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German Pages 255 [256] Year 1996
Literatur und Archiv Band 8
Reihenherausgeber Dr. T h o m a s Feitknecht Schweizerisches Literaturarchiv in Bern Prof. Dr. Georg Jäger Institut für Deutsche Philologie der Universität M ü n c h e n Dr. Christoph König Deutsches Literaturarchiv Marbach am N e c k a r Prof. Dr. Walter Methlagl Forschungsinstitut »Brenner Archiv« der Universität Innsbruck Dr. Siegfried Seifert Stiftung Weimarer Klassik in W e i m a r
Literaturarchiv und Literaturforschung Aspekte neuer Zusammenarbeit Herausgegeben von Christoph König und Siegfried Seifert
K-G-Saur München · New Providence · London · Paris · 1996
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
Die Deutsche Bibliothek -
C I P Einheitsaufnahme
Literaturarchiv und L i t e r a t u r f o r s c h u n g : Aspekte neuer Zusammenarbeit / hrsg. von Christoph König und Siegfried Seifert. München ; N e w Providence ; London ; Paris : Saur, 1996 (Literatur und Archiv ; Bd. 8) ISBN 3-598-22089-8 N E : König, Christoph [Hrsg.] ; G T
Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed on acid-free paper Alle Rechte vorbehalten / All Rights Strictly Reserved K G S a u r Verlag - G m b H & C o K G , München 1996 A Reed Reference Publishing Company Für Irrtümer, Satz- und Druckfehler übernimmt der Verlag keine Haftung. Printed in the Federal Republic of Germany Druck/Printed by Strauss Offsetdruck, Mörlenbach Binden/Bound by Buchbinderei Schaumann, Darmstadt ISBN 3-598-22089-8
Inhaltsverzeichnis
König, Christoph: Vorwort
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Das Literaturarchiv - eine Forschungsinstitution Oellers, Norbert: Das Verhältnis zwischen Literaturwissenschaft und Literaturarchiven
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Damm, Sigrid: Der Kopierstift hinter dem Ohr des Soldaten ... Schriftsteller und Archiv
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König, Christoph: Literaturwissenschaft und Wissenschaftsgeschichte in einem Literaturarchiv
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Grésillon, Almuth: Literaturarchiv und Edition. Das „Institut des Textes et Manuscrits Modernes" (Paris): Zwischen Archiv und Literaturwissenschaft
49
Edition und Literaturarchiv Woesler, Winfried: Zum Verhältnis von Editionen und Archiven: Probleme und Perspektiven
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Espagne, Michel: Genetische Tfextanalyse: Edition Archiv - Anthropologie
83
Schmid, Irmtraut: Der Brief als historische Quelle
105
Koltes, Manfred: Erfahrungen mit einer Regestausgabe. Zur Neubearbeitung der Grundsätze für die Gesamtausgabe der Briefe an Goethe (Edition und Literaturarchiv)
117
Bibliothek und Bibliographie im Literaturarchiv Tgahrt, Reinhard: Bibliothek und Bibliographie im Literaturarchiv. Kommt die Bibliothek vor oder nach der Handschriftensammlung?
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Inhaltsverzeichnis Jacob, Herbert: Von „Goedekes" Aufgaben
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Fischer, Bernhard: Bibliographische Arbeitsstelle und Literaturarchiv. Am Beispiel des Sammlungsund Erschließungskonzepts des Deutschen Literaturarchivs Marbach a.N
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Seifert, Siegfried: Nachlaß - Erstdruck Personalbibliographie. Thesen
167
Erschließungsmodelle
und die Bedürfnisse der Forschung
Meyer, Jochen: Erschließungsmodelle und die Bedürfnisse der Forschung. Das „Marbacher Memorandum" des Deutschen Literaturarchivs
175
Weber, Jutta: Die Zentralkartei der Autographen und das neue Regelwerk „Der Einsatz der Datenverarbeitung bei der Erschließung von Nachlässen und Autographen"
189
Schmid, Gerhard: Erschließungsverfahren im Literaturarchiv aus archivarischer Sicht. Ordnung, Verzeichung und Inventarisierung im Weimarer Goethe- und Schiller-Archiv . . . .
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Probleme und Perspektiven der Kooperation von
Literaturarchiven
Ott, Ulrich: Probleme und Perspektiven der Kooperation von Literaturarchiven im Blick auf die Forschung
221
Feitknecht, Thomas: Aufgaben des Schweizerischen Literaturarchivs
229
Unterkircher, Anton: Das Innsbrucker „Brenner-Archiv"
235
Kruse, Joseph Α.: Thesen zum Thema der Kooperation von Literaturarchiven und Literaturwissenschaft
243
Kortländer, Bernd: Gedanken zu einigen Funktionsveränderungen moderner Literaturarchive
245
Autorenverzeichnis
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Vorwort
Gewöhnlich werden Tagungen von Gesellschaften, Arbeitskreisen, Institutionen oder einfach Personen erfunden, die dann auch dazu einladen. Herausgeber einer Reihe enthalten sich meist. So bedarf es für dieses Buch, dem ein Kolloquium vorausging, einer eigenen Begründung. Sie vermag, unmittelbar in die Frage einzuführen. Literaturarchive sind weich definierte Institutionen, die je nach Land, Epoche und Direktor ihre eigene Gestalt finden müssen. Ihr Verhältnis zur Literaturforschung ist daher unterschiedlich, wie auch das Selbstverständnis, das mit diesem Verhältnis zu tun hat. Eine übergeordnete ausgleichende Interessenvertretung gibt es nicht, und kein Haus kann die Regie für die Debatte an sich ziehen. Solange es eine Konferenz der Literaturarchive nicht gibt, können Publikationen wie diese aus dem Kreis der Herausgeber der Reihe „Literatur und Archiv" hervorgehen. Die Vielfalt der hier entwickelten Vorschläge bezeugt hoffentlich den Nutzen. Das Thema „Literaturforschung und Literaturarchiv" hat eine praktische Seite und eine eher spielerische. Die Autoren kommen fast alle aus Literaturarchiven und kennen die traditionellen Formen, das Feld, auf dem sich archivische und akademische Interessen begegnen: Edition, Bibliographie, bibliothekarische Systematisierungen, Erschließung von Nachlässen. Diesen Formen ist größerer Raum gegeben, um zu erkunden, ob ein wechselseitiger Austausch nicht deren Gestalt und Wirkungsgrad verändern und verbessern kann. Das allein ist nicht ganz befriedigend. Denn man antwortet auf eine neue kultur- und wissenschaftspolitische Situation nicht so wie man könnte. Gemeint ist in erster Linie die bedrängte Lage der Forschung an den Universitäten. Aus den freieren und losen Arten der Kooperation wie Tagung, Arbeitskreis, Stipendium und Projekt, die man jetzt schon in den Literaturarchiven und vergleichbaren Bibliotheken findet, könnte man differenzierte und gut verankerte Bereiche entwickeln. Dazu ist angesichts der habituellen Überlastung in unseren Instituten ein forschungspolitischer effort nötig, der von der Universität entschieden vorgetragen werden müßte. Behindert indes dort die Furcht, Kompetenz abgeben zu müssen, solche Gedanken, so muß man in den 7
Vorwort Literaturarchiven, die aufs Praktische ausgerichtet sind, eher gut finden, was man gewohnt ist. Die wissenschafts- und institutionengeschichtliche Reflexion dieses Buches soll daher zart darauf hinweisen, daß vieles auch ganz anders sein könnte. Davon zeugen etliche der Beiträge. Im Namen auch der anderen Reihenherausgeber Thomas Feitknecht, Georg Jäger und Walter Methlagl möchte ich ausdrücklich Siegfried Seifert danken, der die Mühen der Organisation und Redaktion des vorliegenden Bandes auf sich genommen hat. Dank auch an die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die dieses Buch ermöglichte, und an die Stiftung Weimarer Klassik, deren Gäste wir sein durften. Christoph König (Marbach am Necker)
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Das Literaturarchiv eine Forschungsinstitution
Norbert Oellers Das Verhältnis zwischen Literaturwissenschaft und Literatur archiven
„Dann, fuhr der Gärtner fort, öffnet sich rechts das Tal und man sieht über die reichen Baumwiesen in eine heitere Ferne." - Sie haben alle den Satz schon einmal (wahrscheinlich häufiger) gelesen; er gehört zum Gespräch, das Eduard, der reiche Baron im besten Mannesalter, zu Beginn der „Wahlverwandtschaften" mit dem Gärtner führt. Ich las den Roman (vielleicht zum zweitenmal) in meinem fünften oder sechsten Semester, also wohl 1958, in der Beutlerschen Gedenkausgabe, die ich mir damals von Fest zu Fest Band für Band schenken ließ. Mein Exemplar weist an dieser Stelle und auf den nächsten Seiten Eingriffe des Lesers auf: Ich fugte Kommata ein, wo sie nach meiner Ansicht hingehörten, hier also vor dem Hauptsatz „und man sieht [...]." Ein Germanistik-Student müßte doch, so mag ich gedacht haben, die Interpunktionsregeln beherrschen. Wann mir die Erleuchtung kam, daß diese Kommata auf keinen Fall zu ergänzen seien, weil Goethe sie - vermutlich aus gutem Grund - nicht geschrieben hat, weiß ich nicht mehr, auch nicht, wann mir dämmerte, daß die Zeichensetzung vergangener Jahrhunderte eine andere Bedeutung hat als die unsere. Während meines Studiums - in Köln, München und Bonn - wurde ich von keinem meiner akademischen Lehrer darauf hingewiesen, daß ein konstituierter Text mancherlei Probleme bieten könne; warum historischkritische Ausgaben (zum Beispiel Karl Goedekes Schiller-Ausgabe) „besser" sind als die allgemein benutzten Lese- oder Studienausgaben (zum Beispiel die Schiller-Ausgabe des Hanser-Verlags von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert), erfuhr ich erst später - als ich mit meiner Dissertation beschäftigt war und meine ersten Proseminare hielt. Wie mir erging es in der Regel anderen Germanistik-Studenten andernorts: Literaturwis-
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NorbeH Oellers senschaft verstand sich fast ausschließlich als Interpretationswissenschaft, die aber bei der Interpretation die Uberlieferung der zu interpretierenden Tbxte kaum je beachtete. - Was „Lemma" heißt (nämlich „das Empfangene", „der Vorteil", „die Annahme"), wußte ich, weil ich etwas Griechisch gelernt hatte; daß es sich auch um einen literaturwissenschaftlichen Tferminus handelt, war mir unbekannt, bis ich ihn zum ersten Mal als solchen gebrauchte. Daß es Literaturarchive gibt - in Weimar, Marbach, Frankfurt a.M., Düsseldorf und Wolfenbüttel beispielsweise - wußte ich auch, aber daß dort Arbeitsfelder für Literaturwissenschaftler bereitet sind, ahnte ich nicht einmal. Es hatte mir ja keiner gesagt. Im folgenden spreche ich hauptsächlich über die Bedeutung der Archive für die Editionswissenschaft, wobei ich davon ausgehe, daß diese - für die Germanistik so wichtige - Disziplin die Archive nötiger hat als jede andere, die zum Fach gehört (wie Methodenlehre, Theorie, Interpretation und Geschichtsschreibung). Freilich will ich nicht unerwähnt lassen, daß Archive auch für jene Literaturwissenschaftler hilfreich sein können, die sich nicht am wissenschaftlichen Editionsgeschäft beteiligen: Schon das „bloße" Betrachten von Dichter-Handschriften kann Entstehungszusammenhänge verdeutlichen, die für eine Interpretation von Belang sein mögen. Dem „historischen Bewußtsein" wird allemal aufgeholfen, wenn das Vergangene anschaulich gemacht wird; so bringen etwa Goethes eigenhändig überlieferte Gedichte ebenso wie die einem Schreiber diktierten den Betrachter in ein anderes Verhältnis zu den Tfexten, als der Leser der gleichen (nicht derselben) gedruckten Gedichte es gewinnt. Daß Archive (an Marbach sei erinnert und an Wolfenbüttel) auch als Bücher-Schatzkammern für die Literaturwissenschaft von größerem Nutzen sind als viele Seminar- und Universitätsbibliotheken, sei wenigstens noch angemerkt. Weil die Zeit fehlt, ist hier auch nicht der Ort, umständliche historische Begründungen dafür zu geben, daß in den ersten Jahrzehnten nach 1945 in der germanistischen Lehre die Editionswissenschaft nicht einmal den Rang einer Hilfswissenschaft hatte. In einer Zeit, da Emil Staigers (schon 1939 gedrucktes) Diktum breite Anerkennung gefunden hatte: „daß wir begreifen, was uns ergreift [nämlich ,das Wort des Dichters, das Wort um seiner selbst willen, nichts was irgendwo dahinter, darüber oder darunter liegt"], das ist das eigentliche Ziel aller Literaturwissenschaft"1, ging es nicht um Buchstaben, Kommata und Varianten; denn die „Worte" der 1
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Emil Staiger: Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters. Zürich 1953 [zuerst 1939]. S. 11.
Literaturwissenschaft und
Literaturarchive
Dichter waren ja bekannt. Und kaum einer mochte damals an eine Renaissance der kleinmeisterlichen Philologie (schon seligen Angedenkens) glauben; vielleicht dachten einige daran - meine akademischen Lehrer gewiß nicht. Die Literaturwissenschaft verstand sich als „schöne" Wissenschaft in der doppelten Bedeutung des Wortes. (Uber die politischen Implikationen dieses Verständnisses ist inzwischen wohl genug gesagt worden.) Im September 1961 war ich, zur Vorbereitung meiner Staatsexamensarbeit, zum erstenmal für vier Wochen in einem Literaturarchiv, im SchillerNationalmuseum in Marbach. Zwar hatte ich es vornehmlich mit gedruckten Büchern zu tun, aber ich begegnete auch Handschriften (SchillerHandschriften), die auf mich einen großen Eindruck machten, weil ich erfuhr, was ich seitdem weiß: die Texte waren (sind) andere als die mir längst aus Büchern bekannt gewesenen, und dies nicht nur in den Fällen, in denen ich Neues (etwa Entstehungsvarianten) ent-decken konnte. Was mich ergriff, begriff ich nun anders als zuvor. Doch auch darüber kann hier nicht im Detail gesprochen werden. Die Unbekümmertheit, mit der ich von der Universität ins Archiv gekommen war und meine Arbeit hier trieb, und die Lehren, die mir erteilt wurden, mögen zwei Episoden verdeutlichen: Ich war noch nicht lange mit Handschriften zugange, als mir der Leiter der Handschriftenabteilung, Herr Volke, sanft verbot, in dieser Weise fortzufahren - nämlich die Transkription mit einem Kugelschreiber (oder war es gar ein Füllfederhalter?) zu besorgen. Und als ich es mir eines Tages im Cotta-Archiv bequem gemacht hatte, umgeben vom Cotta'schen „Morgenblatt", und während der Arbeit meiner Rauch-Leidenschaft frönte, wurde ich von Frau Lohrer, der Leiterin des Cotta-Archivs, energisch auf das Unziemliche meines Hins hingewiesen. Immerhin: Ich ging Tag für Tag auf die Schillerhöhe, auch samstags, auch sonntags. Gerne wäre ich damals für immer in Marbach geblieben; hätte der Direktor mich nur angestellt. - Als Angestellter der Schiller-Nationalausgabe kam ich vier Jahre später, im Oktober 1965, zum erstenmal ins Goethe- und Schiller-Archiv und war hier 14 Tage befaßt mit der Kollation von Schillerbriefen aus den Jahren 1795/96. Nun betrieb ich als Beruf, was ich vorher getan hatte, um einen Beruf zu bekommen; die Arbeit bereitete mir keine reine Freude, weil mir schnell klar gemacht wurde, daß meine Unfertigkeiten noch keine Antwort auf die Frage zuließen, ob ich je ein ordentlicher Editor sein würde. Lieselotte Blumenthal war meine gestrenge Lehrerin, der ich vieles, was ich in dem Jahrfünft von 1965 bis 1970 lernte, zu verdanken habe. Als ich in den Universitätsbetrieb zurückkehrte, ließ ich es mir angelegen sein, das Verhältnis zwischen Literaturwissenschaft und Lite11
Norbert Oellers raturarchiven auf die mir mögliche Weise zu fördern. Daß dieses Verhältnis insgesamt noch wenig befriedigend ist, wissen wir alle. Darüber nachzudenken, was sich daran wie verbessern ließe, sollte ein Thema unserer weiteren Gespräche sein. Es wird Zeit, daß ich dazu etwas sage, also aufhöre, nur von mir zu sprechen. Nachdem das Goethische Familien-Archiv durch Verfügung Walther von Goethes vom 24. September 1883 in den Besitz der Großherzogin Sophie von Sachsen übergegangen war, erklärte die neue Besitzerin umgehend, sie „betrachte das Archiv als ein nationales Kleinod", das „nach und nach zu einem klassischen Museum zu gestalten" sei, und bestimmte als wichtigste Aufgabe von Archiv und Literaturwissenschaft: „Die deutsche Nation soll ihren größten Dichter voll besitzen in einer definitiven Ausgabe [...]."2 Was daraus wurde, in beispielloser und gleichzeitig beispielhafter Kooperation zwischen Goethe-Archiv (das alsbald zum Goetheund Schiller-Archiv erweitert wurde) und Literaturwissenschaft, ist bekannt. In etwas mehr als drei Jahrzehnten wurden die 143 Bände der Weimarer Goethe-Ausgabe fertig. Dabei gingen vom Archiv zweifellos die entscheidenden Impulse aus, und so war es auch mit anderen großen Unternehmen derselben Zeit, etwa mit der Herder-Ausgabe oder mit den Schriften der Goethe-Gesellschaft, die seit 1885 in unregelmäßiger Folge erschienen (Bd. 1: Briefe von Goethes Mutter an Anna Amalia; Bd. 2 [1886]: Tagebücher und Briefe Goethes aus Italien an Frau von Stein und Herder), bestellt: Die Schätze des Archivs wurden von denen, die sie kannten, der Öffentlichkeit in zum Tbil vorzüglichen Ausgaben bekannt gemacht. Das änderte sich auch nicht, als Erich Schmidt, erster Direktor des Goethe-Archivs und seit 1885 Vorstandsmitglied der Goethe-Gesellschaft, 1887 als Nachfolger Wilhelm Scherers nach Berlin ging, im Gegenteil: Schmidt war und blieb die gleichsam personifizierte Verbindung von Archiv und Literaturwissenschaft bis zu seinem frühen Tbd im Jahr 1913. 1905 ließ er sich nach der Abdankung des Präsidenten der Goethe-Gesellschaft, Carl Ruland, zu dessen Nachfolger wählen. Damit machte er die Gesellschaft mit ihrem Periodicum, dem Goethe-Jahrbuch (das bis 1913 von Ludwig Geiger, der an der Berliner Universität besonders Goethe lehrte, herausgegeben wurde), zu einer Art Scharnier zwischen Archiv und Literaturwissenschaft, genauer: zwischen Goethe-Archiv und Goethe-Forschung. Als sichtbarer Ausdruck dieser Zusammengehörigkeit mag ange-
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Zitiert nach: Wolfgang Goetz: Fünfzig Jahre Goethe-Gesellschaft (Schriften der GoetheGesellschaft; Bd. 49). Weimar 1936. S. 17.
Literaturwissenschaft
und
Literaturarchive
sehen werden, daß im Goethe-Jahrbuch regelmäßig neben einzelnen .Abhandlungen" verschiedene „Forschungen" (in einer so benannten Rubrik) und eine große Zahl von Quellen („Neue Mittheilungen", Miszellen) erschienen - Goethe-Quellen. Goethe-Forschung und sonst nichts? Die Anregung, die von Weimar ausgegangen war, wurde andernorts aufgegriffen (so scheint es wenigstens; aber die Dependenzen, etwa zwischen Leipzig und Weimar, wären einmal genauer zu untersuchen). In den beiden Jahrzehnten um 1900 erschienen in einer Fülle und in einer (gemessen am editionsphilologischen Forschungsstand) Vorzüglichkeit soviele Ausgaben deutscher Dichter von Lessing bis Anzengruber wie zu keiner Zeit vorher und nachher - Bongs Klassiker, Meyers Klassiker, Ausgaben des Bibliographischen Instituts, des Max Hesse Verlags u.a.: „Gesammelte" oder auch „Sämtliche" Werke, mit Einführungen oder Nachworten und Erläuterungen - Studienausgaben also nach unserer heutigen Tbrminologie. Gewiß entstanden viele dieser Ausgaben, die in der Regel von Universitätsprofessoren besorgt wurden, ohne intensive Archiv-Vorarbeiten, aber es kann nicht bestritten werden, daß die hohe Zeit des Positivismus den ersten Höhepunkt der Editionswissenschaft in Deutschland bedeutete - und natürlicherweise auf der Grundlage eines engen Verhältnisses zwischen Literaturwissenschaft und Literaturarchiven. Von Weimar nach Marbach: 1890 regte Otto Güntter, ein Stuttgarter Gymnasiallehrer, auf der in Stuttgart stattfindenden vierten Jahrestagung der deutschen Neuphilologen an, die schwäbischen Dichter - allen voran Schiller - durch die Sammlung und zentrale Aufbewahrung ihrer Schriften, handschriftlichen Nachlässe und Bilder für Mit- und Nachwelt lebendig zu erhalten. Fünf Jahre später wurde der schwäbische Schillerverein gegründet, 1903 das Schillermuseum in Marbach eröffnet. Es ließ sich fortan besonders die Pflege des Andenkens Schillers angelegen sein; dazu gab es in den Schiller-Gedenkjahren 1905 und 1909 vielfaltige Gelegenheiten. „Die Eigenart des Marbacher Instituts", hat Bernhard Zeller in der Marbacher Schrift „Deutsches Literaturarchiv/Schiller-Nationalmuseum" (1982) resümiert, J a g von Anfang an in der Verbindung von Sammlung, Ausstellung und Forschung, der engen Verknüpfung archivarischer und bibliothekarischer mit volkspädagogischen und mit wissenschaftlichen Aufgaben. Neben der populären Schiller-Ausstellung und einer Schiller·Volksausgabe [...] eröffnete der Verein 1905 mit dem ersten, mehrere Forschungsarbeiten enthaltenden ,Marbacher Schillerbuch' eine wissenschaftliche Buchreihe und legte im Laufe der Zeit in den jährlich erscheinenden Rechenschaftsberichten' zahlreiche Editionen, meist von Neuer13
Norbert Oellers Werbungen des Archivs, vor."3 (Zur Präzisierung: Dem ersten Schillerbuch folgten noch zwei weitere, 1907 und 1909, herausgegeben von Otto Güntter, dem Geschäftsführer des Museumsvorstands, an dessen Spitze bis 1918 der jeweilige Kabinettchef des württembergischen Königs stand. Die Rechenschaftsberichte erschienen in den Jahren 1897-1939.) Insgesamt war, entsprechend den verschiedenen Zwecksetzungen der Institute, die Literaturwissenschaft dem Weimarer Institut enger verbunden als dem Marbacher, wenigstens in den ersten Jahrzehnten - vor dem Tbd Erich Schmidts, vor der Umwandlung des „Goethe-Jahrbuchs" in das „Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft", vor der endgültigen Ablösung der positivistischen Literaturwissenschaft durch die sogenannte geistesgeschichtliche, vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. 1889 war in der „Deutschen Rundschau" Wilhelm Diltheys im selben Jahr in der „Gesellschaft für Literatur" gehaltener Vortrag .Archive für Literatur" erschienen, ein Plädoyer für die „Erhaltung, Sammlung und zweckentsprechende Eröffnung der Quellen" deutscher Dichtung. Gedruckte Bücher waren Dilthey am wichtigsten, freilich: „ A u c h die ungedruckten Bestandtheile unserer Literatur gehören neben dem Gedruckten zum geistigen Besitzthum unseres Volkes." Der Grund: „Ohne solche handschriftliche Hülfsmittel kann die Beziehung von Werken aufeinander in dem Kopfe des Autors immer nur hypothetisch, und in vielen Fällen gar nicht verstanden werden." Die wichtigsten dieser „Hülfsmittel" sind für Dilthey die Briefe der Autoren, deren Beziehung zu ihren Zeitgenossen ein besonderes literaturwissenschaftliches Problem sei. „Wie hülflos ständen wir diesem Problem gegenüber, wenn uns nicht aus einer Fülle von Correspondenzen das Lebensgefühl der Menschen jener Tage und die unzähligen wirkenden Kräfte, von denen die Luft der Zeit gleichsam erfüllt war, entgegenträten."4 Das klingt positivistisch („die unzähligen wirkenden Kräfte"), ist aber zugleich prä-geistesgeschichtlich („Das Lebensgefühl") und vor allem: es stellt nicht in Rechnung, daß sich in den Literaturarchiven poetische Werke befanden, die noch nie gedruckt worden, und viele andere, die nur in entstellter Form erschienen waren. Kein Wort über die Notwendigkeit historisch-kritischer Ausgaben; kein Wort über die Zusammenarbeit zwischen Archiven und Literaturwissenschaft; kein Wort über
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Deutsches Literaturarchiv/Schiller-Nationalmuseum (Marbacher Schriften; 17). Marbach a.N. 1982. S. 9-10. Wilhelm Dilthey: Archive für Literatur. - In: Deutsche Rundschau, 58 (Berlin 1889). S. 360-375; Zitate S. 363 u. 364.
Literaturwissenschaft und Literaturarchive die Vorzüge einer exakten Philologie, ohne die jede Interpretation auf unsicherem Grund steht. (Dilthey selbst zitierte bekanntlich oft Texte, die er für seine Deutungen brauchte, aus dem Kopf.) 1906 veröffentlichte Dilthey seine wissenschaftsgeschichtlich hochbedeutsame Schrift „Das Erlebnis und die Dichtung"; sie enthält Aufsätze über Lessing, Goethe, Novalis und Hölderlin, die zuerst in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts in verschiedenen Zeitschriften erschienen waren, seinerzeit aber keine bemerkenswerten Wirkungen in der Germanistik gezeitigt hatten. Die Schrift gilt gemeinhin als Wende von der positivistischen zur geistesgeschichtlichen Literaturwissenschaft. Doch es dauerte noch einige Jahre (bis zu Erich Schmidts Tbd, bis zum Ersten Weltkrieg), bevor sich die „neue Methode" auch in der Hochschulgermanistik „durchsetzte": Es ging nicht mehr länger um das mühevolle Zusammentragen von „Positiva" als den Grundlagen der Existenz eines Dichters und des von ihm Geschaffenen (an Scherers Forderung sei erinnert, es sei das Ererbte, Erlernte und Erlebte zu erforschen5), sondern um das „Verstehen" des Bekannten aus einem größeren Zusammenhang heraus; nicht mehr das ganz Kleine war Ausgangspunkt der induktiv, gleichsam naturwissenschaftlich betriebenen Forschung, sondern das ganz Große, das ein deduktives, quasi-philosophisches Verfahren verlangte. „In dem Leuchten der Natur", heißt es in Diltheys Hölderlin-Aufsatz, „in der gütig starken Innerlichkeit eines Menschen, im freudigen Gefühl der Kraft, in jedem Moment höchsten Glückes offenbart sich eine Eigenart des Grundes der Dinge, die uns in Liebe und Andacht zu ihm hinzieht; am tiefsten doch in dem Aufgehen der Menschen ineinander - um so tiefer, je vollkommener es ist".6 Um Geistesgeschichte betreiben zu können (sei es als „Ideengeschichte" [Korff], „Problemgeschichte" [Unger] oder „Stilgeschichte" [Strich]), war es, um es vereinfacht zu sagen, nicht so wichtig, einzelne Buchstaben, Kommata und Wörter in ihrem „Ursprung" zu sichern, als vielmehr, durch den Druck überlieferte Sätze als „wahr" anzunehmen, die durch ebenso „wahre" Gegensätze zu einem Ganzen (der Synthese) fortgeführt wurden, das wieder als - thetischer oder antithetischer - Teil eines größeren Ganzen (etwa eines Epochenzusammenhangs) anzusehen war. So ließ sich, zum Beispiel, aus der Hegeischen Philosophie der „Geist der Goethezeit" deduzieren und beschreiben. So wurde Dich-
5 Vgl. Wilhelm Scheren Aufsätze über Goethe. Berlin 1900 (1. Aufl. 1886). S. 14-15. 6 Wilhelm Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung (Kleine Vandenhoeck-Reihe; Bd. 191 S). Göttingen 1970. S. 280.
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Norbert Oellers tung „verständlich". Ein Blick in die Bücher und Abhandlungen der Hauptvertreter der geistesgeschichtlichen Methode in den fast drei Jahrzehnten zwischen Erich Schmidts Tod und Rudolf Ungers Tbd (2. Februar 1942) läßt mühelos erkennen, daß die Grundlagen dieser Literaturwissenschaft nicht die Philologie war, sondern die Philosophie sein sollte. Als ein äußeres Indiz für diesen Befund mag angesehen werden, daß in den Fach-Periodica (so auch im „ J a h r b u c h der Goethe-Gesellschaft") „Quellen", „Forschungen" und „Mitteilungen" einen immer geringeren Raum einnahmen; es dominierten in wachsendem Maße die sogenannten Abhandlungen" (meist „problemgeschichtlicher" Art). Die Folgen aus dem hier nur grob skizzierten Trend der Literaturwissenschaft für ihr Verhältnis zu den Literaturarchiven liegen auf der Hand: Die einmal partnerschaftlich verbunden waren, entfremdeten sich. Der Prozeß mündete in die - freilich nie förmlich vollzogene - Trennung, als die Literaturwissenschaft aus den Erfahrungen des politischen Mißbrauchs, der mit ihr getrieben worden war und den sie selbst getrieben hatte, die verständliche, wenngleich wissenschaftsgeschichtlich zu bedauernde Konsequenz zog und sich im Elfenbeinturm einrichtete, wo jeder für sich zu begreifen suchte, was ihn ergriff: poetische Werke, wie er sie vorfand. Daß der „Geist" einer Dichtung, um den es ja ging, allzu oft von den Buchstaben, aus denen eine Dichtung besteht, separiert wurde, erschien den Zeitgenossen weniger bedenklich als den Nachlebenden, also uns. Wie wenig ein „freier" Umgang mit der Uberlieferung auf Kritik der Fachleute stieß, erhellt etwa daraus, daß lange Zeit die Hamburger Goethe-Ausgabe als mustergültige Textgrundlage für Goethe-Forschung und Goethe-Lehre angesehen wurde. (Da finden sich alle Kommata in den „Wahlverwandtschaften", die ich in der Gedenkausgabe vermißte; aber es gibt ja noch viel Ärgeres.) Da sich die Literaturwissenschaft im Elfenbeinturm einrichtete, wurden, wenigstens von außen betrachtet, die Literaturarchive mehr und mehr zu „ A u t o g r a p h e n m u s e e n " , wie Gerhard Schmid dies in seinem Aufsatz über „Handschriften zu Goethes ,Venezianischen Epigrammen'" beschrieben hat.7 Ob „Museum" oder nicht: die Archivare taten in der Regel,
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Gerhard Schmid: Die Handschriften zu Goethes „Venezianischen Epigrammen". Prolegomena zur Analyse u. Auswertung einer unausgeschöpften Quelle. - In: Im Vorfeld der Literatur. Vom Wert archivalischer Überlieferung für das Verständnis von Literatur u. ihrer Geschichte. Studien. Hrsg. von Karl-Heinz Hahn. Weimar 1991. S. 35-43; Zitat: S. 35.
Literaturwissenschaft und Literaturarchive was sie seit eh und je taten: ihre Pflicht; mit den Worten von Gerhart Enders: „[...] Akten übernehmen, sie ordnen und verzeichnen", Benutzern Auskünfte erteilen und sie beaufsichtigen, beschädigte Archivalien restaurieren lassen, für die geeignete Aufbewahrung der Archivalien Sorge tragen etc. Außerdem: „In einem vorgeschrittenen Stadium der Erschließung wird es sich als zweckmäßig erweisen, den Forscher durch gedruckte Beschreibungen auf den Archivinhalt aufmerksam zu machen".8 So weit, so gut. Gerhard Schmid und andere Beiträger des noch von Karl-Heinz Hahn vorbereiteten Bandes „Im Vorfeld der Literatur. Vom Wert archivalischer Überlieferung für das Verständnis von Literatur und ihrer Geschichte" (1991) haben überzeugend demonstriert, daß sie sich keineswegs darauf beschränken, die „klassischen" Archivar-Aufgaben zu erfüllen, sondern daß sie in ihren Häusern selbst literaturwissenschaftlich tätig sind, das heißt: daß sie die erschlossenen Quellen bearbeiten und - meist in Form von Editionen - der Öffentlichkeit präsentieren. Ich erinnere hier nur an einige große Unternehmungen wie die Regestausgabe der Briefe an Goethe, die Herder-Briefausgabe, die Briefwechselausgabe Goethe-Cotta, sowie an zahlreiche Bände der seit 1968 erscheinenden „Marbacher Schriften". Es könnte so scheinen, als habe der Berg sich auf den Weg zum Propheten gemacht, da dieser durch selbstverschuldete Paralyse unbeweglich geworden war. Doch so ist es ja nicht: Der Prophet ist in der Vergangenheit (etwa in den beiden letzten Jahrzehnten) auch wieder mobiler geworden, nachdem er eingesehen hatte, daß sein Leiden durch selbsttherapeutische Maßnahmen wenigstens teilweise zu beheben sei. Ich brauche hier nur an die vielen Ausgaben - seien sie nun ,^historischkritisch" oder nur „kritisch" - zu erinnern, an denen Universitätsgermanisten beteiligt waren und - mit zunehmender Ifendenz - beteiligt sind. Die sprunghaft gestiegene Zahl der wissenschaftlichen Benutzer in den Literaturarchiven (vor allem wohl in den Marbacher Instituten) ist ein Indiz für den erfreulichen Wandel in dem Verhältnis zwischen Literaturwissenschaft und Literaturarchiven. Doch in den Wein muß etwas Wässer gegossen werden; drei Güsse kommen aus meinem Krug: 1. Die Bewegungen des Berges und des Propheten sind nicht genügend koordiniert. Am Ende könnte es - statt zur Kooperation - zur Konkurrenz kommen. 2. Die Literaturwissenschaft argwöhnt zuweilen, die Literaturarchive 8
Gerhart Enders: Archiwerwaltungslehre. Berlin 1962. S. 3.
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Norbert Oellers würden über ihre „eigentlichen" Aufgaben hinaus tätig werden, obwohl sie das ihnen zugewiesene Feld noch nicht befriedigend bestellt hätten. (Wieviele Nachlässe sind nicht erschlossen? Wieviele nicht einmal vorgeordnet? Wo bleiben die gedruckten Inventare, die einen Bestand detailliert verzeichnen, nach dem Muster des Verzeichnisses des Schillerbestands im Weimarer Goethe- und Schiller-Archiv?) 3. Die Literaturarchive ihrerseits bemängeln zuweilen die nur sporadische und oft flüchtige Arbeit von Universitätsprofessoren in den Archiven. Außerdem ist die Skepsis gegenüber deren Befähigung (wie auch der Befähigung anderer Benutzer) zum ordnenden Umgang mit noch nicht geordneten Nachlässen so groß, daß Hilfe „von außen" bei den notwendigen Arbeiten des Ordnens und Verzeichnens nicht erwartet, ja sogar abgewehrt wird. Der Massenbetrieb an den Universitäten und die Personalnot vieler Archive (ich denke wieder vor allem an Marbach) werden es in absehbarer Zeit nicht zulassen, daß sich das Verhältnis zwischen Literaturwissenschaft und Literaturarchiven wesentlich intensiviert. Um so dringender erscheint es mir, das Verhältnis zu konsolidieren und zu fordern. Dazu nur fünf Anregungen: 1. Bei der Bearbeitung kritischer Ausgaben sollten die Literaturwissenschaftler darauf bedacht sein, Mitarbeiter aus den Archiven, die sie in besonderem Maße benötigen, als Bandherausgeber zu gewinnen. Liegt der Fall anders (daß Editionen von Archiven besorgt werden), wäre zu prüfen, ob und wie die Literaturwissenschaft daran beteiligt werden könnte. 2. In den Jahrbüchern der Goethe-Gesellschaft und der Deutschen Schillergesellschaft sollte für die Veröffentlichung von Quellenmaterial und für Archiv-Mitteilungen anderer Art mehr Raum zur Verfügung stehen als bisher. Daß der Raum genutzt wird, müßte in erster Linie die Sorge der Archive sein. 3. Es erscheint sinnvoll, daß die Archive von Zeit zu Zeit Listen mit Vorschlägen für die gewünschte Bearbeitung von Materialien veröffentlichen; so könnten vor allem jüngere Wissenschaftler für die Arbeit im Archiv interessiert werden. 4. Ein großzügiges Angebot von Archiv-Stipendien für Literaturwissenschaftler bedeutete wie selbstverständlich die Intensivierung des Verhältnisses, von dem hier die Rede ist. 5. Den Studenten der Germanistik müßten mehr Gelegenheiten geboten werden, Literaturarchive kennenzulernen. Es ist Sache der akademi18
Literaturwissenschaft
und Literaturarchive
sehen Lehrer, die bestehenden Möglichkeiten besser zu nutzen, als dies in der Vergangenheit geschah. Erfahrungen haben gelehrt, daß viele Studenten interessiert sind, sich einmal in Archiven umzusehen, und daß erste Bekanntschaften bei einigen zu dauernden Kontakten oder doch dem Wunsch danach führen. Mit diesen bescheidenen Bemerkungen sei's genug; vielleicht erfüllen sie ihren Zweck, eine Diskussion anzuregen, in deren Verlauf das Gesagte ergänzt, vertieft und präzisiert wird. Auch an Widerspruch sollte es nicht fehlen.
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Sigrid
Damm
Der Kopierstift hinter dem Ohr des Soldaten ... Schriftsteller und Archiv 1 Schriftsteller und Archiv. Scheinbar ein Gegensatz, einander ausschließende Pole. Ist Literatur nicht immer Erfahrung, poetische Überhöhung, Fiktion? Braucht nur der Schriftsteller das Archiv, der ohne Phantasie ist? Das Archiv einzig eine Domäne der Wissenschaft? Selbst dann, wenn es um vergangene Lebenschicksale, um Historie geht? Lion Feuchtwanger hat sich dazu bekannt, daß er sich niemals „darum gekümmert" habe, „ob meine Darstellung der historischen Fakten exakt war. Ja, ich habe oft die mir genau bekannte aktenmäßige Wirklichkeit geändert, wenn sie mir illusionsstörend wirkte. Im Gegensatz zum Wissenschaftler hat, scheint mir, der Autor historischer Romane das Recht, eine illusionsfördernde Lüge einer illusionsstörenden Wahrheit vorzuziehen." (L. Feuchtwanger: Vom Sinn und Unsinn des historischen Romans. - In: Feuchtwanger: Centum opuscula. Rudolstadt 1956. S. 508-515; Zitat: S. 512.) Die Haltung Feuchtwangers war für mich immer mit einem großen Fragezeichen versehen. Die Entgegensetzung von Wissenschaftler und Autor, der erklärte Graben zwischen Wissenschaft und Kunst, das Pochen auf die Sonderrechte des Schreibenden. Literatur als „illusionsfördend", die „aktenmäßige Wirklichkeit", die Wissenschaft, als „illusionsstörend"? Das schien mit unannehmbar.
2 Vielleicht oder ganz sicher deshalb, weil ich eine verräterische Nähe zu dem spürte, wie uns in einem östlichen Land, in der DDR, Geschichte dargeboten wurde; ein Konglomerat aus „illusionsfördernden Lügen". Geschichte - so meine Erfahrung - war von Widersprüchen gereinigt, Umbrüche und Abgründe wurden negiert; eine gerade Linie, aufsteigend, auf den Punkt zu, der Sieg hieß. Wir befanden uns - um ein Wort von Walter Benjamin abzuwandeln - in den „Bleikammern der historischen Gesetzmäßigkeit". Stets wurde im Individuellen das Gesellschaftliche 21
Sigrid Damm transparent gemacht. Auch in der Literaturgeschichte. Nicht auf der Höhe der Zeit. Das Schubfach flog zu. Das Individuum war verschwunden. In dieser Geschichtsauffassung blieb für den einzelnen kein Raum. Was blieb, war das kahle Gerippe der historischen Gesetzmäßigkeit. Die Geschichte ohne Fragen, ohne Antworten. Totes Material. Totlangweilig. Das Abspeisen, Überfüttern mit Ideologie, mit Surrogaten im täglichen Leben, in Zeitungen, Geschichtsbüchern mußte - über so lange Zeit propagiert - Spuren in ganzen Generationen hinterlassen. Ich habe dies 1987 für mich und meine Generation öffentlich zu formulieren versucht: In der Dankrede zur Verleihung des Lion FeuchtwangerPreises am 27. August 1987 in der Akademie der Künste der DDR, gedruckt in der Zeitschrift „Sinn und Form", Heft 1, 1988, unter dem Titel „Unruhe". Die ungewöhnlich starke Resonanz legte nahe: es mußte die Erfahrung vieler sein. Eine Generation, deren Kräfte nicht gefordert wurden. Verkümmerung daher. Blaß, farblos, einander gleich. Eine Generation ohne Biographie. Die sich in Scheingefechten verbrauchte, sich auf das gesellschaftlich geforderte Maß schrumpfen ließ; „künstliche kleine Maschinen", die „funktionierten". Wenn heute über den Zusammenbruch der DDR, über die Schuld jedes einzelnen - nicht derer, die jetzt so eilfertig zu allein Schuldigen erklärt werden - nachzudenken ist, so beginnt es für mich bei dieser Generationsprägung und ihren Folgen. Was hat das mit dem Thema Archiv zu tun? Ich denke: In einem von Ideologie überfluteten Land erschien das Dokument, das Archivierte, wie ein Rettungsanker, mit dem die Wahrheit festzumachen, Boden unter die Füße zu bekommen war. Das Überfüttern mit „illusionsfÖrdernden Lügen" weckte den Hunger nach dem .Aktenmäßigen", dem Archivierten. Das durchlebte Gefühl, daß Geschichte ausgesetzt werde, still stehe, weckte die Gier nach ihr. Diese Gier hieß zugleich: Rückgewinnung der Individualität durch Aufarbeiten der Geschichte.
3 In meiner Biographie fallen Interesse für das Archiv und die Anfänge meines Schreibens zusammen, d.h., die Liebe zum Archiv ist nicht meiner germanistischen Ausbildung, meiner Herkunft von der Wissenschaft ge22
Schriftsteller und Archiv schuldet, sondern ursächlich an die beschriebene DDR- oder ostspezifische Geschichtserfahrung geknüpft. Das Gefühl des Mangels als Antrieb für das Schreiben. Auch äußerlich bedeutete es eine Zäsur in meinem Leben. Das war 1978. In der „Lücke in der Republik", in die ich hineingestoßen war, mich drehte, „wie die andern Räder", abzustumpfen drohte; „heißt das gelebt", fragte ich mich täglich. Ich war achtunddreißig, es würde bis ans Ende so weitergehen. Ich wollte nicht mehr Teil dieser „Maschine" sein (Zitate nach J.M.R. Lenz „Über Götz von Berlichingen" - In: Lenz: Werke und Briefe in drei Bänden. Hrsg. von Sigrid Damm. Leipzig, 1987. Bd. 2, S. 637), wollte aufhören, zu funktionieren. Ich brach aus, verließ die „Maschine", die Institution, wurde freiberuflich. Ein Wagnis mit ungewissem Ausgang, finanziell, menschlich. Sturz in den freien Fall. Aber - kein Kollektivzwang mehr, keine Vorschriften: endlich war nur ich verantwortlich für mich, konnte tun, was ich wollte. Ich hatte die Briefe der Caroline Schlegel-Schelling herausgegeben, brauchte, um als Freiberufliche eine Steuernummer zu erhalten, einen Nachweis über ein neues Projekt. Ich entschied mich für Jakob Lenz. Obwohl alle mir abrieten, der Lektor des Reclam-Verlages hob die Arme, das kaufe und lese keiner. Vielleicht gerade, weil man mir abriet, entschied ich mich dafür. Widerspruch war lockend. Der Verlag hatte Hauptmann, Hofmannsthal, Goethe vorgeschlagen. Daß es für mich nicht Goethe sein konnte, der Anerkannte, der, der im Licht stand (freilich in enger Erbeauffassung von den Widersprüchen gereinigt), war klar. Es konnte nur der im Schatten sein, der Gescheiterte, Nichtanpassungsfähige, der Schwierige: Lenz. Nicht durch das Verspeisen eines Löwenherzens, sondern indem ich die bitteren Erfahrungen eines anderen teilte, konnte ich mir selbst Mut machen. Und darum geht es beim Schreiben wohl immer. Eine biographische Arbeit über Lenz und eine Werkedition sollten es werden. Ich ahnte noch nicht, daß, bis ich beides geschafft haben würde, sieben Jahre vergehen sollten. Lassen Sie mich nun von meinen Erfahrungen mit Archiven erzählen: Während der sieben Lenz-Jahre, beim Cornelia Goethe-Buch, dann, während der Arbeit an dem im Frühjahr 1992 erschienenen Roman „Ich bin nicht Ottilie" und schließlich bei der Beschäftigung mit Franz Fühmann, der für mich von einem Lebenden zu einem im Tbtenreich der Archive überging. Wenn ich meine Arbeit überdenke, so gehören zu ihren glücklichen 23
Sigrid Damm Momenten die in Archiven. Ich erinnere mich der Erregtheit im Weimarer Goethe- und Schiller-Archiv, als ich zum ersten Mal einen Autograph von Lenz in der Hand hielt. Die Freude, etwas lang Gesuchtes zu finden. Die Spannung, öffnen sich die Archivtüren oder nicht.
4 Beginnen wir mit Lenz. Ich fand einen Verlag, der sich für den Autor begeisterte: der Insel-Verlag Leipzig. Die Herausgabe der Texte. Die LenzEditionssituation war unbefriedigend, die der Autographe verworren. Lenz war zeitlebens ein Unsteter, Umhergetriebener: Riga, Dorpat, Königsberg, Straßburg, Weimar, Emmendingen, Basel, Zürich, St. Petersburg, Moskau. Immer aufgebrochen, geflohen, im Koffer Manuskripte zurücklassend, Bitten um Nachsenden. In Livland zu Lebzeiten und nach dem Tbde war er der Familie nichts wert. Der Nachlaß verstreut. In Moskau Papiere verloren, verbrannt, von ihm selbst, von Freunden. In Weimar zum Teil die Zeugnisse sorgfältig vernichtet, Spurenverwischung, der Streit mit Goethe. Dennoch, die Orte waren auszumachen, wo noch etwas lag: Basel, Zürich, Straßburg, Weimar, Westberlin, das Baltikum und Polen. Im Westen und Osten also. Für den Westen brauchte man ein Visum und Valuta; ich hatte weder das eine noch noch das andere. Auch der Verlag konnte mir nicht helfen. Also der Osten. Estland, Lettland: Riga, Tartu, Tallin. Die Genehmigung lief über Moskau - es war wenig aussichtsreich. Polen. Dort mußte enorm viel Material sein. Ich hatte mir in der Deutschen Staatsbibliothek in Berlin Unter den Linden eine genaue Auflistung gemacht. Der Varnhagen-Nachlaß, in dem sich die Lenz-Autographe befanden. Zu Ende des faschistischen Krieges war er in das Kloster Gnissau ausgelagert worden, dann nach Krakau. Die polnische Regierung dementierte das Vorhandensein. Der Westen, Forscher aus der Bundesrepublik Deutschland, wiesen den Weg exakt nach. Der Osten, die DDR, stellte sich an die Seite Polens, zeitweise jedenfalls. Hintergrund: der Streit zwischen BRD und DDR, wer der rechtmäßige Erbe des Preußischen Kulturbesitzes sei. Eine Reise ins Krakauer Archiv war für mich wegen dieses Tatbestandes nicht möglich, die Entwicklung in Polen, bestimmt durch „Solidarnosc", schloß sie dann grundsätzlich aus. Die Nachwirkungen des Krieges, die Spannungen zwischen Moskau und dem Baltikum, die 24
Schriftsteller und Archiv deutsche Teilung, die Entwicklung in Polen warfen ihre Schatten, umklammerten den toten Dichter im Blättersarg seiner Manuskripte. Was tun unter solchen Bedingungen? Ich war in den Fluß gesprungen, und der Fluß trieb mich fort; allerdings - vielleicht aus den genannten Gründen - in ungeahnter Weise. Mich beschäftigte immer ausschließlicher das Leben von Lenz. Der qualvolle Widerspruch von Uberleben im Werk und unlebbarem Leben. Die Edition trat in den Hintergrund. Das biographische Buch „Vögel, die verkünden Land. Das Leben des Jakob Michael Reinhold Lenz" entstand. Ich suchte lange nach einer Sprachform. Dabei eröffneten mir Günter de Bruyns Jean Paul-Buch, Adolf Muschgs über Keller und Wolfgang Hildesheimers Mozart-Buch faszinierend neuartige Zugänge zum Genre historischer Roman/Biographie oder wie immer man das nennen will. Das war nicht überlastige Wissenschaft für einen Kennerkreis. Die relativ einfache Sprache hatte Brillanz. Zugleich erfüllten diese Bücher Erwartungen, die man an Wissenschaft stellt. Da wurden nicht Wunsch und Wirklichkeit verwischt, nicht mögliche Reaktionen des Schreibenden zum Maßstab des Beschriebenen gemacht. Es wurde nicht eine Gestalt der Einbildungskraft aufgedrängt, sondern eine der Vorstellungskraft angeboten. Lauter, überprüfbar, demokratisch. Die Bücher waren aus einer jahrzehntelangen Beschäftigung, einer Art Liebesverhältnis zu den beschriebenen Autoren hervorgegangen. Das Dienen am Werk des anderen und die eigene Subjektivität gingen eine glückliche Verbindung ein. Sympathie wurde nie zur Apologie. Gründliche Kenntnisse, wissenschaftliche Aufbereitung, philologische Kleinarbeit waren Voraussetzung, selbstverständlicher Bestandteil. Die Autoren reklamierten nicht wie Lion Feuchtwanger Sonderrechte des Schreibenden, von der Wissenschaft abgegrenzt. Im Gegenteil, sie schütteten den Graben zu; auf dieser unbestellten Fläche, dem öden Grenzland zwischen Wissenschaft und Kunst, wuchs dieses Neue. Für mich war das sehr wichtig, bestimmte mein Verhältnis zum Dokument als dem Primären, zur davon abgeleiteten, möglichst noch wie mit einer Nabelschnur damit verbundenen Fiktion, als dem Sekundären. An einer Stelle wurde der Drang, die Landschaft von Lenzens Kindheit mit eigenen Augen zu sehen, in den Archiven von Riga und Tartu zu arbeiten, übermächtig. Beim Straßburg-Kapitel hatte ich ihn noch erfolgreich unterdrücken können. Jetzt schien mir, ich könnte ohne diese Reise nicht weiterschreiben. Ich zog Erkundigungen ein, im Weimarer Archiv, im Staatsarchiv Potsdam. Sie ermutigten nicht. Niemand war es gelungen. 25
Sigrid Damm Mir kam eine Idee. Ich warf mir den Mantel Feuchtwangers um, tat, als ob mich das ,Aktenmäßige", die Archive überhaupt nicht interessierten. Widerrief meinen ersten Brief an den Schriftstellerverband. Nun war es eine harmlose Schriftstellerreise, an keiner Stelle des Antrags tauchten die Archive auf. In meinem Kopf aber nahm es Formen von Besessenheit an: ich mußte da hineingelangen. Die Reise wurde genehmigt. Aber Tartu in Estland war ausgeklammert. Militärisches Sperrgebiet; Atomwaffenabschußrampen munkelte man. Ich ließ nicht locker. Der Verband bemühte sich. Zweimal wurde die Reise verschoben. Dann sagten die Leute im Verband, es ist zwecklos, wir haben alles versucht, fahren Sie, es muß ohne Tartu gehen. Ich flog nach Moskau. Im Flughafen Scheremetjewo fragte mich die junge russische Dolmetscherin - immer bekam man jemand zur Seite, niemals durfte man allein durchs Land reisen - , ob ich meine Ziele angegeben hätte, ich käme sonst nicht aus Moskau heraus. Ich verneinte. Wir gingen zurück. Ein blutjunger Soldat, achtzehn höchstens. Stoppelschnitt, abstehende Ohren. Hinter dem einen klemmte ein Kopierstift. Wir trugen es ihm vor, auf russisch, auf deutsch. Lettische SSR, Litauische, Riga, Tallin, sagte ich. Und fügte auf einmal verwegen hinzu: Tartu. Die Idee war mir im Moment gekommen, als ich auf meine Papiere in der Plastikfolie gesehen, sie gewendet hatte. Auf der Vorderseite ein Schreiben mit Behördenstempel, Ministerium für Kultur der UdSSR. Es war das offizielle Absageschreiben für Tartu. Aber die Absage auf der unteren Hälfte des Blattes war verdeckt. Auf der Rückseite mein allererster Brief an den Schriftstellerverband mit der Bitte Tartu. Ich ließ Behördenstempel und das Wort Tartu mehrmals vor den Augen des Soldaten wechseln. Er sah ungläubig darauf, sagte dann: gorod sakrit, geschlossene Stadt. Ich wiederholte den Vorgang. Er deutete, wir sollten warten, verschwand. Kam mit seinem Vorgesetzten zurück. Wieder Behördenstempel - Tartu. Der Offizier nahm die Plastikfolie, ich fürchtete, er könne die Schreiben herausnehmen, er tat es nicht, las, wies uns dann barsch ab: gorod sakrit. Und ließ uns einfach stehen. Wir waren wieder mit dem jungen Soldaten allein. Ich wollte schon aufgeben. Da sagte die junge Dolmetscherin: jeschtscho ras, noch einmal. Wir legten los, ich redete russisch, sie deutsch, beide beides durcheinander. Wir faßten den Soldaten jeder an einem Uniformärmel, ein Wortschwall prasselte auf ihn. Er stand wie betäubt, sah uns mit großen Augen an. Wir ließen ihn los, über uns selbst erschrocken. Stille trat ein. Ich starrte auf seine abstehenden Ohren, sie schienen sich zu bewegen. Eine Ewigkeit 26
Schriftsteller und Archiv verging. Dann machte er eine Bewegung mit der Hand zum Ohr, sah in die Richtung, wohin sein Vorgesetzter verschwunden war, nahm den Kopierstift, einen weißen Zettel, einen Vordruck (Paßformat) - schrieb mit dem Stift in steilen Buchstaben: Riga - ich hielt den Atem an - Tartu. Er legte den Zettel in meinen Paß, gab ihn mir. Wir bedankten uns, rannten wie die Furien davon, zu unglaublich war es. Im sowjetischen Schriftstellerverband - alles lief sehr offiziell - hielt ein Funktionär eine Rede, bedauerte außerordentlich, daß Tartu nicht möglich sei. Sie hätten es auch nach der Absage nochmals auf höchster Ebene, das bedeutete der Kulturminister persönlich, versucht. Leider vergeblich. Bei dem Wort „höchste Ebene" entwischte mir ein glucksendes Lachen, ich sah den Kopierstift hinter dem Ohr des Soldaten, mit ihm hatte er den bürokratischen Apparat außer Kraft gesetzt, dieser Schriftzug mit dem Kopierstift das Sandkorn im Getriebe. Die Dolmetscherin nahm meinen Paß. Der Funktionär sah entgeistert auf den Zettel. Nachdem er sich gefaßt hatte, lief alles in kurzer Zeit reibungslos. Er „stellte" neu „durch". Ein Hotel in Tartu, es gab nur ein einziges, aber es war leer. Die Änderung der Reiseroute, andere Schlafwagenplätze. So kam ich nach Tartu, dem ehemaligen Dorpat in Estland. Bis 1939 war die Hälfte der Bevölkerung deutschsprachig. Nun war es eine verbotene, geschlossene Stadt. Eine Deutsche und eine Russin - wir wurden wie exotische Tiere betrachtet. Die estnischen Schriftsteller hoben die Gläser. Warum schreiben Sie über einen Tbten, schreiben Sie über uns! Sie machten aus ihrer antirussischen Haltung keinen Hehl. Aber die Schönheit und Jugend der Dolmetscherin versöhnte sie. Ich ließ sie bei ihnen. Und verschwand in der Bibliothek. Eine supermoderne, wie ich sie später nur in Westberlin fand. Eine riesige Handschriftenabteilung. Mir ging es nicht so sehr um Handschriften, sondern um andere Archivmaterialien: Topographie, Architektur, Stadtgeschichte. Jakob Lenz hatte von seinem achten bis zum siebzehnten Jahr in Dorpat gelebt, eine prägende Zeit. Wie hatte das Elternhaus ausgesehen, wo hatte es gestanden, wo die Schule? Gab es noch Dokumente über die Lehrer? Hatte es eine Schauspieltruppe in Dorpat gegeben, waren Wandertruppen durchgezogen, wie war das mit dem Festungsbau, der Fortifikation, gewesen, die Lenz später in Straßburg unterrichtet. Ein Experte für alte Stadtgeschichte und der junge Stadtarchitekt von Tartu, zu dritt gingen wir durch die Stadt. Mit Plänen und Karten; die Rekonstruktion, hier mußte das Wohnhaus, hier die Schule gestanden haben. Und die genauen Jahre des Festungsbaus, die 27
Sigrid Damm Anzahl der Arbeiter, die Art ihrer Unterbringung in Holzverschlägen im Freien, unweit von Lenzens Elternhaus. Dokumente im Archiv dazu. Vier Archivarinnen, sie sprachen alle deutsch. Nur ein Stichwort genügte. Sie suchten, arbeiteten den ganzen Tag für mich. Ohne sie hätte ich es niemals geschafft. Eine fünfte, über Siebzigjährige, eilte von zu Hause herbei. Sie kannte sich in livländischen Adelsgütern aus. Lokalisierte alle die in Lenzens späten Briefen erwähnten. Mit den Datierungen zusammen konnten wir Lenzens Irr- und Fluchtweg durch Livland nachzeichnen. Ich war ihr, wie allen anderen im Archiv, zu großem Dank verpflichtet. Schloß das Archiv um zwanzig Uhr, luden sie mich in ihre Wohnungen ein. (Für die Dolmetscherin lief die ganze Zeit ein offizielles Programm ab, damit konnte sie ihre Berichte schmücken.) Ich ging durch die dunkle Stadt, Dohlenschwärme flogen lärmend über sie hin, der Geruch von Holzfeuer stand in ihr. Dann saßen wir an den Kaminen mit den brennenden Holzscheiten, das Gespräch ging weiter: Esten - Russen - Deutsche, Historie, Gegenwart. Nie habe ich so viel über mich selbst, mein Deutsch-sein und über Lenzens Aufwachsen in einer dreisprachigen, von drei Nationen und ihren Gegensätzen geprägten Stadt erfahren wie in den Arbeitstagen im Archiv und den Abenden an den offenen Holzfeuern in den Häusern von Tartu. Als ich nach Hause zurückkam, schrieb ich die Kindheitskapitel des Lenz-Buches und das späte Livland-Kapitel völlig neu. Nach Estland kam Lettland. Wir fuhren nach Riga. Dort ging es mir um Handschriften. In der Lenz-Literatur war Riga immer wieder aufgetaucht. Auch der Nachlaß des Vaters mußte dort sein. Ich hatte niemandem Offizielles ein Sterbenswort davon gesagt. Schleppte einen Packen Schreibmaschinen-Manuskripte im Koffer, Briefe vor allem, deren Originale ich nach den Angaben der ersten Herausgeber, Karl Freye und Wolfgang Stammler, in Riga vermutete. Nach dem Kopierstift des Soldaten, den Erfahrungen in Tartu ... Ein drittes Mal Glück haben, das gab es nur im Märchen. Da ich über den Schriftstellerverband gekommen war, konnte mein Weg nur über den lettischen Vorsitzenden führen. Er war kein Funktionär, sondern ein Schriftsteller, ich hatte mich in Berlin erkundigt. Auch nach dem passenden Gastgeschenk für ihn. Ich war aufgeregt wie ein Schulkind vor der Prüfung. An einem Sonntagmorgen kamen wir in Riga an. Der Vorsitzende war auf seiner Datsche am Meer. Wir fuhren nach Jurmala hinaus. Es war Anfang März, Schnee und Eis noch, zersplitternde Schollen auf dem Meer. 28
Schriftsteller und Archiv Grelles Licht. Wir liefen den endlosen Strand entlang. Der Vorsitzende brachte seinem Enkel das Skifahren bei. Das Gespräch ließ sich nicht in eine Richtung zwingen. Nach dem Essen mit der Familie, dem Kaffee, dem dritten Kognak - eine Flasche französischer war mein Gastgeschenk - ein Blick von mir, die Dolmetscherin war schon gelehrig, sie verschwand im Kinderzimmer - , sagte ich, daß ich über Lenz arbeite. Die gleiche Reaktion wie bei den estnischen Schriftstellern. Was hätte ein Tbter davon. Uber ihn, den Lebenden, solle ich schreiben. Es folgte ein ausführlicher Bericht über seine Bücher. Er dauerte bis zum sechsten Kognak. Ich wurde unruhig, hatte Angst, den richtigen Zeitpunkt für meine Bitte zu verpassen, platzte heraus. Archiv? Er wiederholte das Wort, indem er es auf der ersten Silbe betonend komisch verzerrte. Sprang auf. Lachte dröhnend. Stellte sich vor mich. Galante Greste, er könne mir das Land zeigen, er nehme frei. Ohne Familie. Wäre das nicht ein Angebot? Ein staubiges, düsteres Archiv? Hätte ich nichts Besseres zu tun? Er winkte ab. Ging, scheinbar verärgert, mit langen Schritten durchs Zimmer. Nach einer Weile blieb er stehen. Wenn es absolut mein Wille sei, nun gut, nichts leichter als das. Der Archivdirektor sei sein Freund, er sehe ihn wöchentlich, er machte eine Geste, die auf gemeinsames Wodka-Trinken schließen ließ. Wieder lachte er. Ging zum Ifelefon. Erst eine Frauenstimme, dann eine Männerstimme. Der Archivdirektor. Ein kurzes Gespräch der beiden. Er legte auf. Morgen früh ab acht, sagte er zu mir. Am anderen Morgen empfing mich die Pförtnerin des Archivs, eine alte Lehrerin, sie trug eine Perücke, sprach akzentfrei deutsch, umarmte mich ungefragt. Auch die Archivarin sprach deutsch. Sie holte Lenz-Kasten um Lenz-Kasten. Dunkle, hohe Kästen. Handschriften, Briefe, edle, von denen ich die Abschriften mitführte. Die letzten Benutzer waren Freye und Stammler gewesen, die Herausgeber von 1914. Ich schrieb meinen Namen unter ihre. Andere Handschriften. Unsortiert. Es gab kein Register. Es war nichts aufgearbeitet. Späte Sachen aus Livland, vereinzelt Moskau. Die Veränderungen in Lenzens Handschrift, zunehmend kleiner; eng, dichtgedrängt die Buchstaben, alle Ränder beschrieben, kaum lesbar. Kuverts mit Zetteln. Eines aus der Zeit in Thüringen auf Schloß Kochberg. Zeichnungen, ein Frauenkopf. Charlotte von Stein? Notizen über eine Anstellung in Weimar, Aussichten auf einen Posten beim Militär. Biographisches Detail oder Werk-Entwurf zum „Waldbruder"? Das Gefühl, die allererste zu sein, die diesen Zetteln Aufmerksamkeit schenkte, sie zu entziffern suchte. - Der Nachlaß des Vaters. Seine Ernennungsurkunde 29
Sigrid Damm zum Superintendenten von Livland, von der Zarin Katharina ausgestellt. Sein Briefwechsel mit den Lehrern in Dorpat, seine ewigen Streitereien mit dem Bürgermeister, Schreiben, in denen seine Arbeit beurteilt wird. Die Fülle des Materials. Wo anfangen, wo aufhören? Edition und biographisches Buch standen mir gleichermaßen nah. Mir schwirrte der Kopf. Fotokopien von dem, was nicht zu schaffen war? Der Archivdirektor, den ich ein einziges Mal kurz sah, sagte, Fotokopien seien nicht möglich. Mikrofilme? Von den Briefstellen, die die ersten Herausgeber ausgelassen haben: ja, sagte er zögernd, aber es könne dauern. Ich erhielt sie dann, als die Ausgabe bereits im Druck war. Bei der Fülle des Materials hatte ich nur die Wahl: das Mögliche tun in der mir gegebenen Zeit. Viel aber blieb ungetan. Die Archivarin und ihr Mann, ein Historiker, halfen mir, vor allem auch, wenn es um die Entzifferung kyrillischer und griechischer Buchstaben, Worte, Sätze bei Lenz ging. Ich arbeitete fieberhaft von morgens bis abends. Die Dolmetscherin langweilte sich im Hotel, sie frühstückte für zwei. Ich - da die Kollektivschübe der Reisegruppen die Wartezeiten für Einzelreisende unerträglich machten - in der kleinen Eckkneipe in Archivnähe. Die estnische Küchenfrau kannte mich schon, es ging stets schnell. Und immer am Nebentisch dieselben Russen, die aus Wassergläsern ihre Sto-Gramm Wodka tranken. Am Wochenende dann Landschaft, lettische Lenzkenner fuhren mit uns, eine bemalte, hölzerne Dorfkirche von 1760, wie Lenz sie hätte als Kind in Seßwegen erleben können. Rigaer Dom, Altstadt, abends Theater. Und unvergeßlich - ein Besuch bei dem russisch-jüdischen Dichter Mark Rasumny. Er, weit über achtzig, war lange im Lager gewesen. Kein Mensch in Riga kannte ihn. Er empfing uns im schwarzen Anzug, unser Gespräch, seine Freude, daß ich seine Poesie liebte. Seine große menschliche Würde. Dann fuhren wir nach Moskau zurück. Lenzens zehn Moskauer Jahre. Sein Tod hier. Dokumente aus dieser Zeit wurden von ihm selbst verbrannt oder von anderen aus Angst vor den Polizeirazzien Katharinas gegen die Freimaurer vernichtet, 1812, beim großen Brand von Moskau, Archivzerstörungen. Andere Moskauer Quellen waren nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in die Jagiellonen-Bibliothek nach Krakau gekommen. Was ich in Moskau wollte: Einblick in die Freimaurer-Archive. Meine deutschen Slawistenfreunde, die beiden Graßhoffs, denen ich zu großem Dank verpflichtet bin, hatten mir gute Freunde in Moskau empfohlen. Doch auch sie hatten keinen Zugang. Die offizielle Haltung zu den Freimaurern begann sich in diesen Jahren erst langsam zu verändern. Ich war zu früh gekommen. Die Archivtüren blieben geschlossen. 30
Schriftsteller und Archiv Aber die heutige Stadt Moskau mit den Stalinbauten war offen. Die Rückverwandlung in das alte Moskau von 1780. Wir gingen auf den Vogelmarkt, den es schon damals gab. Lärmend, bunt; das Volk, - alles war geblieben. Das Gedränge war unglaublich; mehrere Knöpfe wurden von unseren Mänteln gerissen. Der Vogelmarkt war für Ausländer tabu. Wieder hatte ich die Dolmetscherin in Verlegenheit gebracht. Die nächsten Tage ging ich allein. Ich fand, was ich beim ersten Moskau-Aufenthalt vergeblich gesucht hatte - das Haus, in dem Karamsin und Lenz gewohnt hatten. Der Sprachwissenschafter Juri Lotmann aus Tartu hatte mir eine genaue Wegskizze mitgegeben. Ich ließ mich durch Kitaigorod treiben, die tote Symmetrie der Neubauten, dazwischen immer wieder, überraschend, faszinierend die Asymmetrie; Fragmente des alten Rußlands. Die Kirchen, Gottesdienste, der zittrige Gesang der alten Mütterchen. Der Schnee schmolz, das alte Straßenpflaster Moskaus, auf dem Lenz den Ibd gefunden hatte, glänzte vor Nässe. Warum erzähle ich das alles? Heute ist es bereits Geschichte - die Archivlage hat sich völlig verändert. Vielleicht erzähle ich es, weil es bereits Geschichte ist. Zurückgekehrt in die DDR schrieb ich das Lenz-Buch zu Ende, die letzte Seite im Sommer 1984. Dann saß ich anderthalb Jahre ausschließlich an der Edition der Werke und Briefe von Lenz. Durch die Arbeit in den Archiven war ich mir der Problematik, der Vorläufigkeit, der Auslassungen in meiner Ausgabe bewußter. Wissenschaftlichen Ansprüchen genügen? Ich hätte die Finger davon lassen müssen. Ich sah die Editionsfachleute verschiedener Schulen vor mir und ihre Reaktionen. Ich schob die voraussehbaren Einwände beiseite. Weiblich-praktisch entschied ich mich unter meinen Bedingungen als Freiberufliche, ohne ein Institut, eine Forschungsstelle im Rücken, für das Machbare. Ich wollte die Texte von Lenz verlegen, sie sollten verfügbar sein fur Studenten, Interessierte, Lehrer, Theaterleute. Im Sommer 1985 gelang es mir endlich, mit Hilfe des Schriftstellerverbandes, nach Krakau ins Archiv der Jagiellonen-Bibliothek zu kommen. Ich fand dort Lenz-Autographe von Tfexten, deren Verfasserschaft für mich bisher fraglich war und die ich deshalb nicht in meine Ausgabe aufgenommen hatte. Ich fand ein Konvolut unveröffentlichten Materials zu den „Soldatenehen", Material aus der späten Moskau-Zeit, alles unveröffentlicht, Zeichnungen, Reformvorschläge. Mein Manuskript war schon im Verlag, all das konnte ich nicht mehr nutzen. Unter großem Zeitdruck wurden lediglich die entstellenden Eingriffe Weinholds in den dramati31
Sigrid Damm sehen Nachlaß rückgängig gemacht: sein exzessives Einfügen von Frageund Ausrufezeichen, bis zu zwanzig auf einer Seite. Weiterhin druckte ich die kleinen Fragmente nach den Handschriften, einzelne Gedichte, Briefe. Vieles blieb offen. Ende 1985 setzten Verlag und Herausgeberin einen Schlußpunkt unter die Ausgabe. 1987 erschien sie im Insel-Verlag Leipzig und zeitgleich im Hanser-Verlag München. Die 1985 groß angekündigte Lenz-Ausgabe des Klassiker-Verlags Frankfurt a.M. ist bis heute nicht auf dem Markt. 1992 druckte der Insel-Verlag - nun Frankfurt a.M. und Leipzig - die drei Bände meiner Ausgabe von 1987 als Taschenbuch nach. Bis auf fünf Lenz-Briefe an Herder, die ich aus mir unerklärlichen Gründen nicht mit den Handschriften verglichen hatte - (Anneliese Klingenberg machte darauf aufmerksam), ich holte es im Weimarer Archiv nach -, und bis auf einige kleine Korrekturen ist die Taschenbuchausgabe von 1992 unverändert. Dieser fast unveränderte Nachdruck ist symptomatisch für die Editionssituation. 1992, zum 200. Todestag von Lenz, fanden internationale Konferenzen mit großem Wissenschaftspotential statt: in den USA, in Deuschland, England. In Richtung auf eine historisch-kritische Ausgabe - ich halte sie für dringend notwendig - hat sich fast nichts bewegt. Jüngste Zeichen in Jena, die international Unterstützung fanden, lassen hoffen. Lenz, der Unbehauste, mit einer Heimstatt in Thüringen, das wäre schön, stünde dem Land gut an.
5 Nun zu Cornelia Goethe. Ich war durch Lenz auf sie aufmerksam geworden. Sie faszinierte mich. Aber ein Buch? Nein. Ihr Leben war ein leeres Blatt. Private Neugier also. Sie wuchs. 1985 bekam ich zum ersten Mal ein Westvisum. Lenz-Handschriften im anderen Teil Berlins. Ich beantragte ein weiteres Visum, schrieb ein Projekt auf. Bevor ich in den Zug stieg, wußte ich, dieses Projekt würde mich keine Sekunde beschäftigen. In Frankfurt ging ich schnurstracks zum Haus am Hirschgraben. Der Raum im zweiten Stockwerk, in dem Cornelia Goethe gewohnt hatte. Der Blick aus dem Fenster, in den Garten des Damenstifts, in dem die Günderrode gelebt hatte. Die Gegenstände, eine kleine Stickerei, unendlich akkurat, der vom Vater gekaufte Flügel, die Eheurkunde, Gratulationsverse zur Hochzeit. Das Bild im Gartensaal, die Elfjährige mit dem Bruder. Die Rötelzeichnung von Morgenstern, eine reife, sensible Frau. Archiv, Biblio32
Schriftsteller und Archiv thek. Freundliche, hilfsbereite Mitarbeiter. Eine Fundgrube das Ausgabenbüchlein von Vater Goethe. Und der Glücksumstand, ich mußte nicht Handschriften entziffern, alles war vorzüglich editorisch erschlossen. Datierungen der Honorare für den Hauslehrer, Kleiderstoffe für Cornelia, Talglichter, Ausgaben für das Weihnachtsfest. Die Phantasie machte Luftsprünge. Aber ein Buch? Am Wochenende wollten meine Gastgeber mir Straßburg zeigen. Wir fuhren los, während der Fahrt sank der Mut. Manchmal kontrollieren die Franzosen doch, sagten sie. Ich hatte kein Visum für Frankreich. Das Risiko schien zu groß. Sie schlugen eine andere Route vor: auf Lenzens Spuren nach Emmendingen. Lenz-Häuschen, Lenz- und Goethe-Säule, Lenz-Straße, Markt, Schlosser-Haus. Wir standen vor dem Haus, in dem Cornelia ihre Kinder geboren hatte und gestorben war. Ein naßkalter Oktobertag. Wir gingen zum Friedhof. Auch eine Art Archiv. Die Tbten in Steine verwandelt, nichts als die Schriftzüge ihrer Namen, Geburts- und Sterbedatum. Cornelias Grab an der Friedhofsmauer, IC-Züge donnerten vorbei, Stacheldraht, wenn man aufsah. Ich berührte den kalten Stein. Und wußte: dieses Buch mußte ich schreiben. Das leere, weiße Blatt, das ungelebte Leben war mein Thema. Als dann „Cornelia Goethe" im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vorabgedruckt wurde und als Buch in der DDR und der BRD fast zeitgleich erschien, erinnerte ich mich der Anfange. Der Schriftstellerverband gab mir zwar das Visum, aber keinen Pfennig Geld. Eine Erklärung, daß man kein Westgeld brauche, war sozusagen überhaupt die Voraussetzung, ein Visum zu bekommen. Meine Mutter hatte mir dreißig Westmark geschenkt. Und italienische Freunde hatten über ihre Freunde in Frankfurt dritte als Quartiergeber vermittelt. Ich arbeitete im Goethehaus; mittags, die Woche über, es war sonnig, saß ich auf einer Bank am Main, ein gekauftes trockenes Brötchen und meinen mitgebrachten Käse kauend. Mir fehlte nichts, ich fühlte mich gut. Auf dem Rückweg studierte ich die Speisekarten der kleinen Cafés in der Nähe des Goethehauses, um am Abend auf die Frage, was ich gegessen habe, eine Antwort geben zu können. Meine Quartiergeber schöpften keinen Argwohn. Erst viel später - inzwischen sind wir langjährige Freunde - erzählte ich es. Als das Lenz-Buch Ende 1985 erschienen war, bekam ich unter anderem eine Einladung zur Lesung nach Freiburg. Ich sagte sofort zu: Emmendingen war in der Nähe. Mit dem Honorar konnte ich die Arbeit im Archiv finanzieren. Eine neue Erfahrung: ein kleines Stadtarchiv. Der Archivar, ein älterer 33
Sigrìd Damm Herr, äußerst korrekt, überhörte sehr höflich meine Bitte, im Archiv zu arbeiten. Aus der DDR? Er fragte es zweimal. Ich war enttäuscht. Ging. Legte Blumen auf Cornelias Grab. Durchstreifte Stadt und Landschaft. Weilte im Schlosser-Haus, das zu einer öffentlichen Bibliothek umgebaut ist. Nach zwei Tagen klopfte ich wieder im Bürgermeisteramt an die Tür des Archivars. Er legte - ich war überrascht - einen Packen abgelichtetes Material vor mich hin. (Ich sah es mit einem Blick, es war mehr als das Jahreskontingent der Staatsbibliothek Unter den Linden, zwanzig Seiten pro Monat war dort das Limit, keine Seite mehr, auch keine im voraus oder im nachhinein, was hatte mir das bei der Lenz-Ausgabe für Abschreibezeit abverlangt.) Ich starrte auf den Packen. Der Archivar sagte zurückhaltend höflich, ich könne Fragen stellen. Daraus entwickelte sich eine Arbeitsatmosphäre, die ich als Schriftstellerin nahezu als einen Idealzustand Archiv - Benutzer ansehe. Ich fragte, er antwortete. Gab mir das Material aufbereitet, abgelichtet in die Hand, d.h. der Archivar tat die Arbeit. Ich fragte zum Beispiel: Gab es 1774 eine Hebamme in Emmendingen, wenn, wie alt war sie, wie hieß sie? Lebte ein Arzt da? Gab es Lesezirkel? Wer waren die Leute, mit denen Cornelia als Frau des Oberamtmannes hätte in Beziehung treten können, Namen, Berufe? Gab es 1774 bis 1777 Zugereiste in der Kleinstadt, die in einer ähnlichen Lage waren wie Cornelia? Und so fort. Tbpographische Details, Stadtgeschichte. Sind Archivare Mitarbeiter an Büchern? In gewissem Sinne ja. Ich bin ihnen allen zu Dank verpflichtet, die Erwähnung im Nachwort ist nur ein kleiner Ausdruck dafür. Ob es ein Stadtarchiv oder ein Familienarchiv, die Handschriftenabteilung einer Staats- oder Universitätsbibliothek oder die großen Archive in Weimar und Marbach sind - die Form des Zugangs, der Grad der wissenschaftlichen Aufbereitung des Materials ist immer entscheidend. Ebenso wichtig aber ist für mich als Schriftstellerin die menschliche Komponente. Ich habe viel von Archivarinnen und Archivaren gelernt, von ihrer Genauigkeit, ihrem Fachwissen profitiert. Besonders hat mich immer beeindruckt, was gemeinhin als skurril gilt: ihre Detailversessenheit, die liebevolle Nähe zum Gegenstand, die auch manchmal zum Nichtloslassenkönnen verfuhrt oder zum eifersüchtigen Besitzdenken. Dennoch unterscheidet sich selbst das für mich wohltuend von einer Literaturwissenschaft, wie ich sie punktuell in den westlichen Ländern zu beobachten glaube. (Die Probleme des Ostens lagen anderswo, davon spreche ich hier nicht.) Wissenschaftsbetrieb, Stellenknappheit, Profilierungszwang, harte 34
Schriftsteller und Archiv Konkurrenz sind gegen das Dienen, d.h. gegen die Arbeit im Archiv gerichtet, die ja immer auch Kleinarbeit, langwierig, zeitaufwendig, oft unbeachtet ist. Sie fördern dagegen das Abheben vom Boden, führen zu gewagten Thesen, erzeugen einen Zwang, Aufsehen zu erregen, bemerkt zu werden, begünstigen Modetrends. Die Archivare dagegen - so meine Beobachtung - haben sich viel stärker jene kleinen Bleigewichte an den Füßen bewahrt, die sie mit der Erde verbinden, d.h. mit den existentiellen Vorgängen im Leben und Werk der Dichter. Ihr Umgang mit ihnen ist daher für mich lauterer, ethischer, auch intimer. Das kommt mir als Schreiberin sehr nahe. Zudem: die Arbeit an einem Buch, die ja durchschnittlich vier bis fünf Jahre dauert, ist immer von Krisen und Spannungszuständen begleitet. Und der Archivar ist vom Arbeitsgegenstand her - für den Schreibenden fast die einzige Kontaktperson. Auch psychologisch gewinnt er daher eine Bedeutung. Die Räumlichkeiten eines Archivs, die Art der Aufnahme des Benutzers, der Umgang der Mitarbeiter untereinander, d.h. das gesamte Klima, werden vom Schreibenden sensibel wahrgenommen. Einmal, erinnere ich mich, stand im Archiv in Marbach auf meinem Arbeitsplatz ein kleiner Korb mit Erdbeeren. In Riga, im düsteren, staubigen hohen Archivraum, lag oben auf dem Kasten mit Lenz-Handschriften mehrmals ein „Mischka", eine Praline, im Werk „Roter Oktober" gefertigt, was unübersehbar in kyrillischen Buchstaben auf den dreifachen Papierumhüllungen aufgedruckt war. Ich nenne es als winziges Detail, das nach meiner Ansicht auch die Atmosphäre eines Archivs kennzeichnen kann.
