Literatur im Kontext phänomenologischer Wahrnehmungstheorie: M. Blechers Poetik des Empfindens 9783110485141, 9783110496727, 9783110493917

This study examines the prose works of the Romanian writer M. Blecher in the context of modern philosophies of perceptio

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German Pages 207 [208] Year 2016

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Table of contents :
Inhalt
1 Einführung
2 Pseudonyme und Fremdsprachen
3 Geheimnis und Irrealität der Dinge in Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit
3.1 Provokation des naiven Weltglaubens
3.2 Krise der Wirklichkeit
3.3 Phänomenologie und Ästhetik
3.4 Das Ding als Reales in der Phänomenologie der Wahrnehmung
3.5 Vexierbilder und Wahrnehmungsphantome
3.6 Die „essentielle Nostalgie“ der Kindheit
3.7 Billiger Zierrat und häusliche Dinge
4 Die wahrere Realität des Empfindens in Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit
4.1 Das Leben, bis aufs Blut enthäutet
4.2 Phänomenologie der Empfindung
4.3 Aporie des Empfindungsbewusstseins
4.4 Erotik der Wahrnehmung. M. Blechers literarische Phänomenologie des Empfindens
4.5 Empfindungsintensität bei Henri Bergson
4.6 Die Krisen als Empfindungsintensitäten
4.7 Schlamm-Werden
4.8 Blechers Kommentar zu Henri Bergsons Schöpferische Entwicklung
4.9 Baum-Werden, Vogelmensch-Werden
5 Aisthetik der Prosasprache
5.1 Prosarauschen
5.2 Sagen, was nicht in Worte eingeht
5.3 Das Wort soll zum Ding werden
5.4 Eine Kommunikation von Seelenblut
5.5 Aisthetik des Lesens
5.6 Streifzug durch die neuere Ästhetik
5.7 Der ästhetische Begriff des Erscheinens
5.8 Erscheinen der literarischen Prosa
5.9 Jahrmarktsartistik
6 Empfindungs- und Gefühllosigkeit in Vernarbte Herzen und Beleuchtete Höhle
6.1 M. Blechers literarische Pathographie
6.2 Der Konstruktionscharakter der Krankheit in Vernarbte Herzen
6.3 Emanuels Krankengeschichte als Ereignis der Kontingenz
6.4 Gefühlskälte und negativer Pathos
6.5 Der ästhetische Dilettantismus der Realität in Beleuchtete Höhle
6.6 Eine „leicht verrückte“ Schmerzwahrnehmung
7 Schlusswort
Bibliographie
Index
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Literatur im Kontext phänomenologischer Wahrnehmungstheorie: M. Blechers Poetik des Empfindens
 9783110485141, 9783110496727, 9783110493917

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Carmina Peter Literatur im Kontext phänomenologischer Wahrnehmungstheorie

WeltLiteraturen/ World Literatures

Schriftenreihe der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien Herausgegeben von Jutta Müller-Tamm, Andrew James Johnston, Anne Eusterschulte, Susanne Frank, Stefan Keppler-Tasaki und Georg Witte Wissenschaftlicher Beirat Nicholas Boyle (University of Cambridge), Elisabeth Bronfen (Universität Zürich), Hans Ulrich Gumbrecht (Stanford University), Renate Lachmann (Universität Konstanz), Ken’ichi Mishima (Osaka University), Glenn W. Most (Scuola Normale Superiore Pisa), Jean-Marie Schaeffer (EHESS Paris), Janet A. Walker (Rutgers University), David Wellbery (University of Chicago), Christopher Young (University of Cambridge)

Band 12

Carmina Peter

Literatur im Kontext phänomenologischer Wahrnehmungstheorie M. Blechers Poetik des Empfindens

Dissertationsschrift, Freie Universität Berlin, 2014. Die Entstehung dieser Arbeit wurde gefördert durch ein Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien an der Freien Universität Berlin.

ISBN 978-3-11-048514-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-049672-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-049391-7 ISSN 2198-9370 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Gestaltet von Jürgen Brinckmann, Berlin, unter Verwendung einer Graphik von Anne Eusterschulte Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt 1 

Einführung | 1 



Pseudonyme und Fremdsprachen | 11 



Geheimnis und Irrealität der Dinge in Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit | 17  Provokation des naiven Weltglaubens | 17  Krise der Wirklichkeit | 21  Phänomenologie und Ästhetik | 27  Das Ding als Reales in der Phänomenologie der Wahrnehmung | 32  Vexierbilder und Wahrnehmungsphantome | 38   Die „essentielle Nostalgie“ der Kindheit | 49  Billiger Zierrat und häusliche Dinge | 55 

3.1  3.2  3.3  3.4  3.5  3.6  3.7  4 

4.9 

Die wahrere Realität des Empfindens in Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit | 63  Das Leben, bis aufs Blut enthäutet | 63  Phänomenologie der Empfindung | 67  Aporie des Empfindungsbewusstseins | 72  Erotik der Wahrnehmung. M. Blechers literarische Phänomenologie des Empfindens | 75  Empfindungsintensität bei Henri Bergson | 81  Die Krisen als Empfindungsintensitäten | 88   Schlamm-Werden | 90  Blechers Kommentar zu Henri Bergsons Schöpferische Entwicklung | 96  Baum-Werden, Vogelmensch-Werden | 99 

5  5.1  5.2  5.3  5.4  5.5  5.6  5.7  5.8  5.9 

Aisthetik der Prosasprache | 105  Prosarauschen | 105  Sagen, was nicht in Worte eingeht | 108   Das Wort soll zum Ding werden | 115  Eine Kommunikation von Seelenblut | 116  Aisthetik des Lesens | 121  Streifzug durch die neuere Ästhetik | 126  Der ästhetische Begriff des Erscheinens | 132  Erscheinen der literarischen Prosa | 137  Jahrmarktsartistik | 140 

4.1  4.2  4.3  4.4  4.5  4.6  4.7  4.8 

VI | Inhalt



6.6 

Empfindungs- und Gefühllosigkeit in Vernarbte Herzen und Beleuchtete Höhle | 145  M. Blechers literarische Pathographie | 145  Der Konstruktionscharakter der Krankheit in Vernarbte Herzen | 151  Emanuels Krankengeschichte als Ereignis der Kontingenz | 159  Gefühlskälte und negativer Pathos | 167  Der ästhetische Dilettantismus der Realität in Beleuchtete Höhle | 172  Eine „leicht verrückte“ Schmerzwahrnehmung | 179 



Schlusswort | 187 

6.1  6.2  6.3  6.4  6.5 

Bibliographie | 191  Index | 199 

1 Einführung Als der rumänische Schriftsteller Mihail Sebastian 1936 und 1937 die Prosa M. Blechers rezensiert, spricht er ein ungewöhnliches Lob aus. In Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit glaubt er einen genialen Zug zu entdecken und versichert, dass er dergleichen nie über ein literarisches Buch sagen würde, doch Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit sei keine Literatur.1 Von dem Roman Vernarbte Herzen behauptet Sebastian dagegen, er hätte ihm seinen Glauben an die Literatur und ihrem Vermögen wiedergegeben: „Der Literatur etwas überdrüssig, etwas skeptisch, ob ihrer Möglichkeiten, finde ich in Vernarbte Herzen längst vergangene Leidenschaften wieder. Offenbar waren sie nicht unwiederbringlich verloren, wenn es einem Buch gelungen ist, sie mit solcher Intensität in mir neu zu entfachen.“2 In einer Epoche der literarischen Suche und Erneuerung, in der der Begriff der Literatur selbst problematisch geworden ist, spricht Sebastian der Prosa Blechers seine Anerkennung aus, indem er ihr ästhetische Originalität und sogar Qualitäten nachsagt, die das Literarische schlichtweg zu überflügeln scheinen: „Seine Evokation verleiht den Gegenständen Relief und – dies ist kein Wortspiel – Wirklichkeit“3. „Es entsteht beim Lesen dieses Romans“, heißt es über Vernarbte Herzen, „ein ‚schwindelerregender Wirklichkeitseindruck‘, der die Literatur ganz und gar übertrifft.“4 Die Prosadarstellungen des jüdisch-rumänischen Autors aus Roman wirken auf Sebastian – wie auf spätere Leser – plastisch, real, zum Greifen nahe. Die neue Rezeptionswelle, die mit dem Erscheinen der ersten Werkausgabe5 1999 eingesetzt hat, bestätigt Sebastians Anerkennung Blechers als eines der bedeutendsten Autoren der literarischen Moderne in Rumänien. Wenn Blecher heute noch unbekannt ist, so liegt das im Wesentlichen an seiner Marginalisierung zu Zeiten des kommunistischen Regimes.6 Der konservative Geschmack des Literaturbetriebs, der latente Antisemitis-

|| 1 Mihail Sebastian, „M. Blecher. Întâmplări în irealitatea imediată“, in: M. Blecher, mai puţin cunoscut, Mădălina Lascu (Hrsg.), Bukarest 2000, 226. 2 „Puțin obosit de literatură, puțin sceptic în ce privește posibilitățile ei, regăsesc în Inimi cicatrizate emoții de mult pierdute, dar nu pentru totdeauna, de vreme ce o carte este în stare să mi le redea cu atâta acuitate.“ Mihail Sebastian, „M. Blecher. Inimi cicatrizate“, in: Lascu, 2000, 244. Meine Übersetzung. 3 „Obiectele capătă în evocarea sa relief și – fără joc de cuvinte – realitate.“ Sebastian, Mihail. „M. Blecher. Întâmplări în irealitatea imediată“, ebd., 226. Meine Übersetzung. 4 „Este în cetirea acestui roman o ‚vertiginoasă senzație de realitate‘ care depășește în chip absolut literatura“. Mihail Sebastian. „M. Blecher. Inimi cicatrizate“, ebd., 243. Meine Übersetzung. 5 M. Blecher, Întâmplări în irealitatea imediată. Inimi cicatrizate. Vizuina luminată, Craiova, Bukarest 1999. Alle Zitate im Original erfolgen auf Grundlage dieser Ausgabe. 6 Siehe Ada-Cătălina Brăvescu, Cel mai problematic şi mai spectaculos caz de receptare al literaturii române – M. Blecher, Doktorarbeit, Bukarest 2008.

2 | Einführung

mus, aber auch Blechers früher Tod ließen sein Werk in Vergessenheit geraten und verzögerten die ihm gebührende Rezeption. Max Blecher ist 1909 im Nordosten Rumäniens in Botoşani geboren und stirbt 1938 keine 29 Jahre alt in Roman, einer kleinen Provinzstadt in der Moldau.7 Hier verbringt der Sohn eines jüdischen Keramikwarenhändlers seine Kindheit und Jugend, hier verfasst er in den letzten vier Lebensjahren seine Prosabücher. M. Blechers Leben ist von dem Leiden an Knochentuberkulose, der sogenannten Pott’schen Krankheit gezeichnet, einer Wirbelsäulenentzündung, die im fortgeschrittenen Stadium zu Knochenabbau führt. 1929 zieht er nach Frankreich, nach Paris und Rouen, um Medizin zu studieren, muss sich aber bald in einem Sanatorium an der nordfranzösischen Atlantikküste, in Berck-sur-Mer behandeln lassen. Knochentuberkulose wird zur Zeit Blechers durch Eingipsung und Ruhigstellung der betroffenen Körperteile behandelt, eine Therapie, die den Kranken zur Unbeweglichkeit zwingt. Der Roman Vernarbte Herzen, der 1937 erscheint, gestaltet literarisch autobiographische Erlebnisse aus der französischen Küstenstadt. Erinnerungen an Berck und an die Sanatorien im schweizerischen Leysin und in Tekirghiol am Schwarzen Meer, wo Blecher kurzzeitig zwischen 1932 und 1934 interniert ist, sind Gegenstand seines Sanatoriumstagebuchs Beleuchtete Höhle. Dieses wird 1971 von dem rumänischen Avantgarde-Schriftsteller Saşa Pană posthum herausgegeben. 1934, nachdem sich die Aussicht auf Heilung zerschlägt, zieht Blecher nach Roman zurück, wo er ein Haus am Rande der Stadt bezieht. In den Darstellungen der Zeitgenossen erscheint er als eine Art Schreibathlet in der Unbewegtheit.8 In seinem Vorwort zur Erstausgabe von Beleuchtete Höhle beschreibt ihn Saşa Pană folgendermaßen: „Eine reiche Post hielt ihn täglich mit dem künstlerischen und intellektuellen Geschehen in Frankreich, England und hierzulande auf dem Laufenden. Auf den kleinen Tischen rechts und links vom Bett türmten sich, so weit seine elfenbeinernen Hände greifen konnten, frisch erschienene, gute Bücher und aktuelle Zeitschriften, die ihm Freunde aus dem Ausland zuschickten. […] Er lehnte ein Brett mit schräg angeschnitten Stützbeinen gegen die Knie an und – in der gleichen Stellung, in der er schlief, in der er aß, hielt Blecher das Buch oder das Heft.“9 „Ein

|| 7 Das umfassendste biographische Essay in deutscher Sprache ist das Nachwort des Übersetzers Ernest Wichner „Reihe 19, Platz 7 – ein Grab auf dem jüdischen Friedhof in Roman: Max Blecher jenseits der Autobiographie“, in: M. Blecher, Beleuchtete Höhle, Frankfurt am Main 2008, 175‒200. Die aktuellste Blecher-Monographie in rumänischer Sprache, die biographische Zusammenhänge detailliert rekonstruiert, ist Doris Mironescu, Viaţa lui M. Blecher. Împotriva biografiei, Iaşi 2011. 8 Zu der Figur des Akrobaten in der Unbewegtheit bei Kafka, Beckett und in der Malerei Francis Bacons siehe Gilles Deleuze, Francis Bacon. Logik der Sensation, München 1995, 31‒33. 9 „Un curier bogat îl lega zilnic de viața literară și intelectuală din Franța, din Anglia și din țară. Pe măsuțele din dreapta și din stânga patului, până unde mâinile de fildeș puteau ajunge, se îngrămădeau ultimele cărți bune și reviste proaspete, trimise de prieteni de peste țări. [...] Proptea

Einführung | 3

Leben in der immer gleichen Position: auf dem Rücken, mit den Knien zu einem umgedrehten W versteinert.“10 So verfasst Blecher seine letzten beiden Bücher. So stellt er auch seinen ersten Prosatext Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit fertig, den er in groben Teilen während seines Aufenthaltes in Braşov 1934 aus einem Haufen Manuskripte erarbeitet. Der Avantgarde-Dichter Geo Bogza, den er in Braşov kennenlernt und mit dem ihn zeitlebens eine enge Freundschaft verbindet, übernimmt 1936 die Publikation von Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit. Das Buch erregt Aufsehen. Eugen Ionescu, der in jenen Jahren „Krieg gegen die ganze Welt“ führt, gefällt das Buch so sehr, dass er sich zu seinem einsamen Verfechter gegen das „dümmliche und in metaphysischen Sachen unbedarfte Publikum“11 stilisiert. Blechers Darstellungen gelten den literarischen Zeitgenossen als einzigartig. Ihre außergewöhnliche Intensität und plastische Anschaulichkeit wird oft mit ihrem autobiographischen Charakter in Verbindung gebracht, mit der durch die Krankheit gesteigerten Sensibilität Blechers. Das Leiden mag seine Aufmerksamkeit für das Geschehen im eigenen Körper geschärft haben; die Intensität seiner Darstellungen belegt zunächst eine besondere Performanz und Wirkung seiner Sprache, die es vermag, den effektvollen Anschein einer unmittelbar greifbaren Welt zu erzeugen. Etwas Ähnliches dürfte Sebastian gemeint haben, als er Blechers Schreiben „eine magische Kraft“ zusprach, „durch Worte das Wesen der Dinge zu treffen“.12 Im Zentrum der vorliegenden Arbeit über die Prosa M. Blechers steht eine narrative Konstellation, die Sebastian in seinen Leseeindrücken anspricht: das Verhältnis von Sinnlichkeit und Wirklichkeit, von Empfinden und Realität.13 Die sogenannten Krisen, Unruhen und Verzweiflungen der Figuren Blechers rühren oft von Erfahrungen einer außerordentlichen Empfindungsintensität her, die die vertraute Sicht auf die Welt erschüttern. Je stärker die Sinne oder der Leib von den Dingen, Umgebungen und unerwarteten Geschehnissen in Beschlag genommen werden, desto fragiler und zweifelhafter erscheint die Alltagsrealität. Die Ekstatik der Sinne lässt das durch Erfahrung und Wissen als real Verbürgte zusammenbrechen. Blechers Ich-

|| peste genunchi o scândură cu picioarele tăiate pieziș și – în aceeași poziție în care dormea, în care mânca – Blecher sprijinea cartea ori caietul.“ Sașa Pană, „Cu inima lânga M. Blecher“, in: M. Blecher, Vizuina luminată, Bukarest 1971, 6. Meine Übersetzung. 10 „Viață în aceeași poziție: pe spate cu genunchii împietriți în W întors.“ Ebd., 7. Meine Übersetzung. 11 „publicul prostănac și ametafizic“ Eugen Ionescu, „Cronica literară“, in: Eugen Ionescu, Război cu toată lumea. Publicistică românească, Bd. 1, Bukarest 1992, 277. 12 „o magică forţă de a atinge prin cuvinte esenţa lucrurilor“ Mihail Sebastian. „M. Blecher. Întâmplări în irealitatea imediată“, 244. Meine Übersetzung. 13 Im Rumänischen unterscheidet man terminologisch nicht zwischen Realität und Wirklichkeit. In dieser Arbeit wird Realität im Sinne der objektiven Faktizität oder der handfesten Gegenständlichkeit genutzt, Wirklichkeit dagegen als subjektive Kategorie, als Realität einer Vorstellung. Siehe Hans Heinz Holz/S. Abbondio, „Realität“, in: Karlheinz Barck (u. a.), Ästhetische Grundbegriffe. Postmoderne – Synästhesie, Bd. 5, Stuttgart, Weimar 2003, 197‒227.

4 | Einführung

Figuren werden aufs rohe Empfinden zurückgeworfen. Auffassungsmöglichkeiten und Imaginationsräume tun sich dabei auf, die nicht selten ins Irreale und Scheinhafte abdriften, die aber stets im Empfinden und in den physischen Erregungszuständen ihren Ausgang nehmen. Blechers Figuren halluzinieren nicht. Sie entdecken die Virtualität oder die Möglichkeiten des Seins jenseits der Konstanz und vermeintlichen Notwendigkeit der objektiven Realität, jenseits der gewohnten Sehund Denkweisen. Dies trifft auf die „Krisen“ und Entgrenzungserfahrungen des Protagonisten in Blechers erster Prosaerzählung zu, ebenso wie auf die Schockerfahrungen, welchen die Figuren in Vernarbte Herzen und Beleuchtete Höhle ausgesetzt sind. In den Erinnerungsepisoden aus dem Sanatorium rühren die Wahrnehmungsstürze nicht nur von dem Schwellencharakter der Sinne her.14 Die objektiven Situationen sind hier ohne deren Zutun unbegreiflich und absurd. Die „Heterotopie“15 des Sanatoriums mit ihren surrealen und unheimlichen Therapieeinrichtungen und der Allgegenwärtigkeit des Todes macht die Kontingenz von Wirklichkeit augenscheinlich. Der Widersinnigkeit der Faktizität kann hier nur noch ästhetisch begegnet werden. Sie erscheint als Produkt einer mal surrealen, mal grotesken und immer dilettantischen Ästhetik der Wirklichkeit selbst. Das Verhältnis von Empfindung und Wirklichkeit, Sinnen und Erkenntnis steht auch in der Philosophie der Epoche Blechers im Zentrum des Interesses. In der frühen Phänomenologie bei Edmund Husserl oder seinem Schüler Wilhelm Schapp wird der Versuch unternommen, die Denkformen in invarianten, beständigen Wahrnehmungen zu begründen. Wirklichkeit stellt sich hier als ein optimales Konstrukt der Sinne, später, bei Maurice Merleau-Ponty als geronnene Wahrnehmungsstruktur heraus. In seiner klar konturierten, geschlossenen Gestalt erscheint das Ding phänomenologisch als das Reale schlechthin. Doch seine Evidenz kann nur mit Mitteln der Anschauung gesichert werden: „Nie ist das Ding […] direkt gegeben“, es gibt „überall ein[en] Weg […], auf dem man zu dem Dinge kommt.“16 Dieser Weg ist ein optimaler und strukturierter Gebrauch der Sinne. Er kann auch verfehlt werden. Das Wahrnehmungssubjekt kann sich in der phänomenalen Fülle der Welt verlieren, der Blick kann „in einen Sumpf“17 geraten, an den Erscheinungen der Materie irrewerden. Das ist es, was Blecher darstellt. Die Erkenntnisleistung des klaren Blicks, der Konturen, Oberflächen und Formen ausmacht, versuchen die Phänomenologen zu konsolidieren, indem sie den gesamten Leib in dessen Darstellungs- oder Strukturierungsarbeit einbeziehen. Die Klarheit des Sehens allein ist keine sichere Garantie für die Realität der Dinge. Es muss eine weitere Wahrneh|| 14 Zu den Sinnen als Einfallstore des radikal Fremden siehe Bernhard Waldenfels, Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden, Bd. 3, Frankfurt am Main 1999. 15 Michel Foucault, „Von anderen Räumen“, in: Jörg Dünne/Stephan Günzel, Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaft, Frankfurt am Main 2006, 317‒329. 16 Wilhelm Schapp, Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung, Wiesbaden 1976, 36. 17 Ebd., 84.

Einführung | 5

mungsqualität gegeben sein, eine „Solidität“ oder „Schwere“ des Gesehenen, das real ist, wenn es sich „leibhaftig“18 darbietet. Es gibt in der Phänomenologie der Wahrnehmung eine Hierarchie der Sinne, in der das Sehen die Spitzenposition einnimmt. Am Sehen beteiligt sich aber der gesamte Leib und verleiht dem erkennenden Blick einen hintergründig haptischen Charakter. Blecher teilt das phänomenologische Interesse für Dinge und Alltagsgegenstände. In Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit ersteht die Welt der Kindheit vornehmlich durch die Erinnerung an „billigen Zierat [sic] und häuslichen Dingen“19, an „[w]eibliche[n] Flitter, künstliche[n], billig und reich verzierte[n] Tand“20 oder an „[a]lte[n] Sachen und Gegenstände[n] voller Melancholien“21. Doch die Formgeschlossenheit des abgenutzten, dekorativen Plunders ist prekär. Die Gegenstände können jederzeit ihre Konturen und Oberflächen verlieren, ihre „Außenhaut“ kann „sich verbrauchen“, so dass sie dem Protagonisten „mitunter bis aufs Blut enthäutet“22 erscheinen. Statt eine Gewähr der Realität zu sein, sind die Dinge bei Blecher Erfahrungsmedien einer „unmittelbaren Unwirklichkeit“. In dem Kapitel „Geheimnis und Irrealität der Dinge“ lese ich die literarische Darstellung der Dinge in Blechers erstem Prosatext gegen die phänomenologischen Begriffe des Dings, der Wirklichkeit und in produktiver Differenz zur phänomenologischen Auffassung von Ästhetik. Blechers ästhetische Sicht auf die Dinge rührt in seinem ersten Prosabuch nicht von einer Gleichgültigkeit gegenüber dem Sosein der Dinge her, wie sie oft – etwa bei Husserl23 oder aktuell bei Martin Seel24 – für die Ästhetik als charakteristisch gilt. Für Husserl unterscheidet sich das Vorgehen des Künstlers von dem des Phänomenologen darin, „dass er nicht darauf ausgeht, wie dieser den ‚Sinnʻ des Weltphänomens zu ergründen und in Begriffe zu fassen, sondern es sich intuitiv zuzueignen, um daraus [die] Fülle der Gebilde, Materialien für schöpferische ästhetische

|| 18 Ebd., 20. 19 M.Blecher, Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit, Frankfurt am Main 2003, 43; „mărunte ornamente şi lucruri domestice“, Blecher, 1999, 62. Da den meisten Lesern die rumänische Sprache nicht geläufig sein wird, zitiere ich im Haupttext die deutschen Textausgaben in der Übersetzung Ernest Wichners. Das originalsprachliche Zitat wird in der Fußnote zum Vergleich angeführt. Daraus ergibt sich bei Verweisen auf das Werk Blechers eine doppelte Angabe. Der erste Teil verweist immer auf die deutsche Übersetzung, der zweite auf die rumänische Gesamtausgabe. 20 Blecher, 2003, 51; „afublări[le] feminine şi […] obiecte[le] artificiale ieftin ornamentate“, Blecher, 1999, 66. 21 Blecher, 2003, 70; „vechituri şi obiecte pline de melancolii“, Blecher, 1999, 76. 22 Blecher, 2003, 14; „jupuite până la sânge“, Blecher, 1999, 47. 23 „Ihm [dem Künstler] wird die Welt, indem er sie betrachtet, zum Phänomen, ihre Existenz ist ihm gleichgültig, genauso wie dem Philosophen.“ Edmund Husserl, Arbeit an den Phänomenen. Ausgewählte Schriften, Bernhard Waldenfels (Hrsg.), Frankfurt am Main 1993, 120. 24 „Es [das ästhetische Interesse] zeichnet sich durch eine potentielle Indifferenz gegenüber dem Sosein aus.“ Martin Seel, Ästhetik des Erscheinens, Frankfurt am Main 2003, 107.

6 | Einführung

Gestaltungen zu sammeln.“25 Die Existenz der Phänomene ist demnach dem Künstler gleichgültig. Derselben Meinung ist auch Wilhelm Schapp: „In ihr [der ästhetischen Anschauung] liegt nicht dies Streben nach Dingen und Deutlichkeit. Sie fühlt sich wohl in der Undeutlichkeit“26. Doch die Anderswahrnehmungen gehen bei Blecher selten aus einem unbekümmerten Spiel der Phantasie mit den mannigfaltigen Erscheinungen hervor, vielmehr drängen sie sich dem Protagonisten unversehens auf und reißen ihn aus seinem Alltagsverständnis. Blechers Ästhetik ist eine Ästhetik der Plötzlichkeit.27 Die Frage nach dem Sinn der Phänomene stellt sich zudem beharrlich, in einer Schärfe und Radikalität, die phänomenologische Versuche der Verankerung der Wirklichkeit in der Sinnlichkeit hinter sich lässt. Die Erscheinungen sind hier mit dem Versprechen auf eine „wahre Bedeutung“28 (adevăratul înţeles) verbunden. Dieses wird zwar nie voll eingelöst, dennoch wird es stürmisch und oft verzweifelt gegen den alltagspraktischen Zugang zur Welt gewendet. Blechers Prosa formuliert einen einschneidenden ontologischen Verdacht, ob die „unmittelbare Unwirklichkeit“ (irealitatea imediată) des Empfindens nicht eine „wahrere[] Realität“29 (o realitate mai adevărată) sei. Es geht um eine Revolte gegen die Banalität und „erbärmlich[e] […] Exaktheit“30 (exactitate aspră) der festgefahrenen Denk- und disziplinierten Wahrnehmungsweisen. Dieser aufsässige, umstürzlerische Gestus macht den avantgardistischen Zug der Ästhetik Blechers aus. Zudem gibt Blecher in der Darstellung von Dingen und Umgebungen der Haptik den Vorzug. Das Wahrnehmen der Dinge aus der Distanz schlägt jäh in osmotische Nähe um. Die Dinge rücken dem Protagonisten in Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit auf den Leib: „Zwischen mir und der Welt gab es keine trennende Distanz. Alles, was mich umgab, überfiel mich von Kopf bis Fuß, als wäre mein Haut löchrig gewesen wie ein Sieb.“31 Genau genommen stellt Blecher keine Wahrnehmungen, sondern Abstürze und Zusammenbrüche der Wahrnehmung dar. Mit den Figurationen einer verfleischlichten Welt werden Tiefenschichten des Empfindens an der Schwelle oder äußersten Grenze des Bewusstseins vorstellbar gemacht. Im Unterschied zur Wahrnehmung, gibt es in der Empfindung, wie Bernhard Waldenfels zeigt, „noch keinen Jemand, der Etwas spürt“; „Empfinden ist ein Sichempfinden im

|| 25 Husserl, 1993, 120. 26 Schapp, 1976, 76. 27 Karl Heinz Bohrer, Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, 3. Auflage, Frankfurt am Main 1998. 28 Blecher, 2003, 71; Blecher, 1999, 77. 29 Blecher, 2003, 45; Blecher, 1999, 63. 30 Blecher, 2003, 128; Blecher, 1999, 106. 31 Blecher, 2003, 16; „Între mine şi lume nu exista nici o despărţire. Tot ce mă înconjura mă invada din cap până în picioare, ca şi cum pielea mea ar fi fost ciuruită.” Blecher, 1999, 47.

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Anderen“32. Empfunden werden keine Dinge oder Gegenstände, sondern Qualitäten, die den Empfindenden und das Empfundene gleichermaßen charakterisieren. Die bewusstseins- und sprachphilosophische Paradoxie der Empfindung ist, dass diese, je intensiver sie erlebt wird, umso weniger distinkt qualifiziert werden kann. Blechers Darstellungen machen, oft unter dem Vorbehalt des Irrealen, Erfahrungen vorstellbar, bei denen Ich und Welt, Schmerz und Lust kaum mehr voneinander zu unterscheiden sind. In dem Kapitel „Empfinden als wahrere Realität“ zeige ich, inwiefern Blechers Darstellung von Empfindungsintensitäten und Sinnessensationen mit zeitgenössischen, philosophischen Vorstellungen eines sogenannten primordinalen, unmittelbaren Bezugs zur Welt korrespondiert. Die existentielle Verflechtung von Leib und Welt bei Maurice Merleau-Ponty und das Werden des moi profond bei Henri Bergson (und bei seinen späteren Lesern Gilles Deleuze und Michel Serres) sind Bezugspunkte zur Herausarbeitung einer Ästhetik des Empfindens bei M. Blecher. Aus der Perspektive des Empfindungs-Ichs wird im Erzählen weniger erinnernd nachvollzogen, was geschehen ist. Vielmehr wird das Erscheinen von kaum benennbaren Phänomenen und kaum fassbaren Abläufen im Körper imaginativ ausgeführt: wie es sich anfühlte, wie es erschien und schien. „Jede Empfindung“, sagt Merleau-Ponty, „trägt in sich den Keim eines Traums und einer Entpersönlichung.“33 Es ist dieses imaginative Potential des Empfindens, das in der Erinnerungserzählung aktualisiert wird. Blechers Arbeitstitel Einübungen in die unmittelbare Unwirklichkeit (Exerciţii în irealitatea imediată) fängt diese Leistung des Erzählens genauer ein. Aus der virtuellen Perspektive des Empfindenden erscheinen die Dinge nicht als ein für alle Mal abgeschlossene, konstituierte, sondern als potentielle Formen der Materie im Wandel, als gewordene oder werdende. Die Faszination für Schlamm rührt von der Intuition einer ursprünglichen, schöpferischen Freiheit der Urmaterie her, sich in Formen auszudifferenzieren, die auch dem Ich als „Fleisch und Blut“34 innewohnt. Die Imagination vollzieht insbesondere Überschreitungen zwischen dem Organischen und Anorganischen. Die Alltagsobjekte erscheinen verfleischlicht und verlebendigt, das gerade noch Lebendige wird im Übergang zum Artefakt eingefangen: das „zerklüftete und feuchte Holzstück“ als es zur „verholzten Rose“35 zerfällt, die Innereien geschlachteter Rinder, wenn sie ausgeweidet als Kunst- und Schmuckgegenstände erscheinen36. Ebenso vollzieht sich im Erzählen ein vom Empfinden getragenes Werden des Ichs: ein Baum-Werden des Rekonvaleszenten, ein || 32 Bernhard Waldenfels, Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes. Frankfurt am Main 2000, 277. 33 Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 6. Auflage. Berlin 1966, 253. 34 Blecher, 2003, 86. 35 Blecher, 2003, 91; „momentul când bucata de lemn zdrenţăroasă şi umedă expira într-un trandafir înlemnit“, Blecher, 1999, 87. 36 Blecher, 2003, 81.; Blecher, 1999, 81‒82.

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Hund-Werden beim Streunen durch die feuchte Landschaft, ein Vogel-Werden der mit Schlamm besudelten Arme, ein Vogelmensch-Werden auf dem Dach. Dies sind Involutionen und Entfesselungen des Leibs zugleich, Befreiungen ins Virtuelle aus der biologischen Form. Ihre sprachliche Realisierung kann zuweilen paradoxerweise nur um den Preis ihrer Irrealisierung, im Modus des Scheinhaften, des Als ob (ca şi cum) geschehen.37 Umgekehrt kann sich das Ich imaginativ auch in die Reglosigkeit und Starrheit der Artefakte und Simulakren einüben: zur Wachsfigur werden, zur Statue werden, und den toten Punkt seines Vermögens zur Virtualität erreichen. Der Versuch, eine Ästhetik des Empfindens bei Blecher im Dialog mit der Philosophie zu entwerfen, legitimiert sich zum einen durch den philosophischen Frageund Reflexionsgestus seiner Erzählerfiguren. Die Frage nach Wirklichkeit, nach dem Sinn von Phänomenen und unbegreiflichen, faktischen Situationen motiviert in beiden Ich-Narrationen den Akt des Erzählens. In Vernarbte Herzen sind die Erkrankung und Internierung Emanuels im Sanatorium Gegenstand der Romanhandlung, doch werden auch sie als Verunsicherung des Realitätsgefühls dargestellt und philosophisch gerahmt. Darüber hinaus gibt es in Blechers schmalem publizistischen Werk einige Artikel, die Blechers breite Rezeption moderner Philosophen wie Kierkegaard, Bergson, Husserl, Heidegger, Jaspers, Carnap und Berdjajew38 belegen, ebenso wie seine Lektüre der von Gaston Bachelard und Henri Charles Puech herausgegebenen, philosophischen Zeitschrift Recherches Philosophique.39 Mit der Gegenüberstellung von Literatur und Philosophie geht es darum, das spezifisch ästhetische Vermögen und Vorgehen in der Beantwortung der Frage nach Wirklichkeit und Sinn offenzulegen, die der Philosophie durchaus Konkurrenz machen. Die zweite Differenz zur Philosophie liegt in dem Vermögen der ästhetischen Sprache, sich selbst zum sinnlichen Erfahrungsmedium einer anderen, möglicherweise wahreren Realität zu machen. Das Verhältnis von Empfinden und Realität betrifft auch die aisthetische Dimension der literarischen Prosa. Mit der Frage nach der Wirklichkeit und ihrem Verhältnis zum Empfinden kommentiert sich die Prosa || 37 Diese Dynamik kennzeichnet laut Wolfgang Iser den Akt des Fingierens schlechthin. Die literarische Gestaltung des Imaginären, den Iser als Substrat ohne Objektreferenz und „von hoher Plastizität“ anthropologisch voraussetzt, dementiere ihre eigene Vergegenständlichung, um dem „proteischen Charakter“ des Imaginären zu wahren. Siehe Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt am Main 1991, 11f. 38 Im Jahre 1936 schickt Blecher den Artikel „Comuniune şi existenţă colectivă“ über den russischen Existenzphilosophen an die Literaturzeitschrift Vremea. Er wird, wie es scheint, nicht veröffentlicht. Dem Titel des Artikels nach muss es sich um eine Rezension der 1936 erschienenen, französischen Übersetzung „Cinq méditations sur lʼexistence. Solitude, société et communauté“ gehandelt haben. Siehe M. Blechers Brief an Geo Bogza vom 26 Juni 1936 in: Lascu, 2000, 113. 39 M. Blecher, „Între imaginaţie şi experienţă“, „Complexul individualităţii“, „Conceptul repetiţiei la Kierkegaard“, „Exegeza câtorva teme commune“ in: Blecher, 1999, 364‒366, 373‒375, 376‒378, 379‒384.

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Blechers unentwegt auch selbst. In Beleuchtete Höhle geschieht dies explizit, und zwar aus Sicht der ästhetischen Produktion: „Ich glaube, es ist das gleiche, ob man nun eine Begebenheit erlebt oder träumt; und das reale alltägliche Leben, der Alltag, ist ebenso berückend und fremdartig wie das des Schlafes. Wollte ich beispielsweise bestimmen, in welcher Welt ich diese Zeilen niederschreibe, so wäre mir dies nicht möglich.“40 Die Bedeutsamkeit einer Begebenheit bemisst sich an dem Empfinden, das sie auslöst, am überraschenden oder befremdlichen Effekt. Wenn Sebastian behauptet, Blecher verleihe den Dingen Wirklichkeit, seine Darstellungen würden einen „schwindelerregenden Wirklichkeitseindruck“41 erzeugen, dann macht er auf die aisthetische Wirksamkeit der Prosa Blechers aufmerksam, die das, wovon sie spricht, für den Rezipienten irgendwie auch sinnlich erstehen oder „erscheinen“42 lässt. Ausgehend von Szenen des Lesens aus der Korrespondenz und der Prosa Blechers, zeige ich in dem Kapitel „Aisthetik der Prosasprache“, dass Blechers Sprachideal in Zeiten der Sprachkrise eine unmittelbare Aisthesis anstrebt, wie sie in seiner Prosa durch die Dinge in Gang gesetzt wird. Sprache wird dabei als Schreiben oder Lesen in ihrem Vollzug und ihrer somatischen Wirkkraft in den Blick genommen. Sie erzeugt in ihrer performativen Dimension eine „Präsenz“43 oder einen unmittelbaren Kontakt, den Blecher in einem vitalistischen und medizinischen Vokabular als Austausch von lebensspendenden oder lebensbedrohlichen Substanzen beschreibt. Formalästhetisch ist die sinnliche Wirkung der Prosa Blechers in ihrer ausgeprägten Poetizität begründet, in der rhythmischen und lautlichen Suggestivkraft, den Überraschungseffekten durch semantische und Stilkontraste, in der hohen Rekurrenz abjekter Sprachbilder wie jenes des offenen Fleisches. Wenn Blecher einerseits intensive Sinnessensationen darstellt, so gibt es in seiner Prosa ein ebenso ausgeprägtes Interesse für den negativen Pol des Empfindens: für die Empfindungslosigkeit. In der Konfrontation mit den kruden Realitäten im Sanatorium sind die Figuren in Vernarbte Herzen und Beleuchtete Höhle einer sinnlichen und affektiven Abstumpfung ausgesetzt oder aber sie üben sich bewusst in Empfindungsarmut als Abwehrhaltung gegenüber dem sinnlosen Leid ein. Der Titel des Romans Vernarbte Herzen veranschaulicht diesen Gefühlsschwund, durch die Brechung der affektiven Symbolik aufs Physische. Auch in Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit wird das intensive Empfinden vornehmlich als somatisches Gesche-

|| 40 Blecher, 2008, 26; „Este cred acelaşi lucru a trăi, [sic] sau a visa o întămplare şi viaţa reală cea de toate zilele este tot atât de halucinantă şi stranie ca şi aceea a somnului. Dacă aş vrea de exemplu să definesc în mod precis în ce lume scriu aceste rânduri mi-ar fi imposibil.“ Blecher, 1999, 242. 41 „o vertiginoasă senzaţie de realitate” Mihail Sebastian, „M. Blecher. Inimi cicatrizate“ in: Lascu, 2000, 243. 42 Zum Erscheinen als Minimalbegriff der ästhetischen Erfahrung siehe Seel, 2003, 82‒83. 43 Hans Ulrich Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt am Main 2004.

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hen dargestellt. Seine affektive Dimension ist eine der „existentiellen Gefühle“44 (existential feelings), die sich gegen sentimentale Ausdrucksformen richtet. Empfindungslosigkeit bezeichnet also zum einen die antisentimentale Haltung der Figuren, aber auch das medizinische Motiv der somatischen Insensitivität, das im prothetischen Körper eine extreme Ausprägung findet. Poetologisch verweist sie auf Blechers antipathetischen, luziden Erzählstil und auf anästhetische Erzählweisen und Verfahren der „Dekonstruktion des Tragischen“45 (stratégies de dé-tragification) in seinen letzten beiden Prosabüchern. Durch die „vollkommene analytische Strenge“46 (severitate analitică absolută) seiner Krankheitsdarstellungen reiht sich Blecher in eine von Flaubert herkommende Erzähltradition des „immunen Erzählens“47 ein. In dem letzten Kapitel geht es vordergründig um den Zusammenhang zwischen Empfindungs- und Gefühllosigkeit in der Darstellung von Schmerz und Krankheit. Er wird vor allem in wirkungsästhetischer Hinsicht beleuchtet. Der affektarme Stil ist nicht schlichtweg eine Negation jeglicher Emotionalität, vielmehr will er durch Affektverweigerung, wie Martin von Koppenfels zeigt, starke, emotionale Wirkungen erzielen.

|| 44 Matthew Ratcliffe, Feelings of Being. Phenomenology, Psychiatry and the Sense of Reality, Oxford 2008. 45 Jacques Bouët, „Aventures dans la contemporanéité immédiate: une réinterprétation de l’œuvre de Blecher“ in: Jacques Bouët (Hrsg.), M. Blecher: Histoire d’un oubli. Dialogue. Nr. 17, Montpellier 1988, 30. 46 Mihail Sebastian, „M. Blecher: Inimi cicatrizate“ in: Lascu, 2000, 240. 47 Martin von Koppenfels, Immune Erzähler. Flaubert und die Affektpolitik des modernen Romans, München 2007.

2 Pseudonyme und Fremdsprachen 1933, nach langem Aufenthalt im Ausland wieder in Rumänien zurückgekehrt, arbeitet Blecher an seinen ersten Buchprojekten: dem Gedichtband Corp transparent (Durchscheinender Körper) und der Ich-Prosa Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit. Während er sein poetisches und Prosadebüt plant, ist er zugleich auf der Suche nach einem Autornamen. Gelegentlich unterzeichnet er Artikel unter Pseudonym oder mit Kürzeln: Mihail Bera, M. B., m. b. Manchmal schöpft er Namen, die seinen literarischen Übergangsstatus, sein Autor-Werden augenfällig machen: In Interim, das heißt so viel wie „vorläufig gültig“. Die Namensfrage ist nicht trivial. Es geht nicht nur darum, einen klangvollen Namen zu finden. Blecher bekennt sich zwar in einem Brief an Saşa Pană zu einer „bizarren Manie für Masken und Travestien“1 (bizara manie a măştilor şi a travestiurilor), die Suche nach einem Autornamen geht jedoch über ein literarisches Maskenspiel hinaus. Für einen jüdischen Schriftsteller in Rumänien der dreißiger Jahre ist die Autor-Identität mit der Übernahme einer kulturellen Subjektivität verbunden oder mit der Fingierung einer solchen: Iosif Hechter publiziert als Mihail Sebastian, Alexandru Binder als Saşa Pană, Benjamin Wechsler als B. oder Barbu Fundoianu, Eduard Marcus als Ilarie Voronca, Paul Zaharia als Paul Păun. Der Antisemitismus ist in der Epoche Blechers konstitutiver Teil der rumänischen Identitätsdiskurse. In ‚moderaten‘ Zeiten der Assimilationspolitik fordert die Logik des Nationaldiskurses es ein, dass Schriftsteller jüdischer Herkunft öffentlich zu rumänischen Schreibsubjekten werden.2 Wenn sie in der literarischen Öffentlichkeit auftreten wollen, werden sie das Fremde möglichst unsichtbar machen. Umgekehrt werden hebräische Pseudonyme von jüdischen Autoren bewusst als militante Namen eingesetzt. Simion Schmidt tritt öffentlich als Ury Benador auf und unterzeichnet Schriften „von betont jüdischem Charakter“ (cu caracter apăsat iudaic)3. In den Jahren der Faschisierung der rumänischen Intellektuellen, kommt es zu vermeintlichen Entlarvungen des Fremden, die nichts weiter als die Macht- und Subjektivierungsmechanismen der rumänischen Gesellschaft bloßlegen.4 Der Skandal

|| 1 Brief M. Blechers an Saşa Pană vom 9. April 1934 in: Blecher, 1999, 395. Meine Übersetzung. 2 Doris Mironescu betrachtet die Praxis der Pseudonyme aus der Perspektive der jüdischen Schriftsteller und betont, dass die Übernahme eines rumänischen Autorennamens nicht mit deren Abkehr von der jüdischen Kultur einhergeht. Die Schriftsteller müssen sich allerdings nicht assimilieren wollen, damit der diskursive Verdrängungsmechanismus greift. Mironescu, 2011, 114. 3 Ebd., 116. Meine Übersetzung. 4 Das Tagebuch von Mihail Sebastian legt eindrücklich Zeugnis ab von der Faschisierung der rumänischen Intellektuellen. Siehe Mihail Sebastian, Jurnal. 1935‒1944, Bukarest 2002 und Mihail Sebastian, Voller Entsetzen, aber nicht verzweifelt. Tagebücher 1935‒1944, Edward Kanterian (Hrsg.), Berlin 2005.

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um Mihail Sebastians Tagebuch-Roman De două mii de ani (Seit zweitausend Jahren) ist beispielhaft hierfür. 5 De două mii de ani stellt die antisemitischen Ausschreitungen und die politische Radikalisierung an der Bukarester Universität in den zwanziger Jahren aus der Perspektive eines jüdischen Studenten dar. Der Roman fragt nach den Möglichkeiten einer pluralen Identität, in der das Jüdische und Rumänische, das Lokale, Ethnische und Nationale miteinander koexistieren könnten. Sebastian hatte, als der Roman noch im Entstehen war, Nae Ionescu, den Bukarester Metaphysik-Professor und Mentor der sogenannten Jungen Generation (Generaţia tânără), um ein Vorwort gebeten, ohne zu ahnen, wie sehr sich Ionescu zu diesem Zeitpunkt ideologisch der faschistischen Eisernen Garde ideologisch verpflichtet hatte. 1934 schickt Nae Ionescu dem Roman seines Protegés eine theologische Apologie des Antisemitismus voraus. Darin adressiert er Sebastian nicht als Autor, sondern als Juden Iosef Hechter, der notwendig leiden müsse, weil er den Messias verkannt hätte. Nachdem sich Sebastian entschließt, das Buch mit dem bestürzenden Vorwort zu veröffentlichen, löst die Publikation einen heftigen Skandal aus, in dem es wiederum Sebastian ist, der ins Kreuzfeuer gerät. Auf die Attacken von rechtsextremer und von jüdischer Seite, die Sebastian wahlweise intellektuellen Hooliganismus oder gar Antisemitismus vorwerfen, antwortet er in der Nachschrift Cum am devenit huligan (Wie ich ein Hooligan wurde) mit ungetrübtem Urteilsvermögen. Blecher verfolgt die Politisierung des Literaturbetriebs besorgt und mit Kopfschütteln, allerdings aus der Abgeschiedenheit, zu der ihn die Krankheit zwingt. Später wird er sich in einem Interview zur sozialen Rolle des Schriftstellers äußern: Er [der Schriftsteller] sollte […] im Namen der humansten Gerechtigkeit und größten geistigen Freiheit Wort ergreifen. Es ist traurig, dass viele Schriftsteller heute aus ihrem ‚Elfenbeinturm‘ voller Gift und politisch verblendet an die Öffentlichkeit treten, dass sie in die große Sozialdebatte Konfusion, Obskurantismus und Intoleranz hineintragen, statt der versöhnlichen Worte, die wir alle von ihnen erwarten.6

Dass ihn das antisemitische Klima im Land nicht kalt lässt und er sich auch deswegen Gedanken über den eigenen öffentlichen Auftritt macht, wird in einem Brief an die Künstlerfreundin Lucia Demetriade-Balacescu deutlich: „[J]e crois qu’il serait

|| 5 Mihail Sebastian, De două mii de ani. Cum am devenit huligan, Bukarest 2003 und Mihail Sebastian, Seit zweitausend Jahren, Hamburg 1997. 6 „Intervenția lui trebuie să se facă […] în sensul celei mai umane justiții și a celei mai largi libertăți spirituale. Este destul de trist că azi mulți scriitori care coboară din ‚turnul lor de fildeșʻ, vin de acolo plini de venin și de oarbe pasiuni politice și aduc în marea dezbatere socială confuzii, obscurantisme și intoleranțe – în locul cuvântului reconciliator pe care toți îl așteptăm de la ei.“ Gh. A. Harabagiu, „Un interviu cu Dl. M. Blecher“ in: M. Blecher, Vizuina luminată, Bukarest 1971, 290. Meine Übersetzung.

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mieux tout de même de signer Mihail Bera ou Minu Bera ou bien Emile Zola, ou n’importe comment, sauf M. Blecher qui fait trop hébraïque peut-être“7. Der Auftritt in der Öffentlichkeit ist mit Fragen der nationalen Identität und kulturellen Subjektivierung verbunden. Was für ein Autor will Blecher sein in einer Gesellschaft, die das Jüdische ausgrenzt? Das Pseudonym Bera, das Blecher kurz in Betracht zieht, ist hebräischer, alttestamentarischer Herkunft8, doch klingt er nicht trop hébraïque und könnte als französischer Name wahrgenommen werden, vielleicht wie in Minú Berá. In dem sentimentalen Journal von Maria Ghiolu, die Blecher in Tekirghiol, am Schwarzen Meer kennenlernt und der er seinen Gedichtband Corp transparent widmet, wird der kranke Dichter Minú genannt.9 Das Pseudonym lässt also eher sentimentale Reminiszenzen anklingen und ähnelt sich der einprägsamen Lakonie damaliger Autorennamen an: Saşa Pană, Geo Bogza, Paul Păun. Minú Berá, das klingt ein bisschen wie Émile Zola, und lässt literarische Affiliationen aufscheinen. Blecher ist ein guter Kenner der englischen und französischen Literatur und Sprache. Wahrscheinlich spricht er auch Hebräisch und in der Familie Jiddisch. Seine Deutschkenntnisse sind eher bescheiden, reichen aber für Zeitungslektüren aus. Die französische Kultur spielt im modernen Rumänien seit jeher eine herausragende Rolle, die französische Literatur gibt den Standard vor, an den man sich orientiert. Blecher lebt einige Jahre in Frankreich, er korrespondiert mit dem französischen Avantgarde-Dichter Pierre Minet, publiziert ein Prosagedicht in Bretons „Le Surréalisme au Service de la Révolution“10, will später sein erstes Prosabuch ins Französische übersetzen lassen. Blecher ist mit den neuesten literarischen Entwicklungen in Frankreich auf dem Laufenden, er sucht den Anschluss an die französische Avantgarde, entsprechend einem „alten Bovarysmus rumänischer Autoren“11 (vechi bovarism als scriitorilor români), wie es bei Mironescu heißt. Dabei ist er voll ernsten Glaubens für die Literatur und das Schreiben. Er verachtet die Kleingeistigkeit so mancher literarischer Foren und ihre Querelen.12 Schließlich bleibt Blecher

|| 7 Undatierter Brief M. Blechers an Lucia Demetriade-Bălăcescu in: Lascu, 2000, 178. 8 Von Bera, dem König von Sodom ist in Genesis 14, 2 die Rede. Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers, rev. Ausg., Stuttgart, 1985. 9 Maria Ghiolu, Serenadă zadarnică. Pagini de jurnal, Bukarest 1970. 10 M. Blecher, „L’inextricable position“ in: Le Surréalisme au Service de la Révolution. Nr. 5‒6 vom 15. Mai, Paris 1933, 25. 11 Mironescu, 2011, 93. 12 1935 entbrennt eine Debatte um einen Mitarbeiter der Literaturzeitschrift Frize aus Braşov, in der Blecher auch gelegentlich Beiträge veröffentlicht hatte. Blecher wird in einem öffentlichen Brief Stellung nehmen und sich mit seinem ehemaligen Kollegen solidarisieren, doch tut er dies, wie er Geo Bogza gesteht, mit großer Abneigung gegenüber jeglicher literarischen Polemik: „Für diese Leute ist das Schreiben eine Fortführung des Spiels aus der Kindheit, bei dem man andere mit Steinen bewirft; kein interessantes Problem beschäftigt sie, sondern nur, dass sie einem aus der feindlichen ‚Bande‘ den Kopf einschlagen (wenn sie zumindest über ernstzunehmende Themen

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bei seinem Geburtsnamen. Seinen Vornamen kürzt er, wie damals üblich, aufs Initial M. ab. Das ist weder eine militante Behauptung der jüdischen Identität wie bei Ury Benador, noch eine Verhüllung des Jüdischen mit einem vermeintlich neutraleren Proprium. Blecher geht eigene Wege. Lange Zeit wird M. Blechers Rezeption verzögert. In den siebziger Jahren rümpft man in Verlagen die Nase, wenn es um den jüdischen Autor aus der moldauischen Provinz geht: „Wer sollte in jenen Jahren, als autochtonistische Exaltationen und Nationalismen offiziell kultiviert wurden, das Risiko eingehen ein Buch über Blecher herauszugeben? Ein ‚morbider‘ Autor und darüber hinaus auch noch Jude! Das Ceauşescu-Regime adoptierte den Antisemitismus nicht offiziell, im stummen Einvernehmen aber wurde er mit gehörigem Eifer praktiziert“13, schreibt der Kritiker Gabriel Dimişianu. Die erste monographische Studie Radu Țeposus, die in den siebziger Jahren entsteht, wird erst 1996 publiziert.14 Doch die Marginalisierung Blechers beginnt früher, nicht nur durch fremdenfeindliche, sondern ebenso durch ästhetisch konservative Urteile. Der Literaturkritiker George Călinescu stellt in seiner 1945 erschienenen, kanonischen Geschichte der rumänischen Literatur Istoria literaturii române de la origini până în prezent für Blechers Roman Vernarbte Herzen lediglich die ästhetische Kategorie der autopathographischen Reportage bereit. Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit wird nicht erwähnt. „Alles, was sich auf die Physiologie bezieht“, so Călinescu über Vernarbte Herzen, „ist bemerkenswert. Unter diesem Gesichtspunkt ist der Roman eine überlegene Reportage. […] Da, wo der Autor die Tatsachen auszuschmücken beginnt, wird er absurd, und wo er dem Erotismus verfällt, ist er regelrecht abstoßend.“15 Blecher verletzt den Geschmack und manchmal das Sprachempfinden. Ein Autor ist kein Name, sondern eine Sprache. Eine Frage, die mir so oft gestellt worden ist, wahrscheinlich wegen der – in vielerlei Hinsicht nachvollziehbaren – Assoziation mit Kafka, ist, ob Blecher auf Rumänisch oder auf Deutsch geschrieben hätte. Blecher hat seine Werke auf Rumänisch verfasst. Aber was heißt

|| streiten würden, über Ideen).“; „Pentru oamenii ăştia a scrie e o continuare a jocului de pietre din copilărie; nici o problemă interesantă nu-i preocupă ci doar să spargă capul celui din ‚banda‘ adversă (şi măcar de s-ar certa pe teme serioase, pe chestii de idei).“ Brief M. Blechers an Geo Bogza vom 5. Juni 1935 in: Lascu, 2000, 68. Meine Übersetzung. 13 „În climatul vremii, de exaltări autohtoniste și naționaliste, cultivate oficial, cine să-și fi asumat riscul de a edita o carte despre Blecher? Un scriitor ‚morbid‘ și pe lângă asta și evreu! Neadoptat pe față de regimul Ceaușescu, antisemitismul era practicat tacit cu destul zel.“ Gabriel Dimișianu, „Critică și confesiune“, in: România literară, Nr. 18 vom 7. Mai 1997, 10, zitiert nach: Brăvescu, 2008, 77. Meine Übersetzung. 14 Radu G Țeposu, Suferințele tânărului Blecher, Bukarest 1996, 7. 15 „Tot ce are raport cu fiziologia este remarcabil. Din acest punct de vedere romanul e un reportaj superior. […] Dar când romancierul începe să romanțeze devine absurd, iar când cade în erotism, de-a dreptul respingător.“ George Călinescu, Istoria literaturii române de la origini până în present, 2. durchgesehene und ergänzte Auflage, Bukarest 1982, 966. Meine Übersetzung.

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das schon? Blecher schreibt in einer sehr individuellen Sprache, die einerseits regional, plastisch und familiär ist, andererseits neologistisch, analytisch und philosophisch. Manchmal spreizt sie sich zwischen alltäglichen Ausdrücken und präzisem Fachjargon. Manche Zeitgenossen sagen über Blecher, er schreibe unbeholfen, er folge einem französischen Duktus und verfremde die Grammatik. Eugen Ionescu beispielsweise, der seinerseits zwischen den Kulturen, der rumänischen und der französischen, steht und aus ihren Interferenzen schöpft, zeigt sich kulant und bereit über „die Unbeholfenheiten, den Mangel an literarischer Geschicklichkeit und Kunstfertigkeit“16 (stăngăciile, lipsa de pricepere, de îndemînare literară) in Blechers Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit hinwegzusehen, weil es dem Buch gelänge, die Realität metaphysisch zu transzendieren. Felix Aderca, ebenfalls ein jüdisch-rumänischer Autor, findet, dass Blecher als einer der rumänischen Schriftsteller von „höchstem Rang“ zu gelten habe, und zwar „bei allen erklärlichen Unvollkommenheiten seiner Sprache“17 (chiar cu unele imperfecţii de limbă explicabile): „Obgleich manche Worte das Gleichgewicht der Sätze stören und gewisse grammatikalische Formen allzu sehr an die französische Denkweise und Diktion erinnern, so ist der Stil doch luzide und geschmeidig, von großer Finesse und Festigkeit, die zugleich an das Platin und an die Elektrizität denken lassen. Eine solche Art des Schreibens, die es dem Autor erlaubt, dunkle Instinkte und das Ganggestein der Gefühle, die ganze Zone, die dem wachen Bewusstsein vorausgeht oder es übersteigt, aufwühlend klar und elegant auszudrücken – ganz zu schweigen von der Virtuosität, mit der er einfache Sinneseindrücke zu veranschaulichen und mitzuteilen weiß – ist in der rumänischen Literatur selten anzutreffen.“18 Blecher schreibt individuell und oft faszinierend seltsam, mit dem, was er sagt und wie er es sagt. Wie wollte man das überhaupt trennen? Blechers Erzählsprache ist eine Variation des Rumänischen, lokal und neolgoistisch zugleich. Das Vokabular ist von regionalen Formen durchsetzt: cămeşoaică (Nachthemd), juluituri statt geluituri (Hobelspäne), scoborî statt coborî (heruntergehen) und von Lehnwörtern aus dem Französischen: gumilastic (Gummi), lenjuri (Bettwäsche), beante (offen, klaffend) afublări (Flitter), eplorate (verweint), wobei solche Entlehnungen in Form poetischer Lizenzen üblich in der Epoche Blechers waren. Der Tempus oszilliert zwischen dem durativen Imperfekt (oft in Beschrei-

|| 16 Eugen Ionescu, „M. Blecher: Inimi cicatrizate“, in: Ionescu, 1992, 303. Meine Übersetzung. 17 Felix Aderca, „Arta chinuitului Blecher“, in: Lascu, 2000, 330. Meine Übersetzung. 18 „Dacă unele cuvinte atârnă mai greu decât se cuvine în echilibrul frazelor; dacă unele forme gramaticale amintescc prea direct de gândirea și expresia franceză, stilul e de o luciditate, de o mlădiere, de o finețe și totuși durabilitate care evocă în același timp platina și electricitatea. Un asemenea fel de a scrie și care a îngăduit autorului să exprime cu infiorătoare limpezime și eleganță instincte turburi, simțiri în gangă, toată zona care premerge sau depășește conștiința trează – fără a mai aminti de virtuozitatea cu care știe să concretizeze și să transmită senzațiile simple – nu întâlnim decât parțial în literatura română.“ Ebd., 330‒331. Meine Übersetzung.

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bungen, landschaftlichen und situativen Darstellungen) und dem Erzähltempus perfect simplu, das einen definiten Augenblick in der Vergangenheit ausdrückt, einem Tempus des absoluten Ereignisses: fui, avui, asistai, făcui, simţii, nu putui, condusei, să puie, îmi umplui usw. Die Präpositionen und Verben entäußern das Rumänische, stecken es mit einer fremden Syntax an, die schwer übersetzbar ist. Blechers Verwendung der Reflexiva ist höchst idiosynkratisch. Den spezifischen Erscheinungen, die Blecher darstellt, ließe sich allein daran und an seiner ausgeprägten Vorliebe für irreale Vergleiche und extensive Analogien auf die Schliche kommen. Blecher schafft ein Sprachgefüge zwischen Vertrautem und Fremdem, ein fremd-vertrautes Rumänisch, dessen einzelnen Worte man kennt und für sich genommen versteht, die in der Kombination aber opak oder schillernd werden. Er entwirft, wie es bei Gilles Deleuze heißt, „eine Art Fremdsprache“ in der Sprache oder erfindet eine neue Sprache in der Sprache.19 Blechers literarisches Idiom ist intim und abstrakt, eine hochindividuelle Sprache der Sinnessensationen und Betrachtungen, die analytisch präzise sein kann, als treibe sie mit Mitteln der Literatur exakte Wissenschaft. Das sind Intuitionen, Sprachempfindungen, die mir in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Text manchmal verloren gegangen sind, bei aller Anstrengung gerade sie zu fassen und zu beschreiben. Ich schicke also dem Versuch über Blecher, der folgt, den Hinweis voraus, dass er Blechers Sprache über Umwege, auf denen er sich gerne auch von anderen Sprachen affizieren lässt und die manchmal lang, sehr lang ausfallen, vielleicht am Rande streift und eher das offenlegt, was mir an ihr zu diesem Zeitpunkt und von meinem individuellen Sprachposten aus, der immer auch die deutsche Übersetzung von Ernest Wichner in Sicht hat, verständlich und in gewissem Maße fassbar erscheint, dass aber Blecher lesen etwas anderes, viel Freieres und Vielsinnigeres ist.

|| 19 Gilles Deleuze, Kritik und Klinik, Frankfurt am Main 2000, 16.

3 Geheimnis und Irrealität der Dinge in Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit 3.1 Provokation des naiven Weltglaubens La certitude est réalité. […] Nous n’avons pas fini de découvrir les ravages de cette illusion. Louis Aragon1

Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit ist das erste Prosabuch M. Blechers. Der Titel, der genauer „Begebenheiten“ oder „Vorkommnisse in der unmittelbaren Unwirklichkeit“ (Întâmplări în irealitatea imediată) heißt, zieht bei der Erstveröffentlichung 1936 die Aufmerksamkeit der Kritiker auf sich. Sie finden ihn „abstrakt, bravourös, spöttisch“, wenn nicht sogar „abstoßend“, gestehen ihm aber immerhin zu, die „Substanz“ des Buches genau zu treffen2. Einige Rezensenten zeigen sich sogar besorgt, dass das wertvolle Buch des jungen Autors wegen seiner Aufmachung nicht den Publikumserfolg erzielen werde, den es verdiene3. Blecher selbst erzählt in einem Brief an Geo Bogza eine Anekdote, die er kurz nach der Publikation vom Hörensagen erfährt und die die Einschätzung seitens der Kritik genüsslich bestätigt. Die Szene spielt sich vor einem Buchladen in Blechers Heimatstadt Roman ab. Zwei Regimentsoffiziere unterhalten sich Anfang des Jahres 1936 über die Neuerscheinung im Schaufenster: „Versteh mal einer die Philosophen!“, bemerkt der eine, „Wieso schreibt er ‚unmittelbare Unwirklichkeit‘ und nennt es nicht klipp und klar ‚unmittelbare Wirklichkeit‘!?“4 Dies ist bloß eine Anekdote, die der Autor amüsant findet. Doch dürfte Blecher, der zahlreiche Kontakte zu Vertretern der rumänischen und französischen Avantgarde pflegt und sich an ihrem Stil schult, die Irritation durch den Buchumschlag bewusst provoziert haben. Auf der Schleife der Erstausgabe soll auch der Untertitel „das Leben bis aufs Blut enthäutet“5 (viaţa jupuită până la sânge) gestanden haben, eine Formel, von der man schwer sagen kann, ob sie Leser anziehen oder eher ent-

|| 1 Louis Aragon, Le paysan de Paris (1926), Paris 1953, 10. 2 Siehe Sebastian, „M. Blecher: Întâmplări“ in: Lascu, 2000, 224 sowie Harabagiu, „Un interviu“ in: Blecher, 1971, 287. 3 Blecher, 1971, 288. 4 „În legătură cu cartea mea. În fața unei vitrine unde e expusă doi ofițeri stau de vorbă (auzită): Ce ți-e și cu filozofii ăștia! Pentru ce ar pune el ‚irealitatea imediată‘ și n-ar scrie curat ‚realitatea imediată‘.“ Brief M. Blechers an Geo Bogza vom 11. Februar 1936 in: Lascu, 2000, 106. Meine Übersetzung. 5 Siehe M. Blechers Brief an Geo und Elly Bogza vom 3. Januar 1936 in: Lascu, 2000, 96‒97. Der Vorschlag scheint verwirklicht worden zu sein, wie Doris Mironescu anmerkt. Der rumänische Blecher-Monograph schreibt die Phrase der sensationsheischenden, journalistischen Rhetorik Bogzas zu, siehe Mironescu, 2011, 168.

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rüsten sollte. Die Briefe zeigen, dass sich Blecher über den Titel intensiv Gedanken gemacht hat. Er hatte seinen Prosatext zunächst Einübungen in die unmittelbare Unwirklichkeit (Exerciţii în irealitatea imediată) nennen wollen. In der Korrespondenz aus den Jahren 1934-1935 taucht dieser Arbeitstitel auf, der die Irrealität in einem stärker programmatischen Gestus verkündet. Man könnte ihn sogar als Aufruf an den Leser verstehen, sich selbst durch die Buchlektüre in die Wahrnehmung einer „unmittelbaren Unwirklichkeit“ einzuüben. Erst auf Empfehlung Geo Bogzas, der das Projekt in den letzten beiden Entstehungsjahren eng betreut, benennt Blecher kurz vor Einreichung der Manuskripte beim Verlag seine Ich-Prosa um. Mit der Entscheidung für Begebenheiten in der unmittelbaren Unwirklichkeit lässt er das erzählerische Anliegen stärker in den Vordergrund rücken. Blecher will sich mit seinem ersten Prosabuch als Autor etablieren. Die wenigen, in Literaturzeitschriften zerstreuten Essays und Erzählungen und den kleinen Gedichtband Corp transparent6 (Durchscheinender Körper), der 1934 erscheint, hatte die Kritik eher als Ankündigung eines literarischen Talentes zur Kenntnis genommen. Zudem fühlt sich Blecher, je mehr er sich in sein erstes Buchprojekt vertieft, von seinem poetischen Debüt entfremdet7. Mit den Einübungen versucht er sich, wie er an Saşa Pană schreibt, als Prosaautor „zu definieren“. Sie sollen ein „echtes Buch“ (o carte adevărată) werden8, heißt es wiederholt mit Emphase auf die Dinglichkeit der Literaturproduktion. Es ist naheliegend zu vermuten, dass der Titel in seiner spröden Knappheit eine Poetik verkündet. Tatsächlich, was ist mit der „unmittelbaren Unwirklichkeit“ gemeint? Die Anekdote gibt einen Hinweis darauf. Die Reaktion des Offiziers aus Roman ist nicht so abwegig, wie es scheinen mag, um nur belächelt zu werden. Aus ihr spricht der gesunde Menschverstand oder, wie man mit den Phänomenologen sagen könnte, ein „naiver Glaube“ an die „Evidenz der Welt“.9 Die Komik rührt eher daher, dass dem Offizier die Intention der doppelten Verneinung, der Gestus der Infragestellung von Evidenz entgeht. Er prallt an ihm als unnütze philosophische Verkomplizierung ab. Interessant ist auch, dass ihn die Wortwahl dazu verleitet, Blechers Buch für ein philosophisches Werk zu halten. Das Vokabular ist tatsächlich philosophisch; die Suggestion, die sich hinter der doppelten Negation verbirgt, stimmt aber in Fragen der Konstitution von Realität nicht unbedingt mit den Ansätzen der zeitgenössischen Philosophie überein. Ein Zitat Maurice Merleau-Pontys veranschaulicht die Haltung der phänomenologischen Philosophie gegenüber der „natürlichen“ Einstellung in Fragen der Wirklichkeit: „Wir sehen die Sachen selbst, die Welt ist das, was wir sehen: Formulierungen dieser Art sind Ausdruck eines Glau-

|| 6 M. Blecher, Corp transparent (1934), in: Blecher, 1999, 319‒337. 7 Ebd., 398. 8 Ebd., 397 sowie Lascu, 2000, 323. 9 Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, 2. Auflage, München 1994, 17‒18.

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bens, der dem natürlichen Menschen und dem Philosophen gemeinsam ist, sobald er die Augen öffnet; sie verweisen auf eine Tiefenschicht stummer Meinungen, die unserem Leben inhärent sind“.10 Der Philosoph bzw. Phänomenologe stellt den Glauben an eine unmittelbar gegebene Wahrnehmungswirklichkeit nicht in Frage. Er will ihm bloß seine Naivität nehmen, zeigen, wie er zustande kommt, ihn philosophisch begründen, indem er die „stummen Meinungen“ zur Sprache bringt und in Wissen überführt. Blechers Oxymoron der „unmittelbaren Unwirklichkeit“ suggeriert dagegen einen paradoxen Bezug des Subjekts zur Welt. Im direkten, unvermittelten Kontakt mit der Welt geht ihre Evidenz offenbar verloren. Spricht man von der „unmittelbaren Unwirklichkeit“, so steht man der Auffassung von der objektiven Realität als unmittelbarer Gegebenheit skeptisch gegenüber. Suggeriert wird, dass die Wirklichkeit ein ver- oder ermittelter Zusammenhang sei. Wenn die Wirklichkeit aber ein Konstrukt ist, dann stellt sich die Frage, wo die Grenzen der Konstruktion liegen. Nach welchen Gesetzmäßigkeiten kommt dann Wirklichkeit zustande und gibt es überhaupt eine Gewähr dafür, dass die Subjekte eine gemeinsame Welt teilen? Im Grunde entzieht Blecher dem Glauben daran, dass das, was wir sehen, die Sachen selbst seien, den Boden. Die Frage nach der Wirklichkeit der Welt und der Erscheinungen ist ein Leitthema der Prosa Blechers. Der Roman Vernarbte Herzen erzählt Geschichten von Krankheit und Tod aus dem Sanatorium, doch erzählt er sie als Verunsicherung und Zusammenbruch des Wirklichkeitsgefühls. Angefangen mit der Diagnose des Protagonisten Emanuel, über die Erfahrung der Einrichtungen im Sanatorium bis hin zur therapeutischen Einkorsettierung in Gips stellt sich die Handlung als Erschütterung des Glaubens an die naive Evidenz der Welt dar. Die Erfahrungen Emanuels werden als Gefühl der Derealisierung und Auflösung, als Verrätselung des Evidenten quasiphilosophisch gerahmt und reflektiert. Dabei läuft es auch hier auf eine grundlegende Infragestellung des Glaubens an den Sinn der Welt hinaus. Die Krise der Realität ist kein pathologisches Symptom. Vielmehr entlarvt die Erfahrung der Krankheit Realität überhaupt als Konstrukt und zieht insbesondere den Sinn ihrer alltagspraktischen Konstitution in Zweifel. Der radikalästhetische Vorstoß gegen die Evidenz der Welt ist noch deutlicher in Beleuchtete Höhle. Die Alltagsrealität erscheint hier von der gleichen Unbegreiflichkeit und berückenden Fremdheit wie die Traumwelt. Sie trägt Züge der Surrealität. Auch hier ist die Erkrankung der Wendepunkt, an dem die Gewissheit einer unverrückbaren Wirklichkeit ihre eigenen Prämissen entdeckt. Das führt zum Verlust der epistemologischen Naivität und zur Desillusion – in zweierlei Hinsicht, als ästhetisch produktiver Einsturz der Alltagsillusionen einerseits und als metaphysische Enttäuschung andererseits:

|| 10 Ebd., 17.

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Alles, was ich vor meiner Erkrankung getan habe, hatte für mich eine wohlbestimmte Bedeutung und einen gewissen Sinn im Leben, der meine alltäglichen Handlungen auf die Leinwand eines großen Tableaus projizierte, dessen Zeichnung – Kontur und Sujet – am Ende erscheinen musste. Nun weiß ich, dass es weder dieses Gewebe noch eine Kontur oder ein Subjekt [oder auch Sujet] gibt. Und dass die Tatsachen meines Lebens sich irgendwie in einer Welt ereignen, die selbst irgendeine ist.11

Die Einsicht in die Fragilität der Alltagsrealität, die die Erkrankung herbeiführt, stellt nicht nur den Sinn der Welt, sondern auch den Sinn des Subjekts in Frage. Im Kontext der Prosa Blechers bedeutet die Entdeckung, dass die Weltevidenz auf einem Glauben fuße, zugleich auch, dass dieser Glaube im Grunde genommen beliebig, „irgendeiner“ sei. Der Glaube wurzelt anders als bei Merleau-Ponty nicht in einer „Tiefenschicht stummer Meinungen“, die alle Subjekte teilen, insofern sie einen Leib haben, sondern in willkürlichen Gewohnheiten. Dass Realität in der ästhetisch-konstruktivistischen Sicht Blechers durch beliebige Setzungen intersubjektiv erzeugt werden kann, veranschaulicht die Episode des „absonderlichen Spiel[s]“ mit „erfundenen Dialogen“ in Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit.12 Der Clou des Spiels liegt weniger im Erfindungsreichtum oder in der Vermengung von Wahrheit und Einbildung, als vielmehr in dem „würdevoll[en] und ernst[en]“13 Verhalten der Spieler, das allmählich zum Glauben an die unumstößliche Wahrheit der erfundenen Szenarien gerinnt. Als der Protagonist danach auf der Straße die „ernsthaft miteinander redenden Leute“14 beobachtet, tritt die Naivität des alltäglichen Umgangs miteinander als selbstvergessener, würdevoller Gestus deutlich zutage: „War ihnen etwa nicht klar, dass man über alles, über absolut alles würdevoll reden konnte?“15 Im Glauben an die Evidenz der Welt und der Alltagswirklichkeit zu leben, ohne ein Bewusstsein dafür zu haben, dass sie auf einem Glauben beruhen, bedeutet hier den Verlust der subjektiven Freiheit, sich in andere, mögliche Welten einzuüben. Sie bedeutet Gefangenschaft in der Illusion einer Wirklichkeit, die für absolut genommen wird. Blechers Ästhetik zielt darauf, diese Illusion zu erschüttern, indem sie die Möglichkeiten jenseits der Faktizität ausschöpft und sie gegen deren vermeintliche Notwendigkeit ausspielt.

|| 11 Blecher, 2008, 78‒79; „Tot ce am săvârșit înainte de a cădea bolnav, avea pentru mine un înțeles bine definit și un anumit sens în viață care îmi plasa acțiunile mele de toate zilele pe rețeaua unui vast tablou al cărui contur și subiect trebuia să apară la urmă. Știu acum că nu există nici rețea, nici contur, nici subiect. Și că faptele vieții mele se petrec oricum într-o lume care și ea este oarecare.“ Blecher, 1999, 269. 12 Blecher, 2003, 64. 13 Ebd., 65. 14 Ebd., 66. 15 Blecher, 2003, 66; „Ei nu-și dădeau oare seama că se putea vorbi cu gravitate despre orice, despre absolut orice?“ Blecher, 1999, 73.

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3.2 Krise der Wirklichkeit Mit der literarischen Problematisierung der Wirklichkeit insbesondere in ihrem Verhältnis zum Empfinden und zur Imagination knüpft Blecher an eine in den ersten Dekaden des zwanzigsten Jahrhunderts in Philosophie, Wissenschaft und Ästhetik vieldiskutierten Frage an: der Frage nach der Konstitution von Wirklichkeit. Ist die Realität eindeutig determiniert oder vom Standpunkt und Wissen des Betrachters abhängig? Wie kann ich mir sicher sein, dass die Welt notwendigerweise so ist, wie ich sie alltäglich wahrnehme? Was, wenn die Welt meine Wahrnehmung übersteigt? Sind die mich umgebenden Sachen tatsächlich Objekte mit unveränderlichen Eigenschaften? Wenn das so ist, wie kommt es, dass sie in der Ferne, in der Nacht anders aussehen? Welchen Sinn hat es zu sagen, dass ein Stab gerade ist, wenn er mir doch im Wasser geknickt erscheint? Wie vertraut ist mir das Gesicht eines Freundes wirklich, wenn es verkehrt herum betrachtet, plötzlich monströs wird und ich darüber erschrecke? Wie kommt es, dass ich Rostspuren auf dem Taschentuch als Blutflecken sehe? Wie zuverlässig sind meine Sinne? Bieten sie mir ein wahres und unverrückbares Bild von den Dingen oder eine mögliche Version davon? Und erschöpft diese Version das sinnliche Angebot der Welt oder ist sie vielmehr ein Produkt meiner Imagination? Welche Rolle spielen schließlich Wissen und Gewohnheit für die Art und Weise, wie ich die Sachen wahrnehme? Sehe ich mit meinen eigenen Augen oder mit den Augen der Gesellschaft? Gibt es eine Wirklichkeit oder vielmehr Wirklichkeiten mit beschränkter Gültigkeit? Dies sind diskursübergreifende Leitfragen der Epoche Blechers. Sie stellen die Auffassung von Subjektivität und Objektivität neu zur Diskussion und problematisieren den „Zusammenhang zwischen der ‚vom denkenden Geist nach seinen Gesetzen hervorgebrachten Ordnung‘ mit dem ‚wirklichen Wesen und Zusammenhang der Dinge selbst‘“16. Ähnliche Unruhen treiben die Protagonisten und Erzähler Blechers um. Die Sensibilität des rumänischen Autors für Fragen der Wirklichkeit verweist auf das Klima der epistemologischen und ontologischen Verunsicherung zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, die unter dem Schlagwort der „Krise der Wirklichkeit“ in den Debatten der Zeit einen pointierten Ausdruck gefunden hat. Ende der zwanziger Jahre, als sich der junge, philosophisch interessierte Max Blecher17 entschließt, Medizin in Paris zu studieren, ist die Wirklichkeit bereits zu

|| 16 Siehe Gerhard Otto Oexle, „Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit“ in: Gerhard Otto Oexle, Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Wissenschaft, Kunst und Literatur 1880‒1932, Göttingen 2007, 13. 17 Von Blechers Interesse an den philosophischen Debatten seiner Zeit legt seine Publizistik Zeugnis ab. Für die Zeitschriften Vremea und Azi verfasste er einige Artikel zu philosophischen Neuerscheinungen und Streitfragen: „Între imaginaţie şi experienţă“ (Zwischen Imagination und Erfahrung) aus dem Jahre 1935 zur metaphysikkritischen Philosophie Rudolf Carnaps; „Complexul individualităţii“ (Der Individualitätskomplex), 1935 über Beiträge in der französischen Zeitschrift

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einem Problembegriff geworden. In den wissenschaftstheoretischen Debatten stehen mit dem Begriff der Wirklichkeit zunächst das Selbstverständnis und die Weltauffassung der Naturwissenschaften auf dem Spiel. Auch in philosophischen Zusammenhängen laufen Versuche der Neubegründung der Wirklichkeit in der Erfahrungswelt auf eine Auseinandersetzung mit dem Weltbild der empirischen Wissenschaften hinaus. Zu Beginn des Jahrhunderts tritt die phänomenologische Philosophie den Naturwissenschaften als eine Art kritisches Bewusstsein gegenüber und zeigt, dass jede Wissenschaft ein „bloß sekundärer Ausdruck“18 der Welterfahrung ist. Die Phänomenologie leistet eine Konstitutionsreflexion des Wirklichkeitsbegriffs und bringt durch den „Versuch einer direkten Beschreibung aller Erfahrung“19 Wahrnehmungsgegebenheiten ans Licht, die ins wissenschaftliche Weltbild keinen Eingang finden: die Phänomene. Sie zeigt, dass sich Wirklichkeit durch die Setzung invarianter und sinnlich erschöpfender Wahrnehmungen herausbildet, die nur einen kleinen Teil der phänomenalen Erscheinungsvielfalt betreffen und eine optimale Wahrnehmungseinstellung voraussetzen. Wilhelm Schapp, ein Schüler Husserls, weist in seinen Beiträgen zur Phänomenologie der Wahrnehmung darauf hin, dass die Wissenschaften „aus sich selbst nicht imstande sind, der Skepsis, die die absolute Wahrheit ihrer Ergebnisse anzweifelt, zu begegnen“20. Hier könne die Phänomenologie anknüpfen und erkunden, „in welchem Verhältnis [etwa] das Ding des natürlichen Menschen zu den Atomen, Ionen der Physik steht“21. In der phänomenologischen Losung und Methode, die darauf beruht, auf „die Sachen selbst“ zurückzugehen, steckt zunächst, wie Merleau-Ponty deutlich macht, „eine Absage an ‚die‘ Wissenschaft“22. Das Ziel der Phänomenologie ist es aber letztlich, zwischen den wissenschaftlichen und alltäglichen Formen des Denkens und der sinnlich gegebenen Erfahrungswelt zu vermitteln. Husserl und Schapp beabsichtigen eine Letztbegründung der Objektivität in der Phänomenalität und eine phänomenologische Fundierung der Eindeutigkeit von Wirklichkeit.23

|| „Recherches Philosophiques“, herausgegeben in jenen Jahren von Gaston Bachelard, Alexandre Koyré und Henri-Charles Puech, zu dem Blecher in Briefkontakt stand; „Conceptul repetiţiei la Kierkegaard“ (Der Begriff der Wiederholung bei Kierkegaard), 1936; „Exegeza câtorva teme comune“ (Kommentar zu einigen allgemeinen Themen), 1936, in dem er erkenntnistheoretische Fragen am Beispiel Bergsons und der Existenzphilosophen erörtert. Siehe Blecher, 1999, 364‒366, 373‒375, 376‒378, 379‒384. 18 Merleau-Ponty, 1966, 4. 19 Ebd., 3. 20 Schapp, 1976, 4. 21 Ebd., 5. 22 Merleau-Ponty, 1966, 4. 23 Siehe Ferdinand Fellmann, Phänomenologie zur Einführung, Hamburg 2006, 71.

