind die Anlässe eines Prozesses 1929 in Itzehoe, in dem einige Bauern wegen Behinderung einer Ochsenpfändung verurteilt wurden. Die anschließende Solidaritätskundgebung der Bauern in Neumünster wurde wegen zu erwartender Ausschreitungen verboten. Es folgten der Bauernboykott und mehrere Bombenanschläge auf verschiedene Landratsämter, die zu dem großen Bombenleger-Prozeß in Altona führten. Sehr schnell tritt diese Thematik im Roman in den Hintergrund. In der Person Tredups und seiner kleinstädtischen Bezugspersonen fand Fallada das eigentliche Zentralthema auch f ü r alle seine folgenden Romane. Die bisherige Fallada-Forschung hat immer wieder auf die Thematisierung der »kleineu Leute«, der Angestellten, Verkäufer und Händler hingewiesen, die alle unpolitisch sind und sich gesellschaftlichen K r ä f t e n ausgesetzt sehen, denen sie hilflos gegenüberstehen 18 . Z u prüfen wäre jedoch auch, ob diese Verhaltensweisen ebenfalls f ü r Fallada konstitutiv sind und wie er sich mit ihnen auseinandersetzt. Damit käme man sowohl der realistischen Qualität seiner Romane als audi den Gründen f ü r die große Wirkung in der Öffentlichkeit näher. Einerseits ist auffällig, daß die Rahmenhandlung lediglich die aktenkundig gewordenen Vorgänge der Landvolkbewegung beschreibt, ohne die wirtschaftlichen Hintergründe näher zu beleuchten, andererseits treten die Bauern sehr schnell hinter der differenzierteren Schilderung von Personen wie Tredup, Gareis, Stuff und anderen zurück. Tucholsky hatte bereits darauf hingewiesen, daß die Bauern lediglich eine »dunkle anonyme Masse« darstellten 1 ®, die Falladas städtische Abkunft und seine Fremdheit gegenüber Agrarproblemen verraten. Z u fragen wäre dann, welche Funktion die Bauernthematik haben könnte. Betrachtet man die wenigen etwas plastischer herausgearbeiteten Bauerntypen, so wird deutlich, daß Fallada die Bauernproteste als Aufhänger f ü r seine Kritik am Weimarer System nimmt, die bereits allegorisch im Zirkus Monte des V o r spiels anklingt und sich im L a u f e der Romanentwidtlung immer konkreter in der Person des »roten Bonzen« Gareis (BBB 78), Bürgermeister von Altholm, kristallisiert. Obwohl bei der Ochsenpfändung im Potentialis anklingt, daß die Bauern bisher »immer aus dem Vollen gelebt« und die staatlichen Subventionen weniger produktiv als zu konsumtiven Zwecken verbraucht hätten (BBB 17), erscheint der Gerichtsvollzieher Kalübbe als Eindringling in die friedliche ländliche Ruhe. E r repräsentiert den »Staat« (BBB 16), dessen Funktion vorwiegend 18 19

vgl. Römer, a.a.O. S. 1 2 2 ff. Tucholsky, K . : Bauern, Bonzen und Bomben. - In: ders.: Ausgewählte Werke. Bd. 2. Reinbek 1965. S. 287

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in abstrakter Herrschaftssicherung gesehen wird. Unbeachtet bleibt der Tatbestand, daß gerade die Landwirtschaft nie zu befriedigender Kostgänger der öffentlichen Hand war. Rücksichtslos versucht der Staat im Roman vielmehr Eingriffe in die landwirtschaftliche Substanz vorzunehmen; vergeblich hatte der Wirt des Versteigerungslokals an den GeriditsVollzieher appelliert: »So lange es geht, soll der Mensch Mensch bleiben« (BBB 20). Fallada demonstriert hier die Hilflosigkeit des Individuums gegenüber einer scheinbar nicht greifbaren anonymen bedrohlichen Instanz. Für den Niedergang der Wirtschaftssubjekte ist nicht die unproduktive Konkurrenzwirtschaft, sondern gemäß liberaler Wirtschaftsideologie das Abstraktum Staat verantwortlich, dessen Repräsentanten als korrumpierte, opportunistische Emporkömmlinge erscheinen. Regierungspräsident Temborius war weniger durch Qualifikation als durch »viel Beziehungen« (BBB 38) die Stufenleiter sozialdemokratischer Parteikarriere heraufgefallen; »leise, gedämpft, halbhell«, so kennzeichnet Fallada die Atmosphäre, in der jener in der unzugänglichen Zone geheimer Kabinettspolitik nicht als Vertreter öffentlichen Gemeinwohls, sondern als der isolierte Bürokrat agiert, dem es lediglich auf das Funktionieren eines abstrakten Verwaltungsapparates ankommt. Solidarität unter Parteigenossen gibt es für Temborius nicht; er setzt Geheimagenten auf den Bürgermeister Gareis an, und während des Bauernprozesses läßt er ihn geplant in die Falle laufen. Audi der Sozialdemokrat Gareis, in seiner Energie und Tatkraft zweifellos der positivste Charakter des Romans, kann sich nur durch Intrigen und Erpressungen, ein Signum aller menschlichen Interaktionen in Falladas Romanen, durchsetzen. Die Kritik an dem von Gareis, d. h. vermeintlich von den Sozialdemokraten repräsentierten Weimarer System wirkt um so schärfer, als jener aufgrund seiner energischen Persönlichkeit zum Orientierungspunkt der schwachen, ums Überleben kämpfenden menschlichen Kreatur wird. Wie später Pinneberg von dem Ganoven Jachmann abhängt, so fühlt auch Tredup für den »Koloss« Gareis »eine heiße begeisterte Bewunderung« (BBB 35), während der ihn umgekehrt in seiner Fehde gegen den verkommenen, gegen »die Roten« kämpfenden Redakteur Stuff ausnutzt. Wie Tredup ist auch der Polizeiinspektor Frerksen autoritätsgebunden fixiert auf Gareis. Beide erkennen nicht, daß Gareis nicht von seiner eigenen Stärke, sondern von der Schwäche anderer lebt. Jachmanns Devise, »sind die Spielregeln kriminell, so ist Kriminalität ein legitimes Mittel zum Überleben!« 20 , könnte auch die von Gareis sein. Für die Analyse Falladas wäre nun wichtig zu fragen, ob die fehlende IchIdentität der kleinbürgerlichen Helden und ihre Abhängigkeit von den vermeintlich Starken lediglich literarische Fiktionalität ist, oder ob in die Deskription nicht vielmehr die unbewußten psychischen Befindlichkeiten des Autors eingegangen sind. Wie in der politischen Kritik Falladas am Weimarer System eine Interessenverlagerung vom Medium der Bauernbewegung auf die

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personalistische Ebene konstatierbar ist, so scheint sich die gleiche Verlagerung auch in den Identifikationsobjekten feststellen zu lassen, denn es drängt sich der Verdacht auf, daß die Bauern ursprüngliches Objekt von Falladas Identifikationswünschen waren. In der Exposition ließ er den Gerichtsvollzieher Kalübbe erklären: »Hier aber, wo wir jetzt gehen, da hat der Bauer gesessen vor hundert Jahren und vor tausend Jahren. Hier sind wir die Fremden. — Und ich gehe mit meiner Aktentasche und mit meinen blauen Piepmatzmarken ganz allein zwischen ihnen herum. Und ich bin der Staat, und wenn es gut geht, nehme ich ihnen eine Ecke von ihrem Stolz und die Kuh aus dem Stall, und geht es schlimm an, dann mache ich sie heimatlos, wo sie seit tausend Jahren saßen« (BBB 16). Die Bedrohung mit Heimatlosigkeit durch staatliche Übergriffe scheint das primäre Interesse Falladas an den Bauern auszuzeichnen. Sie verkörpern eine homogene solidarische Gruppe, fest verwurzelt in langer Tradition, worauf das nächtliche Landesthing mit dem Entschluß zum Boykott der Kleinstadt Altholm hinweist. Die Faszination Falladas an dieser sozialen Schicht wird von der Schilderung ihrer schweren Mobilisierbarkeit erhärtet. Zwar gibt es einige militante Landvolkfunktionäre, die sich des Freikorpsmannes Henning für ihre aggressiven Demonstrationsvorhaben bedienen, die Masse der Bauern repräsentieren sie jedoch nidit. In den wenigen herausragenden Typen charakterisiert Fallada vielmehr die schwerfällige, in sich ruhende Gemeinschaft, die erst aktiv wird, wenn der Außendruck unerträglich wird. Der eigenbrötlerische Bauer Banz, der abgesondert in seiner patriarchalisch strukturierten, von alttestamentarischen Lebensmaximen bestimmten Familie lebt, gerät lediglich in Zorn, weil er das brutale Vorgehen der Polizei gegen die Bauerndemonstration erlebte. Hat er sich nach der Pfändung seines einzigen Pferdes noch damit begnügt, ein Schild mit dem Hinweis vor seinem Haus aufzustellen, daß Vollstreckungsbeamte der deutschen Republik seinen Hof überfallen hätten, wird er erst radikalisiert, als er die schlagende Polizei erlebt: »Das ist der Staat! Das ist dieser Staat, da sieht man ihn, so hat er ihn sich immer gedacht« (BBB 123). In grenzenloser Wut will er auf einen Polizisten zurückschlagen, aber: »Er ist sdion ganz nahe an ihm, erreicht ihn von hinten, den umgedrehten Knüppel in der Faust. Da dünkt es ihm feige, den Mann von hinten niederzuschlagen, er versetzt ihm einen kräftigen Tritt gegen das Schienbein.« In dem hektischen Hin und Her der Demonstration wird der im übrigen beschränkt gezeichnete Banz als der moralisch klar Überlegene herausgestellt, der im Gegensatz zur Polizei von humaner Scheu gegen Gewalt geleitet wird. Ebenso reagiert ein anderer, von Fallada herausgehobener Bauer, der alte besonnene, auf Ausgleich bedachte Benthin, erst auf die Übergriffe des Staates: »Alle Uniform hat uns was getan. Der ganze Staat hat uns was getan« (BBB 106). Verstärkt wird der Eindruck von Falladas Identifikationswünschen dadurch, daß er die Bauern als unpolitische Gruppe zeichnet, die lediglich durch massive Agitation und Manipulation einiger im Hintergrund stehender agents provoca-

Hans Fallada und die Weimarer Republik

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teurs aktiviert wird. Während er sich in der Beschreibung des Handlungsablaufs exakt an die historischen Vorgänge hielt, werden weder die militant reaktionären Züge der Landvolkbewegung nodi die antisemitischen Kampfparolen, mit denen das Unbehagen an der »roten Judenrepublik« oder gegen »das jüdisch-parlamentarische System« artikuliert wurde 21 , erwähnt. Auch die Affinität des Landvolks zum Nationalsozialismus, symbolisch in der Emblematik der historischen Bauernfahne erkennbar, wird von Fallada verschleiert. Die Fahne, von dem Freikorpsmann Henning für die Demonstration angefertigt, wird von diesem in gleicher Weise interpretiert, wie Hitler die Symbolik des Hakenkreuzes definierte: »Das Fahnentuch ist schwarz. Das ist das Zeichen der Trauer über diese Judenrepublik. Drin ist ein weißer Pflug: Symbol unserer friedlichen Arbeit. Aber daß wir auch wehrhaft sein können: ein rotes Schwert« (BBB $8)22. Und um die Differenz der Bauern zu seiner Interpretation deutlich zu madien, läßt Fallada Henning gleichsam integrierend hinzufügen: »Es ist eigentlich, natürlich mit Abänderungen die Fahne von Florian Geyer.« Die positive Zeichnung der Bauernschaft, bestimmt von der Sehnsucht Falladas nach Anlehnung und Orientierung, weist auf einen dominanten Zug bürgerlicher Kultur, der in den permanenten ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Krisensituationen der Zwanziger Jahre besondere Bedeutung gewann. Schon seit der Industrialisierung schien stärker als in allen anderen westeuropäischen Industriekulturen der antiurbane Mythos in der bürgerlichen deutschen Öffentlichkeit durchgehenden Einfluß gehabt zu haben, der z. B. in Form der Agrarromantik die Feindschaft auf die Städte, in denen sich die sozialen Konflikte entluden, ausdrückte28. Für solchen verinnerlichten Mythos ist Fallada paradigmatisch. Der »heilen Welt« der Bauern stehen die Kleinstädter Altholms in ihrer Skrupellosigkeit, Bigotterie und Intriganz gegenüber. Auch im »Kleinen Mann« wird die Bedrohlichkeit der Stadt kraß dargestellt, als Pinneberg den seiner Frau Lämmchen lange versprochenen Sonntagsausflug in die ländliche Idylle mit seiner Kündigung bezahlen muß, die den Anfang vom Ende seines sozialen Abstiegs markiert. Die gleichen Identitätswünsche Falladas, wenn auch viel widersprüchlicher als in der Bauernproblematik, kommen in den autoritären Strukturen der zwischenmenschlichen Beziehungen zum Ausdruck. Die Unsicherheit des kleinbürgerlichen Charakters wird besonders in der Beziehung von Tredup und Gareis evident. Der Bürgermeister repräsentiert die Sozialdemokratie, die als Sammelbecken von Opportunisten gezeichnet und in Falladas diffuser Systemkritik mit dem Staat gleichgesetzt wird. Zugleich hebt Gareis aber durch ver21 22

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vgl. Faksimileabdruck des Flugblattes bei Luetgebrune, a.a.O. S. 63. vgl. dazu A . Hitler: Mein Kampf. 4 5 4 - 4 5 8 . A . München 1939. S. 5 5 7 : »Als nationale Sozialisten sehen wir in unserer Flagge unser Programm. Im Rot sehen wir den sozialen Gedanken unserer Bewegung, im Weiß den nationalistisdien, im Hakenkreuz die Mission des Kampfes für den Sieg des Gedankens der schaffenden Arbeit, die selbst ewig antisemitisch war und antisemitisch sein wird.« vgl. Bergmann, K . : Agrarromantik und Großstadtfeindsdiaft. Meisenheim 1970.

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schiedene menschliche Eigenschaften die durchgängige Negativwertung der Partei teilweise wieder auf. Der Widerspruch scheint nur so auflösbar zu sein, daß in dieser Figur geheime Wünsche Falladas gebrochen werden, die zuzugeben er sidi nicht eingesteht, da seine Wertordnungsmuster das Bekenntnis zu der in den Zwanziger Jahren noch als Klassenkampfpartei agierenden S P D verbieten. Offen ausgesprochen wird diese Problematik im »Kleiner Mann«, als Pinneberg seinem künftigen Schwiegervater erklärt, daß er als Angestellter nicht nur andere Bedürfnisse habe, sondern »auch ganz anders denkt als die meisten Arbeiter« ( K M i j). Das »Gefühl« Tredups, daß er dem Bürgermeister Gareis »alles sagen kann, daß der für alles Verständnis hat« (BBB 35), ist allerdings austauschbar. Auch der »dicke, illusionslose« Redakteur Stuff (BBB 65), der weder unlautere journalistische Praktiken noch die Hilfe krimineller Elemente scheut in seiner Fehde mit Gareis und dessen Partei, »die Deutschland klein gemacht« habe (BBB 296), ist gleichfalls eine wesentliche Orientierungsperson Tredups. Seine Identifikationswünsche sind ambivalent und von keinen politischen Prinzipien bestimmt, ein Indiz der Orientierungslosigkeit, das auf Fallada zurückweist. Stuff, der Vertreter des deutschnationalen Bürgertums, das sidi nie mit der Republik von Weimar abfinden wollte, ist sehr wohl mit hödisten humanen Qualitäten ausgestattet, etwa wenn er Gareis vor einem Bombenattentat bewahrt oder die Familie Tredups nach dessen Tod bei sich aufnimmt. Seine klaren politischen Maximen ermöglichen ihm audi, in Offenheit Gareis gegenüberzutreten. Trotz ihrer politischen Differenzen entwickeln diese beiden Antipoden eine fast freundschaftliche Beziehung, an die Gareis gegen Schluß des Romans sogar appelliert, als er von seiner Partei strafversetzt wird und Stuff bittet mitzukommen. In bedenklicher Realitätsferne negiert Fallada damit diametral entgegengesetzte politische Interessen, die zum Sdieitern der Weimarer Republik geführt haben. In der Verlagerung der politischen Probleme auf den zwischenmenschlichen Bereich, in dem freundschaftliche Beziehungen letztlich stärker sind als parteiliche Differenzen, kommt die Sehnsucht des Kleinbürgers nach Harmonie zum Ausdruck, die die gesellschaftlichen Antagonismen naiv verkennt oder gar ignoriert. Vereinzelung, Identifikationswünsche, autoritär bestimmtes Anlehnungsbedürfnis an die aktiven Starken, Sehnsucht nach Harmonie, das sind die Elemente, die die psychische Struktur Falladas und die seiner Helden konstituieren. Sie sind Ausdruck der Ohnmacht, die im »Kleinen Mann« gegenüber »Bauern, Bonzen und Bomben« eine weitere Steigerung erfährt. Während Tredup noch beschränkte Handlungsmöglichkeiten bei seinen krummen Geschäften zeigt, ist sein Klassenbruder Pinneberg in der Großstadt Berlin passiv bis an die Grenze der Apathie 24 . Die Suche nach Anlehnung hat Fallada hier 24

Gessler, A.: Hans Fallada. Sein Leben und Werk. Berlin 1972. ( = Sdiriftsteller der Gegenwart. Bd. 6). S. 40 f.

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weiter personalisiert bzw. privatisiert. Der mächtige Jachmann bleibt gegenüber Typen wie Gareis und Stuff im Hintergrund, mit Lämmdien tritt die starke Frau hervor, die das private Glück verkörpert, welches Fallada als Alternative zum sozialen Abstieg des Helden anbietet. Sie kommt aus einer Arbeiterfamilie, die sich durch rigide Rollenverteilung auszeichnet. Vater und Sohn Mörschel, die sich gegenseitig mit »Sozialfasdiisten« und »Sowjetjünger« beschimpfen und die Divergenzen von SPD und K P D demonstrieren, zeichnen sich dennoch durch weitgehend kollektives Verhalten in der Familie aus als Abwehr gegen die von Widersprüchen gekennzeichnete Umwelt. Doch diese Problematik wird von Fallada nicht weiter behandelt, wie überhaupt die Arbeiterfrage in seiner Schilderung des großstädtischen Milieus unberücksichtigt bleibt, ein Indiz für die schichtenspezifische Sichtweise des Mittelstandes, die die größten sozialen Probleme nur aus der Perspektive der eigenen Enge aufnehmen kann. Stattdessen wird Lämmchen Mörschel in das für Fallada beschreibbarere Milieu des Kleinbürgers verpflanzt, in dem sie von ihrer ursprünglichen familiären Sozialisation nur noch rudimentäre Qualitäten bewahren kann, im übrigen aber kleinbürgerliche Verhaltensmuster annimmt. Wie ihr Mann Pinneberg mehr scheinen möchte als er ist, etwa wenn ihm die Nennung seines Berufes als Buchhalter peinlich ist ( K M 6) oder wenn er einem Taxifahrer ein unangemessen hohes Trinkgeld gibt (KM 35), so präsentiert auch Lämmchen Wertordnungsklischees, die die Soziologen als typische für die Mittelschichten gekennzeichnet haben. In ihrem Wunsch nach einer bourgeoisen Frisiertoilette manifestiert sich die Orientierung nach den nächsthöheren Schichten, obwohl die primären existentiellen Bedürfnisse damit gefährdet sind25. Trotz objektiver Proletarisierung und immer drückenderer Verelendung verbieten diese Dispositionen jede Solidarisierung mit dem Proletariat, im Roman verkörpert durch die Kommunisten26. Die Pinnebergs »überlegen« höchstens Kommunisten zu wählen ( K M 132) und verschieben die Entscheidung dann doch unbestimmt auf »das nächste Mal« ( K M 179). Am Ende des Romans hat sich Pinneberg »noch immer weder für das eine noch das andere entscheiden können« und macht auch keinen Unterschied zwischen Nazis und Kommunisten ( K M 226). Nicht einmal unter den Angestellten selbst herrscht elementarste Solidarität; die Kollegen spielen sich gegeneinander aus, und beim Kauf der Frisiertoilette behandelt Pinneberg den Verkäufer genauso »schweinemäßig«, wie er täglich behandelt wird ( K M 103). Im Kaufhaus Mandel werden die Angestellten auf brutalste, unmenschlichste Weise ausgebeutet, sogar im Hause von Pinnebergs eigener Mutter herrschen die materiellen Abhängigkeitsverhältnisse, dennoch erlangt er kein Bewußtsein über seine proletarische Existenz, sondern bewertet seine Lage individuell als persönliches Versagen. Generell wird das ganze gesellschaftliche System nur » e6

ebenda, S. 48 Lange, J . M. u. H . J . Geerdts: Hans Fallada. - In: Schriftsteller der Gegenwart. Berlin 1962. S. 7 7 ff.