6 Welche Bedeutung Archive für mich erlangt hatten, spürte ich während der vier Jahre der Arbeit an „Ich bin nicht Ottilie", meinem jüngsten Buch, das im Frühjahr 1992 erschienen ist. Ich hatte das 18. Jahrhundert, die historischen Gestalten, verlassen, war in die Gegenwart der sechziger und achtziger Jahre in der DDR gegangen; ein Roman nun, Fiktion. Schreiben bedeutet auch immer - ob über Historie oder Jetztzeit - sich selbst lesen, eigene Erfahrungen verarbeiten. Das Leben nun ein Archiv mit unentzifferbaren Dokumenten? Ungeordnet, kein Register, keine Kataloge, kein Archivar. Dunkle Gänge, geschlossene Türen. Nur langsam 35
Sigrid Damm öffneten sie sich, traten die Dokumente der Phantasie in die Helle, wurden lesbar, nahmen Gestalt in der Sprachform des Romans an. Andere neue Glücksmomente: wenn der Stoff mir mit eigenem Willen entgegentrat. Und die Wiederkehr des gleichen - wie bei Lenz und Cornelia wurde mein Schreiben „geheime Zwiesprache mit dem Verlorenen der Geschichte". Während ich den Roman schrieb - 1987 bis 1991 - wurde das, was ich beschrieb, das Leben einer DDR-Frau, die alles begehrt und vereinen will: Liebe, Kinder, Beruf - bereits Geschichte. Durch den Zusammenbruch der DDR, das rasende Tfempo der Vereinigung. Ging es da nicht auch um ein Archivieren, um ein Festhalten dessen, was unter den Füßen wie Sand zerrann? Details eines Alltags zum Beispiel, der nur so in dem Land hinter der Mauer gelebt wurde? Es ging auch um Abschiednehmen, um eine lebendige, bewegliche Gestalt unserer Vergangenheit in den vierzig Jahren. Nur verbittert einschwärzen oder sich ganz abwenden? Ohne Vergangenheit ist man ein Mensch ohne Schatten. Die Aufarbeitung der Geschichte durch jene, die sie durchlebt haben. Weit vor dem Zusammenbruch hatte einer die Zeichen diagnostiziert: der Dichter Franz Fühmann. Er hatte es rückhaltlos getan, sich selbst lebendigen Leibes seziert; der Marsyas seiner Geschichte, dem von den Mächtigen die Haut vom Leibe gezogen wird, das war er. Ein Funk-Essay über Franz Fühmann, den ich zu schreiben begann, brachte mir wieder eine neue, verwirrende Archiv-Erfahrung. Der, den ich als Lebenden gekannt hatte, trat mir nun aus dem Tbtenreich des Archivs entgegen. Manuskripte, die ich auf seinem Schreibtisch gesehen, über die wir gestritten hatten, nun in Panzerschränken verwahrt, mit Signaturen versehen. Seine Totenmaske, die ich in Händen hielt. Briefe, längst vergessen, ich sah meine eigene Schrift, las, was ich nicht mehr glauben wollte. Kinderzeichnungen, Briefe meiner halbwüchsigen Söhne. Fühmanns Tagebücher, versiegelt, Fühmanns Briefe, testamentarisch für zwanzig Jahre für die Veröffentlichung gesperrt. Sein verzweifelter Kampf in den letzten zehn Jahren: „- also entweder werden wir von Alkoholikern oder Wahnsinnigen oder Grottenolmen regiert ... Am liebsten tät ich auf die Straße gehn und brüllen." (Franz Fühmann, Brief vom 16.4.1982 an Ingrid Prignitz, s. I. Prignitz: Zu dieser Ausgabe. - In: Franz Fühmann: Im Berg. Texte aus dem Nachlaß. Rostock 1991. S. 312.) Die eigenen Versäumnisse, die mir entgegentraten; ich hatte weniger Mut, war weit weniger konsequent. Und mein Erkennen: Wiederkehr des gleichen. Wie Jakob Lenz oder Georg Trakl, über den Fühmann seinen großen Essay geschrieben hatte, hat auch er Fühmann - sein Werk mit dem Leben bezahlt. Das Exemplarische von 36
Schriftsteller und Archiv Leben und Werk. Der bekannte Fühmann, der unbekannte im Archiv. Erst beide zusammen ergeben den wirklichen. Aufarbeiten von Geschichte. Wie aber wird das geschehen? Welchen Anteil werden die Archive haben? Fühmann hat davor gewarnt, „Zeugnisse" zu verstümmeln. Und er hat gesagt: „In dieser heillosen Epoche einer Informationsflut, die uns mit Nichtigstem überschwemmt und Wesentliches uns vorenthält, bedarf es mehr denn je der Nachricht vom Menschen, und die wird eben zum Nichtigen dann, wenn eine Auswahl sie manipuliert. Das Wesentliche als das Wahre des Seins ist immer das Ganze, das kann sich auch im Tfeil offenbaren, ... der Torso konzentriert die Gestalt, eine Klitterung egalisiert sie, und dies gerade dann, wenn sie ein scheinbar Ganzes hinstellt." (Franz Fühmann: Vor Feuerschlünden. Erfahrungen mit Georg Trakls Gedicht. Rostock, 1984. S. 162.) Schließen möchte ich mit einem anderen Satz von Franz Fühmann, ebenfalls aus dem Trakl-Essay „Vor Feuerschlünden", der wohl die Summe von Fühmanns Erfahrungen enthält: „Du verlierst nichts von dem, was du einmal warst, und du bist gewesen, was du erst wirst." (Franz Fühmann: Gedanken zu Georg Trakls Gedicht. Leipzig, 1981. S. 97.)
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Christoph
König
Literaturwissenschaft und Wissenschaftsgeschichte in einem Literaturarchiv* Die theoretische Rechtfertigung von Institutionen oder praktischen Unternehmungen hat stets etwas Prekäres an sich, da zwei Bereiche verknüpft werden, die unterschiedlichen Regeln gehorchen. In den Begründungen fürs Praktische lassen sich deshalb gerne Motive und Argumente unterscheiden: die Motive - oft psychische Antriebe (beispielsweise der Wunsch: „Ich möchte jetzt etwas - Schwieriges - unternehmen") oder institutionelle Erfordernisse (nach der Formel etwa: „Was es einmal gibt, muß nach Möglichkeit weiterbestehen") - sind dann durch die Beweisführungen gleichzeitig zu verdecken und zu erfüllen. Wobei die Kraft des Beweises nicht allein von der Logik der Argumentation, sondern ebenso von ihrem kulturgeschichtlichen Zusammenhang herrührt. Eine solche durchaus praktische Unternehmung ist es, Literaturarchive mit Literaturforschung zu verbinden: es gibt Kollegen in beiden Bereichen, denen es der jeweils andere Bereich aus den verschiedensten Gründen angetan hat und es scheint, daß Literaturarchive zu jenen Einrichtungen gehören, die der vom Alltag bedrängten Wissenschaft als Ausweg einfallen. In gleichem Maße führt der Erfolg des Konzeptes Literaturarchiv in den letzten hundert Jahren fast ohne Zwang zu Überlegungen, ob man nun nicht mehr machen will: was sich mit dem wissenschaftsgeschichtlichen Konzept von Differenzierung gut beschreiben läßt. Eine Gefahr in unserer Themenstellung besteht darin, vom gegebenen Praktischen auszugehen und es dann theoretisch zu begründen - was ziemlich uninteressant ist. Ich möchte statt dessen versuchen, strikt auf der Ebene der Begründung zu bleiben und deren Herkunft und Akzeptanz zu beachten, um lediglich am Schluß aus praktischen Überlegungen heraus einen praktischen Vorschlag zu machen.
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Einige der hier vorgestellten Gedanken finden sich u.d.T. „Wissenschaftsgeschichte, auch für Literaturarchive" in: Euphorion, 88 (Heidelberg 1993). H. 4, S. 484-487.
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Christoph König Autor statt Zusammenhang Die Institution Literaturarchiv hat ihr Begründungsdokument, zu dem die Diskussionen unserer Art stets zurückkehren, in Wilhelm Diltheys Plädoyer ,Archive für Literatur" aus dem Jahr 1889.1 Dilthey charakterisiert die Deutschen als eine verspätete Kulturnation, deren Begabungen angesichts fehlender äußerer Entfaltungsmöglichkeiten ihr Streben nach innen gerichtet und dort ein Netz von Traditionen gebildet haben. „Alle Idealität des europäischen Denkens und Dichtens von Homer und Plato durch Paulus und Dante, Shakespeare und Calderón bis zu Corneille und Voltaire ist in dem Bewußtsein der großen Menschen versammelt, welche den Höhepunkt unserer Literatur, philosophischen Speculation und Geschichtsschreibung bilden."2 Dieser Aufsatz ist vor dem Hintergrund von Diltheys Hauptwerk zu lesen, der „Einleitung in die Geisteswissenschaften", die 1883, also sechs Jahre zuvor, erschienen war. ' Die Individualität zu bestimmen, wird darin zum ersten Forschungsproblem erhoben. Dilthey führt die Vorstellung von historisch-gesellschaftlichen Systemen ein, in deren Kreuzungspunkt das Individuum lebe, ohne deren Kenntnisse es nicht zu verstehen sei. Die einzelnen Bestandteile" des Individuums gehören stets einer Vielfalt von Systemen, überindividuellen „Wirkungszusammenhängen", wie er später sagt, an. Deshalb heißt es in der Exposition zu dem erwähnten Aufsatz über .Archive für Literatur": „Die Geschichte der Literatur, der Philosophie, der Wissenschaften ist von der Betrachtung weniger ausgezeichneter Personen ausgegangen. Sie wird aber die geistigen Veränderungen, die Strömungen in der ganzen literarischen Atmosphäre zu beschreiben und zu messen lernen müssen."4 Dilthey unterscheidet zwei Quellenarten (Bücher und Handschriften) und weist ihnen - ungewollt und erhellend - ein unterschiedliches Verhältnis zur Forschung zu: zuerst spricht er von Büchern und betont den Zusammenhang, dann von Handschriften und, statt vom Zusammenhang, vom einzelnen Dichter. Das Sammeln von Büchern als Aufgabe von Literaturarchiven wird später gar nicht mehr aufgegriffen. Dieses Detail in 1 Wilhelm Dilthey: Archive für Literatur. - In: Deutsche Rundschau, 58 (Berlin 1889). S. 360-375. 2 Ebd., S. 361. 3 Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Bd. 1: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig u. Berlin 1922. 4 Dilthey (Anm. 1), S. 362.
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Literaturwissenschaft und Wissenschaftsgeschichte im Literaturarchiv der Konstruktion seines Aufsatzes ist nicht zufällig, sondern spiegelt ein Problem, welches sich hinfort grundsätzlich einstellt, wenn es um Handschriften geht: da handschriftliche Quellen meistens nur als Quellen zu einer Person zu haben sind, rückt die Person weit mehr als ihr Kontext in den Mittelpunkt des Forscherinteresses. Diese Konzentration auf den Autor wird begünstigt von Literaturauffassungen, welche zur Zeit Diltheys die Deutsche Philologie beherrschten. Ästhetik und Literaturgeschichte hatten längst den Versuch aufgegeben, einen Text als Leserobjekt hermeneutisch zu rekonstruieren,5 und sahen den Tfext als ausreichend erklärt und untersucht an, wenn er im Herzen des Dichters als zentralem Sinndepot verankert werden konnte. Dilthey erklärt, warum der Ästhetiker Handschriften brauche, und fällt hier deutlich hinter seinen strukturellen Ansatz zurück, der Ästhetiker „möchte die Natur der Einbildungskraft, ihre Formen, die Regeln des Schaffens und die Entwicklung der Tfechnik erkennen. Das erfordert den intimsten Einblick in das Leben des Dichters: er muß bei ihm in seiner Werkstatt sitzen."6 Ob Rückfall oder nicht: die Begründungen für Literaturarchive werden von Literaturforschern formuliert. Das Beispiel zeigt, daß das Selbstverständnis von Literaturarchiven eng an die Geschichte der Wissenschaft angeschlossen ist. Für heute - hundert Jahre später und nach einer beeindruckenden Karriere des Konzepts „Literaturarchiv" - stellt sich deshalb die Frage, ob man von der Wissenschaft definiert wird oder nicht, und was man von ihr erwarten kann.
Herr und Knecht Diltheys Interesse ging bis zum Sammeln, dessen Probleme er mit einer erstaunlich kreativen Weitsicht schon zu benennen wußte. Uber das weitere Procedere im Archiv selbst sagte er nur höflich: „so wird in diesen neuen Räumen gleichsam ein genius loci sich ausbilden; aus der Natur des Nachlasses bedeutender Schriftsteller wird der Charakter und das Gesetz der Archive sich entwickeln, die ihnen gewidmet sind."7 Die Geschichte der 5 Vgl. Klaus Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, München 1989. 6 Dilthey (Anm. 1), S. 365. 7 Ebd., S. 367.
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Christoph König Literaturarchive belegt, daß diese Institution in allen Funktionen, die über das Sammeln hinausgehen, weicher definiert ist als Bibliotheken und andere Archive. Das zeigt der lange Streit darum, ob sie archivisch oder bibliothekarisch sind, das zeigt auch der Einfluß, den einzelne Persönlichkeiten in der Ausgestaltung ihres Literaturarchivs hatten und haben. Wenige Jahre nach Diltheys Programmerklärung machte der Wiener Literarhistoriker Jakob Minor Wünsche aus der Sicht seiner Disziplin geltend, die im einzelnen vielleicht nicht immer erfüllt wurden, aber bemerkenswert sind wegen ihres herrischen Habitus, dem spätestens seither von der anderen Seite Bescheidenheit und Demut, nicht immer ohne Trotz, entgegengebracht wurden. Minor forderte 1894, aus den Literaturarchiven „Centralanstalten für die literaturgeschichtlichen Hilfsarbeiten"8 zu machen, und nennt an Aufgaben „aus freier Hand bloß die folgenden: Register zu den sämtlichen Werken der Dichter. Chronologische Verzeichnisse der Werke. Verzeichnisse der Briefe von und an. Regesten zu den Briefwechseln und Memoirenwerken. Zeugnisse und erläuternde Exkurse zu der Entstehungsgeschichte der einzelnen Dichtungen. Sammlung der Urteile von Zeitgenossen über Dichter und Dichtungen. Verzeichnis der historischen und sagenhaften Stoffe (Lexikon der dichterischen Stoffe). Verzeichnis der metrischen Formen. Verzeichnis des Wortschatzes u.s.w."9 Verzeichnisse, Regesten und Sammlungen wünscht er. Für Minor haben sie die gleiche Funktion wie sein eigener Wissensschatz, den er einem phänomenalen Gedächtnis verdankt. Dazu steht er wie zu einem Literaturarchiv. In seinem Nachruf auf Minor schreibt Robert F. Arnold: „Und er war nicht der Diener, sondern der Herr dieses liebevoll behüteten, gewissenhaft geordneten, unablässig vermehrten Horts, von dessen Reichtum sein gedruckt vorliegendes Œuvre durchaus keinen zureichenden Begriff gibt"10. Man kann darauf polemisch reagieren oder aber fragen, was denn die Literaturarchive von solchen Verhältnissen haben. Aufschlußreich ist eine kurze Betrachtung der Überlegungen Hegels zu Herrschaft und Knechtschaft, von denen die Vorstellungen von Arnold und Minor sich nicht sehr entfernen. Hegel geht aus von der Bewältigung der Natur durch den
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Jacob Minor: Centralanstalten für die literaturgeschichtlichen Hilfsarbeiten. - In: Euphorion, 1 (Bamberg 1894). S. 17-26. 9 Ebd., S. 20. 10 Robert F. Arnold: Jakob Minor. - In: Euphorion, 20 (Bamberg 1913). S. 789-801, hier: S. 797.
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Literaturwissenschaft
und Wissenschaftsgeschichte
im
Literaturarchiv
Menschen. Diese Bewältigung beginne mit dem Kampf zweier Menschen, von denen der eine Angst vor dem Tbd habe (und deshalb von seiner Natur beherrscht sei). Daher trage der andere, der Furchtlose, den Sieg davon. Er ist nun der Herr und gibt in der Folge seiner Herrschaft Bestand, indem er den Unterlegenen zum Knecht macht und für sich arbeiten läßt. In der Arbeit werde, so Hegel, die Natur zum Objekt: man arbeite sich ab an der Natur, und das Arbeitsergebnis sei dann im Sinne des Arbeitenden vermittelt. So befreie sich in der Arbeit der, der arbeitet, von seiner ursprünglichen natürlichen Gebundenheit. Von dieser Möglichkeit profitiere auch der Knecht und werde frei. Zunächst unfreiwillig, öffne er sich, nach Maßgabe der zunehmenden vernünftigen Durchdringung der Welt der Gegenstände, dieser Perspektive immer mehr. In den Augen Minors und der Generationen von Germanisten nach ihm ist der Literaturarchiuar dieser Knecht des Literarhistorikers, er soll ihm die Materie (die „Papiere") aufbereiten, nicht nur in Empfang nehmen und hüten. Er hat dem Gelehrten die Dinge in dessen Welt zu übersetzen, bevor der ans weiterführende Geschäft sich machen kann." In unserem Fall ist die „Natur" komplex und erfordert die verschiedensten Tätigkeiten, die in sich nach ihrem Verhältnis zur Wissenschaft gestuft sind. Ich nenne die Prozesse des Nachlaßerwerbs, den Aufbau einer Handbibliothek, die Verwaltung von Personalangelegenheiten, das Bereitstellen von Räumen, die Finanzierung des Ganzen und so fort. Vorstellungen und Kriterien der Wissenschaft haben zusehends Eingang in die Gestaltung dieser Prozesse gefunden, wie das etwa - in unterschiedlichem Maße - die Nachlaßerschließungsmodelle dokumentieren.12
11 Die Literaturarchive haben in ihren literarischen Ausstellungen (und vor allem den zugehörigen Katalogen) eine spezifische Form der Dokumentation, Präsentation und Kommentierung von Quellen entwickelt, die öfters dieses Geschäft ganz gehörig mitbestimmt hat. Vgl. dazu: Literarische Ausstellungen von 1949 bis 1985. Bundesrepublik Deutschland — Deutsche Demokratische Republik. Diskussion, Dokumentation, Bibliographie. Hrsg. von Susanne Ebeling [u.a.]. München [u.a.] 1991. (Literatur und Archiv; 5). 12 Die Richtlinien des Verfassers: „Verwaltung und wissenschaftliche Erschließung von Nachlässen in Literaturarchiven". München [u.a.] 1988. (Literatur und Archiv; 1) gehen von dem anspruchsvollsten Benutzer, dem Editor, aus und entwickeln danach Regelungen, die jedoch die stärksten Vereinfachungen zulassen, ohne das System zu verletzen. Sie wollen nicht nur - wie Regelwerke dieser Art sonst auch - das Material überwinden, sondern auch einige alte wissenschaftsferne Anweisungen.
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Christoph König Übersicht
Erwartet man sich in jenem Sinn „Befreiung" von der Wissenschaft, dann muß man sogleich hinzufügen, daß heute die Literaturwissenschaft anders ist als jene, die das Selbstverständnis von Literaturarchiven noch prägt, und daß diese Wissenschaft selbst nicht frei ist, sondern aus einer bestimmten wissenschaftsgeschichtlichen Position heraus argumentiert. Auf zwei Entwicklungen möchte ich hinweisen. War früher der Autor die Größe, auf die man sich bezog, wenn es galt, literarische Ttexte zu interpretieren, so haben sich seither die „Situationskonstrukte" zu Uber-Autoren erweitert, „unter Namen wie ,Geist' (z.B. der Goethezeit) oder ,Gesellschaft' bzw. ,sozioökonomische Verhältnisse', das .Unbewußte' oder das ,Begehren',,Diskurs' oder ,Spiel der Signifikanten', .Mentalität' oder .kulturelle Energie'."13 Damit wird sichtbar eine Diskrepanz, die Dilthey durch eine Zweiteilung in Bücher und Handschriften, genauer: dadurch, daß er über die Bücher nicht mehr sprach, noch in den Hintergrund rückte. Literaturarchive können das personenorientierte Sammeln (im Rahmen der Nachlässe) nicht umgehen, höchstens aufweichen durch den Erwerb von Redaktions-, Verlags- oder Körperschaftsakten, denn das Allgemeine schlägt sich zunächst nieder im Individuellen. In dem Maße aber, in dem der ontologische Status dieses Individuellen absinkt zugunsten der Über-Autoren, entfernt sich die traditionelle Vorgabe in Literaturarchiven von den Erwartungen der Literaturwissenschaft. Wer neben den Handschriften Bücher sammelt, kann durch einen systematischen Katalog in diesem Bereich ausgleichend wirken; den Kategorien in der Handschriftenbeschreibung, die fur Thesauruseintragungen eingerichtet werden, kommt in diesem Zusammenhang eine Bedeutung zu, der aber zur Zeit nirgends entsprochen werden kann. Zweitens ist die Situation der deutschen Literaturwissenschaft heterogen wie noch nie. Im Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft hat Wilfried Barner deshalb eine Pluralismusdebatte ausgelöst, die unter dem Ausrufe- und Fragesatz „Pluralismus! Welcher?" stand.14 Barner unter13 Klaus Weimar: Text, Interpretation, Methode. Hermeneutische Klärungen. - In: Wie international ist die Literaturwissenschaft? Stuttgart, Weimar 1996. S. 119. 14 Wilfried Barnen Pluralismus! Welcher? - In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, 34 (Stuttgart 1990). S. 1-7. Die erste Runde in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 35 (1991). S. 297-346, weitere Runden: 36 (1992). S. 383-407; 37 (1993). S. 425-459.
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Literaturwissenschaft und Wissenschaftsgeschichte im Literaturarchiv scheidet drei Hauptschwierigkeiten: „Erstens: Die Unübersichtlichkeit nach innen, d.h. die Unmöglichkeit, selbst dem Spezialforscher auf manchen Gebieten einen genauen Durchblick zu verschaffen, stellt den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit selbst in Frage. Das Fundament des argumentativen Rechenschaftgebens über den Erkenntnisstand ist gefährdet. Zweitens: auch nach außen, zum interessierten Laien hin, wird das, was in der Literaturwissenschaft erarbeitet wird, immer weniger vermittelbar. Nicht nur aufgeblasener Jargon und überzogene Terminologie schieben sich davor, sondern es entsteht auch der Eindruck bloßer pluralistischer Beliebigkeit. Drittens (und hier kann eine Diskussion vielleicht am ehesten ansetzen): Zwischen den einzelnen Richtungen und Schulen läßt sich immer häufiger hochmütiges Verweigern von Kommunikation beobachten. Das Nichtkönnen gibt sich als ein Nichtwollen."15 Diese Situation hat sich in der Theoriedebatte der letzten zwei Jahrzehnte zugespitzt und zu tiefen Verständnisproblemen insbesondere zwischen der Linguistik und dem Strukturalismus auf der einen und der Sozialgeschichte und der literarischen Ästhetik auf der anderen Seite geführt. Noch gar nicht richtig ausgewirkt hat sich hingegen aufgrund von Immunisierungsstrategien, wie Walter Erhart am Beispiel des Internationalen Referateorgans „Germanistik" zeigt, eine gründlichere Aneignung internationaler Debatten.16 Das ist eine Literaturwissenschaft, die an die Literaturarchive gar nicht mehr mit prägnanten Wünschen herantreten, sondern nur mehr auf die Erweiterung von Sammelgebieten drängen kann, um so der epistemologischen Entropie (Hans Ulbrich Gumbrecht)17 der Disziplin und ihrer Gegenstände zu entsprechen. Gelegentlich ist zu hören, daß die Verhältnisse sich umkehren könnten und für eine theoriegefangene Literaturforschung Hilfe von Literaturarchiven kommen sollte. So geht es aber nicht, da vom Material allein selten Erlösung kommt. In der Verwirrung können neue Wege nur geplant werden, wenn man weiß, wo man, in edler Verwirrung, steht, und welche Traditionen ungehindert weil unbemerkt weiterwirken wollen. In dieser historischen Reflexion können auch die Gründe für Verständnisschwierig-
15 Barner (Anm. 14), S. 4. 16 Walter Erhart: Internationalisierung-Pluralisierung-Interpretation. Am Beispiel des Internationalen Referateorgans GERMANISTIK. - In: Wie international ist die Literaturwissenschaft? (s. Anm. 13) S. 305-328. 17 Hans Ulrich Gumbrecht: Pluralität/Pluralismus/Entropie. - In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, 35 (Stuttgart 1991), S. 305-309; hier. S. 309.
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Christoph König keiten benannt, wenn nicht korrigiert werden.18 Deshalb scheint es hilfreich, die Wissenschaftsgeschichte der Literaturwissenschaft zu untersuchen. Dabei könnten zwei Gesichtspunkte maßgebend sein: vergangene Debatten und Ergebnisse werden danach befragt, was sie zu heutigen Problemstellungen beitragen können - eine Art „historische Interdisziplinarität", die die hermeneutischen Probleme im Umgang mit Vergangenem bedenkt. Und: Wissenschaftsgeschichte konstruiert die ausgebliebene Geschichte. Inszenierte Debatten, die nicht stattfinden konnten, machten die Gegensätzlichkeit von Positionen und die beschriebene Pluralisierung fruchtbar. Der Wissenschaftsgeschichte käme somit die Funktion einer Grundlagendisziplin zu, wie etwa in der Philosophie der Geschichte der Philosophie.
Accessoires Edition, Bibliographie und Dokumentation werden gerne als genuine Einrichtungen von Literaturarchiven angesehen. Im Grund handelt es sich um Zutaten, die sich nicht aus dem zentralen Sammelauftrag ableiten lassen, die vielmehr (und sei es nur als Hilfsarbeiten im Sinne Minors) der Wissenschaft zugehören, von da ihre Vorgaben haben und von sich aus an die Literaturarchive wollen, weil das ihnen gut tut. Dort schlagen sie Wurzeln und berufen sich auf ihr wichtigstes Argument: Materialnähe. Mit erheblichen Folgen für die Institution. Wenn es auch keine innere Notwendigkeit gibt, so doch eine Veränderung des Berufsbildes durch Gewohnheit.19 Die andauernde und immer wieder angetragene Nähe solcher wissenschaftlicher Einrichtungen hat im Literaturarchivar das Bedürfnis und grundsätzlich auch die Fähigkeit entwickelt, literaturwissen18 Ludwig Jäger führt (in seinem Beitrag „Die I nternationalisierung der Linguistik und der strukturalistische Purismus der Sprache") zu dem in Anm. 13 genannten Sammelband die heutige Randlage der germanistischen Linguistik und die fehlende Kommunikation mit der früher ihr zugehörigen Literaturwissenschaft auf die eigene Geschichte dieser Linguistik zurück, die er beschreibt als Austreibung der Sprache aus der Sprachwissenschaft. Sprache werde nur mehr als Epiphänomen von kognitiven Funktionen verstanden: zu hermeneutischen Traditionen kann es deshalb keine Verbindung geben. Die gemeinsamen Ursprünge (Wilhelm von Humboldt etwa) wurden bis hin zur Manipulation von Editionen getilgt. Darauf könnte man wieder zurückkommen. 19 Dilthey setzte die Akzente noch anders: er sah nicht zuletzt im richtigen Umgang mit den Nachlaßgebern die eigentliche Qualifikation des Archivars. .,Der Archivar dieser Schätze muß der verschwiegene Inhaber vieler Familiengeheimnisse sein." (Anm. 1, S. 373)
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Literaturwissenschaft
und Wissenschaftsgeschichte
im Literaturarchiv
schaftlich zu kommunizieren.20 Einen ähnlich befreienden Effekt hat der regelmäßige Benutzerstrom. „Marbach ist ja u.a. deshalb so attraktiv, weil die ständigen Mitarbeiter nicht nur Bibliothekare sind, sondern einem auch wirklich raten und helfen können und weil man einander etwas zu sagen hat. (Im British Museum sind die Bibliothekare, die man zu Gesicht bekommt, bloß Bücherzuträger und man kommt mit niemandem ins Gespräch.)"21 Der Benutzer von heute tritt indes mit schärferen Anforderungen an ein Archiv heran als früher. Anders als Edition, Bibliographie oder Dokumentation hat er Fragestellungen, die über den Autor hinausgehen und vom Bewußtsein wachsender Entgrenzung seiner Disziplin geprägt sind. Es ist eine Literaturwissenschaft, die aus diesen Gründen zusehends mit ihrer Wissenschaftsgeschichte verbunden werden müßte: Die Wissenschaftler präsentierten dem Literaturarchiv ein Feld von Möglichkeiten und schickten sich an, ihre Wünsche wissenschaftsgeschichtlich zu bedenken, wenn nicht gar zu bündeln. Wenn dazu eine wissenschaftsgeschichtliche Einrichtung in einem Literaturarchiv wie die Marbacher Forschungsstelle für die Wissenschaftsgeschichte der Germantistik22 beiträgt, so kommt das in erster Linie der Literaturwissenschaft zugute, dann aber auch der anderen Seite: nicht nur, weil es eine vorzügliche Form ist, die Aufmerksamkeit des Faches für das Literaturarchiv zu wecken, sondern auch, weil dessen Mitarbeiter in die Lage versetzt werden, Anforderungen von außen wissenschaftsgeschichtlich zu reflektieren. Eine notwendige Zutat, ähnlich wie die Editionen.
Ein praktischer
Vorschlag
Die Literaturarchive und mit ihnen verwandte germanistische Forschungseinrichtungen außerhalb der Universität haben hinsichtlich ihrer forschungsfordernden Taten edle ein ähnliches Profil, das sich - mehr oder weniger vollständig - zusammensetzt aus Kolloquien, Stipendien, Reihen bzw. Jahrbüchern und Projekten. Mit Ausnahme der Projekte gerinnt in 20 Inzwischen ist das selbstverständlich, wie die Anforderungsprofile der ausgeschriebenen Stellen und die Kompetenzen der Bewerber dokumentieren. 21 Ein Benutzer an den Verfasser. 22 Vgl. Christoph König: Fachgeschichte im Deutschen Literaturarchiv. Programm und erste Ergebnsse. - In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, 32 (Stuttgart 1988). S. 377-405; ebenso: „Mitteilungen" des Marbacher Arbeitskreises für Geschichte der Germanistik, 1991 ff.
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Christoph König dieser Form die von den Literaturarchiven geförderte Forschung nicht zur Forschung am Ort. Forschung ist Kommunikation, und die findet dann dort statt, wo die Kollegen herkommen. Die ebenso zufälligen wie fruchtbaren Begegnungen von Forschern aus aller Welt in Marbach zeigen ganz deutlich, wie sehr hier - von der Forschung - Chancen vertan werden. Arbeitskreise sind ein wichtiger Schritt, besser sind Forschergruppen, die regelmäßig oder auf längere Zeit von Literaturarchiven profitieren können. Der Deutsche Germanistenverband plant, ein zentrales Institut einzurichten, dessen Konzeption zwischen einem außeruniversitären zentralen Institut und einem Forschungskolleg im Rahmen einer Universität (wie es die Denkschrift „Geisteswissenschaften heute"23 vorschlägt) sich bewegt: „eine in organisatorischer Hinsicht und personeller Ausstattung selbständig und unbefristet arbeitende Forschungseinrichtung, die zwischen mehreren Universitäten eines Bundeslandes als ein interuniversitäres philologisches Forschungsinstitut angesiedelt ist."24 Literaturarchive sollten sich um dieses Projekt bemühen, auf jeden Fall könnten sie kleine Kollegs einrichten, deren Gäste über eine gewisse Zeit hin und zu speziellen Fragen der Literaturwissenschaft und Wissenschaftsgeschichte versammelt werden. Zu diesen Mitarbeitern gehörten auch Literaturarchivare. Durch ihre Teilnahme könnte das Archiv von den Ergebnissen des Kollegs profitieren, weil Fragestellungen wachgehalten und neue Fragestellungen eingeführt werden: das sollte sich auf den Umgang mit den Nachlässen und mit den Benutzern auswirken. Die Forscher wüßten sich ihrerseits frei von den Zwängen der Universität, seien sie administrativer Art oder durch die Lehre bedingt, und könnten inmitten des Materials und in einer Gruppe arbeiten, die nach inhaltlichen Vorgaben zusammengestellt wäre.25
23 Wolfgang Frühwald, Hans Robert Jauß, Reinhart Koselleck, Jürgen Mittelstraß, Burkhart Steinwachs: Geistewissenschaften heute. Eine Denkschrift. 24 Ludwig Jäger und Bernd Switalla in ihren „Überlegungen zur Gründung eines germanistischen Forschungsinstitutes ,Philologie in der Informationsgesellschaft'", in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes, 39 (Frankfurt a.M. 1992). H. 1, S. 26. Ein Problem in der Argumentation scheint mir zu sein, daß von Themen her gedacht wird, wo es um ganz praktische Dinge geht (der Begründungsweg ist zur Zeit etwa: ausgehend von den Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses und der kommunikativen Umwelt, entsteht die Forderung nach einer medienwissenschaftlichen Erweiterung der Philologie; diese Erweiterung hin zu einer „interdisziplinären Kulturwissenschaft" könnte von der Germanistik initiiert werden). Was ist, wenn die Gründung länger dauert, als die Aktualität des Themas anhält? 25 Und insofern von den Prinzipien des fränzösischen CNRS etwas hätte.
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Almuth
Grésillon
Literatlirarchiv und Edition Das „Institut des Textes et Manuscrits Modernes" (Paris): Zwischen Archiv und Literaturwissenschaft „Bibliothèque Nationale. Ich sitze und lese einen Dichter. Es sind viele Leute im Saal, aber man spürt sie nicht. Sie sind in den Büchern. Manchmal bewegen sie sich in den Blättern, wie Menschen, die schlafen und sich umwenden zwischen zwei Träumen. Ach, wie gut ist es doch, unter lesenden Menschen zu sein. Warum sind sie nicht immer so? Du kannst hingehen zu einem und ihn leise anrühren: er fühlt nichts. Und stößt du einen Nachbar beim Aufstehen ein wenig an und entschuldigst dich, so nickt er nach der Seite, auf der er deine Stimme hört, sein Gesicht wendet sich dir zu und sieht dich nicht, und sein Haar ist wie das eines Schlafenden. Wie wohl das tut. Und ich sitze und habe einen Dichter." R.M. Rilke, Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge
Die Bibliothèque Nationale in Paris, um Rilkes Worte aufzunehmen, verstanden als Medium zwischen Dichtung und Dichtern, zwischen Literatur und Literaten jedweder Art, zwischen Poesie und Traum, aber auch, so möchte man hinzufügen, zwischen Schriftkultur und Lesern, zwischen Produktion und Rezeption, zwischen längst erstarrten Schriftzeichen und lebendiger Forschung ... In den Rundschreiben zur Vorbereitung des Weimarer Symposions „Literaturforschung und Literaturarchiv" vom November 1992 wurde einerseits gefragt, „wie Literaturarchive und Literaturwissenschaft sich zueinander verhalten", andererseits der Wunsch ausgedrückt - der ja schon eine implizite Antwort auf die gestellte Frage enthält - , „Literaturarchive und reflexive Wissenschaft sollten stärker aufeinander eingehen". Wie auch immer, das Verhältnis zwischen zwei institutionell oft getrennten Funktionen, - Aufbewahren und wissenschaftliches Erforschen von Archivobjekten - soll hinterfragt werden. Daß die beiden Funktionen häufig materiell voneinander getrennt leben, auch wenn sie sich intellektuell 49
Almuth Grésillon ergänzen, trifft für alle die Fälle zu, wo Archive mit der Aufarbeitung des Materials meist schon mehr als ausgelastet sind und so die wissenschaftliche Erforschung dieser Materialien weitgehend anderen Institutionen, z.B. der Universität, zu überlassen gezwungen sind. Diese Trennung war wohl bis in jüngere Zeiten der Regelfall; Gegenbeispiele von Literaturarchiven, an denen gewisse Teile des Gesamtprogramms ausdrücklich der Forschung gewidmet sind, werden jedoch immer zahlreicher. Hinzu kommen dann auch die Literaturarchive, die direkt in einer Universität angesiedelt sind und so schon räumlich Archiv und Forschung miteinander verbinden. Das Pariser „Institut des Textes et Manuscrits Modernes" (kurz „ITEM" genannt), von dem hier die Rede sein wird, gehört zu keinem der zitierten Fälle. Weder Archiv, noch Tbil einer Universität, jedoch hauptsächlich mit literarischen Handschriften arbeitend, steht es vermutlich als institutioneller Einzelfall da. Meine Ausführungen werden sich deshalb absichtlich mehr auf informeller als auf direkt wissenschaftlicher Ebene bewegen. Es wird hauptsächlich darum gehen, außer der wissenschaftlichen Perspektive die institutionellen Strukturen und Mechanismen dieses Sonderfalls zu erklären und damit ein Beispiel dafür vorzuführen, daß Forschung an literarischen Handschriften auch außerhalb der Universität und außerhalb des Archivs, jedoch in enger Zusammenarbeit mit beiden, betrieben werden kann. Folgende Fragen werden zu beantworten sein: Wie kam es zur Gründung eines solchen Instituts? Was ist sein Aufgabenbereich? Wie ist das Verhältnis zu Archiven einerseits und universitärer Literaturwissenschaft andererseits? Schließlich wird zu fragen sein, in welche Richtung sich diese Art von Forschung weiterentwickeln wird.
1. Anfänge: Der Pariser
Heine-Nachlaß
Wie hinlänglich bekannt, verdankt das ITEM seinen Ursprung dem glücklichen Zufall, daß der französische Staat auf Betreiben von Louis Hay 1966 einen beachtlichen Tbil des Heine-Nachlasses für die Bibliothèque Nationale erwerben konnte. Eine selten günstige Konjunktur hat es kurz darauf ermöglicht, daß der kulturpolitischen Geste 1968 eine forschungspolitische Initiative folgte: Das Centre National de la Recherche scientifique (CNRS) beschloß die Gründung einer Heine-Forschungsgruppe, die mit der Erschließung, Edition und Interpretation dieses Nachlasses beauftragt wurde. Die Anfänge dieser Gruppe waren im Archiv selber angesie50
Literaturarchiv und Editionen delt: Die ersten Mitarbeiter verbrachten lange Monate an den Originalhandschriften in der Bibliothèque Nationale, um den neuen Bestand genetisch zu erschließen. Detaillierte Papierbeschreibungen, Forschungen zu Wasserzeichen usw. sollten genaueste Datierungen liefern und Zuordnungsfragen lösen, solange das Material noch im Rohzustand, also ungebunden, vorlag. Ein Katalog wurde erstellt, aber aus mir unersichtlichen Gründen nie veröffentlicht; er ist im ITEM sowie in der Bibliothèque Nationale einsehbar. Des weiteren wurde ein Koeditionsvertrag zwischen Frankreich und der damaligen DDR für die „Heine-Säkularausgabe" unterzeichnet, an der sich Mitarbeiter der Pariser Heine-Gruppe als Bandbearbeiter beteiligten bzw. sich noch beteiligen werden. Die „folgenreichste" Betätigung der Gruppe bestand indes zweifellos in den genetischen Studien, mit denen sie nicht nur zur Heine-Forschung, sondern zur Entstehung einer relativ eigenständigen Richtung in der Literaturwissenschaft, der sogenannten critique génétique", beitrug.
2. Gründung und allgemeine wissenschaftliche Zielsetzung des Institut des Textes et Manuscrits Modernes Schon seit Beginn der siebziger Jahre interessierten sich Spezialisten anderer Autoren für die bei den Pariser Heineanern entwickelten Methoden der Handschriftenforschung. So gliederten sich im Laufe der siebziger und achtziger Jahre nacheinander Gruppen um Proust, Zola, Flaubert, Nerval, Valéry, Joyce und Sartre der Heine-Gruppe an. Seit 1982 werden diese Forschungen offiziell durch die Gründung eines für geisteswissenschaftliche Verhältnisse relativ großen Instituts vom CNRS anerkannt und finanziert. Etwas über hundert Mitarbeiter verschiedenster institutioneller Provenienz forschen an hauptsächlich französischen, aber auch deutschen oder englischen literarischen Handschriften. Dabei geht es genauso um materiell-deskriptive Methoden - z.B. wie werden Papierbeschreibungen erstellt? Wie wird transkribiert? Für welche Forschungsprojekte empfiehlt sich die Arbeit mit EDV-Programmen? — wie um Schlüssel zu genetischen Interpretationen. Diese letzteren, inzwischen in zahlreichen Publikationen vorliegend1, sind zum Kernstück 1 Siehe z.B. die in der Reihe „Textes et Manuscrits" in den „Editions du CNRS" veröffentlichten Bände: Essais de critique génétique (1979), La Genèse des textes: les modèles linguistiques (1982), Le Manuscrit inachevé (1986), De la Lettre au livre. Sémiotique des
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Almuth Grésillon unserer Forschungen geworden. Dabei muß allerdings präzisiert werden, daß bislang zwar die methodologischen Ansätze weithin geklärt sind, die Theoriebildung aber immer noch im argen liegt. Zu beiden Aspekten zunächst einige kurze Hinweise. Jede genetische Studie dient im Prinzip dazu, anhand der Analyse überlieferter Schreibspuren Rückschlüsse auf den schriftlichen Entstehungsprozeß zu ziehen und daraus Modelle und Typologien literarischer Kreativität zu konstruieren. Um die erwähnten Schreibspuren zu erfassen, bedarf es zunächst der Zusammenstellung und der chronologischen Ordnung, der Entzifferung und Transkription des überlieferten Entstehungsmaterials. Das gesamte Material, vom ersten Entwurf bis hin zur Druckfassung, inklusive aller vom Autor selbst revidierten Druckfassungen, wird als „avant-texte" bezeichnet, also als jene Summe von Objekten, die dem definitiven Ttext vorausgeht. Die Herstellung eines solchen „avanttexte" stützt sich notwendigerweise auf ein korrekt erschlossenes Handschriftenmaterial. Daß dieser Arbeitsphase philologische Strenge im besten Sinn eignen muß, daß niemand um diese philologische Vorarbeit herumkommt, wenn die Zuverlässigkeit der daraus abzuleitenden Interpretation gewährt werden soll, liegt auf der Hand. Selbst wenn auch in dieser frühen Phase eine gewisse Subjektivität am Werk ist, so stellt sich dieses Problem doch erst wirklich auf der Ebene der Interpretation, wo zu entscheiden ist, mit welchen literaturtheoretischen Voraussetzungen das aufbereitete Material zu kommentieren ist. Psychoanalytisch inspirierte Literaturwissenschaftler werden Schreibfehler als Spuren des Unbewußten lesen, während soziologisch-historisch orientierte Spezialisten gewisse Streichungen in der Handschrift mit Mechanismen politischer Zensur zu erklären suchen. Gattungsgeschichtlich ausgerichtete Handschriftenforscher werden sich für kontrastive Merkmale in der Tfextgenese wie Prosa/Lyrik, Tagebuch/Roman, usw. interessieren, während Linguisten die progressive Entstehung von Wortlisten, Satzgruppen, Sätzen, Abschnitten, Strophen, Kapiteln beobachten, in der Hoffnung, etwas von der „allmählichen Verfertigung von Ttexten beim Schreiben", also etwas von Sprache als Produktion verstehen zu lernen. Aus dieser in jeder Hinsicht kontrastreichen Arbeit an Handschriften entstehen denn auch nicht nur neue Einblicke in die Werkstatt eines Schriftstellers, sondern auch neue theoretische Fragestellungen. So z.B.: Gehört ein „avant-texte" nicht doch
manuscrits littéraires (1989), Carnets d'écrivains (1990). L'Ecriture et ses doubles. Genèse et variation textuelle (1991).
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Literaturarchiv und Editionen schon zum Tfext, insofern er diesem eine dritte Dimension, nämlich die seiner Entstehung, hinzufügt?2 Wenn ja, was wird dann aus dem tradierten Textbegriff, so wie er notwendig allen Arten der Edition zugrundeliegt? Eine weitere Frage wird aufs neue akut: die nach dem Autor dieser Schreibspuren. Nachdem der Strukturalismus triumphalisch den Ibd des Autors, zumindest innerhalb der Literaturtheorie, deklariert hatte, kommt man in der Handschriftenforschung an der Frage nach dem Schreiber unmöglich vorbei. Wie schlägt sich z.B. in der Handschrift der Ubergang von einem autobiographischen Ich zu einem Ich der Fiktion nieder? Eine weitere Frage ist die nach dem vermutlich unerläßlichen Zusammenhang von Rezeption und Produktion, von Lesen und Schreiben. Jeder Produzent war zuvor Rezipient, jeder Schreiber zuvor Leser. Im Schreibprozeß selbst ist er allerdings beides zugleich, einerseits integriert er - so z.B. offensichtlich bei der Montagetechnik Alfred Döblins - anderswo gelesenes Schriftgut, andererseits ist er jeweils selbst auch sein erster Leser: Erst nach dem Lesen des Geschriebenen setzen die großen, des öfteren sogar gravierenden Revisionsprozesse ein. Neben solchen Neuansätzen der literaturwissenschaftlichen Reflexion stehen auch Probleme, welche die „critique génétique" bislang ungelöst stehen läßt. So z.B. die unumstößliche Tatsache, daß sie für ganze Jahrhunderte literarischer Produktion bei ihrer derzeitigen Selbstdefinition absolut nichts zu sagen hat, und dies aus dem einfachen Grund, daß aus historisch erklärbaren Ursachen keine Handschriften überliefert sind. Ein weiterer Stein des Anstoßes, verwandt mit der eben erwähnten Begrenzung, bildet die Tatsache, daß nicht alle Forscher dieselbe Definition des Wortes „Genese" voraussetzen. Für die einen impliziert es die ausschließlich vom Autor geschriebenen Zeugen der Entstehung eines Werkes; für die anderen impliziert es den gesamten Produktionsprozeß, durch welchen in einem historisch so und so determinierten Kontext ein Schreiber, der in dieser oder jener literarischen Tradition steht, ein literarisches Werk produziert, das sich unter anderem dadurch auszeichnet, daß es sich in signifikanter Weise von allem ihm Vorausgegangenen unterscheidet. Dabei ist klar, daß jede dieser Definitionen ihren eigenen Apparat an Methoden und Verfahrensweisen voraussetzt. Mit derlei Bemerkungen soll unterstrichen werden, wie vieles innerhalb unserer Forschungsrichtung noch unfertig und unzulänglich ist. Darüber2 Vgl. Louis Hay: Die dritte Dimension der Literatur. Notizen zu einer „critique génétique". - In: Poetica, 16 (Amsterdam 1984). H. 3/4, S. 307-323.
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Almuth Grésillon hinaus gibt es jedoch eine andere Frage, die der „critique génétique" gerade im deutschen Kontext immer wieder gestellt wird, und, soweit ich sehe, immer wieder auf ein gewisses Mißverständnis stößt: die nach ihrem Verhältnis zu kritischen Editionen.Immer wieder reagieren deutsche Kollegen überrascht, wenn sie erfahren, im ITEM forschte man zwar über Handschriften, ohne damit jedoch primär ein Editionsvorhaben zu verfolgen. Immer wieder scheint dieses Prinzip in deutschen Landen mehr oder minder suspekt. Auch die oft und intensiv wiederholten Versuche der deutsch-französischen Kommunikation auf diesem Gebiet - ich erinnere z.B. an die drei gemeinsamen in Paris bzw. Berlin veranstalteten DFG/ CNRS-Konferenzen (1977, 1979, 1983 3 ) - konnten an dieser Situation de facto nichts ändern. Deshalb will ich hier auf diese Frage etwas näher eingehen. Zum einen ist der in beiden Ländern sehr verschiedenen kulturellen und wissenschaftsgeschichtlichen Tradition Rechnung zu tragen. Der deutschen fast 200jährigen Editionsphilologie und Editionswissenschaft steht in Frankreich eine ganz andere Tradition gegenüber, in der es soviel wie nie zu historisch-kritischen Gesamtausgaben kam, es sei denn in internationaler Zusammenarbeit, wie dies gerade für die Heine-Säkularausgabe oder auch für die Gesamtausgabe Voltaires der Fall ist. Dominierend sind die einem breiten, kultivierten Publikum zugedachten Studien- bzw. Leseausgaben, so z.B. die 1931 bei Gallimard ins Leben gerufene „Bibliothèque de la Pléiade". Obwohl diese Reihe zwar in den letzten Jahren, vermutlich sogar als indirekter Effekt der „critique génétique", eine deutliche Ausweitung des kritischen Apparates verzeichnet, verfolgt die „Pléiade" keineswegs das Ziel der Vollständigkeit. Daß hinter diesen Differenzen auf dem Gebiet der Edition ein unterschiedliches Verständnis vom Umgang mit Literatur steht, ist offensichtlich, kann hier jedoch nicht weiter beleuchtet werden. Zum anderen ist eben das Objekt der „critique génétique" nicht der Ttext, sondern der „avant-texte". Es geht nicht darum, den besten Text mit dem besten genetisch-synoptischen Apparat herzustellen, sondern der Gesamtdynamik des Schreibprozesses Rechnung zu tragen.4 Von daher gesehen,
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Die Akten dieser Kolloquien wurden in Bern bei Peter Lang unter folgenden Titeln veröffentlicht: Die Nachlaßedition (1979), Edition und Interpretation (1981), Probleme der Prosa-Edition (1987). Diese Differenz spiegelt sich jetzt auch in den beiden entsprechenden Periodica wider: „editio" (Tübingen 1987 ff.) einerseits, „Genesis" (Paris 1992 ff.) andererseits.
Literaturarchiv und Editionen könnte man, wenn auch etwas überspitzt, sogar sagen, daß es per se kein Apparatmodell gibt, so perfekt ein solches auch sein mag, das diesem Anspruch genügen könnte. Und zwar aus einem ganz einfachen Grund: die Zweidimensionalität einer Druckseite, so synoptisch komplett ein Apparat auch ist, preßt die Dimension der Zeit des Schreibens auf ein Nichts bzw. auf ein Chaos von Siglen zusammen, das trotz aller gegenteiligen Behauptungen ohne den Rekurs auf die Handschrift keine Einsicht in die genetischen Prozesse gewährt. Selbstverständlich ist die konkrete Situation des ITEM nicht so krass. Selbstverständlich wird auch bei uns teilweise ediert, denn Tfextgenetiker erweisen sich eben doch als sehr gute Kenner der Ifextgeschichte und der Textentstehung und werden deshalb regelmäßig fur ,,Pléiade"-Ausgaben oder als Herausgeber von Studienausgaben herangezogen. Nur ist diese Tätigkeit aus den erwähnten Gründen nicht das Zentrum unserer Forschung. In den letzten Jahren hat sich indessen ein Editionskonzept herausentwickelt, das zentral mit der „critique génétique" zu tun hat: die genetische Edition. Verstanden wird darunter die vollständige Herausgabe eines „avant-texte", so originaltreu wie möglich, mit dem Ziel, einem spezialisierten Publikum von Forschern die Zeugen einer Textgenese in philologisch aufbereiteter Form, d.h. transkribiert und in der realen Abfolge des Schreibprozesses, zugänglich zu machen. Der Idealfall bzw. der selten erfüllbare Wunschtraum bleibt der Paralleldruck von Faksimile und Transkription. Was diesen Publikationen hin und wieder zum Vorwurf gemacht wird, nämlich, sie verdienten eigentlich nicht, als „Editionen" bezeichnet zu werden, da sie ja nur Rohmaterial lieferten und die ganze Arbeit des Edierens dem Leser überließen, ist allerdings nicht ein Manko, sondern Absicht. Der genetische Kommentar sowie die Gesamtinterpretation sind Sache des jeweiligen Forschers, der mit seinem eigenen Blick und seinen jeweils verschiedenen theoretischen Voraussetzungen die Genese lesen, verstehen und interpretieren wird. Zwei verschiedene Formen genetischer Edition wurden bisher vorgeschlagen. Ich will sie jeweils durch ein Flaubert-Beispiel belegen. Je nach Schreibergewohnheiten kann man einerseits eine gewisse Phase der Genese durch das Gesamtwerk hindurch verfolgen und so z.B. alle überlieferten Arbeitsnotizhefte Flauberts in Form von reichlich kommentierten Transkriptionen der Öffentlichkeit zugänglich machen, die auf diese Weise einen direkten und globalen Einblick in die früheste Produktionsphase 55
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eines Autors erhält.5 Zum andern wurden vollständige Genesen gewisser Texte publiziert, in denen jeweils alle überlieferten Zeugen einer Genese in ihrer diachronischen Abfolge dargestellt werden; dies ist für zwei Erzählungen Flauberts, „Un Coeur simple" und „Hérodias", belegt.6 Ähnlich wie für historisch-kritische Ausgaben stellt sich allerdings auch hier die Frage nach dem Aufwand: Man bedenke, daß für die Genese einer in Taschenausgabe 30 Druckseiten umfassenden Erzählung immerhin 700 große Druckseiten benötigt werden, und dies ohne Paralleldruck und ohne das platzfressende Prinzip der diplomatischen Transkription. Man wird zu Recht fragen, wie dick dann wohl die Publikation einer Romangenese sein wird und wie solche Projekte volkswirtschaftlich zu rechtfertigen sind. Wie bei der kritischen Edition erweist sich das Prinzip als überzeugend für Kurzformen wie Gedichte, jedoch problematisch für umfangreichere Textsorten. Eine mögliche Lösung dieser Probleme sehe ich im Einsatz des Computers. Zum einen erlaubt er den Verzicht auf die kostspielige Herstellung des Drucktextes; zum zweiten bietet die Arbeit mit Disketten den unschätzbaren Vorteil einer permanenten Revision und Korrektur; zum dritten ermöglichen gewisse Computerprogramme, besonders die, welche, wie „HyperCard", auf dem Begriff des „Hypertext" fundieren, die gleichzeitige Darstellung verschiedener Phasen der Genese, indem sie diese in verschiedenen „Fenstern" auf dem Bildschirm simultan wiedergeben. Im ITEM sind zur Zeit zwei derartige Projekte in Arbeit, das eine an Flaubert-Handschriften zu „Hérodias", das andere an Joyce-Handschriften zu „Finnegans Wake". Der Hauptvorteil dieser neuen Medien liegt in der Kapazität der Speicherung, sowie im Reichtum der Reproduktionsmöglichkeiten. Je nach Belieben sind nicht nur Drucktexte, sondern auch Faksimiles, Transkriptionen, ja sogar, im Fall von Theater- und Operntexten, Stimme und Ton gleichzeitig abrufbar. Wenn dies auch noch etwas nach Zukunftsmusik klingt, so scheint mir dennoch, daß viele Probleme der Edition durch Computereinsatz in eine neue Phase eintreten. Nach dieser absichtlich etwas längeren Stellungnahme zu Fragen der 5
Gemeint ist folgende, von einem ITEM-Forscher hergestellte Ausgabe: Gustave Flaubert: Carnets de travail. Edition critique et génétique établie par Pierre-Marc de Biasi. Paris: Balland, 1988. 6 In der von Giovanni Bonaccorso geleiteten Reihe „Corpus Flaubertianum" wurden unter der Bezeichnung „édition diplomatique et génétique" die Großformatbände zu „Un Coeur simple" (Paris, Les Belles Lettres, 1983) und zum ersten Ifeil von „Hérodias" (Paris, Librairie Nizet, 1991) publiziert.
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Literaturarchiv
und Editionen
Edition will ich nun auf Beispiele institutioneller Zusammenarbeit des ITEM mit Literaturarchiven einerseits und universitärer Literaturwissenschaft andererseits eingehen.
3. Formen der Zusammenarbeit
mit Archiven
Diese soll am Beispiel der Bibliothèque Nationale aufgezeigt werden, die dem Kulturministerium untersteht, während das ITEM, wie überhaupt das CNRS insgesamt, dem Forschungsministerium untersteht. Wie erwähnt, gehen die ersten Anfänge des ITEM auf räumliche Koexistenz sowie auf intellektuelle Kollaboration zwischen Archiv und Forschung zurück. Dies fand 1977 eine materielle Bestätigung durch die Tatsache, daß ein Teil des ITEM, das bislang nur in der Ecole Normale Supérieure untergebracht war, in einem Gebäude der Bibliothèque Nationale beherbergt werden konnte. Genauso bestehen seit den Anfängen direkte und permanente Kontakte mit dem Personal der Handschriftenabteilung; sechs Konservatoren der Bibliothèque Nationale sind gleichzeitig ständige Mitarbeiter des ITEM, die einen als Spezialisten eines bestimmten Nachlasses (Proust, Valéry, Sartre), über den im ITEM geforscht wird, die anderen für generelle Fragen der institutionellen Zusammenarbeit. Nur auf dieser Basis lassen sich gewisse Forschungs- und Archivresultate erklären. Die Heine-Handschriften wären vermutlich nicht in der Bibliothèque Nationale, wenn sich nicht ein Forscher jahrelang mit den Problemen des Ankaufs befaßt hätte. Umgekehrt wäre das ITEM nicht denkbar, wenn es nicht die enge Zusammenarbeit mit der Bibliothèque Nationale gäbe. Hierzu einige Beispiele. Dank der systematischen Zusammenarbeit zwischen dem Leiter der Sartre-Gruppe im ITEM (Michel Contat), der lange Jahre noch mit Sartre persönlich in Kontakt stand, und der in der Bibliothek mit dem SartreNachlaß beauftragten Konservatorin (Mauricette Berne) können Fragen der Entdeckung und Erwerbung zusätzlicher Handschriften sowie deren Erschließung in der Bibliothek immer wieder erstaunlich gut und schnell geklärt werden. Ebenso ist es ein unschätzbarer Vorteil für diese Gruppe, direkt an den noch nicht gebundenen Originalhandschriften zu arbeiten. Dies ist auch der Fall für die Valéry-Grappe, welche an Ort und Stelle die von Valéry über 50 Jahre lang geführten und von den Erben 1972 der Bibliothèque Nationale geschenkten „Cahiers" im Hinblick auf eine gene57
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tische Edition entziffert, transkribiert und kommentiert.7 Ältere Nachlässe, wie die von Flaubert, Zola und Proust, deren Anordnung und Datierung durch die Bibliothek früher schon erstellt wurden, die aber wissenschaftlich von Forschern des ITEM bearbeitet werden, liegen in unserem Institut in Form von Mikrofilmen und Fotokopien vor, die auch auswärtigen Forschern zugänglich sind. Alle Gruppen des ITEM verfügen darüber hinaus über beachtliches Dokumentationsmaterial und reiche Sekundärliteratur, so daß der Forscher jeweils am selben Ort Archiv- und Forschungsmaterial in einem vorfindet. Insofern spielen das ITEM und die Bibliothèque Nationale füreinander eine äußerst wichtige Mittlerfunktion, die auf Komplementarität beruht. Ein weiteres Beipiel für diese Art gegenseitiger Ergänzung ist der Fall Walter Benjamin. Als 1981 in der Bibliothèque Nationale plötzlich in einer Handschriftenmappe von Georges Bataille Handschriften offensichtlich deutscher Provenienz entdeckt wurden, wandte sich die Leitung der Handschriftenabteilung direkt an zwei Germanisten des ITEM (Michel Espagne und Michael Werner), die das Material als zugleich dem Baudelaire-Buch und dem Projekt des „Passagen-Werks" zugehörig ausweisen und damit ein neues Licht auf Benjamins Spätwerk werfen konnten, wodurch hergebrachte Lehrmeinungen zu Benjamins sogenannter Montage- und Fragmenttechnik deutlich verunsichert wurden.8 Hinzu kommen schließlich noch zwei von vornherein gemeinsam konzipierte und realisierte Projekte. In beiden Fällen geht es um kodikologische Fragen. In den achtziger Jahren wurde im ITEM ein inzwischen in drei Sprachen vorliegendes „Beschreibungsmodell für neuere Handschriften" durch ein BN/CNRS-Forschungsprogramm finanziert. Zur Zeit noch in Arbeit befindet sich ein computergesteuertes Inventar von Wasserzeichen, die in modernen Handschriften der Bibliothèque Nationale belegt sind und sowohl in Form von Bild als auch mit dem entsprechenden Beschreibungstext verzeichnet werden. Bislang unterhält das ITEM nur mit der Bibliothèque Nationale derart breitgestreute Dauerkontakte, die jedoch in Zukunft noch viel mehr inten7
Fünf der geplanten zwölf Bände sind erschienen: Paul Valéry: Cahiers. Edition intégrale. Etablie, présentée et annotée sous la co-responsabilité de Nicole Celeyrette-Pietri et Judith Robinson-Valéry. Paris: Gallimard, 1987 sqq.; Rezension von Hans Zeller, vgl. Genesis, Nr. 2, Paris 1992. 8 Vgl. Michel Espagne und Michael Werner: Vom Passagen-Projekt zum „Baudelaire". Neue Handschriften zum Spätwerk Walter Benjamins. - In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 58 (Stuttgart 1984). H. 4, S. 593-657.
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Literaturarchiv und Editionen siviert werden sollten. Sporadischer sind Verbindungen mit der Bibliothèque Jacques Doucet, wo allerdings ebenso wichtige Nachlässe, vor allem für die Literatur des 20. Jahrhunderts, liegen, so z.B. ein Teil des ValéryNachlasses sowie die Nachlässe von André Gide und Francis Ponge, um nur einige Beispiele von Autoren zu nennen, mit deren Genese sich Forscher unseres Instituts befassen. - Weiterhin wurden Kontakte aufgenommen mit dem 1988 gegründeten „Institut de la Mémoire de l'édition contemporaine" (IMEC), das, wie sein Name besagt, hauptsächlich für Verlagsarchive zuständig ist, aber in der Zwischenzeit auch über einige wichtige Nachlässe zeitgenössischer Autoren verfügt (Céline, Camus, Genet, Guyotat, Beckett). Der Möglichkeiten für gemeinsame Projekte sind viele, auch über die Pariser Archive hinaus. Am dringendsten und interessantesten erscheint mir die Erstellung eines Katalogs, der, ähnlich wie das Berliner Bestandsverzeichnis oder das in England 1988 fertiggestellt „Location Register",9 alle literarischen französischen Handschriften nach Autoren, Werken und Aufbewahrungsorten verzeichnet.
4. Formen der Zusammenarbeit
mit der Universität
Genauso wie das Verhältnis des ITEM zu den Archiven erweist sich das Verhältnis zur Universität: mit ihr nicht identisch, und dennoch eng mit ihr vernetzt. Damit fließt indirekt ein drittes Ministerium in die institutionelle Struktur des ITEM ein, nämlich das Hochschulwesen.10 Auch diese Kontakte gehen auf unsere „Gründerjahre" zurück. Ohne die selbstlose Mitarbeit von ca. sechzig Literaturwissenschaftlern aus verschiedenen Fachbereichen von über zwanzig Universitäten (mit einem deutlichen Übergewicht des Pariser Hochschulwesens), denen gegenüber das CNRSPersonal (15 Forscher und 10 technische Mitarbeiter) sowieso in der Minderzahl ist, gäbe es das ITEM schlicht und einfach nicht, und wenn ich anfangs von einem institutionellen Sonderfall sprach, so gehört zu der Besonderheit eben auch, daß ein wichtiger Tfeil der Forschung von Leuten 9 Location Register of 20th Century English Literary Manuscripts and Letters. Vol. 1.2. London: British Library, 1988. Die Verzeichnisse für die anderen Jahrhunderte sind geplant. 10 Daß seit April 1992 Kultur und Unterricht in ein einziges Ministerium zusammengefaßt wurden, ist für Frankreich ein Ausnahmefall. Seit 1993 sind diese Ministerien wieder unabhängig voneinander; dagegen wurden Forschung und Hochschulwesen in ein Ministerium zusammengefaßt.
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Almuth Grésillon bestritten wird, die zwar als „enseignants-chercheurs", als Lehrer und Forscher, an einer Universität angestellt sind, die jedoch aus freier Wahl ihre Forschungen am ITEM ausführen. Zwei unserer Gruppen (Zola, Baudelaire) funktionieren sogar ausschließlich auf der Basis von derartiger Mitarbeit, ohne CNRS-Forscher. Ein wichtiges Verdienst dieser Hochschulkollegen ist auch, daß sie die offiziell sonst noch nicht auf den Lehrplänen stehende „critique génétique" in den Kursus des Literaturstudiums integrieren und somit dafür sorgen, daß für die „critique génétique" durch entsprechende Dissertationsthemen Nachwuchs herangebildet wird. Inzwischen existieren schon an sieben Universitäten Seminare zur Einführung in die genetische Forschung. Auch dies ist unerläßlich für eine Institution, die bisher nur dem CNRS untersteht und, institutionell gesehen, nicht organisch mit der akademischen Lehre verknüpft ist. Zwei aktuelle Beispiele seien kurz zitiert. Eine Studentin konnte in der Bibliothèque Nationale direkt an der Erschließung des Raymond-Roussel-Nachlasses beteiligt werden, der nach über fünfzigjährigem Dornröschenschlaf erst jüngst an seinen Bestimmungsort gelangt war; in dem Pariser Möbeldepot, wo er sich seit 1933 befand, hatte sich bis dahin niemand für den Koffer mit dem darin befindlichen Vermerk „Pour la Bibliothèque Nationale" interessiert ... Die Studentin hat inzwischen eine Dissertation zur Genese von Roussels „Impressions d'Afrique" in Arbeit. Eine ähnliche Dissertation entsteht über den 1991 dem IMEC zu Lebzeiten als Depot anvertrauten Nachlaß Pierre Guyotats; dabei werden die literaturwissenschaftlichen Aspekte von einem Universitätskollegen, die genetischen von einem ITEM-Forscher betreut: also auch hier existieren neue Komplementaritäten. Was ids Aufgabe ansteht: noch mehr Literaturwissenschaftler davon zu überzeugen, daß mit der „critique génétique" nicht eine Editionstechnik visiert wird, sondern ein neues Verständnis von Literatur und ein neues Verhältnis zu ihr: Literatur stets in actu, in nascendi, begriffen als ein nie abschließbarer Prozeß des Schreibens und Lesens zugleich. Dies impliziert auch, daß die Literaturkritik bereit ist, nach den Zeiten des Strukturalismus, der Rezeptionsästhetik, der Psychoanalyse, der Pragmatik und des Dekonstruktivismus die Stimme einer an Schreibprozessen orientierten Produktionsästhetik ernstzunehmen. Es gibt keinen literarischen Diskurs ohne die Vermittlung durch Universität und Medien.
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Literaturarchiv
und Editionen
5. Neue Archive, neue Fragen, neue Projekte Auch in Frankreich ist es an der Zeit, das Verhältnis zwischen Archiv, Forschung und literaturwissenschaftlicher Lehre zu konsolidieren. Die Tatsache, daß einerseits in einem auch in geistigen Dingen so modeträchtigen Land wie Frankreich zur Zeit in der Literaturtheorie eher Ebbe herrscht und daß andererseits die Zusammenhänge zwischen Literatur und Kultur von soziologischer Seite aufs neue reflektiert werden - man denke an das neue Buch von Pierre Bourdieu11 - und schließlich auch die Tatsache, daß in vielen Ländern und Kulturen das Problem der Bewahrung des literarischen Erbes überhaupt erst jetzt akut wird, all diese gleichwohl sehr heterogenen Fakten sind wie Zeichen eines Umbruchs in der Landschaft, in der sich Archivobjekte, Forschung und Literaturwissenschaft ansiedeln. Mehr denn je wird es notwendig sein, über sein eigenes institutionelles Feld hinaus Gesamtzusammenhänge ins Auge zu fassen. Daß im August 1992 in Sarajewo die Nationalbibliothek niedergebrannt ist, gibt in diesem Kontext genauso zu denken wie die Zerwürfnisse in Frankreich um den Bau der Bibliothèque de France ... Abschließend soll jedoch von einem eher ermutigenden Projekt die Rede sein. In Paris befindet sich der Hauptsitz eines 1984 lancierten, von der UNESCO getragenen und vom CNRS unterstützten Forschungsprogramms zur Edition lateinamerikanischer Literatur. Eine eigens dafür geschaffene Reihe,,Archivos", finanziert mit Mitteln der öffentlichen Forschung in Frankreich, Italien, Spanien, Portugal, Argentinien, Brasilien, Kolumbien und Mexiko, ist mit der kritischen Edition von 120 literarischen Werken aus 22 Ländern Lateinamerikas und der Karaïbik beauftragt. 30 dieser Bände sind bereits erschienen, darunter so wichtige Autoren wie z.B. Asturias, Clarice Lispector, Cortazar; die Ubersetzung ins Englische ist gesichert, die ins Französische und Arabische in der Verhandlung. Dasselbe Programm hat 1987 eine zweite wichtige Initiative ergriffen: Unterstützt von der UNESCO, veranlaßte es die Leiter der Nationalbibliotheken der acht oben genannten Länder, ein gemeinsames Protokoll zur Erhaltung, Erschließung und Erforschung der literarischen Handschriften des 19. und 20. Jahrhunderts zu unterschreiben. Seit einigen Monaten hat das CNRS-Programm, das die Editionsreihe sowie auch die erwähnte Resolution initiierte, sich teilweise mit dem ITEM assoziiert. 11 Bourdieu, Pierre: Les Règles de l'art. Genèse et structure du champ littéraire. Paris: Seuil, 1992.
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Almuth
Grésillon
Die Ursache dieser Assoziation ist doppelt: Einerseits steht die Reihe ,Archivos", was den genetischen Teil der Bände betrifft, seit Beginn unter der intellektuellen Schirmherrschaft der „critique génétique". Ebenso geht der Aufruf zur Rettung und Erhaltung literarischer Handschriften indirekt darauf zurück, daß die Arbeit des ITEM, zusammen mit der Bibliothèque Nationale, eine wissenschaftliche und kulturelle Aufwertung des schriftlichen Erbes nach sich zog. Zum andern unterstützt die Gruppe „Archivos" als Mitverleger die neue Zeitschrift „Genesis", die das ITEM 1992 zum Zweck der besseren Verbreitung textgenetischer Forschungen geschaffen hat und die damit ausdrücklich und von vornherein den nur nationalen Rahmen sprengt: Die Nummer 3 (1993) hat eine unveröffentlichte Handschrift von Asturias „El Arbol de la Cruz" veröffentlicht. So gehen fernliegende Archivobjekte und Methoden zu ihrer Erforschung neue, unerwartete Bündnisse ein. Das Beispiel des „Archivos"-Programms scheint zur Genüge zu beweisen, daß es heute gilt, nicht nur in nationalen Strukturen zu denken, sondern die Frage .Archiv und Forschung" über Europa hinaus auch für andere Kontinente mit ihren jeweils spezifischen kulturellen, ökonomischen und politischen Gegebenheiten zu formulieren und, wo möglich, mit neuen Ideen und Taten zu beantworten.
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Edition und Literaturarchiv
Winfried Woesler
Zum Verhältnis von Editionen und Archiven: Probleme und Perspektiven Durch den verstärkten Informationsaustausch der Editoren, die sich in der „Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition" (im folgenden: AGE) zusammengeschlossen haben, ist die Situation der Editoren außerhalb von Archiven deutlicher geworden. Bei allem Positiven gibt es auch Probleme im Verhältnis von Edition und Archiv, was die Entwicklung einer gemeinsamen Perspektive nahelegt. Definitionsfragen seien einmal leicht genommen: ein (Literatur-)Archiv ist im folgenden eine Institution, die die Verantwortung für zumindest einen literarisch interessanten Nachlaß hat, ein Archivar derjenige, der für ihn verantwortlich ist. Die Bezeichnung Editor oder Archivar nennt nur Forschungsschwerpunkte, die sehr wohl in einer Person vereinigt sein können. Es soll im folgenden wesentlich um Handschriften gehen, verzichtet wird auf buchkundliche und bibliographische Aspekte. Zwischen der Institution Literaturarchiv auf der einen Seite und der Universität auf der anderen könnte die wissenschaftliche Edition - um ein Bild Norbert Oellers' aufzunehmen - „Brückenfunktion" haben.1 Gegenüber den Naturwissenschaften und den „produktiven" Fächern haben die Geisteswissenschaften es schwer, deren Organisationen sponsert kein Industriezweig. Damit es für die Editoren überhaupt eine Interessenvertretung gibt, haben sich neben den nationalen Fachverbänden Vereinigungen gebildet. Zunächst hatten sich 1973 die philosophischen Editoren zusammengeschlossen, 1985 die germanistischen Editoren, 1992 die Musikeditoren. Es ist jetzt ein guter Zeitpunkt, gemeinsam zu überlegen, welche Veränderungen, z.B. technischer wie forschungsorganisatorischer 1
Siehe im vorliegenden Band S. 18-19.
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Winfried Woesler Art, zu erwarten sind und wo Kooperation möglich ist. Archivkundler, Bibliographen und Editionswissenschaftler erfahren vielleicht eher als andere Literaturwissenschaftler, daß ihre Arbeit nicht national-sprachlich gebunden, sondern international ist. Da das Sammeln und Abgeben von Informationen zunehmend an elektronische Systeme gebunden ist, haben diese Spezialisten schon früh die Notwendigkeit gespürt, international gültige Standardisierungen einzuführen, was freilich bisher nur langsam realisiert wird.
I. Editionen in oder an den Universitäten sind im Interesse der Literaturwissenschaft wünschenswert. Dies formulieren heißt zugleich sehen, daß es an den Hochschulen kaum mehr Platz für Editionen gibt. Das Humboldtsche Universitätsideal der Einheit von Forschung und Lehre scheint zunehmend auch in den Geisteswissenschaften nicht mehr realisierbar. Dazu einige Vorbemerkungen: Die Erarbeitung von Editionen ist Tfeil einer Grundlagenforschung, die oft länger als ein Wissenschaftlerleben währt. Auch darum ist eine verstärkte Tendenz zu beobachten, die editorischen Langfristunternehmen an Institutionen außerhalb der Universitäten anzusiedeln. So sind die philosophischen Editionen in den vergangenen Jahren überwiegend ins Akademieprogramm aufgenommen wurden. Und auch bei den germanistischen Editionen verstärkt sich die Ttendenz bzw. die Notwendigkeit, nach einer Anfangsförderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft in die Obhut des betreffenden Bundeslandes überzuwechseln. Dafür spricht insbesondere, daß Editionen auf Kontinuität angelegt sein müssen und darum spätestens nach Abschluß der Anlaufphase auf festangestellte Mitarbeiter angewiesen sind. Weil aber die wissenschaftlichen Mitarbeiter in der Regel nur 5 Jahre auf Drittmittelstellen bleiben, bringen die lange Einarbeitungszeit und die private Notwendigkeit, sich rechtzeitig nach einer anderen Beschäftigung umzusehen, Unruhe in die Projekte. Jedem Projektleiter ist daran gelegen, gute Mitarbeiter auf befristeten Stellen zu behalten, andererseits verdient er deren Vertrauen nur, wenn er alles tut, um ein Wegbewerben auf Dauerstellen außerhalb zu unterstützen. Aber auch Institutionen mit Dauermitarbeitern haben ihre Probleme: deren Energie kann nach Jahrzehnten geringer sein als die von 64
Verhältnis Editionen und Archive Jüngeren, die noch hoffen, sich mit seiner Editionsarbeit weiterzuqualifizieren. Erfreulicherweise haben sich in den letzten Jahren einige Grundbedingungen für Editionen an der Universität ins Positive gewandelt. Fast überall ist es möglich, mit Tfeilen einer historisch-kritischen Ausgabe bzw. mit einem Band derselben zu promovieren. Im Umfeld der Droste-Ausgabe z.B. sind 10 Dissertationen geschrieben worden, allerdings dauerten sie längere Zeit: unter 4 Jahren ist auch ein gut vorbereiteter Band nicht fertigzustellen. Ein Projektleiter, der Studenten Bände einer Edition anvertraut, lädt die Verantwortung auf sich zu sorgen, daß kein Raubbau an Nachwuchskräften getrieben wird. Nach meinem Uberblick über die germanistischen Editionen haben die Projektleiter dieser Verantwortung nicht immer gerecht werden können. Als weitere Verbesserung ist zu erwähnen, daß die Zahl der Editionsprojekte gestiegen ist und sich die Editionswissenschaft, ohne ihren Charakter als Hilfswissenschaft zu verändern, als Fach etabliert hat. An vielen Universitäten, außerhalb Deutschlands besonders in Amsterdam2 und Basel 3 , werden entsprechende Seminare angeboten. Durch den Osnabrücker Aufbaustudiengang „Editionswissenschaft"4 werden Studenten mit gutem Abschlußexamen auf eine editorische Tätigkeit vorbereitet, so daß die Einarbeitungszeit in die Projekte abgekürzt werden kann. Nach der Gründung der AGE ist der Kontakt unter den Editionen enger und scheint der Ubergang von einem Projekt zum anderen leichter geworden zu sein. Nach diesen Vorbemerkungen nun zu den grundsätzlichen Erwägungen, weshalb auch an und in der Universität Editionen angesiedelt bleiben sollten. 1. Selbst dort, wo die Germanistik werkimmanente Interpretation anstrebt oder sich als Teil der Allgemeinen Literaturwissenschaft oder der Anthropologie versteht, bedarf sie einer Basis historischer Grundlagenforschung. Der Ideologieanfälligkeit des Faches kann ein auf Quellenerschlie-
2 Dazu siehe den Beitrag von H.T.M. van Vliet: Editionswissenschaft in den Niederlanden. - In: editio, 8 (Tübingen 1994). S. 1-21. 3 Siehe Annemarie Pieper: Akzeptanzbarrieren für philosophische Editionen. - ^Philosophische Editionen. Erwartungen an sie - Wirkungen durch sie. Hrsg. von Hans Gerhard Senger. Tübingen 1994. S. 51-65 (s. S. 61). (Beihefte zu „editio", 6) 4 Siehe hierzu: Winfried Woesler: Aufbaustudiengang Editionswissenschaft an der Universität Osnabrück. - In: Jahrbuch für internationale Germanistik, 23 (Bern [u.a.] 1991). H. 1,S. 111-114.
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Winfried Woesler ßung und -auswertung beruhendes, stärker historisch orientiertes Selbstverständnis entgegenwirken. Dadurch, daß Hochschullehrer diese Arbeit leisten, werden in der Lehre Studenten früh mit dieser Grundlagenforschungvertraut gemacht. So entgegenkommend die Literaturarchive auch sind, wenn Studentengruppen kommen: das breite Heranführen von Studenten an Quellen, die in den Forschungsstellen an der Universität geschieht, würde die großen Archive überlasten, abgesehen von den Kosten, die für Studenten entstehen, wenn sie diesen ersten Zugang zur Grundlagenforschung nicht vor Ort erhalten können. 2. Die wissenschaftliche Innovation geht nach wie vor überwiegend von den Universitäten aus. Und ein sich wandelndes Verständnis von dem, was ein Ifext, was Literatur ist, wie literarische Qualität zustande kommt, wie sie wirkt und wie historische oder zeitgenössische Literatur innerhalb der Kulturgemeinschaft funktionieren, wie man zur nationalen Kulturtradition steht, all dies, was sich jede Generation neu erarbeiten und werten muß, hat Einfluß auf die aktuellen Editionsprojekte, auf deren Texte und Kommentare. Sicher krempelt die jeweils vorherrschende Literaturtheorie die laufenden Editionsprojekte nicht um, aber die Editoren bleiben von der „herrschenden" Theorie nicht unbeeinflußt, denn auch die beste historisch-kritische Edition ist, wie es zuerst Klaus Kanzog in dieser Deutlichkeit betont hat,5 nicht für Jahrhunderte geschaffen, sie bleibt ein Dokument ihrer Zeit und derer, die sie gemacht haben. 3. Die Regionalisierung ist eine europäische Bewegung von Spanien bis in die Länder der ehemaligen Sowjetunion. Uberall entstehen Literaturhäuser, die der Gegenwartsliteratur dienen wollen, oft in Verbindung mit Archiven. Deren archivalisch-wissenschaftliches Niveau ist unterschiedlich, insbesondere wenn sie unter der Leitung eines Autors stehen. Hier sind zunächst die regionalen Landesuniversitäten gefragt. Diese sind durchweg zur Zusammenarbeit bereit, zumal die Hochschulforschung ebenfalls Symptom der allgemeinen Regionalisierungsbewegung - sich verstärkt regionalen Objekten zugewandt hat. Damit diese regionalen Archive effizient auch für Literarhistoriker sein können, bedürfen sie des Kontakts zu einer nahen Universität. Auch die Mitarbeiter dieser Archive sind an einer Kooperation, z.B. in Form von Lehraufträgen, interessiert. Unter der Voraussetzung, daß die Urheberrechtsfragen geklärt werden
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Prolegomena zu einer historisch-kritischen Ausgabe der Werke Heinrich von Kleists. Theorie und Praxis einer modernen Klassiker-Edition. München 1970.
Verhältnis Editionen und Archive können, werden auch Hochschullehrer und wissenschaftliche Mitarbeiter zunehmend diese literarischen Nachlässe auswerten und z.T. edieren.
II. Die Zahl der Literaturarchive und deren editorischer Projekte wachsen. Die erwähnte Zunahme neuer Regionalarchive, die sich oft auch editorische Aufgaben suchen - das an vier Nationalliteraturen beteiligte Schweizerische Literaturarchiv sei hier ausgenommen - , mag man bedauern, denn große Archive, die mehrere Sammlungen einer Sprache aufbewahren, sind besonders für den ausländischen Benutzer von Vorteil. Trotzdem ist diese Tendenz zur Regionalisierung nicht aufzuhalten, sie wird bei der sich abzeichnenden verstärkten Ausbildung europäischer politischer Strukturen zunehmen. Es ist eine genuine Aufgabe von großen Literaturarchiven, historisch-kritische Editionen zu beherbergen oder zu verantworten, denn diese Editionen, die länger als ein Forscherleben dauern, bedürfen einer soliden Basis. Besonders dadurch, daß die großen Literaturarchive hochrangige Editionen durchführen, oft mit Hochschulangehörigen als Bearbeitern, bleiben sie nicht nur an der Forschungsentwicklung beteiligt, sondern bilden selbst einen Kristallisationspunkt. Die Universitätsgermanisten können sich im Vergleich mit anderen geisteswissenschaftlichen Fächern glücklich schätzen, hier auch einen organisatorischen überuniversitären Rückhalt zu finden, nachdem Versuche, ein oder mehrere entsprechende Max-Planck-Institute zu gründen, gescheitert sind. Was aus dem jüngsten Vorschlag des Germanistenverbandes zur Einrichtung eines entsprechenden übergreifenden außeruniversitären Forschungsinstituts wird, bleibt abzuwarten. Vielleicht brauchen wir diese Institute in unserer föderativ strukturierten Kulturlandschaft auch nicht, solange u.a. die großen Literaturarchive mit den von ihnen betreuten Editionen die Durchführung langfristiger Grundlagenforschung und die wissenschaftliche Kommunikation gewährleisten helfen.