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Solange die wissenschaftliche Erkenntnis als eindeutig determiniert gegolten hatte, war es möglich gewesen emphatisch von der Wirklichkeit im Singular zu sprechen. Nach der Veröffentlichung des Quantenpostulats wird der emphatische Wirklichkeitsbegriff den Naturwissenschaftlern selbst zum Problem. Der wissenschaftliche „Glaube an eine eherne Ordnung der Natur nach unveränderlichen […] Gesetzen“24, den die Phänomenologie schon als „naiven Weltglauben“ problematisiert hatte, gerät endgültig ins Wanken. Das zieht Debatten und Begriffsbestimmungen nach sich. Die Vorstellung einer absoluten Wirklichkeit weicht einer pluralen Auffassung von Wirklichkeiten mit eingeschränktem Geltungsbereich und perspektivischer Bindung. 1929 veröffentlicht der polnische Mikrobiologe und Mediziner Ludwik Fleck in der Zeitschrift Die Naturwissenschaften den Aufsatz Zur Krise der ‚Wirklichkeit‘25, in welchem er das alte wissenschaftsontologische Paradigma mit aufklärerischem Elan verabschiedet. Sein Aufsatz ist eine Replik auf den Artikel eines Frankfurter Wissenschaftlers, Kurt Riezel, der ein Jahr zuvor in derselben Zeitschrift die Postulate der Quantenphysik wissenschaftstheoretisch gedeutet hatte: die Wirklichkeit, so Riezel, sei in die Krise geraten. Den emphatischen Singular zitiert Fleck nun mit kritischer Distanz als Sehnsuchtsbegriff. Gegen die Vorstellung der absoluten Determiniertheit der wissenschaftlichen Erkenntnis hält er eine schöpferische Erkenntnisauffassung. Die „absolute Wirklichkeit“ sei ein „verträumtes Ideal“. Sie gehöre zum „offiziellen Idealbild“ der Wissenschaft selbst und liefere den Wissenschaftlern ihre „Religion“. In Wahrheit sei jeder Erkenntnisakt abhängig von „Zeit, Ort, Kultur und Person“26 und die wissenschaftliche Arbeit vielmehr als Kunst zu begreifen: Beobachten, Erkennen, ist immer ein Abtasten, also wörtlich Umformen des Erkenntnisgegenstandes. – Das ist die tägliche Praxis der Wissenschaft. Hier überwiegt das soziale und das historisch-traditionelle Moment. In großen, schöpferischen Augenblicken ist aber die neuentstehende Wissenschaft einfach künstlerische Schöpfung, die man überhaupt nur bewundern und gar nicht ‚beweisen‘ und ‚sachlich‘ determinieren kann.27

In den neueren Entwicklungen der Naturwissenschaften begrüßt Fleck die „Geburt“ und „Erschaffung eines neuen Gedankenstils“28, einer neuen Episteme also29. Von

|| 24 Kurt Riezel, „Zur Krise der Wirklichkeit“, zitiert nach Oexle, 2007, 14. 25 Ludwik Fleck, „Zur Krise der ‚Wirklichkeit‘“ (1929) in: Ludwik Fleck, Erfahrung und Tatsache, Frankfurt am Main, 1983, 46‒58. 26 Ebd., 54‒55. 27 Ebd., 53. 28 Ebd., 57. 29 Fleck hat einen emphatischen Stilbegriff. Er versteht darunter die spezifische Denkart einer Wissensgemeinschaft aber auch die jedem Wissen impliziten Organisationsstrukturen. Eine Wissensgemeinschaft, die in einer bestimmten Tradition steht und sich mit bestimmten Fragen beschäf-

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einem Unbehagen ist hier nichts zu spüren. Die Diagnose seiner Zeitgenossen vom Zerfall der Wirklichkeit erklärt Fleck mit einem erkenntnispsychologischen Irrtum, dass nämlich „alte, gewohnte Gedankengänge als besonders evident“ erscheinen30. Was als wirklich und wahr gelte, wäre bloß ein durch die Macht der Gewohnheit und die Autorität der Wissensgemeinschaften gefestigtes Denken. Darüber hinaus entspräche „[j]edem Erkennen, jedem Erkenntnissysteme, jedem sozialen Beziehungseingehen […] eine eigene Wirklichkeit.“31 Es geht also in der Debatte um den Begriff der Wirklichkeit in jenen Jahren, als Blecher sein Medizinstudium in Frankreich aufnimmt, in erster Linie um die Eindeutigkeit der wissenschaftlichen Erkenntnis, die nun nicht mehr als „Einsicht im fertig Gegebenem“32 gilt. Man stellt fest, dass man vom Subjekt und den spezifischen Umständen des Erkennens nicht abstrahieren kann, weil sie den Erkenntnisgegenstand in beträchtlichem Maße mitgestalten. Nicht die kühle Beobachtung, die einen Gegenstand aus gewisser Distanz emotional unbeteiligt registriert, liefert bei Ludwik Fleck das erkenntnistheoretische Modell, sondern das Abtasten. Wer etwas abtastet, begibt sich in unmittelbare Nähe zum Gegenstand, nimmt dessen materielle Beschaffenheit mit der Haut auf und ist von ihr direkt betroffen. Der Tastende verändert aber auch durch die eigene Körpertemperatur, durch den Druck des Berührens und Greifens die Beschaffenheit des Gegenstandes. In diesem Sinne beschreibt Fleck das Erkennen als „tätiges, lebendiges Beziehungseingehen, ein Umformen und Umgeformtwerden, kurz ein Schaffen“33. Und, wenn der schöpferische Akt die Matrix aller großen Erkenntnisakte liefert, suggeriert das nicht auch umgekehrt, dass die Kunst ungeahnte Erkenntnispotentiale in sich birgt? Mit den wissenschaftlichen Gewissheiten scheint auch die Selbstverständlichkeit und der Sinn des alltäglichen Lebens fraglich geworden zu sein und einer neuen philosophischen Fundierung zu bedürfen. Klare Worte für dieses Gefühl der zunehmenden Entfremdung des Menschen von seiner Lebensrealität und der Wissenschaften von dem Menschen findet der sechsundsiebzigjährige Husserl in seiner Spätschrift Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie.34 1935, ein Jahr vor der Veröffentlichung von Blechers Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit stellt der Begründer der phänomenologischen Philosophie das „Zutagetreten von rätselhaften, unauflöslichen Unverständlichkeiten der mo-

|| tigt, ermittelt diese nach jeweils eigenen Regeln und zu jeweils eigenen Zwecken. Weiterführend spricht Fleck davon, dass die „Mitglieder differenter Wissensgemeinschaften […] in eigener wissenschaftlicher oder auch beruflichen Wirklichkeit“ lebten. Fleck, 1983, 48. 30 Ebd., 46. 31 Ebd., 48. 32 Ebd. 33 Ebd. 34 Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (1936), Hamburg 1982.

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dernen, selbst der mathematischen Wissenschaften“ fest und „in Verbindung damit … [das] Auftauchen einer Art von Welträtseln, die den früheren Zeiten fremd waren“35. Husserl fordert eine wissenschaftliche und philosophische Besinnung auf die Lebenswelt und macht sich zum Sprachrohr der jüngeren Generation, deren Vorwurf er zu vernehmen glaubt: In unserer Lebensnot – so hören wir – hat diese Wissenschaft uns nichts zu sagen. Gerade die Fragen schließt sie prinzipiell aus, die für den in unseren unseligen Zeiten den schicksalsvollsten Umwälzungen preisgegebenen Menschen die brennenden sind: die Fragen nach Sinn oder Sinnlosigkeit dieses ganzen menschlichen Daseins.36

Die Literatur und philosophische Ästhetik haben sich diesen Fragen gestellt. In seiner 1916 erschienenen Theorie des Romans, die aus einer ähnlichen „Stimmung der permanenten Verzweiflung über den Weltzustand“37 entsteht wie Husserls letzte Schrift, beschreibt Georg Lukács den Roman als „Ausdruck der transzendentalen Obdachlosigkeit“38 des modernen Lebens und als Form der Sinnsuche eines problematisch gewordenen Individuums. Lukács versucht die Formen der Epik primär im Zusammenhang mit den „geschichtsphilosophischen Gegebenheiten, die sie zur Gestaltung vorfinden“39 zu bestimmen, statt über ihre gattungsspezifischen Darstellungsmöglichkeiten und Techniken. Er kommt dabei zur Einsicht, dass der Roman ein Zeitalter vorfindet, „für das die extensive Totalität des Lebens nicht mehr sinnfällig gegeben ist, für das die Lebensimmanenz des Sinnes zum Problem geworden ist“40. Als epische Gattung gestaltet der Roman eine Situation der Entfremdung des Individuums von der Welt, die von Rissen, Brüchen und Dissonanzen zerfurcht ist und über keine unmittelbare Evidenz mehr verfügt. Es ist eine kontingente „Welt der Konvention“, aus der die „überpersönlichen, seinsollenden Notwendigkeiten“41 verschwunden sind, eine Welt, wie sie auch Blecher in seiner Prosa darstellt. Ebenso wie bei Lukács „die selbstgeschaffene Umwelt für den Menschen kein Vaterhaus mehr ist, sondern ein Kerker“42, bedeutet für den Protagonisten Blechers in Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit die „herbe Akkuratheit“43 (exactitate aspră) der Wirk-

|| 35 Ebd., 4. 36 Ebd., 4‒5. 37 Georg Lukács, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik (1916), 2. Auflage, München 2000, 6. 38 Ebd., 32. 39 Ebd., 47. 40 Ebd. 41 Ebd., 53. 42 Ebd., 55. 43 Blecher, 2003, 125.

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lichkeit eine „grauenhafte und schmerzliche Gefangenschaft“44 (îngrozitor şi dureros prizonierat) in stumpfsinnigen, bedeutungslosen Formen. Doch der Roman ist nach Ansicht Lukács mehr als nur symptomatischer Ausdruck der „Krise der Wirklichkeit“ im Zeitalter der Moderne.45 Er hat eine „Gesinnung zur Totalität“46, die er zwar nie ganz einlösen kann, wenn er dem dissonanten Charakter des Lebens formalästhetisch gerecht werden will, aber doch im Idealfall als ein „sicher schwebendes Gleichgewicht von Werden und Sein“47 realisiert.48 Blechers Ich-Erzähler in Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit artikuliert zuweilen auch eine Sehnsucht nach Totalisierung. Gegen Ende der Erinnerungserzählung „scheint [ihm] für einen Augenblick, […]dass aus alledem etwas Neues und Authentisches hervorkommen könnte, das [ihn] klar wie ein Name umfassen und mit einem einzigartigen Ton in [ihm] klingen würde, unerhört, als erklänge [ihm] der Sinn [s]eines Lebens…“49 Der formimmanente Sinn der Erinnerungserzählung wird als Aufscheinen einer Möglichkeit durchschaut, die schließlich unrealisierbar bleibt und die daher, wie man mit Lukács sagen könnte, in „quälende Trostlosigkeit umschlägt“50. Bei allem Gestus der Sinn- und Selbstsuche liegt das Ziel von Blechers erstem Prosaprojekt nicht darin, das Brüchige der Wirklichkeit und die Kluft zwischen Wesen und Welt in eine (Roman-)Form einzufassen51. Geo Bogza hat in seiner Rezension zu Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit Blechers Prosaproduktion als Poetik des Antiromans dargelegt: „In einer Epoche, in der fast alle Schriftsteller, ungeachtet ihrer Themen, krampfhaft versuchen, ihre Bände auf die Dimensionen und Strukturen eines Romans zu bringen, will M. Blecher eine Reihe von Begebenheiten erzählen, die nach einer epischen Verarbeitung geradezu verlangten. Blecher aber tat || 44 Ebd., 128. 45 Lukácsʼ Begriff der Moderne ist ein geschichtsphilosophischer. Er meint das Zeitalter nach der Renaissance. Niefanger dagegen spitzt Lukács Thesen von dem Roman als Sinnsuche auf die klassische Moderne zu und misst ihren Romanproduktionen eine Erkenntnisleistung bei. Siehe Dirk Niefanger, „Die historische Kulturwissenschaft und der neue Roman der 1920er und 1930er Jahre“ in: Oexle, 2007, 273‒295. 46 Lukács, 2000, 47. 47 Ebd., 63. 48 Tanja Dembski zeigt, dass sich Lukács mit seiner Forderung nach Geschlossenheit der Romanform an einem klassizistischen Kunstideal orientiert und die Gültigkeit seiner Theorie demnach für Romane des frühen 20. Jahrhunderts in Zweifel gezogen werden kann. Tanja Dembski, Paradigmen der Romantheorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Lukács, Bachtin und Rilke, Würzburg 2000, 92. 49 Blecher, 2003, 135. 50 Lukács, 2000, 61. 51 Der Wesensbegriff greift bei Blecher nicht. Die unversöhnliche Kluft zwischen Ich und Welt wird in der osmotischen Verschmelzung mit der Umgebung durch die Erfahrung des Fremden im Eigenen für die Dauer eines Augenblicks überwunden, also nicht durch die Substanz, die das Subjekt unverwechselbar macht, sondern durch die wandelbare Materie, die das Empfindungs-Ich dem Fremden, Anderen aussetzt.

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sein Bestes, um keinen Roman zu schreiben, er rang mit dem Stoff, zügelte ihn und, als das Buch trotz allem einem Roman zu gleichen drohte, griff er gnadenlos ein und unterdrückte alles, was ihm jene Gestalt hätte geben können, welche die meisten Autoren für ihre Bücher so sehr begehren.“52 Es gibt also in M. Blechers Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit kein Bestreben danach, das disparate Verhältnis zwischen empirischem Subjekt und Wirklichkeit in die strukturelle Ausgewogenheit und Einheitlichkeit einer Romanform zu überführen. Genau genommen ist das Ich in Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit kein empirisches Subjekt, dem ein Wesen eignet, wie bei Lukács, sondern ein wandelbares Empfindungs-Ich, dessen Subjektivität ebenso zweifelhaft und prekär ist wie die Objektivität der „unmittelbaren Unwirklichkeit“. Die Wirklichkeit wird hier vielmehr subvertiert und erschüttert, indem die Virtualität des Empfindens und das radikale Werden zum Gegenstand der ästhetischen Gestaltung gemacht werden. Das Verhältnis der Prosa Blechers zur Wirklichkeit ist, wie die Forschung gezeigt hat, näher an der Ästhetik des Surrealismus, der die Alltagsrealität als stumpfsinnige Dressur denunziert und sie mit Wortheeren und Traumimaginationen zum Einsturz bringen und überschreiten will.53

3.3 Phänomenologie und Ästhetik Die von Edmund Husserl zu Beginn des Jahrhunderts begründete Phänomenologie ist die vielleicht bedeutendste philosophische Strömung der Epoche Blechers. Geistesgeschichtlich reagiert sie, wie Ferdinand Fellmann gezeigt hat, auf die „Angst vor dem erkenntnistheoretischen Fiktionalismus“54. Die Phänomenologie will die „zunehmend[en] Zweifel[ ] an der Eindeutigkeit und Verlässlichkeit des Wirklichen“55 ausräumen und das Weltvertrauen festigen. Wilhelm Schapp, der 1910 mit Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung in Göttingen bei Husserl promoviert, formuliert in seiner Arbeit präzise den Verdacht, gegen den die Phänomenologie vorgeht: „Wäre es nicht möglich, […] dass die ganze Welt ein Bild, ein Tongemälde, eine Illusion wäre.“56 Oder, sich noch stärker in die Position, die es zu widerlegen gilt,

|| 52 „Într-o epocă a romanului, M. Blecher având de povestit o înșiruire de fapte care l-ar fi dus în chip firesc la tehnica romanului, a făcut tot ce i-a stat în putință să nu scrie un roman, s-a luptat cu materialul, l-a ținut în frâu, iar atunci când cartea amenința totuși să semene a roman, a intervenit fără milă, suprimând tot ce i-ar fi dat această înfățișare, atât de dorită de majoritatea autorilor, pentru cărțile lor.“ Geo Bogza, „Cartea lui M. Blecher“ in: Lascu, 2000, 222. Meine Übersetzung. 53 Zu Blecher im Zusammenhang der rumänischen Avantgarde-Ästhetiken siehe Ion Pop, Avangardismul poetic românesc, Bukarest 1969. 54 Fellmann, 2006, 43. 55 Ebd. 56 Schapp, 1976, 128.

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einfühlend: „Es wäre möglich, dass Wirklichkeit einfach nicht wahrgenommen werden könnte, dass die Wirklichkeit höher denn alle Wahrnehmung wäre.“57 Auf diese Welt- und Wirklichkeitsskepsis antwortet die Phänomenologie mit einer „Meditation über die Erkenntnis“58. Sie macht das Erkennen selbst zum Gegenstand der Erkenntnis, um zeigen zu können, dass die Wirklichkeit keine Kopfgeburt ist, sondern sich nach notwendigen Gesetzmäßigkeiten konstituiert, die im Wahrnehmen selbst unmittelbar greifen. Dahinter steht die Annahme, dass die sinnliche Wahrnehmung vorprädikativ Bedeutungen liefert, die „wesentlich einen Wahrheitsbezug in sich tragen“.59 Wilhelm Schapp beschreibt das phänomenologische Anliegen als Versuch, „die Wesenszusammenhänge zwischen sinnlicher und nicht sinnlicher Anschauung, zwischen Denken und Anschauen, zwischen Psychischem und Physischem zur Selbstgegebenheit zu bringen“60. Es geht also darum, unmittelbare Wahrnehmungsgegebenheiten aufzudecken, die das wissende, urteilende Sehen im praktischen Zugang zur Welt immer schon übersieht, und darum aufzuzeigen, wie sich die objektive Realität auf Grundlage dieser Wahrnehmungsgegebenheiten herausbildet. Um dies zu erreichen, fordert die Phänomenologie zunächst ein Zurückgehen auf „die Sachen selbst“61. Mit philosophisch reformatorischem Gestus will sie, die unmittelbare, sinnliche Erscheinungsvielfalt der Welt, so wie sie sich noch vor jeder intellektuellen Einmischung zeigt, theoriefrei beschreiben: „Die Wirklichkeit“, heißt es bei Maurice Merleau-Ponty, „ist zu beschreiben, nicht zu konstruieren oder zu konstituieren“.62 Durch ihren deskriptiven Ansatz und ihre Bereitschaft, sich von der phänomenalen Fülle der Erfahrungswelt in Erstaunen versetzen zu lassen, nähert sich die Phänomenologie in gewissem Maße der Ästhetik an. In einem Brief an Hugo von Hofmannsthal aus dem Jahre 1907 kommentiert Edmund Husserl die Affinität zwischen phänomenologischer und ästhetischer Betrachtung: Der Künstler, der die Welt ‚beobachtet‘ [...] verhält sich zu ihr ähnlich wie der Phänomenologe. [...] Ihm wird die Welt, indem er sie betrachtet, zum Phänomen, ihre Existenz ist ihm gleichgültig, genauso wie dem Philosophen (in der Vernunftkritik). Nur dass er nicht darauf ausgeht, wie dieser den ‚Sinn‘ des Weltphänomens zu ergründen und in Begriffe zu fassen, sondern es sich intuitiv zuzueignen, um daraus [die] Fülle der Gebilde, Materialien für schöpferische ästhetische Gestaltungen zu sammeln.63

|| 57 Ebd., 97. 58 Jean-François Lyotard, Die Phänomenologie, Hamburg 1993, 8. 59 Fellmann, 2006, 20. 60 Schapp, 1976, 3. 61 Ebd. 62 Merleau-Ponty, 1966, 6. 63 Husserl, 1993, 120.

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Die Gemeinsamkeit zwischen dem Phänomenologen und dem Künstler liegt nach Husserl darin, dass sie zunächst beide von der Existenz der Welt abstrahieren. Im Versuch, die phänomenale Welt, so wie sich den Sinnen tatsächlich präsentiert, zu beschreiben, sieht auch der Phänomenologe in einem ersten Schritt von der Faktizität der Erscheinungen ab. Die zerfließenden und flüchtigen Gestalten in der Ferne etwa, die sich ihm eben noch aus der Nähe als deutlich erkennbare Dinge zeigten, verwirft der Phänomenologe nicht als Täuschungen der Sinne. Vielmehr erkundet er die invarianten Beziehungen zwischen den Erscheinungen, die verschiedene Wahrnehmungseinstellungen und Perspektiven liefern. Erst in einem zweiten Schritt befragt der Phänomenologe die Erscheinungen der Welt auf ihren „Sinn“ und führt sie in Begriffe über. Deshalb sagt Husserl, dass sich die Beobachtungen des Phänomenologen zunächst wie jene des Künstlers, unter „strenger Ausschaltung jeder existenzialen Stellungnahme des Intellects und jeder Stellungnahme des Gefühls und Willens“64 vollziehen. Das schnelle Urteilen und der Wille zum Umgang mit den Dingen kennzeichnet dagegen den praktischen Zugang zur Welt: „Die Dinge, die da sinnlich vor uns stehen, die Dinge, von denen die actuelle und wissenschaftliche Rede spricht, setzen wir als Wirklichkeiten, und auf diese Existenzsetzungen gründen sich Gemüts- und Willensacte.“65 Die Affinität zwischen Künstler und Phänomenologen tritt insbesondere in Abgrenzung zur sogenannten natürlichen, alltagspraktischen Einstellung und der wissenschaftlichen Einstellung deutlich zutage. Nun kann sich der Künstler den flüchtigen Gebilden in der Ferne in einem Spiel der Phantasie überlassen. Er wird sich ihre Fülle, wie Husserl sagt, „intuitiv aneignen“ und ihre Undeutlichkeit als Deutungsvielfalt ästhetisch ausschöpfen: vielleicht als Sehnsuchtsgestalten und scheinhafte Miragen, vielleicht als unbehagliche Gespenster oder Omen. Der Phänomenologe weist zwar auf diese Auffassungsmöglichkeiten hin, doch wird er ihnen anders als der Künstler nicht nachgehen: „Nicht wie es vielleicht sein könnte, wie es plausibler Weise ist, ist zu untersuchen, sondern wie es ist“66. Wilhelm Schapp grenzt hier das phänomenologische Vorgehen deutlich sowohl vom wissenschaftlichen, als auch vom ästhetischen Zugang zu den Phänomenen ab. Weder das theoretische oder Erfahrungswissen: wie es plausibler Weise ist, noch die Phantasie und der Möglichkeitssinn: wie es sein könnte, haben das letzte Wort in der Phänomenologie, sondern „die Sachen selbst“: „Nur was geschaut ist, gehört in die Phänomenologie“67. Doch innerhalb der Grenzen des sinnlich Gegebenen verfährt der Phänomenologe künstlerisch. Schließlich verweist auch Wilhelm Schapp auf die Nähe der phänomenologischen Methode zu ästhetischen Darstellungsverfahren:

|| 64 Ebd., 118. 65 Ebd., 119. 66 Schapp, 1976,14. 67 Ebd.

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Bei der phänomenologischen Untersuchung der Wahrnehmung kommt es […] in erster Linie darauf an, dass man sie mit leichter Hand vornimmt. […] Der Phänomenologe muss in gewisser Weise die Anlage des Künstlers und der, der die Wahrnehmung untersucht, Anlage zum Maler haben. Zwar ist die Wegstrecke, die Phänomenologe und Maler zusammengehen, nur kurz, aber es ist gerade ein entscheidender Teil des Weges, nämlich das Sichhineinversenken [sic] in die sinnliche Welt, die in der Wahrnehmung erfasst wird, sich in ihr darstellt.68

Der phänomenologische Versuch, die unmittelbare Weltwahrnehmung zum Ausdruck zu bringen, setzt eine leidenschaftliche Hinwendung zur Sinnlichkeit der Welt voraus, „eine unbedingte Hingabe, ein Vertiefen in die Sachen selbst“69. Das stellt die Ausdrucksmöglichkeiten der philosophischen Sprache auf die Probe. Überall stößt der Phänomenologe auf leiblich sinnliche Evidenzen, die sich sprachlich schwer fassen lassen. Was sinnlich erscheint oder „leibhaftig“ vor dem Beobachter steht, „zeigt sich etwa“, so Schapp, „wenn wir vergebens versuchen einem Dritten durch Worte klar zu machen, was etwas ist, und ihm deshalb das, was wir ihm nicht deutlich machen konnten, zeigen. Wenn wir jemand [sic], der nicht weiß, was klebrig ist, Leim zeigen, oder jemand [sic], der nicht weiß, was flüssig ist, Wasser zeigen, oder jemand [sic], der nicht weiß, was süß ist, Zucker zu schmecken geben. Das ist alles, was wir tun können; genügt ihm das nicht, so sind wir am Ende mit unseren Belehrungsversuchen.“70 Die phänomenologischen Deskriptionen rühren an die Grenzen des Benennbaren und Aussagbaren und müssen dennoch den deiktischen Modus des Zeigens „mit leichter Hand“ vollziehen. Die Wahrnehmungsbeschreibungen sind daher nicht bloß „ein Reflektieren über die ‚Sachen‘, sondern ein Aufnehmen, Auskosten der ‚Sachen‘“71, nicht nur ein Sagen, sondern in gewissem Maße auch ein Zeigen, und bewegen sich, wie Ferdinand Fellmann gezeigt hat, „zwischen Abbildung und Konstruktion“72. Die Nähe zur Ästhetik findet in der späteren Phänomenologie bei Maurice Merleau-Ponty eine entschiedenere Ausprägung. Das Ziel der Philosophie konzentriert sich bei ihm noch stärker darin, „den Dingen selbst aus der Tiefe ihres Schweigens zum Ausdruck zu verhelfen“73. Wie er 1946 in seiner Rede vor der Société française de Philosophie darlegt, bedeutet die „Suche nach einem Ausdruck des Unmittelba-

|| 68 Ebd., 12. 69 Ebd., 13. 70 Ebd., 16. 71 Ebd., 13. 72 Fellmann, 2006, 28. Für eine detaillierte Betrachtung der künstlerisch-präsentativen Aspekte der phänomenologischen Deskriptionen, allerdings mit Bezug auf Heideggers phänomenologische Methode des „aufweisenden Sehenlassens“ siehe Hilge Landweer, „Zeigen, Sich-zeigen und Sehenlassen. Evolutionstheoretische Untersuchungen zu geteilter Intentionalität in phänomenologischer Sicht“ in: Karen van der Berg/Hans-Ulrich Gumbrecht (u. a.), Politik des Zeigens, München 2010, 29‒ 61. 73 Merleau-Ponty, 1994, 18.

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ren“ zugleich, sich auf den Widerspruch einzulassen, dass „das Unreflektierte erst durch die Reflexion zu existieren beginnt.“74 Sie bedeutet, den „Beginn der Auseinandersetzung zwischen dem Ausdruck und dem Ausgedrückten“75 – eine programmatische Selbstreflexivität, die als Kennzeichen der ästhetischen Sprache schlechthin gilt. Die phänomenologische Arbeit stellt sich bei Merleau-Ponty als endlose Enthüllung des unerschöpflichen „Geheimnis[ses] der Welt“ in Analogie zur Kunst dar: „Sie ist mühsam wie das Werk von Balzac, Proust, Valéry oder Cézanne: in gleichem Aufmerken und Erstaunen, […] in gleichem Willen, den Sinn von Welt und Geschichte zu fassen in statu nascendi“76. Wenig verwunderlich ist daher die Reaktion der Société-Mitglieder, die Merleau-Ponty vorwerfen, die Philosophie an die Ästhetik preisgegeben zu haben: „Ich sehe“, wirft einer der Kommissionsmitglieder bei der Begegnung 1946 ein, „dass Ihre Vorstellungen sich eher durch den Roman oder die Malerei als durch die Philosophie ausdrücken lassen. Ihre Philosophie führt zum Roman.“77 Merleau-Ponty antwortet darauf offensiv, mit einem Plädoyer für die philosophische Orientierung an der ästhetischen Produktion: „Wenn die Begegnung mit dem Konkreten das Ziel des Wissens ist, nun, dann müssen wir in gewisser Hinsicht die Kunst über die Wissenschaft stellen, insofern sie einen Ausdruck des konkreten Menschen erreicht“78. Die Kunst wird zur Schule des Philosophen. Freilich gibt der Phänomenologe die systematisierende Betrachtung des Unmittelbaren nicht auf. Er bringt auch noch die vorgefundenen Widersprüche auf Begriffe, doch schreibt er ihnen keinen absoluten, sondern einen sogenannten inchoativen, anfänglichen Wahrheitswert zu. Der Phänomenologe „kann nur anfangen“79 und die Philosophie ist als Phänomenologie „immer [nur] erneute Erfahrung ihres eigenen Anfangens“80, darin sind sich die Phänomenologen von Husserl über Schapp bis zu Merleau-Ponty einig. Aufgrund ihrer Nähe zur Ästhetik wird die Phänomenologie später als „wissenschaftliche Form einer ‚ästhetischen Rechtfertigung der Welt‘“ rezipiert, obwohl sie bei Husserl und Schapp noch auf eine Letzt- oder Rechtsbegründung beständiger Wahrnehmungsstrukturen abzielt und keineswegs dem Subjekt „den Weg ins Paradies der unbegrenzten Phantasiewelten“ eröffnen will.81 Wenn die ästhetische Dimension der Phänomenologie die Grundlage eines produktiven Vergleichs mit der Literatur Blechers liefert, so tritt die spezifische Ästhetik der Dinge in Aus der unmit-

|| 74 Maurice Merleau-Ponty, Das Primat der Wahrnehmung, Frankfurt am Main 2003, 58. 75 Ebd. 76 Merleau-Ponty, 1966, 18. 77 Merleau-Ponty, 2003, 58. 78 Ebd., 66. 79 Schapp, 1976, 8. 80 Merleau-Ponty, 1966, 11. 81 Fellmann, 2006, 71 sowie Ferdinand Fellmann, Phänomenologie als ästhetische Theorie, Freiburg, München 1999.

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telbaren Unwirklichkeit erst der in Differenz zur phänomenologischen Dingontologie zutage. Es geht darum zu zeigen, welche spezifischen Phänomene Blecher bevorzugt darstellt und warum sie in seiner Wahrnehmungsprosa nicht in die Strukturen des Realen eingehen, sondern zu Undingen auswachsen.

3.4 Das Ding als Reales in der Phänomenologie der Wahrnehmung Bei Wilhelm Schapp liefert das Ding als sinnliches Wahrnehmungsgebilde den Grundbaustein der Wirklichkeit und des modernen Weltbildes. „Unsere Welt“, heißt es in seiner Dissertation von 1910, „besteht aus Dingen; wie weit wir auch gehen, wir können nirgends zu etwas anderm [sic] als zu Dingen kommen, wie wir sie in unserer Nähe haben. Dinge, im Raume nebeneinander, für sich seiend, in Wechselwirkung mit anderen Dingen.“82 „Dies ist die Klarheit, mit der wir uns im täglichen Leben zufrieden geben, die Klarheit, die den ungläubigen Thomas überzeugt. Was wir auf diese Stufe der Klarheit gebracht haben, das ist für uns wirklich“83. Auch für Maurice Merleau-Ponty ist das Ding in seiner existentiellen Einheit das Paradebeispiel der Wahrnehmung.84 Die Dingwahrnehmung ist der Probefall schlechthin, an dem sich die „Konstruktion von Objektivität“85 als evident erweisen muss: „[Ich] nenne […] Erfahrung des Dinges oder der Realität – und nicht mehr nur einer Realität für das Sehen oder für das Fühlen, sondern einer absoluten Realität – meine volle Koexistenz mit dem Phänomen in dem Augenblick, in dem es in jeglicher Beziehung zum Maximum seiner Artikulation gelangt und die Gegebenheiten der verschiedenen Sinne auf diesen einzigen Pol hin orientiert sind.“86 Das Ding ist hier eine intersensorische Einheit, die sich im leiblich-sinnlichen Bezug präobjektiv maximal erschöpft. Es steht auch hier für das Höchstmaß an Deutlichkeit, die die Wahrnehmung erreichen kann. Dieses phänomenologische Dingvertrauen weicht bei Blecher einem faszinierten Misstrauen gegenüber den Alltagsgegenständen. Ernest, jener feinsinnige Kommentator von Lebenswelten in Vernarbte Herzen und Schicksalsgefährte Emanuels, bringt die Verrätselung des Offenbaren und Klarsichtigen ziemlich genau zur Sprache: „Was kann ein Mensch in der Helligkeit und Klarheit der ihn umgebenden Dinge schon tun? Und auch wenn er was täte… es wäre zu klar […], viel zu sichtbar und zu [un]verständlich. Das beunruhigendste Geheimnis ist wahrscheinlich jenes,

|| 82 Schapp, 1976, 59. 83 Ebd., 61. 84 Merleau-Ponty, 1966, 367. 85 Ebd., 347. 86 Ebd., 368.

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das uns mit der schlichtesten Evidenz entgegentritt.“87 Gerade das Offenbare und Konkrete, die nächste Umgebung im hellen Tageslicht also, verbirgt sich und stiftet Unruhe. In der Prosa Blechers sind die Erscheinungen der nächsten Dinge von Paradoxien zerfurcht: das Klare und Sichtbare schlägt in quälende Unverständlichkeit um, das Nächste und Vertraute in unheimliche Fremdheit, das reglose Tote verlebendigt sich und zwingt dem Betrachter einen unerbittlichen Terror auf. Auf eben diese Weise treten die Gegenstände in Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit auf. Ob sie sich unbeweglich und undurchdringlich, in Volumen und Form hermetisch eingesperrt zeigen oder aber „bis aufs Blut enthäutet“ (jupuite până la sânge) und „unsagbar lebendig“88 (vii, nespus de vii), in allen Erscheinungsformen bleiben sie unergründlich. „Die Dinge meiner Umgebung“, erinnert sich der Ich-Erzähler, „legten nie ihr geheimnisvolles Verhalten ab, beharrlich wahrten sie es in ihrer ernsten Reglosigkeit“89. Während die Dinge bei den Phänomenologen durch Farbe, Gestalt und Qualitäten, durch die Art der Wechselwirkung miteinander so gut wie alles über sich preisgeben und in ihren spezifischen Eigenheiten so deutlich zutage treten, dass sie als Maßstab der Realität gelten können, wahren sie bei Blecher auch noch im klarsten Licht ein Geheimnis und werden zu Erfahrungsmedien einer berückenden Irrealität. Was hat das zu bedeuten? Wahrnehmungsphänomenologisch meint das Ding nicht den konstituierten Gegenstand, dessen abgeschlossene Gestalt sich von der Umgebung souverän abhebt und der prädiziert, d. h. unter einem Namen identifiziert wird: Das ist ein Baum, ein Grammophon, eine Vogelfeder, ein Büchlein, ein Lichtstrahl… Genauso wenig meint es das abstrakte, messbare Objekt, das in seinen Eigenschaften durch und durch transparent ist. Die Phänomenologen setzen in ihren Deskriptionen auf einer Vorstufe der Wahrnehmung an, wo sich das Ding im hypothetisch urteilsfreien Blick des Betrachters90 erst aus der sinnlichen Erscheinungsfülle als gewisse Merkmale aufweisende, in sich strukturierte und individuelle Sache herausbildet.91 Mit anderen Worten ist das Ding der Phänomenologen Korrelat einer bestimmten Wahrnehmungseinstellung, die sich unter günstigen Voraussetzungen durch Deutlichkeit auszeichnet: „Wir können immer etwas sehen“, so Schapp, „selbst wenn wir die Augen geschlossen halten, sehen wir etwas schwarzes [sic]. Aber Dinge sehen wir

|| 87 Blecher, 2008, 73; „Ce poate face un om în mijlocul limpeziciunii decorului? Și chiar de ar face ceva... e prea clar... prea vizibil și prea ininteligibil. Misterul cel mai turburător e poate cel care ne apare în cea mai simplă evidență.” Blecher, 1999, 154. 88 Blecher, 2003, 14; Blecher, 1999, 47. 89 Blecher, 2003, 15; „Obiectele din jurul meu nu renunțau niciodată la o atitudine secretă, păstrată cu ferocitate în imobilitatea lor severă.” Blecher, 1999, 47. 90 Die Möglichkeit einer Reduktion, einer Ausschaltung jeglicher intellektuellen und existentiellen Stellungnahme gegenüber dem Gesehenen kann man mit Ludwik Fleck bestreiten. Er stellt in Frage, ob die „Anfänge des Erkennens“ überhaupt greifbar seien. Siehe Fleck, 1983, 46‒47. 91 Schapp, 1976, 123.

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nur unter günstigen Umständen, bei guter Beleuchtung und passender Entfernung.“92 Das Sehvermögen, das mitunter, wie sich am Beispiel des Sehens mit geschlossenen Augen andeutet, zum Sehzwang, zu einer Unentrinnbarkeit des Sehens werden kann, führt nur unter optimalen, unserem leiblichen Vermögen entsprechenden Voraussetzungen zur Dingwahrnehmung. Für den Dingbegriff Schapps ist es gleichgültig, ob es sich um Naturdinge, Artefakte, Werkzeuge handelt oder gar um Gestalten, die mithilfe technischer Apparaturen gesehen werden. So gelten ihm „der Stuhl“, „der Tisch“, „der Stein“, aber auch „der entfernteste Fixstern“, „das Stäubchen in der Sonne“ und die „Amöbe“ unter dem Mikroskop gleichermaßen als Dinge, insofern sie deutlich erscheinen.93 Es sind einfache Wahrnehmungsbeobachtungen, über die Schapp zu seinen Einsichten kommt. Wenn man ein Ding von sich entfernt, zerfließen seine Gestalt und seine Grenzen allmählich. Wenn es als Einheit nicht mehr oder nur noch schwer wahrnehmbar ist, dann ist das Gesehene kein Ding mehr. Man weiß dann zwar, dass das, was man in der Ferne sieht, ein Ding ist, oder man vermutet, dass es eines sein könnte, aber man sieht kein Ding mehr. Denn, „[d]er bläuliche Schimmer, in dem alles Entfernte steckt, verbirgt es. […] Wenn wir das festzuhalten versuchen, was wir dort vor Augen haben, so ist es nichts Dingliches, sondern etwas Schattenhaftes“94. Ebenso, wenn man nachts aufwacht und in die Dunkelheit des Zimmers späht. Dann sieht man Umrisse der bekannten Gegenstände, die Erinnerungsbilder aufrufen können, aber keine Dinge: „Die Dämmerung umhüllt die Dinge ähnlich wie die Entferntheit.“95 Schapp setzt zwischen den Erscheinungen der Nähe und Ferne, zwischen jenen im hellen Tageslicht und jenen der Dunkelheit einen kategorialen Unterschied an. Was in der Entfernung, im Nebel, in der Dämmerung oder bei Nacht schemenhaft erscheint und schwer oder gar nicht mit dem Auge fixiert werden kann, ist kein Ding, sondern Phänomen. Zwischen Phänomenen und Dingen lägen aus erkenntnistheoretischer Sicht „Abgründe“96, so Wilhelm Schapp. Der Anspruch der Phänomenologie ist es zu zeigen, dass die Gründe für diesen Kategorienunterschied nicht von außen, durch die Vernunft an die Sachen herangetragen werden, sondern der Wahrnehmung selbst inhärent sind. So heißt es bei Schapp,

|| 92 Ebd., 70. 93 Ebd., 59‒60. Schapp aber auch Merleau-Ponty lassen den konstruktiven Charakter der technischen Werkzeuge und Medien außer Acht. Für Schapp liefert „[d]ie Wahrnehmung durch das Mikroskop … schließlich doch Wahrnehmungen derselben Art, wie die Wahrnehmung durch das bloße Auge. […]“ Ebd., 73. Merleau-Ponty folgt dieser Argumentation, die auf die Maximalität des Wahrnehmungsvermögens pocht und die Selektion und Setzung von signifikanten Gestalten vernachlässigt. Siehe Merleau-Ponty, 1966, 350 und 368. Für eine kritische, konstruktivistische Position siehe Ludwik Fleck, „Schauen, sehen, wissen“ in: Fleck, 1983, 147‒174. 94 Schapp, 1976, 74 95 Ebd. 96 Ebd., 64.

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dass das Phänomen seinem „eigenen Gehalte nach keinen Anspruch darauf [erhebt], dass man ih[m] vertraut.“97 Es ist, als ob die Wahrnehmung ihrer eigensten Natur nach immer auf Dinge abzielt und wo sie diese nicht findet, sich müht, durch die Schleier zu dringen, die scheinbar über den Dingen liegen. Sie kommt, wo die Dinge günstig gegeben sind, sofort zur Ruhe; wo dies nicht der Fall ist, bleibt ein Moment der Unruhe vorhanden.98

Hier schwingt die anthropologische Grundannahme mit, dass die Dingwahrnehmung dem ‚natürlichen‘ Wahrnehmungsvermögen des Menschen entspreche99. Die Dunkelheit, die Ferne überforderten den Betrachter sinnlich und versetzten ihn in Unruhe. Sie gäben ihm Wahrnehmungsrätsel auf, die er, wie Schapp anmerkt, zuweilen mit Phantasien zu lösen versuche, wenn es ihm nicht, mit technischen Mitteln etwa, gelänge, die Dunkelheit und die Ferne zu überwinden.100 Wenn nun die Dinge, deren Anblick die Wahrnehmung allein beruhigt, bei günstigem Licht und optimaler Entfernung als schon fertige Objekte vor Augen träten, dann gäbe es keinen Raum für Vexier- oder Trugbilder. Dann dürfte man sich unter besagten Bedingungen entweder nie optisch täuschen oder aber jede Täuschung wäre bereits ein pathologisches Phänomen. Die „Unruhen“ des Halbwüchsigen in Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit, dem sich die Dinge im hellen Tageslicht in flatterhafter Kontur oder „bis aufs Blut enthäutet“101 (jupuite până la sânge) zeigen, wären dann vielleicht Halluzinationen, Produkte einer pathologischen Phantasie. Sie stünden in keinem Wahrnehmungszusammenhang mit den Dingen selbst. Doch die Dinge, von denen Schapp spricht, sind unfertige Gebilde. Sie bieten sich dem Blick nicht schon als scharf geschnittene Gegenstände mit klaren Oberflächen und Konturen an, sondern werden als solche erst wahrnehmend konstituiert: „Nie ist das Ding […] direkt gegeben“, es gibt überall „ein[en] Weg […], auf dem man zum Dinge kommt.“102 Das Ding, das Fundament des Realen schlechthin, ist aus Sicht des Phänomenologen nicht unmittelbar gegeben, sondern eben nur durch die Sinne vermittelt. Schapp spricht von der Dingwahrnehmung als einem Prozess, bei dem gewisse Phänomene „darstellen“, während andere „dargestellt werden“103. Die Farbe gehöre etwa zur Ordnung der Darstellung, die Qualitäten und Konturen dagegen zur Ord-

|| 97 Ebd., 63. 98 Ebd., 75 99 Merleau-Ponty spricht davon, dass das Reale, „so wie es uns in der Wahrnehmungserfahrung erscheint“, „immer schon mit anthropologischen Prädikaten versehen“ sei. Merleau-Ponty, 1966, 370. 100 Siehe Schapp, 1976, 73. 101 Blecher, 2003, 14; Blecher, 1999, 47. 102 Schapp, 1976, 36. 103 Ebd., 121.

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nung des Dargestellten. Andere Phänomene wiederum, die nicht widerständig seien, sondern beliebig modifzierbar und flüchtig wie Licht und Schatten, würden dabei ganz durchgestrichen werden.104 Als individuelles, für sich stehendes Gebilde erscheint das Ding also erst in einem Darstellungszusammenhang, den die Sinne gewissermaßen nach Vorgabe der Phänomene erstellen. Ding ist es erst, wenn es in der Wahrnehmung „mit Form gesättigt“105 erscheint und in seiner Totalität als etwas Bestimmtes wahrgenommen wird. Das Problematische ist allerdings, dass sich das Absolute der Form als Befund der sinnlichen Anschauung phänomenologisch nicht nachweisen lässt. Vielmehr vollzieht sich mit dem Sehen von etwas als etwas bereits eine Überschreitung in die Sphäre der Ideen. Im sinnlichen Bezug aber bleibt die Erscheinung des Dinges mannigfaltig und ist nie ganz frei „von den Schlacken der Unbestimmtheit“106. Merleau-Ponty macht den Kontext von Beziehungen, in dem das Ding als Wirkliches erscheint, noch deutlicher. Er bezieht den Leib als strukturierte, virtuell vermögende Ganzheit stärker und präziser als Schapp in die Beschreibung von Wahrnehmungsphänomenen ein. Leib und Welt bilden nach Merleau-Ponty ein „strenge[s] System“107 der existentiellen Erfahrung, in dem das eine das andere motiviert und impliziert. „Jede äußere Wahrnehmung ist unmittelbar einer bestimmten Wahrnehmung meines Leibes synonym“108, die allerdings in der Regel unthematisch, d. h. hintergründig bleibt, insofern die Aufmerksamkeit intentional, nach außen, auf den Gegenstand gerichtet ist. Die „Konstruktion von Objektivität“109 gründet auch bei ihm in einer optimalen leiblichen Einstellung zum Gegenstand, bei der ein „gewisses Gleichgewicht von Innen- und Außenhorizont“110 entsteht und zu der jede Wahrnehmung hintendiert: „Diese privilegierte Wahrnehmung allein (die ich in einem bestimmten Abstand und in einer bestimmten typischen Orientierung erhalte) versichert die Einheit des Wahrnehmungsprozesses und versammelt alle anderen Erscheinungen auf sich“111. Alle Dingerscheinungen, auch jene in der Entfernung oder Dunkelheit sind nach Meinung des französischen Phänomenologen leiblich oder existentiell identifizierbar, insofern sie gegen die optimale Wahrnehmung konvergieren als „eine um eine Norm oszillierende Spannung“.112 Eine neue Wahrnehmungsperspektive füge dementsprechend nicht einfach neue Wahrnehmungsdaten zur Dingerscheinung hinzu, sondern sie sei in der vorangegangenen

|| 104 Ebd., 92. 105 Ebd., 104. 106 Ebd., 96. 107 Merleau-Ponty, 1966, 349. 108 Ebd., 242. 109 Ebd., 347. 110 Ebd., 350. 111 Ebd., 350. 112 Ebd., 351.

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Perspektive bereits virtuell enthalten oder vorgegeben, antizipiert. Alle Perspektiven auf das Ding sind nach Merleau-Ponty miteinander äquivalent, insofern sie verschiedene Artikulationen desselben leiblichen Vermögens sind. Die Erfahrungsevidenz des Dings wäre also hier das Korrelat der „präobjektiven Einheit des Leibes“113. Den Leib, der weder Subjekt, noch Körper ist,114 begreift Merleau-Ponty als ein in sich konsistentes, intersensorisches System der Wahrnehmung, der keine personalen Akte vollzieht, sondern existentiell, im „Modus des ‚Man‘“115 agiert. Im sinnlichen Bezug auf die Dinge erreiche die leibliche Wahrnehmung ein „Maximum an Inhaltsreichtum“116, d. h. das Vermögen des Leibs zur Bewegung und sinnlichen Artikulation wäre in diesem Fall in höchstmöglichem Maße ausgeschöpft. So ist das Ding evident, nicht wenn es sich bloß, wie bei Schapp, klar und deutlich zeigt, sondern es ist in der gesamten Organisation seiner sinnlichen Aspekte evident, die kinästhetische, Tast- und Geruchserfahrungen implizieren und zumindest passiv einbeziehen. Zwar spielt die Visualität in der Konstruktion von Wirklichkeit die entscheidende Rolle. Tast- und Geruchserfahrungen können nicht in dem gleichen Maße objektiviert werden wie das Sehen zum Gesehenen. Nichtsdestotrotz beteiligen sich alle Sinne an der Evidenz des Dings, das erst real ist, wenn es eine „unübersteigliche Fülle“117 der Wahrnehmung erreicht: „Jeder Kontakt zwischen einem Objekt und einem Teil unseres objektiven Leibes ist […] in Wahrheit Kontakt mit der Ganzheit des wirklichen oder vermöglichen phänomenalen Leibes.“118 Damit das Ding ein Ding sei, ist es entscheidend, dass es virtuell alle Sinne anspricht, ganz gleich, ob der Leib in der Begegnung mit ihm von allen Sinnen aktiven Gebrauch macht. Es gibt keine Wahrnehmungssituation, in der alle sinnlichen Aspekte des Dinges aktualisiert würden, doch sind diese auf gewisse Weise situativ oder „vermöglich“ gegeben. Deshalb können, so Merleau-Ponty, in der Erinnerung sinnlich spezifische Wahrnehmungen in „die Sprache der anderen Organe“ übertragen werden: „wir [vermögen] in der Erinnerung einen Gegenstand mit Teilen unseres Leibes berühren, die ihn in Wirklichkeit nie berührt haben“.119 Phänomene, die dagegen nur einen Sinn ansprechen, wie ein Windhauch oder ein Lichtreflex, sind Undinge oder „Phantome“120. Trotz seiner sinnlich gesättigten Erscheinung bleibt die Einheit des Dinges in der Wahrnehmung stets in gewisser Oszillation zwischen Bestimmt-

|| 113 Ebd., 364. 114 Zur Doppeldeutigkeit des Leibs siehe Bernhard Waldenfels, Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, Frankfurt am Main 2000, 31‒32 und 36‒37. 115 Merleau-Ponty, 1966, 280. 116 Ebd., 368. 117 Ebd., 373. 118 Ebd., 367. 119 Ebd., 366‒367. 120 Ebd., 369.

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heit und Unbestimmtheit, ebenso wie die Einheit des Leibes auch eine offene ist.121 Evident ist das Ding immer nur einen Augenblick lang, gerade mal so lange, wie es nötig ist, um mit ihm umzugehen und es für menschliche Zwecke zu nutzen. In der Wahrnehmung ist es nie ganz und gar für sich gegeben. Vielmehr tritt an ihm, sobald man nicht mehr darauf praktisch ausgerichtet ist, eine Fremdheit zutage, die wie Merleau-Ponty anmerkt, in der Zweideutigkeit des Wahrnehmungssubjekts selbst wurzelt.

3.5 Vexierbilder und Wahrnehmungsphantome Eines jener scheinbar banalen Vorkommnisse, die den Halbwüchsigen in Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit gegenüber den Dingen argwöhnisch werden lassen, erzählt von einer „verblüffenden Entdeckung“122 (o descoperire uimitoare). Der herumvagabundierende Protagonist findet beim Stöbern auf der verlassenen Etage im Haus des Großvaters zwei Briefmarken, die das königliche Herrscherpaar darstellen. Die Briefmarken sind Überbleibsel aus der Vergangenheit, die zusammen mit anderen unnützen Dingen in die unbewohnten Räume des Hauses abgeschoben wurden. In seiner Poetik des Raumes zeigt Gaston Bachelard, dass die Erinnerungen an die Kindheit vornehmlich in Bildern des Elternhauses, „des glücklichen Raumes“123 gespeichert sind. Diese seien immer schon von imaginierten Werten durchsetzt, so dass in ihnen Gedächtnis und Einbildungskraft eine Synthese erfahren würden. Im „Haus der Traum-Erinnerung, verloren im Schatten eines Jenseits der wahren Vergangenheit“124, zeichnet sich nach Bachelard eine Topophilie der Intimität ab, die ins Unvordenkliche zurückreicht. Auch in der Darstellung der Orte bei Blecher greifen Erinnerung und Imagination ineinander, insofern sie über das Empfinden und den damit verbundenen, scheinhaften Eindrücken qualifiziert werden und kaum über ihre objektive Beschaffenheit oder historische Realität. Doch, mit Ausnahme der wenigen, „wohlwollenderen Orte“125 (spaţii mai binevoitoare) – der Fensternische, „aus deren Wänden angenehme und schöne Bilder sicker[n]“126 oder der „geheimen Zelle“127 unter der Theaterbühne –, deren Existenz die Ich-Figur Blechers mit

|| 121 Für eine Problematisierung der Einheit des Leibes und der Kompossibilität der Perspektiven siehe Bernhard Waldenfels, Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden, Bd. 3, Frankfurt am Main 1999, 61. 122 Blecher, 2003, 70; Blecher, 1999, 76. 123 Gaston Bachelard, Poetik des Raumes, 8. Auflage, Frankfurt am Main, Berlin, Wien 2007, 29. 124 Ebd., 48. 125 Blecher, 2003, 72; Blecher, 1999, 77. 126 Blecher, 2003, 72; „din pereții cărora se prelingeau imagini plăcute și frumoase“, Blecher, 1999, 77. 127 Blecher, 2003, 95; Blecher, 1999, 90.

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fast ungläubigem Staunen zur Kenntnis nimmt, sind die Räume in Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit fremde und offene, „verfluchte Räume“128 (spaţii blestemate), die sich mit einem existentiellen Gefühl des Ausgesetzt-Seins verbinden. Manchmal sind es einsame Zufluchtsstätten für Tagträume, öfter noch nostalgische und trostlose Orte des Vergessens, an denen sich die materiellen Überreste der Vergangenheit angesammelt haben wie das verwahrloste Stockwerk im Hause Weber, die unbewohnte Etage im Haus des Großvaters oder der verlassene Requisitenkeller des städtischen Varieté-Theaters.129 Die Dinge, die an diese Orte verfrachtet wurden, haben ihren Gebrauchswert eingebüßt. Wie die meisten „alten Sachen und Gegenstände[ ] voller Melancholien“130 (vechituri şi obiecte pline de melancolii) bei Blecher liegen sie in einem Dazwischen still: Sie sind weder Abfall, noch Wertobjekte. Vielmehr erscheinen sie dem kindlichen Betrachter als Artefakte, als Alltagsdinge aus der Vergangenheit, oft von artistischer Machart, mit einer rätselhaften Entstehungs-, Gebrauchs- und Verfallsgeschichte. So verhält es sich etwa mit den „Rahmen […] aus kleinen, aneinandergeklebten Muscheln“, die Blechers Protagonist findet und die er „stundenlang betrachten“ muss: „Wer hatte die Muscheln aufgeklebt? Wie sahen die kleinen, lebhaften Bewegungen aus, die sie zusammengefügt hatten?“131. Die Dinge lassen ahnen, dass unbekannte Vergangenheiten, ein ganzes Repertoire anonymer Gesten und Handlungen in ihre Gestalten eingegangen sind. Sie bannen und beschäftigen den Betrachterblick, ohne dass ihr Sinn auf Anhieb erkannt werden würde. Bei Merleau-Ponty haben die Dinge zwischenmenschlich unmittelbar Evidenz, weil sie dem Anderen auf Grund der geteilten Situation verständlich sind. Wenn für Madame de Mortsauf in Balzacs Comédie humaine der Blumenstrauß Félix de Vandenesses „bis zur völligsten Evidenz“132 Liebe bedeutet, so deswegen, weil beide eine gemeinsame Situation teilen. Im gemeinsamen Kontext ist die Bedeutung des Dings als „Spur einer Existenz, einer anderen Existenz lesbar und verständlich“133. Ein ähnlicher Effekt stellt sich schließlich auch bei Blecher in der Betrachtung der Muschelrahmen ein: „In solch toten Arbeiten erstanden plötzlich ganze Existenzen wieder, die im Nebel der Zeit verloren waren, wie die Bilder aus zwei parallelen

|| 128 Blecher, 2003, 9; Blecher, 1999, 44‒45. 129 Zu Überresten und Müll als „negative Speicher“ und „inverse[s] Bild[er] des Archivs“ siehe Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 2006, 22. 130 Blecher, 2003, 70; Blecher, 1999, 76. 131 Blecher, 2003, 70; „Mai erau niște rame făcute din scoici mici alăturate, lucrate cu o minuțiozitate car mă făcea să le contemplu ceasuri întregi. Cine lipise scoicile? Care fuseseră gesturile mărunte vii, ce le uniseră?“ Blecher, 1999, 76. 132 Merleau-Ponty, 1966, 371‒372. 133 Ebd., 372.

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Spiegeln, versenkt in grünliche Traumtiefen.“134 Die Existenzen, die sich in die Gestalt der Dinge eingeschrieben haben, erscheinen dem kindlichen Protagonisten zwar mit der Plötzlichkeit einer Eingebung, aber erst nachdem er sie stundenlang betrachtet hat. Zudem verhält sich das Ding zur Erscheinung wie die Bilder einer Wechselspiegelung, die sich endlos fortsetzt und nie ganz zur Deckung kommt. Die Stelle gibt einen ersten Hinweis auf das Geheimnis der Dinge bei Blecher. Es rührt daher, dass die Dinge aus ihren ursprünglichen, existentiellen Zusammenhängen herausgerissen sind, dass sie aus einem Raum und einer Zeit stammen, die nicht diejenige des Betrachters sind. Sie erscheinen ihm daher eher rätselhaft und auratisch, denn als unmittelbar lesbare Spur einer anderen Existenz. Auf ähnliche Weise bannen die Briefmarken aus der Ansammlung der wahllos dahingeworfenen Dinge den Blick nicht bloß durch ästhetisches Wohlgefallen, sondern durch einen Rest an Unbestimmtheit. Ihre Faszination wird dem Protagonisten fast zum Zwang: Diese Bilder aber beschäftigten mich lange. Mir schien, der Maler musste viel Talent gehabt haben, denn die Züge waren sehr sicher und fein getroffen, doch verstand ich nicht, warum er mit dieser grauen, verwaschenen Aquarellfarbe gearbeitet hatte, die den Eindruck erweckte, das Papier habe lange im Wasser gelegen.135

Es ist wie immer eine Kleinigkeit, die Irritationen hervorruft. Hinter der Farbwahl vermutet der Protagonist eine künstlerische Wirkungsabsicht, die sich ihm aber durch die Bildbetrachtung nicht erschließt. Umsonst versucht er sich die besondere Wirkung der Briefmarkenfarbe durch den Prozess, dem das Material vermeintlich ausgesetzt war, zu erklären. Die vermutete Entstehungsgeschichte – das Papier habe nämlich lange im Wasser gelegen – ist, wie er selbst ahnt, unzutreffend (im Original ist es ein irrealer Als-ob-Satz, ca şi cum). Man kann es auch so sagen: Der Protagonist sieht, dass die Farbe wie verwaschen wirkt, dass sie aber nicht verwaschen ist. Ohne Entstehungszusammenhang bleibt die Farbqualität selbst unverständlich. Aus Sicht der Phänomenologie wird jede Dingeigenschaft in einem Kontext und potentiell mit ihrer Materialgeschichte wahrgenommen136. Die Wahrnehmung der Briefmarken als Dinge scheitert genau an diesem Punkt. Erst Jahre nach dem Fund erschließt sich dem Protagonisten der Sinn des Aquarellgraus. Nicht die Intention, sondern die Technik des Künstlers war ihm entgangen.

|| 134 Blecher, 2003, 70; „În astfel de lucrări defuncte renășteau deodată existențe întregi, pierdute în ceața timpului ca imaginile din două oglinzi paralele, înfundate în adâncimi verzui de vis.“ Blecher, 1999, 76. 135 Blecher, 2003, 70; „Tablourile acestea mă intrigară mult timp. Mi se părea că artistul avea mult talent, pentru că trăsăturile erau foarte sigure și fine, dar nu înțelegeam pentru ce le lucrase într-o acuarelă cenușie, spălăcită, ca și cum hârtia ar fi fost ținută mult timp în apă.“ Blecher, 1999, 76. 136 Siehe Schapp, 1976, 49 und 117.

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[W]as ich für blasse Farbe gehalten hatte, war nichts anderes als eine Zusammenballung winzig kleiner Buchstaben, die man nur mit der Lupe entziffern konnte. In der ganzen Zeichnung war kein einziger Bleistift- oder Pinselstrich, alles war eine Aneinanderreihung von Worten, in denen die Geschichte des Königs und der Königin erzählt wurde. Das Unverständnis, mit dem ich die Bildnisse betrachtet hatte, wurde plötzlich durch eine verblüffende Entdeckung beendet. An die Stelle des Misstrauens in die Kunst des Zeichners trat nun eine grenzenlose Bewunderung. In dieser Bewunderung spürte ich das Missgeschick, nicht früher schon die großartige137 Qualität der Bilder wahrgenommen zu haben – und gleichzeitig wuchs in mir eine große Unsicherheit gegenüber allem, was ich sah.138

Das königliche Porträt erweist sich bei näherer Betrachtung als biographische Miniatur. Es ist Bild und Text zugleich. Wie eine Vexierfigur kann es als Bild oder als „Zusammenballung winzig kleiner Buchstaben“ aufgefasst werden, doch unterscheidet es sich von einem Vexierbild dadurch, dass die Textgestalt erst mithilfe einer Lupe deutlich zutage tritt. Im streng phänomenologischen Sinne handelt es sich nicht um ein Phänomen der Doppeldeutigkeit, sondern der Entfernung. Phänomenologisch gesehen ist die erste Wahrnehmung des Porträts als gemaltes Bild eine optische Täuschung, insofern die Stofflichkeit des Porträts missdeutet wird. Die Ich-Figur Blechers fasst sie nicht als Buchstabentextur auf, sondern irrtümlich als verwaschene Aquarellfarbe. Erst mit der Textwahrnehmung sind die Briefmarken erschöpfend als ‚wirkliche‘ Dinge wahrgenommen. Tatsächlich erfahren die Briefmarken auch in der Erzählung Blechers durch die Entdeckung ihrer Schriftbildlichkeit eine ästhetische und ontologische Aufladung. Sie erfüllen auf unerwartete Weise die immer wieder beschworene Erwartung des Protagonisten nach einer „wahre[n] Bedeutung“139 (adevăratul sens) der Dinge. Sie lassen an eine Welt denken, die nicht primär aus Farben und Gestalten, wie es die Phänomenologie lehrt, sondern aus Schrift bestünde, einer Schrift, die medial doppelsinnig wäre: sowohl Schriftbild als auch Buchstabenzeichen. Die Briefmarken stehen somit für das Ideal einer ganz und gar lesbaren Wirklichkeit, in der sich die

|| 137 Blecher sagt „calitatea esenţială“, die wesentliche Qualität. Die Wortwahl ist die gleiche wie bei den Phänomenologen. Schapp untersucht Materialeigenschaften und Materialstrukturen, insofern in ihnen die „Wesenszusammenhänge zwischen sinnlicher und nichtsinnlicher Anschauung“ zum Ausdruck kommen. „Wesen“ meint eine invariante Struktur, nicht eine Substanz. Siehe Schapp, 1976, 3 oder auch 130. 138 Blecher, 2003, 70‒71; „[C]eea ce luam eu drept culoare ștearsă nu era altceva decăt o îngrămădire de litere minuscule, descifrabile numai cu lupa. În tot desenul nu era o singură trăsătură de creion ori de pensulă; totul era o alăturare de cuvinte în care se povestea istoria vieții regelui și a reginei. Stupefacția mea răsturnă dintr-o dată neînțelegerea cu care priveam desenele. În locul neîncrederii mele pentru arta desenatorului, luă naștere o admirație fără margini. În ea simții necazul de a nu fi observat mai devreme calitatea esențială a tabloului și în același timp crescu în mine marea mea nesiguranță în tot ce vedeam[.]“ Blecher, 1999, 76. 139 Blecher, 2003, 71; Blecher, 1999, 77.

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Wahrnehmungsbilder mit ihren sprachlichen Repräsentationen decken würden. Die „verblüffende Entdeckung“ lässt aber nicht nur ein Versprechen, sondern auch einen Verdacht aufkommen: [W]enn ich so viele Jahre lang diese Zeichnungen betrachten konnte, ohne das Material selbst zu entdecken, aus dem sie zusammengefügt worden waren, konnte es da nicht geschehen, dass es mir durch eine ähnliche Blindheit an Verständnis für alle Dinge, die mich umgaben, mangelte, selbst wenn es ebenso klar in sie eingeschrieben wäre wie die Buchstaben, die sich zu jenen Bildchen fügten?140

Der Verdacht betrifft die Wahrnehmung selbst und ihr Vermögen die Dinge an sich zu erreichen. Er hat unmittelbare Nachwirkungen auf die Erscheinung der Dinge, die ihre Stabilität und Eindeutigkeit verlieren. Ihre Oberflächen nehmen „einen merkwürdigen Glanz“ an, die „Dunkelheiten“ erscheinen unsicher und fragil „wie Vorhänge“, ihr Volumen scheint sich manchmal „zu verdünnen“ 141. Der Blick driftet von den habitualisierten Bahnen in die unsicheren Terrains der Wahrnehmung zwischen den Dingen ab, wo Wahrnehmungsphantome irrlichtern. Auch Wilhelm Schapp weist darauf hin, dass der Blick „auf gewisse Wege am Gegenstande angewiesen [ist]. […] Verirrt er sich nach andern Stellen, so gerät er in einen Sumpf“142. Licht, Schatten und Glanz sind in der Wahrnehmungsphänomenologie jene erratischen Erscheinungen, die die Dingordnung am stärksten gefährden können. „Glanz, Lichter sind beweglich, sie huschen über den Gegenstand hin“143, schreibt Schapp. Unter ihnen gibt es „solche[n], die nur in der Welt herumirren, ohne eigentlich zur Darstellung des Dinges beizutragen, die wir daher mehr durchstreichen, wenn wir beobachten.“144 Die „Unruhen“ (neliniştile) des Protagonisten Blechers gehen oft mit der Erscheinung solcher Phantome einher. Während einer „Krise“ „schickt[ ] die Sonne einen kleinen Strahlensturzbach über die Wand, eine irreales goldenes Wasser, von hellen Strahlen marmoriert“145. Das Licht wird hier selbst vergegenständlicht und durchläuft eine ganze Reihe qualitativer Auffassungen von flüssig zu fest, golden zu hell, bewegt zu starr. Ebenso lässt die Nachwirkung der Entdeckung Phänomene

|| 140 Blecher, 2003, 71; „[D]e vreme ce contemplasem atăția ani desenele fără a descoperi materia însăși din care erau alcătuite, nu se putea oare întâmpla ca printr-o miopie asemănătoare să-mi scape înțelesul tuturor lucrurilor din jurul meu, înscris în ele, poate, tot atât de clar ca și literele componente ale tablourilor?“ Blecher, 1999, 77. 141 Blecher, 2003, 71; „În jurul meu, suprafețele lumii căpătară deodată luciri stranii și opacități nesigure ca ale perdelelor, opacități ce devin transparențe[.]“ Blecher, 1999, 77. 142 Schapp, 1976, 84 143 Ebd., 87. 144 Ebd., 83. 145 Blecher, 2003, 14; „[S]oarele trimise pe perete o cascadă mică de raze, ca o apă ireală de aur marmorată cu unde luminoase.“ Blecher, 1999, 46.

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sichtbar werden, die in der Wahrnehmung in den Hintergrund geraten oder vom Wahrnehmenden ‚durchgestrichen‘ werden. So erscheinen dem Protagonisten Blechers die Oberflächen der Dinge nicht als undurchlässige und feste Formgrenzen, sondern als unsichere Gebilde, als changierende Konfigurationen von Licht und Dunkelheit. Unvermittelt nehmen sie die bewegliche, flatterhafte Gestalt eines Vorhangs an, hinter der die Ich-Figur vergeblich ein Wahreres zu erblicken hofft: Hinter den Gegenständen wurde aber nie ein Licht angezündet, sie blieben immer eingetaucht in ihr Volumen, das sie hermetisch umschloss und das bloß manchmal sich zu verdünnen schien, um ihre wahre Bedeutung durchschimmern zu lassen.146

Die „wahre Bedeutung“ (adevăratul înţeles), die manchmal durchzuschimmern scheint, ist keine Schriftmaterie. Am ehesten noch offenbart sie sich in jenen Zusammenstürzen der Wahrnehmung, die Blechers Erzählerprotagonist „Krisen“ (crize) nennt. Dann erscheinen ihm die Dinge in osmotischer Verflechtung mit dem eigenen Fleisch. Eine andere Begebenheit, die die ganze Ambivalenz der Dingwahrnehmungen bei Blecher zwischen Versprechen auf Bedeutung und Enttäuschung zum Ausdruck bringt, erzählt von einer ähnlichen optischen Täuschung. Sie ereignet sich, als der rekonvaleszente Protagonist Edda besucht, eine Figur die Nadja in Bretons gleichnamigem Roman nachempfunden ist: Plötzlich sah ich auf einem Regal einen großen Blumenstrauß in einer Vase. […] Wieso hatte ich ihn bis jetzt noch nicht gesehen? Seit ich eingetreten war, hatte ich dorthin geblickt. Um mich dieser Erscheinung zu vergewissern, schaute ich einen Augenblick lang in eine andere Richtung und kam dann darauf zurück. Er befand sich immer noch dort, unbeweglich, groß, rot… Warum hatte ich ihn dann noch nicht gesehen? […] Siehe, ein Gegenstand war in der Stube an einer Stelle aufgetaucht, wo er einen Augenblick vorher noch nicht gewesen ist. War aber mein Blick immer klar? Vielleicht waren noch Spuren von Unfähigkeit und Dunkelheit in meinem Körper verblieben wie die Wolken an einem klaren Himmel durch meine neue Helligkeit zogen und mir den Blick verstellten, wenn sie durch mein inneres Auge trieben, wie die Wolken am Himmel plötzlich die Sonne verdecken und einen Teil der Landschaft in Schatten tauchen.147

|| 146 Blecher, 2003, 71; „În dosul obiectelor nu se aprinse însă niciodată nici o lumină, și ele rămaseră întotdeauna scăldate de volumele ce le închideau hermetic, și care păreau câteodată că se subțiează pentru a lăsa să se străvadă prin ele adevăratul lor înțeles.“ Blecher, 1999, 77. 147 Blecher, 2003, 123‒124; „Văzui deodată pe o etajeră un buchet mare de flori: într-un vas. [...] Cum de nu le văzusem până atunci? Privisem tot timpul într-acolo de când intrasem. Pentru a-mi verifica apariția lor mă uitai o clipă în altă parte și revenii la ele. Erau acolo la locul lor imobile, mari, roșii... Atunci cum de nu le văzusem? [...] Iată că un obiect apăruse în odaie acolo unde nu era cu o clipă mai înainte. Vederea mea era oare întotdeauna clară? Poate că în corpul meu mai rămăseseră urme de neputință și întuneric care circulau prin noua mea luminozitate ca niște nori pe

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Auch diese Begebenheit beginnt mit einer Wahrnehmungsirritation, einer „Entregelung der Sinne“148 bzw. des Sehens. Dabei erscheint auch hier der Gegenstand nicht etwa an der Peripherie des Sehfeldes, wo die Sicht undeutlich ist, sondern gewissermaßen in optimaler Wahrnehmungseinstellung. Der Gegenstand befindet sich die ganze Zeit über im Blickfeld des Protagonisten, ohne dass er gesehen würde. Da er nicht in voller Klarheit konstituiert ist und unterhalb der Wahrnehmungsschwelle bleibt, kann man sagen, dass er empfunden, nicht aber wahrgenommen worden ist.149 Das jähe, unmotivierte Auftauchen seiner „unbeweglich[en], groß[en], rot[en]“ Gestalt, lässt an eine undomestizierte Dingwelt denken, wie sie Merleau-Ponty in seinem Spätwerk beschreiben wird. Der französische Phänomenologe zeichnet dort das Bild einer „wilden“ oder „rohen“ Wahrnehmung, in der die Dinge den Blick „anstacheln“ und miteinander rivalisieren, jedes absolute Gegenwart für sich beanspruchend.150 Ein ähnlich beunruhigender Verdacht wie nach der Entdeckung der schriftbildlichen Briefmarken kommt auf: „War aber mein Blick immer klar?“151 Wie dort wird auch hier ein Übersehenes mit einem Mal sichtbar und stellt das eigene Wahrnehmungsvermögen in Frage. Doch die Skepsis nimmt hier eine andere Wendung. Sie radikalisiert sich. Der Protagonist übersieht nicht nur den Gegenstand, sondern er versieht sich auch. Er sieht Dahlien dort, wo in Wirklichkeit eine rote Schleife liegt. Die Anderswahrnehmung ist dabei täuschend echt, von penetranter Deutlichkeit. Anders als die Phänomene und Phantome der Wahrnehmungsphänomenologie hält sie dem prüfenden Blick stand. Nicht einmal die Tatsache, dass Edda sie nicht wahrnimmt, vermag den Eindruck ihrer Realität zu erschüttern. Erst die Berührung bestätigt, dass es sich um eine visuelle Täuschung handelt. Der Zweifler Thomas vergewissert sich der Realpräsenz Jesu, indem er mit den Fingern dessen Wundmale berührt152; der Protagonist Blechers streckt dagegen die Hand nach den Dahlien aus, um sich ihrer Nicht-Existenz zu vergewissern. Es bedarf einer visuellen und taktilen Doppelversicherung aus nächster Nähe, damit die Illusion zerfällt und die Schleife, die da wirklich liegt, erkannt wird.153. Es handelt sich hier nicht um eine Halluzination,

|| un cer strălucitor, acoperindu-mi vederea când treceau prin umoarea ochilor, așa cum norii pe cer acoperă deodată soarele și cufundă în umbră o parte din peisaj.“ Blecher, 1999, 105. 148 Waldenfels, 1999, 10. 149 Merleau-Ponty, 1966, 251, ferner Schapp, 1976, 82. 150 Bernhard Waldenfels, Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen. Modi leibhaftiger Erfahrung, Frankfurt am Main 2009, 107‒108. 151 Blecher, 2003, 124; Blecher, 1999, 105. 152 Johannes 20, 21 „Er [Thomas] aber sprach zu ihnen [den anderen Jüngern]: Wenn ich nicht in seinen Händen die Nägelmale sehe und meinen Finger in die Nägelmale lege und meine Hand in seine Seite lege, kann ich’s nicht glauben.“ 153 Zum Paradigma einer taktilen Erkenntnis siehe Hartmut Böhme, „Plädoyer für das Niedrige. Der Tastsinn im Gefüge der Sinne“ in: Gunter Gebauer (Hrsg.), Anthropologie, Leipzig 1998, 214‒225.

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sondern um ein Vexierbild der Wahrnehmung, insofern die Erscheinung der Dahlien eine sinnliche Grundlage hat.154 Etwas sinnlich Gegebenes wird als Blumenstrauß und dann als Schleife wahrgenommen. Es lässt beide Sehweisen zu. Sinnlich erschöpfend und intersubjektiv gegeben ist zwar nur die Schleife, doch ist die visuelle Erscheinung des Blumenstraußes für die Ich-Figur nicht minder evident. Auch Wilhelm Schapp beschreibt solche Vexierbilder der Wahrnehmung, prosaische Vorfälle, die er in seinen phänomenologischen Deskriptionen minutiös rekonstruiert. Dazu gehört das Beispiel des rätselhaften Flecks an der Zimmerdecke, der in der Wahrnehmung zwischen Kalkfleck und Lichteffekt oszilliert. An anderen Stellen beschreibt Schapp Schreckensmomente, die mit Blechers Begebenheiten vergleichbar sind: Jedem, dem die Wäscherin das weiße Taschentuch mit Rostflecken versehen zurückbringt, passiert es wohl gelegentlich, dass er das Taschentuch aus der Tasche zieht und plötzlich erschrickt, wenn er das Taschentuch ansieht. Es sind frische, noch flüssige Blutstropfen darin. Man sieht genauer hin und man entdeckt, es ist nur ein Rostfleck. Man hat aber wenigstens einen Augenblick lang frische Blutstropfen gesehen, Blutstropfen ein wenig erhaben mit den weißen Lichterchen, die für jede Flüssigkeit charakteristisch sind. Diese Lichterchen wird der naive Mensch kaum bemerkt haben, aber doch empfunden haben, während der Künstler sie auch gewissermaßen gesehen hat. Die Bluttropfen verwandeln sich nun, indem man länger hinsieht, in gelblich rötliche Rostflecke, durch die weiße Fäden des Leinens hindurchschimmern, über die sich solche von der Seite legen.155

Beide Wahrnehmungen, die richtige und die falsche, entwickeln detaillierte Dingstrukturen. Sobald man eine Vorstellung davon hat, was das Gesehene sei, tritt es mit all seinen spezifischen Einzelheiten deutlich vors Auge. So sieht Schapps unpersönlicher Betrachter die Blutstropfen mit den unverwechselbaren Kennzeichen ihrer Fluidität: „ein wenig erhaben“ und „mit weißen Lichterchen, die für jede Flüssigkeit charakteristisch sind“156, ebenso wie er den Rost an der Verfärbung des Taschentuchstoffes bis in die Mikrostruktur hinein erkennt. Hier zeigt sich eine charakteristische Tendenz der Wahrnehmung insbesondere mit Bezug auf Farb- und Lichteffekte, sie in verschiedenen Ordnungen auffassen zu können und diese erinnernd oder imaginativ zu vervollständigen.157 Schapp gesteht ein, dass zwei verschiedene Wahrnehmungen einer Sache in Ausnahmefällen möglich sind, so dass man zwei verschiedene Dinge vor sich haben kann. Sie können wie im obigen Beispiel nacheinander gegeben sein, oder wie ein Kalkfleck-Lichteffekt an der Hotelzimmerdecke in oszillierender Gleichzeitigkeit. „Es ist“, schreibt Schapp, „als ob das zu erkennende

|| 154 Merleau-Ponty, 1966, insbesondere das Unterkapitel „Halluziniertes und wahrgenommenes Ding“, 389‒393. 155 Schapp, 1976, 105. 156 Ebd. 157 Ebd., 108‒109.

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eine Art Vexierbild ist.“158 Die zwei Ansichten aber, die eine Sache zulässt, sind ontologisch nicht gleichwertig. Nach phänomenologischer Überzeugung kann nur eine von beidem im echten Sinne wahrgenommen werden. In solchen Fällen entscheidet sich die Wahrnehmung nach Meinung der Phänomenologen nicht aufgrund eines habitualisierten Wissens, sondern nach Gesetzmäßigkeiten, die der sinnlichen Anschauung inhärent sind159. Der Moment, an dem die Wahrnehmung sinnvoll wird, vollzieht sich ruckartig, plötzlich und vor allem epiphanisch: Alles lernen […] ist Erleuchtung. Es ist ein Hineinspringen in die Wahrheit, ein Verstehen. […] Man weiß nicht, woher das Verstehen kommt; es ist mit einem Schlage da. Man versteht nicht, wie man es solange übersehen konnte, man empfindet es wie eine Offenbarung, Erleuchtung.160

Diese Effekte bleiben bei Blecher aus. Die Passage liest sich vielmehr wie ein Einspruch gegen das phänomenologische Wirklichkeits- und Wahrheitsvertrauen. Nicht das Erkennen der Schleife, die tatsächlich da ist, hat bei Blecher den Charakter einer Epiphanie, sondern das plötzliche Auftauchen des Blumenstraußes: das rumänische Wort apariţie, das Blecher mit Bezug auf die Erscheinung der Dahlien nutzt, ist mystisch konnotiert. Dagegen wird die Erkenntnis des tatsächlich Gegebenen mit verzweifelter Resignation und einem Gefühl der Ohnmacht hingenommen. [M]an hätte meinen können, eine böse, äußerst perfide Macht habe den Dingen ihre allgemeinste Gestalt verliehen, um mich in die größten Schwierigkeiten zu bringen. Das war es, was mit mir kämpfte, das war es, was mir unerbittlich gegenüberstand: die gewöhnliche Gestalt der Dinge. In einer derart präzisen Welt war jede Initiative zwecklos, wenn nicht gar unmöglich. Was mir das Blut im Kopf dröhnen ließ war, dass Edda nichts anderes sein konnte als eine Frau mit gut gekämmtem Haar, mit tiefblauen Augen und einem Lächeln in den Mundwinkeln. Was konnte ich schon gegen solch eine herbe Akkuratheit tun?161

Inszeniert wird ein Konflikt zwischen einem Möglichen und dem objektiv Tatsächlichen, das durch die Gewohnheit gefestigt ist.162 Blecher stellt nicht in Frage, dass es

|| 158 Ebd., 148. 159 Ebd., 147. 160 Ebd., 147. 161 Blecher, 2003, 125; „[S]-ar fi zis că o putere răutăcioasă, extrem de perfidă, dădea lucrurilor aspectul lor cel mai comun, pentru a mă pune pe mine în încurcătură. Iată ce lupta cu mine, iată ce era implacabil împotriva mea: aspectul comun al lucrurilor. Într-o lume atât de exactă, orice inițiativă devenea de prisos dacă nu chiar imposibilă. Ceea ce făcea să-mi țâșnească sângele în cap era că Edda nu putea fi altfel, ci numai și numai o femeie cu părul bine pieptănat, cu ochii albaștrivioleți, cu un surâs în colțul buzelor. Ce puteam oare face împotriva unei exactități atât de aspre?“ Blecher, 1999, 105‒106. 162 In der Phänomenologie ist dieser Aspekt der Wahrnehmung unterbeleuchtet. Merleau-Ponty schreibt dem Leib ein Vermögen zur Virtualität zu, das er aber zumeist in Übereinstimmung mit den

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eine unverrückbare Faktizität gibt, doch spricht er ihr den Wahrheitswert ab. Seine Begebenheiten machen die in der Wahrnehmung tätige Imagination sichtbar, oder auch im Sinne Merleau-Pontys das Vermögen des Leibs zur Virtualität, das überall auf Grenzen des Faktischen stößt. Diese Grenzen sind von den sinnlichen Gegebenheiten vorgezeichnet und erst durch die Sehgewohnheit gefestigt und unverrückbar festgelegt: „Alle Gegenstände, alle Menschen waren in ihre traurige und kleine Verpflichtung eingesperrt, genau bestimmt zu sein, nichts anderes als genau bestimmt.“163 So ist auch Edda in ihrer Verpflichtung eingesperrt, äußerlich sie selbst und keine andere zu sein. Es handelt sich um einige unverwechselbare, durch Physiognomie und Konvention determinierte Kennzeichen: dem gut gekämmten Haar, den tiefblauen Augen, dem Lächeln in den Mundwinkeln. Blechers Protagonist kommt also durchaus zu einer phänomenologischen Einsicht, dass die Welt nämlich ein festes Gefüge sei: Ein Stück Stoff kann nie eine Blume sein, auch wenn es als solche erscheinen kann. Doch werden die Erscheinungen bei Blecher gegen das Sein gewendet. Sie verlieren nicht ihre eigentümliche, subjektive Evidenz: wie es sein könnte hat einen höheren Stellenwert als wie es tatsächlich ist. Deshalb wird der Weg der Wahrnehmung vom Unbestimmten zum Bestimmten als Verarmung empfunden: Umsonst vermochte ich zu glauben, dass sich Dahlien in einer Vase befinden, wenn an jener Stelle eine Schleife lag. Die Welt hatte nicht die Kraft, sich auch nur ein wenig zu verändern, sie war derart erbärmlich [meschin] in ihre Exaktheit eingesperrt, dass sie es sich nicht leisten konnte, Schleifen für Blumen zu halten.“164

Die Passagen sind repräsentativ für Blechers Darstellung der Dinge und für seine radikalästhetische Infragestellung der Evidenz der Wirklichkeit. Dargestellt werden Störfälle der Wahrnehmung, bei denen die Kluft zwischen Sehen und Wissen aufreißt. Dabei ereignen sich die Vorkommnisse im hellen Tageslicht, in vermeintlich vertrauten Umgebungen, also durchaus in jener Einstellung, die in der Phänomenologie der Wahrnehmung als optimal und realitätssichernd gilt. Die Begebenheiten legen Ein-

|| Gegenwärtigkeiten (présences) der Wahrnehmung denkt. Den Konfliktbereich zwischen dem Virtuellen und dem Realen thematisiert er selten. Im Übrigen gesteht der französische Phänomenologe, die „schöpferische Fähigkeit“, die „in der Vorstellungskraft (imagination) und in der Wesenserkenntnis am Werk ist“, sowie „als Keim in der primären menschlichen Wahrnehmung vor[liegt]“, vernachlässigt zu haben. „[D]iesbezüglich waren meine Ausführungen gewiss unvollständig“, so Merleau-Ponty in seiner Verteidigungsrede 1946 vor der Kommission der Société française de Philosophie. Siehe Merleau-Ponty, 2003, 79. 163 Blecher, 2003, 127‒128; „Toate lucrurile, toți oamenii erau închiși în trista și mica lor obligație de a fi exacți, nimic alta decât exacți.“ Blecher, 1999, 107. 164 Blecher, 2003, 128; „În zadar aș fi putut să cred că într-un vas erau dalii când acolo se afla o eșarfă. Lumea n-avea puerea de a se schimba câtuși de puțin, era atât de meschin închisă în exactitatea ei încât nu-și putea permite să ia eșarfe drept flori...“ Blecher, 1999, 107.