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moralisch erkannt und eingeordnet27. Wie Pinneberg glaubt, daß er »keine besonderen Gaben« habe und deshalb »nicht hochkommen« werde ( K M 34), so sieht auch Lämmchen ihre Armut als höheres unausweichliches Schicksal an: »O warum haben wir nicht ein bißchen mehr Geld! Daß man nur nicht so furchtbar mit dem Pfennig zu rechnen brauchte! Es wäre so einfach, das ganze Leben sähe anders aus « ( K M 122). Um zu ermitteln, welche Züge Falladas in diese Auffassungen eingegangen sind, muß man sich ansehen, welche Alternative er dem Leser zum »Schicksal« seiner Helden anbietet. Als Pinneberg die letzte Stufe seines sozialen Abstiegs erreicht hat und nur noch in einer Notunterkunft weit außerhalb Berlins haust, wird er von einem Polizisten wie ein Ausgestoßener der Gesellschaft vom Trottoir verjagt. Ihm bleiben, darauf hat Kuczynski hingewiesen, drei Lösungen: die Solidarisierung gegen die Gesellschaft und den Staat, die Flucht in den Tod oder die Fludit in die private Idylle 28 . Fallada wählte die letzte Möglichkeit. So präzise die Gesellschaftskritik des Romans ist, so bleibt sie dodi deskriptiv an der Oberfläche und wird mit ihrem romantisch-reaktionären Ausweg gar in ihr Gegenteil verkehrt. Pinneberg irrt nach Hause, »zu Lämmchen, zum Murkel, dort ist er w e r . . . « ( K M 240). Er erkennt zwar die Feindlichkeit seiner Umwelt, aber er erkennt nicht, warum sie ihn zu dem gemacht hat, was er ist. Er bleibt passiv bis ans Ende. Wohl reagiert er sich in wüstem Verbalradikalismus ab: »er trabt an der Kante des Bürgersteiges auf dem Fahrdamm entlang, er denkt an furchtbar viel, an Anzünden, an Bomben, an Totschießen . . . aber eigentlich denkt er an gar nichts« (KM 23)29. Widerstandsfähigkeit entwickelt Pinneberg nur im inneren Monolog, die aber sofort von der Einsicht verdrängt wird, daß doch nichts geändert werden könne. Im übrigen wird er von Lämmchen aufgefangen. Mit konventionellen bürgerlichen Klischees setzt Fallada sie mit der »Natur« in eins; naturhafte Mütterlichkeit ist offenbar das letzte Refugium des proletarisierten und entwurzelten Mittelständlers. Eine Darstellung denkbarer Handlungsalternativen, die das Ohnmachtsverhältnis zur Umwelt aufbrechen könnten, ist bei Fallada nicht zu finden. Anstatt Möglidikeiten zu zeigen, wie die Misere zu durdischauen oder gar zu überwinden sei, bietet er Ersatzlösungen an, die einerseits im Rückzug in die Privatsphäre scheinbares Glück in der Liebe prätendieren, andererseits an das Vertrauen auf ein höheres metaphysisches, naturgesetzlich wirkendes Prinzip appellieren. In der Schlußszene nimmt Lämmchen ihren frierenden, »wie ein verwundetes Tier« dastehenden Mann liebkosend in den Arm: »Es ist das alte Glück, es ist die alte Liebe. Höher und höher, von der befleckten Erde zu den Sternen. Und dann gehen sie beide ins Haus, in dem der Murkel schläft« ( K M 247). 27

Römer, a.a.O. S. 129 28 Kuczynski, a.a.O. S. 3 54 89 vgl. a. Lethen, a.a.O. S. 161

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In der Laubenkolonie taten die Deklassierten das einzige, was ihnen gegen die Kälte blieb und was ihnen im Großen als gesellschaftlicher Interaktionsprozeß von den Mächtigen vorexerziert worden war: sie stahlen. Lämmchen aber wehrt sich gegen diesen elementaren Selbsterhaltungstrieb: »die anderen stehlen sich hier Holz für die Feuerung. Wissen Sie, ich finde es gar nidit schlimm, aber ich habe zu dem Jungen gesagt, du darfst das nicht. Er soll nicht runter, Jadimann, er soll nicht! Das soll er behalten. Luxus — ja, vielleicht, aber das ist unser einziger Luxus, den halt ich fest, da passiert nichts, Jadimann . . . Es ist nicht das Holz, Jadimann, es sind nicht die Gesetze — was sind denn das für Gesetze, daß sie uns alles straflos zersdilagen dürfen, und wir sollen wegen drei Mark Holz ins Kittdien? Da ladi ich drüber, Jadimann, das ist keine Schande...« (KM 243). Der gleiche Moralkodex des »Unrecht Gut gedeihet nidit« steht auch hinter dem tragikomischen Ende von Max Tredup in »Bauern, Bonzen und Bomben«, der bei dem Versuch erschlagen wird, seine durdi den Verkauf der Fotografien über den Widerstand der Bauern erpreßten tausend Mark aus ihrem Versteck auszugraben. Die konfuse Ambivalenz kleinbügerlidier Ordnungsimperative Falladas sdieint hier durch. Die bürgerlichen Gesetze werden von Lämmchen in ihrem inhumanen Rechtspositivismus entlarvt, dennoch hält sie an Moralkategorien der bürgerlichen Gesellschaft fest. Nach dieser Auffassung wird der einzelne von den Ordnungskodices der bürgerlichen Gesellschaft zwar verniditet, er muß sidi aber dennoch an ihnen orientieren, da dies seine moralische Pflicht ist. Moral wird von Fallada nidit als historisch bedingte und unter bestimmten Prämissen verschleiernde Ideologie erkannt, sondern als Absolutum gesetzt, das Ewigkeitswert besitzt. In der romantisch verklärten Hoffnung auf das private Glück und im Beschwören der moralischen Pflicht kulminiert die bei Fallada stereotyp wiederkehrende Forderung nach »Anständigkeit«. Der ideologische Charakter dieser Ersatzlösungen wird offenbar: Wie schon die Harmonisierungswünsche Falladas in der Beziehung zwischen Gareis und Stuff deutlich machten, wird hier die irreale Versöhnung des einzelnen mit der feindlich begriffenen Umwelt vorgespiegelt, die zu bewußtem Verzicht auf soziales Handeln und aktive Teilnahme an gesellschaftlicher Praxis auffordert. Daraus erklärt sich auch der große Leseerfolg von Falladas ersten Romanen, denn er reproduziert unreflektiert die Sehnsüchte und Hoffnungen der mittelständischen Schichten, die unfähig sind, ihre Konflikte zu lösen, sondern kompensatorisch zu Verdrängungsmechanismen Zuflucht nehmen, ein Faktor, der heute in den Entpolitisierungsintentionen der Regenbogenpresse subtil perfektioniert wurde. Der Erfolg resultiert nicht allein aus der Beschreibung der Nöte des Kleinbürgers, sondern vor allem auch aus der romantischen Verklärung individuellen Glücks, das dem Trostbedürfnis der wirtschaftlich und geistig Depossedierten entsprach. Die Versöhnung, der soziale Frieden des Individuums, antizipiert in der internen Sphäre der Familie, nährt

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die Illusion, nidit ganz so sinnlos zu leiden; das ist die trügerische Entschädigung für die Proletarisierung des Kleinbürgers 80 .

III. Die von raiiaaa angebotenen Ersatzlösungen reflektieren seine Bewußtlosigkeit gegenüber den klassengesellschaftlichen Antagonismen in der Zwischenkriegszeit. Seine Parteinahme für den deklassierten Kleinbürger basiert nicht auf rationaler Erkenntnis, sondern ist primär emotional bestimmt. Die punktuelle Orientierung auf einzelne Individuen ignoriert deren soziale Determination und bietet stattdessen die Unausweichlichkeit einer höheren metaphysischen Schicksalsbestimmung. Trotz realistischer Hintergründe in den Romanhandlungen, trotz umgangssprachlicher Dichte in der Milieuzeichnung beschränkt sidi der Realismus bei Fallada lediglich auf die oberflächliche Erscheinungsebene in seinen sinnlich erfaßten Wirklichkeits-Analogien 31 . Während Siegfried Kracauers Analyse der Angestelltenschaft, die erstmals 1929 in der »Frankfurter Zeitung« erschienen war und Fallada bei der Konzeption seines zweiten Romans beeinflußt hat 32 , kritisch das damals im Selbstverständnis der Mittelschichten als naturrechtlidie Unausweichlichkeit bestehende Wirtschaftssystem entlarvte und unter der Prämisse, daß jede Veränderung zuerst eine des Intellekts sein müsse, versuchte, die Masse der Angestellten aus ihrer »geistigen Obdachlosigkeit« heraus und zur kritischen sozialökonomischen Selbsteinschätzung zu bringen 33 , wird jene analytische Schärfe in der literarischen Umsetzung Falladas verbogen, reduziert und damit aufgehoben. Unfähig zur rationalen Einsicht, ist Fallada nicht einmal zur kritischen Rezeption in der Lage. Seine diffusen Identifikationsangebote kommen allesamt aus dem Verdrängungs- und Kompensationsarsenal der von Kracauer kritisierten geistigen Obdachlosigkeit der Mittelständler. Einleitend wurde bereits die wirtschaftliche Depossedierung der angestellten städtischen Mittelschichten knapp skizziert. J e drückender ihre wirtschaftliche Lage wurde und je mehr sich der neue Mittelstand objektiv der Arbeiterschaft anglich, desto zäher verteidigte er sein längst überholtes Statusdenken, anders zu sein als die Arbeiter 34 . Typisch für das mittelständische Bewußtsein im 20. Jahrhundert wurde die Konservierung einer ständisch fixierten vorkapitaso ebenda, S. 1 6 5 ; Gessler, a.a.O. S. $5 31 Manthey, a.a.O. S. 162 »2 Lethen, a.a.O. S. 165 ff. 83

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Kracauer, S.: Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland. Frankfurt/M. 1 9 7 1 . ( = suhrkamp taschenbuch 13.) S. 103 vgl. Kocka, J . : Zur Problematik der deutschen Angestellten 1 9 1 4 - 1 9 3 3 . In: Industrielles System und politische Entwicklung in der Weimarer Republik. Verhandlungen des Internationalen Symposiums in Bochum vom 1 2 . - 1 7 . Juni «973. Hrsg. H . Mommsen, D . Petzina, B. Weisbrod. Düsseldorf 1974. S. 792 f.

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listischen Mentalität, gemäß der sich die kleine Gruppe der Angestellten nodi als Nachfolger der selbständigen Kaufleute fühlen durfte 35 . Mit zunehmender Entwicklung der Produktionsverhältnisse fanden die neuen expandierenden Mittelschichten vorerst nodi in den bürokratischen Traditionen der preußischdeutschen Gesellschaft die Möglichkeit der kollektiven Selbstidentifikation als »Privatbeamte«, aber spätestens seit dem Ersten Weltkrieg öffnete sich die »Schere« zwischen dieser Bewußtseinslage und der materiellen Unsicherheit. Das ursprüngliche Selbstverständnis, dem ein dreistufig hierarchisdies Modell der Gesellschaft zugrunde lag, mit dem man sich nach oben gegen das »Kapital« und nach unten gegen die Arbeiter abgrenzte, geriet ins Wanken. Der Mittelstand bemächtigte sich zunehmend falscher Ideologien. Neben die reaktionären ständestaatlichen Vorstellungen traten zur Kompensation der verlorenen ökonomisch bestimmten Identität die Ersatzlösungen, wie sie bei Fallada zu finden sind. Signum der mittelständischen Zwischenschichten wurde die »soziale Romantik«, wie einer der bestinformiertesten Sozialwissenschaftler der Zwanziger Jahre resümierend formulierte 86 . Die Gründe, warum der Mittelstand trotz Verelendung den Fortschritt fürchtete und extrem reaktionären Ideologien nachhing und wie sie etwa von Wilhelm Reidi sexualökonomisdi aus der Triebverdrängung in der bürgerlichen Familie oder von Erich Fromm aus der Entfremdung zu erklären versucht wurden, können hier nicht erörtert oder gar verifiziert werden. Wichtig für unseren Zusammenhang ist, zusammenfassend zu konstatieren, daß die fortschreitende Proletarisierung der Mittelschichten im 20. Jahrhundert den Verlust kollektiver Identität brachte, der zur Ich-Schwäche und allgemeinem Ohnmachtsgefühl führte. In den Fluchtmechanismen offenbaren sich längst anachronistische elitäre Ansprüche dieser Schichten, die trotz Verelendung nicht bereit zur Klassensolidarität und ohne Veränderungswillen waren 37 . Die Zuflucht zu falschen Ideologien stützte die Antagonismen des als naturgegeben angesehenen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems, dessen Konsequenz gerade die Proletarisierung des Mittelstandes gewesen war. Die Elemente der falschen Ideologien aus dem Amalgam von rebellischen Emotionen und reaktionären sozialen Ideen sind am Beispiel Falladas gezeigt worden. Der Kleinbürger betrachtete seine Welt als normativen, von höheren Moralprinzipien bestimmten Mikrokosmos. Sah er in der »Gesellschaft« 85

Geiger, a.a.O. S. 104 s« Lederer, E . : Die Umschichtung des Proletariats. - In: Die neue Rundschau 40, II (1929). S. 160 f. 37 Daran ändert audi der relativ hohe Organisationsgrad der Angestellten nichts, der z . B . 1 9 3 2 mit ca. 4 3 % sogar den der Arbeiter ( 3 4 % ) übertraf. Für die meisten A n gestelltenverbände galt, was Kracauer über den Deutsdinationalen Handlungsgehilfen-Verband sagte: »Daß seine ideologische Einstellung sowohl den ökonomischen Zuständen im allgemeinen wie seinen eigenen Operationen auf dem Gebiet der T a r i f verhandlungen etwa fortwährend widerstreitet, macht ihm nidit allzuviel aus; denn die Zwischenschichten sind Masse genug, um über der Befriedigung ihrer Instinkte Unstimmigkeiten schnell zu vergessen.« Kracauer, a.a.O. S. 89

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der Weimarer Republik den Inbegriff des Heterogenen, des Konflikts und die Ursache der eigenen wirtschaftlichen Misere, bedeutete die »Gemeinschaft«, wie etwa die der Bauern, Geborgenheit und urspriinglidie Homogenität38. Dem entsprachen die zwischenmenschlichen Harmonievorstellungen und die Sehnsucht nach Versöhnung des Individuums mit der feindlichen Umwelt in einer höheren Kategorie der Anständigkeit. Die Familie mit der Dominanz der naturwüchsig bestimmten starken Frau verkörperte die Summe dieser Ideologeme und weist darüber hinaus auf die Sdiizophrenie des kleinbürgerlichen Charakters, indem dieses private Refugium zugleich verlorene Statusansprüche befriedigen soll. Wie die auf Höheres hin geordneten Wertvorstellungen bereits auf den autoritären Charakter weisen, zeigen sidi dessen Züge auch in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Die von diesem Charakter verinnerlichten sadomasochistischen Züge, die von Erich Fromm analysiert worden sind, lassen sich auch bei Fallada feststellen. In dem Gefühl der Ohnmacht, der Inferiorität und der persönlichen Unbedeutendheit unterwerfen sich seine Helden der vermeintlich starken Persönlichkeit bzw. den subtileren »innerlichen Autoritäten« wie Pflicht, Gewissen, Moral, während sie in der sichernden Bestätigung der Privatsphäre scheinbares Ausleben von Freiheit praktizieren zu können glaubten*'. Abgesehen von den antikapitalistischen Parolen der NS-Propaganda, wie den stereotypen Schlagworten von der »Brechung der Zinsknechtschaft« oder der »Abschaffung des Proletariats«, die gleichfalls die Affinität der nationalsozialistischen Ideologie zur »Panik des Mittelstandes« verraten44, zeigt sich auf der sozialpsychologischen Ebene die Obereinstimmung der bei Fallada herausgearbeiteten Ideologeme mit denen der NSDAP. Erwägt man, daß der Nationalsozialismus »die Summe aller irrationalen Reaktionen« der mittelständischen Mentalität bedeutete41, muß man erstaunen, wie wenige diffuse Grundmuster genügten, um den mittelständischen Anhang der Nazis herzustellen. Gemeinschaftsideologie, autoritärer Führerkult, Mutterschaftskult und völkischer Rassenwahn als Konglomerat ewiger Moralprinzipien, das waren die Versatzstücke, unter denen sich die wirtschaftlich verelendeten und geistig obdachlosen Kleinbürger zusammenfanden und ihre kollektive Identität wiederzufinden hofften.

»8 Winkler, a.a.O. S. 1 1 7 Fromm, a.a.O. S. 163 ff. 40 Geiger, Th.: Panik im Mittelstand. - In: Die Arbeit 7 (1930). S. 648 ff. 41 Reich, a.a.O. S. 14 f.

Zum amerikanischen Drama und Film der 30er Jahre Von ARNOLD

HEIDSIECK,

New York

Das Jahrzehnt der Weltwirtschaftskrise mit seiner Massenarbeitslosigkeit, den sozialen Reformen unter dem N e w Deal, den neuen Kommunikationsformen und einer radikalen sozialkritischen Literatur steht seit Ende der 6oer Jahre im Mittelpunkt eines teils nostalgischen, teils sozialgeschichtlichen Interesses. Leslie Fiedler hat 1966, 33 Jahre nach der Amtseinführung Roosevelts, diesen beginnenden Trend konstatiert und behauptet, daß es dabei um zwei völlig versdiiedene »Erinnerungen« oder Traditionen der 30er Jahre gehe, die beide Autorität für die nachfolgende amerikanische Erfahrung beanspruchten. Die eine sei optimistisch, spiegele die offizielle Deutung vom Sieg über die Wirtschaftskrise als Beginn des Aufstiegs der Vereinigten Staaten zum mächtigsten Land der Welt. Die andere Erinnerung gelte der radikalen oder kommunistischen Parteilichkeit der meisten amerikanischen Schriftsteller, dem apokalyptischen Pessimismus der vielen Romane über blutig niedergeschlagene Streiks oder den Spanischen Bürgerkrieg, einer Welt also, die mit der Einführungsrede Roosevelts und dem N e w Deal nichts zu tun habe 1 . Inzwischen ist die literarische, journalistische und filmische Wiederbelebung 2 1

Leslie Fiedler: The T w o Memories: Reflections on Writers and Writings in the Thirties, in: Seminars on the American Political Tradition. Claremont Men's College 1966. The Thirties. A Reconsideration in the Light of the American Political Tradition, hrsg. von Martin Diamond und Morton Frisch, Northern Illinois Univ. Press 1968, S. 44-67. Auch in: Proletarian Writers of the Thirties, hrsg. von David Madden, Southern Illinois Univ. Press 1968, S. 3-25. Vgl. audi Leslie Fiedler: Love and Death in the American Novel, New Y o r k i960, S. 4 j 6 - 4 6 1 . - Eine Anmerkung über die Schwierigkeit dieser Unterscheidung hatte Robert Warshow 1947 gemacht (»The Legacy of the Thirties«, in: Robert Warshow: The Immediate Experience. Movies, Comics, Theatre, and Other Aspects of Popular Culture, N e w York 1970, S. 33-48).

2

Years of Protest. A Collection of American Writings of the 1930s, hrsg. von Jack Salzman, New York 1967. New Masses. An Anthology of the Rebel Thirties, hrsg. von Joseph North, 1969. The Strenuous Decade. A Social and Intellectual Record of the 1930s, hrsg. von Daniel Aaron und Robert Bendiner, Garden City, N . Y., 1970. Culture and Commitment, 1929-1945, hrsg. von Warren Susman, New York 1973. Studs Terkel: Hard Times. An Oral History of the Great Depression in America, N e w York 1970. James Agee und Walker Evans: Let Us N o w Praise Famous Men (1941), 7. Tasdienbuchauflage, August 1974. - Zur Wiederbelebung der 30er Jahre im Film seit 1967 vgl. Focus on Bonnie and Clyde, hrsg. von John Cawelti, Englewood Cliffs, N . J., 1972. The New York Sunday Times, Section 2, vom 29. September und 8. Dezember 1974.

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Arnold Heidsieck

der 30er Jahre in vollem Gang und eine Reihe von Untersuchungen zur Literatur- und Kulturgeschichte3, zur Dokumentarbewegung 4 und zum Film 5 und Theater 6 ist erschienen. Sie machen deutlich, daß unter dem Druck der Wirtschaftskrise und starker sozialer Spannungen eingefleischte gesellschaftliche Zielvorstellungen modifiziert und kulturelle Formen geschaffen wurden, die, im Hinblick auf den auseinanderstrebenden Individualismus der amerikanischen Geschichte, der sozialen, kollektiven Rolle des einzelnen Ausdruck geben konnten.