III. Die Editoren außerhalb der Literaturarchive klagen zunehmend über mangelnde Unterstützung durch die Archive. Es erscheint den (Literatur-)Archiven keineswegs selbstverständlich, daß die wirtschaftlich schlechter gestellten Editionsprojekte an Universitäten 67
Winfried Woesler und auch die dort lehrenden Editoren von der Unterstützung der Archive abhängig sind. Gerade als Sprecher der AGE sehe ich, daß sich hier Konfliktpotential angehäuft hat. Wer Editionen an den Universitäten weiterhin für wünschenswert hält, wird auch verstehen, daß dieser kritische Punkt im Hinblick auf die künftige Zusammenarbeit hier erwähnt wird.
1.
Editionserlaubnis
Das Hauptproblem für die Editoren außerhalb eines Archivs ist es, an die Bestände heranzukommen und zuverlässige Kopien zu erhalten. Es entsteht gelegentlich der Eindruck, daß ein öffentliches Archiv das, was in ihm lagert, als Eigentum, über dessen Edition es zu befinden oder doch ein entscheidendes Wort mitzureden hat, betrachtet. Nicht selten werden Editoren von außerhalb abgewiesen. Auf die einmal an den Leiter eines großen Archivs gerichtete Frage, ob einige relativ unbedeutende Briefe publiziert werden dürften, lautete die Antwort, dies sei grundsätzlich möglich, falls nicht eigene Publikationspläne gestört würden: leider aber beständen für alle eingelagerten Archivalien eigene Publikationsabsichten.6 Wenn wirklich Eigenprojekte bestehen, haben selbstverständlich die Mitarbeiter eines Archivs Vorrang, aber Eigenbedarf wird auch dann angemeldet, wenn auf Jahrzehnte nicht mit einer Realisierung des Editionsprojektes zu rechnen ist. Hier bedarf es mehr Verständnis für diesbezügliche Wünsche von Editoren außerhalb des Archivs.
2. Kopiermöglichkeit Kein Editionsprojekt kann ohne Forschungsstelle leben: es ist eine unerläßliche Grundforderung, daß dort die Kopien aller Handschriften und 6
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Ein ähnliches Beispiel aus jüngster Vergangenheit: Ein Doktorand, der eine Briefedition vorbereitete, erhielt von der aufbewahrenden Institution am 21. 08. 1992 folgende Antwort: „Sehr geehrter Herr R , so ist das nun einmal - in gelangen beinahe alle Anfragen zu an das Museum . Sie hatten ja auch schon hier nachgefragt und um Auskunft zu den -Briefen nachgesucht. Angaben dazu finden Sie in der einschlägigen Literatur. Für das Museum sollen Sie wissen: Da wir gegenwärtig selbst umfangreiche Projekte im Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Bearbeitung unseres eigenen Bestandes verfolgen, steht Ihnen das Material nicht zur Verfügung. Mit freundlichen Grüßen ." Eine solche Antwort ist heute kein Einzelfall.
Verhältnis Editionen und Archive Drucke eines Autors gesammelt werden. Ein Beispiel: Das Arbeitsmanuskript von Heines „Wintermärchen" ist von der Familie in viele Schnipsel zerschnitten worden, um Heine-Verehrern Reliquien schenken zu können. Diese sind heute über die ganze Welt, von St. Petersburg bis in die USA, verstreut.7 An mehreren Stellen läßt sich das Manuskript nur rekonstruieren bzw. können endgültige Verluste festgestellt werden, wenn man die Kopien aneinanderlegen kann. Zuordnungen und Datierungen gelingen manchmal schon, wenn der Editor, dem die Reisemittel fehlen, anhand von Fotokopien Hypothesen entwickeln kann. Grundsätzlich sperren sich Archive lange oder ganz, wenn sie nur etwas umfangreiche Bestände verfilmen sollen. Es liegt nämlich nicht - das wird unmißverständlich formuliert - im Interesse von Archiven, die auf steigende Benutzerzahlen hinweisen wollen, daß an anderer Stelle - z.B. bei der Forschungsstelle einer an einer Universität angesiedelten Edition - umfangreiche Kopienarchive entstehen. Aus der Sicht der Editoren ist dies - wie gesagt - unerläßlich, und sie sind deshalb auch gern bereit, mit den Eigentümern entsprechende Verträge, die z.B. eine Weitergabe an Dritte verbieten, zu schließen. Fatal ist es, wenn Archive Deposita aufnehmen und in den Verträgen Kopierverbote akzeptieren oder gar hineinschreiben lassen. Privatbesitzer mögen oft Käuze sein, sie lassen sich aber meist durch Freunde bewegen, vernünftigen Bitten von Editoren zu entsprechen. Bei Archiven hat es der Editor u.U. schwerer. Ein Beispiel: Im Umfeld einer historisch-kritischen Ausgabe wurde ein wichtiger Kontaktnachlaß von der Familie aufgeteilt und zur einen Hälfte in ein Museum, zur anderen an ein Archiv als Deposit gegeben. Nur in einen der beiden Deposit-Verträge, und zwar den des Archivs, wurde ein Kopierverbot hereingenommen. Die Entwicklung geht, wie wir wissen, in eine andere Richtung: Technisch ist es schon heute möglich, und im Laufe des technischen Fortschritts wird es qualitativ immer anspruchsvoller möglich sein, daß elektronisch Handschriftenkopien angefordert und übermittelt werden.
3. Kostenanstieg Wenn Editionen in oder an der Universität wünschenswert bleiben, darf 7 Siehe den Abschnitt „Uberlieferung" in dem von W. Woesler bearbeiteten Bd. IV der von Manfred Windfuhr herausgegebenen Düsseldorfer Heine-Ausgabe, Hamburg 1978, S. 1011-1022.
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Winfried Woesler man die Augen nicht vor der Gefahr verschließen, daß bei steigenden Kosten und Sachmittelkürzungen deren Forschungsmöglichkeiten eingeschränkt werden. Darum hier der Appell an die Archive, den Editionen zu helfen, Kosten zu sparen. 3.1. Kosten für auswärtige
Benutzer
Editionen außerhalb von Archiven können in der Regel Kosten für Archivreisen von Editoren nur noch teilweise erstatten. Dankbar wären Editoren von außerhalb natürlich für großzügige Arbeitsbedingungen. Es geht nicht an, daß Archive eine ein bis zweistündige Mittagspause den Benutzern auferlegen. Es sollte auch für weit angereiste Editoren, deren Zuverlässigkeit erprobt ist, in wichtigen Fällen eine Arbeitsmöglichkeit über das Wochenende geschaffen werden. Die Verweigerung von Kopien führt nicht nur zu höheren Reisekosten, auch die Qualität der edierten Texte nimmt ab. Wenn im Normalfall ein Brief von einer Kopie transkribiert und z.B. dreimal kollationiert wurde, kann eine einmalige zusätzliche Kollation des Originals ausreichen. Bei Kopierverweigerung dürfte es aus Kostengründen neben der ausschließlichen Transkription vom Original durch den Editor allenfalls noch zu einer zweiten kontrollierenden Autopsie durch den Redakteur kommen, daher wächst die Zahl der Verlesungen und Versehen bei der Edition der betreffenden Texte. An die Archive sei darum der Appell gerichtet, jetzt, d.h. vor Anbruch des elektronischen „Paradieses", mehr als bisher zu prüfen, Bestände für eine befristete Zeit, z.B. an die Handschriftenabteilung einer Universitätsbibliothek, auszuleihen. So würde erheblich gespart und die Textqualität der Ausgaben verbessert. Kopien sollten stets - z.B. gegen die vertragliche Zusicherung der Nichtweitergabe und der Rückgabe - zugestanden werden. 3.2. Kosten für Kopien Den meisten Archiven ist zu danken, daß sie die Kopierkosten in der Regel niedrighalten, doch bahnt sich hier eine Veränderung an.8 Daß inzwischen Bibliotheken bei älteren Buchbeständen eigene Sicherheitsverfilmungen auf Kosten von Forschungsstellen mit Editionsprojekten vornehmen, 8 Angesichts immer knapper werdender Haushaltsmittel wird allerdings zunehmend versucht, den Archivbenutzer über Gebühr zu belasten: 1993 verlangte man im Hessischen Staatsarchiv für die Anfertigung und Zusendung der normalen Papierkopie einer Seite DM 58,-.
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Verhältnis Editionen und Archive schwächt ebenfalls die Editionen. Wer heute im Hinblick auf eine Edition eine Forschungsstelle im Bereich des 18. Jahrhunderts aufbauen will, muß feststellen, daß die für die Herstellung der Mikrofìches verlangten Gelder kaum mehr aufzubringen sind. 3.3. Kosten für
Publikationserlaubnis
Das „Büro für Urheberrechtsfragen" in der DDR war bei der Erlaubniserteilung für die Abbildung eines Faksimiles mit Gebühren nicht gerade zimperlich. Doch heute sind, solange mit wissenschaftlichen Publikationen kein wirtschaftlich relevantes Ergebnis erzielt wird, die meisten Archive großzügig. Andererseits ist es mehr als verständlich, daß die östereichische Nationalbibliothek auch finanziell beteiligt sein will, wenn der Rowohlt-Verlag auf einer CD-ROM Musils Nachlaß zum „Mann ohne Eigenschaften" vermarktet. Daß es hier allerdings in Zukunft zu Interessenkonflikten kommen kann, ist vorauszusehen. 3.4. Versöhnliche
Zwischenbemerkung
Bei der Aufzählung dieser Sorgen und Beschwerden, die die Archive ernst nehmen sollten, darf es hier nicht bleiben. Ein gut erschlossenes Archiv, z.B. durch Findbücher und Karteien, und ein Archivar, der seine Bestände kennt, ersparen den Editionen viel Zeit. Der Editor kann Kontakt-Nachlässe seines Autors selten selbst erschließen und sich allenfalls in eine beschränkte Zahl von Archivalien einarbeiten, dabei ist ihm der Überblick des Archivars eine unerläßliche Hilfe. Wer hat nicht erfahren, daß aufwendige Recherchen überflüssig wurden, nachdem er einen Archivar um Auskunft gebeten hatte. Viele Editoren können Loblieder auf Archivare singen, die weit mehr, als es ihr Dienst verlangt, tun, um Anfragen zu beantworten oder um auswärtige Benutzer betreuen.9
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So kam der Referent einmal an eine berühmte Bibliothek, die ihm zuvor bereits die Fotografie eines Codex aus dem 13. Jahrhundert geschickt hatte, um abschließend im Original die Rasuren zu überprüfen. Er hatte sich nur recht allgemein „für den Sommer" angemeldet, aber die Bibliothek hatte, als er eintraf, Sommerpause. Trotz ihres Urlaubs ließ sich die Direktorin telefonisch leicht bewegen, am nächsten Tag von ihrem Landsitz in die geschlossene Bibliothek zu kommen. Sie händigte ihm, nach einigen prüfenden Fragen, den Codex aus, den er dann in einem Lesekabinett, nur ganz selten vom Hausmeister kontrolliert, eine Woche lang auswerten konnte.
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Winfried Woesler IV. Die Aufgaben von Archiven und Editionen sind einige sollten in Kooperation gelöst werden.
unterschiedlich,
1. Sicherung 1.1. Ankauf Ein Autor, dem eine historisch-kritische Edition gewidmet wird, hat hervorragende Bedeutung. Diese rechtfertigt, daß zumindest ein Archiv (eine Bibliothek) sich zuständig fühlt, seinen Nachlaß zu erwerben bzw. zu ergänzen. Die Archive werden zeitlich meistens viel eher als die Editoren gefragt, wenn es gilt, einen Nachlaß zu sichern. Die Archive müssen aber auch mehr Quellenmaterial sichern, als ediert werden kann, müssen auf Verdacht etwas in Obhut nehmen, was später vielleicht niemanden, erst recht keinen Editor, interessiert. Aber - hier liegt ihre große kulturpolitische Verantwortung - das, was sie nicht sichern, steht, wenn es sich nicht um Adelsfamilien handelt, später kaum noch einem Editor zur Verfügung. 1.2.
Zukauf
Hier besonders ist Zusammenarbeit nötig. Die Editionen verfügen über keine eigenen Mittel wie die Archive, aber hören nicht selten eher als diese, wenn einzelne Handschriften aus Privatbesitz verkauft werden sollen. Die Editoren werden häufig von Privatbesitzern wie von Auktionshäusern um Schätzungen und Expertisen gebeten, die auch den Archiven kostenlos zur Verfügung stehen sollten. Diese Arbeitsteilung ist vernünftig: die Editoren beobachten die „Szene", informieren die Archive, und diese werden tätig. Es ist selten, kommt inzwischen aber ausnahmsweise vor, daß Wissenschaftler Autographen, die den Archiven zu teuer sind, ankaufen, damit ihre editorische Arbeit nicht gefährdet wird. Das Einwerben von Spenden verstehen Archive besser. Auch wenn die Editoren vermittelnd tätig werden, müssen sie, falls sie öffentliche Mittel „locker machen", schließlich doch eine Institution benennen, welche das Autograph übernimmt. 1.3. Materielle
Sicherung
Ein Archiv muß die Archivalien gegen Diebstahl schützen, sachgemäß aufbewahren und - wenn Verfall droht - restaurieren. Vor dem Restaurieren sollten Editoren gehört werden, z.B. ehe ein Überzug Bleistiftspuren 72
Verhältnis Editionen und Archive unlesbar macht oder ein Konservierungsmittel verwandt wird, das Tintenzüge auslaufen läßt. Ein Editor sollte vor dem Konservieren die Möglichkeit zur Papierbeschreibung, z.B. der Feststellung von Dicke, Farbe, Qualität erhalten. Immer noch beschneidet eine große Institution im Ausland Nachlaßblätter, um sie zu binden und damit besser vor Diebstahl zu schützen. Zur materiellen Sicherung kann eine Einschränkung der Benutzungserlaubnis gehören, die durch Faksimiles und Rohtranskriptionen gemildert werden kann, dem wissenschaftlichen Editor, der begründen kann, daß allein von der Autopsie Neues bzw. die Klärung einer Frage zu erwarten ist, sollte diese, auch wenn er sich möglicherweise irrt, nicht verweigert werden.
2. Ordnen Jedem Ordnen eines Nachlasses, der in einem Archiv anfällt, sollte sicherheitshalber die Beschreibung der vorgefundenen Ordnung vorausgehen, damit nicht Informationen verloren gehen. Freilich kann dieses Wunschziel oft angesichts der besonderen Unordnung angelieferter Nachlässe nicht erreicht werden. Der Editor wünscht, daß möglichst die Ordnung des Nachlasses, die ihm der Autor gegeben hat, beibehalten oder zumindest nicht spurlos aufgelöst wird. Sowohl in den Aufgabenbereich des Archives als auch des Editors gehört es, vorgefundene Ordnungen, z.B. auf Authentizität, zu überprüfen. Editor und Archivar sind daran interessiert zu wissen, was aus dem Nachlaß nach dem Tbde herausgelöst oder vielleicht vernichtet worden ist. Den Editor interessiert darüber hinaus mehr als den Archivar, welche ursprünglichen Ordnungen der Autor selbst aufgelöst und was er selbst aus seinen Handschriften herausgenommen und vernichtet hat, damit es z.B. nicht im Nachlaß verblieb.
3. Erschließung Für Editionen ist es wichtig, daß die Archive die ihnen anvertrauten Nachlässe erschließen, indem sie das Material zitierfahig machen: das Mindeste ist ein Findbuch, eine Liste etwas mehr, das Optimum ein Katalog. Nur aus der engen Zusammenarbeit zwischen Archiv und Editor kann eine Regestausgabe hervorgehen, die zugleich als Findbuch dient. 73
Winfried
Woesler
Insbesondere sollte, worauf mehrfach hingewiesen wurde, auf nicht erwartete Funde in einem Nachlaß aufmerksam gemacht werden. Im Bereich der ersten Nachlaßerfassung wird es bald die größten Veränderungen geben. Einen Eindruck davon konnten Editoren bei der letzten Tagung der AGE in der Universitätsbibliothek Hamburg gewinnen, wo Nachlässe unmittelbar mit Hilfe des Datenbank-Systems „allegro" erfaßt werden. Für Editoren, die ja stets Kontakt-Nachlässe konsultieren müssen, wäre es hilfreich, wenn sie schließlich die entsprechenden elektronischen Dateien an ihrem PC „on-line" abfragen können. Die erste Beschreibung der Handschriften durch den Archivar, der bestrebt ist, den Befund richtig mitzuteilen, sieht natürlich anders aus als die durch den spezialisierten Editor, der aus dem Befund im Hinblick auf ein Werk entstehungsgeschichtliche Schlußfolgerungen zieht. In Weimar sind von Gerhard Schmid von archivarischer Seite Beschreibungsmodelle realisiert worden, die auch inhaltliche Fragen des Editors berücksichtigen. 10 Wie die Beschreibung aus editorischer Perspektive aussehen könnte, hat Bodo Plachta in seiner Publikation zum handschriftlichen Nachlaß der Annette von Droste-Hülshoff gezeigt." Vielleicht könnte man auch hier noch einen Schritt weitergehen, indem man verzeichnet, in welcher Entstehungsphase eines Werkes oder - falls sich z.B. mehrere Gedichte auf einem Blatt befinden - zu welchen Daten überhaupt ein Blatt beschrieben wurde: aber dies setzt nicht nur die archivarische Verzeichnung, sondern bereits den Abschluß der entstehungsgeschichtlichen Untersuchungen voraus.
4.
Identifikation
Das Ordnen und Erschließen ergibt die Identifizierung des einzelnen Dokuments; hier fällt die Arbeit von Editor und Archivar zusammen. Beide interessiert etwa, ob ein Brief auseinandergerissen ist und an verschiedenen Stellen aufbewahrt wird, dies muß abfragbar dokumentiert werden. Häufig erweisen sich zunächst selbständig erscheinende Manuskripte mit Exzerpten, tagebuchähnlichen Aufzeichnungen u.ä. später auch als Vorstufen eines oder mehrerer Werke. An einer solchen, die werkbezogene 10 Inventare des Goethe- und Schillerarchivs. Bd. 1. Schillerbestand. Redaktor: Gerhard Schmid. Weimar 1989. 11 Bodo Plachta: Der handschriftliche Nachlaß der Annette von Droste-Hülshoff. (Arbeiten zur Editionswissenschaft 1), Bern [u.a.] 1988.
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Verhältnis Editionen und Archive Zuordnung ermöglichenden Indentifizierung sind Editor und Archivar gleich interessiert, d.h. solche Beobachtungen wird in der Regel nur ein Archivar machen, der mit editorischem Blick seine Archivalien sichtet. So hat etwa Gerhard Seidel für Brechts „Deutsche Kriegsfibel 36" herausgefunden, daß zunächst getrennt verzeichnete Texte im Nachlaß als zusammengehörig zu betrachten sind.12 Im Hauptmann-Nachlaß wird eine Kladde aufbewahrt, aus der zunächst hervorgeht, wie „Hanneies Himmelfahrt" entstanden ist und woraus sich ableiten läßt, wie die erhaltenen Handschriften zu ordnen sind.13 Der Editor, der reist, um Entstehungsfragen zu klären, hat natürlich ganz andere Möglichkeiten als der Archivar vor Ort, der einen Handschriftenwust zu erschließen versucht. Die Bibliothèque Nationale in Paris hatte z.B. die Absicht, Heines Arbeitsmanuskripte des „Atta Troll" chronologisch zu ordnen und entsprechend zu binden. Bestimmte Arbeitsmanuskripte, die man als früheste Arbeitsstufen ansah, müssen - nach späteren Recherchen u.a. in der New Yorker Pierpont-Morgan-Libraiy, zu denen die Bearbeiter bzw. Ratgeber der Bibliothèque Nationale natürlich keine Gelegenheit hatten - als nachträgliche Überarbeitung des Druckes, also rund sieben Jahre später als datiert angenommen werden. Das, was die Bibliothèque Nationale als früheste Entwürfe eingeordnet hat, sind in Wirklichkeit letzte, nicht mehr ausgeführte Verbesserungsversuche des bereits erfolgten Buchdruckes.
V. Die wissenschaftliche und technische Kooperation zwischen Archiven und Editionen außerhalb kann verbessert werden. Die Forschungsstelle einer Edition außerhalb der Archive ist auf die Bibliothek vor Ort angewiesen, insbesondere beim Aufbau der Spezialbibliothek. Hier sammelt sich auch infolge der Kopienarchivierung, der Transkriptionen, der Spezialbibliothek, der Erfassung von Umkreismaterialien, der Karteien, Indices, Arbeitsmaterialien usw. und nicht zuletzt infolge des engen Kontaktes mit Spezialisten erhebliches Wissen an. Es 12 Gerhard Seidel: Zwei Notizblöcke Elisabeth Hauptmanns im Nachlaß Bertolt Brechts. In: editio, 2 (Tübingen 1988). S. 111-125. 13 Dies wurde 1992 Studenten des Aufbaustudiengangs Editionswissenschaft (Osnabrück) bei einem Besuch des Hauptmann-Archivs in der Staatsbibliothek zu Berlin von Rudolf Ziesche erläutert.
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Winfried Woesler reicht natürlich in der Breite nicht an das der großen Archive. In ihrem engen Spezialbereich aber sind die Forschungsstellen außerhalb ebenbürtig. Der Informationsaustausch zwischen beiden Institutionen ist jedoch noch unbefriedigend und ineffizient. Dies gibt Anlaß zur Sorge, denn die Geisteswissenschaften werden im Kontext der Wissenschaften in Zukunft nur ernst genommen, wenn sie auch die angebotenen modernen Möglichkeiten zur Verbesserung ihrer Infrastruktur nutzen. Die zentralen Archive eignen sich nach Sammelschwerpunkten als Sammelstellen für das Wissen einzelner Editionen, diese Funktion könnte ausnahmsweise auch darin bestehen, das Material von Forschungsstellen, die ihre Editionsarbeit getan haben, aufzunehmen. Insbesondere fallen zahlreiche Transkriptionen, z.B. von Briefen aus dem Umkreis des zu edierenden Autors, an. Diese Transkriptionen, die in den Forschungsstellen nach der Auswertung oft ungenutzt lagern, könnten in ein Depot der den Autornachlaß aufbewahrenden Institution genommen werden. 14 Es spart Arbeitskraft und schont die Bestände, wenn ein Benutzer, der einen Nachlaß zunächst in einer Suchabsicht oder auch einmal ohne konkrete Zielvorstellung einsehen will, dies anhand von Transkriptionen - auch datengespeicherten - vorbereitet. Und warum sollten solche Transkriptionen nicht über „Kabel" abgefragt werden können (wenn man einmal von dem aus der philologischen Steinzeit stammenden Interesse der Archive an der physischen Präsenz möglichst vieler Benutzer absieht)? Sollten nicht Editoren und Literaturarchivare gemeinsam die Ministerien zu überzeugen versuchen, daß sich der Nutzen und der Zuschußbedarf eines Archivs ebenso aufgrund der Zahl der gestellten Anfragen über „Kabel" wie der Zahl der leiblichen Besucher ermitteln lassen? Im folgenden sei einiges formuliert, was heute schon realisierbar ist bzw. bald sein könnte, damit forschungspolitisch mehr als bisher Schwerpunkte gesetzt werden. Die großen Archive könnten durch Datenbanken die Editionsprojekte entlasten, wie es z.B. die Zentralkartei der Autographen in Berlin, das Zeitschriftenexzerpierprogramm in Marbach oder auch die Datenbank in Koblenz leisten. Da wir nicht über eine Zentralbibliothek verfügen, sind solche allgemeinen übergreifenen Datenerfassungen gerade im föderativ
14 Entsprechende Vorschläge sind von der Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen erarbeitet worden: siehe dazu den Bericht von Wilhelm G. Jacobs: „Transkriptionendepots" in: Philosophische Editionen. Erwartungen an sie - Wirkungen durch sie. Hrsg, von Hans Gerhard Senger. Tübingen 1994. S. 166-168. (Beihefte zu „editio", 6)
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Verhältnis Editionen und Archive gegliederten deutschen Sprachraum notwendig. Sie könnten - unterhalb einer Datenbank „Germanistik" - jeweils für ihre Schwerpunkte abfragebereite Dateien führen, etwa biographische Daten von Personen einer Epoche oder einer Region, möglicherweise auch spezielle bibliographische Informationen bereithalten. Zentrale Archive könnten beim Aufarbeiten ihrer Bestände dort vorrangig arbeiten, wo die Editionen außerhalb darauf angewiesen sind. Das „Westfälische Archivamt" z.B. ist souverän, in welcher Reihenfolge es „seine" Adelsfamilien-Bestände erschließt. Mehrfach wurden Wünsche der Droste-Ausgabe, ein Familien-Depot vorrangig aufzuarbeiten, erfüllt. Von Seiten der Forschungsstellen und Editionen kann in eine Zusammenarbeit folgendes eingebracht werden: Grundsätzlich sollten alle nachlaßaufbewahrenden Archive, zumindest aber die wichtigsten, über den Fortschritt bei der Auswertung ihrer Bestände informiert werden, wenigstens durch Sonderdrucke und eine Kopie der Projekt-Berichte. Aber auch dort, wo Materialuntersuchungen in mehreren Archiven gemacht werden, z.B. Handschriften-Beschreibungen, sollte das schwerpunktmäßig zuständige Archiv bei entscheidenden Fortschritten informiert werden. Genauso wie Hoffnung besteht, daß einmal die Informationen der Archive zu den Handschriften in den Forschungsstellen papierlos abrufbar sind, genauso sollten Forschungsstellen zwar nach einem spezifisch auf ihre Edition ausgerichteten Programm Handschriften erfassen, aber doch so, daß sie von den zentralen Archiven abgerufen und von ihnen möglicherweise als editionswissenschaftliche Ergänzung zur archivalischen Handschriftenbeschreibung an andere literaturwissenschaftlich Interessierte weitergegeben werden können. Die Archive sollten wissen, was es in den Forschungsstellen z.B. an Karteikarten und Transkriptionen gibt. Der laufende bibliographische Bericht, den die Forschungsstellen für ihre Zwecke erstellen, sollte direkt auch von einem zentralen Archiv abrufbar sein. Natürlich kosten dieser Aufwand und die Verwaltung solcher Systeme Geld, weder die zentralen Archive noch die Editionsstellen können diesen Service ohne zusätzliche Unterstützung leisten. Aber wenden wir uns von diesem Entwurf einer nahen Utopie ab und wieder den praktischen Hindernissen der Kooperation zu, denn selbst wenn die finanziellen Möglichkeiten und die rechtlichen Voraussetzungen gegeben wären, so würde doch unter den gegenwärtigen Verhältnissen die Zusammenarbeit nicht optimal funktionieren. Wer einmal versucht hat, ein Archiv davon zu überzeugen, daß ein Brief falsch zugeordnet ist oder dessen Datum im Katalog geändert werden muß, der erlebt, daß dazu 77
Winfried Woesler durchweg keine Bereitschaft besteht. Selbst gravierende Mängel der Zuordnung werden nicht korrigiert. Natürlich kann die Bibliothèque Nationale nicht jenen Heine-Manuskript-Band, der chronologisch fehlerhaft ist, auftrennen und neu binden. Es mag auch sein, daß Archive böse Erfahrungen mit „Enthusiasten" gemacht haben, die auf einer Korrektur bestanden, die keineswegs sicher war, doch für Wissenschaftler bleibt es ein Ärgernis, daß Archive - wohl überwiegend aus Rücksicht auf die eingeführten Signaturen - selten bereit sind, falsche Datierungen, Zuordnungen oder Zuschreibungen zu ändern, wenn die Archivalien einmal in eine Ordnung gebracht worden sind. Dies macht freilich zusätzliche Arbeit, aber das Ansehen von Archiven hängt auch davon ab, ob sie neue Ergebnisse aufzunehmen bereit sind oder jahrelang den Benutzern weiterhin falsche Katalogangaben unterbreiten. Es wäre für beide Seiten sinnvoll, wenn ein System entwickelt würde, mit dessen Hilfe Nachträge und Korrekturen leichter eingebracht werden können: Disketten bieten sich dafür geradezu an. Diese im Grunde eher untergeordneten Probleme sollten nicht vergessen lassen, daß Literaturarchive und Editionen im eigenen Interesse und im Interesse des Faches auch nach außen enger zusammenstehen sollten. Es geht auch um die Außenvertretung einer quellenorientierten Geisteswissenschaft. Dieser fehlt jedoch ein Werbekonzept. Nachdringlich sei an die durchaus praktische Möglichkeit erinnert, daß Editionen zur positiven Außendarstellung von Bibliotheken und Archiven beitragen können, wenn sie z.B. die Konzeption von Ausstellungen mitentwickeln, die dann von diesen Institutionen realisiert werden. Erinnert sei etwa an die Ausstellung, die auf Anregung der Deutschen Forschungsgemeinschaft von der Hamburger Universitätsbibliothek über editorische Großprojekte in Bad Godesberg und anderswo gezeigt wurde. Viel zu selten gibt es heute werbewirksame gemeinsame Präsentationen von Editionen und Archiven. Forschungspolitik ohne Werbung ist aber nur schwer durchsetzbar.
VI. Rechtsfragen Es gibt eine Reihe von Rechtsfragen, vor die sich der einzelne Editor gestellt sieht und die er allein nicht lösen kann. Es ist an der Zeit, daß Editionen und Archive gemeinsam Vorschläge für eine Regelung machen.
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Verhältnis Editionen und Archive 1. Zugang und Nutzung Daß ein Privatbesitzer eine Publikation seiner Archivalien genehmigen muß, ist selbstverständlich, aber staatliche Archive sollten nicht Nachlässe im Depot haben bzw. ins Depot nehmen, wenn nicht grundsätzlich eine Veröffentlichung möglich ist. Unbeschadet davon bleiben jedem Archiv das Recht und die Verantwortung, bestimmte Archivalien nicht generell zugänglich zu machen.
2.
Publikationserlaubnis
Es sollten die Bedingungen formuliert werden, unter denen die Archivare/Archive selbst Publikationspläne verfolgen und gleichzeitig anderen die Edition verweigern dürfen. Kriterien könnten sein: Priorität, Ernsthaftigkeit, Kompetenz, absehbare Realisierungschance.
3.
Publikationsschutz
Ebenso sollten die Bedingungen formuliert werden, unter denen Editionen/Editoren außerhalb der Archive für eine gewisse Zeit ein ausschließliches Publikationsrecht erwerben können. Die Bedingungen sollten dieselben sein wie für die Eigenprojekte der Archive, insbesondere die Priorität. Es besteht ein wichtiges Interesse der Editionen, die sich jahrelang um ein Werk bemühen, nicht nur im wissenschaftlichen, sondern auch - nicht zuletzt wegen der Geldgeber - im öffentlichen Gespräch zu bleiben, d.h. daß sie aus ihrer Arbeit Neues, z.B. über Handschriftenfunde, berichten dürfen, ohne befürchten zu müssen, daß ein anderer auf Grund dieser Veröffentlichung die Früchte erntet. Eine Lösung wäre - außer einem Appell an die Anständigkeit - die Empfehlung, rechtsverbindlich festzulegen, daß ein Editor, der ein verschollenes Stück ans Licht zieht, vom Leiter des aufbewahrenden Archivs für eine Edition eine Frist eingeräumt bekommt, in der die Publikation anderen nicht gestattet wird.
4. Internationale
Rechtsbestimmungen
Man mag dem, was unter Punkt 2 und 3 gesagt ist, entgegenhalten, in Deutschland sehe das Recht nun einmal vor, daß Archivalien in öffentli79
Winfried Woesler chem Besitz nach 70 Jahren - von bestimmten Gründen, etwa des Persönlichkeitsschutzes, abgesehen - grundsätzlich nicht zu Gunsten eines einzigen Editors gesperrt werden können. International leuchtet jedoch die deutsche Praxis längst nicht mehr ein. Kein ausländischer Editor sieht ein, daß ihm ein Fund, den er in einem deutschen Archiv gemacht hat und dessen Edition er vorbereitet, noch von einem deutschen Kollegen „weggeschnappt" werden kann. Umgekehrt ist es unvorstellbar, daß z.B. eine Institution in Frankreich, die einen Nachlaß aufbewahrt, dessen Edition ein französischer Wissenschaftler vorbereitet, einem Ausländer vorab die Edition einiger wichtiger Manuskripte oder Dokumente daraus gestatten würde.
5. Benutzung von Materialien Wenn Transkriptionsdepots, Sammlungen und Karteien Interessenten zugänglich gemacht werden, müssen die Urheberrechte derer, die sie angelegt haben, gewahrt bleiben.15 Dies gilt insbesondere dann, wenn die Daten international abgefragt werden können. Hier ist mit den technischen Neuerungen auch gesetzliches Neuland zu betreten. Im Bereich der Naturwissenschaften kann man die internationalen Dienstleistungen ohne weiteres wirtschaftlich absichern, weil die benötigten Forschungsinformationen von äußerster Aktualität sein müssen: nur wer die geforderten hohen Gebühren an die Vertreiber von Programmen und Disketten z.B. mit Dissertationszusammenfassungen zahlt, bleibt auf dem laufenden. Dort, wo mit Hilfe eines Kaufs oder Mietvertrags die angebotene Leistung bezahlt wird, sind die Rechtsverhältnisse klar. Anders im Bereich der historischen Quellenforschung, der es an gleicher Aktualität mangelt. Hier müssen noch international juristische Regelungen getroffen werden. Es gibt aber schon jetzt Lösungen, die angewandt werden können. Z.B. reicht es in Deutschland zumindest aus, ein auf Grund eigener geistiger Leistung aufgebautes Transkriptionsdepot in fünf Bibliotheken zu hinterlegen. Dann liegt rechtlich gesehen eine Publikation vor, die Urheberrechtsschutz besitzt. Sie darf also nur unter den Bedingungen zitiert und benutzt werden wie andere Publikationen auch: diese Bedingungen können auch finanzielle sein. Was Transkriptionsdepots angeht, dürfte der
15 Siehe hierzu im folgenden wiederum W.G. Jacobs (Anm. 14).
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Verhältnis Editionen und Archive Schutz auch dann vorliegen, wenn nur ein Archiv darüber verfügt. Denn das Urheberrecht setzt in Deutschland nicht voraus, daß ein Werk formell an die Öffentlichkeit gebracht wird oder Formalien beachtet werden, wie es etwa die Copyright-Bestimmung in den USA verlangt. Inwieweit auch für eine abrufbare Spezialkartei, die in einer Forschungsstelle oder einem Archiv angefertigt wurde, Urheberrechtsschutz besteht, ob sie also als „persönliche geistige Schöpfung" anerkannt wird, muß in Zukunft festgelegt werden. Sowohl zusätzliche Rechtsbestimmungen als auch finanzielle Lösungen sind nötig. Die Hoffnung darauf ist nicht grundlos. Zunächst hatte man ja auch geglaubt, das unkontrollierbare Kopieren aus Zeitschriften oder Büchern müsse zu nicht gutzumachendem Schaden führen, inzwischen hat man die Folgen durch Einführung des Kopierpfennigs gemildert. Ahnliches könnte auch auf die elektronische Benutzung von Archivmaterialien übertragen werden. Empfehlenswert für den Bereich Edition und Archiv scheint in Kooperation mit den verschiedenen Arbeitsgemeinschaften der Editoren die Gründung einer ständigen Kommission „Recht", in der gemeinsam Lösungen gesucht werden.
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Michel
Espagne
Genetische Textanalyse: Edition - Archiv - Anthropologie Daß die handschriftlichen Nachlässe bedeutender Autoren aufbewahrt werden müssen, damit ihre Werke in wissenschaftlicher Form unter Berücksichtigung aller Entstehungsvarianten ediert werden, ist in Europa zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Zwar reichen die Sammlungen der Literaturarchive weit über den Kreis der anerkannten Schriftsteller hinaus, aber ihre kulturelle Ausstrahlung, die durch die Entstehung eines Autographenmarktes seit Beginn unseres Jahrhunderts noch bekräftigt wurde, hängt mit den großen Figuren der jeweiligen Nationalliteratur zusammen. Sobald über diese Prämissen Einverständnis herrscht, kann man nur noch methodischen Fragestellungen nachgehen und über die zweckmäßigste Form der Handschriftennumerierung, der Katalogisierung oder aber der optischen Wiedergabe eines Lesartenapparates diskutieren. Mein Referat nimmt sich vor, andere Zusammenhänge zu erschließen. Die Aufbewahrung, die Bewertung und Auswertung handschriftlicher Nachlässe, ja ihre Benutzung bei der Vorbereitung historisch-kritischer Ausgaben oder genetischer Untersuchungen sind technisch formulierbare Momente einer menschlichen Tätigkeit, die, wie ich behaupten möchte, eine anthropologische oder kulturhistorische Definition erfordert. Ich werde allerdings hier eher ein Problem als fertige Ergebnisse darlegen. Zunächst müßte meines Erachtens die Verknüpfung zwischen Konstituierung von Archivbeständen und Fachgeschichte der Geisteswissenschaften in den unterschiedlichen nationalen Traditionen näher untersucht werden. Ein zweiter Punkt wäre die zeitliche Abfolge der Klassifikations- und Eingliederungssysteme in den Handschriftenabteilungen. Was man zumeist als neutralen Bericht über den Zuwachs und die Differenzierung der Sammlungen versteht, könnte ebensowohl als das Indiz für einen kulturhistorischen Umbruch bzw. eine Entwicklung der Wissenschaftsvorstellungen angesehen werden. Ein letzter Punkt wäre dann die Frage der Wertung: Literaturarchive übernehmen faktisch die unermeßliche Verantwortung zu bestimmen, was literarisch relevant ist oder nicht. Der unumgängliche Prozeß der Grenzziehung zwischen literarischen und allgemein historischen Archivstücken, die Pflicht, irrelevantes Material auszuschließen, wirken ständig daran mit, eine implizite Definition des Litera83
Michel Espagne turbegriffs zu verbreiten. Diese drei Aspekte der Literaturarchive möchte ich vor allem an den Divergenzpunkten zwischen deutschem und französischem Kulturraum beleuchten.
Handschriftlicher Nachlaß und Wissenschaftsgeschichte Die kultursoziologische Bestimmung eines Archivs und seine Bedeutung hängen weitgehend mit der fachlichen Benutzung zusammen. Ohne fachhistorischen Hintergrund läßt sich ein Handschriftenbestand weder erklären noch bei textgenetischen Untersuchungen auswerten. Nun ist die Situation für Deutschland relativ einfach, insofern als die handschriftlichen Quellen als Grundlage für historisch-kritische Ausgaben dienen. Ein Literaturarchiv liefert den Philologen die nötigen Materialien für die Vorbereitung einer wissenschaftlichen Ausgabe bzw. mehrerer Ausgaben. Allerdings wird nur einem Bruchteil der Sammlungen eine intensive Aufmerksamkeit gewidmet. Um diesen Auswahlprozeß selbst begreifen zu können, muß man erst den literaturwissenschaftlichen Betrieb, die Tätigkeit der Philologen selbst erforschen. Daher müßten Literaturarchive auch Literaturwissenschaftsarchive sein. Für Frankreich steht man der Tatsache gegenüber, daß es keine oder kaum Philologen gibt, und daß das Prinzip der historisch-kritischen Ausgaben weitgehend unbekannt bleibt. Was kann also mit den Manuskripten als Quellen unternommen werden? Welchen Stellenwert können die sehr umfangreichen Handschriftenbestände haben, wenn sie nicht systematisch in historisch-kritischen Ausgaben ausgewertet werden? Auch vor diesem spezifisch französischen Hintergrund dürften Fachgeschichte und Archivgeschichte einander ergänzen. Sehr grob vereinfacht pendelt die Tradition der Literaturbetrachtung in Frankreich (schon das Wort Literaturwissenschaft ist ein Fremdwort und kann nicht ohne weiteres in den fremden Kontext übertragen werden) zwischen ästhetischer Wertbestimmung auf der Grundlage der Rhetorik und periodischen Versuchen der Annäherung an die deutsche Philologie. Gerade in der Zeit zwischen 1880 und 1910, als die Literaturarchive einen schnellen Zuwachs erfuhren, bemühten sich Mediävisten wie Gaston Paris (1839-1903) und Paul Meyer (1876-1906) 1 oder der Literaturhistoriker Gustave Lanson (1857-1934) 2 1
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Beide waren Professoren am Collège de France. Sie gründeten die Zeitschriften „Critique" und „Romania". In der ersten wurden ganz besonders die Erträge der deutschen
Genetische Textanalyse um die Verwissenschaftlichung der „critique littéraire"3 nach dem Modell der deutschen Philologie. Dieser Ansatz wurde bald, jedenfalls auf dem Gebiet der neueren Literatur, völlig verdrängt. Erst seit den 1970er Jahren entwickelt sich mit dem Anfang der „critique génétique"4 eine neue Form wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit den Handschriften. Allerdings ist dann weniger die Orientierung an Deutschland als eine Reaktion auf den ausschließlich textimmanenten Strukturalismus im Spiele. Auch wenn die „critique génétique" sich auf dem Gebiet der Textphilologie bewegt, möchte sie sie am liebsten ignorieren: Sie vollzieht den Synkretismus von Tbxtentstehungsgeschichte und ästhetischer Wertung. Wenn man in Deutschland einen Funktionszusammenhang zwischen Philologie als Wissenschaft und Gestaltung der Archivbestände beobachtet, so kennzeichnet sich die französische Situation eher durch eine Zäsur. Diese wirkt sich einerseits negativ aus, indem die Funktion der Archivbestände in den Geisteswissenschaften weniger geklärt ist als in Deutschland. Nur in sehr wenigen Dissertationen werden beispielsweise Autorennachlässe systematisch berücksichtigt. Andererseits öffnet gerade diese funktionale Unbestimmheit den Weg zu einer differenzierten wissenschaftlichen Benutzung der Archivmaterialien. Schon die Tatsache, daß man nicht recht weiß, was man damit anfangen kann, ist eine Herausforderung an die Kulturgeschichte. Die Abneigung gegen die als historisch-positivistische Haarspalterei empfundene philologische Tätigkeit hängt mit langfristigen Phänomenen der französischen Kultur zusammen. Seit der Mitte des XVIII. Jahrhunderts, seit der vom Abbé Condillac (1714-1780)5 entwickelten Sprachphilosophie, steht fest, daß die Vernetzung der Textelemente die höhere Ord-
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geisteswissenschaftlichen Forschung diskutiert. Die andere widmete sich der romanischen Ttextphilologie. Sie wirkten mit an der Neuentdeckung der französischen Mittelalterliteratur. Schon das enzyklopädische Wörterbuch Larousse erinnert unter dem Namen Lanson darein, daß man ihm vorwarf, er habe durch seine Historisierung der Literatur das Wesen der literarischen Kunstwerke auf nichtssagende Äußerlichkeiten reduziert. Als freie Übertragung für Literaturwissenschaft schließt der Begriff der „critique littéraire" eigentlich jede Form historischer Kritik aus und meint entweder die ästhetische feuilletonistische Wertung oder die Aufdeckung textimmanenter Strukturen. Für einen Überblick über die „critique génétique" vgl. die erste Nummer der Zeitschrift „Genesis" (Paris 1992) und die dort angegebene Literatur. Der ,.Essai sur l'origine des connaissances humaines" (1746) ist für die Parallelität zwischen Tfextentstehung, Gedankenbildung und Genese der Empfindungen besonders zu beachten.
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Michel Espagne nung des Geistes widerspiegelt, ja daß die Tsxtanalyse den Zugang zu einer höheren Grammatik des Geistes verschafft. Die Offenbarung der Vernunftgesetze in den literarischen Ifexten übersieht ihre historische Verankerung. Ja, alles was daraufhinweist, daß die überlieferten Schriften zum Tfeil historisch kontingent sind, daß sie in ihren tieferen Schichten mit zufälligen Gegebenheiten des historischen Umfeldes verknüpft sind, trübte die reine Harmonie der Vernunftgesetze. Die Ideologen6 sind die Erzfeinde der Historie. Für Volney7 ist sie nur ein Sammelsurium von Vorurteilen und Tagesträumen. Man kann sie höchstens dazu benutzen und hier wird ein leichter Widerspruch spürbar - , um die Geschlossenheit der Vernunftgesetze analytisch zu rekonstruieren. Unter Genesis meinen Condillac und Volney die im Prozeß diachronischer Text- und Sprachanalyse wiedererlangte überzeitliche Gesetzmäßigkeit der Ideenwelt: die Textentstehung löst sich sozusagen in Zeitlosigkeit auf. Ruinenlandschaften wie Lesarten haben ihre Funktion erfüllt, sobald sie den Beobachter auf die Spur einer verborgenen Systematik führen. Inwieweit die deutschen Philologen, die seit Wilhelm von Humboldt sich in Paris aufhielten, Impulse der ideologischen Sprachtheorie übernahmen, bleibt noch eine offene und sehr umstrittene8 Frage. Die vergleichende Grammatik der europäischen Sprachen hat in ihrem universalistischen Ansatz mit der allgemeinen Grammatik der Ideologen mehr gemein als man meist angenommen hat. Vielleicht war die vergleichende Grammatik zum Tfeil die Historisierung der allgemeinen Grammatik. Jedenfalls hätte sich die Möglichkeit einer parallelen Entwicklung der Sprachtheorie in Frankreich und Deutschland ergeben. Sie wurde nicht wahrgenommen, und die allgemeine Grammatik in ihrer universalistischen Form setzte sich in Frankreich durch. Wenn sie Archivmaterial benötigte, dann nur in der Form der in der Revolutionszeit gegründeten Archive, die alle Doku-
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Unter „Ideologues" versteht man vor allem die materialistischen Philosophen und Condillac-Schüler, die mit Destutt de Tracy, Cabanis, De Gérando u.a. das philosophische Leben Frankreichs in der Ubergangszeit zwischen Revolution und Napoléon-Ara insbesondere auf dem Gebiet des Unterrichtswesens bestimmten. Vgl. Sergio Moravia: II pensiero degli Idéologues. Scienza e filosofia in Francia (1780-1815). Firenze 1974. 7 Der Sprachwissenschaftler Volney (1757-1820) wurde paradoxerweise 1794 zum Professor für Geschichte in Paris berufen. Seine Vorlesungen waren eher eine Warnung vor dem Fach, das er zu vertreten hatte. Zu Volney vgl. Jean Gaulmier: L'Idéologue Volney 1757-1820. Beyrouth 1951. 8 Hans Aarsleff: Humboldt et les Idéologues. - In: La grammaire générale. Des modistes aux idéologues. Ed. par André Joly et Jean Stefanini. Lille 1977. S. 217-241.
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Genetische Textanalyse mente zum Volksleben nach einem rein logischen Verteilungsprinzip einordneten. Die allgemeine Grammatik wird in ihrer Entwicklung vor und nach der Revolution von der rhetorischen Unterrichtsform der Jesuiten 9 mitgetragen. Seit dem XVI. Jahrhundert verdankt die Elite des Landes ihre geistige Ausbildung den Pädagogen des Jesuitenordens, deren Grundsätze sich auch in den ersten Literaturlehrbüchern des ausgehenden XVIII. Jahrhunderts, etwa in Laharpes (1739-1803) „Lycée ou Cours de littérature ancienne et moderne" (1799)10 niederschlagen. Der Grundpfeiler dieses Unterrichtssystems ist die Rhetorik, die Ausbildung zur wohlklingenden und möglichst überzeugenden Rede, aber auch zu einer entsprechenden Systematik. Freilich, der rhetorische Unterricht modernisiert sich zwischen dem XVI. und XVIII. Jahrhundert. Eine Verschiebung der didaktischen Bemühungen von der lateinischen auf die französische Rede findet beispielsweise statt. Quintilian und Cicero werden von modernen Lehrbüchern abgelöst, etwa von dem des Père Binet, das in der ersten Hälfte des XVII. Jahrhunderts gleich 22mal aufgelegt wurde. Dieses Werk sei „geschrieben für den Gebrauch der jungen Geister, welche die Kunst der schönen Rede lernen, damit ihnen die Wörter und daher auch die Sachen niemals ausgehen und sie sich immer unter einem günstigen Licht zeigen".11 Für die Jesuiten war die „eruditio" keineswegs eine trockene Ansammlung toter Materialien, sondern die Summe der zur Verfügung stehenden Gemeinplätze, die ein kollektives Gedächtnis12 und ein geistiges Zusammengehörigkeitsgefühl fördern. Diese Geistesrichtung involviert, daß der Bezug zur sprachlichen Uberlieferung kein hermeneutischer ist: Ein Werk der Vergangenheit, der lateinischen zunächst, der französischen später, kann nur ein Gegenstand der Nachahmung sein. Eigentlicher Zweck des Literaturstudiums ist nicht die autonome Selbstbestimmung, sondern die soziale Ausstrahlung, die intersubjektive Wirksamkeit. Der
9 François de Dainville: L'éducation des Jésuites (XVIe-XVIIIe siècles). Paris 1978. 10 Zur Laufbahn des Pädagogen und Literaturtheoretikers Laharpe vgl. Christopher Tbdd: Voltaire's Disciple Jean François de la Harpe. The Modem Humanities Research Association 1972. 11 „composé pour l'usage des jeunes esprits qui apprennent l'art de parler, à dessein que le mots, et par suite les choses, ne leur manquent jamais et qu'ils puissent toujours paraître à leur avantage". - In: F. de Dainville, a.a.O., S. 193. 12 Zur Funktion der Rhetorik im Aufbau eines kollektiven Gedächtnisses vgl. das fundamentale Buch von Frances A. Yates: The Art of Memory (1966). Ein Verdienst dieser Abhandlung ist es unter anderem zu zeigen, daß man unter Rhetorik keineswegs nur eine leere Kunst der Rede zu verstehen hat.
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Michel Espagne Aufbau der Periode ist nicht nur Hilfsmittel zur Selbstbehauptung, sondern allgemeines Ordnungsprinzip eines unhistorischen Wissens. Vor dem Hintergrund dieser inneren Tbpologie können zwar von einzelnen Schriftstellern Privatarchive angelegt werden, die zur primären Textproduktion führen. Die Funktion handschriftlicher Archivbestände bleibt aber problematisch, es sei denn, sie könnten Schätze enthalten, die der Nachahmung nicht unwert seien und von denen eine ästhetische Innovation zu erwarten wäre. Diese Perspektive scheint mir der „critique génétique" überall dort nicht fremd zu sein, wo sie sich in einer nicht primär historischen Absicht bemüht, die Abfolge und Überarbeitung schillernder Metaphern etwa bei Paul Valéry wie einen neuen Schatz ans Licht zu fördern. Eine Denkkategorie spielte bei der Definition der französischen Beziehung zur handschriftlichen Uberlieferung wie zur Literaturtheorie überhaupt eine zentrale Rolle: die des Geschmacks. Seit Boileau13 und dem Abbé Batteux (1713-1780), der 1746 unter dem Titel „Les beaux arts réduits à un même principe" („Die schönen Künste auf ein Prinzip gebracht") eine Theorie der Künste publizierte, bleibt der Begriff des Geschmacks im Mittelpunkt aller ästhetischen Wertungsprozesse. Dabei muß betont werden, daß er konstituierender Bestandteil einer Produktions- eher ids einer Rezeptionsästhetik ist, denn geschmackvolle Schriften wollen nicht angeschaut werden, sondern fordern zur Nachahmung auf und definieren literarische Verhaltensnormen. „Der Geschmack spielt im Bereich der Kunst dieselbe Rolle wie der Verstand in den Wissenschaften. Die Gegenstände sind zwar unterschiedlich, aber die Funktionen sind so eng miteinander verwandt, daß eine die andere erklären kann. Der Verstand betrachtet die Gegenstände an sich, ohne Bezug auf uns Der Geschmack im Gregenteil kümmert sich nur um die Beziehung zu uns Der Geschmack ist ein Gefühl, das uns mitteilt, ob die schöne Natur gut oder schlecht nachgeahmt wurde."14 13 Nicolas Boileau-Despréaux (1636-1711) hat in seinem „Art poétique" (1674) eine nachträgliche Theorie der literarischen Klassik in Frankreich geliefert. 14 Les Beaux arts réduits à un même principe. Ttextes de l'Abbé Batteux choisis et présentés par Sonia Branca-Rosoff. Bassac 1990, S. 52-53: „Le goût est dans les arts ce que l'intelligence est dans les sciences. Leurs objets sont différents à la vérité, mais leurs fonctions ont entre elles une si grande analogie, que l'une peut servir à expliquer l'autre. L'intelligence considère ce que les objets sont en eux-mêmes selon leur essence, sans aucun rapport avec nous. Le goût au contraire ne s'occupe de ces objets que par rapport à nous Le goût doit un être un sentiment qui nous avertit si la belle nature est bien ou mal imitée." - Vgl. auch Annie Becq: Genèse de l'esthétique française moderne. De la raison classique à l'imagination créatrice. Pisa 1984.
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Genetische Textanalyse Die Kategorie des Geschmacks läuft nicht auf ästhetischen Relativismus hinaus, da die von den Alten übernommenen und im XVII. Jahrhundert gepflegten Modelle im XVIII. Jahrhundert ohne jegliche Abweichung weiterhin zu beachten seien. Aber der Konsens zwischen den Lesern (aufgrund ihrer Vernunft, ihres Gemeinschaftssinns) ist eine ebenso unumgehbare Vorbedingung des Geschmacksurteils als die Tendenz zur Nachahmung. In der Form des Konsenses hat sich das Prinzip des Geschmacks in der französischen Literaturwissenschaft bis in die Gegenwart hinein durchgesetzt, auch wenn das Wort „Geschmack" selbst außer Gebrauch gekommen ist. Übrigens ist die geschmackvolle Nachahmung der Alten von vornherein die Nachahmung des jeweils zeitgenössischen Diskurses über die Alten: Sie bleibt also im Konsens tief verankert. Laharpes Urteil über Racine zeigt sogar in der Reihenfolge der angewandten Metaphern die entscheidenden Momente der ästhetischen Wertung in einer französischen Tradition: „Der Takt, die feinen und genauen Einsichten, das sichere Urteil, der Sinn für das Geziemende, kurz jener Geschmack, den der Unterricht in Port-Royal und die Empfehlungen von Boileau gestärkt haben; der Geschmack, diese seltene und kostbare Eigenschaft, die in demselben Verhältnis zum Genie steht wie die Vernunft zum Instinkt, wenn es wahr ist, daß der Instinkt unsere Handlungen auslöst und daß die Vernunft sie lenkt; jener Geschmack, dem die wirklich schönen Geistesprodukte eine aufgeklärte und dauerhafte Bewunderung verdanken."15 Den Geschmack erkennt man insbesondere an stereotypen Sprachbestandteilen, die den Regeln der Rhetorik entsprechen und eine bruchlose Kommunikation ermöglichen. Für Laharpe, der, wie gesagt, durch sein mehrbändiges Hauptwerk „Le Lycée" den Literaturunterricht im breitesten Sinne maßgeblich geprägt hat, setzt der Literaturunterricht eine Gleichung zwischen Einsicht in den Periodenbau und Pflege der Vernunftgesetze voraus. Aus dieser Gleichung ergibt sich das Postulat von Wechselbeziehungen zwischen metaphorischer Struktur und rationalen Gesetzen der Tfextentstehung, wie es den „analyses génétiques" öfters zugrundeliegt. 15 „Ce tact délicat, ces vues justes et fines, ce discernement si sûr, ce sentiment des convenances, ce goût enfin, cultivé par les leçons de Port-Royal, nourri par le commerce assidu des Anciens, fortifié par les conseils de Boileau; ce goût, qualité rare et précieuse, qui peut-être est au génie ce la raison est à l'instinct; s'il est vrai que l'instinct soit le mobile de nos actions et que la raison en soit le guide; ce goût qui attache aux productions vraiment belles le sceau d'une admiration éclairée et durable." Laharpe zitiert von Christopher Todd, a.a.O. S. 84-85.
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Michel Espagne Die konstruktivistische Dimension der Geschmackskategorie schließt praktisch aus, daß die Autorennachlässe als Meilensteine in einem lückenhaften historischen Ablauf behandelt werden. Die genetische Darstellung, zu der sie Anlaß geben, bleibt einer Nachahmungsstrategie verpflichtet. Eine vergleichende Methodendiskussion zwischen Deutschland und Frankreich - und eine solche wird wohl unerläßlich sein - dürfte jedenfalls unter Umgehung solcher kulturhistorischen Voraussetzungen nicht statthaft sein.
Kulturhistorische
Entstehungsschichten
einer
Handschriftenabteilung
Die nationalbedingten fachhistorischen Perspektiven auf Autorenarchive und Handschriftensammlungen stellen eine Art Leitfaden dar für die anthropologische Erschließung der Handschriftennachlässe. Die Klassifikationssysteme der Sammlungen selbst liefern einen weiteren Zugang zum Verständnis ihrer kulturhistorischen Funktion, die in den verschiedenen europäischen Nationen offenbar eine unterschiedliche ist. Daß die Textphilologie, wie gesagt, eine viel wichtigere Tradition in Deutschland hat als in Frankreich, bleibt eine Konstante, die jedoch nicht ausschließt, daß die französischen Geisteswissenschaften mehrmals den Versuch unternommen haben, die Methoden der deutschen Philologie nach Frankreich zu importieren. Die technischen Aspekte der romanischen Philologie, wie sie im letzten Drittel des XIX. Jahrhunderts in Frankreich betrieben wurde, beruhten auf den Bestrebungen einzelner Romanisten, die Forschungsergebnisse von Friedrich Diez16 und anderen im Pariser Kontext zu propagieren. Im Gegensatz zur deutschen Philologie scheint mir die italienische viel weniger mit ideologisch-patriotischen Ansprüchen befrachtet zu sein. Was die russische Textologie im Vergleich dazu anzubieten hat, wäre einer Untersuchung wert. Diese nationalen Zweige einer europäischen Wissenschaft sind außerdem voneinander abhängig und vermitteln ein Bild der Wechselbeziehungen zwischen den Nationalliteraturen und den Nationalphilologien. Die Handschriftensammlungen, die den jeweiligen Philologien zum Forschungsgegenstand dienen, sind auch kulturhistorisch bedingt. Sammlungen von welchen Gegenständen auch immer, von Muscheln oder Kunst16 Frédéric Diez: Introduction à la grammaire des langues romanes. Trad, par Gaston Paris. Paris et Leipzig 1863.
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Genetische
Textanalyse
werken, die man in eine Reihe setzt, geben bekanntlich die Voraussetzung jeder wissenschaftlichen Tätigkeit ab.1' Antiquarische Kuriositätenkabinette ermöglichten erst Reihenuntersuchungen, und die Handschriftensammlungen haben den Charakter von Kuriositätenkabinetten zumeist nie völlig abgestreift. Ihre historische Darstellung kann aber nicht nur die Bestandteile der Sammlungen und ihren Zuwachs registrieren: Sie muß eine äußere sein. Die Gestaltung der aufbewahrten Gegenstände, ihre Auswahl und die Auslassungen entsprechen den geistigen Erwartungen sozialer Gruppierungen und tragen in sich die materiellen Spuren ihrer geistigen Geschichte. Somit liefern die Handschriftensammlungen ein Negativbild der Kulturverhältnisse zu einem bestimmten Zeitpunkt. Die Klassifikationssysteme des handschriftlichen Archivmaterials finden zuerst ihre Anwendung in der Anordnung der Handschriftenabteilungen. Obwohl man mit den Katalogen der Handschriftensammlungen schon ganze Bibliotheken füllen könnte, so scheint die kulturhistorische Interpretation dieser im Laufe der Zeit mehrfach umgeschriebenen Verzeichnisse eigentüch nur selten vorgenommen worden zu sein. So im Falle der Pariser Nationalbibliothek. Eine umfassende historische Beschreibung der Handschriftenabteilung ist zum letzten Mal in den sechziger und siebziger Jahren des XIX. Jahrhunderts geschrieben worden, d.h. zu einer Zeit, als man gerade erst neuere Handschriften zu sammeln anfing. Der Autor rechtfertigte sein Unternehmen wie folgt: „Im Mittelalter deckt sich die Geschichte der Handschriftenbestände in der kaiserlichen Bibliothek mit der Geschichte jener Pariser Werkstätten, worin nicht nur die Studienbücher abgeschrieben wurden, welche Lehrmeister und Schüler fast aller europäischen Universitäten verschlangen, sondern die schönen illustrierten Bände, an denen sich Adel und Großbürgertum in allen französischsprachigen Ländern erfreuten. In der Moderne bieten die Pariser Sammlungen der Neugierde der Philologen, der Historiker und der Antiquare einen unerschöpflichen Nährstoff, so daß die Entstehungsgeschichte der Handschriftenabteilung auf eine historische Darstellung der geistigen und gelehrten Pariser Welt hinausläuft und dabei sowohl materielle Einzelheiten der Bücherherstellung als auch die bei den Parisern immer beliebten Fragen der literarischen Wertung umfaßt."18 Die Handschriftensammlung
17 Krzysztof Pomian: Collectionneurs, amateurs et curieux. Paris, Venise: XVIe-XVIIIe siècle. Paris 1987. 18 „En effet, au moyen âge, l'histoire des collections de manuscrits appartenant à la Bibliothèque impériale se confondra souvent avec l'histoire des ateliers parisiens d'où
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Michel Espagne wird vorrangig durch ihre kulturhistorische und erst am Rande durch ihre literaturwissenschaftliche Quellenfunktion legitimiert. Die Geschichte der Pariser Handschriftenabteilung der Nationalbibliothek geht auf die Initiative Karls V. im XIV. Jahrhundert zurück. Allerdings besaß die Bibliothek damals lauter Handschriften. Nicht so, als der Minister Colbert im letzten Drittel des XVII. Jahrhunderts die Botschafter Frankreichs damit beauftragte, überall Handschriften und insbesondere orientalische anzukaufen und die Provinzbibliotheken auf Kostbarkeiten zu überprüfen. Der Besitz von Handschriften war für den zentralistischen Staat eine Art symbolische Besitznahme des nationalen und sogar internationalen Raums. Einer der von Colbert in die weite Welt ausgesandten Käufer war der erste Übersetzer der „Tausend und einen Nacht", der Orientalist Antoine Galland.19 Auch chinesische Handschriften wurden gegen Ende des XVII. Jahrhunderts in die Bibliothek aufgenommen, die ab 1692 zwei Tage in der Woche den Forschern zugänglich wurde. Der Erforschung dieser Sammlungen war zu verdanken, daß ein Bibliothekar namens Boivin20 unter einem belanglosen griechischen Text eine Fassung der Heiligen Schrift entdeckte und mit dem Begriff des Palimpsests der historischen Kritik den Weg bereitete. Eine der ersten modernen Sammlungen, die aufgenommen wurde, war der Nachlaß von Colbert selbst. Die Zahl der Handschriften wurde in der Zeit der Revolution durch die Beschlagnahme mancher Klosterbestände schlagartig vervielfacht. Auch die alte Bibliothek der Sorbonne mit ihren auf das XIII. Jahrhundert
sortaient non seulement ces livres d'étude que dévoraient les maîtres et les écoliers de presque toutes les universités de l'Europe, mais encore ces beaux volumes enluminés qui charmaient les loisirs de la noblesse et de la haute bourgeoisie dans tous les pays où régnait la langue française. Dans les temps modernes, nous verrons les collections parisiennes fournir un aliment inépuisable à la curiosité des philologues, des historiens et des antiquaires, de telle sorte que raconter la formation du Cabinet des manuscrits de la Bibliothèque impériale, ce sera presque faire l'histoire intellectuelle de Paris et du monde savant, depuis les simples détails qui se rattachent à la fabrication matérielle du livre, jusqu'aux plus hautes questions de prépondérance littéraire, qui ont toujours eu le privilège de passionner les Parisiens." (Léopold Delisle: Le cabinet des manuscrits de la bibliothèque impériale. Paris 1868 ff., Bd. I, S. VII.) Delisle leitete die Handschriftenabteilung der Bibliothèque nationale von 1871 bis 1874. - Für einen neueren geschichtlichen Uberblick vgl. Simone Balayé: La bibliothèque nationale des origines à 1800. Genf 1988. 19 Der Orientalist Antoine Galland (1646-1715) hatte einen französischen Botschafter nach Konstantinopel begleitet. Ab 1709 war er Professor am Collège de France. 20 Jean Boivin de Villeneuve (1663-1726) war von 1720 bis zu seinem Tode für die Handschriftensammlungen der königlichen Bibliothek verantwortlich.
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Genetische Textanalyse zurückgehenden Ordnungsprinzipien und ihren Unterscheidungen zwischen gemeinsamem Handapparat und speziellen Werken ging in die Nationalbibliothek über. Ein deutscher Philologe aus Jena arbeitete in den ersten Jahrzehnten des XIX. Jahrhunderts daran, in den griechischen Sammlungen Ordnung zu schaffen.21 Jede neu erworbene Bibliothek brachte ihre eigenen Eingliederungsprinzipien und ihre eigene Geschichte mit. 1873 umfaßte die schon unübersichtlich gewordene Handschriftenabteilung der Nationalbibliothek fünf Sektionen: die orientalische, die griechische, die lateinische, die genealogische und die französische bzw. moderne.22 In der modernen Abteilung, wo auch Handschriften moderner europäischer Sprachen untergebracht wurden, unterschied man „ancien fonds" (alten Bestand), „fonds divers" (diverse Bestände, geschlossen übernommene Bibliotheken)23 und „collections diverses" (vermischte Sammlungen). In diese vermischten Sammlungen wurden im XIX. Jahrhundert die Nachlässe von Einzelpersonen oder Vereinen übernommen. Von besonderem Interesse waren dabei die Nachlässe der Gelehrten. Der Nachlaß des Hieroglyphenentzifferers Champollion24 wurde 1833 aufgenommen, lange bevor man sich auch nur um einen einzigen Schriftsteller französischer Sprache gekümmert hätte. Als das Direktorium Winckelmanns Handschriften25 beschlagnahmte, ging es ihm um den wissenschaftlichen und teilweise auch ideologischen Wert des Bestands mehr als um die literarische Quelle. Merkwürdig ist, daß die ersten Verfasser moderner Bestandskataloge die beschriebenen Sortierungsprinzipien von vornherein als legitimes
21 Karl Benedikt Hase hatte von 1829 bis 1864 die Handschriftenabteilung der Nationalbibliothek in seinem Zuständigkeitsbereich. 22 Das Verzeichnis des Bibliothekars Clément aus dem Jahre 1682 zählte 10557 Handschriften in allen Sprachen. Die 1800 ersten Handschriften wurden in der orientalischen Abteilung aufbewahrt. Die griechischen Handschriften gingen bis zur Nummer 5560, die lateinischen dann bis zur Nummer 6700. Die französischen Handschriften oder die Handschriften in modernen Sprachen hatten dann die Nummern 6700 bis 10557. Nach Ausweitung der Bestände wurde die Anwendung von Zwischennumerierungen eingeführt, die sich bald ins Unübersichtliche entwickelten 23 Die Regierung des Direktoriums übernahm die Handschriften der Kloster und Abteien wie sie sich auch Gemälde aus kirchlichem Besitz oder aus dem Besitz besiegter Länder aneignete. Zum theoretischen Hintergrund dieses Kunstraubs vgl. Edouard Pommier: L'art de la liberté. Doctrines et débats de la Révolution française. Paris 1991. 24 Vgl. Michel Dewechter: Importance et histoire du fonds Champollion de la Bibliothèque nationale. - In: Revue de la Bibliothèque Nationale (Paris), automne 1990. S. 2-17. 25 André Tibal: Inventaire des manuscrits de Winckelmann déposés à la Bibliothèque nationale. Paris 1911.
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Michel Espagne Chaos verstehen. Der Philologe und Historiker Paulin Paris (1800-1881)26 publizierte zwischen 1836 und 1848 unter dem Titel „Les manuscrits français de la bibliothèque du roi" ein siebenbändiges Verzeichnis, das aufgrund seiner Voraussetzungen unsere besondere Aufmerksamkeit verdient. Sobald Standort der Bücher, Autorennamen und Inhaltsverzeichnisse mitgeteilt werden, habe ein Katalog, meinte Paris, seine eigentliche Funktion erfüllt. Solche Kataloge habe es schon immer gegeben. Der Verfasser möchte aber ein höheres Ziel erreichen: „Eine Geschichte unserer modernsprachlichen Handschriften habe ich unternommen, und ich möchte sie abschließen. Alle Fragen, deren Lösung unsere Männer von Geist herbeiwünschen, wenn sie durch unsere Gänge wandeln, möchte ich, wenn nicht lösen, doch wenigstens aufwerfen und manchmal beleuchten. Beschreibung der Handschriften, wahrscheinliches Entstehungsdatum, Besitzer, Ornamente, Qualität des Einbände, Schreiber und Verzierungen, bekannte oder vermutete Autoren, Besprechung der über sie geäußerten Ansichten, Anzahl der Zitate, ihre Besonderheiten: dies alles möchte ich mehr oder weniger ausführlich behandeln"2'. Die Handschriftensammlungen werden als Ausgangspunkt kulturhistorischer Betrachtungen angesehen. Ihre Quellenfunktion erschöpft sich keineswegs in der Auswertung der einzelnen Handschrift. Paulin Paris weist darauf hin, daß man an ein einheitliches umfassendes Gliederungsprinzip gar nicht denken darf. Ganz heterogene Handschriften wurden im Laufe der Jahrhunderte zusammengebunden und können nicht mehr getrennt werden. Eine Ordnung nach Format der Bände würde diese Heterogenität nur verschleiern: „Wenn Sie die alten Klassifikationsprinzipien umstürzen wollen, so werden neue Schwierigkeiten entstehen. Sie werden es bereuen, nicht die fragmentarischen
26 Er war der Vater des oben erwähnten Paulin Paris. In seiner Arbeit als Mediävist meinte er an seiner Unkenntnis der deutschen Quellen gelitten zu haben, und er sorgte dafür, daß sein Sohn in Deutschland studierte. 27 „C'est une histoire de nos Manuscrits en langue vulgaire que j'ai commencée avec l'espoir de la terminer. Toutes les questions dont les hommes de valeur souhaitent la solution, en parcourant nos studieuses galeries, j'ai la prétention, non pas de les résoudre, mais de les indiquer et quelquefois d'ajouter aux moyens de les éclaircir. Description des manuscrits; conjectures sur leur date, leurs propriétaires, leurs ornements, leurs reliures, leurs scribes et leurs enluminures, notice sur leurs auteurs connus ou probables; discussion des sentiments que l'on a jusqu'à présent émis sur leur compte; citations nombreuses, particularités qui les concernent: voilà ce queje me suis proposé d'indiquer avec plus ou moins d'étendue." (Paulin Paris: Les manuscrits français de la bibliothèque du roi. Paris 1836-1848. 7 Bde. Bd. I, S. XIII-XIV.)
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Genetische Textanalyse Gedanken eines Jahrhunderts ergänzt zu haben, anstatt sie mit Augenblickseinfällen abzulösen".28 Das nächstfolgende Verzeichnis der modernen Handschriften entstand im Jahre 1868 und richtete sich nach dem Vorbild von Paulin Paris. Nur die Numerierung des ,Ancien fonds" wurde modernisiert und zählte 6170 Handschriften anstatt der ursprünglichen 3857 Nummern. Für die übrigen Sammlungen und die Erweiterungen des .Ancien fonds" hielt man an den geschichtlich überlieferten Tfeilordnungen fest.29 Man kann die Handschriften nicht klassifizieren, man kann nur ihre Entstehungsgeschichte erzählen und untersuchen, inwieweit sie uns betreffen. Die Aufschichtung der unterschiedlichen Klassifikationsprinzipien dürfte einen entscheidenden Zugang zur inhaltlichen Erschließimg bieten. Die Handschriftensammlung ist der eigentliche Kern der Pariser Nationalbibliothek. Dies hängt nicht nur damit zusammen, daß die ersten Bücher, die im XIV. Jahrhundert gesammelt wurden, Handschriften waren, sondern es ist auch von der Rolle der Abteilung unter der Julimonarchie, also zwischen 1830 und 1848, mitbedingt. Zu einer Zeit, als die Universität nur wenige Arbeits- und Aufstiegsmöglichkeiten für Wissenschaftler bot, arbeiteten bedeutende Gelehrte30 im „Cabinet des manuscrits". Die Handschriftensammlung stellte auch Räume und Lehrkräfte
28 „En résumé, je ne crains pas de le dire: quand vous voudrez bouleverser les anciennes classifications, de nouveaux embarras ne tarderont pas à se présenter et vous feront repentir de ne pas avoir employé le temps à compléter les pensées d'un siècle au lieu de leur substituer les fantaisies d'un jour." (Paulin Paris, a.a.O. S. XIX). Der Standpunkt des Sammlers von Kostbarkeiten ist schon überwunden worden. Dieser traditionelle Standpunkt kann etwa von einer frühen Beschreibung der Handschriften in Lyon illustriert werden: Ant. Fr. Delandine: Manuscrits de la bibliothèque de Lyon. Précédé d'un Essai historique sur les Manuscrits en général, leurs omemens, leur cherté, ceux qui sont à remarquer dans les principales Bibliothèques de l'Europe, avec une Bibliographie spéciale des catalogues qui les ont décrits. Lyon 1812. 29 Der Autor des neuen Verzeichnisses war ein Philologe und Historiker namens V.H. Michelant (1811-1890): Catalogue des manuscrits français. T. 1, Ancien fonds. Paris 1868 ff. 30 „En 1830 il y a trois conservateurs au département: le baron Bon. Joseph Dacier, pour les manuscrits modernes, entré en 1800; Jean Pierre Abel Rémusat, sinologue, nommé le 15 juillet 1824 à la place de Langlès et qui meurt du choléra le 3 juin 1832, Jacques Joseph Champollion-Figeac, qui travaille à classer le cabinet des Chartes depuis 1821." (Jean François Foucaud: La Bibliothèque Royale sous la Monarchie de Juillet 1830-1848. Paris 1978, S. 130.) Zum Personal der Handschriftenabteilung im XIX. Jahrhundert vgl. auch T. Mortreuil: La Bibliothèque nationale, son origine et ses accroissements jusqu'à nos jours. Paris 1878. Der Orientalist De Chézy, der Linguist Claude Fauriel, der Philologe Paulin Paris zählen zu den namhaften Gelehrten, die dort gewirkt haben.
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Michel Espagne für die Ecole des Chartes zur Verfügung, die einzige ernstzunehmende Ausbildungsanstalt für Philologen, allerdings mit Auswertung der historischen Quellen des Mittelalters als Schwerpunkt. Der Minister Guizot trug schon zu Beginn der 1830er Jahre dieser emsigen Tätigkeit Rechnung, indem er innerhalb der Handschriftensammlung ein Forschungsprogramm entwickelte. Es ging darum, entscheidende Quellen der Nationalgeschichte zu sortieren und zu edieren. Die Mitarbeiter der Handschriftensammlung bildeten den Kern des Gremiums, das über die Auswahl der zu edierenden Texte zu befinden hatte. Daraus ergibt sich eine spezifische Funktion dieses Archivs: die historisch-literarische Begründung einer nationalen Identität. Daß die Literatur im engeren Sinne, die Literatur als Dichtung oder Belletristik, diese Identität illustrieren konnte, stand allerdings noch nicht fest. Wenn der erste größere Nachlaß, der zu Beginn des XVIII. Jahrhunderts von der königlichen Bibliothek übernommen wurde, der Nachlaß des Ministers Colbert31 gewesen ist, so war der erste größere moderne Nachlaß des XIX. Jahrhunderts der Champollion-Nachlaß, der 80 Bände Handschriften des Hieroglyphenentzifferers umfaßte. Die noch unausformulierte Vorstellung einer literarischen Pflege des nationalen Erbes behauptete sich zu einer Zeit, als immer mehr Autoren ihre Arbeitshandschriften als materielle Spur ihrer schöpferischen Kraft betrachteten. Seit dem XV. Jahrhundert war die Aufbewahrung einer Arbeitshandschrift ja eher eine Ausnahme. Montaigne, Pascal, Bossuet und Fénelon haben Handschriften hinterlassen, aber weder Racine noch Molière. Diderot bewahrte nur die Handschriften der Bücher, die er aus Angst vor der Zensur nicht publizieren konnte. Rousseau, der bekanntlich in der traditionellen Einstellung zur Schriftlichkeit einen Umbruch markiert, interessierte sich schon für Entwürfe und warf sie nicht weg. Erst Balzac sollte aber in den 1830er Jahren des XIX. Jahrhunderts auf die Idee kommen, korrigierte Druckfahnen, die er hatte binden lassen, Bekannten zu verschenken. Diese Tfendenz erreichte ihren Höhepunkt bei Victor Hugo, der seine Handschriften sozusagen der europäischen Öffentlichkeit vermachte. Er schrieb im August 1881 in seinem Testament: „Ich gebe der Pariser Nationalbibliothek, die einmal die Bibliothek der vereinigten
31 Ch. de la Roncière et Paul M. Bondois: Catalogue des manuscrits de la collection des mélanges de Colbert, Paris 1920. Im Jahre 1732 übernimmt die Handschriftenabteilung nicht weniger als 8000 Bände Handschriften, die zum Besitz von Colbert gehört hatten. Sie umfassen diplomatische, religiöse, juristische Akten und den gesamten Briefwechsel von Colbert.
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Genetische Textanalyse Staaten Europas sein wird, alle meine Handschriften und alle Schriftstücke oder Zeichnungen meiner Hand, die man je entdecken wird"32. Diesem patriotischen Beispiel eiferten zahlreiche bekannte Schriftsteller oder deren Erben in der Zeit zwischen 1890 und 1914 nach.33 Der Nachlaß von Quinet, Renan, Lamartine, Thiers, Goncourt, Zola, Anatole France, Flaubert ging in die Handschriftensammlung der Nationalbibliothek ein, die damit erst in einer Zeit des neu erwachenden Nationalismus zu einem Literaturarchiv wurde. Diese Tradition hat sich bis in unsere Zeit hinein fortgesetzt. Allerdings ist nach 1945 der Marktwert der Arbeitshandschriften bedeutender Schriftsteller so hoch gestiegen, daß die Nationalbibliothek die großen Nachlässe nicht mehr geschenkt bekommen, sondern käuflich erworben hat, etwa im Jahre 1972 einen Tfeil des Valéry-Nachlasses oder 1962 177 Bände Prousthandschriften. Schenkungen hat es weiterhin gegeben. Oft handelt es sich aber um Autoren zweiten Ranges, denen die Familie eine posthume Anerkennung verschaffen möchte. Denn die Handschriftenabteilung der Nationalbibliothek bleibt nach wie vor eine Art Tfempel des geistigen Selbstverständnisses Frankreichs. Dadurch erklärt sich einerseits, daß das Archiv der Freimaurerlogen des XVIII. Jahrhunderts34 kurz nach dem 2. Weltkrieg in die Handschriftenabteilung eingegliedert, andererseits daß die Handschriften und Korrespondenzen des Naturwissenschiiftlers Pasteur35 1964 übernommen wurden.36 Die Handschriftensammlungen zeigen unterschiedliche Ordnungsprinzipien, die auf hierarchische Wertesysteme zurückgehen. Innerhalb der Handschriftenkabinette hat aber auch die Ordnung der einzelnen Nachlässe ihren eigenen Systemcharakter. Die Dichter legen oft ein eigenes Privatarchiv an, das die Einteilung der Bestände öffentlicher Bibliotheken in eine Privatsystematik überträgt. Die Ttextphilologie befaßt sich nicht mit der inneren Einteilung der Bibliotheksbestände, die als Vorlagen von 32 „Je donne tous mes manuscrits et tout ce qui sera trouvé écrit ou dessiné par moi à la Bibliothèque nationale de Paris, qui sera un jour la Bibliothèque des Etats-Unis d'Europe." (31. August 1881) 33 Für eine Geschichte der modernen Handschriften im Cabinet des manuscrits vgl.: Roger Pierrot: „Les écrivains et leurs manuscrits" - In: Bulletin de la Bibliothèque nationale (Paris), Décembre 1979, S. 165-177. 34 J. Caïn: La bibliothèque nationale pendant les années 1945 à 1951. Paris 1954. 35 Marie Laure Prévost: „Manuscrits et correspondance de Pasteur à la Bibliothèque nationale".- In: Bulletin de la Bibliothèque nationale (Paris), Septembre 1977, S. 99-107. 36 Einen allerletzten Stand der Reflexion über Erwerbungsprozeduren und Zugänglichkeit der handschriftlichen Nachlässe findet man in: Trésors de l'écrit. Dix ans d'enrichissement du patrimoine écrit. Ttexte introd. de Pierre-Marc de Biasi. Paris 1992.