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spruch gegen den phänomenologischen Glauben ein, dass die „nächste Umgebung im Tageslicht“ keinen „Raum für Gespenster“ gäbe165. In seinem poetologischen Brief an Saşa Pană situiert Blecher den Wahnsinn oder Irrsinn, den es darzustellen gilt, in den vertrauten vier Wänden: „Der Besuch der Gespenster muss auf übliche Art und Weise vonstattengehen, mit höflichem Klopfen an der Tür und manierlichem Ersticken.“166 Die „Versuchung[en] des Halluzinatorischen“167 (tentaţie a halucinantului) rühren in seiner Prosa von Wahrnehmungsphantomen her, von schleichenden oder aufdringlichen sinnlichen Eindrücken, die sich nicht objektivieren lassen und die die Wahrnehmungsordnung ins Wanken bringen. Wie das „merveilleux cotidien“168 Louis Aragons erscheinen sie inmitten des vertrauten Alltags. Zudem führt die Selbstkorrektur der Wahrnehmung bei Blecher nicht zu einer Festigung des Evidenzglaubens, sondern zu seiner Infragestellung. Bei Merleau-Ponty heißt es mit Bezug auf solche Störfälle der Wahrnehmung: „Ich täusche mich, ich bin gezwungen, meine Gewissheiten zu revidieren und das Sein meiner Illusionen als nichtig anzuerkennen, doch keinen Augenblick lang zweifle ich an der Verträglichkeit und Kompossibilität der Dinge an ihnen selbst, da ich ursprünglich kommuniziere mit einem einzigen Sein.“169 Das Gefüge der Welt vermag, einmal begründet, „nicht mehr annuliert zu werden“170. Blechers Protagonist macht schließlich die gleiche Erfahrung einer akkuraten, unverrückbaren Welt. Tatsächlich bleiben die Dinge von ihrem Volumen umschlossen und in Formen eingesperrt. Das wird aber mit Resignation als Verlust hingenommen. Der Zweifel lässt sich dadurch nicht ausräumen, sondern bläht sich zum radikalen Verdacht auf, dass alle Wirklichkeit bloße Illusion sei. Über den Dingen schwebt weiterhin das Versprechen auf metaphysischer Evidenz, bei der sich, wie im Beispiel der Briefmarken, Sinn und Bedeutung, Wahrnehmungsbild und sprachliches Zeichen gänzlich decken würden. In der Fehlbarkeit und Zweideutigkeit der Wahrnehmung findet dieses Versprechen auf ein Wahreres seine Prätexte, in der unverrückbaren Faktizität seinen Widersacher.

3.6 Die „essentielle Nostalgie“ der Kindheit Blechers Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit umspannt ein bestimmtes Alter im Leben des Ich-Erzählers, die Schwellenzeit zwischen Kindheit und Adoleszenz. Den Übergang zum Erwachsenenalter beschreibt er als eine „Kette von Verzichten und

|| 165 Schapp, 1976, 59. 166 „Vizita spectrelor să se facă normal pe ușă cu ciocănit politicos și cu politicoasă sugrumare.“ Brief M. Blechers an Saşa Pană vom 7. Juli 1934 in: Blecher, 1999, 397. Meine Übersetzung. 167 Ebd., 396. 168 Aragon, 1953, 16. 169 Merleau-Ponty, 1966, 379. 170 Ebd.

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grausamen Rückführungen aufs Banale“171 (un şir de renunţări şi de reduceri crunte la banal), die insbesondere die Erscheinung der Dinge betrifft. „Die Entwicklung von der Kindheit zur Adoleszenz bedeutete ein stetiges Schwinden von Welt“, heißt es, „und in dem Maße, wie die Dinge, die mich umgaben, in eine Ordnung eintraten, verschwand ihre Einzigartigkeit [aspectul inefabil, ihre unfassliche Erscheinung]; wie eine glänzende Oberfläche, die im Dunst beschlägt.“172 Die Welt des Erwachsenen erweist sich unerwarteter Weise als aisthetisch ärmer und geht mit einer Abstumpfung des Blicks einher. Auch Merleau-Ponty rehabilitiert in gewissem Maße den animistischen Zugang des Kindes zur Welt, den er in einen Zusammenhang mit der Wahrnehmung der Primitiven und psychisch Kranken stellt. Der französische Phänomenologe versteht diese Wahrnehmungsformen nicht als abnorme oder deviante, sondern als präobjektive Modalitäten leiblichen Zur-Welt-Seins, die vom Empfinden getragen werden und hintergründig auch in der Wahrnehmung am Werk sind.173 Die Weltvorstellung des Kindes entstünde aus „einer Schrumpfung des Lebensraumes, einem Wurzelschlagen der Dinge in unserem Leib, einer schwindelerregenden Nähe der Gegenstände, einer Verschlingung von Mensch und Welt, welche alltägliche Wahrnehmung und objektives Denken zwar nicht vernichten, jedoch verdrängen.“174 Letztlich schreibt Merleau-Ponty der kindlichen Welt eine geringere Strukturkomplexität zu als der objektiven Wirklichkeit des Erwachsenen.175 Blechers Ich-Erzähler dagegen beklagt das Eintreten der Dinge in eine Ordnung und die Herausbildung von Wahrnehmungsstrukturen als Weltschwund. Das Fehlen fixer Ordnungen ist die Prämisse aisthetischer Fülle.176 Es erlaubt nicht nur verschiedene Auffassungsmöglichkeiten und Einstellungen auf die Dinge, sondern auch einen direkten Zugang zu ihnen, den Blechers Protagonist tatsächlich als „schwindelerregende Nähe der Gegenstände“ und „Verschlingung“177 von Ich und Welt ersehnt und erduldet. Im Grunde wird das Erwachsenwerden in Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit als Prozess der Automatisierung der Wahrnehmung beschrieben, so ähnlich wie es der russische Formalist Viktor Šklovskij 1925, also gut zehn Jahre vor Blechers Prosadebüt literaturtheoretisch reflektiert hat.178 Gewohnte Wahrnehmungen erfolgen, wie Šklovskij zeigt, nach einem Prinzip der Einsparung von Kraft, so dass die Dinge

|| 171 Blecher, 2003, 33; Blecher, 1999, 57. 172 Blecher, 2003, 33; „[E]voluția de la copilărie la adolescență a însemnat o scădere continuă a lumii și, pe măsură ce lucrurile se organizau în jurul meu, aspectul lor inefabil dispărea, precum o suprafață lucioasă care se aburește.“ Blecher, 1999, 57. 173 Merleau-Ponty, 1966, 334‒339. 174 Ebd., 338. 175 Merleau-Ponty, 2003, 23‒24. 176 Zur Vereindeutigung der Welt im Prozess des Erwachsenwerdens siehe Waldenfels, 2000, 106. 177 Merleau-Ponty, 1966, 338. 178 Viktor Šklovskij, Theorie der Prosa, Frankfurt am Main 1966, 12‒15.

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im Alltag nur verkürzt und formelhaft wahrgenommen werden: „Das Ding geht gleichsam in einer Verpackung an uns vorüber, wir wissen, dass es existiert, dass es Raum einnimmt, aber wir sehen nur seine Oberfläche.“179 Die Oberfläche, die Šklovskij meint, ist gerade nicht die konkrete Farb- oder Materialoberfläche in ihrer sinnlichen Fülle und räumlichen Erscheinung, sondern eine Abstraktion, bei der die Dinge, wie er sagt, „entweder nur durch einen ihrer Wesenszüge dargestellt werden, zum Beispiel durch ihre Zahl, oder […] gleichsam nach einer Formel produziert [werden], ohne dass sie im Bewusstsein auftauchen.“180 Die geronnenen Formeln und Automatismen der Wahrnehmung verfehlen das Ding zwar nicht, doch verhüllen sie es wie eine Verpackung, die ein unmittelbares Empfinden verhindert. Dementsprechend erscheinen die Dinge in der Krise bei Blecher entautomatisiert. Sie sind „unglaublich neu […] anzusehen“, „[a]ls hätte man sie überhastet aus dünnen, durchscheinenden Papieren gewickelt, in die sie bis dahin verpackt waren“181. Während die Automatisierung bei Šklovskij durch Symbolisierungen erfolgt, bleibt der Weltschwund, den Blechers Ich-Erzähler beschreibt, stärker im Physischen verhaftet. Der Erzähler beschreibt ihn als eine Neuordnung der Dingwelt, die mit einer Regulierung der Instinkte korreliert.182 Phänomenologisch kann man sie als allmähliche Habitualisierung des Leibes verstehen. Bezeichnend ist diesbezüglich, dass jene ekstatischen Wahrnehmungen von Umgebungen, die der Ich-Erzähler Krisen nennt, im Übergang zur Jugend von alleine verschwinden.183 Die Automatisierung der Wahrnehmung vollzieht sich hier in allererster Linie als Domestizierung des leiblichen Verhaltens und Entfaszinierung der Welt, deren phänomenale Fülle verloren geht. Betroffen ist also immer zweierlei: die Neuheit der Dinge und der wilde, faszinierte Blick, jener Blick, der, wie Šklovskij sagt, die Dinge nicht bloß wiedererkennt, sondern sie wie zum ersten Mal sieht.184 Für Šklovskij ist es die Kunst, die Automatismen aufbricht und den Menschen sehend macht: Um für uns die Wahrnehmung des Lebens wiederherzustellen, die Dinge fühlbar, den Stein steinig zu machen, gibt es das, was wir Kunst nennen. Das Ziel der Kunst ist, uns ein Empfinden für das Ding zu geben, ein Empfinden, das Sehen und nicht nur Wiedererkennen ist. Dabei benutzt die Kunst zwei Kunstgriffe: die Verfremdung der Dinge und die Komplizierung der Form, um die Wahrnehmung zu erschweren und ihre Dauer zu verlängern. Denn in der Kunst

|| 179 Ebd., 13. 180 Ebd. 181 Blecher, 2003, 14; „Ca și cum ar fi fost subit despachetate din hârtii subțiri și transparente în care ar fi stat învelite până atunci, aspectul lor devea inefabil de nou.“ Blecher, 1999, 46. 182 Blecher, 2003, 33; Blecher, 1999, 57. 183 Blecher, 2003, 18; Blecher, 1999, 48. 184 Šklovskij, 1966, 15.

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ist der Wahrnehmungsprozess ein Ziel in sich und muss verlängert werden. Die Kunst ist ein Mittel das Werden eines Dings zu erleben, das schon Gewordene ist für die Kunst unwichtig.185

Der Versuch das Empfinden des Dinges wiederzugewinnen, ist bei Blecher Teil der Autodiegese. Die Ich-Erzählung steht im Zeichen einer ästhetisch-mnemonischen Reanimierung des „Geheimnis[ses] und de[s] etwas traurigen Zauber[s] der Krisen [der] Kindheit“186 (misterul şi farmecul puţin trist al ‚crizelor‘ mele din copilărie). Bei aller Identitätsrhetorik zu Beginn der Erzählung geht es in Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit nicht zuletzt darum, die Intensität der kindlichen Perzeption und das unverwechselbare Daseinsgefühl der Kindheit durch die Erinnerungserzählung wiederzugewinnen. Deshalb fallen die Kindheitserinnerungen in eins mit der Bemühung um eine aisthetisch performative Sprache, die sich an der sinnlichen Wirkung der Dinge orientiert.187 Die Dinge sind bei Blecher Wortideale und Erinnerungsmedien zugleich. In ihnen ist die spezifische Atmosphäre der Kindheit gespeichert: In den kleinen und unbedeutenden Dingen, einer schwarzen Vogelfeder, einem gewöhnlichen Büchlein, einer alten Photographie mit zerbrechlichen, nun schon gestorbenen Personen darauf, die anscheinend an einer schweren inneren Krankheit litten, einem bezaubernden Aschenbecher aus grüner Fayence in der Form eines Eichenblattes, der ewig nach abgestandener Asche stank, in der schlichten und elementaren Erinnerung an die Brille mit den dicken Gläsern des alten Samuel Weber, in diesem billigen Zierat und in häuslichen Dingen finde ich die ganze Melancholie meiner Kindheit wieder und jene essentielle Nostalgie, ausgelöst von der Sinnlosigkeit der Welt, die mich von allen Seiten wie ein Wasser mit versteinerten Wellen umgab.188

Die Dinge sind Schlüssel zum faszinierenden Geheimnis und zur „essentielle[n] Nostalgie“ (nostalgie esenţială) der kindlichen Welt. Auf welche Art, in welcher Form sie sich auch immer zeigen mögen, sie bleiben stets unbegreiflich. In ihrer Unbeweglichkeit erkennt der Ich-Erzähler ohne zu wissen wie, „einen widerlichen Anflug von Geheimniskrämerei und Komplizenschaft“189. Dinge zu sehen, heißt in der Welt Blechers ihrem „Terror“ und ihrer „Unerbittlichkeit“ leiblich ausgesetzt zu sein.190 Es heißt, von ihren „unendlichen Formen“ bis in den Schlaf hinein verfolgt || 185 Ebd., 14. 186 Blecher, 2003, 9; Blecher, 1999, 44. 187 Siehe Kapitel 5 „Aisthetik der Prosasprache“. 188 Blecher, 2003, 43; „În obiecte mici și neînsemnate: o pană neagră de pasăre, o cărticică banală, o fotografie veche cu personagiile fragile și inactuale, ce parcă suferă de o gravă boală internă, o tandră scrumieră de faianță verde, modelată ca o frunză de stejar, veșnic mirosind a cenușe stătută; în simpla și elementara aducere-aminte a ochelarilor cu lentilă groasă ai bătrânului Samuel Weber, în astfel de mărunte ornamente și lucruri domestice, regăsesc toată melancolia copilăriei mele și acea nostalgie esențială a inutilității lumii, care mă înconjura de pretutindeni ca o apă cu valurile împietrite.“ Blecher, 1999, 62. 189 Blecher, 2003, 15; „un aer perfid de tăinuire şi complicitate“, Blecher, 1999, 47. 190 Blecher, 2003, 17; Blecher, 1999, 48.

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zu werden und „der Welle von Dingen und Farben, die [das] Gehirn überflu[ten]“ durch anästhetische Exerzitien Einhalt gebieten zu müssen.191 Die beunruhigende Fremdheit und Aufdringlichkeit der Dinge thematisiert auch Merleau-Ponty, ohne den Evidenzgedanken aufzugeben. Bei aller vertrauten Realität, die sie für ein situativ engagiertes Subjekt haben, bergen die Dinge durchaus etwas „Unmenschliches“192 in sich: „Wir sehen es, sobald wir unsere Beschäftigung unterbrechen und dem Ding eine metaphysische, uninteressierte Aufmerksamkeit zuwenden. Alsbald zeigt es sich feindlich und fremd, ist nicht mehr unser Gesprächspartner, sondern ein entschlossen schweigendes Anderes, ein Selbst, das sich uns entzieht.“193 Als existentielle Totalität korreliert das Ding bei Merleau-Ponty nicht nur mit einer optimalen Wahrnehmungseinstellung, sondern auch mit einer tätigen Ausrichtung des Menschen auf seine Umgebung. Heidegger hat sich bereits 1926 in Sein und Zeit mit dem „nur ‚theoretisch‘ hinsehende[n] Blick“194 der frühen Phänomenologie auf die Dinge kritisch auseinandergesetzt. Heidegger gewinnt seine Dingontologie aus dem praktischen Umgang des Menschen mit dem dienlichen Werkzeug, zu dem eine eigene Sichtweise auf die Dinge gehört, die Heidegger „Umsicht“195 nennt. Der Mensch bzw. das Dasein begegnet den Dingen „zunächst und zumeist“ nicht als bloß vorhandene und irgendwo vorkommende, sondern im Modus des „Besorgens“ als gebrauchte und hergestellte, in Heideggers Terminologie als „zuhandenes Zeug“.196 Als solches ist das Zeug unauffällig in Verweisungsstrukturen eingelassen: es verweist auf das, wozu es verwendbar ist, woraus es besteht, für wen es verwendbar ist. Erst in den defizienten Modi des Gebrauchs, wenn das Werkzeug unnütz ist oder fehlt oder bei der Arbeit stört, zeigt es sich als Vorhandenes: „Die Modi der Auffälligkeit, Aufdringlichkeit und Aufsässigkeit haben die Funktion, am Zuhandenen den Charakter der Vorhandenheit zum Vorschein zu bringen.“197 Aber selbst dann, argumentiert Heidegger, ist das Zeug noch an den Gebrauch gebunden und wird zu Zeug im pejorativen Sinne „dessen, was man abstoßen möchte“.198 Gleichwohl geht in der Störung der „Umsicht“ für einen Augenblick die Vertrautheit des „Zeugs“ verloren. Bei Merleau-Ponty brauchen die Dinge nicht erst aufsässig zu werden, um ihre Fremdheit zu enthüllen. Es reicht, wenn man sie interesselos betrachtet und schon zeigt sich etwas Unfassliches an ihnen. Es geht bei Merleau-Ponty um etwas Radikaleres als die Aufdringlichkeit und Aufsässigkeit des Zeugs. Die Fremdheit der Dinge,

|| 191 Blecher, 2003, 43-44; „valul de lucruri şi culori ce-mi inundau creierul“, Blecher, 1999, 62. 192 Merleau-Ponty, 1966, 372. 193 Ebd., 372‒373. 194 Martin Heidegger, Sein und Zeit (1926), Tübingen 2006, 69. 195 Ebd., 69. 196 Ebd., 63 sowie 67‒72. 197 Ebd., 74. 198 Ebd.

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die er meint, zeigt sich auch nicht unbedingt am Werkzeug, das ja, wie schon Heidegger anmerkt, dem Benutzer „auf den Leib zugeschnitten“199, also handlich ist. Vielmehr geht es um einen „Grund[ ] unmenschlicher Natur“, in dem die Dinge verwurzelt seien: „Das Ding ist für unsere Existenz weit mehr ein Abstoßungs- als ein Anziehungspol. In ihm erkennen wir nicht uns selbst, und eben dies macht das Ding zum Ding. Wir kennen nicht zuerst die perzeptiven Aspekte des Dinges; nicht ist es durch unsere Sinne, Empfindungen, Perspektiven erst vermittelt, vielmehr gehen wir geradewegs auf das Ding zu, und erst sekundär bemerken wir die Grenzen unserer Erkenntnis und unser selbst als Erkennender“200, eine Erfahrung, die bei Blecher immer wieder den Verdacht einer irrealen Welt aufkommen lässt. In der Zuwendung zum Ding als „absolut Anderem“201 kann also nach Merleau-Ponty nie eine volle Synthese erreicht werden, weil das Ding in der Erfahrung eine unendliche Vielzahl an Perspektiven und Auffassungsmöglichkeiten bietet. Die Bestimmtheit des Dinges ist dementsprechend nur „in einem gewissen Grade der Relativität“202 gegeben, in Form einer präsumtiven Synthese und die Wirklichkeitsskepsis kann nachträglich immer aufkommen, weil die eingenommenen Perspektiven auf das Ding nie in voller Entfaltung zugleich gegeben sein können, sondern im Fluss der Zeit erfahren werden. Gegeben „ist nicht das Ding für sich allein, sondern die Erfahrung des Dinges, eine Transzendenz in den Spuren der Subjektivität, eine durch eine Geschichte hindurchscheinende Natur“203. Die Erfahrung des Dinges ist paradox, weil das Erfahrungsbewusstsein selbst paradox ist.204 Merleau-Pontys Argumentation läuft darauf hinaus zu zeigen, dass die Evidenz des Dings erst dann zum Problem wird, wenn sie vom Standpunkt eines Subjekts außerhalb der Zeit betrachtet wird. Der Widerspruch zwischen Evidenz und Unvollendung verweist auf den Widerspruch im Bewusstsein, zwischen seinem Vermögen überall zu sein und „seinem Engagement in einem Präsenzfeld“205. Was das Geheimnis der Dinge ausmacht, ist die Zweideutigkeit der Subjektivität selbst, die Tatsache, dass das Wahrnehmungs-Ich einer Dauer ausgesetzt ist, dass es für ihn keine absolute Gegenwart gibt, sondern immer nur eine zwischen Vergangenheit und Zukunft zerrissene Gegenwart: „Faktisch schiebt sich schon zwischen mich, der ich soeben dies denke, und mich, der ich denke, dass ich dies dachte, die Undurchdringlichkeit einer Dauer.“206 Dass die Dinge stets noch anderes zu sehen verspre-

|| 199 Ebd., 70. 200 Merleau-Ponty, 1966, 374‒375. 201 Ebd., 376. 202 Ebd., 381. 203 Ebd. 204 Zum Paradox der Transzendenz und Immanenz siehe Lambert Wiesing, „Merleau-Pontys Entdeckung der Wahrnehmung“ in: Merleau-Ponty, 2003, 85‒124. 205 Merleau-Ponty, 1966, 382. 206 Ebd., 396.

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chen, verweist letztlich darauf, dass das Wahrnehmungsbewusstsein nie im „vollen Selbstbesitz“207, das Ich nie mit sich selbst identisch ist, sondern sich in jedem Augenblick zwischen Vergangenheit und Zukunft, Nähe und Ferne spaltet. Die undurchdringliche Fülle des Dinges lässt ahnen, dass weder das Ich, noch die Welt absolut existieren, auch ein Ding wie der Stein nicht, der in seiner reglosen Beständigkeit den Eindruck vermittelt, „dass er zu seiner Existenz keiner Zeit bedarf“208. Vielmehr sei alle Erfahrung der Welt und der Dinge eine wesentlich zeitliche, so dass „mit größerer Strenge zu sagen [wäre], nichts existiere, vielmehr alles zeitige sich“209. Eugen Ionescu hat in der verzweifelten Suche des Ich-Erzählers Blechers nach einem Wahreren jenseits der Wirklichkeit, einen „wesentlich metaphysischen“ Charakter des Buchs Blechers erkannt.210 Das Bemühen um Erkenntnis der Dinge, wie sie an und für sich sind, stößt aber stets auf das Undurchdringliche, Feindliche der Dinge und fällt auf ihre Bedingungen zurück, d. h. auf die Zeitlichkeit der Wahrnehmung. Blechers Darstellung der „kleinen und unbedeutenden Dinge[ ]“211 (obiecte mici şi neînsemnate) aus der Kindheit vollzieht und entfaltet sprachlich die wesentliche Zeitlichkeit der Wahrnehmung und entdeckt an den Dingen die Dauer als allgegenwärtige Über- und Vergänglichkeit. Die Gegenstände aus der Kindheit sind nicht Erinnerungsmedien im Sinne eines Gedenkens an individuelle, vergangene Existenzen. Vielmehr sind sie Medien des Erscheinens212 einer alles durchwirkenden Zeit: des Werdens. Die erzählerische Darstellung der Dauer setzt zunächst voraus, dass jene desinteressierte und „sehr zerstreute[ ] Aufmerksamkeit“213 (atenţia foarte distrată) des Kindes, das die Dinge gewissermaßen fasziniert „begafft“214, erinnernd wiedergewonnen wird. So lässt Blecher seinen Ich-Erzähler mit einem provozierten Einsturz der Wahrnehmungsordnung beginnen, der die Erinnerung an die spezifisch kindliche Sicht auf die Welt und an ihre Atmosphäre der Nutzlosigkeit aufkommen lässt. Wie Eugen Ionescu anmerkt, ist die Blechersche Nostalgie der Kindheit eine ganz und gar unsentimentale, eine „intellektuelle, vielleicht geistige Traurigkeit“215 (tristeţe intelectuală şi, poate, spirituală), in die das Bewusstsein metaphysischer Unerreichbarkeit und unentrinnbaren Vergehens hineinspielt.

|| 207 Ebd., 396. 208 Ebd., 383. 209 Ebd. 210 Eugen Ionescu, „Cronica literară“ in: Ionescu, 1992, 276‒279. 211 Blecher, 2003, 43; Blecher, 1999, 62. 212 Zum Erscheinen als Grundbegriff der Ästhetik siehe Seel, 2000, 66. 213 Blecher, 2003, 16; Blecher, 1999, 47. 214 Heidegger, 2006, 69. 215 Ionescu, 1992, 278.

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3.7 Billiger Zierrat und häusliche Dinge Dargestellt werden in Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit insbesondere „billige[r] Zierat [sic] und häusliche[ ] Dinge[ ]“216 (mărunte ornamente şi lucruri domestice). Es handelt sich allerdings nicht um dienliche Sachen, nicht um das Zeug Heideggers. Vielmehr ist damit der dekorative Plunder der kleinbürgerlichen Privaträume gemeint, der abgestoßenes, in die unbewohnten Räume verfrachtetes Zeug ist. An einer Stelle offenbart der Ich-Erzähler, dass ihn „künstlicher, billig und reich verzierter Tand […] immer mit einer sonderbaren Kraft“217 angezogen hätte. Es ist das Eingeständnis einer ausgesprochen modernen Faszination für Kitsch218, die bereits bei Rimbaud als künstlerisch subversiver Bekenntnisakt zu finden ist: „Jʼaimais les peintures idiotes, dessus des portes, décors, toiles de saltimbanques, enseignes, enluminures populaires; la littérature démodée, latin dʼéglise, livres érotiques sans orthographe, romans de nos aïeules, contes de fées, petits livres de lʼenfance, opéras vieux, refrains niais, rhythmes naïfs.“219. Viele der evozierten Dinge bei Blecher, die Photographien etwa oder der Trivialroman von André Theuriet, den der IchErzähler als „verwirrendes kleines, schwarzes Büchlein“220 in Erinnerung hat, stehen in einer Reihe mit den Rimbaudschen Vorlieben, doch kommen sie bei Blecher nicht mit dem Gestus einer kultivierten Manie fürs Triviale daher (Rimbaud spricht von einer folie221). Blechers Ich-Erzähler geht der existentiellen Bedeutsamkeit der provinziellen Materialkultur nach: er erkundet einerseits ihre unmittelbare, sinnlich-affektive Wirkung – ihr „atmosphärisches Erscheinen“222 –, andererseits ihre rätselhaften Materialgeschichten, die den Blick in Bann schlagen. Es werden vornehmlich dekorative oder ornamentale Gegenstände aus der nächsten Umgebung evoziert. Dies ist || 216 Blecher, 2003, 43; Blecher, 1999, 62. 217 Blecher, 2003, 51; „Am avut întotdeauna o atracție bizară [...] pentru obiectele ieftin ornamentate.“ Blecher, 1999, 66. 218 Zur Modernität von Kitsch als ästhetisches und technisches Phänomen siehe Călinescu Matei, Faces of Modernity: Avantgarde, Decadence, Kitsch, Bloomington, London 1977, 226‒228 sowie Hermann Broch, „Einige Bemerkungen zum Problem des Kitsches“ in: Hermann Broch, Dichten und Erkennen. Essays, Bd. 1, Zürich 1955, 295‒309. In der Ästhetik und Kulturkritik marxistischer Prägung wird Kitsch als genuin modernes Phänomen aufgefasst. Dagegen untersucht Ludwig Giesz in seiner „Phänomenologie des Kitsches“ die anthropologisch-ästhetischen Bedingungen der Möglichkeit von Kitsch. Kitsch heißt bei ihm Kitsch-Erleben, also eine eigentümliche Form des Genusses, die anthropologisch konstant ist. Giesz streitet die moderne Aktualität des Phänomens nicht ab. Er geht bloß den geschichtlichen Konstellationen des Kitsches nicht nach. Ludwig Giesz, Phänomenologie des Kitsches, Frankfurt am Main 1994. 219 Arthur Rimbaud, „Délires II. Alchimie du verbe“ in: Arthur Rimbaud, Une saison en Enfer (1873), in: Arthur Rimbaud, Oeuvres, Suzanne Bernard (Hrsg.), Paris 1960, 228. 220 Blecher, 2003, 41; „o cărticică neagră foarte turburătoare“, Blecher, 1999, 61. 221 Rimbaud, 1960, 228. 222 Seel, 2003, 152.

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eine Kategorie von Dingen, die nicht zum „umsichtigen“ Gebrauch bestimmt sind, sondern die von sich aus zur ästhetischen Anschauung einladen. Die meisten tragen unverkennbar die Merkmale von Kitsch an sich.223 Sie sind billig produziert, künstlich und schnelllebig, doch wird das Geschmacks- und Werturteil, das Rimbaud provokant gegen das etablierte Schöhnheitsideal wendet, bei Blecher durch den kindlichen Blick suspendiert. Die Dingbetrachtung bewegt sich nicht innerhalb des Wertdiskurses der Kunst, auch dort nicht, wo die Perspektive des Erwachsenen ausschlaggebend ist. So z. B. an einer Stelle, wo die Narration zur Erzählgegenwart wechselt: So beeindruckt mich alles, was nachgeahmt ist. Künstliche Blumen beispielsweise und Totenkränze, vor allem die Totenkränze, wenn sie vergessen und eingestaubt in ihren ovalen Glasgefäßen in der Friedhofskapelle liegen und mit altmodischem Zartgefühl alte und nichtssagende Namen umgeben, die längst schon abgesunken sind in eine Ewigkeit ohne Widerhall. 224

Blechers Imitate definieren sich nicht über das Verhältnis zu einem einzigartigen Original. Es sind Objekte, die ihre Künstlichkeit ausstellen.225 Oft sind sie mit einer Geschichte des Vergessens oder der Entwertung verbunden und stellen zum einen die Vergänglichkeit der menschlichen Existenz aus, zum anderen aber auch ihren eigenen Zeitcharakter, das Transitorische alles vom Menschen Gemachten und Hergestellten. Die exemplarischen Beispiele für das Ineinander von Künstlichkeit und Tod finden sich auf dem Friedhof in den Kunstblumen und Totenkränzen. Es sind für eine rituelle Praxis der Erinnerung bestimmte Gegenstände, die allerdings wiederholt vollzogen werden muss, um wirksam zu sein. Ohne Performanz sind die Erinnerungsgegenstände ohnmächtig gegen das Vergessen und fallen ihm selbst anheim. Auch die Namen der Verstorbenen, die sie zieren, sind nichtssagend wie rein ornamentale Buchstabenfolgen (Blecher formuliert es paradox: nume vechi anonime, „alte anonyme Namen“). Die Namen erinnern nicht mehr an die Individuen, die sie einst getragen haben, sondern verweisen als reine Signifikanten ins Leere.226 || 223 Mircea Cărtărescu sieht in Blechers Faszination für Kitsch und Simulakren die Ästhetik postmoderner Autoren vorweggenommen. Mircea Cărtărescu, Postmodernismul românesc, Bukarest 1999, 293‒294. 224 Blecher, 2003, 53‒54; „Mă impresionează astfel tot ce este imitat. Florile artificiale de pildă și coroanele mortuare, mai ales coroanele mortuare, uitate și prăfuite în cutiile lor ovale de sticlă din biserica cimitirului, înconjurând cu o desuetă delicatețe nume vechi anonime, scufundate într-o eternitate fără rezonanță.“ Blecher, 1999, 67. 225 Matei Călinescu hat darauf hingewiesen, dass Kitsch-Objekte oft Reproduktionen sind, doch eifern sie nicht wie eine Fälschung dem Status einer perfekten Illusion nach. Vielmehr stellen sie die Illusion aus. Siehe Călinescu, 1977, 252. 226 Der rumänische Literaturwissenschaftler Nicolae Balotă stellt Bezüge zur „archaischen Weisheitsliteratur“ (literatură sapienţială arhaică) her. In den Reflexionen über die Nichtigkeit der Welt und über das Vergehen bei Blecher meint er Motive und selbst rhythmische Zitate aus dem Kohelet

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Die Verbindung von Vergänglichkeit und Kitsch kann aber auch komische Effekte erzeugen, wie sich an anderen Dingvorlieben des Ich-Erzählers zeigt: Ausgeschnittene Bilder, mit denen Kinder spielen, und die billigen Statuetten auf den Jahrmärkten. Mit der Zeit verlieren diese Figuren den Kopf oder einen Arm, und die Besitzerin legt ihnen beim Reparieren weiße Gipswülste um den [zarten] Hals. Die Bronze der restlichen Statue bekommt dann die Bedeutung eines tragischen, aber vornehmen Leidens.227

Auffällig an diesen Beispielen ist das prekäre Verhältnis zwischen Ganzheit und Teilstücken. Die reparierten Jahrmarktsstatuetten machen die Bemühung augenfällig, eine verloren gegangene Ganzheit aus Fragmenten wiederherzustellen. Sie verkörpern eine Art nostalgie d’unité, die Sehnsucht nach der Einheit von Mensch und (Ding-)Welt, die auch den Protagonisten Blechers umhertreibt und die, nach Meinung Ludwig Gieszʼ, den Kitsch anthropologisch bedingt und ermöglicht.228 Kitsch versucht demnach eine Sehnsucht nach Totalität zu stillen, die es nur scheinhaft verwirklichen kann.229 Blecher stellt die Unmöglichkeit einer Totalität aus, indem er bevorzugt kaputte und fragmentarische, abgenutzte und vergessene Dinge darstellt. Auch an der Mikrogeschichte der Jahrmarktstatuette zeigt sich, dass der sentimentale Versuch der Besitzerin, eine Ganzheit wiederherzustellen, scheitert. Durch die stümperhafte Reparatur wird die ohnehin schon minderwertige Herstellungsqualität des Objektes noch verschlechtert. Blecher vollzieht eine Umkehrung der Wertelogik des Kitsches: in Nachbarschaft zu den grobschlächtigen „Gipswülsten“ (scrofule albe de gips) wirkt der Hals der billig und massenhaft produzierten Kitschware plötzlich delikat. Das hässlich Gemachte und Verhunzte subvertiert das Süßliche des Kitsches und lässt durch den Kontrast eine fragile Zartheit hervortreten. Zugleich fällt die reparierte Statuette auf, da sie nun über eine Geschichte verfügt. Sie hat Singularität erworben. Sprachlich gegenwärtig wird dieser Prozess, bei dem die Massenware zum Unikat wird, durch den grammatischen Wechsel vom Plural zum Singular: von den „billigen Statuetten“ (statuile ieftine) und „Figuren“ zu „Hals“ (gâtul) und „Statue“ (statuie). Doch die Reparatur vermag den ursprünglichen Zustand nicht wiederherzustellen und bringt stattdessen eine neue, hybride Gestalt hervor. Ferner hatte selbst die neu erworbene Figur nie eine Originalität besessen,

|| zu erkennen. Siehe Nicolae Balotă, „M. Blecher şi realitatea mediată a creaţiei“ in: Nicolae Balotă, De la Ion la Ioanide. Prozatori români ai secolului douăzeci, Bukarest 1974, 178. 227 Blecher, 2003, 53; „[...] pozele decupate cu care copiii se joacă și statuile ieftine din bâlciuri. Cu timpul statuile acestea își pierd capul ori vreo mână și proprietara lor, reparându-le, le înconjoară gâtul delicat cu scrofule albe de ipsos. Bronzul de e restul statuii capătă atunci semnificația unei tragice dar nobile suferințe.“ Blecher, 1999, 67. 228 Giesz übernimmt den Ausdruck „nostalgie d’unité“ von Camus aus Der Mythos des Sisyphos, wo die Sehnsucht nach einer Einheit von Mensch und Welt der Beweggrund des menschlichen Dramas ist. Siehe Giesz, 1994, 87. 229 Ebd., 86‒87.

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weil sie immer schon etwas anderes reproduzierte. Das Reparierte ist ein anderes Ding als das auf dem Jahrmarkt erworbene Objekt. Dafür spricht, dass es sich im Blick des Ich-Erzählers mit einer neuen Bedeutung auflädt, jener eines „tragischen, aber vornehmen Leidens“ (tragică dar nobilă suferinţă). Die Reparatur, die sich eigentlich um Erhalt und Wiederherstellung bemüht, ist als Ansteckung metaphorisiert. Sie ist auch ein Akt der Verlebendigung. Allerdings wird hier Leben nicht wie im Pygmalion-Mythos durch göttliches Wirken verliehen230, sondern durch die Verleimung mit einer wuchernden Materie. Leben erscheint hier einzig im Zeichen des organischen Verfalls. In gewisser Weise stellt die von Gipswülsten befallene Statuette den menschlichen Leib getreuer dar, als die Bronzestatue in ihrer technischen Neuheit es je zu tun vermochte. Indem sie Spuren einer Verfallsgeschichte trägt, kann sie zugleich auf die Sterblichkeit des menschlichen Körpers, den sie darstellt, verweisen. Zwar vermag diese Bedeutung eines tragischen Leidens den Kitschgegenstand gewissermaßen zu nobilitieren, doch der Gedanke an die Hinfälligkeit des Leibes kann in den miniaturalen Dimensionen der Statuette eingefasst nur komisch wirken. Wie groß kann schließlich die Tragik einer Figur sein, deren Fallhöhe sich nach der Entfernung zwischen Regalbrett und Boden bemisst?231 Die Dinge, die mit den Erinnerungen an die Kindheit verbunden sind, sind also vornehmlich dekorative Objekte. Selbst wenn sie einen Gebrauch haben, so ist ihre Funktion nie vordergründig. Die Aufmerksamkeit gilt ihrer Ornamentalität und ästhetischen Erscheinung, wie sie sich einem gaffenden Nichtstuer zeigen. Es geht um Form, um Beschaffenheit, um die sinnliche Vielfalt der Dinge, um all das, was jenseits des Gebrauchswertes liegt. So fällt ein Fayence-Aschenbecher durch seine ästhetische Gestaltung auf, bezaubernd in der Art, wie das Eichenblatt im festen Stoff der Fayence in einem Spannungsverhältnis der Formähnlichkeit und materiellen Differenz fixiert ist: „ein[ ] bezaubernde[r] Aschenbecher aus grüner Fayence in der Form eines Eichenblattes, der ewig nach abgestandener Asche stank.“232 Im Geruch der abgestandener Asche ist noch eine Spur der Zeughaftigkeit, des „Umzu“233 des Gegenstandes gegeben: der Aschenbecher ist da, um die Zigarettenasche aufzufangen. Zugleich ist er ein beharrlicher Überrest der abgebrannten Zigaretten. Er verweist auf den Prozess, bei dem sich etwas verzehrt und aufgebraucht hat. Je mehr der Zeug-Charakter der Dinge schwindet, desto stärker treten sie als Medium des Erscheinens eines ubiquitären Wandels und Vergehens zutage. Auf ähnliche Weise wirkt der Bronzeleuchter im Nähmaschinenladen von Eugen und Clara in seiner überladenen Ornamentalität wie ein Grabmal: || 230 Ovid, Metamorphosen, Leipzig 1986, 249. 231 Die Szene kann mit etwas Mut als ironisch gebrochener Kommentar des Autors zur eigenen Krankengeschichte gelesen werden. 232 Blecher, 2003, 43; „o tandră scrumieră de faianță verde, modelată ca o frunză de stejar, veșnic mirosind a cenușe stătută“, Blecher, 1999, 62. 233 Heidegger, 2006, 42.

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Von der Mitte der Zimmerdecke hing [noch] ein Bronzeleuchter mit einer dunkelroten Majolikakappe, die am Rand mit Akanthusblättern aus Steingut in einem grünen Blattrelief verziert war. Es war ein ornamentüberladenes Ding; alt und aus der Mode gekommen, aber beeindruckend – ein Gegenstand, der einem Grabdenkmal glich oder einem Veteranen, der zur Parade seine alte Generalsuniform angelegt hatte.234

Auch hier verschränkt sich das Ornamentale mit dem Bewusstsein der Vergänglichkeit, während der Nutzen des Gegenstandes zweifelhaft geworden ist. Der Bronzeleuchter ist ein Überbleibsel, das zusammen mit der Wanddekoration die Umfunktionierung des Privatzimmers zu einem Nähmaschinenladen überdauert hat. Die Vergleiche Blechers verorten zum einen die Wirkungsmacht des Dinges in einem Grenzbereich zwischen Belebtem und Unbelebtem und verleihen ihm zum anderen den Charakter einer feierlichen Reminiszenz an den Tod. Der obsolet gewordene Bronzeleuchter erscheint, je genauer seine Wirkung sprachlich entfaltet wird, als eine Art Funeralien-Requisit. Auch am Umgang der anderen mit den Dingen wird nicht das Zeug-, sondern das Transitorische und Requisitenhafte der Dinge entdeckt. In einer Szene, die sich im Nähmaschinenladen allmorgendlich abspielt, sprengt Eugen den Fußboden mit Wasser ein, „aus einer alten Konservenbüchse mit durchlöchertem Boden.“235 Der Erzähler erinnert sich genau an Eugens originelle Handhabung des ungewöhnlichen Werkzeugs, das zugleich auch Spielzeug ist, in den zwei möglichen Bedeutungskontexten von Kinderspiel und Schauspiel: Der Wasserstrahl, der sich daraus ergoss war sehr dünn, und Eugen handhabte die Büchse mit großer Geschicklichkeit. Er zeichnete geniale Spiralen und Achten, manchmal unterschrieb er auch und trug das Datum ein. Ganz offensichtlich reklamierte auch die Wandbemalung solche Kabinettstückchen.236

Die verbrauchte Konservenbüchse, die ihrem Zeug-Schicksal entsprechend auf der Müllhalde hätte landen müssen, erfährt eine Ding-Verwandlung und erlangt einen neuen Gebrauchswert. Die Dauer zeigt sich hier am Ding nicht unter dem Aspekt des Verfalls, sondern der Wandlung oder Verwandlung. Die improvisierte Form entlockt Eugen kunstvolle Bewegungen, während die antiquierte Wandbemalung sich dem kindlichen Zuschauer als eine Art Kulisse zeigt. Eugens Bewegungen, die Arbeitsverrichtungen sind, beschreiben zugleich eine Schrift aus „geniale[n] Spiralen und

|| 234 Blecher, 2003, 20; „În mijlocul plafonului rămăsese o lampă de bronz cu o calotă de majolică de culoare roșie închisă, acoperită pe margine cu foi verzi de acantă reliefate din faianță. Era un obiect plin de ornamente, vechi și desuet însă impozant, ‒ ceva ce semăna cu un monument funerar ori cu un general veteran purtând la paradă bătrâna lui uniformă.“ Blecher, 1999, 49‒50. 235 Blecher, 2003, 20; „o cutie veche de conserve găurită în fund“, Blecher, 1999, 50. 236 Blecher, 2003, 20; „Șuvița de apă care se scurgea era foarte subțire și Eugen o mânuia cu dexteritate desenând pe podea spirale și opt-uri [sic] savante. Câteodată iscălea și scria data zilei. Zugrăveala de pe pereți reclama în mod evident asemenea delicateți.“ Blecher, 1999, 50.

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Achten“ (spirale şi opt-uri [sic] savante), ein gestisches, tänzerisches Ornament. Der Schauspielcharakter des Geschehens erscheint hier nicht bloß im Auge des kindlichen Betrachters, wie es bei Blecher so oft der Fall ist. Er rührt vom ironischen Spiel Eugens mit den Praktiken der Kunst her. Das Eintragen von Name und Datum mit Wasser, dem flüchtigsten aller Schreibstoffe, parodiert sowohl die Autorisierungspraxis der Schrift- und Bildkultur, als auch ihren Anspruch, die Zeit zu überdauern. Die Fraglichkeit von Schrift und Bild als persönliche Erinnerungsmedien zeigt sich anschaulich an der vergilbten Korrespondenz und den altmodischen Photographien, die der Protagonist im oberen Stockwerk im Haus der Webers findet: Manchmal fiel ein Brief aus seinem Umschlag und zeigte ausgefeilte und altmodische Kalligraphie in verblasster Tinte. Etwas Trauriges und Resigniertes steckte in dieser Schrift, eine müde Schlussfolgerung über die seit der Niederschrift vergangene Zeit und der zarte Schlaf einer Ewigkeit wie die der Totenkränze.237

Die Briefe und Photographien, auf denen „porte visite“ oder „souvenir“238 steht und die einst zur Erinnerung bestimmt waren, stellen jetzt bestenfalls ein anonymes Gedächtnis dar, das an nichts Bestimmtes, an niemanden mehr erinnert, sondern nur noch das Vergehen der Zeit sichtbar macht. Dadurch dass ihre pragmatischen Bedeutungen verlorengegangen sind und die ursprünglichen existentiellen Bezüge ins Leere verweisen, zeigen sie sich in ihrer ästhetisch-ornamentalen Dimension: interessant ist nicht der Informationsgehalt der Schrift, sondern das Zeichenhafte an ihr, die „altmodische Kalligraphie“ (caligrafie desuetă). Überall trifft der Blick auf referenzlose Lineaturen: in den „unbekannten Monogrammen“ (monograme necunoscute), dem „welligen Rand“ (marginile în volute) der Fruchtschale, den „Krinolinen“ (crinoline)239. Die Dinge verweisen in einer Art ornamentalen Selbstbezüglichkeit nur noch aufeinander, zwischen ihnen herrscht „eine Atmosphäre völligen Einvernehmens, eine Art Eigenleben der Dinge, das mit dem früheren Leben identisch war, als die Photographien beispielsweise noch Personen entsprachen, die sich bewegten und lebten, und als die Briefe von wirklichen, warmen Händen geschrieben worden waren; ein Leben jedoch, das im verkleinerten Maßstab dargestellt war, sich auf etwas engerem Raum abspielte, innerhalb der Grenzen der Briefe und Photographien, als betrachte man es durch die dicken Linsen eines Fernglases; in allen seinen Maßen und Einzelteilen genau, doch winzig klein und fern.“240 Im Sinne Walter Benjamins kann man sagen, dass das Rät-

|| 237 Blecher, 2003, 67; „Câte o scrisoare cădea alături și se deschidea relevând o caligrafie desuetă și meșteșugită, cu cerneală decolorată. Era în ea ceva trist și resemnat, un fel de concluzie obosită la curgerea timpului de când fusese scrisă și un somn lin în eternitate, ca al coroanelor mortuare.“ Blecher, 1999, 74. 238 Blecher, 2003, 67; Blecher, 1999, 74. 239 Blecher, 2003, 67; Blecher, 1999, 74. 240 Blecher, 2003, 67; „un aer de perfectă înțelegere ca un fel de viață proprie a lor, identică vieții de odinioară când fotografiile de plidă corespundeau unor persoane ce se mișcau și trăiau, și când

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sel der Dinge bei Blecher ihre Aura ist, nämlich die „einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag.“241 In der Betrachtung aus nächster Nähe zeigt sich an den „Gegenstände[n] voller Melancholien“242 (obiecte pline de melancolii) eine zeitliche Ferne, ein Effekt, den Blecher durch den Vergleich mit einem optischen Instrument veranschaulicht. Die Beispiele zeigen, dass Blecher in der Darstellung der Dingwahrnehmung das Vergehen der Zeit zum Erscheinen bringt. In einem Brief an Maria Ghiolu, der Blecher seinen Gedichtband Corp transparent (Durchscheinender Körper) gewidmet hat, gibt Blecher diesem Aspekt seiner Prosa eine entschiedenere, drastische Bedeutung: „Ich komme mit meinem Buch voran. Das Leitmotiv ist, wie ich schon mal angemerkt habe, das Sterben. Doch denke ich ans Sterben – dem ich, wer weiß, vielleicht sehr nahe bin – aus einer gewissen gelassenen Distanz, keineswegs wie an etwas, das mich selbst betrifft. Das Sterben ist vielleicht, wie die Liebe oder ein Kunstwerk auch, eine Art Erfüllung.“243 Das Sterben, von dem Blecher spricht, ist ein formgebendes, schöpferisches Prinzip. Es ist, wie die nähere Lektüre seiner Dingdarstellungen aufzeigt, ubiquitäre Über- und Vergänglichkeit: ein Werden. Es zeigt sich am Überdauern der Dinge als Sterblichkeit der menschlichen Existenz und als Verfall und Wandel der Dinge selbst. Das Geheimnis der Dinge rührt von ihrem Auftreten in anderen als den ursprünglich existentiellen Zusammenhängen, was ihre Verweisungsstrukturen ins Leere laufen lässt. Als unnützes Zeug erscheinen sie daher ornamental und auratisch. Ihr Geheimnis liegt auch in ihrer unerschöpflichen Fülle, die auf die Zeitlichkeit der Wahrnehmung selbst verweist. Die Unwirklichkeit der Dinge sprießt also aus der phänomenalen Vielfalt der Welt. Sie wird durch die erzählerische Reanimierung der kindlichen Wahrnehmung ästhetisch ausgeschöpft und in einer Art ästhetisch-metaphysischen Wendung zum Argument gegen die geronnenen Wahrnehmungsformen gemacht. Realitätsskepsis und kindliches Wahrnehmungsparadigma organisieren in Aus der unmittelbaren Unwirklich-

|| scrisorile erau scrise de calde mâini adevărate, ‒ însă o viață redusă la o scară mai mică, într-un spațiu mai restrâns, în limita scrisorilor și a fotografiilor, ca într-un decor privit printre lentilele cele groase ale unui binoclu, decor rămas exact în toate componentele lui însă miinuscul și îndepărtat.“ Blecher, 1999, 74. 241 Walter Benjamin, „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (1936) in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. 1, Teil 2, Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser (Hrsg.), Frankfurt am Main 1974, 479. 242 Blecher, 2003, 70; Blecher, 1999, 76. 243 „Cartea mea avansează. Leitmotivul este moartea, după cum ți-am spus odată. Și totuși nu mă gândesc niciodată la moarte – de care sunt cine știe? foarte aproape – decât destul de detașat, nicidecum în legătură cu mine. Moartea este poate ca și dragostea sau ca o operă de artă un fel de a te realiza.“ Ghiolu, 1970, 54. Meine Übersetzung. Die Briefe Blechers an Maria Ghiolu scheinen verlorengegangen zu sein. Glücklicherweise hat die Adressatin ihre sentimentalen Begegnungen später zu einem intimen Tagebuch (Vergebliches Ständchen) fiktionalisiert und darin zahlreiche Stellen aus den Briefen M. Blechers angeführt. Die Aussagekraft der Briefzitate steht allerdings unter kritischem Vorbehalt.

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keit die ästhetische Ermöglichungsstruktur. Es bleibt zu zeigen, wie sich die Dauer in der Begegnung mit den Dingen im wahrnehmenden Ich niederschlägt und wie sich das Unmittelbare der Welt bei Blecher darstellt.

4 Die wahrere Realität des Empfindens in Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit 4.1 Das Leben, bis aufs Blut enthäutet Sinnlichkeit, die Phänomenologie der Sinne, kann […] in so gut wie jedem Augenblick unseres Lebens das Denken lenken oder umlenken. George Steiner1

In seiner Rezension aus dem Jahre 1936 zu Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit spricht Eugen Ionescu dem Buch M. Blechers einen „wesentlich metaphysischen“2 Charakter zu (carte esenţial metafizică). Die Suche der Ich-Figur nach einer „wahreren Realität“3 (realitate mai adevărată), ihre verzweifelten Bemühungen, die Banalität der Alltagsformen zu durchbrechen, um an die „wahre Existenz“4 (existenţă exactă) der Dinge zu gelangen, ihr unentwegtes Fragen nach Sinn zeugen in der Tat von einer metaphysischen Sehnsucht, die immer wieder enttäuscht wird. Ihre Bestätigung findet sie zunächst in außerordentlichen Momenten einer Art Osmose des Kindes mit den Dingen und Umgebungen. Der Ich-Erzähler nennt sie die „Krisen meiner Kindheit“5 (‚crizele‘ mele din copilărie). In solchen ekstatischen Augenblicken scheint sich das Volumen der Dinge „zu verdünnen […], um ihre wahre Bedeutung durchschimmern zu lassen“6. Wahrnehmungstheoretisch sind es prononcierte Vorfälle einer spezifisch kindlichen Aisthesis, die sich durch „eine[ ] schwindelerregende[ ] Nähe der Gegenstände, eine[ ] Verschlingung von Mensch und Welt“7 auszeichnet. Sie bildet bei Maurice Merleau-Ponty das verdrängte, hintergründig wirksame Fundament der objektiven Wahrnehmung. Es lohnt sich zunächst genauer zu untersuchen, welche Figuren bei Blecher in der Darstellung der Krisen wiederkehren. Charakteristischerweise zeigen sich der Ich-Figur Blechers die Dinge während der „Krisen“ „bis aufs Blut enthäutet“8 (jupuite până la sânge). Immer wenn sich das atmosphärische Empfinden zum Schwindel und zur Ohnmacht intensiviert und eine Grenze des Fühl- und Wahrnehmbaren erreicht, erscheinen die Umgebungen verfleischlicht. Der Augenblick, an dem die Krise an der Uferböschung unabwendbar || 1 George Steiner, Warum Denken traurig macht, Frankfurt am Main 2008, 25. 2 Eugen Ionescu, „Cronica“ in: Ionescu, 1992, 278. 3 Blecher, 2003, 45; Blecher, 1999, 63. 4 Blecher, 2003, 74; Blecher, 1999, 78. 5 Blecher, 2003, 9; Blecher, 1999, 44. 6 Blecher, 2003, 71; „păreau câteodată că se subțiază pentru a lăsa să se străvadă prin ele adevăratul lor înțeles“, Blecher, 1999, 77. 7 Merleau-Ponty, 1966, 338. 8 Blecher, 2003, 14; Blecher, 1999, 47.

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wird, stellt sich als Eindruck einer aufklaffenden Wunde in den fauligen Uferwänden dar: Die Wände des hohen Ufers fielen zu beiden Seiten steil ab und bargen eine Menge phantastischer Besonderheiten. Der Regen hatte lange Strähnen dünner Bruchstellen hineingemeißelt, fein wie Arabesken, doch ekelerregend wie schlecht verheilte Wunden. [Es waren] [w]ahre Fetzen aus dem Fleische des Lehmbodens, scheußlich [klaffende Wunden].9

Der visuelle Eindruck wird durch rhetorische Figuren, die aus dem Bereich des Körperlichen schöpfen, dynamisch dargestellt. Die Vergleiche, die das Gesehene qualifizieren, halten den Seheindruck noch in der Schwebe zwischen dem Wohlgefallen am künstlerischen Erzeugnis der Elemente und dem Ekel, die ihre Ähnlichkeit mit einer Wunde hervorruft. Im darauffolgenden Satz wird das Bild der Wunde noch einmal aufgerufen, diesmal aber als Metapher. Die Wunde ist nun nicht mehr bloß „schlecht verheilt“ (rău cicatrizate), sondern „scheußlich klaffend“ (oribile şi beante). Über eine ähnlich penetrante und dynamische Bildlichkeit wird auch der olfaktorische Eindruck entfaltet, der die Krise einleitet: das Körperinnere stellt sich als eine der Uferböschung gleichende, sensible Landschaft mit verschiedenen „Orten der Sinneswahrnehmung“ oder Empfindungsregionen (regiuni des senzaţii) dar, die vom Strömen und Zirkulieren der Gerüche scheinbar verwandelt und durch „eine luftigere und anfälligere Materie“ (o materie mai aeriană şi mai nesigură) ersetzt wird.10 Im Gegenzug setzt die Luft dem Kind in seinem irren Lauf den Uferhang hinab eine „spitze Festigkeit“ (densitate ascuţită) entgegen „wie die Schneide eines Messers“ (ca lama unui cuţit) und verletzt empfundenermaßen Haut und Fleisch.11 Während die äußere Landschaft in der Darstellung der Krise verfleischlicht und wund erscheint, wird das affizierte Körperinnere als dynamische Landschaft von Sensationen kartographiert. Die Darstellung von sinnlichen und atmosphärischen Eindrücken lässt eine sensible Körpermaterie sprachlich erscheinen, die sich im und als Außen darstellt. Ähnlich wird die Dynamik der Krise im geschlossenen Raum als organischer Austauschprozess zwischen Ich und Dingen dargestellt, bei dem die Grenzen zwischen Innen und Außen durchlässig werden. Nach dem Einsturz der Wahrnehmungsordnung und dem „Freiheitsrausch“12 (frenezie de libertate) der Dinge ereig-

|| 9 Blecher, 2003, 11. Meine Übersetzung in Klammern; „Pereții malului înalt, de o parte și de alta a pantei, erau abrupți și plini de iregularități fantastice. Ploaia sculptase șuvițe lungi de crăpături fine ca niște arabescuri, însă hidoase ca niște plăgi rău cicatrizate. Erau adevărate zdrențe din carnea lutului, răni oribile și beante.“ Blecher, 1999, 45. 10 Blecher, 2003, 12; Blecher, 1999, 45. 11 Blecher, 2003, 12; Blecher, 1999, 45. 12 Blecher, 2003, 14; Blecher, 1999, 46.

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net sich hier ein subtiler Stoffwechsel zwischen Kind und Gegenständen, die sie bis zur Ununterscheidbarkeit einander angleicht: Die Begeisterung, von einer neuen Aura umgeben zu sein, ergriff auch mich: starke Fäden verbanden mich mit den Dingen, eine unmerkliche Osmose ließ mich zu einem Gegenstand des Zimmers werden, genauso wie alle anderen – wie ein auf lebendiges Fleisch verpflanztes Organ sich durch subtilen Stoffwechsel dem unbekannten Körper anverwandelt.13

Der Vergleich stellt das Außen als organisches Innen vor. Sowohl das Subjekt, als auch die Gegenstände verlieren in der Krise ihre konstitutiven Grenzen. Bezeichnenderweise ist es die Figur der Enthäutung, die die Darstellung der Krise im geschlossenen Raum dominiert. Während die Osmose an die Permeabilität der Haut, an ihre verbindende, statt abgrenzende Funktion denken lässt, stellt das Bild der Organverpflanzung die Dinge mit sprachbildlicher Gewalt als „lebendiges Fleisch“ (carne vie) vors Auge. Dieser eigentümliche Anblick kündigt sich bereits in der Vergleichsfigur des Ausgepackt-Werdens der Dinge „aus dünnen, durchscheinenden Papieren“14 (din hârtii subţiri şi transparente) an. Was als scheinhafter visueller Eindruck (als ob) beginnt, bei dem die Dinge eine erste, künstliche Haut ablegen, entwickelt sich im Laufe der Krisenerzählung zu einer regelrechten Schindung und zugleich Verlebendigung der Dinge durch den Blick, die dem Protagonisten vor dem Höhepunkt der Krise „bis aufs Blut enthäutet: unsagbar lebendig“15 (jupuite până la sânge: vii, nespus de vii) erscheinen. Schließlich sind auch die Ordnungen des Gewissen und des Ungewissen, der Alltagswirklichkeit und der Osmose voneinander durch eine „ganz feine Membrane bloß“16 (pojghiţă foarte subţire), einer äußerst anfälligen Grenze voneinander getrennt. Die Krise stellt sich als Sehgeschehen dar, bei dem sich die Haut und die Oberflächen der Dinge verbrauchen und ein unmittelbarer Kontakt zwischen Ich und Umgebung erreicht wird. Die wahrnehmungskonstitutiven Differenzen zwischen Subjekt und Objekt, Innen und Außen stürzen dabei ein. Das Innen ist ununterscheidbar vom Außen und derjenige, dem sich die Dinge fleischlich zeigen, beinahe ununterscheidbar von dem, was sich zeigt: das Ich wird „zu einem Gegenstand des Zimmers […] genauso wie alle anderen“17 (un obiect al odăii la fel cu celelalte), einem Ding unter Dingen. Fraglich ist, ob das dargestellte Geschehen an diesem Punkt

|| 13 Blecher, 2003, 14; „Entuziasmul lor de a exista într-o nouă aureolă, mă cuprindea și pe mine: aderențe puternice mă legau de ele, cu anastomoze invizibile ce făceau din mine un obiect al odăii la fel cu celelalte, în același mod în care un organ grefat pe carne vie, prin schimburi subtile de substanțe se integrează trupului necunoscut.“ Blecher, 1999, 46. 14 Blecher, 2003, 14; Blecher, 1999, 46. 15 Blecher, 2003, 14; Blecher, 1999, 47. 16 Blecher, 2003, 15.; Blecher, 1999, 47. 17 Blecher, 2003, 14, Blecher, 1999, 46.

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noch als Sehen bezeichnet werden kann. Die „Um-“ oder „Abstürze“18 (căderi, răsturnări), die sich in der Krise ereignen, signalisieren einen Rückfall des Sehens auf die Empfindung, die nur noch eine „Modifikation [des] leiblichen Befindens“19 ist. In diesem Sinne kann die Absage des Ich-Erzählers an der Bildlichkeit der Sprache verstanden werden. Seine Darstellung zielt auf den Ausdruck „anderer Sensibilitäten des Lebens“, der „Verblüffung“ oder des „Taumel[s] geträumter Abstürze mit ihrer sirrenden Angst, die einem in unvergesslichen Augenblicken durch die Glieder fährt“.20 Es geht eher um Empfindungsintensitäten und Erregungen im Körper und weniger um objektivierte und sinnlich artikulierte Eindrücke. In seiner Rezension zu Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit hebt Mihail Sebastian den Ausdruck dieser Hyperästhesien als unverwechselbares Merkmal der Prosa Blechers hervor: „Es gibt etwas Geschundenes an der Sensibilität dieses Menschen [des Protagonisten] und das Bild des bis aufs Blut enthäuteten Fleisches durchzieht das Buch auf obsessive Weise. Sein Fühlen ist von verletzender Intensität. Da ereignet sich etwas, was die epidermischen Grenzen der Empfindung überschreitet.“21 So originell und idiosynkratisch sie bei der Erstveröffentlichung erschienen sein mag, steht Blechers Darstellung dieser gewaltsam unter die Haut gehenden Sensibilität in einem diskursiven Kontext mit der Phänomenologie der Empfindung, präziser noch mit dem, was Maurice Merleau-Ponty „,Urschicht‘ des Empfindens“ nennt, „die der Teilung der Sinne vorgängig ist.“22 Ästhetisch ist sie vergleichbar mit dem Spasmus und der Sensation in der philosophischen Ästhetik Gilles Deleuzes. Die Sensation, heißt es in Deleuzes Studie zu Francis Bacon, „ist Auf-der-Welt-Sein, wie die Phänomenologen sagen: Ich werde in der Sensation, und zugleich geschieht etwas durch die Sensation, das eine durch das andere, das eine im anderen. Und im äußersten Fall ist es derselbe Körper, der sie gibt und empfängt, Objekt und Subjekt zugleich“23. Die Krisendarstellung versprachlicht eine extreme Weise des Sehens als leibliche Empfindung, die in den phänomenologischen Wahrnehmungstheorien der Zeit als unpersönlicher, vorsubjektiver Modus des Weltbezugs epistemologisch und ontologisch reflektiert wird. Er bildet den Hintergrund, von dem sich die objektive Realität erst abhebt. Die Figur des Fleisches und ihre metonymischen Bildwuche-

|| 18 Blecher, 2003, 9‒15; Blecher, 1999, 44‒48. 19 Merleau-Ponty, 1966, 375. 20 Blecher, 2003, 15‒16; „esențele altor sensibilități din viață“; „stupefacția“; „dezechilibrul căderilor în vis cu șuierătoarea lor spaimă ce parcurge șira spinării într-o clipă de neuitat“, Blecher, 1999, 47. 21 „E ceva jupuit în sensibilitatea acestui om și imaginea aceasta a cărnii deschisă până la sânge este obsedantă în carte. Simțirile lui au o ascensiune rănită. Este ceva care depășește limitele epidermice ale senzației.“ Mihail Sebastian, „M. Blecher: Întâmplări“, in: Lascu, 2000, 225. Meine Übersetzung. 22 Merleau-Ponty, 1966, 266. 23 Deleuze, 1995, 27.

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rungen des zirkulierenden Blutes, der aufgerissenen Wunde, der enthäuteten Muskeln, des ungestalten, fließenden Körpers, der durchlässigen Haut bringen unterschwellig Empfundenes und beinahe nicht mehr Empfindbares sprachlich zum Ausdruck. Phänomenologisch gesehen wird hier eine Vorwelt figuriert, „die der ausdrücklich geformten und geschaffenen Welt noch vorausgeht“24 und die hypothetisch ins Vormenschliche hineingreift. Sie ist bei Blecher, anders als in der Phänomenologie, metaphysisch aufgeladen, wenn nicht als das Wahre schlechthin, so doch als Wahreres.

4.2 Phänomenologie der Empfindung In einer zentralen Passage kommentiert der Ich-Erzähler die Ursachen seiner Krisen und führt sie auf sein eigentümliches Verhältnis zur Welt zurück: Ich beneidete die Leute um mich herum, die hermetisch in ihre Kleider eingeschlossen waren und damit geschützt [izolaţi, isoliert, abgetrennt] vor der Tyrannei der Objekte. Sie lebten als Gefangene in ihren Überziehern und Mänteln, doch konnte sie von außen nichts terrorisieren und überwältigen, nichts drang in ihre wunderbaren Gefängnisse ein. Zwischen mir und der Welt gab es keine trennende Distanz. Alles, was mich umgab, überfiel mich von Kopf bis Fuß, als wäre meine Haut löchrig gewesen wie ein Sieb. Die Aufmerksamkeit, mit der ich um mich blickte, übrigens eine sehr zerstreute Aufmerksamkeit, war kein schlichter Willensakt. Auf natürliche Weise verlängerte die Welt ihre Fangarme bis in mich hinein; Tausende von Armen dieser Hydra durchdrangen mich. Verzweifelt musste ich feststellen, dass ich in der Welt lebte, die ich sah. Dagegen war nichts zu machen.25

Der Weltbezug der Ich-Figur zeichnet sich durch ein radikales leibliches Ausgesetztsein aus, das als ungeheuerliche Durchdringung des Körpers „von Kopf bis Fuß“

|| 24 Waldenfels, 2000, 100. Bei Merleau-Ponty erscheint der Ausdruck mit Bezug auf die Landschaftsdarstellungen Cézannes. Es seien Landschaften „einer Vorwelt, in der es noch keine Menschen gab“. Merleau-Ponty, 1966, 373. Vergleiche auch Deleuze zu Cézanne: „Das ist Cézannes Lektion über die Impressionisten hinaus: Die Sensation ist nicht im ,freien‘ und körperlosen Spiel von Licht und Farbe (Impressionen), sie ist im Gegenteil im Körper, mag dies auch der Körper eines Apfels sein. [...] Was im Gemälde gemalt ist, ist der Körper, und zwar nicht sofern er als Objekt wiedergegeben wird, sondern sofern er erlebt wird als einer, der diese Sensation erfährt.“ Deleuze, 1995, 27. 25 Blecher, 2003, 16; „Invidiam oamenii din jurul meu, închiși hermetic în tainele [sic] lor și izolați de tirania obiectelor. Ei trăiau prizonieri sub pardesiuri și paltoane dar nimic din afară nu-i putea teroriza și învinge, nimic nu pătrundea în minunatele lor închisori. Între mine și lume nu exista nici o despărțire. Tot ce mă înconjura mă invada din cap până în picioare, ca și cum pielea mea ar fi fost ciuruită. Atenția, foarte distrată de altfel, cu care priveam în jurul meu nu era un simplu act de voință. Lumea își prelungea în mine în mod natural toate tentaculele; eram străbătut de miile de brațe ale hidrei. Trebuia să constat până la exasperare că trăiam în lumea pe care o vedeam. Nu era nimic de făcut împotriva acestui lucru.” Blecher, 1999, 47.

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durch die Umgebung beschrieben wird und bei der er als Patiens erscheint: grammatikalisch als dreifaches Objekt eines transitiven Geschehens.26 Doch auch die Souveränität der anderen Subjekte erscheint zweifelhaft. Sie leben in künstlich errichteten Schutzräumen, die sie erst von der Welt isoliert und gleichzeitig gefangen hält. Die Trennung zwischen Subjekt und Objekt ist kein ursprünglicher oder natürlicher Zustand, sondern Ergebnis einer künstlichen Abgrenzung des Subjekts von der Außenwelt. „[A]uf natürliche Weise“ (în mod natural) ereignet sich vielmehr das Eindringen der Welt ins Ich. Ausgesetzt zu sein, bedeutet im Umkehrschluss in gewisser Weise auch frei zu sein, frei von „Überziehern und Mänteln“, von künstlich errichteten Grenzen. Die Besonderheit dieses Weltbezugs liegt im Ereignis des Sehens als Durchdringung von Haut und Leib – einem synästhetischen Exzess. Der Ich-Erzähler spricht von einer „zerstreute[n] Aufmerksamkeit“ (atenţie distrată), die kein „schlichter Willensakt“ (un simplu act de voinţă) sei. Es ist eine Aufmerksamkeit von eher responsiver als intentionaler Struktur.27 Weder ist sie „bei der Sache“28, noch kann sie sich rein optisch artikulieren, sondern versetzt stets den gesamten Körper in Erregung. Bereits die frühen phänomenologischen Wahrnehmungsdeskriptionen bei Wilhelm Schapp tragen der Beteiligung des gesamten Leibs am Akt des Sehens Rechnung. Der junge Phänomenologe spricht von einem Sehen, das „leibhaftig" sei und legt die haptische Dimension der Anschauung offen.29 In den Wahrnehmungsdeskriptionen erweist sich das Gesehene als qualitativ überbestimmt. Es bietet sich nicht in visueller Reinheit dar, sondern „in der Weise des ‚Leibhaft‘“30: Mit den Händen in der Tasche können wir den Dingen, die sich unserem Auge bieten … eine Anzahl von Eigenschaften ansehen […], die ihrem Wesen nach von Farbe und Ausdehnung verschieden sind. Wir sehen, ob ein Ding glatt ist, wie das Messing der Lampe, ob es rauh [sic] ist wie unser Anzug, ob es flüssig ist wie das Wasser oder der Kaffee und ob es fest ist wie die Tasse; ob es homogen ist wie das Messing oder gemasert wie der Tisch; ob es klebrig ist wie der Honig oder ob es leichtflüssig ist wie die Tinte. […] Wir sehen dort, wie der Honig kleben bleibt an jedem Ding, mit dem er in Berührung kommt; wie das Wasser sofort zurückfällt, wie es fließt, und leicht beweglich, flüssig ist. Wir sehen, wie elastisch das Eisen der Stimmgabel ist; wir sehen die Leichtigkeit der Feder, des Rauches, die der Wind davonträgt. Wir sehen die Konsistenz und Schwere des eisernen Gewichtes, das sich in den Sand einbohrt. Dies alles steht im Sehen leibhaftig vor uns.31

|| 26 Im Original zwei Mal mă, „mich“ und ein Passiv: „eram străbătut“. Siehe Blecher, 2003, 47; Blecher, 1999, 47. 27 Dieter Mersch, Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main 2002, 47‒48. 28 Bernhard Waldenfels, Phänomenologie der Aufmerksamkeit, Frankfurt am Main 2004, 14. 29 Schapp, 1976, 18‒19. 30 Ebd., 18. 31 Ebd., 19‒20.

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In dieser Auffassung liefert das Sehen ein Mehr an Dingeigenschaften, die in ihrer Artikulationsfülle erst kinästhetisch oder tastend wahrgenommen werden können, die aber optisch bereits anschaulich sind. Schapps phänomenologische Einstellung schließt die direkte Berührung mit den Dingen aus. Die Dinge werden aus der Distanz, interesselos, mit „den Händen in der Tasche“ betrachtet. Dabei erscheint das Gesehene von eigentümlicher Schwere und Solidität. Doch die „Leibhaftigkeit“ des Blicks tastet, anders als die „zerstreute Aufmerksamkeit“ bei Blecher, die Integrität des Sehenden nicht an. Sie erscheint objektiviert, als Materialqualität, die dem gesehenen Ding anhaftet. In einigen phänomenologischen Deskriptionen ist es das Sehen in actu selbst, das den Charakter des Taktilen und Haptischen annimmt. Es ist das tätige Auge, das mit dem Berührungsvermögen der Hand und des Körpers agiert: der sich öffnende Blick „fällt“ auf die Dinge, er „prallt an“, verursacht eine „Erschütterung“ und „setzt sich fest“; er „ergreift“ die Dinge, auf die er hinaus ist, „greift sie meinend heraus“, „packt“ und „fasst“ sie „an“, während er das, was sonst noch im Blickfeld erscheint, bloß „leise berührt“; ebenso wie die Hand kann der phänomenologische Blick gewaltsam oder sanft berühren: er „krallt sich ein“, „gleitet“, „fühlt entlang“, „lässt die Krallen schleifen“ und „entert“ schließlich den Gegenstand von neuem; er „zieht“ ihn, den er sehen will, „zu sich heran“, während andere Sachen von selbst „hereintreten“, „fast wie jemand zur Tür hereintritt“.32 Was die phänomenologische Deskription hier verzeichnet, ist der grundlegend synästhetische Charakter der Wahrnehmung. Zeitgenössische Ästhetiker haben darauf hingewiesen, dass die Haptik des Blickes nicht im übertragenen Sinne zu verstehen sei, weil sie auf eine primordiale Wirklichkeit verweist, die noch vor jeder habituell konstituierten Trennung der Sinne liegt.33 Die Entdeckung des sogenannten leibhaftigen Sehens erfüllt bei Schapp eine epistemologische Funktion. Es garantiert die Realität des visuell Perzipierten, das sich durch die synästhetisch empfundene Schwere von der Flüchtigkeit eines Nachbildes etwa oder eines halluziniertes Gespinstes unterscheidet. Die Leibhaftigkeit der Wahrnehmung konsolidiert die Erkenntnisleistung des Sehens. In der Hierarchie der Sinne ereignen sich nach 1900 erkenntnistheoretische Verschiebungen und Umschichtungen. Das Spüren gewinnt dabei zunehmend an Bedeutung. Eine Umwertung der erkenntnistheoretischen Relation zwischen Sehen und Spüren nimmt in der Epoche Blechers der wissenschaftstheoretische Denker Ludwik Fleck vor, bei dem das „Abtasten“ als Erkenntnismetapher avanciert.34 Die Beobachtung ist keine „direkte Einsicht“35 mehr in die Wesenszusammenhänge der Dinge wie bei Schapp,

|| 32 Ebd., 67‒69. 33 Siehe Gernot Böhme, Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt am Main 1995, 54‒55. 34 Fleck, „Zur Krise der ‚Wirklichkeit‘“ in: Fleck, 1983, 53. 35 Schapp, 1976, 14.

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sondern ein „Umformen des Erkenntnisgegenstandes“.36 Erkennen heißt stilvoll schöpfen, Signifikanzen setzen und konstruieren. Später, bei Michel Serres, stellt die Fusion der Körper den Ausgangspunkt einer alternativen Subjekt- bzw. Erkenntnistheorie dar, die sich vom Primat des Gesichtssinnes verabschiedet. Auf der Suche „nach dem Modell, das sich in der Erkenntnistheorie aufdrängt, weniger fest als das Feste, nahezu ebenso flüssig wie das Flüssige, hart und weich“, findet Serres das Gewebe und die Haut.37 Damit überlebt sich die klassische Vorstellung, dass das „Feste, Harte gerade das Wirkliche“38 sei, wie es noch bei Wilhelm Schapp heißt.39 Doch auch innerhalb der Phänomenologie radikalisiert sich die Auffassung vom Sehen und zieht ein Neudenken des Wahrnehmungssubjektes nach sich. Bei dem existenzphilosophisch und gestalttheoretisch geschulten Phänomenologen Maurice Merleau-Ponty hat das Sehen als leibliche Empfindung eine „motorische Physiognomie.“40 Die Empfindung bezeichnet phänomenologisch die elementarste Stufe der Wahrnehmung, auf der Subjektivität und Objektivität noch nicht konstituiert sind. Welterfahrung und Selbsterfahrung sind im Empfinden demnach ununterscheidbar miteinander verflochten: „Empfinden ist ein Sichempfinden im Anderen, das sich ausweitet zu einem Empfinden mit Anderen“41, so der zeitgenössische Phänomenologe Bernhard Waldenfels. Die Empfindung wird in der Phänomenologie nicht zuständlich gedacht, sondern als unmittelbarer Kontakt zwischen Leib und Welt, bei dem die Unterscheidung zwischen jemanden, der spürt und etwas, das gespürt wird, (noch) nicht greift. Empfindungen sind „Sinnesdaten, die in einer Zwischenstellung verharren; sie gehören weder zu den physischen Dingen noch zu den psychischen Erlebnisakten eines Subjekts“42. Bei Maurice MerleauPonty, dessen Phänomenologie der Wahrnehmung zur gleichen Zeit wie Blechers Prosa entsteht, geht es um eine „Urschicht des Empfindens“43, in der die Qualitäten: das Rot, das Blau, die Höhe eines Tons erst als entsprechende Körperdispositionen und Bewegungsarten erfahren werden, bevor sie in ihrer sinnlichen Spezifik erscheinen. Jede sinnliche Erregung, die von der Umgebung ausgeht, bewirkt gemäß dieser Auffassung eine „Erweiterung des motorischen Seins“, insofern ihr „Rhyth-

|| 36 Fleck, 1983, 53. 37 Michel Serres, Die fünf Sinne Eine Philosophie der Gemenge und Gemische, Frankfurt am Main 1993, 104. 38 Schapp, 1976, 95. 39 Die erkenntnistheoretische Abkehr vom Festen vollzieht bereits Bergson, auf den sich Michel Serres bezieht. Bei Bergson ist die Logik des menschlichen Intellektes eine „Logik des Festen“, die Realität des Lebens aber ist Zeitfluss, Dauer. Siehe Henri Bergson, Schöpferische Entwicklung, Jena 1921, 1 und 158. 40 Merleau-Ponty, 1966, 247. 41 Ebd., 276. 42 Ebd., 47. 43 Ebd., 279.

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mus“ oder ihre „Textur“ leiblich übernommen und realisiert wird.44 Die von Merleau-Ponty anvisierte Wahrnehmung in statu nascendi erweist sich als anonymes Vermögen des Leibes, der sich selbst undurchdringlich bleibt. „Ich erfahre die Empfindung“, so der französische Phänomenologe, „als Modalität einer allgemeinen Existenz, die je schon einer physischen Welt sich ausgeliefert hat, die mich durchdringt, ohne dass ich ihr Urheber wäre.“45 Intentionalität – einer der zentralen Begriffe der Phänomenologie – heißt in diesem Zusammenhang eine Aufmerksamkeit, die nicht im Subjekt ihren Ursprung hat, sondern im empfindenden Leib, der vorpersönlich und anonym agiert.46 Merleau-Ponty beschreibt das Empfinden als leibliches Sympathisieren und Sich-Synchronisieren mit den sinnlichen „Anregungen“ und „Vorschlägen“, die von den Dingen ausgehen.47 In diesem reziproken Austausch zwischen Leib und sinnlicher Umgebung „ist keine Rede davon, dass das eine wirkte, das andere litte, das eine dem anderen seinen Sinn gäbe“48. Die Unterscheidungen zwischen ‚aktiv‘ und ‚passiv‘, Empfindenden und Empfundenem greifen hier nicht mehr: Ich, der ich das Blau des Himmels betrachte, stehe nicht ihm gegenüber als weltloses Subjekt…; ich überlasse mich ihm, ich versenke mich in dieses Geheimnis, es ,denkt sich in mir‘, ich bin der Himmel selbst…, mein Bewusstsein ist verschlungen von diesem grenzenlosen Blau.

Das Bewusstsein büßt im Empfinden immer etwas von seiner freien Verfügbarkeit ein: das Ich steht nicht den Dingen gegenüber, sondern es koexistiert mit ihnen. In jedem Fall gibt es zwischen Leib und Dingen, wie Blecher sagt, „keine trennende Distanz“ (nici o despărţire).49 Blecher stellt in den Krisennarrationen, und in den Begebenheiten überhaupt, wie Merleau-Ponty das atmosphärische Empfinden als Geschehen dar, das sich zwischen Ich und Dingen, an ihren Kontaktoberflächen ereignet. Die Wechselbezüglichkeit, das Überschreiten der Innen-Außen-Grenze ist charakteristisch für die Krisen. So stellt sich der Blecherschen Ich-Figur das Rätsel der eigenen Existenz als Rätsel der Dinge. Die Unruhe, die von den Dingen ausgeht, verweist auf die Undurchdringlichkeit des eigenen Leibs, der Ich und Nicht-Ich zugleich ist. Doch, wenn man sagen kann, dass Blecher eine Urschicht des Empfindens als Krise des Subjekts und der Wahrnehmungsordnung darstellt, so sind die Krisenerscheinungen anders als die Empfindungen bei Merleau-Ponty nicht gestalthaft, sondern ten|| 44 Ebd., 249. 45 Ebd., 254. 46 Im Rückgriff auf Husserl spricht Merleau-Ponty auch von einer „fungierenden Intentionalität“ im Unterscheid zur „Intentionalität der Akte“. Ebd., 15. 47 Ebd., 251‒252. 48 Ebd., 251. 49 Blecher, 2003, 16; Blecher, 1999, 47.

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dieren ins Amorphe. Sie weisen nicht die Strukturiertheit auf, die Merleau-Ponty den Empfindungen zuschreibt, sondern beschwören figurativ – man denke an die Metapher der Welt als Hydra und der Empfindung als Fangarm einer Qualle – eine amorphe, plasmatische Existenz.50 Der empfindende Leib bildet bei Merleau-Ponty dagegen „ein durch und durch aus intersensorischen Äquivalenzen und Transpositionen bestehendes“, „synergisches System“51, in dem alle Sinne zusammenwirken, auch wenn sich ihre Integration zu einer absoluten Wahrnehmungssynthese nie vollendet. Die Einheit der Sinne, die keine ganz und gar geschlossene Totalität sein kann, wird dabei nicht von der objektiven Bewegung des Leibs geleistet. Ihr Fundament ist vielmehr der Bewegungsentwurf, der virtuelle Leib.52 Wenn nun Blechers Ich-Erzähler sagt: „Alles, was mich umgab, überfiel mich von Kopf bis Fuß, als wäre meine Haut löchrig wie ein Sieb. […] Verzweifelt musste ich feststellen, dass ich in der Welt lebte, die ich sah.“53, dann zeigt sich an dieser leiblichen Porosität des sehenden Ichs ein exzessiv synästhetische Welt- und Selbsterfahrung des Kindes. Sie unterwandert die intersensorische Einheit des Leibs, der hier noch nicht habitualisiert ist, und geht beinahe ganz in die anonyme, vorpersönliche Existenz auf.

4.3 Aporie des Empfindungsbewusstseins Die Darstellung von Empfindungen ist mit einem bewusstseins- und sprachphilosophischen Problem verbunden. Wenn das Ich derart an seine äußersten Grenzen gerät und in „die Uniformität der rohen Materie“54 (uniformitatea materiei brute) versenkt wird, so Blechers Ich-Erzähler, stellt sich die Frage, ob und wie es dann

|| 50 Es gibt freilich Differenzen auf mehreren Ebenen. Die Bedeutungslosigkeit bei Blecher steht der Sinnemphase Merleau-Pontys diametral entgegen. Die Begebenheiten werden unter dem Eindruck der erlebten Kontingenz negativ interpretiert. Ihnen haftet stets die Beliebigkeit und Willkür der Realität an. Blechers Ich-Figur steht philosophiegeschichtlich für jenes Subjekt, das sich aus den Fängen der Metaphysik befreit hat und dessen erste Reaktion es ist, den Verlust der Bedeutungen zu beklagen, während es sich zugleich an den neugewonnenen Schöpfungspotentialen berauscht. Es ist ein ewig grüblerisches Subjekt, das den Niedergang der Wahrheiten ästhetisch begeht und das zugleich an der Kontingenz irrewird. 51 Merleau-Ponty, 1966, 273‒274. 52 Das Problem der Einheit des Leibs und damit auch der Wahrnehmungssynthesen ist ein offenes Problem der Phänomenologie. Ob im virtuellen Leib alle Wahrnehmungsperspektiven einander entsprechen oder vielmehr inkompossibel sind, wird in der neueren Phänomenologie in Frage gestellt. Siehe dazu: Waldenfels, 1999, 58‒63. Bezeichnenderweise wird Merleau-Ponty in seinem Spätwerk den Leibbegriff aufgeben und stattdessen das Fleisch, chair als ontologische Kategorie begründen. 53 Blecher, 2003, 16; „Tot ce mă înconjura mă invada din cap până în picioare, ca și cum pielea mea ar fi fost ciuruită. [...]Trebuia să constat până la exasperare că trăiam în lumea pe care o vedeam.“ Blecher, 1999, 47. 54 Blecher, 2003, 17; Blecher, 1999, 48.