Geschichte Die Vorstellung einer »frontier«, einer offenen Grenze zwischen Zivilisation und der von Wilden bevölkerten Weite des nordamerikanischen Kontinents spielte im religiösen und politischen Denken, in der kulturellen Mythologie und für das Wechselspiel der amerikanischen Politik im 19. Jahrhundert eine große Rolle. Unter dem Druck der Wähler war die Bundesregierung immer wieder gezwungen, neue Territorien zu öffnen, zu vermessen und an Siedler abzugeben. Unmittelbar nach Beginn des Bürgerkriegs

(1861—186$)

hatte

der Kongreß das Homestead Act verabschiedet, das bis zum Ende des Jahr* The Thirties. Fiction, Poetry, Drama, hrsg. von Warren French, Deland, Fla., 1967. Tough Guy Writers of the Thirties, hrsg. von David Madden, Southern Illinois Univ. Press 1968. Proletarian Writers of the Thirties, a.a.O. Richard Pells: Radical Visions and American Dreams. Culture and Social Thought in the Depression Years, N e w Y o r k 1973. Culture and Commitment, a.a.O. Richard Mehlman: Hero of the 30's The Tenant Farmer, in: Heroes of Popular Culture, hrsg. von Ray Browne u.a., Bowling Green Univ. Popular Press 1972, S. 61-72. 4 Smith Schuneman: Photographie Communication. An Evolving Historical Discipline, in: Mass Media and the National Experience, hrsg. von Ronald Farr und John Stevens, New York 1971. Jack Hurley: Portrait of a Decade. Roy Stryker and the Development of Documentary Photography in the Thirties, Louisiana State Univ. Press 1972. Richard MacCann: The People's Films. A Political History of U.S. Government Motion Pictures, New York 1973. William Stott: Documentary Expression and Thirties America, Oxford Univ. Press 1973 (Bibliographie S. 348-353). * John Baxter: Hollywood in the Thirties, London/New York 1968. Andrew Bergman: We're in the Money. Depression America and Its Films, New York Univ. Press 1971. * Gerald Rabkin: Drama and Commitment. Politics in the American Theatre of the Thirties, Indiana Univ. Press 1964. Eberhard Brüning: Das amerikanische Drama der dreißiger Jahre, Berlin 1966. Sam Smiley: The Drama of Attack. Didactic Plays of the American Depression, Univ. of Missouri Press 1972. Malcolm Goldstein: The Political Stage. American Drama and the Theatre of the Great Depression, Oxford Univ. Press 1974. - Vgl. audi David Sievers: Freud on Broadway. A History of Psychoanalysis and the American Drama, New York 1970. Das amerikanische Drama von den Anfängen bis zur Gegenwart, hrsg. von Hans Itschert, Darmstadt 1972. People's Theatre in Amerika. Documents by the People Who Do It, hrsg. von Karen Taylor, N e w York 1972. Brooks Atkinson und Albert Hirschfeld: The Lively Years, 1920 to 1973, New York 1973. J a y Williams Stage Left, New York 1974.

Zum amerikanisdien Drama und Film der 30er Jahre

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hunderts einer viertel Million Amerikanern Landbesitz in den letzten freien Siedlungsgebieten ermöglichte. Nadi 300 Jahren offener Grenze auf dem Subkontinent war dem Regierungszensus zufolge 1890 das Land in Besitz genommen. Der Historiker Turner trat 1893 mit der These hervor, daß die Grenze das bestimmende Merkmal der amerikanischen Gesdiidite sei. Sie habe eine von Europa gänzlich unabhängige egalitäre und demokratische Gesellschaft hervorgebracht und den kulturellen Charakter des Amerikaners, seine Energie, Freiheitsliebe und Neuerungslust, entscheidend geprägt. Dieser These vom Ursprung der US-Demokratie, vom politischen Aufstieg des »kleinen Mannes«, ist die amerikanische Geschichtsschreibung weitgehend gefolgt, mit der Einschränkung, daß die Institutionen des demokratischen Individualismus und des Kapitalismus von der englischen liberalen Tradition herstammen7. Turners zweite, von Hegel vorweggenommene8 Interpretation des frei verfügbaren Lands als »Sicherheitsventil« gegen die soziale Ungerechtigkeit in den städtischen Zentren wurde im 19. Jahrhundert weithin akzeptiert, war aber unzutreffend 9 . Sie beruhte auf dem von Jefferson politisch formulierten utopischen Mythos von einem agrarischen Eden, der sich aus biblischem Denken herleitete10. Jefferson zufolge war der unabhängige Landbesitz der PionierFarmer von ausschlaggebender Bedeutung für die ökonomische Zukunft und die demokratische Selbstregierung des Landes. Aufgrund von ausgedehnter Bodenspekulation, der wachsenden Abhängigkeit der Farmen von Eisenbahnen, Märkten und Banken und von ungünstigen klimatischen Bedingungen war diese agrarische Hoffnung gegen Ende des Jahrhunderts weitgehend zerstört 11 . Neben die politisch-agrarische Bedeutung der Grenze tritt diejenige des gewalttätigen Wilden Westens, die sich in der Roman- und Trivialliteratrur des 19. Jahrhunderts, vor allem in dem amerikanisdien Genre der Westernerzählung, herausschälte12. Zuerst mit den Daniel-Boone-Erzählungen und 7

Richard Hofstadter: The Progressive Historians. Turner, Beard, Parrington, N e w Y o r k 1968, S. 159 und 446. 8 G . F. W . Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Gesdiidite, Sämtliche Werke (Glockner), Bd. 1 1 , Stuttgart 1928, S. 128 f. Vgl. audi Crawford Macpherson: The Political Theory of Possessive Individualism. Hobbes to Locke, Oxford 1962, S. JJ. ® Turner and the Sociology of the Frontier, hrsg. von Richard Hofstadter und Seymour Lipset, N e w York/London 1968, S. 1 7 2 - 2 0 0 . Henry Nash Smith: Virgin Land. The American West as Symbol and Myth, Harvard Univ. Press 1 9 7 0 2 (1950), S. 2 0 1 - 2 6 0 . 10 Martin Christadler: Der amerikanische Essay 1 7 2 0 - 1 8 2 0 , Heidelberg 1968, S. 51. Daniel Boorstin: The Americans, Bd. 1, The Colonial Experience, N e w Y o r k 1958. 11 Smith: Virgin Land, S. 1 2 9 - 1 9 4 und 247. American Economic History. Essays in Interpretation, hrsg. von Stanley Coben und Forest Hill, Philadelphia 1966. 18 Smith: Virgin Land, a.a.O. Fiedler: Love and Death in the American Novel, a.a.O. The Frontier in American Literature, hrsg. von Philip Durham und Everett Jones, N e w Y o r k 1969. Daryl Jones: Of Few Days and Full of Trouble. The Evolution of the Western Hero in the Dime Novel, in: N e w Dimensions in Popular Culture, hrsg. von Russel N y e , Bowling Green Univ. Popular Press 1972, S. 1 0 7 - 1 3 4 . Richard Slotkin: Regeneration Through Violence. The Mythology of the American Frontier 1600-1860, Wesleyan Univ. Press 1 9 7 3 .

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dann mit Coopers »Lederstrumpf« erschien der Prototyp des »frontiersman«, der beim Ton der Axt, d. h. vor der herandringenden menschlidien Gesellschaft sich immer weiter nach Westen in die unberührte Wildnis zurückzieht und sie, da ihm jene auf dem Fuße folgt, zerstört. Dieser anardiistisch auf sich gestellte, die bürgerlichen Abhängigkeiten und Gesetze fliehende Jäger gibt in der geographischen wie zeitlichen Wanderung zur offenen Grenze, d. h. in seiner Entwicklung zum Trapper, Pfadfinder, Cowboy und Gesetzesbrecher die Moralvorstellungen der puritanisch-agrarischen oder östlichen Gesellschaft auf und gleicht sich dem skalpierenden Indianer an (Buifalo-Bill-Legende). Die Westernerzählung betont die individuellen Qualitäten des Mannes kleiner oder unbestimmter Herkunft und wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem der meistgelesenen literarischen Genres. Das Westernideal fand seine romantische Kodifizierung in Owen Wisters »The Virginian« (1902), der Geschichte eines aus Virginia nach Wyoming gekommenen Ranchvorarbeiters, der gemäß dem an der Grenze herrschenden Recht seinen Freund Steve wegen Viehdiebstahls aufknüpfen läßt und ihn rächt durch Erschießung dessen, der ihn zu diesem Diebstahl angestiftet hatte. Neben dieses legendenhafte Bild von Redit und Gewalt stellen historische und soziologische Darstellungen 18 ein ganz anderes. Der Revolutionskrieg, die Verfolgung der Indianer, die Bauernaufstände und Lynchhinrichtungen, der lange, verlustreiche Bürgerkrieg, die blutige Unterdrückung von Streiks und Gewerkschaftsbewegung, das Banden- und Verbrecherunwesen, die Ghettoaufstände der schwarzen Amerikaner und die Wiedereröffnung der Grenze im Vietnamkrieg charakterisieren die Geschichte und Gesellschaft Amerikas. Neben die agrarische, anarchistische und militante tritt die Bedeutung der Grenze als kapitalistischer Gründerzeit, des Erwerbs von Land, Bodenschätzen, Eisenbahnlinien und von Bodenrechten in den schnell wachsenden neuen Städten 14 . Der kapitalistische Pionier, der »businessman«, suchte weder eine egalitäre agrarische Utopie noch ein Abenteuerleben im Wilden Westen, sondern eine bessere Ausgangsposition für den sozialen Aufstieg, als sie ihm die im 13

Richard B r o w n : Violence in American History, in: Violence, hrsg. von Warner Moss, Williamsburg 1968, S. 9 - 4 5 (Bibliographie S. 4 0 - 4 J ) . The History of Violence in America. Historical and Comparative Perspectives, hrsg. von H u g h Graham und Ted Gurr, N e w Y o r k 1969. American Violence. A Documentary History, hrsg. von Richard Hofstadter und Midiael Wallace, N e w Y o r k 1970. Irving Sloane: Our Violent Past, N e w Y o r k 1970. Alphonso Pinkney: The American W a y of Violence, N e w Y o r k 1 9 7 2 . Lynne Iglitzin: Violent Conflict in American Society, San F r a n cisco 1 9 7 2 . Eugene Hollon: Frontier Violence. Another Look, O x f o r d U n i v . Press 1 9 7 4 (Bibliographie S. 2 3 7 - 2 6 5 ) . Robert Elman: Badmen of the West, N e w Y o r k 1 9 7 4 .

14

George M u r p h y und Arnold Zellner: Sequential Growth, the L a b o r - S a f e t y - V a l v e Doctrine, and the Development of American Unionism, in: Turner and the Sociology of the Frontier, S. 2 0 1 - 2 2 4 . Daniel Boorstin: The Americans, Bd. 2, The National Experience, N e w Y o r k 1 9 6 5 , S. 1 1 5 - 1 2 4 (»The Businessman as an American Institution«). Ridiard Parker: The M y t h of the American Middle Class. Notes on Affluence and Equality, N e w Y o r k 1 9 7 2 .

Zum amerikanischen Drama und Film der 30er Jahre

Osten gelegenen Staaten bieten konnten. Landerwerb und Aufbau einer Infrastruktur resultierten früh in der Entstehung sozial-ökonomischer Schichten, die eine relativ große Mobilität zuließen. Mit der Schließung der geographischen Grenze und der verstärkten Einwanderung vor der Jahrhundertwende wurde die innere, soziale Grenze weniger durchlässig15. Die in der 80er Jahren entstandene Gewerkschaftsbewegung wurde, während die Bildung von Großunternehmen und Kartellen die liberale Wettbewerbsfreiheit einschränkte, als anarchistische Verschwörung gegen das individuelle Eigentumsrecht16 kriminalisiert. Der Stahlindustrielle Andrew Carnegie z. B. verdiente im Jahr 1900 steuerfrei 23 Millionen Dollar, während seine Arbeiter für in Cents berechnete Tageslöhne arbeiteten. Er lehrte gleichzeitig in »The Road to Business Success«, daß Armut, Tugend und Fleiß Voraussetzungen für das Emporkommen in der Welt seien, eine aus der puritanischen Tradition stammende praktische Regel für moralische und ökonomische Besserung. Die individuelle Erfolgsformel liegt den populären Geschichten Horatio Algers zugrunde, sie schien das egalitäre Versprechen der Chancengleichheit in einer Gesellschaft zu erfüllen, in der die Mehrheit keinen Zugang zu dieser Chance hatte 17 .

Zum Drama der 20er Jahre Während des ersten Weltkriegs und in dem folgenden Jahrzehnt entstand, unter allmählicher Ablösung von europäischen Bühnenformen und durch Verwendung spezifisch zeitgenössischer Themen, ein selbständiges amerikanisches Drama 18 . Eugene O'Neills Darstellung der gesellschaftlichen Isolierung des Schiffsheizers Yank in »The Hairy Ape« (1922) weist Elemente des Strindbergschen Traumspiels und der Stationen- (Passions-) Dramaturgie auf, wobei die amerikanisch gefärbte Thematik in der Gestalt der Tochter des Stahlmillionärs und Schiffseigners zum Ausdruck kommt. Ihr Entsetzen über seine 18

14

17

18

James Truslow Adams: The Epic of America, Boston 1 9 3 1 , S. 270-306. Frederick Lewis Allen: The Big Change. America Transforms Itself 1 9 0 0 - 1 9 5 0 , N e w Y o r k 1952. Thurman Arnold: The Folklore of Capitalism, Yale Univ. Press 1 9 6 2 2 (1937), S. 34. Mody Boatright: The Myth of Frontier Individualism, in: Turner and the Sociology of the Frontier, S. 4 3 - 6 2 . Kenneth Lynn: The Dream of Success. A Study of the Modern American Imagination, Boston 1 9 5 $ . John Cawelti: Apostles of the Self-Made Man, The Univ. of Chicago Press 1 9 6 J . Richard Huber: The American Idea of Success, N e w York 1 9 7 1 . Lawrence Chenoweth: The American Dream of Success, North Scituate, Mass., 1974. Rudolf Haas: Uber Anfänge des >Modernen< im amerikanischen Drama, in: Das Amerikanische Drama von den Anfängen bis zur Gegenwart, S. 5 1 - 6 9 . Peter Bauland: The Hooded E a g l e . . . Modern German Drama on the N e w York Stage, Syracuse Univ. Press 1968. Mardi Valgemae: Accelerated Grimace. Expressionism in the American Drama of the 1920s, Southern Illinois Univ. Press 1 9 7 2 .

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Tierähnlichkeit untergräbt Yanks Selbstachtung, er wird von wilder, zielloser Aggressivität und dem Gefühl der Vereinzelung überwältigt. Das Stück »The Adding Machine« (1923) von Elmer Rice bedient sich unter dem Eindruck des deutschen Stummfilms »Das Kabinett des Dr. Caligari«, den auch O'Neill zu einem seiner wichtigen Anreger zählte, und des 1922 von der Theatre Guild aufgeführten Stücks von Georg Kaiser »Von morgens bis mitternacht« der expressionistischen Spieltechnik, des allegorischen Bühnenbilds und der satirisch-pessimistischen Kreislaufstruktur. Die erste Szene zeigt Mr. Zero (Herrn Null) im Bett, umgeben von auf Raten gekauften Möbeln, während Frau Zero in einem dadaistischen Monolog über ihre Unterhaltungen mit Frau Acht, Zwölf und Elf schwadroniert und Klagen über die ausgebliebene Karriere ihres Mannes herunterbetet. »25 Jahre in derselben Stellung. 25 Jahre sind es morgen! Und du bist auch noch stolz darauf. 25 Jahre in derselben Stellung und keinen Tag gefehlt! . . . Vor 7 Jahren hast du die letzte Gehaltserhöhung bekommen! . . . Ith war nicht gerade wählerisch, dich zu heiraten. Das kann man ruhig laut sagen. Mit dir läßt sidi kein Staat machen«14. Als Herr Null von seinem Chef erfährt, daß er wegen einer neuangeschafften Addiermaschine entlassen werden soll, ersticht er ihn. Er wird hingerichtet, muß im Himmel und nach seiner Rückkehr auf die Erde als seelenloser Arbeitssklave Addiermaschinen bedienen und sich sagen lassen: »Sie sind ein Versager, Null, ein Versager, ein Abfallprodukt« 20 . O'Neills »The Great God Brown« (1926) stellt das Lebensschicksal zweier Jugendfreunde dar. Anthony erfüllt den Wunsch seiner Eltern und wird ein erfolgreicher Architekt, während sein Verlangen nach Liebe und menschlichen Beziehungen unerfüllt bleibt. Dion erlangt diese Erfüllung in der Liebe seiner Frau und einer Prostituierten, er hat Kinder, aber er bleibt arm und beruflich erfolglos. — In diesen hier nur skizzierten drei Stücken ist eines der universellen Themen des amerikanischen Theaters in den Blick gekommen: das Versagen im Beruf, das Scheitern in den zwischenmenschlichen Beziehungen, das Nicht-fertig-werden mit dem individuellen Lebensschicksal. In Paul Siftons »The Belt« (1927) spiegelt sich der Konflikt zwischen einer puritanischen, produktionsorientierten Erfolgsethik, die harte Arbeit und aufgeschobene Befriedigungen verlangt, repräsentiert in der Gestalt des »Alten«, Henry Fords, und seines Vorarbeiters Jim, und der neuen Freizeits-(Verbraucher-) Ethik, in Gestalt von Jims vergnügungssüchtiger Frau und seines künftigen Schwiegersohns Bill, der als radikaler Arbeiterführer das lebensfeindliche Fließband zerstören will. Am Ende zerstören die Arbeiter das Band aus einem ganz entgegengesetzten Motiv. Sie fürchten, da der Alte we19

Elmer Rice: The Adding Madiine. A Play in Seven Scenes, Garden City, N. Y., 1923,

20

Ebd., S. 138. - »If he can get no access, his powers are reduced to zero, in a competitive society he ceases to exist.« Macpherson The Political Theory..., S. j6

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gen Absatzschwierigkeiten die Produktion stillegen will, Arbeitslosigkeit und die Pfändung ihrer auf Raten gekauften Möbel und Autos. John Dos Passos' polemisches Stüde »Airways, Inc.« (1928) zeigt die Erfüllung des individuellen Erfolgstraums auf dem Hintergrund der spekulativen Wirtschaftsexpansion der 20er Jahre. Der jugendliche Pilot Elmer Turner, Inhaber des Geschwindigkeitsrekords, wird zum Verwaltungsratsvorsitzenden einer neugegründeten Flugzeugfirma ernannt und erkennt, durch einen Absturz paralysiert, daß er von den Geldgebern als Reklame-Image zur Steigerung des Aktienverkaufs benutzt wird. — Der aus dem amerikanisdien Westen stammende Präsidentschaftskandidat der wirtschaftsfreundlichen Republikanischen Partei, Herbert Hoover, appellierte 1928 in seiner Wahlkampfrede in New York an den »robusten Individualismus« der Amerikaner und erklärte, daß die Abschaffung der Armut im Lande näher gerückt sei als je zuvor. Der Zusammenbruch der New Yorker Börse im Oktober 1929 verwandelte den kollektiven Erfolgstraum in einen Alptraum, entwertete die meisten der in Aktien angelegten Spargelder, ließ bis 1932 i3 Millionen Beschäftigte und ihre Familien arbeits- und brotlos werden.

Zum Drama der 30er Jahre Eines der ersten Stücke, die sich mit den Problemen der Wirtschaftskrise befaßten, war das Dokumentardrama »Can You Hear Their Voices?« (1931). Hallie Flanagan, die eine der beiden Verfasserinnen und spätere Leiterin des von der New-Deal-Regierung finanzierten, vorwiegend dokumentarisch orientierten Federal Theatre Project, hatte auf einer Europareise das russische und deutsche Theater studiert. Zu Anfang des Stücks erscheint eine Projektion des Titels, dann des folgenden Texts: »Ein Drama aus unserer Zeit, das auf einer im März 1931 in den >New Masses< erschienenen Erzählung von Whittaker Chambers beruht; außerdem auf Material, das in den Kongreßakten, in >TimeThe Literary DigestThe New Republik, >The Nation«, >The Christian Century« und >The New York Times< erschienen ist. Jede Episode in dem Stück beruht auf Tatsachen«21. Eine weitere Projektion spricht von den 4 bis 5 Millionen Arbeitslosen und ihren Familien. Es geht in dem Stück um eine Gruppe von Pachtbauern in Alabama, deren Höfe überschuldet sind, deren Vieh wegen der Dürre stirbt, deren Kinder verhungern, während ihr Kongreßabgeordneter den Debutantenball seiner Tochter in Washington plant. Die Polemik des Stüdes zielt, im Hinblick auf die Zerstörung des agrarischen »Edens« (1930 waren 45 % der amerikanischen Farmer Pächter oder hypothekenverschuldet), auf die orthodoxe Farmpolitik der 21

Margaret Ellen Clifford und Hallie Flanagan: Can You Hear Their Voices?, Poughkeepsie, N. Y., 1931, S. 1

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Hoover-Regierung, derzufolge der einzelne Farmer sich selber helfen müsse und allenfalls Hilfsgelder f ü r den Kauf von Maschinen und Viehfutter bereitgestellt werden dürften. Die Farmer rebellieren gegen den »Junker« Purcell und nehmen sich die benötigten Nahrungsmittel mit Gewalt. Der kommunistische Bauer Wardell gibt den Söhnen vor seinem Gang ins Gefängnis die folgende Version des Naturrechts. »Jeder M e n s c h . . . hat ein Recht zu arbeiten und zu e s s e n . . . das Recht, sich selber ein Urteil zu bilden« 22 . Robert Sherwoods »The Petrified Forest« (1935) gestaltet das Verhalten einer Gruppe von Reisenden und einer Familie, die von einer Gangsterbande an einer einsamen Landstraße in Arizona gefangen gesetzt und terrorisiert werden. Der Schauplatz, die Imbißstube einer Tankstelle, ist mit einer Reihe von Plakaten, Anzeigen für das Aufbauprogramm des N e w Deal, f ü r ApacheBier usf., dekoriert. Schon vor der Gefangensetzung durch die Gangster erweisen sich sämtliche Figuren als Gefangene ihrer privaten Wünsche und Idiosynkrasien. Ein Telegraphenarbeiter sehnt sich nach dem sozialistischen Rußland: »Robuster Individualismus! Jeder Mensch für sich selber! Das ist die Freiheit, die wir (in den U S A ) haben!« 2 * Der Tankstellenbesitzer Jason, Patriot und Kommunistenhasser, träumt von einer Reparaturwerkstatt in Los Angeles, seine Tochter vom Leben in Frankreich. Sein Angestellter Boze jagt dem »Regenbogen«, einem privaten Traum von Freiheit nach. Der Großvater sehnt sich in die vergangenen Pioniertage zurück, der verkrachte Schriftsteller Squier sucht den Glauben an eine Sache, für die er sein Leben opfern kann, die Frau des Fabrikanten Chisholm aus Ohio sucht Befreiung aus der Sklaverei ihrer Ehe. Einzig der brutale Gangster Mantee scheint zu genießen, was Bankraub und Mord ihm an Geld und Berühmtheit eintragen. In ihm wird die romantisch verklärte Figur des Westernhelden noch einmal glaubhaft, aber auch er, ein »letzter großer Apostel des robusten Individualismus«, gehört in den versteinerten Wald der abgelebten Ideen, der abgestorbenen Gestalten 24 . Lillian Hellmans Stück »Days to Come« (1936) spielt 1935 in einer kleinen Industriestadt in Ohio, in der »Welt des kleinen Unternehmers« 25 , der während der Wirtschaftskrise in Abhängigkeit des großstädtischen Bankkapitals gerät und in den Lohnforderungen der Gewerkschaft seine Existenz bedroht sieht. Mit der zeitlichen Situierung der Handlung und der Anspielung auf die Autoreifenstadt Akron sucht das Stüde eine Verbindung mit den Streiks in der Großindustrie herzustellen. 193$ wurden die Gewerkschaften als Vertreter der Industriearbeiter in Lohn- und Arbeitszeitverhandlungen anerkannt (Wagner Act) und in Akron, Ohio, fanden die ersten spontanen Sitzstreiks

« Ebd., S. 68 23 Robert Emmet Sherwood: The Petrified Forest, New York 1935, S. 9 " Ebd., S. 114 25 C. Wright Mills: White Collar. The American Middle Classes, Oxford Univ. Press 19$ 1, S. 3-12 (»The World of the Small Entrepreneur«).