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Michel Espagne den Schriftstellern benutzt wurden, obwohl sie schon ein Weltbild vermitteln. Sie kann ebenso wenig den Privatarchiven der Autoren und der geheimnisvollen Methode, diese Bausteine in Sätze und Textfragmente umzusetzen, Rechnung tragen. Denn die editionsphilologischen Darstellungsmodelle, die alle dem Urschema des Stemmas verpflichtet sind, können zwar die chronologische Abfolge einzelner Arbeitsstufen widerspiegeln, nicht aber das Zusammenspiel zahlreicher Momente des Privatarchivs. Wenn man Jean Pauls thematische Hefte, Musils potentielle Handlungsschemata oder Benjamins alphabetisch klassifizierte Konvolute einsieht, hat man nicht die Frage zu beantworten, wie der Text in eine historische Perspektive zu setzen ist, sondern wie er sich auf ein umfassendes Schreibsystem bezieht. Die Romane Zolas beruhen auf der Registrierung umfangreichen Dokumentationsmaterials, das vielleicht in den Romanen nicht mehr vorkommt, aber die Schreibarbeit des Schriftstellers auslöst. Oft, etwa im Falle Jean Pauls, fugt sich die Tbxtgeschichte der einzelnen Werke in dieses Gesamtsystem ein. In anderen Fällen hat das Dokumentationsmaterial nur einen virtuellen Charakter. Die Schreibsysteme sind wie die fertigen Schriften das Ergebnis einer schöpferischen Leistung der Schriftsteller. Andererseits illustrieren sie auch kollektive zeitbedingte Gewohnheiten. Winckelmanns Exzerpte aus altgriechischer oder aufklärerischer Literatur sind nicht nur die Vorlage für die Erarbeitung der „Geschichte der Kunst", sondern entsprechen auch einem damals gängigen Modell. Die Schreibsysteme und Privatarchive kann man eigentlich kaum in den Lesartenapparat historisch-kritischer Ausgaben hineinzwängen. Für eine solche Aufgabe könnte die „critique génétique" unter Umständen besser gewappnet sein. Denn die Klassifikationsformen stellen letztendlich den Bezug des Schreibprozesses zu üblichen wissenschaftlichen Beschreibungsmodellen in Frage. Benjamins Symbolisierung der einzelnen Kategorien des „Passagenwerks" durch farbige Zeichen erinnert unweigerlich an die Gemälde Klees. Seine Listen von Stichwörtern sind nicht ohne Verwandschaft mit den Sachkatalogen der Nationalbibliothek in den 20er und 30er Jahren. Die Beziehung zwischen der Bibliotheksordnung und den Klassifikationssystemen der Arbeitsmaterialien einzelner Autoren sowie zwischen diesen Schreibsystemen und den Handschriftenkabinetten verlangt eine hermeneutische Erläuterung, die insbesondere auf dem Boden von Kulturgeschichte und Kulturanthropologie zu suchen ist.
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Genetische Textanalyse Wertung der Handschriftenbestände
und
Literaturbegriff
Die Schriftkultur impliziert von vornherein die Gründung von Archiven. Daß die alten griechischen Gesetze wie andere Schriftstücke auch in Archiven aufbewahrt wurden,37 daß die Mäsopotamier 3000 Jahre vor Christus Verzeichnisse der Kriegsbeute oder der Ein- und Ausnahmequellen zu führen, ja sogar Listen von Gegenständen aufzustellen pflegten und sich in der semantischen Zuweisung herumtasteten, sind bekannte Tatsachen. Den Archäologen ist seit langem aufgefallen, daß die Eingliederungsprinzipien frühzeitlicher Archivstücke nicht ohne Wirkung auf den sozialen Zusammenhang geblieben sind, ja daß sie die Argumentationsformen zutiefst verändert haben.38 Sobald Schriftstücke gesammelt und geordnet werden, ändert sich das System der Kategorien, welche die Beziehungen zur Umwelt regulieren. Eine Liste etwa muß entweder eine Hierarchie der genannten Gegenstände oder eine bestimmte weltanschaulich bedingte Einteilung der semantischen Felder widerspiegeln. Nicht daß man sofort die Legitimität dieser Ordnung einsehen kann, aber ihr haftet die Spur eines synchronen Gesellschaftszustandes an. An sich wirkt das Ritual des Schreibens und der Aufbewahrung von Schriftstücken eher undurchsichtig. Vielleicht gehört es zu jenen Formen von sozialen Zeremoniells, die den Außenstehenden befremden, aber die Gemeinschaft zementieren, wie man sie bei Urvölkern untersucht hat.39 Ein Ritual kann zwar im Diskurs der Teilnehmer eine mythische Rechtfertigung finden, die sie durchaus befriedigt, es verweist aber andererseits auf verdrängte, nur anthropologisch relevante Sinnstrukturen. In Paris werden Handschriften bekanntlich auf große Blätter geklebt, die anschließend in einer nicht mehr veränderbaren Reihenfolge gebunden werden. Dabei können die Ränder der Handschriften, die noch dazu mit einem Stempel verunziert werden, zu Schaden kommen. Die Wasserzeichen, die die Zusammengehörigkeit einzelner Folioblätter dokumentieren können, werden nicht selten unkenntlich gemacht. Die Heine-Philologen, die die Handschriften der italienischen „Reisebilder" oder der späten Gedichte untersucht haben, wissen aus Erfahrung, daß das Spiel mit den einzelnen Blättern zwecks neuer Einordnung 37 Vgl. „Les savoirs de l'écriture en Grèce ancienne." (Hrsg. von Marcel Detienne.) Lille 1988. 38 Es muß hier das Buch des amerikanischen Anthropologen Jack Goody: The domestication of the savage mind (Cambridge 1977) besonders erwähnt werden. 39 Ein klassisches Modell wurde von dem Anthropologen G. Bateson in seinem Buch „Naven" (1935) geliefert. Französ. Ubersetzung „La cérémonie du Naven." Paris 1971.
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Michel Espagne nur mit Kopien möglich ist. Die Eingriffe des französischen Archivars in die ihm anvertrauten Bestände wurden im XIX. Jahrhundert von einem Leiter der Handschriftenabteilung streng kodifiziert.40 Die Jean PaulSammlung der Staatsbibliothek Berlin besteht im Gegenteil aus Pappkartons, in denen lose Blätter dem Staub, ja vielleicht dem Zugriff der Benutzer ausgesetzt sind. Ein Berliner oder Pariser Archivar wird sofort eine Rechtfertigung für den jeweiligen Zustand der Heine- bzw. Jean PaulSammlung bereithalten und sich dabei sogar ereifern können. Neben diesen Stellungnahmen bleibt jedoch die Möglichkeit, unterschiedliche Rituale auf unterschiedliche kulturbedingte Erwartungen zurückzuführen. Vielleicht wurden die Pariser Handschriften nur deshalb gebunden, weil es nicht darauf ankam, die Handschriftenbestände historisch-kritisch zu untersuchen, sondern ihnen von vornherein einen Buchwert zu verleihen, sie als unantastbare Kostbarkeiten zu behandeln, aus denen Ungedrucktes zu gewinnen war. Die kulturgeschichtliche Dimension der Archivbestände erschöpft sich nicht in der Beschreibung von dem, was sie aufnehmen, sondern umfaßt auch, was sie bewußt oder unbewußt auslassen. Was vom Marbacher Literaturarchiv erworben oder aufgenommen wird, erlangt dadurch eine literaturhistorische Relevanz, wird als ästhetisches Dokument erkannt. In der Aufbewahrung der Handschriften ist die Frage der Ausgrenzungen jeder Art für das literarische Selbstverständnis einer Zeit von besonderer Bedeutung. Kein Zweifel, Büchners Dissertation über das zentrale Nervensystem der Fische gehört zu seinem Werk. Ob die von Franz Kafka bearbeiteten Versicherungsverträge als Teil seines Nachlasses zu betrachten sind, ist schon viel unsicherer. Daß man die Handelskorrespondenz der
40 Leopold Delisle: Instructions pour la rédaction d'un catalogue de Manuscrits et pour la rédaction d'un inventaire des incunables conservés dans la Bibliothèque de France. Paris: Champion s.d. Delisle hatte die Zeit für deis Abstempeln der Folioseiten genau errechnet: „Une expérience poursuivie à la Bibliothèque nationale depuis plus de vingt années permet d'évaluer à une moyenne de 1700 le nombre des feuillets auxquels, dans une séance de six heures, une personne attentive et laborieuse peut faire subir les opérations dont le détail vient d'être exposé." (S. 48). Bei der Autopsie der Handschriften wurde die materielle Beschreibung des Papiers mit kaum weniger Sorgfalt vorgenommen als es jetzt der Fall ist: „Pour décrire l'état matériel d'un volume, il faut noter la substance sur laquelle il est écrit, le nombre des pages ou des feuillets qu'il renferme, la division des pages en colonnes, les dimensions des feuillets et les mutilations qu'ils ont pu subir. - Quelquefois il est utile d'indiquer la composition et les signatures des cahiers. - Pour les manuscrits d'une haute antiquité, le nombre des lignes de la page ou de la colonne est à mentionner." (p. 3)
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Genetische Textanalyse deutschen Weinhändler in Bordeaux in Beziehung zu Hölderlins sakralisiertem Gedicht „Andenken" oder in die Nähe des Homburger Foliohefts bringen könnte, hätte schon etwas Gotteslästerliches. Die Ausgrenzung innerhalb einzelner Nachlässe wiederholt die Grenzziehung zwischen Handschriften der Hochliteratur und reinen historischen Quellen. Obwohl sie viele Informationen über die Literatur des ausgehenden XVIII. Jahrhunderts vermitteln, werden Korrespondenzen von Händlern, Sammlern, Handwerkern, Kunstliebhabern usw. eher in ein historisches Archiv als in ein Literaturarchiv gebracht. Das Gebiet der Literatur und so auch zum Tfeil die entsprechende Wissenschaft wird damit negativ durch die ausgeschlossenen Sammlungen definiert. Autoren wissen über die Tragweite dieser Ausgrenzungsmechanismen am besten Bescheid. Als der Romanschriftsteller Aragon seinen gesamten Nachlaß zu Lebzeiten vermachte, wollte er in keinem Fall zulassen, daß diese unschätzbare Sammlung von Korrespondenzen mit allen Schriftstellern der Zeit und Arbeitshandschriften zahlreicher Romane und Gedichtzyklen in der Handschriftenabteilung der Nationalbibliothek aufbewahrt wurde. Diese Kanonisierung war ihm widerwärtig, und er gab den Nachlaß lieber dem französischen CNRS mit dem Auftrag, die Entstehungsprozesse der literarischen Werke zu untersuchen, wie Naturwissenschaftler für den weiteren Fortschritt der Medizin eine Leiche obduzieren. Daß der Nachlaß von Samuel Beckett nicht in der Bibliothèque Nationale, sondern in einem neuentstanden und jetzt florierenden alternativen Literaturarchiv „IMEC" (Institut pour la mémoire de l'édition contemporaine) untergebracht wurde, kann niemanden erstaunen. Das Prinzip des alternativen Literaturarchivs gibt es übrigens seit der Vorkriegszeit, als der sogenannte „Fonds Doucet"41 mit Handschriften von Autoren der zwanziger bis vierziger Jahre angelegt wurde. Meines Wissens haben weder das Deutsche Literaturarchiv in Marbach noch das Weimarer Goethe- und Schiller-Archiv derartig ambivalente Abwehrreaktionen ausgelöst. Jedenfalls spielt bei der Konstituierung literarischer Archive, die ein fortlaufender Prozeß ist, nicht nur die Frage der optimalen Archivierungsmethoden, sondern das literarische Selbstverständnis einer Zeit die Hauptrolle. 41 Der Couturier und Kunstkenner Jacques Doucet (1853-1929) hatte Handschriften gesammelt, die er schon 1918 der Universität Paris schenkte. Diese Sammlung, die nach seinem Tode erweitert wurde, umfaßt von allem Nachlässe von Autoren des XX. Jahrhunderts. Die Bibliotheksordnung betont die Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit der handschriftlichen Uberlieferung, indem sie jede Form von technischer Reproduktion der Bestände verbietet.
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Michel Espagne Wenn man sich mit der Geschichte der Handschriftensammlungen und der literarischen Nachlässe in Deutschland wie in Frankreich befaßt, ist die Frage „Was ist Literatur?" keine rhetorische mehr. Erst ab Mitte des XIX. Jahrhunderts im Zuge der Debatte um das Prinzip der Nationalliteratur wurde Literatur zu einem Synonym für Dichtung und Belletristik. Vorher und teilweise auch nachher umfaßt der Begriff geisteswissenschaftliches Schrifttum unterschiedlichster Art. Nun werden die literarischen Nachlässe als Steinbruch für die Bearbeitung historisch-kritischer Ausgaben kanonischer Werke benutzt. Dabei werden die überlieferten Entstehungsphasen in Apparate chronologisch eingeordnet. Diese historische Darstellung der Schreibarbeit wird aber mitunter, sowohl in der deutschen Philologie wie in der französischen „génétique textuelle", mit einer Kausalkette verwechselt. Eine im handschriftlichen Nachlaß befindliche Vorstufe ist nämlich nicht die Ursache der nächstfolgenden. Sie hat höchstens die Funktion einer isolierten Etappe im Textentstehungsprozeß. Dafür können andere Archivstücke, etwa Korrespondenzen der Zeit, die gar nicht vom Autor unterzeichnet wurden, einen höheren Erklärungswert besitzen. Erklärungswert haben eigentlich alle Hinweise auf die Strukturierung eines Umfeldes des untersuchten Werkes. Durch ihre Ankaufspolitik haben die literarischen Archive die große Verantwortung, dieses Umfeld näher zu konturieren. Die Frage, ob man eine graphische Sammlung mit einem literarischen Nachlaß verbindet - dies ist im Falle des Zola-Nachlasses geplant - hat entscheidende Konsequenzen auf die weiteren Forschungsarbeiten. Desgleichen bot erst die Eröffnung eines Archivs für die Geschichte der Germanistik im Marbacher Literaturarchiv die Möglichkeit, neue Problemstellungen wie die Rückwirkung der Literaturwissenschaft auf die Literaturentstehung aufkommen zu lassen. Diese archivbedingte Fragestellung ist auch ein markanter Beitrag zur Entstehungsgeschichte, zur „genèse" literarischer Texte im weiteren Sinne. Im Archiv kann sich damit die Grenze zwischen Literatur und Umfeld verschieben, objektive Vorbedingungen der Werkentstehung haben allmählich eine Chance, erkannt zu werden. Demnach werden im Literaturarchiv prinzipiell die Grenzen des Literaturbegriffs in Frage gestellt und zwar zugunsten dessen, was man in Frankreich als „champ littéraire"42 bezeich42 Vgl. das Werk von Pierre Bourdieu: Les règles de l'art. Genèse et structure du champ littéraire. Paris 1992. S. 399: „L'expérience de l'oeuvre d'art comme immédiatement dotée de sens et de valeur est un effet de l'accord entre les deux faces de la même institution historique, l'habitus cultivé et le champ artistique, qui se fondent mutuellement: étant donné que l'oeuvre d'art n'existe en tant que telle, c'est-à-dire en tant qu'objet symbolique
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Genetische Textanalyse net. Der Übergang von der historisch-kritischen Entstehungsgeschichte kanonisierter Texte zu einer kulturanthropologischen Perspektive auf Schreibprozesse ist in den Archiven vorprogrammiert und läßt sich erst dort auch vorprogrammieren. Der frühere breitere Literaturbegriff hat in diesem Rahmen neue Aussichten, sich wieder durchzusetzen. Auch können weitere Textformen, etwa historische oder juristische Schriften, auf ihre Entstehungsgeschichte hin untersucht werden. Vom Standpunkt einer Anthropologie der Schreibarbeit könnten die Arbeitshandschriften von Historikern wie Ranke oder Treitschke womöglich ebenso fruchtbare Ergebnisse liefern wie die Handschriften Friedrich Schillers. Der Besuch eines Literaturarchivs hängt meistens mit einem empirischen Forschungsprojekt zusammen. Man geht in ein Archiv, um Quellenmaterial zu suchen, und macht sich nur selten Gedanken über die Eingliederung dieses Material in einen umfassenden Kontext. Nun bergen gerade die innere Ordnung der Sammlungen sowie die von einem Schriftsteller innerhalb seines Privatarchivs beachteten Organisationsprinzipien den Ansatz literaturtheoretischer Betrachtungen, die man nur kulturhistorisch zu entziffern hat. Zu diesem Zweck scheint mir die Verknüpfung von Literaturarchiv und Forschungsgruppe eine besonders fruchtbare Konstellation zu sein. Das ITEM beansprucht, das theoretische Pendant des Handschriftenkabinetts der Pariser Nationalbibliothek zu werden. Die Forschungsstelle zur Geschichte der Germanistik in Marbach entsprang offenbar aus dem Bedürfnis, die traditionelle Zäsur zwischen Quellenmaterial und Wissenschaftstheorie nicht nur zu überbrücken, sondern als positiven Antrieb zu benutzen. Denn die Anschaffung neuer Handschriften oder die Aufnahme von Schenkungen muß aufgrund impliziter Klassifikationen entschieden werden, die sowohl bei der Eingliederung ins Archiv wie auf dem Bereich der schriftstellerischen Arbeit am Werke sind. Ausgrenzungen und Grenzziehung bei der Konstituierung des handschriftlichen Materials sind auch theorieträchtige Entscheidungen. Literaturarchive konkretisieren den Berührungspunkt zwischen den Werken und dem kulturhistorischen Umfeld, das ihnen ihre ästhetische Bedeutung verleiht. Die philologische Auswertung eines Nachlasses im Literaturarchiv erweist sich als Bestandteil einer möglichen Kulturgeschichte. doté de sens et de valeur, que si elle est appréhendée par des spectateurs dotés de la disposition et de la compétence esthétiques qu'elle exige tacitement, on peut dire que c'est l'oeil de l'esthète qui constitue l'oeuvre d'art comme telle, mais à condition de rappeler aussitôt qu'il ne peut le faire que dans la mesure où il est lui-même le produit d'une longue histoire collective. ".
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Der Brief als historische Quelle I. Ich möchte heute eine alte, aber immer wieder neu zu erörternde Frage stellen: Hin wir genug bzw. tun wir das Richtige, um den Brief als historische Quelle wahrzunehmen? Wenn ich gleich zu Anfang vom Brief als einer historischen Quelle spreche, dann deshalb, weil ich den methodischen Blickwinkel, unter dem ich den Brief hier behandelt wissen will, deutlich machen möchte. Das bedeutet nicht, daß ich andere Aspekte, unter denen der Brief gesehen werden kann, leugne. Bei allen weiteren Überlegungen soll nicht unberücksichtigt bleiben, daß der Brief eben nicht nur und auch gar nicht in erster Linie eine Quelle für die historische Forschimg im weitesten Sinne gewesen ist und deshalb auch lange nicht zum Gegenstand der historischen Quellenkunde wurde. Er ist vielmehr vorwiegend als literarische Form wahrgenommen worden, und dies insbesondere in den Kreisen der Germanisten. Aber erst wenn wir mindestens diesen beiden Betrachtungsweisen, unter denen der Brief gesehen werden kann und die sich aus seinem Charakter ergeben, gerecht werden, d.h. wenn wir den literaturwissenschaftlichen Aspekt einerseits und den Aspekt der historischen Quellenkunde andererseits weder unzulässig vermischen noch beide gegeneinander ausspielen, kommen wir dem gemeinsamen Anliegen näher, das - wie ich meine - lauten müßte: Wege zu finden, um diesen höchst interessanten Überresten der Vergangenheit, die wir Briefe nennen, in ihrer Qu éditât als historische Quelle Rechnung zu tragen. Die Forderung erscheint heute selbstverständlich. Sie ist aber noch keineswegs ausreichend diskutiert. Die Rezeptionsgeschichte des Briefes zeigt, daß wir es mit sehr unterschiedlichen Betrachtungsweisen zu tun haben. Verfolgen wir also zunächst im groben Überblick diese Rezeptionsgeschichte in der europäischen Neuzeit, und zwar unter dem Aspekt, inwieweit der Brief als historische Quelle aufgefaßt worden ist.
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II. Der naive Rezipient brachte der Textgattung nachgelassener Briefe Neugier oder Verehrung entgegen. Sie veranlaßten ihn, Briefsammlungen der Familie aufzuheben oder Briefeditionen zu erwerben und zu lesen. Das Motiv der Erbauung an stilistisch und inhaltlich besonders „wertvollen" Briefen spielte in Kreisen bürgerlicher Kultur keine geringe Rolle. Es bewirkte auch, daß manche Briefe vor der Vernichtung bewahrt worden sind. Parallel dazu und aus einer ähnlichen Haltung erwuchs das antiquarische Interesse an nachgelassenen Briefen, ein Interesse, das bis zum heutigen Tag lebendig geblieben ist und sich nach wie vor bei den Auktionen von Autographen Geltung verschafft. Menschen, die am Brief ein antiquarisches Interesse haben, schätzen ihn als Denkmal und behandeln ihn als Sammlungsgegenstand. Briefe waren und sind unter diesem Aspekt um so wertvoller, je größer das Ansehen des Autors und je schöner ihr äußeres Erscheinungsbild ist. Dieses Interesse hatte zur Folge, daß Briefe als Einzelstücke wahrgenommen und geschätzt und deshalb vielfach aus ihrem Überlieferungszusammenhang gerissen wurden. Das widerspricht in der Regel nicht nur der Intention der Briefschreiber, es behindert auch die quellenkritische Betrachtung. Kein Wunder, daß z.B. Archivare und Forscher dieser Interessengruppe oft kritisch gegenüberstehen. Dennoch sollte nicht vergessen werden, daß manche Briefe verschollen wären, hätte es nicht bereits frühzeitig Autographensammler gegeben. Es bleibt freilich festzustellen, daß sich der traditionelle Autographensammler wohl vor allem am Namen des Autors und dessen kulturellem Ansehen orientiert und in zweiter Linie den Erhaltungszustand des Stückes in Betracht zieht. Der Quellenwert eines Briefes spielt für ihn insofern eine Rolle, als ungedruckte Briefe höher veranschlagt werden als bereits gedruckte. Dabei soll nicht behauptet werden, daß Sammler den Wert der Briefe als historische Quellen völlig außer acht lassen. Grundsätzlich aber hat die antiquarische Annäherung andere Akzente; sie widerspricht der Sichtweise, die einem wissenschaftlichen Interesse entspringt. Neben den oben genannten Annäherungen, die sich aus einem Sammelinteresse an den der Nachwelt überlieferten Briefen ergeben, hat der Brief wohl stets auch als literarische Form Aufmerksamkeit gefunden und ist als ein Produkt literarischer Tätigkeit wahrgenommen worden. Ich meine damit nicht literarische Werke, die sich in Briefform an das Publikum wenden, sondern echte, an einen bestimmten Empfänger gerichtete Briefe, 106
Der Brief als historische Quelle denen wegen ihres Absenders ein literarischer Rang zugeschrieben wird.1 Im Gefolge dieser Rezeption wurde der Brief auch poetologisch untersucht und mit formverwandten Werken verglichen. Seine stilistische Herkunft aus der Rhetorik, die reguläre oder gelegentliche Abhängigkeit von den Regeln der Briefsteller sowie seine Verwandtschaft mit der Memoirenliteratur, schließlich auch die Koinzidenz der „ B r i e f e p o c h e " m i t der Entwicklung des Romans lenkten das Interesse der Sprach- und Literaturwissenschaft zunehmend auf Briefe, die dann unversehens vorwiegend unter Kriterien literarischer Werke betrachtet wurden.2 Das so gewachsene literaturwissenschaftliche Interesse förderte auch gattungstheoretische Überlegungen über den Brief und brachte viele Einsichten in die Tfextbeschaffenheit unseres Gegenstandes. Auch in diesen Fällen blieb es im Grunde der Name des Autors, der das Interesse an einem Brief bzw. an einer bestimmten Korrespondenz weckte und zur Veröffentlichung von Briefanthologien oder auch von zusammenhängenden Korrespondenzen führte. So dürfte es zunächst das literarische Interesse am Brief gewesen sein, das die Edition von größeren Briefausgaben ermöglicht hat. Aber gerade deshalb konnten viele dieser Ausgaben, insbesondere solche des 19. Jahrhunderts, dem Brief als historischer Quelle nicht gerecht werden, denn die literarische Wertschätzung schützte nicht vor der Verfälschung durch Retuschen am Tfext.3 1 Vgl. Irmtraut Schmid: Was ist ein Brief? — In: editio. Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft, 2 (Tübingen 1988). S. 1-7, besonders S. 6. — Damit soll nicht geleugnet werden, daß es zwischen den Kategorien „eigentlicher Brief' und „Brief als literarisches Werk" Zwischenstufen gibt. Der völlige Verzicht auf eine deutliche Kategorienbildung, wie ihn Wolfgang G. Müller vertritt, kann aber meiner Meinung nach nicht zur Klarheit führen, weil der Gegenstand hier weiterhin ausschließlich als literarische Gattung und nicht als historisches Dokument verstanden wird (Müller: Der Brief. In: Prosakunst ohne Erzählen. Die Gattungen der nichtfiktionalen Kunstprosa. Hrsg. von Klaus Weissenberger. Tübingen 1985, S. 67-87). 2 Vgl. Reinhard M.G. Nickisch: Präliminarien zu einer systematisch und historisch adäquaten Erschließung der deutschen Briefliteratur. - In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht, 12 (Würzburg 1979), H. 3, S. 206-225, besonders S. 206: „Die Unsicherheit gegenüber den Briefen äußert sich bei den ,Dichtungswissenschaftlern' darin, daß sie einerseits die Briefe der als Dichter hochgeschätzten Autoren nicht deren Dichtungen gleichsetzen mochten und daß sie andererseits ebendiese Briefe als .Werke' der betreffenden Autoren nicht ignorieren konnten, j a sie vielmehr gerne und oft als einzigartige Hilfen für die Interpretation der eigentlichen Dichtungen heranzogen". 3 Hier meine ich nicht diejenigen Veränderungen, die vom Briefautor selber zum Zwecke der Veröffentlichung vorgenommen wurden; solche beträfen sozusagen Redaktionen an einem „Briefwerk" des Autors. Gemeint sind hier die Retuschen nachgeborener Editoren, die immer als Verfälschungen bezeichnet werden müssen, wie die Beispiele der Melanchthon-Brief-Editionen oder der frühen Ausgaben der Gellert-Briefe zeigen.
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Aus der allgemein gewachsenen Wertschätzung des Briefes entwickelte sich ein weiteres und grundsätzlich anders geartetes Rezeptionsinteresse. Der Brief wurde zugleich als Zeugnis über die anderen literarischen Werke des Autors betrachtet und genutzt; er wurde zur Quelle für dessen Biographie wie für geschichtliche Vorgänge überhaupt. Wenn man die Werkausgaben eines Autors durch die Edition seiner Briefe ergänzte, stand die Rolle der Briefe als Kommentierungsbeigabe zu den Werken im Blickpunkt, und es stellte sich die Frage, in welcher Breite sie zu berücksichtigen waren. Dabei richteten sich die Bestrebungen zunehmend auf Vollständigkeit aus, was bedeutete, daß auch die inhaltlich und/oder sprachlich weniger gelungenen Briefe in die Edition aufgenommen wurden. Immer geläufiger wurde die Einsicht, daß auch literarisch weniger bedeutsame Briefe wichtige Zeugnisse über Leben und Werk des Autors bieten.4 Das Bewußtsein, mit den überlieferten Briefen einen bedeutenden Schatz an historischen Quellen zu besitzen, führte in den letzten Jahrzehnten zu verstärkten Bemühungen, diesen Schatz in möglichster Vollständigkeit zu heben. Man wollte und konnte sich nicht mehr nur auf Zufallsfunde verlassen, auch wenn man weiterhin vor allem die vielversprechenden Erzadern literarischer Größen verfolgte. Es ging vielmehr darum, das gesamte Erdreich umzugraben, um daraus Informationen zu gewinnen. Da aber die Fragen, die man an den Brief stellen wollte, nicht mehr in erster Linie seiner literarischen Gestaltung galten, da man sich bewußt wurde, daß er außerdem über werkgeschichtliche Informationen hinaus auch Aussagen von allgemeingeschichtlichem Interesse bereithält, bekam man es nunmehr mit der Masse der Briefuberlieferung zu tun. Das „Glück der Fülle an epistolarischer Mitteilung" (wie Bernhard Zeller sich gelegentlich ausdrückte)5 stellte wahrlich alle, die mit dieser Quelle zu tun hatten, vor neue Aufgaben. Es genügte nicht mehr, Briefe bedeutender Personen herauszustellen. Für die Orientierung in diesen Quellen mußten neue Wege beschritten werden; es ist bekannt, daß diese unter anderem mit Hilfe von Briefverzeichnissen einerseits, Regestausgaben andererseits und nicht zuletzt in Form von Mischeditionen beschritten wurden und werden.6
4 Nicht zu übersehen ist, daß mit diesem Gebrauch des Briefes als historische Quelle in manchen Fällen auch eine unzutreffende Bewertung seiner Dokumentationsqualität einherging. Der Brief galt als unverfälschtes, weil spontan entstandenes Zeugnis über die Auffassungen und Stimmungen seines Schöpfers. 5 Zellers Einleitung in: Günther Fetzer: Das Briefwerk Hugo von Hofmannsthals. Modelle für die Edition umfangreicher Korrespondenzen. Marbach am Neckar 1980, S. 7. 6 Vgl. Günther Fetzer, s. Anmerkung 5.
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Der Brief als historische Quelle Für Historiker waren nachgelassene Briefe vorrangig Archivalien mit Quellencharakter, erst in zweiter Linie Zeugnisse der Literatur. 7 Ob sie allerdings den Brief immer mit der nötigen quellenkritischen Vorsicht benutzt haben, wie dies z.B. bei mittelalterlichen Urkunden üblich war, darf füglich bezweifelt werden. Allzu viele zufällige Funde und manch Interessantes oder Einzigartiges verführten dazu, Thesen zu belegen, ohne dabei den Gesamtzusammenhang, aus dem der Brief stammte, zu beachten.
III. Nimmt man den Brief als historische Quelle ernsthaft wahr, so muß eine seiner grundlegenden Eigenschaften in Rechnung gestellt werden, die er mit der Gesamtheit der zu historischen Quellen gewandelten schriftlichen Überlieferungen teilt. Abweichend vom ursprünglichen Entstehungszweck haben diejenigen Briefe, die wir als historische Quelle nutzen, einen Funktionswandel erfahren. Sie sind, weil sie der Nachwelt überliefert sind, der Nutzung durch die Öffentlichkeit ausgesetzt. Der ursprüngliche Zweck, Informationen an einen konkreten, meist privaten Empfänger zu übermitteln, ist sozusagen hinfallig geworden und dennoch bei der Auswertung der Quelle in seiner Besonderheit immer zu berücksichtigen. 8 Da Briefe in dieser Beziehung, wie schon gesagt, das Schicksal aller archivalischen Überlieferung teilen, müssen sie auch nach Maßstäben dieser Überlieferung behandelt werden. Wenn wir danach fragen, wodurch der Informationsgehalt von archivalisch überlieferten Quellen bestimmt wird, dann muß deutlich festgestellt werden, daß dieser keineswegs nur vom sprachlich fixierten Inhalt abhängt, der z.B. durch Schreibintention und Gegenstand bedingt ist. Es sind auch äußere, formale Eigenschaften wie etwa Beschreibstoff, Schreib7 Vgl. Ahasver von Brandt: Werkzeug des Historikers. Stuttgart 1966, besonders S. 142. Heinrich Otto Meisner: Archivalienkunde. Leipzig 1969, besonders S. 75 ff. 8 Dieses Problem, das beim Umgang mit archivalischen Quellen grundsätzlich vorliegt, beschreibt Winfried Woesler in seinem Beitrag „Der Brief als Dokument" (Probleme der Brief-Edition. Kolloquium der Deutschen Forschungsgemeinschaft Schloß 1\itzing am Starnberger See, 8.-11. Sept. 1975. Referate und Diskussionsbeiträge. Hrsg. von Wolfgang Frühwald, Hans-Joachin Mähl u. Walter Müller-Seidel. Bonn-Bad Godesberg 1977, S. 41-59), ohne zu beachten, daß es sich um den grundsätzlichen Funktionswandel bei allen Archivalien handelt.
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Stoff und Schriftspiegel zu berücksichtigen. Auch die Gliederung des Textes und die Beigaben können die Dokumentationsqualität der historischen Quelle, sprich: also des Briefes, bestimmen. Schließlich ist der Entstehungszusammenhang, aus dem das jeweilige Stück stammt, von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Er bindet die inhaltlichen Aussagen eines Schriftstückes in einen Kontext ein und versetzt uns damit erst in die Lage, die Aussagen des Einzelstückes zu bewerten. 9 Weil das so ist, müssen einige wichtige Konstanten auch bei der Behandlung des Briefes als historischer Quelle berücksichtigt werden. Diese sind: - die Provenienz als allgemeiner archivalischer Überlieferungszusammenhang, - die sozialen (z.B. die moralischen, zeremonialen, stilistischen) und technischen Konventionen, - das Verhältnis von Absender und Empfanger (z.B. Hierarchie, Bindungen, Vertrautheitsgrad, rechtliche Vorschriften).
IV. Unter diesen Voraussetzungen ergeben sich für Kustoden, Editoren, Literaturwissenschaftler und Historiker allgemein zu formulierende Aufgaben. Für Kustoden (ich verwende diese Bezeichnung der Kürze wegen für Archivare, Bibliothekare, Museologen, das heißt für alle diejenigen, die nachgelassene Briefe im öffentlichen Interesse zu betreuen haben) gilt die selbstverständliche Pflicht, die physische Substanz des einzelnen Briefes zu bewahren, damit er auch in künftigen Zeiten als historische Quelle genutzt werden kann. Kein noch so pragmatisch ausgerichteter Betreuer von Briefen würde heute noch auf den Gedanken kommen, ein Original zu vernichten, weil es bereits gedruckt ist. Und dennoch treffen wir manches Original in Ausstellungen an, wo es dem langsamen, aber sicheren Verfall preisgegeben ist. Zugleich geht es um die Erhaltung des Gesamtverbandes, in dem ein Brief überliefert ist. Wie für jedes Archivale gilt auch für den Brief, daß 9
In einem allgemeineren Sinne spricht Norbert Oellers von den „historischen Bezügen der Briefe" (Oellers: Probleme der Briefkommentierung. - In: Probleme der Brief-Edition, a.a.O. S. 105-123, besonders S. 106) und nähert sich damit dem hier gemeinten Problem eines Quellenbefundes.
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Der Brief als historische Quelle seine ursprüngliche Aufbewahrungsposition, seine Nachbarschaft zu anderen Schriftstücken, kurz seine Eingebundenheit in einen bestimmten Überlieferungszusammenhang nicht mißachtet und leichtfertig zerstört werden darf. Der Uberlieferungszusammenhang gibt, sofern er nicht von Nachgeborenen bereits verändert wurde, in der Regel Aufschlüsse über die Bedingungen der Entstehung eines einzelnen Schriftstückes, auch über Intention und Funktion eines noch so unscheinbaren Briefes. Ein solcher Zusammenhang ist zwar bei Persönlichen Archiven schwerer zu rekonstruieren als bei behördlichen Akten, ist aber dennoch vorhanden. Selbst eine vermeintliche Unordnung kann zu sprechen beginnen, wenn es sich nämlich herausstellt, daß es sich um eine noch nicht verstandene Ordnung handelt.10 Das bedeutet: Voreilige Umordnungen oder Herauslösungen zugunsten eines noch so plausiblen Prinzips oder eines noch so aktuellen Bedürfnisses müssen tunlichst vermieden werden.11 Jede wünschenswerte Aufschlüsselung eines Bestandes läßt sich auch auf dem Papier oder im Computer besorgen. Eine Umordnung ist allenfalls gerechtfertigt, wenn alte, vom Nachlasser geprägte Strukturen wieder hergestellt werden können. Kein noch so aktuelles Benutzerinteresse, keine noch so einleuchtende wissenschaftliche Fragestellung, kein Ausstellungsbedürfnis rechtfertigt eine Zerstörung tradierter Überlieferungsstrukturen. Dies gilt für Briefe gleichermaßen wie für alle Archivalien. Wenn hier die Frage gestellt werden sollte, ob denn die Bedürfnisse der Benutzer gar keine Bedeutung hätten, dann ist zu antworten: Gerade weil es um die Interessen der Benutzer - der heutigen wie der späteren - geht, gerade weil die Zugänglichkeit unter den verschiedensten, heute vielleicht noch gar nicht absehbaren Fragestellungen gesichert werden muß, ist die Erhaltung der Entstehungszusammenhänge unabdingbar. Auch die Sicherung der Originale durch Sicherheitskopien sollte prinzipiell auf der Grundlage der gültigen inneren Struktur eines Bestandes erfolgen. Andernfalls entstünde im Gefolge der Kopierung der Einzel-
10 Hier darf ich mich auf Michel Espagne beziehen: „Nun bergen gerade die innere Ordnung der Sammlungen sowie die von einem Schriftsteller innerhalb seines Privatarchivs beachteten Organisationsprinzipien den Ansatz literaturtheoretischer Betrachtungen" (s. S. 103 des vorliegenden Bandes). 11 Hier sei nur auf die Eingriffe von Kanzler Müller, Goethes Nachlaßverwalter, verwiesen, der aus Goethes Briefregistratur die ihm bedeutend erschienenen Briefe aus der chronologischen Ordnung herauslöste, in eine alphabetische Ordnung überführte und dabei die Verbindung zu beigegebenen Stücken (Anlagen) zerriß, auch manche Datierungsmöglichkeit verschüttete (vgl. Anm. 13).
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stücke ein Durcheinander, das den zu sichernden Bestand atomisiert überlieferte.12 Selbst Restaurierungen sind im Prinzip Eingriffe in die Uberlieferung und müssen mit aller Vorsicht betrieben werden. Bei Gelegenheit des Kolloquiums zum 100-jährigen Bestehen des Goethe- und Schiller-Archivs 1985 konnte die Arbeitsgruppe der Regestausgabe JBriefe an Goethe" auf den Wert eines geschlossenen Briefkorpus' aufmerksam machen.13 Unter dem Prinzip, die Überlieferungszusammenhänge möglichst schonend zu behandeln und die Entstehungszusammenhänge nicht zu verschütten, gilt es nun auch, die Erschließung im Sinne der Wegbereitung für den potenziellen Nutzer zu prüfen. Hier hat sich die unterschiedliche Bewertung des Briefes als historische Quelle oder als literarische Form nachdrücklich bemerkbar gemacht. Einerseits können Briefe als Einzelschriftstücke aufgefaßt werden, andererseits sind sie oft Tfeil eines größeren Zusammenhangs, einer Korrespondenz, eines Persönlichen Archivs, eines Aktenbandes oder einer Sammlung. Prinzipiell können sie auf zweierlei Weise der Nutzung zugänglich gemacht werden: - durch Briefkataloge bzw. -Verzeichnisse, die die Einzelstücke nach Datum und Absendernamen nachweisen, manchmal sogar auch nach Empfängernamen, und - durch Nachweise in den Repertorien und Findbüchern derjenigen Bestände, zu denen sie gehören. Beide Erschließungsformen haben Vorteile und bedürfen zugleich der Ergänzung durch die jeweils andere Methode. Die erstgenannte Form ist ein bequemes Mittel, um Übersicht und Sicherung des Bestandes zu erreichen und den Nutzer schnell und zuverlässig darüber zu informieren, ob ein bestimmter Brief vorhanden ist. Eine solche serielle Aufbereitung von gleichartigen Schriftstücken, wie es Briefe sind, ist für den schnellen Zugriff wichtig, fast unentbehrlich. Allerdings sind aus solchen Verzeichnissen Gegenstand und Aussage der Briefe wie auch ihre Funktion, die sie
12 Auf dem Deutschen Archivtag Anfang Oktober 1992 in Berlin wurde diese Forderung mit besonderem Nachdruck für alle Sicherungsverfilungsmaßnahmen erhoben. 13 Vgl. Im Vorfeld der Literatur. Vom Wert archivalischer Uberlieferung für das Verständnis von Literatur und ihrer Geschichte. Studien. Hrsg. von Karl-Heinz Hahn. Weimar 1991. Hier besonders die Beiträge von Sabine Schäfer und Irmtraut Schmid, S. 85-125. Herausgehoben sei hier die Beobachtung von Sabine Schäfer, daß wohlgemeinte Restaurierungen an Quartalsheften der eingegangenen Briefe in Goethes Nachlaß nunmehr an manchen der Faszikeln die alten Heftlöcher verdecken und so die ursprüngliche Zugehörigkeit einzelner Briefe zu diesen Faszikeln nicht mehr nachweisbar ist.
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Der Brief als historische Quelle zwischen den Korrespondenzpartnern hatten, nicht ablesbar. Die zweite Form dagegen gewährt einen Einblick in den Zusammenhang, in dem der Brief erwachsen ist. Sie macht aufmerksam auf Bedingungen seiner Entstehung und vermag so den Forscher auf den wahren Quellenwert eines Briefes hinzufuhren. Es geht dabei um das ureigenste Anliegen der archivischen Erschließung auf der Basis archivwissenschaftlich begründeter Methoden.14 Als drittes darf ich hier eine Form der Erschließung streifen, die zu den Aufgaben der Kustoden gehört und dennoch zugleich unter die Editionen gerechnet werden kann. Es ist dies die inhaltliche Aufschlüsselung von Briefen durch Regesten, wie sie im Goethe- und Schiller-Archiv an den bei Goethe eingegangenen Briefen praktiziert wird,15 aber auch anderweitigzum Beispiel bei den Briefen Thomas Manns - Anwendung findet.16 Auf diese Methode habe ich hier nicht näher einzugehen.17 Nur soviel: Auch sie bietet im Grunde eine serielle Aufbereitung eines Briefkorpus', die aber in zwei wesentlichen Punkten über ein reines Briefverzeichnis hinausgeht. Das ist erstens die inhaltliche Erschließung der Briefe, die zugleich eine Kommentierung bietet, und zweitens die Verknüpfung des jeweils regestierten Briefes mit seinen Gegenbriefen, ein Aufbereitungsmoment, das nicht nur hier, sondern auch bei vielen wichtigen Briefeditionen aufgegriffen worden ist und zur Wahrnehmung des historischen Quellenwertes von Briefen nicht unwesentlich beiträgt. 18 Die Erschließungsform durch Regesten bietet die Inhalte der Briefe und den Bezug zu den Gegenbriefen, aber
14 Vgl. den Beitrag von Gerhard Schmid „Erschließungsverfahren im Literaturarchiv aus archivarischer Sicht" im vorliegenden Band, S. 207-219. 15 Briefe an Goethe. Gesamtausgabe in Regestform. Herausgeben Karl-Heinz Hahn. Redaktor: Irmtraut Schmid. Bisher 5 Bände. Weimar 1980-92. - Vgl. auch: Hartmut Steinecke: Brief-Regesten. Theorie und Praxis einer neuen Editionsform. - In: Zeitschrift für deutsche Philologie, 101 (Berlin u.a. 1982). Sonderheft: Probleme neugermanistischer Edition, S. 199-210. - Irmtraut Schmid: Aus der Arbeit der Regestausgabe „Briefe an Goethe". - In: Zeitschrift für deutsche Philologie, 105 (Berlin u.a. 1986). Sonderheft: Probleme der Literaturwissenschaft, S. 136-150. 16 Die Briefe Thomas Manns. Regesten und Register. Bearb. und hrsg. unter Mitarb. von Yvonne Schmidlin von Hans Bürgin und Heins-Otto Mayer. 3 Bde. 1976-82. 17 Auf sie bin ich in meinem Vortrag „Uberlieferungszusammenhänge und Erschließung von Briefen" (in: Der Brief in Klassik und Romantik. Aktuelle Probleme der Briefedition. Hrsg. von Lothar Bluhm und Andreas Meier. Würzburg 1993, S. 27-37) näher eingegangen, der auf denselben Prämissen aufbaute, die ich hier vortrage. - Vgl. auch den Beitrag von Manfred Koltes im vorliegenden Band, S. 117-128. 18 Vgl. Siegfried Sudhof: Brief und Gegenbrief als Problem derBrief-Edition. - In: Probleme der Brief-Edition (s. Anmerkung 8), S. 27-40.
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keine Information über die Stellung des Briefes im Gesamtgefüge seines Bestandes. Bei einer Überlieferung mit chronologischer Ablage der Briefe ergeben sich in dieser Hinsicht freilich wenig Besonderheiten. Liegt uns aber ein sachthematisch oder funktionell strukturiertes Persönliches Archiv vor, dann ist die Information über die Position, die ein einzelner Brief innerhalb des Nachlasses einnimmt, für das Verständnis seines Inhaltes fast unentbehrlich. Nicht jeder vom Nachlasser geschriebene oder bei ihm eingegangene Brief hat gleichen Rang mit anderen seiner Gattung, steht sozusagen gleichermaßen „unmittelbar" zum Autor oder Empfänger. Er ist diesem vielmehr durch dessen Funktionen und Aufgaben „entlockt" oder „aufgedrungen". Um nur ein simples, aber um so einleuchtenderes Beispiel anzuführen: Gesetzt den Fall, ein Nachlasser hat einen Tfeil der von ihm empfangenen Liebesbriefe in einer besonderen Schatulle aufgehoben. Sie daraus herauszulösen und in die alphabetische Reihe der anderen Briefe zu stellen, würde der überlieferten Ordnung des Bestandes widersprechen und die besondere Intention des Nachlassers verdecken. Die rein alphabetische Reihung ist allemal im Katalog oder Verzeichnis herstellbar. Ähnliche, wenn auch feiner abgestufte Unterschiede in der Struktur einer Überlieferung gibt es öfter als angenommen wird, auch wenn der äußere Anschein eines Nachlasses eher auf ein Chaos schließen lassen sollte. Dem Kustoden (Archivar, Bibliothekar, Museologen) obliegt es, an die eigentlichen Motive, aus denen Briefe entstanden sind, durch die im Findbuch dargestellte Strukturierung eines Nachlasses heranzuführen. Selbst bei einer gewissen Normung, die die Struktur von Nachlässen normalerweise in den Archiven erfahren muß, läßt sich aus ihr erkennen, welche Rolle die Briefe jeweils spielen, ob sie möglicherweise in den Sachakten, die die persönlichen Geschäfte oder den wissenschaftlichen Verkehr betreffen, enthalten sind, ob einzelne Korrespondenzen besonderes Gewicht haben oder ob die Briefe gar den Hauptteil der Überlieferung ausmachen. Die sorgfältige Strukturierung eines überlieferten Bestandes und die Verdeutlichung dieser Struktur in einem entsprechenden Findhilfsmittel, sei es im Findbuch, im Repertorium oder im Inventar, muß eine der wichtigsten Aufgaben des Kustoden bleiben, auch in Bezug auf die ihm überantworteten Briefe. Wenn Literaturwissenschaftler, Historiker und Editoren sich mit ihrem jeweils speziellen Anliegen dem Brief zuwenden und diesen als historische Quelle nutzen, so können sie ihm eigentlich nur gerecht werden, wenn sie die Informationen, die er zu bieten hat, so umfassend wie möglich aufneh114
Der Brief als historische Quelle men und ihre Aufmerksamkeit nicht ausschließlich auf die „reine" inhaltliche Aussage einengen. Ich versuchte es schon mit anderen Worten auszudrücken: Auch Briefe sind nun einmal - wie andere Archivalien auch innerhalb eines vorgeprägten Informationssystems entstanden und von vielgestaltigen kulturellen, juristischen und persönlichen Bedingungen abhängig. Diese ihre Abhängigkeit ist lediglich weniger offensichtlich und variabler als diejenige von Aktenschriftstücken und deshalb oft schwerer zu durchschauen. In der Linguistik z.B. werden diese Voraussetzungen seit längerem berücksichtigt. So wird es als Fehler bezeichnet, wenn Kriterien für Klassifizierungen nur aus dem Texten abgeleitet werden. Je mehr die Analyse der Briefe von deren eigentlicher Funktion, der Kommunikation, ausgeht, d.h. je mehr kommunikationstheoretisch relevante Befunde festgestellt werden, desto fruchtbarer wird diese Betrachtungsweise auch für den Quellengehalt der Briefe.19 Sollte es soweit kommen, daß die auf diesem Gebiet in Gang gekommenen linguistischen Untersuchungen mit den Methoden der historischen Quellenkunde verbunden werden, dann dürften auch für die Systematisierung von Briefen sicherere Wege gefanden werden. Gravierend können sich Fehler in der Gesamtkonzeption von Editionen auswirken, wenn diese ohne Rücksicht auf den mehrfach apostrophierten Entstehungszusammenhang entwickelt werden. Ein Beispiel bieten der zweite und dritte Band von Goethes Amtlichen Schriften. 20 Diese Bände weichen im methodischen Ansatz erheblich vom ersten Bandes ab, der von Willy Flach initiiert und herausgegeben worden war. Weit über den Einzugsbereich der eigentlichen amtlichen Schriftstücke hinaus werden aber vom Band 2 an Briefe aus dem privaten und halbamtlichen Bereich gleichwertig mit den amtlichen Schriftstücken ediert, so daß es zwar zu inhaltlich interessanten Erweiterungen und damit zu Erläuterungen kommt, aber die Fülle der gebotenen Quellen ein Gemisch von amtlichen
19 Vgl. z.B. Peter Kern: Bemerkungen zum Problem der Itextklassifikation. - In: Forschungsberichte des Instituts für deutsche Sprache. Bd. 3 (1969), S. 3-23. - Karl Ermert: Briefsorten. Untersuchungen zu Theorie und Empirie der Textklassifikation. Tübingen 1979. - Volker Langeheine: Bemerkungen zur Briefforschung. — In: Sprache und Pragmatik. Lunder Symposion 1982. Hrsg. von Inger Rosengren. Stockholm 1983. S. 299316. - Vgl. auch: Anm. 2 sowie Reinhard M.G. Nickisch: Brief. Stuttgart 1991. 20 Goethes Amtliche Schriften. Goethes Tätigkeit im Geheimen Consilium. Bearb. und hrsg. von Willy Flach (Bd. 1) und Helma Dahl (Bd. 2-4). 4 Bde. Weimar 1950-87. (Veröffentlichungen des Staatsarchivs Weimar)
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und privaten Schriftstücken, Aktenschriftstücken und Briefen darstellt, deren Entstehung jeweils auf anderen Voraussetzungen beruhten.
V Die vorgetragenen Überlegungen erlauben folgende abschließende Feststellung: Der Rezipient, der einen Brief als historische Quelle nutzt, sei er nun Editor, Literaturwissenschaftler oder Historiker, soll, wenn er sich der Komplexität der aus dem Brief zu gewinnenden Erkenntnisse bewußt ist, diesen Brief möglichst nicht vereinzelt und nicht nur in Form einer Kopie in seine Forschungen einbeziehen. Er wird berücksichtigen, daß er aus einem Ensemble stammt, und wissen, daß auch der Ausschnitt und das Surrogat eine Einschränkung der Sicht bedeutet. Deshalb wird er daran interessiert sein, einen größeren Komplex des jeweiligen Nachlasses kennenzulernen. So gesehen bringt auch die Nutzung von Filmkopien eine empfindliche Einschränkung. Spätestens hier müssen wir den Interessenkonflikt zu Kenntnis nehmen, den es grundsätzlich zwischen den Kustoden einerseits und den Nutzern andererseits gibt. Der eine hat vordringlich zu bewahren, der andere verfolgt seine Forschungsinteressen. Ein solcher Gegensatz ist solange nicht gefahrlich, wie er erkannt und ausgetragen wird. Erst wenn sich der Interessenkonflikt in einer Person abspielt, was in der Regel der Fall ist, wenn von Kustoden z.B. in Museen oder kleineren Archiven aktuelle Nutzung gefordert wird, bedarf es einer deutlichen Stärkung des kustodischen Verantwortungsbereichs im wohlverstandenen Interesse der Nutzer. Mein Anliegen war es, ins Bewußtsein zu rufen, daß wir neben sprach-, stil- und brieftheoretischen Analysen, so wichtig sie sind, eine weitere zuverlässige Quelle für das Verständnis von Briefen besitzen. Es ist dies die ursprüngliche Ordnung, der Entstehungszusammenhang, aus dem die Briefe jeweils erwachsen sind und der, wenn wir Glück haben, in Uberlieferungszusammenhängen erhalten und auf uns gekommen ist. Weil diese Ordnung ursprünglich sinnstiftend war, vermag sie durch keine noch so gut überlegte, nachträglich hineingetragene Ordnung ersetzt werden. Sie sollte deshalb auch bei editorischer Aufbereitung von Briefen nicht vernachlässigt werden.
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Manfred Koltes Erfahrungen mit einer Regestausgabe Zur Neubearbeitung der Grundsätze für die Gesamtausgabe der Briefe an Goethe (Edition und Literaturarchiv)
Die Publikationsgeschichte der nach wie vor umfassendsten Gesamtausgabe der Werke Goethes, der Weimarer Sophienausgabe (WA), ist allgemein bekannt. Als schließlich im Jahre 1919 der letzte Band der WA vorlag, standen der Wissenschaft und der geneigten Öffentlichkeit die Werke Goethes in vier Abteilungen für die weitere Beschäftigung zur Verfügung. Neben den literarischen und den naturwissenschaftlichen Schriften in den Abteilungen I und II, lagen mit den Abteilungen III, den Tagebüchern, und der Abteilung IV, den Briefen Goethes, auch wesentliche biographische Zeugnisse aus der Feder Goethes vor, die zum Verständnis des Gesamtwerks erheblich beitragen. Ein weiterer bedeutender biographischer Komplex, der wesentlich zur Erhellung des Goetheschen Werks beitragen würde, nämlich die an ihn gerichteten und in seiner Privatregistratur verwahrten Briefe, die eine Gesamtübersicht über seine Korrespondenz zugelassen hätten, konnte angesichts der Situation in Deutschland, der Wirtschafts- und Verfassungskrise nach dem verlorenen Weltkrieg, so wünschenswert und notwendig es gewesen wäre, nicht mehr in Angriff genommen werden. Kein Verlag hätte sich bereitgefunden, ein derartiges finanzielles Risiko zu tragen, darüber hinaus stand ein geeigneter Mitarbeiterstamm zunächst nicht mehr zur Verfügung. Dabei war die Ausgangssituation für eine Fortführung der WA durch eine V. Abteilung gar nicht einmal so schlecht. Der weitaus größte Teil, weit über 90% der An-Briefe, war im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar erhalten, die ursprüngliche Ordnung der Privatregistratur nach wie vor intakt oder zumindest weitgehend rekonstruierbar1. Vorsichtigen Schätzungen zufolge hätte aber eine Bearbeitung der bekannten An-Briefe im Stile der Weimarer Ausgabe einen Umfang von circa 80 Bänden (50 Tfext- und 30 Kommentarbände)2 angenommen, ein Unternehmen, für das 1 2
Karl-Heinz Hahn: Einleitung. - In: Briefe an Goethe. Gesamtausgabe in Regestform. Hrsg. von Karl-Heinz Hahn. Bd. 1. Weimar 1980. S. 9-32, hier S. 18. Karl-Heinz Hahn, a.a.O. S. 25.
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Manfred Koltes sich in der beschriebenen Situation weder Geldgeber noch Bearbeiter finden ließen. Die Folge war, daß die Pläne zunächst beiseite gelegt wurden und die Forschung sich lange Zeit mit veröffentlichten Einzelbriefwechseln, zumeist Briefwechsel mit prominenten Zeitgenossen, begnügen mußte. Zu Beginn der sechziger Jahre schien dann die Zeit reif, die Pläne für die Bearbeitung der V. Abteilung der Weimarer Ausgabe erneut aufzugreifen und an ihre Umsetzung zu gehen. Zwei Hauptgründe führten im wesentlichen dazu, daß die Briefe an Goethe letztlich nicht als Volltextedition analog zur WA veröffentlicht wurden, sondern in Form von Regesten. Zum ersten sprach der immense Umfang nach wie vor gegen eine vollständige Textveröffentlichung, insbesondere da man sich seitens der Herausgeber im klaren war, daß die Ausgabe wissenschaftlich nur dann sinnvoll wäre, wenn alle an Goethe gerichteten und in die Privatregistratur aufgenommenen Briefe, ohne Ansehen der inhaltlichen Bedeutung oder der Prominenz des Briefschreibers, in die Ausgabe integriert werden würden. Ob die Frage nach dem Umfang des Unternehmens heute noch angesichts der technischen Möglichkeiten und Perspektiven für die nahe Zukunft noch einmal den gleichen Schwerpunkt einnehmen würde, erscheint zumindest fraglich. Moderne Massenspeicher, die Zug um Zug auch Eingang in die Editionsarbeit finden, stellen bereits heute brauchbare Alternativen zu vielbändigen Buchausgaben dar. Der zweite wichtige Grund für die Entscheidung, die An-Briefe in Regestform zu publizieren, basierte auf der Überlegung, daß bei einem Großteil der Briefe unterschiedliche Lesarten eine weit geringere Bedeutung spielen als bei literarischen Ifexten. Für die Rekonstruktion des Korrespondenzzusammenhangs erschien daher eine inhaltliche Erschließung ausreichend. Die Entscheidung zugunsten von Regesten wurde sicherlich nicht zuletzt auch dadurch erleichert, daß Einzelkorrespondenzen mit literarischen Zeitgenossen oder Wissenschaftlern in der Regel bereits durch Spezialeditionen erschlossen sind. Niemand würde, beispielsweise, die Briefe Schillers an Goethe anhand der Regestausgabe zu rekonstruieren versuchen. Die Ankündigung, die Briefe an Goethe in Regestform zu präsentieren,3 hat dennoch in der Fachwelt nicht geringes Unbehagen verursacht; der
3 Karl-Heinz Hahn: Die Briefe an Goethe. Erläuterungen zu einer geplanten Regestausgabe der an Goethe gerichteten Briefe. - In: Weimarer Beiträge, 6 (Weimar 1960). Sonderheft, S. 1125-1146 sowie ders. und Hans-Heinrich Reuter: Fünfte Abteilung der Weimarer Ausgabe. Die Briefe an Goethe. Regestausgabe. - In: Goethe. N.F. des Jahrbuchs der
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Erfahrungen mit einer Regestausgabe Wert der gesamten Methode wurde, insbesondere was die Frage nach der Valenz der gebotenen Regesten anbetraf, mehr oder weniger offen angezweifelt. Inzwischen ist die Methode des Regestierens allerdings häufiger angewendet, ihre Möglichkeiten und Vorzüge im Vergleich zu den historisch-kritischen Ausgaben realistischer abgeschätzt worden.4 Ein wesentlicher Nachteil aller Regestausgaben liegt in der fehlenden Überprüfbarkeit der präsentierten Texte bezüglich Vollständigkeit und Kommentierung begründet. Während es bei einer Volltextedition dem Leser jederzeit selbst überlassen bleibt, ob er der Kommentierung der Herausgeber bzw. Bearbeiter folgt oder nicht, ist diese Möglichkeit bei Regesten nur sehr eingeschränkt gewährleistet. Aus diesem Grund ist die Zielsetzung der Regestausgaben im allgemeinen eine andere als bei den historisch-kritischen Gesamtausgaben. Dort, wo die Gesamtausgaben den Anspruch erheben, die Lektüre der Handschriften zu ersetzen, dienen Regestausgaben in erster Linie dazu, die Bestände zu erschließen.5 Wollen die historisch-kritischen Ausgaben zumeist alle anderen bestehenden Drucke ersetzen, sehen sich Regestausgaben in der Regel in enger Verbindung mit anderen, vollständigen Drucken der regestierten Briefe in Auswahl- oder Einzeleditionen. In dieser Beziehung soll auch die Regestausgabe der Briefe an Goethe zwei Hauptfunktionen erfüllen. Zum einen informiert sie inhaltlich über sämtliche erhaltenen oder rekonstruierbaren Briefe an Goethe und erspart dem Leser somit häufig einen Rückgriff auf die Originale. Gleichzeitig ermöglicht der im Regestkopf verzeichnete, mehr oder weniger komplette bzw. verläßliche Druckort einen gezielten Zugriff auf den kompletten Text des Briefes. Die zweite Hauptaufgabe, die die Regestausgabe erfüllen soll, besteht in der Erschließung des gesamten Korpus der An-Briefe. Dies ist auch der Hauptgrund dafür, daß diese Edition organisatorisch eine eigene Arbeitsgruppe innerhalb des Goethe- und Schiller-Archivs der Stiftung Weimarer Goethe-Gesellschaft, 29 (Weimar 1967). S. 65-103, wobei hier die Präsentation der Regesten gegenüber der späteren Publikation in wesentlichen Teilen abweicht. 4 Beleg hierfür sind beispielsweise die inzwischen erschienenen Ausgaben: Die Briefe Thomas Manns. Regesten u. Register. Bearb. u. hrsg. unter Mitarb. von Yvonne Schmidlin von Hans Bürgin u. Hans-Otto Mayer. Frankfurt a.M., 1976 ff. sowie Melanchthons Briefwechsel. Hrsg. von Heinz Scheible. Stuttgart, 1977 ff. 5 Die Methode des Regestierens stellt aus archivarischer Sicht die tiefstmögliche Erschließungsform von Archivalien, in diesem Fall der Briefe, dar. Trotz ihrer inhaltlichen Auswertung der Archivalien bleibt jede Regestausgabe in dieser Hinsicht ein Findhilfsmittel.
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Manfred Koltes Klassik bildet und nicht dem Bereich Editionen im Archiv zugeordnet ist. In dieser Beziehung besteht das Ziel der Regestausgabe in der Ermittlung auswärtig gelagerter An-Briefe sowie der Erschließung und Verzeichnung der im Goethe- und Schiller-Archiv aufbewahrten Briefe. Durch die Tatsache, daß die Regestausgabe ab Band 6 unter Einbezug der EDV bearbeitet wird, entsteht auf diese Weise, quasi als Nebenprodukt, ein elektronisches Findhilfsmittel, das zunächst im Archiv selbst, später vielleicht weiterreichend den Zugang zu den Briefen wesentlich vereinfachen wird. Um dem Leser die Möglichkeit zu geben, die immanenten Nachteile einer Regestausgabe zu kompensieren und die in der Edition präsentierten Tfexte bewerten zu können, muß das Regestieren der Tfexte durch den Bearbeiter in einem durch ein komplexes Regelwerk festgelegten, eng umrissenenen Entscheidungsfeld stattfinden. Die Vorworte der Regestausgaben präsentieren in der Regel die Grundsätze, auf denen die Transformation der ursprünglichen Textvorlagen in die Regesten erfolgt, um dem Leser deutlich zu machen, welche Information er von der jeweiligen Edition erwarten kann und welche er sich über weitere Hilfsmittel bis hin zum Studium der Handschriften selbst erschließen muß. In dieser Beziehung unterscheiden sich Briefregesten grundlegend von ihrem Vorbild, den historischen Urkundenregesten, wie den Regesta Imperii oder den Regesta Pontificium Romanorum, um nur zwei der bekanntesten zu nennen, bei denen das Regelhafte der Textwiedergabe bereits durch die streng hierarchische Gliederung der Textvorlage, sprich der Urkunden, gewährleistet ist. Ziel der Bearbeitungs- oder Regestgrundsätze ist daher der Versuch einer Fixierung der Wiedergabemethode der An-Briefe, zum einen, um dem Bearbeiter die notwendige Sicherheit im Umgang mit dem Quellenmaterial zu geben, zum anderen aber auch um dem Benutzer einen Schlüssel an die Hand zu geben, mit dessen Hilfe er die vorgefundene Information bewerten kann. Bei der inhaltlichen Erschließung der Briefe liegt die Aufgabe der Regestausgabe im sicheren Identifizieren der im Brief angesprochenen Sachverhalte, Personen sowie der Werke, wobei die Bearbeiter sich stets vor Augen halten sollten, wie eng der Grat zwischen der verständnisrelevanten Erläuterung und dem darüber hinausgreifenden Referieren von selbst erworbenen oder sich zugängig gemachten Forschungsergebnissen ist. Einen ersten Versuch, diese Transparenz zu schaffen, stellen die in der Einleitung zum ersten Band der Regestausgabe der Briefe an Goethe verkürzt wiedergegebenen Regestgrundsätze dar, die Karl-Heinz Hahn 120
Erfahrungen mit einer Regestausgabe und seine Mitarbeiter vor Beginn ihrer Arbeit aufgestellt haben. Ergänzt und in Teilen korrigiert wurden diese Grundsätze zum ersten Mal im Jahre 1976 durch Irmtraut Schmid und Dieter Görne. Mit dem Erscheinen des fünften Bandes war etwa ein Drittel des geplanten Werkes vollendet, und den Bearbeitern schien die Gelegenheit gekommen zwar nicht zu einer innehaltenden Rückschau, dafür drängte der Editionsplan zu sehr, aber immerhin zu einer kritischen Würdigung der bisherigen Arbeit. Es galt, die Regelungen der Regestbearbeitung vor dem Hintergrund der inzwischen gewonnenen Erfahrungen zu überdenken und nicht zuletzt die Einwände und Wünsche der zahlreichen namentlich bekannten Benutzer der Regestausgabe auf ihre Umsetzbarkeit hin zu überprüfen. Eine grundsätzliche Veränderung sowohl des Erscheinungsbildes als auch des Bearbeitungsprinzips stand dabei nie zur Debatte. Den Benutzern sollte auch weiterhin das vertraute Kompendium zu den an Goethe gerichteten Briefen erhalten werden. So blieb auch nach der Neubearbeitung der Grundsätze der Aufbau der Regesten und die Gliederung der einzelnen Bände in der bisherigen Form bestehen. Gleichzeitig wurde es aber für nötig erachtet, insbesondere die Regelungen für das Regestieren der Briefe stringenter zu fassen und somit auch die Orientierungshilfen für die Bearbeiter zu verbessern. So soll, unter Beibehaltung der bisherigen Form, die Präsentation der Informationen im Regestkopf transparenter gemacht werden. Im Zusammenhang mit der Regestausgabe wurde in der Vergangenheit vielfach von Benutzerseite die Klage darüber geäußert, daß die Edition nicht zusätzlich durch ein Sachregister erschlossen wurde. Nach reiflicher Überlegung kamen die Bearbeiter überein, daß ein Sachregister, so wünschenswert es in der Tat wäre, angesichts der Fülle der in den Briefen angesprochenen Themen und angesichts der personellen Ausstattung der Arbeitsgruppe nicht zu leisten sei. Um dennoch dem Bedürfnis der Benutzer Rechnung zu tragen, zumindest einige Bereiche der Goetheschen Korrespondenz leichter zugänglich zu machen, wurde beschlossen, beginnend mit dem sechsten Band die Regesten durch ein zusätzliches Register der in den Briefen erwähnten Goethe-Werke sowie der übrigen erwähnten Werke zu erschließen. Die Regestausgabe geht dabei von einem erweiterten WerkbegrifT aus, der neben schriftlichen Werken auch Werke der Musik umfaßt.6 Eine weitere Neuheit stellt die Datumskonkordanz zu 6 Ob unter dem WerkbegrifT auch die Werke der bildenden Kunst gefaßt werden sollen, wird gegenwärtig eingehend geprüft.
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Manfred Koltes abweichenden Datierungen der im Regestkopf angeführten Drucke dar, die dem Leser die Orientierung erleichtern soll.' Grundsätzlich waren also vor der Fortführung der Arbeiten an der Regestausgabe zwei Dinge zu erledigen: eine Überarbeitung der Regestiergrundsätze und eine komplette Neuerstellung der Bearbeitungsgrundsätze für Tätigkeiten und Leistungen, die neu hinzugekommen waren.8 Das eigentliche Regest wird auch künftig aus drei Komponenten bestehen, dem Regestkopf, der in standardisierter Form die wesentlichen technischen Angaben enthält, dem Regesttext mit dem Inhalt des Briefes und gegebenenfalls den Vermerken über dem Brief ursprünglich angefügte Bei- bzw. Anlagen. Der Regestkopf gibt Auskunft über den oder die Briefschreiber und, wenn nicht Goethe selbst der Adressat war, den Namen des oder der Adressaten.9 Eine wichtige Angabe im Regestkopf stellt das Ausstellungsdatum des Briefes dar, da dieses als das wichtigste Einordnungskriterium des einzelnen Regests in den Bandzusammenhang dient. Beim Briefdatum handelt es sich um eine referierte Angabe der Bearbeiter, die durchaus von der Selbstdatierung durch den Verfasser abweichen kann.10 Eine weitere referierte Angabe ist der Ausstellungsort des Briefes, gefolgt von der Angabe der Aufbewahrungsortes, die für das Goethe- und Schiller-Archiv in der genauen Signatur und Blattnummer besteht - Regestausgabe als Findhilfsmittel - und in den übrigen Einrichtungen bzw. bei Privatbesitz aus der bloßen Angabe der Institution. Hinzu kommt die Angabe der genetischen Entstehungsstufe des Briefes, sofern es sich nicht um die überlieferte Ausfertigung handelt. Die üblicherweise versiglete Druckortangabe verweist auf den, in den Augen der Mitarbeiter, repräsentativsten Druck des Briefes, wobei durch7
Um das Leistungsangebot für alle Bände in gleicher Weise zu gewährleisten, wurde ein Ergänzungsband zu den Bänden 1 bis 5 erarbeitet (Weimar 1995), der neben Addenda und Korrigenda auch rückwirkend die Register nachliefert, wie sie ab Band 6 in der Regestausgabe enthalten sein werden. 8 Die im folgenden kurz skizzierten Regestierungsgrundsätze werden ausführlich in dem soeben erschienenen Band „Bestandserschließung im Literaturarchiv. Arbeitsgrundsätze des Goethe- und Schiller-Archivs in Weimar", hrsg. von Gerhard Schmid, vorgestellt. (München [u.a.] 1996. „Literatur und Archiv"; Bd. 7) 9 Ein beachtlicher Tteil der in Goethes Briefregistratur abgelegten Briefe war ursprünglich an dritte adressiert, dann aber aus den unterschiedlichsten Gründen, meist zur Kenntnisnahme durch Goethe, an diesen abgegeben worden. 10 Als Hilfestellung für den Leser, der bekannte Briefe, die durch die Mitarbeiter der Regestausgabe neu datiert wurden, in seinen gedruckten Ausgaben der Briefwechsel nicht mehr ohne weiteres findet, wird im Ergänzungsband sowie in allen folgenden Bänden die erwähnte Druckortkonkordanz zu finden sein.
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Erfahrungen mit einer Regestausgabe aus für die Briefe eines Korrespondenzpartners unterschiedliche Druckwerke angegeben werden können.11 Der Versuch, den Korrespondenzzusammenhang wiederherzustellen, wird durch die Angabe des jeweiligen Bezugs- und Antwortbriefes unternommen. Diese Angaben sind in der Regel anhand ausgewählter Hilfsmittel bestimmt worden. Der Einordnung dient auch der Vermerk, ob der Brief in Goethes Tagebuch in irgendeiner Form erwähnt ist. Im Vorlagevermerk schließlich wird unter anderem die Sprache, in der der Brief ausgefertigt wurde, angegeben. Die Aufgabe des Regesttexts ist es, den Inhalt des Briefes in seinen wesentlichen Punkten zu referieren und den Informationsgehalt für den Benutzer vollständig zu erschließen. Daß der letzte Punkt im Rahmen einer Regestausgabe natürlich nur angestrebt und nicht erreicht werden kann, versteht sich von selbst, da nur inhaltlich-sachliche Informationen wiedergegeben werden können, stilistische aber nur mit Einschränkungen, materialtechnische und entstehungsgeschichtliche nur in Ausnahmefällen.12 Der Regesttext faßt den Inhalt des Briefes zusammen, er präsentiert gegebenenfalls Erläuterungen, informiert über Besonderheiten der Textvorlage und weist, wenn nötig, den Benutzer auf Probleme bei der Identifizierung des Briefschreibers oder von Sachverhalten hin. Zu diesem Zweck sowie zur Darstellung bestimmter Formulierungen können im Regesttext Zitate enthalten sein. Der wesentliche Briefinhalt wird im Regesttext so knapp wie möglich wiedergegeben. Dabei muß die erkennbare Absicht, die der Briefschreiber mit dem Brief verfolgte, zum Ausdruck kommen. Zu den wesentlichen Inhaltsbestandteilen des Briefs zählen für die Regestausgabe der Briefe an Goethe die behandelten Themen, Personen, Orte und Werke sowie im Brief selbst angegebene Adressen, unabhängig davon ob sie im Brief direkt angesprochen sind oder nur indirekt erwähnt wurden. Der Regesttext steht in funktionalem Zusammenhang zu den verschiedenen bereits bestehenden, aber auch den neu hinzukommendenden Registern. Die bereits eingeführten Briefschreiber- und Personenregister waren 11 Als Kriterien für Repräsentativität gelten die Basierung des Drucktextes auf der Handschrift, die Vollständigkeit, Zugänglichkeit des Drucks, Qualität des Kommentars etc. Die Angabe eines Drucknachweises im Regestkopf stellt aber keine qualitative Bewertung der Genauigkeit des Druckes selbst dar. 12 So kann beispielsweise nicht auf Streichungen oder typographische Besonderheiten der Vorlage eingegangen werden, bei Konzepten kann nicht beschrieben werden, wie schwer sich ein Verfasser mit dem Brief an Goethe tat, wie oft er den Text umformuliert hat, bis er ihn schließlich an Goethe sandte.
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Manfred Koltes von der Neufestlegung der Bearbeitungsgrundsätze nur so weit betroffen, wie geänderte Ansetzungen im Regest selbst den Charakter des Registereintrags beeinflußten. Ansonsten blieben diese beiden Register von Modifizierungen weitgehend unberührt. Was die neu zu schaffenden Werkregister betrifft, ist die Festlegung dessen, was ein Goethe-Werk ist, relativ einfach zu treffen. Da in diesem Fall ein Goethe-Zentrismus durchaus angebracht erscheint, ist es nur folgerichtig, alle in den Briefen direkt oder indirekt erwähnten Werke in allen vorliegenden Werkstufen zu verzeichnen. Dabei erachteten es die Bearbeiter als sinnvoll, in gewissen Tfeilen des zu erstellenden Goethe-Werkregisters eine Verknüpfung mit dem allgemeinen Werkregister herzustellen, insbesondere dort, wo es sich um Bearbeitungen Dritter zu Goethe-Werken handelt (z.B. Übersetzungen, Vertonungen etc.). Hier werden aber die entsprechenden Werke zweifach verzeichnet, um dem Leser das Blättern zwischen den beiden Registern zu ersparen. Diese Verbindung wurde hergestellt, obwohl sich die beiden Register in einem wesentlichen Punkt unterscheiden. Für das GoetheWerkregister erschienen bibliographische Angaben zu den verzeichneten Werken entbehrlich, da sie durch entsprechende Spezialbibliographien und nicht zuletzt die WA für den Leser leicht zu erschließen sind. Dies trifft für einen großen Teil der im allgemeinen Werkregister verzeichneten Titel nicht zu. Aus diesem Grund wurde hier, wenn dies überhaupt möglich ist, versucht die bibliographischen Angaben mit im Register aufzunehmen, unabhängig davon, in welcher Form oder Entstehungsstufe das entsprechende Werk im Regest notiert ist. Diese Fixierung der bibliographischen Angaben im Werkregister hat wiederum auch Rückwirkungen auf die Formulierung des Regesttexts, da hier künftig die Angaben, im Hinblick auf das Vorhandensein eines ausfuhrlichen Werkregisters, knapper gehalten werden können. Dies kommt nicht zuletzt einem verbesserten Lesefluß für die Regesttexte zugute. Eine mögliche Einbeziehung von Werken der bildenden Kunst in einem Unterkapitel des allgemeinen Werkregisters wurde zunächst diskutiert, dann aber, nach einer Abwägung des Verhältnisses von Aufwand und Nutzen hin überprüft, verworfen. Im Gegensatz zu Druckwerken lassen sich Werke der bildenden Kunst häufig nur mit sehr großem Aufwand ermitteln, insbesondere wenn es sich um Bearbeitungen des Originalwerks handelt. Wenn das Kunstwerk im Zuge der Arbeiten an der Regestausgabe zusammen mit dem Namen des Künstlers ermittelt werden konnte, erscheint dieser ohnehin im Personenerwähnungsregister und bleibt somit für den Benutzer unschwer auffindbar. 124
Erfahrungen mit einer Regestausgabe Die größte Schwierigkeit bei der Erstellung des allgemeinen Werkregisters besteht, einmal abgesehen vom Problem der zweifelsfreien Identifizierung der häufig nur indirekt angesprochenen Werke, in der Ansetzung der einzelnen Werke dergestalt, daß sie für den Benutzer auch ohne eingehende Kenntnis des Umfeldes erkennbar und wiederauffindbar bleiben. So müssen auch Rezensionen, Ubersetzungen, Vertonungen von Werken auffindbar bleiben. Daß gleichzeitig die Forderung im Raum steht, den Umfang des Registers so gering wie möglich zu halten, braucht wohl nicht besonders betont zu werden. Die Benutzerfreundlichkeit gebietet es auf der anderen Seite, den Leser nicht durch Verweise quer durch die Register zu jagen bis er das Regest, das dann letztlich doch nicht den Gegenstand seines Interesses enthält, findet. Die nunmehr konzipierten Register der Regestausgabe stellen zusammen mit den Regesten einen Kompromiß zwischen den Anforderungen der Textvorlagen und den Möglichkeiten der Informationsverwaltung dar. Sie sollen den Leser in einer Vielzahl von spezifischen Problemen den Zugang zu den Briefen erleichtern; dies und nichts anderes ist die eigentliche Aufgabe der Regestausgabe. Dennoch kann sich die Regestausgabe aber auch nicht den geänderten Rahmenbedingungen und Möglichkeiten verschließen. Ich hatte bereits angedeutet, in welche Richtung die Diskussion meines Erachtens künftig gehen sollte und sicherlich auch gehen wird. Das Problem der Datenfülle, das es nach Beendigung der WA und selbstverständlich auch noch in den sechziger Jahren - und hier nicht nur in der ehemaligen DDR-verhindert hat, die Brieftexte als Volltext zu bearbeiten und zu veröffentlichen, fällt im Zeitalter der modernen Tschniken zur Informationsverarbeitung weit weniger ins Gewicht als noch vor Jahren. Der erste, noch kleine Schritt der Regestausgabe zur Urbarmachung dieser Techniken ist der bereits angedeutete Einsatz des Personal-Computers im Bereich der Texterfassung und der Erstellung der Register. Dies kann aber nicht der Endpunkt der Überlegungen sein, auch wenn diese Beschäftigung mit zukünftigen Möglichkeiten im Editionswesen in einen Bereich führen, von dem sich schwerlich sagen läßt, daß die Entwicklungslinien bereits deutlich zu Tage träten. Es ist daher unvermeidlich, daß die folgenden Ausführungen einstweilen noch mehr Spekulation als unmittelbar umsetzbare Editionswirklichkeit sind. Vielleicht legitimiert aber die Tatsache, daß die Regestausgabe der Briefe an Goethe zu Beginn ihrer Existenz nicht nur belächelt und als in der Konzeption unsinnig abgelehnt wurde, in der Zwischenzeit, aber mehrfach kopiert, für andere Ausgaben quasi eine Art Standard geworden ist, einen solchen Versuch. 125
Manfred Koltes Die Rede wird im weiteren sein von der völligen Abkehr von der Edition in der Form, wie wir sie gemeinhin kennen, von den mehr oder weniger voluminösen Bänden, die mehr oder weniger repräsentativ in den Regalen stehen und die ein zu einem bestimmten Zeitpunkt abgeschlossenes Ganzes bilden. Ein Ganzes, in dem Veränderungen nur noch durch angesichts der Kosten allerdings sehr unwahrscheinliche Neuauflagen möglich sind, ein Informationsträger, der dem Leser die Sichtweise des Bearbeiters, wenn schon nicht als einzig verbindlichen Zugang offeriert, ihm diese Sichtweise zumindest nahelegt. Nun haben diese Ausgaben einen unbestreitbaren Vorteil gegenüber ihren elektronischen Brüdern, den Datenbanken oder den daraus erwachsenen elektronischen Editionen. Ich denke dabei an Arbeiten wie Karl Eibls Musil, aber auch andere Editionen, die auf dieser Basis im Entstehen befindlich sind.1'' Die klassischen Editionen sind ohne weitere technischen Hilfsmittel zu erschließen, und in der Regel bestechen sie durch ein gediegenes Erscheinungsbild. Dies können Datenbanken und Computereditionen nicht leisten, weder gegenwärtig noch, wage ich zu behaupten, für absehbare Zeit, denn der Bildschirm als Ausgabemedium mag seine Stärken bei der Ausstrahlung kurzlebiger visueller Eindrücke, wie sie Filme oder Fernsehshows darstellen, voll entfalten, die Wiedergabe von Texten bleibt auch bei höheren Auflösungen ästhetisch fragwürdig. Dafür kann der Computer etwas anderes, was gedruckte Editionen zwar auch leisten, aber bei weitem nicht mit der gleichen Geschwindigkeit. Er ermöglicht Volltextrecherchen auch nach Begriffen, die nicht über die Register ausgeworfen werden, er kann Texte neu, benutzerspezifisch ordnen und zusammenstellen, Vergleichstexte nebeneinander präsentieren etc. etc. Und der Computer kann, gegenwärtig allerdings nur sehr benutzerunfreundlich, transkribierte Texte mit der graphischen Darstellung der Handschrift, auf der dieser Text basiert, verbinden, so daß der Benutzer den Editor im Zweifelsfalle an der Abbildung, dem Faksimile der Handschrift, kontrollieren kann. „Elektronisches oder vertikales Nachschlagen ersetzt das Blättern oder horizontale Nachschlagen, ohne dem Suchenden den Spaß beim Schmökern zu verderben."1,1 Ich möchte noch einen neuen Aspekt zu diesem Problem ins Spiel bringen. Wer in jüngster Zeit als Benutzer im Goethe- und Schiller-Archiv
13 Robert Musil. Der literarische Nachlaß. Hrsg. von Friedbert Aspetsberger, Karl Eibl u. Adolf Frisé. Reinbek b. Hamburg, 1992 (CD-ROM). 14 Michael Bauer: Ein Kampf um CD-ROM. - In: Die Zeit (Hamburg). Jg. 1992. Nr. 50 (4. Dez.), S. 65.