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noch um seiner selbst wissen kann. Im Empfinden ist eine Aporie des Bewusstseins erreicht. Manfred Sommer weist in seiner Studie zu Ernst Mach Evidenz im Augenblick. Phänomenologie der reinen Empfindung auf eine Art Gesetzmäßigkeit des Bewusstseins von Empfindungen hin.55 Laut Sommer meldet sich das Empfindungsbewusstsein zumeist dann, wenn eine Wahrnehmung die Schmerzschwelle überschreitet: „Indem die gegenstandskonstituierende Intentionalität gleichsam den Rückzug antritt“, heißt es dort, „verbleibt doch der Leib als ein Gerade-nochObjekt.“56 Die Selbstempfindung oder auch Propriozeption wird erst in der Störung der Wahrnehmung thematisch. Die Aufmerksamkeit wendet sich dann von der Umgebung ab und richtet sich nach innen, wo es tiefensensible Regungen registriert. Sommer verweist zugleich auf die sogenannte „Paradoxie der Empfindung“, dass nämlich mit wachsender Intensität, die Objektivation gefährdet ist: „[J]e mehr die Empfindung sinnlich gegeben, unmittelbar präsent, evident erlebt ist, desto weniger ist sie identifizierbar, begreifbar, benennbar, desto weniger auch von anderen noch unterscheidbar.“57 Je stärker sich die Aufmerksamkeit auf die Erregung im Körper richtet, desto weniger gelingt die objektivierende Leistung des Bewusstseins und das Ich versinkt ins Unpersönliche eines Empfindungsgeschehens, von dem es nicht mehr zu sagen vermag, ob es ein starker Schmerz oder eine intensive Lust sei. Von dieser Ambivalenz zwischen Erotik und Verletzung sind Blechers Darstellungen der Dinge gekennzeichnet. Die Sinnessensation, die als „reine Empfindung, bar aller Objektivation“ streng genommen „im Bewusstsein gar nicht vorkommen kann, ohne es zu zerstören“58, wirft also ein wahrnehmungs- und sprachphilosophisches Problem auf. Wie ist es möglich, unterschwellige Empfindungen oder solche an der Grenze zur Bewusstlosigkeit zu fassen? Sommer spricht von einem Empfindungsbewusstsein, das dann zündet, wenn die Wahrnehmung aus der schmalen Intensitätszone zwischen „Schon-ausreichend und Nicht-zu-sehr“59 in ein Zu-sehr ausschlägt. In Vernarbte Herzen und Beleuchtete Höhle werden tatsächlich starke Empfindungen wie Schmerz und Ekel dargestellt, die die Gedanken „in einer Art namenlosem Chaos“60 (un fel de haos ce nu mai are nume) stürzen können. Die Sinnessensationen der Blecherschen Ich-Figur in Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit weisen dagegen eine andere Intensitätsdynamik auf. Ihr schwindelerregender Charakter rührt nicht von einer Reizüberflutung her, wie sie etwa der großstädtische Flaneur bei Baudelaire etwa erlebt. Die Krisen werden

|| 55 Manfred Sommer, Evidenz im Augenblick. Phänomenologie der reinen Empfindung, Frankfurt am Main 1987. 56 Ebd., 91. 57 Ebd., 92. 58 Ebd. 59 Ebd., 91. 60 Blecher, 2008, 80; Blecher, 1999, 272.

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durch „besondere[ ] Atmosphäre[n]“61 (atmosferă specială) verursacht, die, vielleicht mit Ausnahme der fauligen Uferböschung, eher unterschwellig wirken. In dem atmosphärischen Dunst von Reglosigkeit, Einsamkeit und Verlassenheit, den Blecher beschwört, spielen Phänomene an der Schwelle der Wahrnehmbarkeit zusammen. Der Philosoph Gernot Böhme hat allgemein auf die „unauffällige[ ] Aufdringlichkeit“62 von Atmosphären, die langsam und leise ergreifen, aufmerksam gemacht. Blechers Erzählung umkreist diesen subliminalen und, im Gegensatz zu Böhmes Atmosphären, plötzlichen Charakter der Krisenerscheinungen. Er zeigt sich etwa an der Tücke der Krisenorte, die „unsichtbare Fallen [sind]…, in nichts von der Luft zu unterscheiden, die sie umgab“63 oder an der kaum merklichen Wiederherstellung der Alltagsordnung. Wenn man sich fragt, was in der Krise für einen Beobachter als äußeres Geschehen überhaupt wahrnehmbar wäre, dann wäre es bestenfalls der Einfall eines Sonnenstrahls durchs Fenster, der die Dinge in ein neues Licht badet, oder jener waghalsige Lauf des Protagonisten, den die Kameraden „verängstigt und verschreckt“64 vom Ufer aus verfolgen. Wie geht das fast Unmerkliche und Unsichtbare der Krise mit der Gewaltsamkeit ihrer Erscheinungen zusammen? Die Empfindungsintensität scheint in einem paradoxen Verhältnis zu der schwindenden Wahrnehmbarkeit dessen, was sie verursacht, zu stehen. Wollte man die Widersprüche, Unverhältnismäßigkeiten und Deformationen der Hypersensibilität des Protagonisten allein zuschreiben, wäre die wahrnehmungsästhetische und vor allem literarisch-erzählerische Dimension der Krisen verfehlt. Das Monströse und Disproportionierte der Krisen und anderer Vorfälle bei Blecher ist nicht vordergründig in der aisthetischen Prädisposition der Figur zu suchen, als vielmehr in dem hintergründigen Charakter der Empfindungsintensität und ihrer sprachlichen Präsentation. Blecher schreibt an Geo Bogza, dass in Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit nicht die Vorkommnisse an sich bedeutsam seien, denn das seien „Allerweltsbegebenheiten von Liebe und Tod“ (întâmplări de dragoste şi de moarte), sondern „die Art und Weise ihrer Interpretation“65 (modul de a le interpreta). Das kann man so verstehen, dass die Bedeutsamkeit der Krisen als paradigmatische Fälle einer „wahreren Realität“66 (o realitate mai adevărată) erst

|| 61 Blecher, 2003, 10; Blecher, 1999, 44. 62 Mit der Begründung der Atmosphäre als ästhetischen Begriff geht es Böhme um eine Kritik an der manipulativen Praxis der Erschaffung und Instrumentalisierung von Atmosphären durch Ökonomie und Politik. Gerade die Unauffälligkeit ihrer Wirkungsweise macht die Atmosphäre zum bevorzugten Instrument der Manipulation von Stimmungen. Böhme, 1995, 47. 63 Blecher, 2003, 9‒10; „capcane invizibile, [...] întru nimic deosebite de aerul ce le înconjura“, Blecher, 1999, 44. 64 Blecher, 2003, 12; „Tovarășii mei priveau îspăimântați goana mea nebună.“ Blecher, 1999, 45. 65 M. Blechers Brief an Geo und Elly Bogza vom 3. Januar 1936 in: Lascu, 2000, 96‒97. Meine Übersetzung. 66 Blecher, 2003, 45; Blecher, 1999, 63.

Erotik der Wahrnehmung. M. Blechers literarische Phänomenologie des Empfindens | 75

durch die narrative ‚Interpretation‘ erscheint, d. h. sie wird erst in der literarischen Darstellung realisiert. Pointiert gesagt, gibt es die wahrere Realität jenseits des Schreibens nicht. Die Besonderheit der Prosa Blechers liegt darin, dass sie tiefensensible Empfindungen sprachlich gegenwärtig macht, die vorbewusst und unterschwellig erfahren werden. Es verhält sich mit dem Empfindungsbewusstsein bei Blecher wie mit dem Geist des vom Geschmack der Madeleine Beglückten bei Proust: „[L]’esprit se sent dépassé par lui-même; quand lui, le chercheur, est tout ensemble le pays obscur où il doit chercher et où tout son bagage ne lui sera de rien. Chercher? Pas seulement: créer.“67 Auf ähnliche Weise liegt die Leistung der Erinnerungsprosa Blechers in der erinnernden Vergegenständlichung und sprachlichen Realisierung intensiver Empfindungen, die mehr erzeugt und anderes ist als das, was sie zum Ausgangspunkt nimmt. Erinnern bedeutet hier wie bei Proust nicht nur ein Suchen und Wiederfinden, sondern ein Schöpfen, nicht nur Vergegenwärtigung, sondern überhaupt erst ein Gegenwärtig Machen. Phänomenologisch gesprochen ist Blechers Wahrnehmungsimagination vornehmlich eine, die die hintergründige oder, wie es bei Merleau-Ponty heißt, „vermögliche“68 Leiblichkeit und Haptik visueller Erinnerungen realisiert und thematisch macht. Gegenstände, die nicht wirklich berührt worden sind, werden in der Erinnerung berührt. Dies ist kein willkürliches Imaginieren, sondern ein Aufzeigen der diskreten, halb- oder vorbewussten Teilnahme des Leibs an der Wahrnehmung. Insofern ist die enthäutete und lebendige Welt, die sich in den Darstellungen Blechers zeigt, keine idiosynkratische Phantasie oder anthropomorphe Projektion, sondern Erscheinung einer Wirklichkeit jenseits der objektiven Realität, die Ereignis oder Werden ist.

4.4 Erotik der Wahrnehmung. M. Blechers literarische Phänomenologie des Empfindens Herta Müller hat den spürenden Blick bei Blecher, dem sich die Dinge verfleischlicht zeigen, als „Erotik der Wahrnehmung“69 bezeichnet: „In seinen Beobachtungen [des Protagonisten] lädt sich jede Umgebung mit einer Erotik auf, wie sie sonst nur zwischen Haut und Haut möglich ist.“70 Es geht nicht allein um Fetischisierungen der Dinge wie jenes Streifens schwarzer Seide, die der Protagonist gegen Bezahlung in einem abgelegenen Zimmer berühren darf, oder des Zigeunerrings, der ein „wahrer sexueller Aufschrei“71 (un adevărat ţipăt sexual) ist. Dargestellt wird eine elementare || 67 Marcel Proust, Du côté de chez Swann (1913), Paris 1988, 45. 68 Merleau-Ponty, 1966, 367. 69 Siehe Hertha Müllers Nachwort in Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit, Blecher, 2003, 146. 70 Ebd., 145. 71 Blecher, 2003, 52; Blecher, 1999, 67.

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Erotik des Sehens als Sinnessensation, wie sie die Phänomenologie aufgedeckt hat: der Leib wird berührt, mitgerissen und bewegt durch das, was ins Auge fällt. Bei Merleau-Ponty „sympathisiert“72 das empfindende Subjekt mit den Farbqualitäten, ganz gleich, ob sie „Konkretionen von Frieden oder Gewalt“73 sind. Im Leib „geht jede visuelle Erfahrung z. B. mit einer auditiven [oder taktilen] schwanger“74, die Farbe „lehnt sich“ an den Blick „an“ und der Blick „paart sich“ mit ihr75. Jede Wahrnehmung ist „gleich einer Paarung unseres Leibe [sic] mit den Dingen“76. Die Krisen der Ich-Figur Blechers sind von der gleichen Ambivalenz zwischen lustvollem und verletzendem Kontakt mit der Welt gekennzeichnet.77 Die Welt rückt dem Ich auf den Leib, überfällt ihn von Kopf bis Fuß; umgekehrt wird dem Blick die Härte eines materiellen Kontakts zugeschrieben, bei dem die Oberflächen abgetragen und verbraucht werden: „Das Gewöhnlichste und Bekannteste an den Dingen verwirrte mich am meisten. Die Gewohnheit, sie oft und immer wieder zu sehen, endete vermutlich damit, dass ihre Außenhaut sich verbrauchte, und so erschienen sie mir mitunter bis aufs Blut enthäutet: unsagbar lebendig“.78 Dieser unmittelbare Bezug zu den Dingen, den Merleau-Ponty „Koexistenz“79 nennt, kennt keine Unterscheidung zwischen Totem und Lebendigem. Diese Differenz gehört der sekundären Ordnung der konstituierten Wirklichkeit an. Die Darstellung visueller Eindrücke überschreitet diese Grenze, ebenso wie sie die Grenze zwischen Festem und Klar Konturiertem und Fließendem überschreitet. Blechers literarische Phänomenologie der Empfindungen stellt eine Welt im Übergang der Formen und Stoffe dar. Eine entscheidende Differenz zur frühen Phänomenologie Merleau-Pontys ist die Unterwanderung der offenen Einheit des Leibes in der Empfindungsintensität. Bei einem Spaziergang an einem verregneten Herbsttag beispielsweise erscheint der Gemüsemarkt als aufgeweichte, zerfließende Landschaft aus Pflanzenabfällen und Schlamm: „Aus den riesigen Gemüsehaufen auf dem Markt flossen in getrennten [despletite] Rinnsalen Wasser und Schlamm. Im Anschnitt der Rüben erschien plötzlich das dunkelrote Blut der Erde.“80 Das Gemisch der Elemente wandelt sich,

|| 72 Merleau-Pony, 1966, 251. 73 Ebd., 248‒49. 74 Ebd., 275. 75 Ebd., 251. 76 Ebd., 370. 77 Vergleiche dazu den erkenntnistheoretischen Topos der Haut und des Gewebes als sensorium commune bei Serres, 1993, 88 und 103‒104. 78 Blecher, 2003, 14; „Ceea ce era mai comun și mai cunoscut în obiecte aceea mă turbura mai mult. Obișnuința de a le vedea de atâtea ori isprăvise probabil prin a le uza pielița exterioară și astfel ele îmi apăreau din când în când jupuite până la sânge: vii, nespus de vii.“ Blecher, 1999, 47. 79 Merleau-Ponty, 1966, 251. 80 Blecher, 2003, 101‒102; „În piață, apa și noroiul curgeau despletite din mormane enorme de zarzavat. În tăietura sfeclelor apărea deodată sângele roșu și întunecat al pământului.“ Blecher, 1999, 93.

Erotik der Wahrnehmung. M. Blechers literarische Phänomenologie des Empfindens | 77

im Inneren der Rüben zeigt es sich mit einem Mal organisch und vital als „Blut der Erde“. Man kann die Metapher als Figur einer visuellen Ähnlichkeit lesen: Der rote Saft der Rüben verfärbt den Schlamm und lässt ihn wie Blut ausschauen. Emphatisch gelesen ist das „Blut der Erde“ aber auch eine Realität des Sehempfindens. Das „Blut der Erde“ ist, wie Merleau-Ponty über den Leib sagt, die „gemeinsame Textur“81 desjenigen, der empfindet und dessen, was empfunden wird. Der Anblick der Abfälle auf dem Markt erregt den Betrachter leiblich, als „Blut der Erde“ erspürt er, was er sieht oder übernimmt leiblich den Rhythmus dessen, was er sieht. Dass hier eine Sehempfindung figuriert wird, bei der auch die Haut und das Fleisch Organe des Sehens sind, signalisiert die adverbial eröffnete Ordnung jähen Erscheinens: „im Anschnitt der Rüben erschien plötzlich“. Die Betrachtung entdeckt im Detail zunehmend Verletzungen oder Verletzungsgefahren: im „Haufen abgeschnittener und aufgebauschter Krautköpfe“, in den „aufgeblasenen, scheußlichen Kürbisse[n], die […] vollends aus ihrer Haut zu platzen drohten.“82 Bezeichnenderweise führt die Passage eine Entgrenzungserfahrung der Ich-Figur auf dem Schlammfeld ein, wo sich ihm der Schlamm schließlich als sein „wahres Fleisch“83 (carnea mea autentică) zeigt. Die Ununterscheidbarkeit von Empfindendem und Empfundenem wird in der Berührung mit dem Schlamm erreicht, sie bedarf aber nicht immer der taktilen Dimension, wie das Beispiel der Krise im fremden Zimmer zeigt. Solche Darstellungen provinzieller Orte wie des Gemüsemarktes erinnern an das Kindheitsbuch von Bruno Schulz Die Zimtläden, etwa an die spätsommerliche Gartenlandschaft mit dem wild überwucherten Abfallhaufen, wo der August mit der schwachsinnigen Tłuja „seine große heidnische Orgie feierte“84: Auf diesen Gartenschultern war die liederliche weibische Üppigkeit des August bis in die stillen Klüfte der mächtigen Kletten ausgeufert und hatte sich mit haarigen Blattblechen und wuchernden Zungen fleischigen Grüns breitgemacht. Dort sperrten die wulstigen Klettenungetüme ihre Glotzaugen auf, wie breit hingehockte, von den eigenen, wahnsinnig gewordenen Röcken halb aufgefressene Weibsbilder.85

Schulzʼ Imaginationen ist anthropomorphisierend und mythologisierend. Überall in der Gartenlandschaft entdeckt das fantasierende Auge eine alles überwuchernde Sexualität, die menschliche und göttliche Züge annimmt. Es entdeckt das physiognomische Detail: „Gartenschultern“, „haarige Blattbleche“, „wuchernde Zungen“, „fleischiges Grün“. In der Gestalt der sich monströs ausbreitenden Kletten zeichnen sich medusenähnliche Figuren mit vor Schrecken geweiteten „Glotzaugen“ ab, die || 81 Merleau-Ponty, 1966, 275. 82 Blecher, 2003, 102; „capete tăiate ale verzelor înfoiate“; „bostani[...] umflați și hidoși, plesnind din toată coaja lor întinsă“, Blecher, 1999, 93. 83 Blecher, 2003, 104; Blecher, 1999, 94. 84 Bruno Schulz, Die Zimtläden, München 2008, 15. 85 Ebd., 14‒15.

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sich selbst verzehren. Die mit dem Unkraut eins gewordene Dorfidiotin Tłuja erscheint vergöttlicht. Sie „steht da wie eine heidnische Gottheit auf kurzen Kinderbeinen“86 und vergeht sich orgiastisch an „den Stamm des Holunders, der unter der Zudringlichkeit dieser hemmungslosen Entflammtheit leise knarrt.“87 Vor dem Hintergrund dieser synkretistisch-mythischen Arabeske88 der kindlichen Welt bei Schulz mit ihrer animierten Natur zeichnet sich Blechers feinsensorische und deskriptive Wahrnehmungsimagination deutlicher ab. Am Beispiel in der Kunstwerkstatt zeigt sich, wie obsessiv die Erzählung Blechers die Haut und Wunde zum Erscheinen bringt und sie der visuellen Erinnerung entlockt. Die Betrachtung fängt die Kunstgegenstände im Entstehen ein: „Im Atelier waren Tausende weißer und glatter Gegenstände inmitten der gekräuselten Späne, die aus dem Hobel fielen und den Raum mit ihrem steifen, nach Harz duftenden Schaum füllten.“89 Über die Gestaltanalogie mit dem Hobeln, bei dem feine Holzschichten und Späne abgetragen werden, drängt sich bereits das Bild der Enthäutung auf. Es wird zudem auf höchst merkwürdige Weise phonetisch aufgerufen. Blecher gebraucht die ungewöhnliche, regionale Variante des Wortes für „Späne“, juluituri statt des Standardsprachlichen geluituri, von a gelui, hobeln.90 Im Regionalismus klingen die Lexeme jupuituri, „Enthäutungen“ und julituri, „Aufschürfungen“ an, die sich über graphematische Minimaldifferenzen ergeben. Die zunächst suggestiv aufgerufene Körperlichkeit wird im nächsten Satz durch eine Vergleichsfigur expliziert: „Das Holzstück unter dem Werkzeug wurde immer [feiner], immer blasser, während seine Äderchen klar und genau eingeschrieben wie unter einer Frauenhaut erschienen.“91 Die Erotik der Wahrnehmung besteht darin die Körperlichkeit des einst Gesehenen narrativ zu realisieren: die Altersringe im Holz zeigen sich als „Äderchen“, die nicht nur „wie unter einer Frauenhaut“, sondern auch wie das Wort auf dem Papier, nämlich „klar und genau eingeschrieben“ erscheinen. Die Erotik der Dinge setzt sich in der Beschreibung von Berührungsempfindungen fort, die noch einmal die Haut erscheinen lässt, bevor die Aufmerksamkeit in den gemeißelten und gemalten Formen „erhabene Ekzeme mit gezackten Eiterbeulen“ und || 86 Ebd., 17. 87 Ebd. 88 Zur mythologischen Dimension bei Schulz siehe Renate Lachmann, „Die Ambivalenz zwischen heterodoxem Ludismus und soteriologischer Mythopoetik in den Texten von Bruno Schulz“ in: Wiener Slawistischer Almanach, Sonderband 41, Wien 1996, 307‒327. und Renate Lachmann, „Dezentrierte Bilder: Die ekstatische Imagination in Bruno Schulzʻ Prosa“ in: Psychopoetik. Wiener Slawistischer Almanach, Sonderband 31, Wien 1992, 439‒461. 89 Blecher, 2003, 90; „Erau în atelier mii de lucruri albe și netede, în mijlocul juluiturilor bucălate ce cădeau din rândea și umpleau odaia cu spuma lor rigidă, mirosind a rășină.“ Blecher, 1999, 87. 90 Den Hinweis auf den Regionalismus verdanke ich Doris Mironescu. 91 Blecher, 2003, 90. Meine Übersetzung in Klammern; „Bucata de lemn sub unealtă se făcea mai fină, mai palidă, iar vinișoarele ei apăreau limpezi și bine scrise, ca sub o piele de femeie.“ Blecher, 1999, 87.

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„Ausschlag“, Wunden und Ekstasen der Materie entdeckt.92 Auch hier inkarniert sich der Erzählblick in den Dingen und Stoffen. Die Passage ist übersät mit dynamischen und übergänglichen Anblicken und durchzogen von schwindelerregender Haptik: die Vielfältigkeit der berührten Dinge ist von betäubender Berührungsintensität; als der Protagonist ein Stück Holz bearbeitet, verliert er bezeichnenderweise das Bewusstsein. Die Erotik der Wahrnehmung verbindet sich hier mit einer morphologischen Perspektive auf die Materie, die die Form als Erstarrung, den dynamischen Formenwandel als Wuchern der Materie wahrnimmt. So versucht der Protagonist genau jenen „Augenblick zu erhaschen, wenn das zerklüftete Holzstück zu einer verholzten Rose zerf[ällt]“93. Verfolgt wird ein metamorphotischer Übergang vom Naturstoff zum Artefakt. Der Übergang zwischen den beiden Dingen ist aber nicht eine Zeitschwelle, sondern eine Dauer, die undurchdringlich bleibt. Zwischen den beiden Wahrnehmungen gähnen ein „tiefer Schlaf“94 (un somn adânc) und das Bedauern, vielleicht über die Unumkehrbarkeit des Wandels. Die Schöpfung kann nur als qualitativer Sprung von einer Form zur anderen wahrgenommen werden. In der Berührungsempfindung ist zudem oft eine Grenze des Bewusstseins und der Sagbarkeit erreicht. Von der taktilen Empfindung ist, mit Ausnahme des Rausches auf dem Schlammfeld, auf das ich noch zu sprechen komme, nur noch das Wissen da, dass sie sich ereignet hat. Das Wie ist allerdings nur noch als Tiefschlaf und Ohnmacht darstellbar oder aber es wird ganz ausgespart. So kommt in der Bearbeitung des Holzstückes unter dem Hobel „etwas Glattes, Gleitendes hervor, wie ein Ohnmachtsanfall“95. Ähnlich bleibt auch jenes zwielichtige und heimliche Vergnügen, das sich der Protagonist durch die Berührung eines Streifens schwarzer Seide gegen Bezahlung verschafft, unqualifiziert und „stumm“96 (mut de stupefacţie şi de plăcere). In einer anderen Miniatur kommt das Fleisch schließlich nicht nur als Figur der Sehempfindung, sondern als Motiv vor. Auch diese Episode ereignet sich auf dem Marktplatz an einem Morgen, als „die Menschen Fleisch […] für die Marktbuden der Metzger“97 abladen. Die Darstellung ist ästhetisierend: Hoch und erhaben wie tote Prinzessinnen trugen sie [die Menschen] die blutfeuchten, roten und lilafarbenen Rinderhälften auf den Armen. In der Luft lag ein warmer Geruch nach Fleisch und Urin; die Metzger hängten jedes Rind mit dem Kopf nach unten auf, die runden und

|| 92 Blecher, 2003, 91.; „eczeme sublime cu supurații dantelate“, Blecher, 1999, 87. 93 Blecher, 2003, 91; „a surprinde momentul când bucata de lemn zdrențăroasă și umedă expira într-un trandafir înlemnit“, Blecher, 1999, 87. 94 Blecher, 2003, 91; Blecher, 1999, 88. 95 Blecher, 2003, 91; „de sub rândea ieșea deodată ceva lunecos ca un leșin“, Blecher, 1999, 87. 96 Blecher, 2003, 52; Blecher, 1999, 66. 97 Blecher, 2003, 81; „oamenii descărcau carne pentru barăcile măcelarilor“, Blecher, 1999, 81.

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schwarzen Augen [privirile, Blicke] auf den Fußboden gerichtet. Nun waren sie wie rote Skulpturen, die man ins variantenreichste und zerbrechlichste Material [materie, Materie] geschnitten hatte; an den porzellanweißen Wänden aufgereiht, hatten sie den wäßrigen und irisierenden Glanz von Seide und die trübe Klarheit der Gelatine. Am Rande des offenen Bauches hingen der Kranz aus Muskeln [dantela muşchilor, die Spitze der Muskeln] und die schwere[n] Kette[n] der Fettperlen. Die Metzger steckten ihre roten Hände hinein und holten wertvolle Innereien heraus, die sie auf den Tisch legten: Dinge [obiecte, Gegenstände] aus Fleisch und Blut; rund, breit, elastisch und warm. Das frische Fleisch leuchtete samtig wie die Blütenblätter von monströsen und hypertrophen Rosen.98

Die Deskription verdinglicht und ästhetisiert das geschlachtete Tier. Wenn der Vergleich der auf Armen getragenen Rinderhälften mit „toten Prinzessinnen“ die märchenhafte Unwahrscheinlichkeit des Umgangs mit dem Tier aufzeigt, das geschlachtet zur zarten Kostbarkeit wird, so werden die Tierteile durch die Geste des Aufhängens in eine Stellung zeughafter „Zuhandenheit“ gebracht99. Sie fällt hier in eins mit der ästhetischen Einstellung schlechthin. Die aufgehängten Rinderhälften rufen die Vorstellung des Kunstwerks im Atelier oder des musealen Schaustücks auf, ferner auch das Schreckensbild des Erhängten (später lexikalisch durch das Verb a spânzura, aufhängen, erhängen hervorgerufen). In dieser Anordnung erscheinen die geöffneten Tierkörper „wie rote Skulpturen“, filigrane und komplexe Kunstwerke einer schöpferischen Natur. Der Vergleich initiiert eine bestimmte Art des Schauens, das in den Eigenschaften der Fleischmaterie Affinitäten mit Kunststoffen: der Seide, der Gelatine ersinnt. Dieses qualifizierende Sehen ist ein phänomenologisches Sehen, insofern es sich auf die Eigenschaften der Sachen richtet. Doch, während die phänomenologischen Deskriptionen letzten Endes auf die Invarianz und Form des Dinges ausgehen, stellt Blecher die Welt in qualitativer Mannigfaltigkeit dar. Die Betrachtung gewinnt den Innereien einerseits dekorative Formen ab, setzt andererseits am offenen Saum der Dinge, wo sie ineinanderfließen, an und vollzieht qualitative Übergänge zwischen Natur- und Kunststoffen. Hier zeigt sich auch der ästhetisch transgressive Charakter der Figuren Blechers, die den Geschmack provozieren und ästhetische Klischees deformieren. So rückt der Vergleich mit der Rose das Fleisch in eine ästhetische Perspektive, während im gleichen Zuge die Rose selbst, das verkitschte Emblem der Schönheit

|| 98 Blecher, 2003, 81‒82; „Duceau în brațe jumătăți de vite roșii și vinete, umede de sânge, înalte și superbe ca niște prințese moarte. În aer mirosea cald a carne și urină; măcelarii atârnau fiecare vită cu capul în jos, cu privirile globuloase și negre îndreptate spre podea. Ele se înșirau acum pe pereții albi de porțelan ca niște sculpturi roșii tăiate în cea mai variată și fragedă materie, cu reflexul adipos și irizat al mătăsurilor și limpeziciunea turbure a gelatinei. În marginea burții deschise spânzura dantela mușchilor și șiragurile grele ale mărgelelor de grăsime. Măcelarii băgau mâinile lor roșii înăuntru și scoteau măruntaie de preț pe care le așezau pe masă: obiecte de carne și sânge rotunde, late, elastice și calde. Carnea proaspătă strălucea catifelată ca petalele unor trandafiri monstruoși, hipertrofiați.“ Blecher, 1999, 81‒82. 99 Heidegger, 2006, 66‒83.

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schlechthin, ins Monströse und Hypertrophe verzerrt wird. Ein ähnlicher Vergleich mit noch größerer Schockwirkung ist in dem Sanatoriumsroman Vernarbte Herzen Celinas Täuschung, die das amputierte Bein ihres Pfleglings für einen „wunderbare[n] Rosenstrauß“100 hält, oder die verstörend kraftvolle Kette von Komparationen in Beleuchtete Höhle, wo die eigene Bauchwunde mit einem „Stück Fleisch aus der Metzgerei“ und der Vagina einer Stute verglichen wird, die wiederum selbst „wie eine exotische Blüte mit dicken rosaförmigen Blütenblättern“ aussieht.101

4.5 Empfindungsintensität bei Henri Bergson In der Art wie Blecher die Dingwelt im Übergang und Artefakte als Fortsetzung und Überbietung der Formenschöpfungen der Materie darstellt, sind Spuren der vitalistischen Philosophie Henri Bergsons erkennbar: „Die Form“, hatte Blecher in Bergsons Schöpferische Entwicklung lesen können, „ist nur eine von einem Sich-Wandeln genommene Momentaufnahme“.102 Bergsons Philosophie ist in der rumänischen Literatur im Zusammenhang mit Marcel Prousts Werk À la recherche du temps perdu rezipiert worden. Beispielhaft ist das Essay Noua structură şi opera lui Marcel Proust (Die neue Struktur und das Werk Marcel Prousts) des rumänischen Dramatikers und Prosaautors Camil Petrescu, das 1935 in der Zeitschrift der Königlichen Stiftungen erscheint.103 In dieser poetologischen Programmschrift des rumänischen Modernismus fordert Petrescu den strukturellen Anschluss der Literatur an die Bewusstseinsphilosophien Bergsons und Husserls, die er als „vitalistische Reaktion“104 (reacţiune vitalistă) gegen den Positivismus und Materialismus deutet: Es ist eine Rückkehr zu den Wurzeln und den Rätseln des Lebens selbst […]. Die Aufmerksamkeit des Denkers richtet sich nicht mehr auf die Kausalität, die mathematisch ausgedrückt wird, sondern auf die organische Morphologie, den Instinkt, das Unbewusste, das Unsagbare, auf die Einzigartigkeit des vitalen Phänomens. […] Immer stärker wird in der Erkenntnis die Intuition betont, bei gewisser Vernachlässigung des Intellektes.105

|| 100 Blecher, 2006, 207; „un magnific buchet de trandafiri“, Blecher, 1999, 226. Körperbilder von ähnlicher Schockwirkung finden sich bei Gottfried Benn, in den Gedichten „Fleisch“ oder „Kleine Aster“ etwa, aus dem Gedichtband Morgue (1912). Gottfried Benn, Sämtliche Werke, Bd. 1, Gerhard Schuster (Hrsg.), Stuttgart 1986, 11 und 28‒29. 101 Blecher, 2008, 82; „ca o bucată de carne de măcelărie“, „o vulvă roșie și superbă ca o floare exotică cu petalele trandafirii și groase“, Blecher, 1999, 271. 102 Bergson, 1921, 306. 103 Camil Petrescu, „Noua structură şi opera lui Marcel Proust“ in: Camil Petrescu, Teze şi antiteze, Bukarest 1971, 3‒37. 104 Ebd., 10. Meine Übersetzung. 105 „E o întoarcere spre rădăcinile și misterele vieții însăși […]. Atenția cugetătorului nu mai e orientată spre cauzalitate exprimată matematic, ci spre morfologia organică, spre instinct, spre

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Nur die literarische Umsetzung dieser neuen Wissensstruktur kann nach Ansicht Petrescus der Literatur aus der Sackgasse des Realismus herausverhelfen. Insbesondere der auktorial erzählte Roman steht bei ihm in der Kritik. Ein Autor, der die Gedanken- und Innenwelten seiner Gestalten zeichne, gäbe vor, diese zu kennen. Er mache einen „Vorschlag von Wirklichkeit“106 (propunere de realitate). Dagegen gelte es erzählerisch die „ursprüngliche Wirklichkeit“107 (realitatea originară) darzustellen, so wie sie sich im Bewusstseinsfluss konstituiere. Camil Petrescu entwirft in seinem philosophisch-literarischen Essay das Programm eines neuen Realismus, den er mit einem Gebot der Authentizität verbindet: Nur das zu beschreiben, was ich selbst sehe, was ich selbst höre, was meine Sinne wahrnehmen, was ich denke […]. Das ist die einzige Wirklichkeit, die ich zu erzählen vermag […]. Doch sie ist die Wirklichkeit meines Bewusstseins, mein psychologischer Inhalt. Aus mir selbst kann ich nicht heraus. […] Ich kann nur meine eigenen Empfindungen, meine eigenen Bilder beschreiben. Aufrichtig reden kann ich nur in der ersten Person.108

Das „aufrichtige Reden“ in der ersten Person trage der neuen epistemologischen Struktur Rechnung. Petrescu betont die psychologische Dimension der neuen an Bergson und Husserl geschulten Bewusstseinsprosa, während bei Blecher das psychologische Subjekt im Empfinden entäußert wird. Nicolae Balotă hat früh darauf aufmerksam gemacht, dass Blechers Vokabular der Introspektion und der psychologischen Analyse, auf den ersten Seiten von Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit etwa, irreführend ist. Der Charakter der dargestellten Erlebnisse sei kein psychologischer, sondern ein ontologischer.109 Blecher thematisiert Intensitäten der Empfindung, die dem objektivierenden Wahrnehmungsbewusstsein entgehen, Augenblicke, in denen der Körper als Medium und Organ der Wahrnehmung einerseits auffällig wird, andererseits als leibliche Struktur unterwandert wird. Blechers Prosa führt auf eigene Weise einen ästhetischen Dialog mit der Philosophie Bergsons. Von Blechers Auseinandersetzung mit dem französischen Philosophen zeugt der Artikel Exegeza câtorva teme comune (Kommentar zu einigen allgemeinen Themen), den er 1936 in der Zeitschrift Azi publiziert.110 Er geht dort auf einige Passagen aus Schöpfe-

|| inconștient, spre inefabil, spre unicitatea fenomenului vital. [...] Tot mai mult accentul cade în cunoaștere pe intuiție, cu oarecare neglijare a intelectului…“ Ebd., 10‒11. Meine Übersetzung. 106 Ebd., 27. Meine Übersetzung. 107 Ebd. Meine Übersetzung. 108 „Să nu descriu decât ceea ce văd, ceea ce aud, ceea ce înregistrează simțurile mele, ceea ce gândesc eu. Aceasta-i singura realitate pe care o pot povesti. Dar aceasta-i realitatea conștiinței mele, conținutul meu psihologic. Din mine însumi, eu nu pot ieși. Orice ș face eu nu pot descrie decât propriile mele senzații, propriile mele imagini. Eu nu pot vorbi onest decât la persoana întâi.“ Ebd. Meine Übersetzung. 109 Balotă, 1974, 157‒158. 110 Blecher, „Exegeza“ in: Blecher, 1999, 379‒384.

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rische Entwicklung kritisch ein, nicht aber auf Bergsons erste Schrift, Zeit und Freiheit. Eine Abhandlung über die unmittelbaren Bewusstseinstatsachen111 von 1889. Dabei sind es gerade die dort entwickelten Konzepte der qualitativen Empfindungsintensität als unmittelbare Gegebenheit und der Zwiespältigkeit des Ichs, die für Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit bedeutsam sind. In Zeit und Freiheit setzt sich Bergson mit der Psychologie seiner Zeit und mit der Psychophysik Gustav Theodor Fechners kritisch auseinander. Er wendet sich gegen eine verräumlichte Auffassung von Intensität als „zusammengepresstem Raum“112. Grundsätzlich geht Bergson davon aus, dass Denken und Sprache räumlich organisiert seien und Diskontinuität in die an sich fließende Erfahrung hineinbrächten: „Das Bewusstsein steht im Zwange eines unersättlichen Unterscheidungsbedürfnisses, und substituiert daher der Wirklichkeit ihr Symbol oder apperzipiert die Wirklichkeit nur durch das Symbol.“113 Es reiße die Komplexität der lebendigen Erfahrung immerzu auseinander, fixiere sie in Worte und Namen und projiziere diese in ein räumliches Nebeneinander oder ein raum-zeitliches Nacheinander. Den Verstand „widert das Fließende, und er bringt zur Erstarrung, was er berührt.“114 Eine ähnliche Kritik an formelhaft abstrahierenden Wahrnehmungsautomatismen formuliert auch der Literaturwissenschaftler Viktor Šklovskij, der allerdings anders als der sprachskeptische Bergson der poetischen Sprache das Vermögen zur ästhetischen Entautomatisierung der Wahrnehmung zuspricht.115 Mit Bezug auf Empfindungen verweist Bergson auf die Denkgewohnheit, sich Intensität als Anwachsen einer sich selbst stets gleichbleibenden Anstrengung an einem Punkt vorzustellen116: Man beobachte sorgfältig einen Menschen, der immer schwerere Gewichte hebt: die Muskelkontraktion greift allmählich auf den gesamten Körper über; die besondere Empfindung aber, die im Arm wahrgenommen wird, der Arbeit leistet, bleibt lange Zeit konstant, und ändert sich nur qualitativ, indem die Schwere in einem gewissen Zeitpunkt zur Müdigkeit und diese zum Schmerz wird. Trotzdem wird der Ausübende sich einbilden, das Bewusstsein seines stetigen Anwachsens der psychischen Kraft zu haben, die dem Arm zufließt. Er wird seinen Irrtum erst erkennen, wenn er darauf aufmerksam gemacht wird, so sehr ist er geneigt, einen gegebenen psychologischen Zustand nach den ihn begleitenden bewussten Bewegungen zu messen!117

|| 111 Henri Bergson, Essai sur les données immédiates de la conscience (1889), Genf 1945 sowie Henri Bergson, Zeit und Freiheit. Eine Abhandlung über die unmittelbaren Bewusstseinstatsachen, Jena 1911. 112 Bergson, 1911, 4. 113 Ebd., 100. 114 Bergson, 1921, 52. 115 Šklovski, 1966, 14. 116 Siehe dazu auch Matthias Vollet, Die Wurzel unserer Wirklichkeit. Problem und Begriff des Möglichen bei Henri Bergson, München 2007, 44‒58. 117 Bergson, 1911, 21.

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Bergson will mit solchen Beispielen kinästhetischer Empfindungen die Existenz rein psychischer Kräfte, die der Bewegung vorausgehen und die Stärke oder Intensität der Empfindung beeinflussen, widerlegen. Wille und Geist, die „wie die Winde in der Höhle des Äolus [in der Seele eingesperrt], auf den Augenblick warten, wo sie hervorbrechen können“118, gebe es nicht. Der Kraftaufwand des Athleten wäre mit anderen Worten nicht auf eine sensationell gesteigerte Willensanstrengung zurückzuführen, die sich am Ort des bewussten Körpereinsatzes, im Arm konzentriere, sondern auf eine zunehmend komplexe, sympathetische Partizipation des Leibs am Heben. Pointiert gesagt, besteht das Sensationelle am Gewichtheben nicht in einer außergewöhnlichen Willens- oder Armstärke, sondern in der Kunst, alle Körperkräfte in den Arm zu kanalisieren, den Körper auf eine gewisse Weise anzuspannen. Bergsons Argument ist, dass der Kraftathlet die steigende Intensität als Zuwachs der Lastempfindung im Arm bewusst wahrnimmt, dass aber unbewusst zunehmend mehr Körperpartien durch den Arbeitsaufwand in Anspruch genommen werden. Das „scheinbare Bewusstsein von einer höheren Intensität der Anstrengung an einem gegebenen Punkte“119 geht nach Bergson auf die propriozeptive Wahrnehmung mitaffizierter Organe und Körperpartien zurück, die sich kaum jemals bewusst und distinktiv, sondern verworren ereignet. Etwas wird also als intensiv erfahren, wenn ein großer Teil des Organismus spontanen Anteil daran nimmt. Zugleich bedeute das Um-Sich-Greifen der Empfindung ihr qualitatives Fortschreiten. Die Empfindung der Schwere sei beim Kraftathleten, betont Bergson, nicht immer dieselbe: die Schwere würde zu Müdigkeit, dann zu Schmerz. Ebenso geht der Geruch der Samenschalen in der Krise, sobald er aufgenommen wird, in einen qualitativ anderen über: er spaltet sich zunächst zu „Fäulnisgeruch“ und „Duft von gerösteten Haselnüssen“, um sich dann zur „Ohnmacht“ und „Krise“ zu steigern.120 Sinnliche Eindrücke verändern sich nach Bergsons Auffassung kontinuierlich. Sie sind niemals dieselben. Am Beispiel der Schmerz- und Lustempfindung zeigt Bergson auf, wie man die Intensität einer Empfindung nach dem Interesse „taxiere“ (aus dem Lateinischen prüfend abtasten), „das ein mehr oder weniger großer Teil des Organismus daran zu nehmen sich veranlasst sieht“121, während das Denken ein diskretes Bild von der Intensität als skalierbaren Zuwachs von Energieaufwand an einem Punkt entwirft. Eine so verstandene Empfindungsintensität als „qualitatives Fortschreiten“ und „verworren wahrgenommene wachsende Komplexität“122 verhält sich nicht proportional zur Kraft der äußeren Einwirkung. So kann im Sinne Bergsons eine Atmo|| 118 Ebd., 17. 119 Ebd., 20. 120 Blecher, 2003, 12; „mirosul [...] descompunerii“; „parfumul [...] de alune prăjite“; „leșin“, „criză“, Blecher, 1999, 45. 121 Bergson, 1911, 29. 122 Ebd.

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sphäre intensiver empfunden werden als ein Stich oder ein Schlag, da sie schleichend unter die Haut geht und den gesamten Körper ergreift. Ebenso kann ein leises und undeutliches Geräusch im Dunkel der Nacht, den klar zu vernehmen man sich mit wachsender Konzentration bemüht, eine intensivere Klangerfahrung bereiten als ein Ton, den man gut hört, ohne die Ohren spitzen zu müssen. Wenn also bei Blecher ein kaum merklicher Dunst eine Katastrophe herbeizuführen vermag, so deshalb, weil er zunehmend mehr vom Körperinneren ergreift und qualitativ fortschreitet, ohne dass dies in der Erfahrung bewusst wahrgenommen werden könnte. Die Darstellung der Krisen bringt, insbesondere durch die Vergleichsfiguren und Metaphern, die das Körperinnere obsessiv beschwören, im Sinne Bergsons die verworrene Komplexität der Empfindung zu Bewusstsein. Auf den ersten Blick mag Bergsons Modell der unmittelbaren Empfindungsintensität selbst verräumlichend anmuten. Denn wie soll man sich das „allmähliche Umsichgreifen“123 der Empfindung, ihr Eindringen in und Strömen durch den Körper, anders als extensiv vorstellen? Um zu verstehen, wie die empfundene Intensität unmittelbar wirkt, muss man sich den spezifischen Zeitmodus ihrer Erfahrung vergegenwärtigen: Das ist die Dauer (durée). Dauer bezeichnet bei Bergson die gelebte, reale Zeit: „Wir denken die reale Zeit nicht. Aber wir leben sie, weil das Leben über den Intellekt hinausschwillt.“, heißt es in Schöpferische Entwicklung.124 Bergson entwickelt den Begriff den Dauer, indem er zunächst zwischen zwei Arten der Mannigfaltigkeit (multiplicité)125 unterscheidet: der „wohlunterschiedenen Mannigfaltigkeit“126 der zählbaren, materiellen Gegenstände, die im Raum lokalisiert sind und zwischen welchen sich Leerräume erstrecken, und der „organischen“ oder „qualitativen“ Mannigfaltigkeit127 unmittelbar gegebener Gefühle, Empfindungen, Leidenschaften, physischer Anstrengungen. Michel Serres hat für Bergsons begriffliche Unterscheidung die vielleicht anschaulichsten Beispiele gefunden. Wohlunterschieden oder diskret mannigfaltig sind „die Blumen, die nebeneinander auf der Wiese stehen, die über die Inseln verstreuten Tiere“, kontinuierlich mannigfaltig dagegen „die Palette des Malers“ oder „die Nuancen der Schamröte oder anderer

|| 123 Ebd., 20. 124 Bergson, 1921, 52. 125 Über die zwei Arten der Mannigfaltigkeit bei Bergson im Zusammenhang mit der mathematischen Theorie Riemanns und der Relativitätstheorie Einsteins siehe Gilles Deleuze, Henri Bergson zur Einführung, Hamburg 1989, insbesondere Kapitel 2, „Dauer als unmittelbare Gegebenheit“, 53‒ 69. Der Begriff multiplicité wird hier mit „Vielheit“ übersetzt. Deleuze macht darauf aufmerksam, dass der Begriff üblicherweise im Zusammenhang mit der Frage nach einer Urmaterie gestellt worden ist, Bergson dagegen wolle nicht „das Viele und das Eine einander gegenüberstellen, sondern, im Gegenteil, zwei Arten von Vielheit unterscheiden“. Ebd., 55. 126 Bergson, 1911, 101. 127 Ebd., 100‒102.

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Emotionen auf der Haut.“.128 Während man die Schafe einer grasenden Herde abzählen kann, lassen sich die einzelnen Nuancen der Schamröte schwer identifizieren, vielmehr wird man ihrer als fortschreitende Verfärbung gewahr. Als „stetige Linie“ gedacht, deren diskrete Intervalle „sich berühren, ohne sich zu durchdringen“129 ist auch die chronologische Zeit von der Homogenität des Raums, die gelebte Dauer dagegen von verworrener und dunkel empfundener Mannigfaltigkeit.130 Es kommt Bergson also mit der durée darauf an, eine Sukzession zu denken, die fließt, deren heterogene Momente ineinandergreifen und die wie ein Organismus dynamisch und qualitativ fortschreitet. So sagt er an einer Stelle, dass eine Tonempfindung „mit einem Lebewesen vergleichbar [sei], dessen Teile, wenn sie auch unterschieden sind, sich trotzdem gerade durch ihre Solidarität gegenseitig durchdringen“131 oder gar, dass „[d]as Gefühl […] ein Lebewesen [sei], das sich entwickelt und folglich fortgesetzt verändert.“132 Die Empfindung als Dauer vollzieht sich als eine Art vorsubjektives Werden, das, so Bergsons spekulative Wendung, „wahrscheinlich das Tier perzipiert“133. Man kann ihrer nur intuitiv habhaft werden. Auch bei Bergson ist die qualitative Mannigfaltigkeit der Empfindung mit einem bewusstseins- und sprachphilosophischen Problem verbunden. Ihr erlebter Charakter geht nach Meinung Bergsons im Sprechen und Denken über sie verloren. Ihr organisches Fortschreiten wird geteilt, indem ihre heterogenen Momente identifiziert und in Namen und Worten fixiert werden. Für die Schattierungen, die dem Verlegenen übers Gesicht ziehen – so könnte man im Sinne Bergsons sprachskeptisch argumentieren –, gibt es nur einen Namen: Schamesröte und es bedürfte einer äußerst feinsinnigen Sprache, um die konkrete Mannigfaltigkeit der Scham zu vermitteln. Der Philosoph, der die Intuition zur Methode erhoben hat, hat die Sprache einer strengen Kritik unterzogen. [D]as Wort mit seinen fest bestimmten Umrissen, das brutale Wort, das in sich aufspeichert, was an Stabilität, an Gemeinsamem und folglich Unpersönlichem in den Eindrücken der Menschheit liegt, vernichtet und verdeckt wenigstens die zarten und flüchtigen Eindrücke unsres individuellen Bewusstseins. Diese müssten, um mit gleichen Waffen zu kämpfen, sich mit präzisen Worten ausdrücken lassen können; doch diese Worte würden sich alsbald, nachdem sie gebildet wären, gegen die Empfindung kehren, die ihnen den Ursprung gab und sie, die er-

|| 128 Serres, 1994, 97. 129 Bergson, 1911, 79. 130 Sowohl Gilles Deleuze als auch Michel Serres haben darauf hingewiesen, dass Bergson, zumindest in seinen frühen Schriften, von einem euklidischen Raumverständnis ausgeht, dass aber die Topologie inzwischen den Raum als mannigfaltiges Kontinuum denkt. Siehe Serres, 1994, 97‒99 und Deleuze, 1989, 53‒69. 131 Bergson, 1911, 79. 132 Ebd., 103. 133 Ebd., 99.

Empfindungsintensität bei Henri Bergson | 87

funden wurden, um Zeugnis abzulegen, dass die Empfindung unbeständig ist, würden ihr nun die eigene Stabilität aufzwingen.134

Diese radikale sprachskeptische Position scheint eine feinsinnige und dynamische Sprache der Sensationen, die etwas vom prälogischen Charakter der Empfindungsintensitäten zum Ausdruck brächte, nicht für möglich zu halten. Bergsons Kritik an der Sprache weiß allerdings weder um ihre syntaktische und performative Dimension, noch um die konstitutive Differenz und semantische Offenheit des sprachlichen Zeichens – Saussures Cours de linguistique générale wird erst 1916 veröffentlicht. Immerhin gesteht Bergson der Literatur in Ausnahmefällen das Vermögen zu, durch effektvolle „Schattenbilder“ gelebter Sensationen zur Intuition zu verführen, ja, sogar die Natur der Dauer ahnen zu lassen, vorausgesetzt sie würde „das geschickt gewobene Gewebe unsres konventionellen Ich“ zerreißen und in ihrer Schilderung des konkreten, lebendigen Empfindungs-Ich (moi fondamentale, moi profond) etwas von der Widersprüchlichkeit und der „gegenseitigen Durchdringung“ der Empfindungen erhalten.135 Eine Literatur also, die das Alltagssubjekt erschüttert und sich in die Untiefen des Bewusstseinslebens begibt. Mit der absichtlichen Überforderung der Wahrnehmung und narrativen Erkundung der aufs nackte Fühlen zurückgeworfenen Ich-Figur gleich auf den ersten Seiten von Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit lässt Blecher seine erste Prosaschrift unmissverständlich im Zeichen des Bergsonschen Intuitionismus beginnen. Doch die Erfahrung unmittelbarer Empfindungen geht bei Blecher mit einem „Schrecken [der] Kontingenz“136 und dem Gefühl existentieller „Geworfenheit“137 und Sinnlosigkeit einher. Sie bleibt stets wie bei den Phänomenologen auf die Welt und die Dinge bezogen, während sie sich bei Bergson in einer Bewusstseinstiefe ohne Extension entfaltet. Bezeichnenderweise kritisiert Blecher in einem philosophischen Artikel Bergson von einer existenzphilosophischen Position aus: Es sei nicht die Mannigfaltigkeit der Dinge, sondern die „Existenzialität“138 (existenţialitatea), die Tatsache, dass etwas existiere, die die Philosophie zu beschäftigen habe. Für das moi profond Bergsons bleibt das Ding dagegen belanglos. Das Ding gehört schlichtweg einer anderen Ordnung an, jener der verräumlichten Äußerlichkeit. In ebendiesem Punkte kritisiert auch Merleau-Ponty Bergson. Gegen den „Philosophen der Freiheit“139 erhebt er den phänomenologischen Vorwurf, die Intentionalität und

|| 134 Ebd., 103. 135 Ebd., 104. 136 Merleau-Ponty, 1966, 297. 137 Heidegger, 2006, 175‒177. 138 Blecher, 1999, 381. 139 So wurde Bergson von dem französischen Schriftsteller Charles Péguy genannt. Siehe Maurice Merleau-Ponty, „Bergson im Werden“ in: Maurice Merleau-Ponty, Zeichen, Hamburg 2007, 265.

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das „Problem der Weltkonstitution“140 verkannt zu haben, die Problematik der Grenze zwischen Innen- und Außenwelt philosophisch vernachlässigt zu haben.

4.6 Die Krisen als Empfindungsintensitäten Will man die Krisen bei Blecher als Darstellungen der Empfindungsintensität im Sinne Bergsons lesen, so kommt es darauf an, aufzuzeigen, ob und inwiefern es ihnen gelingt, den transformativen und widersprüchlichen Charakter intensiver Sensationen gegenwärtig zu machen. Die verworrene Simultaneität augenblicklicher Sensationen wird im Erzählen zwangsläufig sukzessiv entfaltet, ihre heterogenen Momente werden benannt und in eine narrative Abfolge gebracht. Dies stellt aber nur dann ein Problem dar, wenn man die syntaktische und darbietende Dimension der ästhetischen Sprache außer Acht lässt. Geht man davon aus, dass ihre Sinnlichkeit prozessual ist, wie etwa Martin Seel in seiner ästhetischen Theorie, so lässt sich die Dynamik des Wandels ebenso wie die Ambivalenzen, die sie erzeugt, in ihrem ästhetischen Erscheinen aufzeigen.141 Die Darstellung der Krise auf der Wiese am Rande des Stadtparks ist von ausgeprägter Poetizität und arbeitet mit zahlreichen lexematischen und syntagmatischen Wiederholungen. Das Ich verschwindet zunächst und fungiert hintergründig als Medium des Erscheinens sinnlicher Eindrücke: visuelle Gegebenheiten öffnen sich zu einer Ansicht (se deschideau), Echos melden sich dem Ohr (se auzeau), die Stille legt sich auf die Blätter (se depunea) usw.142 Es dominiert eine unpersönliche Form des Vernehmens, bei dem sich Wahrgenommenes im reflexiven Modus, wie von selbst zeigt. Die Synästhesien unterlaufen dabei ein reines Nacheinander distinkter Sinneseindrücke: im Erzittern der Luft teilt sich dem Auge ihre Glut mit, das Ohr vernimmt ein beinahe materialisiertes, „dichtes Schweigen“, das sich „über die staubigen Blätter [ ]legt“.143 Es sind oft die Verben, die bei Blecher Übergänge zwischen den Aggregaten oder den Sinnen realisieren. Das unpersönliche Sich-Zeigen der Phänomene lässt ein spürendes Ich erscheinen: eine Art moi profond der Empfindungsintensität, die sich bei Blecher mit dem „existentiellen Gefühl“ (existential feeling) bzw. dem Ereignis der Kontingenz deckt: die Empfindung ist eine der „Vergeblichkeit“144 (senzaţie de inutilitate) und Sinnlosigkeit; der Ort scheint keine raumzeitlichen Koordinaten zu haben, er liegt „irgendwo auf der Welt“145. Im Sinne Berg-

|| 140 Ebd., 81‒84. 141 Seel, 2003, 183‒184. 142 Blecher, 2003, 10; Blecher, 1999, 44. 143 Blecher, 2003, 10; „Tăcerea se depunea densă pe frunzele prăfuite, în căldura stătută a verii.“ Blecher, 1999, 44. 144 Blecher, 2003, 10; Blecher, 1999, 44. 145 Blecher, 2003, 10; Blecher, 1999, 45.

Die Krisen als Empfindungsintensitäten | 89

sons betont die Krisenerzählung das qualitative Fortschreiten der Empfindungen im atmosphärischen Bannkreis des verfluchten Ortes. Blecher verdichtet auf nur einer Seite vier Komparative: „ermüdender, schwerer“, „noch tiefer und noch schmerzhafter“, und etliche Superlative: „Es gab auf der ganzen Welt keinen traurigeren und verlasseneren Ort als diesen.“146 Das Atmen, die Wärme, aber auch atmosphärische Eindrücke wie die Tristesse und Verlassenheit geben sich in qualitativen Steigerungsformen kund: sie werden zu Schwere, Ermüdung und vertiefen sich schließlich zu einer schmerzhaft empfundenen Vergeblichkeit. Was den „verfluchten Ort“147 (loc blestemat) von der restlichen „Paste von gleichförmiger Banalität“148 (pastă de uniformă banalitate) unterscheidet, ist nicht etwas, was ihm objektiv aneignet, sondern die Intensität seines „atmosphärischen Erscheinens“149, ein Unterschied in der Qualität des Empfindens. Die Darstellung der Krise an der Uferböschung verfährt ähnlich. Die entscheidende Grenzüberschreitung ereignet sich hier nicht als Schritt in den atmosphärischen Bannkreis des Ortes, sondern als Eindringen des Geruchs in den Körper. Auch hier stellt sich die Intensität als unpersönliches Geschehen dar, bei dem das Ich vornehmlich als Körpermedium erscheint, dem etwas widerfährt und in dem etwas geschieht (in mir, mich statt ich). Nicht das Subjekt agiert, sondern die Sinne agieren und setzen das Ich der Ortsatmosphäre aus. Das Krisengeschehen stellt sich als Wechselwirkung zwischen sensibler Körpermaterie und sinnlichen Reizen dar, zwischen „Nasenflügel“ und „Geruch“, „Fäulnisschwaden“ und „Orten der Sinneswahrnehmung“, „Duft“ und „inneren Gefäßen“.150 Das Um-Sich-Greifen der olfaktorischen Empfindung wird dynamisch kartographiert. Zwar wird die Mannigfaltigkeit des Geruchs in distinkte Eindrücke zerlegt und äußerst präzise zwischen „gallertartige[m] Fäulnisgeruch“ und dem „angenehmen, warmen und vertrauten Duft von gerösteten Haselnüssen“ unterschieden.151 Doch die Bestimmungen werden im gleichen Zug durch konzessive (deşi) und adversative (însă) Zusätze unterlaufen: „ein unangenehmer, aber auch lieblicher Geruch“, „fein […], aber ekelerregend“ usw.152. Diese Syntax des Widerspruchs lässt die Krise ambivalent erscheinen. Die dynamische Komplexität der Krise wird zudem durch die Semantik des Wandels und der Verwandlung suggestiv vermittelt: von der Vergleichsfigur der Inkubation bis zu den transformativen Verben stellt sich die Krise als Geschehen zwischen organischer Entwicklung und scheinhafter Metamorphose dar.

|| 146 Blecher, 2003, 10; Blecher, 1999, 44‒45. 147 Blecher, 2003, 11; „Nu exista loc în lume mai trist și mai părăsit.“ Blecher, 1999, 45. 148 Blecher, 2003, 13; Blecher, 1999, 46. 149 Seel, 2003, 52. 150 Blecher, 2003, 11‒12; Blecher, 1999, 45. 151 Blecher, 2003, 12; Blecher, 1999, 45. 152 Blecher, 2003, 12; Blecher, 1999, 45.

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Schließlich ereignet sich auch die Krise im geschlossenen Raum als unpersönliches Geschehen: die Krise „stellte[ ] sich […] leichter ein“, „[d]as Zimmer selbst bereitete sich darauf vor“, die Vertrautheit „ergoß sich über alle Möbel“, „alles geriet durcheinander“ (im Original auch reflexiv formuliert: se răsturna şi se încurca), der Höhepunkt der Krise „vollzog sich“ (se consuma) als ein „Aus-der-Welt-Gleiten“.153 Dieser aparte Modus der Krisenerscheinungen, sich zu zeigen, ist vergleichbar mit der Aisthesis des Kunstwerks bei Dieter Mersch. Das Sich-Zeigen bezeichnet bei ihm die Erscheinungsweise der symbolisch widerständigen Materialität der Zeichen, eine Erfahrung der „reine[n] Phänomenalität“154. Im Modus des Aisthetischen „geschieht [nicht etwas], sondern das Geschehen selbst bricht auf“155. So lässt sich auch die Verlegenheit des Ich-Erzählers die Krisen, Krisen zu nennen, auf die symbolische Resistenz des Geschehens zurückführen und der Leser wird nie die Frage los, was eigentlich dargestellt wird. Die Darstellung von Empfindungen bei Blecher verortet die Intensität zwischen Ich und Dingen, weder innen, noch außen, sondern am Kontaktpunkt, wo die Grenzen aufgehoben sind. Während Bergson die Dynamik des Empfindens als vertikale Bewegung von den festen Oberflächen in eine innere, flüssige Tiefe denkt, spielt sie sich bei Blecher sowohl im Vertikalen, als auch im Horizontalen ab. Zu dem Versenkt-Werden und Wiederauftauchen, die das Geschehen in der eröffnenden Passage stark dominieren, gesellen sich bald das Durchdrungen Werden und Enthäuten, das Aufreißen von Oberflächen und die Osmose, die eine elementare Wechselbezüglichkeit zwischen Ich und den Dingen zeichnet.156 In dieser Hinsicht sind die Krisen näher an dem phänomenologischen Begriff des Empfindens.

4.7 Schlamm-Werden Eine der denkwürdigsten Vorkommnisse in Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit, das den Krisen in Empfindungs- und Darstellungsintensität in nichts nachsteht, ist der Rausch auf dem Schlammfeld am Rande der Stadt. Der Literaturwissenschaftler Nicolae Balotă hat ihn als „bizarre Vermählung“ (stranii nupţii) und „Ritus der Kommunion mit dem Urschlamm“ (rit al împărtăşirii cu noroiul primordial)157 bezeichnet und damit auf die Verschränkung von religiösen und evolutionstheoretischen Motiven hingewiesen. Der Schlammrausch ist eine Erfahrung der Transgres-

|| 153 Blecher, 2003, 13‒15; Blecher, 1999, 46‒47. 154 Dieter Mersch, Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. München 2002, 23. 155 Ebd., 96. 156 Zu der vertikalen und horizontalen Doppelbewegung der Aufmerksamkeit siehe auch Waldenfels, 2004, 73‒83. 157 Balotă, 1974, 175.

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sion158, in der der habitualisierte Leib entgrenzt und eine Dimension jenseits der Menschlichkeit zur Erscheinung gebracht wird. Er generiert eine Schöpfungsvision, der tatsächlich vitalistische Topoi einbezieht und religiöse Schöpfungsmythen deterritorialisiert. Die Entgrenzung beginnt mit einem regressiv anmutenden Wunsch, ausgelöst durch den Anblick der verregneten und mit Wasser vollgesogenen Hölzer und Gartengitter, dem Wunsch nämlich Hund zu sein. „[E]in Hund sein“159 (vroiam să fiu câine) konkretisiert sich sprachlich in virtuellen Momenten der tierischen Verhaltens- und Wahrnehmungsweise (Konjunktiv I): einer Betrachtung „aus der waagerechten Perspektive“, „von unten nach oben den Kopf verdrehend“, einem erdnahen Gang, der Blick „eng an die blau-schwarze Farbe des Matsches gefesselt“.160 Der Schlammrausch ist die Realisierung dieses Wunsches, Hund zu werden: „Dieser Wunsch, der schon lange in mir schlummerte, wälzte sich an [jenem] Herbsttag stürmisch über den öden Platz…“161 Der alles aufweichende Herbstregen und die trostlose Atmosphäre des Jahrmarktgeländes – ein peripherer und verlassener Ort, ein verfluchter Raum schlechthin – leiten visuelle und olfaktorische Exzesse ein, wie sie der tierischen Perspektive eigen wären. Die Ansicht des vom Regen aufgeweichten Feldes tendiert ins Maß- und Formlose und entgrenzt den Blick: „vor mir erstreckte sich“, „weithin erstreckte sich“ usw.162 Wie in der Krise an der fauligen Uferböschung trägt auch dieses Geschehen Züge einer jouissance am Abjekten und an der souillure163. Das Ich wird zur Kampfbühne internalisierter Ordnungskräfte: „In mir kämpften noch mit der Kraft sterbender Gladiatoren die letzten Reste von Erziehung. Plötzlich versanken sie aber in einer schwarzen und finsteren Nacht, und ich hatte mich selbst vergessen“.164 Das Ich transgrediert die Verhaltensnormen und gibt der Ver|| 158 Siehe dazu Irene Albers/Helmut Pfeiffer, Michel Leiris. Szenen der Transgression. München 2004, 11. Die Autoren spezifizieren die Transgression als Grenzerfahrung folgendermaßen: „Für das Transgressionskonzept ist charakteristisch, dass es die Position des beobachtenden und agierenden Subjekts als Ausgangspunkt hat. Das markierte Feld, von dem die Bewegung ihren Ausgangspunkt nimmt, ist auf ein vorderhand amorphes Jenseits bezogen, das seinerseits der Erschließung bedarf. Wird aber die unmarkierte Seite der Grenze besetzt und kartographiert, so bleibt das nicht ohne Rückwirkung auf das vertraute Ausgangsterrain. Dieses wird seinerseits einem Sog der Deterritorialisierung und Reterritorialisierung ausgesetzt.“ 159 Blecher, 2003, 102; Blecher, 1999, 93. 160 Blecher, 2003, 102; „Câteodată vroiam să fiu câine, să privesc lumea aceea udă din perspectiva oblică a animalelor, de jos în sus întorcând capul. Să merg mai aproape de pământ, cu privirile fixate în el, legat strâns de culoarea vânătă a noroiului.“ Blecher, 1999, 93. 161 Blecher, 2003, 102; „Dorința aceasta, ce zăcea de mult în mine, se rostogoli frenetic în ziua aceea de toamnă pe maidan...“ Blecher, 1999, 93. 162 Blecher, 2003, 102‒103; „[î]n fața mea se întindea“, Blecher, 1999, 93. 163 Zum Abjekten siehe Julia Kristeva, Pouvoirs de l’horreur. Essai sur l’abjection, Paris 1980. 164 Blecher, 2003, 103; „În mine luptau cu forțe de gladiatori muribunzi ultimele urme de educație. Într-o clipă ele se scufundară însă într-o noapte neagră, opacă și nu mai știui nimic despre mine.“ Blecher, 1999, 93.

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suchung nach, den Schmutz zu berühren, wodurch es zugleich entsubjektiviert wird. Der Augenblick der Ohnmacht des Subjekts fällt zusammen mit dem Schritt in den Schlamm, dem Versinken in ihm. Eine rasante Empfindungsdynamik wird in Gang gesetzt. Die Kinästhesie ändert im direkten Kontakt mit dem Schlamm ihre Richtung. Das Versinken wird zum Hervorschießen, das Ich ist nicht mehr jemand, der in den Schlamm tritt, sondern ist ihm „entwachsen, eins mit ihm, wie aus dem Boden geschossen.“165 Die Berührungsempfindung generiert ein anderes Wissen, eine Art Evolutionsvision, die auf die diskursive Ordnung zurückwirkt und die „stupide Legende wie ‚aus Staub bist du und zu Staub sollst du werden‘“166 de- und reterritorialisiert.167 Die Formen und Dinge erscheinen in der Entwicklungsperspektive ihres Werdens oder Geworden-Seins: Die Bäume sind nichts anderes „als aus der Erdoberfläche hervorgetretener verfestigter Schlamm“, die Menschen und Dinge sind „aus eben diesem Mist und Urin hervorgeschossen“.168 Die Entwicklung der Formen ist ein Hervorschießen, ein Aufschwung in die Höhe, eine Tendenz zur Loslösung und Gerinnung aus dem Schlamm, der als eine Art Urmaterie erscheint. In seinem Werk Schöpferische Entwicklung hat Henri Bergson das Leben als „Tendenz der Wirkung auf die tote Materie“169 und als Schöpfung von Formen dargelegt. In Bergsons philosophischer Perspektive auf die Evolution erscheint das Leben als Prozess der Ausdifferenzierung eines uranfänglichen Impulses, der sich von der trägen Materie ablösend zu einem sie durchwaltenden Strom anschwillt: „[A]lle unsere Analysen,“ so der französische Philosoph, „zeigen uns das Leben als eine Anstrengung, die geneigte Bahn rückzuerklimmen, die die Materie hinuntersteigt.“170 Bei Bergson ist es der Instinkt und die Intuition, die dem Philosophen oder dem Künstler Zugang zu dieser kontinuierlich fluktuierenden Wirklichkeit des élan vital oder Lebensstromes bieten. Blechers literarische Vision eines emporschießenden, formschöpfenden Schlammes beruft sich auf Empfindungsevidenzen: die Far-

|| 165 Blecher, 2003, 103; „Eram acum crescut din noroi, una cu dânsul, ca țâșnit din pământ.“ Ebd. 166 Ebd.; „o legendă stupidă‚ din pământ ai ieșit și în pământ te vei întoarce‘“, Blecher, 1999, 93. 167 Die Passage subvertiert und überschreibt alt- und neutestamentarische Topoi. Der transformative Sprechakt: „Dies war mein wahres Fleisch“ (carnea mea autentică) spielt auf die Transsubstantiation von Brot und Wein zu Leib und Blut Christi in der Eucharistie an bzw. auf die Überlieferung des Abendmahls in Lukas 22, 19: „Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird; das tut zu meinem Gedächtnis“. Die durch Parallelismen und Wiederholungen rhythmisierte Darstellung der verwilderten Hände erinnert an das Gebet des Hiskia: „Ich zwitschere wie eine Schwalbe und gurre wie eine Taube“, heißt es in Jesaja 38,14. Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers. Stuttgart 1985. Bei Blecher liest man: „Nun wälzten sie [die Hände] ihren Kopf im Mist, gurrten wie Tauben, schlugen glücklich, glücklich … mit den Flügeln.“ Blecher, 2003, 102; „Acum își rostogoleau capul în băligar, gungureau ca niște porumbei, băteau din aripi, fericite... fericite...“ Blecher, 1999, 94. 168 Blecher, 2003, 103; „arborii nu erau alta decât noroi închegat, ieșit din scoarța pământului“; „Oamenii și lucrurile țâșniseră din chiar această baligă și urină [...].“ Blecher, 1999, 93. 169 Bergson, 1921, 102. 170 Ebd., 250.

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be der Bäume spricht für ihre Genese aus dem Schlamm, die Langeweile und der Stumpfsinn des Alltags sind Indizes der Abkunft des Menschen aus dem Schlamm. Die Berührungsempfindung entdeckt Gemeinsamkeiten, wo das Auge bloß Differenzen zu sehen vermag. So unterscheiden sich die Menschen zwar in äußerer Gestalt durch „ihre weiße samtige Haut“171 sichtlich vom Schlamm. Die Differenz ist aber unwesentlich. In der Haut haben sich die Menschen „eingewickelt“172 (se înveliseră). Die Haut gehört der gleichen Ordnung an wie die Kleider, die angezogen werden. Sie ist eine künstliche Trenngrenze. Die Haut ist wie die Kleider, die die Blöße verhüllen, Setzung, die Dichotomien erschafft und Grenzen zieht: zwischen Innen und Außen, Subjekt und Objekt, Mensch und Tier, Organischem und Anorganischem. Im Schlammrausch werden diese Grenzen überschritten und zum Einsturz gebracht. Wie in den Krisenerzählungen bringt auch hier die Gefühls- oder Empfindungsintensität eine wahrere Realität zum Erscheinen: In jenen Augenblicken spürte ich, wie die Erinnerung an ihn [an den Schlamm] wiederkehrte, und ich erinnerte mich an die Nächte meiner Krämpfe und heißen Finsternisse, wenn mein innerer Schlamm erfolglose Anläufe unternahm, wenn er sich abmühte, um an die Oberfläche zu gelangen. Dann schloss ich die Augen, und er kochte mit seinen unverständlichen Aufwallungen in der Finsternis weiter. Um mich erstreckte sich das Schlammfeld … Dies war mein wahres Fleisch, dem die Kleider, [die Haut, die Muskeln] abgezogen waren, das selber abgezogen war bis auf den Schlamm.173

Kennzeichen der authentischeren Verfassung des Ichs ist die vierfache Enthäutung: abgezogen werden die Kleider, die Haut, die Muskeln, ja selbst noch die spezifisch organische Qualität des Fleisches, „bis auf den Schlamm“. Angesichts dieser empfundenen und dem Auge verborgenen Identität von Fleisch und Schlamm fallen die sichtbaren, evolutionären Differenzen in äußerer Gestalt nicht ins Gewicht: „Einige rein zufällige Äußerlichkeiten wie zum Beispiel jene paar Gesten, zu denen ich fähig war, das feine und dünne Haar auf dem Kopf oder die glasigen und feuchten Augen trennten mich von seiner Unbeweglichkeit und seinem uralten Schmutz. Es war zu wenig, zu wenig, angesichts der immensen Majestät des Kots.“174 In der rauschhaf|| 171 Blecher, 2003, 103; Blecher, 1999, 94. 172 Blecher, 2003, 103; Blecher, 1999, 94. 173 Blecher, 2003, 104. Meine Übersetzung in Klammern. Vergleiche: „Simțeam bine în acele clipe cum amintirea lui îmi revine și îmi adusei aminte de nopțile mele de zvârcoliri și întunecimi fierbinți, când noroiul meu esențial lua avânturi inutile și se căznea să iasă la suprafață. Închideam atunci ochii și el continua să fiarbă în obscuritate cu bolborosiri neînțelese... În jurul meu se întindea maidanul plin de noroi... Acestea era carnea mea autentică, jupuită de haine, jupuită de piele, jupuită de mușchi, jupuită până la noroi.“ Blecher, 1999, 94. 174 Blecher, 2003, 104; „Câteva aparențe, pur accidentale, ca, de pildă, cele câteva gesturi ce eram capabil să le fac, părul de pe cap fin și subțire, ori ochii sticloși și umectați, mă despărțeau de

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ten Vision des Blecherschen Erzählers sind die evolutionären und kulturellen Differenzmerkmale unerheblich geworden. In dem gleichen Maße, in dem der Rausch eine Transgression bedeutet, stellt sie zugleich einen Gewinn an Freiheit dar, eine Entfesselung der Bewegung aus den disziplinierten Bahnen der Gestik. Das Anfassen des Schlammes leitet eine virtuelle Ent- und Neuformung der berührenden Hände ein, deren Ekstatik den ganzen Leib ergreift: Was hatten meine Hände bis dahin getan? Wo hatten sie ihre Zeit vertan? Nach Herzenslust griff ich dahin und dorthin. Was waren sie bisher sonst als zwei bemitleidenswürdige, gefangene Vögel, die von einer mächtigen Kette aus Haut und Muskeln an die Schultern gefesselt waren. Arme Vögel, dazu bestimmt, mit einigen stumpfsinnigen Gesten wohlerzogenen Anstandes zu fliegen, wie es einstudiert und wiederholt worden war, als hätte es Bedeutung. Langsam, langsam verwilderten sie von neuem und erfreuten sich ihrer alten Freiheit. Nun wälzten sie ihren Kopf im Mist, gurrten wie Tauben, schlugen, glücklich, glücklich… mit den Flügeln.175

Der durch die Berührung affizierte Körperteil verselbstständigt sich, befreit sich aus der anerzogenen „Struktur des Verhaltens“176. Je intensiver das Ich von der Empfindung ergriffen wird, desto deutlicher zeigt sich die Disparität des Organismus. Wie in den Krisen unterläuft die ekstatische Selbsterfahrung des Ichs die Leiblichkeit als einheitliches Strukturphänomen. Wenn Merleau-Ponty, in Phänomenologie der Wahrnehmung jedenfalls, stets das Vermögen des Leibs zur Synthesestiftung und Totalisierung in den Blick nimmt (wenn auch als Absolutes im Relativen), so legen die Vorkommnisse bei Blecher Einspruch dagegen. Die Struktur des wahrnehmenden Leibs wird hinterfragt und subvertiert, so dass das Vermögen einzelner Köperpartien inkompossibel erscheinen: das kinästhetische Vermögen der Vögel gewordenen Hände wird durch die zu Ketten gewordenen Muskeln gefangen gehalten und gehemmt. Die Figur des Schlamms kommt an einer späteren Stelle im Text, in der Darstellung von Eddas Begräbnis noch einmal vor. Während sie in der Passage auf dem

|| imobilitatea și străvechea lui murdărie. Era puțin, prea puțin în fața imensei maiestăți a tinei.“ Blecher, 1999, 94. 175 Blecher, 2003, 104‒105; „Ce făcuseră mâinile mele până atunci? Unde își pierduseră vremea? Umblam cu ele încoace și încolo, în voia inimii. Ce fuseseră ele până atunci decât niște sărmane păsări prizoniere, legat cu un lanț grozav de piele și mușcchi de umeri? Sărmane păsări menite să zboare în câteva gesturi stupide de bună-cuviință, învățate și repetate ca niște lucruri de seamă. Încet, încet, ele se sălbăticiră din nou și se bucurară de vechea lor libertate. Acum își rostogoleau capul în băligar, gungureau ca niște porumbei, băteau din aripi, fericite... fericite...“ Blecher, 1999, 94. 176 La structure du comportement ist der Titel des ersten Buchs von Maurice Merleau-Ponty, in dem er das Leib-Seele-Verhältnis behandelt. Siehe Maurice Merleau-Ponty, Die Struktur des Verhaltens. Phänomenologisch-psychologische Forschungen, Bd. 13, Berlin 1976.

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Rindermarktgelände durch die erzählerische Entfaltung der Berührungsempfindung zum Medium einer schöpferischen Transgression wird, erscheint sie in der Darstellung des Begräbnisses als eine absolute, selbstreferentielle Figur der Auflösung von Formen. In der Erinnerung an den verlassenen Rindermarkt verweist der Schlamm noch auf den konkreten „Matsch“ (noroi), auf die „Dreckmasse“ (tină) des vom Regen aufgeweichten Feldes.177 Später verweist er zwar noch auf klimatische Bedingungen, verliert aber in der Darstellung zunehmend seine Referenzfunktion. Der Schlamm ist Vision eines fluiden Auges, das ihn in den kleinsten Details, den „Dreckrinnsalen“ des freigelegten Holzfußbodens, den „schwarzen Falten im Gesicht des Samuel Weber“178 entdeckt und seinen unmerklichen Durchfluss zur Erscheinung bringt: „[T]riumphierend und anklagend drang der Schlamm in die Stuben, wie eine Hydra mit protoplasmatischen Auswüchsen; ich konnte gut sehen, wie er sich über die Wände verteilte, an den Menschen emporkroch, die Treppen hochstieg und den Versuch unternahm, den Sarg zu erstürmen.“179 Der Schlamm bringt eine amorphe Realität zur Erscheinung, die nichts signifiziert und bedeutet: „Schlamm war es, und nichts sonst, der Fußboden war es, und nichts sonst, die Kerzen waren es, und nichts sonst.“180 Selbst das eigene Schmerzempfinden erscheint anonym und entformt: „Was ich für Schmerz hielt, war nichts anderes als sein schwaches Aufwallen in mir, eine protoplasmatische Verlängerung, die zu Wörtern und Gedanken modelliert war.“181 Poetologisch kann der Schlamm im Sinne einer performativen Prosasprache verstanden werden, die in der Darstellung von kaum fassbaren Empfindungsintensitäten die Signifikate einschmilzt und Widerstand leistet gegen jede „höhere Wahrheit“182 (adevăr superior), die sich hermeneutisch aus dem Text herauslesen ließe.

|| 177 Blecher, 2003, 103; Blecher, 1999, 93. 178 Blecher, 2003, 133; „[R]iduri lungi de murdrie se iviră, la fel cu ridurile negre ce se adânciseră în obrazul lui Samuel Weber.“ Blecher, 1999, 110. 179 Blecher, 2003, 133; „[N]oroiul intră în odăi; [sic] triumfător și insinuant, ca o hidră cu nenumărate prelungiri protoplasmatice, îl vedeam bine întinzându-se pe pereți, urcându-se pe oameni, suind scările și încercând să escaladeze sicriul.“ Blecher, 1999, 110. 180 Blecher, 2003, 133; „Era noroi și nimic altceva, era podeaua și nimic altceva, erau lumânările și nimic altceva.“ Blecher, 1999, 110. 181 Blecher, 2003, 134; „Ceea ce luam drept durere nu era în mine decât un slab colcăit al lui, o prelungire protoplasmatică modelată în cuvinte și rațiuni.“ Blecher, 1999, 110. 182 Blecher, 2003, 134; Blecher, 1999, 110.

96 | Die wahrere Realität des Empfindens in Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit

4.8 Blechers Kommentar zu Henri Bergsons Schöpferische Entwicklung In dem Essay Exegeza câtorva teme comune (Kommentar zu einigen allgemeinen Themen), den Blecher 1936 in der Zeitschrift Azi veröffentlicht, lässt er einige Topoi der zeitgenössischen Philosophie Revue passieren: die Mannigfaltigkeit der äußeren Welt (variaţia lumii exterioare), die Möglichkeit einer Erkenntnis der Erkenntnis (posibilitatea cunoaşterii cunoaşterii), den Begriff der Individualität (conceptul individualităţii), dem er sich auch anderswo widmet183. Nebst einer Reihe philosophischer Positionen legt er auch ein Beispiel aus der Philosophie Bergsons kursorisch dar.184 Das Beispiel stammt aus dem ersten Kapitel von Schöpferische Entwicklung. Es geht um die Variation des Auges als Organ des Sehens bei Arten auf verschiedenen evolutionären Linien, dem Wirbeltier und der Molluske, und um mögliche Interpretationen dieses entwicklungsgeschichtlichen Faktums. Es gehe Bergson, so Blecher, um die Variation als biologischen Begriff. Der französische Philosoph stelle fest, dass das Sehorgan durch die Artenreihen hindurch vom Weichtier bis zum Menschen dieselbe Wesensstruktur (acceiaşi esenţială structură) aufweise.185 Diese in der Variation vorgefundene Identität interpretiere Bergson im Sinne einer Intention der lebendigen Materie (intenţie a materiei vii), die in einem idealen Wesen (fiinţă ideală) ihren Fluchtpunkt fände.186 Blecher stellt Bergsons Position verkürzt als Finalismus dar und übergeht Differenzierungen, die er sich argumentativ aneignet und gegen den französischen Philosophen wendet. Die Entwicklung der Arten, so wie sie Bergson zeichnet, verläuft nicht zwangsläufig zu höher Differenziertem, sondern spaltet und gabelt sich schöpferisch in divergierende Ströme. Sie hat keine prädeterminierte, eindeutige Richtung. Sie kennt keine Intentionen, sondern lediglich Tendenzen, in welchen Zufälle, Antagonismen und Regressionen durchaus vorkommen. Die Entwicklungsgeschichte hat daher eher den Charakter einer kontingenten und unvorhersehbaren Formenschöpfung187: „Mehr und mehr, je weiter es vorschreitet, zerfasert sich das Leben in Manifestationen, die sich zwar dank der Gemeinsamkeit ihres Ursprungs in gewisser Hinsicht ergänzen, die aber darum nicht weniger antagonistisch, nicht weniger unversöhnlich bleiben“, und: „dieselben Ursachen, die die Entwicklungsbewegung spalten, bewirken es auch, dass das Leben wie hypnotisiert von der eben erschaffenen Form, von sich selbst abirrt. Daraus aber folgt wachsende Verworrenheit.“188

|| 183 Blecher, „Complexul individualității“ in: Blecher, 1999, 373‒375. 184 Blecher, „Exegeza câtorva teme comune“ in: Blecher, 1999, 379‒384. 185 Ebd., 380. 186 Ebd. 187 Bergson, 1921, 102. 188 Ebd., 109.