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statt, die diesem Gesetz zur Durchsetzung verhalfen 2 ®. Das Stück sucht in der Gestalt des paternalistischen Fabrikanten Rodman und seines ihm seit CollegeTagen befreundeten Vorarbeiters Firth diesen historischen Übergang vom antizum progewerkschaftlichen Denken zu zeigen. Firth repräsentiert die im Grunde konservative Haltung derjenigen Arbeiter (einer Mehrheit), die seit mehreren Generationen in Amerika leben und ihre ländlich-kleinstädtische Selbständigkeit der Mitgliedschaft in der Gewerkschaft vorzogen 27 . Das Unglaubwürdige der Handlung beruht nicht so sehr auf der anachronistischen Privatisierung der Auseinandersetzung zu einer Zeit, da Massenstreiks in der Auto- und Stahlindustrie stattfanden, sondern auf der romantischen Verklärung der von der Industrie großenteils brutal bekämpften Gewerkschaftsbewegung: im Stil der Westernerzählung schützt ein omnikompetenter, heimat- und klassenloser Held, der Arbeiterführer Whalen, die Bewohner des Städtchens vor den Übergriffen einer Bande von professionellen Streikbrechern und Gangstern und etabliert die neue Ordnung an der »Grenze«. Es liegt in der Natur dieses Denkens, daß die Charakterisierung Mantees und Whalens als robuster Individualisten mehr ins Gewicht fällt als ihre so verschiedenen sozialen Rollen. Sidney Kingsleys »Dead End« (1936) sucht die Entstehung des Gangstertums in den städtischen Ghettos darzustellen. Der Stücktitel symbolisiert die ausweglose Sackgasse, in der sich besonders die Jugendlichen hier befinden. Der wegen mehrfachen Mords gesuchte Gangster Babyface Martin kehrt in die kleine Straße von N e w Yorker Elendsquartieren zurück, in der er als Heranwachsender seine Karriere begonnen hat. Z u dem ehemaligen Spielkameraden Gimpty, einem arbeitslosen Architekten, sagt er, wobei er an Seidenhemd und maßgeschneidertem Jackett zupft: »Sechs Jahre bist du auf's College gegangen und was zum Teufel hast du davon? Lausige 30 Dollar Arbeitslosenunterstützung im Monat. Das ist nichts für mich. Ich bin anders als ihr Kümmerlinge . . . verhungern und frieren . . . wozu? . . . ( . . . ) Ich hab' mein Schäfchen 24

27

A. J. Muste: My Experience in the Labor and Radical Struggles of the Thirties, in: As We Saw the Thirties. Essays on Social and Political Movements of a Decade, hrsg. von Rita James Simon, Univ. of Illinois Press 1967, S. 123-150. Jeremy Brecher: Strike!, San Francisco 1972, S. 177-220. Sidney Lens: The Labor Wars From the Molly Maguires to the Sitdowns, Garden City, N. Y., 1973. American Labor Radicalism. Testimonies and Interpretations, hrsg. von Staughton Lynd, New York 1973, S. 49-74. Alice und Staughton Lynd: Rank and File. Personal Histories by WorkingClass Organizers, Boston 1973. Robert und Helen Lynd: Middletown. A Study in Contemporary American Culture, New York 1929. Dies.: Middletown in Transition. A Study in Cultural Conflict, New York 1937. Die Stadt in dem Stück wird »model town« genannt (Lillian Hellman: Days to Come, New York 1936, S. 39). Die konservative Haltung des amerikanischen Kleinstädters wird besonders gut siditbar in dem nach der Jahrhundertwende (1901-1913) spielenden Stück »Our Town« (A Play in Three Acts, New York 1938) von Thornton Wilder. Vgl. 2. B. die Antwort des Verlegers und Redakteurs des örtlidien Blättchens, Mr. Webb, auf einen »radikalen« Zwischenruf (S. 30 f.).

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auf dem Trock'nen und hab's mir nicht schenken lassen«28. Der Bande Jugendlicher, die auf die Bewohner des benachbarten, von Mauer und Eingangstor beschützten vornehmen Mietshochhauses kleine sadistische Überfälle verüben, für den Kampf mit einer rivalisierenden Bande jedoch bestimmte Regeln vereinbaren, rät er: »Wenn Ihr gewinnen wollt, müßt Ihr Euch Eure eig'nen Regeln ausdenken ( . . . ) Einen Kampf nach offnen und ehrlichen Regeln gibt's nicht. Der Sieger kriegt alles. Man erledigt den anderen leichter von hinten, als wenn man sich Mann zu Mann mit ihm schlägt«29. Der Revolverheld hat hier selbst den Anschein der Fairneß, den Mantee noch kultivierte, aufgegeben, er ist zum solipsistischen, faschistischen Parasiten der Gesellschaft geworden. Gimpty verrät ihn an das F.B.I. und Martin wird auf der Bühne niedergeschossen. In den 1928, 1930 und 1932 spielenden drei Akten von »Success Story« (1932) sucht John Howard Lawson den rücksichtslos verfolgten materiellen Erfolg als menschliches Scheitern darzustellen. Sol Ginsberg hat den Ehrgeiz und das Ressentiment eines in der Armut der New Yorker Elendsviertel aufgewachsenen Mannes, der vom kleinen Angestellten einer Reklamefirma zum Alleininhaber sich emporboxt. Er glaubt nicht an Fairneß im Umgang mit Konkurrenten oder Geschäftspartnern. »Ich komme schon hoch; wer sich mir in den Weg stellt, den mach ich fertig —.« »Dies ist eine Gangsterwelt, und ich hab mir vorgenommen, in ihr zu überleben.« Bei der Beerdigung seines Bruders, eines von Rivalen niedergeschossenen Gangsters, hat er sich geschworen, sich »das zu holen, was er haben wollte, und zwar auf respektable Weise.« Gegenüber dem Besitzer der Firma, den er wenig später aus der Partnerschaft gedrängt hat, legt er das von Andrew Carnegie geforderte aggressive Wettbewerbsverhalten gegenüber Vorgesetzten an den Tag: »ein Mann, der Sie mit Zähnen und Klauen bekämpft, wie ich es getan habe und weiterhin tun werde, der ist Ihnen ein Vermögen wert« 30 . Er sucht, ähnlich der New-Thought-Bewegung 31 , seine Geschäftspartner, seine Angestellten und seine Freundin durch Willenskraft zu manipulieren. Ebenso glaubt er, er könne dem Verbraucher mit wirksamer Reklame alles verkaufen, im Sinne von Henry Links Verkaufsrezept »The New Psychology of Selling and Advertising« (1932). Sol kann sich seines Reichtums nicht erfreuen, er sieht sich als tragisches Opfer seines Erfolgszwangs und er begeht Selbstmord. 28

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Sidney Kingsley: Dead End. A Play in Three Acts, N e w Y o r k 1936, S. 41 Ebd., S. 7 $ John Howard Lawson: Success Story. A Play, N e w Y o r k 1932. Zitate in der gegebenen Reihenfolge: S. 147, I J I und 168 Alfred Griswold: N e w Thought: A Cult of Success, in: American Journal of Sociology 1934, S. 3 0 9 - 3 1 8 . Vgl. audi Dale Carnegies Bestseller von 1936 » H o w to Win Friends and Influence People«, wo die individuelle Erfolgsformel sich vom »Charakter« auf die Fähigkeit verlagert, andere zu beeinflussen und beliebt zu s e i n . - A u s bleiben des Erfolgs wird vom einzelnen als persönliches Versagen, als Schuld, angesehen. Die ökonomische Krise resultiert so bei vielen in einer psychischen.

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C l i f f o r d Odets »Golden Boy« (1937) verschafft dem persönlichen und materiellen Erfolgsstreben der (unteren) Mittelschicht während der Wirtschaftskrise überzeugenden Ausdruck. J o e Bonaparte, Sohn eines italienischen Einwanderers, fühlt sich auf Grund seines Augenfehlers und seiner Armut inferior. E r hat zwei sidi widersprechende Begabungen, Boxen und Geigespielen, und eigentlich würde er gern der zweiten folgen. Doch die Boxkarriere verspricht finanzielle Sicherheit und Status. Wie Sol Ginsberg verfolgt er diese Karriere, nach anfänglichem Zögern, mit Entschiedenheit und Rücksichtslosigkeit. »Man könnte mit seinem Ehrgeiz, etwas zu werden, eine Stadt bauen«, bemerkt die Freundin seines Managers und er selber sagt: »Niemand, nidits wird midi aufhalten« 82 . Joe wird zum Sklaven seines Erfolgstrebens und des unverhohlenen Profitinteresses der Männer, die in seine Karriere investiert haben. Im Kampf um den Meistertitel tötet er seinen Gegner, woraufhin er selber mit seinem Sportwagen Selbstmord begeht. Das Stück richtet sich gegen das außerordentliche Maß von Aggressivität, das diesen außerordentlichen Erfolg erforderlich macht. Fast alle der hier diskutierten Stücke beziehen sich auf aktuelle Ereignisse und weisen publikumswirksame, reißerisch-melodramatische Züge auf 3 3 . Ihr Hauptinteresse gilt der sozialen Thematik, oder vielmehr einer populärsoziologischen Reflexion über die Entwicklung, die Sozialisation des einzelnen in der Gesellschaft. Robert Merton hat 1938 in Anlehnung an Dürkheims Anomiebegriff und Webers Formulierung der Zweck-Rationalität den Begriff der Devianz in die soziologische Diskussion eingeführt 34 . Menschliches Handeln ist auf die Verwirklichung bestimmter gesellschaftlich und kulturell definierter Zwecke gerichtet. Lassen sidi diese auf Grund veränderter ökonomisch-gesellschaftlicher Bedingungen vermittels der traditionell bereitstehenden institutionellen Mittel (Normen) nicht mehr durchsetzen und damit überhaupt rational aufrechterhalten (Mittel-Zweck-Inadäquanz, Anomie), so müssen Mittel oder Zwecke modifiziert bzw. aufgegeben werden. Merton klassifizierte Typen devianten Verhaltens, d. h. die von denen der Mehrheit abweichenden Versuche, die herkömmlichen Mittel oder Zwecke abzuändern. Die nach einer Periode starker wirtschaftlicher Expansion und gesteigerter, nahezu unbegrenzter Er-

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Clifford Odets: Six Plays. With a Preface by the Author, New York 1939, S. 295 und 299 Gerald Weales: Popular Theatre of the Thirties, in: Tulane Drama Review, Sommer 1967, S. 51-69. Thomas Porter: Myth and Modern American Drama, Wayne State Univ. Press 1969. Alan Casty: The Gangster and the Drama of the Thirties, in: Challenges to American Culture, hrsg. von Ray Browne u. a., Bowling Green Univ. Popular Press 1970, S. 224-233. Gerald Weales: Clifford Odets. Playwright, New York 1971. John von Szeliski: Tragedy and Fear. Why Modern Tragedy Fails, Univ. of North Carolina Press 1971. Robert Merton: Social Structure and Anomie, in: American Sociological Review 1938, S. 672-682. - Anomie and Deviant Behavior. A Discussion and Critique, hrsg. von Marshall Clinard, New York 1964.

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folgserwartung eingetretene Weltwirtschaftskrise schob die verschiedenen Formen devianter Anpassung in den Vordergrund. Der Ritualist löst den Konflikt, indem er bei rigider Beibehaltung der traditionellen Normen die Zielvorstellung der Selbstverwirklichung und des Erfolgs aufgegeben hat (Gimpty, Mr. Zero). Der Rückzügler verzichtet überhaupt auf Mittelausübung und Zielverwirklichung, er gibt auf (Squier in »The Petrified Forest«). Der Neuerer begegnet der Anomie-Situation durch die Anwendung ungewöhnlicher, illegaler Mittel. Der einer ethnischen Minderheit oder der Subkultur des städtisdien Ghettos entstammende Gangster erzwingt die parasitäre Erfüllung des egalitär intendierten Erfolgsversprechens durch Anwendung terroristischer Mittel, da ihm die von der Mittelschicht sanktionierten nicht verfügbar sind. Eine weitere Form der Devianz ist, nach Mertons damaliger85 Auffassung, der Versuch, institutionelle Normen und gesellschaftliche Zielvorstellung revolutionär zu verändern. Das Mädchen Drina in »Dead End« und Joe Bonapartes Bruder Frank kämpfen in der Gewerkschaftsbewegung für politische Veränderungen. John Steinbecks »Of Mice and Men« (1937) ist eines der besten Stücke der 30er Jahre, obwohl es sich auf kein spezifisch zeitgenössisches Ereignis bezieht. Es ist die zeitlose, einfache Geschichte der beiden befreundeten Farmarbeiter George und Lennie, die auf der Flucht vor der »Lyndi-Posse« eines kalifornischen Städtchens auf einer Großfarm Arbeit gefunden haben. Ihre Sehnsucht nach einer eigenen kleinen Farm, von der niemand sie wegschicken kann und wo sie ernten, was sie selber gepflanzt haben, wird von dem verkrüppelten Farmarbeiter Candy und dem schwarzen Stallknecht Crooks geteilt. Eine kleine Farm würde ihnen Unabhängigkeit und ökonomische Sicherheit geben, aber sie bleibt ein bloßer Traum. Bevor die Freunde ihn verwirklichen können, ermordet das kindhafte Ungetüm Lennie die Schwiegertochter seines Chefs. Um ihm die brutale Lynchhinrichtung durch die Farmer zu ersparen, erschießt George den Freund in einem Augenblick, in dem dieser das ersehnte Ziel, die kleine Farm, halluzinatorisch vor sich zu sehen glaubt.

Zum Film der 30er Jahre Das Broadway-Theater zeigt seit den 20er Jahren den starken Einfluß des Films. Satirische Stücke über die Traumfabrik Hollywood, etwa »Merton of the Movies« (1922) von George Kaufman und Marc Connelly, »Once in a Lifetime« (1930) von George Kaufman und Moss Hart und »Kiss the Boys Good-Bye« (1938) von Cläre Booth waren Publikumserfolge. In vielen Stükken, z. B. »The Adding Machine«, »The Belt«, Odets »Waiting for Lefty«, Steinbecks »Of Mice and Men« und Wilders »Our Town« und »The Skin of Später (1961) durch »Nonkonformismus« ersetzt. (Robert Merton: Nonconforming and Aberrant Behavior, in: Deviance, Conflict and Criminality, hrsg. von R. Serge Denisoff und Charles McCaghy, Chicago 1973, S. 48-56.)

Zum amerikanischen Drama und Film der 30er Jahre

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Our Teeth« wurde auf die Ersatzwelt des Kinos angespielt. Die 30er Jahre brachten mit Einführung des Sprechfilms eine enge Zusammenarbeit von Autoren, Regisseuren und Schauspielern. Der Broadway-Erfolg eines Stückes resultierte meistens in seiner Verfilmung. Mit Beginn der Wirtschaftkrise und dem Erscheinen des die Sprechfilmdramaturgie voll ausnutzenden Aktions-Films »Little Caesar« (1930) wurde der Gangster für die nächsten Jahre zum populärsten Kinohelden. Der ländliche, puritanische Teil der amerikanisdien Gesellschaft hatte der Mehrheit die unpopuläre Antialkoholgesetzgebung ( 1 9 2 0 — 1 9 3 3 ) aufgezwungen 36 und damit dem organisierten Verbrechen das Alkoholmonopol, und d. h. unbegrenzte (Bestediungs-)Gelder, zugeschanzt. »Little Caesar« skizziert in der ersten Szene den Übergang des amerikanischen Lebens vom Land in die Großstadt. Caesar Enrico Bandello raubt mit seinem Freund eine ländliche Tankstelle aus und macht Zukunftspläne in einer Imbißstube. Die nächste Szene zeigt ihn in Chicago, wo er innerhalb und mit Hilfe des Syndikats sdinell zu einer Position von finanzieller und gesellschaftlicher Macht aufsteigt 37 . Der rücksichtslose Gebrauch der Waffe läßt ihn bei den Bossen unerwünscht werden. E r wird in den Untergrund der Arbeitslosen und Alkoholiker gedrängt, verfällt selbst dem Alkohol und wird schließlich, im Inszenierungsstil eines expressionistischen Films, auf einem Müllplatz von der Polizei niedergeschossen. Erst 1 9 3 3 , nadi einer Serie weiterer sehr populärer Gangsterfilme, verlagerte Hollywood das Interesse von den Gangstern auf die F.B.I.-Agenten, die häufig von denselben Schauspielern gespielt wurden 38 . Der Film »I am a Fugitive from a Chaingang« (1932) beruht auf der autobiographischen, in einer Groschenheftserie ausgewerteten Geschichte39 eines Arbeitslosen, der, fälschlich wegen Raubes verurteilt, seine Strafzeit in einem Lager von Kettenhäftlingen im Staate Georgia ableistet, entkommt und unter angenommenem Namen zum Chefingenieur einer Chicagoer Baufirma aufsteigt. E r wird an die Polizei verraten und nach Georgia ausgeliefert, entkommt zum zweiten Mal und teilt, auf der Flucht vor der Polizei, das Schicksal der vielen Amerikaner, die durch die Wirtschaftskrise entwurzelt wurden. Der Film wurde zum Prototyp eines Subgenres, in dem der Held 84

Andrew Sinclair: Prohibition. The Era of Excess, Boston 1962. Daniel Bell: The End of Ideology, New York 1962, S. 127-150 (»Crime as an American Way of Life. A Queer Ladder of Social Mobility«). Bergman (We're in the Money, S. 6-8) zeigt, daß dem Film Andrew Carnegies Erfolgsformel als »Szenario« zugrunde liegt. 38 John Baxter: The Gangster Film, New York 1970. Colin McArthur: Underworld U.S.A., New York 1972. Stephen Karpf: The Gangster Film. Emergence, Variation, and Decay of the Genre, 1930-1940, New York 1973. William Everson: The Detective in Film, Secaucus, N . J., 1972. Lawrence Alloway: Violent America. The Movies 1946-1964, New York 1973. • • William Stott: Documentary Expression, S. 42 f.