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Erfahrungen mit einer Regestausgabe die Bestände eingesehen hat, hat in vielen Fällen nicht an den Handschriften gearbeitet, sondern an Mikrofilmen, die auf der Basis der Handschriften gefertigt wurden. Dies war nicht eine kurzfristige, technisch bedingte Ausnahme, sondern ein Eindruck dessen, was in absehbarer Zeit alltäglich sein wird in den Literatur- oder sonstigen Archiven. Immer weniger sehen sich diese Archive in der Lage, dem Besucher die kostbaren Originale vorzulegen, da irreparable Schäden unausweichlich sind, zumindest aber ernorme Summen zusätzlich für die Bestandswahrung ausgegeben werden müssen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt erscheint als einzig praktikable Lösung, Mikrofilme oder -fiches bereitzustellen, die von den Sicherheitsverfilmungen gezogen wurden. Diejenigen, die bereits damit gearbeitet haben, braucht man sicherlich nicht auf die Nachteile dieses Verfahrens hinzuweisen. Auch hier wird die Tfechnik in absehbarer Zeit ein Hilfsmittel bereitstellen, das sowohl den Nutzerinteressen als auch den Bedürfnissen der Archive entgegenkommt. Eine digitale „Sicherheitsverfilmung" bietet gegenüber der herkömmlichen Sicherheitsverfilmung auf Rollfilm oder Mikrofiches den entscheidenden Vorteil, daß sie mit einer wie auch immer gearteten Datenbank gekoppelt werden kann, d.h. daß Informationen, die beispielsweise im Findbuch enthalten sind und in eine Datenbank übertragen wurden, unmittelbar mit dem Abbild der Archivale verknüpft werden können. Dies wiederum ergibt, bei geeigneter Struktur der Findhilfsmittel in der Datenbank die Möglichkeit, die Rechercheergebnisse aus der Datenbank als elektronische Wiedergabe auf dem Bildschirm zu betrachten. Darüber hinaus lassen sich weitere Informationen an dieses elektronische Bild anbinden wie zum Beispiel Transkriptionen, editorische Daten oder Regesten. Für das Archiv hegen die Vorteile klar auf der Hand. Die Archivalien werden geschont und müssen nur noch in Einzelfällen aus ihrer Lagerstätte hervorgeholt werden. Mitarbeiter des Archivs müssen nicht mehr für das Ausheben und die Uberprüfung der zurückgegebenen Archivalien abgestellt werden und können sich voll und ganz der Bewahrung und Erschließung ihrer Bestände widmen. Für den Benutzer15 auf der anderen Seite entfällt die Trennung zwischen dem Ermitteln dessen, was ihn interessiert, und der Bearbeitung des archivierten Materials.
15 Anstelle des im Computerjargon eingeführten Begriffs ,3enutzer" böte sich in diesem Zusammenhang allenfalls der von Hans-Helmut Röhring verwendete, abwertend gemeinte Begriff des „Informationsverbrauchers" an. Vgl. Hans-Helmut Röhring: Wie ein Buch entsteht. Einführung in den modernen Buchverlag. Darmstadt, 1992. S. 8.
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Manfred Koltes Die hier skizzierten Vorstellungen sind gegenwärtig zugegebenermaßen weitgehend utopisch. Auf dem Markt angebotene, in sich weit differenzierende Archivierungssysteme, die meist auf der Basis selbst beschreibbarer CD-ROMs arbeiten und die für Firmenarchive entwickelt wurden, erweisen sich für die Bedürfnisse des Literaturarchivs als noch zu unausgereift. Die Wiedergabe der archivalischen Vorlagen erreicht gegenwärtig noch nicht das Niveau, das der Mikrofilm bietet; farbige Aufnahmen mit hohen Auflösungen benötigen zudem zur Zeit enorm viel Speicherplatz auf dem Speichermedium. Dennoch, das Einlesen von Bildern über Scanner oder Stillvideokamera wird kontinuierlich verbessert und in absehbarer Zeit auch für Archive und große Editionsunternehmen anwendbar werden. Bis dahin bleibt aber die Aufgabe der Archive, ihre Findhilfsmittel so vorzubereiten, daß sie als „Erschließungsdatenbank" mit der „Bilddatenbank" verbunden werden können. Auf diesen Fundus können Editionsprojekte zurückgreifen, können in geeigneter Form ihre editorischen Ergebnisse, Kommentare, Tfextkonstitutionen anbinden. Ihre Aufgabe könnte es dann werden, die von den Archiven angebotenen Archivalienerschließungen mit ihren editorischen Erkenntnissen zu verknüpfen.
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Bibliothek und Bibliographie im Literatlirarchiv
Reinhard
Tgahrt
Bibliothek und Bibliographie im Literaturarchiv Kommt die Bibliothek vor oder nach der Handschriftensammlung?
Das ist schon ein kurioses Fragesätzchen - mir vorgesetzt, ehe ich mich's versah, es mir ohne Erläuterungen verpaßt, so daß ich rätseln durfte, was man erwarte: anscheinend ein leichtes Hors d'oeuvre. Bitte sehr! Ich habe mich darauf eingelassen, rücke mir die Frage aber so zurecht, daß ich diesen oder jenen vielleicht enttäusche, auch wenn ich sogar ernsthaft mit ernsten (wenngleich zunächst einmal praktischen) Beschwernissen komme. Müßig wäre es und nur ironisch zu traktieren, Bücher- gegen Handschriftensammlung auszuspielen, zu erörtern, welche den Vorrang habe, wer die domina, wer die ancilla spiele, denn diese Frage nach Anciennität, Importanz und nach dem Anteil am Erwerbungsetat ist, in einem Literaturarchiv jedenfalls, längst entschieden. Auch habe ich nicht vor, alte Debatten über die Unterschiede archivarischer und bibliothekarischer Erschließung von Nachlässen aufs neue auszubreiten. Ich erläutere einige Komplikationen, die sich ergeben, wenn Handschriftensammlung und Bibliothek nicht als voneinander unabhängige, räumlich getrennte, isolierte Einrichtungen, sondern als miteinander verbundene und aufeinander angewiesene unter einem Dach hausen, beschreibe sozusagen die Marbacher Haus-Wirtschaft (ohne sie ids Modell anpreisen zu wollen). Drastisch und offen zeigen sich nämlich diese Komplikationen beim Miteinanderhausen, anderwärts wohl nur verhüllt oder indirekt; sie lassen sich auf die verschiedenen Verfahrensweisen beim Erwerben, Aufbewahren und Erschließen von Büchern und Handschriften, oder hier besser: von Nachlässen, allerdings zurückführen, aber auch auf den jeweils verschiedenen zeitlichen Vorsprung der einen vor der anderen Sammeltä129
Reinhard Tgahrt tigkeit. Auf die Titelfrage bezogen, lautet mein Resümee denn auch, vorweggenommen: ja, die Bibliothek kommt zuerst, läuft voraus, bekommt es gewöhnlich zuerst mit dem zu tun, was als Überlieferung transportiert wird, aber sie wird zugleich von der Handschriftensammlung fortwährend zum Nachtraben genötigt, so daß sie oft genug kaum zu folgen vermag und auch deshalb ihre Zuflucht zu mancherlei kasuistischen Hilfsmanövern nehmen muß. Rücksichten und Kompromisse, Fragen und Forderungen in diesem Zusammenhang sind, wie mir scheint, keine reinen (oder unreinen) Interna der sammelnden Häuser nur; sie dürften, wenn man genauer zusieht, auch den Literaturforscher, den Editor, den Bibliographen angehen. Ich erinnere an die von Christoph König zitierten Erwartungen Diltheys, wonach sich dieser aus dem Sammeln von Handschriften Aufschlüsse über - wenige, große - Individualitäten versprach, dem Büchersammeln aber das nicht weiter erörterte Herstellen eines Zusammenhangs als Aufgabe zuwies. (Vgl. S. 40 dieses Bandes). In der Tat hat es die Bibliothek nicht mit einer eng begrenzten Anzahl von Personen, Verfassern zu tun, sondern mit einem prinzipiell offenen, erweiterbaren Personenkreis, der bereits jeden Anfänger mit einschließt, und mit wiederholt vorkommenden Drucksachen, die grundsätzlich, sofern die Mittel reichen, systematisch komplettiert werden können. Die lückenhafte, den historischen Zufällen in ganz anderer Weise ausgelieferte handschriftliche Uberlieferung kann sie „ausgleichen", das Netz enger knüpfen als die auf Auswahl angewiesene Handschriftensammlung. Das gilt auch für den einzelnen Autor: alle seine Ausgaben oder nur alle seine Erstausgaben etwa zu sammeln, hat beim Handschriftensammeln keine genaue Entsprechung. Mehr noch: die Bibliothek ist sogar imstande, Dubletten aufzunehmen, wenn sie es muß, nicht immer gern. Nur: das Verhältnis von Einzelnem und Zusammenhängendem verkehrt sich - sonderbarerweise - , wenn man auf die Erwerbung hier und dort blickt, denn der Nachlaß eines Autors ist gewöhnlich ein bereits sehr „gemischter" Komplex, mit oft disparatem Anteil verschiedenster Drucksachen. In der Bibliothek dagegen erwirbt man gewöhnlich einzelne Bücher vieler Autoren und arbeitet sie in den allgemeinen Bestand ein; daraufist ihre Arbeit, sind ihre Regeln eingerichtet. Die Provenienz dieser einzelnen Stücke interessiert nur beiläufig (wenngleich sie, meist eine Buchhändleradresse oder der Name eines Stifters, festgehalten wird). Wenn man dann, etwa in einer Spezialbibliothek wie der Marbacher, sich darüber hinaus an die inhaltliche Erschließung von Anthologien, Sammel130
Bibliothek und Bibliographie im
Literaturarchiv
werken, Zeitschriften macht oder das nicht zu Katalogisierende in einer systematisch angelegten Zeitungsausschnitt- und Dokumentensammlung ordnet und ablegt, geschieht das gleichfalls auf generelle, nicht am Einzelfall interessierte Weise (auch wenn dabei viele Einzelbeiträge vieler einzelner Verfasser zugänglich gemacht werden). Konkret: eine Zeitschrift oder eine Anthologie wird für das Erschließungsprogramm bestimmt, wenn sich's lohnt, dann aber werden alle einschlägigen Beiträge katalogisiert. Eine medizinische Zeitschrift etwa oder ein Kirchenblättchen hätten da nach den von der Bibliothek autonom bestimmten Regeln zunächst keine Chance, auch wenn sich darin Erstdrucke von Döblin oder Benn oder Rudolf Alexander Schröder finden sollten. Diesem - hier nur holzschnittartig verdeutlichten - Geschäftsgebaren kommen nun mancherlei Zumutungen von Seiten der Handschriftensammlung in die Quere, vor allem die, Individuelles und seine Herkunft in Rechnung zu setzen. Es gibt da zunächst etliche Rücksichten, die man leichtnehmen kann, weil sie sich mit den allgemeinen Geschäftsgängen der Bibliothek noch gut vertragen: jenes Mitbedenken oder Aufmerken also, das zwar zusätzlich Mühe und Kosten bereitet, aber nicht eigentlich „stört", einen den Kopf zerbrechen läßt. „Wir haben den Nachlaß": das ist schon ein Argument beim Kauf teurer Antiquaria oder solcher Bücher, deren Erwerbung nicht vordringlich schien. Der Bibliothekar in einem Literaturarchiv folgt auch immer noch gern dem Winken der Kolleginnen/Kollegen von nebenan oder von Handschriften-Benutzern, wenn es darum geht, die textkritisch relevante dritte Auflage eines Buches zu besorgen - kämen diese Winke denn so regelmäßig wie von Seiten der Antiquare, die wissen, warum sie winken. Noch über das Anschaffen aparter Titel, die nicht ins Sammelgebiet der Bibliothek fallen, läßt sich reden. Auch wenn alle diese Extrawünsche am Etat wie an den Kräften der Bibliothek zehren und rasch an ihre Grenzen stoßen. Heikler wird es beim Kauf oder bei der Stiftung einzelner Zeitschriftenhefte, eines einzigen Verfassers oder Beitrags wegen, denn die normale Titelaufnahme des Periodikums, die nötig ist, sagt nichts über den eigentlichen Grund dieser Anschaffung - erste Hilfsmanöver, ungebräuchliche, werden unumgänglich: Angaben im Kontext oder ein eigentlich unzulässiges individuelles „Exzerpieren" oder - die billigste Lösungdas Kopieren des Beitrags für die Dokumentationsstelle. Der Erwerbungsfluß wird schließlich auch gestört und aufgehalten durch die Erwartung der zwar ordentlich von der Handschriftensammlung annoncierten, von Benutzern angeforderten, aber oft genug erst nach Mahnungen und allzu langer Frist eintreffenden Belegexemplare. Generell, nicht kasuistisch131
Reinhard
Tgahrt
umständlich verfahren läßt sich auch bei den Widmungsexemplaren, jenen vielen, die im Bibliotheksbestand verbleiben: da genügt es, der Handschriftensammlung einen weiteren Abzug der Titelaufnahme zukommen zu lassen. Ebenso reicht, im umgekehrten Fall, wenn Bücher mit ausführlichem handschriftlichen Beiwerk, Widmungsgedichten etwa, in der Handschriftenabteilung aufbewahrt werden, die Standortangabe „liegt bei den Handschriften". Dieses Verfahren wird gelegentlich auch nötig, wenn aus urheberrechtlichen oder andereren Rücksichten ein Druck der allgemeinen Bibliotheksbenutzung zu entziehen ist und die Kennzeichnung als Rarum nicht genügende Sicherheit bietet (ganz selten sogar unter Verzicht auf einen Bibliotheksnachweis). Zwei Lasten viel größeren Gewichts werden der Bibliothek mit den Drucksachen aus Nachlässen und mit den Schriftstellerbibliotheken aufgeladen. Ihretwegen erst lohnt sich eine Diskussion, die bei der Überlieferungssicherung einsetzen und beim Erschließungsaufwand sobald nicht enden wird. Ich erläutere das Dilemma, das für die Bibliothek darin besteht, entweder sehr kurzen, zu kurzen oder sehr langen Prozeß mit diesen Drucksachen zu machen. In die geregelten, an allgemeinen Benutzerinteressen orientierten Geschäftsgänge der Bibüothek, für welche die Provenienz von Büchern und Zeitschriften - ich sagte es schon - verhältnismäßig uninteressant ist, bricht in Stapeln und Kästen, manchmal meterweise, in nicht voraussehbaren zufälligen Schüben und mit der Nötigung oder Forderung, die Provenienz womöglich nicht außer Acht zu lassen, der überaus gemischte Vorrat von Gedrucktem, der aus Nachlässen, aber auch aus ihnen folgenden gekauften oder gestifteten Ergänzungskonvoluten von der Handschriften-Sammlung an die Bibliothek gegeben wird: Bücher in ersten und viel späteren Auflagen, Widmungsexemplare und weitere Bücher anderer Verfasser, Druckbelege in Gestalt von Anthologien und Sammelwerken, einzelne Zeitschriftenhefte, Sonderdrucke mit und ohne Widmung, Veranstaltungsprogramme, Zeitungsausschnitte, gedruckte Lebenszeugnisse vom Baedeker bis zum Reise- oder Verlagsprospekt etc. etc. Manches davon hätte die Bibliothek nie gekauft, anderes ist längst vorhanden (so daß für die zahlreichen Dubletten eine eigene Vorrats-Kasuistik zu entwickeln ist), wieder anderes würde den allgemeinen Bestand vorzüglich ergänzen; auch etliche Überraschungen sind zu verbuchen: unbekannte, bisher bibliographisch nicht nachgewiesene Zeitschriften, entlegene Privatdrucke. Wie wird die Bibliothek dieses Ansturms neben dem normalen Geschäft 132
Bibliothek und Bibliographie im Literaturarchiv Herr? Einarbeiten! lautet eine kommune Devise unter Bibliothekaren, als sei das die einfachste oder selbstverständliche Regelung. Alles beisammen lassen und in gehöriger Ordnung separat aufstellen, eine andere. Das bloß formale Einarbeiten entzieht, sofern es sich um Stücke handelt, die nicht mit dem Autorennamen verknüpft sind (also etwa um Zeitschriftenhefte, Anthologien, Lesebücher, Sammelwerke) diese dem speziellen Zugriff derer, die an der Provenienz interessiert sind; die separate Aufstellung, ohne Katalogisierung (denn die ist oft spät genug erst möglich) entzieht eben diese Titel den Benutzern, die nicht nach den Drucken des Nachlaß-Autors fragen, sondern nach den sie transportierenden Vehikeln. Ein gehöriger Zeitaufwand ist nötig, nicht nur für das Nachprüfen am Bestand, und vor allem für das bewertende Sortieren; danach erst kann man sich für dieses oder jenes Verfahren oder Hilfsmanöver entscheiden. Daß dabei die Einschätzung des Ranges eines Schriftstellers und womöglich die Kenntnis oder Unkenntnis seiner Arbeiten und Arbeitsweise Folgen hat, wird in den Ohren mancher Literaturhistoriker greulich klingen. Doch ob es sich um ein Exemplar oder um dieses Exemplar eines Druckes, ob um einen Zeitungsausschnitt oder um diesen aus Autorenbesitz handelt, danach mag man bei Musil oder Loerke fragen, bei sehr vielen Autoren gewiß nicht. Manches davon bleibt gottseidank ohnedies in der Handschriftensammlung. Bei umfangreichen Sammlungen von Druckbelegen wird sich die vorläufige (und oft auch die endgültige) separate Aufstellung schon empfehlen, weil das, sofern man nur systematisch ordnet, den vorläufigen Zugriff erlaubt, wenn auch mit Einschränkungen — man kann das Katalogisieren mit besserem Gewissen aufschieben. Das gilt auch für geschlossene Verlagsproduktionen, die zusammen mit einem Verlagsarchiv erworben werden, zumal dann, wenn es eine anständige Bibliographie gibt (wie etwa im Falle des Verlages von Willi Weismann), oder für größere Zeitungsausschnittsammlungen, die in einer zweiten Abteilung der Dokumentationsstelle für sich aufbewahrt werden können, nicht „eingearbeitet" werden müssen. Bei unkatalogisierten Sammlungen läßt sich das Provenienzprinzip merkwürdigerweise also am ehesten wahren; erst wenn es ans Katalogisieren geht, gerät es in Gefahr. Bei kleineren Konvoluten kann man die Provenienz natürlich in Listen festhalten oder durch zusätzliche Erschließungsmanöver zuwege bringen, wie ich's oben bei den Zeitschriftenheften erwähnte, daß wenigstens die erkennbare Autorbezogenheit gerettet wird. Einzelne Zeitungsausschnitte lassen sich zudem sehr wohl für die allge133
Reinhard
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meine Sammlung der Dokumentationsstelle kopieren. Jede Extra-Aufbewahrung allerdings macht zweierlei nötig: Übersichten über Bestände dieser Art, die man dem Benutzer an die Hand geben kann, und aufwendigere Benutzerberatung für diejenigen, die sich nicht mit den Nachweisen im Bibliothekskatalog begnügen wollen oder dürfen. Das fatalste Hilfsmanöver sei immerhin schamvoll genannt, obwohl oft genug nichts anderes übrigbleibt: die Kästen unsortierter Drucksachen vorläufig ganz unbearbeitet beiseite zu setzen. Nach dieser Beschwerde über Beschwernisse wird man nicht erwarten, daß ich nun sogar den Spieß umdrehen muß und Forderungen an die Handschriftensammlungen laut werden lasse: nämlich die, in die Nachlaßverhandlungen und -Verträge doch, bitte schön, die Bibliothek von vornherein einzubeziehen und wenigstens, was die Druckbelege angeht, auswählend zu beteiligen. Den Bibliothekar bekümmert es, wenn er sie nachträglich angeboten bekommt und kaufen muß, während sie doch, wie ich meine, von vornherein als legitimer Bestandteil des literarischen Nachlasses anzusehen (und zu berechnen) wären. Die Gelegenheit, die verschiedenen Auflagen (die längst nicht immer bibliographisch nachgewiesen sind), die Übersetzungen in einiger Vollständigkeit und sehr entlegene Drucke beisammen zu haben und beisammen zu lassen, bietet sich so leicht nicht wieder, es sei denn, ein rabiater Sammler käme einem später einmal zu Hilfe. Wie man sieht, gibt in diesem Falle der Bibliothekar dem Bibliographen nach. Beider Eifer allerdings wird bei verschiedenen Autoren verschieden groß sein. Das kann gar nicht anders sein, wenn es um die Übernahme ganzer Schriftstellerbibliotheken geht, der zweiten Last, die Bibliothek und Handschriftensammlung in zunehmendem Maße gemeinsam aufgebürdet wird. Viele Bibliotheken erwerben komplette Privatbibliotheken, nämlich immer dann, wenn sie sich, bei überprüftem geringem Dublettenanfall eine sinnvolle Ergänzung des eigenen Bestandes davon erhoffen. In einer Spezialbibliothek wie der Marbacher, in einem Literaturarchiv, hat man sich darüber hinaus früh und lange vor der Erwerbung eines Nachlasses auch um die auf Vollständigkeit aller Drucke bedachten Schriftsteller-Archive einzelner Sammler bemüht, wie sie Des Coudres für Jünger, Obermüller und Gebser für Rilke zusammengetragen haben. Kommt die Bibliothek derart der Handschriftensammlung zuvor, läßt sich manchmal freilich das Liedchen „Früher Eifer kann auch schaden" pfeifen, dann nämlich, wenn die Erben eines Nachlasses ungewohnterweise gerade der Belegexemplarsammlung, wenn nicht der ganzen Bibliothek des Autors, besonderen Wert 134
Bibliothek und Bibliographie im
Literaturarchiv
beimessen und sie in den Verhandlungen für besonders begehrte Ware halten. In solchen Fällen können der Bibliothek, wovor sie der heilige Hieronymus bewahren möge, nachträglich Massen von Dubletten, wie man so sagt, ins Haus stehen. Läßt man diese angehäuften Belege einmal beiseite, sind anfallende Dubletten, geht es um die geschlossenen Bibliotheken bedeutender Autoren, kein rechtes Argument mehr. Gottfried Benns und Paul Celans Bibliotheken sind, wie die Hofmannsthals im Freien Deutschen Hochstift, aus anderen Gründen erworben worden als denen, den Bibliotheksbestand zu ergänzen. Sie sind anscheinend so leicht nicht zu erschöpfende und zu ersetzende Reservoire weniger für Bibliographen als für Forscher und Editoren, nicht nur der Marginalien und Anstreichungen wegen, der Lektüredaten und Lesespuren, sondern oft schon wegen der bloßen Existenz bestimmter Bücher. Ohne Wilhelm Lehmanns Bibliothek würden die Bearbeiter der Studienausgabe beim Kommentieren der Tfexte des auf Schritt und Tritt zitierenden Dichters verzweifeln; ohne Benns Bibliothek hätte Gerhard Schuster die Tfextcollagen in seiner Stuttgarter Ausgabe kaum so überraschend auflösen können; und ohne Celans Bibliothek will anscheinend fast kein Celan-Forscher mehr auskommen, nach dem Zulauf zu urteilen. Verzeichnung und Benutzung solcher Bibliotheken bieten Probleme zuhauf, und zwar für Bibliothek wie Handschriftenabteilung. Im April 1992 sind sie in Marbach auf einem DFG-Kolloquium umsichtig vorgetragen, aber wenig kompetent erörtert worden - das lag auch wohl daran, daß es in einer Runde von Bibliographen und nicht von Editoren geschah. Die bloß formale bibliothekarische Titelaufnahme ist unbefriedigend, jede andere, etwa separat vorzulegende Verzeichnung aber derart aufwendig, daß man ohne rechte Muster nur allzu leicht resigniert. Das Sammeln solcher Schriftstellerbibliotheken kann nicht zur Regel und beliebig fortgesetzt werden, zumals längst nicht jedem Nachlaß-Autor eine kritische Ausgabe beschert wird. Als Kompromiß bietet sich gelegentlich, auch wenn er, der Kompromiß, bei Autoren oder Erben erst erkämpft werden muß, die Auswahl eines „Kerns" an (über den Bestand an Belegexemplaren hinaus); man beschränkt sich in diesem Falle auf einzelne Widmungsexemplare, etliches aus dem Freundeskreis, ausgewählte Stücke, die für den Autor besonders wichtig waren oder auffällige Arbeitsspuren zeigen. Auch dieses Arrangement kann der sammelnden Bibliothek noch beträchtliche Mengen, darunter auch Dubletten, eintragen. Generell muß man wohl die Physiognomie von Bibliotheken unterscheiden lernen und den jeweils unterschiedlichen Nutzen, den ein Autor aus ihr zog. Die 135
Reinhard Tgahrt Büchersammlung eines Redakteurs etwa, in der unbenutzte, also taufrische Besprechungsexemplare die Hegale füllen, wird man zwar getrost erwerben, wenn es sich lohnt, ebenso getrost aber auflösen können. Und aus den Bibliotheken vieler gelehrter Germanisten wird man, nach meiner Erfahrung, gewöhnlich wohl nur Herausgepicktes einheimsen dürfen. Viele der Komplikationen, die ich skizziert habe, ergeben sich nicht oder kaum 1. bei einem auf einen einzigen Autor beschränkten Archiv (wie dem Uwe Johnson- oder dem Arno Schmidt-Archiv), weil hier nicht zugleich allgemeine Bedürfnisse zu befriedigen sind; 2. in Bibliotheken ohne engeren Konnex zu Handschriftensammlungen die halten sich derlei Störungen einfach vom Leibe; 3. in Handschriftensammlungen, die zwar kleinere Drucksachen selber unterbringen, Bücher nur als Nachschlagewerke im Bestand haben und für alles übrige entweder die Fernleihe bemühen oder die nur lose attachierte Bibliothek allenfalls mit sparsamen Extrawünschen behelligen. Manches läßt sich in den Fällen überbrücken, in denen gute Personalbibliographien wenigstens einen Führer zu den Titeln, wenn auch längst nicht immer zu den Stücken abgeben, schon gar nicht zu denen, „auf denen seine Hand geruht". Die genannten Probleme sind, kann man wohl behaupten, dann verhältnismäßig eindeutig zu klären, wenn der (schon bemerkte) Rang eines Autors eine kritische Ausgabe oder eine ausführliche Personalbibliographie erwarten läßt: nämlich - auf welche Weise auch immer - zu Gunsten dieses Autors, seiner Werküberlieferung und Verwertungsindustrie. Und ebenso dann, wenn mit zureichender Sicherheit nichts dergleichen - etwa für Cäsar Flaischlen und andere Autoren seines Schlags - zu erwarten ist: nämlich zu Gunsten der allgemeinen Bedürfnisse der Bibliothek. Im Mittelfeld dazwischen allerdings werden pragmatische Kompromisse und notgedrungene Versäumnisse - trotz aller erwähnten Hilfsmanöver und kasuistischen Künste - den Forschern, Editoren, Bibliographen eines Tages anstößig sein, ganz gleich, ob die Bibliothek der Handschriftensammlung hinterdreintrabte oder sich sputete.
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Herbert
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Von „Goedekes" Aufgaben
Für eine Erörterung der nächsten Schritte und der künftigen Weiterbearbeitung des „Goedeke" ist es zuerst erforderlich, den gegenwärtigen Standort des „Grundrisses zur Geschichte der deutschen Dichtung" sichtbar zu machen. Denn wir können nicht losgelöst von überkommenen Verpflichtungen in die Zukunft planen. Dieser gegenwärtige Standort resultiert aus einer fast 150 Jahre währenden Kontinuität, die Idee einer die deutsche Literatur von ihren Anfängen bis in die Nähe der Gegenwart umfassenden detaillierten Darstellung in die Praxis umzusetzen. Wenn wir die aus diesem Prozeß uns zugewachsenen Erfahrungen zurate ziehen, bewahrt uns das vor allem vor utopischen Vorstellungen, alles müsse - nach sportlicher Denkart - immer umfassender, immer erschöpfender und immer ausgedehnter werden. Ein solches Rekorddenken wäre wohl eher dazu angetan, Dopingkontrolleure von Finanzministern auf den Plan zu rufen, als tatsächlich nützliche Lösungen auszumachen, die der Geschichtsschreibung ebenso Rechnung tragen, wie der Forschung im Detail oder die dem Informationsbedürfnis schlechthin dienen. Biographische Grundlagenerkundung und bibliographische Dokumentierung müssen auf ein Gleichgewicht dieser Anliegen mit dem ökonomisch Vertretbaren sehen, wenn sie nicht den Boden verlieren und zum Spielfeld von selbstvergessenen Phantasten werden sollen. Nüchternheit ist also vonnöten. Darum möchte ich den Blick auf die Fortführung des Vorhabens für das 19. Jahrhundert wie aus einem Bericht über durchgeführte Versuchsreihen entwickeln. Damit wird uns nicht nur die Aufgabe an sich vertraut, sondern wir erfahren von fruchtbaren Ansätzen wie von Fehleinschätzungen, aus Abwegen und auch Teilerfolgen soviel, wie wir brauchen, um das künftige Verfahren einsehbar zu machen. Ich werde also nicht zuerst ein Modell vorstellen, sondern zu zeigen versuchen, welche Wege zu ihm hinführen, und die Wegzeichen, die wir dabei vorfinden, ersparen uns die unanschauliche Argumentation vom Ergebnis her. Wir erinnern uns: 1844 veröffentlichte Karl Goedeke seine erste anthologisch-bibliographische Arbeit. Sie hatte den Titel „Deutschlands Dichter von 1813 bis 1843". Das Ziel war, mit dieser Darstellung „zur genaueren Kenntnis unserer jüngsten poetischen Entwicklung" beizutragen und da-
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Herbert Jacob mit „ein richtiges Bild sowohl der Gesamtheit der Dichter als jedes einzelnen" zu vermitteln. Goedeke wählte die Form des Lesebuches, um weitere literaturinteressierte Kreise über den der Fachleute hinaus zu erreichen. Ihnen wollte er durch entsprechende Anordnung und Auswahl den „Zusammenhang der neuen Lyrik mit den geschichtlichen Entwicklungsmomenten" bewußt machen. Warum ist dieser erste Versuch hier zu erwähnen? Weil in ihm bereits Elemente aller künftigen Bemühungen Goedekes zu erkennen sind: exakte Kurzbiographien, überprüfte Werkverzeichnisse und das Anliegen zu ihrer geschichtlichen - nicht ästhetischen - Gruppierung. In die Zukunft weist auch die hier erstmals verwendete Formel, das Ganze sei „aus den Quellen" geschöpft. Diese Versicherung einer von Vorläufern unabhängigen, auf eigenen Recherchen beruhenden Arbeitsweise, eine Formel, die in den Titeln seiner späteren Bücher immer wiederkehrt, hat sich bis heute auch in dem des „Grundrisses" wie ein Gütezeichen erhalten. Es gilt festzuhalten, daß Goedeke sein Programm, „die Zeit durch ihre bezeichnendsten Dichter und diese durch ihre eigentümlichsten Dichtungen darzustellen", von seiner eigenen Gegenwart her aufnahm. Die späteren Werke dieser Gattung (Elf Bücher deutscher Dichtung, 1849, und Deutsche Dichtung im Mittelalter, 1854) transportierten dieses Anliegen schrittweise bis zum Beginn unseres Schrifttums. Der Autor Goedeke blieb trotz dieser späteren retrospektiv gerichteten Pflichtarbeit seiner Zeit zugewandt, an der er mit seiner Arbeit über den Kreis der Wissenschaft hinaus aktiv teilhaben wollte. Denn „die mathematischen und die Naturwissenschaften, die den ganzen Zuschnitt unseres äußern Lebens umgewandelt haben, würden, wenn es zweifelhaft sein könnte, den Beweis liefern, daß die Wissenschaft nicht mehr ihr Ziel in sich selbst trägt..., sondern allen gehört und alle voraussetzt" (Programm der „Deutschen Wochenschrift" 1854). Dieses Engagement schloß für ihn den Gedanken aus, nur ein Hilfsinstrument für die vorerst wenigen Vertreter eines sich eben erst herausbildenden Fachgebietes herzustellen. Das Gebäude des „Grundrisses" sollte für sich selbst Bestand haben, indem es die literarische als ein Element der gesamten nationalen Entwicklung faßte und sowohl in einer übersichtlichen Gliederung als auch in der Formung im einzelnen für alle Interessierten zugänglich blieb. Das Ergebnis war, um mit Walter Benjamin zu sprechen, die Darstellung des Gefäßsystems der Literaturgeschichte. Diesem Ziel war Goedekes Arbeitsweise untergeordnet, auf die folgende Charakteristika zutreffen: 1. aus den Quellen zu arbeiten, d.h. nicht gutgläubig von anderen abzu138
Von „Goedekes" Aufgaben schreiben, sondern die Zeugnisse selbst herbeizuschaffen oder sie aufzusuchen oder sich ihnen durch kritischen Vergleich anderer Quellen anzunähern, 2. biographische Abrisse nur aus gesicherten Daten zu verfassen, 3. ästhetische oder subjektive Wertungen zu unterdrücken, 4. den Schwerpunkt in der Dokumentierung des Schaffens der Autoren zu suchen, 5. durch gestraffte oder ausgeführtem Fassung der einzelnen Anteile die geschichtliche oder zeitgeschichtliche Bedeutung hervorzuheben (was durch Zuweisen in einen selbständigen Abschnitt oder aber in eine Gruppierung möglich war). Schließlich blieb der so oft überlesene Satz: „Vollständigkeit liegt nur so weit im Plane, wie sie erforderlich ist, um die Richtungen der einzelnen Entwicklungsmomente des Gesamtcharakters kennen zu lernen. Eine vollständige Anzeige der Hilfsmittel wird weder beabsichtigt noch ist sie möglich" („Grundriß", § 2). Goedeke hatte sich also die Aufgabe gestellt, das Gebiet übersichtlich und nachvollziehbar zu gliedern; er nannte die Tfeile Bücher, Kapitel, Abschnitte und Paragraphen. Mit Hilfe dieser Gliederungselemente, deren Benennung vielfach aus der nationalen Geschichte abgeleitet war, konnte er einzelne Autoren selbständig darstellen, also hervorheben, andere in gemeinschaftlichen Abschnitten zusammenfassen und sie als Zeugen für übergreifende Entwicklungen werten. Diese Vorgehensweise gestattete ein Eingehen auf zahllose Autoren, die bei verbaler Darstellung ignoriert werden müssen oder deren Aufnahme in ein alphabetisch geordnetes Werk Fall für Fall umständlich erörtert werden müßte. Das erwies sich immer dann als hilfreich, wenn in diesem vermeintlich nur dichtungsgeschichtlichen Grundriß die Grenze zu benachbarten Gebieten zu überschreiten war. Später nachgereichte systematische Register zu einem primär alphabetisch geordneten Stoff haben nicht dieselbe Belegkraft, wie eine - wie auch immer beschaffene - Systematik, in der jeder einzelne sogleich erkennen ließ, wofür er hier stand. Sie bewahrte außerdem das Werk vor der Gefahr, zu einem Sammelsurium auszuarten, in der alles angehäuft werden konnte, für das möglicherweise im weiteren Umkreis der Literaturgeschichte auch einmal eine Auskunft gesucht wird. Herman Grimm hat den „Grundriß" mit Recht eine ,prganische Enzyklopädie" genannt. Für Goedeke konnte es überhaupt nicht zweifelhaft sein, daß er in dieser bewährten Weise das Werk über die vorläufige Begrenzung von 1830 139
Herbert Jacob hinaus bis an die eigene Zeit heranführen werde, von der er ursprünglich ausgegangen war. Im Programm der zweiten Auflage, die 1884 zu erscheinen begann, wird dieses Ziel erneut festgeschrieben. Es ist für uns, die wir diese unerledigte Aufgabe angenommen haben, unbestritten, daß nicht nur dieser erste Versuch, sondern alle nachfolgenden bei unterschiedlichem Vorgehen und mit den jeweils verfügbaren Mitteln dieselbe Belegdichte erreichen wollten, wie das ursprüngliche Werk. Ich will das nur kurz beleuchten. Goedeke konnte bei der Materialsammlung für eine Darstellung seiner eigenen Zeit trotz seiner Systemvorstellung nicht von einer solchen ausgehen, sondern mußte die Einzelerscheinungen erkunden und sie später zu ordnen suchen. Er wandte sich also an die Autoren selbst, um von ihnen Auskünfte einzuholen. Dies hatte schon vor ihm Meusel für sein „Gelehrtes Teutschland" getan, und nach ihm hat Brummer diesen Weg eingeschlagen und noch später Kürschner für seinen „Literaturkalender". Trotz des Erfolges von 700 Antworten auf seine Fragebogenversendung von 1856 mußte Goedeke aus der sehr unterschiedlichen Auskunftsbereitschaft schließen, daß daraus kein Werk zu formen war, wie er es vorhatte. Das belegen die Werkverzeichnisse in Brümmers lexikalischen Veröffentlichungen ebenso, wie die in Kürschners Literaturkalender, wo in Fällen die phantasievollen Titel für nie realisierte Vorhaben die Hinweise auf tatsächlich Geschriebenes oder gar Veröffentlichtes so überwiegen können, daß man eher von Desinformation sprechen muß. Es war also beim zweiten Anlauf erneut Grund zu legen. Nicht nur wegen des zeitlichen Abstandes zum Darstellungsgebiet wählte der spätere Herausgeber - Franz Muncker - einen anderen Weg, indem er es dedailliert aufgliederte und die einzelnen Anteile an hierfür verantwortliche Mitarbeiter übertrug. Sie würden jeweils für die möglichst dichte Dokumentation einstehen. Zur Verklammerung der einzelnen Anteile wurden für alle Beteiligten verbindliche Bearbeitungsgrundsätze erlassen, die jedoch so formuliert waren, daß ihnen ein eigener Entscheidungsspielraum verblieb. Neu war - und das hat dann weitergewirkt - die Zuweisung aller aufzunehmenden Schriftsteller ihrer geschichtlichen Bedeutung gemäß zu drei Klassen; sie waren entsprechend ausgeführter oder geraffter zu fassen. Das traf nicht nur für die biographischen Ifexte zu, sondern für das Verzeichnis unselbständig veröffentlichter Werke, von Nachauflagen und Nachdrucken, vor allem aber für den Nachweis von Sekundärschrifttum, das ohnehin im wesentlichen auf Buchveröffentlichungen beschränkt werden sollte. Als Instrument wurden also formale Kriterien genutzt. 140
Von „Goedekes" Aufgaben Wodurch war dieses Verfahren provoziert worden? Der Herausgeber war auf Tatsachen gekommen, mit denen sich alle Nachfolgenden auseinandersetzen müssen, wenn der Anspruch zu umfassender Unterrichtung nicht aufgegeben werden soll. 1. hatte sich nach und nach das Berichtsgebiet der Literatur des 19. Jahrhunderts in zahllosen Einzelerscheinungen als so reichhaltig und zugleich unerforscht abgezeichnet, daß es sich einer schrankenlosen Dokumentation widersetzte. 2. kam etwas hinzu, was schon die Weiterarbeit am ursprünglichen Bestand des „Grundrisses" immer stärker belastete und verzögerte: Goedeke hatte, wie wir gesehen haben, ein Autor- und Werklexikon schaffen wollen, in dem - nach den Erfahrungen seiner Zeit - nur gelegentlich auf, wie er es nannte, Hilfsmittel hinzuweisen war. Aber gleichzeitig mit der Neubearbeitung des „Grundrisses" entwickelte sich eine bis dahin ungekannte literaturgeschichtliche Spezialforschung und förderte immer neue Kenntnisse ans Licht, die nun nicht nur zu buchen waren, sondern die durch Hinweise auf diese „Sekundärliteratur" belegt werden mußten. Das ergab als Folge eine Verlagerung des Schwerpunktes vom Werkverzeichnis zum Literaturverzeichnis, so daß schließlich ganze Partien kaum noch die ursprüngliche Intention erkennen ließen. Eine dritte Erfahrung aus dieser Zeit verlangte darüber nachzudenken, wie eine solche Darstellung auf ein Maß gebracht werden könne, das sowohl in einem rechten Verhältnis zum dargestellten Gegenstand als auch zum zu erwartenden Wert und Nutzen für Mit- und Nachwelt steht. Das fast drei Jahrzehnte währende Bemühen um Sichtung, Sammlung und Gliederung war schließlich in wirtschaftlichen Krisen nach dem ersten Weltkrieg versandet. Man konnte nicht unbelastet davon einen Bau beginnen wollen, dessen Dimensionen sich, wenn man stofflichen Zwängen nachgab, beliebig ausweiten ließen. Hier spielte auch ein Interessenwandel in breiten Schichten des Publikums, das ja ein solches Werk mitträgt, eine Rolle. Die von Goedeke so gern apostrophierte „Zeit der allgemeinen Bildung" fand neue Interessenschwerpunkte, wie man auch am Habitus einst bekannter Literaturzeitschriften sehen kann: der Leser wendet sich immer stärker der popularisierten Tfechnik und Naturkunde, dem Sport, Bildberichten zu, und das allgemeine Interesse an der Literatur gerät mehr an den Rand. Dieser Wandel zeigt sich auch am nachlassenden Verkauf des „Grundrisses", einem Werk also, das keine Konzessionen an die Popularisierung seines Gegenstandes gemacht hat und dessen Auflage von über 3000 abgesetzten Exemplaren um 1900 danach auf einige Hundert abgesunken ist. 141
Herbert Jacob Ein erneuter Versuch hatte alles das zu berücksichtigen, wenn trotzdem das überkommene Modell einer vollständigen gedruckten Enzyklopädie eines Fachgebietes gerettet werden sollte. Der vorausblickende Verleger hat daher frühzeitig den Weg zur Veränderung des Werkes vom „Mehrverfasserwerk" zum organisierten Gemeinschaftsunternehmen gesucht, der schließlich in die Preußische Akademie der Wissenschaften führte. Von hier aus wurden bereits andere Vorhaben der Grundlagenforschung auf demselben Fachgebiet gesteuert, die „Jahresberichte über die wissenschaftlichen Erscheinungen auf dem Gebiete der neueren deutschen Literatur", die Inventarisierung der mittelalterlichen deutschen Uberlieferung im sogenannten Handschriftenarchiv, und schließlich war hier der Standort des von Wilhelm Dilthey ins Leben gerufenen ersten deutschen Literaturarchivs. Man kann davon sprechen, daß mit der nun hinzutretenden Inventarisierung der neueren deutschen Literatur im „Grundriß" erstmals die Umrisse eines umfassenden Informationssystems der Germanistik erkennbar wurden. Die daran Beteiligten konnten sowohl um Teilaufgaben entlastet werden, als auch Hilfe leisten. Allen zugleich kam der besondere Glücksumstand zugute, daß sie mit der Preußischen Staatsbibliothek unter einem Dache vereinigt waren. Für die Arbeit am „Grundriß" ließen sich aus dieser Konstellation Folgerungen ableiten, die sein Erscheinungsbild bestimmt haben. Von der Preußischen Staatsbibliothek wurde in dieser Zeit die Veröffentlichung des späteren „Deutschen Gesamtkatalogs" nach vierzigjähriger Vorbereitung eingeleitet. Damit schien für eine Vielzahl von Personalartikeln im künftigen „Grundriß" nicht nur die allein ausreichende Grundlage bereitzustehen, sondern man gewann eine Handhabe, um den Umfang der allermeisten Personalbibliographien auf Nachträge zu reduzieren, die sich aus einem Vergleich des Gesamtkatalogs mit den Angaben in älteren lexikalischen Werken einstellten. In diesem Kontext supplementären Charakters fand man Platz für extensiv ausgearbeitete Personalbibliographien, wie wir sie sonst nur als monographische Veröffentlichungen kennen. Zu keiner anderen Zeit war der „Grundriß" so stark an ein anderes Werk gebunden. Ich möchte nur wenige Gesichtspunkte benennen, die uns veranlaßt haben, von diesem Modell abzugehen. Der vom „Deutschen Gesamtkatalog" erhoffte Ausgleich konnte sich nicht einstellen, weil aus dem Zeitraum nur ein Bruchteil von Veröffentlichungen in den Besitz öffentlicher Bibliotheken gelangt ist und daher nur indirekt durch zeitgenössische Zeugnisse belegt werden kann. Um die Verläßlichkeit der Werkverzeichnisse ist es aber auch schlecht bestellt, wenn man die so unter142
Von „Goedekes" Aufgaben schiedliche Qualität der zum Vergleich herangezogenen älteren Auskunftsmittel nicht veranschlagt. Wie viele Werke werden dort angeführt, die nie geschrieben oder gar gedruckt worden sind! Sie alle als tatsächlich existierend vorauszusetzen und diese buntscheckige Ansammlung mit Nachträgen auszustatten, entwertet die Information als Ganzes. Auf dasselbe Glatteis begab man sich mit der vorgesehenen Übernahme der Bibliographien mit ungesichteter und unverarbeiteter Sekundärliteratur aus den „ J a h r e s b e r i c h t e n " (und ähnlichen Verzeichnissen). Dabei wurde die oftmals wechselnde Auswahlpraxis der „Jahresberichte" ignoriert; sie gibt kein genuines Bild des tatsächlich vorhandenen Schrifttums wieder. Gerade die germanistische Berichterstattung leidet seit jeher an ihrer inkonstanten Abgrenzung gegenüber dem wissenschaftlichen Trivialschrifttum und an einer unscharfen Bestimmung dessen, was als wissenschaftlich im engeren Sinne anzusehen ist. Es sind hier Nachweise von zahllosen, nie de facto zur Kenntnis genommenen Veröffentlichungen konserviert und immer weitergereicht worden, bis sie dann in einer bibliographischen Retrospektive endgültig begraben wurden. Das hat schon die Verfasser der alten „Jahresberichte", in denen immerhin noch referiert werden mußte, zweifeln und verzweifeln lassen. Solche Skrupel werden auch in einem Scherzgedicht aus ihrer Mitte laut: Fühlt wer zum Autor sich geboren, verbricht ein Buch, zu aller Qual, es bleibt der Nachwelt unverloren mit Ort, Verlag und Seitenzahl! Ging's längst den Weg zur Makulatur So findest du doch seine Spur im Jahresbericht... („Aus des Germanisten Bescheidenheit". Privatdr. o.O. u. J.) Arbeiten zur deutschen Literatur kommen aus zahlreichen sprachlich, kulturell und regional unterschiedlichen Sphären und gehören schon dadurch auch verschiedenen Wertebenen an. Es gibt nicht den idealen Empfänger jenseits dieser Kategorien, der noch dazu Zeitwert, Gelegenheitscharakter oder weiterreichenden Nutzen a priori abwägen könnte. Daher ist es ein Irrtum, mehr noch ein Eingeständnis von Unfähigkeit, wenn man mit dem Anspruch zur umfassendsten Information alles Aufgefundene in ein und dieselbe Ebene nivelliert. Mit dem Herstellen einer einheitlichen Zitierform, auch für das nie kritisch Gefilterte, wird eher das Gregenteil 143
Herbert Jacob von dem erreicht, was man vorgibt zu leisten. Die Information erstickt an sich selbst. Albert Köster hat die Forderung in den einfachen Satz gebracht: Das schwerste am Sammeln ist das Wegwerfen. Dem zügigen Vorankommen einer Enzyklopädie stehen jedoch eigens anzustellende Recherchen und Bildung eines eigenen Standpunktes im Einzelfall - wie man das in einer monographischen Personalbibliographie erwarten muß - im Wege. Aus diesem eher schlecht bestellten Umfeld der enzyklopädischen Darstellung ragen dann eben wie riesige Monolithe die monographischen Personalbibliographien einiger Autoren in ungezügelter Ausdehnung heraus, die das einheitliche Erscheinungsbild eines auf ein halbes Jahrhundert gerichteten Werkes zunichte machen. Sie gehören trotz ihres Wertes für sich nicht an diese Stelle. Von Spezialisten in langjähriger Arbeit, oft als Summe eigener lebenslanger Forschungen, in das Werk eingebracht, entzogen sie sich allen redaktionellen Eingriffen, die nur ihr inneres Bezugssystem beeinträchtigen oder beschädigen konnten. Andererseits waren gerade diese Mitarbeiter in ihren eigenen lokalen Bindungen mit sehr unterschiedlichen Hilfsmitteln versehen, mußten umständlich die Unterlagen herbeiholen, was mit ungleichem Erfolg gelang, und ließen sich (wie der 1940-62 erschienene erste Band der Fortfuhrung des „Grundrisses" belegt) auf Gebiete wie z.B. Porträtdarstellungen, Denkmäler, Übersetzungen in fremde Sprachen, Vertonungen der Gedichte ein, in denen sie vollends unfrei von punktuell vorhandenen Adversarien waren. Alle diese Aspekte lassen sich ausgewogen und kompetent nur im Ergebnis aufwendiger zielgerichteter Spezialrecherchen darstellen. Es ist nicht verwunderlich, wenn bei diesem Vorgehen über der Bearbeitung des ersten Buchstabens im Alphabet nach Namen fast 25 Jahre vorbeigegangen sind. Inzwischen ist der Abstand zum Berichtszeitraum, der anfangs kaum bestanden, dann nur wenige Jahre, schließlich ein paar Jahrzehnte betragen hatte, auf über einhundert Jahre angewachsen. Die Sachlage ist unverändert dieselbe: die Spanne zwischen 1830 und 1880 gehört, obwohl sie längst ihren Klassikerkanon hat, in der Menge ihrer Erscheinungen zu den am wenigsten erschlossenen Zeiträumen der deutschen Literaturgeschichte. Dabei bahnen sich hier Prozesse an, die bis an das Ende unseres Jahrhunderts weiterwirken, in der explosiven Zunahme der Druckerzeugnisse, der die damalige Buchhandelsbibliographie kaum gewachsen war, in der Entstehung einer bis dahin unerhörten Menge von Massenliteratur zwischen sozialem Propagandaschrifttum und trivialer Kolportage, die beide weite Leserkreise erreichen, daneben mit ungezählten Manu144
Von „Goedekes" Aufgaben skriptdrucken, mit der Vermittlung von Literaturwerken durch die Presse in den sich zur selben Zeit ausbildenden Feuilletonseiten und -beilagen, deren Wirkung kaum erkannt, geschweige erforscht ist, außerdem im Schrifttum von oft schnell vergehenden Gruppierungen, an die sich - trotz ihres lokalbeschränkten Charakters - zeitweise später markante Autoren angebunden haben. Die Aufgabe ist geblieben. Angesichts der Erfahrungen aus einem Jahrhundert zu ihrer Bewältigung mußte es darum gehen, ein Modell zu entwerfen, das Aussicht haben würde, aus den Kräften einer einzigen Generation und mit realistisch veranschlagten Aufwendungen das bislang verfehlte Ziel zu erreichen. Der vergrößerte zeitliche Abstand hat uns aber nicht nur Verluste eingebracht. Es ist gut, sich zuweilen seiner Herkunft zu erinnern, des Auftrages, nach dem man angetreten, um dann rückblikkend die Strecke von daher als Weg oder Umweg erkennen zu können. Erinnern wir uns: Karl Goedeke - Schüler und Freund Jacob Grimms hatte vorgehabt, dem „Deutschen Wörterbuch" seines Lehrers den „Grundriß" zur Seite zu stellen; neben die Aufzeichnung des deutschen Wortschatzes die des Schatzes der deutschen Literatur, gewissermaßen der Quellen der Sprachdokumentation, der geformten Sprache, der Dichtung. Dabei müssen wir daran denken, daß der frühen Germanistik - wie allenthalben belegbar - eine Aufspaltung der Literatur in eine Zugehörigkeit zum einem „engeren" oder „weiteren" Literaturbegriff - wie dem klassischen Altertum auch - fremd war; das brachten erst die Epigonen zustande. Auch das „Deutsche Wörterbuch" kennt natürlich eine solche Trennung nicht. Uber dieses hinaus hatten Wörterbuch und „Grundriß" eines gemeinsam: es ging um die Darstellung des jeweiligen Gegenstandes, nicht um einen Nachweis, was dazu geschrieben worden war. Das war zu benutzen als gelegentliche Hilfe, aber es war hier nicht auszuweisen. Beide Werke waren also nach ihrem Programm Primärdokumentationen, sie stellten ihre Gegenstände dar. Daß man aus diesen Darstellungen auch Auskünfte über Einzelfragen beziehen kann, wie übrigens auch aus verbalen Abhandlungen, ist ein zusätzlicher Gewinn, aber nicht die erste oder gar ausschließliche Zielstellung. Für diese praktischen Bedürfnisse sorgten dann Konrad Duden im Sprachlichen oder in der Literaturforschung Richard M. Meyer und später Josef Körner als Arbeitshilfen mit dem Nachweis von Forschungsliteratur. Deren umfassende Dokumentation als Spiegel der Wissenschaftsgeschichte wäre eine für sich bestehende Aufgabe! Das ist später nicht nur von den Nutzern des „Grundrisses", sondern auch von dessen späteren Verfassern verkannt worden. - Kehren wir also 145
Herbert Jacob zu unseren Ursprüngen zurück und halten fest, daß der „Grundriß" Goedekes und Grimms Wörterbuch sich dasselbe Ziel setzten, nämlich die Darstellung ihrer Gebiete mit den ihnen angemessenen Mitteln. Ich hatte schon gesagt, daß uns der zeitliche Abstand zum Berichtsgegenstand inzwischen nicht nur Nachteile beschert hat. Wir besitzen neue Möglichkeiten zur Aufbewahrung und Weitergabe von Daten und sind dafür nicht mehr ausschließlich an den Buchdruck gebunden. Während wir uns auf der einen Seite davor hüten sollten, allen Verführungen der neuen Technik zu erliegen, haben wir die Möglichkeit gewonnen zu unterscheiden, was auf konventionelle Weise weitergegeben werden muß oder was als ephemeres oder isoliertes Phänomen außerhalb geschichtlicher Wertigkeit zwar auch dokumentiert, aber auf andere Weise aufbewahrt werden kann. Wir dürfen uns heute bewußt machen, daß viele Hundert Seiten des „alten Goedeke" kaum je ein Leser nachgeschlagen haben wird, daß viele Fragen kaum je gestellt werden, und daß es darum gar nicht erforderlich ist, für das Interesse eines Einzelgängers mit einer gedruckten Information vorbereitet zu sein. Auch das „Deutsche Wörterbuch" hält sich nicht bei Individualbildungen oder isolierten Einzelbelegen auf. Unser vornehmstes Ziel sollte ebenfalls nicht ein aufwendig gedruckter Thesaurus sein, sondern ein literarisches Datenarchiv, aus dem einmal ein profiliertes gedrucktes Werk abgeleitet wird. Für dieses Datenarchiv des „Goedeke" gab es schon einmal einen Ansatz, der leider zugunsten einer schrittweisen, jeweils den unmittelbar zu erwartenden Anforderungen dienenden Arbeitsweise frühzeitig aufgegeben worden ist. Heinrich H. Houben hatte vor 1935 bereits aus dem Inhalt wichtiger jungdeutscher Zeitschriften eine Kartei erstellt und hierfür sogar einzelne Redaktionsexemplare zur Verfasserschaftsbestimmung benutzen können. Der Mangel dieser Kartei war, daß sie den ungeminderten Bestand der Preußischen Staatsbibliothek voraussetzte, auf den sie sich durch bloße Stellenhinweise bezog. Der ist nun nur noch teilweise vorhanden und durch andere Besitznachweise nicht vollgültig zu ersetzen. Damit ist der Nutzen der Kartei für uns beeinträchtigt. Trotzdem war der Ansatz richtig. Nur von einer in sich einheitlichen Materialgrundlage kann die Einheitlichkeit eines Gesamtvorhabens garantiert werden; sie ist ein Wertmesser für das Ganze. An diesen ersten Versuch habe ich in den Jahren 1956-1961 angeknüpft und - unter Berücksichtigung der veränderten Uberlieferungslage - eine gemeinsame Basis für alle Teile des künftigen Werkes hergestellt. Wenn auch nicht das gesamte Erschließungsprogramm zu Ende geführt werden konnte - ungeduldige Erfolgser146
Von „Goedekes" Aufgaben Wartungen und Kursänderungen in der DDR-Zeit haben schließlich zum Abbruch geführt - , ist trotzdem ein Fundus vorhanden, von dem die Bearbeiter der einzelnen Personalartikel ausgehen können. Der weitere Ausbau dieses Fundus, aus dem sukzessive ein Datenarchiv erwächst, bleibt auch in der Zukunft die vornehmste Aufgabe. Die gedruckte Fassung, die aus diesem Bestand abgeleitet wird, erhebt nicht mehr den Anspruch, das Aund 0 zur wahllosen Konservierung alles einmal Gefundenen zu sein. Sie kann wieder auf ihre spezifische Aufgabe zurückgeführt werden, die Anzeige der literarischen Werke einer Zeit, ihrer zeitgenössischen Rezeption, und sie stellt die Identität ihrer Verfasser her. Für andere Aspekte kann sie sich auf das Archiv beziehen, und es bleibt sogar eine Entscheidung darüber offen, bei welchen Gelegenheitsautoren ein solcher Hinweis überhaupt ausreicht. Diese retrospektive Bibliographie einer Epoche geht nicht dadurch in die Breite, daß sie alles auffängt, wofür jeweils spezielle Erschließungsmittel zuständig sind. Es gibt keinen Sinn und kaum einen Vorteil, die bereits geschaffenen Verzeichnisse der erhaltenen Nachlässe, die Zeitschriftenrepertorien von Estermann und anderen, die „Jahresberichte", die Briefbibliographien usw. hier nochmals zu reproduzieren oder mit ihnen allen zugleich zu wetteifern; es genügt, auf sie hinzuweisen. Die bibliographische Darstellung einer Zeit kann nicht vom Habitus einiger vorhandener Personalbibliographien bestimmt werden, denn sie besteht nicht in einer Aneinanderreihung von Monographien. Auch Wortmonographien haben keine Stelle im Kontext des Wörterbuches. Die eine Epoche umfassende Bibliographie braucht nicht mehr selbst Stellwände in den Büchersammlungen zu füllen (fast im Wettbewerb zum dargestellten Gegenstand), sie muß nicht alle bereits aufgearbeiten Informationen wiederholen, um möglichst vollständig zu sein, sondern sie kann zu ihnen hinführen. Auch mit dieser Schlüsselfunktion hat sie ihren Platz im Ensemble. Ich beschränke mich hier auf die zeitliche Fortsetzung des „Grundrisses" für die Jahre 1830-1880; sie führt an das uns benachbarte Aufgabengebiet des Deutschen Literaturarchivs in Marbach heran. Unerörtert bleibt daher die Frage einer abermaligen Fortsetzung. Auch von der Notwendigkeit oder Zweckmäßigkeit von Supplementen, in denen einige Personalbibliographien erneuert werden, und vom vorgesehenen Generalregister - es ist das fünfte in der Geschichte des Werkes - ist hier nicht zu handeln. Der Zukunft des „Goedeke" bleibt nicht nur eine Aufgabe vorbehalten. Noch eine Erinnerung zum Schluß: die Bibliographie hat es sich - wie 147
Herbert Jacob andere Arbeitsweisen, die neben den Kathederwissenschaften entstanden sind - nicht immer mit ihrem Selbstverständnis leicht gemacht. Georg Schneider, der Verfasser eines ihrer klassischen Lehrbücher, räumte ihr nur den Rang einer untergeordneten Tätigkeit im Vorhofe der Wissenschaft ein. Wieland Schmidt - eine Generation später - beklagt: „Viele Menschen, auch die, welche professionell mit Büchern Umgang pflegen, stehen der Bibliographie gegenüber auf der Stufe der Dilettanten, - man muß es schon als etwas Fortgeschrittenes ansehen, wenn sie sich zur Stufe der Spötter erheben". Wenn auch (nach Georg Schneider) die Bibliographie nichts gewinnt oder verliert, ob man sie eine Wissenschaft nennt oder nicht, sollte doch daran erinnert werden, daß sie sich in Verbindung mit dem jeweiligen Fachgebiet nicht in punktuellen Hilfsleistungen erschöpft. Auch auf unser Vorhaben bezogen erweist sie sich als eine Methode zu eigenständiger Darstellung eines Gebietes auf der ihr gemäßen Wahrnehmungsebene und mit ihren spezifischen Mitteln, eben des „Gefäßsystems der Literatur". Damit dient sie - und in wechselseitiger Beförderung gemeinsam mit der Bibliothek und dem Literaturarchiv einer Aufgabe: der Förderung der tatsächlichen Geschichtskenntnis und dem Sichern ihrer Voraussetzung.
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Bernhard
Fischer
Bibliographische Arbeitsstelle u n d Literaturarchiv Am Beispiel des Sammlungs- und Erschließungskonzepts des Deutschen Literaturarchivs Marbach a.N.
Die Verzeichnung germanistischer Sekundärliteratur läßt bekanntlich kaum Wünsche offen. Schließlich gibt es eine umfängliche laufende Berichterstattung mit der „Germanistik"1 und eine jährliche mit dem „Eppelsheimer/Köttelwesch",2 wobei beide sich auf das gesamte Feld der Germanistik beziehen, also die „Grundlagenwissenschaft" allgemeine Literaturwissenschaft ebenso einschließen wie Sprachwissenschaft und Mediävistik. Solche laufende Berichterstattung vervollständigen dann spezielle Bibliographien zu einzelnen Epochen und Autoren, laufend berichtend oder in Jahresringen. Komplettiert wird das System bibliographischer Verzeichnung durch kritische diachrone Schnitte, die im historischen Maßstab die Aufgabe der Rezensionen wahrnehmen und weiterfuhren: durch Auswahlbibliographien, Forschungsberichte und Catalogues raisonnés, die Fortschrittsmarken in jeder Hinsicht setzen. Diese bibliographische Lage ist unmittelbar Folge der spezifischen Öffentlichkeit des wissenschaftlichen Diskurses. Die umfassende systematische Berichterstattung (samt ihrer Verschränkung mit dem Rezensionswesen) macht die Fachbibliographie zu einer tragenden Institution seiner (Auto-Re)-Produktionsmechanismen. Es sei nur angemerkt, daß solcher Bedeutung ihr Ansehen nicht entspricht. Als germanistische Disziplin existiert die Bibliographie nicht. Bibliographien zu erstellen, ist ein Geschäft entweder von Profis oder von enthusiasmierten Dilettanten, die man für ihren (unterstellt geistlosen) Opfermut, fur Disziplin und Ausdauer nur noch loben mag. Eine Funktionsbedingung des wissenschaftlichen Diskurses ist seine 1 Germanistik. Internationales Referatenorgan mit bibliographischen Hinweisen. Tübingen 1 (1969) ff. 2 Bibliographie der deutschen Literaturwissenschaft. Hrsg. von Hanns W. Eppelsheimer, Clemens Köttelwesch, Bernhard Koßmann. Frankfurt a.M. 1957 ff.
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Bernhard Fischer externe Abgrenzung. Seine spezifischen „Textsorten" und Tfexte sind immanent durch den cursus academicus (Dissertationen, Habilitationen), durch Reihen und Zeitschriften, durch philologisch-editorische Aufgaben, Veranstaltungen wie Symposien und Kongresse mit ihren Vorträgen und Diskussionsberichten, schließlich durch Institutionen (Akademien, Germanistische Gesellschaften) „geordnet", also reglementiert. 3 Das formalisierte System wird überwacht von den Herausgebern und Veranstaltern etc., in denen sich gleichsam der historische Stand und das Selbstverständnis der Wissenschaft inkarniert. Für die „wissenschaftliche" bibliographische Berichterstattung gilt das Prinzip egalitärer Vollständigkeit unbedingt (auch wenn die Praxis es zur Verzeichnung „alles Wichtigen" aufweicht). Jeder Text, der der „Diskursordnung" genügt, repräsentiert „die" Wissenschaft, seine Unterwerfung unter die Norm reproduziert, mehr noch verbürgt und bewährt dieselbe. Schon von daher steht ihm gleichberechtigte Öffentlichkeit innerhalb der „Diskursordnung" und Anerkennung in der Form einer bibliographischen Aufnahme zu. - Unbedingt ist auch die Verpflichtung zur Aktualität. So sehr die Fachbibliographie Ergebnisse, Vergangenes also, verzeichnet, so sehr zielt sie auf die Gegenwart mit ihrem Krieg aller gegen alle und den „Zitierkartellen" und auf die Zukunft der Forschung. Mit den Titeln vermerkt sie die Gegenstände, Themen und Forschungsfelder, markiert sie Akteure, Schwerpunkte, Tendenzen, Perspektiven und methodische Ansätze, und immer auch - da die Autoreproduktion des Diskurses auf Streit und Neuerung setzt - Desiderate und Opponenten. - Eine letzte Dimension für die laufende vollständige Verzeichnung der Fachliteratur ist fachhistorisch und ergibt sich aus der Teilnahme des einzelnen Textes an „der" Wissenschaft. Nur das prompte Referat aller Beiträge vermag die Bewegung der Diskursordnung selbst aufzuzeichnen, also Veränderungen innerhalb des Wissenschaftsverständnisses zu dokumentieren und öffentlich zu machen. Das aber dient der permanenten Selbstverständigung des Faches über sich und über seine Rolle in der allgemeinen Wissenschaftslandschaft wie in der Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund germanistischer Fachbibliographie seien die Fragen nach der Verzeichnung von „Primärliteratur", im besonderen der „unselbständigen", und dem Zusammenhang von Bibliographischen Arbeitsstellen und Literatur-Archiven gestellt. Gegen einen Ansatz aller3
Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Inauguralverlesung am Collège de France, 2. Dez. 1970. Frankfurt a.M. [u.a.], 1977. (Anthropologie.)
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Bibliographische Arbeitsstelle und Literaturarchiv dings, der umstandslos die Prinzipien der Fachbibliographie auf die Primärliteratur übertragen will, soll sich die Perspektive des Folgenden am Unterschied zwischen Primär- und Sekundärliteratur orientieren. Er kann zwei verschiedene bibliographische Disziplinen begründen, deren eine der aktuellen Vollständigkeit, deren andere - in kritischem Abstand auch zum „weiten Literaturbegriff' - mehr einer historischen Beispielhaftigkeit und „Uberlieferungswürdigkeit" verpflichtet ist. Institution solcher Erschließung vor allem unselbständiger Primärliteratur wäre eine Bibliographische Arbeitsstelle. Organisatorisch wäre sie anzubinden an sammelnde Quelleninstitute, deren umfassende Aufgabe die Dokumentation der Literatur und des literarischen Lebens ist, da allein an Literaturarchiven eine integrative Arbeitsteilung möglich ist. Ihre Aufgaben des auszugsweisen und vollständigen Erschließens von literarischen Quellen ergänzten nicht nur Sammlung, Formalkatalogisierung und Dokumentation, sie alle zusammen bildeten vielmehr aufeinander bezogene Stufen eines umfassenden Erschließungskonzepts. Es sei angemerkt, daß dies das Konzept der geplanten Bibliographischen Arbeitsstelle im Deutschen Literaturarchiv sein würde.
II. Gegenüber der nahezu optimalen Verzeichnung germanistischer „Fachliteratur" steht die Bibliographie der deutschsprachigen „Primärliteratur" zurück. Für die monographische „Primärliteratur" ist durch Nationalbibliographie („Deutsche Bibliographie") und deren „Wöchentliche Verzeichnisse" in einer Sachgruppe (59 : „Belletristik") noch einigermaßen gesorgt. Unbefriedigend scheint die Lage dagegen bei der „unselbständigen Primärliteratur", weil die Reichhaltigkeit und Bedeutung ihrer Quellen - der Zeitschriften, Jahrbücher, Almanache und, nicht zu vergessen, der Feuilletons von Wochen- und Tageszeitungen - eine extensive Verzeichnung geradezu zu fordern scheinen. Ein kurzer Blick auf die Zeitschriften - die herausragende Quellengattung, was Literatur unmittelbar, was literarische Öffentlichkeit und literarisches Leben angeht - mag das zeigen. Jede ihrer bibliographischen Angaben ist in Zeiten sozial- und institutionsgeschichtlicher Forschung synchron und diachron registerhaltig. Ή tel, Untertitel, Verlag, Auflage, Ausstattung: alles gibt Hinweise nicht nur auf Zeitgeist und Mode, sondern auch auf die historischen Bedingungen literarischer Öffentlichkeit 151
Bernhard Fischer und ihre Veränderungen. Ganz zu schweigen vom Personal der Herausgeber, Redakteure, Autoren, Illustratoren etc. und ihrer Zusammensetzung, Gattungen und „Ttextsorten". Alle Aspekte sind einzeln und im Zusammenhang befragbar und ergiebig. Literarische Nachrichten in Zeitungsfeuilletons, Nachrichten über Preisverleihungen und Debatten, Proteste und Grußadressen, Rezensionen oder Anzeigen legen das Beziehungsgeflecht innerhalb der „literarischen Intelligenz" frei, zeigen überhaupt erst die Verkehrsbedingungen und Institutionen der literarischen Öffentlichkeit. Literarische Tfexte gewinnen hier in unmittelbarem Zusammenhang mit ihren Rezeptions- und Distributionsbedingungen historische Kontur. Uber die Mannigfaltigkeit des Inhalts dokumentieren Zeitschriften unmittelbar die innere Ungleichzeitigkeit des Literatur-Prozesses, seine Integration und seine Tbpographie. Sichtbar wird der untergründige Strom von Literatur, dem gegenüber die „großen" Autoren - um im Bild zu bleiben - sich nur als Wellenschlag ausnehmen. Nun ist die Erforschung des literarischen Systems nur ein Argument für die monographische Bibliographie einer Zeitschrift oder für die sich an der Vollständigkeit orientierende kumulative Bibliographie einer Gruppe von Zeitschriften. Ein anderes ergibt sich aus personalbibliographischer Perspektive. Die Auswertung der Quellen „unselbständiger Primärliteratur" stellt den Personalbibliographen viele erste Auskünfte über Teil-, Vorab-, Erst- und Wiederabdrucke von Texten eines Autors zu Verfügung; und sie leistet so auch wertvolle Vorarbeiten für editorische Vorhaben. Gemessen an ihrem Quellenwert, ist die laufende Erschließung unselbständiger Primärliteratur mehr als fragmentarisch, obwohl es eine ganze Reihe sammelnder Institutionen gibt: die Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt mit dem Sondersammelgebiet Germanistik, einzelne Archive und das Deutsche Literaturarchiv. Allerdings bieten sie meist nur die Formalkatalogisierung und einen Titelnachweis der Quellen (der an die Zeitschriftendatenbank geliefert, auch in separaten Katalogen publiziert wird).4 Darüber hinaus gibt es noch einige Dokumentationsstellen (auch in öffentlichen Bibliotheken), die Materialien wie Zeitungsausschnitte sammeln. - Einziges auf die Breite der deutschen Literatur des Zeitraums 1750 bis heute bezogenes „exzerpierendes", d.h. Quellenwerke auswertendes Institut scheint das Deutsche Literaturarchiv zu sein. Von Vollständigkeit ist seine Katalogisierung weit entfernt, denn derzeit werden neben 4
Zeitschriftenverzeichnis Germanistik/Linguistik, Bestände der Sondersammelgebietsbibliothek. 2. Ausdruck. Frankfurt a.M. : Stadt- u. Universitätsbibliothek, 1981.
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Bibliographische Arbeitsstelle und Literaturarchiv den belletristischen Sammelwerken nur 35 literarische Zeitschriften (.Akzente", „Merkur", „Neue Rundschau" etc.) in seinem „Exzerpierprogramm" ausgewertet. Aber trotz dieser geringen Zahl, die sich angesichts mehrerer hundert erscheinender einschlägiger Zeitschriften verschwindend ausnimmt, fallen jährlich etwa 4000-5000 Einträge aus den literarischen Zeitschriften und etwa 2000 aus den Sammelwerken an. Die Titelaufnahmen gelangen in den lokalen „Systematischen Katalog", der als Zettelkatalog eine überregionale Benutzung nahezu unmöglich macht. (Ein Behelf sind die „Stecklisten" mit kopierten Katalogauszügen, die auf Wunsch entgeltlich vom Deutschen Literaturarchiv gefertigt werden.) Die Beiträge aus den Zeitschriften und anderen Quellen werden keineswegs vollständig bibliographisch bearbeitet, sie werden vielmehr nach Regeln ausgewählt. Grundlage der Auswahl der Beiträge (sowohl eines Autors als auch über einen Autor) ist ein Index der Autoren („Marbacher Signierkartei"), der derzeit ca. 40 000 Autoren umfaßt. Kriterium für den automatischen Autor-Status ist der erste fiktionale Text, was der Signierkartei einen jährlichen Zuwachs von etwa 1.300 Namen beschert. In diesem Zusammenhang kommt dem „Exzerpieren" eine besondere Bedeutung zu, die aus der Rolle der Literaturzeitschriften für die literarische Öffentlichkeiten resultiert. Die Auswertung unselbständiger Beiträge in sogenannten „wichtigen" Literaturzeitschriften läßt zu einem recht frühen Zeitpunkt ihrer Werkgeschichte .Autoren" erkennen, die noch unterhalb der Schwelle der selbständigen Veröffentlichung sind. Das „Exzerpieren" fungiert mithin als eine Art sammlungsleitenden Sensoriums und - durch das Kriterium des „Rangs" der exzerpierten Zeitschrift - als Filter; es läßt vorzüglich .Autoren" eines bestimmten Niveaus erkennen. Anders ist der Stand bei der retrospektiven Bibliographie der unselbständigen Primärliteratur. Allgemein kann man sagen, daß nach den Großunternehmungen der letzten 15 Jahre das Feld der literarischen Zeitschriften bis zur Gegenwart zumindest weiträumig abgesteckt ist. Die Repertorien der Frankfurter „ B i b l i o g r a p h i s c h e n Arbeitsstelle" unter Alfred Estermann zu den „Deutschen Literatur-Zeitschriften"5 und die Marbacher Bibliographien zu den „Deutschen literarischen Zeitschriften"6 5 Alfred Estermann: Die deutschen Literatur-Zeitschriften 1815-1850. Bibliographien, Programme, Autoren. 2. Überarb. u. verb. Aufl. Bd. 1-11. München [u.a.], 1991. - Ders., Die deutschen Literatur-Zeitschriften 1850-1880. Bibliographien, Programme. Bd. 1-5. München [u.a.], 1988-89. 6 Thomas Dietzel ; Hans-Otto Hügel: Deutsche literarische Zeitschriften 1880-1945. Ein Repertorium. Hrsg. vom Deutschen Literaturarchiv. Marbach a.N. Bd. 1-5. München
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Bernhard Fischer decken den Zeitraum 1815 bis 1970 ab. Ihre Erschließungstiefe geht weit über den bloßen Titelnachweis der Bibliographie von Carl Diesch' hinaus und bietet damit auch fur Zeitschriften, für die eine analytische Bibliographie nicht vorliegt, inhaltliche Angaben auf einem hohen Niveau. Ungemein hilfreich sind sie überdies durch die Angabe der Bibliotheksstandorte der eingesehenen Exemplare, die die manchmal unzulänglichen Angaben der Zeitschriftendatenbank ergänzen und so der Literaturversorgung dienen. Die bibliographische Erschließung befindet sich gegenwärtig in einer Umbruchsituation. Nach den Repertorien ist die Zeit für Überlegungen gekommen, wie man weiter vorgehen soll.8 - Einerseits wäre es jetzt möglich (geboten?), auf ihrer Grundlage die retrospektive Erschließung auf der Ebene des Einzelbeitrags voranzutreiben, also die vollständigen Erfassung aller in einer Zeitschrift erschienenen Texte und die Kumulation der anfallenden Titelaufnahmen von ganzen Gruppen von Zeitschriften anzugehen.9 Der mögliche Gewinn liegt auf der Hand. Allein die Dichte der Dokumentation, die Abseitiges und Unscheinbares einschließt, vermag das hochauflösende Bild des literarischen Prozesses in Epochen/Zeiträumen zu geben, das Vorurteile korrigieren und Neues entdecken kann. Ebenso erlauben erst die Details am Rande des literarischen Lebens den Zusammenhang der Literatur mit anderen gesellschaftlichen Bereichen zu verfolgen und das „literarische System" sozialhistorisch einzubetten. Andererseits könnte man aber auch die bibliographische Energie auf die laufende Verzeichnung der aktuellen unselbständigen Primärliteratur anwenden. Man sollte auf jeden Fall das eine tun und das andere nicht lassen; angesichts der Personalenge jedoch ist ein tragfähiges Konzept umso dringlicher. Die retrospektive Erschließung von Zeitschriften des 18. bis 20. Jahr[u.a.], 1988; Bernhard Fischer, Thomas Dietzel: Deutsche literarische Zeitschriften 19451970. Ein Repertorium. Hrsg. vom Deutschen Literaturarchiv. Marbach a Ν. Bd. 1-4. München [u.a.], 1992. 7 Carl Diesch: Bibliographie der germanistischen Zeitschriften. Leipzig, 1927. 8 Vgl. dazu auch die dem folgenden verwandte, mit reichen Literaturhinweisen versehene Bestandsaufnahme Martin Schenkels, die den Bogen spannt von den ersten Ansätzen bibliographischer Erschließung von Zeitschriften bis zur Forderung etatisierter Arbeitsstellen: Martin Schenkel: Zeitschriften des literarischen Lebens. Rezension zu: Alfred Estermann: Die Deutschen Literatur-Zeitschriften 1850-1880. Bibliographien, Programme. Bd. 1-5. München [u.a.] 1988-89. - In: Bibliothek 16 (1992), S. 267-274. 9 S. Rezension des ersten Marbacher Repertoriums: Martin Schenkel: Das zeitgemäße Repertorium. - In: Bibliothek 14 (1990), H. 2, S. 165 ff.
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Bibliographische Arbeitsstelle und
Literaturarchiv
hunderte hat mit einzelnen Unternehmungen den Sprung auf die Ebene des Einzelbeitrags schon gemacht. - Das Göttinger Projekt der Erschließung von deutschsprachigen Zeitschriften des 18. Jahrhunderts hat bereits Ergebnisse im sogenannten „Göttinger Index"10 publiziert und wird für die Rezensionszeitschriften fortgesetzt. Die Stiftung Weimarer Klassik plant - ausgehend von der zweibändigen Bibliographie der kritischen Sekundärliteratur zu den deutschen literarischen Zeitschriften von der Aufklärung bis zur Romantik von Doris Kühles - die schrittweise analytische Erschließung von Zeitschriften des Weimarer/Jenaer Kulturkreises." - Für das 19. Jahrhundert hat die Frankfurter Arbeitsstelle auf der Grundlage der Bibliographien von Alfred Estermann eine Reihe der wichtigsten Literaturzeitschriften verzeichnet,12 damit auch die früheren Unternehmungen A. Estermanns zu Zeitschriften des Jungen Deutschland und zur Literaturkritik aufnehmend.13 - Das 20. Jahrhundert ist am breitesten vertreten: Hervorzuheben sind Paul Raabes „Index Expressionismus"14 und ein derzeit vom Österreichischen Forschungsfonds finanziertes Projekt zur Erschließung literarischer Zeitschriften in Osterreich 1933-1945. Ein Projekt des Deutschen Literaturarchivs zu Zeitschriften auf dem Tferritorium des Deutschen Reichs 1933-1945 wird vorbereitet. Mustergültiges für einzelne Zeitschriften unseres Jahrhunderts hat die Akademie der Künste der DDR mit den „Analytischen Bibliographien"
10 Akademie der Wissenschaften zu Göttingen: Index deutschsprachiger Zeitschriften MDCCL-MDCCCXV (1750-1815). Erstellt durch e. Arbeitsgruppe unter Leitung von Klaus Schmidt. Hildesheim, 1989 [Microfiches u. Begleitheft.] 11 Doris Kühles: Deutsche literarische Zeitschriften von der Aufklärung bis zur Romantik. Bibliographie der krit. Literatur von den Anfangen bis 1990. T. 1. 2. München [u.a.], 1994. - Dieselbe: Literarische Zeitschriften des 18. Jahrhunderts in der Weimarer Bibliothek. Bemerkungen zu ihrer Erschließung. — In: Historische Bestände der Herzogin Anna Amalia Bibliothek zu Weimar. Beitr. zu ihrer Geschichte u. Erschließung. Zsstellung u. wiss. Red.: Konrad Kratzsch u. Siegfried Seifert. München [u.a.], 1992. S. 123137. 12 „Inhaltsanalytische Bibliographien deutscher Kulturzeitschriften des 19. Jahrhunderts". Bd. 1-10. München [u.a.], 1995-96. - Vgl. a. Alfred Estermann: Die deutschen LiteraturZeitschriften 1815-1850. Bibliographien, Programme, Autoren. 2., Überarb. u. verb. Aufl. Bd. 11. Bibliographische Beiträge zur deutschen Literaturkritik des 19 Jahrhunderts. München [u.a.], 1991. 13 Alfred Estermann: Die Zeitschriften des Jungen Deutschland. Indices. Bd. 1. 2. Nendeln/Liechtenstein, 1975. — Literaturkritik. Eine Ttextdokumentation zur Geschichte einer literarischen Gattung. Hrsg. von Alfred Estermann. Vaduz/Liechtenstein, 1984 ff. 14 Paul Raabe (Hrsg.): Index Expressionismus. Bibliographie der Beiträge in den Zeitschriften und Jahrbüchern des literarischen Expressionismus 1910-1925. Serie A-Ε. Bd. 1-18. Nendeln/Liechtenstein, 1972.
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Bernhard Fischer vorgelegt.15 Hinzu kommen verstreute Bibliographien zu einzelnen Zeitschriften, die methodisch sich zwischen Gesamtinhaltsverzeichnis, Index und analytischer Bibliographie bewegen.