Blechers Kommentar zu Henri Bergsons Schöpferische Entwicklung | 97

Das Leben erzeugt aus der Sicht Bergsons keine Kohärenz, sondern wachsende Unordnung. Offenbar geht es Blecher in dem Kommentar zu Bergson um die Radikalisierung und Betonung der evolutionären Akzidenzien und Antagonismen. Da, wo Bergson im Organismus dominante Funktionen ausmacht, die eine Unterordnung der anderen Organe und Systeme gewährleistet – so hält z. B. bei dem Tier das nervöse System gegenstrebige Tendenzen in Schach189 – betont Blecher den inneren Widerstreit des Organismus. Gegen den undifferenzierten Finalismus, den er Bergson ungerechtfertigter Weise zuschreibt, hält Blecher die Disparität der Glieder und Organe ein- und desselben Wesens, das sogenannte Prinzip der „Variation in der Identität“ (variaţia în identitate).190 Mit schriftstellerischer Courage zum imaginativen Argument entwirft der rumänische Prosaautor das monströse Bild eines Wesens ohne Hände, Nase und Ohren, das „ein einziges, perfektioniertes Auge“ (un singur ochi perfecţionat) wäre und führt das finalistische Argument ad absurdum. Vor allem aber kritisiert er Bergson von einer Art existenzphilosophischen Warte aus: „Die Variation des Mollusken-Auges ist weder unter dem Gesichtspunkt der Identität, noch Mannigfaltigkeit interessant, sondern der Existentialität. Dass es dieses Auge gibt, das intime oder äußere Faktum seiner Existenz hat die Philosophie zu interessieren. In einer Welt, in der es nur einen Philosophen und einen einzigen Gegenstand gäbe und die Mannigfaltigkeit nicht wahrnehmbar wäre, würde sich dem Philosophen das Problem der Existenzialität in gleicher Schärfe stellen wie in unserer Welt, wo das wahrhaft Aufwühlende nicht die Morphologie der Variation […], sondern die Existenz ist.“191 Das Argument leitet den Übergang zum Problem der Erkenntnis ein, in dessen Darlegung kursorisch auch die Bewusstseinsphilosophie Husserls anklingt. Wenn Blechers lapidarer Bergson-Kommentar philosophisch unerheblich ist, so gibt er doch einen wertvollen Hinweis auf Blechers literarische Obsession eines von gegensätzlichen Tendenzen zerfurchten Körpers, der sich mit dem phänomenologischen Leibegriff und dessen Synthesevermögen nicht unbedingt verträgt. So wie er im Artikel auf die Nicht-Identität der Glieder und die Disparität der Organe pocht192, macht die haptische Vision des schöpferischen Schlamms in Aus der unmittelbaren

|| 189 Ebd., 256. 190 Blecher, 1999, 380. 191 „Variația ochiului de moluscă nu interesează nici în identitatea, nici în diversitatea ei, atât cât interesează în existențialitatea ei. Întrucât acest ochi există și faptul intim sau exterior al acestei existențe, iată ce interesează filozofia. Într-o lume în care n-ar exista decâtu un singur filozof și un singur obiect, deci unde variația pură și simplă n-ar putea fi discernabilă, problema existențialității sar pune cu aceeași acuitate pentru filozof ca și în lumea noastră obișnuită, unde ceea ce este turburător cu adevărat, nu este morfologia variației [...], ci existența ei.“ Ebd., 381. Meine Übersetzung. 192 „Pentru ce, de pildă, ființa aceea ideală ar avea mâini, nas și urechi, organe atât de disparate[...]?“; „să constatăm că omul posedă mâini și urechi, organe neidentice“ Ebd., 380.

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Unwirklichkeit gegenstrebige Tendenzen im Organismus sichtbar. Die Berührung des Schlamms erzeugt einen elastischen, rohen Körper ohne Gestalt, Struktur und Organe. Er kann am ehesten noch im Sinne Gilles Deleuzes und Félix Guattaris als „organloser Körper“ gelesen werden, während der Organismus der strukturierte, habitualisierte und subjektivierte Leib ist. Zumindest trägt das mit dem Schlamm eins gewordene Ich Züge dieses synkretistischen und programmatischen Körperkonzeptes: Ein oK ist so beschaffen, dass er nur von Intensitäten besetzt und bevölkert werden kann. Nur Intensitäten passieren und zirkulieren. Dennoch, der oK ist kein Schauplatz, kein Ort und nicht einmal ein Träger, auf dem etwas geschehen wird. Er hat nichts mit einem Phantasma zu tun, es gibt nichts zu interpretieren. Der oK lässt Intensitäten passieren, er produziert sie und verteilt sie in einem spatium, das selber intensiv ist und keine Ausdehnung hat. Er ist weder ein Raum noch im Raum, er ist Materie, die den Raum bis zu einem bestimmten Grad besetzten wird…193 Der oK widersetzt sich nicht den Organen, sondern jener Organisation der Organe, die man Organismus nennt. […] Der Organismus ist keineswegs der Körper, sondern eine Schicht auf dem oK, das heißt ein Phänomen der Akkumulation, der Gerinnung und der Sedimentierung, die ihm Formen, Funktionen, Verbindungen, dominante und hierarchisierte Organisationen und organisierte Transzendenzen aufzwingt.194

Die Identität von Schlamm und Fleisch in der Empfindung scheint einen solchen organlosen Körper zu erzeugen als eine von Intensitäten durchströmte Materie. Deleuze und Guattari betonen den programmatisch-experimentellen Charakter des organlosen Körpers, der sich bei Blecher in dem transgressiven Begehren, sich im Schmutz zu wälzen und Hund zu werden, wiederfinden ließe, ja, im Einübungscharakter der Begebenheiten überhaupt. Man kann Blechers Empfindungsprosa durchaus als Versuch der Unterwanderung des dressierten und organisierten Körpers lesen oder, mit den Worten Geo Bogzas, als „Revolte“ gegen die „biologische Kondition“195. Die Bewunderung der Ich-Figur für die Stadtnärrin ist in dieser Hinsicht vielsagend. Beneidenswert an ihrem Wahnsinn ist nicht die entfesselte Imagination, wie sie etwa Nadja in André Bretons gleichnamigem Roman verkörpert, sondern die Freiheit des schreienden, tanzenden, exhibitionistischen Körpers.196

|| 193 Gilles Deleuze/Félix Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, 5. Auflage, Berlin 2002, 210. 194 Ebd., 218. 195 „un[ ] adolescent neconformist, revoltat în primul rând de condiția lui biologică“ Geo Bogza, „Cartea lui M. Blecher“, in: Lascu, 2000, 223. Bogza bezieht sich allerdings auf den Protagonisten, nicht auf den Schreibenden. 196 Blecher, 2003, 49.

Baum-Werden, Vogelmensch-Werden | 99

4.9 Baum-Werden, Vogelmensch-Werden Gilles Deleuze und Félix Guattari haben die literarische Textproduktion, vielmehr den Schreibprozess, auf eigene Art und Weise ontologisch in den Blick genommen und ihn als „Sache des Werdens“197 beschrieben. Unter dem Begriff des Werdens, der Bergsonscher Abkunft ist, verstehen sie regel- und ordnungslose, „,anomische‘ Phänomene, die Gesellschaften durchdringen“198, in denen der Mensch in eine Art „widernatürliche[r] Anteilnahme[ ]“199 mit einem Tier, einer Pflanze, einem Stein usw. gerät. Es sind subversive Prozesse der Entsubjektivierung, Schreibfluchten, in denen der Schreibende dem Organismus entkommt, ohne einen anderen Endzustand zu erreichen. Das Werden bedeutet nicht wie bei Bergson Formenschöpfung, sondern eher Auflösung der Form durch Koexistenz mit einer anderen Dauer, von der der Körper affiziert wird. Deleuze und Guattari knüpfen mit dem Begriff des Werdens an evolutionstheoretische Beispiele an, wo die Entwicklung „nicht vom weniger zum höher Differenzierten geht [was durchaus auch bei Bergson vorkommt] und nicht länger eine abstammungs- und erbschaftsmäßige Evolution ist, sondern vielmehr kommunikativ oder ansteckend wird“200, wie im Falle der Symbiosen. Solche transitorischen Zusammenkünfte, in welchen sich die Formen gegenseitig affizieren und ununterscheidbar werden, nennen sie „Involutionen“: „Das Werden ist involutiv, die Involution ist schöpferisch.“201 Durch den schöpferischen Charakter unterscheiden sich die „Involutionen“ von den Regressionen, die Rückfälle auf frühere Entwicklungsstufen sind. Als literarische Fälle des „Tier-Werdens“ führen Deleuze und Guattari etwa Kafkas Tiererzählungen an, die Wal-Jagd des Kapitän Ahab in Moby Dick oder auch die ungeheuerliche Anteilnahme des Lord Chandos am Rattenvolk. Da das Werden nach Deleuze und Guattari keine Formen produziert, verweist es nicht auf metamorphotische oder mimetische Prozesse, sondern nur auf sich selbst, es produziert nur sich selbst. Es ist eine ästhetische Kategorie des Vollzugs, die eine eigene Realität behauptet und die sich der Logik der Repräsentation und Mimesis verwehrt. Das Leben wird im Schreiben nicht abgebildet oder ästhetisch transformiert, sondern das Schreiben „[öffnet] sich dem Leben“, [durchquert] das Lebbare und Erlebte“202, wobei „Leben“ hier nicht im Sinne einer persönlichen Erfahrung zu verstehen ist, sondern als unpersönliches Ereignis. Zudem ist es hier, im Unterschied etwa zur Ästhetik der Einfühlung, kein Subjekt, das Anteil an etwas nimmt. Vielmehr ist im Werden, wie in der Schlammszene oder in der Krise im geschlossenen Raum bei Blecher, eine „Zone der Nachbarschaft, Ununterscheidbar-

|| 197 Deleuze, 2000, 11. 198 Deleuze/Guattari, 2002, 324. 199 Ebd., 353. 200 Ebd., 325. 201 Ebd. 202 Deleuze, 2000, 11.

100 | Die wahrere Realität des Empfindens in Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit

keit oder Nicht-Differenzierung“203 erreicht: „Jetzt war ich dem Schlamm entwachsen, eins mit ihm, wie aus dem Boden geschossen“204, und „eine unmerkliche Osmose ließ mich zu einem Gegenstand des Zimmers werden, genauso wie alle anderen.“205 Wie die Empfindung, die sein Medium ist, ereignet sich das Werden stets „zwischen“ oder „unter“206. Das heißt, die Produktionen des Werdens bleiben eher unterhalb formaler Merkmale und bestimmbarer Beziehungen. Blecher stellt in seiner Ich-Prosa, sowohl in Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit als auch in Beleuchtete Höhle, Vorkommnisse mit Einübungscharakter dar, wo der Organismus unterwandert werden soll bzw. wird. Eine Passage berichtet von merkwürdigen Exerzitien auf dem Dach des großväterlichen Hauses, von einer Art Disziplin des Ausharrens in schwindelerregenden Höhen: Was ich anstrebte, war vor allem, keinen Schwindelanfall zu bekommen und zum selben Gleichgewichtsgefühl zu gelangen, das ich unten auf dem Erdboden hatte. Ich wollte auf dem Dach mein normales Leben führen – als befände ich mich in der schneidenden und dünnen Luft der Höhe – und mich ohne Angst und ohne jeden Eindruck von Leere bewegen. Ich denke, wenn mir dies gelungen wäre, hätte ich elastischere und gasförmigere Gewichte in meinem Körper spüren können, die mich vollkommen verändert und eine Art Vogelmenschen aus mir gemacht hätten.207

Der erwünschte Effekt wäre nicht die Verwandlung zu einem Vogel, sondern „Vogelmensch“ (om-pasăre) zu werden. Anders als die Chimären, die formal heterogen sind, zeichnet sich Blechers Mischwesen nicht formal, sondern allein durch Empfindungsintensitäten aus: durch das Spüren von „elastischere[n] und gasförmigere[n] Gewichte[n]“, die den Körper einer reversiblen und formal unbestimmbaren Transformation unterziehen. Um dies zu erreichen, erfindet der Protagonist eine pedantische Essdisziplin, die ihm als Konzentrationsübung dient: „Ich viertelte jede Weichsel und aß sie der Reihe nach, damit meine normale Tätigkeit so lang wie möglich dauere. Hatte ich eine gegessen, so bemühte ich mich, den Kern hinunter auf die Straße in einen großen Kessel zu werfen, der vor einem Geschäft aufgestellt

|| 203 Ebd. 204 Blecher, 2003, 103; „Eram acum crescut din noroi, una cu dânsul, ca țâșnit din pământ.“ Blecher, 1999, 93. 205 Blecher, 2003, 14; „anastomoze invizibile ce făceau din mine un obiect al odăii la fel cu celelalte“, Blecher, 1999, 46. 206 Deleuze, 2000, 12. 207 Blecher, 2003, 73; „Ceea ce vroiam era mai ales să nu am nici o amețeală și să ajung la o senzație de echilibru egală cu aceea pe care o aveam jos pe pământ. Vroiam ca pe acoperiș să duc viața mea ‚normalăʻ și ca în aerul subtil și tăios al înălțimii să mă mișc fără frică și fără nici o impresie deosebită de vid. Mă gândeam că dacă aș fi reușit acest lucru, în corpul meu aș fi simțit greutăți mai elastice și mai vaporoase, care m-ar fi transformat cu totul și ar fi făcut din mine un fel de om-pasăre.“ Blecher, 1999, 77.

Baum-Werden, Vogelmensch-Werden | 101

war.“208 Als er hinabsteigt, kommt es ihm vor, „als hätte [er] ganze Stunden auf dem Dach verbracht“, während das Zifferblatt der Uhr anzeigt, „dass kaum einige Minuten vergangen waren.“209 In der Divergenz zwischen chronologischer und empfundener Zeit entdeckt das Ich seine Partizipation an verschiedenen Dauern. Die Exerzitien enden mit einer maßlosen Enttäuschung, die allerdings nicht daher rührt, dass das Vogelmensch-Werden scheitert. Vielmehr erscheint die auf dem Dach verbrachte Zeit intensiver als die unten erlebte Zeit. Die spezifische Dauer der Einübung erfährt eine Setzung, die sich auch auf die chronologische, alltägliche Zeit auswirkt. Auch wenn das Vogelmensch-Werden hypothetisch entfaltet wird (Konjunktiv II), sind seine Rückwirkungen auf die Ordnung der Wirklichkeit überaus real. Die Ich-Figur entdeckt, dass die feste Materie übergänglich ist: „Hier unten“, heißt es, „war die Zeit dünner als in Wirklichkeit, sie enthielt weniger Materie als in der Höhe und hatte auf diese Weise Teil an der Zerbrechlichkeit aller Dinge, die in meiner näheren Umgebung so dicht schienen, tatsächlich aber instabil waren, jeden Augenblick bereit, ihren Sinn und ihre provisorischen Umrisse aufzugeben, um in der Gestalt ihrer wahren Existenz zu erscheinen.“210 Die Erfahrung einer anderen Dauer lässt die Wandelbarkeit der Dinge erscheinen, die nicht ein für alle Mal in Formen fixiert, sondern selbst im Werden begriffen sind. Es bestätigt die Intuition, dass die Dinge ebenso wie der eigene Körper transitorisch sind: „Dies bestätigte den seltsamen Eindruck von der Unbestimmtheit und der Unvollkommenheit der Erde“211. In dem Passus ereignet sich schließlich auch eine semantische Umpolung des Wortes „Wirklichkeit“ (realitate), das nun nicht mehr mit der Alltagsrealität synonym ist, sondern auf die in den Höhen verbrachte Zeit, auf den Prozess des Werdens verweist. Eine ähnliche Erfahrung ereignet sich im Park, in der Betrachtung eines Baums. Auch hier ist es die Tiefensensibilität, die eine andere Seins-Möglichkeit eröffnet und ein neues Körperempfinden erzeugt: Ich streckte die Beine auf der Bank aus und fand, da ich mich mit dem Rücken an einen Baum lehnte, eine sehr bequeme Stellung. Was hinderte mich schließlich daran, ebenfalls stark und gleichgültig zu sein? In mir einen kraftvollen und frischen Saft zu spüren, wie er durch die

|| 208 Blecher, 2003, 73‒74; „Împărțeam fiecare vișină în sferturi și le mâncam pe rând pentru ca ocupația mea ‚normalăʻ să dureze cât mai mult. Când isprăveam una, mă căzneam să arunc sâmburele jos în stradă, într-un cazan mare expus în fața unei prăvălii.“ Blecher, 1999, 78. 209 Blecher, 2003, 74; „mi se părea că rămăsesem pe acoperiș ore întregi“, „nu trecuseră decât câteva minute“, Blecher, 1999, 78. 210 Blecher, 2003, 74; „Timpul aici jos, era mai rar decât în realitate, el conținea mai puțină materie ca în înălțime și participa astfel la fragilitatea tuturor lucrurilor, ce păreau în jurul meu atât de dense și erau totuși atât de instabile, gata în orice moment să-și părăsească înțelesul și conturul provizoriu pentru a apărea în forma exactei lor existențe...“ Blecher, 1999, 78. 211 Blecher, 2003, 74; „Asta întărea senzația mea ciudată, pe pământ, de indefinit, de neterminat...“ Blecher, 1999, 78.

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Abertausende von Zweigen und Blättern an den Bäumen floss, aufrecht und ohne Verstand im Licht der Sonne zu stehen, gerade, gediegen, mit einem sicheren und genau bestimmten Leben, das fest wie in einer Falle in mir eingeschlossen wäre…212

Das eigene Sosein wird in Frage gestellt und durch die Übernahme der anderen Seins-Möglichkeit (im Original Konjunktiv I, in der deutschen Übersetzung Infinitiv) unterwandert. Die Umpolung der Körperfunktionen leitet eine Art Symbiose mit dem Baum ein. An der Neuorganisation der „Hörwelt“213 zeigt sich, dass die virtuelle Anverwandlung an den Baum reale Wirkungen zeitigt, dass sie keine bloße Phantasie ist. Die Stadt in der Ferne ordnet sich klanglich neu und „dreht[ ] […] sich langsam wie eine Grammophonplatte“214 um den Protagonisten: „Ich war so etwas wie Zentrum und Achse der Welt geworden.“215 Nach Deleuze und Guattari gibt es eine Semiotik des Werdens, „die sich von formalen Signifikanzen und persönlichen Subjektivierungen befreit hat.“216 Zu ihr gehört der unbestimmte Artikel als Ausdruck einer Individuation, die nicht subjektiviert ist, sondern sich in einem Gefüge ereignet, zwischen Termen. Bei Blecher heißt es: Verschwiegen und großartig wie ein Baum. Das war’s, wie ein Baum. Ich füllte mir die Lungen mit Luft, und während ich mich, auf dem Rücken liegend, wohlig streckte, sandte ich den Ästen über mir einen warmen, kameradschaftlichen Gruß zu. Der Baum hatte etwas Rauhes und Einfaches, das sich meinen neuen Kräften wunderbar anverwandelte [se înrudea]. Ich streichelte seinen Stamm, als klopfte ich einem Freund auf die Schulter. ,Kamerad Baum!‘ Je aufmerksamer ich die unendlich verzweigte Krone betrachtete, desto besser spürte ich, wie in mir das Fleisch sich teilte und in den Hohlräumen sich lebendige Luft bewegte. Mächtig und voller Lebenssäfte stieg das Blut in meinen Adern und schäumte aufgewühlt vom Gebrodel des einfachen Lebens.217

|| 212 Blecher, 2003, 119‒120; „Întinsei picioarele pe bancă și rezemându-mă cu spatele de un copac găsii o poziție foarte comodă. În definitiv, ce mă împiedica să fiu și eu puternic și nepăsător? Să simt în mine circulând o sevă viguroasă și proaspătă, cum circulă prin miile de ramuri și de frunze ale copacului, să stau vertical și fără înțeles în lumina soarelui, drept, sobru, cu o viață sigură și bine definită, închisă în mine ca într-o capcană...“ Blecher, 1999, 103. 213 Waldenfels, 1999, 190. 214 Blecher, 2003, 120, „se învârtea foarte lent în jurul meu ca o placă de gramofon“, Blecher, 1999, 103. 215 Blecher, 2003, 120; „Devenisem ceva ca de pildă centrul și axa lumii.“ Blecher, 1999, 103. 216 Deleuze/Guattari, 2002, 358. 217 Blecher, 2003, 121; „Tăcut și superb ca un copac. Asta era – ca un copac. Îmi umplui pieptul cu aer și întinzându-mă acum bine pe spate, adresai un cald salut de camaraderie crengilor de deasupra mea. Era ceva aspru și simplu în copac, ce se înrudea minunat cu noile mele forțe. Mângâiai trunchiul așa ca și cum aș fi bătut pe umăr un prieten. ‚Camarade copac!ʻ Cu cât priveam mai atent coroana infinit răspândită a ramurilor, cu atât simțeam mai bine cum în mine carnea se divide și prin golurile ei începe să circule aerul viu de afară. Sângele se urca în vine maiestuos și plin de sevă, înspumat de clocotul vieții simple.“ Blecher, 1999, 104.

Baum-Werden, Vogelmensch-Werden | 103

Blechers zweifacher Vergleich – „wie ein Baum“, nicht „wie der Baum“ oder „wie dieser Baum“ – zeichnet eine Fluchtlinie, eine Richtung der Anverwandlung vor, die keine Anähnlichung an eine bestimmte Form ist. Deshalb gerät der Protagonist in Schwierigkeiten, als er sich Edda als Baum zeigen möchte. Das Baum-Werden ist schwer vermittelbar, es grenzt ans Schweigen: „Wie konnte ich sie beispielsweise dazu bringen, zu verstehen, dass ich ein Baum war? Mit immateriellen, ungeformten Wörtern wäre dies durch die Luft zu übertragen gewesen; eine prächtige und gewaltige Krone aus Zweigen und Blättern so wie ich sie in mir spürte. Wie hätte ich dies tun können?“218 Die Sympathiebekundungen und kameradschaftlichen Gesten des Protagonisten dem Baum gegenüber wirken schon seltsam, weil sie bereits ein zu viel an Signifikanz in sich bergen, allzu menschlicher Ausdruck sind und die äußeren Differenzen in Gestalt erscheinen lassen. Hier zeigt sich, dass die Anverwandlung keine formale ist und sich nicht in der Dimension objektiver Bestimmbarkeit ereignet. In Kafkas Die Verwandlung ist die Metamorphose Gregor Samsas für alle Figuren wahrnehmbar, es ist ein Einbruch des Fremden in eine intersubjektive Alltagsdimension, auf das die Figuren reagieren und darüber seine monströse Realität überhaupt erst mit konstituieren.219 In Bruno Schulzʼ Die Zimtläden erfährt der Vater diverse Metamorphosen zu einem ausgestopften Geier, zu einem Krebs, die unentscheidbar zwischen magischer Realität und Phantasie des Kindes oszillieren.220 Ebenso wie die exzentrischen Gestaltenwechsel des Schulzschen Vaters sind die Prozesse des Werdens bei Blecher reversibel. Mit Veränderung der Körperlage, spätestens aber durch den Ortswechsel zerstreut sich die Evidenz der Empfindung. Die Realität des Werdens tritt bei Blecher in Konflikt mit der unverrückbaren Alltagsrealität und stößt immer wieder an die Grenzen des Faktischen. Für die Figur ist dieser Konflikt ein unversöhnlicher, für den Schreibenden ein schöpferischer Raum. Das Erzählen öffnet sich der Dimension des Lebbaren und Möglichen und wird visionär, macht das Unwahrnehmbare wahrnehmbar: Zig Kilogramm schweres Zaudern, ganze Stunden lang Schweigen, Verstörung und Taumel in Fleisch und Blut, all dies konnte in jenen elenden Zwischenraum eindringen, ohne dass irgendeine Erscheinung die schwarze Färbung und die schwülstige Materie angezeigt hätte, die er enthielt. Die Abstände in der Welt waren nicht einfach die, die wir winzig und durchlässig, mit den Augen sehen konnten, sondern unsichtbare, mit Monstren und Unternehmungen und ungeahnten Gesten angefüllt, die das Angesicht der Welt, hätten sie sich nur für einen Moment zu

|| 218 Blecher, 2003, 125; „Cum puteam s-o fac să înțeleagă, de pildă, că sunt un copac? Era de transmis cu cuvinte imateriale și informe, prin aer, o coroană de ramuri și frunze, superbă și enormă, așa cum o simțeam în mine. Cum aș fi putut face asta?“ Blecher, 1999, 106. 219 Franz Kafka, „Die Verwandlung“ (1915) in: Franz Kafka, Sämtliche Erzählungen, Frankfurt am Main 1995. 220 Schulz, 2008, 152.

104 | Die wahrere Realität des Empfindens in Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit

der Materie zusammengefügt, aus der sie zu bestehen strebten, in eine schauderhafte Katastrophe verwandelt hätten, in ein außerordentliches Chaos voll grausamen Unglücks und ekstatischer Glückseligkeit.221

Es ist das Schweigen und die schwindelerregenden Sensationen die erzählerisch realisiert werden. Daraus ergibt sich auch die hermeneutische Crux, wenn nicht die Unmöglichkeit, die Prosa Blechers autobiographisch zu lesen, denn die Autobiographie ist an eine personale Subjektinstanz gebunden, während es sich hier tendenziell um eine erzählerische Entsubjektivierung handelt, bei aller Rhetorik der IchSuche zu Beginn und am Ende der Erzählung.222

|| 221 Blecher, 2003, 125‒126; „Ezitări de zeci de kilograme, tăceri de ceasuri întregi, turburări și vertigii de carne și sânge, toate acestea puteau intra în spațiul acela mizerabil fără ca nici o aparență să arate coloritul negru și materia pâcloasă ce conținea. În lume distanțele nu erau în mod simplu acelea pe care le vedeam cu ochii, infime și permeabile, ci altele invizibile, populate de monștri și de timidități – de proiecte fantastice și de gesturi nebănuite, care, dacă, [sic] o clipă s-ar fi închegat în materia din care tindeau să fie compuse ar fi tranformat aspectul lumii într-un cataclism îngrozitor, într-un haos extraordinar, plin de crunte nenorociri și de extatice beatitudini.“ Blecher, 1999, 106. 222 Deshalb verweist auch Doris Mironescu im Untertitel seiner Monographie Viaţa lui M. Blecher. Ȋmpotriva biografiei [Das Leben M. Blechers. Gegen die Biographie] darauf, dass jede Textlektüre notwendig Distanz zum Biografismus halten muss.

5 Aisthetik der Prosasprache 5.1 Prosarauschen „Entdeckungsreise unter die Schädeldecke“1, „Fremdgeherei“2 mit den Dingen, „ästhetische Zustände“, „Ek-Stasen“, „Heraustreten aus sich selbst“3: was genau macht den Gegenstand der Ich-Erzählungen M. Blechers aus? Es bedarf ästhetischer Reflexion, literarischen Spürsinns und treffender Worte, wie sie Harald Hartung und Herta Müller gefunden haben, um den Gegenstand der Ich-Prosa Blechers zu benennen. Vielmehr ist es so, dass sich dem Leser zuweilen schwer erschließt, was der Ich-Figur in Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit oder auch in Beleuchtete Höhle widerfährt. Sobald man sich dem Sog dieser suggestiven Prosa entzieht, beschleicht einen die Frage, was das eigentlich für Erscheinungen und seltsame Erlebnisse sind, die Blecher darstellt. Der rumänische Autor hat mit dem Titel seines ersten Prosabuchs einen Hinweis darauf gegeben, wo sich das Dargestellte epistemologisch verortet. Erzählt werden nicht Ereignisse, die die Kategorien des Denkens und Fühlens bestätigen, erzählt werden vereinzelte „Begebenheiten“ oder auch „Vorkommnisse“ (întâmplări), die sich in einer „unmittelbaren Unwirklichkeit“ abspielen. Sie werfen das Subjekt auf seine Sinne und Empfindungen zurück, stiften Unruhe in ihm. Aber das ist noch eine dürftige Umschreibung dessen, was Blecher zum Thema macht. Gewiss geht die Wirkung der Texte über ihren Aussagegehalt und ihre Sinndimension hinaus. Für die Ich-Figuren selbst haben die Vorkommnisse einen schwer fasslichen Zauber und etwas Geheimnisvolles an sich. So berichtet der Erzähler in Beleuchtete Höhle von seiner „vollkommene[n] Verblüffung“4 (deplină uluire) angesichts der „seltsame[n] Vielfalt der Alltagstatsachen“5 (strania diversitate a faptelor cotidiene) und für den Pubertierenden in Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit wird der „Dämmerzustand“6 des Nicht-Begreifens (starea crepusculară) zur quasi-natürlichen Verfassung. In ihrer sprachlichen Darstellung bleiben die Vorkommnisse auch für den Leser in gewissem Maße undurchsichtig und schwer deutbar, wie man es eher aus der Lektüre von Poesie als von erzählender Prosa kennt. Anders gesagt, entfaltet

|| 1 Harald Hartung, „Meine Haut wie ein Sieb“ in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3. Februar 2004, Nr. 28, 34. 2 „Sein Fleisch scheint ins Material der Dinge zu schlüpfen, eine Art Fremdgeherei in leblose Schnörkel. Und das Material antwortet seinerseits mit gleicher Fremdgeherei ins Fleisch des Betrachters.“ Aus dem Nachwort Herta Müllers in: Blecher, 2003, 145. 3 „Starea de leșin […] este în fond o stare estetică, o ek-stazie, o ieșire în afară de sine.“ Balotă, 1974, 164. Meine Übersetzung. 4 Blecher, 2008, 26; Blecher, 1999, 242. 5 Blecher, 2008, 23; Blecher, 1999, 241. 6 Blecher, 2003, 18; Blecher, 1999, 48.

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Blechers Prosa, insbesondere durch die Rekurrenz suggestiver Sprachbilder wie jenes des offenen Fleisches, ein eigentümliches Rauschen, das sich nicht entschlüsseln und erschöpfend nicht interpretieren lässt, umso mehr als die Referenz, also das, was sich beispielsweise in der Kindheit des Protagonisten ereignet hat, für den Erzähler selbst gleichsam unverfügbar bleibt. Stets sind die krisenhaften Begebenheiten begleitet von dem Zweifel an ihrer Wirklichkeit und präzisen Erinnerbarkeit. Mit Rauschen meine ich eine Extremform der ästhetischen Erfahrung im Sinne Martin Seels, der es als „Geschehen ohne Geschehendes“7 bestimmt. Das Rauschen ist die Erfahrung eines sinnlichen Vollzugs oder einer Gegenwart, nicht einer Gegenwart von etwas, sondern eher einer mannigfaltigen Dauer. Deshalb heißt es oft von der ästhetischen Erfahrung, dass sie ein „Verweilen“8 bei den Sachen oder auch ein „Aufnehmen, Auskosten“ der Sachen sei.9 Im Falle des Rauschens bleibt die kognitive Verarbeitung, ja selbst die ordnende Leistung der Sinne, die im Geräusch die Geräuschquelle, im Gesehenen Gestalten und Strukturen identifiziert, aus. In diesem Sinne erscheinen der Blecherschen Ich-Figur gewisse „böse“ Umgebungen als mannigfaltige und überfordernde Empfindungskomplexe. Das Ich gibt sich einem Geschehen preis oder es ist ihm ausgesetzt, ohne dass es begreifen könnte, was ihm geschieht. Schon eher empfindet und sagt es, wie ihm geschieht. Der Freiheitsrausch der Dinge und ihr lebendiges Erscheinen „bis aufs Blut enthäutet“10 (jupuite până la sânge) können als Phänomene des Rauschens gelesen werden oder, wie es Seel formuliert, als Phänomene der „radikalen Immanenz des Erscheinens“11. Aber auch das Lesen der Krisenerzählungen ist in gewissem Maße Rauschen, sprachliches Rauschen. Die Figurensprache Blechers entfaltet eine semantische Komplexität und Dichte, die den Leser in ihren Bann schlägt. Das ist kein spezifisches Kennzeichen der Prosa Blechers, sondern ein Kennzeichen poetischer Sprache allgemein, bis zu einem gewissen Grad nämlich unfasslich zu bleiben. Die kognitive Unbegreiflichkeit des literarisch Gesagten kann freilich ein umso beflisseneres Bemühen um Interpretation nach sich ziehen. Was das Rauschen der Prosa Blechers im Besonderen ausmacht, ist ihre plastische Anschaulichkeit, die sich auf ungewöhnliche Weise mit einem analytischen Erzählstil und abstrakten Vokabular paart. Überhaupt brilliert Blecher darin, Unverhältnismäßiges zusammenzuführen und dadurch die Gedanken- und Gefühlsordnung des Lesers zu brüskieren. Etwas Alltägliches oder Geringfügiges löst eine ungeheuerliche Intensität der Empfindung aus, etwas Tragisches wird von Banalem begleitet, ein übersehenes Detail stürzt die IchFigur in schiere Verzweiflung, die Lebenstage werden im Sanatorium beim Karten-

|| 7 Seel, 2003, 227. 8 Ebd., 56. 9 Schapp, 1976, 13. 10 Blecher, 2003, 14; Blecher, 1999, 47. 11 Seel, 2003, 227.

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spiel verloren und Menschen, die um den Tod eines Angehörigen trauern, wird mit einem Spargelessen Trost gespendet! Trivialität und Intensität, Pathos und Gefühlskälte gehen bei Blecher stets zusammen. Das sprachbildliche, referentielle Rauschen der Blecherschen Prosa – Was wird da eigentlich erzählt? Was passiert da? – geht einher mit einem ausgesprochenen Bewusstsein des Ich-Erzählers für die Möglichkeiten, Grenzen und die Wirkung von Sprache. So nennt der Ich-Erzähler in Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit den Gegenstand seiner Erinnerungserzählung abstrakt die „Krisen [s]einer Kindheit“12 (‚crizele‘ mele din copilărie), weil ihm ein geeigneteres Wort zur Bezeichnung der singulären Vorkommnisse fehlt. Das Wort „Krisen“ ist typographisch hervorgehoben. Es steht zwischen Anführungszeichen (in der deutschen Fassung ist es kursiviert). Das signalisiert sprachliche Verlegenheit, einen ungefähren, nicht ganz zutreffenden Wortgebrauch. Die Anführungszeichen weisen nicht nur auf die Figurativität der Wendung hin, sondern stellen in einem literarischen Text ihre Evidenz zugleich in Frage. Die Figur der „Krise“ wird zunächst als fremd und dem Kontext nicht ganz angemessen kenntlich gemacht, bis sie nach mehrfacher Nennung keiner Markierung mehr bedarf, weil sie im semantischen Kontext der Erinnerungserzählung eine Umpolung erfahren hat. Was der Erzähler selbst noch als Worthülse empfand, füllt sich mit Bedeutung und gewinnt in dem neuen Zusammenhang der Erinnerungserzählung an Evidenz. Das Wort „Krise“ hatte in den ersten Dekaden des zwanzigsten Jahrhunderts Konjunktur. Ludwik Fleck diskutierte unter dem Stichwort der „Krise der ,Wirklichkeit‘“13 1929 das Weltbild der empirischen Wissenschaften; Edmund Husserl betitelte seine letzte, 1936 publizierte Schrift, wo er eine philosophische Reflexion der Lebenswelt forderte, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie14; Walter Benjamin verkündete 1930 in seiner Rezension zu Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz die Krisis des Romans15 und in Rumänien hatte Mircea Eliade 1927 in seiner Programmschrift Itinerariu spiritual (Geistiger Wegweiser)16 die Krise als erkenntnisgenerierende Erfahrungsform dargelegt.17 Ob negativ oder positiv konno|| 12 Blecher, 2003, 9; Blecher, 1999, 44. 13 Fleck, 1983, 46‒58. 14 Husserl, 1982. 15 Walter Benjamin, „Krisis des Romans. Zu Döblins ‚Berlin Alexanderplatz‘“ (1930) in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. 3, Hella Tiedemann-Bartels (Hrsg.), Frankfurt am Main 1972, 230‒237. 16 Mircea Eliade, „Itinerariu spiritual – Experienţele“ (Geistiger Wegweiser ‒ Die Erfahrungen), „Itinerariu spiritual – Cultura“ (Geistiger Wegweiser ‒ Die Kultur), „Itinerariu spiritual – Insuficienţa literaturii“ (Geistiger Wegweiser ‒ Die Uzulänglichkeit der Literatur) in: Eliade Mircea. Itinerariu spiritual. Scrieri din tinereţe, 1927 (Geistiger Wegweiser. Jugendschriften, 1927), Bukarest 2003, 289‒292, 304‒308, 308‒313. 17 Die manifesthafte Artikelreihe richtete sich an die junge Generation von Intellektuellen und Kulturschaffenden. Unter dem Namen „Junge Generation“ profilierten sich Intellektuelle, Künstler

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tiert, ob als Ausnahmezustand gefürchtet oder als Chance zur radikalen Erneuerung ersehnt und überhöht – die Krise schien aus Sicht der Zeitgenossen Blechers sämtliche Bereiche des Lebens und der geistigen Tätigkeit erfasst zu haben. Der Begriff ist in den epistemologischen und ästhetischen Diskursen der Moderne geradezu allgegenwärtig. Näher vielleicht an Blechers Semantik findet man das Wort bei Bergson in dem bereits 1912 erschienenen Oeuvre Schöpferische Entwicklung. Als „Krise“ bezeichnet Bergson dort Altersübergänge wie die Pubertät und die Menopause, die der französische Philosoph als unentscheidbare Erscheinungen zwischen Entwicklung und Verfall, „unablässige[r] Formveränderung“18 und Alterungsprozess auffasst. Dem Wort haftet jene Doppeldeutigkeit von Werden und Vergehen an, die auch für Blechers Darstellung der Dinge kennzeichnend ist. Tatsächlich spielen sich die meisten Begebenheiten bei Blecher in dem Schwellenalter zur Jugend ab. Allerdings betont Blechers Ich-Erzähler zugleich den persönlichen, individuellen Charakter der Krisen: es sind die „Krisen meiner Kindheit“19, während der aus der Biologie stammende Begriff bei Bergson eine artspezifische Phase des Wandels meint. Zudem ist die Wendung kein Genitivus possessivus. Es ist nicht unbedingt die Kindheit, die in der Krise steckt. Vielmehr nimmt der Genitiv eine temporale Bestimmung vor, welche im Rumänischen präpositional zum Ausdruck kommt: meine Krisen aus der Kindheit (‚crizele‘ mele din copilărie)20.

5.2 Sagen, was nicht in Worte eingeht Im Rückgriff auf die zeitgenössischen Verwendungen des Begriffs „Krise“ kann die Bezeichnung „Krisen der Kindheit“ bio- und anthropologisch etwa als Schwellenalter zur Pubertät, subjekttheoretisch als prekäre Subjektivität des Heranwachsenden interpretiert werden, freilich, ohne dass ihr semantisches Potential dadurch ausge-

|| und Schriftsteller, die zwischen 1907 und 1914 geboren wurden, in den späten zwanziger und in den dreißiger Jahren zur Kulturelite in Rumänien. Die „Junge Generation“ verschrieb sich der Schaffung von Kulturwerten, die mit der Zeit zunehmend nationaler ausfielen und sich schließlich nach rechts radikalisierten, was den Zerfall des Generationenzusammenhaltes nach sich zog. Zur „Jungen Generation“ zählten unter anderen Mircea Eliade, Eugen Ionescu, Mihail Sebastian, Petre Ţuţea, Mircea Vulcănescu, Emil Cioran. Blecher gehört dem Alter nach der gleichen Generation an; die Isolation, zu der ihn die Krankheit zwang, verhinderte seine aktive Teilhabe an der Kulturarbeit der „Jungen Generation“. Siehe dazu Mircea Vulcănescu, Tânăra Generaţie (Die Junge Generaţion) Bukarest 2004 und Zigu Ornea, Anii treizeci. Extrema dreaptă românească. (Die dreißiger Jahre und die rumänische Rechtsextreme). Bukarest 1995, wo die Faschisierung der rumänischen Intelligenz rekonstruiert wird. 18 Bergson, 1921, 25. 19 Blecher, 2003, 9. Meine Hervorhebung. 20 Blecher, 1999, 44. Meine Hervorhebung.

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schöpft wäre. Es handelt sich um eine Figur, die durch die Anführungszeichen als ungenau empfunden ausgezeichnet ist. Bei eingehender Betrachtung signalisieren die Anführungszeichen nicht einen metaphorischen Sprachgebrauch, der ja keiner Kennzeichnung bedürfte, um erkannt zu werden. Vielmehr weisen sie auf das expressive Unvermögen des Wortes hin, das zur Erscheinungszeit von Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit inflationär in Gebrauch war. Während die Bezeichnung der unverfügbaren Vorkommnisse und „halluzinatorischen Entrücktheiten“21 (halucinantele mele transe) als „Krisen“ den Anschluss an eine Vielzahl epistemologischer und ästhetischer Diskurse möglich macht, markieren die Anführungszeichen zugleich das Ungenügen des Wortes angesichts dessen, was es im Kontext dieser Erzählung benennen und exakt bestimmen soll. Schließlich nimmt das Wort „Krise“ eine autoreferentielle Bedeutung an. Der Ich-Erzähler der „Krisen der Kindheit“ beweist ein genuin modernes Bewusstsein für die begrenzten Möglichkeiten der Sprache. Diese Besinnung auf die Sprache findet zuweilen einen expliziteren Ausdruck, als Klage über die unkontrollierbare Eigendynamik der Sprachbilder zum Beispiel oder als Sehnsuchtsvision eines „magische[n] Wort[es]“22 (cuvânt magic). Blechers Prosa lässt sich im weiteren Feld des modernen, literarischen Phänomens der Sprachkrise verorten, insofern sie ein Bewusstsein für das Potential, die medialen Eigenheiten und die manchmal unzureichende Prägnanz des sprachlichen Ausdrucks artikuliert. Ebenso wie die „freudige[n] und belebende[n] Augenblicke“23, die Lord Chandos dazu veranlassen, das Schreiben und die Sprache aufzugeben, sind auch die Begebenheiten in Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit und Beleuchtete Höhle Erlebnisse einer dichten Gegenwart der Dinge und extreme Selbsterfahrungen, die sich als „ekstatische Selbstpreisgabe“24 ereignen. Dabei geraten die Subjektivität, das Denken und die Sprache an ihre äußersten Grenzen. Das Ich stürzt in die Tiefenschichten intensiver Empfindungen, die distinktiv nicht wahrgenommen werden können, die keinen Namen haben und die erst durch ein erschließendes oder schöpferisches Schreiben benannt und vorstellbar gemacht werden können. Das Bewusstsein für die Möglichkeiten und Grenzen der Sprache mündet allerdings bei Blecher nicht wie bei Lord Chandos in „sprachskeptische Resignation“25. Die „reinste[ ] erhabenste[ ]

|| 21 Blecher, 2003, 9; Blecher, 1999, 44. 22 Blecher, 2003, 15; Blecher, 1999, 47. 23 Hugo von Hofmannsthal, „Ein Brief“ in: Hugo von Hofmannsthal, Der Brief des Lord Chandos. Erfundene Gespräche und Briefe, Frankfurt am Main 2002, 27. 24 So beschreibt Martin Seel die Kehrseite der ästhetischen Erfahrung, die er in erster Linie als „spielerische Selbstgewinnung“ begreift. Siehe Seel, 2003, 27. 25 Helmut Pfotenhauer u. a. (Hrsg.), Poetik der Evidenz. Die Herausforderung der Bilder in der Literatur um 1900, Würzburg 2005, IX. Die Herausgeber argumentieren in der Einleitung dafür, dass die Literatur der Moderne durch die Konkurrenz zum Bild als das andere, unmittelbarere Medium,

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Gegenwart“ der epiphanen Augenblicke bleibt nicht etwas „Unbenanntes und wohl kaum Benennbares“26,, sondern sie setzt eine kreative Bemühung in Gang, die die unmittelbare Phänomenalität der kindlichen Welt in einer versinnlichenden Sprache einzuholen bemüht ist. Eine imaginative Bewegung in die Sprache der „stummen Dinge“27 hinein realisiert schließlich auch der Brief des Lord Chandos, der sich als paradoxes Dokument eines Unbehagens an der Sprache liest, das sprachmächtig zur Darstellung kommt. Ein Auszug aus einem Brief Blechers vom 27. Oktober 1934 an Geo Bogza, dem enfant terrible der Bukarester Avantgarde, veranschaulicht, wie Momente der Sprachskepsis bei dem jüdisch-rumänischen Autor zum Anlass genommen werden, die Wirkung der Darstellung durch neue und immer konkretere Ausdrucksweisen zu überbieten, um der Komplexität des dargestellten Erlebens möglichst nahezukommen. Blecher spricht dort über seine Lektüre von Geo Bogzas Gedicht Im Gespräch mit M. Blecher. Er beschreibt die intensiven Gefühle, die das literarische Freundschaftsbekenntnis Bogzas beim Lesen in ihm auslöste. Den skandalumwitterten Avantgarde-Dichter hatte Blecher im Sommer des Jahres 1934 während seines Kuraufenthaltes in der Karpatenstadt Braşov kennengelernt, als beide mit gelegentlichen Beiträgen an der Literaturzeitschrift Frize (Friese) mitwirkten.28 Daraus entwickelte sich ein reger literarischer und freundschaftlicher Austausch mit langen Gesprächsabenden in Blechers Kronstädter Pension, die die Entstehung von Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit entscheidend voranbrachten. Während der Abschlussarbeiten wird Blecher die Begegnung mit Bogza in Kronstadt wiederholte Male als wegweisend einschätzen. Voller Dankbarkeit wird er dem Freund schreiben: „Ohne dich hätte ich mein Dasein in der schlimmsten, obskursten Anonymität gefristet, besessen von absurden Träumen und überholten Dadaismen. Dir verdanke ich zunächst, dass ich zu einer Struktur gefunden habe, und dann die Veröffentlichungsmöglichkeiten. Es gibt etwas, was sich ‚Sinn des Lebens‘ nennt, vergib mir das große Wort, du hast meinem ‚Leben‘ einen Sinn gegeben.“29 Als das Buch erscheint, bekennt Blecher erneut: „Wäre ich dir nicht begegnet, tappte ich heute noch durch

|| dynamisiert worden sei, was sowohl eine Reflexion über das eigene, spezifisch semiotische Vermögen in Gang gesetzt habe, als auch eine „Transgressionslust“ zwischen den Medien und Künsten. 26 Hofmannsthal, 2002, 27‒28. 27 Ebd., 32. 28 Eine gebündelte Analyse der Publikationen Blechers in der Kronstädter Zeitschrift findet man in Mironescu, 2011, 121‒125. 29 „[F]ără tine aș fi continuat să vegetez în cel mai execrabil și mai obscur anonimat, îmbuibat de visuri absurde și de dadaisme învechite. Ție îți datorez înainte de toate organizarea mea și apoi posibilitățile de publicare. Este ceva ce se numește ‚sensul viețiiʻ, iartă-mi cuvântul acesta mare, și tu ai dat un sens ‚viețiiʻ mele.“ Brief M. Blechers an Geo Bogza vom 22. Juni 1935 in: Lascu, 2000, 72. Meine Übersetzung.

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die Finsternis des schwärzesten, schrecklichsten Dilettantismus“30, und bezeichnet sich in bescheidener und zärtlicher Dankbarkeit als Bogzas „Fohlen“: „[I]n Frankreich nennt man ‚poulain‘ einen von einem größeren Autor lancierten Schriftsteller.“31 Im Oktober 1934, noch bevor er als Prosaautor debütiert, liest Blecher nun in Frize das Gedicht des Freundes, in dem die gemeinsamen Gesprächsabende in der Kronstädter Pension evoziert werden. Im Gespräch mit M. Blecher32 Die Uhren schlugen, sieben, in spitzen, katholischen Türmen läuteten die Kirchenglocken aus Brașov, aus dem tiefem Mark des Waldholzes erwacht stieg ich hinab in die Ciocrac Straße zur Nummer 8 und führte bis Mitternacht fast Gespräche mit meinem Freund Blecher.

|| 30 „[D]acă nu te întâlneam, eu aș fi rămas în bezna celui mai negru și odios diletantism.“ Brief M. Blechers an Geo Bogza vom 27. Januar 1936, ebd., 103. Meine Übersetzung. 31 „[Î]n Franța se numește ‚poulain’ un autor lansat de unul mai mare[.]“ Brief M. Blechers an Geo Bogza vom 19. Februar 1936, ebd., 107. Meine Übersetzung. 32 „Ceasuri băteau, șapte, din turnuri ascuțite și catolice / clopotele bisericilor din Brașov, / iar eu trezit din măduva adâncă a lemnului de pădure / coboram în strada Ciocrac la no. 8 / și până aproape de miezul nopții / ședeam de vorbă cu prietenul meu Blecher. // A fost o vară / și pe urmă o toamnă foarte lungă / cu frunza copacilor verde pe Varte si pe Tâmpa / cu aerul care venea din munți, matur și copt, ca un romancier, ca Liviu Rebreanu. // Noi am vorbit tot timpul de lucrurile esențiale ale vieții/ de lucrurile pe care le iubeam mai mult decât orice, / am vorbit despre lapte cu glasul desfăcut într-o claviatură de emoții / despre laptele alb și substanțial, acest lucru teribil în fiecare dimineață / când reveniți dintre tenebrele metafizice ale somnului / luam, prin lapte, din nou contact cu viața adevărată, cu lucrurile concrete (și tocmai de aceea atât de sfinte) ale pământului. // Noi am iubit vacile care la Codlea si la Râșnov / pășteau iarba grasă de la poalele munților / și ca niște uzine extraordinare / creau în ugerul lor substanța aceasta a vieții, / în fiecare dimineață în paharul cu lapte noi beam pe rând toate continentele, întreaga planetă, / tot ce s-a putut scoate mai esențial din toate sucurile pământului / aici era viața toată, întreaga planetă / în paharul nostru cu lapte din fiecare dimineață. // Se vedeau crestele munților pe fereastra / și în timp ce atâtea lucruri vechi ne treceau prin memorie / fața noastră era luminată de subiectul vorbirii. // Vorbeam mai departe despre viață și despre pâine / brutării ale Brașovului primele care se deschid dimineața / și din case oamenii se îndreaptă spre ele ca spre izvorul primordial al vieții, / sub braț cu o pâine, sub braț cu viața / am mers între casele vechi de sute de ani / mestecând între dinți ogoarele de grâu ale Ardealului. // Dar nu eram niște îmbuibați, niște canalii care se îndoapă / pe aceștia îi cunoaștem și îi urâm / noi nu eram decât oameni simpli cărora le e foame și mănâncă pe foamea lor / un pahar cu lapte, o bucată de pâine / lucruri esențiale ale vieții.“ Geo Bogza, „De vorbă cu M. Blecher“ in: Lascu, 2000, 23‒25. Meine Übersetzung.

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Auf den langen Sommer folgte ein langer Herbst mit viel grünem Laub auf dem Varte und der Tâmpa33 mit Bergluft, reif und beseelt wie ein Romancier, wie Liviu Rebreanu34 Wir sprachen über die wesentlichen Sachen des Lebens, über Sachen, die wir über alles liebten, wir sprachen über die Milch mit einer in Gefühlsakkorden gelösten Stimme die weiße und substanzielle Milch, jeden Morgen diese erschreckende Sache, wenn wir, aus dem metaphysischen Dunkel des Schlafs erwacht, über die Milch wieder Kontakt mit dem echten Leben nahmen, mit den konkreten (und eben deshalb so heiligen) Dingen der Erde. Wir liebten die Kühe, die in Codlea und Râșnov35 das saftige Gras am Fuße der Berge weideten, und die wie wunderbare Kraftwerke in ihren Eutern diesen Lebenssaft produzierten, jeden Morgen tranken wir mit dem Glas Milch reihum alle Kontinente, den gesamten Planeten, die aus den Bodensäften gewonnene Essenz, darin fand sich das gesamte Leben, der ganze Planet wieder, in unserem allmorgendlichen Glas Milch. Man sah den Kamm der Berge durchs Fenster und während wir so vieler alter Sachen gedachten, leuchteten unsere Gesichter auf. Wir sprachen in einem fort über das Leben und über das Brot, Bäckereien Brașovs, die am Morgen zuallererst öffnen, Menschen steuern aus ihren Häusern darauf zu wie auf den Urquell des Lebens, mit einem Brot unterm Arm, unterm Arm mit dem Leben ging ich zwischen die jahrhundertealten Häuser die Getreidefelder Transsilvaniens zwischen den Zähnen. Doch wir waren keine Verfressene, keine vollgestopften Kanaillen diese kennen und hassen wir wir waren bloß einfache Leute, die Hunger hatten und ihren Hunger stillten, mit einem Glas Milch, einem Stück Brot, den wesetnlichen Sachen des Lebens.

In dem Brief an Bogza vom 27. Oktober 1934 beschreibt Blecher nun seine Rührung, als er das Gedicht in der Zeitschrift Frize zum ersten Mal las:

|| 33 Varte und Tâmpa sind Berge, an deren Fuße die Stadt Braşov (dt. Kronstadt) liegt. 34 Liviu Rebreanu, 1885 – 1944, rumänischer Schriftsteller aus Transsilvanien, Verfasser der Romane Ion und Pădurea spânzuraţilor (Wald der Erhängten), die als repräsentative Werke des rumänischen Realismus gelten. 35 Codlea, dt. Zeiden und Râşnov, dt. Rosenau Kleinstädte bei Braşov.

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Du kannst dir wahrscheinlich vorstellen, wie bewegt ich war, als ich Frize aufschlug und dein Gedicht las; ich weiß allerdings nicht, ob du dir die genaue Qualität dieses Gefühls und vor allem ihren verborgenen Charakter vorstellen kannst, jener Charakter, der nicht in Worte eingeht und der sich von selbst einmalig erfüllt durch eine Art warmes und herznahes Strudeln des Blutes und einen Atem, der mit einem Mal reiner wird, als hätte mein ganzer Körper einen lange gesuchten Sinn heute gefunden. Der Sinn des Gedichtes, den mein Körper und meine Organe heute Morgen vorgefunden haben, war jener der Freundschaft. Er lebt unberührt in mir fort. Doch dies sind bloß Wörter, was wir einander sagen wollen, müssten wir wahrlich in prächtigen Fleischhaxen sagen oder in solchen billigen Bändern, wie sie die Dienstmädchen kaufen, oder in dem sonoren Film eines Holz hackenden Offiziersburschen, in der Anstrengung der sich hebenden Axt, in der kurzen Erschütterung im Holz, der kakifarbenen, leicht zerfledderten Hose und den Bändern der Unterhose, die am nackten Bein baumeln. Einen solchen Offiziersburschen habe ich heute den ganzen Nachmittag lang von meiner Terrasse aus beobachtet. Du weißt doch, dass ich nicht darüber schreibe, weil es etwas Außergewöhnliches wäre, sondern gerade weil es nichts Außergewöhnliches ist.36

Blecher will dem Freund das Glücksgefühl mitteilen, das die Gedichtlektüre in ihm ausgelöst hat. Seine Darstellung insistiert mit gebrochenem, „negative[m] Pathos“37 auf die unmittelbare, körperliche Reaktion, als gelte es das beglückende Freundschaftsgefühl in seiner einmaligen Symptomatik einzufangen. Es geht Blecher um den „verborgenen Charakter“ der Freude, um die einzigartige, nicht wiederholbare Qualität des physiologischen Erlebens, als welche sich das Gefühl an jenem Morgen, in jenem Augenblick der Lektüre körperlich manifestiert und organisch vollzogen hat. Der Wunsch, die singuläre Lektüreerfahrung, ihren einmaligen Sinn nachträglich mitteilen zu wollen, ist freilich aporetisch. Die Einmaligkeit des Augenblicks lässt sich sprachlich nicht einholen: es gibt einen „verborgenen Charakter“ der Emotion (emoţie), der, wie Blecher selbst sagt, „nicht in Worte eingeht“ (nu intră în cuvinte). Doch gibt diese aporetische Ausgangssituation, in der sich der schreibende Blecher befindet, einer Selbstüberbietung des sprachlichen Ausdrucks Antrieb, die

|| 36 „Îți închipui desigur că am fost emoționat când am deschis ,Frizeleʻ și am cetit poemul tău; nu știu însă dacă imaginația ta îți prezintă calitatea exactă a acestei emoții și mai ales caracterul ei ascuns, acela ce nu intră în cuvinte și se realizează singur, o singură dată, cu un fel de cald rostogolit de sânge lângă inimă și cu o respirație care se purifică deodată ca și cum tot corpul și-ar găsi un senz [sic] de mult căutat. Înțelesul poemului pe care corpul și organele mele l-au găsit azi dimineață era acel al prieteniei. El dăinuie intact în mine. Toate acestea sunt vorbe, noi într-adevăr am trebui să ne comunicăm ce-avem să ne spunem cu bucăți splendide de carne de rasol, sau cu panglici ieftine din acelea care cumpără servitoarele sau cu filmul sonor al unei ordonanțe care taie lemne, cu efortul toporului ce se ridică, cu zguduitura scurtă în lemn, cu pantalonii kaki zdrențuiți puțin și cu șireturile de la izmene ce se bălăbănesc pe piciorul gol. O astfel de ordonanță am privit azi toată după amiaza de pe terasa mea. Și știi bine că nu-ți scriu de ea fiindcă ar reprezenta ceva extraordinar, ci tocmai fiindcă nu e extraordinară deloc.“ Brief M. Blechers an Geo Bogza vom 27. Oktober 1934 in: Lascu, 2000, 26. Meine Übersetzung. 37 Martin von Koppenfels, Immune Erzähler. Flaubert und die Affektpolitik des modernen Romans, München 2007, 373.

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sich ganze Reihen plastischer Wahrnehmungsbilder und durch sie überraschende „Präsenzeffekte“38 erzeugt. Die Vorstellungsbewegung begibt sich ins tiefensensible Innere des Körpers, drängt in die Materialkultur des Provinzalltags und schöpft aus den unmittelbaren Wahrnehmungserinnerungen ihre Sprachbilder. Das körperliche Empfinden und die Empfindung des Nächsten und Unmittelbaren werden zu idealen Ausdrucks- und Kommunikationsmedien erhoben. Das Selbstverständliche und Triviale wird auffällig gemacht und die Sprache der Gefühle nimmt als Körpersprache und dann wiederum als Dingsprache Gestalt an. Am Ende des Briefes, nachdem Blecher das Geschriebene wahrscheinlich noch einmal gelesen und seine Wirkung eingeschätzt hat, stellt sich heraus, dass das Ungenügen des sprachlichen Ausdrucks trotz aller Bemühungen nie ganz auszuräumen ist: „Ich sehe wohl, dass ich dir über dein Gedicht weit, sehr weit unter dem Niveau meiner Emotion geschrieben habe. Nebst vielen anderen Eigenschaften bist du (vergib mir, dass ich es dir sage) auch noch sehr ‚komfortabel‘. Ein bequemer Lehnsessel bist du, eine ‚Person‘, der man Unvollständiges schreiben kann und die alles in Ordnung bringt. Ich bitte dich, es auch diesmal zu tun.“39 Wo alle Sprachanstrengung des Textproduzenten, aus dessen eigener Sicht jedenfalls, versagt, hilft nur noch die Lesekompetenz des Rezipienten. Blechers Formulierung ist bemerkenswert. Bogza als „Person“ zu bezeichnen, die mit einem besonderem ästhetischen Gespür und Verständnis ausgestattet sei, scheint ihm nicht ganz angemessen zu sein. Er setzt das abstrakte Wort, wie er so oft verfährt, wenn er ein Wort für unpassend hält, in Anführungszeichen. Treffender findet er die Metapher des bequemen Fauteuils (eşti un fotoliu comod), die ganz bewusst an die Grenzen des Sagbaren und des Geschmacks rührt. Die Identifizierung des lesenden Freundes mit einem häuslichen Gegenstand, in dem man es sich gemütlich macht, signalisiert, wie sehr die Dinge im Zentrum der Ästhetik Blechers stehen. Im Folgenden werde ich zeigen, dass sich das Wort, das Buch, ja selbst der Leser, in der Produktion wie Rezeption von aisthetischen und imaginativen Effekten bei Blecher stets am Maßstab des Dings bewähren muss.

|| 38 Hans-Ulrich Gumbrecht hat in Anlehnung an Roland Barthes Begriff des „Wirklichkeitseffektes“ (effet de réel) den Begriff des Präsenzeffektes geprägt. Er lenkt damit die Aufmerksamkeit auf die unmittelbare, körperliche Wirkung von Literatur und Kunst durch ihre Materialität, das Affiziert Werden des Ohrs oder des kinästhetisch-rhythmischen Empfindens etwa durch den Klang eines Satzes etwa im Unterschied zu seinem Sinn, zu dem dargestellten Sachverhalt. Gumbrecht, 2004, 33‒35. 39 „Îmi dau seama că ți-am scris cu mult, cu foarte mult, sub nivelul emoției mele despre poemul tău. Tu însă în afară de alte calități (iartă-mă că ți-o spun) mai ești și foarte ‚confortabilʻ. Ești un fotoliu comod, o ‚persoană’ căreia când scrii poți lăsa totul dezcomplectat și ea pune lucrurile la punct. Te rog s-o faci și de data asta.“ Brief M. Blechers an Geo Bogza vom 27. Oktober 1934 in: Lascu, 2000, 37.

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5.3 Das Wort soll zum Ding werden Blecher schöpft aus der unmittelbaren Umgebung, aus dem Plunder und den unscheinbaren Einzelheiten der Zimmereinrichtungen nicht nur seine Sprachbilder, sondern auch die Vorbilder für seine Sprache des Empfindens. Nicht selten kommuniziert er mit Geo und Elly Bogza über Dinge. Er schickt den Freunden liebevoll ausgesuchte Alltagsgegenstände: Servietten, ein Kaffeeservice, selbstbemalte Porzellanobjekte, nach deren Zustand er nicht müde wird zu fragen.40 Er empfängt selbst Liebhabersachen von den Bogzas, eine Uhr etwa, einen Brieföffner, eine Lupe. Er fühlt sich oft außerstande, seine Dankbarkeit in Worte zu fassen: „‚Dankesbekundungen‘ wären zu geringwertig, um mein echtes Gefühl auszudrücken: ich kann nicht hoffen, eine so vollkommene Harmonie zu erreichen, wie sie eurer Liebe genau entspräche. Alles, was ich sagen würde, wäre zu wenig.“41 Und doch verweilt er in den Dankesbriefen deskriptiv bei der Erscheinung und der wohltuenden Anwesenheit der Geschenke und drückt seine Verbundenheit mit den Gebern aus, indem er die unmittelbare Ausstrahlung der Objekte thematisiert.42 In ihrer materiellen Konkretheit und sensuellen Wirkkraft stellen die häuslichen Dinge das Blechersche Sprachideal dar. Das geschriebene und gelesene Wort soll möglichst zum Ding werden: zur Fleischhaxe, zum billigen, bunten Band, zumindest soll es im Prozess der Lektüre wie ein konkretes, materielles Ding empfunden werden. Aus der zitierten Briefstelle zu Bogzas Im Gespräch mit M. Blecher wird klar, dass es insbesondere die Wirkung von Sprache ist, die Blecher in den Blick nimmt. Denn es ist nicht das Gefühl der Freundschaft schlechthin, dass er dort mitzuteilen bemüht ist, sondern die ästhetische Emotion und die körperliche Wirkung der Gedichtlektüre, die sich mit den Erinnerungen an die mit Bogza in Kronstadt verbrachten Abende verschränkt haben dürften. Das Wort, zumal das ästhetische Wort, hat also in der Sicht M. Blechers einen direkten somatischen Effekt und entfaltet in seiner Wirkung eine QuasiPräsenz dessen, wovon es spricht oder gar desjenigen, der ihn aufs Papier gebracht hat. Das tut es zunächst über seine Materialität im engeren Sinne. Die Briefe dokumentieren ein ausgesprochenes Interesse Blechers für die sinnliche Aufmachung von Sprache und Schrift. Als Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit typographisch gestaltet wird (Blecher hatte Bogza mit der Publikation seines ersten Buchs beauftragt), gibt er dem Freund präzise Bestimmungen darüber, welches

|| 40 Briefe M. Blechers an Geo und Elly Bogza vom 29. Januar 1935 und 23. Januar 1936 in: Lascu, 2000, 53‒54 bzw. 100. 41 „,[M]ulțumirileʻ s-ar situa pe un plan prea inferior pentru a exprima sentimentul meu veritabil: eu nu pot spera să ating o armonie atât de perfectă încât să poată răspunde în mod exact dragostei voastre. Tot ce-aș spune ar fi prea puțin.“ Brief M. Blechers an Elly und Geo Bogza vom 24. November 1934, ebd., 43. Meine Übersetzung. 42 Briefe M. Blechers an Geo und Elly Bogza vom 15. Juni 1935 und 21. November 1935, ebd., 70‒71 bzw. 91.

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Papier, welche Schriftgröße, Type, Farbe und Paginierung verwendet werden sollen. Trotz Geldmangel ordert er die Gestaltung einer limitierten Anzahl von hochwertigen Exemplaren an, „auf Velinpapier, ich hätte gerne ein ganz mattes Papier“, heißt es, „porös, weiß, wie zum Beispiel jenes der gesendeten Briefumschläge, natürlich dünner“.43 Oder: „Was den Umschlag angeht, wollte ich noch Folgendes ergänzen: ich hätte ihn gerne aus weißem, dünnem Karton, die Schrift in Tintenblau.“44 Das spricht für ein Interesse für das Buch als Artefakt. Die Dinghaftigkeit der geschriebenen Sprache beginnt für Blecher beim Trägermedium, bei dessen materiellen Qualitäten. So ist es kein Zufall, dass ihm Bogza ausgerechnet eine Lupe schenkt, dank welcher sich Blecher nicht nur in die Betrachtung reproduzierter Gravuren und alter Zeichnungen vertiefen kann, sondern er macht sich auch einen Spaß daraus, die selbstgeschriebenen Postkarten, bevor er sie versendet, wie Bilder unter die Lupe zu nehmen: „Die Lupe übersteigt alle meine Erwartungen, sie ist herrlich, ein seltener Gegenstand, schrecklich angenehm zu handhaben (wie sie sich anfühlt, meine ich) [sensualiceşte]“.45 Wie für die Lupe interessiert sich Blecher für alles, was den Leseakt als Seh- und Wahrnehmungsakt in seiner Sinnlichkeit steigern kann: für die haptische Qualität des verwendeten Papiers, für dessen Textur, für die kalligraphische Dimension seiner Briefe und Postkarten, die er oft als dürftig empfindet.46 Doch die „Materialität der Kommunikation“47 geht in der Auffassung Blechers über die Beschaffenheit des Trägermediums hinaus.

5.4 Eine Kommunikation von Seelenblut Es gibt einige Passagen in der Korrespondenz Blechers mit Geo Bogza, wo er den Nachrichten vom Freund die Kraft zuspricht, eine Art räumlicher Präsenz zu erzeu|| 43 „Cred că voi face rost încă de 500 lei pentru câteva exemplare pe hârtie velină, însă aș vrea o hârtie perfect mată, poroasă, albă, ca de pildă acee de la plicurile trimise, bineînțeles mai subțire.“ Brief M. Blechers an Geo Bogza vom 2. Dezember 1935, ebd., 93‒94. Meine Übersetzung. 44 „În privința coperții mai am de adăugat următoarele: aș vrea să fie dintr-un carton subțire alb cu literele tipărite cu cerneală albastră.“ Brief M. Blechers an Geo Bogza vom 28. November 1935, ebd., 93. Meine Übersetzung. 45 „[L]upa întrece toate așteptările mele, e splendidă, este un obiect rar, teribil de plăcut de mânuit (senzualicește).“ Brief M. Blechers an Geo Bogza vom 21. November 1935, ebd., 91. Meine Übersetzung. 46 Doris Mironescu stellt die ästhetische Dimension der Korrespondenz Blechers in Frage. Dass Blecher Postkarten mit seiner Adresse vordrucken lässt, versteht er beispielsweise als Maßnahme zur Erleichterung der Schreibtätigkeit und verweist auf die beschwerlichen Umstände hin, unter welchen der bettlägerige Blecher arbeitete. Ohne dieser Deutung widersprechen zu wollen, möchte ich auf die Aufmerksamkeit Blechers für Fragen der Gestaltung hinweisen, die bei aller Kritik Blechers an schreibfetischistischen Eitelkeiten ästhetische Motivationen verrät. Mironescu, 2011, 133. 47 Hans Ulrich Gumbrecht/Ludwig K. Pfeiffer, Materialität der Kommunikation, Frankfurt am Main 1995.

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gen. In dem Brief vom 14. Oktober 1934 bedankt er sich zum Beispiel bei Bogza für die gesendeten Postkarten. Er würde sie für „protoplasmatische Fäden“ halten, die „die Anwesenheit“48 (prezenţa) der beiden geliebten Freunde, Bogzas und seiner Frau Elly, „verlängerten“.49 Die Vorstellung vom Protoplasma entlehnt Blecher aus den Naturphilosophien seiner Zeit. Sie bezeichnet bei Ernst Haeckel und Henri Bergson beispielsweise eine Art „Urschleim“ oder „lebende Substanz“, die „unbelebte Gebilde [durchdingt] und […] ihnen Leben [verleiht]“.50 Jenseits der vergegenwärtigenden Funktion also, über etwas zu berichten und etwas darzustellen, stellt die Postkarte nach Meinung Blechers eine eigentümliche Anwesenheit her. Sie scheint die leibliche Reichweite der Sender auszudehnen bzw. verhält sie sich wie eine primitive Lebensform und verbindet substanziell miteinander, was räumlich getrennt ist. Bezeichnenderweise geht es in Blechers Antwortbriefen oft um solche Lektüreeffekte. Der Informationsgehalt der empfangenen Postkarten ist selten Thema, er ist unerheblich, fällt nicht ins Gewicht. Das mag zum Teil auch an dem reduzierten Format des Mediums liegen, das außer der Ansicht der Ferne Raum für eine nur knappe Versicherung des Gedenkens an die zuhause Gebliebenen lässt. Wie sehr diese medial fortgesetzte Quasi-Präsenz des Senders sich in somatischen Reaktionen des Empfängers äußert und somit auf eine Wirkungsdimension der Schrift verweisen, zeigen auch andere Beispiele. Den Effekt der Nachrichten von Saşa Pană beschreibt Blecher an einer Stelle in Analogie zu dem unmittelbaren und augenblicklichen Gewahren von Licht oder Rosen. So wie sich diese den Sinnen als Farbe oder Duft materiell mitteilen, wirken auch die Briefe, die gleichsam Begegnungen sind. „Einige traumhafte Begegnungen, die sich in der dichten Materie des Lebens ereigneten, haben meine Stunden erhellt. Ich fand sie direkt und instantan zugänglich wie das Licht oder die Rosen. Ihr Brief erscheint mir als Säule einer solchen Botschaft.“51, schreibt er dem Herausgeber des surrealistischen Blattes Unu. In dem Brief vom 23. Juli 1935 an Geo Bogza dankt Blecher für die „stärkenden, belebenden“ Zeilen und versichert dem Freund, dass dessen Worte ihm Kraft gäben und Wohlbefinden bereiteten „wie eine Transfusion von gutem, lebendigem Blut“.52 Hier || 48 Im Rumänischen meint das Wort prezenţă sowohl Gegenwart im temporalen Sinne, als auch Anwesenheit im räumlichen Sinne. 49 „Toate cărțile poștale le-am primit și vă mulțumesc mult pentru ele căci le consider ca niște fire protoplasmatice care vă prelungesc prezența.“ Brief M. Blechers an Geo und Elly Bogza vom 14. Oktober 1934 in: Lascu, 2000, 30. Meine Übersetzung. 50 Stichwort „Protosplasma“ in: Peter B. Medaware/Jean S. Medaware, Von Aristoteles bis Zufall. Ein philosophisches Lexikon der Biologie, München (u. a.) 1986, 258‒260. 51 „[C]âteva întâlniri de vis în plină materie a vieții mi-au înseninat ceasurile. Ele mi-au fost accesibile direct și din primul moment, ca lumina sau trandafirii. Scrisoarea dv. [sic] îmi pare columna unui astfel de mesaj.” Blecher, 1999, 395. Meine Übersetzung. 52 „Îți mulțumesc pentru rândurile tale tonice, revifiante de astăzi, tu nu știi poate câtă energie și reconfort îmi aduc vorbele tale, sunt ca o transfuzie de sânge bun, viu.“ Brief Max Blechers an Geo Bogza vom 23. Juli 1935 in: Lascu, 2000, 76. Meine Übersetzung.

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wirkt der Brief so, als stellte er eine direkte, organische Verbindung von Körper zu Körper her. Anderswo wird Blecher von Bogzas „wunderbaren Briefen“ und „ergreifenden Freundschaftsbotschaften“ „bis ins Mark erschüttert“53. Im Schreib- und Lektüreprozess überschreitet die Schrift ihre Substitutionsfunktion. Sie schmilzt die räumliche Trennung und die Exteriorität der schreibenden bzw. lesenden Körper ein, um eine „Kommunikation von Seelenblut“54 (comunicaţii de sânge sufletesc) zu ermöglichen: „Elly und du, ihr seid die außerordentlichste Begegnung in meinem Leben, ihr wisst es wohl ‒ doch hört ihr vielleicht nicht deutlich genug, wie jede Zelle in mir in Liebe für euch rauscht, das Rumoren des Blutes in mir ist selbst die Melodie dieser Liebe. Vergibt mir diese Zeilen, ich schreibe, wie ich eben kann und was mir durch den Kopf geht, das heißt, was aus den Tiefen kommt.“55 Die Schrift oszilliert zwischen Vermitteltheit und Unmittelbarkeit, zwischen Verkopftheit und Sprachbewusstsein einerseits und spontanem Gefühlsausdruck und Exaltation andererseits.56 Die Präsenz- und Unmittelbarkeitsdynamik wird dabei physio- bzw. biologisch imaginiert. Im Schreiben oder Lesen wird das Schriftmedium zur „Verwachsung“ oder zur „Adhäsion“ (aderenţă)57, die eine organische Verbindung zwischen Teilen herstellt, die räumlich getrennt sind. Man begegnet in Blechers Wirkungseinschätzung der Korrespondenz mit Geo und Elly ähnlichen Figuren wie in den Erzählungen, wo sie das Verhältnis des empfindenden Ichs zur Dingumgebung vorstellbar machen. Die stofflich-sinnliche Gegenwart der Dinge und die Wirkung von Brieftexten kommen in Bildern einer organischen oder gar osmotischen Verbundenheit zur Sprache: „[S]tarke Fäden verbanden mich mit den Dingen“, heißt es in Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit, „eine unmerkliche Osmose ließ mich zu einem Gegenstand des Zimmers werden, || 53 „extraordinarele tale scrisori, care m-au zguduit până în măduva oaselor“ Brief M. Blechers an Geo Bogza vom 12. Januar 1937, ebd., 131. Meine Übersetzung. 54 Ebd. 55 „Tu și cu Elly sunteți cea mai extraordinară întâlnire din viața mea, o știți bine – dar nu îndeajuns poate – voi nu auziți cum în mine fiecare celulă freamătă de dragoste pentru voi, rumoarea sângelui din mine este însăși melodia acestei iubiri. Iertați-mi aceste rânduri, vă scriu cum pot și ce-mi trece prin minte adică ce-mi vine din adâncuri.“ Ebd. Meine Übersetzung. 56 Siehe dazu den leidenschaftlichen Brief Blechers an Geo Bogza vom 24. März 1937 in: Lascu, 2000, 136‒137. In dem Brief, der mit einer dreifachen Anrufung des Freundes beginnt „Geliebter Geo Bogza, großer Geo Bogza, teurer Geo Bogza“, spricht Blecher von seiner „Exaltation“ und seiner Gefühlsexpansion im Schreiben, freilich nicht, ohne sich über seine Schwärmereien beschämt zu zeigen. 57 Man kann diese Präsenzemphase bei Blecher als „Prozess einer medialen Produktion von Unmittelbarkeit“ verstehen, wie sie Albrecht Koschorke für die empfindsame Literatur im 18. Jahrhundert ausgearbeitet hat. Ein markanter Unterschied zu der Gefühlskultur der Empfindsamkeit, die sich in der bzw. als Schriftkultur konstituiert, ist bei Blecher der antisentimentale Gestus. Blecher bricht mit der Gefühlssprache insofern, als er die Gefühle vornehmlich als somatische und organische Prozesse in den Blick nimmt. Siehe Albrecht Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 1999, 218.

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genauso wie alle anderen – wie ein lebendiges Fleisch verpflanztes Organ sich durch subtilen Stoffwechsel dem unbekannten Körper anverwandelt.“58 In der Darstellung der Ding- und Schriftaisthetik überschneiden sich biologische und naturphilosophische Diskurse mit Diskursen der Kunst. Das künstlerisch oder künstlich Hergestellte, das Artefakt oder kunsthandwerkliche Produkt, erscheint bei Blecher als Steigerungsform der Formenschöpfungen der Materie. Das Schöpfungsprinzip ist nicht an die künstlerische Individualität gebunden, sondern es durchwaltet – wie in Bergsons Schöpferische Entwicklung – bereits die Wandlungsprozesse der Materie. Anschaulich wird diese Fortsetzung und Steigerung ins Künstliche eines naturhaften Schöpfungsprinzips in der Beschreibung des Zigeunerrings. Der „großartige[ ] Blechgegenstand“ übertrifft eine ganze evolutionäre Versuchsreihe der „sexuellen Ornamentierung“: „Die außergewöhnlichsten Vogelornamente, Tiere und Blumen, alle dazu bestimmt, die sexuelle Anziehung zu steigern, der ultramodern stilisierte Schwanz des Paradiesvogels, die oxydgrün glänzenden Federn des Pfaus, die hysterisch gezackten Blattspitzen der Petunie, das unglaubliche Blau des Affentbeutels sind neben dem betörenden Zigeunerring nichts als blasse Versuche einer sexuellen Ornamentierung.“59 Der Schmuckgegenstand ist mit libidinösen Energien besetzt, es ist mit dem Körper fetischistisch verbunden bzw. unmittelbarer Ausdruck eines sexuellen Begehrens: „Ein wahrer sexueller Aufschrei.“60 In der Orientierung des Schreibens an die aisthetische Wirkung der Dinge, ereignet sich implizite auch eine Fetischisierung oder Erotisierung des schriftlichen Mediums. In Beleuchtete Höhle wird diese Erotik des Korrespondierens an einer Stelle angesprochen und ironisch kommentiert, u. z. als sich herausstellt, dass die schöne Dänin, mit der der Ich-Erzähler im Sanatorium eine Affäre hat, verlobt ist. Die Verlobung samt Treuegelübde erfüllt sich punktuell im Rhythmus der Liebeskorrespondenz: sie währt nur solange die Wirkung der Briefe vom fernen Verlobten die Sinne besetzt. „Die Briefe“, so erklärt die schöne Dänin, die der Ich-Erzähler nicht ohne Grund „Simpla“ nennt, „[bringen] einem hin und wieder ein bisschen ‚konzentriertes Verlöbnis‘…, und an den Tagen, an denen ich einen Brief bekam, habe ich dich nicht empfangen… ich ließ einen Tag zum Verdunsten verstreichen, und der Brief verlor seine Dringlichkeit [vigoarea, Kraft, Lebendigkeit] und sein Parfüm wie eine Blume, die immer weniger Duft verströmt, immer schwächer riecht … bis

|| 58 Blecher, 2003, 14; „[A]derențe puternice mă legau de ele, cu anastomoze invizibile ce făceau din mine un obiect al odăii la fel cu celelalte, în același mod în care un organ grefat pe carne vie, prin schimburi subtile de substanțe se integrează trupului necunoscut.“ Blecher, 1999, 46. 59 Blecher, 2003, 52; „Extraordinarele ornamente de mascaradă ale păsărilor, ale animalelor și florilor, menite toate să joace un rol sexual, coada stilizată și ultramodernă a păsării paradisului, penele oxidate ale păunului, dantela isterică a petalelor de petunii, albastrul neverosimil al pungilor maimuții nu sunt decât palide încercări de ornamentație sexuală pe lângă amețitorul inel țigănesc.“ Blecher, 1999, 66. 60 Blecher, 2003, 52.

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sie all ihren Duft eingebüßt hat“61. Die Liebesbriefe sind mehr als nur eine Substitution der abwesenden Person. Sie vermitteln nicht nur die Idee oder die Beteuerung eines amourösen Engagements, sondern sie realisieren es auch. Die Liebesbriefe mischen die Chemie der Gefühle neu auf, sodass die erotische Affäre, für die kurze Dauer der Briefwirkung jedenfalls, ausgeschlossen bleibt. Die präsentische und sinnliche Qualität des Schriftmediums ist auch in Blechers Briefwechsel mit dem französischen Avantgarde-Künstler Pierre Minet virulent, aus der leider nur Auszüge erhalten sind.62 Die kurzen Passagen sprechen deutlich von einer außerordentlichen Lust am Brieftext, die sich ähnlich wie in der Korrespondenz mit Bogza in der Körperlichkeit der Lektüreeffekte und Imaginationen äußert. Das Schreiben eröffnet nicht nur einen Vorstellungsraum der Wiederbegegnungen, sondern es versetzt den Schreibenden in einen Zustand der ekstatischen Ergriffenheit angesichts der Quasi-Präsenz seiner Imaginationen. Das Wiedersehen erfüllt sich im Hier und Jetzt des Schreibens: „fraîs, fraîs, ah! Comme vous-êtes fraîs, Minet“, oder „me voilà à genoux devant vous avec un cierge allumé dans la main et attendant vôtre parole.”63 Die instantan erscheinenden Vorstellungsbilder sind offenbar ohne Intention des Schreibenden verkörperlicht: „vous souriez; il y a aussi les habits qui vous vont bien (je n’y puis rien, ceci est dans l’image“. Von entsprechender somatischer Wirkkraft ist auch die Lektüre der Briefe Minets. In einem Brief von 1933 heißt es: „Mon cher, cher Minet, chaque lettre de vous m’illumine, le plaisir me monte à la tête et je suis pris d’une belle folie en pensant que vous me donnez de vos nouvelles, donc que veritablement vous existez – existez quelque part.“64 Psychologisch ist es nicht schwer nachvollziehbar, wie dem bettlägerigen Autor, der in Roman in der Isolation seines Hauses an der Stadtperipherie lebte, Nachrichten von Freunden regelrecht unter die Haut gingen. In dem Brief vom 24. November 1934 beispielsweise, als er in Roman noch im Haus seiner Schwester lebte, beschreibt er die vollkommene Einsamkeit und starre Regungslosigkeit der Zimmereinrichtung, die der Brief von Geo und Elly aufbricht: „Ich habe den ganzen Tag niemanden gesehen, in dem Augenblick, als ich den Brief erhielt, war ich gerade dabei, einige Seiten an den Übungen65 abzuschließen, und fühlte mich von einer schrecklichen Einsamkeit erfasst. Alles, was ich las, erbebte stark in mir, es war ein wahrhaftiges Beben, denn ich spürte in mir jenen elektrischen Strom, der die echten

|| 61 Blecher, 2008, 161; „Pentru asta există scrisorile care aduc din când în când puțină ‚logodnă concentrată’ cu ele, și în zilele când primeam scrisori nu te primeam... lăsam pentru evaporare o zi și scrisoarea își pierdea vigoarea și parfumul ca o floare care exală un miros tot mai slab, tot mai neclar... până nu mai are parfumul ei.“ Blecher, 1999, 311. 62 N. N., Lettres de M. Bl. à P. M. Manuskript, IMEC, Pierre Minet Nachlass, Signatur MNT. 63 Ebd. 64 Ebd. 65 Übungen in der unmittelbaren Unwirklichkeit war der Arbeitstitel von Blechers erstem Prosabuch.