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Arnold Heidsieck

nicht der Jäger oder Westerner ist, sondern zum Gejagten, zum Opfer der gesellschaftlichen Ordnung wird. Die Filmkomödie »Mr. Deeds Goes to Town« (1936) erzählt die Geschichte des sympathischen, rauhbeinigen Kleinstadtbewohners Mr. Deeds (Herr Taten), der durch eine Millionenerbschaft zu einem der reichsten Männer Amerikas wird, aber beim Tubablasen entscheidet, daß er für das Geld keine Verwendung hat. Wegen der Nachlaßordnung nach New York gekommen, zeigt er sich den korrupten Rechtsanwälten und Geschäftejägern durch sparsames Rechnen und unabhängiges Urteil überlegen. Auf Grund seines utopischen Plans, für die 20 Millionen Dollar Land zu erwerben und an Tausende von land- und arbeitslosen Farmern zu verteilen, soll er in einem Prozeß wegen Geistesschwäche entmündigt werden. Herr Taten siegt über seine Widersacher40 und wird von den Farmern im Triumph aus dem Gerichtssaal getragen. Im selben Jahr kam der von der Bundesregierung finanzierte Dokumentarfilm von Pare Lorentz »The Plough that Broke the Plains« heraus 41 . Er zeigt in einer der Eroberung des Westens entgegengesetzten Bewegung vom Staate Montana bis hinunter nach Texas, daß das agrarische Eden durch die auf schnellen Gewinn angelegte Ausbeutung des Bodens (Entgrasung, Überpflügung usf.) in eine riesige Staubwüste verwandelt worden ist. John Fords »Stagecoach« (1939) ist der Prototyp des historisch und psychologisch auf Realismus abzielenden Wildwestfilms, der nicht das moralische Dilemma eines einzelnen, sondern das Verhalten von Gruppen (von Pionieren, Farmern, Konstablern, Reisenden oder Stadtbewohnern) darstellt42. Ein aus dem amerikanischen Süden stammender Gentleman-Spieler, die Ehefrau eines Kavallerie-Offiziers, eine Prostituierte, ein wegen Unterschlagung flüchtiger 40

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E r will, wie er vor Gericht erklärt, den Farmern »10 Morgen, ein Pferd, eine Kuh und Saatgut« geben. Mr. Deeds Goes to Town, maschinenschriftliches Drehbudi (Theatersammlung der N e w York Public Library), S. 163. Mr. Deeds wurde von G a r y Cooper dargestellt. MacCann: The People's Film, S. 56-86. Stott zeigt, daß die meisten N e w - D e a l Administratoren einschließlich Roosevelts eine »Dokumentar«-Haltung besaßen. Viele politische Entscheidungen wurden auf Grund von Dokumentarevidenz (z. B. Fotos, Filme, Statistiken) getroffen, die zu Anfang des New-Deal gar nicht vorhanden war (Documentary Expression, S. 67-94). Das moralische Dilemma des Westernhelden leitet sich aus der literarischen Tradition ab, wie z. B. in Wisters Roman »The Virginian« (1902). Für das Verständnis des »Wild-West«-Filmgenres ist der Stummfilm »The Great Train Robbery« (1903), der die Beraubung eines Eisenbahnzuges durch berittene Banditen und ihre Verfolgung durch eine »Posse«, eine Gruppe von zu Sheriffs ernannten Ortseinwohnern darstellt, weitaus wichtiger. Dieser Film (er-)fand die für das Film-Medium konstitutive D r a maturgie räumlich entfernter, aber gleichzeitiger (paralleler) Handlungen (z. B. die von Verfolgern und Verfolgten). Vgl. weiterhin William Everson: A Pictorial History of the Western Film, N e w Y o r k 1969. Peter Wollen: Signs and Meaning in the Cinema, Indiana Univ. Press 1 9 7 3 2 (1969). Jim Kitses: Horizons West. Studies in Authorship in the Western Film, Indiana Univ. Press 1970. John Cawelti: The Six-Gun Mystique, Bowling Green Univ. Populär Press (o. J., ca. 1 9 7 1 ) .

Zum amerikanischen Drama und Film der 30er Jahre

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Bankeigentümer, ein zum Whisky-Vertreter gewordener Ex-Geistlidier, ein Polizeibeamter der Bundesregierung mit seinem jugendlichen Gefangenen befinden sich 1875 auf einer Postkutschenreise durch Arizona. Sie werden von einer Gruppe von Apache-Indianern 43 angegriffen, verfolgt und am Ende von der US-Kavallerie gerettet. Die Reisenden erleben trotz ihrer verschiedenen Schicksale und egoistischen Interessen eine gewisse Solidarität unter dem Eindruck einer von außen drohenden Gefahr. Der auf John Steinbecks Roman basierende Film »The Grapes of Wrath« (1940) 44 von John Ford ist die mythisch-dokumentarische Erzählung einer unter den Gefahren der Wirtschaftskrise stattfindenden Reise. Die Bauernfamilie Joad stammt von den Farmerpionieren ab, die die letzte offene Grenze, die subhumiden Prärien des mittleren Westens, besiedelten. Die große Dürre, die Enteignung der kleinen Farmen durch die Banken treibt die Familie von ihrem Land. Ihre Abreise, die Fahrt über die alte Wagentreckroute durch Arizona, der Aufenthalt in einem »Hooverville«-Getto, ihre Arbeit als Streikbrecher auf einer kalifornischen Latifundie vereinigen fast alle Motive der oben diskutierten Stücke. Die Familie findet am Ende ihrer Flucht Unterkunft in einem vom US-Landwirtschaftsministerium finanzierten Lager, einer utopischen Gemeinschaft, deren Mitglieder Regierung und Polizei aus ihrer Mitte wählen und ihre eigenen Gesetze beschließen. Tom Joad, dargestellt von Henry Fonda, vereinigt in sich die individualistischen Züge der Grenzerfahrung und die kollektiven Züge des Gewerkschaftsführers der 30er Jahre. Fonda hatte in John Fords historischem Film »Drums Along the Mohawk« (1939) einen bäuerlichen Pionier deutscher Abstammung, Gilbert Martin, gespielt, der sich 1776, zur Zeit des amerikanischen Revolutionskriegs, im nordwestlichen New York zusammen mit anderen Siedlern gegen Indianer und britische Truppen zur Wehr setzen muß. In dem hundert Jahre später (1875) spielenden »Stagecoach«, d. h. in einer im Entstehen begriffenen bürgerlichen Ordnung im Südwesten, wird Ringo Kid, der Gefangene des U.S.-Marshalls, als »prä-devianter« Gesetzesübertreter (noch nicht als habitueller Verbrecher) gesehen, der »wiedergutmacht«. Im 48

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Die Eroberung des Westens durch die Weißen war gleichbedeutend mit der Ausrottung der Indianer auf Grund ökonomischer Maßnahmen (Vertreibung, Landraub, Dezimierung der Büffelherden). Vgl. Clark Wisseler: Red Man Reservations, N e w York 1 9 7 1 (1938), S. 6 1 - 7 3 (»The Great Depression in the Indian Country«, seit 1882). Peter Färb: Man's Rise to Civilization. A s Shown by the Indians of North America from Primeval Times to the Coming of the Industrial State, N e w York 1968. Vgl. Nunally Johnson: The Grapes of Wrath, in: Twenty Best Film Plays, hrsg. von John Gassner und Dudley Nichols, N e w Y o r k 1943, S. 3 3 3 - 3 7 7 (»Little Caesar«, S. 4 7 7 - 5 2 0 : »Stagecoach« S. 9 9 5 - 1 0 3 8 ) . George Bluestone: Novel into Film: >The Grapes of WrathThe Grapes of WrathGrapes of WrathGrapes of WrathThe Grapes of WrathHenri Quatreprince du sang< c'est en réalité sur les prérogatives de sa personnalité morale qu'il insiste« (J461). Und Henri sagt von sich selber: »Weil ich Prinz vom Geblüt bin, werd ich allen vorauskommen. Daher hab ich mein Recht und meine Begabung« (J 460). Nicht eigenes Verdienst und eigene Erfahrung sind in dieser Argumentation die Bedingungen

* Vgl. J n und 536 (la réalité), aber audi V 334, 3J3, 774 f. u. ö.

1® J466, s96. 11

In der normannisdien Ständeversammlung verfügen die Bauern zusammen mit den Bürgerlichen und den Handwerkern über eine Mehrheit. Henri begibt sich in seiner Rede vor der Versammlung ausdrücklich unter die »Vormundschaft« dieses Gremiums. (V 364) Dennoch bleibt die Selbstbestimmung der unteren Stände eine Farce. Sie ist gebunden an die allmächtige Zustimmung der Majestät. Die Bauern können zwar die Höhe ihrer Abgaben selber festlegen, ist sie jedoch zu gering angesetzt, so wird der König gewaltsam höhere Tribute eintreiben. » >Ist es dann zu wenig, kann er uns immer nodi seine Gendarmen schiZola< steht: >Wer die Wahrheit hat, erwirbt den Siegbesiegt wird der Ungeistige< - eine illusionäre, vom Transzendenten ins Immanente willkürlich übertragene Identifizierung von Macht und Geist, durch die unvermeidliche Umkehrung der Maxime praktisch eine Vergöttlichung jedes [!] Erfolgs [...].« (André Banuls: Heinrich Mann. Stuttgart, Berlin, Köln, Maiz 1970, Sprache und Literatur 61, S. 120).

Von der Exemplarursache zur Dialektik

JJ1

Verknüpfung von Ideal und Taktik nachweisen, so zeigt sich jener in der Behauptung, daß es für den politischen Erfolg unabdingbar sei, über richtige Ideale zu verfügen 29 . Die mangelnde substantielle Verbundenheit von Ideal und Taktik hat überdies zur Folge, daß das postulierte Ideal zunehmend eine rein transzendente Größe bildet, die von oben zwar der politischen Taktik möglichst intensiven Widerhall verschaffen soll, dieser jedoch nicht wirklich eine Angleidiung erlaubt. Die auffällige Häufigkeit, mit welcher in dem durchwegs diesseitig orientierten Romanwerk auf christliche oder überhaupt religiöse Gehalte Bezug genommen wird, läßt sich nicht ausschließlich aus der Verankerung der Fabel in der Zeit der Hugenottenkriege erklären. Sie hat auch in der Anlage der hier analysierten Beziehungen ihren Ursprung. Henri muß zu einem neuen Christus, zu einem »Salvator«30 stilisiert werden, da er ohne diese Stilisierung noch weniger das zu leisten imstande wäre, was ihm in den beiden Romanteilen als politische Aufgabe zugewiesen ist.

IV. Die beiden Beziehungen, die in den vorausgegangenen Abschnitten untersucht wurden, stehen zueinander in keinem isolierten Verhältnis. Nidit nur haben sie beide ihren Platz im Gesamtbereidi des politischen Verhaltens der Titelfigur, sie weisen auch untereinander eine gewisse Ähnlichkeit auf: beide lassen sich kennzeichnen durch die Gebärde des Herunterbeugens. In beiden werden Oben und Unten nicht als zwei gegensätzliche, wechselseitig aufeinander bezogene Momente einer Einheit gefaßt, vielmehr erscheint diese Einheit nur als ein erst noch zu erreichendes Ziel, dem die eigenmächtige, isolierte Bewegung von oben gilt. Nicht ein dialektischer Zusammenhang existiert hier, sondern einer, den man in Anlehnung an einen Terminus der scholastischen Philosophie e x e m p l a r u r s ä c h l i c h 8 1 nennen könnte. Die Bewegung von unten hinauf wird nicht durch die Bewegung von oben herab tatsächlich und unmittelbar Vgl. z. B. folgende, im Roman keineswegs vereinzelt stehende Äußerung »Denn es ist die Erkenntnis ein Lidit und wird ausgestrahlt von der Tugend. Schurken wissen nidits.« (J 491; ähnlich auch J 546) 80 S. den Titel der in Anm. 4 zitierten Arbeit von E. Blattmann. »i Das exemplarursädilidie Denken verdankt sich christlidien Ursprungs: »Während die scholastische Philosophie die ersten vier [ . . . ] Ursachen der aristotelischen Metaphysik entnommen hat, ist die Exemplarursache ein Produkt der christlichen Philosophie. Sie wurde vor allem durch Pseudo-Dionysius Areopagita (De divinis nominibus V , 8) und durch Augustin (Quest. 83, qu. 48) in die Philosophie eingeführt. In der Scholastik erhalten die Exemplarursachen ihren Platz dadurch, daß sie zur Begründung des Sdiöpfungsgedankens dienen, indem Gott und dessen Ideen als die Exemplarursächlichkeit der Dinge in Natur und Geschichte dargestellt werden.« (Philosophisches Wörterbuch. Hrg. v. G. Klaus und M. Buhr, Bd. 1, Leipzig 1971®, S. 3$oa.) M

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Ulrich Stadler

verursacht, d. h. diese ist nicht die causa efficiens von jener; sie wirkt lediglich indirekt, und zwar durch ihren exemplarischen Charakter, ursächlich auf das Unten. Das Volk kann sich dem Monarchen, die angewandte Taktik dem propagierten Ideal nur darum annähern, weil vom Monarchen und vom Ideal die ansteckende Faszination des Vorbildes ausgeht. Wenn diese beiden scheinen, als seien sie von gleicher Qualität wie ihre Oppositionsglieder (Volk, politische Taktik), so ist dieser Schein manipulativen Ursprungs. Verwendet man den Interpretationsansatz von Helga Gallas in ihrem Aufsatz »Strukturalismus als interpretatives Verfahren« 32 , so lassen sich die analysierten Beziehungen als Paradigmenglieder auf der Signifikantenebene verstehen, denen Signifikate außerhalb der »Henri-Quatre«-Romane entsprächen. Als Paradigma auf der Signifikatenebene ergäbe sich das Verhältnis des Großbürgers Heinrich Mann zum Proletariat respektive Kleinbürgertum. In der Art und Weise, wie dieser sich zu jenem hinunterbeugt, könnte man eine homologe Struktur zu den im »Henri Quatre« auffindbaren Beziehungen sehen. Heinrich Mann, der seinen eigenen Vater als einen »Kaufmann« beschrieb, »der den kleinen Freistaat Lübeck zum guten Teil regierte« 33 , verlor mit seiner Wahl des Schriftstellerberufes den Status eines Patriziers. Im selben Maß, wie er die Verunsicherung seiner Existenz an sich selber erfuhr, registrierte er den wirtschaftlichen Aufstieg der »Kobes«- und »Heßling«-Typen in schwindelhafte Höhen und brachte ihn in ursächlichen Zusammenhang mit seiner eigenen Deklassierung. »Wir Zugrundegerichteten«, schreibt er 1923 a 4 — das »Wir« bedeutet der »Mittelstand« 35 , mit dem sich Heinrich Mann gefühlsmäßig identifiziert, ohne in Wahrheit ihm ursprünglich anzugehören. Was ihn mit diesem verbindet, ist die Tatsache, gleichfalls in der Existenz bedroht zu sein. Da jener jedoch — wenn auch weniger erfolgreich — derselben Wirtschaftsordnung huldigte wie das Großkapital des »Gründungsschwindels«, sucht Heinrich Mann die Wurzel des Übels nicht in der Wirtschaftsordnung selber, sondern in deren Auswüchsen. »Wir wollen jeder hinauf, — und mandier zu weit Überragende, man muß dies wissen, sehnt sich schon hinab; auf gleicher, hoher Fläche wollen wir einander begegnen. ( . . . ) Das Proletariat soll weder herrschen, noch soll es überhaupt bestehen. Es kämpfe, um sich selbst zu überwinden, nicht, um alle in sich einzubeziehen. Es werde durch Sozialwirtschaft gehoben, verbürgerlicht. Und auch der Bürger, seiner selbsthasserischen Sucht nach einem historischen Herrentum entbunden, werde erst Bürger. In der Mitte sollen sie einander

32

S. den von H . Gallas herausgegebenen Sammelband mit dem gleichen Titel, Darmstadt, Neuwied 1972, collection alternative 2, S. I X - X X X I 83 H . M.: Ein Zeitalter wird besichtigt, S. 1 7 3 . - S. audi Midiael Nerlidi: Warum Henri Quatre? In: Heinrich Mann 1 8 7 1 / 1 9 7 1 . Bestandsaufnahme und Untersuchung. Ergebnisse der Heinrich-Mann-Tagung in Lübeck. Hrg. K . Matthias, Mündien 1 9 7 3 , S. 169 34 Heinrich Mann: Die Tragödie von 1923. In: H . M . : Sieben Jahre. Chronik der Gedanken und Vorgänge. Berlin, Wien, Leipzig 1929, S. 97 »s Ebda.

Von der Exemplarursache zur Dialektik

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finden ( . . .)«88. Die neue Mitte, der Arbeiter-Bürger, soll durch die »Ordnung (i. e. die Korrektur; U. St.) des Wirtschaftlichen vom Geistig-Sittlidien aus«87 entstehen. Für die Aufgabe, diesen Ordnungsprozeß einzuleiten und durchzuführen, glaubt sich Heinrich Mann in besonderem Maße geeignet, da bei ihm, dem ehemaligen Patrizier, nicht befürchtet werden müsse, was für die Emporkömmlinge und Raffke-Typen gelte, nämlich daß Betriebsamkeit an die Stelle des Sittlichen getreten sei88. Gerade weil er nicht von unten kommt, hält er sich für berechtigt, durch seinen Rat und durch sein Beispiel bei der »Hebung« derer mitzuwirken, die von ganz unten kommen 89 . Dieses Konzept, das die Existenz einer Elite zur Voraussetzung macht, um die Klassenunterschiede einebnen zu können, ist unter dem Stichwort der »Logokratie« 40 berühmt geworden. Es knüpft in vielem an die historische deutsche Aufklärung, den aufgeklärten Absolutismus des 18. Jahrhunderts an, der sidi ebenfalls einer Reform der Verhältnisse von oben verschrieben hatte 41 . Heinrich Mann hat dieses Konzept auch dann noch vertreten, als ihn die gesellschaftliche Wirklichkeit der untergehenden Weimarer Republik immer drastischer erkennen ließ, daß sie auf den Beitrag des Autors zur »Ordnung des Wirtschaftlichen vom Geistig-Sittlichen aus« keinen Wert legte. Noch der große Essay »Das Bekenntnis zum Übernationalen« von 1932 erläutert verzweifelt die eigene Position Manns auf folgende Weise: »Einzelne müssen bekennen, daß sie den Nationalstaat verlassen haben; denn sie sind nur der Anfang der Masse und nehmen ein Volk vorweg. Sie müssen einfach sprechen, als wären sie schon das Volk, obwohl es sie bis

88 87 88

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40 41

Heinrich Mann: Kaiserreich und Republik. In: H. M.: Macht und Mensch, München 1919, S. 213 H. M.: Die Tragödie von 1923, S. 96 S. H. M.: Kaiserreich und Republik, S. 191: »Betriebsamkeit kann dem Unsittlichen die Seele ersetzen, seine Welt fühlt sich, weil sie sich dreht.« Noch 1933 schreibt Heinrich Mann in dem Essay »Ihr ordinärer Antisemitismus« (In: Der Haß. Deutsche Zeitgeschichte. Amsterdam 19332, S. 126): »Ich bin [...] aus einer alten Familie des alten Deutschland, und wer Tradition hat, ist sicher vor falschen Gefühlen. Tradition befähigt uns zur Erkenntnis, und sie macht uns geneigt zur Skepsis und zur Milde. Nur Emporkömmlinge führen sich zu Zeiten auf wie die Wilden.« - Vgl. hierzu Anm. 12 und 21. S. E. Blattmann: Henri Quatre Salvator, S. 50 ff. Hier wäre vor allem auf den Einfluß Kants zu verweisen. Vgl. etwa die folgende Stelle aus »Der Streit der Fakultäten«: »In welcher Ordnung allein kann der Fortschritt zum Besseren erwartet werden?« Der Frage, die als Überschrift des Abschnitts I I I 10 dient, folgt die Antwort: »nicht durch den Gang der Dinge v o n u n t e n h i n a u f , sondern den v o n o b e n h e r a b . [...] Da es [ . . . ] M e n s c h e n sind, welche diese Erziehung bewirken sollen, mithin solche, die dazu selbst haben gezogen werden müssen: so ist bei dieser Gebrechlichkeit der menschlichen Natur unter der Zufälligkeit der Umstände, die einen solchen Effekt begünstigen, die Hoffnung ihres Fortschreitens nur in einer Weisheit von oben herab [...].« (Immanuel Kants Werke. Hrg. v. E. Cassirer, Bd. VII, Berlin 1922, S. 405 f. - Uber die Nähe Manns zu Kant s. vor allem H. König, Heinrich Mann, S. 216-264, aber auch E. Blattmann, S. J7-70. Letzterer verweist gleichfalls auf die hier zitierte Kant-Stelle.