III. Angesichts der Bedeutung der Quellen und ihrer mangelhaften Erschließung drängte Paul Raabe schon Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre auf Abhilfe. Im Einklang mit der damaligen Idee, eine germanistische Fachdokumentation auf EDV-Basis aufzubauen (FIZ 14, GERDOKwieder abgebrochen), sind seine Vorschläge eine Grundlage der Bibliographischen Arbeitsstellen der siebziger und achtziger Jahre mit den Repertorien-Projekten. Vor allem sein Aufsatz „Karl Goedeke und die Folgen", spätere Bilanz und Programmschrift in einem, ist in diesem Zusammenhang einschlägig. Raabes zentrale Forderung ist die „institutionelle Verankerung der bibliographischen Arbeit".16 „ .Unter Nutzung aller rationellen Arbeitsmethoden, zu denen auch die elektronische Datenverarbeitung gehören sollte, läßt sich ein Höchstmaß an Informationen geben. Aus diesem Grunde ist es auch sinnvoll, über das gesamte Gebiet der deutschen Literaturgeschichte zu informieren. Sehr wesentlich ist es, die Fragestellung der vergleichenden Literaturgeschichte zu berücksichtigen. Die Wirkung der ausländischen Literatur in Deutschland wäre bibliographisch zu erfassen.' Aus diesem Programm wurden die einzelnen Aufgaben hergeleitet und beschrieben: einerseits die Erfassung und Erschließung der Tfexte und 15 Analytische Bibliographien deutschsprachiger literarischer Zeitschriften. Hrsg. von der Akademie der Künste der DDR. Berlin, Weimar. Bd. 1 fT. 1972 ff. - Wie den bearbeiteten Titeln zu entnehmen ist, stand diese Reihe unter dem Programm, ausgehend von der Literatur der Weimarer Republik und des Exils eine Tradition für eine „Neue Deutsche Literatur", für eine sozialistische Nationalliteratur zu begründen. Analytische Bibliographien liegen vor zu den Zeitschriften: Aufbau, Neue Deutsche Blätter, Freies Deutschland, Internationale Literatur, Die Linkskurve, Maß und Wert, Die Neue Bücherschau, Neue deutsche Literatur, Orient (Haifa), Die Sammlung, Das Wort, Heute und Morgen, Die Wiener Weltbühne/Die Neue Weltbühne. 16 Paul Raabe: Karl Goedeke und die Folgen. - In: Bibliographische Probleme im Zeichen eines erweiterten Literaturbegriffs. 2. Kolloquium zur bibliograph. Lage in der germanist. Literaturwiss ... Im Auftr. der Ständigen Arbeitsgruppe für Germanist. Bibliographie hrsg. in Verb, mit ... von Wolfgang Martens. Weinheim, 1988. S. 187-210. (Zitat S. 195.)
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Bibliographische Arbeitsstelle und Literaturarchiv Dokumente zur deutschen Literatur, sowohl die veröffentlichten und edierten wie die ungedruckten, sowohl die selbständigen wie die unselbständigen Publikationen, andererseits die laufende und retrospektive Erschließung des literaturwissenschaftlichen Schrifttums."17 Neben einer dezentralen Nationalbibliothek, in der jeweils eine bestimmte Bibliothek für die vollständige Vorratshaltung (in Original und Ersatz) der Primärliteratur eines Zeitabschnitts zuständig ist, sieht das Programm einen institutionellen Rahmen für literaturwissenschaftliche und literarische Dokumentation vor. Die letztere entwirft Raabe mit folgenden Worten: „Die zweite Sektion [der Information, B.F.] würde sich mit der literarischen Dokumentation beschäftigen. Darunter wird der Nachweis und ggf. die Bereitstellung der selbständigen und unselbständigen, heute oder früher erschienenen Ifexte und Editionen der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart verstanden. Wiederum in zwei Abteilungen könnten also alle literarischen Werke - von der BuchveröfFentlichung und der Edition über literarische Beiträge in Zeitschriften und Almanachen, Anthologien, Sammelwerken und vor allem auch in Zeitungen bis zu Rundfunk- und Fernsehskripten — verzeichnet werden. Darüber hinaus lassen sich die literarischen Dokumente insgesamt oder als Teile speichern: die literarischen Zeitschriften und Almanache, die Briefsammlungen, Erinnerungs- und Dokumentationswerke, sofern sie für die Literaturgeschichte relevant sind, neben den Titeln jeweils der Inhalt, also die einzelnen Briefe, Erwähnungen von Personen, Orten und Gegenständen in Erinnerungs- und Dokumentationswerken. Schließlich gälte es, die biographischen Angaben zu den deutschen Autoren zu erfassen und festzuhalten."18 Nicht von ungefähr erinnert der Begriff „Sektion" an den Aufbau einer wissenschaftlichen Akademie. Raabe entwirft den Plan einer Großforschungseinrichtung mit einer Vielzahl bibliothekarischer Fachkräfte, alle mit der retrospektiven und laufenden bibliographischen Erfassung, gar mit Regesterschließung, beschäftigt. Schon die Größe ist erschreckend, der Aufwand an Lebenszeit, abgesehen davon: wer soll und wer kann das bezahlen? Und - ist es überhaupt sinnvoll?
17 Ebd. S. 198 18 Ebd. S. 206.
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Bernhard Fischer IV. Was der Sekundärliteratur recht ist, ist es der Primärliteratur wirklich nur billig? Unterhegen die Germanistische Fachbibliographie und die Bibliographie der deutschen „Literatur" überhaupt derselben Logik, sind sie gleichartig? Genügte der Eigenart literarischer Quellen nicht viel besser ein stufenweise funktionierendes System, eines, das Raabes Konzept der Integration von Sammlung, Erschließung und Versorgung modifiziert? Die germanistische Fachbibliographie ist von der Logik des wissenschaftlichen Diskurses her von der vollständigen Erschließung gar nicht zu trennen. Jede Veröffentlichung reproduziert schließlich in ihrem Fußnotenapparat, in ihrem Literaturverzeichnis den immanenten Druck zur Vollständigkeit. Der Vollständigkeit arbeiten auch die Foren schriftlicher Öffentlichkeit zu, die Reihen und Zeitschriften wie die Institution der Symposien, die selbst Organe der Zusammenfassung und Verdichtung, der Engführung und damit auch der Beschränkung sind. Denn auch präventive Funktionen nimmt die Fachbibliographie wahr. Der Innovation verpflichtet, soll sie Dubletten verhindern, also Forscherenergie vor Redundanz bewahren. Der Text der Sekundärliteratur ist definiert über die vielfachen Regeln, die er erfüllt. - Ganz anders ein Tfext der Primärliteratur, was sich gerade in den methodologischen Schwierigkeiten der Literaturwissenschaft abbildet, der die Bibliographie der „Primärliteratur" zu Diensten sein soll. So markiert die scheinbar selbstverständliche Kategorie der „Primärliteratur" unmittelbar das Zentrum des Problems. Wenn sie die Frage: Literatur oder Dichtung?, umgeht, dann steht dahinter, daß der Wissenschaft der definite Begriff ihres Gegenstandes seit einiger Zeit abhanden gekommen ist. Der Begriff der „Dichtung4' ist ausgefallen, die Gattungen haben sich aufgelöst in „Textsorten", die erforschte „Literatur" hat sich überhaupt auf alle Texte ausgedehnt, inclusive der mündlichen. Die Texte wuchern in die Kontexte. Der egalitäre Diskurs zielt auf Gleichberechtigung aller Tsxte, ergo auf Vollständigkeit ihrer Verzeichnung. Der „weite Liter a tur begriff' ist nun keine Erfindung der Literaturwissenschaft oder bloß Ergebnis anti-ästhetischen Affekts „kritischer" Geister, die auch an der Universität den „Gebrauchswert" von Literatur propagierten. Er wurzelt vielmehr in der Offenheit des poetischen/literarischen Diskurses, dessen Selbstverständnis und Selbsterklärungen das traditionelle Feld der Dichtung gerade auch mit dem Hinweis auf einen gesellschaftlichen Anspruch der 158
Bibliographische Arbeitsstelle und Literaturarchiu literarischen Intelligenz - seit langem schon verlassen haben. Wollte man von ihm aber ein bibliographisches Profil konzipieren, dann ergäbe sich ein Gegenstück zum Sammelauftrag einer Nationalbibliothek: alles Gedruckte ist zu erfassen. Nur so könnte die Bibliographie der Tfendenz nachkommen, die aus ihrem Status als Hilfswissenschaft der Literaturwissenschaft rührt. Ihre Aufgabe sei die Bereitstellung von Gegenständen, ihre Verzeichnung sei immer mit einer gewissen Redundanz - antizipatorisch. Sie antzipiert dabei aber nicht nur die künftigen Forschungen, sondern auch das Selbstverständnis der Wissenschaft. Nun legt die Literaturwissenschaft mit der Ausdehnung des Text- und Literaturbegriffs immer weiter die Grenzen zu anderen Wissenschaften nieder. Je weiter sie sich von der Dichtung entfernt, je mehr sie sich zu einer Medienwissenschaft entwickelt oder zu einer besonderen Art der Sozialgeschichtsschreibung, desto weiter ist das Feld des nicht mehr triftig Auszuscheidenden. Es gibt keine Möglichkeit, von einem „weiten Literaturbegriff' aus exklusive Kriterien für die Bibliographie von Primärliteratur zu formulieren. Kriterien, mit denen man die „Literarizität" eines Tfextes fixieren möchte, sind dem „weiten Literaturbegriff" immer verdächtig, verbirgt sich in ihnen doch meist eine verstellte „Poetizität". Noch weniger läßt sich die „Primärliteratur" auf „fiktionale Texte" festlegen, denn so verpflichtete man sie nicht nur auf einen traditionellen Begriff der „Dichtung", sondern auf einen traditionalistischen, schlösse man doch Reiseberichte, Abhandlungen zu poetischen Fragen, Essays etc. aus. Als hinreichendes Ausschlußkriterium ist die „Fiktionalität" also methodisch untauglich. Sie scheint nur als Mittel zu rechtfertigen, die schier erdrückenden Massen zu bewältigen, die der „weite Literaturbegriff' heranführt. - Bezeichnend für diese Schwierigkeiten ordnet das Deutsche Literaturarchiv die „Fiktionalität" dem Prinzip autorenbezogenen Bibliographierens zu, das der Personalbibliographie entlehnt ist. Genauer: das Deutsche Literaturarchiv verschränkt die „Fiktionalität" mit einem an den Autor gebundenen, gleichsam personalisierten „weiten Literaturbegriff". Ein Autor wird automatisch zum ,Autor" durch den ersten nachweisbaren fiktionalen Text; alles was ein durch einen fiktionalen Tfext ausgewiesener Autor schreibt, wird gesammelt und gegebenenfalls „exzerpiert". Man möchte glauben, solche personalbibliographische Ausdehnung verdanke sich einem „weiten" Literaturbegriff, sie öffne gleichsam korrigierend das im ersten Ansatz („Fiktionalität" als Eintrittsbedingung) allzu engmaschig angelegte System. Genauer betrachtet, entpuppt sich aber die scheinbar rein pragmatische 159
Bernhard Fischer Rolle der „Fiktionalität" als Methode. Indem sie den Autor zum ,Autor" transsubstantialisiert und damit wiederum alle seine Werke und Lebenszeugnisse sammelwürdig macht, leitet sie sich aus einem dem traditionellen „Dichtungs"-Begriff aufs engste verwandten bio-bibliographischen „ G e n i e " - G e d a n k e n her. Uberspitzt: Das Deutsche Literaturarchiv ist gegen sein modernistisches Etikett ein Hort der Tradition, es ist in nuce ein Archiv der klassischen deutschsprachigen Dichtung der Moderne. Dies bestätigt die andere eingebürgerte Form der Nobilitierung von Autoren, die sich auf die „Prosaisten": auf Essayisten und Kritiker, wie Walter Benjamin bezieht, also ohne einen fiktionalen Tfext auskommen muß. Sie kürt die ,Autoren" - auf der Grundlage des historischen Urteils und des common sense - in Rücksicht allein der ästhetisch-rhetorischen Qualität des Stils. Jenseits von Attizismus und Asianismus würdigt sie argutia und simplicitas ebensowohl wie planvolle obscuritas, Launigkeit, Ironie und Humor, würdigt sie also die stilistische Individualität und Originalität einer „Prosa", die Ausdrucks-Möglichkeiten der deutschen Sprache „klassisch" ausprägt. Keineswegs geht solche Ausdehnung über die „Poesie" hinaus aus dem „weiten" Literaturbegriff hervor; Hintergrund ist vielmehr das humanistische Erbe der kanonischen autores classici und dessen rhetorischer „Stü"-Begriff. Je länger man darüber nachdenkt, desto einsichtiger werden diese Lösungen und desto unsinniger scheint die lückenlose Erfassung eines literarischen Prozesses, der sich wissenschaftstheoretisch durch den „weiten Literaturbegriff', faktisch durch seine eigene Verfassung und Maßstäbe dem bibliographischen Zugriff entzieht. Die literarische Öffentlichkeit trägt anarchische Züge. Im Schatten des „Literaturbetriebs", den man allzu leicht mit der literarischen Öffentlichkeit identifiziert, gibt es eine Vielzahl clandestiner Öffentlichkeiten, wie eine Fülle von literarischen Privatgesellschaften und Privatdrucken mit niedrigsten Auflagenhöhen zeigt. Dabei verhalten sich diese Öffentlichkeiten und der „Betrieb" nicht einmal exklusiv zueinander. Fast alle Autoren, die auch in diesem präsent sind, nehmen an den Zirkeln teil, veröffentlichen ausgesucht hier und da, oft in Zeitschriften, die keiner kennt, in abgelegenen Zeitungen. Oft ist die Reputation einer Zeitschrift weniger wichtig als die persönliche Verbindung eines Autors zu Herausgebern oder Redakteuren. Oft aber steht auch die „Qualität" einer Zeitschrift, der „Rang" ihrer Autoren in keinem Verhältnis zu ihrer Bekanntheit und Auflage. Zudem ist sicher: Für die Literatur selbst ist die Bibliographie von „Primärliteratur" überflüssig, da man ihr eine produktive Rolle im Rahmen der literarischen Öffentlichkeit 160
Bibliographische Arbeitsstelle und
Literaturarchiv
nicht zusprechen kann. Die einzige für die Literatur selbst notwendige Verzeichnung ist die im „Verzeichnis lieferbarer Bücher" für den Sortimentsbuchhandel. Sicher spielt sie (die Bibliographie von „Primärliteratur") auch im System der Wissenschaft eine andere Rolle als die von Sekundärliteratur, derzufolge eine lückenlose Verzeichnung wohl kein Desiderat ist. Die Verzeichnung von unselbständiger Primärliteratur ist für die Forschung etwas anderes, was sich auch in dem gewöhnlich langen zeitlichen Abstand der bibliographischen Verzeichnung gegenüber der Aktualität des literarischen Prozesses zum Ausdruck bringt. Die Idee extensiver laufender Verzeichnung von Primärliteratur verdankt sich wohl nichts anderem als einer unreflektierten Übertragung der Logik der SekundärliteraturVerzeichnung auf die der Primärliteratur, so sehr sie sich auch nahegelegt durch die Beschäftigung der Wissenschaft mit zeitgenössischer Literatur. Gerade der zeitliche Abstand scheint nun in sich den Unterschied der Primärliteratur gegenüber der Sekundärliteratur zu beschließen. Er birgt einen historischen Blick, dem sich das Leben geschieden in Wichtiges und Unwichtiges darbietet, dem das Exemplarische durchaus nicht nur das Klassische ist, der also historischen Sinn verschränkt mit ästhetischer Kritik. Diese Differenz bietet die Möglichkeit, ein Konzept der Bibliographie von Primärliteratur zu formulieren, das diese vom Modell der Sekundärliteratur und vom Allbegriff der „Literatur" ablösen könnte. Zentrales Element in ihm wäre eine Selbstbescheidung der Bibliographie, deren Arbeit sich einerseits konzentrierte auf die Felder der „literarischen Öffentlichkeit" und der „Dichtung", deren Arbeit andererseits zu verbinden wäre mit weiteren Formen der Dokumentation und Erschließung. Solche Selbstbescheidung brächte wohl auch eine pragmatische Operationalität des Verzeichneten, die vom Ideal vollständiger Verzeichnung im Zeitalter des Großrechners nicht einmal zu erträumen ist. Im Gegensatz zur Aktualität und unterschiedslosen Neuheit wäre das Sammeln und Erschließen hier durch eine Perspektive zu orientieren, welche die eigene Gegenwart gleichsam aus der Zukunft blickend in Vergangenheit umstellt, in der sich die Gegenwart selbst historisiert. Die Aufgabe bestimmte sich am „Überlieferungswürdigen", die Arbeit richtete sich - bei aller erwünschten Breite - auf die Qualität und das Exemplarische; der habitus wäre eine kritische Zeitgenossenschaft, geprägt vom klaren Bewußtsein, daß Revisionen notwendig sein werden. Die tiefste Dimension der Bibliographie von Primärliteratur wäre also eine hermeneutisch-konstruktive, die Disziplin selbst eine ursprünglich historische, gerade da, wo sie die Gegenwart begleitet. 161
Bernhard Fischer Daß dieser Versuch letzlich problematisch bleiben muß, liegt auf der Hand. Wie wäre auch eine Auswahl vor dem Hintergrund eines „weiten Literaturbegriffs" methodologisch zu begründen? Die Auswahl im Sinne der Beschränkung auf „schöne Literatur" ist noch unproblematisch: man erklärt sich zum Spezialisten, und hat es dann nur noch mit einem Teilbereich der zugestanden „weiten Literatur" zu tun. Eine Auswahl innerhalb der „Dichtung", also eine Selbsterklärung als Institution einer „klassischen deutschen Dichtung der Moderne", scheint dagegen mit dem herrschenden Wissenschaftsverständnis nicht zu rechtfertigen. Die zentrale Crux ist hier der Zerfall des „Kanonischen", der endgültig besiegelt war in dem Moment, als die zeitgenössische Dichtung in die Gegenstandswelt der Literaturwissenschaft einsickerte. In diesem Moment fiel die Wirkungsgeschichte, die unkritisch als Index des Gültigen genommen wurde, als Behelf zur Begrenzung der Gegenstände aus, und jeder Tfext konnte Gegenstand werden. Die Literaturwissenschaft, im besonderen die Literaturgeschichte, dehnte ihre Funktion als Institution reflektierter Traditionsbildung - nach dem schon viel früheren Ende der naiven Tradition - aus in den Bereich der Literaturkritik. Daran wird man nicht vorbei können, im Gegenteil: man wird gar nicht daran vorbei wollen. Hier scheint sich nämlich die Möglichkeit aufzutun, aus dem Traditionskern der Literaturwissenschaft heraus jegliches Erschließen und Sammeln von „Dichtung" zu begründen. Gegenüber der kanonischen Wissenschaft und ihrem unkritischen Verhältnis zur Wirkungsgeschichte zeichnete sich diese Disziplin durch einen methodisch reflektierten Umgang mit der Wirkungsgeschichte aus. Die Erfahrung der Fehl-Uberlieferung: des historischen Eigensinns und der ideologischen Verzerrung, reflektierte sich im Postulat der Offenheit, die ebenso sehr auf möglichste Breite der Sammlung wie auf kritische Selektion bei der Erschließung zu beziehen wäre.
Um der Masse der „unselbständigen Primärliteratur" schon aus pragmatischen Gründen des Aufwandes Herr zu werden, liegen eine Integration und ein abgestufter Übergang auf den ersten Blick getrennter Erschließungs- und Dokumentationsformen nahe. Diese Stufung wäre allerdings zu begründen mit dem Hinweis auf die offenbare qualitative Rangigkeit einerseits und die thematische Einschlägigkeit des Materials anderer162
Bibliographische Arbeitsstelle und Literaturarchiv seits, wobei Rang wie Einschlägigkeit selbst (rezeptions)-geschichtlich vermittelte, also historisch offene Begriffe sind. Die gestaffelte Erschließung muß eine möglichst vollständige Sammlung literarischer Quellen mit weitreichender, aber differenzierender Dokumentation und Katalogisierung verbinden. Zentrales Institut dieser Arbeiten wäre eine Bibliographische Arbeitsstelle, die wegen der - auf ihre dokumentarische Aufgabe nicht bloß bezogenen, sondern in sie hineinreichenden - notwendigen Sammlungen an einem literarischen Archiv beheimatet sein muß. Die Sammlung dient so 1) als Archiv der materiellen Überlieferung; 2) nach der Erschließung der Literaturversorgung; 3) im Rahmen der Erschließung als Horizont der Urteilsbildung; und 4) teilweise - soweit er nur „flach" erschlossen worden ist - als Fundus, der Gegenstand weiterer Auswertung sein kann. Erstes Element des Erschließungskonzepts wäre die nur formale Katalogisierung auf der Basis einer möglichst vollständigen Sammlung von literarischen Periodica. Es ist klar, daß die formale Katalogisierung keine Entscheidung darüber präjudiziell, ob eine bloß formal katalogisierte Zeitschrift später, retrospektiv, nicht vollständig erschlossen wird. Diese Zeitschriften und Quellenwerke wären in eigenen Bibliographien nachzuweisen, die die Aufgabenstellung der Repertorien („Deutsche Literarische Zeitschriften von a bis z") weiterführen. Zweites Element wäre eine eigene Bibliographische Arbeitsstelle. Ihre Aufgabe wäre es, einerseits die laufende Katalogisierung der „unselbständigen Primärliteratur", andererseits retrospektive Projekte - auch mit Drittmittel-Unterstützung - durchzufuhren. Diese Arbeitsstelle vereinigte mithin die Konzeption des derzeitigen Marbacher „Exzerpierprogramms" mit jener der bekannten früheren Arbeitsstellen in Marbach und Frankfurt, die, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert, die Repertorien erarbeitet haben. Die laufende Katalogisierung würde ausgewählte Zeitschriften auswerten, dabei Beiträge von „Autoren", Beiträge zu allen literarischen Bereichen, selbstverständlich literarische Rezensionen (vielleicht mit einer Differenzierung nach Umfang) verzeichnen. Die retrospektive Erschließung wertete dagegen einzelne Zeitschriften oder repräsentative Gruppen in toto in Form analytischer Bibliographien oder Indices aus. Dies erst, nachdem sich die Betriebsamheit gesetzt, die Profile von Autoren sichtbar, auch Ifendenzen und Gegen-Tfendenzen, ja Verlorenes und Verdrängtes in der Masse erkennbar werden. Drittes Element oder Erschließungsform wäre die breite Dokumentation von Materialien zur Literatur. Über Zeitschriften und Quellenwerke 163
Bernhard Fischer hinaus erschlösse sie auch ephemeres Schriftgut, namentlich ZeitungsFeuilletons und Dokumente des literarischen Lebens. Die Ablage erfolgte ohne Einzelkatalogisierung.
VI. Abschließend sei noch ein Blick auf die Rolle einer solchen Bibliographischen Arbeitsstelle innerhalb eines maßgeblich von der Deutschen Forschungsgemeinschaft bestrittenen Forschungsfeldes geworfen. Die Etatisierung von Bibliographischen Arbeitsstellen an Literaturarchiven zieht auch die Konsequenz aus dem Umstand, daß die „Ständige Arbeitsgruppe für Germanistische Bibliographie" der Deutschen Forschungsgemeinschaft, des wichtigsten institutionellen Geldgebers bibliographischer Großprojekte, bei allen ihren Verdiensten nicht mehr als eine behelfsmäßige Stütze der Arbeit bibliographischer Verzeichnung von Primärliteratur sein kann. - Denn diese ist, gebunden an ihre Aufgabe der Begutachtung und Begleitung bibliographischer Projekte, zum einen nicht in der Lage, den Koordinations-, Diskussions- und Regelungsbedarf abzudecken, der im Zeitalter EDV-gestützter, d.h. immer in Kategorien des Datenaustausche denkender Erschließung anfällt. - Zum anderen kann sie wegen ihrer bloß konsultativen Funktion keinen systematischen Aufriß von Projekten, keine Prioritätenliste von Erschließungsvorhaben vorschlagen und anbieten, die einen Rahmen für kontinuierliche Arbeit darstellen könnte. - Zum dritten beträgt die Förderungshöchstdauer von Projekten durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft 5 Jahre. Diese Frist verhindert aus Umfangsgründen von vornherein bestimmte retrospektive, vor allem aber laufende Projekte. Ebenso wünschenswert wie unmöglich wäre etwa die Finanzierung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft bei der Fortsetzung des „Goedeke" oder bei der vollständigen Erschließung des Feuilletons der „Allgemeinen Zeitung", der „Frankfurter Zeitung" etc. Projekte sind in diesen Fällen immer gezwungen, Stückwerk unter dem Titel „sondierende Erschließung" zu erarbeiten und vorzulegen, dabei immer bedroht von Mittelkürzungen, da ja hier keine vollständigen Ergebnisse zu erwarten sind. Zur Schwierigkeit, die Deutsche Forschungsgemeinschaft von der Notwendigkeit der Förderung solchen Stückwerks zu überzeugen, kommt dann hinzu, daß sie hier nur eine Anschubfinanzierung leisten 164
Bibliographische Arbeitsstelle und Literaturarchiv kann. In der Folge muß das Projekt selbst sich durch seine überzeugenden Ergebnisse bemühen, unter die Fittiche einer eigenständigen Institution, etwa einer Akademie, zu kommen. Ganz ausgeschlossen aber ist die feste Installierung einer „ B i b l i o g r a p h i s c h e n Arbeitsstelle", gleich ob sie ihrer Zielsetzung nach nur retrospektiv oder laufend bibliographieren würde. - Zum vierten hat die „Ständige Arbeitsgruppe", die über Projekt-Anträge diskutiert, keinen organisatorischen Durchgriff auf die einzelnen Projekte, auch wenn ihre Empfehlungen entscheidenden Charakter haben. So problematisch sicher eine unmittelbare Beteiligung vor der Antragstellung wäre, es wäre doch zu wünschen, daß Neuanträge im vorhinein mit Altprojekten in Verbindung träten, daß auch zwischen parallel laufenden Projekten zumindest der Erfahrungsaustausch angeregt - um nicht zu sagen geboten - würde. Zur Zeit jedenfalls liegt hier einiges im argen: jedes Projekt erfindet das Rad neu, jedes hat seine eigene selbstgebastelte EDV-Lösung und seine eigene Art der Erschließung. - Gleichfalls wäre daran zu denken, die verschiedenen Erschließungsprojekte von Zeitschriften in Österreich und Deutschland über eine Zusammenarbeit der Deutschen Forschungsgemeinschaft und des österreichischen Forschungsfonds zu koordinieren: nur so ließe sich die deutschsprachige Literatur dezentral bibliographisch bearbeiten und das Ergebnis kumulieren. Voraussetzung hierfür wäre nicht einmal die gemeinsame Software, vielmehr die Einheitlichkeit der Kategorienschemata, also des „Datenformats", und vor allem der Form der Sacherschließung. In allen diesen Fragen würde eine festeingerichtete Bibliographische Arbeitsstelle einige Hilfe für die Arbeit der „Ständigen Arbeitsgruppe" wie für die Antragsteller und die Projekte selbst bedeuten. Der erarbeitete Fundus bibliographischen Wissens könnte gesammelt und zur Verfügung gestellt werden. Vorstellbar wäre etwa die Entwicklung von Muster-Formaten für die verschiedenen Typen der Personal-, Zeitschriften-, der Analytischen Bibliographie und des Index, oder für die Erfassung von DichterBibliotheken samt Handreichungen für Registererstellung und Sacherschließung. Die Arbeitsstelle könnte überdies konsultative Aufgaben übernehmen, was Konzeption, Planung und konkrete Arbeiten angeht. Zu ergänzen wären die bibliographischen Muster um die auf sie zugeschnittenen Druckroutinen, die in Zeiten des Druckkostenzuschusses erhebliche Kostenersparnis auch für Drittmittelgeber bedeuten.
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Erstdruck
Personalbibliographie
Seifert
Nachlaß - Erstdruck - Personalbibliographie Thesen
1 Das Verhältnis von Literaturforschung und Literaturarchiv im Kontext angewandter literaturwissenschaftlicher Arbeitsgebiete wie Edition, Lexikographie und Bibliographie zu erörtern, verspricht Gewinn. Wird doch damit ein Beziehungsfeld wieder hergestellt, wie es ursprünglich der literaturwissenschaftlichen Germanistik eigen war. Erst die - unausbleibliche - Spezialisierung seit den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts hat die Verbindung von literaturwissenschaftlicher, editorischer und bibliographisch-dokumentarischer Arbeit, wie sie Pate gestanden hatte z.B. bei „Goedekes Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung. Aus den Quellen" (s. hierzu den Beitrag von Herbert Jacob im vorliegenden Band) weitgehend aufgehoben. Wenn wir nun darangehen, die durch Spezialisierung und Eigenentwicklung der Spezialgebiete erreichten Ergebnisse wiederum als Impulse in die methodische Diskussion einzubringen, so könnte die Einheit des gesamten Faches auf höherer Ebene wieder sichtbar werden. Es wäre eine Einheit in der Vielfalt, die stärkere Effizienz durch wechselseitigen Einfluß ermöglicht. Davon ausgehend sollen einige Überlegungen vorgetragen werden über das Verhältnis der germanistischen Fachbibliographie zu Verzeichnungs-, Erschließungs- und Darbietungsformen in der archivarischen und editorischen Arbeit. Es geht darum, Möglichkeiten der gegenseitigen Ergänzung und produktiven Beeinflussung zu benennen und letztlich zu fragen, welche spezifischen, aber aufeinander bezogenen Methoden der Erschließung literarischer Dokumente dem Forscher für die verschiedenen Anforderungen zur Verfügung stehen sollten. Dabei mache ich besonders auf die Personalbibliographie aufmerksam, also auf die Erfassung und Erschließung der Werke eines Autors und der kritischen Literatur über ihn.
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2 Im Literaturarchiv wurde in den letzten Jahrzehnten der Übergang von der bloßen Erfassung im Sinne des Bestandsnachweises zur intensiven Erschließung der einzelnen Handschrift sowie andererseits zur extensiven Verzeichnung über die Bestände eines Archivs hinaus vollzogen. Bei den übergreifenden Verzeichnissen, die durch Namen wie Frels, Denecke/Brandis und Mommsen für Deutschland, Schmutz-Pfister für die Schweiz und neuerdings Renner für Osterreich bekannt sind, interessiert die Bewältigung großer Datenmengen. Es handelt sich im Grunde um eine summarische Verzeichnung. Im Vordergrund steht die Erstinformation und der Standortnachweis. Spezielle Fragen der Nutzer können auf dieser Basis nur durch individuelle Durchsicht der Handschrift, eventuell auch einer Kopie, geklärt werden. Verzeichnisse einzelner Archive erreichen eine teilweise erheblich extensivere Darbietung des Materials und dadurch eine detailliertere Information für den Nutzer. Darauf aufbauend kann eine neue Stufe der intensiven Erschließung angestrebt werden. Sie verwendet spezifische Formen und Methoden, wie sie theoretisch in dem Buch von Christoph König über „Verwaltung und wissenschaftliche Erschließung von Nachlässen in Literaturarchiven" (München 1988) oder in praxi z.B. durch die Erarbeitung von Archiv-Inventaren im Weimarer Goethe- und Schiller-Archiv (Band 1. Schillerbestand. Redaktor: Gerhard Schmid. Weimar 1989) und minutiös in einer Fallstudie wie Gerhard Seidels Aufsatz „Zwei Notizblöcke Elisabeth Hauptmanns im Nachlaß Bertolt Brecht" (In: Editio, 2, Tübingen 1988) expliziert werden. Die intensive Beschreibung der einzelnen Handschrift und ihres Provenienzzusammenhangs erlaubt es dem Literaturforscher und Editor, per distance die Relevanz der Quelle für seine Arbeit ausreichend zu beurteilen. So wird durch die archivarische Erschließung auf hohem Niveau die Grundlage für die weitere Auswertung der Quellen in literaturwissenschaftlicher, editorischer und anderer Hinsicht optimal vorbereitet.
3 Der Verzeichnung und Erschließung gedruckter, d.h. in mehr als einem gleichwertigen Exemplar, meist in vielfacher Zahl vorliegender Dokumente, liegt die bibliographische Methode zugrunde. Sie arbeitet mit einer 168
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Personalbibliographie
standardisierten Beschreibung, die auf solchen Elementen wie Titelblatt (Autor und Titel), Seitenzahl und den im Impressum enthaltenen Daten aufbaut. Von einer bibliographischen Grundbeschreibung kann man sprechen, wenn sie die eindeutige Identifizierung des jeweiligen Druckes erlaubt. Auf dieser allgemeinen Basis können unterschiedliche Ebenen der bibliographischen Beschreibung erarbeitet werden und verschiedenartige bibliographische Verzeichnisse, als Kumulation einzelner Beschreibungen, vorgelegt werden.
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Für den Editor und den auf textgeschichtlicher Grundlage interpretierenden Literaturwissenschaftler hat - neben der ungedruckten Ifextfassung, sofern sie vorhanden und zugänglich ist - der Erstdruck einer Textfassung entscheidende Bedeutung hinsichtlich der Konstitution des Edierten Ifextes und der Bestimmung der Varianten. Erwartet und benötigt wird eine bibliographische Beschreibung, die über die eben skizzierte Grundbeschreibung hinausgeht. Sie muß Doppeldrucke, Raub- und Nachdrucke in ihrer textgeschichtlichen Relevanz und in den Unterschieden der Drucke erkennbar machen. Dies geschieht vor allem durch: - verfeinerte Titelbeschreibungen, die solche Elemente wie die Struktur, den Zeilenfall, eventuell sogar die Typographie des Titelblattes, Titelvignetten u.a. wiedergeben, - zusätzlich ermittelte Angaben wie z.B. den Autor- oder Herausgebernamen bei anonym oder pseudonym erschienenen Werken, den Verleger, Drucker und das Erscheinungsjahr, sofern diese nicht schon dem Impressum der Publikation entnommen werden können, - die Wiedergabe von Druckvarianten zu vorangehenden Drucken in Form von Annotationen zur Titelbeschreibung, eventuell auch in Tabellenform.
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All dies dient dazu, die Deszendenz eines Druckes, d.h. seine Stellung und Abhängigkeit in der Genese der Druckfassungen eines Werkes und damit die editorische Valenz eines Druckes zu bestimmen. Daß hierfür die Aut169
Siegfried Seifert opsie und intensive Untersuchung des Einzeldrucks unerläßlich sind, muß nicht besonders erläutert werden. Als Summe solcher intensiven bibliographischen Erschließung entsteht eine „editorisch-stemmatologisch orientierte Werkbibliographie im Bereich der gedruckten Überlieferung" und im optimalen Fall das „lückenlose und fehlerfreie Bild der gedruckten Überlieferung" (Waltraud Hagen) eines literarischen Gesamtoeuvres. Hierfür müssen auch die in Sammelbänden und Periodica publizierten Texte einbezogen werden. Wir bewegen uns hier schon im Arbeitsfeld der analytischen Druckforschung, wie sie besonders in der britischen Forschung unter Begriffen wie „Critical Bibliography" oder „Analytical Bibliography" entwickelt wurde und wie sie in Deutschland vor allem durch die Arbeiten von Martin Boghardt in unseren Gesichtskreis getreten ist.
6 Bibliographiegeschichtlich gesehen gehört die editorisch orientierte Werkbibliographie zu den frühesten Erscheinungsformen der germanistischen Personalbibliographie. Franz Munckers „Verzeichnis der Drucke von Lessings Schriften 1747-1919" in der 3. Auflage der zuerst von Karl Lachmann herausgegebenen und von Muncker erneuerten Ausgabe der „Sämtlichen Schriften" Lessings (Band 22, Tfeil 2. Berlin; Leipzig 1919) oder die bereits selbständig publizierten Achim von Arnim- und Brentano-Bibliographien von Otto Malion (Berlin 1925 bzw. 1926) sind im untrennbaren Verbund mit der Arbeit an einer historisch-kritischen Ausgabe bzw. - bei Mallon mit dem Bück auf eine solche zu schaffende Ausgabe entstanden. Dementsprechend arbeiten sie mit Formen der bibliographischen Beschreibung, wie sie in These 4 skizziert wurden. Die Sekundärliteratur erscheint bei Mallon als Anhängsel der verzeichneten Texte bzw. wurde in den Anhang verbannt. (Die Zahl der Veröffentlichungen über Arnim und Brentano war allerdings damals noch gut überschaubar; heute ist das Verhältnis von Primär- und kritischer Sekundärliteratur meist umgekehrt.) Festzuhalten bleibt, daß die editorisch orientierten Verzeichnisse und Personalbibliographien eine Hilfsfunktion haben. Sie fördern literaturgeschichtliche Interpretationen und editorische Tfextpräsentation, indem sie den Interpreten und Editor so dicht wie möglich an die Quellen heranführen. Insofern garantieren sie einen höheren Grad von Effizienz des Recherche- und Forschungsprozesses. Hierin liegen ihre Bedeutung und zugleich 170
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ihre Grenzen; davon muß man ausgehen, wenn man die methodischen Besonderheiten und Entwicklungsmöglichkeiten der bibliographisch fixierten analytischen Druckforschung darstellt und eventuelle Defizite und Desiderata ausspricht.
7 Die Art und Weise, wie die druckanalytisch fundierte Personalbibliographie ihre Spezifik weiter ausprägt und dadurch ihre Effizienz für den Forschungsprozeß erweist, ist alles andere als nur eine theoretische Frage. Der Erfolg großangelegter historisch-kritischer Editionen wird nicht unwesentlich mit bestimmt von der bibliographischen Vorbereitung und Fundierung. Nahezu Optimales haben auf diesem Gebiet die (vorzeitig abgebrochene) Berliner Akademie-Ausgabe der Werke Goethes sowie die Hamburger Klopstock-Ausgabe aufzuweisen. Aus der Arbeit der Akademie-Ausgabe ist nicht nur das profunde Verzeichnis „Die Drucke von Goethes Werken" von Waltraud Hagen (Berlin 1971, vorausgegangen war das Verzeichnis „Die Gesamt- und Einzeldrucke von Goethes Werken"), sondern auch eine vierteilige Dokumentation der „Quellen und Zeugnisse zur Druckgeschichte von Goethes Werken" von Waltraud Hagen, Inge Jensen, Edith und Horst Nahler (Berlin 1966-86) hervorgegangen. Die Hamburger Klopstock-Ausgabe hat in einer eigenen „Addenda"-Reihe neben Klopstocks Arbeitstagebuch die zweibändige Bibliographie „Die zeitgenössischen Drucke von Klopstocks Werken" von Christiane und Martin Boghardt (Berlin 1981) vorgelegt. Diese Verzeichnisse und Dokumentationen dienen unmittelbar der Textkonstitution und dem editorischen Kommentar. Zu Heinrich Heine, Thomas Mann, Bertolt Brecht u.a. bedeutenden Autoren sind in Weimar, Berlin, Düsseldorf und an anderen Orten ähnliche koordinierte Systeme von begleitenden Hilfsmitteln im Verbund mit laufenden oder in Vorbereitung befindlichen historisch-kritischen Editionen entstanden, die neben der Personalbibliographie auch das Nachlaßverzeichnis, die Tagebuchedition, die Dichterchronik, das Verzeichnis der Bibliothek eines Autors oder seiner Lektüre u.a. umfassen. Eine übergreifende editionskritisch konzipierte Bibliographie mit Handbuchcharakter hat das Team um W. Hagen mit dem „Handbuch der Editionen" (Berlin bzw. München 1979) erarbeitet. 171
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8 Insgesamt sind die auf der Basis druckanalytischer Verfahren erarbeiteten Verzeichnisse zwischen rein archivarischen und rein bibliographischen Verzeichnungs- und Erschließungsformen einzuordnen, ohne daß damit eine qualitative Hierarchie begründet werden soll. Sie bedienen sich zwar bibliographischer Methoden, sind jedoch immer der einzelnen Druckfassung gewidmet, deren spezifische Identität sie mit einer Erschließungsform fixieren, in der die bibliographische Beschreibung durch weitere, oben skizzierte Beschreibungselemente ergänzt und erweitert wird. In diesem produktiven Verschmelzen verschiedener methodischer Prinzipien liegt der besondere Stellenwert und wissenschaftliche Nutzeffekt dieser Verzeichnisse. Ihr Gegenstand sind die primären literarischen Quellen; auf diesem Gebiet besitzt diese bibliographische Richtung gewiß noch besondere Entwicklungschancen. Mit Recht hebt Bernhard Fischer in seinem Beitrag zum Thema bibliographische Arbeitsstelle und Literaturarchiv" (s. S. 149-165 dieses Bandes) hervor, daß die Erfassung und Erschließung der monographischen und/oder bibliographisch unselbständigen Primärliteratur die Hauptaufgabe jener bibliographischen Arbeitsstellen ist, die im Literaturarchiv selbst angesiedelt sind oder dort eingerichtet werden sollten.
9 Mit der germanistischen literaturwissenschaftlichen Bibliographie im engeren Sinne wird ein weiteres Gebiet der Erfassung und Erschließung gedruckter Quellen bezeichnet. Es betrifft Primär- und Sekundärliteratur gleichermaßen. Zweifellos nimmt die Personalbibliographie, also die Verzeichnung der Literatur zu einem Autor, schon quantitativ den größten Raum innerhalb der literaturwissenschaftlichen Fachbibliographie der Gegenwart ein. Diese Dominanz hat dazu geführt, daß ihre Spezifik und Struktur immer stärker auch theoretisch und methodisch reflektiert wird. So hat die Ständige Arbeitsgruppe für Bibliographie der Germanistischen Kommission der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Frühjahr 1992 der Personalbibliographie ein eigenes Kolloquium in Marbach a.N. gewidmet. Versucht man, den Stand der Praxis und der theoretischen Reflexion auf diesem Gebiet zusammenzufassen, so läßt sich folgendes sagen: 172
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Die Personalbibliographie erreicht ihren besonderen Nutzen - durch die umfassende und zuverlässige Verzeichnung und die bibliographische Erschließung der Tfexte und der kritischen Literatur aller Publikationsformen, - durch die Ordnung des verzeichneten Materials mittels einer Systematik, in der sich allgemein bewährte Gliederungsprinzipien mit den besonderen, durch die Eigenart des jeweiligen Autorenoeuvres und seiner Erforschung und Rezeption gegebenen Modifikationen durchdringen, - durch die zusätzliche Erschließung mittels inhaltlicher Annotationen, Querverweisungen und Registern, die als alternative Erschließungsmittel einen weiteren effektiven Zugang zum bibliographischen Material schaffen.
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Die Personalbibliographie ist insofern eine Kumulation aller anderen Erschließungsformen eines dichterischen Werkes (Nachlaßverzeichnis oder - inventar, Verzeichnis der Erstdrucke usw.), als sie all diese Verzeichnisse bibliographisch nachweist und in ein System einordnet, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Das einzelne erhält damit seinen Stellenwert in einer höheren Einheit, die mehr ist als die Summe ihrer Tfeile. Diese bibliographische Modellierung der Primärliteratur (Druck- und Úberlieferungsgeschichte) sowie der Sekundärliteratur (Erforschungsund Rezeptionsgeschichte) eines Autors erlaubt zwar keine Bewertung des erreichten inhaltlichen und geistiges Profils der Forschung und Rezeption, läßt aber den gegenwärtigen Stand der Editions- und Publikationstätigkeit und deren Entwicklungslinien und -trends erkennen. Auf diese Weise werden auch offene oder ungenügend bearbeitete Felder und offensichtliche Desiderata erkennbar. Dies vermag die Personalbibliographie, weil sie immer „nur" eine Summierung des tatsächlich Erreichten darstellt, selbst wenn die verwendete Systematik ein ausgeformtes, meist hierarchisch geordnetes Idealbild anstrebt bzw. vorspiegelt. Die zur Erschließung der einzelnen literarischen Dokumente angewandten Mittel dienen dieser allgemeinen Modellierung, können und wollen also nicht jene Informationsbedürfnisse erfüllen, wie sie von einem druckanalytisch angelegten Verzeichnis oder - um ein anderes Gebiet zu nennen - einem bibliophil orientierten Verzeichnis erwartet werden können. 173
Siegfried Seifert Damit ist zugleich nochmals gesagt, daß die Reihenfolge „archivarisch fundiertes Verzeichnis" - „druckanalytisches Verzeichnis" - „Personalbibliographie" nur unterschiedliche methodische Prinzipien, nicht aber eine hierarchische Abfolge ausdrückt.
11 Fassen wir zusammen. Die durch die Spezialisierung in den letzten sieben Jahrzehnten erreichte Differenzierung der Erfassungs- und Erschließungsmethoden ungedruckter und gedruckter literarischer Dokumente stellt einen bedeutenden Fortschritt für unser Fach dar. Erforderlich ist nun die Einfügung der verschiedenen Erschließungsmethoden in ein bewußt zu formendes übergreifendes System, das die Einheit in der Vielfalt betont. Der praktische Nutzen eines solchen Systems besteht 1. in dem Erkennen des Leistungsvermögens der einzelnen Erschließungsmethoden. Das hat Auswirkungen auf die Arbeit der beteiligten Archivare und Bibliographen, aber auch auf das Verständnis der Nutzer für diese Vielfalt und auf ihr praktisches Nutzerverhalten. Die verschiedenen Erschließungsmittel werden dadurch in ihrer Eigenart bestätigt und ihre Weiterentwicklung stimuliert. 2. im gegenseitigen Anregen sowohl in theoretischer wie praktischer Hinsicht. So sollte z.B. ein Archivinventar auf die vorhandenen druckanalytisch konzipierten Verzeichnisse und auf die übergreifenden Personalbibliographien und ihre besonderen Möglichkeiten hinweisen und viceversa. Im Sinne des gemeinsamen Ziels sollte keiner das zu leisten versuchen, was von anderen sachkundiger und methodisch versierter geleistet werden kann. Auch auf diesem Gebiet liegt die Zukunft also in einer sinnvollen Integration, die eine effektive Arbeitsteilung zwischen Literaturarchiv und bibliographischer Arbeitstelle einschließt, zum Nutzen des Literaturforschers und des Editors.
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Erschließungsmodelle und die Bedürfnisse der Forschung
Jochen Meyer Erschließungsmodelle und die Bedürfnisse der Forschung Das „Marbacher Memorandum" des Deutschen Literaturarchivs
„Masse von Papieren, die um mich aufgehäuft ist, und zwar geordnet, Aber jedem außer mir selbst kaum zu brauchen." Das hat der alte Goethe notiert, 1823, in einem Schema „Vorschlag zu einer vollständigen Ausgabe zu Goethe's Nachlaß von ihm selbst entworfen".1 Und er selbst gab auch noch im selben Jahr eine Antwort auf die hierin beschlossenen Fragen in dem kleinen Aufsatz „Archiv des Dichters und Schriftstellers". Als eine „Hauptsache" unter den ihm noch verbleibenden Aufgaben erschien ihm zunächst „eine reinliche ordnungsgemäße Zusammenstellung aller Papiere, besonders solcher, die sich auf mein schriftstellerisches Leben beziehen, wobei nichts vernachlässigt noch unwürdig geachtet werden sollte".2 Goethe bediente sich zur Herstellung solcher Ordnung fachkundiger philologischer und bibliothekarischer Hilfe und freute sich über das Ergebnis: „daß nicht allein Gedrucktes und Ungedrucktes, Gesammeltes und Zerstreutes vollkommen geordnet beisammen steht, sondern auch die Tagebücher, eingegangene und abgesendete Briefe in einem Archiv beschlossen sind, worüber nicht weniger ein Verzeichniß, nach allgemeinen und besondern Rubriken, Buchstaben und Nummern aller Art gefertigt, vor mir liegt, so daß mir sowohl jede vorzunehmende Arbeit höchst erleichtert, als auch den Freunden, die sich meines Nachlasses annehmen möchten, zum Besten in die Hände gearbeitet ist".3 Da haben wir schon fast alles beisam-
1 Goethes Werke. Hrsg. im Auftr. der Großherzogin Sophie von Sachsen. [Abt. I.] Bd. 41/2. Weimar, 1903. S. 400. 2 Ebd. S. 27. 3 Ebd. S. 27.
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Jochen Meyer men, worüber unter den Leitworten „Erschließungsmodelle und die Bedürfnisse der Forschung" zu reden ist: die „Masse von Papieren", „aufgehäuft" und - in diesem besonderen Falle - durchaus „geordnet", aber trotzdem von einem anderen als dem Autor selbst „kaum zu brauchen"; die Zerstörung gewachsener, „autorisierter" Ordnung (oder Unordnung) durch eine unter philologischen, archivarischen, bibliothekarischen Gesichtspunkten vorgenommene Neuordnung, Ablage, Rubrizierung und Verzeichnung mit dem Zweck, einen Nachlaß für andere brauchbar, benutzbar zu machen. Wobei in diesem besonderen Fall die archivarische Zerstörung ursprünglicher Autor-Ordnung wiederum autorisiert war; die Goethe-Philologie beschäftigt sich bis heute mit den Folgen, vielleicht sogar erst heute. Unter dem Markenzeichen „Marbacher Memorandum" (im Sprachgebrauch des Deutschen Literaturarchivs längst zu „Memo" abgeschliffen) ist hier das Regelwerk zu verstehen, mit dessen Hilfe wir in der Marbacher Handschriften-Abteilung den skizzierten Prozeß der (Neu-)Ordnung, Ablage, Inventarisierung und Katalogisierung von literarischen Nachlässen (allgemeiner gesagt: von Beständen) betreiben. Uber viele Jahre hin haben wir uns in einer „Memo-AG" ziemlich regelmäßig um die Formulierung möglichst klarer und eindeutiger und dabei doch genügend offener, anpassungsfähiger Regeln bemüht und uns mit den laufend neu auftauchenden Detailproblemen herumgeschlagen. Fast so etwas wie ein Marbacher Memo-Jargon ist dabei entstanden: Wer außerhalb unserer HandschriftenAbteilung wüßte schon, daß wir mit dem Stichwort „Regierungswechsel" Ordnungsprobleme bezeichnen, die sich aus der Entscheidung der Frage „Standort-Konvolut oder Krypto-Nachlaß?" ergeben, Ordnungsprobleme, die durchaus „ablagerelevant" sind und auf den Katalogaufnahmen bis in die Schreibweise und Anordnung der Signaturen - vielmehr: eines Zusatzes zur Grundsignatur eines Bestandes in derselben Zeile wie jene oder in einer neuen Zeile - durchschlagen. Das work in progress dieses „ M a r b a cher Memorandums" füllt inzwischen einen Leitz-Ordner, ist auch für einzelne auswärtige Kolleginnen und Kollegen immer wieder kopiert worden (Nachkommen von Autoren und andere Eigentümer von Beständen erhalten auf Wunsch nur eine als erste Anleitung verwendbare schematische Ubersicht). Aber es ist - anders als vergleichbare Schemata, nach denen in Berlin und München, Weimar und Wien gearbeitet wird - nicht publiziert worden: vor allem wohl deshalb, weil in Marbach mit dem Ordnungsschema ein ausgefeiltes Katalogisierungs-Regelwerk intendiert war und - potentiell - jeder neue Bestand mit so noch nicht kodifizierten 176
Erschließungsmodelle individuellen Besonderheiten aufwarten kann, die zu einer Ergänzung oder Modifizierung der Regeln nötigen. Übrigens sind Grundgedanken des Marbacher Memorandums ähnlich wie die Verfahrensmuster vor allem der Handschriften-Abteilungen in München (Bayerische Staatsbibliothek) und Berlin (Staatsbibliothek der Stiftung Preußischer Kulturbesitz) eingegangen in das Kapitel „Nachlässe und Autographen" der „Richtlinien Handschriftenkatalogisierung", die 1973 vom Unterausschuß für Handschriftenkatalogisierung des Bibliotheksausschusses der Deutschen Forschungsgemeinschaft zuerst veröffentlicht und 1992 in fünfter, abermals erweiterter Auflage vorgelegt worden sind. Auch der neue Regelwerksentwurf „Der Einsatz der Datenverarbeitung bei der Erschließung von Nachlässen und Autographen" enthält Memo-Elemente und ist mit - noch längst nicht ausreichenden - Beispielen aus der Marbacher Katalogisierungspraxis unterfüttert. Von den erwähnten Detailfragen, die das „Marbacher Memorandum" zu einem work in progress gemacht haben, soll im folgenden nur ausnahmsweise die Rede sein. Das Grundschema füge ich als Kopie des Inhaltsverzeichnisses diesem Beitrag bei. Ich beschränke mich hier auf einige Anmerkungen nur zum Teil A „Ordnung von Nachlässen und Autographen". Der erste Blick zeigt, daß für die „Manuskripte" des jeweiligen „Nachlassers" oder „Bestandsbildners" ein nicht erst heute obsolet gewordenes System der poetischen Gattungen als Ordnungsschema gedient hat. Wenn schon die Sortierer von Textsorten wie dann erst die Theoretiker einer allseitigen Kontextualität und überhaupt Edle Verfechter eines „weiten" und immer weiteren Literaturbegriffs dürfen darauf herab- und den Argwohn bestätigt sehen, hier liege denn doch wohl ein defizitärer Literaturbegriff zugrunde. Und in der Tat, ich höre immer wieder, daß noch in den sechziger Jahren in der Marbacher Handschriften-Abteilung große Diskussionen um die Unterscheidung fiktionaler von nicht fiktionaler Prosa, um die Untergliederung etwa in dichterische, erzählende, betrachtende, erörternde, wissenschaftliche Prosa geführt worden seien. Die Praxis geht längst bescheidenere Wege, begnügt sich mit der Auskunft, die Molière seinem Monsieur Jourdain zuteil werden läßt, hält für die Aufteilung der Prosa-Schublade neben den für jede Gattungsschublade benötigten Fächern „Sammlungen", „Einzelmanuskripte" und „Konvolute" zwar einige obligatorische Unterfacher bereit (Prosa. Rezensionen; Prosa. Vorworte; Prosa. Nachworte), einfach, weil sie besonders oft gebraucht werden. Und stellt im übrigen die Bildung weiterer Untergruppen frei, nämlich (mit einer im „Memo" immer wiederkehrenden Formel) „nach Erfordernis des 177
Jochen Meyer Bestandes", z.B.: „Prosa. Vorlesungen". Ähnlich pragmatisch ist die Grundaufteilung jeder Gattungsschublade. Bei der alphabetischen Ablage von „Sammlungen", etwa der Manuskripte von Lyrikbänden unter „Gedichte. Sammlungen", ist die Unterscheidung von autorisierten und nicht oder nur posthum autorisierten Sammlungen möglich. Ob allen Einzelgedichten die Ehre einzelner alphabetischer Ablage und Katalogisierung widerfahren soll oder ob sie im Interesse rascher Erschließung zu Konvoluten zusammengefaßt werden (dies nicht nur „nach Erfordernis des Bestandes", sondern gewiß auch nach Rang und Bedeutung des Bestandsbildners), das entscheiden die Bearbeiter, belassen oder bilden also Konvolute nach formalen oder inhaltlichen Kriterien (Gedichte. Konv. 400 Sonette; Gedichte. Konv. 7 Gedichte auf Adolf Hitler) und behalten so die Freiheit, den feinsten Verästelungen eines Bestandes in differenziertester Einzelkatalogisierung nachzugehen oder ihn nach Ordnung und Ablage mit wenigen pauschalen Aufnahmen zu inventarisieren und zu katalogisieren (Prosa. Konv. 15 Romane). Schwierigkeiten mögen sich am ehesten bei der allen weiteren Schritten vorangehenden Einordnung eines Ttextes in eine bestimmte Gattungsschublade ergeben. Die Erläuterungen halten sich in diesem Punkt eher zurück - unter „Gedichte" z.B.: „Hierzu gehören alle lyrischen Formen" oder unter „Epen": „Zu dieser Gruppe gehört nur Versepik". Ausfuhrlicher geraten solche Anweisungen unter „Dramatisches" und „Prosa", weil eindeutig zu klären war, wohin in Marbacher Handschriftenbeständen z.B. Libretti, Features, Exposés, Treatments, Drehbücher oder Rollenhefte gehören sollen (nämlich zu „Dramatischem") und daß unter „Prosa" auch Offene Briefe, Gespräche (Dialoge) und Interviews abgelegt werden. Die größte Hilfe bei schwierigeren Entscheidungen bietet die Gruppe „Verschiedenes", die für den Bearbeiter folgende Angebote bereithält (ausnahmsweise einmal ganz zitiert): „Hierzu gehört alles vom Bestandsbildner Geschriebene (mit Ausnahme seiner Briefe), das nicht einer anderen Gattung/Gruppe der Manuskripte zugeordnet werden kann: Tage- und Notizbücher, Agenda; Manuskripte mit Texten verschiedener Gattungen, Arbeitshefte mit Einzelaufzeichnungen, Exzerpte, soweit sie nicht einem Werk zugeordnet werden können; Vorlesungsnachschriften; Stammbuchblätter und -einträge, ebenso Eintragungen in Gästebücher und Widmungen, soweit es sich nicht um eigene Verse handelt; Eintragungen und Korrekturen in fremden Werken (z.B. Regiebücher, falls sie nicht den Charakter von Bearbeitungen haben); Abschriften fremder Werke u.a. Nach Erfordernis des Bestandes ist die Bildung von Untergruppen mög178
Erschließungsmodelle lieh. Z.B.: Verschiedenes. Exzerpte. - Obligatorische Untergruppen sind: Verschiedenes. Abschriften; Verschiedenes. Autobiographisches; Verschiedenes. Mitschriften; Verschiedenes. Widmungen." Diese Anweisungen haben es in sich, und ich will gern einräumen, daß auch ich gewisse Schwierigkeiten damit behalte, wenn also hiernach das noch „Journa" betitelte Manuskript der „Strahlungen" von Ernst Jünger unter „Prosa", die zugrundeliegenden „echten" Tagebuchaufzeichnungen aus dem zweiten Weltkrieg aber unter „Verschiedenes. Autobiographisches" abgelegt werden müssen. Immerhin: es genügt, die Regeln zu kennen und auch zu wissen, daß es Grenzfälle geben kann, um sich in der Marbacher Ablage eines Bestandes auch ohne Verzeichnis oder Konsultation der Zettelkataloge sofort zurechtzufinden. Ich komme darauf zurück, will aber vorher noch von der Betrachtung der Manuskriptgruppen und -Untergruppen und ihrer Ordnungs-, Ablage- und Verzeichnungsgrundsätze und -Spielräume den Blick für einen Moment zurücklenken auf die Großgruppen, von denen wir ausgehen: I. Manuskripte, II. Briefe (und zwar hier nur die Korrespondenzen des Bestandsbildners selbst, Schreiben von ihm und an ihn), III. Zugehörige Materialien (nämlich Dokumente, Geschäftspapiere, Gäste· und Stammbücher usw.; Manuskripte und Briefe Anderer; Dokumente zu Anderen). In dieser Trias bildet sich eine nicht ganz unwichtige Abweichung von den Ordnungsschemata anderer Institute ab (etwa denen der Staatsbibliotheken in Berlin oder München oder auch von den DFG-Richtlinien): Das „ M a r b a c h e r Memorandum" läßt vom Bestandsbildner verfaßte (egal von wessen Hand geschriebene) Ifexte, Aufzeichnungen, Notizen, Briefe u.a. Mitteilungen nur in den Hauptgruppen I. (Manuskripte) und II. (Briefe) zu, erlaubt also nicht die andernorts übliche Vermischung von autobiographischen Tfextsorten und amtlichen Dokumenten (die Marbacher Zugehörigen Materialien enthalten keine vom Nachlasser verfaßten Ifexte). Dieses ganze Ordnungsschema bliebe unbefriedigend, wenn es nicht Möglichkeiten böte, autorisierte Ordnungen, die vom Marbacher System abweichen, dennoch zu bewahren. Freilich muß vor archivarischer Legendenbildung gewarnt werden, wie sie in einem Satz Wolfgang A. Mommsens angelegt ist; Mommsen hat die Einrichtung von Sachakten auch mit der Feststellung begründet: „Man kann voraussetzen, daß ein jeder Mensch in seinen Papieren irgendeine Ordnung hat." Dagegen hat Karl Dachs als Handschriften-Bibliothekar schon 1964 seine Erfahrung gehalten: „Die Nachlässe, die ich bekomme, haben oft einen Grad von Unordnung erreicht, den man für unmöglich halten soll179
Jochen Meyer te."4 Überdies dürfte von vielen, wenn nicht den meisten vorgefundenen Ordnungsansätzen gelten, daß sie sich bei genauerem Hinsehen durchaus nicht als autorisiert erweisen, vielmehr als sekundär, von den Erben nachträglich durchgeführt oder veranlaßt. Da hat etwa der Sohn eines Autors, Philologe und Hochschullehrer, für einige Monate eine studentische Hilfskraft eingesetzt, den Nachlaß des Vaters vorzuordnen. Oder eine Witwe hat unveröffentlicht Gebliebenes herausgezogen, um die Publikation nachgelassener Texte zu erleichtern. Trotzdem: So wie sich Autoren in ihren Werken als Individuen zeigen, so auch in ihrem Verhältnis zu dem, was von ihren Arbeiten als persönlicher Nachlaß übrigbleiben wird oder soll. Aus einer improvisierten Typologie von Autoren als Bestandsbildnern ließe sich eine Skala ableiten, die zwischen den Extremen »Archivar seiner selbst" und „Chaotiker" Platz ließe: etwa für den „Bastler", dem sich der eigene Vorlaß zum autonomen Kunstgewerbe eines ausgeklügelten Archivschranks eigener Konstruktion oder zu einem wuchernden Gebilde von Schachteln und Kästchen ähnlich dem Merzbau von Kurt Schwitters entwickelte, das am Ende nur museale Präsentation, nicht archivarische Erschließung und wissenschaftliche Benutzung zuließe; oder für den Bestandserweiterer und -Verstärker, der alles mit Mappen, Umschlägen, kommentierenden Beilagen für Mit- und Nachwelt, mit An- und Verweisungen für spätere Ordner und Benutzer versieht, gar auf den besonderen materiellen Wert von Einzelstücken hinweist (Ciaire Groll wäre hier als Beispiel zu nennen, nicht nur mit ihren umsichtig verteilten Einlegeblättern mit der Warnung „Avis aux Voleurs"); auch für den Typus des Bestandsverminderers oder gar -vertilgers, der seine Spuren verwischen, Entstehungsprozesse auslöschen und nur Fertiges, Hinterlassungsfähiges überliefern will (ich denke etwa an Martin Kessel, der sich dem Literaturbetrieb so unbescheiden verweigerte, wie er sich einer vielleicht viel späteren Neuentdeckung - auch in der erwarteten Wirkungsgeschichte dem Vorbild Stendhals verpflichtet - sicher war). Ich muß zugeben, daß mir zum Typus des Archivars seiner selbst gleich mehrere bedeutende Vertreter einfallen, allen voran Goethe; in unserer Zeit Ernst Jünger, Arno Schmidt, Paul Celan, Alfred Andersch, Wolf von Niebelschütz, Walter Kempowski, Ludwig Hang. Sogar der sich zu Lebzei-
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Wolfgang A. Momsen: Nachlässe in Archiven. - In: Zur Katalogisierung mittelalterlicher und neuerer Handschriften. Sonderheft der Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie. Frankfurt a.M., 1963. Karl Dachs: Katalogisierungsprinzipien für Nachlässe. In: Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie, 12 (Frankfurt a.M. 1965). S. 91.
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Erschließungsmodelle ten als literarischer Clochard stilisierende Schweizer Ludwig Hohl wäre hier zu nennen. Der Chaotiker, der obendrein nie etwas weggeworfen hat, ist mir in seiner reinsten Gestalt im Nachlaß des rheinischen Originals und Kreuzberger Bohemiens Robert Wolfgang Schnell begegnet. Zurück zu den Möglichkeiten des „Marbacher Memorandums", auf autorisierte Ordnungen oder doch Ansätze und Spuren solcher Ordnungen einzugehen. Hierfür ist die Einrichtung der schon erwähnten „Standortkonvolute" vorgesehen, die nicht mit den anderen bereits genauer charakterisierten Konvoluten verwechselt werden dürfen, die nur der zusammenfassenden, vereinfachten und pauschalen Ablage und Katalogisierung von jeweils einer Mehrzahl minder wichtiger Einzelstücke dienen. Unser „Memo" hält dazu fest: „Standortkonvolute dienen dazu, Sachzusammenhänge zu bewahren. Im Bestand vorgefundene Sachkonvolute werden in der Regel nicht aufgelöst. In begründeten Einzelfällen kann der Bearbeiter Sachkonvolute selbst bilden." Letzteres wird und sollte die Ausnahme bleiben. Eher wird es vorkommen, daß die Bearbeiterin, der Bearbeiter eines Nachlasses in Marbach ein vorgefundenes Konvolut im Laufe der Vorordnung durch zugehörige, aber verstreute Einzelstücke und abgebröckelte Tfeilkonvolute ergänzt. So bot sich sogar im Durcheinander des umfangreichen Robert Wolfgang Schnell-Archivs doch schon bald ein Rumpf-Konvolut von Materialien an, die mit Gründung und Betrieb der Kreuzberger Hinterhofgalerie „Die Zinke" zu tun hatten und die bei einer solchem Chaos einzig angemessenen Blatt-für-Blatt-Durchsicht relativ leicht durch zugehörige Einzelblätter zu komplettieren waren. Nicht immer freilich liegen die Verhältnisse so einfach. Die Wiener Autorin Erika Mitterer hat dem Deutschen Literaturarchiv vor einigen Jahren ihren „Vorlaß" anvertraut, darin die kostbaren Originale ihres Briefwechsels in Gedichten mit Rilke aus den Jahren 1924 bis 1926. (Die von ihr selbst besorgte Buchausgabe von 19505 ist alles andere als vollständig und zulänglich; trotzdem oder deswegen hat Frau Mitterer gerade diesen Komplex bis auf weiteres für die Benutzung gesperrt.) Der Bestand enthält neben anderen „Standortkonvoluten" ein von der Autorin zusammengestelltes Rilke-Konvolut: fünf Texte Erika Mitterers über ihre Beziehungen zu Rilke; den Dichter betreffende Auszüge aus ihren Tagebüchern 1924 bis 1926; eine für Ernst Zinn, den Herausgeber der Werke und Briefe Rilkes, begonnene, aber nicht abgeschlossene und schon gar nicht ihm 5 Rainer Maria Rilke: Briefwechsel in Gedichten mit Erika Mitterer. 1924-1926. Wiesbaden, 1950. (Aus Rainer Maria Rilkes Nachlaß; 2)
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Jochen Meyer ausgehändigte Abschrift ihrer Briefgedichte an Rilke (deren Originale sie sich nach Rilkes Tbd hatte zurückgeben lassen) und eine von Erika Mitterer zusammengetragene Sammlung von Zeitungsausschnitten zum 50. Geburtstag des Dichters am 3. Dezember 1925. Die Originale des Briefwechsels selbst liegen und lagen schon bei Übernahme des Bestandes jeweils im Alphabet der Briefe von Erika Mitterer und an sie. Erst die Anfrage eines englischen Doktoranden, deren schriftliche Beantwortung die Autorin zugestanden hatte, führte auf die Spur eines „Büchleins", das der Ausgabe von 1950 zufolge ursprünglich dem zweiten Briefgedicht an Rilke beigefügt war: ein in Marbach schon wie die anderen Lyrikbände der Autorin unter „Gedichte. Sammlungen" abgelegter stattlicher Pappband, am farbigen Kleisterpapier des aufwendigeren Einbände als einstiges Geschenkexemplar kenntlich. Der zweite Gedichtbrief der Mitterer vom 5. Juni 1924 findet sich in diesem Sammelband auf dem vorderen Vorsatzblatt. Es folgen noch 30 Gedichte, in der Mehrzahl datiert von 1922 bis 1924, darunter ein ebenfalls in den gedruckten „Briefwechsel in Gedichten" aufgenommenes mit der Uberschrift „Melitta gewidmet." In den vorderen Innendeckel des Bandes, der von Frau Mitterer in den Zusammenhang ihrer übrigen Gedichtkladden und -Sammlungen eingereiht und in diesem Kontext dem Archiv übergeben wurde, hat sie eine vom 7. März 1977 datierte Notiz eingeklebt: „In dieses Büchlein hatte ich die Gedichte eingetragen, die ich für meine wesentlichsten hielt. Die Verse an Melitta liegen dem Zyklus ,Erika und Melitta' zugrunde." Kein Wort davon, daß dieser ganze Band ganz offenbar zur Folge der Briefgedichte an Rilke gehört hat und mit diesen erst nach Rilkes Tod an die Autorin zurückgegeben worden ist. Sollte nun der Band den übrigen Gedichtbriefen der Mitterer an Rilke in der alphabetisch/chronologisch abgelegten Folge der Briefe von der „ B e s t a n d s b i l d n e r i n " hinzugefügt w e r d e n oder dem von ihr autorisierten Rilke-„Standortkonvolut" oder doch besser am jetzigen Platz unter „Gedichte. Sammlungen" bleiben? Zur weiteren Ablage und Ordnung von Sachkonvoluten heißt es im „Marbacher Memorandum": „Standortkonvolute können mehrere Gruppen/Gattungen umfassen oder auch nur aus Materialien einer Gruppe/Gattung von mehreren Verfassern (etwa Briefen an den Bestandsbildner) bestehen. Ordnung und Ablage folgen denselben Prinzipien, die für Bestände gelten. So stehen im Standortkonvolut A: Broch/Brody ebenso wie im Bestand A: Broch die Manuskripte Brochs vor seinen Briefen, gefolgt von den Briefen an ihn, Dokumenten, Manuskripten Anderer, Briefen Anderer, Dokumenten zu Anderen. Standortkonvolute stehen im 182
Erschließungsmodelle Anschluß an die letzte Gruppe des Bestandes in alphabetischer Folge der Konvolutbezeichnungen." Mit einem Wort: Für die Ablage und Ordnung solcher Konvolute zu Sachbezügen gelten dieselben Regeln wie für Ordnung und Ablage des ganzen Bestandes und aller anderen Bestände. Wer in den Marbacher Handschriftenmagazinen in einem Bestand nach einem bestimmten Manuskript, Brief oder Dokument sucht, kann sich also auch bei den Standortkonvoluten auf die Regeln des „Memorandums" verlassen und ohne Konsultation von Katalogen und Verzeichnissen sehr weit kommen. Hier mag eine Zwischenbemerkung angebracht sein: Das am Beispiel der Standortkonvolute beschriebene Verfahren hat sich vorzüglich übertragen lassen auf ganz andere Typen von Beständen: Autographensammlungen und Verlagsarchive. Als Beispiel nehme ich die Autographensammlung Karl Kohl. Hier die Ordnung und Ablage auf den Bestandsbildner zu beziehen, also mit den Manuskripten des Sammlers zu beginnen, mit Briefen von ihm und an ihn fortzufahren und mit Zugehörigen Materialien zu enden, wäre ganz unsinnig gewesen, weil sich dann die große Masse des Bestandes, und zwar ausgerechnet die gesammelten Autographen, in einer Untergruppe der Zugehörigen Materialien konzentriert hätte: Manuskripte Anderer. Die Begleitbriefe der Autoren dieser Sammelstücke an den Sammler wären dagegen im Alphabet der Briefe an den Bestandsbildner abgelegt worden, obwohl selbst Autographen, getrennt von den eigentlichen Autographen der Sammlung. Hier bot sich die Auflösung der ganzen Sammlung in „Standortkonvolute" an, noch dazu in solche, in denen nicht mehr der Hauptbestandsbildner Karl Kohl die Ordnungsfolge bestimmt, sondern - wie sonst nur bei Krypto-Nachlässen und angefügten Beständen - der in der Signatur jeweils nachgeordnete zweite Name, der das Konvolut bezeichnet. Nach dem „Marbacher Memorandum" wird dieser „Regierungswechsel" durch ein einfaches Signal angezeigt: Der Personenname, der einen Krypto-Nachlaß oder im Falle der Sammlung Kohl das einzelne Konvolut zu einem in der Sammlung vertretenen Autor kennzeichnet, rückt in die zweite Zeile der Signatur. Daraus also ergibt sich, daß nicht mehr der Hauptbestandsbildner die Ordnungs- und Ablagefolge bestimmt (die als solche im übrigen immer denselben Prinzipien folgt), sondern der Krypto-Bestandsbilner, im beschriebenen Fall jeweils die mit Sammelstücken vertretenen Autoren. Gleichwohl bleibt einzuräumen, daß es Bestände gibt, die im ganzen oder in Teilen in ihrer vorgegebenen Ordnung „autorisiert" sind, und zwar von Fall zu Fall bis in die Ablagefolge der Einzelstücke. Es bleiben seltene 183
Jochen Meyer Fälle, in denen wir unser Schema ganz und gar den „Erfordernissen des Bestandes" anpassen, nicht umgekehrt. Ein großes Beispiel ist der Anfang 1990 übernommene Nachlaß Paul Celans. Hier war die Ordnung der Manuskriptgruppen vorgegeben und durch eine von der Bonner Celan-Arbeitsstelle durchgeführte, bis zum Einzelblatt wirksame Siglierung ganz weitgehend festgelegt. Sie mußte übernommen und in Teilen ergänzt werden und konnte nur durch eine Art Konkordanz zwischen Siglen und Akzessionsnummern den Marbacher Erfordernissen angepaßt werden. (Die Siglen sind auf diese Weise zu einem Bestandteil der Signaturen geworden.) Nur bei der Korrespondenz war eine einschneidende Umgruppierungerforderlich. Die im Nachlaß erhaltenen Briefe wurden nämlich in den beiden großen Gruppen „Dossiers Alphabétiques" und „Dossiers Chronologiques" übernommen. Das heißt: Madame Gisèle Celan-Lestrange, die Witwe des Dichters, hatte aus der ursprünglich rein chronologischen Ablage die ihr am wichtigsten erscheinenden Korrespondenzen herausgezogen und in einem Alphabet der Briefpartner abgelegt. Wir haben dann, nach Absprache mit Frau Celan, in einem ersten Schritt die begonnene Umgruppierung der Korrespondenz vollendet und - dem Marbacher Schema angepaßt - eine durchgehende alphabetische Briefablage hergestellt (mit der in Marbach üblichen Trennung der Briefe des Nachlassers von den Briefen an ihn). Zuvor aber ist die chronologische Ablage in einer detallierten Liste festgehalten worden. Die ursprünglichen Zusammenhänge können also jederzeit rekonstruiert werden. Nur einzelne besonders umfangreiche Korrespondenzen, die eine Fülle anderer Ifextsorten (Manuskripte, Entwürfe, Briefe und Manuskripte Anderer, Zugehörige Materialien usw.) enthielten, wurden aus der alphabetischen Briefablage herausgelöst und als „Standortkonvolute" ans Ende des Nachlasses gestellt: Verlagskonvolute, Konvolut Bremer Literaturpreis, Konvolut Ingeborg Bachmann, Konvolut Nelly Sachs usw. Das Ergebnis zunächst der Inventarisierung war eine Akzessionsliste, die den Nachlaß Paul Celan, soweit er sich damals in Marbach befand, mit rd. 3200 Einzelnummern verzeichnete. - Der nächste Schritt und die Hauptarbeit bestand in der Katalogisierung. Vereinfachung und Verkürzung durch Zusammenfassung von Manuskriptgruppen und durch Konvolutbildung mit Konvolutaufnahmen kam hier nicht in Frage - wegen der Bedeutung des Nachlassers, wegen der Abweichungen der vorgefundenen und beibehaltenen Ordnung vom Ordnungs- und Ablageschema der Handschriften-Abteilung, schließlich auch wegen der zu erwartenden besonderen Benutzerwünsche (etwa aus der Bonner Arbeitsstelle für die Historisch-kritische Celan-Werkausgabe). - Gedichtsamm-
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Erschließungsmodelle lungert erhalten in Marbach im allgemeinen nur eine Katalogaufnahme, also ohne Einzelnachweise der enthaltenen Gedichte. Die Gedichtbände im Manuskript-Nachlaß Celans umfassen aber - verglichen mit den veröffentlichten Sammlungen - so viele zusätzliche und unterschiedliche Materialien (ungedruckte Gedichte und Gedichtentwürfe, Prosatexte, Notizen, Briefe und Briefentwürfe, Zugehörige Materialien usw.), daß ein differenziertes Verfahren geboten war. So wurden also jeweils alle zu diesen nachgelassenen Sammlungen gehörenden Einzelstücke katalogisiert, die keine Aufnahme in die gedruckten Bände gefunden haben. Der NachlaßBenutzer wird sich also am Standortkatalog der Handschriften-Abteilung sofort ein Bild davon machen können, welche Bestandteile eines Bandmanuskripts er aus den veröffentlichten Bänden gar nicht kennt. Darüber hinaus muß er sich dann von der selbstverständlichen Annahme leiten lassen, daß sich auch Reinschriften und Entwürfe zu den im jeweiligen Band abgedruckten Gedichten finden. Diese sind dann freilich nur mittelbar, durch die Katalogaufnahme des jeweiligen Bandtitels, nachgewiesen. - Durch solche und ähnliche Verzeichnungen, aber auch durch die Fülle notwendiger Verweisungen ergibt sich für diesen Nachlaß eine Gesamtzahl von weit mehr als 5000 Katalogaufnahmen. - Nebenbei: Von dem besonderen Anpassungsdruck, der sich aus der weitgehenden Autorisierung vorgefundener Ordnungen im Nachlaß Celans für das „ M a r b a c h e r Memorandum" ergibt, bleibt demnach ganz unberührt, daß auch hier die Abfolge der Hauptgruppen des Nachlasses durchaus memo-konform bleiben kann: Gedichte. Sammlungen; Einzelgedichte; Prosa; Übersetzungen; Verschiedenes (das sind im Nachlaß Paul Celans etwa die „Dossiers -i- „; ,,-i-" steht fur „idée"); dann Briefe vom Nachlasser, Briefe an ihn; Zugehörige Materialien; zuletzt: Standortkonvolute. Nicht nur mit dem Stichwort „Verweisungen" sind hier zum Schluß gerade noch die besonderen Probleme der Katalogisierung in den Blick geraten. Hier nur noch soviel: Alle Fragen der Ansetzung von Nachlaßmaterial im herkömmlichen Zettelkatalog oder auch in einem elektronischen Speicher sind für uns besonders heikel, weil die Marbacher Katalogaufnahmen jeweils neben den individuellen Daten immer auch generelle Angaben zu Gruppe, Untergruppe usw. enthalten müssen, die im Zusammenspiel mit Bestandssignatur und alphabetischen und chronologischen Elementen erst den Ort des Einzelstücks im Bestand eindeutig festlegen. Verzichten wollen wir auf dieses Verfahren schon deshalb nicht, weil es die geordnete Ablage auch ohne Verzeichnung, Katalogisierung oder gar elektronische Speicherung zu einer von Fall zu Fall ausreichenden Erschlie185
Jochen Meyer ßungsform macht. Daneben erscheinen Differenzen bei der Ansetzung von Daten (etwa in der Frage, ob ein körperschaftlicher Urheber unter der Bezeichnung der Körperschaft und, wenn ja, in welcher Form, oder unter dem Ort angesetzt wird) im Zeichen der EDV von untergeordneter Bedeutung, weil ja die jeweils abweichende Ansetzungsform nach Belieben gespeichert und recherchiert werden kann.
,MARBACHER
MEMORANDUM"
A ORDNUNG VON NACHLÄSSEN UND AUTOGRAPHEN I. Manuskripte 1. Werke 2. Gedichte 3. Epen 4. Dramatisches 5. Prosa 6. Kompositionen 7. Zeichnungen 8. Bearbeitungen 9. Übersetzungen 10. Herausgegebenes 11. Verschiedenes II. 1. 2. 3.
Briefe Briefwechsel Briefe vorn Bestandsbildner Briefe an den Bestandsbildner
III. Zugehörige Materialien 1. Dokumente 2. Manuskripte Anderer 3. Briefe Anderer 4. Dokumente zu Anderen ANHANG I. Standortkonvolute II. Krypto-Nachlässe und angefügte Bestände 186
Erschließungsmodelle Β 0. 1. 2.