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Emotionen auszeichnet.“66 Hier und in der Korrespondenz allgemein wird deutlich, wie sehr die antisentimentale Rhetorik Blechers, die in der Darstellung von Gefühlen im Physiologischen verbleibt und ihre häufigsten Metaphernspender in der Medizin, Biologie und Physik findet, letztlich auf einen authentischen, unverfälschten Ausdruck der Emotion abzielt. Das Gefühl soll dort eingefangen werden, wo es noch nicht durch die konventionellen Denk- und Sprechweisen zu Süßholzgeraspel gerät und verfälscht wird: das heißt im Körper, in der Intensität der Empfindungen. Diese so konsequent beschworenen, materiellen und somatischen Effekte von Brieftexten verweisen nicht nur auf die außergewöhnliche, ästhetische Sensibilität des rumänischen Autors. Sicher wird die Krankheit, der ereignislose Alltag und die breite Kunstrezeption zu der hohen Intensität beigetragen haben, mit der Blecher Geschriebenes empfand und rezipierte. Die Eindringlichkeit und Wirkkraft des schriftlichen Mediums findet sich in seiner Prosa wieder. Blechers Figuren bekunden nämlich eine ähnliche Betroffenheit durch Lektüreerfahrungen wie ihr Autor. Zweifellos stehen ihre Reaktionen für die Effekte, die Blecher mit seiner eigenen Prosa zu entfachen suchte. Was in den Briefen explizit formuliert wird, ist eine Art Aisthetik der Schriftsprache. Sie wird in seiner Prosa diegetisch durch die Figuren reflektiert und durch die sprachliche Darstellung in gewissem Maße auch realisiert, insbesondere dort, wo diese auf Rhythmus, Klang, auf die affektive Ladung der Wörter, aber auch auf deren Schockeffekte setzt, also immer dort, wo die Sprache in besonderem Maße auffällig wird.

5.5 Aisthetik des Lesens In Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit erfährt man wenig über die Wirkung von Sprache an sich und mehr über die Vorstellungen, die Bücher auslösen, und darüber, wie diese in der Erinnerung verklärt werden. Dass das Buch in diesen philosophisch aufgeladenen Kindheitserinnerungen als abgenutztes Artefakt dargestellt wird, ist allerdings wirkungsästhetisch außerordentlich interessant. So erinnert sich der Ich-Erzähler vornehmlich an die materiellen Aspekte der populären Romane aus der Kindheit: an den vergilbten, zerfledderten oder schäbigen Umschlag, an den auratisch-geheimnisvollen Glanz, den sie in der Erinnerung annehmen, an das Umschlagsbild. Buchaufmachung und Illustration scheinen dabei die Geschichte, die das Buch enthält, zu verkörpern wie im Falle des modischen Trivialromans Die Ge-

|| 66 „[N]-am văzut toată ziua pe nimeni, în momentul când am primit scirsoarea isprăvisem tocmai de scris câteva pagini la Exerciții și mă simțeam invadat de o solitudine îngrozitoare. Tot ce-am cetit a vibrat cu putere în mine, a vibrat într-adevăr fiindcă am simțit în mine curentul acela electric particular emoțiilor adevărate.“ Brief Max Blechers an Elly und Geo Bogza vom 24. November 1934 in: Lascu, 2000, 42‒43. Meine Übersetzung.

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heimnisse von Petrograd.67 Man erfährt nicht, ob der Protagonist den Roman tatsächlich gelesen hat. Nichtsdestotrotz vermag das Medium durch das sensationsheischende Umschlagsbild, auf dem der verwundete Zar nach einem Attentat erscheint, eine lebendige Vorstellung vom Schicksal jeglichen Heldentums zu vermitteln: seine unentrinnbare Trivialisierung nämlich. Der Umschlag präfiguriert dinghaft, greifbarer und augenfälliger als es der populärwissenschaftliche Bericht vom Attentat tun könnte, die Enttäuschungen des Protagonisten in seiner Revolte gegen die Banalität des Alltags. Vergeblich lässt er sich vom unersättlichen Durst nach Heroismus zu den kühnsten und absurdesten Akten hinreißen, folgt einer Unbekannten dicht auf den Fersen, um schließlich im Blumenrondell vor ihrem Haus eine Anbetungshaltung anzunehmen und darin zu verharren.68 Der Tumult der Gefühle gerinnt zur Pose oder Posse. Manchmal teilt das Buch in Blechers erster Prosaerzählung einen Sinn durch seine Beschaffenheit mit, ohne dass sich dieser immer mit den Inhalten deckt. Vielmehr kann eine Spannung eintreten zwischen der Wirkung, die das Buch durch seine Materialität entfacht, und den Geschichten und Bedeutungen, die es sprachlich vermittelt. So verhält es sich mit dem Kinderbuch Frida von André Theuriet, das der junge Protagonist Blechers einmal zufällig auf einem Tisch findet und mit großem Interesse durchblättert. Doris Mironescu hat gezeigt, dass die Anspielung auf Theuriets „schematischen, konventionellen und rührseligen Roman“ (romanul schematic, convenţional şi duios), „den der Erzähler nur vom Umschlagsbild zu kennen vorgibt“, eine Parodie (parodiată metodic) der Kindheitsdarstellungen voll „dekorativer ,Unschuld‘“ (‚inocenţă‘ decorativă), wie sie um die Jahrhundertwende üblich waren, impliziert.69 Ungeachtet der Frage, ob sich der Ich-Erzähler noch an die Geschichte erinnern kann, verweist die Erinnerung an das „sehr verwirrende[ ] kleine[ ], schwarze[ ] Büchlein“70 auf die sinnliche Wirkkraft des Schriftmediums. Die flüchtige, doch intensive Wahrnehmung des Buchs und seiner „vielen Zeichnungen“71 eröffnet ähnlich wie in Bruno Schulzʼ Erzählung über „das Buch“ in der Sammlung Das Sanatorium zur Todesanzeige72 einen Imaginationsraum, in dem persönliche Assoziationen, dunkle Ahnungen und Verklärungen hineinspielen. In der Erinnerung entfaltet die jäh entfesselte Imagination eine Eigendynamik, die mit einer konventionellen Semiose nur noch wenig gemein hat. Es sind hier die Umstände – der unerwartete Fund, die flüchtige Bildlektüre, die mit selbst erlebten, erotisch aufgeladenen Episoden assoziiert wird, schließlich das spurlose Ver|| 67 Blecher, 2003, 86; Blecher, 1999, 84. 68 Blecher, 2003, 87‒90; Blecher, 1999, 85‒86. 69 Mironescu, 2011, 38. Meine Übersetzung. 70 Blecher, 2003, 41; „o cărticică neagră, foarte turburătoare“, Blecher, 1999, 61. 71 Blecher, 2003, 41; Blecher, 1999, 61. 72 Bruno Schulz, „Das Sanatorium zur Todesanzeige“ in: Bruno Schulz, Die Zimtläden und alle anderen Erzählungen, 3. Auflage, München, Wien 1992, 103‒300.

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schwinden des Buchs – die sein Geheimnis ausmachen. Je unauffindbarer das Büchlein, desto phantastischer die Vorstellungen darüber, was es enthalten könnte, desto mächtiger sein Offenbarungsversprechen. Gerade die Unverfügbarkeit der Worte, die Tatsache, dass der Junge keine Zeit hat, sich auf die erzählte Geschichte einzulassen, ermöglicht die Rezeption des Buchs in Form eines Wahrnehmungsaktes. Dieser vollzieht sich anders als das Lesen als Miss- und Nicht-Verstehen und äußert sich narrativ in wiederholten Interrogationen. Das Buch wird zum beunruhigenden Rätsel: „Nun war ich sicher, dass ‚Frida‘ die geheimsten und außergewöhnlichsten Enthüllungen enthielt“.73 Die Buchwahrnehmung erweist sich als imaginativ intensiver und mnemonisch nachhaltiger als eine Textlektüre. Das Büchlein bleibt in der Erinnerung einem objet trouvé gleich haften, durch sein unvermutetes Erscheinen in vertrauter Umgebung. Jahre später wird es der Protagonist wiederfinden und enttäuscht feststellen, dass es nicht mehr „[s]ein in schwarzes Leinen gebundenes Büchlein [war], sondern eine erbärmliche und elende Broschüre mit vergilbtem Umschlag.“74 Es bleibt offen, ob die Fehlleistung erst in der Erinnerung oder bereits bei jener ursprünglichen und aufregenden Entdeckung aufgetreten ist. Findet der Protagonist schlichtweg eine andere Ausgabe des Kinderromans oder ist der Eindruck der Rätselhaftigkeit von Anbeginn so stark, dass das Büchlein notwendigerweise auch äußerlich so dunkel sein muss wie sein vermeintlicher Inhalt? Angesichts dieser Emphase auf die Dinghaftigkeit des Buches, wundert es nicht, dass die Buchlektüre zuweilen bei den Figuren Blechers somatische Effekte auslöst. Wir erfahren beispielsweise, dass das Lesen dem heranwachsenden Protagonisten in Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit Kopfschmerzen bereitet.75 Auch wenn die Ursachen zum Teil in der schwächlichen Konstitution des Jungen liegen dürften, muss es in der Wirkmacht des Mediums Buch liegen, sich körperlich auszuwirken – und sei es nur deswegen, weil die Identifizierung der schwarzen Gestalten auf weißem Papier als Wörter und Sätze eine Wahrnehmungsanstrengung erfordert. Plastisch kommen die physiologischen Wirkungen der Lektüre in Vernarbte Herzen zum Ausdruck. Es handelt sich dort um die einzigartige Lektüre jenes Ausnahmetextes, das die Surrealisten an die Spitze ihres alternativen Literaturkanons gestellt hatten: Die Gesänge des Maldoror des Comte de Lautréamont. Es ist Isa, die Kranke mit dem geheimnisumwitterten Flair, die Emanuel das Buch Lautréamonts überreichen lässt und ihn mit dieser „faszinierenden Lektüre“ „zu beunruhigen“76 weiß. Auch hier wird als erstes die Aufmachung verzeichnet, es sei ein „dicker, in rotes Marocain || 73 Blecher, 2003, 42; „[A]cum eram sigur că ‚Fridaʻ conținea cele mai tainice și mai senzaționale dezvăluiri.“ Blecher, 1999, 61. 74 Blecher, 2003, 42; „Nu mai era cărticica mea legată în pânză neagră ci o broșură umilă și mizerabilă cu coperți gălbui.“ Blecher, 1999, 61. 75 Blecher, 2003, 119.; Blecher, 1999, 102. 76 Blecher, 2006, 128‒129; „Dorea să cunoască mai de aproape pe fata asta cu priviri oblice și aerul misterios care știuse dintr-o dată să-l intrige cu o lectură atât de fascinantă.“ Blecher, 1999, 184.

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eingebundener Band“77 gewesen. Mit den eingehend beschriebenen Lektüreimpressionen Emanuels erbringt Blecher seine Huldigung an Lautréamont. Er folgt darin Schriftstellern wie Soupault, Breton und Gide, die das Werk Ducasses als bahnbrechend erachtet und zur „endgültigen Apokalypse“78 überhöht hatten. Blecher hatte Ende 1934 den Plan gefasst, eine Essay-Trilogie zu publizieren, in der er drei sogenannte „infernalische Künstler“ vorstellen wollte: William Blake, den Marquis de Sade und den Comte de Lautréamont.79 Seinen Plan setzte er allerdings nur teilweise um. Lediglich der erste der drei geplanten Artikel erschien im Juni 1935 unter dem Titel William Blake. Vizionar genial şi chinuit (William Blake. Ein genialer, gemarterter Visionär) in der Zeitschrift Vremea. Die Stelle in Vernarbte Herzen kann als ein intratextuelles poetologisches Zeugnis gelesen werden: Die ganze Nacht las er [Emanuel] in diesem verblüffenden Buch. Als die Morgendämmerung ihn überraschte, blätterte er begeistert [avid, unersättlich] darin herum, entzückt von seiner bezaubernden Melancholie, gemartert von seinen bitteren Verwünschungen, seiner sublimen Verruchtheit und seiner berückenden Poesie. In diesem Buch war alles enthalten, was die Langeweile, die Schwermut, der Traum und die Leidenschaft in Poemen von phantastischer und verstörender Schönheit zusammenführen konnten. Vergeblich suchte er in allem, was er bis dahin gelesen hatte, nach etwas, das diesem entsprochen hätte: dieses Buch glich keinem Vers, keinem poetisierenden Süßholz [dulcegărie poetică], nicht einer ihm bekannten literarischen Krise. Es enthielt ein giftiges Fluidum, das nach und nach, bei fortschreitender Lektüre jedoch direkt ins Blut drang und wie hoch virulente Mikroben Ohnmachtsanfälle und Fieber verursachte.80

Der Vergleich spricht dem Buch Lautréamonts eine kontagiöse Wirkkraft zu. Lesen bedeutet in diesem Fall, sich mit den sprachlich beschworenen Extremzuständen der Melancholie, der Verruchtheit, der Poesie anzustecken. Dabei manifestiert sich die Wirkungsstärke des Buches in einer Symptomatik, die jener von Infektionskrankheiten gleicht. Das ist kein erdachtes, bloß vorgestelltes Übel, das Emanuel bei der Lektüre erfährt, sondern ein überaus realer, genüsslicher wie erschütternder

|| 77 Blecher, 2006, 128; „un volum gros, legat în marochin roșu“, Blecher, 1999, 183. 78 André Breton, Anthologie de l’humour noir, Paris 1966, 176. Breton schreibt weiter: „[I]ls [Die Gesänge des Maldoror] sont l’expression d’une révélation totale qui semble excéder les possibilités humaines. C’est toute la vie moderne, en ce qu’elle a de spécifique, qui se trouve d’un coup sublimée. […] le langange de Lautréamont est à la fois un dissolvant et un plasma germinatif sans équivalent.“ Ebd., 177. 79 Siehe den Brief Blechers an Geo Bogza vom 2. Januar 1935 in: Lascu, 2000, 49. 80 Blecher, 2006, 129; „Toată noaptea ceti această carte uluitoare. Zorile îl surprinseră răsfoind-o avid, încântat de fermecătoarea ei melancolie, torturat de imprecauțiunile ei amare, de sublima ei abjecțiune și de halucinanta ei poezie. Era în cartea asta tot ce plictiseala, tristețea, visul și frenezia puteau întruni în poeme de fantastică și turuburătoare frumusețe. În zadar căuta în tot ce cetise ceva care să-i corespundă: cartea asta nu semăna cu nici un vers, cu nici o dulcegărie poetică, cu nici o criză de literatură. Conținea un fluid veninos ce încet, încet și pe măsură ce era cetită, intra direct în sânge și crea amețeli și febre ca un subtil și virulent microb.“ Blecher, 1999, 184.

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frisson. Diese grenzwertige ästhetische Erfahrung ist insofern genießbar, als sie jederzeit abgestellt werden kann, indem man zum Beispiel die Augen verschließt. Die Infizierung Emanuels durch die Lektüre Lautréamonts markiert eine wirkungsästhetische Maximalgrenze, die Literatur erreichen kann und die Blecher mit seiner eigenen Prosa zweifellos anstrebte. Lautréamonts Werk lässt, wie die Gedanken des offenbar in literarischen Sachen bewanderten Emanuel verraten, jegliche Krise der Literatur oder der Sprache hinter sich. Das Sprachvertrauen, das sich hier in einer so starken Metaphorik äußert, weist noch einmal darauf hin, dass Sprachkrise im Kontext von Blechers Prosa als herausforderndes Bewusstsein über die Grenzen und das Potential der Sprache verstanden werden muss und nichts mit einer literarischen Resignation gemein hat. In der Anschauung Isas dagegen erscheint das Medium Buch ambivalenter: „Ah, ich mag keine Bücher… ein Buch ist nichts, es ist kein Gegenstand, sagte Isa. Es ist etwas Totes, das lebendige Dinge enthält … etwas, wie ein in Fäulnis begriffener Kadaver, in dem Tausende und Abertausende Maden wuseln.“81 Ging es in den Lektüreeindrücken Emanuels um die Ansteckung mit körperlichen Befindlichkeiten, so kommentiert Isa den Schwellencharakter des Buchs als Medium. Sie siedelt es zwischen Ding und Unding, Lebendigem und Totem, Form und drohender Formlosigkeit an. Dabei spricht das krude Vergleichsbild dem Buch eine außerordentliche Wirkkraft zwischen Faszination und Abscheu zu. Das Buch scheint zugleich mehr und weniger zu sein als ein Ding: in seiner Materialität und unmittelbaren sinnlichen Erscheinung hat das Ding bei Blecher stets einen höheren Stellenwert als das Buch, doch vermag dieses, ontologisch signifikante Grenzziehungen zu überschreiten. Die Vergleichsfigur des Kadavers oder der Leiche (das Rumänische cadavru benennt nämlich beides) legt ein Ähnlichkeitsverhältnis zwischen dem im Buch dargestellten Leben und dem Leben, so wie es tatsächlich gewesen ist, nahe. Diese Ähnlichkeit ließe sich im Sinne der mimetisch-referentiellen Dimension des Textes verstehen. Das Buch wäre dann auch deshalb tot, weil es auf etwas Abwesendem verweist. Doch gibt es zugleich eine Lebendigkeit des Buchs, die seine Formgeschlossenheit bedroht und zersetzt und die – wie anders könnte es sein? – insbesondere im Akt der Lektüre zum Zuge kommen dürfte. Es liegt nahe, das parasitäre Leben, das sich in der Vorstellung Isas im Buch vollzieht oder von ihm zehrt, als Lektüreprozess zu verstehen. Führt man die Kadaver-Analogie imaginativ fort, dann wären es die Wort- und Zeilenmaden, die im Leserblick in Bewegung geraten und wuseln würden. Die Aussage ist an der Figurenperspektive gebunden. Isas Einschätzung des Mediums hat offenbar eine abwertende Intention, weil das Buch für sie eine Substituti-

|| 81 Blecher, 2006, 130; „‒ Ah, nu-mi plac cărțile!... O carte nu e nimic, nu este un obiect, spuse Isa. E ceva mort... care conține lucruri vii... ceva ca un cadavru intrat in putrefacție în care foșnesc mii și mii de gândaci.“ Blecher, 1999, 184.

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onsfunktion erfüllt und als Medium der Welterfahrung eine außerordentliche Bedeutung innehat. Beschämt gesteht die Kranke Emanuel, dass sie aufgrund ihres Leidens „das Leben nur aus Büchern kennenlernen konnte“82. Für die Figuren Blechers sind Bücher keine bildungsfetischistische Gegenstände, die in einer Bibliothek zur Ansicht ausgestellt das Selbst ausstaffieren, sondern peinliche Ersatzmedien, die einen Mangel an direkter Lebenserfahrung bezeugen und deshalb „in einer Kiste unter dem Bett“83 versteckt werden. Der starke Affekt, mit dem Bücher hier abqualifiziert werden, spricht letzten Endes für deren Wirkmacht, für deren außergewöhnliches Potential, die Grenze zwischen Lebendigem und Nicht-Lebendigem zu überschreiten. Bei aller vorgeblichen Nichtigkeit: „ein Buch ist nichts“, können aus ihm im Akt des Lesens Lebensformen hervorgehen, seien sie auch vergleichsweise unbedeutend und geringfügig, ebenso wie in der Logik des Vergleichsbildes aus den „Tausenden und Abertausenden Maden“, die im Buch wimmeln, Mücken schlüpfen könnten. Indes scheint die Lebendigkeit im Buch seine Desintegration oder Entformung voranzutreiben. Je mehr es von anderen Lebensformen verzehrt wird, desto unzuverlässiger ist sein Abbildungscharakter. Das ließe sich leicht im Sinne eines unabschließbaren diskursiven Ausfransens der Referenz durch Tausende und Abertausende von Über- und Fortschreibungen deuten, wie sie etwa Lektüren und auch literaturwissenschaftliche Interpretationen vornehmen.

5.6 Streifzug durch die neuere Ästhetik Man kann von diesen Beispielen ausgehend theoretisch erkunden, wie – kraft welchen Vermögens und in welchen Konstellationen – Sprache eine solche Wirkmacht entfaltet, wie sie Blecher darstellt. Sind die somatischen Lektüresymptome, die der rumänische Autor in seinen Briefen und in seiner Prosa so beharrlich beschwört, metaphorisch zu verstehen oder verweisen sie auf eine reale Dimension der Rezeption von Literatur und Kunst? Wie ließe sich die Eindringlichkeit von Literatur, die den Leser in Extremzustände versetzen kann, theoretisch perspektivieren? Es gibt eine ganze Reihe neuerer ästhetischer Theorien, die die Dimension der sinnlichen Anwesenheit von Kunst, ihren Wahrnehmungscharakter in den Vordergrund rücken und welche Auskunft zu diesen Fragen geben können. Dazu zählen Martin Seels Ästhetik des Erscheinens84, Hans Ulrich Gumbrechts Begriff der Prä-

|| 82 Blecher, 2006, 130; „Mi-e rușine de faptul că a trebuit să cunosc viața numai din cărți.“ Blecher, 1999, 184. 83 Blecher, 2006, 130; „Toate cărțile le țin în odaia de alături a îngrijitoarei mele, într-o ladă sub pat.“ Blecher, 1999, 184. 84 Martin Seel, Ästhetik des Erscheinens, Frankfurt am Main 2003.

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senz85 und Dieter Merschs Ästhetik des Performativen86. Dreh- und Angelpunkt dieser Theorien ist nicht das Kunstwerk, sondern die ästhetische Erfahrung oder Wahrnehmung, die als ein bestimmter Modus sinnlicher Affizierung und als Erlebnis der Intensität verstanden wird. Ihr begriffliches Inventar beziehen diese Theoretiker bezeichnenderweise aus ästhetischen und philosophischen Schriften der Moderne. Seels Begriff des Erscheinens steht in einer phänomenologischen Tradition. Gumbrecht und Mersch berufen sich unter anderen auf Heidegger, Wittgenstein, Benjamin und Adorno, vor allem aber entwickeln sie ihre Reflexionen an avantgardistischen Kunstbeispielen von Duchamps, Bataille, Artaud, Breton, Magritte etc. Damit reflektieren sie theoretisch ein ästhetisches Umfeld, in dem sich Blecher mit seiner Prosa explizit positioniert hat. Die neuere Ästhetik übernimmt mit ihren Beispielen auch deren Kernproblematik: das Verhältnis zwischen begrifflichem Denken und sinnlicher Wahrnehmung. Hans Ulrich Gumbrecht hat darauf hingewiesen, dass es ein Hauptanliegen der modernen Kunst seit Ende des neunzehnten Jahrhunderts war, „Erfahrung“ und „Wahrnehmung“ zusammenzubringen, d. h. in der Terminologie Gumbrechts zwischen der Weltaneignung durch Begriffe und durch die Sinne zu vermitteln.87 Viele repräsentative Beispiele geben ihm Recht. Lord Chandos schöpferische Krise wurzelt darin, dass er den Bruch zwischen dem Erlebnis „unheimliche[r] Nähe“ und sinnlicher Fülle der Dinge einerseits und Worten andererseits nicht überbrücken zu können meint.88 Der rumänische Schriftsteller Camil Petrescu lässt seine Figuren an dem Evidenzmangel alles sinnlich Unverfügbaren verzweifeln. Was nicht körperlich erlebt wird, ist nichtige und quälende Annahme, bloße Vorstellung. So erklärt sich die notorische Eifersucht des Protagonisten Ştefan Gheorghidiu in Letzte Liebesnacht, erste Kriegsnacht89. In Abwesenheit der geliebten Frau ersinnt Gheorghidiu Szenarien der Untreue, ohne dass seine nachvollziehbaren und sehr wahrscheinlichen Mutmaßungen jemals evident werden würden. Die Präsenz des warmen Frauenkörpers dagegen lässt die Gedankengebäude des Argwohns augenblicklich zusammenstürzen. Auch in der Philosophie gab es zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts Versuche, begrifflich reflektierte Erfahrung und sinnliche Wahrnehmung zusammenzubringen. Die frühe Phänomenologie, deren Methode im ersten Kapitel erörtert wurde, versuchte durch die Deskription und freie Variation aufzuzeigen, wie geometrische

|| 85 Hans Ulrich Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt am Main 2004. 86 Dieter Mersch, Ereignis und Aura. Untersuchung zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main 2002 und Dieter Mersch, Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München 2002. 87 Gumbrecht, 2004, 64. 88 Hofmannsthal, 2002, 26. 89 Camil Petrescu, Ultima noapte de dragoste, întâia noapte de război, Bukarest 1979 und auf Deutsch Camil Petrescu, Letzte Liebesnacht, erste Kriegsnacht, Berlin 1975.

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Begriffe etwa aus dem invarianten Kern von Wahrnehmungen hervorgehen.90 Die allgemeine Annahme eines Bruchs zwischen begrifflicher Weltaneignung und sinnlichem Weltbezug löste also bei den modernen Autoren nach 1900 verschiedene Reaktionen aus: von Sprachskepsis, über Versuche, die Sprache zu versinnlichen oder aus dem Korsett der Begriffslogik zu entfesseln in der Literatur, bis hin zur Offenlegung der unmittelbar sich darbietenden Phänomene in der Philosophie. Darin spiegeln sich unterschiedliche Positionen bezüglich des Verhältnisses zwischen sinnlicher Wahrnehmung und begrifflichem Denken. Sie kehren in den neueren ästhetischen Theorien wieder, diesmal mit Bezug auf die Rezeption von Kunst. Ein gemeinsamer Ausgangspunkt der genannten Theorien ist die Kritik an der Hermeneutik und Semiotik. Insbesondere in Hans-Ulrich Gumbrechts programmatisch betiteltem Buch Diesseits der Hermeneutik und in den Schriften von Dieter Mersch werden die Hermeneutik und Semiotik nicht selten global als theoretisch und methodisch unzulänglich dargestellt, insofern sie die Bedeutungsseite von Kunst bzw. der Zeichen privilegieren und stets auf deren Interpretation und erschöpfendes Verstehen abzielten.91 Dabei bleibe, so der Einwand, die Materialität des Zeichens oder des Kunstwerks unterbeleuchtet. In Was sich zeigt weist Dieter Mersch darauf hin, dass die semiotische Auffassung des sprachlichen Zeichens dessen „Entmaterialisierung“ impliziere: „[G]emäß ihrer klassischen Bestimmung, [sprechen die Zeichen] stets „von etwas“, was sie nicht sind; sie substituieren etwas durch etwas anderes…“92 Die Funktion des Zeichens ist es somit, auf etwas Außersemiotisches zu verweisen. Allerdings, so betont Mersch zu Recht, sind die Zeichen „Repräsentationen einer Abwesenheit oder Signifizierung eines Signifikats durch eine Anwesenheit, die das Repräsentierte oder Signierte präsentieren.“93 Diese „Anwesenheit“, von der Mersch spricht, ist nichts anderes als der theoretisch emphatisierte Signifikant: das Laut- oder auch Schriftbild des sprachlichen Zeichens. Was Mersch an der Semiotik bemängelt, ist, dass sie „vor allem eine Theorie der semiotischen Differenz“94 sei. Mit anderen Worten betone sie die Referenzrelation und überspringe die Materialität des Zeichens, seine sinnliche Anwesenheit, zugunsten des Bezeichneten. Das tut sie allerdings deshalb, weil sie die Sprache vornehmlich als konventionalisiertes Zeichensystem in Augenschein nimmt. In der Alltagskommunikation kommt es auf einen schnellen Informationsfluss an. Nicht um die Zeichen selbst geht es, sondern um das, worauf sie referieren bzw. was sie darstellen und substituieren. Je konventioneller und transparenter die Zeichengestalt ist, je leichter sie auf ihre Bedeutung hin transzendiert wird, desto flüssiger ist die || 90 Siehe Schapp, 1974, 149‒150 und Fellmann, 2006, 70‒71. 91 Siehe die Ausführungen zu Saussure in dem Unterkapitel „3. Hauptstück: Struktur und Ereignis“, Mersch, 2002, 283‒353. 92 Ebd., 163. 93 Ebd., 138. 94 Ebd., 163.

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Kommunikation. Ein Gewahren der Zeichen in ihrer materiellen Präsenz ist der Kommunikation hinderlich. Denn, wenn die Zeichen auffällig werden, ist auch der Informationsfluss gehemmt. So bereitet eine eigenwillige Handschrift bereits Schwierigkeiten beim Lesen und lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers vom Informationsgehalt des Textes auf seine Schriftbildlichkeit, die wiederum als Trägerin einer anderen Semantik verstanden werden kann.95 In Franz Werfels Eine blassblaue Frauenschrift96 beispielsweise teilt die Handschrift Vera Wormsers einen anderen Sinn mit als der Inhalt ihres Briefes. Die Briefgestalt spricht von der romantischen Verbindung des Protagonisten Leonidas mit der Absenderin, die der Brieftext wiederum mit keinem Wort verrät. Das Beispiel veranschaulicht die Spannung, die zwischen der Materialität sprachlicher Zeichen und ihren Bedeutungen auftreten kann. Im Regelfall alltagssprachlicher Kommunikation aber bleibt die Materialität des Zeichens unthematisch, d. h. sie wird als solche nicht wahrgenommen. Erst die Störung oder das Sprachkunstwerk lassen sie auffällig werden. Die sinnliche Wahrnehmbarkeit des Zeichens scheint dann als unabdingbare Voraussetzung für das Entstehen jeglicher Bedeutung auf. Die neuere Ästhetik geht von der Annahme aus, dass alle Kunst die Zeichen in ihrer Materialität thematisch werden lässt. „Alle Arten der Zeichenverwendung“, heißt es bei Martin Seel, „bedürfen eines sinnlichen Mediums, aber nicht alle präsentieren es. Nicht alle präsentieren das, was sie präsentieren, auf dem Weg einer Präsentation ihres Mediums. […] Ihre Weltpräsentation [der Kunstwerke] vollzieht sich als Selbstpräsentation.“97 Das Material und seine Organisation sind im Kunstwerk also höchst signifikant und untrennbar verbunden mit dem, was dargestellt wird. Kunstwerke sagen nicht nur etwas aus und imaginieren es, sondern sie demonstrieren es zugleich durch die einzigartige Anordnung ihres Materials. Man denke nur an die erste Strophe aus Paul Verlaines Chanson d’automne, wo der sehnsüchtige Klang der Herbstviolinen im Vers selbst, in der Anhäufung dunkler Gleichlaute erklingt: Les sanglots longs Des violons De l’automne Blessent mon cœur D’une langueur Monotone.98

|| 95 Zu den semiotischen Modi, die das Auffällig-Werden der Zeichen provozieren kann siehe Aleida Assmann, „Die Sprache der Dinge. Der lange Blick und die wilde Semiose“ in: Gumbrecht/Pfeiffer (Hrsg.), 1988, 237‒251. 96 Franz Werfel, Eine blassblaue Frauenschrift, Berlin 2012. 97 Seel, 2003, 183. 98 Paul Verlaine, Poëmes saturniens. (1866), Paris 2008.

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Die Atmosphäre und das Verlangen, von denen das lyrische Ich spricht, werden lautlich und rhythmisch erzeugt und für den Leser wahrnehmbar, im konkretesten Sinne spürbar gemacht. Der Klangkörper der Sprache stellt sich hier in einer spezifischen und irreduziblen Komplexität aus. Ersetzt man ein Lexem mit einem paradigmatischen Äquivalent – um es mit Jakobson zu formulieren –, dann verliert die syntagmatische Reihung nicht nur ihre charakteristische Klangfarbe, sondern sie verändert auch ihre spezifische Bedeutung. Es ist diese unzerlegbare Wechselbeziehung zwischen Materialität und Sinn, die Martin Seel meint, wenn er Kunstwerke als „konstellative Darbietungen“99 bezeichnet. Im Unterschied zu anderen Darbietungen seien Kunstwerke an eine „nichtsubstituierbare (durch keine andere Kombination von Elementen ersetzbare) Ausführung des Materials gebunden.“100 Künstlerische Zeichenkonfigurationen seien somit individuell und als sinnliche Gebilde in höchstem Grade auffällig. In ihrer Rezeption sei ein „besonderer Mitvollzug“ 101 mit allen Sinnen, nicht bloß ein kognitives Verstehen verlangt. Das Kunstwerk will in seiner materiellen Konfigurierung „eigens betrachtet und eigens erkundet“102 werden. Es sind also die medialen, materiellen und performativen Eigenarten der Rezeption von Kunst, auf die zeitgenössischen Ästhetiken aufmerksam machen. Im ersten Teil des Kapitels habe ich gezeigt, dass man in der Korrespondenz und in der Prosa Blechers Vorstellungen einer unmittelbaren, körperlichen Affizierung durch die geschriebene Sprache und das Buch begegnet. Die Beispiele decken eine ganze Spannbreite von möglichen Auslegungen der Sinnlichkeit des Schriftmediums, angefangen von der Stofflichkeit und Beschaffenheit des Trägermediums, über die Vorbildfunktion der Dinge, an deren sensuelle Wirkkraft sich die geschriebene Sprache misst, bis hin zum Lesen oder Schreiben als somatisches Geschehen. Dabei fangen Blechers Beispiele tendenziell Grenzphänomene oder Maximalwirkungen der ästhetischen Sprache ein. Auch dort, wo es um die Privatkorrespondenz mit Geo Bogza geht, muss sich das starke Freundschaftsgefühl als Brieftext sprachlich und aisthetisch bewähren.103 Es geht also bei Blecher um die Möglichkeiten der Prosas|| 99 Seel, 2003, 157. 100 Ebd. 101 Ebd., 158. 102 Ebd., 183. 103 Doris Mironescu spricht von einer ästhetischen Kargheit der Briefe Blechers. Der Ausdruck der Freundschaft wäre umso stärker und authentischer, als es nicht die effektvolle Phrase suche, sondern Sprachbilder riskiere, die an Kitsch angrenzen würden, wie die Bezeichnung Bogzas als „gemütliches Fauteuil“. Umgekehrt kann man argumentieren, dass gerade die Bemühung um einen authentischen Gefühlsausdruck die Empfindungssprache entautomatisiert. Das Bestreben, in der Briefkommunikation wahrhaftig zu bleiben, erfüllt sich sprachlich, durch das Finden neuer Sprachbilder, die an sich nicht unästhetisch sind, sondern schlichtweg eine andersartige, antisentimentale Ästhetik prägen. In diese Richtung argumentiert schließlich auch Doris Mironescu: „Blecher stellt in seinen Briefen an Bogza eine erneuernde ästhetische Sensibilität im avantgardisti-

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prache, sinnliche Effekte zu erzeugen und eine (empfundene) Unmittelbarkeit herzustellen. In der Theorie der Lyrik und Poesie gibt es seit jeher ein Bewusstsein für das sinnliche Wirken von Sprache durch phonetische, rhythmische und graphische Performanz. Nicht von ungefähr nehmen Hans Ulrich Gumbrechts ästhetische Reflexionen ihren Ausgang bei den lyrischen Formen, die sich nach Meinung des Literaturwissenschaftlers „in einer Situation der Spannung, in einer strukturellen Form der Oszillation mit der Sinndimension bef[ä]nden“104. Doch reklamiert die neuere Ästhetik eine aisthetische Wirkungsdimension für alle Kunstformen – auch für jene Literatur, die „auf Versmaß und Silbenklang verzichtet“105, auch wenn in diesem Fall die Auffälligkeit und Individualität der Wortkonstellationen subtiler und schwerer zu fassen sind. Im Vorwort zu seiner Ästhetik des Erscheinens fordert Martin Seel eine Ästhetik der literarischen Prosa: Hier, so könnte man denken, liegt gar kein ernstzunehmendes Sinnenobjekt vor, sondern lediglich eine Partitur, die als Kunst nicht von den Sinnen, sondern allein vom Geist erschlossen werden will. Diese Trennung jedoch verfehlt das literarische Sprechen von Anfang an. Denn ohne (einen Sinn für) ihre Auffälligkeit als graphische, rhythmische und klangliche Komposition gäbe es überhaupt keine literarischen Texte.106

Die Begriffe, mit welchen die hier zitierten Theoretiker die sinnliche Wirkungsdimension von Kunst reflektieren, sind jeweils andere und in ihren theoretischen Implikationen durchaus verschiedene. Dieter Mersch spricht von „Aisthesis“, vom „Sichzeigen“ und im Rückgriff auf Benjamin von der „Aura“ des Kunstwerks, HansUlrich Gumbrecht von „Präsenz“ und „Intensität“, Martin Seel schließlich vom „Sich-Präsentieren“ und „Erscheinen“ der Kunst. Diese Begriffe unterscheiden sich voneinander insbesondere darin, wie sie das Verhältnis von Materialität und Bedeutung, von sinnlicher Affizierung und Verstehen konstellieren. Bei Dieter Mersch vollzieht sich die Aisthesis als paradoxe Erfahrung der „Nicht-Wahrnehmung in der Wahrnehmung“107. Sie reißt das Symbolische auf und entzieht sich der Sagbarkeit. Bedeutet dies in letzter Konsequenz, dass man über das Rätsel des Kunstwerks schweigen muss? Martin Seel vertritt eine moderatere Position. Zwar sieht auch er mit dem Begriff des Rauschens, Grenzfälle einer ästhetischen Erfahrung vor, die „in

|| schen Stil unter Beweis.“ Mironescu, 2011, 134‒135. Insgesamt betont der rumänische Wissenschaftler mehr die Wort- und Sprachskepsis Blechers. Dagegen geht es in dieser Arbeit um Beispiele eines sprachlich-aisthetischen Gelingens, um die Formen der Überwindung der Sprachskepsis, die ich als repräsentativ für Blechers Schreiben erachte. 104 Gumbrecht, 2004, 35‒36. 105 Seel, 2003, 10. 106 Ebd. 107 Mersch, 2002, 44.

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einem rein formalen Sinn“108 ins Mystische hineingreifen können. Doch begreift er die Erfahrung der Unbestimmbarkeit nicht als „Teilhabe an einem unaussprechlichen Sinn“109. Er wendet sich dagegen, radikale Formen des Erscheinens gegen die Bedeutungsdimension des Kunstwerks auszuspielen. Vielmehr versteht er auch die asemantische Phänomenalität von Kunst als kalkulierten, zumindest wirksamen artistischen Effekt, der im hermeneutischen Rahmen der Rezeption wiederum Bedeutung gewinnt. Es geht also darum aufzuspüren, wie sich die Form und Bedeutung eines Kunstwerks, durch die Art des Formens, des Bedeutens und auch des NichtBedeutens konstituiert. Die Herausforderung für eine Literaturwissenschaft, die ihren Forschungsgegenstand als ästhetisches Phänomen in den Blick nimmt, liegt nicht nur in einer gesteigerten Sensibilität für dessen sinnliche Wirkung, sondern auch in dem Versuch, diese zur Sprache zu bringen und explizit zu machen. Die Literaturwissenschaft wird das „Erscheinen“, die „Präsenz“ oder die „Aisthesis“ zu beschreiben und formalästhetisch nachzuweisen versuchen, wenn sie nicht in stummem Staunen versinken will. Im Folgenden geht es darum, anhand des Begriffs des Erscheinens von Martin Seel, die Prosa Blechers als Darstellung und Gegenstand von ästhetischen Erfahrungen zu beschreiben.

5.7 Der ästhetische Begriff des Erscheinens Im Zentrum der philosophischen Ästhetik Martin Seels steht der Begriff des Erscheinens. „Erscheinen“ bezeichnet einen besonderen Modus der Wahrnehmung, der sich zunächst von der theoretischen und praktischen Verfügung über die Dinge abhebt. Das, was erscheint, ist nicht zwangsläufig ein Objekt der Kunst. Alle Gegenstände der Wahrnehmung – ein Naturschauspiel, ein Ort, ein Ding oder auch Ereignissequenzen– können erscheinen, d. h. dass sie den Sinnen auf eine spezifische Art und Weise, in ihrer „unfasslichen Besonderheit“110 nämlich, begegnen können. Grundbegriff der Ästhetik ist somit auch hier zuallererst die ästhetische Erfahrung und nur sekundär das Kunstobjekt. Der nominalisierte Infinitiv – „Erscheinen“ statt „Erscheinung“ – signalisiert zusätzlich, dass es der ästhetische Vollzug ist, der im Fokus steht. Den Unterschied zwischen einer begrifflich-praktischen Perzeption und der ästhetischen Wahrnehmung illustriert Seel anhand klassisch phänomenologischer Deskriptionen, indem er die verschiedenen Modi einer Wahrnehmungssituation durchspielt. Imaginiert und beschrieben wird beispielsweise, wie die Wahrneh-

|| 108 Seel, 2003, 236. 109 Ebd. 110 Ebd., 9.

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mung „Ein roter Ball liegt auf einem grünen Rasen“111 auf verschiedene Weise realisiert werden kann. Entweder sie erfolgt als „propositionales Sehen“112, bei dem die Wahrnehmung interessegeleitet ist und unter bestimmten Aspekten erfolgt: „Alle, die sehen und sprechen können […], können sehen, dass der Ball rot ist, dass es ein Lederball ist, dass er handgenäht ist, dass es Oskars Ball ist, dass es der Ball des Nachbarsjungen ist […]“113, oder aber sie vollzieht sich als interesselose Betrachtung aller sinnlichen Aspekte, die sich im Hier und Jetzt am Ball zeigen: Die Rundung des Balls ist dann ebenso wichtig wie das Rot im Unterschied zum Grün des Rasens, die Schrammen an der Oberfläche des Balls (soweit vom Betrachtungsstandpunkt aus erkennbar), die Art der Beschriftung des Balls, das Ornament, mit dem er verziert ist, die Größe und Abnutzung der Vielecke, aus denen die Außenhaut zusammengenäht ist, die Verteilung des Lichts auf der Kugel, der unterschiedliche Widerschein des Leders je nach Einfall des Lichts, je nach Trockenheit und Feuchtigkeit, wie die Spitzen des Grases sich unter der Berührung des Balls biegen, welche Schatten der Ball im Halbschatten des Baums auf die Grasfläche wirft – und was sonst noch alles an diesem Ding zu sehen ist. Alles zusammen liegt hier im Focus der Betrachtung. […] Sie geht über eine dieses und jenes feststellende Wahrnehmung nicht allein deshalb hinaus, weil sie auf Qualitäten achtet, die begrifflich nicht oder nur schwer diskriminierbar wären, wie es etwa die Nuancen der Farbe eines Gegenstandes sind. Sie achtet überdies auf eine Merkmalsvielfalt ihrer Objekte, die sich begrifflich nicht ausschöpfen lässt. […] Die ästhetische Wahrnehmung ist auf das gleichzeitige und das augenblickliche Gegebensein ihres Gegenübers gerichtet.114

Was die ästhetische Wahrnehmung kennzeichnet, ist also zunächst die Ausklammerung jeglichen praktischen oder theoretischen Interesses, dann die Mannigfaltigkeit, Dauer und Einzigartigkeit des sinnlich Gegebenen, schließlich seine begriffliche Inkommensurabilität. Das ästhetisch Wahrgenommene überschreitet das, was an ihm kognitiv erkannt oder erfasst werden kann. Deshalb ist der „Grundbegriff des Erscheinens“, wie Seel betont, „nicht das Erscheinen von etwas, sondern das Erscheinen, Punktum.“115 Allerdings sprengt die ästhetische Wahrnehmung, anders als zum Beispiel die Aisthesis bei Dieter Mersch, hier nicht zwangsläufig die Struktur des Sehens von etwas als etwas. Sie kann durchaus Gestalten erkennen und Erscheinungen am Gegenstand identifizieren, ohne bei ihnen zu bleiben oder ihnen eine wie auch immer motivierte Ordnung der Signifikanz aufzuzwingen. Vielmehr kommt es auf deren übergängliches Wechsel- und Zusammenspiel an. Ebenso we-

|| 111 Ebd., 52. 112 Ebd., 53. 113 Ebd., 53. 114 Ebd., 54. 115 Ebd., 96.

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nig ist die „Responsivität“116, also der Überfall der Sinne durch ein plötzliches Erscheinen, ein notwendiges Kennzeichen der ästhetischen Wahrnehmung, so wie sie Seel definiert. Sie kann sich sowohl aktiv ereignen und vom Subjekt durch einen Wechsel der Einstellung herbeigeführt werden oder sich eher passiv vollziehen. Allerdings räumt Seel ein – und in diesem Zugeständnis äußert sich seine Orientierung an die moderne Ästhetik des Schreckens und der Plötzlichkeit –, dass starke ästhetische Momente „meist als etwas erfahren werden, wodurch wir ,erschüttert‘ oder ,entrückt‘, ,mitgenommen‘ oder ,gefesselt‘ werden“117. Bei aller Bedrohung des Selbstverlusts, die solchen Erfahrungen innewohnt, liege ihr ästhetischer Reiz in der „Vergegenwärtigung unendlicher Möglichkeiten“118. Darin werde das ästhetische Subjekt seiner eigenen zwar vergänglichen, aber unerschöpflichen Gegenwart inne. Das Wahrnehmungssubjekt entdecke jenseits kultureller Signifikationen die Singularität und potentiell unerschöpfliche Fülle der phänomenalen Welt. Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit und Beleuchtete Höhle können in diesem Sinne als literarische Narrationen des Erscheinens gelesen werden. Mit der Erfahrung der „bösen“ und „wohlwollenderen Orte“ thematisiert Blecher ein besonderes, „atmosphärisches Erscheinen“.119 Die Vorkommnisse in Blechers erstem Prosabuch offenbaren den kontingenten Charakter der Wirklichkeit und hinterlassen ein „Gefühl der extremen Hinfälligkeit der Welt“ (sentimentul profundei inutilităţi a lumii), das sich retrospektiv als schicksalhaft erweist: „Ich spürte undeutlich, dass auf dieser Welt nichts bis zum Ende gehen kann; nichts kann sich vollenden“120. Darüber hinaus reflektiert Blechers Ich-Prosa vordergründig die Wirklichkeit des Erscheinens. Eines der anschaulichsten Beispiele in Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit ist jene Vexierwahrnehmung einer Schleife als Dahlien, die den jungen Protagonisten verblüfft und dann in schiere Verzweiflung stürzt.121 Verzweifelt ist er allerdings nicht darüber, dass sein eigener Blick einer Täuschung unterliegt und sich als fehlbar erweist. Für den Protagonisten ist die Erscheinung der Dahlien (apariţia), auch wenn sie sich letztlich als scheinhaft entpuppt, in gewisser Hinsicht wirklich. Es gibt zumindest eine nachvollziehbare sensorische Grundlage dafür,

|| 116 Bei Dieter Mersch ist „Responsivität“ der unabdingbare Modus, in dem sich ästhetische Erfahrungen ereignen. „Responsivität“ ist der Gegenbegriff zur Intentionalität, die phänomenologisch die Wahrnehmungsstruktur – das Sehen von etwas als etwas – ausmacht. Ästhetische Erfahrungen sind nach Meinung Merschs stets „Widerfahrnisse“. Sie „überkommen“ und „reißen fort“, bestenfalls „gehen“ sie „an“ und „kommen zuvor“. Sie verweigern sich letztlich der Signifikation. Siehe Mersch, 2002, 43‒45. 117 Seel, 2003, 65. 118 Ebd., 220. 119 Ebd., 152. 120 Blecher, 2003, 17‒18; „Simțeam vag că nimic în lumea asta nu poate merge până la capăt, nimic nu se poate desăvârși.“ Blecher, 1999, 48. 121 Blecher, 2003, 124‒125; Blecher, 1999, 105‒106.

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dass die Schleife als Strauß von Dahlien gesehen wird, sei es durch die Farbe und Textur des Stoffes, sei es durch die blütenähnliche Art, wie sie auf dem Regal Falten schlägt. Woran Blechers Ich-Figur verzweifelt, ist vielmehr die „gewöhnliche Gestalt der Dinge“122 (aspectul comun al lucrurilor): „Die Welt hatte nicht die Kraft, sich auch nur ein wenig zu verändern, sie war derart erbärmlich in ihre Exaktheit eingesperrt, dass sie es sich nicht leisten konnte, Schleifen für Blumen zu halten“123. Es ist „die Welt“, d. h. hier die fixierte Alltagsrealität, die sich am Maßstab der Phänomene bewähren muss, nicht umgekehrt. Obgleich sie keine objektive Realisierung findet, bewahrt die Erscheinung für den Protagonisten ihren Erfahrungswert, ihre affektive und sinnliche Wirkkraft. Was hier geschieht, ist eine nachträgliche Affirmation der perzeptiven Illusion. Der Protagonist weigert sich, die als Dahlien gesehene Schleife als bloßen Irrtum abzulegen. Er lässt sie nicht nur als Möglichkeit der Wahrnehmung gelten, sondern macht sie zum Argument in seiner Revolte gegen die „herbe Akkuratheit“124 (exactitate aspră) der Welt. Die Dahlien erfahren eine Aufwertung als „ästhetischer Schein“125, der mit bestürzenden Einsichten in die kontingente Struktur der Wirklichkeit einhergeht. Öfter sind Blechers Begebenheiten Phänomene eines willkommenen ästhetischen Scheins. Der Eindruck, den sie hervorrufen, steht im Widerspruch zur Faktizität und der Widerspruch wird von der Figur von vornherein durchschaut. Dennoch verfügen die irrealen Begebenheiten über eine ihnen eigene Wirklichkeit des Empfindens, d. h. sie sehen aus oder fühlen sich wirklich an wie etwas, was faktisch nicht so ist oder nicht so sein kann. Das Sehen und Fühlen sind dabei keineswegs idiosynkratisch, sondern durch die einmalige Wahrnehmungssituation motiviert und nicht selten von schwindelerregender Wirkkraft. Die Prosaimagination Blechers rührt oft von dieser besonderen ästhetischen Spielart her, die den Schein affirmiert und willkommen heißt. Wenn der Junge in Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit beispielsweise die verlassene Etage im Haus der Webers aufsucht und er sich von der atmosphärischen Verlassenheit des Raumes ergriffen fühlt, heißt es: „Mir war, als hätte ich in einer mir seit langem bekannten Welt gelebt, an die ich mich nicht mehr gut genug erinnern konnte.“126 Beschrieben wird die verstörende Empfindung eines Déjà-Vécu, das faktisch nicht möglich ist. Die Befindlichkeit aber ist real („mir war“). Anders gesagt: Empfunden wird etwas Irreales, das Empfinden aber ist real und entspricht der einmaligen Atmosphäre des verwahrlosten Raums. Ein ähnliches Gefühl stellt sich ein, als der Junge einmal Edda aufsucht: „Die kühle Dunkelheit || 122 Blecher, 2003, 125; Blecher, 1999, 106. 123 Blecher, 2003, 128; „Lumea n-avea puterea de a se schimba câtuși de puțin, era atât de meschin închisă în exactitatea ei încât nu-și putea permite să ia eșarfe drept flori...“ Blecher, 1999, 107. 124 Blecher, 2003, 127; Blecher, 1999, 106. 125 Seel, 2003, 105. 126 Blecher, 2003, 66; „Era ca și cum aș fi existat într-o lume cunoscută de mult și de care nu-mi puteam aminti bine.“ Blecher, 1999, 73.

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des ersten Zimmers umfing mich mit einer Aura von Ruhe und Freude, als habe sie mich schon seit langem erwartet.“127 Auch hier ist der Eindruck, dass die Dunkelheit auf ihn warte, kein Trug der Sinne, sondern ein realer atmosphärischer Anschein. Es fühlt sich für den Protagonisten wirklich so an, als ob. Die Beispiele sind zahlreich. Über das Gefühl der Zerbrechlichkeit, das ihn überkommt, als er nach langer Krankheit das Bett verlässt, heißt es beispielsweise: „Die zu dünne Luft konnte mich nicht tragen. Aufgelöst schritt ich darin einher, als durchquerte ich einen dunstigen, lauwarmen Fluss. […] Das Licht um mich vertrieb die Klarheit der Dinge, als hätte es sie sehr lange gewaschen, um den Glanz von ihnen zu entfernen.“128. Später im Park, als er sich in der Betrachtung eines Baumes verliert, streichelt er dessen Stamm „als klopfte ich einem Freund auf die Schulter“129. Immer ist der ästhetische Schein Teil des sinnlich Gegebenen und betrifft das Wie des Tuns, des Fühlens, Spürens und Empfindens. Der Protagonist durchquert keinen Fluss, doch die Art, wie er nach langer Rekonvaleszenz unkoordiniert schreitet, fühlt sich an, als täte er es; das Licht hat nicht die Dinge gewaschen, aber seine diffuse Konsistenz lässt sie glanzlos und verwaschen erscheinen; der Baum ist kein Kamerad, aber so wie ihn der Junge wahrnimmt und streichelt, hat es für ihn den Anschein, als wäre er es. Diese besondere Spielart der ästhetischen Erfahrung, die im Wechselspiel der Erscheinungen das Irreale gelten lässt, vollzieht sich als ein „Wahrnehmen als ob“130. Sie wird narrativ in irrealen Vergleichsätzen realisiert (de parcă, ca şi cum). Martin Seel hat angemerkt, dass sich die ästhetische Einstellung durch eine „potentielle Indifferenz gegenüber dem Sosein“131 der Dinge auszeichnet. Sie nimmt die Diskrepanz zwischen der faktischen Gestalt der Sachen und ihrer momentanen Erscheinungen in Kauf. In diesem Sinne bekennt der Ich-Erzähler in Beleuchtete Höhle sein vollkommenes Desinteresse gegenüber dem Realitätsgehalt dessen, was er sieht, träumt und dessen, woran er sich erinnert. Nicht die Logik der Dinge interessiert ihn, sondern „ihre Schönheit und Bizarrerie, ihre traurige und ruhige Atmosphäre oder ihre schmerzhafte, ja herzzerreißende Dramatik“132. So nimmt er beispielsweise den „Platz vor der Bukarester Post“ wie in einem seiner Träume ganz in Weiß oder in Rot wahr, „obwohl [er] die Augen offen hat[ ]“ und sein Sehen ‚korri-

|| 127 Blecher, 2003, 122; „Întunericul răcoros al primei odăi mă cuprinse cu un aer plin de calm și de bucurie, ca și cum m-ar fi așteptat de mult.“ Blecher, 1999, 104. 128 Blecher, 2003, 116; „[A]erul prea inconsistent nu putea să mă susțină. Pășeam în el dezlânat ca și cum aș fi străbătut un râu vaporos și călduț. [...] În jurul meu lumina gonea exactitatea lucrurilor ca și cum le-ar fi spălat mult de tot pentru a lua lustrul de pe ele.“ Blecher, 1999, 101. 129 Blecher, 2003, 121; „Mângâiai trunchiul așa ca și cum aș fi bătut pe umăr un prieten.” Blecher, 1999, 104. 130 Seel, 2003, 105. 131 Ebd., 107. 132 Blecher, 2008, 36; „Mă pasionează înainte de toate frumusețea sau bizareria lor, atmosfera lor tristă și calmă sau dramatismul lor dureros sau sfâșietor.“ Blecher, 1999, 247.

Erscheinen der literarischen Prosa | 137

gieren‘ könnte.133 Das monochrome Erscheinen des Platzes bietet nicht nur ein reizvolleres Schauspiel als das faktische Sein, sondern es behauptet schließlich auch seine eigene Realität, als der Erzähler tatsächlich einer ganz in Rot gekleideten Frau begegnet. Der ästhetische Schein, um den es in Beleuchtete Höhle vornehmlich geht, ist nicht immer an eine erinnerte Wahrnehmungssituation gebunden. Wenn in Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit ein anderes Sehen und vor allem ein anderes Fühlen innerhalb erinnerter Perzeptionen zur Darstellung kommt, so geht es in Blechers letztem Prosawerk eher um den ästhetischen Schein der Imagination – des Traums oder des Schreibens. Der Begriff der Wirklichkeit erfährt hier eine Ausweitung und Umdeutung vom ästhetischen Standpunkt aus. Die Narration begnügt sich nicht mit Exempeln einer imaginativ überschrittenen Wirklichkeit, sondern nimmt sich darüber hinaus epistemologische Prärogative heraus und fordert eine Neubestimmung dessen, was ist und was als real gilt. Hier äußert sich die Radikalität des literarischen Programms Blechers, wie im nächsten Kapitel gezeigt wird, nicht in einer Revolte gegen die dumpfe Alltagsrealität, sondern in der narrativen Entwicklung eines ästhetischen Begriffs der Wirklichkeit, der die gängigen Wahrnehmungs- und Denkkategorien als die eigentlichen Illusionen entlarvt.

5.8 Erscheinen der literarischen Prosa Die dargestellten Episoden in Blechers Ich-Prosa können also als Phänomene des Erscheinens, die den Figuren widerfahren, gelesen werden. Die narrative Aufmerksamkeit für die sinnliche Detailfülle der erinnerten Situationen, die Empfänglichkeit der Figuren für Erfahrungen der Immanenz, schließlich deren Revolte oder Gleichgültigkeit gegenüber dem, was als real gilt, belegen eine radikale ästhetische Intention der Prosa Blechers. Die schwierigere Frage, die sich stellt, ist, inwiefern die Prosa selbst auch Gegenstand eines Erscheinens ist. Anders gefragt: Inwiefern ist die Lektüre auch ein sinnliches Vernehmen oder, besser, ein sinnlicher Vollzug? Wenn es gelingt, diese Frage zu beantworten, dann wären die physiologischen Lektüreeffekte, die Blecher in seinem Briefwechsel und im Prosawerk so insistent beschreibt, nachvollziehbar als Möglichkeit der Sprache, in bestimmten Anordnungen eine unmittelbare, sinnliche oder aisthetische Gegenwart herzustellen. Mit dem Begriff des Erscheinens hat Martin Seel den Anspruch, nicht nur die ästhetische Wahrnehmung im Allgemeinen zu fassen, sondern auch die sinnliche Wirkungsdimension der Kunst. Die literarische Prosa ist dabei ein besonderer Prüfstein, denn sie verleitet den Leser dazu, seine aktuelle Gegenwart zu überschreiten

|| 133 Blecher, 2008, 36; „Am văzut în anumit fel piațeta din fața poștei din București, de exemplu, și de-atunci [...] deși aveam ochii deschiși n-am putut s-o văd decât albă și roșie...“ Blecher, 1999, 247.

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und entführt ihn in eine imaginierte, zuweilen irreale Welt. Wenn man Blechers Beleuchtete Höhle liest, dann begibt man sich imaginativ in die Welt der Sanatorien in Berck, Leysin und an der Schwarzmeerküste, deren bedrückende Atmosphäre mit der aktuellen Situation des jeweiligen Lesers wenig gemein hat. Inwiefern vollzieht sich dann das Lesen als ein sinnliches Verweilen und inwiefern steigert es den Sinn für die eigene Gegenwart, so wie es der Begriff des Erscheinens behauptet? Seel antwortet auf diese Frage, indem er die Rezeption von Kunst als Ort zweier gegenläufiger Tendenzen des ästhetischen Bewusstseins begreift: „Dies ist der Schauplatz“, heißt es, „einer Vertiefung in die Wirklichkeit des augenblicklich Erscheinenden und zugleich einer Überschreitung aller unmittelbaren Wirklichkeit. […] Hier ist eine Wahrnehmung, die ihre Objekte in ihrer Besonderheit ernst nimmt, indem sie sich von ihnen in eine andere Gegenwart leiten lässt.“134 Das Lesen vollzieht sich mit anderen Worten nicht insgesamt als ein sinnliches Vernehmen, aber es wird in seinen Imaginationen von einem sinnlichen Vernehmen getragen. Auch für die literarische Prosa gilt, dass sie sich in „konstellativen Darbietungen“135 realisiert, dass die Art, wie sie etwas sagt, mit für das steht, was sie sagt. Ohne einen mehr oder minder bewussten Mitvollzug ihrer besonderen Sinnlichkeit, bleiben ihre Imaginationen blass und ohne Resonanz. Betrachtet man die Prosa Blechers als Ort der Überschneidung oder Konvergenz einer gesteigerten Gegenwart (für ein sprachliches Gebilde) mit einer Welt des imaginativen Scheins, dann lässt sich auch der elaborierte Titel von Blechers erstem Prosatext ästhetisch präziser auslegen. Wenn man das Syntagma „unmittelbare Unwirklichkeit“ (irealitatea imediată) nicht auf die intradiegetische Welt bezieht, sondern auf die Ontologie der literarischen Narration136, dann meint die Unwirklichkeit die Imaginationen, die in der Lektüre realisiert werden. Unwirklich ist die fiktive Welt des halbwüchsigen Protagonisten, weil sie sich nicht „in der Reichweite der leiblichen Wahrnehmung“137 des Lesers befindet. Sowohl für den Schreibenden, der aus der Erinnerung schöpft, als auch für den Leser sind die „verfluchten“ (spaţii blestemate) oder „wohlwollenderen Orte“ (spaţii mai binevoitoare) nur in der Vorstellung als „Objekte der Imagination“138 gegenwärtig. Und doch ist diese imaginierte Unwirklichkeit zugleich „unmittelbar“, als wäre sie nicht medial vermittelt, sondern tatsächlich präsent. Dieses Unmittelbare aber kann nur die Materialität und

|| 134 Seel, 2003, 132. 135 Ebd., 157. 136 Der rumänische Titel Întâmplări în irealitatea imediată (Begebenheiten in der unmittelbaren Unwirklichkeit) lässt diese Auslegung zu. Der deutsche Titel Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit verweist eher auf die intradiegetische Welt der Ich-Figur, der Originaltitel dagegen kann auch so verstanden werden, dass sich die Narration selbst in einer Dimension der „unmittelbaren Unwirklichkeit“ abspielt. 137 Seel, 2003, 125. 138 Ebd., 131‒132.

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den Charakter des Mediums selbst kennzeichnen, das eine ferne und vergangene Welt vergegenwärtigt, indem es sich sinnlich präsentiert. So kommt es, dass „[d]ie Aufmerksamkeit für die Imagination [eines] Satzes … [in der Rezeption von Literatur oft] gleichbedeutend ist mit der lesenden oder hörenden Aufmerksamkeit für die Imagination dieses Satzes.“139 Mit anderen Worten geht die Imagination in ihrer Intensität erst kraft der Wahrnehmung der spezifischen Wortkonstellationen hervor in ihrer akustischen, gestischen, rhythmischen und sonstigen sinnlichen Besonderheiten. Ein Beispiel aus Blechers erstem Buch verdeutlicht, dass dies auch für die literarische Prosa in einem hohen Grad gelten kann. Die Annahme soll hier am Originalwortlaut nachvollzogen werden. Gewählt sei der Beginn der Passage, wo Blechers Ich-Erzähler sich an die „Traurigkeit und Überspanntheit“140 (tristeţi şi exaltări) erinnert, zu welchen der Jahrmarkt im Sommer Anlass gab: Spectacolul lui amplu se umfla ca o simfonie, de la preludiul panoramelor izolate, ce soseau cu mult înaintea tuturor şi indicau tonul general al bâlciului, ca notele răzleţe şi prelungi ce anunţă la începutul bucăţii de concert tema întregii compoziţii, şi până la finalul grandios, plesnind de urlete, pocnete si fanfare, în ziua temeiului, urmat de tăcerea imensă a câmpului rămas pustiu. Sein großartiges Schauspiel blähte sich wie eine Symphonie auf vom Präludium der vereinzelten Panoramen, die viel früher als die anderen Schausteller ankamen und den Grundton des Jahrmarkts angaben, wie jene einzelnen, langgezogenen Töne, die zu Beginn eines Konzertstückes das Motiv der gesamten Komposition ankündigen, bis zum grandiosen Finale, wenn er vor Schreien platzte, vor Knallerei und Fanfarenmusik am letzten Tag, dem Höhepunkt, auf den das immense Schweigen des dann leeren Feldes folgte.141

Der Satz beschwört die Stimmung, die der Jahrmarkt in der Kindheit verbreitet hat, herauf. Sein Schauspiel wird in weitschweifigen Adjektival- und Adverbialsätzen mit einer Symphonie verglichen, die zwischen harmonischen und dissonanten Effekten oszilliert. Die Nebensätze bestimmen die Art, wie sich der Jahrmarkt „aufbläht“. Sie spüren seinem atmosphärischen Erscheinen nach. Vor allem aber realisieren sie es als „literarische Partitur“142. Häufungen von tonischen, plosiven (p, b) und frikativen (f, s, ş) Lauten wechseln sich ab und machen etwas vom Hörspektakel des Jahrmarkts, seinem Gekreisch und Gerassel im wahrsten Sinne des Wortes spür- und hörbar. Auffällig ist dagegen zu Beginn und am Ende des Satzes, dort wo bezeichnenderweise Beginn und Ende des Jahrmarktes evoziert werden, die dichte Wiederkehr verschlossener Laute (am, um, im, ăm, âm). Ihr An- und Abschwellen steigert den Eindruck von ungeduldiger Erwartung und nostalgischer Verlassenheit. Was die Analyse zu Tage fördert, vollzieht sich im Lesen implizit. Indem der Leser

|| 139 Ebd., 134. Meine Hervorhebung. 140 Blecher, 2003, 55; Blecher, 1999, 68. 141 Blecher, 2003, 55; Blecher, 1999, 68. 142 Seel, 2003, 122.

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der Suggestivität der Sprache folgt und ihre sinnlichen Besonderheiten artikuliert – und das kann durchaus auch im Stillen geschehen –, erschließt sich ihm der Vergleich in einer Fülle von Bedeutungen. Der Satz demonstriert klanglich und rhythmisch, was er aussagt. Man kann also von einem Erscheinen der Prosa Blechers im Sinne ihrer besonders ausgeprägten Poetizität sprechen. Die Passage ist reich an poetischen Strategien, die die Sprache auffällig und ihre Semantik komplex machen. Das Vokabular spreizt sich effektvoll zwischen geschmeidigen Fremdwörtern, die vornehmlich aus der Sprache der Musik stammen, und malerischen bzw. kolloquialen und regionalen Ausdrücken (bâlci, bucată de concert, temei). Das Sprachempfinden wird auf diese Weise einer Spannung ausgesetzt und das Stilgefühl irritiert. Der Satz realisiert lexematisch ein Aufeinandertreffen von Exotismus und Familiarität, das für den Wanderjahrmarkt charakteristisch ist. Auch darin wirkt der Text unterschwellig. Der Leser muss sich nicht erst die Herkunft der Worte bewusst machen, um die Irritation zu vernehmen, die von ihrer ungewöhnlichen Nachbarschaft ausgeht.

5.9 Jahrmarktsartistik Für Blechers Prosa des Empfindens dürfte unter anderem das moderne Genre der poetischen Prosa Modell gestanden haben. Baudelaire hat in der 1869 posthum erschienenen Sammlung von Prosagedichten Le Spleen de Paris das Ideal einer musikalischen Prosa entworfen, die das Leben in den modernen Städten angemessen zum Ausdruck brächte. In dem Brief an Arsène Houssaye, welcher der posthumen Sammlung als Vorwort vorangestellt ist, schreibt er: Quel est celui de nous qui n’a pas, dans ses jours d’ambition, rêvé le miracle d’une prose poétique, musicale sans rhythme143 et sans rime, assez souple et assez heurtée pour s’adapter aux mouvements lyriques de l’âme, aux ondulations de la rêverie, aux soubresauts de la conscience?144

Der Dichter der Fleurs du mal suchte eine qualitativ mannigfaltige Prosasprache, die sich sowohl den lyrischen Schwingungen der Seele als auch den Schocks des Bewusstseins (oder des Gewissens) anverwandeln würde, die geschmeidig, hart und jäh zugleich sein könnte. In der Sammlung der Petits poème en prose hat Baudelaire sein Programm auf vielfältige Weise umgesetzt. Bislang wurde die Poetizität der Sprache Blechers vornehmlich im Vergleich zur modernen Lyrik beleuchtet. Ion || 143 Rhythme meint hier das strenge metrische Gefüge, das in der französischen Lyrik die Silbenanzahl im Vers bestimmt, nicht den Vollzugsrhythmus, der jedem Sprechen innewohnt. Für eine Differenzierung von taktierendem und Vollzugsrhythmus siehe Hans Jost Frey, Vier Veränderungen über Rhythmus, Basel (u. a.) 2000. 144 Charles Baudelaire, Petits Poëmes en Prose, Paris 1969, 8.

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Negoiţescu hat beispielsweise Bezugnahmen der Blecherschen Atmosphäre auf das lyrische Werk des rumänischen Symbolisten George Bacovia und des jüdischrumänischen Dichters B. Fundoianu (später Benjamin Fondane) aufgespürt.145 In ihrem klanglichen und vor allem rhythmischen Erscheinen steht sie Baudelaires poetischer Prosa der Wahrnehmungsschocks nahe.146 In Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit nimmt Blecher einige der poetologischen Bilder der Modernität auf, die Baudelaire in Prosagedichten wie Der alte Gaukler (Le Vieux Saltimbanque), Die Menge (Les Foules) oder Anywhere out of the World (Anywhere out of the World. N’importe où hors du monde) geprägt hat. Darunter ist der Topos des Jahrmarktes besonders interessant, weil es durch seine Modifikationen die poetologische Besonderheit Blechers als modernen Prosaautor augenfällig macht. Statt des alten Gauklers, der bei Baudelaire allegorisch für den verarmten und verkannten Dichter steht, erscheint bei Blecher der dilettierende Artist: „bleiche und hagere Alte“, die „vor dem Publikum Steine und Seife schluck[ ]en“, „junge Mädchen“, die „die Umrisse ihres Körpers zeig[ ]en“147, Amateure, die sich zur Eskalade einer wackeligen Pyramide aus Stühlen berufen fühlen und welchen, oben angekommen, der Mut versagt148. Während der alte Gaukler aus seiner Misere das Jahrkmarktstreiben vom Rande unbeteiligt und resigniert beobachtet, stellen Blechers dilettierenden Artisten die Jahrmarktsattraktion schlechthin dar. Sie vollführen Körperkunststücke, die mehr auf das Abwegige und den Überraschungseffekt setzen, als dass sie durch Kunstfertigkeit beeindruckten. Dies ist eine improvisierte, amateurhafte Kunst, die ästhetisches Kapital aus der Inszenierung und Überwindung von Körpergrenzen und leiblichen Mängeln schlägt wie die Nummer des Artisten mit artifiziellem Kehlkopf, der auf unnachahmliche Weise Zigarettenrauch durch den Hals ausatmet.149 Diese Reihe an Artisten wider Berufung bzw. wider das Körperschicksal kann um die Figur des Schreibathleten Blecher ergänzt werden, so wie ihn Saşa Pană und seine Schwester Dora Wechsler-

|| 145 Ion Negoiţescu, „M. Blecher sau ,bizara aventură de a fi omʻ“, in: Ion Negoiţescu, Engrame, Bukarest 1975, 138‒139. 146 Walter Benjamin hat in seinem 1940 erschienenen Essay „Über einige Motive bei Baudelaire“ die Ästhetik Baudelaires mit dem Begriff der „Chockabwehr“ näher erfasst. Baudelaire habe die Chockerfahrung der modernen Großstadt in seine artistische Produktionsarbeit verlegt und die unterschwellige Überreizung der Sinne durch das Straßengeschehen im „phantastischem Gefecht“ des dichterischen Schaffens mit Worten pariert. Nicht nur die Versgedichte, auch die Prosa aus „Le Spleen de Paris“ wäre durch eine untergründige Prosodie der Erschütterung gekennzeichnet, die ihren Ursprung im Erlebnis der städtischen Massen, der foules, hätten. Siehe Walter Benjamin, „Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus“ in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften. Bd. 1,2. Frankfurt am Main 1974, 509‒690, darunter insbesondere Teil 2 „Über einige Motive bei Baudelaire“, 605‒653. 147 Blecher, 2003, 58; „În asemenea barăci pentru a-și câștiga pâinea, bătrâni palizi și uscățivi înghițeau în fața publicului pietre și săpun, fete tinere își contorsionau trupul[.]” Blecher, 1999, 69. 148 Blecher, 2003, 120; Blecher, 1999, 103. 149 Blecher, 2003, 57; Blecher, 1999, 69.

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Blecher darstellen: „Rücklings, mit den Knien zu einem umgedrehten W versteinert“150, darauf ein leichtes Holzkästchen als eine Art Sekretär aufgestützt, so erscheint der bettlägerige Autor als höchst merkwürdiger Schreib- und Leseakrobat in einem rumänischen Provinzstädtchen. Auch in der rhetorischen Inszenierung der Jahrmarktsfiguren geht Blecher anders vor als Baudelaire. Der französische Dichter allegorisiert. Der alte Gaukler steigt zum Sinnbild des Künstlers auf. Bei Blecher dagegen steht die dilettantische Akrobatik in struktureller Analogie zur Fragilität von imaginativen Empfindungserscheinungen, die unsichtbare Abstürze im Körper zur Folge haben können. In jener Episode, wo der Protagonist die Schleife als Dahlien wahrnimmt, wird das vexierhafte Oszillieren zwischen den Erscheinungen mit dem „Umschlagen des Gleichgewichts bei dem Amateurakrobaten auf der Spitze der Pyramide, zwischen Akrobatik und Dilettantismus“151 verglichen. Die Figur des amateurhaften Akrobaten bezieht sich also hier auf eine unsichtbare Intensität der Sensationen, die sich im Unbewegten abspielt: „Einige Augenblicke war ich derart verblüfft darüber, dass es mir unmöglich war, auch nur die geringste Bewegung zu machen. Wie die große Geschwindigkeit der Schwungräder von Motoren diese stillstehend erscheinen lässt, verlieh mein zutiefst verzweifeltes Zögern mir die Starrheit einer Statue.“152. Die Analogie zwischen Empfindungsintensität und Artistik bei Blecher erinnert an die „lachhafte[ ] Athletik“153 in der Malerei Francis Bacons, die Gilles Deleuze als Bruch mit der Repräsentation ausgelegt hat: „Der wahre Akrobat“, heißt es bei Deleuze, „ist ein Akrobat der Unbewegtheit [...] Und in der Tat gilt Bacons Interesse nicht genau der Bewegung... Äußerstenfalls aber ist sie eine Bewegung auf der Stelle, ein Spasmus, der ein ganz anderes Problem... ausweist: die Wirkung unsichtbarer Kräfte auf den Körper“154 – wie sie auch beim Lesen wirksam sind. Bacons Athletik ist nach Meinung Deleuzes der „Figuration entrissen“155. Sie ist dem Körper als geschlossener Gestalt und der künstlerischen Form gegenläufig und „wirkt unmittelbar auf das Nervensystem, das Fleisch ist“156. Auf den Akt der Lektüre bezogen verweist sie auf den performativen Lesevollzug, bei dem die „Energien des Werks || 150 „pe spate cu genunchii împietriţi în W întors“ Saşa Pană, „Cu inima lângă M. Blecher“ in: Blecher, 1971, 7 sowie und das Interview Radu Ţeposus mit der älteren Schwester Blechers, Dora Wechsler-Blecher „M. Blecher era un om delicat şi superstiţios“ in: Cuvântul, Nr. 5, 1997, 8‒9. 151 Blecher, 2003, 124; „ca oscilația curajului amatorului echilibrist, în vârful piramidei, între acrobație și diletantism“, Blecher, 1999, 105. 152 Blecher, 2003, 124; „Câteva clipe fui atât de stupefiat de problema aceasta încât îmi fu imposibil să execut cea mai mică mișcare. Ca vitezele foarte mari ale volantelor de motoare care le fac să pară imobile, ezitarea mea profund disperată îmi dădea o rigiditate de statuie.“ Blecher, 1999, 105. 153 Deleuze, 1995, 16. 154 Ebd., 31. 155 Ebd., 45. 156 Ebd., 27.

Jahrmarktsartistik | 143

über das Spiel seiner Partien und Gestalten hinaus“ ausufert.157 In diesem Sinne kann man die Figur des Artisten bei Blecher auf eine Poetik des Empfindens hin interpretieren, die Intensitätsmomente an der Wahrnehmungsschwelle darstellen will, indem sie sich selbst zum Medium der Verblüffung und Erschütterung macht. Das Sprechen Blechers von Briefzeilen als Bluttransfusion oder als „Kommunikation von Seelenblut“158 (comunicaţii de sânge sufletesc), von Postkarten als „protoplasmatischen Fäden“159 (fire protoplasmatice) und vom literarischen Text als „giftiges Fluidum“160 (fluid veninos) wären unter dem Gesichtspunkt der Performanz ästhetischer Sprache verständlich, die den Leser affiziert und im Extremfall seine physische Verfassung dramatisch aufmischen kann. Das Spezifische an Blechers Unmittelbarkeitsemphase ist, dass sie im Rückgriff auf zeitgenössische, medizinische und biologische Diskurse als Infusion von lebensspendenden oder toxischen Substanzen imaginiert wird. Die Bilder legen nahe, dass die Struktur der Sinne und die Körpergrenzen im Leseprozess unterlaufen werden, während sich die Aisthesis oder das Erscheinen der Prosa subkutan und organisch vollzieht. Dass Blecher mit seiner Literatur solche unmittelbare Effekte erzielen wollte, wird in seinem poetologischen Brief an Saşa Pană deutlich.161 Das Ideal des Schreibens definiert er dort in wirkungsästhetischer Hinsicht als „Übertragung ins Literarische der hohen Spannung, die von der Malerei Salvador Dalis ausgeht“.162 Blecher sagt sich los von dem „reinen Orthodoxismus“ (ortodoxismul curat) der surrealistischen Manifest-Literatur, nicht um einen „bedächtigen“ oder „milden Surrealismus“ (suprarealism domol) in Anspruch zu nehmen, wie behauptet worden ist163. Vielmehr fordert er einen Surrealismus der starken, ja penetranten Sinnessensationen164: „Der Surrealismus“, sagt er, „muss wehtun wie eine tiefe Wunde.“165

|| 157 Seel, 2003, 245. Seel wendet sich dagegen, die „Kräfte“, „Energien“, „Sensationen“ oder das „Rauschen“ des Kunstwerks, die im Rezeptionsvollzug virulent werden, gegen die Formen der Repräsentation auszuspielen. „Vielmehr intensiviert das Werk in den Phasen seines Rauschens die Interaktion der Formen; es steigert die Sensation dieser Formen.“ Ebd. 158 Brief M. Blechers an Geo Bogza vom 12. Januar 1937 in: Lascu, 2000,131. Meine Übersetzung 159 Brief M. Blechers an Geo und Elly Bogza vom 14. Oktober 1934 in: Lascu, 2000, 30. Meine Übersetzung. 160 Blecher, 2006, 129; Blecher, 1999, 184. 161 Brief M. Blechers an Saşa Pană vom 7. Juli 1934 in: Blecher, 1999, 396. 162 „transpunerea în literatură a înaltei tensiuni care se degajează din pictura lui Salvador Dali“ Ebd. Meine Übersetzung. 163 Den Ausdruck hat der Kritiker Mircea Iorgulescu in einer Rezension zu „Beleuchtete Höhle“ geprägt. Siehe Țeposu, 1996, 51. 164 Doris Mironescu hat angemerkt, dass die Briefe Blechers an Saşa Pană, einem der wichtigsten Akteure des Bukarester Avantgarde, sich der elaborierten und figurenreichen Sprache Panăs anverwandeln. Blecher stand zu dem Zeitpunkt zu Beginn seiner Karriere als publizierter Autor und wollte sich dem erfahreneren Autor „möglichst vorteilhaft empfehlen“. Doch weiß Blecher zugleich seinen individuellen Standpunkt in ästhetischen Belangen genau zu bestimmen. Das „,hohe‘ Regis-

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|| ter seiner Aussagen“ schmälert keineswegs ihre poetologische Bedeutsamkeit. Siehe Mironescu, 2011, 112. 165 „Suprarealismus trebuie să doară ca o rană profundă.“ Brief M. Blechers an Saşa Pană vom 7. Juli 1934 in: Blecher, 1999, 397.

6 Empfindungs- und Gefühllosigkeit in Vernarbte Herzen und Beleuchtete Höhle 6.1 M. Blechers literarische Pathographie Darum ist der Schriftsteller auch kein Kranker, sondern Arzt, Arzt seiner selbst und der Welt. Gilles Deleuze1

M. Blecher ist in die rumänische Literaturwissenschaft als Autor des Körperleids eingegangen. Doris Mironescu hat in seiner jüngst erschienenen Monographie darauf hingewiesen, dass die Sanatorienstadt Berck zur Grundlage des „literarischen Mythos“2 (mitul literar) Blechers geworden ist. Der Name M. Blecher steht nicht – jedenfalls nicht vordergründig – für das radikalpoetische Ausschöpfen von Wahrnehmungskrisen und epistemologischer Skepsis, nicht für eine Empfindungsprosa von nahezu erotischer Intensität, nicht für den visionären Entwurf möglicher Welten, sondern in erster Linie für eine außergewöhnliche Autopathographie. Die Darstellung der Krankheit und der Sanatorien in Vernarbte Herzen und Beleuchtete Höhle hat die ästhetisch-experimentellen und visionären Dimensionen der Prosa Blechers in den Schatten gestellt. M. Blecher ist zunächst „,der große Kranke‘, ‚ein Märtyrer‘ (Geo Bogza), ‚ein Philoktetes der Literatur‘ (Nicolae Balotă), vielleicht der einzige, auf jeden Fall der wichtigste rumänische Schriftsteller, der aus dem physischen Leiden ‚große‘ Literatur gemacht hat.“3 Dieses Autorenbild zeichnet sich bereits in der zeitgenössischen Publizistik ab4, die zum Teil unter dem Eindruck der persönlichen Bekanntschaft mit dem Autor aus Roman entsteht, um dann von Literaturkritik und -wissenschaft weiter verbreitet zu werden. Im 1941 erschienenen, kanonischen Werk Istoria literaturii române de la origini până în prezent (Geschichte der rumänischen Literatur von den Ursprüngen bis zur Gegenwart) von George Călinescu beispielsweise findet die Prosa Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit keine Erwähnung. Vernarbte Herzen wird als „überlegene Reportage“5 (reportaj superior) über die Krankheitserfahrung ästhetisch reduziert

|| 1 Gilles Deleuze, Die Literatur und das Leben in: Gilles Deleuze, Kritik und Klinik, Frankfurt am Main 2000, 14. 2 Mironescu, 2011, 82. 3 „Scriitorul româno-evreu va deveni ‚marele bolnav‘, ‚un martir‘ (Geo Bogza), ‚un Filoctet als literaturii‘ (Nicolae Balotă), poate singurul, în orice caz cel mai important scriitor al nostru care a făcut literatură ‚mare‘ din suferința fizică.“ Ebd. Meine Übersetzung. 4 Siehe z. B. Geo Bogza, „După moartea lui M. Blecher“ (Nach dem Tode M. Blechers, 1938) oder Saşa Pană, „Cu inima lângă M. Blecher“ (Im Herzen bei M. Blecher, 1947) in: Lascu, 2000, 320‒321 bzw. 344‒349. 5 George Călinescu, Istoria literaturii române de la origini până în prezent (1941), 2. durchgesehene und ergänzte Auflage, Bukarest 1982, 966.