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Ulridi Stadler

jetzt lieber niederschlüge, als daß es sie anhört«42. Der Essay ersdiien nodi in Deutschland und wurde dann 1933 in den Exil-Sammelband »Der Haß«, unter der Kapitelüberschrift »Vor der Katastrophe« aufgenommen43. Das nächste größere literarische Werk, das Heinrich Mann vollendete, war der »Henri Quatre«, dessen Ursprünge, des Autors eigenen Angaben zufolge44, bis in das Jahr 1925 zurückreichen. Die hier bloß skizzierte Position und Verhaltensweise Manns in den Jahren der Weimarer Republik bis zum Beginn der Hitler-Diktatur, läßt bereits zahlreiche Bezüge zu dem Gleichnis von Leben und Wirksamkeit des Königs Henri Quatre erkennen. Michael Neriich hat diese Bezüge vor kurzem in ähnlidier Weise zu verdeutlichen gewußt45. Im Unterschied jedodi zu Neriichs Aufsatz, in welchem versucht wird, den K a u s a l Zusammenhang aufzuzeigen, der das Spezifische der »Henri-Quatre«-Romane mit der gesellschaftlichen Situation ihres Autors verbindet, würde der von Gallas vorgeschlagene Ansatz lediglich einen phänomenologischen oder, wie die Autorin schreibt, einen »logischen Zusammenhang« sichtbar machen49. Nicht das Verhältnis von Ursache und Wirkung selbst würde herausgearbeitet, sondern bloß die Ähnlichkeit zwischen diesen beiden zueinander sich verhaltenden Größen. Handelt es sich hierbei nur um eine Schwerpunktsverschiebung, die in einem weiteren methodischen Schritt korrigiert werden könnte, so ist ein anderer, von Gallas bereits bedachter Einwand 47 gegen das strukturalistische Verfahren sehr viel gravierender zu nehmen. Wenn das Gemeinsame in den untersuchten Beziehungen der »Henri-Quatre«-Romane eine Struktur darstellt, so müßten auch die bisher nicht untersuchten Beziehungen, in denen die Opposition Oben/Unten eine Rolle spielt, dieselbe Struktur aufweisen. Die einmal erkannte Struktur sollte dann im zugewiesenen Bereich immer und überall gelten. Die zwei Bände des »Henri Quatre« sind jedoch in einer Zeit abgefaßt worden, in welcher Heinrich Mann noch bedeutende Wandlungen erfahren mußte. Die Veränderungen in den politischen Anschauungen — bei einem über sechzigjährigen Autor ein außerordentliches Phänomen — sind schon von den Zeitgenossen mit Überraschung zur Kenntnis genommen worden48. Werner Herden hat sie in seinem Buche »Geist und Macht«, das den charakterisierenden Untertitel »Heinrich Manns Weg an die Seite der Arbeiterklasse« trägt, detailliert 42

Heinrich Mann: Essays. 2. Bd., Ausgewählte Werke in Einzelausgaben. Bd. X I I , Hrg. v. A . Kantorowicz, Berlin 19 j6, S. 527 4 » H . M.: Der Haß, S. [ 9 ] ; das Zitat findet sich dort S. 56 f. 44 H . M . : Ein Zeitalter wird besichtigt, S. 442 45 S. den in Anm. 33 zitierten Aufsatz. 48 S. H . Gallas: Strukturalismus als interpretatives Verfahren, S. X X 47 H . Gallas: Strukturalismus als interpretatives Verfahren, S. X X I X ff. 48 S. die Rezension von Hugo Huppert: Ein deutsches Lesebuch. [Ober Heinrich Manns »Es kommt der Tag< (Zürich 1936)] In: Die Internationale Literatur 7 (1937), H e f t 1, S. 1 3 6

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nachgezeichnet4*. Am Anfang dieses Weges steht die bereits erwähnte logokratische Konzeption, wonach eine intellektuelle Elite, mit diktatorischen Vollmachten ausgestattet, dem »instinktverlassenen Volk« Vernunft beibringen und »mit uneingeschränktem, unbeaufsichtigtem Hochkapitalismus« Schluß machen solle58. Am Ende steht die Einsicht, daß »alle lebenswichtigen Unternehmungen ( . . . ) aus der Privathand in die öffentliche« überführt werden müßten und daß dies nur das Werk der revolutionär gesinnten Arbeiterklasse sein könne. Dem Intellektuellen komme dabei nicht mehr die Funktion einer Elite zu; sie hätten nur Bedeutung, insofern sie mit den Massen verbunden seien 51 . Zwischen diesen beiden Positionen, die hier umrissen wurden, mit Hilfe zweier prägnanter Zeugnisse vom Oktober 1923 und vom Mai 1945, bewegt sich Heinrich Mann in den dreißiger Jahren, wobei der zurückgelegte Weg keineswegs gerade verläuft und die logokratische Ausgangsposition selbst noch in der Autobiographie von 1945 immer wieder sich geltend macht. Sie bleibt erkennbar in der Verehrung und Idolifizierung, die den großen Individuen zukommt, durch deren beispielhaftes Wirken »die menschliche Lage« verbessert werden könne 52 . Angesichts der Inkonstanz der politischen Anschauungen Heinrich Manns, kann innerhalb des »Henri Quatre« eine Konstanz in der Beschaffenheit der Beziehungen, welche die Oben/Unten-Opposition bezeichnen, nicht selbstverständlich erwartet werden. Im Gegenteil, es muß angenommen werden, daß die Veränderungen des Autors in den Jahren der Niederschrift des zweibändigen Werkes in diesem ihre Spuren hinterlassen haben. Insofern 58 erscheint es geboten, den Strukturbegriff zumindest im vorliegenden Falle nicht zu verwenden. Mit dem Beispiel des Verhältnisses von »Geist« und »Tat«, jener für Heinrich Mann zentralen Thematik, kann nämlich eine Beziehung aus den »Henri-Quatre«-Romanen vorgestellt werden, die sich nicht mehr zutreffend mit Hilfe der Gebärde des Herunterbeugens und mit dem Begriff der Exemplarursache beschreiben läßt.

49

Berlin, Weimar 1 9 7 1 . S. den 6. Teil von »Die Tragödie von 1923«, der, ursprünglich ein offener Brief an den Reichskanzler Gustav Stresemann, in der bezeichnenden Forderung nach »Diktatur der Vernunft« gipfelte. (H. M . : Sieben Jahre, S. 163, 1 $4 und 160) 51 Heinrich Mann: A n das befreite Berlin. In: H . M . : Verteidigung der Kultur, S. 388 und 382 82 S. H . M . : Ein Zeitalter wird besichtigt, S. 1 5 1 , 3 1 u. ö. «3 U nd solange >Struktur< als eine invariante Größe gefaßt wird. Ober Versuche, den Strukturbegriff zu dynamisieren, s. etwa den Bericht von Hans Günther: Struktur als Prozeß. Zum Strukturbegriff des tschechoslowakischen Strukturalismus. In: Archiv für Begriffsgeschichte 16 (1972), H e f t 1, S. 86-92. - Uber die Invarianz von Strukturen s. den Aufsatz von Hubert Laitko: Struktur und Dialektik. In: Zeitschrift für Philosophie 16 (1968), S. 674-697, besonders. S. 690 ff. 50

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Ulridi Stadler

V. »Nous ferions mieux, si nous pouvions regarder« (V873).

nous

In dem Kapitel »Das Gespräch am Meeresstrand« wird von der Zusammenkunft Henris mit dem adligen Philosophen Michel de Montaigne berichtet. Dieser Zusammenkunft, genauer: dem dabei geführten Gesprädi kommt — wie in der Sekundärliteratur immer wieder und mit Redit betont wird 54 — eine zentrale Bedeutung für die Entwicklung Henris und darüber hinaus für den weiteren Verlauf des Romans zu. Es ist ein Gesprädi über die Frage, »welche Bewandtnis es hat mit den menschlichen Handlungen« ( J 347), d. h. es ist ein Gespräch über die Skepsis. Der alternde Philosoph erweist sich hier zunädist einmal gegenüber dem nodi ungestümen Henri als ein Lehrmeister in der Kunst des Zweifeins. Indem er die Frage Henris »Welche Religion ist die redite?« beantwortet mit der berühmten Frage »Was weiß idi?« ( J 349), übermittelt er die skeptische Gebärde, die der spätere König von Frankreich zu seiner eigenen machen wird. Dennoch läßt sidi die Beziehung zwischen dem Philosophen und dem Prinzen nicht als ein Verhältnis beschreiben, in dem der eine — Montaigne — nur zu lehren, der andere — Navarra — nur zu lernen hätte. Beide vielmehr sind Lernende und verändern sich und ihre Auffassungen aufgrund des Gespräches55. Während Henri, der Handelnde, zur fortwährenden Reflexion sich aufgefordert sieht, ist Montaigne, der skeptische Denker, gehalten, seine Verachtung aller menschlichen Handlungen abzulegen. Zu Beginn der Unterhaltung vertritt der Philosoph die Position eines absoluten Skeptizismus, der, wenn auch zögernd, die Legitimierbarkeit von Taten grundsätzlich bestreitet. » >So sind wir Gäste«, sagte der Edelmann (i. e. Montaigne), >Gäste auf einer Erde, deren Stätten ohne Bestand sind. Ganz vergebens kämpfen wir um sie. Für meinen Teil habe ich niemals versucht, mehr zu erwerben, als mir vom Glück beschieden war, und ich bewohne, während schon das Greisenalter mir seine Zugänge öffnet, nodi 54

Vgl. z. B. Ulrich Weisstein (Heinrich Mann. Eine historisch-kritische Einführung in sein dichterisches Werk. Tübingen 1962, S. 169), der »Das Gespräch am Meeresstrand« als »einen Wendepunkt in Henris Leben« bezeichnet. 55 Diese Beurteilung des Verhältnisses zwischen den beiden Romanpersonen Henri und Montaigne unterscheidet sich von der Einschätzung, welche U . Weisstein nicht so sehr in seinem (in der vorausgehenden Anm. aufgeführten) Buch als vielmehr in seinem Aufsatz [Heinridi Mann, Montaigne und >Henri Quatre«. In: Revue de Littérature comparée 36 (1962) S. 7 1 - 8 3 ] vorgenommen hat. Nicht nur berücksichtigt er dort zu wenig die Tatsache, daß beide Romanpersonen noch lernen müssen und noch lernen, er setzt m. E. die Figur des Philosophen Montaigne z u h o c h über der des Königs an. Mit seiner Behauptung, »that Henri never attains the lofty ideal set up for him in the person of the philosopher« (S. 82), beschreibt er die Beziehung Montaignes zu N a v a r r a als eine exemplarursächliche, was sie, wie die folgenden Ausführungen zeigen sollen, gerade nicht mehr ist.

Von der Exemplarursache zur Dialektik

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immer mein kleines ererbtes SchloßIch trinke, und noch besser würde es mir schmecken, wenn ich das meine schon verloren hätte und aller Sorge darum enthoben wäre. Es ist mir eigentümlich, immer das Schlimmste zu befürchten, und tritt es dann wirklich ein, mich ihm in Geduld zu bequemen. Dagegen ertrage ich nur schwer die Unsicherheit und den Zweifel. Ich bin wahrhaftig kein ZweiflerHenri Quatrestalinistischen< Aspekte, glaubt Brecht, könnten v o n den N a z i s mitten in der bürgerlichen Klassenherrschaft vorweggenommen werden, »das deutsche kleinbürgertum«, heißt es an anderer Stelle, »borgt sich f ü r seinen versuch, einen Staatskapitalismus z u schaffen, gewisse Institutionen (samt ideologischem material) v o m russischen Proletariat, das versucht, einen staatssozialismus zu schaffen, im faschismus erblickt der Sozialismus sein verzerrtes Spiegelbild, mit keiner seiner tugenden, aber allen seinen lästern« 17 . Die Frage, die in der wissenschaftlichen Diskussion über Faschismus immer wieder aufgeworfen wird, ist die, ob sich mit den N a z i s etwa ein politisches Phänomen dargestellt habe, das in Kategorien des Klassenkampfes gar nicht mehr angemessen beschrieben werden könne. H a t nicht der >unbürgerlidie< Hitler, der österreichische Bohemien, das Bürgertum diktatorisch unter seine Füße gebracht? Wie also kann er O r g a n eben dieser v o n ihm unterdrückten Bourgeoisie gewesen sein? In Brechts — nur skizzierter — Theorie werden nicht alle Fragen beantwortet. A b e r der Grundriß ist klar, der Kern plausibel. Brecht lehnt die These v o n der politischen Autonomie der Nazi-Bewegung ab. Er vertritt die Meinung, »das tiefenfeld des sozialen seins« 18 , welches bereits in den parlamentarisch-demokratischen Formen der Weimarer Republik das eigentliche gesellschaftliche Leben bestimmt habe, sei im Nazismus lediglich deutlicher sichtbar geworden. D e r »gewaltcharakter der Ökonomie«, in den demokratischen Ländern verhüllt, habe sich im Nazismus und seinem Terror entblößt. Ideologisch getarnt werde aber die Tatsache, daß die nunmehr manifest gewordene Gestalt nach wie v o r ökonomischen Ursprungs sei 19 . D e r Nazi-Terror, zum Teil den Bürger selber treffend, ist für Brecht Produkt bürgerlicher Klassenherrschaft. Die ideologische Verhüllung des ökonomischen Charakters bürgerlicher Gew a l t , die im N a z i - T e r r o r kulminiert, leisten nach Brechts Meinung die vermeintlich freischwebenden Intellektuellen, die »tuis«. M a n darf ergänzen: H i t -

Arbeitsjournal, S. 307 Arbeitsjournal, S. 589. Über die »Laster« des russischen Sozialismus in der Ära Stalins äußert sidi Bredit u. a. im Arbeitsjournal, S. 67 (»immer nodi nicht entscheidet das volk« usw.). 1 8 Arbeitsjournal, S. 447 '» Arbeitsjournal, S. 213 16 17

Bertolt Brechts Faschismus-Theorie

J 67

ler selber zählt mit seinem Buch »Mein Kampf« dazu. Brecht, von der Beobachtung ausgehend, daß die Nazis sich ständig auf den Geist, die völkische Rassenseele usw. beriefen, bringt die zentrale Pointe seiner dialektisch-materialistischen Analyse der Beziehung von Geist (Ideologie) und gesellschaftlicher Wirklichkeit im Zeichen der Nazi-Herrschaft in voller, paradoxer Schärfe heraus: »die goldene zeit der tuis ist die liberale republik, aber den gipfel erklimmt der tuismus im dritten reich, der idealismus, auf seiner niedersten stufe angelangt, feiert seine gigantischsten triumphe. philosophisch — und damit adäquat — ausgedrückt: das bewußtsein zu dem Zeitpunkt, wo es dem gesellschaftlichen sein am tiefsten versklavt ist, wirft sich auf, ihm in der herrischsten weise diktieren zu wollen, die >idee< ist nichts mehr als ein reflex, und dieser reflex tritt in besonders gebieterischer und terroristischer form gegenüber der realität auf« 20 . Die verheerende, in deutscher Geistesgeschichte so noch nie dagewesene Korruption des Denkens, die »wildeste ausschweifung des deutschen idealismus« 21 , bezeichnet Brecht hier mit dem Wort »reflex«. Darin liegt zweierlei: einmal die Unfähigkeit dieses Denkens, auf substantielle Weise das soziale Sein zu fördern — die Nazi-Ideologie (die »idee«) ist abgeschnitten von den wahren gesellschaftlichen Bedürfnissen; sie ist das Gegenteil von Wissenschaft und eingreifendem Denken; zum anderen aber spiegelt sich in der zum »reflex« pervertierten Nazi-Mentalität immer noch gesellschaftliches Sein; dessen ungelöste Widersprüche sind, in der Form ideologischer Verhüllung, in ihr enthalten. Ein ohnmächtiges, von schlechter Praxis abhängiges Denken ist es, was Brecht zufolge im Nazitum sich die äußerste Macht zu erzwingen und die von ihm unbegriffenen Probleme zu lösen sucht. Im Nazismus mischen sich nach Brechts Darstellung mithin auf eigentümliche Weise die Rationalität des sich radikal vollendenden kapitalistischen »feldes« und der als politischer Terror sich etablierende, längst irrational gewordene deutsche Idealismus, der die politischen und ökonomischen Realitäten verkennt. Mit dieser Theorie Brechts lassen sich die vorübergehenden außerordentlichen Erfolge der Nazis ebenso wie die Kurzfristigkeit und abenteuerliche Unsolidität ihrer Herrschaft ausgezeichnet begreifen. Was den Antisemitismus der Nazis und ihre Politik der Judenvernichtung betrifft, so wären sie von Brechts Position aus zu verstehen als der Versuch, die Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft durch Schaffung und Vernichtung eines Ersatzgegners aufzuheben (»die nation operierte da am phantom«) 22 — wobei die Tatsache, daß offenbar viele Nazis und Hitler an ihrer Spitze an ihre eigene Ausrottungsideologie glaubten, als eine Verinnerlichung jener Mechanik zu deuten wäre. 20 21 82

Arbeitsjournal, S. 213 Arbeitsjournal, S. 3 JI Arbeitsjournal, S. 381

Franz Norbert Mennemeier

$68

Brecht w a r durch seine dialektisch-materialistische Methode instand gesetzt, zu

kurz

greifende

Interpretationsversuche

Adorno-Horkheimersche

Theorie v o m

des Nationalsozialismus

»faschistischen typus« 2 3

oder

wie

die

gewisse,

damals populäre Anschauungen von den bösen, sozusagen naturaliter faschistischen Deutschen v o m K o p f auf die Füße zu stellen. D i e Idee von der K o l l e k tivschuld der Deutschen,

der Thomas M a n n

zeitweilig

anhing und die ein

wesentlicher G r u n d f ü r die heftige Auseinandersetzung mit M a n n w a r 2 4 , hat das Denken des großen Rationalisten Brecht keinen Augenblick in Versuchung geführt. Unnötig zu versichern, daß die hellsichtige Unterscheidung

Brechts

zwischen N a z i s und Deutschen mit trivialem Patriotismus nichts zu schaffen hatte, »faschismus ist eine regierungsform, durch welche ein v o l k so unterjocht werden kann, daß es dazu zu mißbrauchen ist, andere Völker zu unterjochen« 25 , lautet eine Faschismus-Definition von Brecht, »der grad der faschistischen und besonders der nazistischen Unterdrückung ist hier unvorstellbar«, notiert er im amerikanischen E x i l 2 6 . Brecht kritisiert souverän den »nürnbergprozeß«,

diese große

Abrechnung

der alliierten Siegermächte mit dem deutschen Faschismus, veranstaltet in der unangemessenen Maske des Juridischen; Brecht verurteilt die

moralisierende

Tendenz dieses Prozesses, »widerstand«, schreibt er, rückblickend auf die V e r hältnisse unter der N a z i - D i k t a t u r , » w a r aussichtslos (und groß für das), dies w a r >dranknechtseligkeit der deutschen*, sie hat ihre historischen gründe (aber erklärt ist sie nicht beseitigt) ; trotzdem ist das rätsei des deutschen durchhaltens [ . . . ] dem nicht-dialektiker kaum zu erklären, da ist eine totalität faschistischer Zielstrebigkeit, die nur sprunghaft in eine totalität anderer art übergehen kann, (es ist immer nur die Oberhand sichtbar, nicht die unterhand. ja, die oberhand dirigiert die unterhand.«) und S. 675 (»da sind immerzu die fragen, warum die deutschen noch kämpfen, nun, die bevölkerung hat die SS auf dem genidc, außerdem hat sie keine politische willensrichtung, der paar parlamentarischen Institutionen zweifelhafter art beraubt und ökonomisch unter dem Stiefel der besitzenden, wie immer, die Soldaten wehren sich, in den formen der strategischen und taktischen Operationen, ihres lebens und liefern arbeit an der Zerstörungsmaschinerie, nun so wenig wie schuftend an der gütererzeugenden maschinerie, befaßt mit dem resultat ihrer arbeit, mit einem satz: die deutschen kämpfen noch, weil die herrschende klasse noch herrscht.«) V g l . auch die differenzierte Reflexion über die Notwendigkeit einer »Unterscheidung zwischen hitlerdeutschland und deutschland« in der N o t i z vom 1 5 . 5. '42 (Arbeitsjournal, S. 446 f.). Arbeitsjournal, S. 8 1 2 . Vgl. die aus dieser Überlegung resultierende Ansicht Brechts von der soziologischen Kurzsdilüssigkeit der Entnazifizierungsbestrebungen. Denn: »nicht nur die laster, auch die gesamten tugenden der [bürgerlichen] klasse haben die naziform bekommen« (Arbeitsjournal, S. 80$).