KATALOGISIERUNG Von Ordnungsgruppen unabhängige Angaben Standort Zugangsnummer
I. Angaben zu Manuskripten 1. Verfasser 2. Gattungen, Gruppen 2.1 Werke 2.2 Gedichte 2.3 Epen 2.4 Dramatisches 2.5 Prosa 2.6 Kompositionen 2.7 Zeichnungen 2.8 Bearbeitungen 2.9 Übersetzungen 2.10 Herausgegebenes 2.11 Verschiedenes 3. Sachtitel 4. Angefugtes 5. Umfang 6. Beilagen II. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Angaben zu Briefen Verfasser Empfänger Adressat Ort Angefugtes Umfang Beilagen
Angaben zu Sonderformen 8. Briefsammlungen; Briefwechsel 9. Briefe in Versen 10. Rundschreiben 11. Offene Briefe 187
Jochen Meyer III. Angaben zu Zugehörigen Materialien 1. Dokumente 1.1 Bestandsbildner 1.2 Gruppe 1.3 Spezifikation des Stückes 1.4 Angefügtes 1.5 Umfang 1.6 Beilagen 2. Manuskripte Anderer (Analog zu I) 3. Briefe Anderer (Analog zu II) 4. Dokumente zu Anderen (Analog zu III. 1)
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Jutta Weber Die Zentralkartei der Autographen und das neue Regelwerk „Der Einsatz der Datenverarbeitung bei der Erschließung von Nachlässen und Autographen" 1. Die Zentralkartei der Autographen (ZKA) Aufgabe Der zusammenfassende Nachweis von Autographen erfolgte in einem gedruckten Verzeichnis in Deutschland zuerst durch Wilhelm Frels: Deutsche Dichterhandschriften von 1400 bis 1900. Leipzig 1934. Dieses Nachschlagewerk enthält Nachweise zu literarischen Beständen in Bibliotheken des damaligen Deutschen Reiches und, in Auswahl, seiner Nachbarländer. Seit 1960 wurde in bundesdeutschen und West-Berliner Bibliotheken und Archiven mit Hilfe der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) ein Programm zur Erschließung von Handschriften und Autographen durchgeführt. Dabei wurde besonderes Gewicht darauf gelegt, die Ergebnisse der Erschließung dieses Materials besser als bisher zu verbreiten und, auch wegen der ständig zunehmenden Zahl ihrer Benutzer, Verzeichnisse zu erstellen, die die Recherche vereinfachen. Es entwickelten sich drei Nachweisinstrumente, die sich gegenseitig ergänzen: Die Zentralkartei der Autographen (ZKA) bei der Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz (SBB), sowie die beiden gedruckten Verzeichnisse Ludwig Denecke: Die Nachlässe in den Bibliotheken der Bundesrepublik Deutschland. Boppard 1969. 2. Aufl. Bearb. von Tilo Brandis. Boppard 1981. (Denecke/Brandis) Wolfgang Mommsen: Die Nachlässe in den deutschen Archiven. Tfeil 1. 2. Boppard 1971-83. (Mommsen)1
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Für die Standortangaben von Nachlässen in der ehemaligen DDR erschien das Verzeichnis: Gelehrten- und Schriftstellernachlässe in den Bibliotheken der Deutschen Demokra-
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Jutta Weber Während für die Nachlaßverzeichnisse die gedruckte Form gewählt wurde, war die Zentralkartei von Anfang an als ein ständig erweiterungsfähiger Zettelkatalog geplant und angelegt. Der Grundgedanke war, ein ständig aktualisierbares Instrument zu schaffen, das in der Lage sein sollte, Anfragen nach Einzelautographen gezielt an die besitzende Stelle weiterzuleiten. Da der Nachweis von Nachlässen durch die Existenz von Denecke/Brandis und Mommsen abgedeckt war, konnte sich die ZKA auf die Erfassung von Einzelautographen außerhalb der Nachlässe sowie von Korrespondenzen und Fremdmaterial innerhalb der Nachlässe beschränken. Hinzu kam der Nachweis von Briefen des Bestandsbildners innerhalb des eigenen Nachlasses. Auf diese Weise war gewährleistet, jedes katalogisierte Autograph mit Hilfe der drei genannten Nachweisinstrumente ausfindig machen zu können. Die Zentralkartei wurde seit 1966 als ein alphabetisch sortierender Namenskatalog mit Unterstützung der DFG eingerichtet. Die Vergabe von DFG-Mitteln zur Katalogisierung von Nachlässen und Autographen an bundesdeutsche und West-Berliner Bibliotheken wurde abhängig gemacht von der Bereitschaft, eine Kopie der eigenen Katalogzettel an die Zentralkartei weiterzugeben. Zu den ersten teilnehmenden Bibliotheken gehörte die Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, die Bayerische Staatsbibliothek München und die Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt a.M.; seit 1970 trat als einer der wichtigsten Teilnehmer das Deutsche Literaturarchiv Marbach hinzu.2 Heute liefern 93 Teilnehmer ihre Autographenkatalogisate nach Berlin, darunter neben den großen Bibliotheken auch Spezialeinrichtungen wie z.B. das Theatermuseum Köln oder das Bauhaus-Archiv Berlin. Auf die Auswertung gedruckt vorliegender Autographennachweise wird im allgemeinen verzichtet. Entsprechend der Vielfalt der Sammeltätigkeiten der deutschen Bibliotheken und Archive ist das in der Zentralkartei enthaltene Material weder zeitlich noch sprachlich oder sachlich begrenzt.3 Zu beobachten ist allerdings, daß geisteswissenschaftliche Nachlässe von jeher besser erschlostischen Republik. T. 1. 2. Berlin, 1959-68; T. 3. Nachtr., Erg., Register. Berlin, 1971. (Neubearbeitung z. Zt. in der SBB.) 2 Vgl. die Liste der teilnehmenden Institutionen im Anhang. Aus Platzgründen, und um doppelte Arbeit zu vermeiden, wurden die Karten des Autographenkatalogs der Staatsbibliothek zu Berlin nicht in die Zentralkartei aufgenommen. 3 Daß es sich vornehmlich um Material deutscher Persönlichkeiten handelt, liegt im Sammelauftrag der beteiligten Institutionen begründet.
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Die Zentralkartei der Autographen sen werden als z.B. naturwissenschaftliche; entsprechend hoch ist der Prozentsatz des nachgewiesenen Materials. Trotzdem unterscheidet sich die Zentralkartei grundlegend von ähnlichen Projekten, die von einem Fachgebiet allein ausgehen oder sich auf den Nachweis von Nachlässen oder Briefen beschränken.4 Aufgenommen wird jedes Autograph, ausgenommen sind Musikalia. Der Aufgabenstellung entsprechend besteht die Zentralkartei zum größten Teil aus Angaben zu Korrespondenzen. Die Zentralkartei ist eingegliedert in die Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin; sie ist mit drei Mitarbeitern besetzt. Die Mittel für die Duplizierung der Nachmeldungen aus Institutionen, deren Autographenkatalogisierung nicht von der DFG gefördert wird, stellt die DFG der Zentralkartei zur Verfügung. Sie trägt außerdem die Kosten der Vervielfältigung von Auktionskatalogen für den „Katalog der Autographeneinträge in Auktionskatalogen deutscher Firmen vor 1950", einem der Zentralkartei angegliederten zweiten Nachweisinstrument. Es handelt sich um einen alphabetischen Zettelkatalog, der in Ergänzung zum Jahrbuch der Auktionspreise die bei deutschen Firmen angebotenen Autographen nachweist. Da das Jahrbuch der Auktionspreise Autographen erst seit 1950 aufnimmt, werden Kataloge bis zu diesem Jahr ausgewertet. Mit dem Aufbau wurde Anfang der siebziger Jahre begonnen. Das Ziel dieses Kataloges ist es, die Existenz auch der Autographen nachzuweisen, die nicht (mehr) in öffentlichem Besitz sind bzw. die als verloren gelten müssen. Bisher konnten alle Kataloge des Berliner Auktionshauses Henrici und ein beträchtlicher Teil der Verzeichnisse des Hauses Stargardt bearbeitet werden. Im Unterschied zur Katalogisierung von Büchern und Zeitschriften 4 Aus dem europäischen Ausland seien geannnt: 1 ) Großbritannien: Location register of English literary manuscripts and lettere, University of Reading, Library White-knights PO Box 223, GB - Reading RG6 2AE (Vgl. dazu: David C. Sutton: Locating literary manuscripts. - In: British Book News, Dec. 1988, S. 894 f.; ein Bericht für die Jahre 1988-89 erschien in: The Library, Vol. 12,1990, Nr. 2, S. 173 f. 2) Niederlande: Catalogue epistolarum Neerlandicarum (CEN), ein Katalog der Briefbestände der wichtigsten niederländischen Bibliotheken, der als Datenbank aufgebaut wird. Informationen sind über die Universitätsbibliothek Leiden zu erhalten. 3) Osterreich: Zu den fünf Projekten, die den Nachweis und die Erschließung der in Osterreich verwalteten Nachlässe zum Inhalt haben, vgl.: Gerhard Renner: Das österreichische Literaturarchiv. - In: Zirkular (Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur). 14, (Wien 1991). S. 13-15; erschienen ist: Murray G. Hall ; Gerhard Renner: Handbuch der Nachlässe und Sammlungen österreichischer Autoren. Wien [u.a.], 1992.
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Jutta Weber wurde die Bearbeitung von Autographen bisher nicht von einem verbindlichen Regelwerk bestimmt. Die 1963 zuerst erschienenen „Richtlinien Handschriftenkatalogisierung" der DFG5 wurden nicht zur Vorschrift gemacht; vielerorts wurden Hausregeln angewendet, die z.T. den Richtlinien widersprachen. Es wurde z.B. nie auf eine einheitliche Ansetzung der Personennamen geachtet. Für die Zentralkartei bedeutete dies, mit außerordentlich disparaten Vorgaben einen einheitlichen Katalog erstellen zu müssen.
Benutzung Die Zentralkartei wird in ständig steigendem Maße benutzt.6 Die meisten Anfragen werden schriftlich gestellt, die Benutzung der Kartei vor Ort nimmt allerdings zu. Nachfragen erreichen sie aus aller Welt, gleichwohl kommt der größte Tteil, wie zu erwarten, aus dem Inland. (1992 kamen von 557 Anfragen 82 aus dem Ausland.) Der Inhalt der Anfragen betrifft in 90% der Fälle die Suche nach dem gesamten nachgewiesenen Autographenmaterial bestimmter Personen, wobei allerdings die Frage nach deren Korrespondenz im Vordergrund steht. In den verbleibenden 10% der Fragen geht es um ein bestimmtes Manuskript, einen bestimmten Brief oder ein speziell definiertes Autograph einer Person, z.B. in einer besonderen Sprache. Die Zentralkartei wird auf jede erfragte Person hin überprüft, die Nachweise werden kopiert und dem Anfragenden kostenlos zugeschickt. Die hohe Benutzungsfrequenz ist ein Zeichen des Ansehens, das dieses Nachweisinstrument in der Forschung genießt. Es ist damit zu rechnen, daß sich die Benutzung in diesem Umfang fortsetzen wird; mit einer Steigerung ist zu rechnen, zumal wenn auch die Daten der neuen Bundesländer mitverwaltet werden. Abgesehen davon, daß ein konventionell geführter Katalog seine Grenzen in der nur eindimensionalen Recherchierfähigkeit hat, ist festzustellen, daß die ZKA der ihr gestellten Aufgabe bisher in hohem Maße gerecht wurde.' 5 6
5. Aufl.-1991. Anfragen erfragte Personen Nachweise 1970 48 129 454 1992 557 3433 27 089 7 Natürlich kann bei dieser Form des Kataloges und dem beschriebenen Arbeitsaufwand Aktualität nur insoweit erreicht werden, wie die beteiligten Institutionen ihre Nachmeldungen ohne allzu großen Verzug nach Berlin schicken und dort die Einarbeitung sofort erfolgen kann, was bei der geringen personellen Ausstattung schwerlich möglich ist.
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Die Zentralkartei der Autographen Aufgrund der Tatsache, daß die ZKA zur Auskunfterteilung nur die kopierten Katalogzettel der meldenden Bibliothek heranzieht, die ja ein exaktes Spiegelbild der dort vorhandenen Informationen sind, ist es ihr möglich, die Anfragen ganz gezielt an die besitzenden Institutionen weiterzuleiten. Dies geschieht in der Form, daß der Anfragende selbst anhand der von der ZKA ihm überlassenen Kopien der Nachweise eine konkrete Bestellung bei der entsprechenden Bibliothek etc. aufgeben kann.
Bedeutung der Zentralkartei der Autographen für die Forschung Durch die große Zahl der teilnehmenden Institutionen ist der wichtigste Autographenbestand der alten Bundesländer in der ZKA nachweisbar. Dazu gehören vor allem die Korrespondenzen des vorigen und des 18. Jahrhunderts, deren wichtigster Tfeil seit langem erschlossen ist. Dank der Förderung durch die DFG können ständig weitere alte Bestände aufgearbeitet werden, Material aus neuerer und neuester Zeit kommt hinzu. Da Sammeltätigkeit immer rückwärts gewandt ist, haben Itelefon und Computer noch nicht den Brief und das Manuskript bzw. TVposkript ersetzt. Die Menge des von öffentlichem Besitz gesammelten Materials nimmt daher auch heute noch zu. Mit der Zunahme der Erschließung des Nachlaß- und Autographenmaterials korrespondiert die Tfendenz der Forschung, historische Themen aufzugreifen. Dies bewirkt im Zusammenhang mit der steigenden Zahl der Akademiker eine sich steigernde Nachfrage auch nach dem von der Zentralkartei vermittelten Material. War diese Forschung herkömmlich vor allem auf die philologischen und historischen Wissenschaften konzentriert, so ist gerade in letzter Zeit ein starkes Interesse an der Erforschung der eigenen Wissenschaftsgeschichte im Bereich der Naturwissenschaften und der Technik zu beobachten.8 Ein wichtiger Aspekt der Zentralkartei soll noch hervorgehoben werden: Sie weist mit ca. 1,5 Millionen Autographen auch ca. 300 000 verschiedene Namen bekannter und weniger bekannter Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens seit der Zeit der Reformation nach. Mit den teilweise auch weniger berühmten Korrespondenzpartnern wird gleichzeitig eine nicht zu unterschätzende Anzahl von Personen, deren sonst oft schwer nach8
Leider ist gerade dieser Bestand in vielen universalen Sammlungen unterrepräsentiert oder wegen der geringen Benutzung ungenügend erschlossen.
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Jutta Weber weisbare Existenz gleichwohl für die Forschung von großem Interesse sein kann, erfaßt. Daneben sind es, auch bei bekannteren Personen, die oft nur durch den Zeitraum der Korrespondenz feststellbaren Lebensdaten, die mit Hilfe der ZKA ermittelt werden können. Die Schwachstellen der Zentralkartei liegen vor allem im Verlust an Aktualität durch Bearbeitungsaufwand, 9 sodann im Aufwand bei der Recherche und bei der Vermittlung der Nachweise. Hinzu kommt ein durch die Karteikästen bedingter großer Raumbedarf.
Zielsetzung und zukünftige
Entwicklung
Die Zentralkartei der Autographen ist aus der Forschung heute nicht mehr wegzudenken. Sie ist auch eine Antwort auf die durch den deutschen Föderalismus und durch die Kulturhoheit der Länder bedingte „Zersplitterung" auch von Nachlaß- und Autographenbeständen. Dabei weist die Zentralkartei nicht nur Bestände aus den großen Landes- und Universitätsbibliotheken nach, sondern, und das verdient besondere Beachtung, auch aus kleinsten Sammlungen, Speziai- und Forschungsbibliotheken mit begrenztem Sammelauftrag. So kann ihr Ziel nur sein, auch auf lange Sicht für Autographennachweise jeder Art offen zu bleiben. Bisher sind 92 Institutionen an der ZKA beteiligt. Es werden in der nächsten Zeit zahlreiche weitere Institutionen dazukommen, da die neuen Bundesländer natürlich mit ihrem Autographenbestand genauso zu berücksichtigen sind; Kontakte konnten bereits geknüpft werden. Es dürfte dann fast mit einer Verdoppelung der Nachweise der ZKA zu rechnen sein. Ein Desiderat wäre die stärkere Einbeziehung des in Archiven verwahrten Materials. Es geht hier weniger um Archive aus dem Bereich der Literaturforschung, die in ihrer Verzeichnungsweise bisher schon an bibliothekarischer Praxis orientiert waren und innerhalb des Archivwesens eine Sonderstellung einnehmen. Gemeint sind vielmehr staatliche, kom9
Der Zeitaufwand für Arbeitsgänge wie das Anfertigen von Adressatenzetteln u.a. beträgt ca. 2 Min./Zettel, wobei die Zeit, die für das Kopieren der Karten angesetzt werden muß, nicht mitgerechnet werden kann. Da es sich um ein nach bibliothekarischen Gesichtspunkten aufgebautes Nachweisinstrument handelt, ist der Aufwand besonders hoch bei der Erarbeitung der nach anderen Kriterien erfaßten und in anderen Formen als Karteikarten gelieferten Nachweise aus Institutionen wie Museen und Archiven.
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Die Zentralkartei der Autographen múñale, kirchliche, Wirtschafts-, Universitäts- und Familien-Archive, die in ihren Sammlungen oft Nachlässe bergen, die sich durch nichts von den in Bibliotheken liegenden unterscheiden. Aber zu ihrer Verzeichnung sollte in Zukunft zwischen Bibliotheken und Archiven eine bessere Kommunikation stattfinden. Zu den Aufgaben der Zentralkartei wird auch die Vermittlung zwischen diesen beiden Bereichen öffentlicher Sammlungserschließung gehören. Von der Forschung erwünscht wird die verstärkte Einbeziehung auch kleinster Spezialsammlungen, da deren Existenz häufig dem Fachfremden völlig entgeht. Ein Ziel fur die fernere Zukunft könnte die Einbeziehung des Materials in österreichischen und Schweizer Bibliotheken und Archiven sein, um die Nachweise auf den deutschsprachigen Raum auszudehnen. Welche Kooperationen in europäischen und internationalen Dimensionen möglich sind, wird die Zukunft zeigen. Daß ein solches Nachweisinstrument geradezu eine ideale Grundlage für die Bearbeitung durch die EDV darstellt, liegt auf der Hand. Trotzdem ist eines nicht zu übersehen: Auch wenn die Benutzung der ZKA stark ist und jedes Jahr zunimmt, handelt es sich doch um einen relativ kleinen Personenkreis etwa im Vergleich zu denen, die mit gedrucktem Material arbeiten. Es ist daher wohl kaum daran zu denken, daß sich eine etwa der Zeitschriftendatenbank entsprechende Verbunddatenbank entwickeln wird: Einerseits wird sich der Effekt der gemeinsamen Datennutzung bei der Katalogisierung von Unikaten nicht einstellen. Andererseits muß der Aufwand der technischen Vorarbeit zu der doch beschränkten Benutzerzahl in angemessenem Verhältnis stehen. Erstrebenswert auf lange Sicht wäre daher die Teilnahme an einer Datenbank, in der der Benutzer neben allem gedruckten Material zu einer Person auch deren ungedruckt erhaltene schriftliche Nachlässe finden kann.
2. Das Regelwerk „Der Einsatz der Datenverarbeitung bei der Erschließung von Nachlässen und Autographen" Im Unterschied zur Katalogisierung von Monographien und Zeitschriften wurde die Bearbeitung von Autographen in Deutschland bisher nicht von einem verbindlichen Regelwerk bestimmt. Die „Richtlinien Handschriftenkatalogisierung" der DFG10 wurden nicht zur Vorschrift gemacht; vie10 Vgl. Anmerkung 5.
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Jutta Weber lerorts konnten Hausregeln angewendet werden. Diese regellose Vielfalt muß mit der Einfuhrung der EDV ein Ende finden. Bei einem DFG-Kolloquium, das 1987 in Marbach stattfand,11 stellten verschiedene Institutionen vor, wie sie ihr Nachlaß- und Autographenmaterial mit Hilfe der EDV zu erschließen begonnen haben. Es wurde daraufhin die Erstellung eines Regelwerks beschlossen, das unter dem Titel „Der Einsatz der Datenverarbeitung bei der Erschließung von Nachlässen und Autographen" (dbi-materialien. 108) seit Ende 1991 in gedruckter Form vorliegt; nach mehljährigem Tfest soll es als verbindliche Grundlage überall angewendet werden. Das Regelwerk besteht aus drei Teilen: - Dem Regelwerk selbst, dessen Paragraphen in Anlehnung an die Regeln für die Alphabetische Katalogisierung (RAK) eine Anweisung enthalten, welche Normen bei den wichtigsten Teilen der Autographenbeschreibung - Namen, Daten, Titel usw. - einzuhalten sind. - Dem Datenformat, das alle Datenfelder benennt, die laut Regelwerk besetzt werden müssen oder können. - Dem Datenaustauschformat, orientiert am Maschinenlesbaren Austauschformat für Bibliotheken (MAB), das bestimmte Vorschriften enthält über die Art, wie die einzelnen Felder bei Datenlieferung an die Zentralkartei besetzt sein müssen. Inzwischen haben sich mancherlei verschiedene Lösungsmöglichkeiten im EDV-Bereich für Bibliotheken und Archive angeboten. Neben den im Regelwerk vorgeführten Generierungen auf der Grundlage der Systeme allegro-C12 und TUSTEP13 sind dies kommerzielle Programme wie dBase, LARS, Entwicklungen der Firma Nixas, um nur einige zu nennen. Da all diese Programme mit verschiedenem Komfort ausgestattet sind, individuelle Wünsche der Institutionen oft zu komplizierten Ausformungen und Weiterentwicklungen führen, war es dringend geboten, mit dem Regelwerk eine Richtschnur zu geben, die ein bei Anwendung der EDV sich anbahnendes Auseinanderdriften der Katalogisierung verhindern sollte. Bei der heute vorliegenden Fassung zeichnet sich eine gewisse Bereitschaft zur Übernahme der Regeln, modifiziert nach eigenen Bedürfnissen, 11 Kolloquium der Deutschen Forschungsgemeinschaft über Fragen des Einsatzes der EDV bei der Erschließung von Nachlässen und Autographen, Deutsches Literaturarchiv Marbach a.N., 25./26. Mai 1987. 12 Das Datenbanksystem „allegro-C" wird in der TU Braunschweig von Bernhard Eversberg entwickelt und liegt z. Zt. in der Version 12.3. vor. 13 Tübinger System von Ifextverarbeitungs-Erogrammen
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Die Zentralkartei der Autographen ab. Wichtig für die Zentralkartei ist dabei allerdings allein die Befolgung der im Austauschformat vorgeschriebenen Form der Datenlieferung.14 Eine Schwierigkeit ergab sich schon während des o.g. Kolloquiums15: Leider gelang es auch hier (noch) nicht, einen Konsens zwischen Bibliotheken und Archiven über ein gemeinsames Vorgehen bei den Vereinheitlichungsbestrebungen im Bereich Katalogisierung herzustellen. Das im letzten Jahr erschienene Regelwerk orientiert sich so leider ausschließlich an den Wünschen von Bibliotheken. Allerdings scheint sich innerhalb des Archivwesens eine Tendenz herauszubilden, die Benutzung von Archivgut mehr und mehr auch unter dem Aspekt der Recherche nach personenbezogenem Material zu ermöglichen. Es wird ein vordringliches Anliegen auch der Archive sein, diese Personennamen ihren Benutzern in leicht zugänglicher Form zur Verfügung zu stellen; zu hoffen ist, daß dies bald zu einer besseren Verständigung zwischen Archiven und Bibliotheken führen wird. Das im Regelwerk enthaltene Datenformat ist so offen wie möglich gehalten und erweiterungsfähig. Es soll alle Möglichkeiten geben, auch gänzlich unbibliothekarische Erschließungen des Materials vorzunehmen, wie es etwa in Forschungsstellen oder bei Editionsvorhaben geschieht. In Tübingen liegt das im Regelwerk erläuterte System TUSTEP in der am Regelwerk orientierten Generierung durch Friedrich Seck für Interessenten bereit. In der SUB Hamburg hat Harald Weigel die ebenfalls im Regelwerk vorgestellte Generierung des vorgegebenen Datenformats mit dem bibliotheksspezifischen Datenbank-System allegro-C zu einem eigenen Projekt mit Namen HANS (Handschriften, Autographen, Nachlässe, Sondermaterialien) ausgeweitet, das allen allegro-Anwendern im Bereich Nachlässe/Autographen zugute kommen soll. Das Deutsche Literaturarchiv und die Zentralkartei der Autographen sind in dieses Projekt als Beteiligte eingebunden. Wenn nach Beendigung der Arbeit innerhalb dieses Projektes das Format HANS einen festen Umfang haben wird, werden folgende Voraussetzungen für eine Erfassung in diesem System und für einen Datentauschgeschäftsgang mit der Zentralkartei feststehen: - technische Anweisungen zu HANS - Katalogisierungsanweisungen
14 Eine wünschenswerte Ergänzung wäre eine Sammlung von Beispielen, um den Anwendern des Regelwerks „Standardaufnahmen" an die Hand geben zu können. Dies erscheint auch deshalb wichtig, da in vielen Fällen Nichtbibliothekare mit der Katalogisierung von Autographenmaterial befaßt sind. 15 Vgl. Anmerkung 11.
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Jutta Weber - eine Beispielsammlung - das Erfassungsschema - das Austauschformat - der Datentauschgeschäftsgang Mit Planungen, den Datentausch in den der Austauschformate für Druckschriften (MAB)16 einzubinden, um den Transport und die Pflege des Austauschformates zu gewährleisten, wurde begonnen.
3. Zur Weiterführung der Zentralkartei als Datenbank Ein als Zettelkatalog mit den bekannten Einschränkungen arbeitendes Nachweisinstrument, das bisher seiner Aufgabe in hohem Maße gerecht wurde, muß sich den Gegebenheiten in den zuliefernden Institutionen anpassen. Wie sich die ZKA entwickeln wird, hängt von diesen Vorgaben ab: Einerseits ist abzusehen, daß mehr und mehr Institutionen ihre Nachlaß- und Autographenkatalogisierung mit Hilfe der EDV erledigen werden. Andererseits wird die Zentralkartei mit einem gewaltigen Zuwachs an Meldungen rechnen müssen. Beides in eine sinnvolle Umstellung der ZKA einzubeziehen, wird die Aufgabe der nächsten Jahre sein. Die Konversion von Zettelkatalogen ist seit Jahrzehnten eines der wichtigsten Themen der Bibliotheksarbeit. Im folgenden sollen kurz die Lösungswege beschrieben werden, die mir für das besondere Material, das in der Zentralkartei der Autographen verwaltet wird, möglich erscheinen. Drei verschiedene Tfeilprojekte stehen an: - Die retrospektive Erfassung der alten ZKA - Die Übernahme maschinenlesbar gelieferter Daten - Die Erfassung konventionell gelieferter Nachmeldungen und Neumeldungen, besonders aus Institutionen der neuen Bundesländer. Die 1,5 Mio. Zettel der ZKA stellen einen Grundbestand des Autographenbesitzes deutscher Institutionen dar. Es ist daher völlig unmöglich, eine EDV-gestützte Autographendatenbank anzulegen, in der diese wichtigsten Bestände nicht vorkommen. Zu erwägen wäre die Möglichkeit, den Altbestand zu verfilmen und in Mikroform anzubieten. Dagegen spricht vor allem die Beschränkung des Katalogs auf die alten Bundesländer, die 16 Maschinenlesbares Austauschformat für Bibliotheken. Hrsg. in Zusammenarbeit mit dem MAB-Ausschuß im Auftr. der DFG. Frankfurt a.M., 1992.
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Die Zentralkartei der Autographen in der veränderten politischen Lage nicht vertretbar und gegen jedes Forscherinteresse wäre. Da eine Erfassung der Daten der neuen Bundesländer selbstverständlich die allernächste Aufgabe der ZKA ist und diese aus einsichtigen Gründen nur mit Hilfe der EDV erfolgen kann, wäre eine gleichzeitig nur konventionelle Möglichkeit der Nutzung der Daten aus den alten Bundesländern sicher nicht besonders sinnvoll. Die im folgenden vorgeführten Lösungsmöglichkeiten gehen deshalb davon aus, daß eine Umstellung der ZKA auf EDV nur dann sachgerecht erfolgen kann, wenn auch die vorhandenen 1,5 Mio Nachweise maschinenlesbar recherchierbar werden. Von den Möglichkeiten der Volltexterfassung im Scan-Verfahren mit eigenem Personal und der Gesamtkonvertierung durch Fremdfirma wird man absehen müssen, denn beide Verfahrensweisen haben mit einem geschätzten Kostenaufwand von ca. 4 Mio. DM z. Zt. wenig Aussicht auf Realisierung. Die Überlassung der ZKA an eine Firma zur kommerziellen Nutzung erscheint aus rechtlichen Gründen wegen der Beteiligung zu vieler Institutionen fraglich. Man könnte sich mit der Erstellung einer reinen Personendatei begnügen. Um Kosten zu sparen, liegt die Idee nahe, aus der ZKA nur die Personennamen herauszuziehen, diese mit den entsprechenden Bibliothekssigeln zu versehen und so für pauschale Anfragen gerüstet zu sein. Diese Minimalkonversion hat den Nachteil, daß es gegen die Gebote der Rationalisierung verstößt, eine Kartei durch Umstellung auf EDV in ihrem Informationsgehalt empfindlich zu beschneiden. Es dürfte auf wenig Verständnis stoßen, daß viel Geld dafür ausgegeben werden soll, schlechtere Informationen als vorher zu vermitteln, dafür aber mit Hilfe der EDV. Trotzdem sollte diese Möglichkeit als Übergangslösung nicht außer acht gelassen werden. Sie könnte vor allem dann interessant werden, wenn sich eine EDV-technische Kombination von Mikroform und Datei ermöglichen ließe, die heute wegen der gewaltigen erforderlichen Rechnerkapazitäten noch nicht zu verwirklichen ist, nämlich in der Verwaltung als Bilddatei. Sie stellt einen Kompromiß dar: Die Karteikarten der Zentralkartei werden als Bilddatei im Scan-Verfahren eingelesen und über einen Personenindex, der maschinenlesbar erstellt wird, zugänglich gemacht. Diese Lösung böte neben der Schnelligkeit in der Realisierung auch verschiedene andere Vorteile: 1. Die Daten der alten ZKA gingen nicht verloren, ihr Informationsgehalt bliebe der heutige. 2. Die als Index verwendete Personendatei ließe sich nach den Erfor199
Jutta Weber dernissen der EDV bearbeiten, erweitern und jederzeit durch zusätzliche Daten ergänzen, wie bei maschinenlesbaren Daten üblich. 3. Die erstellte Datei wäre beliebig duplizierbar. Bei Herstellung von CD-ROM, die preislich immer günstiger werden, wäre es z.B. vorstellbar, den beteiligten Institutionen ihre eigenen Daten zu überlassen. Durch Miterfassung des Bibliothekssigels wäre eine Selektierung bestimmter Bestände leicht möglich. Sie erhielten so eine immerhin über die Personennamen zugängliche Konversion ihres „Altbestandes". 4. Der maschinenlesbare Personenindex kann mit jeder anderen Datei verknüpft werden, d.h., die Zentralkartei könnte Neuaufnahmen, Nachmeldungen, die maschinenlesbar im Datenaustauschformat eintreffen, mit dem Personenindex verbinden. Im Falle der neuen Daten erfolgte die Verknüpfung mit der Datenbank, im Falle der alten Daten würden die der Person zugeordneten Bilder der entsprechenden Katalogzettel aufgerufen. 5. Da der Informationsgehalt der Karteikarten nicht verloren ginge, könnte nach und nach auch diese Bilddatei in voll maschinenlesbaren Text umgewandelt werden, der dann das Bild der Karteikarte überflüssig macht. Benötigt wird für dieses Verfahren ein äußerst leistungsfähiger Rechner. Die Realisierung ist also auch hier eine Frage der finanziellen Möglichkeiten. Grundsätzlich muß jede maschinenlesbare Erfassung der alten ZKA vorher mit allen liefernden Institutionen abgesprochen werden, da es nicht sinnvoll wäre, doppelte Arbeit zu investieren. Wer vor Ort seine Altdaten retrospektiv erfaßt, dessen Daten sollten bei uns nicht noch einmal maschinell bearbeitet werden. Mit den anderen Institutionen müssen die Modalitäten der Erfassung genau abgesprochen werden, damit diese später ihre eigenen Stücke noch wiedererkennen.
Personennamendatei Die wichtigste Frage bei der maschinenlesbaren Verwaltung einer Datei, die mit Personennamen arbeitet, ist die regelgerechte Verwaltung dieser Personennamen. Für die Ansetzung mittelalterlicher Namen wurde mit den RAK-PMA (Personennamen des Mittelalters) ein Namensschlüssel erarbeitet, nach dem sich die Katalogisierung mittelalterlicher Bestände zu richten hat. Für Personennamen der Antike wird z.Zt. ein ähnliches Nachschlagewerk - RAK-PAN - erarbeitet. 200
Die Zentralkartei der Autographen Daß eine Normdatei, die auch zeitgenössische Personennamen enthalten soll, ein unvergleichlich komplizierteres und vor allem umfangreicheres Unternehmen sein wird, liegt auf der Hand. Eine Normierung an zentraler Stelle ist dabei weniger aufwendig als das Normieren vor Ort, auch liegen in der ZKA ihrer Anlage nach die Informationen zu Personennamen gesammelt vor. Das Regelwerk „RNA" sieht für die Ermittlung der Ansetzungsformen von Personennamen komplizierte Recherchen vor, die von vielen Bibliotheken möglicherweise nicht zu erbringen sind. Um diesem Dilemma vorzubeugen, scheint die Teilnahme an der Personennamendatei (PND)1' ein geeignetes Mittel. Der reiche Fundus an Personennamen in der ZKA könnte dann auch von der PND selbst genutzt werden. Im Bereich der Autographen- und Nachlaßkatalogisierung ist die für die Identifizierung einer Person nötige Ermittlung von Lebensdaten oder Berufs- bzw. Standesangaben oder Informationen über Familienzugehörigkeit aus einsichtigen Gründen immer schon üblich gewesen. Und gerade die Zentralkartei, die alle diese Informationen aus den verschiedensten Institutionen und Quellen zusammenführt, könnte Daten zur Verfügung stellen wie sonst wohl kein biographisches Nachschlagewerk. Die Daten, die bisher durch die ZKA vermittelt werden konnten, gingen von der Recherche unter Personennamen aus. Dieser Sucheinstieg ist EDV-technisch gesehen eine Minimallösung. Trotzdem wird er auch in Zukunft der meistgenutzte sein. Die Erweiterung der Suchmöglichkeiten zu Personen ist daher ein ganz besonderes Desiderat. Für die Recherche in anderen Kategorien sind alle Möglichkeiten gegeben. Die Zentralkartei ist heute nur in der SBB zu nutzen. Eine EDV-technische Verbreitung der Daten würde den Nutzerkreis der Zentralkartei wesentlich erweitern. Dies wäre vor allem dann der Fall, wenn innerhalb der Edlgemeinen Bibliotheksverbundkataloge den Benutzern Monographien und Handschriftliches der Autoren zugleich an einer Stelle angeboten würden. Wir stehen ganz am Anfang der maschinellen Datenvermittlung in diesem Bereich: Man muß sich darauf einstellen, mit einer Technik zu arbeiten, die für eine große Benutzerzahl die Vermittlung von Massen von Daten übernimmt. In diesem Zusammenhang wird die Frage immer wie-
17 Es handelt sich um ein Segment des o.g. MAB-Formates (vgl. Anmerkung 16), das in seinem neuesten Entwurf vom März 1992 alle zur individuellen Kennung einer Person benötigten Datenangaben ermöglicht. Die endgültige Fassung dieses Formates ist z. Zt. Gegenstand vielfältiger Überlegungen der zuständigen Gremien.
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Jutta Weber der gestellt, ob der Umgang mit Autographen nur einer ausgewiesenen Minderheit zu gestatten sei. Es wird moniert, daß durch Einrichtungen wie die Zentralkartei zu vielen Forschern zu viele Daten vermittelt werden. Ich meine, daß die Argumentation an der Forschungssituation vorbeigeht: Die Zahlen der Studenten nehmen weiter zu, das Interesse an historischer Forschung in allen Fachgebieten steigt. Die Zeiten der wenigen Erwählten sind vorbei; unsere übervollen Handschriftenlesesäle legen davon Zeugnis ab, und die Erfahrungen in der Zentralkartei bestätigen dies nur zu sehr. Von uns sollten alle Möglichkeiten der Technik genutzt werden. Je besser ein Autograph beschrieben ist, je besser die Suchmöglichkeiten auch zu seinem Inhalt sind und je größer die Verbreitung dieser Beschreibung ist, desto sicherer wird das Original vor unsachgemäßer Benutzung sein. Die Zentralkartei als Datenbank eingesetzt und an möglichst vielen Orten zugänglich gemacht, wäre in diesem Sinne eine sowohl der Forschung als auch den Verwaltern des Autographenbesitzes unendlich hilfreiche Einrichtung.
ANHANG Zentralkartei der Autographen: Teilnehmende Institutionen Aschaffenburg Augsburg Bamberg Berlin Berlin Berlin Berlin Berlin Berlin Berlin Berlin Berlin 202
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Die Zentralkartei der Autographen Berlin Bielefeld Bochum Bonn Bonn Braunschweig Bremen Bremen Bückeburg Celle Coburg Coburg Darmstadt Detmold Detmold Donaueschingen Dortmund Düren Düsseldorf Düsseldorf Düsseldorf Düsseldorf E ri angen-Nürnberg Eutin Frankfurt a.M. Frankfurt a.M. Frankfurt a.M. Frankfurt a.M. Frankfurt a.M. Frankfurt a.M. Freiburg i.Br. Gießen Göttingen Hamburg Hamburg Hamburg Hannover Hannover
Theaterhistorische Sammlung Walter Unruh Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Stadtarchiv Stadtarchiv und Wissenschaftliche Stadtbibliothek Universitätsbibliothek Stadtarchiv Staatsarchiv Universitätsbibliothek Staatsarchiv Bibliothek des Oberlandesgerichts Kunstsammlung der Veste Coburg Landesbibliothek Hessische Landes- und Hochschulbibliothek Landesbibliothek Staatsarchiv Fürstlich Fürstenbergische Hofbibliothek Stadt- und Landesbibliothek Stadtarchiv Dumont-Lindemann-Archiv Goethe-Museum Heinrich-Heine-Institut Stadtarchiv Universitätsbibliothek Kreisbibliothek Bibliothek des Freien Deutschen Hochstifts Bibliothek des Städelschen Kunstinstituts Bibliothek und Museum der Deutschen Bundespost Deutsche Bibliothek Senckenbergische Bibliothek Stadt- und Universitätsbibliothek Universitätsbibliothek Universitätsbibliothek Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Bibliothek des Zentrums für Theaterforschung Kunsthalle Staats- und Universitätsbibliothek Landesbibliothek Stadtarchiv 203
Jutta Weber Hannover Heidelberg Helmstedt Karlsruhe Karlsruhe Kassel Kassel Kassel Kiel Kiel Köln Köln Köln Lörrach Lübeck Ludwigshafen Mainz Mannheim Mannheim Marbach a.N. Marburg München München München München Münster Münster Nürnberg Nürnberg Nürnberg Pirmasens Speyer Stuttgart Trier Tübingen Tübingen Wetzlar Wiesbaden 204
Stadtbibliothek Universitätsbibliothek ehem. Universitätsbibliothek Landesbibliothek Stadtbibliothek Gesamthochschul-Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek Brüder Grimm-Museum Stadtarchiv Universität, Institut für Literaturwissenschaft Landesbibliothek Theatermuseum Universitäts- und Stadtbibliothek Westdeutscher Rundfunk, Historisches Archiv Museum am Burghof Bibliothek der Hansestadt Stadtbibliothek Universitätsbibliothek Bibliothek des Städtischen Reiß-Museums Universitätsbibliothek Deutsches Literaturarchiv Universitätsbibliothek Bayerische Staatsbibliothek Bibliothek des Deutschen Museums Stadtbibliothek Universitätsbibliothek Universität, Institut für Publizistik Universitätsbibliothek German ohes Nationalmuseum Stadtarr : iv Stadtbili ; 'Othek Stadtbü : erei Landes!;: bliothek Württem ergische Landesbibliothek Stadtbib ; ι othek-Stadtarchiv Biblioth' ; des Evangelischen Stifts Uni vers ι atsbibliothek Städtisch es Museum Landes! ι : 1 iliothek
Die Zentralkartei der Autographen Wiesbaden Wolfenbüttel Wolfenbüttel Wuppertal Würzburg
Städtisches Museum, Gemäldegalerie Herzog August Bibliothek Niedersächsisches Staatsarchiv Stadtbibliothek Universitätsbibliothek
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Gerhard
Schmid
Erschließungsverfahren im Literaturarchiv aus archivarischer Sicht. Ordnimg, Verzeichnimg und Inventarisierung im Weimarer Goethe- und Schiller-Archiv Grundsätzliche Überlegungen Die eigentlich archivische Aufgabe besteht auch im Literaturarchiv - wie in allen Archiven - in der Erwerbung von Beständen, in ihrer Sicherung und Erhaltung, ihrer Erschließung und ihrer Nutzung - sei es durch Auskunftstätigkeit und Benutzerberatung, sei es durch eigene Quellenforschungen und Editionen. Weitergehende Aufgaben tragen teils bibliothekarischen, teils literaturwissenschaftlichen Charakter1. Solche Aufgaben können institutionell und organisatorisch in unterschiedlicher Weise mit einem Literaturarchiv verbunden sein, bilden aber keinen essentiellen Bestandteil seiner Aufgaben. Es wäre verfehlt, sie in den Vordergrund zu rücken, um eine zusätzliche „Legitimation" oder eine neue „Identität" zu finden. Die Literaturarchive sind vollauf „legitimiert" durch ihre Verantwortung für Archivgut persönlicher Herkunft aus Literatur, Wissenschaft und Kunst, und im Mittelpunkt ihrer Tätigkeit muß stets die Sicherung und Erschließung der Bestände stehen. Für die Literaturarchive besitzt daher die Diskussion über Grundsätze und Methoden der Erschließung von Nachlässen oder Persönlichen Archiven2 entscheidende Bedeutung. Diese Diskussion leidet teilweise bis heute an einer vorschnellen Einengung des Gesichtskreises auf literarische Nachlässe und beschränkt sich zudem weitgehend auf die Probleme der Uberlieferung des literarischen Werks. Damit hängt zusammen, daß für die Erschließung vorwiegend Grundsätze und Methoden der bibliothekarischen Katalogisierung herangezogen worden sind. Literarische Nachlässe bilden aber nur einen Tteil der Nachlaßüberlieferung, auch wenn man
1 Vgl. etwa die von Christoph König im vorliegenden Band S. 42 zitierte Aufzählung von Minor; s. Jacob Minor: Centralanstalten für die literaturgeschichtlichen Hilfsarbeiten. In: Euphorion 1, 1894, S. 20. 2 Im folgenden wird der TVadition halber von Nachlässen gesprochen, obwohl der Tterminus Persönliches Archiv den Gegenstand zutreffender bezeichnet.
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Gerhard Schmid den Bereich des „Literarischen" weit faßt und Gelehrtennachlässe aller Art mit einbezieht. Den meist in Archiven verwahrten Nachlässen von Fürstlichkeiten und Staatsmännern, von Politikern und leitenden Beamten, von Unternehmern und Gewerkschaftlern kommt in qualitativer Hinsicht wie im Hinblick auf den Umfang dieser Uberlieferung mindestens die gleiche Bedeutung zu. Daneben sind etwa die Nachlässe bildender und anderer Künstler zu nennen, deren Werk sich nicht im Medium der Schrift manifestiert. Grundsätzliche Erörterungen über Nachlässe und ihre Erschließung sollten deshalb nicht vom Besonderen der literarischen Nachlässe ausgehen, sondern zunächst die allgemeinen, für alle Nachlässe gültigen Merkmale herausarbeiten. Fortschritte in dieser Richtung hat die Diskussion über Nachlässe seit den 50er/60er Jahren gebracht, auch wenn sie nicht eigentlich zu einem Abschluß gebracht wurde. Die archivarische Position fand ihren Niederschlag in einer Reihe grundlegender Publikationen, denen von bibliothekarischer Seite - meist aus dem eingeengten Blickwinkel des literarischen Nachlasses - widersprochen wurde.3 Jenseits der dabei übermäßig in den Vordergrund getretenen Kontroversen über die Zugehörigkeit der Nachlässe zum Bibliotheks- oder Archivgut hat diese Diskussion zumindest den Konsens darüber bekräftigt (oder zu Tteilen erst bewirkt), daß Nachlässe „nach dem Provenienzprinzip als geschlossene Bestände aufgestellt werden", wie es in den „Richtlinien Handschriftenkatalogisierung" heißt.4 Das Provenienzprinzip ist, archivgeschichtlich betrachtet, zunächst aus rein praktischen Gründen eingeführt worden. Es trug den Charakter einer „Notbremse", die angesichts der Unmöglichkeit, die auf die Archive zuströmenden Massen neuzeitlicher Aktenbestände einer wie immer gearteten Umordnung zu unterwerfen, gezogen wurde. Theoretisch reflektiert, erweist sich das Provenienzprinzip aber als das grundlegende, für die Ordnung archivischer Uberlieferung angemessene Strukturprinzip schlechthin. Denn für diese Überlieferung ist charakteristisch 3 Vgl. Willy Flach: Literaturarchive. - In: Archivmitteilungen 5, 1955, H. 4., S. 4-10. Heinrich Otto Meisner: Archive, Bibliotheken, Literaturarchive. - In: Archivalische Zeitschrift 50/51, 1955, S. 167-183. - Wilhelm Hoffmann: Bibliothek, Archiv, Literaturarchiv. - In: Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie 4, 1957, S. 23-34. - Heinrich Otto Meisner: Privatarchivalien und Privatarchive. - In: Archivalische Zeitschrift 55, 1959, S. 117-127. - Hans Lülfing: Autographensammlungen und Nachlässe als Quellen historischer Forschung. - In: Archivmitteilungen 12, 1962, S. 80-87. - Hans-Erich Teitge: Literarische Nachlässe. - In: Zentralblatt für Bibliothekswesen 86, 1972, S. 131152. - Johannes Rogalla von Bieberstein: Zum Sammeln und Erschließen von Nachlässen. - In: Der Archivar 38, 1985, Sp. 307-316.
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Erschließungsverfahren
im Literaturarchiv
- ihre Entstehung als dokumentarischer Niederschlag der Tätigkeit von Institutionen und Personen auf unterschiedlichen Gebieten des öffentlichen und privaten Lebens, bei der Verfolgung unterschiedlicher Ziele, Aufgaben und Interessen; - ihre Funktion als internes Arbeitsinstrument und Gedächtnisstütze für die Fortführung dieser Tätigkeit; - ihr Funktionswandel zur historischen Quelle, wenn sie die interne Funktion für die dokumentierende Institution oder Person verloren hat und sofern sie wegen deren Bedeutung und/oder der enthaltenen Aussagen historischen Quellenwert besitzt. Auf diesen Merkmalen beruht die grundsätzliche Bedeutung des Provenienzprinzips: Der Quellenwert archivischer Uberlieferung ist im wesentlichen abzuleiten aus ihrem Entstehungszusammenhang, ihrer Beziehung auf die dokumentierende Institution oder Person. Archivische Überlieferung kann nur dann richtig und vollständig erschlossen werden, wenn diese Beziehung (bildlich ausgedrückt: die „Vertikalbindung" der Überlieferung) und der durch die gemeinsame Provenienz bestimmte innere Zusammenhang (die „Horizontalbindung") zugrunde gelegt und sichtbar gemacht wird. Die Anwendung des Provenienzprinzips auf Nachlässe bedeutet, daß sie - zumindest in praxi - als archivische Überlieferung, als in sich zusammenhängender dokumentarischer Niederschlag einer wie immer gearteten und gerichteten Tätigkeit von Personen verstanden werden. Das gilt auch für literarische Nachlässe. Literarische Tätigkeit als eine auf Veröffentlichung von Werken/Ifexten gerichtete Aktivität ist insofern nur ein Speziflkum, das im grundsätzlichen um so weniger eine isolierte Betrachtungs- und Verfahrensweise rechtfertigt, als auch literarische Nachlässe keineswegs nur die literarische Tätigkeit des Nachlassers 5 dokumentieren. 4 Richtlinien Handschriftenkatalogisierung. 5., erw. Aufl. Deutsche Forschungsgemeinschaft, Unterausschuß für Handschriftenkatalogisierung. Bonn-Bad Godesberg 1992. S. 43. - Bei einer Weiterführung der Diskussion sollte beachtet werden, daß es sich bei der Zuordnung der Nachlässe zum Bibliotheks- oder Archivgut nicht um eine Frage des Besitzstandes" oder der praktischen Arbeitsgebiete handelt, sondern um eine theoretische Grundsatzfrage, von deren Beantwortung die angemessenen Erschließungsverfahren abhängig sind. Es wäre undurchführbar und unsinnig, gegebene Eigentumsverhältnisse „umzuschichten", und es kann auch nicht darum gehen, den Bibliotheken das „Recht" zur Erwerbung von Nachlässen streitig zu machen - ganz abgesehen von der Tatsache, daß die Eigentümer eines Nachlasses völlige Verfügungsfreiheit besitzen. 5 Mangels eines besseren Tterminus wird im folgenden mit diesem „Kunstwort" gearbeitet, um umständliche Umschreibungen zu vermeiden.
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Gerhard Schmid Das archiuische Erschließungssystem
im Goethe- und Schiller-Archiv
Die Erschließung der Bestände des Goethe- und Schiller-Archivs begann auf Grund besonderer, durch die Geschichte des Archivs bedingter Umstände erst in den 50er Jahren, fast 70 Jahre nach seiner Gründung.6 Sie wurde von Anfang an von archivarisch ausgebildeten Mitarbeitern getragen und erfolgte demgemäß auf der Grundlage des Provenienzprinzips wie auch insgesamt unter Anwendung archivischer Ordnungs- und Verzeichnungsgrundsätze. Um den Besonderheiten gerecht zu werden, die im einzelnen bei der Bearbeitung literarischer Nachlässe gegeben sind, wurden spezielle Regeln festgelegt, die nach längerer Erprobung in den „Ordnungs- und Verzeichnungsgrundsätzen des Goethe- und Schiller-Archivs" von 1976 Niederschlag fanden.7 Den Kern des auf dieser Grundlage aufgebauten Erschließungssystems des Goethe- und Schiller-Archivs bildet das Findbuch, das getrennt für jede Provenienz, für jeden Nachlaß hergestellt wird. Seine Aufgabe ist es, die provenienzmäßig gewachsenen Zusammenhänge in einer übersichtlichen Ordnung sichtbar zu machen und sie mit den Mitteln der Verzeichnung angemessen zum Ausdruck zu bringen. Im Vordergrund der Erschließung steht also nicht die einzelne „Handschrift" oder das „Autograph" _ Bezeichnungen, die in der Archivwissenschaft und -terminologie sinnlos sind und keinen Platz haben8 - , sondern jeweils der gesamte Nachlaß in seinem Zusammenhang. Für das einzelne Archivale beschränkt sich die Verzeichnung dabei auf diejenigen Angaben, die zur eindeutigen Information und Identifikation benötigt werden. So wird in der Regel auf Angaben 6
Vgl. Gerhard Schmid: 100 Jahre Goethe- und Schiller-Archiv. - In: Goethe-Jahrbuch, 120 (Weimar 1985). S. 257, 260f. 7 Goethe- und Schiller-Archiv. Ordnungs- und Verzeichnungsgrundsätze. Erarb. von Gerhard Schmid unter Mitw. von Anneliese Clauß und Eva Beck. Weimar 1976 (als Manuskript gedruckt). Soeben veröffentl. in: Bestandserschließung im Literaturarchiv. Arbeitegrundsätze des Goethe- und Schiller-Archivs in Weimar. Hrsg. von Gerhard Schmid. S. 17-132. (München [u.a.] 1996. „Literatur und Archiv", 7) 8 Der Terminus „Handschrift" hat dort seinen Sinn, wo es um die Unterscheidung von „Handschrift" und „Druckschrift" geht. Im Archiv, wo im Prinzip alles „Handschrift" ist, wird er zu diesem Zweck nicht benötigt; und um das einzelne Stück zu bezeichnen, spricht man hier präziser von „Schriftstück" oder .Archívale". - Auch der Terminus .Autograph" bezeichnet eine Eigenschaft, die im Archiv selbstverständlich ist: Jedes Archivale ist ein .Autograph" seines Schreibers (sofern es nicht in moderner Zeit mit technischen Mitteln hergestellt ist). Denkt man aber an die Urheberschaft eines bedeutenden Autors - , so steht hinter dem .Autograph" gerade die unarchivische, einseitige Betrachtungsweise unter dem Aspekt des Verfassers oder Schreibers, die in der Vergangenheit so verhängnisvoll zur Zerstörung zahlreicher Provenienzen geführt hat.
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Erschließungsverfahren im Literaturarchiv zum Format und zur äußeren Überlieferungsform (z.B. Heft, Mappe, Band) verzichtet. Für die einzelnen Teile des Nachlasses - Werkmanuskripte, Briefe, Tagebücher, persönliche Akten usw. - gibt es spezielle Regeln. Die Verzeichnungsangaben unterscheiden sich dadurch in nicht wenigen Punkten von der bibliothekarischen Einheitsaufnahme, die - da ihr Gegenstand das literarische Werk ist - den unterschiedlichen Gegebenheiten bei den vielfältigen anderen Nachlaßteilen nicht gerecht werden kann. Als sekundäres Hilfsmittel ist im Goethe- und Schiller-Archiv ein bestandsübergreifendes Briefregister geschaffen worden. Es ermöglicht einen unmittelbaren Zugriff, wenn Briefe eines bestimmten Absenders gesucht werden. In den Nachlässen der Empfänger überliefert, wären diese in den einzelnen Findbüchern nur mit erheblichem Aufwand und nie mit völliger Sicherheit zu ermitteln. Das Goethe- und Schiller-Archiv hat in diesem Falle also die Findbücher durch ein nach Verfasserprinzip angelegtes, „bibliothekarisches" Hilfsmittel ergänzt, wobei - als Umkehrung gleichzeitig ein Empfangerregister angelegt wurde. Geplant war auch ein Register für alle nicht im Nachlaß des Autors überlieferten Werkmanuskripte und Tagebücher; es wird aber nicht mehr erforderlich sein, wenn die Archivhilfsmittel generell in eine Datenbank eingespeichert werden. Den Abschluß der archivischen Erschließungsarbeiten im Goethe- und Schiller-Archiv sollen die Inventare bilden (wobei dieser Iferminus im archivwissenschaftlichen, nicht im museologischen Sinne verstanden wird: als Hilfsmittel der intensiven, vertieften Erschließung, nicht als verwaltungsmäßiger Zugangsnachweis). Gegenstand ist auch in diesem Falle der einzelne Nachlaß als provenienzmäßige Einheit. Während das Findbuch jedoch als archivinternes Hilfsmittel dient und in seiner Eigenschaft als „Lagerbuch" einen gleichbleibenden Standard von Verzeichnungsangaben erfordert, ist das Inventar zur Veröffentlichung bestimmt und kann je nach Bedeutung und Quellenwert der einzelnen Nachlässe bzw. Nachlaßteile summarischer als das Findbuch verfahren oder intensivere Informationen geben. Seine Aufgabe ist es, den jeweiligen Nachlaß so eingehend zu beschreiben, daß das Interesse potentieller Nutzer mit Sicherheit angesprochen wird und sie ohne weitere Nachforschungen oder Anfragen erkennen können, welche Quellen zu den von ihnen bearbeiteten Themen vorhanden sind. Das Inventar stellt dabei insofern eine Verbindung von Elementen des Findbuchs und des Briefregisters dar, als es - mit der Methode der sogenannten Zweitverzeichnung - alle Briefe und sonstigen „Autographen" des jeweiligen Nachlassers mit erfaßt, die sich in 211
Gerhard Schmid anderen Beständen des Archivs befinden. Als erstes Inventar ist 1989 das „Inventar des Schillerbestandes" erschienen, das gewissermaßen das „Pilotprojekt" des Vorhabens bildete.9 Als Information über den Gesamtbestand eines Archivs sind im Archivwesen seit langem Bestandsübersichten unterschiedlicher Intensität üblich. Das Goethe- und Schiller-Archiv hat 1961 eine erste Übersicht dieser Art in einem Band veröffentlicht;10 eine Neubearbeitung ist dringend erforderlich, übersteigt aber gegenwärtig die Kräfte. Eine soeben erschienene kleine Informationsschrift über das Archiv kann lediglich eine Liste der Bestände mit Angaben über die enthaltenen Nachlaßteile, den Umfang und Zeitraum bieten.11
Einzelne Probleme der Ordnung und Verzeichnung Bei der findbuchmäßigen, provenienzgerechten Ordnung und Verzeichnung von Nachlässen ergeben sich eine Reihe von Problemen, die dem Archivar grundsätzlich vertraut sind, bei persönlichen Archiven aber häufiger und in spezieller Ausprägung auftreten und spezielle Lösungen erfordern.12 Im Goethe- und Schiller-Archiv war und ist dies in besonderem Maße im Bereich der Bestandsbildung der Fall, d.h. bei der provenienzmäßigen Zuordnung der Archivalien zu den Beständen und bei der Abgrenzung der einzelnen Nachlässe voneinander. Das Grundprinzip ist hier zunächst ganz einfach: Zum schriftlichen Nachlaß einer Person gehört das gesamte Schriftgut, das von ihr im Laufe des Lebens angesammelt und aufbewahrt und bei ihr nach dem Tbde vorgefunden wurde - nicht mehr und nicht weniger. Da die Mehrzahl der Bestände aber erst Jahrzehnte nach dem 9
Inventare des Goethe- und Schiller-Archivs. Bd. 1. Schillerbestand. Redaktor: Gerhard Schmid. Weimar 1989. - Vgl. insbesondere das Vorwort (S. 9-12) und die Darstellung von Grundsätzen und Verfahren der Inventarisierung (S. 25-38). Die letzteren jetzt auch in: Bestandserschließung im Literaturarchiv ... (s. Anm. 7), S. 133-169. 10 Goethe- und Schiller-Archiv. Bestandsverzeichnis. Bearb. von Karl-Heinz Hahn. 1961. 11 Stiftung Weimarer Klassik. Goethe- und Schiller-Archiv. Weimar o.J. (1993). 12 Vgl. Gerhard Schmid: Archivische Erschließung literarischer Nachlässe. - In: Archivmitteilungen 27, 1977, S. 123-130. - Vgl. dazu aus bibliothekarischer Sicht: Karl Dachs: Erschließung von Nachlässen unter Verwendung bibliothekarischer und archivarischer Methoden. - In: Bibliotheksforum Bayern 10, 1982, S. 3-24. - Sigrid von Moisy: Aufstellung und Signierung von Nachlässen und Autographen. - In: Bibliotheksforum Bayern 10, 1982, S. 25-41.
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Erschließungsverfahren im Literaturarchiv Tode des Nachlassers in das - 1885 gegründete - Archiv übergeben wurden, lagen sie in der Regel nicht mehr im ursprünglichen Umfang und Überlieferungszusammenhang vor. Von vielen in der Hand der Erben aufgeteilten und dann zerstreuten Nachlässen waren nur kleine Tfeile oder Reste ins Archiv gelangt. Andererseits hatten pietätvolle Erben oder wissenschaftliche Herausgeber nicht selten einen Nachlaß „angereichert", indem sie Briefe des Nachlassers und von ihm weggegebene Manuskripte von den Empfängern zurückerwarben und gesammelte Materialien über ihn zufügten. Nicht selten erwiesen sich übernommene Bestände als Uberlieferungsgeflecht, in dem Nachlässe mehrerer Personen vermischt waren. In allen diesen Fällen gaben Erfahrungen in anderen Bereichen des Archivwesens, bei Beständen institutioneller Herkunft, geeignete Methoden des Vorgehens an die Hand; und vor allem war der Grundsatz zu übernehmen, daß das Provenienzprinzip nicht als starre, unverrückbare Regel anzuwenden ist, sondern - aus dem richtigen Verständnis seiner Wurzeln und seiner Funktion heraus - je nach den konkreten Gegebenheiten flexibel und differenziert gehandhabt werden muß. In der Praxis hatte sich dieser Grundsatz insbesondere bei kleinen Nachlaßresten zu bewähren. Die hier zuweilen auftretende Frage, wie groß eine Überlieferung denn sein muß oder wie klein sie sein darf, um provenienzgemäß als eigener Bestand konstituiert zu werden, ist falsch gestellt, sofern sie auf eine rein quantitative Bestimmung zielt. Es ist vielmehr auch zu analysieren, ob und wieweit der Wert der fraglichen Archivalien tatsächlich durch ihre Herkunft vom Nachlasser und ihren inneren Zusammenhang, also durch ihre Provenienz, bestimmt ist. Bei zerstreuten Einzelstücken ist diese Frage in der Regel ebenso zu verneinen wie bei Einzelbriefen bedeutender Absender an Personen von geringem Interesse. Für diese Fälle , in denen man archivwissenschaftlich von unerheblicher Provenienz spricht,13 wurde im Goethe- und Schiller-Archiv eine nach dem Verfasserprinzip geordnete Autographensammlung eingerichtet.14 Archivalien unerheblicher Provenienz, von deren Verfasser bzw. Absender im Archiv ein Nachlaß vorliegt, werden allerdings nicht der Autographensammlung zugeordnet, sondern als Anreicherung in diesen 13 Vgl. Ordnungs- und Verzeichnungsgrundsätze für die staatlichen Archive der DDR (OVG). Hrsg. von der Staatlichen Archiwerwaltung der DDR. Potsdam 1964: § 56. Goethe- und Schiller-Archiv. Ordnungs- und Verzeichnungsgrundsätze (s. Anm. 7): §§ 12, 14-17, 42-43. 14 Der Terminus wurde hier verwandt, weil diese Sammlung in der Tat nach dem,Autographenprinzip", d.h. nach den Namen der Verfasser oder Schreiber geordnet ist.
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Gerhard Schmid Nachlaß eingefügt. Das vielfach schon vor der Übernahme ins Archiv angewandte Anreicherungsverfahren wird damit ausdrücklich legitimiert und findet eine bewußte archivische Fortsetzung. Es erweist sich als zweckmäßige Lösung für die bestandsmäßige Zuordnung von verstreuten Einzelstücken, unter der Voraussetzung, daß ein Bestand der jeweiligen Provenienz im Archiv nicht vorliegt.15 Auch für Nachlaßverflechtungen unterschiedlicher Art, für in Nachlässen „versteckte" Uberlieferungen anderer Personen, lassen sich aus dem Vergleich mit den Erfahrungen bei Beständen institutioneller Herkunft sinnvolle Lösungen ableiten. Wenn ein Nachlaß von einem „Nachfolger" benutzt worden ist, wenn dieser, wie es etwa bei Gelehrtennachlässen bis ins 19. Jahrhundert zu beobachten ist, Manuskripte des „Vorgängers" für eigene Arbeiten be- und verarbeitet hat, kann und wird man die in solcher Weise verschmolzenen Nachlässe nicht trennen; der Archivar kennt vergleichbare Fälle bei Vorgängerakten, die von einer Nachfolgebehörde weitergeführt worden sind.16 Hat der spätere Besitzer eines Nachlasses dagegen lediglich eine Art ,Archivfunktion" zum Zwecke der Sicherung und Erhaltung des Bestandes ausgeübt oder hat er diesen nur als Herausgeber von Werken oder Briefen des Nachlassers genutzt, ohne in die überlieferte Substanz einzugreifen, so wird in der Regel eine Trennung und Herauslösung möglich, ja angezeigt sein. Wenn eine archivische Erschließung in Form von Findbüchern im Mittelpunkt steht, kommt natürlich auch der inneren Ordnung der einzelnen provenienzgemäß gebildeten und abgegrenzten Nachlässe und dem Platz des einzelnen Archivale in dieser Ordnung erhebliche Bedeutung zu. Im Vergleich mit Archivbeständen institutioneller Herkunft besteht die Schwierigkeit vor allem darin, daß Nachlässe keine durchgehende, in sich abgestimmte Ordnung von Seiten des Nachlassers aufweisen. Der Bearbeiter muß also versuchen, den gewachsenen Zusammenhang des Bestandes in einem übersichtlichen, u.U. mehrstufig gegliederten Ordnungssystem 15 Die im Goethe- und Schiller-Archiv verwahrten Nachlässe tragen fast durchweg den Charakter angereicherter Bestände, und die Anreicherungen sind im Ergebnis verschlungener Irr- und Umwege der Überlieferung so zahlreich, daß es sich durchweg als unzweckmäßig erwies - in nicht wenigen Fällen wäre es praktisch undurchführbar gewesen - , sie als Anhang an den provenienzmäßig gebildeten Bestand zu behandeln oder zumindest gesondert auszuweisen. Sie sind in der Regel an der jeweils entsprechenden Stelle des Ordnungssystems in den Bestand eingefügt; vom Nachlasser ausgegangene Briefe also z.B. bei den provenienzgemäß zum Nachlaß gehörigen Konzepten ausgegangener Briefe. 16 Vgl. OVG (s. Anm. 13) § 50.
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Erschließungsverfahren im Literaturarchiv sichtbar zu machen. Dafür sind verschiedene Modelle entwickelt worden17, die sich hauptsächlich in der Abfolge der einzelnen Ordnungsgruppen unterscheiden. Auch in den Ordnungs- und Verzeichnungsgrundsätzen des Goethe- und Schiller-Archivs sind entsprechende Prinzipien für die Bestandsordnung festgelegt. Die Erfahrungen bei ihrer Anwendung lassen sich in folgenden Punkten zusammenfassen: 1. Keine überlieferte Ordnung ist einfach übernehmbar, keine erfaßt den ganzen Nachlaß. Eingriffe und Umordnungen sind also unvermeidlich und prinzipiell berechtigt. 2. Andererseits ist kein überlieferter Nachlaß ohne Ordnung; den „völlig ungeordneten" Bestand gibt es nicht. In der Regel treten uns mindestens kleine „Ordnungszellen" oder „Ordnungsinseln" entgegen, häufig in Form von Schriftvorgängen, in denen wir unterschiedliche Arten von Schriftstücken nach inhaltlichen oder funktionalen Gesichtspunkten zusammengefaßt finden. Für den Archivar sind solche Vorgänge aus der Entstehung der deutschen Sachaktenregistratur im 17./18. Jahrhundert völlig vertraut und mit entsprechenden Verzeichnungsmethoden leicht erfaßbar, während sie sich den bibliothekarischen Katalogisierungsverfahren weitgehend entziehen. 3. Die vorgeschlagenen Ordnungsmodelle sind alle diskutabel; über ihre Unterschiede, die meist durch Erfahrungen mit unterschiedlichen Gegebenheiten der Nachlaßüberlieferung bedingt sind, ist wenig zu streiten. Sie sind jedoch differenziert und sensibel anzuwenden; der Bearbeiter muß konkret von der Zusammensetzung des vorliegenden Nachlasses und den überlieferten Ordnungsansätzen ausgehen und darf weder in der Abfolge der Ordnungsgruppen noch in ihrer gegenseitigen Abgrenzung „dogmatisch" verfahren. Eine mechanische Handhabung könnte sich gerade für die kleinen „Ordnungsinseln" gefährlich auswirken. Alle in Theorie und Praxis diskutierten Modelle sehen z.B. getrennte Gruppen für Werkmanuskripte, Briefe, Notizen usw. vor und verleiten damit zu einer vorschnellen Auflösung der überlieferten „Ordnungszellen", sofern diese eine abweichende Struktur aufweisen. Aber auch und erst recht bei größeren 17 Vgl. Hermann Schreyer: Die Gliederung von Nachlässen. Ein Beitrag über Ordnungsarbeiten an Nachlaß-Schriftgut. - In: Archivmitteilungen 12,1962, S. 14-20. - Goethe- und Schiller-Archiv, Ordnungs- und Verzeichnungsgrundsätze (s. Anm. 7) §§ 55-97. - Karl Dachs: Erschließung von Nachlässen unter Verwendung bibliothekarischer und archivarischer Methoden (s. Anm. 12). - Ingrid Kussmaul: Die Nachlässe und Sammlungen des Deutschen Literaturarchivs Marbach am Neckar. Ein Verzeichnis. Marbach 1983. S. XXVII-XXX.
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Gerhard Schmid überlieferten Ordnungsstrukturen sind Eingriffe zugunsten eines von außen herangetragenen Modells abzulehnen. Briefe finden sich z.B. häufig in einer Ordnung vor, bei der unter dem Namen des jeweiligen Korrespondenzpartners die Ein- und Ausgänge zusammengelegt sind oder die gesamte Korrespondenz rein chronologisch bzw. nur innerhalb der Jahrgangsfolge alphabetisch geordnet ist. Es wäre verfehlt, ein solches System zu zerstören und die in fast allen Ordnungsmodellen empfohlene, durchgehend alphabetische Ordnung mit Trennung der eingegangenen und ausgegangenen Briefe einzuführen. Hier empfiehlt sich stattdessen das bereits genannte Verfahren der Zweitverzeichnung: Die überlieferte Ordnung wird lagerungsmäßig beibehalten undfindbuchmäßignachgewiesen, während dem für die meisten Forschungsinteressen relevanten Anliegen eines unmittelbaren Zugriffs über die alphabetische Ordnung durch eine zusätzliche Verzeichnung entsprochen wird.18 Die Zweitverzeichnung stellt generell den Ausweg dar, wenn im Rahmen eines Ordnungssystems Unstimmigkeiten auftreten. Solche Unstimmigkeiten sind in jedem Falle „vorprogrammiert", da selbst das beste denkbare Ordnungsmodell nicht die Möglichkeit bietet, einen vollständigen Nachlaß nach einheitlichen Gliederungsgesichtspunkten in einem durchgehenden System zu erfassen. Das hat einen einfachen Grund: Die Ordnungsgruppen, die sich von der Art des Nachlaßmaterials wie von den vorwiegenden Fragestellungen der Forschung aus anbieten und die wir in der Regel auch zumindest partiell im überlieferten Nachlaß vorgezeichnet finden, sind teils nach Schriftstückarten (z.B. Manuskripte, Briefe, Tagebücher), teils nach inhaltlich-thematischen Gesichtspunkten gebildet (z.B. Lebenslauf, berufliche Tätigkeit). Infolgedessen können Überschneidungen grundsätzlich nicht vermieden werden und lassen sich nur durch Mehrfachverzeichnung an den jeweils nach unterschiedlichen Ordnungsgesichtspunkten infragekommenden Stellen ausgleichen. Den Kern der Informationen, die ein Archivfindbuch zu vermitteln hat, bilden natürlich die Verzeichnungsangaben zu den einzelnen Archivalien. Man könnte sagen, daß bei diesem Problemkreis archivarische und biblio-
18 Die Beibehaltung chronologischer Ordnungsstrukturen von Briefbeständen hat allerdings bei der Benutzung nachteilige Folgen, da die - in der Mehrzahl der Fälle gesuchten - Briefe bestimmter Personen mit hohem Arbeitsaufwand aus zahlreichen Lagerungseinheiten herausgesucht werden müssen. Bei häufig benutzten Beständen lohnt es sich deshalb unter Umständen, den Bestand in der überlieferten Ordnung zu verfilmen und anschließend alphabetisch umzuordnen.
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Erschließungsverfahren im Literaturarchiv thekarische Verfahren von entgegengesetzten Seiten auf die Verzeichnungseinheit, die „Vorlage", zugehen. Der Archivar ist gewohnt, ein variables Feld von Verzeichnungsobjekten mit entsprechend flexiblen Beschreibungselementen zu kennzeichnen. Dabei handelt es sich in der Regel nicht um einzelne Schriftstücke, sondern um Faszikel oder Konvolute, die nach inhaltlich-sachlichen Gesichtspunkten, nach Korrespondenzpartnern oder nach Schriftstückarten angelegt sein können. Auch in Nachlässen treten sie dem Archivar vielfach als das Gewohnte, seinen Erfahrungen Entsprechende entgegen, und er kann sie ohne Schwierigkeiten mit den ihm vertrauten Verzeichnungsverfahren erfassen. Als Besonderheit findet er dann bei literarischen Nachlässen Werkmanuskripte unterschiedlicher Entstehungsstufen, unterschiedlicher „Ausreifungsgrade" vor, für deren Beschreibung er ein spezielles Instrumentarium heranziehen muß. Für den Bibliothekar bilden, im Gegensatz dazu, die Werkmanuskripte das Gewohnte, bei dem er seine Erfahrungen unmittelbar nutzen kann. Für diesen Gegenstand lassen sich die Regeln für die alphabetische Katalogisierung ohne größere Schwierigkeiten anwenden. Probleme verursachen dagegen andere Nachlaßteile, wie Korrespondenzen und insbesondere Arbeitsmaterialien, persönliche Akten und Lebensdokumente. Hier handelt es sich um Objekte, bei denen der Kernpunkt der Katalogisierung, der Autor, teils an nachgeordneter Stelle des Interesses steht, teils überhaupt irrelevant ist. Es darf bezweifelt werden, ob die Lösung wirklich darin liegen kann, diese verschiedenen Arten von Nachlaßdokumenten in Bausch und Bogen in das Prokrustesbett der Regeln für die alphabetische Katalogisierung (RAK) oder einer von ihnen abgeleiteten Richtlinie zu zwingen.19
19 Bestenfalls als Kuriosum kann der Archivar in diesem Zusammenhang verbuchen, daß das DFG-Regelwerk „Der Einsatz der Datenverarbeitung bei der Erschließung von Nachlässen und Autographen" (dbi-materialien 108. Schriften der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Berlin 1991) sogar Archivbestände von Behörden, Vereinen usw., also den Hauptinhalt aller Staats-, Stadt- und sonstigen Archive, als „Körperschaftliche Nachlässe" den RAK unterwerfen will (a.a.O. S. 95). In dem gleichen Regelwerk findet sich allerdings andererseits die grundsätzliche Bemerkung, daß die Nachlaßbearbeitung andere, meist einfachere Verfahren braucht als die Katalogisierung von Druckschriften und anderem Bibliotheksgut (a.a O. S. 19). Diese Erkenntnis, der z.B. die bedenkenswerten Vorschläge von Karl Dachs und Sigrid von Moisy Rechnung tragen (s. Anm. 12), scheint aber gerade bei Regelwerken wenige Beachtung zu finden; vgl. Christoph König: Verwaltung und wissenschaftliche Erschließung von Nachlässen in Literaturarchiven. München [u.a.] 1988. (Literatur und Archiv; 1)
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Gerhard Schmid Dabei ist noch auf einen besonderen Aspekt hinzuweisen, der generell für Nachlaßdokumente gilt. Bei der Verzeichnung einer provenienzgebundenen Uberlieferung kann das einzelne Archivale nie isoliert, für sich allein richtig und vollständig erfaßt werden. Art und Umfang der Verzeichnungsangaben hängen auch ab von seiner Stellung in der Hierarchie des Ordnungssystems, durch die allein schon bestimmte Informationen vermittelt werden. Um ein einfaches Beispiel zu nennen: Bei Briefen, die innerhalb der Ordnungsgruppe „Ausgegangene Briefe" zu verzeichnen sind, kann im Findbuch auf die ständige Wiederholung des Namens des Nachlassers als Absender verzichtet werden; man wird sich - sofern nicht überhaupt eine summarische Verzeichnung aller an einen Empfänger gerichteten Briefe ausreicht - damit begnügen, im Höchstfall für jeden Brief Empfanger, Ort und Datum anzugeben. Wenn Briefe dagegen in persönlichen Akten auftreten, muß, wenn der Zusammenhang verständlich werden soll, auch etwas über den Inhalt mitgeteilt werden.
Schlußbetrachtung Die archivarischen und bibliothekarischen Verfahren zur Erschließung von Nachlässen sind nicht so weit voneinander entfernt, wie dies die hier wie da vorgelegten, sehr unterschiedlich aufgebauten Grundsätze annehmen lassen. Im Grunde besteht Ubereinstimmung darüber, daß für die Erschließung Uterarischer Nachlässe sowohl eine findbuchmäßige Verzeichnung auf der Basis des Provenienzprinzips als auch - zumindest für Teile des Nachlasses - eine bestandsübergreifende Katalogisierung nach Verfasserprinzip erforderlich ist. Gemeinsame Uberzeugung ist also in praxi, daß zur Bearbeitung literarischer Nachlässe Elemente archivarischer und bibliothekarischer Verfahren zu verbinden sind. Unterschiedliche Auffassungen bestehen vor allem noch darüber, welche Verzeichnungsform - Findbuch oder Katalog - die primäre Rolle spielt, also das „Grundhilfsmittel" bildet. Diese Frage scheint aber durch die Anwendung der elektronischen Datenverarbeitung weitgehend ihre Bedeutung zu verlieren. Informationen aus bisher getrennt geführten, teils nach archivarischen, teils nach bibliothekarischen Gesichtspunkten angelegten Findhilfsmitteln der Literaturarchive lassen sich jetzt in einheitlichen Datenbanken zusammenzufassen. Und in weiter Ferne erscheint sogar die Möglichkeit, ein Ziel anzustreben, das unter den Bedingungen „traditioneller" Findhilfsmittel als Utopie betrachtet werden mußte: die Herstellung von 218
Erschließungsverfahren
im
Literaturarchiv
Gesamtverzeichnissen, in denen jeweils der vollständige überlieferte Nachlaß einer Person ohne Rücksicht auf seine Zersplitterung in viele Aufbewahrungsstätten in einer inventarmäßigen Ordnung und Ubersicht nachgewiesen werden kann. Das ist freilich wenn auch nicht mehr Utopie, so doch Zukunftsmusik. Für den Weg dorthin ist von archivarischer Seite insbesondere zu fordern, daß in geeigneter Weise auch diejenigen Merkmale gespeichert werden, die für die vollständige und geordnete Darstellung einer zusammenhängenden Provenienz erforderlich sind (Provenienzzugehörigkeit, Stellung der Verzeichnungseinheiten im Ordnungssystem). Die EDV-gestützte Erschließung literarischer Nachlässe darf sich nicht darauf beschränken, unter dem Verfassernamen isolierte „Handschriften" oder )r Autographen" nachweisen. Sie hat die Voraussetzungen für den Ausdruck eines provenienzgemäß zusammengestellten Findbuches zu bieten, und auch die EDV-gestützte Erarbeitung eines Inventars muß möglich sein. Inwieweit das bibliothekarische Regelwerk über den Einsatz der Datenverarbeitung bei der Erschließung von Nachlässen und Autographen 20 Ansätze in dieser Richtung bietet, wäre zu prüfen. Es ist bedauerlich, daß es ohne Konsultation, geschweige denn Mitwirkung von archivarischer Seite entstanden ist. Ein intensiver Dialog und eine enge Zusammenarbeit zwischen Bibliothekaren, Literaturarchivaren und Archivaren ist eine unabdingbare Voraussetzung, wenn - über die einzelnen Institute hinaus - vernetzte Datenbanken mit umfassenden Zugriffsmöglichkeiten geschaffen werden sollen.