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wahrgenommen. Die erste Blecher-Monographie von Radu G. Țeposu, die nach der Erstveröffentlichung von Beleuchtete Höhle in den siebziger Jahren verfasst wird und 1996 erscheint, trägt den Titel Suferinţele tânărului Blecher6 (Die Leiden des jungen Blecher). Die Figur des leidgeprüften Autors aus Roman, der keine 29 Jahre alt stirbt, rückt hier in die Sphäre des Literarischen auf. Rezeptionsästhetisch geht der „Mythos“ M. Blechers als „großer Leidender“7 (mare suferind) mit autobiographischen und realistischen Lesarten seiner ‚Krankheitsbücher‘ einher. Insbesondere Vernarbte Herzen wird als persönliches Bekenntnis und dokumentarische Form verstanden. Blechers Generationsgenosse Eugen Ionescu vertritt vehement diese Position. In seiner Kritik zu Vernarbte Herzen von 1937 moniert er, dass die fiktionale Welt der Elendsrealität der Krankheit untergeordnet bleibe. Dem Roman gelinge es nicht, die Notwendigkeit ästhetisch zu überwinden: „Das Buch ist offensichtlich ein persönliches Bekenntnis, dabei verfremdet die Erzählung in der dritten Person das Bekenntnis, sie macht es kälter, ohne es zu objektivieren, sie mindert seinen dokumentarischen Wert, ohne dass es dadurch etwas anderes als ein Dokument werden würde.“8 Und etwas später heißt es: „Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit ist ein Meisterwerk, weil die Realität des Schmerzes und des Elends ästhetisch transformiert wird. Vernarbte Herzen ist ein minderwertiges Buch, weil es keine Überraschungen übrig hat (man weiß auf Seite 1 was auf Seite 231 passieren wird) […], weil der Geist dem Elend und der Notwendigkeit unterliegt.“9 Diese etwas rabiate Art zu urteilen hat Gründe, die jenseits von Blechers Roman liegen. Es geht Ionescu darum, am Beispiel Blechers ein Exempel zu statuieren, Kritik und Publikum darüber aufzuklären, dass die Einlösung des Authentizitätspostulats, das damals ästhetisch hoch im Kurs stand, nicht zwangsläufig zu guter Literatur führt. Dass die ästhetische Transzendenz des Selbsterlebten vermeintlich misslingt, lastet Ionescu weniger dem Autor und seinem Können an. Vielmehr sei es der Erzählstoff, der sich der Fiktionalisierung verwehre: „Vernarbte Herzen enthält einen exzellenten Stoff. Wahrscheinlich war er zu gut, um noch literarisch übertroffen zu werden. […] [D]ie Realität ist hier so stark, so schmerzhaft und bedrückend, dass ihre Überwindung, ihre Unterordnung unter das Fantastische

|| 6 Radu G. Țeposu, Suferinţele tânărului Blecher, Bukarest 1996. 7 Saşa Pană, „Cu inima“ in: Lascu, 2000, 339. 8 „Când cartea este atât de mult mărturisire subiectivă, povestirea la persoana a treia înstrăinează mărturisirea, o face mai rece, fără să se obiectivizeze, îi scade valoarea de document, fără ca ea să devină, totuși, ceva dincolo de document.“ Eugen Ionescu, „M. Blecher: Inimi“ (1937) in: Ionescu, 1992, 304. Meine Übersetzung. 9 „Întâmplări în irealitatea imediată este o capodoperă pentru că realitatea durerii și a mizeriei este transfigurată. Inimi cicatrizate est o carte inferioară pentru că nu-ți rezervă nici o surpriză (de la pagina 1, știi ce va fi la pagina 231) […], pentru că spiritul sucombă sub mizerie, sub necesitate.“ Ebd. Meine Übersetzung.

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nicht mehr möglich ist“10 Mit anderen Worten rühren die Schrecken der Krankheit zwar nicht an die Grenzen der Darstellbarkeit, aber an jene der Fiktion.11 Unter diesen Voraussetzungen wäre die einzig angemessene ästhetische Wahl aus Sicht Ionescus das autobiographische Bekenntnis in der ersten Person gewesen. Diese Lesart von Vernarbte Herzen als autopathographisches Dokument ist früh angefochten worden. Mihail Sebastian warnt in seiner Rezension zum Roman vor ihr und stellt sogar die Priorität der Krankheit als Erzählgegenstand in Frage: „Lassen Sie sich nicht davon in die Irre führen, dass die Handlung im Milieu eines Sanatoriums, unter Kranken spielt. Ich wage zu behaupten, dass dies zweitrangig ist. Weder wollte M. Blecher einen Roman über physische Gräuel schreiben, noch hat er ihn geschrieben. […] Das Drama spielt sich auf einer Ebene ab, die dem Mitgefühl weniger zugänglich ist. Es ist ein Drama der Bedeutungen, nicht der Tatsachen.“12 Die Welt der Kranken gebe also den Schauplatz ab, an dem sich eine tiefgründigere Sinnkrise abspiele. Was der in Gips eingemauerte Kranke auf extreme Weise erfahre und zugleich augenfällig verkörpere, ist nach Sebastian ein existentielles Faktum, nämlich das „Bewusstsein der wesentlichen Einsamkeit“13 (conştiinţa irevocabilei singurătăţi): „Man spürt, dass Blechers Held wie jede seiner Figuren, allein im Angesicht des Lebens stehen und das Vergehen der Zeit am eigenen Puls messen.“14 Diese Deutung von existenzphilosophischer Tragweite15 lehnt jede strikt pathographische Rezeption von Vernarbte Herzen als Simplifizierung ab: „Wer glaubt, dass Vernarbte Herzen ein Roman über ein Sanatorium ist, der hat aus diesem bemer-

|| 10 „Inimi cicatrizate conține un material excelent. Era prea bun, probabil, pentru ca literatura să-l mai poată depăși.“ Ebd., 303. Meine Übersetzung. 11 Ähnliche Argumente kennt man aus den literaturwissenschaftlichen Debatten zur Holocaustliteratur. Vergleiche beispielsweise Stephan Braese/Holger Gehle, „Literaturwissenschaft und Literaturgeschichte nach dem Holocaust“ in: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.), Text und Kritik. „Literatur und Holocaust“, Nr. 144, Oktober 1999, 79‒96. 12 „Nu vă lăsăți înșelați de faptul că acțiunea romanului se petrece într-un mediu de sanatoriu, printre bolnavi. Îndrăznesc să spun că acest lucru este secundar. M. Blecher nu a vrutt să scrie și nici nu a scris un roman de atrocități fizice. [...] Drama cății sale este în regiuni mai puțin accesibile compasiunii. E o dramă de semnificații, nu de fapte.“ Mihail Sebastian, „Inimi cicatrizate“ (1937) in: Lascu, 2000, 239‒240. Meine Übersetzung. 13 Ebd., 239. Meine Übersetzung. 14 „Simți că eroul lui Blecher, că fiecare din eroii săi, se află cu adevărat singur în fața vieții, pentru a măsura cu propriul său puls trecerea timpului.“ Ebd. Meine Übersetzung. 15 In den siebziger Jahren analysieren Forscher wie Ion Negoiţescu und Nicolae Balotă Blechers Werk systematisch vor einem existenzphilosophischen Hintergrund. In diesem Zusammenhang erscheint das Motiv der Krankheit als ein Symptom unter anderen einer grundlegenderen, „existentiellen Pathologie“ (patologie existenţială). Balotă, 1975, 166. Ion Negoiţescu legt die Unruhen und Erlebnisse der Figuren Blechers im Sinne Jaspersʼ als Grenzerfahrungen aus. Das Leiden an der Materialität – sei es der Dinge, sei es des leiblichen Selbst – ermögliche dabei einen unvermittelten Kontakt mit der Existenz. Negoiţescu, 1975, 119‒120.

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kenswerten Buch nichts verstanden.“16 Dass die poetologische Signifikanz der Krankheit so unterschiedlich aufgefasst wird, führt schließlich zu widerstreitenden kritischen Urteilen. Während Eugen Ionescu die „unpersönliche Atmosphäre“17 und den „kalten“ Erzählstil Blechers für literarisch unbeholfen hält, machen sie für Sebastian die Stärke des Buches aus. Ausgerechnet sie belegen die ästhetische Beherrschung des Krankheitsstoffes, der narrativ so konfiguriert wird, dass er seine mitleiderregende Wirkung verliert und den Leser mit einem „Drama der Bedeutungen“ konfrontiert. Neuere Lektüren von Vernarbte Herzen und Beleuchtete Höhle folgen der Einschätzung Sebastians. In seinem Bemühen mit dem Mythos Blecher aufzuräumen, betont Doris Mironescu, dass Blecher insbesondere in den letzten Lebensjahren eine regelrechte Aversion gegen die Leidensrolle entwickelt und die Krankheit als Quelle schöpferischer Tätigkeit und geistiger Einsicht negiert habe: „In der Repräsentation des Realen“, schreibt Mironescu, „ist das Leiden lediglich ein Mittel der Wertentleerung alltäglicher Gesten sowie affektiver und moralischer Gewohnheiten, während es in schöpferischer Hinsicht ein bemerkenswertes visionäres Dispositiv abgibt.“18 Mit anderen Worten gilt das ästhetische Interesse Blechers nicht der Krankheit und ihren körperlichen Symptomen an sich. Sie werden bloß als Mittel eingesetzt zur ästhetischen Dekonstruktion des Gewohnheitsdenkens, die neue Ansichten auf Phänomene und Ereignisse eröffnet. „Sie [die Krankheit] gilt als eine grundlegende Erfahrung der Absurdität des Lebens sowie des arbiträren und konventionellen Charakters der gewöhnlichsten Verhaltensweisen. Die Offenbarung der Krankheit ist, dass ‚die Welt‘ weitestgehend Ergebnis eines Sets von Konventionen ist, die solidarisch funktionieren und daher deren ‚konstruierten‘ Charakter verbergen […].“19 Dem kann man nur zustimmen. Was Mironescu anspricht, ist der epistemologische Stellenwert der Krankheit bei Blecher. Mit ihrem Eintritt in die Welt der Kranken durchleben die Figuren in den letzten beiden Werken Blechers im Wesentlichen die gleiche Sinnkrise wie die Ich-Figur in Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit.20 Sie erfahren zuallererst den || 16 „Cine crede că ‚Inimi cicatrizate‘ este romanul unui sanatoriu n-a înțeles nimic din această admirabilă carte.“ Mihail Sebastian, „Inimi cicatrizate“ in: Lascu, 2000, 240. Meine Übersetzung. 17 Ionescu, 1992, 303. 18 „Suferința ajunge a fi doar, pe planul reprezentării realului, un mijloc de devaluare a gesturilor cotidiene și obișnuințelor afective și morale omenești, iar pe plan artistic, un dispozitiv vizionar remarcabil.“ Mironescu, 2011, 82. Meine Übersetzung. 19 „Ea [boala] este considerată o fundamentală experiență a absurdului vieții curente, a arbitrarului și convenționalității actelor umane celor mai obișnuite. Revelația bolii e că ‚lumea‘ e în mare măsură rezultatul unui set de convenții umane care funcționează solidar, mascându-și astfel caracterul ‚construit‘.“ Ebd., 81. Meine Übersetzung. 20 Der französische Literaturwissenschaftler Jacques Bouët hat gezeigt, dass die Struktur der „unmittelbaren Unwirklichkeit“ auch in dem Roman Vernarbte Herzen hintergründig greift: „[L]a notion d’irréalité immédiate […] reste sous-jacente aux Coeures cicatrisés.“ Bouët, 1988, 21.

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Verlust des naiven Weltglaubens, der die Welt bedeutungsleer und zusammenhanglos zurücklässt. Dabei wird der Einsturz der Alltagswerte und Gewissheiten keineswegs beklagt. Vielmehr leisten Blechers Sanatoriennarrationen ebenso wie sein erstes Buch bewusst Dekonstruktionsarbeit an der Wirklichkeit und initiieren eine Sinnsuche, die nie zur Ruhe kommt. Sie führt in Beleuchtete Höhle, wie ich noch zeigen werde, zur visionären Sondierung und Konfiguration möglicher Welten. Die Erweckung durch die Krankheit birgt zugleich auch eine ästhetische Ermöglichungsstruktur in sich. Poetologisch hat sie vergleichbare Funktionen wie die Revolte innerhalb der Avantgarde-Ästhetik von Le Grand Jeu, einer dem Surrealismus nahestehenden, kurzlebigen Zeitschrift, die Blecher durch Pierre Minet gut kannte. Ebenso wie die Revolte reißt auch die Krankheit die Welt der Gewissheiten ein, so dass sich die „wahrnehmbare Welt“ unter Einwirkung der Imagination „zerformt und formt“.21 Diese biographisch-ästhetische Koinzidenz hat zur Beobachtung geführt, dass „die kruden Erfahrungen des [rumänischen] Prosaautors den Ausdrucksformen des radikalmodernen Imaginären auf sonderbare Weise entgegenkamen.“22 Die desintegrative Kraft der Krankheit kann aber literarisch, wie Blechers Briefe belegen, nur durch eine strenge, ethische und ästhetische Disziplin verwertet werden. Was bei Mironescu unausgesprochen bleibt, ist die Tatsache, dass mit der Krankheit, die Blechers Figuren Einsicht in den Konstruktionscharakter der Realität gewährt, die medizinisch-diskursive Kategorie und therapeutische Einrichtung gemeint ist. Blecher erzählt von den Erfahrungen im Sanatorium auf der Kontrastfolie der medizinischen Pathologie und Praxis, die er als surreal darstellt und als irrational entlarvt. Doch geht es Blecher nicht darum, mit seinen ‚Krankheitsbüchern‘, den Anspruch auf eine persönliche Pathographie geltend zu machen, etwa im Sinne der Souveränitätsbehauptung eines Individuums, das durch die Leidenserfahrung existentiell ausgesetzt ist und als Kranker gesellschaftlich gebrandmarkt. Dass er ein anderes Sprechen über das Leiden jenseits der medizinischen Pathologie schafft, gehört jedenfalls nicht zu seinen ästhetisch vordergründigen Zielen. Zuallererst sind Vernarbte Herzen und Beleuchtete Höhle Reflexionen über die Kontingenz, Zeitlichkeit und Endlichkeit der Existenz, die sich in eine unpersönliche Betrachtung der Krankheit einüben. Physisches Leiden und erschütternde Vorfälle werden bei Blecher mit einer Gefühlskälte dargestellt, die sich der Affektlosigkeit der ärztlichen Krankheitsbetrachtung anverwandelt. Damit steht Blecher in einer antimimetischen und antisentimentalen Romantradition der „Erzählerimmunität“,

|| 21 Roger Gilbert-Lecomte/Maurice Henry/René Daumal, „Le Grand Jeu“. Die Notwendigkeit der Revolte, Nürnberg 1980, 41. 22 „[M]aterialul experienței brutale a prozatorului vine cumva în întâmpinarea a ceea ce imaginarul modernității moderne extreme propusese ca tipare expresive.“ Ion Pop, „Prefaţă. Scrisul ca restructurare a vieţii“ in: Lascu, 2000, 12.

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die Martin von Koppenfels in seiner Studie zum modernen Roman rekonstruiert hat.23 Im Zusammenhang der Fragestellung dieser Arbeit, einer Poetik des Empfindens, legen Vernarbte Herzen und Beleuchtete Höhle zum einen den antisentimentalen Gestus der narrativen Empfindungskomplexe bei Blecher offen. Empfinden heißt nicht empfindsam sein, vom Leben der Sinne zu erzählen heißt vielmehr, gegen kulturell geprägte und literarisch automatisierte Formen des Gefühls anzuschreiben. Es heißt, im Körper die Urmatrizes der Affektivität aufzuspüren, ihren vermeintlich authentischeren Grund, der an Sprachlosigkeit grenzt. Zum anderen zeigen sich an den extremen Empfindungen, die mit der Krankheit einhergehen, die Grenzen der Empfindungsintensität als leibliches Phänomen, das bei Blecher mit dem Versprechen auf Unmittelbarkeit verbunden ist. Selbstekel, brennender Juckreiz, Schmerz, wie sie Emanuel in Vernarbte Herzen oder die Ich-Figur in Beleuchtete Höhle erleben, sind Sinnessensationen, die das Wahrnehmungs- und Empfindungsvermögen überfordern und in ein Zuviel ausschlagen. Sie können vom Bewusstsein nur über anästhetische Strategien eingeholt werden, die sie modifizieren und verwandeln. Ist ein akuter Schmerz, dem der Betroffene seine ganze Aufmerksamkeit schenkt und den er als musikalische Komposition wahrnimmt, noch Schmerz?24 Schließlich lauert hinter der Überreizung der Sinne25 und der Verwundung des Körpers die Gefahr, das Empfindungsvermögen einzubüßen. Empfindungslosigkeit ist bei Blecher als medizinisches Motiv der Hypästhesie thematisch präsent. Weitaus bedeutsamer ist sie aber als zentrale Figur für die antipathetische Haltung der Figuren im Umgang mit der Krankheit, die wirkungsästhetisch auf den affektarmen, ‚luziden‘ Erzählstil M. Blechers verweist.

6.2 Der Konstruktionscharakter der Krankheit in Vernarbte Herzen Blechers Vernarbte Herzen beginnt damit, dass dem Protagonisten Emanuel eine Diagnose gestellt wird: „Pott’sche Krankheit… Knochentuberkulose an der Wirbel-

|| 23 Martin von Koppenfels, Immune Erzähler. Flaubert und die Affektpolitik des modernen Romans, München 2007. 24 Vgl. Blecher, 2008, 85. 25 In der aktuellen ästhetischen Theorie spielt die Überreizung und Abstumpfung der Sinne eine zentrale Rolle. Wolfgang Welsch hat das ästhetische Überangebot der Konsumkultur heute unter dem Gesichtspunkt der Anästhetik, des Wahrnehmungsverlustes perspektiviert und anästhetische Darstellungsverfahren in der Kunst aufgezeigt. Siehe Wolfgang Welsch, Ästhetisches Denken, 2. Auflage, Stuttgart 1991 und Wolfgang Welsch, „Ästhetik und Anästhetik“ in: Wolfgang Welsch/Christine Pries, Ästhetik im Widerstreit. Interventionen zum Werk von Jean-François Lyotard, Weinheim 1991, 67‒90.

Der Konstruktionscharakter der Krankheit in Vernarbte Herzen | 151

säule“26. Die Stelle ist exemplarisch für die Darstellung der Krankheit im Roman. Signifikant ist bereits die Tatsache, dass die Narration mit der medizinischen Ermittlung beginnt, während das Leiden des Protagonisten weiter in die Vergangenheit zurückreicht. Erzählt wird die Diagnose in der dritten Person, in Licht- und Schatteneindrücken, Klängen, Geräuschen, taktilen und atmosphärischen Empfindungen aus der Perspektive Emanuels. Das äußere Geschehen im Kabinett des Arztes ist aufs Engste mit der Bewusstseinsverfassung der Figur verflochten. Emanuels Ankunft in der Praxis, die radiographische Ermittlung des Leidens, der medizinische Befund, die Mitteilung der Therapie schließlich teilen sich als Verunsicherung des Wirklichkeits- und leiblichen Selbstgefühls mit. Sie changiert zunächst zwischen willkommener Unwissenheit und düsterer Ahnung, zwischen Unbegreiflichkeit und Klarsicht, um schließlich mit der Diagnose einem extremen Gefühl der Fragilität von Selbst und Welt zu weichen. Eine Montage zeigt die narrative Engführung, wenn nicht grundlegende Synonymie von äußerer und innerer Wahrnehmung in der doppelten Semantik von Sehen und Einsicht bzw. in der negativen Konstellation von Nicht-Sehen-Können und Unbegreiflichkeit: Der Doktor öffnete und schloss eine Metallschachtel. Das Licht war erloschen. Ein Klingeln öffnete eine präzise Auslinkvorrichtung. Ein Handhebel fiel gleichmäßig und mit einem linearen Schnitt ins Dunkel. Der Strom begann [wie ein aufgestörtes Tier] taub zu vibrieren. […] Und das Licht ging wieder an. Emanuel erlebte plötzlich einen Augenblick hellster Klarsicht. Weshalb lag er dort auf dem Tisch? Weshalb? Er hatte die klare Gewissheit, schwer krank zu sein. […] Der Arzt kam mit dem noch nassen Film, damit er ihn sehen könne. Er schaltete eine stärkere Lampe ein und befestigte die Radiographie vor deren Licht. Emanuel betrachtete erstaunt und abwesend die schwarzen Schatten, die sein Skelett darstellten; die geheimste und intimste Struktur seines Körpers war dort in dunkler, todesdüsterer Transparenz eingeprägt.27

Von Anbeginn antizipiert das atmosphärische Spiel von Licht und Schatten die apparative Durchleuchtung des Körpers, die mit dem Bild vom organischen Inneren nicht schlichtweg eine verborgene Realität abbildet, sondern sie in gewisser Weise erst erschafft. Die medizinische Evidenz der Radiographie ist keine empirische Evidenz schlechthin. Emanuel, der die Platte mit den Augen eines Laien betrachtet,

|| 26 Blecher, 2006, 13; „Morbul lui Pott… tuberculoză osoasă la vertebre“, Blecher, 1999, 122. 27 Blecher, 2006, 9‒13, in Klammern meine Übersetzung; „Doctorul deschise și închise o cutie metalică. Becul se stinse. Un clinchet declanșă un declic precis. O manetă căzu, cu o tăietură liniară în întuneric. Curentul începu a vibra surd ca un animal iritat. [...] Se făcu iar lumină. Emanuel avu deodată un moment de extremă luciditate. Pentru ce era el acolo întins pe masă? Pentru ce? Avu certitudinea clară că este foarte bolnav. [...] Medicul veni cu clișeul, umed încă, să i-l arate. Aprinse un bec mai mare și puse radiografia în lumina lui. Emanuel privi uimit, absent, umbrele negre care îi reprezentau scheletul; cea mai secretă și intimă structură a corpului lui imprimată acolo în transparențe întunecate și funebre.“ Blecher, 1999, 120‒122.

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erschließt sich die „brutale Wahrheit“28 (adevărul brutal), die jene ausstellt, auf Anhieb nicht. Er weiß zwar, dass die Schatten sein Skelett repräsentieren, erkennt darin allerdings nicht die Zeichen der Krankheit, sondern nur ein dunkles Omen. Emanuels unwissendes Auge wird dem geschulten Blick des Arztes gegenübergestellt. Der französische Arzt, ein unermüdlicher Produzent von medizinischen Argumenten und Lexikonrhetorik, erklärt Emanuel, wie und was er zu sehen hat: „Sehen Sie … hier … Das ist ein gesunder Wirbel, erklärte der Doktor. Und hier etwas tiefer, dieser, an dem ein Stück Knochen fehlt… man kann ganz gut erkennen, dass er zerbröselt ist.“29 Der Blick des Arztes ist beredt. Er agiert innerhalb einer Konfiguration des Wissens und bringt ans Licht, was von außerhalb dieser gerade nicht klar ersichtlich ist. Das medizinisch signifikante Zeichen hat nämlich eine negative Struktur, es ist „eine Lücke“, eine Leerstelle, die mit einem „wissenschaftlichen Namen“ belegt ist und aus ihm Evidenz bezieht.30 Mit Emanuels misslungener Lektüre der eigenen Radiographie thematisiert Blecher literarisch zu Beginn seines Romans den Konstruktionscharakter der medizinischen Evidenz, indem er das Auge als kognitives Organ und im Verlauf der Handlung zunehmend auch als Erzählmedium der personalen Perspektive versagen lässt. Hier wird mit narrativen Mitteln aufgedeckt, was Michel Foucault diskursanalytisch und Ludwik Fleck wissenschaftstheoretisch reflektiert haben: dass eine spezifische „Profilierung des Wahrnehmbaren und des Aussagbaren“31 realitätsbildend ist. Emanuels Situation vor der eigenen Radiographie verhält sich in gewisser Hinsicht analog zum Dilemma des Naturwissenschaftlers bei Ludwik Fleck im Umgang mit neuen technischen Apparaturen: Wer „zum ersten Male vor dem Mikroskop [steht], ‚weiß nicht, was er sehen soll‘. […] [E]r muss erst sehen lernen.“32, heißt es bei Fleck in einem Aufsatz von 1929. Der polnische Mikrobiologe und Mediziner leitet daraus den schöpferischen Charakter der Naturwissenschaften ab, deren Fortschritt er als Herausbildung von „Stilen“ des Sehens und Denkens versteht. Wirklichkeit und Evidenz haben bei Fleck dementsprechend eine relative Gültigkeit innerhalb von sozialen und Fachdiskursen, für die jeweils andere Voraussetzungen des Signifizierens in Form spezifischer Dispositionen der Wahrnehmung und Denkgewohnheiten gelten. Es ist diese Profilierung der sinnlichen Wahrnehmung, die auch im wissenschaftlichen Umgang mit technischen Mitteln und Repräsentationen greift: „Einen Apparat zu verwenden, ist immer Ausdruck eines gewissen, bereits entwickelten Stils des Denkens.“33, schreibt Fleck. In diesem Sinne beherrscht der französische || 28 Blecher, 2006, 8; Blecher, 1999, 119. 29 Blecher, 2006, 13; „Iată… aici… E o vertebră roasă, explică doctorul. Și aici, mai jos, aceea din care lipsește o bucată de os… se vede bine că e roasă.“ Blecher, 1999, 122. 30 Blecher, 2006, 13; Blecher, 1999, 122. 31 Michel Foucault, Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, München 1973, 16. 32 Fleck, „Zur Krise der ‚Wirklichkeit‘“ in: Fleck, 1983, 47. 33 Fleck, „Schauen, sehen, wissen“, ebd., 164.

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Arzt in Vernarbte Herzen einen medizinischen ‚Stil‘, der ihn befähigt, auf der Radiographie die diagnostisch bedeutsamen Gestalten von den nicht bedeutsamen zu unterscheiden, während Emanuel über die „schwarze[n] Schatten“ nur staunen kann. Kritischer noch als Fleck hat Michel Foucault in Die Geburt der Klinik den Konstruktionscharakter medizinischer Evidenz dargelegt. Foucault zeigt, dass das symptomatische Zeichen in der klinischen Medizin, nicht mehr „die Natursprache der Krankheit“34 spricht: „es existiert nur innerhalb der von der ärztlichen Untersuchung gestellten Frage, ja es wird von dieser Untersuchung erst hervorgerufen und beinahe erzeugt.“35 Bezeichnenderweise wird in der klinischen Medizin laut Foucault das Auge „zum Hüter und zur Quelle der Wirklichkeit“: „Der Aufenthalt der Wahrheit im dunklen Kern der Dinge“, heißt es, „ist […] an diese souveräne Macht des empirischen Blicks gebunden, der ihre Nacht an den Tag bringt.“36. Der ärztliche Blick ist kein Schauen, sondern ein „mit einer ganzen Logik“ und, wie man mit Blecher hinzufügen kann, einem technischen Dispositiv „ausgerüstet[es]“37 Sehen, das die Krankheit als „sichtbar-unsichtbare Figur“38 erzeugt. Es ist von Grund auf an eine beschreibende Sprache gebunden, die die Krankheit konfiguriert und ihr Evidenz verleiht – eine Evidenz allerdings, die sich dem Patienten nicht zwangsläufig erschließt: „Nun“, heißt es bei Blecher, „da jene Lücke im Wirbel auch einen wissenschaftlichen Namen hatte, schien alles ganz klar.“ Es scheint ganz klar zu sein, doch für Emanuel ist es alles andere als klar. Den Widersinn ärztlicher Äußerungen kommentiert Blecher zuweilen mit bitterer Ironie, wie in folgender Passage aus Beleuchtete Höhle: Es gibt in der geläufigen ärztlichen Logik solche Erklärungen, die man in eine besondere, eine eigene Kategorie einstufen müsste, weder in die der Sophismen noch in die der Paradoxien, sondern in die jener abseitigen Urteile ‚mit schmerzlichen Folgen‘. Ich denke, dies könnte eine nützliche Neuerung auf dem Gebiet der Logik und der Moral sein, wäre für die Kranken und deren Eltern jedoch ganz und gar unnütz.39

Provoziert wird der Kommentar durch die Erinnerung an eine Kranke, die infolge postoperativer Komplikationen stirbt, während die Ärzte, unbeirrt „in gelehrtem

|| 34 Foucault, 1973, 175. 35 Ebd. 36 Ebd., 11. 37 Ebd., 121. 38 Ebd., 104. 39 Blecher, 2008, 69‒70; „Există astfel de mici explicații în logica medicală curentă, care ar trebui clasate într-o categorie specială, ce n-ar fi nici aceea a sofismelor și nici aceea a paradoxelor, ci a unor raționamente particulare ‚cu urmări dureroase‘. Cred că ar fi o inovație poate utilă pentru logică și pentru morală și absolut inutilă pentru bolnavi și părinții lor.“ Blecher, 1999, 264.

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Tonfall erklär[ ]en“, dass die Operation „insgesamt gut verlaufen [ist]“40. Die Entlarvung medizinischer Argumente als absurd und in ihrer Eigenbezüglichkeit als verantwortungslos, geschieht vom Standpunkt derjenigen aus, die ihrer Macht auf Leben und Tod ausgesetzt sind: der Patienten und ihrer Angehörigen. Doch geht es Blecher nie darum anzuklagen, sondern aufzuzeigen. Emanuels Konfrontation mit der medizinischen Rationalität wird als eine Konfrontation mit Lebensrealitäten erzählt, die ebenso unumstößlich wie unfassbar sind. Mit dem Eintritt ins Sanatorium Berck entdeckt Emanuel, dass die Krankheit eine eigene „Lebenskategorie“41 (categorie de viaţă) darstellt, mit spezifischen Einrichtungen und Verhaltensweisen und mit einer Eigenlogik, die surreal ist. Eine Schlüsselszene stellt Emanuels erste Mahlzeit im Speisesaal des Sanatoriums dar, als er von der theatralen Anordnung der Tischgesellschaft in Bann geschlagen wird. Die Szene wird als Erkenntnis der Krankheit eingeführt: „Erst unten im Saal erwachte er zum vollen Verständnis der Krankheit.“42 Präsentiert wird sie als eine Art Erweckungserlebnis, die Verstand wie Vorstellungskraft übersteigt und epiphane Züge aufweist. Das Leben im Sanatorium unter Eingegipsten ist keineswegs das „völlig normale[ ] Leben“43 (viaţă absolut normală), als welches es von der ärztlichen Instanz belobigt wird. Vielmehr stellt sie eine Mischung aus Vertrautem und Fremden dar, die die Dichotomie normal/abnorm einstürzen lässt: Wer hatte sich bloß für diesen Raum ein solch würdiges und spitalhaftes Arrangement einfallen lassen? Wer war der Regisseur dieses korrekten und betörenden Schauspiels? An den Wänden aufgereiht, je zwei an einem Tisch, lagen die Kranken auf ihren Schienbetten. Man hätte es für ein antikes Gelage halten können, hätten die müden und blassen Gesichter der meisten Kranken nicht deutlich zu erkennen gegeben, dass es sich um etwas anderes handelte als ein geselliges Beisammensein bei einem heiteren Gastmahl. Welcher finstere Gott [ce minte sumbră] hatte aus realen Beigaben ein derart schmerzhaftes Bild zusammengefügt, phantastisch und irre zugleich? Der Autor eines Unterhaltungsromans hatte sich eine perfide und launenhafte Königin ausgedacht, die ihre Liebhaber mumifizieren und in Särgen aufbewahren ließ, die in einem runden Saal aufgereiht waren.

|| 40 Blecher, 2008, 69; „nicidecum [nu muri] de pe urma operației în totul reușită, după cum spuneau doctorii cu un mic ton savant.“ Blecher, 1999, 264. 41 Blecher, 1999, 135. Meine Übersetzung. 42 Blecher, 2006, 40; „Abia jos în sală se trezi el în plină înțelegere a bolii.“ Blecher, 1999, 135. 43 Blecher, 2006, 17; Blecher, 1999, 124.

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Was aber bedeutet solch eine blasse Schriftstellervision angesichts der widerwärtigen Realität dieses Speisesaals mit den Menschen, die gleichzeitig Tote waren, erstarrt in steifen Positionen, hingestreckt und mumifiziert, während doch immer noch das Leben in ihnen pulsierte.44

Das „Schauspiel“ der Kranken im Gips wird von einer medizinisch-therapeutischen Logik durchwaltet, deren sichtbares Kennzeichen nicht die Rationalität ist, sondern das Grausame und Fantastische. Emanuels epistemologische Verunsicherung wird narrativ entfaltet, indem eine ganze Reihe ästhetischer Genres aufgerufen wird. Figurenpsychologisch fungieren sie als einzig vorstellbare, ganz und gar unwahrscheinliche Sinnhorizonte. Da gibt es zunächst das Theater („Regisseur“, „Schauspiel“), das „antike Gelage“ als feierlich-rituelle Form, deren Kenntnis im weitesten Sinne literarisch vermittelt sein muss, und die triviale Horrorliteratur („Unterhaltungsroman“, „Schriftstellervision“). Bezeichnenderweise werden diese Genres als Paradigmata oder ästhetische Referenzen für das Erlebnis im Speisesaal an ihre Grenzen geführt. Die Anordnung der Krankengesellschaft übertrifft von der individuellen Vorstellungskraft ersonnene Grausamkeiten. Es gibt stets Wahrnehmungsgestalten, die die ästhetische Rahmung stören oder inkonsistent erscheinen lassen: der Gesichtsausdruck der Kranken etwa verträgt sich nicht mit dem außergewöhnlichen und eher heiter anmutenden „Tableau“ ihrer ausgestreckten Leiber, die „Schriftstellervision“ verblasst angesichts der therapeutisch immobilisierten Kranken. Ferner werden auch Jahrmarktsattraktionen veranschaulichend angeführt: das Gesicht einer Patientin, die ihren Kopf nicht bewegen kann und über einen Spiegel kommuniziert, erscheint losgelöst vom Leib „wie bei einer jener billigen Jahrmarktsillusionen“45, der Gang eines Patienten erinnert an „die Vorführung einer Maskerade, eine Clownsnummer“46, Emanuel selbst vollführt beim Essen im Liegen ein „veritables Kunststück“47 (oder akrobatische Nummer). Über diese ästhetischen und artistischen Bezugnahmen zeichnet sich die Krankenwelt bei Blecher als eine ab, die bitter-komisch, grotesk und grausam, sensationell und schmerzhaft, fantastisch

|| 44 Blecher, 2006, 40‒41; „Dar cine imaginase în această încăpere aranjamentul acesta solemn și spitalicesc? Cine fusese regizorul acestui spectacol corect și halucinant? Înșirați de-a lungul pereților, doi câte doi la o masă, zăceau bolnavii întinși pe gutierele lor. S-ar fi putut crede un festin din antichitate unde musafirii stăteau culcați la masă, dacă fețele obosite și palide ale celor mai mulți dintre bolnavi n-ar fi arătat clar că e vorba de altceva decât convivii joviali ai unui vesel ospăț. Ce sumbră minte alcătuise cu elemente reale un tablou atât de dureros, de fantastic și demențial? Într-un roman de senzație un scriitor imaginase o regină perfidă și capricioasă ce-și mumifica amanții și îi păstra în sicrie într-o sală circulară. Ce era însă această palide viziune de scriitor pe lângă realitatea atroce din sala aceasta de mâncare cu oameni și totuși morți, încrustați în poziții rigide, întinși și mumificați în timp ce palpitau încă de viață.“ Blecher, 1999, 136. 45 Blecher, 2006, 42; „ca într-una din acele ieftine iluzii optice de bâlci“, Blecher, 1999, 136. 46 Blecher, 2006, 45; „o exhibiție de mascaradă, un număr de clovn“, Blecher, 1999, 138. 47 Blecher, 2006, 43; „un veritabil număr de acrobație“, Blecher, 1999, 137.

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und schrecklich zugleich ist. Vor allem aber ist Blechers Ästhetik der Krankenwelt eine Mischung aus Surrealem und Unheimlichem im Sinne der Psychoanalyse. Vom erlebten Unheimlichen sagt Freud, dass es insbesondere dann auftritt „wenn die Grenze zwischen Phantasie und Wirklichkeit verwischt wird, wenn etwas real vor uns hintritt, was wir bisher für phantastisch gehalten haben, wenn ein Symbol die volle Leistung und Bedeutung des Symbolisierten übernimmt […]“.48 Es verunsichert die epistemischen Grenzen durch hermeneutische Widerständigkeit. Seine Bedeutungsdimension deckt sich mit seinem Erscheinen. In diesem Sinne fühlt sich Emanuel außerstande den Anblick des Krankensaals einzuordnen oder seine Signifikanz zu begreifen: „Was ging hier vor? War tatsächlich er es, Emanuel, jener Körper auf dem Wagen inmitten des Saales, an dem alle Tischgenossen an blumengeschmückten Tischen lagen? Was hatte all dies zu bedeuten? Lebte er? Träumte er? In welcher Welt, in welcher Realität trugen all diese Dinge sich zu?“49 Der Anblick versperrt sich der Als-Struktur der Wahrnehmung und hält das Urteilsvermögen in einer unentscheidbaren Oszillation zwischen Deutungen, die sich gegenseitig ausschließen. Der Schrecken rührt zum einen daher, dass die Grenze zwischen Totem und Lebendigem verunsichert wird. Psychoanalytisch gilt sie als Quelle des Unheimlichen schlechthin. So sind die Menschen „gleichzeitig Tote […], erstarrt in steifen Positionen, hingestreckt und mumifiziert, während doch immer noch das Leben in ihnen pulsierte“50 oder „Das Paradoxe bestand darin, dass man existierte und trotzdem nicht ‚vollkommen lebendig‘ war.“51 Zum anderen rührt es vom Erscheinen eines „Altbekannte[n], Längstvertraute[n]“52 her. Was Emanuel besonders beunruhigt und vexiert ist die Mischung aus der Alltäglichkeit des Dekors einerseits und der auf ein Minimum reduzierten Bewegungsfähigkeit der Patienten andererseits. Die medizinische Therapie reduziert den Leib auf ein bloßes Körperding und lässt das leibliche Vermögen als Grund von Subjektivität auffällig werden. So erkennt sich Emanuel inmitten der Kranken selbst nicht mehr, er nimmt sich nur noch als Körper fremd wahr: „War tatsächlich er es, Emanuel, jener Körper auf dem Wagen […]?“. Aufschlussreich diesbezüglich ist auch die Szene, in der ein eingegipster Kranker sein Besteck versehentlich fallen lässt. Sein gesamtes Reaktions-

|| 48 Sigmund Freud, „Das Unheimliche“ (1919) in: Sigmund Freud, Studienausgabe. Psychologische Schriften, Bd. 4, 8. Auflage, Frankfurt am Main 1994, 267. 49 Blecher, 2006, 41; „Ce se întâmpla? Era chiar el, Emanuel, corpul acela pe un căruţ, în mijlocul unei săli unde toţi comesenii stăteau culcaţi la mese împodobite cu bucheţele de flori? Ce însemnau toate acestea? Trăia? Visa? În ce anume lume, în ce anume realitate se petreceau toate acestea?“ Blecher, 1999, 136. 50 Blecher, 2006, 41; „cu oameni şi totuşi morţi, încrustaţi în poziţii rigide, întinşi şi mumificaţi în timp ce palpitau încă de viaţă“, Blecher, 1999, 136. 51 Blecher, 2006, 47; „Paradoxul consta în a exista şi totuşi în a nu fi cu desăvârşire viu.“ Blecher, 1999, 139. 52 Freud, 1994, 244.

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vermögen beschränkt sich darauf, das zu Boden Gefallene solange anzustarren, bis ihm eine Krankenschwester neues Besteck bringt. Was bei Blecher aus der Vergessenheit heraufgeholt wird, ist ein kulturell und philosophisch Verdrängtes. Phänomenologisch gesprochen ist es die Leiblichkeit des Subjekts.53 In der ästhetischen Einfassung der Unbegreiflichkeit, die Emanuel im Speisesaal des Sanatoriums erlebt, wird auch die Surrealität als Referenz aufgerufen, indem der Anblick des Speisesaals als Kopräsenz von Traum und Wirklichkeit dargelegt wird: „Im Speisesaal waren die Traumelemente und die Wirklichkeitselemente in eine solche Gleichzeitigkeit geraten, dass Emanuel einige Sekunden lang das Gefühl hatte, sein Bewusstsein sei total zerfallen“54. Breton hatte sich auf Freud berufend im ersten Manifest des Surrealismus den Wachzustand als Interferenzphänomen (phénomène d’interférence) und die Surrealität als künftige Synthese von Traum und Wirklichkeit bestimmt: Non seulement l’esprit témoigne, dans ces conditions, d’une étrange tendance à la désorientation (c’est l’histoire des lapsus et méprises de toutes sortes dont le secret commence à nous être livré), mais encore il ne semble pas que, dans son fonctionnement normal, il obéisse à bien autre chose qu’à suggestions qui lui viennent de cette nuit profonde dont je le recommande.55

Blecher übernimmt das Modell der Interferenz, doch ist die ironische Wendung des Surrealen in Vernarbte Herzen, dass es nicht dem Zufall (hasard) zugeschrieben werden kann, sondern Produkt eines rationalen, naturwissenschaftlichen Diskurses ist. Die Surrealität ist objektiv gegeben und als Lebensform nach medizinischer Vorgabe institutionalisiert. Mit der Einführung Emanuels in die Lebenswelt des Sanatoriums zerfällt die abstrakte Dichotomie zwischen Krankheit und Gesundheit: „Nun, da er die Reihe der ausgestreckt daliegenden Kranken betrachtete, beschränkte sich die Sache mit der Krankheit für ihn nicht mehr auf die schlichte Aussage ‚Krankheit‘ im Unterschied zu ‚Gesundheit‘. Er spürte, dass er ins Glied getreten war, wie beim militärischen Antritt zum Appel.“56 Ein Kranker zu sein geht mit der Übernahme einer von der therapeutischen Einrichtung erforderten Körperhaltung einher, mit einer neuen Habitualisierung des Leibes. Die Sanatorienstadt Berck wird Emanuel zunächst als eine Heilstätte präsentiert, wo die Behinderung durch die Krankheit beseitigt und

|| 53 Vgl. Mironescu, 2011, 80. 54 Blecher, 2006, 41; „În sala de mâncare elementele de vis și de realitate erau atât de concomitent prezente, încât Emanuel timp de câteva secunde își simți conștiința cu totul destrămată.“ Blecher, 1999, 136. 55 André Breton, „Manifeste du surréalisme“ (1924) in: André Breton, Manifestes du surréalisme, Paris 1989, 23. 56 Blecher, 2006, 45; „Acum, privind șirul de bolnavi alungiți, chestia bolii nu se mai rezuma pentru el la o simplă afirmație abstractă, ‚a fi bolnav‘ în contrast cu ‚a fi sănătos‘. Se simțea intrat în rang, ca într-o aliniere militară.“ Blecher, 1999, 138.

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abgeschafft wird. Sowohl der französische Arzt, als auch Emanuels Vater betonen Emanuel gegenüber mehrfach die Normalität des Krankenlebens in Berck. In der Einschließung der Krankheit äußert sich ein paradoxer diskursiver Mechanismus. Durch die örtliche Isolierung wird die Krankheit zu einer Anomalie, die zugleich ‚normalisiert‘ werden soll. Im Sinne Michel Foucaults ist das Sanatorium eine medizinische „Heterotopie“, ein Ort der Abweichung, der sich auf die alltäglichen Orte bezieht, „aber so, dass sie die von diesen bezeichneten oder reflektierten Verhältnisse, suspendieren, neutralisieren oder umkehren“57. In der Darstellung des Speisesaals wird nicht nur das Versprechen auf ein normales Leben als Illusion enttarnt, sondern die gelten Norm wird ad absurdum geführt und als arbiträre Gewohnheit entlarvt. Die Selbstverständlichkeit der gängigsten menschlichen Praktiken und Verhaltensweisen wird durch das „spitalhafte[ ] Arrangement“ ins Unwahrscheinliche verzerrt. Die Ritualität der Esskultur, ihre geselligen Gepflogenheiten, die Koketterie und Galanterie erscheinen befremdlich und absurd. Blechers Wortwahl verweist auf den autoritativen und Inszenierungscharakter der ‚Normalität‘: das „Schauspiel“ im Speisesaal ist „korrekt“58 (spectacol corect), die Kranken sind „korrekt gekleidet“59 (îmbrăcaţi corect), die „Haltung“, die der Körper auf dem Wagen annimmt, ist „korrekt“60 (atitudine corectă). Die Formulierungen sind suggestiv dafür, dass Emanuel in neue Disziplinierungs- und Machtverhältnisse eintritt: die Kranken wirken, als hätten sie sich „auf ein Kommando hin“61 (la comandă) auf Liegen ausgestreckt, die Krankheit gleicht dem „militärischen Antritt zum Appell“62 (aliniere militară) und das Gipskorsett wird mit entlarvender Ironie als „Uniform“ bezeichnet63. An den Kranken zeigt sich auf markante, augenfällige Weise die Konditionierung des menschlichen Verhaltens, die Blecher ebenso wie die Surrealisten als stumpfsinnige Dressur denunziert. Das Erwachen zum „vollen Verständnis der Krankheit“ ist also, wie auch Mironescu bemerkt, eine Einsicht in die Konventionalität dessen, was gemeinhin als real und normal gilt. Sie hat Rückwirkungen auf „den gesamten Realraum, alle Platzierungen, in die das menschliche Leben gesperrt ist, [werden] als noch illusorischer denunziert.“64

|| 57 Michel Foucault, „Von anderen Räumen“ in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hrsg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaft, Frankfurt am Main 2006, 319. 58 Blecher, 2006, 40, Blecher, 1999, 136. 59 Blecher, 2006, 42; Blecher, 1999, 136. 60 Blecher, 2006, 45; Blecher, 1999, 138. 61 Blecher, 2006, 42; Blecher, 1999, 136. 62 Blecher, 2006, 42; Blecher, 1999, 136. 63 Blecher, 2006, 72; Blecher, 1999, 153. 64 Foucault, 2006, 45.

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6.3 Emanuels Krankengeschichte als Ereignis der Kontingenz Die Szene im Speisesaal ist nur einer von mehreren Schocks, denen Emanuel im Laufe der Erzählung ausgesetzt ist und die schließlich „die gesamte Realität einstürzen“65 lassen. Bereits die Kenntnis der ärztlichen Wahrheit lässt die Ordnung der phänomenalen Welt instabil erscheinen. Blecher stellt Emanuels akute Desorientierung auf ähnliche Art und Weise wie die „Unruhen“ der Ich-Figur in Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit als Raumausdehnung und drohenden Zerfall der Wahrnehmungsformen dar. Ebenso wie im Prosaerstling die Entdeckung eines übersehenen Details, lässt hier das medizinische Wissen um die im eigenen Körper verborgene Krankheit die Wahrnehmungsordnung schwanken: In dem Zeitraum, den er eingeschlossen in der Praxis des Doktors zugebracht hatte, war die Welt auf seltsame Weise durchscheinender geworden. Noch gab es die Umrisse der Gegenstände, doch dieser dünne Faden, der wie in einer Zeichnung ein Haus skizziert und tatsächlich ein Haus entstehen lässt oder das Profil eines Menschen festlegt, jene Kontur, die Menschen und Dinge einschließt, Bäume und Hunde, konnte kaum mehr die Materie festhalten und begrenzen, die kurz davor war, einzustürzen. Es hätte genügt, dass jemand den dünnen Faden am Rande der Dinge gelöst hätte, und jene imposanten Häuser wären mit einem Mal ihrer Umrisse verlustig geworden, wären darniedergesunken in einer gleichförmig trüben und grauen Materie. Er selbst, Emanuel, war bloß noch eine Masse aus Fleisch und Knochen, die von einem strengen Profil zusammengehalten wurde.66

Es sind „Kontur“, „Profil“, „Faden“ und „Umrisse“ der Gegenstände – die Formgrenzen, durch welche sie sich überhaupt erst als Wahrnehmungsgegenstände konstituieren –, die sich aufzulösen drohen. Gegenspielerin der Form ist die Materie, die in Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit unter dem doppelten Aspekt eines ubiquitären Wandels und dynamisch-schöpferischen Werdens dargestellt wurde.67 In den letzten beiden Prosabüchern wird die Vorstellung einer amorphen Materie, die dem Sein zugrunde liegt, insbesondere durch die motivische Präsenz weicher oder rückständiger Stoffe aufgerufen: Lumpen, Watte, Asche, Müll. Ihr Verweis auf Vergänglichkeit und Sterblichkeit ist prononcierter, die Auflösung der Form

|| 65 Blecher, 2006, 62. 66 Blecher, 2006, 19; „În intervalul cât stătuse închis în cabinetul doctorului, lumea se subțiase straniu. Conturul obiectelor mai exista încă, dar acest firișor subțire care, la fel ca pe un desen, înconjoară o casă pentru a face din ea o casă, sau stabilește profilul unui om, conturul acela care închide lucruri și oameni, copaci și câini, abia de mai ținea în limitele lui material gata să se prăbușească. Ar fi fost de ajuns ca să desprindă cineva firișorul acela din marginea lucrurilor pentru ca deodată casele acelea impozante, lipsite de propriul lor contur, să se lichefieze într-o materie uniform de turbure și cenușie. El însuși, Emanuel, nu mai era decât o masă de carne și oase susținute de rigiditatea unui profil.“ Blecher, 1999,125. 67 Siehe Kapitel 4 dieser Arbeit „Empfinden als wahrere Realität“.

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herrscht über das Prinzip der Formenschöpfung. Der Vergleich der Stadtlandschaft mit einer flüchtigen und unsicheren Zeichenskizze legt zudem nahe, dass die Verunsicherung des Wirklichkeitsgefühls insbesondere die objektivierende Strukturleistung des Sehens in Mitleidenschaft zieht. Später, im Sanatorium sind es die unbegreiflichen Anblicke der Kranken im Gips, die Emanuels Bewusstsein erschüttern, ihn einer zunehmend akuteren Selbst- und Weltentfremdung aussetzend. Es sind Episoden, in denen das Auge kognitiv scheitert, weil sich das Wahrgenommene unter den üblichen Denkkategorien von normal und abnorm, lebendig und tot, erträumt und faktisch nicht assimilieren lässt. Der Zerfall der Wirklichkeit, den Blecher wiederholt beschwört, erscheint vordergründig als perzeptive Modifikation, die sowohl das Außen als auch das Innen, das Selbstempfinden erfasst. So sind nicht nur die Gegenstände in Gefahr, ihre „Umrisse“ zu verlieren. Auch der Leib erscheint gespalten zwischen amorpher „Masse aus Fleisch und Knochen“ und „strenge[m] Profil“. Matthew Ratcliffe hat in seinen psychologisch-phänomenologischen Studien ähnliche Phänomene der Derealisierung mit Blick auf ihre affektive und psychologische Bedeutung analysiert. Er nennt sie feelings of being – Daseinsgefühle – oder auch existential feelings – existentielle Gefühle.68 Es handelt sich um Körpergefühle oder im Sinne der Phänomenologie um leibliche Empfindungen, die die Erfahrung hintergründig strukturieren: „I suggest that existential feelings are feelings in the body, which are experienced as one’s relationship with the world as a whole.“69 Sie unterschieden sich von Emotionen darin, dass sie sich nicht auf bestimmte Objekte in der Welt bezögen, sondern das gesamte Weltgefüge bzw. – in der Sprache Heideggers, auf den sich Ratcliffe beruft – das In-der-Welt-Sein beträfen („a sense of belonging to the world“70). Sie stellten somit den vorbewussten Rahmen jeglicher Stellungnahme des Subjekts zu den Objekten der Welt. In dem Kapitel, in dem sich Ratcliffe mit den affektiven Folgen der Krankheit auseinandersetzt, verweist er darauf, dass der Weltbezug nicht notwendig erst durch physische Krankheitssymptome, sondern ebenso wie in Vernarbte Herzen bereits durch Diagnosen gestört werden könne: „Knowledge of an illness can itself provoke changes in existential feeling. When faced with the diagnosis, there is a surge of feeling that is at the same time a falling away from the security of the familiar world.“71 In Vernarbte Herzen werden Gefühle selten beim Namen genannt und der Figur zugeschrieben. Das Panikgefühl, das unmittelbar auf die Erklärung der Diagnose aufkommt, wird beispielsweise als körperliche Symptomatik dargestellt: „In seiner Brust war eine große Leere entstan|| 68 Matthew Ratcliffe, Feelings of Being. Phenomenology, Psychiatry and the Sense of Reality, Oxford 2008 und Matthew Ratcliffe, „The Feeling of Being“ in: Journal of Consciousness Studies, 12, Nr. 8‒ 10, 2005, 45‒63. 69 Ratcliffe, 2008, 51. 70 Ratcliffe, 2005, 2. 71 Ratcliffe, 2008, 117.

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den[.] […]. In dieser Leere hinein klopfte das Herz mit verstärkten Schlägen.“72 Erst über die Erinnerung an eine in die Falle getappte Maus erkennt Emanuel an seinen Bewegungen den Ausdruck der Angst. Sein Gefühl kommt nur über die Identifikation mit dem Tier und dessen Verhalten zur Sprache: „Bis in die geringste Kleinigkeit hinein [în cea mai măruntă atitudine] fühlte er sich nun eins mit der Maus. Er bewegte sich genauso verängstigt, genauso verstört…“73 In der Regel erfährt der Leser nur indirekt, was Emanuel fühlt. Später, in der gleichen Szene kann aus den Reaktionen des Arztes, der Emanuel wiederholte Male Mut zuredet, auf den Gefühlszustand der Hauptfigur geschlossen werden oder aus den Erscheinungen der Außenwelt, der Art wie die „Häuser vor Angst zurückw[e]ichen“, als Emanuel, aus dem Kabinett des Arztes entlassen, über die Straße geht. Blecher umgeht meist in der Darstellung des verunsicherten Weltbezugs Emanuels den direkten Ausdruck der Gefühle, sondern insistiert vornehmlich auf die Veränderungen im Selbstempfinden und im Bewusstsein der Figur. Er erzählt dadurch die Krankengeschichte Emanuels als existentielle und intellektuelle Erfahrung oder, wie Sebastian sagt, als „Drama der Bedeutungen“74. Eine weitere beispielhafte Szene, die sich nach dem Schock im Speisesaal ereignet, ist die rauschhafte Fête in einem der Krankenzimmer. Emanuel wohnt dem Gelage mit einem zunehmend akuteren Gefühl der Entfremdung bei. Die gespreizte Heiterkeit und Anzüglichkeit des Geschehens, die infantile Aufsässigkeit der eingegipsten Kranken lassen den „lebendigen Eindruck“ aufkommen, „nichts davon geschehe in Wirklichkeit“75. Ebenso wie im Speisesaal nehmen die Ereignisse einen „unverständlichen und artifiziellen Charakter“ (un aspect neînţeles şi artificial)76 an. Das Gefühl der Absonderung teilt sich als Eindruck einer betont theatralischen, illusionären und sinnlosen Welt mit: „Ihm war, als folge er einer lächerlich falschen und unnützen Inszenierung. Werden diese Menschen es etwa schaffen, ihr Theaterstück mit der gleichen Ernsthaftigkeit bis zum Ende durchzuspielen?“77 Emanuel folgt dem Geschehen, ohne aber gegenwärtig oder in ihm situiert zu sein, sondern steht wie der befremdete Zuschauer einer Performance außerhalb seiner. Derartige Wahrnehmungen, bei denen sich das Ich von der Welt abgeschnitten fühlt, legt Merleau-Ponty als Rückfall des Leibs auf sich selbst aus: „[G]ehe ich in meiner Leiblichkeit auf, so bieten meine Augen mir lediglich die sinnliche Hülle der Dinge und

|| 72 Blecher, 2006, 11‒12; „În piept i se făcuse un gol [...]. Inima bătea în vid cu lovituri amplificate.“ Blecher, 1999, 121. 73 Blecher, 2006, 12; „Se simțea identificat cu șoarecele acela până în cea mai măruntă atitudine. Umbla tot atât de îngrozit, tot atât de zăpăcit.“ Blecher, 1999, 121. 74 Mihail Sebastian, „Inimi cicatrizate“ in: Lascu, 2000, 239‒240. Meine Übersetzung. 75 Blecher, 2006, 62; „impresia vie că nimic nu se petrece în realitate“, Blecher, 1999, 148. 76 Blecher, 2006, 62; Blecher, 1999, 148. 77 Blecher, 2006, 62; „Parcă asista la o înscenare ridicul de falsă și de inutilă. Vor izbuti oare să joace oamenii ăștia teatru cu atâta seriozitate până la capăt.“ Blecher, 1999, 148.

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der anderen Menschen, die Dinge selbst sind von Unwirklichkeit gezeichnet, das Verhalten der anderen zerlegt sich in Absurditäten, die Gegenwart selbst verliert wie in der fausse reconnaissance, ihre Konsistenz und schlägt in Ewigkeit um.“78 Merleau-Ponty beschreibt hier phänomenologisch eine Erfahrung der Depersonalisation oder Entsubjektivierung, wie sie bei psychischen Krankheiten und Verlusterfahrungen vorkommen kann. Er erklärt sie als Rückzug oder Versinken des leiblichen Ich ins anonyme und passive Leben der Sinne, das zugleich die Möglichkeit der Teilhabe an der Welt begründet. Pathologische Phänomene versteht Merleau-Ponty nicht als Abweichungen von einer Norm, sondern als Manifestationen einer vorpersönlichen Existenz, die dem personalen und sozialen Leben zugrunde liegt. „Insofern sie ,Sinnesorgane‘ trägt, ruht die leibliche Existenz nie in sich selbst“79, doch sie könne sich wohl ihrer Möglichkeit zur Koexistenz „entschlagen“, „sich verknoten“, sich der Gegenwart und Zukunft verschließen.80 Ähnlich wie das Ich bei Merleau-Ponty, das in seiner Leiblichkeit aufgeht, vermag es Emanuel in der Nacht auf der Fête nicht mehr, das Künftige zu antizipieren, während die Welt gleichzeitig ihre Konsistenz verliert. Der Einsturz der Realität ereignet sich, als die Glühbirne vor dem Sanatorium bei einer Wette zwischen zwei angetrunkenen Patienten abgeschossen wird: Anstatt dass die Schüsse ihn ernüchtert hätten, stürzten sie ihn noch tiefer in Unverständnis und Halluzination. Es waren Gnadenstöße, die mit ihrem Knallen die gesamte Realität einstürzen ließen und sie in der Finsternis versenkten. Was sich von nun an ereignen würde, konnte nicht anders als weich und kraftlos sein, als wäre die Welt aus Lumpen und Watte aufgebaut. Emanuel hatte keine Kraft mehr, sich vorzustellen, was folgen könnte. Es konnte alles geschehen.81

Die konkrete Finsternis koinzidiert mit dem Einsturz der Realität bzw., wie es an anderer Stelle heißt, einer bestimmten Auffassung oder „Ordnung der Dinge“ (o înţelegere a lucrurilor)82. Der Zusammenbruch erscheint auch hier zum einen als materieller Wandel der Welt vom Festen zum Weichen, Rückständigen und Formlosen, zum anderen als Verlust des Sinnhorizontes, an dem sich die Zukunft abzeichnet. „Es konnte alles geschehen“, d. h. die Gegenwart zeichnet nichts Wahrscheinliches, sondern eine größtmögliche, unfassliche Fülle an Möglichkeiten vor. Es ist

|| 78 Merleau-Ponty, 1966, 198. 79 Ebd. 80 Ebd., 197. 81 Blecher, 2006, 62; „Împușcăturile, în loc să-l dezmeticească, îl prăbușiră și mai adânc în neînțelegere și halucinație. Astea fuseseră loviturile de grație care dărâmaseră cu pocnetul lor toată realitatea și-o scufundaseră în noapte. Ce se va desfășura de acum înainte nu putea să fie decât moale, lipsit de vlagă ca într-o lume construită din cârpe și vată. Emanuel nu mai avea nici o putere să-și imagineze ce va urma. Putea să se întâmple orice…“ Blecher, 1999, 148. 82 Blecher, 2006, 51; Blecher, 1999, 142.

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eine Erfahrung der absoluten Unvorhersehbarkeit, ein Schrecken der Kontingenz83. Nach Merleau-Ponty ist der Zerfall des Zeitzusammenhangs kennzeichnend für das Zeiterleben des Kranken: „Für den Kranken“, schreibt er, „geschieht schlechterdings nichts mehr, nichts nimmt in seinem Leben noch Sinn und Gestalt an, oder vielmehr, genauer gesprochen, was geschieht, ist nur mehr eine Reihe immer gleicher ‚Jetzt‘, das Leben fließt in sich selbst zurück, die Geschichte löst sich auf in die natürliche Zeit.“84 In einem Gespräch Emanuels mit Ernest, der Emanuel in die Lebenswelt des Sanatoriums einführt und ihre Facetten mit großer Klarsicht und Ironie zu kommentieren weiß, kommt das ereignislose Leben des Kranken, für den der Leib zu einer Art „Schlupfwinkel des Seins“85 geworden ist, eindrücklich zur Sprache: Wenn es schön ist draußen, wenn es warm ist und die Sonne scheint, fuhr Ernest fort, dann kommen mir viele Dinge wie ganz und gar unnütz und unverständlich vor. Was kann ein Mensch in der Helligkeit und Klarheit der ihn umgebenden Dinge schon tun? Und wenn er etwas täte… es wäre zu klar… viel zu sichtbar und zu [un]verständlich. Das beunruhigendste Geheimnis ist wahrscheinlich jenes, das uns mit der schlichtesten Evidenz entgegentritt. Mir gefallen diese düsteren, verregneten Tage besser, wenn du zusammengekauert in deinem Haus bleiben musst und dich wie ein geprügelter Hund fühlst...86

Die Stelle ist von einer bei Blecher selten anzutreffenden Schwermut. Es ist aber nicht der wehleidige und resignierte Ausdruck eines Kranken. Emanuel ist gerade der Gips angelegt worden und er beginnt zu verstehen, zu welch ereignislosem Leben ihn die Krankheit zwingt. So ließe sich Ernests Rede, in der er behauptet, das Regenwetter dem sonnigen vorzuziehen und das bloße, beinahe tierische Existieren dem tätigen Leben, als ein freundlicher Versuch verstehen, den unglücklichen Emanuel mit philosophischen Reflexionen zu trösten. Doch die Stelle hat eine breitere Signifikanz. Ernests Infragestellung der Evidenz der Dinge ist komplex und triftig. Gegen das sonnige Wetter führt er ähnliche Argumente ins Feld wie der IchErzähler in Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit gegen die Alltagsrealität: die „Klarheit“ und „Helligkeit“ verrätseln die Dinge und die Tat, jedes Tun erscheint „unverständlich“ und letztlich sinnlos.

|| 83 Terminologisch unterscheide ich zwischen Zufall als einem nicht notwendigen Faktischen und Kontingenz als einem nicht notwendigen Möglichen. Siehe dazu Peter Vogt, Kontingenz und Zufall. Eine Ideen- und Begriffsgeschichte, Berlin 2011, 64‒66. 84 Merleau-Ponty, 1966, 197. 85 Ebd. 86 Blecher, 2006, 73; „‒ Când e frumos afară, când e cald și soare, continuă Ernest, atunci lucrurile îmi apar grozav de inutile și de neînțelese. Ce poate face un om în mijlocul limpeziciunii decorului? Și chiar dacă ar face ceva... e prea clar... prea vizibil și prea ininteligibil. Misterul cel mai turburător e poate cel care ne apare în cea mai simplă evidență. Îmi plac mai bine zilele astea mohorâte și ploioase, când stai închircit în casă și ai o înțelegere de câine bătut.“ Blecher, 1999, 154.

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Im Sinne der Ästhetik Blechers werden hier die alltäglichen Gewissheiten, das naive Sein in Frage gestellt, allerdings von einer anderen, weitaus unbehaglicheren Position aus als im ersten Prosabuch. Wenn der Aufstand gegen die Wirklichkeit dort im Namen des Möglichen und der Wahrnehmungsimagination geschah, so beruft sich hier Ernest in seiner Präferenz für das Regenwetter auf die lebendige Einsicht in die existentielle Kondition des Menschen: „Regen, bedeckter Himmel, Kälte … da weiß man, dass alle Welt auf die gleichen vier Wände reduziert ist… zur gleichen Traurigkeit.“87 Dass der Unterschied zwischen Krank- und Gesundsein eingeschmolzen wird, ist für den Kranken ein tröstlicher Gedanke. Doch geht es um mehr als nur darum, Emanuel mit diesem Gedanken aufzurichten. Die bewusste Erfahrung der aufs Minimum reduzierten Existenz geht mit der Entdeckung der Fragilität der Seins-Strukturen und der Kontingenz einher. Der Kranke kann physisch gesunden oder, wie es bei Merleau-Ponty heißt, kann sich die „Bewegung der Existenz auf die Anderen, auf die Zukunft, auf die Welt hin […] erneuern, wie ein gefrorener Strom, dessen Eis schmilzt“88. Doch erinnert Ernest, der selbst ein Geheilter ist, daran, dass das Wissen um die Kontingenz der Alltagsrealität sich nie mehr auslöschen lässt. Deshalb bevorzugen es die Geheilten in Berck zu bleiben, denn „Berck ist etwas anderes als eine Stadt der Kranken. Es ist ein subtiles Gift. Das sofort ins Blut geht. Wer hier gelebt hat, findet nirgends mehr auf der Welt seinen Platz.“89 Bei Blecher wird die Erfahrung des Rückfalls auf die „natürliche Zeit“ zum intellektuellen Argument gegen die Formen der Wirklichkeit gemacht, die sich in Berck, in der Welt der Kranken als haltlose Illusionen herausstellen. Schließlich darf Ernests klimatisch-philosophische Parabel nicht über das Verhalten der Kranken in Vernarbte Herzen, die allesamt „revoltierte“ Kranke sind, hinwegtäuschen. Sie lehnen sich durch Ausschweifungen und Zechereien gegen die ärztlichen Vorschriften auf90, durch sexuelle Freisinnigkeit, die oft verzweifelt erscheint, gegen die Verdinglichung des Leibs durch den Gips, durch Gefühlsabwehr und Klarsicht gegen das Mitgefühl anderer. Bei Emanuel geht die Ablehnung der Krankenrolle so weit, dass er in seiner Liegekutsche eine gewagte Reise durch die Dünen unternimmt, die ihn schließlich in die Villa Elseneur der Madame Tils führt.91 Er findet dort eine Zeit lang Zuflucht vor den kruden Realitäten im Sanatorium. Die Figuren in Vernarbte Herzen erfahren zwar wiederholte Male durch die Schocks, denen sie ausgesetzt sind, Rückfälle ins Vorpersönliche und auf die „natürliche

|| 87 Blecher, 2006, 73; „Ploaie, cer acoperit, frig... atunci știi că toată lumea e redusă la aceeași odaie cu patru pereți.“ Blecher, 1999, 154. 88 Merleau-Ponty, 1966, 197. 89 Blecher, 2006, 74; „Berck e altceva decât un oraș de bolnavi. E o otravă foarte subtilă. Intră de-a dreptul în sânge. Cine a trăit aici nu-și găsește locul nicăieri în lume.“ Blecher, 1999, 154. 90 Siehe Mironescu, 2011, 74‒75. 91 Siehe dazu auch Bouët, 1988, 24‒25.

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Zeit“, doch gehen sie nie darin auf. Vielmehr gewinnen sie darüber Einsicht in die Haltlosigkeit der Umgangs- und Denkformen allgemein. Wie sehr die Krankheit mit dem Bewusstsein einhergeht, der Kontingenz in radikaler Weise ausgesetzt zu sein, veranschaulichen in Vernarbte Herzen die Figuren Quitonce und Isa. Beide stehen vor der Operation an dem Punkt einer schwer erträglichen Unvorhersehbarkeit. Sie erleben eine Gegenwart, in der sich Sein und Nichtsein, Leben und Tod gleichermaßen als Möglichkeiten abzeichnen. Beide versuchen, die Zukunft zu prognostizieren, auf eine Wahrscheinlichkeitsformel zu bringen, Quitonce, indem er die Seitenzahlen einer wahllos aufgeschlagenen Wörterbuchseite zusammenaddiert und eine willkürlich ausgedachte Kausalitätsreihe als bedeutsam setzt („Es wäre schön, wenn dreimal hintereinander eine Zahl größer als fünf herauskäme oder kleiner… damit ich wenigstens weiß, was mit mir los ist, ob ich krepiere oder durchkomme.“92), Isa, indem sie insgeheim beim Kartenspiel mit ihrer Pflegerin um Lebenstage spielt. Für Emanuel bedeutet der Realitätseinsturz mehr als nur eine Auflösung der Sinn- und Handlungshorizonte im phänomenologischen Sinne. Sie geht einher mit einem Versagen der Wahrnehmungsimagination, die angesichts der fantastischen Ereignisse, mit denen Emanuel konfrontiert ist, nicht mehr innerhalb der epistemologisch verbürgten Grenzen des Wahrscheinlichen tätig ist. Bereits auf den ersten Schock der Diagnose antwortet Emanuel mit einer imaginativen Überproduktion. Das schwer fassbare Faktum eines fehlenden Wirbels lässt ihn Szenarien von komischem Sensationsgehalt entwerfen: „ob ihm bis zur Pension nicht die Wirbelsäule bersten könne, ob er nicht auf der Straße zusammenbrechen würde, ob sein Kopf nicht von den Schultern fallen und wie die Kugeln auf einer Kegelbahn über den Bürgersteig rollen könne.“93 Ab der Partynacht weiß Emanuel um die radikale Offenheit und Unberechenbarkeit der Zukunft, die Vorstellungskraft entgrenzen und überfordern. Nicht vorhersehen zu können, kennzeichnet nicht nur die Situation der Figuren in Vernarbte Herzen, sondern auch die Situation des Lesers. „Es konnte alles passieren“ (Putea să se întâmple orice) ist auch eine metanarrative Aussage, die auf das Unvorhersehbare als wirkungsästhetisches Prinzip verweist. Realisiert wird es durch die Sensibilisierung des Lesers für mögliche Handlungsabläufe und das Spiel mit seinen Erwartungen, durch klassische Verfahren handlungsorientierter Bedrohungsspannung.94 Im Gespräch Quitonces mit Emanuel, in dem der Schwerkranke vergeblich seine Lebensprognose aufzustellen versucht, wird beispielsweise eine

|| 92 Blecher, 2006, 110; „Aș vrea să-mi iasă în șir de trei ori mai mult de cinci, ori mai puțin... dar să știu ce-i cu mine, crăp sau scap.“ Blecher, 1999, 173. 93 Blecher, 2006, 18; „dacă până la pensiune nu i se va rupe coloana vertebrală, dacă nu se va prăbuși în stradă, dacă nu-i va cădea capul de pe umeri rostogolindu-se pe trotuar ca o bilă de popice.“ Blecher, 1999, 124. 94 Vgl. Daniela Langer, „Literarische Spannung/en. Spannungsformen in erzählenden Texten und Möglichkeiten ihrer Analyse“ in: Ingo Irsigler/Christop Jürgensen/Daniela Langer, Zwischen Text und Leser. Studien zu Begriff, Geschichte und Funktion literarischer Spannung, München 2008, 12‒32.

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Oszillation zwischen zwei möglichen Ausgängen der Geschichte initiiert, zwischen Überleben oder Sterben: „Es ist schon eine verflixte Angelegenheit, wenn die Fatalität auf solch einem kurzen Intervall hin und her pendelt… Man könnte sagen, sie zittert…“95 Indem die Alternativen intradiegetisch artikuliert werden, wird auch der Leser dem „Wechselspiel[ ] von Aussichtslosigkeit und Hoffnung“96 ausgesetzt. Zudem werden die möglichen Ausgänge abwechselnd vorgezeichnet, der Leser verunsichert und brüskiert. So endet die letzte Begegnung Emanuels mit Quitonce vor dessen Operation mit dem – gewiss verzweifelt anmutenden – Optimismus von Vater Quitonce, der sich mit den beiden jungen Männern für ein Jahr später in Paris verabredet: „Da machen wir eine echte Fête, und Vater Quitonce bezahlt…“97. Dieser beharrliche Versuch des Vaters, die Zukunft durch ein großmütiges Versprechen verbindlich festzulegen, wird verhalten kommentiert: „Der Optimismus des Alten verlor sich in der Stille der Stube, wie ein ins Leere laufender Mechanismus.“98 Die Vergleichsfigur hat an dieser Stelle, kurz vor einem neuen Absatz99, eine poetologische Resonanz und verweist auf die Affektdynamik der Lektüre, die der Empathie des Lesers keine Schließung gewährt, sondern es ins Leere laufen lässt. Der Wissensstand des Lesers beschränkt sich auf den Wissenshorizont der Figuren, die an der Unvorhersehbarkeit ihres eigenen Schicksals irrewerden. Der Leser kann ebenso wenig wie Emanuel voraussehen, was folgt. Als Emanuel am Tag nach der Operation Quitonces dessen Eltern am Strand trifft, antizipiert er das Ergebnis des Eingriffs fälschlicherweise zu früh, zu einem Zeitpunkt als die Operation noch in Gang ist und jenes „Pendeln der Fatalität“ ihre äußerste Dichte erreicht. Erneut werden vorauseilende Erwartungen enttäuscht. Ebenso am Ende des Kapitels, wo die narrative Oszillation noch einmal in Gang gebracht wird. Zum einen schenkt Quitonce selbst nach seiner Operation Emanuel ein kleines Stück Knochen, das aus seiner Wirbelsäule herausoperiert worden ist. Der Knochen ist als Erinnerungsstück gedacht und nimmt den Tod der Figur vorweg. Doch das Kapitel endet mit einer zuversichtlichen Note. Als Emanuel einige Tage später Quitonces Vater begegnet, erfährt er, dass sich Quitonces Gesundheitslage gebessert hat: „Vielleicht kommt er in einer Woche wieder in den Speisesaal, fügte der alte Herr hinzu, und seine Stim-

|| 95 Blecher, 2006, 110; „E grozav lucru când fatalitatea oscilează într-un interval atât de scurt... S-ar zice că tremură.“ Blecher, 1999, 174. 96 Langer, 2008, 20. 97 Blecher, 2006, 113; „Facem atunci un chef zdravăn. Tata Quitonce plătește...“ Blecher, 1999, 175. 98 Blecher, 2006, 113; „Optimismul bătrânului se pierdea în liniștea odăii ca un mecanism ce funcționa în vid.“ Blecher, 1999, 175. 99 In der rumänischen Gesamtausgabe folgt auf die Begegnung Emanuels mit Quitonce und dessen Eltern eine typographisch markierte Zäsur, ein Absatz, während in der deutschen Übersetzung der Übergang zum nächsten Tag unmarkiert bleibt. Siehe Blecher, 1999, 178‒179.

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me hatte einen Ton offenkundiger Freude.“100 Mit dem nächsten Kapitel wird die Hoffnung brüskiert: „Quitonce starb zwei Tage vor Weihnachten mit lautem Gelächter. Bis zum Schluss hatte ihn die Krankheit zum Narren gehalten.“101 Das Pendeln zwischen möglichen narrativen Ausgängen kommt mit einem wohlplatzierten Schock zum Abschluss. Doch wird das aufkommende Gefühl des Bedauerns bzw. der Trauer über den Tod der Figur erzählerisch durch einen schauerlich-grotesken Zusatz pariert. Überhaupt zeugt die spannungsvolle Darstellung von an sich erschütternden Ereignissen von einer emotional distanzierten Erzählhaltung, die keineswegs, wie Ionescu urteilte, „der Misere und der Notwendigkeit unterliegt“102.

6.4 Gefühlskälte und negativer Pathos Als Vernarbte Herzen im Jahre 1937 erscheint, sind sich Blechers literarische Zeitgenossen einig, dass Blecher eine unverkennbare Art des Schreibens, einen aparten Stil geprägt habe. Was an dem Roman mit seiner Krankheitsthematik noch stärker auffällt als an der Ich-Prosa Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit, ist die sprachliche Präzision und Gefühlskälte, mit der Blecher erschütternde Ereignisse darstellt. Die Zeitschrift Meridian spricht von einer „tragischen Klarsicht“, die „frei von jeder Sentimentalität und Lamentation“ sei (luciditate tragică, fără sentimentalism, fără lamentare).103 Dass man um die autobiographische Dimension des Romanstoffs weiß, lässt die Nüchternheit der Darstellungen umso stärker ins Auge fallen: „Die Welt der Verdammten aus Berck über zweihundert Seiten darzustellen, all jene Schreckensbilder, das Blut und den Eiter, das Ächzen, ohne dabei in Pathos zu verfallen oder auch nur den kleinsten persönlichen Seufzer zu artikulieren“, schreibt Geo Bogza in der Zeitschrift Azi, „das ist eine Falle, der am Ende sehr wenige entgehen.“104. Der Schriftsteller Mihail Sebastian veranschaulicht die „vollkommene analytische Strenge“ (severitate analitică absolută) der Krankheitsdarstellungen Blechers mit einer medizinischen Figur: „Seine Feder hat dann [wenn es um die Krankheit geht] die feine Präzision eines Skalpells und so Leid es mir auch tut, einen so abgegriffenen Vergleich anbringen zu müssen, so wird er mir doch vom kal-

|| 100 Blecher, 2006, 119; „Poate că peste o săptămână o să vină din nou în sala de mâncare, adăugă bătrânelul, cu un accent de vădită bucurie în glas.“ Blecher, 1999, 178. 101 Blecher, 2006, 120; „Quitonce muri cu două zile înainte de Crăciun, în hohote de râs. Boala își bătu joc de dânsul până la capăt.“ Blecher, 1999, 179. 102 Ionescu, 1999, 304. 103 Tiberiu Iliescu, „M. Blecher: Inimi cicatrizate“ (1937) in: Lascu, 2000, 231. Meine Übersetzung. 104 „Să descrii lumea damnaților de la Berck, toate viziunile infernale, tot sângele și puroiul, toate scrâșnetele și, timp de două sute de pagini să nu cazi în patetism, să nu scoți nici cel mai mic strigăt personal, iată o cursă până la capătul căreia foarte puțini oameni ar fi în stare să meargă.“ N. N., „M. Blecher: Inimi cicatrizate“ (1937), ebd., 229‒230. Meine Übersetzung.

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ten und exakten Stil des Autors, der einem chirurgischen Instrument gleicht, aufgenötigt.“105 Tatsächlich ist der Vergleich 1937 etwas abgegriffen. Die medizinischen Topoi des ärztlichen Erzählerblicks und des chirurgischen Erzählens haben in die poetologischen Diskussionen über den Roman längst Einzug gehalten. Zum ersten Mal hat wohl Sainte-Beuve 1857 in seiner Rezension zu Flauberts Madame Bovary die Feder mit dem Skalpell verglichen: „Fils et frère de médecins distingués, M. Gustave Flaubert tient la plume comme d’autres le scalpel. Anatomistes et physiologistes, je vous retrouve partout!“106 Martin von Koppenfels hat in seiner Studie Immune Erzähler eine europäische Traditionslinie des antimimetischen, modernen Romans verfolgt, die den klinischen Stil Flauberts fortschreibt und zu der Proust, Céline und Marguerite Duras, ebenso wie Kafka und Imre Kertész gezählt werden können.107 Laut von Koppenfels formuliere der ärztliche Erzählerblick im Zusammenhang der modernen Romanpoetik das Stilideal eines affektarmen, unsentimentalen Erzählens, aus dem ein neuer, „negativer Pathos“108 gewonnen werde. Von Koppenfels beschreibt wie verschiedene Techniken der Erzähler-Immunisierung und Affektabwehr affektive Reaktionen umso effektvoller im Leser erzielen, als sie dessen Erwartungen systematisch beanspruchten, verschöben und brüskierten. Der medizinisch chiffrierten, antisentimentalen und antipathetischen „Affektpolitik des modernen Romans“ entsprächen auf motivischer Ebene Beispiele der affektiven Entfremdung und des Gefühlsschwundes, die von Koppenfels unter die paradoxe Formel eines „Gefühls der Gefühllosigkeit“109 zusammenbringt: Die Flaubertsche Affektpolitik […] lässt verschiedene Deutungen zu. Man kann sie als bloßen Reflex, als ästhetischen Nachvollzug einer epochalen Verschiebung im Bild des Menschen verstehen – aber auch als Aufbegehren dagegen. […] [Der Abbruch der Gefühlsverbindungen] erscheint dann als Versuch einer Immunisierung gegen die Macht der herrschenden emotionalen Klischees, als Zeichen des Beharrens auf dem Anspruch, andere Gefühle zu haben, als die, die einem zugemutet werden. Das Gefühl der Gefühllosigkeit bezeichnet in diesem Fall eine letzte, depressive Position von Eigensinn. Eine dritte Deutungsmöglichkeit besteht darin, die Erfahrung affektiver Befremdung, die moderne Romane ihren Lesern aufbürden, nicht nur als Negation, sondern als eigenständige Form der Affekterfahrung, eine eigenständige historische Gestalt von Pathos zu begreifen. Es ist diese Deutung, der die folgenden Kapitel den Vorzug geben. Sie kann sich auf die sowohl ästhetisch als auch klinisch verbürgte Erfahrung berufen,

|| 105 „Condeiul său are atunci o preciziune fină de bisturiu și îmi pare rău că sunt silit să recurg la o atât de veche comparație dar îmi este impusă de stilul autorului, rece și exact ca un instrument chirurgical.“ Mihail Sebastian, „M. Blecher: Inimi cicatrizate“, ebd., 240. Meine Übersetzung. 106 Sainte-Beuve, „Madame Bovary“ in: Sainte-Beuve, Les grands écrivains français, Paris 1927, 170, zit. nach: Koppenfels, 2007, 185. 107 Ebd. 108 Ebd., 373. 109 Ebd., 9‒19.