Bertolt Brechts Faschismus-Theorie

569

Prozeß: »die konterrevolution frißt ihre eigenen kinder« 28 . Die historischempirisdie Grundlage für solch ein Urteil glaubte Brecht in seiner Beobachtung der offenen oder geheimen bürgerlichen Kollaboration in den von den Nazis besiegten Demokratien und in seiner mißtrauischen Analyse der alliierten Kriegsstrategie mit deren angeblich taktierendem Hinhalten und Verzögern des Widerstandes zu besitzen29. Für Brecht war der Kampf zwischen den westlichen Demokratien und dem Hitler-Faschismus der Kampf unterschiedlicher, aber nicht fundamental verschiedenartiger Systeme innerhalb des umfassenderen Systems des Kapitalismus, ein Kampf, der letztlich der Stabilisierung dieses Systems diente 30 ; der Zweite Weltkrieg war für Brecht »the wrong war« 31 . Aus diesem gesellschaftlichen Charakter des Krieges erklärt Brecht auch die Restauration des bürgerlichen Systems nach dem Zusammenbruch der pseudorevolutionären Nazi-Herrschaft: »die demokratie rettete die deutsche bourgeoisie auch in deutschland selber, mit ihren ökonomischen Positionen intakt, stellten sie schnell ihre politischen wieder her. sie hatte zunächst nur das demokratische mitspracherecht, aber gesprochen wurde natürlich nicht über die Schwierigkeiten, die der kapitalismus bereitete, sondern über die Schwierigkeiten des kapitalismus« 32 . In Brechts Auseinandersetzung mit dem deutschen Faschismus nimmt die Beschäftigung mit der Figur Adolf Hitlers keinen kleinen Raum ein. Der Kern der Brechtschen Deutung besteht auch hier darin, das Phänomen nicht zu isolieren, sondern es aus dem politisch-ökonomischen Zusammenhang zu verstehen. Also nicht der »Dämon« Hitler, der sein Volk behext, oder, gleichsam umgekehrt, ein Volk geborener Nazis, das sich in Hitler seine eigene extreme politische Symbolgestalt geschaffen hat. Brechts Hitler-Bild entspricht der erwähnten Deutung des Nazitums überhaupt als eines im Grunde ohnmächtigen »reflexes«, der sich terroristisch gegen seine eigene gesellschaftliche Basis gekehrt hat. Hitler ist für Brecht Vertreter des Bürgertums oder genauer: des Kleinbürgertums; wie dieses ist er im Grunde »objekt der großbürgerlichen politik«; in dieser Struktur gründet »das >hampelmännertum< hitlers«. Was vom Kleinbürgertum gilt, daß es »in der politik immer nur spielt« (im Sinne von »acting und gambling«), das gilt auch von Hitler. Hitler ist so zwar »phony«, er übernimmt sich — eben als Vertreter des »machtanspruchs der kleinbürgerlichen klasse«. Aber persönlich und innerhalb der Sphäre des Kleinbürgertums ist er nicht »phony«, da hat er ein »echt(es)« »schicksal«33, partiell sogar Größe. 28

29 so 31 32 33

Arbeitsjournal, S. 770. Vgl. die polemische Bemerkung über den Prozeß, den die neue Regierung Charles de Gaulies gegen den Nazi-Kollaborateur Pierre Laval führte, ebd., S. 7 6 1 . Arbeitsjournal, S. 770 u. ö. Vgl. Arbeitsjournal, S. 261 Arbeitsjournal, S. 297 Arbeitsjournal, S. 830 Arbeitsjournal, S. 379

570

Franz Norbert Mennemeier

Zum Thema der Größe Hitlers äußert Bredit sich wieder als dialektisdi denkender politischer Kopf. Im Gegensatz zu zahlreichen Emigranten, denen Hitler als »ein völlig unbedeutender mime« galt, besteht Brecht darauf, »daß hitler mir als großer mann durchaus willkommen ist« 34 . In dieser Charakterisierung stecken Ironie und ein Stück aktiver Gesellschaftskritik. (Brecht weiß: Interpretationen in politischem Kontext sind selber Form von Politik; die gewünschte politische Wirkung von Theorien will bei deren Bildung mit bedacht sein.) Brecht bezeichnet Hitler als »großen bürgerlichen politiker« unter anderem deshalb, weil er den Gedanken nicht aufkommen lassen will, Hitler sei wesentlich anders als die bürgerlichen Politiker und die bürgerlichen Politiker seien wesentlich anders als Hitler, »man bekämpft hitler nicht, wenn man ihn als besonders unfähig, als auswuchs, perversität, humbug, speziell pathologischen fall hinstellt und ihm die andern bürgerlichen politiker als muster, unerreichte muster, vorhält; wie man ja auch den faschismus nicht bekämpfen kann, wenn man ihn vom >gesunden bürgertum« (reichswehr und industrie) isolieren und >allein< beseitigen will, würde man ihn goutieren, wenn er >groß< wäre?« Der im bürgerlichen Sinn »große« Hitler ist »ein schlauer, vitaler, unkonventioneller und origineller politiker, und seine äußerste korruptheit, Unzulänglichkeit, brutalität usw kommen erst dann wirkungsvoll ins spiel« 35 . Das ist also der scheinbare Widerspruch der Figur: Hitler ist Kleinbürger, aber zugleich vitaler Politiker; er ist Objekt der großbürgerlichen Politik, aber zugleich Diktator, »die auswegloseste aller klassen, das kleinbürgertum, etabliert sich diktatorisch in der ausweglosesten Situation des kapitalismus« 36 . Diese paradoxe Diktatur, die die gesellschaftliche Basis vorübergehend beherrscht, sie aber nicht strukturell verändern kann und insofern doch von ihr beherrscht wird, hat Brecht sehr glücklich mit dem Bild des »faustlangertum(s)« (analog zu Handlangertum) bezeichnet. » ( . . . ) die faust hat eine gewisse Selbständigkeit; die industrie bekommt ihren Imperialismus, aber sie muß ihn nehmen, wie sie ihn bekommt, den hitlerschen«37. Diese dialektisch-materialistisch fundierte Hitler-Charakteristik steht hoch über dem, was man in historiographischer Trivialliteratur (und nicht nur dort) bis auf den heutigen Tag zu lesen bekommt — man denke an die immer wieder aufgelegte Diskussion darüber, ob Hitler wahnsinnig war oder nicht (mit diffiziler Stammbaumforschung und Erörterung von Potenzschwierigkeiten). Zu diesem Thema, heute fast schon einem Forschungszweig, notiert Bredit: »das pathologische (bei hitler) ist etwas durchaus klassenmäßiges, hitlers 34 38 34 37

Arbeitsjournal, S. 380 Arbeitsjournal, S. 380 Arbeitsjournal, S. 380 Arbeitsjournal, S. 381. Diese Perspektive Bredits und seine eingangs erwähnte Anerkennung einer gewissen formellen Progressivität des Nazifaschismus bestimmen auch die negative Beurteilung, die im Arbeitsjournal (S. 666, vgl. S. 674) der Militärputsch vom 20. Juli 1944 erfährt.

Bertolt Bredits Fasdiismus-Theorie neurasthenie ist die neurasthenie des postsekretärs. alles zielhafte ist notgedrungen pure ideologie, schlechter mythos, unreal, die bestie, sehr krank, sehr gefährlich, sehr stark, denkt scharf im detail, drückt sich am schlauesten aus, wenn sie sich verworren ausdrückt ( . . . ) handelt sprunghaft, krankhaft, >intuitivstöße< sind lauter gegenstöße zu antizipierten stoßen der feinde ( . . .)«38. Das ist ein brillantes sozialpsychologisches Aperçu über faschistische Politik und ihren gefährlich »intuitiven« Charakter. Diese Notiz ebenso wie die übrigen Bemerkungen Brechts über den Faschismus sind, versteht sich, nicht ihrerseits einer >Intuition< entsprungen, etwa der des genialen schriftstellerischen Individuums Brecht. Dodi auch wenn andere zeitgenössische Theoretiker mit derselben dialektisch-materialistischen Methode, wie sie Brecht benutzte, zu ähnlichen Einsichten über den Faschismus gekommen sind39 und wenn es deshalb, streng genommen, nicht richtig ist, von einer authentischen Brechtschen Fasdiismus-Theorie zu sprechen — man darf doch sagen, daß Brecht durch die undogmatische Art, wie er jene Methode anwendet, auch als politischer Analytiker den Rang behauptet, der dem Verfasser antifaschistischer Stücke wie »Furcht und Elend des Dritten Reiches« und »Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui« ziemlich allgemein zuerkannt wird. Allerdings — aus der umrissenen Faschismus-Theorie mußten eben dem ExilSchriftsteller Brecht, insofern er literarische Produktion als Teil antifaschistischer Praxis begriff, zugleich konkrete ästhetische und politische Schwierigkeiten entstehen, die nicht leicht lösbar waren. Die prekäre Beziehung zwischen jener Theorie, die Faschismus-Kritik unaufhebbar mit Bourgeoisie-Kritik verband, und den gesellschaftlichen und ideologischen Verhältnissen, in denen Brecht von 1933 bis 1948 lebte, erklärt dessen eingangs erwähnte, im Lauf der Jahre sich verschärfende Isolation. Antikapitalistische Stücke von der »Bauart langdauernder Werke« 40 wie »Mutter Courage« und »Der gute Mensch von Sezuan« mochten von den Schwierigkeiten mehr oder minder unberührt bleiben oder richtig: Sie stellten eine produktive (wenngleich Resignation einschließende) Antwort auf die Schwierigkeiten dar; von diesen Werken insbesondere gilt, daß sie »für die Schublade« geschrieben wurden. Brechts Selbstermutigung »für die Schublade braucht man keine konzessionen« erinnert noch daran, daß auch »konzessionen« den Erfolg nicht hatten verbürgen können, den er seinen Stücken ursprünglich zugedacht hatte, denen jedenfalls, die dezidiert das Ziel verfolgten, hier und jetzt in den von den 38

Arbeitsjournal, S. 381 Hier wäre insbesondere an die Theorien August Thalheimers, Fritz Sternbergs, Walter Benjamins, Karl Korsdb', Ernst Blodis zu denken. In welchen Punkten Brecht mit den Auffassungen dieser oder anderer Autoren übereinstimmt oder nicht übereinstimmt, kann im Rahmen des vorliegenden Referats nicht untersucht werden. «« Vgl. GW 8, S. 387

39

Î7*

Franz Norbert Mennemeier

Nazi-Heeren bedrohten oder sdion besetzten Ländern und in den zögernd gegen Hitler sich rüstenden westlichen Demokratien den antifaschistischen Widerstand zu verstärken. Es zeigte sich für Brecht alsbald: Die Mitteilung der vollen Wahrheit über den Faschismus, wie er sie verstand, war der unmittelbaren politischen Wirkung hinderlich. Nicht nur Deutschland, das terrorisierte, auch das westliche Ausland, das liberal gesinnte, erwies sich — um den Titel eines Aufsatzes von W. Benjamin abzuwandeln — als »Land, in dem das Proletariat nicht genannt werden darf«; was in diesem Zusammenhang heißt: in dem die antifaschistischen Energien der breiten Massen nur dann mobilisiert werden konnten, wenn man vom Klassenkampf schwieg. Solches Schweigen aber mußte einem Autor schwerfallen, der den Krieg der Nationen als »the wrong war«, als »das gemetzel der janusköpfe« 41 deutete. Brechts »Gesichte der Simone Machard«, noch in Finnland entworfen, 1942/43 in den U S A vollendet, sind in diesem Zusammenhang aufschlußreich. Das Widerstandsdrama, das mit H i l f e der Jeanne d'Arc-Legende die Franzosen zu einer »scorched earth politik« ermutigen sollte 42 , kämpft nicht nur gegen die Nazi-Faschisten, es kämpft audi mit einem seiner eigenen poetischen Konzeption innewohnenden Widerspruch: Es >spiegelt< Krieg und Besatzung als Teil einer Klassenauseinandersetzung, und es sucht gleichzeitig das Gefühl des Patriotismus, das den so verstandenen Charakter der Auseinandersetzung leugnen muß, als ideologisch unverzichtbares Element der Résistance zu entflammen. Der Autor, der wußte, daß er »Patriotismus« als substantielles geschichtliches Moment eigentlich »nicht begründen« konnte 48 und der in der Fabel des vorliegenden Stücks für dieses Unvermögen die anschaulichsten Beweise aus der >RealitätWiderspiegelung< damaliger gesellschaftlicher Realität. Freilich hat Brecht Sorge getragen, den Patriotismus-Appell, den das zu41

Arbeitsjournal, S. 301 « Arbeitsjournal, S. 338; vgl. GW j , S. 1880/81. 43 Vgl. Arbeitsjournal, S. 549 44 Arbeitsjournal, S. 761 45 Arbeitsjournal, S. 41

Bertolt Bredits Faschismus-Theorie

573

grundeliegende Jeanne d'Arc-Muster trägt, nicht durch voreilige Ideologiekritik zu zerstören; er hat den Widerspruch des Stücks nicht bis in die Tiefe geführt, wo er aufhört, fruchtbar zu sein. Traumszenen in unnaturalistischem Stil und vor allem die Konzeption der Heldin, die nach Brechts Vorschrift ein Kind sein muß und an der »das kindhafte als schmerzhafte Unzulänglichkeit«46 hervortreten soll, schaffen inhaltliche und formale Distanz zu dem heiklen Patriotismus-Komplex und lassen diesem zugleich seinen scheinbar unverwüstlichen ideologischen Zauber. Das der Figur anhaftende, für Brecht und seine Freunde anachronistische Pathos des »free french«47 wird in dem Stück unmerklich herabgesetzt und zugleich bewahrt. J a , dem Begriff vordergründigen Patriotismus, nützlich für ein kleinbürgerlich denkendes Publikum, ist diskret ein sozial universeller Sinn beigemischt, der Simones Stimmen, der »la voix de dieu« als »la voix du peuple« zu hören erlaubt48 — >Volk< verstanden als die Besitzlosen und Ausgebeuteten. Die Dialektik von Mitteilung und Verhüllung der >Wahrheiterklärt< das barbarische Phänomen jenseits des Atlantik in gewisser Weise zu gut; es holt, mit Hilfe der satirischen Karfioltrust-Metaphorik, das Fremde in zu vertraute Nähe herüber, als daß die Darstellung für den geforderten antifaschistischen Kampf leicht den großen Zorn hätte mobilisieren können, den jener brauchte, um durchstanden zu werden. Hier zeichnen sich offenbar spezifische Gefahren einer dialektisch-materialistischen Betrachtungsweise ab. Es scheint, als sei eben der Vorzug dieser Theorie, das souveräne Meistern des gesellschaftlichen Kausalkomplexeseinheitlidiea Weltkultur>. Sonntag Nr. 22 vom 2. 6. 1969. Werner Mittenzwei. Das Bild des Revolutionärs in der sozialistischen Literatur. Einheit Heft 7 (1970) S. 920 ff. Weitere Beiträge verzeichnet Jörg Bernhard Büke: Auf den Spuren der Wirklichkeit. DDR-Literatur: Traditionen, Tendenzen, Möglichkeiten. D U 21 (1969) S. 24 ff. Vgl. ferner: Aktuelle Aufgaben der Germanistik nadi dem XXII. Parteitag der KPdSU und dem 14. Plenum des ZK der SED. In: Methoden der deutschen Literaturwissenschaft. Eine Dokumentation. Hrsg. von Viktor 2mega£. Frankfurt/Main 1971. Der Sammelband Zur Theorie des sozialistischen Realismus. Berlin [Ost] 1974 unterscheidet zwar z w i schen bürgerlichem Realismus und modernistischer Dekadenzkunst, konstatiert aber bei den bürgerlichen Realisten der BRD einen Rückfall hinter bereits erreichte Positionen S. 86 ff.

Eberhard Mannack

57*

Vertreter der Kulturpolitik der Literatur seit langem widmen: neben regelmäßig stattfindenden Schriftstellerkongressen werden Fragen der Literatur auf den Parteikongressen und sogar im Zentralkomitee der S E D erörtert, wobei, wie die Geschichte der Kulturpolitik der D D R zeigt, nicht selten die Spitzen der Regierung —

analog zur Entwicklung in der Sowjetunion —

das W o r t

ergreifen und den K u r s f ü r die jeweils folgenden Jahre abstecken. D i e K u l t u r politik

der Sowjetunion besitzt in diesem Zusammenhang

exemplarischen

C h a r a k t e r . A u f die an das Stalin zugeschriebene Dictum v o m Schriftsteller als Ingenieur der menschlichen Seele anknüpfende programmatische Rede Shdanows, geht die Verkündung der literarischen N o r m zurück, die, wenn auch modifiziert, erweitert oder korrigiert, in wesentlichen Zügen f ü r die D D R bis heute ihren kanonischen C h a r a k t e r behalten hat. Sie fordert von den neuen Schriftstellern den

»sozialistischen

Schriftsteller

Realismus«,

konsequent

der den kritischen

weiterführt

und

damit

Realismus

bürgerlicher

aufhebt. D i e

wichtigsten

Thesen dieser Normvorstellung, v o n der bereits auf dem ersten Sdiriftstellerkongreß 1947 in Berlin — einem gesamtdeutschen K o n g r e ß — die Rede ist und die seit ungefähr 1950 zu den unumstößlichen Dogmen der S E D - K u l t u r p o l i t i k gehört, lassen sich in folgenden Sätzen zusammenfassen: D i e Literatur hat die A u f g a b e , die Ideologie des Marxismus-Leninismus breiten Massen z u erläutern und die Bürger des sozialistischen Staates f ü r die N a h z i e l e ihrer Politik zu mobilisieren. Daraus ergeben sich f ü r die Gestaltung folgende Prinzipien: 1. D a s K u n s t w e r k muß »lebensecht« sein, das heißt eine wahrheitsgetreue objektive Darstellung der Wirklichkeit leisten. Die objektive Wirklichkeit ist gekennzeichnet durch eine aufsteigende Entwicklung der Geschichte über eine Stufenfolge v o n Klassengesellschaften mit der Verwirklichung

der

kommunistischen Gesellschaft als deren Ziel. D a s schließt notwendig die Parteilichkeit ein —

das heißt der Schriftsteller w i r d

konsequenterweise

Partei nehmen f ü r die arbeitenden Massen, deren Stunde in der Epoche des Spätkapitalismus geschlagen hat und deren Aufstieg die Verwirklichung der kommunistischen Gesellschaft allein garantiert. 2. D a s K u n s t w e r k muß »volksmäßig« oder »volkstümlich« und das heißt auf Breitenwirkung bedacht sein, um den arbeitenden Massen ihre historische Rolle einsichtig zu machen und entsprechend der zentralen Kategorie der Parteilichkeit sie bei der Erreichung ihres Zieles zu unterstützen. Kunst kann danach keine Privatangelegenheit sein —

die Darstellung eines

Einzelschicksals interessiert nur insofern, als es zugleich die allgemeine geschichtliche Entwicklung repräsentiert. Die Forderung des Typischen als der Verbindung eines Besonderen mit dem Allgemeinen leitet sich daraus her. D a das Ziel des historischen Prozesses feststeht, erscheint derjenige als Protagonist der Handlung, der die Interessen der Massen gegen alle Widerstände, und das heißt gegen den Klassenfeind vertritt. Es ist dies der »positive Held«, der als exem-

Z w e i Beispiele der D D R - L i t e r a t u r nadi Bitterfeld

577

plarisch im politischen wie im menschlich-moralischen Sinne gilt; seine Haltung ist optimistisch, auf die Zukunft der neuen Gesellschaft gerichtet. Mit ihm soll sich das Publikum identifizieren und sein Verhalten im alltäglichen Leben nachahmend praktizieren. Angesichts dieser politischen Verantwortung jedes Schriftstellers kann es nicht überraschen, daß die Partei als der entscheidende Faktor der sozio-ökonomischen Entwicklung die Kontrolle über die Literatur beansprucht und damit, wie sie selbst zugibt, den Freiraum oder die Spontaneität des einzelnen Schriftstellers einengt. Diese Beschränkung aber wird der sozialistische Schriftsteller um so eher akzeptieren, als die Interessen seiner Partei und seines Staates mit seinen eigenen Interessen im Sinne der Förderung des historischen Fortschrittes übereinstimmen: wesentliche Konflikte des Einzelnen mit der Gesellschaft sind damit ausgeschlossen, sie finden lediglich im Kapitalismus statt, dessen von antagonistischen Widersprüchen bestimmtes System eine Interessenkonvergenz ausschließt. Die hier skizzierten Thesen stellen Konstanten in den Programmen und Diskussionen dar, wie sie seit etwa 25 Jahren in der D D R verkündet bzw. geführt werden. Sie liegen dem Bitterfelder Weg zugrunde, der 1959 beschritten wurde, und ziehen sich wie ein roter Faden durch die lebhaften Diskussionen, die in jüngster Zeit mit erstaunlicher Offenheit in der D D R stattfinden 2 . Die Kenntnis dieser programmatischen Thesen ist für die Beurteilung der Literatur in der D D R unerläßlich ebenso wie für die Erfassung ihres historischen Ablaufs. Für die Historiographen der Literatur auch aus der D D R steht heute außer Frage, daß mit Beginn der sechziger Jahre — nach einer relativ langen Dürrezeit, die von den bedeutenden Werken heimgekehrter Emigranten einigermaßen verdeckt wurde, ohne daß diese Werke nach offizieller Lesart eine eigene zukunftsverheißende Entwicklung einleiteten — daß also seit etwa i960 die Literatur in der D D R sich mit beachtlichen Werken zu Wort meldet. Hier zeigt sich eine Parallele zur literarischen Entwicklung in der Bundesrepublik insofern, als nach übereinstimmendem Urteil der Kritiker und Literaturhistoriker 8

Z u r Bestimmung des sozialistischen Realismus werden insbesondere herangezogen: E r w i n Pracht, Werner Neubert: Z u aktuellen Grundfragen des sozialistischen Realismus in der D D R . N D L 5 (1966) S. 108 ff. Elisabeth Simons: Z u r kontinuierlichen Entwicklung der Theorie des sozialistischen Realismus. Einheit H e f t 2 ( 1 9 6 7 ) S. 1 8 5 ff. Hans Koch: Sozialistischer Realismus. In: Wörterbuch der Kulturpolitik. Vorabdruck in Weimarer Beiträge 16 (1970). Diese Beiträge wurden abgedruckt in: Dokumente zur Kunst-, Literatur- und Kulturpolitik der S E D . Hrsg. von Elimar Schubbe. Stuttgart 1 9 7 2 . Ferner Wilhelm Girnus: Zukunftslinien - Gedanken zur Theorie des sozialistischen Realismus. Sinn und Form 1968 ff. Zum Begriff des Helden Helga Herting: Zum Heldischen in der sozialistisch-realistischen Literatur. Weimarer Beiträge. Sonderheft 1969 S. 2 0 J ff. Zum Begriff der Entfremdung u. a. die Beiträge von Horst Keßler, Marianne Meißner/Dieter Ulle und Hans Hejzlar: Entfremdung im Kreuzfeuer. Sinn und Form 2 1 (1969) S. 2 2 1 ff., der sich mit Kurellas Abhandlung auseinandersetzt. Joachim Israel: Der Begriff Entfremdung. Makrosoziol. Untersuchung von M a r x bis zur Soziologie der Gegenwart. Hamburg 1 9 7 2 .