20 Vgl. Anm. 19.
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Probleme und Perspektiven der Kooperation von Literaturarchiven
Ulrich Ott
Probleme und Perspektiven der Kooperation von Literaturarchiven im Blick auf die Forschung Wir könnten das, was das Thema sagen will, in ein paar einfache Fragen übersetzen: „Nützt es der Forschung, wenn Literaturarchive zusammenarbeiten? Wie machen sie das am besten? Ist es schwierig?" Ob man nun so oder so formuliert, eine Voraussetzung ist schon vorweg gemacht: daß Literaturarchive der Forschung nützen wollen. Das wollen wir als Axiom auch gelten lassen. Denn dafür sind sie erfunden worden. Jeder von uns hat ihre Gründungsurkunde, Diltheys Aufsatz von 1889, gegenwärtig. Man kann höchstens fragen, ob das ihr einziges Ziel ist. Das müßte ich, von Marbach aus gesehen, verneinen: Das Deutsche Literaturarchiv dient - der Allgemeinheit zu Bildungszwecken und der - Wissenschaft zu Forschungszwecken. Es ist ja aus einer Einrichtung entstanden, die von vornherein Museum und Archiv war, und es ist nach wie vor mit einem Museum verbunden. Der Allgemeinheit zu Bildungszwecken dienen wir mit den ständigen und wechselnden Ausstellungen des Museums aus den Sammlungen des Deutschen Literaturarchivs, mit Publikationen, ebenfalls aus den Sammlungen des Deutschen Literaturarchivs, mit öffentlichen Veranstaltungen aus dem thematischen Umkreis des Deutschen Literaturarchivs und mit speziellen Veranstaltungen mit Schülern, Lehrern, Dichtergesellschaften. Die öffentliche Arbeit mit den Sammlungen ist für diese selbst ein mindestens ebensogutes Erwerbungsargument und damit im Grunde Existenzmotiv wie ihr Nutzen für die Forschung. Der Satz, ein Literaturarchiv müsse selbstverständlich mit allen Kräften, den nach innen gerichteten der Erschließung und Bewahrung, den nach außen gelenkten der Erwerbung und der Zusammenarbeit, der For221
Ulrich Ott schung nützen, erfährt also insoweit, jedenfalls in Marbach, eine Einschränkung. Ein Tfeil unserer Kräfte hat - und ich betrachte das als Glück - die Bildung der Allgemeinheit zum Ziel. Paradoxerweise werden gerade dadurch unsere eigenen Forschungskräfte aktiviert. Denn Ausstellungen und Publikationen aus den eigenen Beständen setzen eigene Forschung voraus. Das lenkt hinüber zu der Frage, ob Literaturarchive der Forschung auch dadurch nützen, daß sie selbst forschen. Die Weimarer haben, initiiert noch von Karl-Heinz Hahn, 1991 einen Sammelband von Studien herausgegeben, der beweist, daß es eine Art von Forschung gibt, die Literaturarchivaren besonders nahe liegt, die sie selbst am besten leisten können und der sie sich deshalb widmen sollen: Es geht um die Erforschung der Uberlieferungsgeschichte literarischer Texte und Quellenkomplexe. Der Band heißt bescheiden „Im Vorfeld der Literatur. Vom Wert archivalischer Uberlieferung für das Verständnis von Literatur und Geschichte". Es ist klar, daß Überlieferungsgeschichte für ein Archiv der klassischen Literatur näherliegt und vielleicht auch wichtiger ist als für eines, das sich überwiegend im 20. Jahrhundert bewegt. Dennoch würde ich mir wünschen, daß wir mehr Zeit hätten für solche Forschung, denn das hätte unmittelbare Rückwirkung auf die Einsichten, die der Behandlung von Quellenkomplexen, also meist von Nachlässen oder Einzelarchiven, in einem Literaturarchiv zugrunde liegen müssen. Vor allem für die Frage, wieweit die Provenienzgestalt Aussagewert hat und wieweit sie durch Ordnungsmaßnahmen verändert werden darf. - Uberlieferungsgeschichtliche Forschung wird automatisch bei der Edition von Texten vollzogen. Deshalb ist auch diese, so meine ich, eine für Literaturarchivare wichtige und für ihre Arbeit selbst nützliche Forschungstätigkeit. Einen ähnlichen Rückkoppelungseffekt von forschender Eigentätigkeit auf die Sammlungs- und Erschließungsarbeiten im Deutschen Literaturarchiv sehe ich im Bibliotheksbereich bei bibliographischen Arbeiten, weil davon am ehesten Einsichten zu gewinnen sind in den Quellenwert der gedruckten Materialien und damit für die erstrebte Struktur des Bestandsaufbaus. Ich halte also eigene Forschung in einem Literaturarchiv auch deshalb für zwingend notwendig, weil sie prägende Rückwirkung auf Bestandsaufbau, Bewahrung und Erschließung hat. Literaturarchive sind nicht dazu erfunden worden, daß sie Forschungsthemen selbst bearbeiten, sondern daß sie der Forschung und der Allgemeinheit nützlich sind. Das sind sie aber am besten, wenn in ihnen von den Mitarbeitern auch geforscht wird 222
Probleme und Perspektiven der Kooperation von Literaturarchiven nicht beliebig allerdings, sondern anhand der dort vorhandenen Quellen und mit Themen, zu denen der Umgang mit diesen Quellen am besten befähigt. Warum diese Einschränkung? Deshalb, weil eigene Forschungsleidenschaft beim Literaturarchivar auch eine Gefahr sein kann. Ich meine das nicht deswegen, weil sie den von ihm erwarteten Alltagsarbeiten die Zeit entzöge - das ist ein anderes Problem, das sich meistens nicht stellt, weil diese Alltagsarbeiten so viel Zeit erfordern, daß sie umgekehrt den Archivar überhaupt nicht zum Forschen kommen lassen - , sondern weil es passieren könnte, daß die Forschungsziele und die Forschungsmethoden des Archivars die Erschließungs- und Ordnungsmethoden, mit denen er an die Archivalien, an die Quellenkomplexe und Nachlässe geht, bestimmen. Diese Tätigkeiten, der Bestandsaufbau selbst und die Erschließung der Bestände, setzen aber aus einem bestimmten Grunde auch eine gewisse Distanz von eigenem und fremdem Forschungsinteresse voraus. Es geht um die Forderung, die schon Dilthey aufgestellt hat, daß Literaturarchive so aufgebaut und erschlossen sein sollen, daß damit späteren, heute nicht absehbaren Fragestellungen und Methoden der Forschung nicht vorgegriffen wird. Das bedeutet: Ordnung und Erschließung von Nachlässen müssen nur so weit gehen wie nötig, sie dürfen gar nicht so tief wie möglich gehen, sie dürfen nur Angebote von Quellenmaterialien und Wegweiser zu ihnen sein, der Forscher muß seine Fragestellung selbst an sie herantragen. Nur so, meine ich, durch diese Selbstbeschränkung, haben die Literaturarchive den Methodenwechsel von Diltheys hermeneutischer oder personalistischer Fragestellung, die ihrer Gründung Pate stand, zu jenen Fragestellungen, die sich von der Person und der Intention des Autors stärker zu lösen suchen, überleben können. Dem widerspricht nicht, daß es in Marbach eine Arbeitsstelle gibt, deren Leiter Forschungsleidenschaft besitzt und die, mit Hilfe eines Arbeitskreises, Fragestellungen von Forschung selbst entwirft. Es ist die Arbeitsstelle für die Erforschung der Geschichte der Germanistik. Daß sich Marbach in seinen Sammlungen einen Nebenschwerpunkt von literaturwissenschaftlichen Quellenkomplexen geschaffen hat, hängt damit zusammen, daß das Deutsche Literaturarchiv neben autorbezogener Dokumentation auch rezeptionskundliche Quellensammlung und -erschließung betreibt, und zwar in allen drei sammelnden Abteilungen, der Handschriftenabteilung mit Gelehrten-Nachlässen und mit Verlags- und Zeitschriften-Archiven, in der Bibliothek mit ihrer Einzelerschließung bis hinunter auf die Ebene der Rezensionen und mit ihrer umfassenden Presse- und Mediendokumenta223
Ulrich Ott tion, in der Bildabteilung mit ihrer Sammlung von literarischem Werbematerial zum Beispiel. Und fachhistorische Forschung läßt sich gut einfügen in die zu einem Literaturarchiv passenden Forschungsthemen, denn ihrer Definition nach ist sie ihrerseits nicht auf spezifische literaturwissenschaftliche Richtungen oder Methoden festgelegt, sondern betrachtet sie unter historischen Gesichtspunkten. Es erscheint mir darüber hinaus nach wie vor ein richtiges Ziel, am Deutschen Literaturarchiv neben der Arbeitsstelle für die Geschichte der Germanistik eines Tages eine Arbeitsstelle für literaturwissenschaftliche Personalbibliographie (zur Reflexion über deren Methoden und zur Beratung von Bibliographen sowie natürlich zur Eigenproduktion) und eine Arbeitsstelle für Editions- und Kommentierungsfragen zu haben (vielleicht sogar mit einem Schwerpunkt auf der Eigengesetzlichkeit von Studienausgaben und deren Kommentaren). Soviel zunächst zur Forschung im Deutschen Literaturarchiv. Es ist damit, das weiß ich, noch längst nicht alles gesagt. Denn die wichtigste Rückkoppelung zwischen Archivar und Forscher bringt das alltägliche Benutzungsgeschäft in den mündlichen und schriftlichen Beratungsersuchen an den Archivar. Freilich muß dabei wegen der Fülle, der knappen Zeit und der thematischen Streubreite ständig neu der Kompromiß zwischen Tiefe und Geschwindigkeit gesucht werden. Mit alledem habe ich aber bis jetzt noch nichts zum Hauptthema gesagt, im Gegenteil, ich habe mich bis jetzt daran vorbeigedrückt und nur dargelegt, daß meiner Meinung nach ein Literaturarchiv der Forschung nützt, wenn in ihm selber, von seinen Mitarbeitern auch geforscht wird. Die im Thema eingeschlossene Behauptung heißt aber, Literaturarchive nützen der Forschung, wenn sie mit anderen Literaturarchiven zusammenarbeiten. Kooperation kann man verschieden definieren. Das Begriffsfeld reicht von Erfahrungsaustausch bis zur Arbeitsteilung und Koordination. Das erste, der Erfahrungsaustausch, ist wohl immer nützlich und richtig, und wir sollten ihn verstärken. Wie, darauf will ich am Schluß noch näher eingehen. Wie aber stehts mit der Arbeitsteilung! Sie hat ja auch negative Aspekte, weil etwas Ganzes aufgeteilt wird. Lassen Sie mich das am Erwerbungsgeschehen jener Literaturarchive deutlich machen, die sich um den gleichen Zeitraum, sagen wir jetzt das 20. Jahrhundert, bemühen. Das Deutsche Literaturarchiv in Marbach ist 1955 mit dem Ziel gegründet worden, Zerstreuung des literarischen Quellenmaterials zu verhindern, mit dem Ziel also, zum Nutzen der Forschung literarisches Quellenmaterial zusammenzuführen. Das bezog sich nicht nur auf das Zusammenhalten einzelner 224
Probleme und Perspektiven der Kooperation von Literaturarchiven Archive in sich, die, wie das Cotta-Archiv, in jener Zeit des Kapitalbedarfs beim Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft von Einzelverkäufen bedroht waren. Das bezog sich auch auf die Repräsentanz des literarischen Lebens im deutschsprachigen Raum insgesamt, denn Literatur besteht nicht nur aus einzelnen Autoren oder aus einzelnen Verlagen und literarischen Zeitschriften, sondern aus dem Zusammenhang aller. Für die Forschung an diesen Quellensammlungen müßte die größtmögliche Zentralität den größtmöglichen Nutzen stiften; nicht nur, weil sie Reisezeit und Reisekosten spart, sondern weil Bestand und Bestandszusammenhang dem Forscher, der an einer Stelle eingestiegen ist, und der von dort aus weiter „stöbert" und sucht, neue Fragen und neue Ideen geben. Man geht ja wohl in den seltensten Fällen ins Archiv um eines einzigen punktuell benötigten Dokumentes oder Teilbestandes willen, sondern in der Absicht, sich im ganzen systematisch suchend zu Neuem führen zu lassen. Der Konstanzer Philosoph Mittelstraß hat dies einmal als eine der grundlegenden geisteswissenschaftlichen Forschungsmethoden nachgewiesen und daraus die Unerläßlichkeit großer Freihandbestände an wissenschaftlichen Bibliotheken abgeleitet. Daß dieser Gedanke der größtmöglichen Zentralität unausgesprochen, aber logischerweise hinter der Gründung des Deutschen Literaturarchivs stand, zeigt sich vor allem daran, daß er in den Gründungskonzeptionen so deutlich abgewehrt worden ist. Er war offenbar ein Angstpunkt für schon bestehende Handschriften-Sammlungen. Es wäre ja auch ein Zerreißen und Zerstreuen durch das Deutsche Literaturarchiv selbst gewesen, wenn es nun seinerseits in anderwärts schon bestehende Sammelschwerpunkte hineingesammelt hätte. Aber dadurch, daß es sich das gesamte deutschsprachige literarische Leben des 20. Jahrhunderts zum Sammelschwerpunkt machte (unter Ausklammerung, wie gesagt, nur vor 1955 bereits bestehender anderwärtiger Sammelschwerpunkte), muß jede später gegründete literaturarchivarische Sammlung zum 20. Jahrhundert für die Sammelabsichten des Deutschen Literaturarchivs problematisch sein. Da aber das Deutsche Literaturarchiv demonstrierte, daß öffentliche Hände durch die Förderung von Literaturarchiven oder durch literaturarchivarische Aktivitäten kulturpolitische Ehre einlegen können, entstanden solche weiteren Literaturarchive; und sie taten es nur teilweise unter Gesichtspunkten einer sachlich einsichtigen Grenzziehung. Nun haben wir die Vielheit, und wir haben dadurch auch, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht, ein verstärktes Marktgeschehen bei der Erwerbung. Unterworfen sind wir dabei dem Willen der Autoren oder ihrer 225
Ulrich Ott Erben, also der Vorbesitzer unseres Sammlungsgutes. Freilich läßt sich das bisweilen auch beeinflussen, und unter den ethischen Abstufungen der Kooperation ist diejenige die höchste, welche dabei von Eigensucht abzusehen vermag - wir könnten sie eine heroische Form der Kooperation nennen. Was muß uns leiten auf diesem schwierigsten Feld der Zusammenarbeit zwischen Literaturarchiven? Ich glaube, nach wie vor das Bestreben, zum Nutzen der Forschung Zerrissenheit der Sammlungslandschaft zu vermeiden. Uber regionalen und nationalen Grenzziehungen sollte der Gesichtspunkt stehen, an welcher Stelle eine Erwerbung offene Sammlungsstellen schließt, wo sie zur Ergänzung, das heißt zur Formung eines Bestands im ganzen beiträgt. Ein anderer Gesichtspunkt ist die Solidarität vor dem Markt: Das bedeutet nicht nur, daß wir vermeiden, Preise hochzutreiben oder überhaupt in laufende Verhandlungen eines anderen Archivs hineinzuverhandeln (ein Gesichtspunkt, durch den wir uns schon zu vielen schmerzhaften Verzichten genötigt sahen), sondern auch dies, daß wir uns einem Ausspielen gegeneinander verweigern - etwa, wenn einmal ein Depositum von einem Archiv abgezogen werden sollte, wie es bei Odön von Horváth der Fall war. Diese Art der Zusammenarbeit zwischen Literaturarchiven im deutschen Sprachraum klappt im großen und ganzen, und das Mittel der Kooperation ist dabei in der Regel das Telefon. Darüber hinaus sollten wir auf diesem Sektor nichts institutionalisieren. Eine andere Frage zur Erwerbungskooperation, die uns von drei verschiedenen Seiten immer wieder gestellt und von einer vierten oft als harsche Forderung präsentiert wird, sei hier kurz angesprochen: Nachlaßgeber fragen uns verwundert, warum wir die Einzelarchive nicht stärker durch den Austausch von Kopien zwischen den die Originale besitzenden Literaturarchiven abrunden. Hätten solche Vervielfältigungen doch zugleich einen sichernden Effekt. - Forscher fragen uns das gleiche, warum wir das nicht, zum Nutzen der Forschung, tun - ein Kooperationsthema also, das in starkem Maß in den Zusammenhang der gegenwärtigen Fragestellung gehört. Schließlich kommt diese Frage auch manchmal von Literaturarchiven anderer Sprachräume, die diesem Punkte gegenüber wohl nicht ganz so keusch sind wie wir. Die vierte Seite, jene der Zweitarchive von Sammlern oder einzelnen Forschern, Zweitarchive, die ganz auf Kopienbasis beruhen, soll hier außer Betracht bleiben, denn es gibt tatsächlich eine Reihe guter Gründe, hier zurückhaltend zu sein. Was aber spricht gegen die zu Ergänzung und Abrundung führende Kooperation der Literaturarchive, die im maßvollen Austausch von Kopien besteht - zum 226
Probleme und Perspektiven der Kooperation von Literaturarchiven Nutzen der Forschung? Jedenfalls wären ein verstärkter Erfahrungsaustausch und behutsame Absprachen zwischen Literaturarchiven auf dem gesamten Gebiet der Benutzungsmethoden höchst nützlich. Erfahrungsaustausch auf dem Riesenfelde des Konservatorischen, das sich so massiv in unsere Zukunft schiebt, und, natürlich die äußerst erstrebenswerten Abstimmungen und Gemeinschaftsaufgaben bei der Erschließung mit EDV, erfordern ein engeres Zusammenrücken unserer Einrichtungen. Vielleicht müssen wir für diese Felder der Zusammenarbeit eine fest Form finden. Die Zusammenarbeit bei der Erwerbung ist ein zu zartes Gebilde, als daß es in ein gezimmertes Haus institutionalisierter Kooperation eingebunden werden sollte. Bei der Erschließung und der Entwicklung von Normen für die Erschließung dagegen sollten wir so eng wie möglich zusammenwirken, da sollten unsere Experten dauernd Kontakt miteinander halten, vielleicht auch in Form einer ständigen Arbeitsgruppe. Wenngleich dabei, das sei nicht verschwiegen, die verschiedenen Bezugsrahmen, in denen jeder von uns steht, einer absoluten Gleichführung im Wege stehen: Nationale und regionale EDV-Einrichtungen, die bereits entwickelt sind und die wir nutzen müssen, aber auch verschiedene Konstellationen in den einzelnen Häusern: in Bern und Wien etwa die Einbindung in die Nationalbibliotheken, deren Ifeil die dortigen Literaturarchive sind, in Marbach die Querverbindung zwischen den einzelnen Sammlungsteilen: Handschriftensammlung, Bibliothek, Presse- und Mediendokumentation, Bildersammlung. Ist darüber hinaus ein institutioneller Zusammenschluß etwa zur gemeinsamen Interessenvertretung sinnvoll? Ich habe hier einige Zweifel. Fast ein jeder von uns hat auch in dieser Beziehung ein anderes Umfeld, hat andere Partner, andere Bedingungen. Zur Vertretung gegenüber den zentralen Organen der Bundesrepublik Deutschland gibt es bereits den Arbeitskreis selbständiger kultureller Institute, zu denen auch hier vertretene Institutionen wie das Freie Deutsche Hochstift Frankfurt a.M., Weimar und Marbach, zusammen mit anderen geisteswissenschaftlichen und kunstpflegenden Zentren, gehören. So möchte ich für eine Förderung der freien Kooperation plädieren. Treffen derart wie das Weimar Symposion „Literaturforschung und Literaturarchiv" vom November 1992 mögen sich wiederholen, unsere EDVund Erschließungsexperten mögen regelmäßigen Gedankenaustausch und regelmäßige Abstimmung vorantreiben. Daneben könnten und sollten bi-, tri- oder multilaterale Kooperationsvereinbarungen treten, wenn es wirklich gleichgesinnte Interessen bei einander ähnlichen Strukturen zu 227
Ulrich Ott vertreten gilt, auch wenn andere Charakteristika wiederum divergieren. So würde ich mir beispielsweise von einer engeren Kooperation zwischen Weimar, Wolfenbüttel und Marbach eine Art „Marketinggemeinschaft" versprechen, auch im Hinblick auf die Forschung, weil hier Institute „in der Provinz", deren Arbeitsgebiete sich zeitlich ergänzen, und die nur in längeren Forschungsaufenthalten nutzbar sind (die an allen drei Institutionen durch Forschungsstipendien gefördert werden) und die schließlich neben Forschungszielen gleichberechtigt auch Bildungsziele verfolgen, gemeinsam etwas für sich tun können. Denn sie stellen auf dem Gebiet der literarischen Quellensammlung und Quellendokumentation etwas wie eine verteilte Nationalbibliothek dar, jedenfalls in der Funktion einer solchen, daß sie, jeweils auf ihrem Sammelgebiet, die zentrale Anlauf- und Begegnungsstelle im Gebiet einer Sprache für die internationale Literaturwissenschaft jenes Sprachbereiches sind.
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Thomas
Feitknecht
Aufgaben des Schweizerischen Literaturarchivs 1. Rahmenbedingungen 1.1. Das Schweizerische Literaturarchiv Bern (SLA) verdankt seine Entstehung dem Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt, welcher der Schweizerischen Eidgenossenschaft seinen Nachlaß geschenkt hat, und zwar unter der Bedingung, daß diese ein nationales Literaturarchiv gründe. Als Standort wurde die Schweizerische Landesbibliothek gewählt, d.h. die Nationalbibliothek in Bern, und zwar aus juristischen wie auch aus praktischen Gründen. Die Landesbibliothek bot sich als rechtlicher Rahmen an, weil 1986 in der Volksabstimmung der Kulturartikel abgelehnt worden war und somit der Bund aus verfassungsrechtlichen Gründen eine neue Aufgabe außerhalb der Landesbibliothek nicht hätte übernehmen können. Und zudem verfügte die Landesbibliothek bereits über eine Reihe bedeutender Nachlässe, auf denen das am 11. Januar 1991 eröffnete Literaturarchiv aufbauen konnte, so die Nachlässe und Sammlungen von Hermann Hesse, Rainer Maria Rilke, Carl Spitteier, Hermann Burger und Blaise Cendrars. Bereits in den ersten Jahren seines Bestehens könnt das SLA weitere wichtige Archive und Nachlässe übernehmen bzw. zugesichert erhalten: Golo Mann, J.R. von Salis, Ludwig Hohl, Friedrich Glauser, Otto F. Walter, Christoph Greiser, um nur die wichtigsten deutschsprachigen zu nennen. 1.2. Das SLA ist eine Institution der schweizerischen Bundesverwaltung: Es ist - verwaltungstechnisch gesprochen - eine Sektion der Schweizerischen Landesbibliothek, die ihrerseits dem Bundesamt für Kultur unterstellt ist. Das hat Vorteile und Nachteile. Der Vorteil: Die Existenz des SLA ist langfristig gesichert. Der Nachteil: Das SLA hat große Mühe, als Institution der öffentlichen Hand von privater Seite Mittel zu erhalten bzw. Sponsoren und Mäzene zu finden. Schon früh wurde deshalb ein Verein zur Förderung des SLA gegründet. 1.3. Die Umweltbedingungen: Angesichts wachsender Defizite der öffentlichen Hand wurde zu Beginn der neunziger Jahre in der Schweiz auf allen Stufen - bei Gemeinden, Kantonen und beim Bund - massiv gespart und rigoros gekürzt. Es gibt Indizien, daß dies keine vorübergehende Erscheinung ist, sondern daß vielmehr die Aufwendungen der öffentlichen 229
Thomas Feitknecht Hand langfristig nicht mehr steigen, sondern eher stagnieren oder sogar zurückgehen werden. Für das SLA bedeutet dies, daß die Bedürfnisse auf den Gebieten Personal, Finanzen und Infrastruktur möglicherweise weniger rasch erfüllt werden, als ursprünglich geplant war und als auch nötig wäre.
2. Auftrag Ausgehend von Nachlässen und Sammlungen, also primär Handschriften, hat das SLA seinen Auftrag wie folgt formuliert: 1. sammeln und erhalten, 2. erschließen und nutzen, 3. informieren und beraten. Wo liegen nun bei diesen drei Punkten die Probleme und Perspektiven der Kooperation von Literaturarchiven im Blick auf die Forschung? 2.1. Sammeln und erhalten:
Sammelschwerpunkte
Das SLA sammelt in den vier Landessprachen Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch Dokumente zu Literatur, die einen Bezug zur Schweiz hat, und zwar mit einem Schwerpunkt im 20. Jahrhundert. Es ist in der Schweiz auf diesem Gebiet die einzige Institution, die ein dermaßen breites Sammelspektrum aufweist. Dementsprechend wurde der Personalbedarf bei der Gründung auf acht Etatstellen bis Mitte der neunziger Jahre veranschlagt. 1992 standen fünf Etatstellen zur Verfügung: drei deutscher Sprache (verteilt auf vier Personen) und zwei französischer Sprache; hinzu kamen für besondere Aufgaben noch zwei deutsprachige Mitarbeiter mit einem Pensum von zusammen ca. 110 Prozent. Für die Erwerbspolitik wurden fünf Kriterien aufgestellt: 2.1.1. Selektion: Ein Autor oder eine Autorin muß nationale bzw. überregionale Ausstrahlung haben. Das bedeutet nicht, daß nur „Höhenkamm literatur" gesammelt wird, wie während der ersten Diskussionen um das SLA Ende der achtziger Jahre teilweise befürchtet wurde. Ein Schriftsteller kann aufgrund seiner Kontakte und Beziehungen durchaus eine nationale Rolle spielen, ohne daß damit eine besondere literarische Wertschätzung verbunden wäre. Ebenfalls zum Sammelgebiet des SLA gehören Gelehrtennachlässe geisteswissenschaftlicher Richtung und Verlagsarchive. Eine Abgrenzung nimmt das SLA gegenüber reiner Dialekt-, Jugendund Kinderliteratur vor: Diese ist in anderen Institutionen, wo die spezifischen Kenntnisse vorhanden sind, besser aufgehoben und betreut. 230
Aufgaben des Schweizerischen
Literaturarchivs
2.1.2. Komplettheit: Entscheidend für den Wert eines Archivs ist nach unserem Dafürhalten u.a. die Vollständigkeit, da spätere Zusatzerwerbungen auf jeden Fall viel teurer zu stehen kommen. Wir bemühen uns, vorhandene Nachlässe zu ergänzen, und zwar nach Möglichkeit in Absprache mit anderen Institutionen. 2.1.3. Komplementarität: Besonders wichtig sind für das SLA Nachlässe, welche die vorhandenen Bestände ergänzen und die vielfältigen Beziehungen unter verschiedenen Autorinnen und Autoren aufzeigen - auch über die Sprachgrenzen im Lande hinweg. 2.1.4. Kooperation: Das SLA beansprucht in der Schweiz keine Monopolstellung und befürwortet keinen Zentralismus in der Betreuung literarischer Nachlässe. Es strebt vielmehr eine Kooperation mit den Bibliotheken und Archiven in der Schweiz an, die eine lange Tradition haben und über eine große Erfahrung in der Handschriftenbetreuung verfügen. Neben den großen Bibliotheken gehören auch spezialisierte Archive dazu, etwa das Max-Frisch-, das Thomas-Mann- und das Robert-Walser-Archiv, alle drei in Zürich, und natürlich auch die Literaturarchive außerhalb der Schweiz. Entscheidend ist letzten Endes nicht, wohin ein Nachlaß kommt, sondern daß für jeden Nachlaß die optimale Lösung gefunden werden kann. Daß es dabei zu Interessenkonflikten kommen kann, liegt auf der Hand; aber diese sollen im Geiste der „guten Nachbarschaft" gelöst werden. Uber die Erwerbspolitik hinaus sollte sich die Kooperation unter den Literaturarchiven vermehrt auf praktische Fragen der Erschließung, der Konservierung, der Ausstellungen usw. erstrecken. Als die Schweizerische Landesbibliothek und das Literaturarchiv 1992 die Realisierung eines neuen Tiefmagazins in Angriff nahmen, besichtigten die Planer zu diesem Zweck u.a. auch den neuen Tiefspeicher der Osterreichischen Nationalbibliothek in Wien. 2.1.5. Kapazität: Hier geht es um die Möglichkeiten des Archivs, die übernommenen Nachlässe auch zu bearbeiten und zu katalogisieren. Es hat keinen Sinn, riesige Bestände anzulegen, die mangels Fachkräften dann einfach ungeordnet und in Bananenschachteln verpackt liegenbleiben. Die Erwerbungspolitik muß also langfristig auch auf die personellen Möglichkeiten des SLA zugeschnitten sein. 2.2. Erschließen und nutzen:
Informatisierung
Die Schweizerische Landesbibliothek hat sich früher bei der Erschließung 231
Thomas Feitknecht der Nachlässe an die deutsche Tradition angelehnt, insbesondere an die „Regeln für die Katalogisierung von Nachlässen und Autographen" der Bayerischen Staatsbibliothek. Das SLA hat diese Praxis zunächst übernommen. Es verfügte vorerst weder über ein eigenes Regelwerk noch über ein eigenes Datenformat. Der Grund dafür ist einfach: Die Schweizerische Landesbibliothek, zu der - wie erwähnt - das SLA gehört, hat 1991 eine umfassende Reorganisation in Angriff genommen. Das SLA hat aktiv an der Evaluierung des neuen Bibliothekssystems mitgewirkt, da dieses auch für die Nachlaßerschließung benutzt wird. Klar war dabei, daß unsere Nationalbibliothek ein System braucht, das größtmögliche Flexibilität bietet, mit internationalen Standards arbeitet, auf Mehrsprachigkeit zugeschnitten ist, Möglichkeiten der Bild- und Tbnspeicherung aufweist und Weiterentwicklungen zuläßt. Wir haben bei der Vorbereitung der EDV-Erschließung das deutsche und das österreichische Lösungsmodell genauer angesehen, aber auch einen Blick nach Frankreich und in die angelsächsischen Länder geworfen, die hier wohl die größten Erfahrungen haben. Wir kommen zwar spät mit der EDV, aber wir hoffen doch, wenigstens bei der Handschriftenerschließung in der Schweiz da und dort Impulse zu einer Koordination geben zu können. Denn im Augenblick besteht - wenigstens in der Schweiz - die Gefahr, daß sich jede Bibliothek und jedes Archiv eine eigene Lösung bastelt, die zwar vielleicht kurzfristig Probleme löst, aber langfristig mehr Ärger als Nutzen bringen wird. 2.3. Informieren und beraten:
Dienstleistungen
Das SLA will nicht nur Handschriften sammeln und erhalten sowie erschließen und nutzen, sondern es will auch informieren und beraten: Es will ein Informationszentrum für Literatur mit Bezug zur Schweiz werden, das vielleicht nicht immer selber über alle Informationen verfügt, aber weiß, wo diese zu finden sind. Aus diesem Grund führt das SLA das „Repertorium der handschriftlichen Nachlässe in den Archiven und Bibliotheken der Schweiz" als Datenbank weiter. Dieses Repertorium erschien erstmals 1967, und zwar herausgegeben im Auftrag der Vereinigung Schweizerischer Bibliothekare und der Vereinigung Schweizerischer Archivare, bearbeitet von Anne-Marie Schmutz-Pfister (daher der Kurzname „Schmutz-Pfister"). 1980 publizierte die Schweizerische Landesbibliothek eine Zuwachsliste. Die vollständig überarbeite und erheblich erweiterte Neuauflage 1992 hatte eine 232
Aufgaben des Schweizerischen
Literaturarchws
dornenvolle Vorgeschichte, weil niemand die Finanzierung übernehmen wollte. Durch sein Engagement auf diesem Gebiet will das SLA vermeiden, daß erneut eine Informationslücke von einem Jahrzehnt entsteht. Ob und wann dieses Repertorium on-line konsultiert bzw. auf CD-ROM zugänglich gemacht werden kann, ist heute noch offen. Hier müssen engere Kontakte zu ähnlichen Stellen in Nachbarländern geknüpft werden, z.B. zur Zentralkartei der Autographen in Berlin. Auch die Bibliographien zur deutschsprachigen und zur französischsprachigen Schweizer Literatur, die heute von der Landesbibliothek bzw. vom Literaturarchiv herausgegeben werden, dürften im Laufe der Jahre mit der Einführung der EDV ihr Gesicht verändern. Die eine, die „ B i b l i o graphie zur deutschsprachigen Schweizerliteratur", wird heute bereits mittels EDV produziert, die „ B i b l i o g r a p h i e des lettres romandes" hingegen wird noch konventionell hergestellt. Übersetzungen von Autoren stoßen in einem mehrsprachigen Land wie der Schweiz auf großes Interesse. Das SLA wird sicher in diesem Bereich nicht im Alleingang etwas unternehmen, sondern in erster Linie mit dem Centre de traductions littéraires (CTL) der Universität Lausanne zusammenarbeiten, wenn möglich aber auch mit Literaturarchiven in den Nachbarländern. Ein Gebiet, bei dem ebenfalls Synergien genutzt werden können, sind Ausstellungen. Die Ausstellung des SLA zu den Romanen von Hermann Burger war Ende 1992 in den Literaturhäusern in Frankfurt a.M. und Berlin und im Sommer 1993 im Literaturhaus in Wien zu sehen. 1992 wurde in Zürich und Bern die in Deutschland konzipierte Ausstellung „Josef und Echnaton - Thomas Mann und Ägypthen" gezeigt. Umgekehrt ist eine große Schweizer Dürrenmatt-Ausstellung, beruhend auf zwei Ausstellungen in Bern und Zürich 1994, später im Ausland auf Tburnee gegangen und u.a. in Berlin und Wien gezeigt worden.
3. Schlußfolgerung Ich bin überzeugt, daß in Zukunft die EDV der zentrale Aspekt der Zusammenarbeit unter den Literaturarchiven sein und den Forscherinnen und Forschern Möglichkeiten bieten wird, von denen wir heute nur träumen. Aber die EDV darf nicht zum Selbstzweck werden. Die bietet Verlockungen, denen die Literaturarchive vielleicht auch einmal widerstehen müssen. Es gilt genau zu unterscheiden zwischen technisch Möglichem, 233
Thomas Feitknecht wissenschaftlich Wünschbarem und wirtschaftlich Machbarem. Und auch die beste EDV-Lösung kann den direkten Kontakt unter den verschiedenen Archiven und die persönlichen Beziehungen zu Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern nicht ersetzen.
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Anton
Unterkircher
Das Innsbrucker „Brenner-Archi ν" Die Grundgedanken unseres Beitrags wurden auf dem Weimarer Symposion „Literaturforschung und Literaturarchiv" im November 1992 vorgestellt. Deshalb knüpfen wir an die auf dieser Tagung diskutierten Themen an, die insgesamt Anlaß zu einer Standortbestimmung des „Forschungsinstituts Brenner-Archiv" (Universität Innsbruck) geben.
Die traditionelle
Archiv-Auffassung
Weimar mit seinen zahlreichen Erinnerungsstätten war ein idealer Veranstaltungsort. Dort überwiegt eindeutig der museale Aspekt des Literaturarchivs. Das Goethe- und Schiller-Archiv ist ein abgeschlossenes Archiv (das Brenner-Archiv platzt wegen dauernden Neuzugängen aus allen Nähten). Die Weimarer Ibilnehmer haben denn auch das Bewahren als die erste und wichtigste Aufgabe des Archivs genannt. Nach Möglichkeit werden dem Forscher keine Originale mehr gezeigt, sondern nur Faksimiles bzw. Mikrofilme. Eine häufige Benützung von Originalen ist jedenfalls aus konservatorischen Gründen unerwünscht. Im Brenner-Archiv hat bisher noch jeder Besucher, der darum gebeten hat, Originale nicht nur ansehen, sondern auch anfassen dürfen. Der museale Aspekt einer solchen Zurschaustellung ist aber auch in Innsbruck schon unübersehbar geworden. Das Brenner-Archiv ist auch eine museale Gedenkstätte für Ludwig von Ficker und seine ,JBrenner"-Mitarbeiter. Nicht zuletzt erhalten wir auch Nachlässe als Schenkung, aber mit der Hoffnung oder mit der Auflage verbunden, das Gedenken an den Nachlasser wachzuhalten. Bei der Entscheidung für ein bestimmtes Archiv achten potentielle Nachlaßgeber zunehmend auf die „Nachbarschaft" mit bedeutenden Nachlässen. Für die Öffentlichkeit sind Autographen von Trakl, Wittgenstein, Rilke usw. nicht unbedingt wegen ihres Inhalts wichtig, sondern weil es eben Autographen „der ganz Großen" sind. Dem Brenner-Archiv fehlen momentan leider Räumlichkeiten, wo es seine „Schätze" der Öffentlichkeit präsentieren könnte. In Weimar hat man den großen musealen Wert der dortigen Sammlungen richtig erkannt; Weimar soll wieder „Weltkulturstadt" werden. 235
Anton Unterkircher Die neue
Archiv-Auffassung
Für einen Literaturarchivar ist die Verbindung von Archiv und Forschung längst eine Selbstverständlichkeit. Für die Mehrzahl der Literaturwissenschaftler scheint dies nicht von vornherein klar zu sein. Die gedruckte Ausgabe und die Sekundärliteratur genügen ihnen oft völlig, um weitere Sekundärliteratur zu produzieren. Dabei steht aber außer Zweifel, daß sich die Literaturwissenschaft zuerst einmal um einen möglichst guten Tfext zu kümmern hat, der erst Ausgangspunkt für eine sinnvolle Interpretation sein kann. Hier bleibt nur der Gang in das Archiv. Er ist von jeder Germanistengeneration zu machen. Jede Edition ist ein Produkt der Zeit und kann deshalb den jeweils neuen Ansprüchen der Forschung irgendwann nicht mehr recht genügen. Zwischen dem Nur-Literaturforscher und dem - germanistisch ausgebildeten - Literaturarchivar sollte es künftig zu wechselseitiger Arbeits-Anregung kommen: Der Archivar kann auf der Basis der Kenntnisse, die er bei der Herstellung einer Nachlaß-Ordnung und im Laufe längerdauernder Sammeltätigkeit auf bestimmten Gebieten erworben hat, auf die Ergiebigkeit von Themen für die Forschung hinweisen und angereichertes Detailwissen beisteuern. Rekurs auf die dokumentierte Entstehung von Texten kann durchaus zur Reflexion neuer methodischer Ansätze führen - seinerseits kann der Literaturwissenschaftler seine Erfahrungen - etwa aus der editorischen Praxis - für die Herstellung einer bestimmten Nachlaßordnung beibringen. Der Ausbau von Sammlungen kann im Einverständnis zwischen beiden erfolgen o.ä. Die Universitätslehrer sollten auf alle Fälle auch die Studenten auf die Wichtigkeit der Quellenforschung in Archiven hinweisen. Der Besuch eines Literaturarchivs müßte eigentlich verpflichtend vorgeschrieben sein. Ein Tagungsteilnehmer hat in Weimar diesen Sachverhalt so formuliert: Nicht jeder Archäologe macht Ausgrabungen, aber jeder sollte wissen, wie sie gemacht werden.
Neue
Forschungsansätze
Das Ideal germanistischer Edition, die historisch-kritische Ausgabe, ist ohne Literaturarchiv undenkbar. Aber auch die beste historisch-kritische Ausgabe, die jeden Textzeugen faksimiliert und die Transkription überprüfbar macht, wird die Arbeit am Original nie ganz ersetzen können. Zudem ist eine historisch-kritische Ausgabe nur in den wenigsten Fällen 236
Das Innsbrucker JBrenner-Archiv" wirklich realisierbar, weil kaum ein Verlag das wirtschaftliche Risiko übernehmen kann. Die historisch-kritische Ausgabe Georg Trakls, die im Brenner-Archiv gerade erarbeitet wird, ist eben nur deshalb machbar, weil Trakl ein Lyriker von Weltrang ist und zudem sein Werk eher schmal geblieben ist. Auch kann die von einer historisch-kritischen Ausgabe erwartete Vollständigkeit ja in der Praxis nie erreicht werden, da viele Werke verloren oder nur teilweise erhalten sind. Außerdem kann nur der „verschriftlichte" Prozeß dargestellt werden, nicht aber das, was sich im Kopf und Gemüt des Autors abgespielt hat. In Zukunft wird eine historisch-kritische Ausgabe noch schwieriger werden, denn der Autor von heute hat sein Werk im Computer produziert. Nur im allergünstigsten Fall hat er eine Werkstufe unter einem anderen Namen gespeichert oder aber einen von Hand korrigierten Ausdruck hinterlassen. Immerhin hat man schon jetzt den Ifextbegriff insofern relativiert, als man nicht mehr leichtfertig von verschiedenen Fassungen eines Werkes spricht, die linear auf einen „Endtext" hinlaufen. Michel Espagne und vor allem Almuth Grésillon (im folgenden wird über ihren Beitrag referiert und daraus zitiert) haben in Weimar der deutschen Editionsphilologie das französische Modell der „critique génétique" gegenübergestellt. Anhand von überlieferten Schreibspuren sollen Rückschlüsse auf den schriftlichen Entstehungsprozeß gezogen und daraus „Modelle und Typologien literarischer Kreativität" konstruiert werden. „Das gesamte Material, vom ersten Entwurf bis hin zur Druckfassung, inklusive aller vom Autor selbst revidierten Druckfassungen, wird als ,avant-texte' bezeichnet, also jene Summe von Objekten, die dem definitiven Ifext vorausgeht." (Vgl. S. 52 im vorliegenden Band). Fraglich bleibt an dieser Auffassung natürlich, ob der , avant-texte' nicht auch bereits zum Text gehört. Am Autor der Schreibspuren kommt man in der Handschriftenforschung jedenfalls nicht vorbei. Jeder Schreiber war zuvor Rezipient und wird während des Schreibens sein eigener erster Leser. Dieser kommunikative Zusammenhang erklärt oft erst gravierende Revisionsprozesse an einem Ifext. In der „critique génétique" geht es nicht darum, „den besten Ifext mit dem besten genetisch-synoptischen Apparat herzustellen, sondern der Gesamtdynamik des Schreibprozesses Rechnung zu tragen". Mit der „critique génétique" wird nach Grésillon keine Editionstechnik avisiert, sondern ein neues Verständnis von Literatur: „Literatur stets in actu, in nasecendi, begriffen als ein nie abschließbarer Prozeß des Schreibens und Lesens zugleich. Dies impliziert auch, daß die Literaturkritik bereit ist, nach den Zeiten des Strukturalismus, der Rezeptionsästhetik, der Psychoanalyse, der Pragma237
Anton Unterkircher tik und des Dekonstruktivismus die Stimme einer an Schreibprozessen orientierten Produktionsästhetik ernstzunehmen." (Vgl. S. 60 im vorliegenden Band).
Kooperation von Literaturarchiven
im Blick auf die Forschung
Auf der Tagung herrschte Einigkeit darüber, daß es in Deutschland eine hochentwickelte Editionswissenschaft gibt; die Germanistik insgesamt wurde dennoch als „organisierter Sauhaufen" beschrieben. Die Veranstaltung von gelegentlichen gemeinsamen Kolloquien stellt das Maximum des Erreichbaren an Zusammenarbeit dar. Den Literaturarchiven geht es im Prinzip nicht viel besser. Uber das verbale Bekenntnis zur Zusammenarbeit, etwa in Fragen des Nachlaßerwerbs und des gemeinsamen Beobachtens des Autographenmarktes, kommt man kaum hinaus. Abgesehen von gelegentlichen Absprachen bei einem Nachlaßerwerb und guten Kontakten von Haus zu Haus (z.B. Brenner-Archiv und Deutsches Literaturarchiv Marbach a.N.), kocht jedes Archiv sein eigenes Süppchen. Das beginnt natürlich mit dem Archivierungsmodell, das auf die speziellen Verhältnisse zugeschnitten und zumeist nicht austauschbar ist. Die jetzt überall erfolgende Umstellung auf EDV hat diesbezüglich einen Nachdenkprozeß in Gang gebracht, denn nun bietet sich zum ersten Mal eine realistische Chance, großräumig zusammenzuarbeiten. Die für die Forschung äußerst wichtige Zentralkartei der Autographen in Berlin, die Autographen von ca. 100 der wichtigsten Institutionen Deutschlands nachweist, hat bisher die einlangenden Karteikarten der einzelnen Institutionen so umgeschrieben und bearbeitet, daß sie in die dortigen Kataloge eingeordnet werden konnten. Bei der Umstellung auf EDV schien es deshalb sinnvoll, auf die Gleichartigkeit der gelieferten Daten zu achten. Dies soll mit dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft erstellten Regelwerk „Der Einsatz der Datenverarbeitung bei der Erschließung von Nachlässen und Autographen" (Berlin 1991; Dbi-Materialien 108) erreicht werden, das gerade in Erprobung ist. Der Trend geht also von der „Hauslösung" weg zu einer zumindest für Deutschland gültigen Lösung via EDV.
Das
,ßrenner-Archiv"
Der Ablauf des Symposions und die geführten Diskussionen haben deut238
Das Innsbrucker ,ßrenner-Archiv" lieh gezeigt, daß das Brenner-Archiv nicht nur gleichwertig mitreden kann, sondern - zumindest was die Verbindung von Forschung und Archivierung anlangt - anderen Institutionen weit voraus ist. Das vom Verfasser gehaltene Referat in Weimar, das im folgenden etwas verändert und gekürzt wiedergegeben wird, zeigt deutlich, daß im Brenner-Archiv schon lange praktiziert wird, wovon andere erst zu reden beginnen, und das erstaunlicherweise auch auf dem Gebiet der EDV. Wie schon der Name „Forschungsinstitut Brenner-Archiv" sagt, werden bei uns Forschung und Archivierung gleichwertig behandelt. Manchmal werden Tfexte zuerst ediert und dann archiviert, oder umgekehrt; oft laufen die Archivierungsarbeiten parallel mit den Editionsarbeiten. So wird z.B. in Kürze die vom Brenner-Archiv herausgegebene 10-bändige Ausgabe der Werke Fritz von Herzmanovsky-Orlandos fertiggestellt sein, ebenso die Archivierungsarbeit an seinem Nachlaß. Wir besitzen einen Tfeilnachlaß Georg Trakls und bereiten in unserem Institut jetzt eine neue historischkritische Trakl-Ausgabe nach dem Vorbild der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe vor. Wir haben in unserem Archiv sozusagen ein neues Berufsbild entworfen, nämlich das der wissenschaftlichen Archivarin und des wissenschaftlichen Archivars: hier vereinigen sich die Kenntnisse eines traditionellen Archivars mit denen eines Bibliothekars, eines Editionstheoretikers, des praktischen Herausgebers und des Literaturwissenschaftlers. Unser Institut gibt zwei wissenschaftliche Reihen heraus: die Brennerund die Takl-Studien. Außerdem publizieren wir die jährlich erscheinende Institutszeitschrift „Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv". Da wir an der Universität Innsbruck in unmittelbarer Nachbarschaft zur Germanistik, Geschichte, Philosophie und Kunstgeschichte angesiedelt sind, nutzen auch viele Studenten die Möglichkeit, Archivluft zu schnuppern und ihre Diplomarbeiten oder Dissertationen bei uns zu verfassen. Um Themen sind wir nie verlegen, nicht ungerne lassen wir - natürlich mit entsprechender Betreuung - im Zuge solcher Arbeiten auch bisher ungeordnete Nachlässe bearbeiten. Überhaupt wird bei uns - bedingt durch Personalmangel - bei der Aufbereitung eines Nachlasses immer das gegenwärtige Forschungsinteresse oder aber die Aktualität der enthaltenen Dokumente berücksichtigt. Durch die Bildung von Konvoluten und vereinfachten Titelaufnahmen kann ein Nachlaß relativ schnell in eine grobe Ordnung gebracht und abgelegt werden. Zeigt sich dann in einer geänderten Situation ein Forschungsinteresse, so können in Zusammenarbeit mit dem Forscher oder Editor solche Konvolute nachträglich ohne Probleme aufgelöst und die Stücke einzeln beschrieben werden. Auf diese Art entwickelt 239
Anton Unterkircher sich also eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Forschung und Archivierung. Neben der Publikation unserer Materialien sind wir - ganz im Sinne Ludwig von Fickers - bemüht, in die Zeit hineinzuhorchen und uns samt unseren Beständen dem Zeitgeschehen zu stellen. Dies geschieht durch die Veranstaltung von Symposien (1992 z.B. zum Thema „Literatur und Kirche"), Lesungen und nicht zuletzt durch Ausstellungen. Immer versuchen wir auch, Lehrer und Schüler höherer Lehranstalten in solche Veranstaltungen mit einzubeziehen. Das Brenner-Archiv ist kein reines Literaturarchiv, wie es wohl ein solches überhaupt nicht geben kann. Da das Archiv mit dem Nachlaß Ludwig von Fickers und seiner Zeitschrift „Der Brenner" begründet wurde, war es von Anfang an interdisziplinär. Wir sind zum einen das Tiroler Literaturarchiv, andererseits durch die verschiedensten Kontakte Fickers, etwa mit Musikern, Malern, Philosophen, eine Archiv für Kultur- und Geistesgeschichte. Was die Kooperation der Literaturarchive untereinander oder aber die zwischen Literaturarchiv und Forschung anlangt, so wird hier immer wieder die EDV genannt. Das Brenner-Archiv bemüht sich schon seit Mitte der achtziger Jahre um die Einführung der EDV. Von Anfang an war eines klar: Es sollte keine „Hauslösung" entstehen, sondern die Daten sollten in einem zumindest österreichweiten Verbund-Netz abfragbar sein. Da Bibliotheken und Archive einander sehr nahestehende Einrichtungen sind - Bibliotheken verwalten oft auch Nachlässe, Archive wiederum die Bibliotheken der Nachlasser - lag eine Anpassung an das Katalogisierungsmodell der Bibliotheken sehr nahe. Damals entstand in Osterreich gerade der Verbund österreichischer wissenschaftlicher Bibliotheken, und diesem Verbund haben wir uns als erstes und bisher einziges Archiv angeschlossen. Auf der Basis der RAK-WB (Regeln für wissenschaftliche Bibliotheken. Wiesbaden 1983 = Regeln für die alphabetische Katalogisierung, Bd. 1) entwickelte eine Wiener Firma das EDV-Programm BIBOS. BIBOS ist die Abkürzung für Bibliotheksorganisationssystem. Das Programm übernimmt die gesamte Verwaltung einer Bibliothek: die Budget-Verwaltung, die Bestellung von Büchern, die Erwerbung, die Katalogisierung und schließlich auch die Ausleihe. Bereits in der Planungsphase von BIBOS hat mein damaliger Kollege Christoph König „Richtlinien zur Verwaltung und wissenschaftlichen Erschließung von Nachlässen in Literaturarchiven" entworfen, die 1988 in München als Bd. 1 der Reihe „Literatur und 240
Das Innsbrucker
,ßrenner-Archiv"
Archiv" erschienen sind. Diese Richtlinien verstehen sich als Sonderregeln der RAK und weichen von diesen nur dort ab, wo es eben die spezifischen Merkmale von Archivalien zu erfassen gilt. Wichtig ist, daß Königs Richtlinien nicht nur für Handschriften konzipiert wurden, sondern grundsätzlich auf alle Materialien anwendbar sind, die in einem Literaturarchiv anfallen. In Nachlässen liegen meistens nicht nur Handschriften, sondern oft auch die Bibliothek des Nachlassers, Erinnerungsstücke, Dokumente, Büsten, Gemälde, Tonbänder, Videokassetten u.ä. Seit 1991 versuche ich nun, die RAK und Christoph Königs Richtlinien in BIBOS umzusetzen. Die Eingabe unserer Bestände in den Bibliotheksverbund macht uns - nach der überwundenen RAK-Hemmschwelle - eigentlich keine größeren Schwierigkeiten mehr, weil wir uns gegenüber dem Bibliotheksverbund immer auf unsere Sonderbedürfnisse für die Handschriftenbeschreibung berufen können und weil König die strengen RAK-Regeln ohnehin schon gelockert hat. Daß von Königs Richtlinien in der Praxis ein paar Abstriche vorgenommen werden müssen, ändert nichts an deren guter Verwendbarkeit für die EDV-Erfassung. Augenblicklich sind wir das einzige Archiv, das im BIBOS-Verbund Daten eingibt. Ansonsten gehören dem Verbund an die 20 der größten Bibliotheken Österreichs an, darunter alle Universitätsbibliotheken und natürlich auch die Osterreichische Nationalbibliothek. Allerdings sind schon einige weitere Institutionen eingestiegen, die, ähnlich wie wir, vorwiegend sogenanntes Nicht-Buch-Material aufnehmen: die Osterreichische Phonothek und das Osterreichische Bundesinstitut für den wissenschaftlichen Film. Vorgesehen ist, daß nach unserem Pilotprojekt sich andere österreichische Literaturarchive anschließen, darunter vor allem das an der österreichischen Nationalbibliothek gegründete Österreichische Literaturarchiv, das ja eine Zentralstelle der österreichischen Literaturarchive werden soll. Das Salzburger Literaturarchiv, das Franz-NablInstitut in Graz und das Franz Michael Felder-Archiv in Bregenz haben ihr Interesse bereits angemeldet. Unsere Daten sind jedenfalls schon jetzt in ganz Österreich einsehbar. Bei der momentanen Regionalisierungstendenz - jedem Bundesland sein eigenes Literaturarchiv - bietet ein Verbund eine einfache Möglichkeit, die Daten zentral zu sammeln. Die Stärke des Systems liegt jedenfalls in der Vernetzung und in der Gleichartigkeit aller Titelaufnahmen, die speziellen Titelaufnahmen der Archivalien mit eingeschlossen. Der umgekehrte Fall wird z.B. schon jetzt praktiziert. Die Titelaufnahmen der Deutschen Bibliographie werden schon jetzt in unseren Verbund eingespeist und sind aufgrund der RAK 241
Anton Unterkircher und des maschinenlesbaren Datenaustauschformates MAB mit unseren Datensätzen kompatibel. Da sich das deutsche Regelwerk zur Erfassung von Nachlässen an die RAK anlehnt und das Datenformat sich am maschinenlesbaren Austauschformat für Bibliotheken orientiert, wäre das Brenner·Archiv z.B. in der Lage, Daten an die Zentralkartei der Autographen in Berlin zu liefern. Ich finde es bedauerlich, daß die DFG-Richtlinien die Richtlinien von König so völlig übergangen haben, wo doch beide fast genau zum selben Ergebnis gelangen, ja eigentlich gelangen mußten: MAB hat sich durchgesetzt, die RAK jedoch - so unangenehm sie im einzelnen auch sein mögen - haben für den ganzen deutschen Sprachraum normierende Wirkung und eignen sich deshalb vorzüglich für EDV.
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Joseph Α. Kruse
Thesen zum Thema der Kooperation von Literaturarchiven und Literaturwissenschaft 1. Literaturarchive besitzen unzweifelhaft mehrere Zweckbestimmungen. Ihre vornehmste und anspruchvollste Aufgabe besteht ebenso unbestritten darin, den Fundus an Dokumenten zur Literaturgeschichte der Forschung und damit der Literaturwissenschaft zur Verfügung zu stellen. Sie entgehen damit einem puren Dokumentarismus und „Reliquienkult" ohne Anbindung an den Erkenntnisprozeß und an die Fortführung einer im steten Fluß befindlichen wissenschaftlichen Debatte. Daß aus einem Nebeneinander von Literaturarchiven und Literaturforschung ein Miteinander entsteht, setzt selbstverständlich die Kooperationsbereitschaft der Literaturarchive, aber ebenso die Kooperationsfähigkeit der benutzenden Wissenschaft voraus. Dem Nutzen der Forschung widerspricht eine Haltung der Verweigerung von seiten der Literaturarchive aus Gründen persönlicher Interessen oder aus solchen der Überlastung, ebenfalls aber auch eine unsensible oder gar arrogante Anspruchshaltung der Literaturwissenschaft gegenüber den Archiven als reinen Dienstleistungseinrichtungen, die sie in der Regel wegen der Spezialkenntnisse der Archivmitarbeiter nicht sind und sein dürfen. 2. In Literaturarchiven aufbewahrte literarhistorische Quellen sind das geistige Eigentum ihrer Verfasser. Archive und Forschung sind im gemeinsamen Dienst Sachwalter und Nutznießer solcher Quellen; Literaturarchive sind dabei der Hort ihrer Aufbewahrung, die Forschung stellt ihrerseits das Movens der Auswertung dar. Beides kann aber nur Hand in Hand gelingen. Und erst wirklich gemeinsames Handeln erbringt den gewünschten Erfolg zugunsten literarhistorischer Erkenntnis. 3. Für die Literaturwissenschaft ist eine funktionierende Kooperation der verschiedenen Literaturarchive mehr als wünschenswert. Dadurch wird die Kooperation von Literaturarchiven und Literaturwissenschaft indirekt erleichtert. Bei Einzelerwerbungen von im Handel angebotenen Ergänzungen ihrer Sammlungen scheint mittlerweile eine solche Zusammenarbeit der Literaturarchive ohne Probleme eventueller Konkurrenz und ohne falschen Ehrgeiz vonstatten zu gehen. Auch sind Kombinationen von Ausstellungen und Projekten zwischen den Literaturarchiven möglich, eine Form der Zusammenarbeit, die freilich den Fachgelehrten in der 243
Joseph A. Kruse Regel weniger tangiert. Ziel der Kooperation zwischen den Literaturarchiven sollte sein, gewachsene historische Traditionen ernst zu nehmen und regionale Schwerpunkte zu beachten. 4. Für die Literaturwissenschaft stellt eine theoretisch naheliegende Forderung nach einer praktischer erscheinenden Konzentrierung des Materials zu einem einzigen „Staatsarchiv für Literatur" nur sehr vordergründig eine Forschungserleichterung dar. Regionale Aspekte würden damit schnell zugunsten einer Gesamtüberlieferung geopfert. Gleichzeitig blieben damit aller Voraussicht nach manche „Tönungen" und mittleren wie kleineren Uberlieferungsträger, die für die Literaturwissenschaft von Bedeutung sein könnten, auf der Strecke. Sogar die sich historisch ergebende Teilung von Nachlässen oder Sammlungen und ihre Unterbringung in verschiedenen Literaturarchiven wegen irgendwelcher regionalen Voraussetzungen und Interessen vermögen unter Umständen dem Andenken des Nachlassers zu nützen und die Forschung anzuregen. 5. Die Forderung nach Beibehaltung auch regionaler Gesichtspunkte in den Literaturarchiven redet aber selbstverständlich nicht einer unendlichen Zersplitterung das Wort. Wünschenswert wären die Stärkung und der Ausbau der vorhandenen Basis-Einrichtungen, die aufgrund ihrer Entstehung und Geschichte ihrer Region verpflichtet bleiben sollten, ohne gewisse überregionale Dienste aus dem Auge zu verlieren. Weitere Annexe von literaturarchivischen Sammlungen an Stadtarchiven oder -büchereien z.B. scheinen aber auf die Dauer nicht sinnvoll, weil damit die Nachwirkung, außer bei wirklich lokalen Größen, durchaus nicht gesichert ist sowie Auswertung und Nutzung durch die Literaturwissenschaft erheblich erschwert werden. 6. Den Literaturarchiven könnte es gut tun, wenn die Literaturwissenschaft nicht nur als ihr Benutzer, sondern gelegentlich auch als ihr Anwalt aufträte.
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Bernd
Kortländer
Gedanken zu einigen Funktionsveränderungen moderner Literaturarchive Archiv und Wissenschaft haben im Bereich geisteswissenschaftlicher Forschung nicht nur denselben Gegenstand, sie haben auch eine Vielzahl gemeinsamer Aufgaben. Die Dichotomie: Sicherung, Pflege und Aufbereitung der Quellen hier (Archiv) - Auslegung und Bewertung der Quellen dort (Wissenschaft) bleibt diesen Aufgaben gegenüber äußerlich. Sie ist Ausdruck eines historisch bedingten Selbstverständnisses der Literaturwissenschaft, beschreibt das traditionelle Rollenspiel im Verhältnis Archiv und Wissenschaft, wie es sich in der Phase der Gründung der Literaturarchive etabliert hat. In dem Maße, in dem sich, unter dem Druck der seit den sechziger Jahren massiv einsetzenden Diskussion, das Selbstverständnis der Literaturwissenschaft veränderte, veränderte sich auch ihr Verhältnis zu den Archiven. Denn es ist eine Binsenweisheit, daß jeder Umgang mit Quellen, wenn er sich nicht auf das bloße Einsammeln und Verstauen, also die rein technischen Vorgänge reduziert, hermeneutische Anteile hat: eine sinnvolle Aufbereitung ist ohne Auslegung ebensowenig vorstellbar wie andererseits Auslegung immer zugleich auch Bewahrung im Sinne von Uberlieferung ist. Die Entstehung der verstehenden Wissenschaften und die Entstehung der Archive verdanken sich demselben Motiv, sind sich bedingende und ergänzende Erscheinungen. Das methodisch geleitete, „systematisierte" Verstehen ist ja u.a. der Versuch, eine Tradition, die sich als Tradition quasi naturwüchsig und unbefragt Geltung verschaffte, auf ihre Bedeutungen und damit auf ihren praktischen Wert hin zu untersuchen. Bei einer solchen Bewertung durch Auslegung wird der untersuchte Gegenstand zumindest virtuell zur Disposition gestellt: es entsteht die Möglichkeit, sich ablehnend, zustimmend oder verändernd zu ihm zu verhalten. Was vorher unangreifbar und unverrückbar herrschte, wird jetzt kritisiert, umgewertet, erscheint in neuem Licht. Damit schlägt die Stunde des Archivs. Soll der durch das Verstehen in Gang gesetzte Veränderungsprozeß selbst wiederum verständlich und auch kontrollierbar bleiben, bedarf es der Sicherung und Bewahrung des Ausgangspunktes der Entwicklung in seiner authentischen Gestalt. Das Neue bedarf des Alten als Korrektiv. So wie die Wissenschaften sich als systematisierte Reflexe auf die unver245
Bernd Kortländer standene Herrschaft des überlieferten Alten verstehen lassen, ist das Archiv ein Reflex auf die Inthronisation des Neuen, ein Verhältnis, das schnell eine eigene Dialektik entfaltet, wenn die gefüllten Archive selbst zum Ausgangspunkt für die Einforderung des Neuen werden. Wo keine Archive existieren oder sie in ihrer physischen Existenz bedroht sind, wird auf Innovation zugunsten der Weitervermittlung der intakten Tradition verzichtet.1
,£)as Neue" in Literaturwissenschaft
und Archiv
Im Verhältnis von Literaturwissenschaft und Archiv kann der Begriff des Neuen mindestens zwei unterschiedliche Dinge meinen. Am häufigsten erscheint das Neue in der Literaturwissenschaft als eine Umwertung des nicht mehr begründungsbedürftigen Alten. Mit dieser Freistellung vom Begründungszwang hängt es zusammen, wenn die Literaturwissenschaften sich mit manchmal erschreckender Stupidität immer denselben Texten zuwenden.2 Daß die schriftlichen Hinterlassenschaften kanonisierter Autoren selbstverständlich ihren Platz in den Archiven finden, bedarf keiner weiteren Begründung. Eine etwaige Rangfolge solcher Autoren ist aus der Konjunktur des Autographenmarkts ablesbar. Ebenfalls ohne weitere Erörterung möchte ich behaupten, daß die Tätigkeit eines wissenschaftlichen Archivars, der sich mit den inzwischen sehr weitgehend aufgearbeiteten Nachlässen der kanonisierten Autoren unserer Literatur beschäftigt, von der eines Literaturwissenschaftlers, der über dieselben Schriftsteller arbeitet, nicht wirklich unterschieden ist. Das zeigt im übrigen der Blick in die Herausgeberlisten der Werkausgaben und die Register der Fachbibliographien. Allenfalls gibt es eine den Gegebenheiten (Materialzugang etc.) entsprechende Arbeitsteilung. Weitaus seltener erscheint das Neue in Form von bislang noch nicht kanonisierten oder gar teilweise oder gänzlich übersehenen, verdrängten und vernachlässigten Autoren. Dabei handelt es sich kaum mehr um Autoren früherer Jahrhunderte3, meist um solche aus der jüngeren oder 1 Vgl. Boris Groys: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie. München, 1992. S. 23. 2 Das führt dann u.a. zu jener Form einer frustrierten Germanistik, die sich in jeder Generation neu „um Schiller betrogen" wähnt. 3 Natürlich gibt es seit dem Einsetzen der massenhaften Literaturproduktion im 19. Jahrhundert eine derartige Menge von Autoren, daß immer wieder interessante Außenseiter zu entdecken sind. Mir ist eine solche Entdeckung erinnerlich, die nicht von
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Funktionsveränderungen moderner Literaturarchive jüngsten Vergangenheit bzw. aus der Gegenwart. In diesen Fällen hat sich vielfach ein Wechsel im zuletzt historisch gültigen Rollenspiel zwischen Literaturwissenschaft und Archiv ergeben. Die Archivare treten hier gegenüber den Literaturwissenschaftlern nicht mehr als die Vollstrecker literaturwissenschaftlicher Bewertungen und Hüter der darob in Sicherheit gebrachten Schätze auf, sondern grenzen umgekehrt mit ihren wertenden Entscheidungen der Literaturwissenschaft ein Teil ihres Arbeitsfeldes überhaupt erst ab. Denn anders als noch in den Gründerzeiten der Literaturarchive ist die Archivierung des dichterischen Nachlasses in diesen Fällen nicht mehr der Endpunkt des Kanonisierungsprozesses; die nicht nur metaphorisch, sondern tatsächlich vollzogene Aufnahme in eine der Schatzkammern deutschen Geistes steht jetzt oftmals am Anfang dieses Prozesses, bildet dessen Grundlage, was durch die allenthalben steigende Neigung von Autoren bestätigt wird, ihre Papiere schon zu Lebzeiten einem Archiv anzuvertrauen. Damit ergibt sich eine Reihe von Entscheidungsproblemen, die von den Archivaren eine um so sorgfaltigere Begründung verlangen, als sie bislang nicht dem traditionellen Rollenbild entsprachen und deshalb kaum problematisiert wurden. Zwar hat eine auf solche Entscheidungen gründende Praxis in den letzten Jahrzehnten bereits funktioniert, doch ist es an der Zeit, die dieser Praxis zugrundeliegenden Kriterien und Argumente öffentlich zu diskutieren. Ich möchte im folgenden einige Stichworte einer solchen Diskussion nennen.
1. Allgemeine Entscheidungen Die allgemeinste Frage an die Literaturarchive ist die, welche Kriterien denn erfüllt sein müssen, damit genau dieses Archiv den Nachlaß genau dieses Autors auch tatsächlich aufnimmt, bzw. unter welchen Bedingungen die Archivierung eines literarischen Nachlasses abgelehnt werden kann - was immer wieder vorkommen wird. Die Gründungsväter der Archive, z.B. die des Goethe- und Schiller-Archivs, hatten sich die Zeit und die Arbeit der Literaturwissenschaft gewissermaßen als Filter den Archiven vorgebaut vorgestellt. Mit dem rapide verkürzten Zeitabstand zwiungefähr aus dem Marbacher Archiv stammte und den Schriftsteller und Politiker Albert Dulk (1819-1884) betraf, dessen Nachlaß damals gerade für Marbach gesichert worden war. Jochen Meyer hat ihn in einem der Marbacher Magazine (48/1988) vorgestellt.
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Bernd Kortländer sehen Werkentstehung und Archivierung haben sich diese Voraussetzungen geändert. Wenn aber die Spreu vom Weizen nicht mehr auf quasi natürliche Weise, nämlich durch den Verfall, getrennt wird, dann ist ein rational begründetes Verfahren und eine zumindest ansatzweise institutionalisierte Abwicklung dieses Auswahlprozesses durch die Archive einzufordern. Der Auswahl voraus läge logisch die Identifizierung der insgesamt vorhandenen literarischen Nachlässe, eine sehr komplexe Aufgabe, deren auch nur teilweise Einlösung die Kooperation mit anderen, insbesondere Institutionen der Literaturforderung, nötig macht. Zwar mutet der vom (selbsternannten) „Westfälischen Literaturarchiv" in Hagen gemachte Vorschlag eines Katasters für literarische Nachlässe eher absurd an4, aber der gänzliche Verzicht auf jegliche Systematik kann dazu nicht die Alternative sein. Gerade der äußerst krause Bestand des „Westfälischen Literaturarchivs" liefert dafür den Gegenbeweis: Während hier mit großem Eifer und öffentlicher Unterstützung auch viel Entbehrliches zusammengetragen wurde, fehlen andernorts die Grundvoraussetzungen, um nur das Nötigste zu sichern. Die Unübersichtlichkeit und Buntschekkigkeit der Szene mit Archiven, die literarische Nachlässe aufbewahren, tut ein übriges. Die Kreuzung des für die deutsche Tradition ursprünglich kennzeichnenden regionalen Sammelprinzips mit dann sehr bald unvermeidlichen Zentralisierungstendenzen, führt, verbunden mit vielerlei historischen Zufälligkeiten, zu einer sehr komplexen und weithin undurchschaubaren Struktur. Aber es wäre sicher unsinnig und vielfach auch unmöglich, diese gewachsene (besser: gewucherte) Struktur mittels dirigistischer Maßnahmen zurechtstutzen zu wollen. Das völlige Scheitern der sehr bedenkenswerten Reformvorschläge für eine Arbeitsteilung der Literaturarchive in Nordrhein-Westfalen, die Johannes Rogalla von Bieberstein 1979 im Anschluß an eine von der Landesregierung in Auftrag gegebene Enquete gemacht hat, ist warnendes Beispiel für die Macht des Faktischen in diesem Bereich.5 Mit dem Verzeichnis von Denecke/Brandis 4
Die ausgreifenden Pläne des „Westfälischen Literaturarchivs Hagen" sind dokumentiert in der ersten (und zugleich letzten) Nummer der „Mitteilungshefte" vom Sept. 1968. Inzwischen hat dieses Archiv, das von Walter K.B. Holz ins Leben gerufen und am Leben gehalten wurde, seine Arbeit weitgehend eingestellt. Die Sammlungen werden im Archiv der Stadt Hagen verwahrt. 5 Vgl. Johannes Rogalla von Bieberstein: Literarische Nachlässe in Nordrhein-Westfalen. Erhebung und Gutachten. Köln, 1979, insbesondere S. 35-44. - Keiner der dort gemachten Vorschläge wurde realisiert, im Gegenteil hat sich die im Gutachten beschriebene Situation eher verschlechtert. So wurde dort z.B. die Stadt- und Landesbibliothek Dortmund als übergeordneter Sammelschwerpunkt (neben ÜB Münster, LB Detmold
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Funktionsveränderungen
moderner
Literaturarchive
und der Zentralkartei der Autographen in Berlin stehen Möglichkeiten zur Verfügung, zumindest einen Teil der Schwierigkeiten auszugleichen. Doch die Kompetenzverteilung und die Abgrenzung der Sammelgebiete zwischen den überregionalen Archiven, den Handschriftenabteilungen der großen Bibliotheken und den regional geprägten Archiven bis hin zu den Stadtarchiven sollte dringend in Form einer konzertierten Aktion von Archiv und Literaturwissenschaft offen zur Diskussion gestellt werden.6 Die Bedeutung solcher Fragen für die Literaturwissenschaft ist evident; sie sind ohne Berücksichtigung literaturwissenschaftlicher Interessen verantwortlich gar nicht zu bewältigen.
2. Speziellere
Entscheidungen
Konkrete Beispiele für Tragweite und Konsequenzen der in den Archiven getroffenen Entscheidungen fur literaturwissenschaftliches Arbeiten liefert der Umgang mit den Nachlässen solcher Autoren, deren Leben und Werk mehr oder minder intensiv mit dem deutschen Faschismus verknüpft sind. Die literaturwissenschaftliche Forschung in diesem Bereich stagniert, wie Uwe-K. Ketelsen in seinem Beitrag „Probleme einer gegenwärtigen Forschung zur »Literatur des Dritten Reiches'" feststellt. 7 Er sieht einen wesentlichen Grund darin, daß die Diskussion sich festgefahren hat in einer unzureichenden literaturhistorischen Kategorisierung. Die alten Fragestellungen, die vor allem an dem „wer" und „was" interessiert waren, sind verbraucht. Ketelsen schlägt vor, die „sektiererische Abgrenzung" und das Starren auf die Jahre 1933 und 1945 aufzugeben und die Beschäftigung mit der Literatur des Zeitraums „in den Gesamtzusammenhang der Epoche" zu stellen, „deren entscheidendes Ereignis man mit dem vagen und nicht unproblematischen Ausdruck .Modernisierung' bezeichnet hat."8 Mir scheint, daß gerade hier, bei der Öffnung des Blicks, und Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf) für Nordrhein-Westfalen vorgeschlagen. Zum Niedergang der Dortmunder Handschriftenabteilung s. Anm. 6. 6 Wie sehr das auch im Sinne der Literaturwissenschaft sein muß, hat das Beispiel der bedeutenden Handschriftensammlung der Stadt- und Landesbibliothek Dortmund gezeigt. Dort führte der Wandel im Selbstverständnis der Bibliothek hin zu einer reinen Stadtbücherei dazu, daß die Sammlung zeitweise der Benutzung gar nicht zugänglich war. Sie führt immer noch ein Schattendasein. 7 In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 64 (Stuttgart 1990). S. 707-725. 8 Ebd., S. 725.
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Bernd Kortländer der Umgang mit den Nachlässen der betreffenden Autoren und anderen Archivalien die besten Chancen bietet. Die Nachlässe vermögen am Material selbst deutlich zu machen, wie arbiträr die Grenzziehungen der Literaturgeschichte in diesem Feld sind, wie obsolet die Festlegung vieler Autoren auf den Begriff der „Literatur des Dritten Reiches" und damit dieser Begriff selbst ist. Nachlässe zeigen die oftmals fließenden Übergänge in der Entwicklung der Autoren, die unscharfen Trennlinien zwischen uns heute so völlig gegensätzlich scheinenden Haltungen. Selbstverständlich kann die Nahsicht auf die historischen Materialien, wenn die Distanz verloren geht, auch zu Problemen führen; die apologetische Beschäftigung mit Autoren der Zeit ist aus den fünfziger Jahren noch in unguter Erinnerung und hat sich in manchen, meist regional oder lokal inspirierten Zirkeln bis heute gehalten. Die Schwierigkeiten, die sich mit der von Ketelsen erhobenen Forderung nach einem Ende der Ausgrenzung und einer Historisierung der Fragestellung verbinden, sind aus der Diskussion des .Historikerstreites' hinlänglich bekannt. Wie empfindlich eine weniger differenzierte öffentliche Diskussion in diesen Punkten reagieren kann, hat das Heinrich-Heine-Institut der Landeshauptstadt Düsseldorf in seiner Gründungsphase erlebt. Das Heine-Institut ist die Nachfolgeeinrichtung der Neueren Handschriftenabteilung der Landes- und Stadtbibliothek Düsseldorf, die bei ihrer Auflösung im Jahre 1970 - die Büchersammlung wurde Grundstock der Universitätsbibliothek Düsseldorf - auf eine 200jährige Geschichte zurückblicken konnte. Zu den Beständen, die damals als Heine-Institut verselbständigt wurden, zählten neben dem erst 1956 erworbenen Heine-Nachlaß u.a. auch die Nachlässe der Schriftsteller Wilhelm Schäfer (1868-1952) und Hanns Heinz Ewers (1871-1943).9 Beide Nachlässe waren zu großen Teilen bereits von den Autoren selbst, später dann von deren Witwen an die Landes- und Stadtbibliothek gegeben worden. Wilhelm Schäfer, bekannt insbesondere durch seine .Anekdoten" und von Autoren wie Kafka und Hesse als Stilist gerühmt, hatte sich als Verfasser der „Dreizehn Bücher der deutschen Seele" bereits direkt nach dem 1. Weltkrieg ins Lager der Völkisch-Nationalen gestellt, spielte in der 9
Eine Übersicht über den Gesamtbestand der Sammlungen des Heinrich-Heine-Instituts geben Bernd Kortländer und Joseph A. Kruse: Das Archiv des Heinrich-Heine-Instituts. Geschichte und Bestand. - In: Heine-Jahrbuch , 32 (Hamburg 1993) S. 158-170. - Zum Ewers-Nachlaß vgl. jetzt die auf der Basis dieses Bestandes gearbeitete umfangreiche Monographie von Wilfried Kugel: Der Unverantwortliche. Das Leben des Hanns Heinz Ewers. Düsseldorf, 1992.
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Funktionsveränderungen moderner Literaturarchive Folge eine unrühmliche Rolle in den Auseinandersetzungen um die Sektion Literatur der Preußischen Akademie und war nach 1933 zwar kein ausgesprochener Aktivist des Nationalsozialismus, ließ sich aber doch gerne und willig vor dessen Karren spannen und wurde dafür mit Ehrungen (u.a. 1941 den Goethe-Preis der Stadt Frankfurt) belohnt. Hanns Heinz Ewers war 1911 mit dem Roman „Alraune" ein Bestseller geglückt, nach dem 1. Weltkrieg, den er als Propagandist des Deutschen Reiches - unfreiwillig - in den USA verbrachte, hatte er nicht mehr richtig Tritt gefaßt auf dem deutschen Markt und deshalb die politische Wende 1932/33 zu nutzen versucht, um mit den Romanen „Reiter in deutscher Nacht" und „Horst Wessel" noch einmal in den mainstream einzutauchen. In Anbetracht seines Rufes und seiner von Abnormitäten und Perversionen jeder Art gekennzeichneten früheren Bücher konnte diese Verbindung mit der Partei der Spießbürger nicht gelingen. Ewers fand sich schon bald mit seinen Büchern auf den Verbotslisten wieder, blieb aber gleichwohl durch seinen in der Tat erbärmlichen Anbiederungsversuch stigmatisiert. Als 1970 bekannt wurde, daß die Nachlässe dieser beiden Schriftsteller zum Bestand eines Hauses gehören sollten, das den Namen Heines trug, gab es Proteste. Das PEN-Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland mit Sitz in London faßte am 2. April 1971 eine Resolution, in der „diese Art der Verewigung nationalsozialistischen Gedankengutes" als „eine Verhöhung des Namens Heinrich Heines" bezeichnet und die Verantwortlichen der Stadt Düsseldorf aufgefordert werden, „die notwendigen Maßnahmen zu treffen, damit diese Nachlässe aus dem Heine-Archiv entfernt werden." Neben den Düsseldorfer Lokalblättern nahm sich auch die New Yorker Emigrantenzeitung .Aufbau" am 23.4.1971 der Sache an und forderte öffentlich und ultimativ die Entfernung dieser und etwaiger anderer .belasteter' Nachlässe aus dem Archiv des Heine-Instituts.10 Zunächst sollte vielleicht zugestanden werden, daß dieser Wunsch verständlich war und unter dem Gesichtspunkt des guten Geschmacks die 10 Vgl. die Zeitungsausschnitte und den Briefwechsel mit dem Initiator der Aktion, Fritz Hellendall, im Archiv des Heine-Instituts. - Als die Gemeinde Ottrau (Hessen), wo Wilhelm Schäfer geboren und begraben ist und wo eine Schule und eine Straße nach ihm benannt wurde, mit Unterstützung des Heine-Instituts im September 1992 eine durchaus kritische Würdigung in Form einer Ausstellung zu Leben und Werk unternahm, führte das vor Ort zu erheblichen Irritationen, ohne daß es freilich um die Aufbewahrung des Nachlasses ging. - Auch die öffentlichen Erinnerungen an Hanns Heinz Ewers 1992/93 in Düsseldorf führten zu ähnlichen Diskussionen. - Die Beispiele unterstreichen u.a. den Unterschied zwischen innerwissenschaftlicher und allgemeiner öffentlicher Debatte.
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Bernd Kortländer Kombination Heines mit dem „erfolgreichen Pornographen" und „Fachmann für Entschleierung", wie Bertolt Brecht den Biographen des Zuhälters Horst Wessel genannt hat11, tatsächlich unglücklich ist. Sie spiegelt aber nur im Großen das Drama wider, das sich in jedem Katalogkasten ereignen kann, wenn Heine als Briefschreiber direkt vor Hitler steht.12 Wo aber läge eine wirkliche Alternative? Die Nachlässe vernichten? Auch die ausgedehnten Briefwechsel Schäfers mit Hermann Hesse aus der Zeit zwischen 1903 und 1915 oder die Postkartenserien, die Ewers mit Erich Mühsam gewechselt hat? Also vielleicht „Säuberung" des Nachlasses? Ein abwegiger Gedanke. Übergabe der Nachlässe an das Goethe-Museum Düsseldorf oder gar Schaffung eines zentralen Archivs für Nazi-belastete Schriftstellernachlässe (wo dann gleich eine ganze Generation nicht minder belasteter Germanistikprofessoren als Bearbeiter hätte fungieren können)? Die durchweg untauglichen Vorschläge, die sich vermehren ließen, machen deutlich, daß es keine Alternative gibt zur Aufbewahrung und Aufarbeitung solcher Nachlässe in den durch Geschichte und Provenienz legitimierten Archiven. Das Deutsche Literaturarchiv in Marbach, in dem bekanntlich eine Vielzahl von Nachlässen verfolgter und emigrierter Schriftsteller aufbewahrt wird, hat ausweislich des Verzeichnisses von 1983 auch die Nachlässe von Schriftstellern wie Agnes Miegel, Ina Seidel oder Will Vesper gesammelt und bearbeitet.13 Seitdem ist eine Reihe weiterer Nachlässe aus diesem Bereich nach Marbach gelangt und, wie man dem Beitrag von Jochen Meyer in diesem Band entnehmen kann, erschlossen worden.14 Allein die Koexistenz solcher Nachlässe in den Archiven könnte, sobald sie von der literaturwissenschaftlichen Forschung zur Kenntnis genommen und sich im Bewußtsein der Wissenschaftler festsetzen würde, den Weg frei machen für einen „neuen" Blick auf die 11 Vgl. Bertolt Brecht: Die Horst-Wessel-Legende (1935). - In: B. Brecht: Gesammelte Werke. Bd. 20. Frankfurt a.M., 1967. S. 209-219, dort S. 210 f. 12 Vergleichbare Kombinationen ergeben sich bei der Umbenennung von Straßen oder öffentlichen Gebäuden, wo dann Hitler zwischen Kaiser Wilhelm und John F. Kennedy rücken kann, oder, wie jüngst im sächsischen Colditz, Prinzessin Luisa den Dichter Heinrich Heine ablöst. 13 Vgl. Ingrid Kussmaul: Die Nachlässe und Sammlungen des Deutschen Literaturarchivs Marbach am Neckar. Ein Verzeichnis. Marbach, 1983. 14 Die Selbstverständlichkeit, mit der hier die Karteikarte mit den „Sieben Oden an den Führer" in den Karteikasten der Geschichte einsortiert wird (s. den Beitrag Meyers in diesem Band S. 178), wirkt außerordentlich provokant und zielt genau in den Kern des Problems.
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Funktionsveränderungen
moderner
Literaturarchive
deutsche Literatur der dreißiger und frühen vierziger Jahre in dem von Ketelsen vorgeschlagenen Sinne. Hier wird erneut deutlich, welche Verantwortung die Archive gerade in ihrer veränderten, „modernen" Funktion für die Literaturwissenschaft haben und wie fundamental ihre Entscheidungen sind. Das nicht nur deshalb, weil die Archive auch gegen berechtigte moralische Bedenken und meist ebenso berechtigte ästhetische Urteile das vorhandene Material zu sichern versuchen und so eine fundierte, kritische Annäherung möglich machen. Die festgefahrene wissenschaftliche Debatte hat darüber hinaus im Umgang mit den Quellen die Chance, sich zu regenerieren und „der literarhistorischen Forschung zu diesem Thema eine Blickrichtung zu geben, innerhalb derer sich ein Erkenntnisinteresse entfalten könnte, das unseren eigenen historischen Standpunkt mitbedenkt."15
15 Ketelsen (s. Anmerkung 7), S. 725.
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Verzeichnis der Mitarbeiter
Dr. Sigrid Damm, Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin, Berlin Dr. Michel Espagne, Centre national de la recherche scientifique, Institut des textes et manuscrits modernes, Paris Dr. Thomas Feitknecht, Schweizerisches Literaturarchiv, Bern Dr. Bernhard Fischer, Schiller-Nationalmuseum, Deutsches Literaturarchiv, Marbach a.N. Prof. Dr. Almuth Grésillon, Centre national de la recherche scientifique, Institut des textes et manuscrits modernes, Paris Dr. Herbert Jacob, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin Dr. Christoph König, Schiller-Nationalmuseum, Deutsches Literaturarchiv, Marbach a.N. Dr. Manfred Koltes, Stiftung Weimarer Klassik, Weimar Dr. Bernd Kortländer, Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf Prof. Dr. Joseph A. Kruse, Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf Dr. Jochen Meyer, Schiller-Nationalmuseum, Deutsches Literaturarchiv, Marbach a.N. Prof. Dr. Norbert Oellers, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität, Bonn Dr. Ulrich Ott, Schiller-Nationalmuseum, Deutsches Literaturarchiv, Marbach a.N. Prof. Dr. Gerhard Schmid, Stiftung Weimarer Klassik, Weimar Dr. Irmtraut Schmid, Stiftung Weimarer Klassik, Weimar Dr. Siegfried Seifert, Stiftung Weimarer Klassik, Weimar Dr. Reinhard Tgahrt, Schiller-Nationalmuseum, Deutsches Literaturarchiv, Marbach a.N. Dr. Anton Unterkircher, Universität Innsbruck, Forschungsinstitut ,3renner-Archiv" Dr. Jutta Weber, Staatsbibliothek zu Berlin/Preußischer Kulturbesitz, Zentralkartei der Autographen Prof. Dr. Winfried Woesler, Universität Osnabrück
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