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dass mit Gesten der Affektverweigerung starke emotionale Wirkungen erzielt werden können – ja, dass unter bestimmten Umständen nur mit ihnen solche Effekte erzielbar sind.110

Blechers Roman Vernarbte Herzen und das Sanatoriumstagebuch Beleuchtete Höhle stehen in der Erzähltradition der Flaubertschen impassibilité. Jacques Bouët hat beispielsweise Blechers Vernarbte Herzen auf Strategien der Dekonstruktion des Tragischen (stratégie de ‚dé-tragification‘)111 hin analysiert, wie sie für den nouveau roman charakteristisch sind. Blecher selbst operiert, wenn er über seinen Roman spricht, gelegentlich mit der Formel des Antisentimentalischen, wie in folgendem Brief an Geo Bogza: Mir bleibt ein wenig Raum, um dir vom Buch, an dem ich arbeite, zu erzählen, ein Roman mit dem Titel Vernarbtes Gewebe, in dem ich über das finstere Leben der Kranken in Berck berichte. Vielleicht gefällt dir der Titel nicht, doch wirst du beim Lesen merken, dass er dem Inhalt genau entspricht, er wird dir einleuchten. Bis jetzt habe ich vier dicke Hefte mit nackten Tatsachen gefüllt, die eng miteinander verwoben sind, ohne Süßlichkeiten und unnützer Sentimentalität; da gibt es einige extrem virulente und bittere Sachen; sie sollen überwältigen.112

Mit der Abwehr der Sentimentalität und der Einfachheit des Erzählstils (la simplicité d’écriture)113 setzt Blecher auf die Wirkungsstärke der „reinen Begebenheiten“, die an sich schon „finster“, „virulent“, „bitter“ sind. Offensichtlich sollen durch die affektive Enthaltung starke, emotionale Reaktionen im Leser erzielt werden. Wie aus dem Brief an Geo Bogza hervorgeht, wollte Blecher seinen Roman zunächst Vernarbtes Gewebe (Țesut cicatrizat) nennen. Der Verweis auf die Gefühlswelt der Figuren sollte ursprünglich ausbleiben, das Sujet in einer rein medizinischen Sprache gefasst werden. Möglicherweise haben editorische Überlegungen Blecher dazu veranlasst, dem Titel eine Gefühlsdimension zu geben, wahrscheinlich um ein breiteres Publikum anzusprechen. In Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit sind die offene Wunde und das Fleisch die zentralen, poetologischen Figuren, die ich insbesondere im Hinblick auf die aisthetische Wirkungsdimension der Empfindungsprosa ausgelegt habe. Dagegen hat der ursprüngliche Titel des Romans Blechers andere poetologische Valenzen. Die Narbe ist die Spur einer Verwundung, sie verweist zeichenhaft auf die Wunde zurück. Interessanterweise spricht Blecher nicht von der Narbe,

|| 110 Ebd., 17‒18. 111 Bouët, 1999, 30. 112 „Îmi rămâne puțin loc să-ți scriu despre cartea pe care o scriu care va fi un roman intitulat Țesut cicatrizat și în care vorbesc despre viața neagră a bolnavilor din Berck. Poate că titlul nu-ți place dar când vei ceti cartea vei vedea că el corespunde bine conținutului și îți va deveni atunci explicit de tot. Până acum am scris patru caiete groase pline de întâmplări pure, legate strâns între ele, fără edulcorări și chestii inutile sentimentale; am unele lucruri extrem de virulente și de amare; vreau să fie copleșitoare.“ Brief M. Blechers an Geo Bogza vom 26. Juni 1936 in: Lascu, 2000, 118. Meine Übersetzung. 113 Bouët, 1999, 20.

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sondern von „vernarbtem Gewebe“ und bleibt im Register der Körpermaterie, der Mannigfaltigkeit mit „offene[m] Saum“114, was als Hinweis auf ein ambivalentes Formkonzept gelesen werden könnte. Medizinisch geht die Vernarbung mit einer Abstumpfung der Ästhesie, des Empfindungsvermögens einher. Der Roman verschreibt sich also einer empfindungs- und gefühllosen Erzählweise. Mit Blick auf die autobiographische Dimension des Romanstoffes, ist dies im Sinne einer autopathographischen Verwindung einer traumatischen Erfahrung des Autors zu begreifen, der, so wie es das Kierkegaardsche Motto nahelegt, gegen den Schrecken der persönlichen Erinnerung anschreibt: „Quel terrible souvenir à affronter.“115 Der Titel, für den sich Blecher schließlich entscheidet – Vernarbte Herzen – verweist auf die Gefühllosigkeit als Sujet des Romans bzw. als Schicksal der Figuren. Dem Herz, das als Sitz der Gefühle schlechthin gilt, wird eine organische Geschichte der Verwundung und Heilung zugeschrieben, infolge derer es das Empfindungsvermögen einbüßt. Die Metapher der vernarbten Herzen stellt in verdichteter Form die Brechung und Reduzierung der Gefühlssprache auf die Physiologie aus, die für den Roman kennzeichnend ist. Sie nimmt Bezug auf eine Stelle im Roman. Es handelt sich um das erste Gespräch zwischen Emanuel und Isa, der exzentrischen Kranken, die im klinischen Umfeld des Sanatoriums eine Aura des Geheimnisses bewahrt, ein Gespräch, das um die Gewöhnung an die Schrecken der Krankheit kreist. Emanuel kontrastiert dort die „einigermaßen gleichgültig[e]“ Haltung (oarecum indiferentă) und „perfekte[ ] Ergebenheit“ (perfectă resemnare) gegenüber der Krankheit, die er Isa zuschreibt, mit seiner eigenen Verzweiflung.116 Isa fühlt sich herausgefordert, ihre Haltung zu erklären: Glaubst du etwa, ich war die erste Zeit nicht genauso? Sagte sie. Alle waren wir aufgebracht… Alle sind wir mitten in der Nacht aufgewacht und haben verzweifelt unseren Gips betastet. Alle… alle… aber dann, als die Schläge heftiger wurden, dann haben wir nichts mehr gespürt… Weißt du, was man in der Medizin ein ,vernarbtes Gewebe‘ nennt? Es ist diese dunkelviolette, runzlige Haut, bloß dass sie unempfindlich ist gegen Kälte, gegen Wärme oder für Berührungen […]. Sieh, die Herzen der Kranken haben in ihrem Leben so viele Messerstiche abbekommen, dass sie sich in vernarbtes Gewebe verwandelt haben… Unempfindlich gegen Kälte… gegen Wärme… und gegen Schmerzen… Unempfindlich und dunkelviolett vor Härte…117

|| 114 Serres, 1994, 100. 115 Blecher, 2006, 6. 116 Blecher, 2006, 131; Blecher, 1999, 185. 117 Blecher, 2006, 131‒132; „Crezi oare că n-am fost și eu la fel în primele timpuri? spuse ea. Cu toții am fost agitați... Toți ne-am sculat în puterea nopții și ne-am pipăit disperați ghipsul. Toți... toți... dar apoi, când loviturile s-au întețit n-am mai simțit nimic... Știi ce se numește în medicină ‚țesut cicatrizat‘? Este pielea aceea vânătă și zbârcită, care se formează pe o rană vindecată. E o piele aproape normală, atât doar că e insensibilă la frig, la cald, ori la atingeri...“ Blecher, 1999, 185.

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Isa stellt die Gefühllosigkeit der Kranken als anästhetisches Phänomen dar. Der Schock der Eingipsung, die Verzweiflung, der Schmerz haben unmittelbare Folgen für die Gefühlswelt der Kranken, die Isa in einer Art somatischen Anamnese des Herzens expliziert. Zudem erklärt sie Emanuel dies alles im Flüsterton und „mit dem Lächeln vollendeter innerer Ruhe“118 vor. Das verweist zum einen auf die Scham und das Unbehagen darüber, sich zu solchen pathetischen Äußerungen hingerissen haben zu lassen, zum anderen auf die Notwendigkeit, sich ungerührt zu zeigen. Gefühle werden im Roman von den Figuren unterdrückt und zensiert. Wenn sie doch zum Ausdruck kommen, folgen ihnen unmittelbar krude Darstellungen physischer Details, die Anteilnahmen verhindern. Nachdem Isa operiert wird, bricht ihre Pflegerin in Anwesenheit Emanuels in Tränen aus. Der Gefühlsausdruck wird jedoch sofort durch den Bericht der Gesundheitslage Isas, der sich in der Aufzählung ekelerregender Details ergeht, wieder abgewehrt.119 In Zusammenhang des „negativen Pathos“ stehen auch die Bezugnahmen auf das Heroische im Roman. Quitonce, der beim Gehen seine Beine wie ein Pojaz in die Luft wirft, hat seine eigene Theorie vom Heldentum des Kranken. Er legt sie dar, als Emanuel den Fehler begeht, mit dessen Schicksal zu empathisieren und ihn als „Held[en] der Krankheit“120 (un erou al bolii) zu bezeichnen. Nach Ansicht Quitonces sind die Kranken im Gips bestenfalls „negative Helden“ (nişte eroi negativi), insofern sie im Erleiden und Erdulden ihre Energie als „reinen Verlust“ verbrauchen121: „Jeder von uns ist ‚der, der nicht Cäsar war‘, obwohl er alle Bedingungen erfüllt hat, es zu sein. Verstehst du? Alle Elemente eines Cäsars in sich zu tragen und ein Kranker zu sein. Dies ist die ironischste Form des Heroismus“.122 Die bittere Ironie rührt vom Auseinanderklaffen des Potentiellen und Aktuellen, das weit unterhalb der möglichen Konfigurationen bleibt und sich letztlich innerhalb der physischen Grenzen verbraucht. Der ironische Heroismus Quitonces markiert den äußersten Grenzwert eines affektentleerten, unpathetischen Pathos, wenn es nicht sogar jenseits davon liegt. So blickt Quitonce seiner nächsten Operation ohne Mut oder Hoffnung, von einer Warte „jenseits des Heroismus“ (‚dincolo‘ de eroism)123 entgegen: „An die Operation denke ich mit dem neutralen Gefühl, mit dem ich ein Glas Wasser trinke… weder Mut noch Feigheit … ich trinke ein Glas Wasser, das ist alles.“124

|| 118 Blecher, 2006, 132; „cu zâmbetul celei mai desăvârșite liniști interioare“, Blecher, 1999, 185. 119 Blecher, 2006, 206‒207. 120 Blecher, 2006, 83; Blecher, 1999, 159. 121 Blecher, 2006, 83; Blecher, 1999, 160. 122 Blecher, 2006, 83; „Fiecare din noi este un ‚cel ce n-a fost Cezar‘, deși a îndeplinit toate condițiunile pentru a fi. Înțelegi? A conține toate elementele componente ale unui Cezar și a fi... un bolnav. E forma suprem ironică a eroismului.“ Blecher, 1999, 160. 123 Blecher, 2006, 84; Blecher, 1999, 160. 124 Blecher, 2006, 84; „Păstrez pentru operație sentimentul absolut neutru pe care îl am când beau un pahar cu apă… nici curaj, nici lașitate… beau un pahar de apă, atâta tot.“ Blecher, 1999, 160.

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Zum Komplex des antisentimentalen Erzählens in Vernarbte Herzen gehören die Unvorhersehbarkeit als narratives Strukturprinzip, die Schlüsselmetapher der Vernarbung, die Gefühlsabwehr der Figuren, die Insistenz auf physische Details und Wahrnehmungseffekte in der Darstellung der Krankheit, die aufkommendes Mitgefühl durch die Provokation von Ekel oder grotesker Komik abwendet, schließlich die Entlarvung von falschen Gefühlen und der kommerziellen Aspekte der Sanatoriumsmedizin. Die meisten dieser Verfahren lassen sich auch in Beleuchtete Höhle nachweisen. Blechers „Roman der Krankheit“ (romanul bolii)125, so kann man schlussfolgernd sagen, diskreditiert zwar die klinische, gleichgültige Betrachtung der Krankheit, verwandelt sich aber ihrer in der Erzählhaltung zu ästhetischen Zwecken paradoxerweise an.

6.5 Der ästhetische Dilettantismus der Realität in Beleuchtete Höhle Ebenso wie in Vernarbte Herzen ist die Erfahrung der Krankheit auch in Beleuchtete Höhle mit der folgenreichen Erkenntnis verbunden, dass die Welt „nicht transzendent abgesichert“126, sondern sinnlos und kontingent ist: Alles, was ich vor meiner Erkrankung getan habe, hatte für mich eine wohlbestimmte Bedeutung und einen gewissen Sinn im Leben, der meine alltäglichen Handlungen auf die Leinwand eines großen Tableaus projizierte, dessen Zeichnung – Kontur und Sujet – am Ende erscheinen musste. Nun weiß ich, dass es weder dieses Gewebe noch eine Kontur oder ein Subjekt gibt. Und dass die Tatsachen meines Lebens sich irgendwie in einer Welt ereignen, die selbst irgendeine ist.127

Von dieser Warte aus werden die „Gewohnheiten und Seinsbekundungen“ (obişnuinţe şi manifestări) der Normalen und Gesunden, aber auch der Kranken, die in der konventionellen Krankenrolle aufgehen, als Illusionen aufgedeckt.128 Anders als im Roman haben wir es hier mit einem Ich-Erzähler oder eher einem „Schreiber“129 (scripteur) zu tun, der die epistemologische Signifikanz seiner Erinnerungen und

|| 125 Negoițescu, 1975, 124. 126 Karl Heinz Bohrer, Ekstasen der Zeit. Augenblick, Gegenwart, Erinnerung, München, Wien 2003, 108. 127 Blecher, 2008, 78‒79; „Tot ce am săvârșit înainte de a cădea bolnav, avea pentru mine un înțeles bine definit și un anumit sens în viață care îmi plasa acțiunile mele de toate zilele pe rețeaua unui vast tablou al cărui contur și subiect trebuia să apară până la urmă. Știu acum că nu există nici rețea, nici contur, nici subiect. Și că faptele vieții mele se petrec oricum într-o lume care și ea este oarecare.“ Blecher, 1999, 269. 128 Blecher, 2008, 79; Blecher, 1999, 269. 129 Siehe dazu Roland Barthes, „Der Tod des Autors“ in: Fotis Jannidis u.a. (Hrsg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2000, 185‒193.

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Imaginationen reflektiert. Er beschreibt sich als „Mensch[en], der sein Leben lebt und nichts von dem, was um ihn herum geschieht, versteht, etwas durcheinander, leicht betäubt im Ereigniswirbel der Welt, ohne Gefühle, ohne Schmerz, ohne Freuden.“130 Es ist der gleiche Dämmerzustand, die gleiche Gefühls- und gar Empfindungslosigkeit, die auch für die Figuren in Vernarbte Herzen charakteristisch ist, die hier zum Ausdruck kommt. Ähnlich wie der Kranke bei Merleau-Ponty wendet sich der Schreibende in Blechers Sanatoriumstagebuch131 von der Welt ab und zieht sich in den Leib als „Schlupfwinkel des Seins“132 zurück. Doch wird hier der leibliche Rückzug zur ästhetischen Ermöglichungsstruktur und das Versagen des Verstandes zum Impuls für die ästhetische Sondierung anderer, möglicher oder unsichtbarer Realitäten. „[I]n dem lauwarmen Dunkel unter der Haut“133 (întuneric călduţ din interiorul pielii) findet das Ich Spuren von einst Erlebtem, von Ge- und Erträumtem, die es unter dem Regime des kontingenten Erzählaugenblicks ausgestaltet, konfiguriert und in eine poetisch-fiktionale Welt überführt.134 Der von innen erkundete, phänomenale Leib wird zur „beleuchteten Höhle“ oder zum „beleuchteten Bau“ (vizuină), zum Quell- und Schöpfungsort einer materiellen oder „ästhetischen Imagination“135, die sich epistemologische Prärogative herausnimmt. Schließlich entwickelt der Schreiber einen ästhetisch entgrenzten Begriff der Wirklichkeit, der den

|| 130 Blecher, 2008, 80; „un om care trăiește și nu înțelege nimic din jurul lui, puțin zăpăcit, puțin amețit în vârtejul de întâmplări ale lumii, fără sentimente, fără dureri și fără bucurii.“ Blecher, 1999, 270. 131 Der Text löst die gattungsästhetischen Erwartungen nicht ein. Von den Erlebnissen in europäischen Sanatorien wird aus zeitlicher Distanz heraus erzählt. Die Ich-Erzählung schweift vom Erinnerungsschreiben in den Traumbericht, in irreale Wahrnehmungsimaginationen und philosophisch-ästhetische Reflexionen ab. Die Gegenwart, die hier für das Erzählen konstitutiv ist, ist keine frisch verronnene, objektive Zeit der äußeren Tagesereignisse, sondern das eben verrinnende Jetzt des Schreibens und Imaginierens. 132 Merleau-Ponty, 1966, 197. 133 Blecher, 2008, 61; Blecher, 1999, 260. 134 Wolfgang Iser hat das literarische Schreiben als Akt des Fingierens aufgefasst, der zwei Grenzüberschreitungen vollzieht: einmal als Irrealisierung in der „Überführung wiederholter lebensweltlicher Realität zum Zeichen für anderes“, also in der Verschriftlichung von Erinnerungen, und einmal als Realisierung, durch die mediale Einfassung von Vorstellungen und Träumen, die aus der Tatsachenwirklichkeit ausgegrenzt sind. Diese erhalten durch die Verschriftlichung eine relative Bestimmtheit und damit ein minimales „Realitätsprädikat“. Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt am Main 1991, 22. Gleichwohl schreibe das literarische Medium selbst noch seiner „Vergegenständlichung“ des Imaginären ein „Dementi“ ein, um dessen „proteischen Charakter“, also seine Unbestimmbarkeit zu bewahren. Der Operationsmodus des literarischen Mediums sei es, zu „prätendieren“. Literatur, mit anderen Worten, tut so, als ob. Ebd., 12. 135 Ästhetische Imagination im Sinne einer Vorstellungstätigkeit, die reale oder irreale Gegenstände in ihrer sinnlichen Gegenwärtigkeit präsentiert, in der Art, wie sie sich den Sinnen darbieten. Siehe Seel, 2003, 125.

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Anspruch hat, das Leben in seiner inkommensurablen Potentialität vorstellbar zu machen. Eine zentrale Strategie zur ästhetischen Auslegung der Wirklichkeit ist es, die „äußeren Tatsachen“136 (faptele exterioare) in ihrer Theatralik erscheinen zu lassen. Es sind insbesondere Erinnerungsepisoden aus den Sanatorien, Schockerlebnisse der gleichen Art wie Emanuels Besichtigung des Speisesaals in Vernarbte Herzen, die den schöpferischen Charakter der Kontingenz ausstellen. In einer Episode, die sich nach einer Operation des Ich-Erzählers ereignet und in der er Zeuge einer Sterbeszene wird, erweckt die Zusammenhanglosigkeit der Geschehnisse beispielsweise den Eindruck eines Marionettenspiels: Alles, was ich hörte, alles, was nebenan geschah, […] blieb [...] zusammenhanglos und inkonsistent, jedes einzelne Wort stand unverbunden neben dem anderen, jede Tatsache war isoliert von der darauf folgenden, wie ein Haufen loser Steine in einem Sack. […] Es war weniger, als bei einem Geschehen ,anwesend‘ zu sein, war, als ob einzelne Wirklichkeitsbrocken für einen Augenblick ins Zimmer gefallen und sofort verdunstet wären, war, als ob jemand an diesem Nachmittag ein Bett in einen leeren Raum gebracht hätte, einen Kranken, eine Krankenschwester, ein paar Stühle, eine Verbindungstür, einen Priester, einen Sterbenden – und nun zog eine riesige Hand an den Schnüren, und die Marionetten spielten ihr Spiel: ,Beichten… Notwendigkeit… Marlene… Wasser…‘“137

In der narrativen Reflexion epistemologischer Verunsicherung konkurrieren bei Blecher oft Vorstellungen der Wandlung oder Formenschöpfung der Materie, also Narrative der Naturwissenschaften oder Naturphilosophie138, mit Schöpfungsnarrativen der Kunst. So wird hier die diskontinuierliche Ereigniswahrnehmung als Mangel einer „vitale[n] Verbindung“ (legătura vitală) oder eines „Faden[s]“139 veranschaulicht, anhand einer Kontinuitätsmetaphorik also, die biologische und semiotische Valenzen hat. Die ästhetische Wahrnehmung der Ereignisse sichert einen minimalen Zusammenhalt, der phänomenologisch als sinnhaft gelten würde – d. h. die Möglichkeit von Sinn in sich bergend –, der aber bei Blecher als bedeutungsleere Form erscheint. Wenn hier der Inszenierungscharakter der Wirklichkeit auf den Betäubungszustand

|| 136 Blecher, 2008, 63; Blecher, 1999, 261. 137 Blecher, 2008, 17; „Tot ce auzeam, tot ce se petrecea alături [...] rămânea descusut și inconsistent, fiecare cuvânt detașat de celălalt, fiecare fapt izolat de cel următor ca o grămadă de pietre într-un sac. Îmi lipsea legătura lor vitală, firul acela care să-mi dea senzația că totul e închegat și că eu trăiesc ceea ca [sic] se petrece în jurul meu. Era mai puțin decât ,a asista‘ la ceva, era ca și cum bucăți de realitate cădeau pentru o clipă în odaie și apoi se evaporau, era ca și cum cineva aranjase în după-amiaza aceea într-o odaie goală un pat, un bolnav, o infirmieră, câteva scaune, o ușă de comunicație, un preot, un muribund și acum o mână uriașă trăgea sforile și marionetele își jucau piesa ‚împărtășit... necesitate... Marlena... apă...‘“ Blecher, 1999, 238. 138 Vergleiche das Kapitel „Empfinden als wahrere Realität“ in dieser Arbeit, wo Blechers BergsonRezeption thematisiert wird. 139 Blecher, 2008, 17; Blecher, 1999, 238.

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der Figur zurückgeführt und als Effekt seiner halbbewussten Teilnahme am Geschehen verstanden werden kann, so gibt es Passagen, wo die Theaterwelt den Reflexionsund Deutungsrahmen für die Erinnerungen aus dem Sanatorium abgibt – also nicht der inkonsistente Eindruck von damals, sondern die bewusste Auffassung im Hier und Jetzt des Schreibens. Die Welt der Kranken liefert die Beispiele anhand derer, das Paradigma der Realität als ein ästhetisches aufgedeckt und entwickelt wird. Es sind insbesondere die Figuren „revoltierter“ Kranken wie der Pariserin Teddy, an welchen sich zunächst die Sinnlosigkeit des Leidens zeigt, das den Menschen zufällig und ohne Grund trifft. Teddy nimmt ihre Situation nicht schicksalsergeben hin, sondern trotzt ihr mit allen Mitteln: durch extravaganten Lebensstil und modischem Bewusstsein, durch die leidenschaftliche Praxis all jener Formen der Schönheit und des Raffinements, die ein sorgloses Leben hervorbringt.140 Im Unterschied zu anderen Kranken im Sanatorium nimmt die Pariserin keine „Märtyrerinnenhaltung“141 an, sondern legt selbst auf dem Rollbett noch ein „Kinostarlachen“ und eine „revoltierte Haltung“142 an den Tag. Der Kontrast zwischen der urbanen Lebensart und dem Leidensort, der eine strenge Verhaltensdisziplin vorgibt, wird ästhetisch interpretiert als dramaturgischer Missgriff seitens der Realität, die „Dekor“ und „Rolle“ durcheinanderbringt: Gerade die äußeren Tatsachen, die wir für gründlich festgelegt halten, bringen häufig das Thema durcheinander und verwechseln die Beleuchtung, die man zur Illuminierung der Kulissen braucht, ja sogar die Rollen der Personen, die das Geschehen verkörpern. Dort, wo eine ernsthafte und traurige Person benötigt wird, stellt die Wirklichkeit mitunter einen schwachen Schauspieler hin, der kaum seine Rolle beherrscht und der – vor allem dies – sich in dem Stück nicht wohl fühlt.143

Die „Wirklichkeit“ erscheint als schöpferisches Agens und die sinnlosen Geschehnisse als dilettantische, dem Dasein gegenüber indifferente, ja „grausam[e]“144 (injust) Ästhetik.145 Die Krankheit ist dementsprechend nicht das Leidensschicksal, als

|| 140 Blecher, 2008, 65‒71. 141 Blecher, 2008, 64; Blecher, 1999, 261. 142 Blecher, 2008, 65; Blecher, 1999, 262. 143 Blecher, 2008, 63; „În fond, esența realității este o vastă confuzie de diversități fără sens și fără importanță. Chiar faptele exterioare, pe care le credem bine definite, încurcă de multe ori temele și confundă luminile ce trebuiesc aprinse pentru iluminarea decorului ca și rolul personajelor ce trebuie să joace întâmplarea. Acolo unde trebuia un personaj grav și trist, realitatea pune câteodată un actor slab ce abia își susține rolul și care – mai ales asta – nu se simte la locul lui în piesă.“ Blecher, 1999, 261. 144 Blecher, 2008, 67; Blecher, 1999, 263. 145 Es gibt in der neueren Forschung das Postulat eines ästhetischen Paradigmas der Wirklichkeit. In dem Band „Ästhetik im Widerstreit“ promovieren die Herausgeber Wolfgang Welsch und Christine Pries die Idee einer aktuellen ästhetischen Wende in der Auffassung von Realität, deren hervorstechenden Merkmale ihr Konstitutionscharakter, ihre Pluralität und Offenheit sind.

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welches sie in einem theologisch-metaphysischen Deutungsrahmen gilt, sondern eine kontingent generierte Rolle, eine ästhetische Zufallswahl der Realität von dramatischen Folgen für das Individuum. Allerdings transzendiert die ästhetische Sicht auf die Ereignisse im Sanatorium die Grenzen persönlicher Dramen und übt sich in Gelassenheit gegenüber den Missgriffen der Realität und dem Tod ein. Letzterer erscheint zuweilen wie eine willkommene Korrektur des Dilettantismus der Tatsachenwirklichkeit.146 Die ästhetische Auffassung der Erinnerungen an die Krankenwelt ist auch eine Strategie der emotionalen Immunisierung. Die Konsistenz des Erlebten kann auch subjektiv unterlaufen werden, durch die verschiedenen inneren Haltungen, die das Ich in einer Situation an den Tag legen kann: „[I]ns Zentrum eines tragischen Moments könnten wir [innerlich] einen Scherz einfügen, eine Anekdote ebenso wie den Titel eines Buchs oder den Inhalt eines Kinofilms.“147 Die Möglichkeit des Subjekts, Gefühle abzuwehren, legt zugleich auch den Konstruktionscharakter der Wirklichkeit offen, die sich vor dem Hintergrund einer ästhetisch präformierten Wahrnehmung herausbildet. Die Erscheinungsweise der Tatsachen erweist sich als hochgradig abhängig von den Wahrnehmungsdispositionen des Subjekts. Der äußeren Bühne der Ereignisse entspricht eine innere Bühne des Wahrnehmungssubjektes: Ich erinnere mich sogar, dass mehrfach und ganz ,unfreiwillig‘ und ohne dass ich mich hätte beherrschen können, während man mir beispielsweise die schmerzhafte und furchtbare Episode eines Todes mit den dramatischsten Details schilderte, in meinem Inneren, auf der Bühne meines kleinen persönlichen Theaters, die komischste und exzentrischste Gruppe kleiner Gummitierchen auftrat und Tänze aus den Zeichentrickfilmen vorführte, Akrobatenkunststücke und komische Salti; es hätte einem das Zwerchfell zerreißen können.148

Die innere Bühne wird zum Schauplatz antipathetischer Imaginationen, die bewusst, als Einübung oder, wie im obigen Zitat, „unfreiwillig“, als spontaner Widerstand produziert werden können und die ebenso unverhältnismäßig sein können wie die thematischen „Verwechslungen“ (confuzii) der Wirklichkeit. Blecher findet die paradigmatischen Modelle für das ästhetische Dilettieren der Realität vor allem in der Populärkultur. Nicht nur das Theater, sondern auch der Zeichentrickfilm, die Jahrmarktsartistik, der Karneval und der Trivialroman werden herangezogen, wenn

|| 146 Blecher, 2008, 71; Blecher, 1999, 265. 147 Blecher, 2008, 62‒63; „[P]utem plasa în centrul momentului tragic o glumă, o anecdotă ca și un titlu de carte sau subiectul unui film de cinematograf.“ Blecher, 1999, 261. 148 Blecher 2008, 63; „Îmi amintesc chiar că în diferite rânduri, în mod cu totul ,involuntar‘ și fără să mă pot stăpâni, în timp ce mi se povestea de exemplu episodul dureros și atroce al unei morți cu detalii din cele mai dramatice, să apară în interiorul meu, pe scena micului meu teatru personal, cea mai comică și mai eccentrică echipă de mici animale de cauciuc, executând dansuri de filme cu desene animate, acrobații și sărituri caraghioase, extraordinare, și de-a dreptul hilariante.“ Blecher, 1999, 261.

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es darum geht, die grotesken und gekünstelten Aspekte der Realität sichtbar werden zu lassen. Doch, ebenso wie in Vernarbte Herzen das „Arrangement“ des Speisesaals die Visionen der Horror-Literatur übertrifft, überbietet in Beleuchtete Höhle die Realität die unwahrscheinlichsten Produktionen der Unterhaltungskunst. Beispielhaft hierfür ist die Erinnerung an den Karneval im Sanatorium Leysin, als der Protagonist unvorhergesehen im Harlekinkostüm der Agonie einer sterbenden Nonne beiwohnt. Die Szene erscheint als Verwirklichung eines Trivialromans aus der Kindheit „,Die schöne Nonne‘, 5 Bani das Heft“149: Waren mithin alle romantischen Situationen, alle außerordentlichen Feuilletonszenen nichts als wahr? In diesem Augenblick erlebte ich ,Der Harlekin und die sterbende Nonne‘, und mir blieb nur auf der Gitarre die Serenade von einst zu spielen, damit die schöne Corinde (auch der Name musste aus den Romanen stammen) vor ihrem Tod noch einmal die alten nostalgischen Akkorde zu hören bekäme. Mitunter trägt die gesamte Wirklichkeit zu ihrer Romantisierung und ihrer bis in die Künstlichkeit getriebenen Fälschung bei. Was eine der Ressourcen ihrer ungeheuren Vielfältigkeit ist.150

Es gehört zum schöpferischen Potential der Realität, auch emphatisch künstliche Formen anzunehmen. Die Formenschöpfung oder Mimesis ist kein genuin artistisches Prinzip, sondern es wird bereits in der Natur in den Variationen der Materie identifiziert. So wird an einer Stelle beispielsweise die Erkrankung und ihre psychischen Folgen „de[m] gleiche[n] Zufall“ (întâmplare) zugeschrieben, „der aus einem Stück Materie hier einen Stein und dort einen Platinblock gemacht hat.“151 Zudem hatte Blecher in seinem philosophischen Artikel Exegeza câtorva teme comune die Evolutionsformen der organischen Materie im Sinne Bergsons als akzidentiell und von inneren Antagonismen gekennzeichnet dargestellt.152 Was sich also an artifiziellen, grotesken oder theatralischen Situationen zeigt, ist ein elementares Schöpfungsprinzip, das die gesamte materielle Welt durchwirkt und einer ziellosen, kontingenten Dynamik gehorcht. Im Vergleich dazu bleiben die Produktionen der artistischen Imagination stets unterbestimmt. Selbst dort, wo die künstlerische Vorstellungskraft eine faktische Situation vorweggenommen zu haben scheint, überbie-

|| 149 Blecher, 2008, 140; Blecher, 1999, 301. 150 Blecher, 2008, 140; „Toate situațiile romantice, toate scenele extraordinare de foileton erau dar adevărate? În clipa aceea trăiam ‚Arlechinul și Călugărița muribundă‘ și îmi rămânea doar să cânt din chitară serenada de odinioară pentru că [sic] frumoasa Corinda (și numele era din romane) să poată să mai asculte odată înainte de a muri vechile acorduri nostalgice. Toată realitatea contribuie câteodată la romantismul și propria ei falsificare până la artificialitate. Este una dintre resursele imensei ei diversități.“ Blecher, 1999, 301. 151 Blecher, 2008, 80; „Cred că e o întâmplare, acceeași, care a făcut dintr-o bucată de materie aici o piatră și dincolo un bloc de platină.“ Blecher, 1999, 270. 152 M. Blecher, „Exegeza“ in: Blecher, 1999, 379‒384. Zur Auseinandersetzung Blechers mit Bergson siehe Kapitel 4 „Empfinden als wahrere Realität“.

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tet das reale Geschehen schließlich den künstlerischen Entwurf. Die Sterbeszene im Sanatorium nimmt eine unerwartete Wendung an, als die Nonne an dem Schlauch für die Sauerstoffzufuhr zu ersticken droht. Das krude Detail stört die trivialromantische Perzeption im Stile eines 5-Bani-Heftchens: „Eine Szene“, heißt es, „die der Romanautor in seinen Heften nicht vorgesehen hatte.“153 Die Einsicht in den ästhetischen Charakter der Wirklichkeit, die selbst die unwahrscheinlichsten Szenarien der Unterhaltungskunst zu überflügeln vermag, aber auch das surrealistische Argument einer unmöglichen Abgrenzung von Traum und Alltagsrealität154 führt schließlich zum visionären Entwurf einer „Vorratskammer der Wirklichkeit voller Finsternisse und Überraschungen“155 (depozitul necunoscut al realităţii plin de tenebre şi de surprize), der mit zu den eindrücklichsten Passagen in „Beleuchtete Höhle“ gehört: Im Kern der Wirklichkeit gibt es ein Missverständnis immensen Ausmaßes und von unendlicher Vielfalt, woraus sich unsere Vorstellungskraft eine verschwindend geringe Menge entnimmt, gerade mal so viel, wie sie benötigt, um sich – ein paar Lichtpunkte und etliche Interpretationen zusammenraffend – den ,Lebensfaden‘ zu knüpfen, und diesen Lebensfaden – wie ein feines und stetes Rinnsal von Licht und Träumen – bezieht jeder Mensch aus dem mütterlichen Reservoir der Wirklichkeit […]. In der ,noch nicht verronnenen Zeit‘ liegen alle Gefühle, alle Gedanken, alle Träume, die bisher noch nicht vorgekommen waren, aus denen Generationen von Menschen den ihnen nötigen Teil Wirklichkeit, Traum und Irrsinn auf der Welt, aus der sich so viele Träumer nähren werden. Die ebenso riesige Reserve an Tagträumen, aus der unzählige Dichter ihre Gedichte schöpfen, und die riesige Reserve an nächtlichen Träumen, mit der sich so viele Schläfer ihre Albträume und terrorisierenden Nachtmahre bevölkern werden.156

Die Auffassung von Wirklichkeit wird hier ins Potentielle und Imaginäre entgrenzt. Das hat Folgen für das Schreiben. Das Schreiben öffnet sich der Kontingenz, der „noch nicht verronnenen Zeit“ und realisiert imaginativ mögliche Konfigurationen der Wirklichkeit, indem es in digressiven und diskontinuierlichen Bewegungen

|| 153 Blecher, 2008, 140; „Era o scenă pe care n-o prevăzuse romancierul în fasciculele sale.” Blecher, 1999, 301. 154 Blecher, 2008, 26‒28 und 39‒40. 155 Blecher, 2008, 73; Blecher, 1999, 266. 156 Blecher, 2008, 72‒73; „Este în fondul realității o neînțelegere de imensă amploare și de grandioasă diversitate din care imaginația noastră extrage o infimă cantitate, atât cât îi trebuie pentru ca adunând câteva lumini și câteva interpretări să-și constituie ,firul vieții‘ și firul acesta al vieții ca o fină și continuă șuviță de lumină și de visuri, fiecare om îl extrage din maternul rezervor al realității [...]. În timpul care ‚nu s-a scurs încă‘, zac toate întâmplările, toate sentimentele, toate gândurile, toate visele care n-au avut loc încă și din care generații de oameni își vor sccoate partea necesară de realitate, vis și nebunie. Imensa rezervă de demență a lumii din care se vor hrăni atâția visători! Imensa rezervă de reverie a lumii din care vor extrage poeme atăția poeți și imensa rezervă de visuri nocturne din care își vor popula coșmarele și terorile din somn atăția oameni adormiți!“ Blecher, 1999, 266.

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Simultaneitäten von zum Teil makrokosmischen Dimensionen entwirft und Übergänge zwischen Traum, Träumerei und Erinnerung vollführt. Dabei bleibt es stets im Bewusstsein seiner eigenen Begrenztheit. Es ist einer Wechseldynamik ausgesetzt zwischen der Vision des „unausdenkliche[n] Tableau[s]“, „welches das ‚universelle Leben in seinem gesamten Ablauf‘ darstellt“157 und dem Wissen, dass es sich selbst unter dem Regime eines kontingenten Hier und Jetzt entfaltet.158 Vor allem aber wird das „Missverständnis“ im „Kern der Wirklichkeit“ künstlerisch appropriiert und zur kreativen Schreibstrategie gemacht. Sie kommt nicht zuletzt in der Versprachlichung starker Empfindungen, die mit der Krankheit einhergehen, wie Schmerz und Ekel zum Zuge.

6.6 Eine „leicht verrückte“ Schmerzwahrnehmung Es gilt noch einmal zu der Frage zurückzuzukehren, inwiefern Blecher in seiner Prosa Körpergefühle und Empfindungen darstellt, die von der Krankheit und therapeutischen Praxis verursacht werden und die zugleich jenseits des medizinisch Sicht- und Sagbaren liegen. Es gibt im Sanatoriumstagebuch Beleuchtete Höhle eine verhältnismäßig geringe thematische Präsenz des Köperleidens. Dort, wo dieses zur Sprache kommt, wird es zugleich als Quelle schöpferischer Inspiration geächtet: Da nun beiläufig auch vom physischen Leiden die Rede ist, erlaube ich mir, es für diejenigen, die leiden, als verächtlich zu bezeichnen, als sinnlos, und es nicht auf einen besonderen Rang zu erheben von der Art einer ;vornehmen und bewunderungswürdigen Inspiration für die Kunst‘, die allein gültige Kunstwerke gebiert. In Ruhe und Überfluss, so glaube ich, wurden unendlich viel mehr bleibende Kunstwerke geschaffen als im Schmerz und unter Zähneknirschen.159

|| 157 Blecher, 2008, 73, “tablou de negândit, […] care este ,viaţa universală în toată desfăşurarea ei‘“, Blecher, 1999, 266. 158 Die visionäre Schreibperformanz ist in Beleuchtete Höhle mit der Reflexion der inkommensurablen Struktur des verrinnenden Augenblicks verbunden, eines Augenblicks der „leeren Dauer“. Karl Heinz Bohrer widmet dem literarischen Phänomen des defizitären Augenblicks eine breite Studie, in der er das Werk Leopardis und Kafkas als paradigmatische Beispiele einer ästhetischen Negativität darlegt. Er versteht den Augenblick der „leeren Dauer“ als einen ästhetischen Versuch, das im Grunde unausdenkliche Zeitvergehen zu reflektieren. Es handelt sich also um eine literarische Augenblickskonstruktion, die, im Unterschied zum emphatischen Augenblick der Surrealisten etwa, den Verlust von Gegenwart anschaulich macht. Karl Heinz Bohrer, Ästhetische Negativität, München, Wien 2002. 159 Blecher, 2008, 80; „Pentru că în treacăt este vorba și de suferința fizică, îmi permit s-o socotesc pentru cei ce suferă, abjectă, fără sens și să n-o ridic la nici un rang ilustru ca de exemplu ‚nobilă și admirabilă inspiratoare în artă‘ și aceea care singură dă naștere operelor viabile. Cred că s-au născut în calm și plenitudine infinit mai multe opere care au rămas, decât în durere și în scrâșnete de dinți.“ Blecher, 1999, 270.

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Der Ich-Erzähler spricht sich hier gegen die ästhetische Nobilitierung des Leidens aus und vor allem gegen jedwede Metaphysik der Krankheit. Wenn im Schreiben über das physische Leiden stets die Versuchung aufkommt, diesem eine spirituelle Dimension zu verleihen – „de l’interpreter, de dépasser le stade de l’observation clinique et objective pour lui donner une dimension spirituelle“160 – so leisten Blechers Darstellungen Widerstand gegen diese Versuchung. Blechers Antimetaphysik des Leidens bricht mit literarischen Figurationen der Krankheit als Böses im moralischen oder religiösen Sinne, wie sie etwa bei Baudelaire anzutreffen sind. Im Gedicht Bénédiction, das den ersten Teil der Fleurs du Mal eröffnet, heißt es über das Leiden: „Soyez béni, mon Dieu, qui donnez la souffrance / Comme un divin remède à nos impuretés“ oder „Je sais que la douleur est la noblesse unique / Où ne mordront jamais la terre et les enfers“161. Die blasphemische Ironie, mit der hier der Dichter die Gottheit segnet, mindert nicht die Bedeutung von Leid und Schmerz als ästhetische Produktivkräfte im Werk Baudelaires. In Le peintre de la vie moderne kennzeichnet Baudelaire den Künstler als éternel convalescent und führt dessen Kreativität auf einen Zustand extremer Sensibilisierung zurück wie er durch Krankheiten oder sogar durch die Nähe zum Tod hervorgerufen wird.162 Blecher stellt dagegen die Krankheit als rein physisches Phänomen dar, wobei sie in ihren Auswirkungen auf die Alltagsrealität und das Bewusstsein durchaus den Rahmen einer epistemologischen und ästhetischen Initiationserfahrung abgibt. Doris Mironescu hat am Beispiel der Briefe und der Prosa Blechers gezeigt, dass sich die Haltung des rumänischen Autors der Krankheit und ihrer körperlichen Symptomatik gegenüber über die Jahre wandelt, von einer anfänglichen Neugierde hin zur ästhetischen Desavouierung.163 In dem Brief Blechers an Saşa Pană vom 7. Juli 1934, einem der wenigen, wo Blecher seine Poetik reflektiert, leitet er aus der Desintegration seiner Lebensrealität durch die Krankheit eine Art ästhetisches Ethos ab: Die Unwirklichkeit und Unlogik des Alltags sind für mich längst keine undefinierten Probleme intellektueller Spekulation mehr: ich lebe in dieser Unwirklichkeit, zwischen ihren fantastischen Vorkommnissen. Zunächst habe ich mir die Freiheit erlaubt, keine Verantwortung für den Bezug innerer Akte zueinander zu übernehmen, - ich habe versucht, die Schranke der Konsequenzen zu durchbrechen und – aus Aufrichtigkeit zu mir selbst – jeder Versuchung des Halluzinatorischen den Wert eines hellwachen Willensaktes zu geben. Ich weiß allerdings nicht – und kann gar nicht wissen –, in welchem Ausmaß die Surrealität ihre Tentakel in mir

|| 160 Arlette Bouloumié, „Introduction“ in: Arlette Bouloumié, Écriture et Maladie. „Du bon usage des maladies“, Paris 2003, 12. 161 Charles Baudelaire, „Bénédiction“ in: Charles Baudelaire, Die Blumen des Bösen. Les Fleurs du Mal, 9. Auflage, München, Wien 2002, 18. 162 Charles Baudelaire, „Le peintre de la vie moderne“, (1863) in: Charles Baudelaire, Oeuvres complètes, Bd. 2, Claude Pichois (Hrsg.), Paris 1976, 691. 163 Mironescu, 2011, 77‒79.

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ausfahren wird. Ich weiß nur, dass ich alle Jetons bis auf den letzten ins Spiel bringen werde. Ich mag die Vorstellung, dass eine Handvoll Dichter wie echte Vampire der fetten Bewusstseine und verfaulten Ideen von nun an stets die Beschaulichkeit aussaugen wird und in den teuersten und gemütlichsten, amoralischen Illusionen der Menschheit ihre Fahnen und Schatten hochhalten werden. 164

Die Krankheit ist ein sinnloser Zufall, doch fällen einige ihrer Manifestationen mit intellektuellen Spekulationen in eins, die Blecher mit der Avantgarde teilt. Sie eröffnet, ob willkommen oder nicht, ein Erfahrungsfeld des „Fantastischen”, „Halluzinatorischen” bzw. der „unmittelbaren Unwirklichkeit”, die Blecher hier um die ästhetische Nähe an Pană zu bekräftigen, „Surrealität” nennt. Diese Erfahrungsdimension zu sondieren, nimmt sich der angehende Autor 1934 noch entschieden vor. Blecher ist sich dabei bewusst, dass die Krankheit in psychologischer Hinsicht die Gefahr der emotionalen Desintegration in sich birgt: „Die Krankheit beginnt aus mir einen Professionellen der Rührseligkeit und Empfindlichkeit zu machen”, schreibt er in demselben Brief, „– ich habe das Stadium erreicht, das ich am meisten fürchtete: ‚assister à sa propre dégringolade’”165. Schöpferisch verwertbar ist sie, insofern sie, so wie in seinen Sanatorientexten dargestellt, die falsche Logik und den Illusionscharakter der Alltagsrealität aufdeckt. Was der Brief explizit macht und in der Prosa unausgesprochen bleibt, ist, dass eine strenge Bewusstseinsdissziplin vonnöten ist, um das ästhetische Potential, das die zerfallene Alltagsordnung freisetzt, zu erschließen. Aufrichtigkeit zu sich selbst bzw. Authentizität und unerschütterliche Nüchternheit oder analytische Kälte, wie sie sich in Blechers Erzählstil niederschlagen, sind zentrale Momente im Umgang mit den „Versuchungen des Halluzinatorischen”. Der etwas aufgebauschte agitatorische Gestus der Briefstelle verweist darauf, dass sich Blecher hier der Schlüsselfigur der Bukarester Avantgarde-Szene Saşa Pană empfehlen will, auch im Hinblick auf die Möglichkeit, in der Zeitschrift Unu Texte zu veröffentlichen.166 Mit der übersteigerten, schaurigen Vision eines poetischen Vampyrismus, der sich aus den Illusionen des bourgeoisen Bewusstseins speist,

|| 164 „Irealitatea și ilogismul vieții cotidiene nu mai sunt de mult pentru mine vagi probleme de speculație intelectuală: eu trăiesc această irealitate și evenimentele ei fantastice. Întâia libertate pe care mi-am acordat-o a fost aceea a iresponsabilității actelor mele interioare unul față de celălalt, ‒ am încercat să rup bariera consecințelor și – ca o onestitate fațâ de mine însumi am căutat să ridic la egal de lucidă și voluntară valoare orice tentație a halucinantului. Cât însă și cum își dezvoltă în mine suprarealitatea tentaculele ei, nu știu și nu aș putea ști. Știu doar că voi juca până la ultimele jetoane. Îmi place să cred că de-acum înainte, în toate vremurile, o mână de poeți ca adevărați vampiri ai conștiințelor grase și ideilor putrede vor suge sângele quietudinei și vor agita steaguri și umbrele în iluziile cele mai scumpe, mai digestive și mai amorale ale omenirii.“ Brief M. Blechers an Sașa Pană vom 7. Juli 1934 in: Blecher, 1999, 396. Meine Übersetzung. 165 „Boala începe să facă din mine un profesionist al emotivității și al susceptibilităților, ‒ am ajuns în faza de care mă temeam mai mult: ‚assister à sa propre degringolade‘ [sic].“ Ebd. Meine Übersetzung. 166 Vgl. Mironescu, 2011, 112 und Wichner, „Reihe 19, Platz 7“ in: Blecher, 2008, 181.

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fraternisiert der noch unbekannte Dichter offensichtlich mit der rumänischen Avantgarde, doch ist er zugleich selbstbewusst genug, um auf unüberbrückliche Differenzen hinzuweisen: „Einige Sachverhalte trennen mich vom reinen Orthodoxismus der Manifestliteratur; die ganze Schwierigkeit läge also darin, dass Unu meine Haltung so nimmt wie sie ist, zumal ich sie nicht ändern könnte.”167 Je mehr sich Blechers Gesundheitszustand verschlechert, desto schwerer fällt es ihm, seiner von der Krankheit gezeichneten Lebenserfahrung Reize abzugewinnen. Aus den späten Briefen an Geo Bogza sprechen Mutlosigkeit und Desillusion, die hie und da von bitterem Humor aufgebrochen werden: Für mich hat die Literatur, die Poesie, ja, die gesamte Wirklichkeit alle Anziehungskraft unwiederbringlich verloren und, wenn ich weiterhin lebe und mich weiterhin beschäftige und schreibe, dann nur, weil mir in der gegenwärtigen Lage nichts Besseres zu tun bleibt. Es gibt in Berck eine ,wohltätige‘ Gesellschaft, die den Kranken beibringt, wie man Körbchen flicht und Jacken strickt, ich aber kann weder flechten, noch stricken, also schreibe ich Bücher…. Alles, was ich tue, alles, was ich ,erlebe‘, geschieht in einem Taumel und einer Halluzination, als hätte ich Opium geraucht. Letzten Endes ist das Leben somnambul, ob man nun Opium geraucht hat oder nicht. Ich sage dir dies alles mit immenser Traurigkeit. Es ist lange her, seitdem von dieser ,Halluzination‘ ich weiß nicht welcher Reiz, welche Frische und Variation ausgegangen ist. Ich habe jegliches Interesse dafür verloren168

Der Brief stammt aus der Entstehungszeit von Beleuchtete Höhle. Das Schreiben ist zu diesem Zeitpunkt offenbar zur reinen Beschäftigungstherapie geworden, zur selbstgenügsamen Strick- und Flechtarbeit mit Worten und Zeilen, bei der es nicht auf das Endprodukt ankommt, sondern auf das Tun allein. Doch während sich Blecher von den „Versuchungen des Halluzinatorischen“ kaum mehr einen ästhetischen Mehrwert verspricht, reizt sein Schreiber die Konfusionen zwischen Traum und Wachzustand, zwischen Erinnerung und Tagtraum imaginativ aus. Es gibt in Beleuchtete Höhle emphatische Affirmationen der Unwirklichkeit und eine ungebrochene Experimentierlust an imaginativ verfremdete Wahrnehmungen, die deutlich dafür sprechen, dass

|| 167 „Câteva chestiuni mă despart totuși de ortodoxismul curat de manifest, toată greutatea ar fi deci ca ‚unu‘ să-mi tolereze atitudinea mea așa cum este și cum n-aș putea-o modifica.“ Brief M. Blechers an Saşa Pană vom 7. Juli 1934 in: Blecher, 1999, 397. Meine Übersetzung. 168 „Pentru mine de mult literatura, poezia, și chiar însăși întreaga realitate au pierdut iremediabil orice atracție, și dacă continui să trăiesc, să mă ocup de ceva, să scriu, e pentru că n-am altceva mai bun de făcut în condiția de acum a vieții mele. Există la Berck o societate de ‚binefacere‘ care învață pe bolnavi să împletească panerașe și să tricoteze flanele, eu însă nu pot nici împleti, nici tricota și de aceea scriu cărți... Tot ce fac, tot ce ‚trăiesc‘, e într-o amețeală și o halucinație ca și cum aș fi fumat opium. În definitiv, viața este aceeași, tot atât de somnambulică, dacă ai fumat opium ori nu. Îți spun toate acestea cu imensă tristețe. Este mult timp de când ‚halucinația‘ asta care avea nu știu ce atracție, nu știu ce prospețime și ce variațe într-însa nu mai are pentru mine absolut nici un interes.“ Brief M. Blechers an Geo Bogza vom 19. August 1937 in: Lascu, 2000, 140. Meine Übersetzung.

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das Schreiben für Blecher im Verhältnis zum Leben „ein Trotzdem“169 ist. Das Schreiben bleibt ein engagiertes und visionäres Unterfangen, abgeschirmt von der persönlichen Verzweiflung des Autors. „[I]ch“, verkündet der Schreiber im Sanatoriumstagebuch, „halte die Demenz für sehr spannend und für den äußersten Versuch, die Wirklichkeit im Lichte eines anderen Verständnisses als gewöhnlich zu sehen, und den Ausdruck ‚leicht verrückt‘ finde ich für diese Art der Wirklichkeitsbetrachtung – aus einer gewissen Distanz außerhalb der Realität – durchaus angemessen.“170 Das Bekenntnis ist mit einer der eindrücklichsten Schmerzdarstellungen in der Prosa M. Blechers verbunden. Es handelt sich um eine Erinnerungsepisode, in der sich der Erzählerprotagonist ohne Betäubung einem operativen Eingriff unterziehen lässt. Weil er während der Operation keinen Schmerzensschrei ausstößt, wird er vom Arzt beglückwünscht und zum „Helden des Leids“ (erou al suferinţii)171 ernannt. Ebenso wie Quitonce in Vernarbte Herzen weist die Ich-Figur die Pathosformel hier als unsachgemäß zurück. Ihr werden antipathetische Deutungsmuster des Körperleids gegenübergestellt. Unter dem psychiatrisch-pathologischen Begriff der „Demenz“ entwickelt der Ich-Erzähler ein anästhetisches Erklärungsmodell für die „leicht verrückt[en]“172 (ieşit din minţi) Verhaltensweisen des Kranken im Umgang mit Schmerz. Der Begriff wird zunächst über die Analogie mit einem Kinderspiel entfaltet und veranschaulicht: Es gibt jenes Kinderspiel, das ‚Kopierbilder‘ genannt wird und bei dem die kopierten Figuren schief und entstellt werden, wenn man nicht ganz genau arbeitet oder das Papier beim Kopieren ein bisschen verrutscht. Es zeigt den überraschend originellen Gesichtspunkt des Irren, dem sich beim ‚Kopieren‘ des Lebens die Wirklichkeit um ein paar Zentimeter verschoben hat, das heißt, ‚sie hat ihre Sinne verloren‘ und auf diese Weise ganz außergewöhnliche Formen angenommen.173

|| 169 Siehe dazu auch die Ausführungen Lukácsʼ: „Die Kunst ist – im Verhältnis zum Leben – immer ein Trotzdem.“ Georg Lukács, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, 2. Auflage, München 2000, 62. 170 Blecher, 2008, 81; „[S]ocotesc demența ca o foarte tentantă și supremă încercare de a vedea realitatea în lumina unei înțelegeri diferite de cea de toate zilele, iar expresia ‚ieșit din minți‘ o socotesc foarte justă pentru acest fel de a asista la întâmplările lumii în situația unei mici distanțe în afară de rațiune.“ Blecher, 1999, 270. 171 Blecher, 2008, 81; Blecher, 1999, 270. 172 Blecher, 2008, 81; Blecher, 1999, 270. 173 Blecher, 2008, 81; „Există jocul acela copilăros care se numește ‚poze de copiat‘ și care când nu e bine executat și hârtia se deplasează puțin în timpul copiatului figurile ies strâmbe și diforme. Este punctul de vedere, surprinzător de inedit al dementului pentru care, în timpul ‚copiatului vieții‘, realitatea s-a deplasat cu câțiva centimetri, adică a ‚ieșit din minți‘ și a dat astfel forme cu totul extraordinare.“ Blecher, 1999, 270‒271.

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Die „Demenz“ wird als Deformation gegebener Gestalten durch eine im konkreten Sinne deplatzierte, verschobene Reproduktion verstanden. Sie wird nicht vordergründig als psychischer Mechanismus in Augenschein genommen, vielmehr als Entregelung der Sinne oder „Heteroästhesie“174, die ästhetische Effekte erzielen kann. Als aisthetischer Irr-Sinn liefert die Demenz bei Blecher das Modell für experimentelle Techniken der Anästhesie, durch welche der Schmerz dynamisch kartographiert und in musikalische Register transponiert wird. In der darauffolgenden Schmerzdarstellung wird die starke Empfindung zunächst als Diskontinuität der Gedanken beschrieben. Diese werden jäh „in einer Art namenlosem Chaos unterbrochen“.175 Der Schmerz ist also zunächst nur in seiner negativen Struktur beschreibbar, als Ausfall oder Riss der Gedanken. Die Beschreibung als „eine Art Klingelmechanismus, der ab und zu das Gehirn zum Leiden erweckt“176 entspricht dem medizinisch-neurologischen Schmerzmodell, der diesen als „Integritätsverletzung“ und „plötzliche heftige Veränderung, die […] den Zusammenhang der Zeit unterbricht“ begreift.177 Wie Iris Hermann anmerkt, ist der Schmerz als extreme Empfindung zugleich „ein Grenzfall für die Kommunikation und Darstellbarkeit“178. Seine Sag- und Darstellbarkeit wird bei Blecher durch anästhetische Techniken des Empfindungsbewusstseins ermöglicht, das sich gegen die automatische Fluchtreaktion des Organismus behauptend dem Schmerzgeschehen „aus unmittelbarer Nähe“179 widmet: Und sieh an, wenn der Schmerz plötzlich in meinen kranken Schenkel schoß, … verlegte [ich] mich darauf, seine Mäander in dem abstrakten und dunklen Raum zu verfolgen, in dem er stattfand; er war wie ein feiner Wasserlauf, der heiß im Schenkel entsprang und aus dem sich Tropfen und kleine Rinnsale wie in einem Wasserspiel in alle Richtungen hin verzweigten; dann kam mitunter ein lebendigerer Schmerz wie eine Verdickung jenes Einschusses und wie ein Fächer von Stichen, die im Fleisch widerhallten. Nun kannte ich die ‚Kontur‘ des Schmerzes, und ich musste ihr nur noch mit geschlossenen Augen folgen, wie einem Musikstück, und versuchen, aufmerksam auf alle Ton- und Intensitätsvariationen des Schmerzes genau so zu ‚hören‘, wie ich den Modulationen und Auffächerungen eines Konzertstückes mit den gleichen

|| 174 Bernhard Waldenfels, Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden, Bd. 3, Frankfurt am Main 1999, 11. 175 Blecher, 2008, 84; „se întrerup într-un fel de haos ce nu mai are nume“, Blecher, 1999, 272. 176 Blecher, 2008, 84; „un fel de mecanism de sonerie care cu intermitenţe trezeşte creierul spre suferinţă“, Blecher, 1999, 272. 177 Iris Hermann, Schmerzarten. Prolegomena einer Ästhetik des Schmerzes in Literatur, Musik und Psychoanalyse, Heidelberg 2006, 22‒23. 178 Ebd., 11. 179 Blecher, 2008, 86; Blecher, 1999, 273.

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Wiederholungen und Themen folgte. Ich entdeckte sie in der ‚Komposition‘ des Schmerzes ebenso wie in der Musik, die ich hörte.180

Was zunächst zur Erscheinung kommt, ist eine Art Stromkarte des Empfindens mit „Mäandern“, „Wasserläufen“, „Tropfen“ und „Rinnsalen“, die filigrane Läufe und komplexe Dynamiken ebenso verzeichnet wie Richtungen, Temperaturen, Verdichtungen und punktuelle Intensitäten. Kartographiert wird die intensive Mannigfaltigkeit des Schmerzes. Der „abstrakte und dunkle Raum“, den er ergreift, ist vergleichbar mit dem „glatten Raum“181 bei Deleuze und Guattari. Mit dem „glatten Raum“ entwickeln die beiden Kritiker der Psychoanalyse, unter anderem in Anknüpfung an Bergsons Begriff der kontinuierlichen Mannigfaltigkeit, ein topologisches Gegenmodell zum extensiven, sogenannten „gekerbten Raum“. Während der „glatte Raum“ direktional, intensiv, affektiv geladen sei und eher einer haptischen Wahrnehmung entspreche, sei der „gekerbte Raum“ dimensional, metrisch, extensiv und eher eine optische Wahrnehmung.182 Der „glatte Raum“ sei ferner „von Intensitäten, Winden und Geräuschen besetzt, von taktilen und klanglichen Kräften und Qualitäten.“183 Er zeichne sich also durch ‚blinde‘ Verflechtungen von Haptik und Klang aus, wie sie für Blechers Darstellungen des Selbstempfindens charakteristisch sind.184 In einer zweiten anästhetischen Phase erfährt die „Kontur“ des Schmerzes bei Blecher eine quasi-musikalische Modulation, die bezeichnenderweise erst „mit geschlossenen Augen“, durch Ausblendung aller Außeneindrücke gelingt. Es ist das Empfindungsbewusstsein, das dank seines vielfältigen Auffassungsvermögens das zunächst unfassliche Phänomen zu einer „Komposition“ gestaltet und den automatischen Impuls vor Schmerz zu schreien zu einer inneren „‚Melodie‘ des Schmerzes“ sublimiert. Der Spasmus wird kartographiert und musikalisiert, indem das Ich „aus den Bereichen [des] Bewusstseins“185 (domeniile conştiinţei) ins Fleisch, in die Schmerzgegend hinabwandert und dem || 180 Blecher, 2008, 85, „Și iată cum, când de pildă durerea țâșnea deodată în coapsa mea bolnavă, lăsam deoparte orice lectură, orice conversație și mai ales orice gând interior și mă puneam să urmăresc meandrele ei în spațiul abstract și întunecat unde aveau loc, era ca un fir de apă care izvora acolo fierbinte în coapsă și din el se despărțeau stropi și firișoare în toate părțile ca într-un joc de artificii; apoi din când în când o durere mai vie era ca o îngroșare a țâșniturii și ca un evantaliu de înțepături ce se răsfrângeau în carne. Știam acum ‚conturul‘ durerii și nu-mi rămânea decât, cu ochii închiși, să-l urmăresc ca pe o bucată muzicală, și să caut a ‚asculta‘ atent toate variațiile de ton și intensitate ale suferinței exact în același fel în care urmăream modulațiile și diversitățile unei bucăți de concert cu aceleași reveniri și cu aceleași ‚teme‘, pe care le descopeream în ‚compoziția‘ durerii exact ca în muzica ce-o ascult.“ Blecher, 1999, 272‒273. 181 Gilles Deleuze/Félix Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, 5. Auflage. Berlin 2002, 657‒693. 182 Ebd. 183 Ebd., 664. 184 Siehe Kapitel 4 dieser Arbeit „Empfinden als wahrere Realität“. 185 Blecher, 2008, 85; Blecher, 1999, 273.

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Phänomen seine ganze Aufmerksamkeit widmet, indem es also selbst zur Schmerzkarte wird, sich zur Schmerzgestalt moduliert. Allerdings verliert der Schmerz dabei zunehmend seine spezifische Phänomenalität: „Aus unmittelbarer Nähe geprüft, verliert ein Gefühl seine Schärfe und seine Farbe, ebenso wie man in zu grellem Licht nichts mehr unterscheiden kann.“186 Es gibt deutliche Bezüge zwischen Blechers Schmerzdarstellung und Bergsons Begriff der Empfindungsintensität in Zeit und Freiheit. Der französische Philosoph hatte zur Veranschaulichung seines Konzeptes von den unmittelbaren Bewusstseinstatsachen einen zunehmend intensiveren Schmerz „mit einer Symphonie“ verglichen, „bei der sich eine wachsende Zahl von Instrumenten zu Gehör bringt.“187 Der Vergleich hat bei Bergson eine Erkenntnisfunktion. Er stellt ein anschauliches Modell für die Mannigfaltigkeit des Schmerzes dar, dessen wachsende Intensität deshalb nicht mit dem „Ton einer Skala […], der immer stärker wird“188, zu vergleichen sei. Bergson erachtet „die Zahl und Ausdehnung der in Mitleidenschaft gezogenen und im Angesicht des Bewusstseins reagierenden Körperteile“189 als definitorisch für die Empfindungsintensität. Vor allem hatte der französische Philosoph die Empfindung als Antizipation des Kommenden durch den Organismus und daher als Beginn einer Freiheit verstehen wollen. Ihre Rolle sah er in der Eröffnung einer Wahl zwischen verschiedenen möglichen Reaktionen und Auffassungen, die Automatismen außer Kraft setzt. Die Ich-Figur in Beleuchtete Höhle macht von diesem Raum der Möglichkeiten Gebrauch, wenn er sich der automatischen Fluchtreaktion widersetzend den Schmerz zu einer musikalischen Komposition transformiert. Blecher findet bei Bergson den philosophischen Prätext zu narrativen anästhetischen Verfahren, durch welche das Bewusstsein die namenlosen Erregungen im Fleisch einfängt und in ästhetische oder topologische Register übersetzt. Auf ähnliche Weise werden in Vernarbte Herzen die propriozeptiven Empfindungen unter dem Gips dargestellt.190 Diese „leicht verrückte“ Aisthesis starker Empfindungen belegt, wie Doris Mironescu anmerkt191, keine Faszination oder ästhetische Kultivierung des Leidens, so faszinierend die Beschreibungen dem Leser auch erscheinen mögen. Vielmehr handelt es sich um anästhetische Übungen, in denen sich das Empfindungsbewusstsein gegen den Organismus behauptet und seine Strukturen unterwandert.

|| 186 Blecher, 2008, 86; „Examinată de-aproape, o senzație își pierde și acuitatea și culoarea, astfel cum în luminile prea violente nu se mai poate distinge nimic bine definit.“ Blecher, 1999, 273. 187 Bergson, 1911, 28. 188 Ebd. 189 Ebd., 29. 190 Blecher, 2006, 70‒71 und 85‒86. 191 Mironescu, 2011, 79.

7 Schlusswort Die Krisen der Figuren M. Blechers sind – ganz gleich, ob sie durch die aisthetische Präsenz der Dinge oder durch den Einbruch der Krankheit hervorgerufen werden – Erfahrungen eines rational Unverfügbaren. Blecher stellt wahlweise Augenblicke einer gesteigerten Gegenwart oder in „Beleuchtete Höhle“ Momente einer „leeren Dauer“1 dar, die als Ereignisse der Kontingenz sowohl die Subjektivität, als auch die alltäglichen Wissens- und Verhaltensstrukturen außer Kraft setzen. Dass sich Blecher in der Darstellung dieser Ausfälle vornehmlich den Empfindungsintensitäten im Körper hinwendet, wird vor dem Hintergrund der Bewusstseinsphilosophien der Zeit verständlich als eine Suche im Kreatürlichen nach einem vermeintlich authentischerem Selbst und nach einer „wahreren Realität“2 (o realitate mai adevărată). Sie ereignet sich im Medium der Sprache. Da sich die sinnlichen Erregungen, um welche es Blecher geht, unter- oder oberhalb der Wahrnehmungschwelle ereignen und nicht gegenständlich gegeben sind, ist ihre mnemonisch-narrative Gestaltung notwendigerweise konstruktiv und imaginativ. Die Prosa M. Blechers bringt die Tiefensensibilität erst figürlich zum Erscheinen und zu Bewusstsein. Um etwas von deren verworrenen Komplexität und lebendigen Mannigfaltigkeit zu bewahren, verfährt Blecher poetisch. Er versinnlicht das Sprachmaterial bis zu dem Punkt, wo es sich der Les- und Deutbarkeit entzieht und hypothetisch zum performativen Medium ästhetischen Empfindens wird. Dabei zielt Blechers Sprachbemühung nicht so sehr auf eine Visualisierung der intensiven Körperlichkeit von Empfindungen. In Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit gibt die der Sprache inhärente Bildhaftigkeit sogar Anlass zur Klage. Vielmehr geht es ihm um die haptische Prägnanz der Darstellungen, die er in den Briefen als Ansteckung des Lesenden mit lebensteigernden oder –gefährdenden Substanzen veranschaulicht. Die poetische Prosa ist also einer Wirkungsdynamik ausgesetzt zwischen unmittelbarer, aisthetischer Wirkung und vermittelter Bedeutung, zwischen Ent- und Gestaltung, zwischen ästhetischem Erscheinen und Schein. Aufgrund der Emphase auf die Körperlichkeit des Schreibens, wie sie insbesondere in Beleuchtete Höhle und zum Teil auch in Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit vollzogen und reflektiert wird, sehe ich ästhetische Affinitäten zwischen M. Blecher und dem französischen Avantgarde-Schriftsteller Michel Leiris und, in vielleicht geringerem Maße, mit Georges Batailles. Blechers ästhetische Interessen bilden sich ebenso wie jene der beiden französischen Schriftsteller zunächst im Umfeld des Surrealismus heraus. Freilich verkehrt der unbekannte Rumäne, den die Krankheit zu einem Leben im Sanatorium zwingt, nicht in den surrealistischen Kreisen um

|| 1 Bohrer, 2001, 100. 2 Blecher, 2003, 45; Blecher, 1999, 63.

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André Breton. Er hat aber durchaus persönlichen Kontakt zu Vertretern der französischen Avantgarde. Durch die Lektüre der aktuellsten Erscheinungen aus Paris ist er am Puls der literarischen Experimente und Ästhetiken. Ebenso wie Leirisʼ und Batailles3 ist auch Blechers Haltung zum Surrealismus von einer gewissen Distanz oder Ambivalenz geprägt. Sie kommt zwar nicht in theoretisch-kritischen Auseinandersetzungen zum Ausdruck4, doch zeigt sie sich in kursorischen Stellungnahmen, wie in dem Brief an Saşa Pană, wo sich Blecher von dem „reinen Orthodoxismus der Manifestliteratur“5 (ortodoxismul curat de manifest) abgrenzt. Die Nähe Blechers zu Michel Leiris ist in der Darstellung einer entformten, fragilen und der Dauer unterworfenen Leiblichkeit zu suchen.6 Über den Körper im Werk von Michel Leiris schreibt Regine Strätling: „Gerade der peinliche, schwache, sterbliche Körper, gerade der verletzliche, empfindsame Leib wird zum Medium gesteigerter Seinserfahrung und zum Ort der Kommunion von Ich und Welt. Augenblicke plötzlicher und unerwarteter körperlicher Berührung mit dem Anderen werden als kostbare und rare Präsenzerfahrungen erlebt.“7 Solche Ereignisse einer Verschmelzung mit der Welt findet der Ich-Erzähler in Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit in den Erinnerungen an die „Krisen“ der Kindheit wieder. Sie sind mit der Emphase einer epiphanen, „wahren Bedeutung“8 der Dinge versehen. In Beleuchtete Höhle wird der schreibende Leib zum Medium der Sichtbarmachung und Erzeugung intensiver Realitäten wie der Welt des rauschenden Blutes. Das Schreiben will nicht das Sein, sondern das Werden zur Erscheinung bringen. Wie bei Leiris verbindet sich die Darstellung des ungestalten Leibs bei Blecher mit einer narrativen Suche nach Authentizität. Doch ist das autobiographische Schreiben bei keinem der beiden Autoren im Sinne einer abbildenden und erst recht nicht faktualen Repräsentation der Vergagenheit zu verstehen. Vielmehr geht es um eine Erzeugung von „Ähnlichkeiten im ausdrücklich Nicht-Identischen“9. Es gibt bei Blecher eine ausgeprägte Faszination für Simulakren, für Wachsfiguren, Gips-Statuetten, Fotografien und Imitate, die deutlich von einer „ästhetischen Lust am vermittelnden Schein“10 sprechen. Sie entzieht Blechers Texte einer autobiographischen bzw. fakutalen Lesart. Inwiefern ein Vergleich zwischen den literarischen Texten Georges Batailles und M. Blechers sinnvoll ist, kann hier nur in äußerster Kürze skizziert werden. Bei

|| 3 Peter Wiechens, Bataille zur Einführung, Hamburg 1995, 11‒12. 4 Siehe z. B. Georges Bataille, „La ‚vielle taupe‘ et le préfixe sur dans les mots surhomme et surréaliste“ in: Georges Bataille, Oeuvres complètes. Premiers écrits. 1922-1940, Bd. 1, Paris 1970, 93‒109. 5 Brief M. Blechers an Saşa Pană vom 7. Juli 1934 in: Blecher, 1999, 397. Meine Übersetzung. 6 Siehe Nathalie Barberger, „Der enthäutete Mensch“ in: Albers/Pfeiffer, 2004, 29‒50. 7 Regine Strätling, Figurationen. Rhetorik des Körpers in den Autobiographien von Michel Leiris, München 2012, 10. 8 Blecher, 2003, 71; Blecher, 1999, 77. 9 Strätling, 2012, 19. 10 Ebd.

Schlusswort | 189

allem Vorbehalt möchte ich auf das ästhetische Interesse Blechers für ambivalente Entgrenzungserfahrungen zwischen Erotik und Schrecken hinweisen, die möglicherweise durch die Auseinandersetzung mit Batailles literarischem und theoretischem Werk erhellt werden könnte. Wie Bataille geht auch Blecher in seiner Prosa „Ab-orten nach, verdrängten oder mit Tabus belegten Bereichen, spürt Abweichungen oder Bizarrerien der Natur auf, untersucht Un-dinge – was niemand anfasst, was die Kultur ausscheidet.“11 Ich erinnere hier an Blechers ambivalente Faszination für die Müllhalde und das Schlammfeld, für die in Fäulnis begriffene, amorphe Materie, deren literarisch-phänomenologische Evokation für das schreibende Ich immer auch zum Medium der Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit wird. Der transgressive Charakter der Prosa Blechers ist weder so radikal wie bei Georges Bataille, noch entfaltet er sich vor dem Hintergrund eines ethnologisch ‚primitivistischen‘ Theoriehorizonts, noch verbindet er sich mit einer systematischen Kritik an idealistischen und klassisch ästhetischen Ansätzen.12 Das Verhältnis von Materie und Form, so wie es bei Blecher in der Darstellung der Dinge und des Leibes figuriert wird, ist aber keine schlichte Opposition, sondern, so wie es Georges Didi-Huberman für Bataille reklamiert, „eine neue Art und Weise, die Formen zu denken, Prozesse gegen Ergebnisse, labile Relationen gegen fixe Terme, konkrete Offenheiten gegen abstrakte Abgeschlossenheiten, Insubordinationen der Materie gegen Subordinationen unter die Idee“13, ein Denken, das, wie Huberman anmerkt, auch für Carl Einstein und Michel Leiris charakteristisch ist. Für Wissenschaftler, die im Umgang mit extremen Texten einen hohen Grad an affektiver Immunität erlangt haben, wäre es sicherlich lohnenswert, Blechers Werk im Zusammenhang literarischer Krankheitsdarstellungen und der Sanatorienliteratur zu betrachten. Vernarbte Herzen wurde vielfach mit Thomas Manns Der Zauberberg assoziiert. Die literarischen Zeitgenossen haben Blecher angelastet, den großen Roman von Mann beflissentlich nachgeahmt zu haben. Spätere Leser haben sich berufen gefühlt, das Buch des rumänischen Autors vor dem erdrückenden Vergleich zu retten, indem sie, wie auch in dieser Arbeit geschehen, die Antimetaphysik seiner Krankheitsdarstellungen betont haben, die Resistenz Blechers gegenüber der Versuchung, der Krankheit eine spirituelle Bedeutsamkeit abzugewinnen. Eine vergleichende Analyse würde diese leidenschaftlich vorgetragenen Forschungsmeinungen versachlichen. Wenn die Tuberkulose im 19. Jahrhundert „den Rang einer,

|| 11 Wiechens, 1995, 13. 12 Zu Batailles Auseinandersetzung mit klassischen Formkonzepten siehe Georges Didi-Huberman, Formlose Ähnlichkeit oder die Fröhliche Wissenschaft des Visuellen nach Georges Bataille, München 2010. 13 Ebd. 34‒35.

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wenn nicht der literarischen Epochenkrankheit“14 einnimmt und zur Metapher für die Befindlichkeit einer gesamten Epoche aufsteigt, so ist die Krankheit die Blecher darstellt, die Knochentuberkulose, zu singulär um eine derartige Metaphorisierung zu erfahren. Und doch lässt sich an ihr eine spezifisch moderne, philosophische Problemlage ablesen: die Einsicht nämlich, dass das Subjekt nicht Geist oder Wille, sondern vermögender Leib sei. Es ließe sich eine ganze Liste wissenschaftlicher Projekte formulieren, die Blecher einbeziehend ein reicheres und in mancherlei Hinsicht genaueres Bild von der literarischen Moderne ergäben. Die hier angerissenen sind lediglich Möglichkeiten, die unmittelbar an die Fragestellung vorliegender Arbeit anknüpfen.

|| 14 Jochen Hörisch, „Epochen/Krankheiten. Das pathognostische Wissen der Literatur“ in: Frank Degler (Hrsg.), Epochen–Krankheiten. Konstellationen von Literatur und Pathologie, St. Ingbert 2006, 34.

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Index Abjekt 91 Aisthesis 9, 63, 90, 131ff., 143, 186 Aisthetik 9, 105, 121 Ansteckung 58, 187 Antimetaphysik 180, 189 antipathetische Haltung 10, 150, 168, 172, 176, 183 Antiroman 26 Antisemitismus 2, 11f., 14 Aporie des Bewusstseins 73 Artefakt 7, 34, 39, 116, 119, 121 Ästhetik 4f., 7f., 20f., 25, 27f., 30f., 54ff., 66, 68f., 99, 114, 126f., 129ff., 134, 141, 149f., 156, 164, 175, 184 ästhetische Erfahrung 125, 127, 132 Atmosphäre 51, 54, 60, 69, 74, 85, 91, 130, 135f., 138, 141, 148 Aufmerksamkeit 17, 36, 52, 54, 58, 67ff., 71, 73, 78, 81, 90 Aura 61, 65, 68, 127, 131, 136 Authentizität 26, 82, 146, 181, 188 Autobiographie 104, 145 Automatismen der Wahrnehmung 50, 186 Avantgarde 13, 17, 27, 55, 110, 120, 143, 149, 181, 187 Bewusstsein 54, 71, 73, 79, 82ff., 86, 107, 109, 125, 131, 147, 150, 157, 160f., 179f., 186 Blick 4, 33, 35, 40, 42ff., 50, 52, 55, 60, 65, 69, 75, 91, 94, 99, 152, 170 Dauer 26, 50, 53f., 59, 62, 70, 79, 85ff., 99, 101, 106, 120, 133, 179, 187f. Dekonstruktion des Tragischen 10, 169 Dilettantismus 111, 142, 172, 176 Dinge 3, 5ff., 9, 17, 21, 29, 31ff., 37, 39ff., 49ff., 57ff., 63ff., 69, 71, 73ff., 78, 80, 87, 92, 105f., 108f., 114f., 118, 125, 127, 129f., 132, 135f. Distanz 6, 23f., 61, 67, 69, 71, 173, 183 élan vital 92 Empfinden 3, 6ff., 21, 38, 49ff., 63, 70f., 73, 82, 114, 135, 150, 159, 174, 177, 185 Empfindung 66f., 70, 72f., 79, 82ff., 88f., 94, 98, 100, 103 Empfindungslosigkeit 9, 150, 173

Enthäutung 5, 65, 78, 93 Entsubjektivierung 92, 99, 104, 162 Epik 25 Epiphanie 46 Erinnerung 37f., 51, 54ff., 58, 60, 75, 78, 93, 95, 121f., 138 Erotik 73, 75, 78f., 119, 189 Erscheinen 54f., 78, 88, 93, 106, 123, 131ff., 137, 139f., 143 Erscheinung 36f., 40, 42f., 45f., 49, 58, 61, 75, 91, 103, 115, 125, 132, 134 Evidenz 4, 18ff., 25, 33, 37, 39, 47, 53, 107, 109, 151ff., 163 existential feelings 10, 88, 160 Existenz 28f., 39, 53f., 56, 61, 63, 71, 84, 97, 101, 147, 149, 162, 164 Faktizität 20, 29, 47f. Fiktionalismus 27 Finalismus 96f. Fleisch 9, 64f., 72, 77, 79ff., 92f., 98, 102f., 105, 119, 142, 159f., 169, 184f. Form 25, 36, 50f., 55, 58, 76, 78ff., 92, 95f., 98f., 101, 103, 125, 131f., 142, 189 Formenschöpfung 81, 96, 99, 119, 160, 174, 177 Freiheit 83, 87, 94, 98, 180, 186 Fremdheit 11, 19, 33, 38, 52 Gefühllosigkeit 10, 145, 168, 170f. Habitualisierung 42, 46, 50, 157 Halluzination 35, 44 Haptik 6, 69, 75, 79, 185 Haut 6, 24, 64ff., 70, 72, 75ff., 85f., 93f., 105, 120 Heterotopie 4, 158 Identität 11ff., 93, 96ff. Immanenz 106, 137 Intensität 66, 73, 83ff., 89f., 106, 121, 127, 131, 142, 145, 186 Intentionalität 71, 73, 87, 134 Introspektion 82 Intuition 81, 86f., 92, 101 Involution 8, 99 Irrealität 17f., 33

200 | Index

Kinästhesie 92 Kindheit 38, 48, 51, 54, 58, 106ff., 121, 139 Kitsch 55ff. Knochentuberkulose 2, 150, 190 Konstruktion 19, 30, 32, 36f., 149f., 152f., 176 Kontingenz 4, 72, 87f., 149, 159, 163ff., 174, 178, 187 Krankheit 12, 19, 51, 108, 121, 136, 145ff., 152ff., 157, 159f., 163, 165, 167, 170ff., 175, 179ff., 187, 189 Krise 19, 21, 23, 26, 42, 50, 63ff., 69, 71, 74, 77, 84, 88ff., 99, 107f., 124f., 127 Künstlichkeit 56, 119, 177 Leib 3f., 6f., 20, 36f., 46, 49, 53, 58, 155f., 160, 163, 173, 188, 190 Leseakt 106, 110, 116, 118, 123f., 126, 129f., 138f., 142, 165 literarische Partitur 139 Mannigfaltigkeit 80, 85ff., 89, 96f., 133, 170, 185f. Materialität 90, 114ff., 122, 125, 127ff., 138 Materie 4, 7, 26, 58, 64, 72, 79ff., 92, 96, 98, 101, 103f., 117, 119, 159, 174, 177, 189 Metamorphose 89, 103 metaphysische Sehnsucht 63 moi profond 7, 87f. Morphologie 81, 97 naiver Weltglaube 17, 23, 149 negativer Pathos 167f., 171 neuere Ästhetik 127 Organismus 84, 86, 94, 97ff. organloser Körper 98 Osmose 63, 65, 90, 100, 118 Pathologie 147, 149 Performanz 131, 143 Performativität 3, 51, 87, 95 Phänomene 6, 22, 32, 35, 37, 42, 44, 74, 88, 99, 106, 128, 135 phänomenologische Deskription 30, 45, 68f., 132 Plötzlichkeit 6, 40, 134 Poetizität 9, 88, 140 Präsenz 9, 115ff., 120, 127, 129, 131f., 187 Prosagedicht 140f.

Qualität 1, 5, 7, 33, 35, 70, 89, 93, 113, 116, 120, 133, 185 Rätsel 19, 25, 32, 35, 61, 71 Rauschen 106f., 143 Realismus 82 Realität 3ff., 15, 18ff., 28, 32f., 38, 44, 52, 63, 66, 69f., 72, 74f., 77, 93, 95, 99, 103, 146, 149, 151, 155f., 159, 162, 172ff., 183, 185 Revolte 6, 98, 122, 135, 137, 149, 175 Schauspiel 59, 137, 139, 154f., 158 Schein 135, 137 Schmerz 73, 83f., 95, 150, 171, 179f., 183ff. Schock 161, 165, 167, 171 Semiose 122, 129 Sinn 6, 8, 19ff., 24ff., 28f., 31, 37, 39f., 48, 63, 71, 101, 110, 113f., 122, 129ff., 138, 163, 172, 174, 184 Sinne 3f., 21, 29, 32, 35ff., 44, 47, 53, 63, 66, 69f., 72, 82, 84, 88f., 95f., 105f., 115, 117, 119, 125ff., 130, 134, 136, 139, 141, 143, 147, 150, 162, 170, 180, 183 Spannung 165, 167 Sprachideal 9, 115 Sprachkrise 9, 109, 125 Subjekt 20, 24, 26f., 31, 37, 52, 65f., 70ff., 76, 82, 89, 93, 99, 105, 134, 172 Surrealismus 27, 143, 149, 157, 187 Surrealität 19, 157, 180f. Tier 80, 86, 93, 97, 99 Transgression 80, 91, 94f., 110 Traum 7, 124, 157, 178f., 182 Trivialliteratur 55, 122, 155, 176f. Unheimlich 156 Unwirklichkeit 17ff., 24ff., 32f., 35, 38, 48f., 51, 55, 61, 145f., 148, 159, 162f., 167, 180ff. Urmaterie 85, 92 Vergänglichkeit 54, 56f., 59, 61, 159 Vexierbild 41, 45f. Virtualität 4, 8, 27, 46f. Vorwelt 67 Wahrnehmung 4ff., 18, 21f., 27, 30ff., 40ff., 49f., 53f., 61, 63, 69f., 73, 75, 78f., 82ff., 94, 122, 127, 131ff., 135

Index | 201

Wahrnehmungsimagination 75, 78, 164f. Wahrnehmungsschock 4, 6, 141 Werden 7, 26f., 51, 61, 75, 86f., 90, 99, 101, 103, 108, 114, 129, 188 Wirklichkeit 1, 3ff., 8, 17ff., 26, 28, 32, 37, 41, 44, 47, 49, 54, 69, 75f., 82f., 92, 101, 106f.,

134f., 137f., 149, 152f., 156f., 160f., 164, 173ff., 182f. Wirklichkeitsgefühl 19, 151, 160 Zufall 157, 163, 177, 181