57«

Eberhard Mannads

die Jahre um i960 als gewichtige Zäsur anzusehen sind3. Die neuentstehenden Werke in der D D R lassen keinen Zweifel daran, daß ihre Autoren den Direktiven der Partei in überwiegendem Maße folgen und Themen behandeln, die von der offiziellen Kulturpolitik vorgeschlagen oder gebilligt worden sind. Sie betreffen Bereiche, in denen die neue Entwicklung im erstarkten sozialistischen Staate besonders evident hervortritt. Aufbauerfolge und Veränderungen im industriellen Bereich, in der Landwirtschaft und im geistig-pädagogischen Bereich bilden das Sujet der neuen Literatur. Der Roman, in der D D R nicht minder als in der Bundesrepublik wegen seines unmittelbaren Wirklichkeitsbezuges geschätzt, setzt sich entschieden durch und läßt sich entsprechend den genannten Bereichen in Spezialformen gliedern4. Für die Spezies des Landwirtschaftsromans schafft Erwin Strittmatter mit »Ole Bienkopp« ein Beispiel, das nicht nur in der D D R Beachtung findet. Vergleichbares leistet eine junge Autorin, die, den Bitterfelder Empfehlungen folgend, zu diesem Zweck in einer Fabrik arbeitet, für den Betriebsroman: Christa Wolf, mit dem Geburtsjahr 1929 einer Generation zugehörig, die audi im Westen seit i960 zunehmend an die Öffentlichkeit tritt, und ebenso mit ihrem Studieninteresse für das Fach Germanistik zahlreichen westdeutschen Schriftstellern dieser Generation verwandt. Sie veröffentlicht 1963 den Roman »Der geteilte Himmel«, der ihr nach anfänglicher Kritik Ruhm und Preise sowie den Kandidaten-Status für das Zentralkomitee der Partei einträgt. Zwei Jahre später, 1965, erscheint der Roman »Die Aula« des 1926 geborenen Hermann Kant, in der er die Geschichte einer Neuerung innerhalb seines Staates, der Arbeiter- und Bauernfakultät am Beispiel der Universität Greifswald beschreibt — stark biographisch gefärbt, da er an der Universität Greifswald in dieser Fakultät sein Germanistikstudium absolvierte. »Die Aula« macht den bis dahin nur mit einem Erzählband hervorgetretenen Autor weiten Kreisen bekannt; er widmet sich nach einer Tätigkeit als Assistent und Redakteur ganz der Schriftstellerei und publiziert 1972 den umfangreichen Roman »Das Impressum«, der erst nach längerer Verzögerung von offiziellen Stellen zur Veröffentlichung freigegeben wird. Das ist um so erstaunlicher, als »Das Impressum« durchaus den Normen des sozialistischen Realismus entspricht. Die Umsetzung von »zentralen Kategorien« dieser Methode wird schon aus einer Inhaltsangabe augenscheinlich, die — was für den Gegenwartsroman durchaus nicht selbstverständlich ist — keine Schwierigkeiten bereitet. Der positive Held heißt David Groth; er arbeitet unter Einsatz aller Kraft und zu seinem Vergnügen als Chefredakteur der Neuen Berliner Rundschau. 3

4

Vgl. dazu u. a. Literatur der D D R in Einzeldarstellungen. Hrsg. von H . J . Geerdts. Stuttgart 1972. Zur Theorie des sozialistischen Realismus, a.a.O. S. 2 5 2 ff. Kritik in der Zeit. Der Sozialismus - seine Literatur - ihre Entwicklung. Hrsg. von K . Jarmatz. Halle/Saale 1970 S. 13 ff. Vgl. dazu: Deutsche Romantheorien. Beiträge zu einer historischen Poetik des Romans in Deutschland. Hrsg. von R . Grimm. Frankfurt/Main 1968 S. 1 2 7 ff. und 1 4 2 ff.

Zwei Beispiele der DDR-Literatur nach Bitterfeld

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Offensichtlich unerwartet erhält er das Angebot, ein Ministeramt zu übernehmen. Dies ist — ähnlich wie das schon in seinem ersten Roman geschah — für ihn Anlaß zur Rückbesinnung und zugleich Ausgangspunkt des wiederum stark autobiographisch gefärbten Romans. Sein Leben zieht noch einmal an seinem geistigen Auge vorüber: seine Jugend erscheint ihm höchst leidvoll — er verbrachte sie in Ratzeburg während der faschistischen Herrschaft, die seinen Vater, einen aufrechten Sozialisten, zum Selbstmord trieb. Dieses Ereignis sowie sein jüdischer Vorname David bringen dem Nicht-Juden Spott und Verachtung ein, die ihn seiner Umwelt mehr und mehr entfremden. Erst mit Kriegsende bahnt sich für den Arbeitersohn und einfachen Lehrling die Wende an; während er als Laufjunge einiges Geld verdient, nimmt er die Chance des Abendstudiums wahr, das ihm den Eintritt in eine angesehene Zeitschrift ermöglicht. Bei der derb-komischen Altkommunistin Johanna Müntzer erhält er die Stelle eines Redaktionsassistenten; sie fördert den außerordentlich eifrigen und intelligenten jungen Mann nach Kräften, so daß er es schon bald — mit dem vollen Einverständnis der Vorgesetzten wie der Mitarbeiter — zum Chefredakteur bringt. Seinen Fähigkeiten wie seinen Eigenschaften überhaupt ist es mit zu verdanken, daß die Zeitung alle Wirren der Anfangsjahre übersteht und ein Kollektiv sich entwickelt, dessen Arbeit zum Ansehen des Blattes entschieden beigetragen hat. Damit ist die zentrale Thematik des Romans bezeichnet: er schildert den Aufstieg eines Einzelnen innerhalb eines sozialistischen Staates und entwirft ein breites Bild von der Arbeit dieses Einzelnen in einem Kollektiv 5 . Die Biographie, aus der Rückschau des reifen und erfolgreichen Mannes unter der als selbstverständlich angenommenen und nicht reflektierten Voraussetzung der Möglichkeit des eindeutigen Erkennens der Vergangenheit erzählt, erfüllt zweifelsohne die Forderungen des sozialistischen Realismus: das Schicksal des David Groth erweist sich als repräsentativ, weil es den Aufstieg eines bislang Unterprivilegierten, der nur im Sozialismus möglich ist, demonstriert und so, der Norm der Parteilichkeit entsprechend, die Überlegenheit des sozialistischen Systems unter Beweis stellt. Im Kapitalismus, so müssen wir schließen, wäre dies nicht möglich, weil sein dominierendes Kennzeichen die Unvernunft ist: Nur noch westwärts von Ratzeburg, so deutet der Autor an, herrscht Aberwitz. David Groths Vita kann auch noch in einem anderen Sinne »repräsentativ« und damit typisch genannt werden: seine aufreibende Arbeit als integrierter Bestandteil einer kollektiven Leistung bedeutet für ihn höchste persönliche Beglückung, und das heißt nichts weniger, als daß eine Entfremdung zwischen dem Einzelnen und der Arbeitswelt, wie sie das kapitalistische System notwendig und permanent hervorbringt, in der Gesellschaft der D D R beseitigt ist. Die Ereignisse des 17. Juni 19 j 3, mit denen sich DDR-Autoren in zunehmendem Maße auseinandersetzen, bedeuten in diesem Zusammenhang eine

5

Vgl. dazu Elisabeth Simons: Das Andersmadien, von Grund auf. Weimarer Beiträge. Sonderheft 1969. Zitat nach E. Schubbe, a.a.O. S. i j $8.

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Irritation, scheinen sie doch die These der Interessenübereinstimmung von Herrschenden und arbeitenden Massen zu widerlegen und damit ein Fortbestehen der Entfremdung zwischen Staatsmacht und Arbeiterschaft zu signalisieren. Kant bezieht den Aufstand vom 17. Juni in die Darstellung ein, löst diesen Widerspruch jedoch im Sinne der offiziellen Lesart auf, wonach Volksverhetzer ein mangelhaft entwickeltes Bewußtsein bei einem Teil der Massen sich zunutze machten. David Groth tritt den Verhetzten tapfer entgegen, bezieht dafür sogar Prügel und erweist sich als positiver Held. Diese Eigenschaft, die er auch als vorbildlicher Ehemann und jederzeit hilfsbereiter Arbeitskamerad besitzt, schließt freilich gewisse Schwächen nicht aus, von denen er — die Perspektive des Rückblickenden nutzend — selbstkritisch Rechenschaft abzulegen vermag. Dazu gehört ein Verstoß gegen Gesetze des Staates, den er mit dem Kauf von Verlobungsringen in Westberlin beging. Eine andere Verfehlung, in der sich ein Charakterzug des Helden enthüllt, wiegt offensichtlich schwerer. David Groth entscheidet zuweilen nach eigenem Gutdünken und läßt sich danach zu spontanen Handlungen hinreißen, die er meist schon bald bereut. Unter diese Kategorie der Charakterschwäche fällt auch seine Attacke gegen einen Bildredakteur seiner Zeitung, den er für untragbar in dieser Position hält, weil der Redakteur während der NS-Zeit an Bücherverbrennungen teilgenommen hat. Das verweist auf Bemühungen um eine Bewältigung der Vergangenheit, denen sich offensichtlich auch die DDR-Autoren nicht zu entziehen vermögen; zu den eindrucksvollsten Belegen hierfür gehört Heiner Müllers »Der Lohndrücker« 6 . Doch der Altgenosse Kutschen-Meyer weiß den selbstherrlich urteilenden Groth sogleich zu belehren, da der von ihm Attackierte auf dem Personalbogen seine Vergangenheit nicht verschwiegen und doch die Zustimmung des Parteigremiums gefunden hat: Ick sympathisiere mit deine Aufregung, David, aber billigen kann idi sie nicht, weil sie nicht richtig historisch ist. Für deine Extratouren hab ich viel übrig, aber eines, das sage ich dir mit mein vollsten Ernst, eines ist für einen Genossen die furditbarste Sdieiße, in die er geraten kann: daß er meint, er ist schlauer als die Partei. [ . . . ] Wenn ick dir einen Rat geben darf: Halte dich ruhig für schlau, halte dich von mir aus sogar für schlauer als jeden anderen, trotzdem das natürlich sdion gefährlich ist, aber glaube nie, du kannst gegen die zusammengelegte Schlauheit der anderen ankommen. Die Partei ist - wenn wir nun schon einmal über so etwas reden - in meinen Augen genau das: zusammengelegte Schlauheit. Aber zu dem kommt ja nun noch eine ganz andere Art von Schlauheit, sagen wir mal, Erfahrung. Sagen wir mal, es geht um eine konkrete Frage, nehmen wir Lohnerhöhung, vielleicht zwei Prozent. Das mindeste, was du bei der Partei findest, ist die Erfahrung von tausend verschiedenen Plätzen, an denen sie das gleiche Problem hatten. Von Indien bis Island, bei den Japanern und bei Krupp, wo du willst. Natürlich, die Lage ist immer verschieden, aber was Gemeinsames ist auch immer da, wat bekanntlich die Gesetzmäßigkeiten sind. Wer will denn nun eine Partei schlagen, die die Antworten auf tausend • Zahlreiche Belege hierzu audi im neueren Werk von Franz Fühmann: 22 Tage oder Die Hälfte des Lebens. Frankfurt/Main 1 9 7 3 .

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Fragen von Indien bis Island und Krupp eingesammelt hat, und dann sortiert und dann ausgewertet? Wer will denn gegen soviel zusammengelegte Schlauheit an? 7 Das vom Erzähler mit Bravour verwendete Stilmittel der Ironie kann nidit darüber hinwegtäuschen, daß sich der Kern der Rede des Altgenossen als immun gegen dieses Stilmittel erweist, nicht zuletzt dank der durch sie evozierten Wirkung; sie erinnert D a v i d an eigene Verfehlungen, zu denen er eine wider die Vorschriften unternommene Extratour zählt, durch die er fast die Geldumtauschaktion anläßlich der Währungsreform in Gefahr gebracht hätte, und so beschließt er, fortan die Entscheidungen der »zusammengelegten Schlauheit« vorbehaltlos zu akzeptieren. Kritiklose Annahme der Willenserklärungen und Beschlüsse seiner Partei ist eine Maxime, die sich dem seinen bisherigen Lebensweg überschauenden reifen Mann aufdrängt und der zu folgen er fortan f ü r notwendig erachtet. Der nichtmarxistische Interpret sieht sich an dieser Stelle zur Kritik am Autor gedrängt und zum Hinweis auf die Gefahren veranlaßt, in die derjenige geraten kann, der das sapere aude, das Heraustreten aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit und damit das leitende Prinzip der Aufklärung zugunsten einer wie immer gearteten Instanz zu dispensieren bereit ist. U m einem vordergründigen Ideologieverdacht zu entgehen, halten wir es f ü r geraten, literarische Zeugen von D D R - A u t o r e n selbst vergleichsweise zu befragen. Z w e i Werke, deren Stellung in der literarischen Entwicklung heute in der D D R unbestritten ist, fordern geradezu den Vergleich heraus. 1 9 6 4 veröffentlicht Erik Neutsch seinen Betriebsroman »Spur der Steine«, der ebenfalls eine Selbstkritik des der Partei dienenden Helden enthält, die freilich das Scheitern seiner Existenz zu begründen sucht: Ich bin dreißig. Zwölf Jahre bin ich eingeschriebener Kommunist. Ich erlebte eine andere Zeit in der Partei als Kati, eine andere Zeit, als du sie erleben wirst [ . . . ] Ich kenne noch die Verdächtigung gegenüber jedem Wort, das nicht einem ganz bestimmten, vorgeschriebenen Text entstammte, dem des Generalissimus. Ich weiß, wie aus dreien solcher Wörter eine ideologische Linie konstruiert wurde, eine politische Gegnerschaft. Wenn du willst beherrschte ich zeitweilig sogar selber diese Technik. Was das Bedrückende für mich ist, ich beherrschte sie im guten Glauben. Ich bin mit der Erziehung unter Hitler vorbelastet: Führer befiehl, wir folgen dir [ . . . ] Danach brach alles zusammen. Ein Loch tat sich auf, zwei, drei leere Jahre, in denen ich nur gesucht habe. Ich fand eine neue Welt für mich, das ist wahr, den Marxismus. Die Wissenschaft und die Kritik der Wissenschaft lösten den Gehorsam vor dem Aberglauben ab. Der Sinn trat an die Stelle des Unsinns. Was aber nicht abgelöst wurde, waren gewisse Methoden, der Kult um einen Heiligen und die Mißachtung der Schöpferkraft. Ich erkannte es nicht, ich fürchte midi auch jetzt noch davor. Darunter leide ich. Ich war nie frei genug [ . . . ] Es fällt mir schwer, diese innere Gefangenschaft von, sagen wir, mindestens fünfundzwanzig Jahren abzuschütteln. Die vor uns haben es einfacher, sie wußten stets von der Konsequenz der Widersprüche, die nach uns leichter, ihnen wird nichts mehr verschleiert 8 .

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Hermann Kant: Das Impressum. Roman. Neuwied und Berlin 1972 S. 376 f. Erik Neutsch: Spur der Steine. Halle/Saale 1965 5 S. 767 f .

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Das Bekenntnis des Helden fließt aus der Irritation, die mit der Kritik am Stalinismus der »zusammengelegten Schlauheit« widerfuhr. Neutschs Protagonist sieht sogar eine Parallele zum Hitlerreich, schränkt sie jedoch sogleich •wieder ein, indem er sie als bloßes Oberflächenphänomen (im Sinne von Lukäcs) verstanden wissen will. Der qualitative Unterschied in den zugrundeliegenden Ideologien, durch die Dichotomie Aberglaube und Wissenschaft bezeichnet, steht für ihn ebenso außer Frage wie die Einmaligkeit der Verirrung. Ein Jahr vorher (1963) hatte Erwin Strittmatter seinen Landwirtschaftsroman »Ole Bienkopp« publiziert, der das Schicksal eines Neubauern erzählt, dem sich erst durch die Bodenreform ein neues, sinnvolles Leben eröffnet. Der unermüdliche Arbeitseifer des eigenwilligen Genossen Bienkopp aber läuft Gefahr, an den Widerständen zu zerbrechen, die seine Partei seinen Plänen entgegensetzt. Als er mit einem Entwurf zur kollektiven Arbeit in der Landwirtschaft hervortritt, der seinem auf Erfahrung gegründeten Denken entsprang, erhält er von dem eigens angereisten Kreissekretär der Partei eine Rüge: Was vorwärts und was rückwärts ist, bestimmt [ . . . ] noch immer die Partei. Willst du sie belehren?

Bienkopp unterwirft sich nicht, sondern gibt sein Parteibuch zurück: Bienkopp zitternd: >Idi stelle mir die Partei bescheidener vor, geneigter anzuhören, was man liebt und fürchtet. Ist die Partei ein selbstgefälliger Gott? Auch ich bin die Partei !
ein Kunstwerk ist oder eine Schrift, die der Kunst dientBundesprüfstelle für jugendgefährdende SchriftenJudith* in: Sdiillertheater Berlin, Programmheft 1963/1964, Heft 138. (3 S.) [Kann Jugend durch Literatur »gefährdet* werden?/ in: Die Welt, 2. 5. 1964, gekürzt, u. d. T. Jugend, durch Literatur gefährdet? Auch in: Publikation. Der literarische Markt, Jg. 14 (1964), Nr. 7 (Juli 1964), 7-8; und gekürzt in: littera. Dokumente, Berichte, Kommentare. Hrsg. von Walter Böckmann, Bd. 3: Literatur unterm Fallbeil. Jugendgefährdend?, Frankfurt a. M.: Hirsch& Co. 1964, 48. [unter dem o. g. Titel auch in A 6] Lamentieren statt Konfrontieren in: Die Welt der Literatur, Jg. 1, Nr. 1 (19. 3. 1964) [auch in A 6] Warum wagen sie so wenig? in: Die Welt der Literatur, Jg. 1, Nr. 3 (16. 4. 1964) [auch in A 6] Avantgarde des Mittelmaßes in: Die Welt der Literatur, Jg. 1, Nr. $ (14. 5. 1964) [auch in A 6] »Seht mich nicht so starr und ängstlich an!« in: Die Welt der Literatur, Jg. 1, Nr. 7 ( 1 1 . 6. 1964) [auch in A 6] [Marquis de Sade und die natürliche Tochter] unter dem von der Redaktion veränderten Titel »Goethe gegen Peter Weiß« erschienen in: Die Welt der Literatur, Jg. 1, Nr. 9 (9. 7. 1974) [auch in A 6 unter dem o. g. Titel] Immanuel Kant und Frank Wedekind in: Die Welt der Literatur, Jg. 1, Nr. 11 (6. 8. 1964) [auch in A 6] Eine »Kinderei der Vernunft« in: Die Welt der Literatur, Jg. 1, Nr. 13 (3. 9. 1964) [auch in A 6] Die »goldenen Früchte« der Literaturkritik in: Die Welt der Literatur, Jg. 1, Nr. i j (1. 10. 1964) [auch in A 6] Warum der mündige Mensch so rar ist in: Die Welt der Literatur, Jg. 1, Nr. 17 (29. 10. 1964) [auch in A 6] Kunst contra Ideologie in: Die Welt der Literatur, Jg. 1, Nr. 19 (26. 1 1 . 1964). - Auch in: Über Hans Erich Nossack. Hrsg. von Christof Schmid, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970 ( = edition suhrkamp 406), 134-136. [auch in A 6] [Was geschieht drüben?] unter dem von der Redaktion veränderten Titel »Was geschieht >drüben< in der Literatur?« erschienen in: Die Welt der Literatur, Jg. 2, Nr. 1 (7. 1. 196$). [auch in A 6 unter dem o. g. Titel]

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Bibliographie Wilhelm Emrich

24. . . . und es wird kein Wort auf dem anderen bleiben ... in: Die Welt der Literatur, Jg. 2, Nr. 13 (24. 6. 1965). [auch in A 6] 25. [Oskar Matzerath und die deutsche Politik] unter dem von der Redaktion veränderten Titel »Hitler - Ödipuskomplex der Deutschen« erschienen in: Die Welt, 7. 8. 1965. [auch in A 6 unter dem o. g. Titel] 26. Nachruf auf Ernst Kreuder in: Jahrbuch 1973 der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz, Wiesbaden: Steiner 1973, 86-91. - Audi in: Ernst Kreuder. Von ihm. Über ihn. Hrsg. und bearbeitet von Christoph Stoll und Bernd Goldmann, Mainz: Hase und Koehler 1974 ( = Die Mainzer Reihe, Bd. 39), 16-24 u- d. T. Über Ernst Kreuder. 27. Frank Wedekinds Moralismus in: Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz. Festschrift 1949 bis 1974. Mainz: Verlag der Akademie 1974, 164-165. 28. Entfremdung als Erfahrung. Frank Thieß zum 8j. Geburtstag in: Der Tagesspiegel, Berlin, Nr. 8966 (13. 3. 197$). [Über: Frank Thieß, Der Zauberlehrling (München: List 1975)].

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